Susanne Rippl · Dirk Baier · Klaus Boehnke unter Mitarbeit von Angela Kindervater und Andreas Hadjar Europa auf dem Weg...
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Susanne Rippl · Dirk Baier · Klaus Boehnke unter Mitarbeit von Angela Kindervater und Andreas Hadjar Europa auf dem Weg nach rechts?
Analysen zu gesellschaftlicher Integration und Desintegration Herausgegeben von Wilhelm Heitmeyer
Die Schriftenreihe ist hervorgegangen aus dem in Bielefeld von Wilhelm Heitmeyer geleiteten und von Peter Imbusch koordinierten Forschungsverbund „Gesellschaftliche Desintegrationsprozesse – Stärkung von Integrationspotenzialen moderner Gesellschaften“ und präsentiert dessen zentrale Forschungsergebnisse. Mit der Leitformel „Stärkung von Integrationspotenzialen“ wird signalisiert, dass moderne Gesellschaften einerseits auf Grund ihrer Entwicklung und Ausdifferenzierung über erhebliche Integrationspotenziale verfügen, um Existenz-, Partizipations- und Zugehörigkeitschancen zu bieten; andererseits verweist sie bereits auf eine Reihe von Problemzusammenhängen. Zielsetzung des Forschungsverbundes war es, durch seine Analysen gravierende Problembereiche moderner Gesellschaften differenziert empirisch aufzuarbeiten, so dass Maßnahmen identifiziert werden können, die zur Stärkung ihrer Integrationspotenziale beitragen können. Der Forschungsverbund wurde finanziell vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert.
Susanne Rippl · Dirk Baier · Klaus Boehnke unter Mitarbeit von Angela Kindervater und Andreas Hadjar
Europa auf dem Weg nach rechts? Die EU-Osterweiterung und ihre Folgen für politische Einstellungen in Deutschland, Polen und der Tschechischen Republik
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage Januar 2007 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Frank Engelhardt Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-14691-1
Inhalt 1 2
Europa auf dem Weg nach rechts? Einfiihrende Gedanken
9
2.6
Die EU-Osterweiterung in der Rechtsextremismus- und Vorurteilsforschung Wandlungsprozesse im Kontext der EU-Osterweiterung Sozialer und politischer Wandel als Mikro-Makro-Problem Sozialer und politischer Wandel als Bedrohung Zur Bedeutung des Bedrohungskonzepts fiir die Rechtsextremismusund Vorurteilsforschung Der interkulturelle Vergleich der Wirkung sozialen Wandels durch die EU-Osterweiterung Zusammenfassung
29 32
3
DieStudie
33
4
Messinstrumente und deskriptive Auswertungen im interkulturellen Vergleich Wahrnehmung von Europa, der EU und der EU-Osterweiterung Desintegration Sozial-strukturelle Desintegration Institutionelle Desintegration Sozial-emotionale Desintegration und zusammenfassende Darstellung Bedrohungsgeflihle Realistische und symbolische Bedrohungsgeflihle Stereotype und Intergruppenangst gegeniiber Deutschen, Polen und Tschechen Auswirkungen von Kontakten und Geschichtsbildem auf Bedrohungsgeflihle Rechtsextreme Einstellungen Zusammenfassung zentraler Befunde
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5
4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.4 4.5 5 5.1 5.2 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.4
Bedrohungsgeflihle als Reaktion auf politischen Wandel durch die EU-Osterweiterung Bedrohungstheorien als Erklarungsansatze Eine modifizierte Version der Integrated-Threat-Theory Ergebnisse Der Zusammenhang von Bedrohungsgefiihlen und soziookonomischen Hintergrundvariablen Bedrohungsgeflihle als Katalysator ftir ethnozentrische Orientierungen? Bedrohungsgeflihle und deren Folgen in kulturvergleichender Perspektive Zusammenfassung
15 15 18 21 24
41 42 51 52 60 63 66 67 78 88 95 108 111 111 114 117 118 119 123 128
Inhalt 6
6.5
Desintegration, Deprivation, Autoritarismus und Bedrohungsgefiihle (von Andreas Hadjar) Das klassische Konzept der autoritaren Personlichkeit Situationale Faktoren und „autoritare Reaktion" Autoritarismus und Bedrohungserleben Instrumentenentwicklung und deskriptive Befunde Autoritarismus und EU-Osterweiterung - Hypothesen Ergebnisse Bestimmungsfaktoren von Autoritarismus Autoritare Einstellungen und Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Nationalismus Bedrohungswahrnehmungen und ihre Bedeutung fiir den Zusammenhang zwischen Autoritarismus und den Folge-Einstellungen Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Nationalismus Zusammenfassung
7 7.1 7.2 7.3 7.4
EU-Osterweiterung und die Mobilisierung von Dominanzideologien Theoretische Uberlegungen Erfassung von Hierarchischem Selbstinteresse (HSI) Ursachen und Folgen von HSI Zusammenfassung
8
8.2.3
EU-Osterweiterung als Mobilisierungsschub ftir rechte Einstellungen Theoretische Uberlegungen Ergebnisse Ursachen flir Bedrohungsgefuhle Die Mobilisierungswirkung der EU-Osterweiterung fiir ethnozentrische Einstellungen - ein Integrationsmodell Ursachen der Einstellung zur EU-Osterweiterung
8.3
Zusammenfassung
181
9
Was tun? Ergebniszusammenfassung und Konsequenzen
183
Literatur
191
Autorinnen und Autoren
203
6.1 6.2 6.3 6.3.1 6.3.2 6.4 6.4.1 6.4.2 6.4.3
8.1 8.2 8.2.1 8.2.2
131 131 132 134 134 139 141 143 146 146 148 151 151 155 161 166 169 169 173 173 175 179
Vorwort
Die gegenwartigen soziookonomischen und politischen Entwicklungen in den westlichen Industriegesellschaften sind von uniibersehbaren Ambivalenzen gepragt. Soziale und politische Umbruche der letzten fiinfzehn Jahre und die damit einher gehenden Umstellungszumutungen haben fur zahlreiche Menschen neue Chancen eroffiiet, gleichzeitig aber auch vielfaltige wirtschaftliche und politische Risiken (Zugangsprobleme zum Arbeitsmarkt, mangelnde positionale und emotionale Anerkennung, Teilnahmeprobleme an einzelnen gesellschaftlichen Subsystemen, Sinnlosigkeitserfahrungen im politischen Alltag, abnehmende moralische Anerkennung, exklusiver werdende Leistungs- und Verteilungsstrukturen sowie labile oder fragile Gemeinschaftszugehorigkeiten) herauf beschworen, welche die Integrationsproblematik modemer Gesellschaften verscharfen und Desintegrationsprozesse befordem. Nicht nur in Deutschland ist in den letzten Jahren die soziale Ungleichheit groBer geworden; Ideologien der Ungleichwertigkeit, Menschenfeindlichkeit und menschenverachtende Gewalt sind deutlich hervor getreten. Damit gehoren Fragen nach der Integrationsfahigkeit modemer Gesellschaften wieder ganz oben auf die gesellschaftspolitische Agenda. Die sich in einer Vielzahl von Aspekten zeigenden Desintegrationstendenzen in den westlichen Gesellschaften haben zum Aufbau eines interdisziplinaren Forschungsverbundes zum Thema ^Desintegrationsprozesse - Starkung von Integrationspotenzialen einer modemen Gesellschaft" an der Universitat Bielefeld gefuhrt, der liber mehrere Jahre vom Bundesministerium fiir Bildung und Forschung fmanziell gefbrdert wurde. Ziel der im Rahmen dieses Programms intendierten Forschung war es, wichtige Erkenntnisse zu Integrationsproblemen modemer Gesellschaften beizusteuem und jenen Entwicklungen auf den Grund zu gehen, deren negative Folgen zentrale normative Kemelemente dieser Gesellschaft gefahrden. Die Identiflkation problematischer Entwicklungsverlaufe und die Beschreibung und Erklamng von Einflussfaktoren ftir die Starkung der Integrationspo-
tenziale dieser Gesellschaft wurde auf unterschiedlichen Ebenen und in verschiedenen Projektzusammenhangen thematisiert. Das Projekt von Klaus Boehnke und Susanne Rippl mit ihrer Arbeitsgruppe fokussiert auf die Frage, ob die Erweiterung der Europaischen Union um osteuropaische Gesellschaften wie Polen und Tschechien in der Wahmehmung vor allem der Bewohner in Grenzregionen solche Desintegrationsangste aufkommen lasst, die mit feindseligen Mentalitaten verbunden werden. Die Autorengruppe stellt daher die Frage, ob sich solche Regionen durch spezifische Bedrohungsgeftihle Oder auch feindselige Reaktionen auf den politischen Wandel auszeichnen. Die Bedrohungsgeftihle werden als Katalysator fiir ethnozentrische Orientierungen angesehen. Der Zusammenhang von Desintegrationsbeflirchtungen und fremdenfeindlichen, antisemitischen und nationalistischen Einstellungen wird im Zusammenhang mit autoritaren Haltungen interpretiert. Von zentraler Bedeutung smd dann Fragen nach moglichen Mobilisierungspotenzialen, die an Dominanzideologien ankniipfen. Insgesamt kommen die Autoren mit Hilfe eines komplexen Forschungsdesigns zum Ergebnis, dass Grund zu der Annahme besteht, dass die EU-Osterweiterung zu einer Starkung rechtsextremer, nationalistischer, fremdenfeindlicher und antisemitischer Einstellungen beitragt. Die Autoren zeigen aber auch die vielschichtigen Variationen auf, die in den verschiedenen nationalen Kontexten relevant sind, so dass zu Recht vor schematischen Annahmen gewarnt wird. Aber auch bei positiven Entwicklungsannahmen gilt es, nicht die historischen Vorgange aus den Augen zu verlieren, wenn etwa zur Abwehr von Bedrohungsgeflihlen die Aufwertung der Eigengruppe eine nicht zu unterschatzende Brisanz erhalt. Bielefeld, im Dezember 2006
Wilhelm Heitmeyer/Peter Imbusch
1.
Europa auf dem Weg nach rechts? Einfiihrende Gedanken
Im Mai 2004 traten zehn Lander der bis dahin 15 Staaten umfassenden Europaischen Union bei. In Deutschland wurde dieser Schritt fiir gewohnlich unter der Uberschrift „EU-Osterweiterung" diskutiert, obwohl ja auch die Mittelmeer-Inselstaaten Zypem und Malta beitraten. Schon dem Begriff EU-O^-ferweiterung haftet etwas Bedrohliches an, denn liber Jahrzehnte wohnte im Osten der ,Feind'. Und nun sollte der vormalige Feind ,einer von uns' werden. Aber auch aus der Sicht der Beitrittsstaaten ist der Beitritt keineswegs ein nur positives Ereignis, auch hier gibt es historisch begrlindete Ressentiments, die Angste vor der Vereinnahmung durch den „fruheren Feind" begriinden. Zudem zeigen sich zwischen den Etablierten und den Beitrittslandern zum Teil deutliche wirtschaftliche und kulturelle Unterschiede (Gerhards 2005). Nicht, dass die Uberwindung alter Feindschaften durch Vertrage in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg ohne Tradition ware. Bereits die Griindung der damaligen Europaischen Wirtschaftsgemeinschaft mit den Romischen Vertragen 1957 war ein Akt der Integration des vormaligen Feindes gegen den neuen Feind: Der Westteil Deutschlands wurde in eine Allianz mit Italien, Frankreich und den Beneluxstaaten eingebunden, um im Kalten Krieg einen wirtschaftlich starken Block gegen die Staaten des Warschauer Vertrages zu Schmieden. Nachdem Charles de GauUes „Europa der Vaterlander" ausgedient und auch das Vereinigte Konigreich den Weg in die EU gefunden hatte, wurden 1986 zwei weitere ehemalige ,Feinde' integriert, namlich die iiber Jahrzehnte faschistisch regierten Staaten der iberischen Halbinsel, Spanien und Portugal. Im Laufe ihrer Geschichte entwickelte sich die vormalige EWG zunachst zur Europaischen Gemeinschaft (EG), spater dann zur Europaischen Union (EU); auch die wahrend des Kalten Krieges neutralen Staaten Osterreich, Schweden und Finnland traten ihr bei. Die EU war nach 1990 nicht das einzige Staatenbiindnis, das Veranderungen unterworfen war: Recht schnell, namlich 1999, waren nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus einige unmittelbar an Mitteleuropa angrenzende Staaten des Warschauer Vertrages der NATO beigetreten (Polen, Tschechien und Ungarn); 2004 folgten in der bis dahin groBten Erweiterungsrunde - von der breiten Offentlichkeit in Deutschland weitgehend unbemerkt - die baltischen Staaten, die Slowakei, Slowenien, Bulgarien und Rumanien. Anders als unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Vereinigung Europas vielen Menschen nach 55 Millionen Kriegstoten und 6 Millionen in Vemichtungslagern Ermordeten ein Herzensthema war, trafen die verschiedenen Erweiterungsschritte der EWG/EG/EU in den bereits der Staatengemeinschaft angehorenden Landem nur sehr selten auf ein nennenswertes Engagement der Biirgerinnen und Burger. Die verschiedenen Bei-
10
Europa auf dem Weg nach rechts?
tritte waren Projekte der politischen Eliten, betrieben aus sehr unterschiedlichen Motiven heraus, die hier im Einzelnen nicht diskutiert werden konnen. Gleiches gilt fUr die so genannte EU-Osterweiterung; sie basierte nicht auf ,Volkes Wille', sondern entsprang zunachst dem Gedanken der politischen Elite, zwischen Russland und der EU keine instabilen Pufferstaaten entstehen zu lassen (Neuss 2003). Auch die Eindammung moglicher neuer und in der Erinnerung noch sehr frischer Hegemonialansprliche Russlands diirfte ein starkes Motiv fiir die schnelle Inangriffnahme der Integration osteuropaischer Staaten in die EU gewesen sein. Aber erkennen auch die Menschen in den EU15-Landern die Erweiterung der Staatengemeinschaft als Zeichen der Zeit? Die Zustimmung zur Erweiterung erreichte in diesen Landern nie iiberwaltigende Mehrheiten (mit Ausnahme von Griechenland, Italien und Spanien, wo zeitweise Zwei-Drittel-Mehrheiten zu beobachten waren). In Deutschland schwankte die Zustimmung in den letzten Jahren zwischen etwa einem Drittel und der Halfte der Biirgerinnen und Biirger (Kroh 2005). Wenn also klar ist, dass knappe bis deutliche Mehrheiten der deutschen Bevolkerung der EU-Osterweiterung indifferent oder gar ablehnend gegeniiber zu stehen scheinen, welche Folgen hat diese Stimmung dann? Wenn nennenswerte Prozentsatze der Deutschen gar Besorgnisse und Angste mit dem Erweiterungsschritt in Verbindung bringen, ist dies dann als folgenloses Psychogramm deutscher Befindlichkeit zu sehen oder hat es Konsequenzen fiir die politische Kultur in Deutschland, fiir alltagliches politisches Handeln von Biirgerinnen und Burgern? Und wie sieht es in den Beitrittslandern aus? Hier gab es in der Kegel deutliche Mehrheiten fiir einen EU-Beitritt, sei es in Referenden oder in Meinungsumfragen (Europaische Kommission—Vertretung in Osterreich 2003). Bedeutet dies, dass die Menschen dort sorgloser und hoffnungsvoller in die Zukunft sehen? Gibt es dort eine Modemisierungseuphorie oder haben wir auch in Polen und der Tschechischen Republik, denen in diesem Band die hauptsachliche Aufmerksamkeit gilt, mit einer Hinwendung zum Euroskeptizismus zu rechnen? Erste Anzeichen fiir den letzteren Trend gibt es here its: In Polen hat es bald nach dem Beitritt des Landes zur EU eine nicht zu unterschatzenden Ruck bin zum nationalistisch gefarbten politischen Lager gegeben. In der Tschechischen Republik ist die Lage ganz allgemein uniibersichtlich, von EU-Euphorie ist nur noch wenig zu spiiren. Sowohl in Polen als auch in der Tschechischen Republik iiberwiegt inzwischen die Skepsis, wenn Biirgerinnen und Biirger gefragt werden, was sie in den nachsten Jahren fiir sich personlich von der EU erwarten (Eurobarometer 2006). Ohne Zweifel befindet sich der ,alte Kontinent' seit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums in einer Phase beschleunigten sozialen Wandels. Die Diskussion, ob Europa in diesem Prozess Motor, Opfer oder einflussarmes Zahnradchen ist, kann an dieser Stelle dahingestellt bleiben. Auch ob der Prozess lange liberfallig war und deshalb begriiBenswert ist oder eine gigantische Fehlentwicklung darstellt, der man sich mit alien Mitteln widersetzen soUte, ist hier nicht Untersuchungsgegenstand. Das Interesse des Forschungsteams, das hier seinen Bericht iiber eine vom Bundesministerium ftir Bildung und Wissenschaft im Rahmen eines von Wilhelm Heitmeyer ins Leben gerufenen und geleiteten Forschungsverbundes durchgefiihrte Studie vorlegt, gait den Konsequenzen der EU-Osterweiterung ftir die politische Kultur in Deutschland und die angrenzenden Regionen Polens und der Tschechischen Republik.
Einfuhrende Gedanken
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Ausgangsiiberlegung unserer Studie war eine These, die ihren intellektuellen Ursprung in der Auseinandersetzung mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus im Deutschland der spaten 20er und frtihen 30er Jahre des 20. Jahrhundert hat: Beschleunigter sozialer Wandel, den es damals gab und den es heute wieder gibt, schiirt Besorgnisse und Angste von Biirgerinnen und Burger und flihrt zu einem kompensativen Nationalismus. Beschleunigtem sozialen Wandel, hier in Form eines europaweiten Transformationsprozesses, haftet fiir vieie Biirgerinnen und Burger etwas Unheimliches, etwas BedrohUches an, dem sie - so unsere These - durch verstarkte Besinnung auf kollektive Identitaten, auf nationale Zugehorigkeiten zu begegnen suchen: Sicherheit im Koliektiv als eine Form der Bewaltigung von makrosozialem Stress, wie wir gefiihlte poUtisch verursachte Bedrohungen in einem ganz anderen Kontext einmal genannt haben (Boehnke et. al. 1993).^ Ahnlich wie dies auch fiir die Zeit des Aufstiegs des Nationalsozialismus in Deutschland in den friihen 1930er Jahre belegt worden ist (Falter et al. 1986), kommt es dabei nicht so sehr darauf an, ob Menschen objektiv und je individuell von Folgen des beschleunigten sozialen Wandels betroffen sind, ob sie etwa arbeitslos geworden sind oder Lohnkiirzungen und Arbeitszeitverlangerungen haben hinnehmen mtissen. Wichtig ist vielmehr, ob Menschen dieses befiirchten und ob sie ihre kollektive Zugehorigkeit gleichzeitig als angegriffen erleben. Der hier vorgelegte Band nimmt zunachst in Kapitel 2 eine Standortbestimmung der Bedeutung der EU-Osterweiterung fiir die Rechtsextremismus- und Vorurteilsforschung vor. In diesem Kapitel wird der soziologisch-sozialpsychologische Ansatz vorgestellt, dem sich das an der Technischen Universitat Chemnitz und der International University Bremen durchgefuhrte Projekt „EU-Osterweiterung als Mobilisierungsschub fiir rechte Einstellungen?" verpflichtet fiihlt. In Kapitel 3 wird die eigentliche Studie vorgestellt, eine Reprasentativbefragung der im Gesamtgebiet der Bundesrepublik Deutschland lebenden iiber 14-jahrigen deutschen Staatsangehorigen, erganzt um drei separate kleinere Reprasentativerhebungen der deutschen, polnischen und tschechischen iiber 14-Jahrigen, die in ihren Landern in einer Entfernung von maximal 50 km zur Grenze zum Nachbarn leben. Kapitel 4 stellt alle verwendeten Befragungsinstrumente vor und gibt einen Einblick in die Einzelergebnisse zu diesen Instrumenten fur alle vier Teilstichproben, also fur Deutschland insgesamt und fiir die drei in die Untersuchung einbezogenen Grenzregionen. Wir legen auf einen ausfiihrlichen und detaillierten Bericht dieser Daten Wert, weil die Forschung zu Europa bzw. zur EU-Osterweiterung bisher sehr darunter gelitten hat, dass immer wieder dieselben, oft wenig aussagekraftigen Befunde des so genannten Eurobarometers (European Commission 2003) in der sozialwissenschaftlichen Literatur wiederholt worden sind, vertiefte Stimmungsbilder aber bisher nur sehr selten vorgelegt wurden. In Kapitel 5 greifen wir die in Kapitel 2 vorgetragenen theoretischen Uberlegungen zur Bedeutung von Bedrohungsgefiihlen im Kontext der EU-Osterweiterung fiir die Genese nationalistischer Einstellungen auf und unterwerfen unsere zentrale These vom ^ Damals ging es um den Umgang mit der Stationierung von Atomwaffen auf deutschem Boden und mit dem Reaktorunfall in Tschernobyl.
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Europa auf dem Weg nach rechts?
Mobilisiemngsschub einer ersten Priifung. Hierbei steht die Bedrohungstheorie von Stephan und Stephan (2000) im Vordergrund des Interesses. Es geht um die Frage, unter welchen personalen und strukturellen Bedingungen der sich in der EU-Osterweiterung manifestierende beschleunigte soziale Wandel tatsachlich zu einem kompensativen Nationalismus fiihrt, der deutliche Beriihrungspunkte zu rechtsextremen Positionen aufweist. Wichtig ist dabei, dass wir unsere These niemals ausschlieBlich fiir Deutschland priifen, sondern immer auch einen Blick iiber die Grenzen nach Polen und in die Tschechische Republik werfen. Diese Untersuchungsanlage hilft uns, dem Vorwurf des methodologischen NationaUsmus (Smith 1983) zu entgehen, der der Soziologie zu Recht immer wieder gemacht wird (vgi. Beck/Grande 2004), wenn sie ihre Fragestellungen mit Datenmaterial zu bearbeiten sucht, bei dessen Erhebung Gesellschaft mit Nationalstaat gieichgesetzt wird. Die Kapitel 6 und 7 stellen einen Exkurs dar, bevor in Kapitel 8 ein kompiexes Modell zur Genese von Nationalismus im Zuge der EU-Osterweiterung geprlift wird. Kapitel 6, das von Andreas Hadjar verfasst wurde und umfangUche Vorarbeiten von Angela Kindervater aufgreift, beleuchtet die Bedeutung von Autoritarismus fiir die Artikulation nationalistischer Einstellungen im Zuge des Umgangs mit der EU-Osterweiterung. Das Konzept des Autoritarismus, untrennbar mit dem Namen Theodor W. Adornos und seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verkniipft, sieht Menschen mit bestimmten Sozialisationserfahrungen im Sinne einer Personlichkeitsdisposition pradestiniert fiir nationalistische Einstellungen. Das Kapitel diskutiert diesen Ansatz ausfiihrlich und analysiert seine Bedeutung anhand des zur Verfiigung stehenden empirischen Materials. Dabei steht ein Vergleich der bayrischen Grenzregion zur Tschechischen Republik mit der sachsischen Grenzregion zum siidlichen Nachbarn im Vordergrund. Kapitel 7 wendet sich einer verwandten personalen Disposition zu, den verinnerlichten Dominanzideologien. Dominanzideologien sind solche Orientierungen, die im Sinne der Verwertungslogik von Marktwirtschaften darauf ausgerichtet sind, sich mehr Oder weniger riicksichtslos in Konkurrenzsituationen gegen andere durchzusetzen und die eigenen Interessen, Leistungen und Besitzstande iiber alles zu stellen. Wir nennen eine solche Orientierung im Riickgriff auf Hagan et al. (1998) ,Hierarchisches Selbstinteresse' (HSI). Das siebte Kapitel diskutiert die Bedeutung von HSI fiir die Genese von Nationalismus im Kontext der EU-Osterweiterung. In Kapitel 8 geht es dann um die Priifung eines kpmplexen Gesamtmodells der Genese von nationalistischen Einstellungen im Zuge der EU-Osterweiterung, das verschiedene in dem Buch vorgestellte Erklarungsansatze integriert, um die differentielle Wirkung einzelner Faktoren herauszuarbeiten, Es geht damit um die Frage, ob und - wenn ja - unter welchen personalen und strukturellen Bedingungen sich unsere These vom beschleunigten sozialen Wandel als Ausloser eines Mobilisierungsschubs fiir rechte Einstellung bestatigen lasst. In Kapitel 9 bemiihen wir uns nicht nur eine griffige Zusammenfassung der Ergebnisse unserer Studie, sondern versuchen auch Konsequenzen fiir politisches Handeln in Deutschland und Europa aus ihnen abzuleiten. Eine Studie, die ihre Finanzierung Mitteln eines Bundesministeriums verdankt, ist nachgerade verpflichtet, ihre Ergebnisse nicht nur fiir die Wissenschaft nutzbar zu machen, sondern muss sich auch als Grundlage fiir Politikberatung verstehen. Diesem Auftrag versuchen wir im letzten Kapitel des hier vorgelegten
Einfiihrende Gedanken
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Bandes gerecht zu werden. Die Ankiindigung einer ,griffigen Zusammenfassung' mag manche Leser dieses Buches nun vielleicht verfuhren, am Ende von Kapitel 1 gleich zu Kapitel 9 vorzublattern. Als Autoren halten wir eine solche Lesestrategie durchaus flir legitim. Berichterstatter eines mit komplexen Befragungsdaten operierenden Forschungsprojekts stehen von Anfang an vor der Frage, wie viele Details, wie viele komplexe statistische Auswertungen, wie viele Graphiken und Tabellen sie ihren Leserinnen und Lesern zumuten konnen und wollen. Wie unschwer zu erkennen sein diirfte, haben wir uns flir viele Details, flir die Prasentation auch komplexer statistischer Auswertung, fiir viele Graphiken und Tabellen entschieden. Diese Art der Materialaufbereitung wird sicher manche Leserinnen und Leser strapazieren; auch deshalb wird es flir die Rezeption dieses Bandes hin und wieder durchaus hilfreich sein, wenn seine Leserinnen und Leser ihn als Materialsammlung ansehen, aus der man sich die besonders interessierenden Telle gezielt auswahlt und bei dessen Lektiire man andere Telle relativ problemlos iiberspringen kann. Um letzteres zu ermoglichen, haben wir den Band strukturell eher wie eine Aufsatzsammlung angelegt denn als einheitliches Gesamtwerk. Diejenigen Leserinnen und Leser, die sich der Mtihe unterziehen, das hier vorgelegte Buch von vorne bis hinten zu lesen (im modernen Wissenschaftsbetrieb und vor allem auch in der Politik sind dies erfahrungsgemaB eher wenige), werden sich vielleicht liber manche Redundanzen insbesondere in der Schilderung des der Studie zugrunde liegenden theoretischen Modells wundern. Diese Redundanzen sind nicht der Unaufmerksamkeit der Verfasser geschuldet, sondern soUen die Lektiire einzelner Kapitel erleichtern. Die vorgelegte Monographic versteht sich also in gewisser Weise als Sammelband. Unter Einbeziehung von expliziten Vor- und Rlickverweisen lasst sich jedes der im Band enthaltenen Kapitel auch separat ohne zwingende Lektiire des gesamten Buches lesen. Bevor wir unsere Leserinnen und Leser nun der moglicherweise selektiven Sichtung des Materials liberlassen, das wir in diesem Buch vorlegen, gilt es noch Dank zu sagen. Unser besonderer Dank geblihrt zu allererst Wilhelm Heitmeyer, ohne den das Projekt nicht zustande gekommen ware. Wilhelm Heitmeyer hat es verstanden, in dem von ihm geleiteten Forschungsverbund zur „Starkung von Integrationspotentialen einer modernen Gesellschaft" eine groBe Anzahl von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlem mit durchaus sehr unterschiedlichen paradigmatischen Voreingenommenheiten und methodologischen Orientiemngen zu einem gewinnbringenden Ganzen zusammenzuflihren. Dies ist eine Leistung, die sich auch mit Blick auf andere Forschungsverblinde, wie Sonderforschungsbereiche, Schwerpunktprogramme und Forschergruppen, wie sie von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und anderen groBen Institutionen der Wissenschaftsforderung finanziert werden, in jeder Weise sehen lassen kann. Der Dank an Wilhelm Heitmeyer ware allerdings nicht voUstandig, wlirde man ihn nicht auf Peter Imbusch ausweiten, der als Koordinator des Forschungsverbundes immer wieder Zeit und Nerven investiert hat, den Verbund zusammen zu halten, alle Beteiligten immer wieder zu motivieren und deren Studien aufeinander abzustimmen. Der Dank der Autoren gilt zudem Angela Kindervater, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin das Projekt maBgeblich mitgestaltet hat, die zwar aus zeitlichen Grlinden nicht als Autorin dieses Bandes fungieren konnte, deren Vorarbeiten aber wichtige Grund-
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Europa auf dem Weg nach rechts?
lagen fiir die Beitrage dieses Bandes darstellen. Vor kurzem hat Angela Kindervater (2007) aufbauend auf dem Datenmaterial der hier berichteten Studie ihre Dissertation zum Thema „Stereotype und Vorurteile: Welche Rolle spielt der Autoritarismus? Ein empirischer Beitrag zur Begriffsbestimmung" vorgelegt. Unser Dank gilt gleichermaBen Andreas Hadjar als intensivem Begleiter und Diskussionspartner liber Jahre; Andreas Hadjar hat mit uns nicht nur diskutiert und fiir uns und mit uns Tagungsbeitrage zum Projekt erarbeitet, wir verdanken ihm auch den Text des sechsten Kapitels dieses Bandes, ohne den der Projektbericht eine schmerzliche Lticke hatte. Dank schulden wir last but not least auch den studentischen Hilfskraften unseres Projekts, Lysann Braune, Katja Fehrmann (beide TU Chemnitz), sowie Przemyslaw Borkowski, Karol Tyszka und Marcela Fialova (alle International University Bremen).
Susanne Rippl, Dirk Baier und Klaus Boehnke Im Herbst 2006
2.
Die EU-Osterweiterung in der Rechtsextremismus- und Vorurteilsforschung
Die EU-Osterweiterung ist ein im Kontext der Rechtsextremismus- und Vorurteilsforschung relativ wenig beachtetes Gebiet. Das iiberrascht, da im Rahmen dieses sozialen und politischen Prozesses verschiedene Mechanismen in Gang gesetzt werden, die in der Rechtsextremismus- und Vorurteilsforschung als relevante Ursachen fiir die Entstehung rechter Orientierungen gesehen werden. Politischer und sozialer Wandel kann am Beispiel der EU-Osterweiterung quasi-„experimenteir' betrachtet werden, da der Wandlungsprozess durch politischen Willen und Planung zu einem festgelegten Termin in Gang gesetzt wird. Faktoren, die im Zusammenhang mit sozialen Wandlungsprozessen diskutiert werden, wie Verunsicherung, Desintegration, potentieller Statusverlust sind Ursachenkomplexe, die auch im Rahmen verschiedener Ansatze der Rechtsextremismus- und Vorurteilsforschung diskutiert werden. Eine genauere Betrachtung der Rolle des sozialen Wandels in Erklarungsmodellen der Rechtsextremismus- und Vorurteilsforschung am Beispiel der EU-Osterweiterung soil daher im Zentrum dieses Kapitels stehen. Ausgangspunkt der Betrachtung ist ein kurzer Uberblick tiber Wandlungsprozesse, die die EU-Osterweiterung mit sich bringt. Es folgt eine Einordnung des Phanomens in die Mikro-Makro-Problematik der Sozialwissenschaften unter Bezugnahme auf das Bedrohungskonzept wie es in der aktuellen Vorurteilsforschung (Stephan/Stephan 2000) thematisiert wird. In einem weiteren Abschnitt wird die Bedeutung des Bedrohungskonzepts fiir die Rechtsextremismus -und Vorurteilsforschung diskutiert; es wird diskutiert welche Beitrag das Bedrohungskonzept auf der einen und die traditionelle Rechtsextremismus- und Vorurteilsforschung auf der anderen Seite fiir die Analyse sozialer Wandlungsphanomene leisten. AbschlieBend werden Aspekte und Potentiale des interkulturellen Vergleichs im Kontext der Analyse der Folgen der EU-Osterweiterung diskutiert. 2.1
Wandlungsprozesse im Kontext der EU-Osterweiterung
Der soziale Wandel von Gesellschaften ist seit weit iiber 100 Jahren der wichtigste Gegenstand der Soziologie (vgl. Scheuch 2003). Feudalgesellschaften entwickelten sich zu Industrie- und diese seit einigen Jahren zu Dienstleistungs-, Informations- oder Wissensgesellschaften. Der damit verbundene Strukturwandel hat zahlreiche negative Effekte hervorgebracht. Gerade weil es die negativen Seiten des Wandels gab und weiterhin gibt, konnte die Soziologie ihre spezifische Perspektive entwickeln. Im Mai 2004 wurde eine erneute Erweiterung der Europaischen Union voUzogen. Da es sich bei den zehn beigetretenen Landern vornehmlich um ost- und siidosteuropaische Staaten handelt, wird dieser Schritt auch als 'EU-Osterweiterung' bezeichnet. Beschleunigte
16
Rechtsextremismusforschung
Prozesse des sozialen Wandels sind aktuell auch im Zuge dieser Erweiterung der Europaischen Union um zehn Lander (vomehmlich Osteuropas) zu erwarten (Baier et al. 2004). Dies betrifft in erster Linie die Beitrittslander, die sich durch die Ubernahme des acquis communautaire (Vertrage und Gesetze der EU) in politischer und rechtlicher Hinsicht einem starken Konvergenzdruck ausgesetzt sehen. Daneben gilt dies aber ebenso fiir die bisherigen EU-Lander, in denen sich die Bedingungen nationalstaatlichen Handelns verandem werden - besonders im Bereich der Wirtschaft. Fiir diesen Bereich ist zudem in der letzten Dekade eine unter dem Schlagwort Globalisiemng bekannt gewordene Entwicklung festzustellen: Die internationale Unternehmensverflechtung und Arbeitsteilung lasst das Agieren in den Grenzen des Nationalstaates als Anachronismus erscheinen und erschwert die Losung dringlicher gesellschaftlicher Probleme. Obwohl sich die Soziologie mit der Globalisiemng in sehr vielfaltiger Weise auseinandersetzt (vgl. Junge 2001), ist die Europaische Union und ihre Erweiterung soziologisch kaum ein Thema (vgl. Bach 2001), was daran liegen diirfte, dass die soziale Relevanz dieses Projekts unterschatzt wird. Die EU-Osterweiterung halt verschiedene Herausforderungen bereit: Demographisch betrachtet sind insgesamt iiber 70 Millionen Menschen der Union beigetreten; wirtschaftlich handelt es sich dabei durchweg um Lander, deren Wertschopfung noch weit unter den bisher schwachsten EU-Landern liegt (vgl. Piazolo 2002), die den Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft noch nicht vollzogen haben und in denen eine relativ hohe Arbeitslosigkeit herrscht (vgl. Axt 2003; Dauderstadt 2003; Eltges 2003). In politischer Hinsicht treten Lander mit einer vergleichsweise kurzen demokratischen Tradition bei, was u.a. eine hohe Regierungs-Instabilitat und eine uberhohte Wertschatzung der eigenen Nation einschlieBt (vgl. Ismayr 2004; Pickel 2003; Pollack 2003). Kulturell werden Lander integriert, die in ihrer Geschichte, Tradition und Mentalitat vom modernen westlichen Typus abweichen, was sich u.a. recht deutlich bei Einstellungen zur Familie und zur Rolle der Frau zeigt (vgl. Gerhards/Holscher 2003; Steinitz 2001). Die EU-Osterweiterung fiihrt also Lander zusammen, die in ihrem Status hochst unterschiedlich sind. Die mit der Aufnahme neuer Mitglieder in die EU verbundenen Prozesse des Wandels etablierter Gruppengrenzen oder der Veranderung vorhandener okonomischer und politischer Ressourcenverteilung sind Ausloser von groBen Verunsicherungen in der deutschen Bevolkerung (Eurobarometer 2002; Institut fur Demoskopie Allensbach 2004). Sozialer Wandel, wie er durch die Osterweiterung forciert oder ausgelost wird, verandert die bisherigen Verhaltnisse auf drei unterscheidbaren Ebenen: Betroffen sind die gesellschaftlichen Strukturen, die sozialen Identitaten und die personlichen Lebensumstande. Ein Blick auf ausgewahlte statistische Indikatoren macht die strukturellen Herausforderungen sofort deutlich: Steigende Arbeitslosenzahlen, zunehmende Einkommensund Vermogensungleichheit, Zunahme an bestimmten Arten der Kriminalitat, interethnische Spannungen usw. sind bereits heute in vielen der bisherigen EU-15-Lander ein Problem, mit der Erweiterung wird eine Verscharfung dieser Situation erwartet. Gleiche, teilweise noch drastischer ausfallende Verhaltnisse sind auch in den Beitrittslandem zu beobachten: Erwahnt seien nur Arbeitslosenquoten und Beschaftigungsanteile in der Landwirtschaft von bis zu 20 Prozent (vgl. WeiB 2004). Der Bevolkerungszuwachs der mittlerweile vierten Erweiterung liegt in einem Bereich, wie er anteilsmaBig nur durch die erste Erweiterung der EU 1973 um Danemark, Irland und GroBbritannien erreicht wurde. Mit diesem
Vorurteilsforschung
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war aber zugleich eine deutliche Anhebung des Bruttosozialprodukts um 29 Prozent verbunden, da wirtschaftlich leistungsstarke Lander beitraten. Der wirtschaftliche Zuwachs betragt bei der anstehenden Erweiterung aber gerade einmal 9 Prozent, das Bruttosozialprodukt pro Kopf geht zuriick (vgl. Piazolo 2002). Legt man die bisherigen Kriterien der EU zur Definition wirtschaftsschwacher Gebiete an, dann verdoppelt sich im Zuge der Erweiterung die Anzahl an riickstandigen Regionen („less-favoured regions"), was enorme Haushaltsprobleme nach sich zieht (vgl. Heidenreich 2003; Rothacher 2004). Diese wenigen Indikatoren verdeutlichen, dass die gesamte Union in ihrer bisherigen Stmktur infolge der Aufnahme der osteuropaischen Lander vor grofien Herausforderungen steht. Interne Verteilungs- und Machtkampfe diirften das Ansehen der EU nicht nur nach auBen, sondern auch nach innen, d.h. bei den eigenen Blirgerinnen und Biirgem schadigen. Gerade bei diesen selbst scheint das Projekt eines gemeinsamen Europas bislang nicht wirklich angekommen zu sein. Ihm haftet nach wie vor das Etikett an, dass es von und fiir Eliten gemacht ist und damit nur die Kopfe weniger und die Herzen einer noch geringeren Anzahl von Menschen wirklich erreicht. Die Entwicklung einer europaischen Identitat, die eine notwendige kulturelle Erganzung zur wirtschaftlichen und politischen Integration darstellt und Ausdruck der affektiven und kognitiven Zustimmung zur Europaischen Union ist, macht seit geraumer Zeit kaum noch Fortschritte, stattdessen scheinen nationale und regionale Identitaten wieder zu erstarken (vgl. Westle 2003). Die Chancen auf die Ausbildung einer gemeinsamen europaischen Identitat stehen durch die Aufnahme von zehn weiteren Landern, in denen oftmals ein ausgepragter Nationalstolz Tradition hat, nicht gerade zum Besten. Im konkreten sozialen Zusammenleben vor Ort konnte sich die jiingste Erweiterungsrunde durchaus in Angst und Desintegration niederschlagen. Wandel wird von wenigen Menschen hoffnungsfroh erlebt, weil er in erster Linie bisherige Traditionen und Routinen entwertet und Neuorientierungen notwendig macht. Befunde zu den Ursachen sozialer Probleme wie Gewalttatigkeit und Rechtsextremismus verdeutlichen, dass es nicht immer auf den objektiven Realitatsgehalt von Konfliktkonstellationen ankommt, sondern darauf, wie Menschen die Realitat wahmehmen und interpretieren. Als bedrohlich wahrgenommene Veranderungen sind dann eine Legitimierung dafiir, partikularistische, antidemokratische Einstellungen auszubilden, die sich auch in entsprechenden Handlungen niederschlagen konnen. Einerseits kann der bestehende Ausschluss aus einem oder mehreren Lebensbereichen (Arbeitsmarkt, politische Mitgestaltung usw.) dafiir verantwortlich sein, dass die Erweiterung ausschlieBlich als Bedrohung wahrgenommen wird; andererseits kann es entsprechend den erwahnten strukturellen Veranderungen zu weiteren AusschlieBungen kommen. Beispielsweise steht die Gefahr im Raum, dass sich die Zugangsbeschrankungen zum Arbeitsmarkt verscharfen. Zugleich ist die weiter wachsende Brlisseler Biirokratie fiir manchen Biirger ein Grund, sich aus der politischen Mitgestaltung ganz zuriickzuziehen. All diese Phanomene illustrieren die sozialen Implikationen der Osterweiterung und notigen in ihrer hier bewusst gewahlten negativen Formulierung dazu, sich auch soziologisch mit diesem Prozess auseinander zu setzen. Die Erweiterung ist kein Selbstlaufer in Richtung Integration, wie dies verschiedene, meist politikwissenschaftliche Veroffentlichungen Glauben machen mochten; sie hat auch 'Desintegrationspotenzial'.
18 2.2
Rechtsextremismusforschung Sozialer und politischer Wandel als Mikro-Makro-Problem
Theoretisch betrachtet sind sozialer und politischer Wandel Phanomene, die soziologisch betrachtet der Makroebene zuzuordnen sind. Aktuelle Ansatze der Rechtsextremismus- und Vorurteilsforschung befassen sich allerdings primar mit Problemen und Zusammenhangen, die der Mikroebene zuzurechnen sind (Sozialisationsprozesse, Anerkennungsprozesse, Deprivationserfahrungen). Sie sind zwar haufig theoretisch locker mit Einfliissen der sozialen Rahmenbedingungen - also der Makroebene - verkniipft, diese spielen aber spatestens bei der empirischen Priifung keiner Rolle mehr. Aber gerade in der Analyse sozialer Rahmenbedingungen liegen die Ankniipfungspunkte, die der Schliissel fiir die Analyse kollektiver Phanomene sind. Nur die Betrachtung soziale Rahmenbedingungen ermoglicht es, kollektive Entwicklungstrends in der Auspragung von rechtsextremen Orientierungen zu erklaren. Gleichzeitig mtissen diese sozialen Rahmenbedingungen mit sozial- und personlichkeitspsychologischen Aspekten verkniipft werden, um interindividuelle Unterschiede erklaren zu konnen. Die Problematik der Mikro-Makro-Verkniipfung ist in der Rechtsextremismus- und Vorurteilsforschung ein weitgehend vernachlassigtes Gebiet; die soziologische und die sozialpsychologische Forschung zeigen liberraschend wenig tJberschneidungen und auch wenig Beziige zur Thematik des sozialen Wandels. Die scheinbar unterschiedlichen Perspektiven lassen sich bereits an den Begrifflichkeiten erkennen, spricht man in der soziologischen Forschung eher von Rechtsextremismusforschung, begrifflich ankniipfend an gesellschaftliche Probleme, so dominiert in der Sozialpsychologie eine primar individualistisch gepragte Sicht, die unter den Oberbegriff der Vorurteilsforschung gefasst wird. Hinsichtlich der Makro-Mikro-Verbindung sind mehrere Probleme von theoretischer Bedeutung, und zwar zum einen die Frage, wie sich die soziale Situation (Makroebene) auf die Wahmehmung der Akteure (Mikroebene) auswirkt, und zum anderen, wie die Reaktion der Akteure (Mikroebene) mit kollektiven Entwicklungen in Verbindung zu bringen ist? Bettet man Beides in ein Modell der soziologischen Erklarung ein, wie es u.a. Esser (1999) favorisiert, lassen sich die beiden Grundprobleme folgendermaBen lokalisieren. Die Logik der Situation bezieht sich auf den Zusammenhang zwischen sozialer Struktur bzw. gesellschafdichen Bedingungen und der Wahmehmung dieser durch die Akteure. Hier ware die Frage zu verorten: Wie wirkt sozialer Wandel auf die Akteure? Wie nehmen die sozialstrukturell unterschiedlich verorteten Akteure die EU-Osterweiterung wahr; als relevant oder irrelevant flir ihr Leben, als Chance, als Verunsicherung oder als Bedrohung? Welchen Einfluss haben unterschiedliche Rahmenbedingungen auf diese Bewertungsprozesse? Die Logik der Selektion umfasst die Prozesse auf der Individualebene, die die individuelle Form der Verarbeitung dieser Wahrnehmung darstellen. Hier sind die Fragen zu verorten: Wie gehen die Akteure mit der Wahmehmung z.B. von Verunsicherung oder Bedrohung um? Neigen sie zu problematischen Bewaltigungsstrategien („Coping") etwa in Form einer Orientierung an rechten Einstellungen oder einer negativen Bewertung der Fremdgruppe ,Burger der Beitrittslander'. Warum neigen sie zu dieser Art des Copingverhaltens? Im letzten Schritt geht es dann um die Frage, wie aus individuellem Verhalten kollektive Entwicklungen werden. Den Zusammenhang zwischen dem individuellen Copingverhalten der Akteure und kollektiven Ergebnissen bezeichnet die Logik der Aggre-
Vomrteilsforschung
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gation. Hier geht es unter anderem um die Frage: Kommt es zu einer quantitativ bedeutsamen Mobilisierung rechter Einstellungen durch die EU-Osterweiterung? In personlichkeits- und sozialpsychologischen Theorien der Vorurteilsforschung finden sich disziplintypisch kaum Ansatzpunkte zur Mikro-Makro-Verbindung, diese Theorieansatze beschaftigen sich schwerpunktmaBig mit der Logik der Selektion. Im Kontext der sozialpsychologischen Forschung dominieren Intergruppenansatze (Hewstone 2004), die sich auf individuelle Wahrnehmungen und Bewertungen von Gmppenkonstellationen beziehen und somit Aspekte der Meso-Ebene einbeziehen. Dies geschieht allerdings weniger auf der Ebene der Explikation der Logik der Situation, es werden vielmehr Basisprozesse der Wahrnehmung von Intergruppenbeziehungen betrachtet.
Veranderung der okonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Situation der Gesellschaft Sozialer Wandel
Anstieg von Rechtsextremismus, extremistischem Wahlverhalten, kollektiver Gewalt
Logik der Aggregation
Logik der Situation Wahrnehmung von Bedrohung durch die Akteure
Logik der Selektion
Abgrenzendes Copingverhalten der Akteure
Abbildung 1: Die soziologische Erklarung in der Rechtsextremismus- und Vorurteilsforschung Aber auch in der soziologischen Rechtsextremismusforschung beziehen sich viele theoretische Ansatze primar auf die Logik der Selektion, so etwa sozialisationstheoretische Uberlegungen (Adorno et al. 1950; Hopf 2000; Oesterreich 2000), aber auch das Gros der deprivationstheoretischen Arbeiten (Rippl/Baier 2005; Walker/Smith 2002). Allerdings weisen diese Theorien zumindest implizit haufig Uberlegungen auf, die sich auf makrostrukturelle Rahmenbedingungen beziehen, die dann allerdings in den empirischen Analysen haufig weitgehend vemachlassig werden. Theoretisch starker betont wird der Zusammenhang zur Makroebene in theoretischen Ansatzen, die unter dem Label ,Modemisierungstheorie' zusammengefasst werden. Hier finden sich mehr oder weniger explizite Brlickenhypothe-
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Rechtsextremismusforschung
sen dazu, wie makrosoziale Rahmenbedingungen von den Akteuren wahrgenommen werden und in ihre Definition der Situation einflieBen. Auch die Logik der Aggregation wird in der Rechtsextremismusforschung nur relativ selten explizit thematisiert. In der Wahlforschung finden sich explizite Regeln, die die Prozesse der Aggregation des individuellen Wahlverhaltens offen legen. Schwieriger wird es bei der Betrachtung anderer Kollektivphanomene. Ftir die Entstehung kollektiver Gewalt wie z.B. Ubergriffe auf Asylbewerberheime Hegen im Kontext von RationalChoice-Ansatzen Schweilenwertmodelle (Ltidemann 1995) vor. Die Ausbreitung rechter Orientierungen mtisste ebenfalls unter verschiedenen Rahmenbedingungen der poHtischen Kultur, der Gesetzgebung (Umgang mit Demonstrationen, Parteienverbote etc.), der Aufbereitung der Thematik in den Medien (Brosisus/Esser 1996), der Zuwanderungspolitik etc. genauer expHziert werden. Eckert et al. (1996) zum Beispiel beschreiben in ihrem Eskalationsmodell Kontextbedingungen, die zu rechtsextremen Ubergriffen auf Asylbewerber ftihren. Sozialer Wandel stellt einen Sonderfall makrosozialer Rahmenbedingungen dar, da nicht statische sondern dynamische Elemente bzw. Prozesse als ursachlich ftir spezifische Wirkungen auf der Mikroebene betrachtet werden. Bei der Analyse der Wirkungen von Wandlungsprozessen sind verschiedene Aspekte zu unterscheiden. Zum einen konnen kurTfristige oder langfristige Folgen im Zentrum des Interesses stehen. Bereits Glen Elder (1974) hat in seiner Studie tiber die Wirkung der „Great Depression" die Bedeutung historischer Ereignisse fiir die Entwicklung der Personlichkeit und der Einstellungen von Individuen analysiert. Elders Studien verfolgen eine Lebensverlaufsperspektive und fokussieren eher auf langfristige Folgen. Dabei werden die biographische Zeit (der Lebensverlauf der Individuen) und die historische Zeit (die makrosozialen Ereignisse) und deren Interaktion betrachtet. Im Unterschied zu diesen Arbeiten weist die Betrachtung sozialer Ereignisse und Wandlungsprozesse im Kontext der Rechtsextremismus- und Vorurteilsforschung zumeist eine kurzfristigere Perspektive auf. Zwar wird in einigen eher entwicklungspsychologisch orientierten Studien - etwa im Kontext der Frage, wie die Konsequenzen historischer Ereignisse in einer pragenden Sozialisationsphase politischer Einstellungen zu bewerten sind (z.B. Bromba/Edelstein 2002 zur Erfahrung der deutsch-deutschen Vereinigung; Boehnke/Boehnke 2006 zu Auswirkungen des Reaktorunfalls von Tschernobyl) - auch die Frage der Wirkung historischer Ereignisse im Lebensverlauf diskutiert; es dominiert allerdings eine Sichtweise, die auf kurzfristige Effekte fokussiert ist. Zumeist wird das aktuelle potentiell problematische Kompensationsverhalten von Akteuren im Hinblick auf bestimmte Ereignisse analysiert. In der anomietheoretisch argumentierenden Rechtsextremismusforschung wird sozialer Wandel als aktuell wahrgenommenes Ereignis konzeptualisiert, das kurzfristige Konsequenzen wie etwa Verunsicherungen und Orientierungskrisen bedingt, die mit einer Hinwendung zu scheinbar sicheren Orientierungen (z.B. rechte Ideologien) verarbeitet werden. Auch deprivations- und konflikttheoretische Ansatze sehen die Folgen von sozialem Wandel primar in kurzfristiger aktueller Perspektive. Sozialer Wandel verandert potentiell den vorhandenen Status einer Person oder einer Gruppe und kann somit Ressourcen gefahrden, was wiederum zu Konflikten fiihrt.
Vomrteilsforschung 2.3
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Sozialer und politischer Wandel als Bedrohung
Das Bedrohungskonzept wird im Rahmen der folgenden Uberlegungen als Bindeglied zwischen Wandlungsprozessen und individuellen Reaktionen verstanden: Sozialer und politischer Wandel, wie er durch die EU-Osterweiterung ausgelost wird, fiihrt potentiell zu Veranderungen vorhandener sozialer Strukturen und Rahmenbedingungen. Diese Situation kann mit positiven oder negativen Erwartungen verbunden sein, sie kann Verunsicherungen auslosen. Im Kontext der Frage nach dem Mobilisierungspotential fiir rechte Orientierungen spielen Bedrohungswahmehmungen, d.h. die negativen Wahrnehmungen von Veranderungen, eine herausgehobene Rolle. Das Bedrohungskonzept ermoglicht es, die erwarteten Veranderungen durch sozialen Wandel im Rahmen einer querschnittlichen Studie zu erfassen. Es fungiert als Bindeglied zwischen Prozessen des sozialen Wandels durch die EUOsterweiterung und den aus Rechtsextremismus- und Vomrteilsforschung bekannten Einflussfaktoren. Die Rechtsextremismus- und Vomrteilsforschung spezifiziert dabei Faktoren, die Antworten auf die Frage ermoglichen, warum die EU-Osterweiterung als bedrohlich wahrgenommen wird und flir welche Personengruppen dies im Besonderen zutrifft. Die Forschung zur Wahmehmung und zu Folgen von Bedrohung liefert differenzierte Konzepte zur Erfassung von Bedrohungen. Beide Ansatze erganzen sich hinsichtlich der Frage, wie und unter welchen Bedingungen die „Stresssituation sozialer Wandel" durch eine Hinwendung zu rechten Orientiemngen bewaltigt wird. Konzentrieren wir uns zuerst auf das Bedrohungskonzept. Hier liegen inzwischen eine Reihe von Arbeiten vor (Quillian 1995; Feldman/Stenner 1997; McLaren 2003; Rippl 2003; Wagner et al. 2006). Prominent ist die integrated threat theory of prejudice von Stephan und Stephan (2000), die durch ihre multidimensionale Sichtweise auf verschiedene Arten von Bedrohungen verschiedene Ansatze der Rechtsextremismus- und Vomrteilsforschung integriert. Sie versteht sich selbst - wie ihr Name bereits nahe legt - als Ergebnis der Integration verschiedener theoretischer Orientiemngen. Unter Bezug auf diese verschiedenen Theorien unterscheiden die Autoren folgende Bedrohungsfaktoren: (a) die realistische Bedrohung („realistic threat"), (b) die symbolische Bedrohung („symbolic threat"), (c) die Intergmppenangst („intergroup anxiety") und (d) die negativen Stereotype. Realistische Bedrohung: In diesem Bereich flieBen Theoriestromungen ein, die konflikttheoretische Aspekte hervorheben. Die Konkurrenz um knappe, insbesondere okonomische Ressourcen ist hier das Hauptmotiv fiir Konflikte (LeVine/Campbell 1972; Sherif/Sherif 1979; Esses et al. 1998). Damit sind Faktoren angesprochen, die die faktische Existenz der Eigengmppe in Frage stellen, etwa ihre politische und okonomische Macht wie auch ihr physisches oder materielles Wohlergehen. Im Kontext der EU-Osterweiterung konnte es sich bei den in der deutschen Bevolkemng befiirchteten Einschrankungen auf der materiellen Ebene um die Wahmehmung zunehmender Konkurrenz um Arbeitsplatze, um Lohne oder die Vergabe von Auftragen handeln. Im Sinne Essers (1996) konnte auch das politische Kapital als gefahrdet angesehen werden. Die politische Souveranitat und der politische Einfluss der Eigengmppe und ihrer Institutionen konnten durch die Aufnahme von weiteren Landem in die EU gefahrdet erscheinen. Beispiele sind hier die Abgabe von
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Rechtsextremismusforschung
Kompetenzen der Bundesregiemng an die EU oder der Verlust des Einflusses nationaler Gewerkschaften.^ Symbolische Bedrohung: Neben den theoretischen Ansatzen, die die Konkurrenz um Ressourcen betonen, gibt es Autoren, die okonomischen Faktoren eine eher untergeordnete Bedeutung beimessen. Die Theorie des symbolischen Rassismus (Sears 1988) betont die Bedeutung der wahrgenommenen Bedrohung der moralischen und normativen Standards und Wertvorstellungen einer Gruppe fiir die Entstehung von Abwertungsprozessen. Kulturelle Faktoren stehen im Vordergrund des Interesses. Die Mehrheitsgruppe ftirchtet um die eigene kulturelle Dominanz und fordert von der Minderheitengruppe Anpassung an die vorhandenen Standards. Hierunter werden wahrgenommene Unterschiede in den moralischen Standards, Wertorientierungen und Sitten der unterschiedlichen Gruppen gefasst, die als Bedrohung der jeweils eigenen Standards empfunden werden. Der faktische Wegfall der Grenze konnte als Zunahme der Pluralitat von Lebensformen wahrgenommen werden, die in Konkurrenz zur kulturellen Identitat der Eigengruppe treten oder diese aufweichen. Kulturelle Eigenarten der Beitrittslander konnten als Bedrohung vorhandener Wertvorstellungen und etablierter Standards empfunden werden. Auch konnten hier vorhandene Stereotype oder Vorurteile bis hin zu Feindbildern gegenliber der Fremdgruppe z.B. zu Ordnung, FleiB, Sauberkeit mit eigenen Standards in Konflikt geraten. In extremen Fallen konnte die Auflosung der Gruppengrenzen insgesamt und der Verlust der Distinktionsfahigkeit und damit des eigenen Status durch den Wegfall der Grenze beflirchtet werden. Die beiden weiteren Aspekte, die Stephan und Stephan (2000) in ihre Konzeptualisierung von Bedrohung einordnen, beziehen sich nicht auf den Aspekt der Konkurrenz und nehmen daher nach unserer Ansicht eine andere Stellung im Erklarungsmodell ein. Hier handelt es sich um weitaus situationsunabhangigere Faktoren, die eher einer bestimmten Personlichkeitsstruktur zuzuordnen sind. IntergruppenangsV. Hier geht es um die Wahrnehmung von Gefiihlen, die entstehen, wenn die Personen mit Mitgliedem der Fremdgruppe interagieren wiirden. Es geht dabei um Gefiihle der Bedrohungen des eigenen Selbst. Dabei sollen Gefiihle wie Angst, Unwohlsein, Erregung, Uberlegenheit oder Besorgnis erfasst werden. Negative Stereotype: Stereotypisierung ist ein Mittel der Komplexitatsreduktion und dient der Orientierung in einer iiberkomplexen Umwelt (vgl. Dettenborn/Boehnke 1994). Diese kognitiven „Hilfsmitter' werden allerdings mit Wertungen verbunden. Negative Stereotype sind negative Merkmale, die der Fremdgruppe pauschal zugeordnet werden und mit negativen Erwartungen gegenliber der Fremdgruppe verbunden sind. Solche vorhandenen Stereotype spielen gerade fiir die Beziehungen zwischen Polen, Tschechen und Deutsche eine besondere Rolle. Es existieren historisch gewachsene Feindbilder, die insbesondere durch den Zweiten Weltkrieg gepragt sind und die Intergruppenbeziehungen pragen. Inwieweit Bedrohung kognitiv oder emotional verarbeitet wird, lasst die Theorie weitgehend offen. Stephan und Renfro (2002: 197) sehen Bedrohung als „cognitive Folitische Aspekte ordnen wir im Unterschied zu Esser den ,realistic threats' zu, da es im Sinne von Stephan und Stephan (2000) um die Bedrohung der faktischen politischen Macht der Gruppe geht.
Vorurteilsforschung
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appraisal", erst die individuellen Reaktionen darauf sind emotionaler Natur (z.B. Angste). Allerdings tritt dieses Konzept der Angst als weiterer Mediator nicht mehr im Modell auf. Hier sind Bedrohungswahmehmungen - also kognitive Aspekte - direkt mit Vorurteilen verbunden. Uns scheint es sinnvoll, die emotionale Verarbeitung als integralen Bestandteil des Bedrohungskonzepts zu fassen; „intergroup anxiety" ist ein explizit emotionaler Faktor im Modell. Als Erweiterung dieses Ansatzes, der sich im wesentlichen auf die Uberlegungen von Stephan und Stephan (2000) bezieht und primar kollektive Aspekte der Bedrohung in den Blick nimmt, soil in unserem Analysemodell auch die individuelle Ebene integriert werden. Eine Person kann beispielsweise Angst davor haben, dass die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik steigt, unabhangig davon, ob sie Angst davor hat, selbst arbeitslos zu werden. Interessanterweise legen auch Stephan und Renfro (2002) in einer Modifikation ihrer Theorie solch eine Differenzierung vor, die aber noch keiner empirischen Priifung unterzogen wurde. Ein weiterer Unterschied zur Konzeptualisierung von Stephan und Stephan liegt darin, dass ein Ereignis als Ausl5ser von Bedrohung angenommen wird. Stephan und Stephan (2000) haben ihr Konzept urspriinglich enger angelegt und auf Bedrohungs- und Konkurrenzsituationen zwischen Gruppen fokussiert. Im Kontext der hier vorgelegten Studie wird angenommen, dass eine Ereignis, namlich die EU-Osterweiterung indirekt mit einer Veranderung von Gruppenrelationen verbunden. Das Bedrohungskonzept ermoglicht es somit, die Effekte sozialer Wandlungsprozesse im Kontext der Vorurteilsforschung zu erfassen. Wandlungsprozesse konnen sich auf verschiedene Sachverhalte beziehen und unterschiedliche Prozesse auslosen, die aber dennoch einen ahnlichen Effekt auf die Auspragung von Vorurteilen haben. Bedrohungsgefuhle, die durch die Veranderung etablierter Intergruppenbeziehungen mobilisiert werden, flihren primar zu verstarkten Konkurrenzgeflihlen gegeniiber der Fremdgruppe. Konkurrenz und Konfliktwahrnehmungen sind hier die Ursache fiir die Verstarkung von Vorurteilen. Bedrohungsgefuhle konnen aber auch durch Ereignisse ausgelost werden. Im Falle der EU-Osterweiterung werden durch die Veranderung politischer Rahmenbedingungen diffuse Bedrohungsgefuhle mobilisiert, die pauschal als Situation der Verunsicherung durch Veranderung beschrieben werden konnen. Auch hier kann es zu einer verstarkten Ablehnung der Fremdgruppe kommen, der Weg hierzu sind aber Kompensationsprozesse (Rippl 2003). Verunsicherungen werden kompensiert durch den Bezug auf eindeutige Merkmale und Zugehorigkeiten. Die EU-Osterweiterung hat Einfltisse auf beiden Ebenen, denn die Veranderungen der politischen Rahmenbedingungen fiihren auch zu potentiellen Veranderungen der Intergruppenbeziehungen. Veranderung Intergruppenbeziehungen
Copingmechanismus Konkurrenz
Politische Rahmenbedingungen
Kompensation
Ergebnis Vorurteile Vorurteile Einstellungen zu einem Ereignis
Abbildung 2: Bedrohung und Vorurteile - Mechanismen
24 2.4
Rechtsextremismusforschung Zur Bedeutung des Bedrohungskonzepts fiir die Rechtsextremismus- und Vorurteilsforschung
Betrachten wir nun die Frage, unter welchen Bedingungen sozialer Wandel zu Bedrohungsgefiihlen, Verunsichemng oder Deprivationsgefuhlen bei den Akteuren fiihrt. Um interindividuelle Unterschiede und Unterschiede zwischen sozialen Gruppen in der Wahrnehmung des Ereignisses erklaren zu konnen, miissen mogliche unterschiedliche Definitionen der Situation ebenso betrachtet werden, wie unterschiedliche Logiken der Selektion, sprich unterschiedhche Copingstrategien. Unterschiede in der Definition der Situation sind durch verschiedene soziale aber auch individuelle Merkmale der Akteure zu erklaren. Um relevante Merkmale zu identifizieren, kann auf vorhandene Theorien der Rechtsextremismus- und Vorurteilsforschung zuriickgegriffen werden. Es muss dabei herausgearbeitet werden, inwieweit und warum die Situation des Wandels durch die EU-Osterweiterung als Bedrohung wahrgenommen wird und fiir welche Personengruppen dies zutrifft. Im Kontext der sozialpsychologischen Vorurteilsforschung (Hewstone 2004) dominieren Theorien, die - im weitesten Sinne - in der Tradition der Social Identity Theory (Tajfel/Turner 1986) stehen. Hier bezieht sich die potentielle Bedrohung primar auf die Bedrohung des Status der Eigengruppe, was indirekt einer Bedrohung des eigenen Selbstbildes gleichkommt. Es werden z.B. Aspekte wie der okonomische oder auch politische Status der Eigengruppe, die Stabilitat dieses Status, die Salienz der Gruppenidentifikation und der Vergleichsgruppen, vorhandene Kontakte zwischen Gruppenmitgliedern, vorhandene Gruppenkonflikte und vorhandene Feindbilder und Stereotype thematisiert. Relevant ist dabei hinsichtlich der Bedeutung von sozialem Wandel die Frage, inwieweit bestimmte Statusbeziehungen als legitim erachtet werden und inwieweit Stabilitat wahrgenommen wird. Auch wenn eine Legitimitat der vorhandenen Statusrelationen angenommen wird, ist die durch die EU-Osterweiterung verursachte Instabilitat ein Faktor potentieller Bedrohung. Durch sie ergibt sich eine Bedrohung des politischen und okonomischen Status der Eigengruppe im Vergleich zu den Beitrittslandern. Diese Situation fiihrt - folgt man der Theorie - zu einer verstarkten Konkurrenz zwischen den Gruppen und moglicherweise zu ethnozentrischen Haltungen (Baier et al. 2004). Vorhandene Kontakte, Konflikte und Stereotype wirken als Faktoren, die die Bedrohungswahmehmung dampfen bzw. verstarken konnen. Fiir Theorieansatze in der Tradition der Social Identity Theory sind primar Faktoren relevant, die der Gruppenebene zuzuschreiben sind, auch wenn sie sich auf der individuellen Ebene manifestieren. Es geht hier also um die erwarteten Folgen der EU-Osterweiterung fiir die Eigengruppe und nicht um die direkten Folgen fiir die eigene Person. Interindividuelle Unterschiede in der Wahrnehmung dieser kollektiven Prozesse ergeben sich z.B. aus einem schwachen Selbstbewusstsein, das in starkerem MaBe der Kompensation durch Gruppenvergleiche bedarf. Die Beziehung zu Faktoren auf der personlichen Ebene der Betroffenheit wird theoretisch wenig beleuchtet. In der soziologischen Forschung zeigt sich ein recht uneinheitliches Bild sehr unterschiedlicher Erklarungsansatze. Auf der Ebene von Intergruppenprozessen spielen Konflikttheorien eine Rolle. Im Falle der EU-Osterweiterung konnte z.B. die ,Theorie des ethnischen Wettbewerbs' (Olzak 1992) als Ausgangspunkt herangezogen werden. Sie geht davon aus, dass insbesondere Situationen des sozialen Wandels, die etablierte Ungleich-
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heiten und Privilegien bedrohen oder gar auflosen, Konflikte und Diskriminierungstendenzen zwischen verschiedenen Gruppen auslosen. Solange verschiedene Gruppen bestimmte Nischen besetzten, bleibt der Konflikt "latent", die Situation stabil. Nicht die vorhandene soziale Ungleichheit ist die Ursache fiir das Aufbrechen von Konflikten, sondem gerade Prozesse des Wandels, die etablierte Stmkturen und Privilegien bedrohen. Esses et al. (1998) gehen davon aus, dass nicht tatsachliche Konflikte, sondern bereits die Wahrnehmung einer Konkurrenzsituation ausreicht, um negative Einstellungen gegeniiber der Fremdgruppe hervorzurufen. Faktoren, die sich auf die personliche Betroffenheit beziehen, werden starker im Kontext der Anomie- und der Desintegrationstheorie aber auch in der Autoritarismusforschungthematisiert. Die Anomietheorie ist wohl die sozialwissenschaftliche Theorie, die sozialen Wandel zuerst als Krisenmoment wahrgenommen hat. Bereits in den klassischen Uberlegungen Durkheims ist sozialer Wandel - selbst wenn er positive okonomische Effekte zeitigt - der Ausloser fiir anomische Reaktionen. Der soziale Wandel bedroht gefestigte Orientierungssysteme und verschiebt Ziel-Mittel-Relationen. In der Rechtsextremismusund Vomrteilsforschung wird die Hinwendung zu rechten Ideologien als Kompensationsversuch in anomischen Situationen verstanden. Orientierungskrisen, die durch sozialen Wandel entstanden sind, werden durch die Orientierung an Denksystemen, die mit einfachen Kategorien wie Gut und Bose, Stark und Schwach und mit Fiihrungsangeboten arbeiten, stabilisiert, Anomietheoretische Wurzeln finden sich auch in der Desintegrationstheorie Heitmeyerscher Provenienz, die ursprunglich diese Uberlegungen verbunden mit Thesen zur Individualisierung im Kern ihrer Analysen verankert hatte. In Weiterentwicklungen steht das Desintegrationsphanomen im Zentrum, Normlosigkeit und Orientierungskrisen werden als Folge von Desintegration betrachtet. Die Desintegrationstheorie stellt einen umfassenderen Ansatz dar, der Desintegration systematisch auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen lokalisiert. Sie macht dabei deutliche Anleihen bei deprivationstheoretischen Ansatzen, die inhaltlich aber erweitert werden (Rippl/Baier 2005). Die Ursachen fiir Desintegration werden in gesellschaftlichen Makroprozessen wie Globalisierung und Individualisierung verortet. Potentielle Bedrohungen durch die EU-Osterweiterung konnen unterschiedliche Bereiche personlicher Integration betreffen. Anhut und Heitmeyer (2000) verweisen auf verschiedene Dimensionen der Integration und Desintegration. Sie unterscheiden dabei die sozial-strukturelle Dimension, die institutionelle Dimension und die sozialemotionale Dimension. Die strukturelle Dimension bezieht sich auf die Frage der okonomischen Teilhabe, die vor allem durch den Zugang zum Arbeitsmarkt sichergestellt wird. Hinzu kommt die institutionelle Dimension; sie umfasst Fragen der institutionellen Teilhabe hauptsachlich in Form politischer Partizipation. Die soziale Dimension beinhaltet die Frage nach Rtickhalt und sozialer Unterstiitzung im nahen gemeinschaftlichen Lebensbereich. Obwohl auf der strukturellen Ebene auch kollektive Aspekte genannt werden, steht in Heitmeyers Ansatz primar die individuelle Ebene im Vordergrund. Die Wahmehmung des sozialen Wandels durch die EU-Osterweiterung ist im Rahmen der Desintegrationstheorie nur dann von Bedeutung, wenn die Folgen auf der personlichen Ebene als relevant wahrgenommen werden. Desintegration ist ein Konzept, dass sich primar auf die personliche Situation der Akteure bezieht. Potentielle Veranderungen durch die EU-Osterweite-
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Rechtsextremismusforschung
rung sind dann von Bedeutung, wenn sie Folgen fiir die okonomischen, institutionellen und sozialen Teilhabemoglichkeiten der Betroffenen haben bzw. wenn solche Folgen wahrgenommen werden. Die neuere Autoritarismusforschung bezieht sich ganz explizit auf die Aspekte Bedrohung und Verunsicherung, die durch Wandlungsprozesse ausgelost werden. In neueren Studien werden diese Prozesse neben den Sozialisationsgrundlagen spezifischer Personlichkeitsentwicklungen als eine zentrale Ursache fiir die Hinwendung zu rechten Orientierungen gesehen (Feldman 2000). Diese situationsbezogene Sichtweise von Autoritarismus wird u.a. von Feldman und Stenner (1997) oder in Deutschland von Oesterreich (1996) vertreten. Ahnlich wie in der Anomietheorie werden rechte Orientierungen von Akteuren verwendet, um eigene Verunsicherungen zu kompensieren. Erganzend zur Anomietheorie wird hier allerdings herausgearbeitet, dass diese Art der Kompensation von Unsicherheit nur fiir bestimmte Personen nahe liegt, namlich fiir solche mit latenten autoritaren Dispositionen. Es wird von einer Interaktion autoritarer Dispositionen und bedrohlicher Situationen ausgegangen. Zunehmend werden in der Rechtsextremismusforschung auch Theorien diskutiert, die instrumentelle Werthaltungen im Zusammenhang mit der Entwicklung rechter Einstellungen sehen (Hagan et al. 1999; Hadjar 2004). Heitmeyer et al. (1992) argumentieren im Rahmen ihrer Instrumentalisierungsthese, dass Selbstdurchsetzung und instrumentelle Orientierungen als „ein affines Muster der industriegesellschaftlichen Verwertungslogik" Funktionen der Lebensbewaltigung und RealitatskontroUe einnehmen (1992: 995). Diese Wertorientierungen stehen offenbar in Zusammenhang mit der Entwicklung rechtsextremer Orientierungen (Hadjar 2004). Eine Verstarkung solcher Einstellungen ist bei zunehmender Konkurrenzwahrnehmung durch die EU-Osterweiterung durchaus denkbar. Die genannten Theorien geben somit Erklarungen dafiir, warum sozialer Wandel zur Hinwendung zu rechten Orientierungen fiihren konnte. Eine Systematik gibt Abbildung 3. Wie die (Jbersicht in Abbildung 3 zeigt, lasst sich im Rahmen aller genannten Theorien ein Bezug zu den Auswirkungen sozialen Wandels herstellen, auch wenn dies im Kontext der Theorien selbst nicht immer explizit erfolgt. Die benannten Theorien geben allerdings insgesamt relativ wenig Information dazu, fiir welche Personen oder Gruppen die Bedrohung besonders relevant ist. Im Kontext der Theorie zur sozialen Identitat ist die Situation prinzipiell fur alle von Bedeutung, man konnte allerdings ableiten, dass insbesondere Personen mit schwacher Ich-Identitat die Notwendigkeit verspiiren, dieses Defizit durch eine gestarkte soziale Identitat auszugleichen. Das im Rahmen der hier vorgelegten Studie verwendete Analysemodell versucht, relevante Indikatoren der genannten Theorien in einem Mehrebenenmodell zu integrieren (vgl. Abbildung 4) Faktoren, die in der Autoritarismusforschung, der Anomie- und Desintegrationstheorie genannt werden, werden der Mikroebene zugeordnet und als Bedingungen fiir das Erleben von Bedrohungen auf Mikro- und Meso-Ebene aufgefasst. Faktoren der Intergruppentheorie, insbesondere der Social Identity Theory finden sich auf der Meso-Ebene. Auch sie werden als Pradiktoren oder Rahmenbedingungen fiir Bedrohungserleben verstanden. Zudem finden sich im Modell strukturelle Faktoren der Makroebene, die keine direkte Wir-
Vorurteilsforschung
27
kung auf das Bedrohungserleben haben, aber als Kontexte ftir Faktoren der Meso- und Mikroebene verstanden werden. Die Threat-Theorie findet sich in der mittleren Spalte und wird aufgrund der Differenzierung in individuelles und kollektives Bedrohungserleben auf Mikro- und Meso-Ebene angesiedelt. Auf der Makroebene wird das erwartete Ereignis, namlich die Veranderungen durch die EU-Osterweiterung lokalisiert. Das Bedrohungserleben fungiert sozusagen als Katalysator, wobei die Determinanten der linken Spalte Rahmenbedingungen liefem, die quasi im Sinne von vorhandenen oder auch nicht vorhandenen Ressourcen die Wahrnehmung bzw. die Bewertung des Bedrohungspotentials durch die EU-Osterweiterung mitbestimmen. Die Folgen dieser Verarbeitung des Ereignisses EUOsterweiterung finden sich in der rechten Spalte: gesteigerte Desintegrationsangste und Theorien
Bezugsebene
Theorie sozialer Identitat
Kollektiv Eigengruppe
Konflikttheorie
Kollektiv Eigengi-uppe
Anomietheorie
Individuell eigene Person
Desintegrationstheorie Deprivationstheorie
Individuell eigene Person
Autoritarismus
Individuell eigene Person
Instrumentelle Werthaltungen
Individuell eigene Person
Sozialer Wandel ... bedroht die Stabilitat und moglicherweise auch die Legitimitat vorhandener Statusrelation und damit die Identitat von Akteuren; die Bedeutung der Gruppenidentifikation steigt. ... gefahrdet die Stabilitat vorhandener Statusrelation und lost zunehmende Konkurrenz zwischen den Gruppen aus. ... fiihrt zu Orientierungskrisen. ... lost Konkurrenz um knappe Integrationschancen aus. ... wird als Verunsicherung wahrgenommen und mobilisiert latenten Autoritarismus. ... fungiert als Rahmen gesteigerter Konkurrenz und als Gefahr fui* vorhandene individuelle Ressourcen.
Bedrohung
Betroffenheit
Symbolisch
AUe, aber insbesondere Personen mit schwacher IchIdentitat
Realistisch
Alle
Symbolisch
Alle
Realistisch
Personen mit bereits verringerten Integi'ationschancen
Symbolisch
Personen mit autoritaren Dispositionen
Realistisch
Personen mit instrumentellen Werthaltungen und schlechten ReaUsierungschancen
Abbildung 3: Wandel im Lichte aktueller Theorien der Rechtsextremismus- und Vorurteilsforschung
Rechtsextremismusforschung
28
rechte Orientierungen im weitesten Sinne. Des Weiteren wird davon ausgegangen, dass von Autoritarismus (vgl. Kapitel 6) und instrumentellen Wertorientiemngen (vgl. Kapitel 7) Interaktionseffekte ausgehen, die diese Folgewirkungen verstarken.
Status Quo Strukturelle Faktoren (Makro) Regionale Arbeitslosenquoten Regionales Bruttoinlandsprodukt, Raumliche Nahe zur polnischen/ tschechischen Grenze Ost/West
Gruppen-Faktoren (Meso) Social Identity Theory Vorhandene Intergruppenkontakte Staiice der Gruppenidentiflkation Fruhere Gruppenkonilikte Relativer Status der Gruppe (dkonomischypolitisch) Vorhandene Stereotype/Feindbilder
I Individuelle Faktoren (Mikro) Desintegrationsansatz Ckonomische Integration Institutionelle Integration Soziale Integration A utoritarisin usforsch ung Autoritarismus, Ich-Schwache Anomietheorie Orientierungskrisen, Normlosigkeit
Erwartete Ereignisse
Konsequenzen
Strukturelle Faktoren (Makro) EU-Osterweiterung Veranderungen auf okonomischer, politischer und kulturelle Ebene
MesO'Ebene Realistic threat: Veranderungen des okonomischen oder politischen Status der Gruppe Symbolic threat: Bedrohung der Gruppengrenzen/ -identitat, kultureller Standards Intergroup Anxiety: Angst-/ ijberiegenheitsgrfiihle durch die groBere Prasenz der Fremdgruppe
t
Mikro-/MesoEbene Diskriniinierung Fremdgruppe Fremdenfei ndHche Vorurteile Rechte Orientierungen
Mikro-Ebene
Mikro-Ebene:
Realistic threat'. Veranderungen des individuellen Erwerbsstatus, des politischen Einflusses, der sozialen Einbindung Symbolic threat: Bedrohung individueller Grundprinzipen und Werte
Desintegrationsangste in Interaktion mit individuellen Dispositionen: - Autoritarismus - Instrumentalismus
Abbildung 4: Das Analyse-Modell Zu guter Letzt ist die Frage zu klaren, was Akteure dazu fiihrt, Situationen durch eine individuelle oder eine kollektive „Brille" zu betrachten. Die Theorien in Abbildung 3 weisen
Vorurteilsforschung
29
hier ja unterschiedliche Referenzebenen auf, ohne das expliziert wird, wann und warum Akteure die eine oder die andere Perspektive einnehmen. Zu dieser Frage machen die jeweiligen Theorien, die sich entweder auf die individuelle oder kollektive Ebene beziehen kaum theoretisch fundierte Aussagen. Empirische Analysen sprechen flir eine Dominanz von kollektiven Beztigen fiir die Erklamng von Vorurteilen (Smith/Ortiz 2002; Rippl/Baier 2005). Auch in unseren Daten zeigt sich, dass die kollektive Rahmung weitaus haufiger auftritt als die individuelle Rahmung (vgl. Abbildung 5).
Abbildung 5: Besorgnisse vor Arbeitslosigkeit durch die EU-Osterweiterung (Angaben in %) In der sozialpsychologische Literatur findet sich recht wenig, was uns zur Klarung der Ausgangsfrage in unserem Forschungskontext weiterhilft. Daher soUen im Hinblick auf die Frage nach der individuellen oder kollektiven Rahmung des Ereignisses die folgenden Thesen untersucht werden: (1) Es ist anzunehmen, dass Personen mit autoritaren Dispositionen, verstarkte Tendenzen zu Bedrohungswahrnehmungen haben. Da solche ich-schwachen Personlichkeiten zudem Tendenzen zu Uberhohung der Eigengruppe haben, werden sie starker als nicht autoritare Personen kollektive Beziige herstellen. (2) Es ist davon auszugehen, dass Personen, die am ehesten eine personliche Betroffenheit durch die Wandlungsprozesse zu erwarten haben, die Folgen der EU-Osterweiterung eher auf individueller Ebene wahrnehmen. Hier sind zum einen Personen gemeint, die in Grenznahe wohnen und solche, die durch ihre geringe berufliche Qualifikation mit gesteigerter Konkurrenz zu rechnen haben. 2.5
Der interkulturelle Vergleich der Wirkung sozialen Wandels durch die EUOsterweiterung
Die Betrachtung einer zusatzlichen Dimension auf der Makroebene ermoglicht der interkulturelle Vergleich. In Abhangigkeit vom kulturellen Kontext variieren die Rahmenbedingungen (Logik der Situation) unter denen die Bewertung der Bedrohungssituation stattfin-
30
Rechtsextremismusforschung
det, womit im Kulturvergleich die Untersuchung des Einflusses einer Variation dieser Rahmenbedingungen moglich ist. Die Zugehorigkeit zu einer nationalen Einheit stellt eine wesentliche Rahmenbedingung fiir die Perzeption des Wandels durch die EU-Osterweiterung dar. Wobei diese Rahmenbedingungen je nach Land in verschiedenen Bereichen variieren: die unterschiedliche materielle Situation der Lander, der Modemisierungsgrad, die religiosen Traditionen, die Geschichte gemeinsamer Konflikte, die sozialistische Vergangenheit und so weiter. Die hier vorgelegte Studie ist nicht in der Lage, alle diese Rahmenbedingungen in ihrem Einfluss zu betrachten. Zentral fiir die hier vorliegende Fragestellung ist aus unserer Sicht der Statusunterschied zwischen den Landern. Hierzu sind expHzit Briickenhypothesen zu formulieren, welchen Einfluss diese Rahmenbedingung auf die Auspragung unterschiediicher Bedrohungswahmehmungen hat. Wenn man die Beziehungen zwischen Deutschen, Polen und Tschechen - die in der hier berichteten Studie im Mittelpunkt des Interesses stehen - anhand des Statusgefalles beschreiben will und hierbei die international gebrauchlichen Kategorien ,high status group' und ,low status groups' verwendet, wtirden die Deutschen sicher als ,high' und die Tschechen und die Polen als ,low status groups' zu bezeichnen sein. Alle in der Umstand, dass Deutschland bereits vor der letzten Erweiterungsrunde Mitglied der EU war und eine dominierende Stellung in Europa hat, verleiht den Deutschen im Vergleich zu ihren Nachbarlandem diese Stellung. Hinzu kommt das deutliche Gefalle in der okonomischen Leistungsfahigkeit. Im Kontext der beschriebenen Theorietraditionen lassen sich zunachst ganz allgemein die in der Abbildung 6 dargelegten Wahmehmungen von Bedrohungen in Abhangigkeit vom Status der Eigengruppe ableiten. Betrachtet man im Rahmen dieser Grundkonstellation die unterschiedlichen Komponenten von Bedrohungspotentialen im Sinne von Stephan und Stephan (2000) und ihre Relevanz fiir die Polen und Tschechen genauer, so miissten sich noch weitere Unterschiede ergeben. Die Hypothesen der hier vorgelegten Studie lassen sich - in Abhangigkeit vom Gruppenstatus - wie folgt darlegen (vgl. auch Abbildung 7): Die Angst eigene kulturelle Standards zu verlieren, diirfte fiir ,low status groups' aufgrund der bereits vorhandenen Dominanz der anderen Gruppe deutlich groBer sein. Okonomische Bedrohungen sollten in den ,low status groups' weniger relevant sein. Die Stellung von Polen und Tschechen als ,low status groups' verandert die Wahrnehmung der EU-Osterweiterung, da bestimmte Mitglieder dieser Gruppen - viel starker als Deutsche - auch Mobilitat nach oben erwarten. Fiir die ,high status group', hier die Deutschen, steht hingegen die Angst vor einem relativen Abstieg, vor der Einebnung vorhandener Ungleichheiten im Vordergrund, die die Grundlage der eigenen Distinktion ist. In diesem Sinne miisste die Wahrnehmung potentieller Chancen bei den ,low status groups' auch deutlich starker ausgepragt sein und die allgemeine Bewertung des EU-Beitritts eventuell sogar dominieren. Des Weiteren spielt der potentielle Verlust der okonomischen und politischen Souveranitat eine Rolle, eine Referenz auf althergebrachte Feindbilder liegt nahe. Negative Stereotype - so die Annahme existieren weitgehend unabhangig vom Status. Wird die jeweils andere Gruppe als Konkur rent wahrgenommen - wie im vorliegenden Fall - ist auf beiden Seiten mit einer Mobilisie rung negativer Stereotype zu rechnen. Verbunden mit der Zuschreibung negativer Stereotype miissten auch in beiden Statusgruppen Intergruppenangste auftreten.
Vorurteilsforschung
Theorien
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Bezugsebene
Theorie sozialer Identitat
Kollektiv Eigengruppe
Konflikttheorie
Kollektiv Eigengruppe
Anomietheorie
Individuell eigene Person
Desintegrationstheorie Deprivationstheorie
Individuell eigene Person
Autoritarismus
Individuell eigene Person
Instrumentelle Werthaltungen
Individuell eigene Person
Sozialer Wandel
Wahrgenommene Folgen Low Status High Status Group Group
... bedroht die Stabilitat und moglicherweise auch Negativ die Legitimitat Angst die Negativ vorhandener „starkere" Stabilitat vorhanStatusrelation und damit dener Relationen Fremdgruppe die Identitat von Akteuwird fraglich konnte domiren. Die Bedeutung der nieren Gruppenidentifikation steigt ... bedroht die Stabilitat Eher negativ Eher positiv vorhandener Angst vor „billiChance der Statusrelation und lost ger" Konkurrenz Etablierung auf zunehmende Konkuixenz auf Guter- und neuen Markten zwischen den Gruppen Arbeitsmarkten aus Negativ Eher Negativ Starke Gefuhle ... fiihrt zu Gefiihle von von Orientierungskrisen Kontrollverlust Kontrollverlust Eher positiv Chance im KonkurrenzEher negativ ... lost Konkurrenz um kampf, das aufgrund steigenknappe der Konkurrenz Integrationschancen aus „billigere" Angebot zu haben Eher Negativ Tendenz zu autoritarer Negativ ... wird als VerunsicheReaktion (bei Tendenz zu rung wahrgenommen autoritarer geringerer und mobilisiert latenten Reaktion gegen Moglichkeit Autoritarismus Statusniedere der Fremdgruppenaggression) Eher positiv Negativ ... fungiert als Rahmen Erhohte Tendenz zur gesteigerter Konkurrenz Chancen zur Selbstdurchsetund als Gefahr fiir Selbstdurchzung gegentiber vorhandene individuelle Statusniederen setzung Ressourcen.
Abbildung 6: Sozialer Wandel im Lichte aktueller Theorien der Rechtsextremismus- und Vorurteilsforschung
32
Rechtsex tremis musforschung
Realistische Bedrohung Symbolische Bedrohung Intergruppenangst Negative Stereotype
High Status Group (Deutsche) + + +
Low Status Group (Polen, Tschechen) + + +
Abbildimg 7: Nationale Zugehorigkeit als Statuskategorie und als Rahmenbedingung fiir Bedrohimgswahrnehmimgen durch die EU-Osterweiterung 2.6
Zusammenfassung
Die EU-Osterweiterung bietet als „quasi-experimentelle Situation" die Moglichkeit, Wandlungsprozesse in ihrer Wirkung auf die Betroffenen zu untersuchen. Dabei ergibt sich eine Vielzahl von Ankniipfungspunkten fiir Mikro-Makro-Verbindungen, die bisher in der Rechtsextremismusforschung kaum ausgeschopft v^urden. Die aktuelle Rechtsextremismusforschung reagiert kaum auf die Thematik, obwohl es theoretisch viele Bezlige gibt, die fiir eine Relevanz der EU-Osterweiterung bei der Mobilisierung rechter Einstellungen sprechen. Die hier vorgelegte Studie versucht, einige dieser Ankniipfungspunkte aufzunehmen und zu diesen empirisches Material vorzulegen. Dabei stellt das Bedrohungskonzept ein zentrales integratives Element dar, und zwar zum einen als Verbindungsglied zwischen Wandlungsprozessen und individuellen Reaktionen, zum anderen auch weil es eine Verbindung verschiedener Theorierichtungen erlaubt, um unterschiedliche Fragestellungen zu beantworten. Erganzt wird das Design,durch Internationale Vergleiche, die eine Variation von Rahmenbedingungen zulassen, deren Einfluss dann iiber die Formulierung von Briickenhypothesen gepriift werden kann.
3.
Die Studie
Anliegen der hier vorgestellten Studie ist es, Prozesse sichtbar zu machen, die im Zuge der EU-Osterweiterung zu Tage treten konnen. Dabei wird nicht, wie dies in zahlreichen anderen Veroffentlichungen der Fall ist, zentral auf die okonomischen Aspekte dieses Schrittes abgehoben (z.B. auf die Folgen fiir den Arbeitsmarkt), sondern es wird eine eher sozialpsychologische Perspektive eingenommen, wenn nach den Bedingungen von Veranderungen in Einstellungen und Meinungen gefragt wird. Veranderungen finden immer bezogen auf eine Zeiteinheit statt, d.h. sie lassen sich nur im Vergleich eines vorangegangenen mit einem spateren Zustand identifizieren. Ob Deutschland oder irgendein anderes Land im Zuge der EU-Osterweiterung weiter nach rechts riickt, ist mithin nur feststellbar, wenn wir das Meinungsklima vor und nach diesem historischen Ereignis erheben wurden. Dies haben wir bislang nicht getan, allerdings wird derzeit eine Wiederholungsbefragung in ausgewahlten Gebieten durchgefiihrt, die unsere hier prasentierten Befunde einer weiteren Priifung aussetzt. Die im Folgenden vorgestellten Ergebnisse basieren also auf Querschnittsbefragungen. Insofern ist die Frage nach Veranderungen umzuformulieren in die Frage nach den Zusammenhangen, die es zwischen bestimmten Wahrnehmungen der EU-Osterweiterung und anderen Einstellungen gibt. Um aber den Vorwurf zu vermeiden, einzig Korrelationen und nicht Kausalitaten zu priifen, ist zumindest ein deduktiv abgeleitetet Hypothesensystem notwendig, das die Wirkrichtungen zwischen den zum gleichen Messzeitpunkt erhobenen Konstrukten vorgibt. Diesen Theorierahmen haben wir im vorangegangenen Kapitel vorgestellt. Ein zusatzlicher Hinweis auf die Wirksamkeit einer Ursache (EU-Osterweiterung) lasst sich aber auch empirisch gewinnen, wobei wir Anleihen bei der experimentellen Forschung nehmen. Finden sich Unterschiede im AusmaB eines Verhaltens Oder einer Einstellung zwischen zwei zufallig zusammengestellten Personengruppen (wobei in einer Gruppe eine bestimmte Variable variiert wird und in der anderen nicht), dann kann mit Einschrankungen vermutet werden, dass diese Unterschiede auf die Variation der Variable zuriickgefiihrt werden konnen. Ein ahnlich faktorielles Design haben wir in Anlehnung an diesen Gedankengang auch fiir unsere Fragestellung gewahlt, indem in Deutschland verschiedene Erhebungsgebiete einbezogen wurden. Der Faktor, der damit variiert werden soil, ist die Salienz des Prozesses der EU-Osterweiterung und das daraus resultierende MaB der Betroffenheit. Diese Salienz und - daraus abgeleitet - Betroffenheit ist aller Wahrscheinlichkeit nach in den Grenzregionen zu den beiden Beitrittslandern Polen und Tschechische Republik eher hoch, in grenzfemeren Regionen eher geringer. Wie bei verschiedenen anderen MaBnahmen auch ist nicht ohne weiteres bekannt, wie die Beschaffenheit des ,Treatments' ist, ob es positiv, negativ oder liberhaupt nicht wirkt. Unsere gerichtete Vermutung ist aber, dass aufgrund des vor der EU-Osterweiterung existierenden Statusgefalles das Treatment ,EU-Erweiterungssalienz' gleichzusetzen ist mit einer Induzierung von Bedrohungsgeflihlen. Durch den Beitritt der osteuropaischen Staaten erhoht sich zum Beispiel die Konkurrenz auf verschiedenen Markten wie dem Baugewerbe oder dem Handel.
34
Design der Studie
Weil diese moglichen Verandemngen raumiiche Mobilitat zur Voraussetzung haben, mlissten sie zuerst in den Grenzregionen einsetzen, und ganz besonders zu Lasten der deutschen Grenzregionen gehen. Ganz ahnliche Angste und Bedrohungsszenarien diirfte es aber auch in den polnischen und tschechischen Grenzregionen geben („Ausverkauf des eigenen Landes"). Es ist dabei irrelevant, wie sich die Situation nach der EU-Osterweiterung tatsachlich entwickelt hat. Verwiesen sei an dieser Stelle nur darauf, dass es zuerst Vertreter aus Grenzregionen waren, die die eigentlich zum Schutz der heimischen Markte implementierten Gesetze gegen die voilkommene Arbeitnehmerfreiziigigkeit kritisierten und als Hemmnis fiir die wirtschaftliche Entwicklung betrachteten (vgl. Boehnke et al. 2005). In der Zeit vor der EU-Osterweiterung waren entsprechende Stimmen weit in der Unterzahi. Die hohere Betroffenheit sollte sich also einerseits in den personlichen Einschatzungen des Erweiterungsprozesses, andererseits auch in hoheren Affinitaten zu rechten Einstellungsmustern und letztlich auch in starkeren Zusammenhangen zwischen der negativen Bewertung der EU-Osterweiterung und rechten Einstellungen niederschlagen. Wenn sich dies im Vergleich mit weniger betroffenen Gebieten zeigt, dann haben wir zumindest einen Hinweis darauf, dass es Veranderungen, wie wir sie vermuten, im Zuge der EU-Osterweiterung in der Tat geben wird bzw. gegeben haben konnte. Den Nachteil, keinen Langsschnittdatensatz zur Prtifung der Hypothesen zur Verfixgung zu haben, versuchen wir mit diesem faktoriellen Design zu mildem."^ Zur Untersuchung der mit der EU-Osterweiterung verbundenen Prozesse und Konsequenzen wurden deshalb insgesamt vier Stichproben aus drei Landern gezogen (vgl. Abbildung 8).
Abbildung 8: Erhebimgsstichproben ^
Problematisch daran ist, dass mit der Unterscheidung von Grenzregion und Nicht-Grenzregion nicht nur die Variable „Betroffenheit" variiert wird. So sind diese Gebiete schon seit vielen Jahren durch cine okonomische Schwache, schlechtere Lifrastruktur usw. gekennzeichnet. Die Wirkung der Vielzahl konfundierter Variablen lasst sich nicht ohne Weiteres isolieren.
Untersuchte Stichproben
35
Tabelle 1 zeigt Erhebungsmethode und Stichprobencharakteristika. Die Stichproben wurden von vornherein auf Personen beschrankt, die 14 Jahre oder alter waren und die jeweilige Nationalitat besaBen. Der Befragungszeitraum wurde in alien Gebieten auf den Juni 2003 festgesetzt, d.h. die Befragungen fanden in etwa gleichzeitig mit den Beitrittsreferenden statt, so dass deren Ausgang die Antworten nur unwesentlich beeinflusst haben diirfte. Damit fallt die Studie aber in eine Zeit, die von einer sehr intensiven Beschaftigung mit dem Thema zumindest in Polen und der Tschechischen Republik gekennzeichnet war. TabeUe 1:
Die Stichproben'
Methode Anzahl Befragte Anteil Frauen (in %) Alter (Mittelwert) Abitur und hoher (in %) HaushaltsgroBe (Mittelwert) Erwerbstatig (in %) Rentner (in %) Schule/Studium (in %)
Deutschland Reprasentativstichprobe (1) Gesamt West Ost CATI (Computer-AssistedTelephone-Interview) 1008
816
192
46,9
44,9
55,7**
44,7
43,9
48,1**
47,1
47,8
2,7
Deutschland Grenzregion (2) Gesamt West Ost CATI (Computer-AssistedTelephone-Interview) 513 111 402
Tschechische Polen Republik Grenzregion Grenzregion (3) (4) ace-toFace
Face-toFace
397
409
48,9
50,5
48,5
50,9
52,8
44,3
42,4
44,8
40,9
42,1
44,3
40,6
24,6
45,1**
37,4
36,6
2,7
2,6
2,7
2,8
2,7
3,5
2,7
52,8
54,6
44,0*
51,9
67,6
47 5**
30,2
56,0
23,5
22,6
27,2
22,4
17,1
23,9
28,0
21,3
12,5
13,8
6,8**
10,3
3,6
12,2**
16,1
5,6
^ Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland signifikant bei * p < .05 bzw. ** p < .01 Bei den beiden deutschen Stichproben wurde auf die Methode der computergesttitzten Telefonumfrage zuriickgegriffen (vgl. Gabler/Hader 2002), als Auswahlverfahren diente das ADM-Design, das eine zufallige Auswahl von Personen ermoglicht (Hader/Gabler 1998)."^ Allerdings kann dieses Verfahren erst bei ausreichender Telefondichte zum Einsatz Hierbei werden zufallig Telefonnummern generiert und gepriift, ob es sich um valide Nummern handelt. Innerhalb des Haushaltes wird dann, sofern es sich nicht um einen Einpersonenhaushalt handelt, nach dem Geburtstagsschltissel (zeitlich nachster Gebmtstag) eine zu befragende Person ausgewahlt.
36
Design der Studie
kommen. In Deutschland sind nahezu alle Haushalte via Telefon zu erreichen, die Telefondichte betragt 95 Prozent. In Polen und der Tschechischen Republik und hier vor allem in den Grenzregionen betragt diese Quote gerade einmal die Halfte. Daher ist in diesen Regionen ein anderes Verfahren zum Einsatz gekommen ist, die direkte personliche bzw. Faceto-Face-Befragung.^ Alle Personen wurden mit einem identischen, voUstandig standardisierten Fragebogen interviewt, wobei an verschiedenen Stellen die Fragen an landerspezifische Umstande angepasst wurden.^ Die Aquivalenz des Instruments wurde durch wiederholte Hin- und Rlicktibersetzungen sichergestellt und mittels Itemanalysen gepriift. Flir die deutschlandweit reprasentative Stichprobe - Stichprobe (1) - wurden insgesamt 1008 Personen telefonisch interviewt. Sowohl der Anteil der Frauen (46,9 %), das Durchschnittsalter (44,7 Jahre) und der Anteil Ostdeutscher (19 %) entsprechen in etwa den aktuellen (gesamt-)deutschen VerhaltnissenJ Der Anteil der Hohergebildeten ist jedoch deutlich liber den deutschen Durchschnittswerten, was fur Telefonbefragungen nicht unublich ist (Schulte 1997): 47,1 Prozent unserer Befragten haben ein Abitur oder einen Studienabschluss. Im gesamten Bundesgebiet sind dies entsprechend der offentlichen Statistik nur 20,2 Prozent (Statistisches Bundesamt 2003). Differenziert man dies weiter aus, dann findet sich, dass insbesondere im Bereich der Hauptschul- und Volksschulabschliisse zu wenige Befragte in der Stichprobe sind, im Bereich des Fachhochschul- und Hochschulabschlusses hingegen zu viele. Dieses Ungleichgewicht muss bei der Interpretation der nachfolgenden Befunde berlicksichtigt werden. Wie noch zu zeigen ist, ist die Intensitat der empfundenen Bedrohungen, aber auch anderer Einstellungen und Dispositionen, vom Bildungsabschluss der Befragten abhangig. Es ist deshalb davon auszugehen, dass die im folgenden Kapitel prasentierten Prozentzahlen das AusmaB z.B. der eingeschatzten Bedrohungen eher unterschatzen. Differenziert man in der Deutschland-Reprasentativstichprobe in westdeutsche und ostdeutsche Befragte, so fallt auf, dass im Osten mehr weibliche und eher altere Personen interviewt wurden. Hierin unterscheiden sich beide Substichproben signifikant, weshalb nachfolgend bei der Analyse von West-Ost-Unterschieden diese Variablen statistisch kontroUiert werden. Damit konnen wir sichergehen, dass eine gefundene Differenz nicht auf Unterschiede im Bereich der soziodemographischen Struktur zurlickgeht. Beziiglich der GroBe des Haushalts gibt es keine systematischen Effekte der West-Ost-Variablen: Es leben sowohl im Westen, als auch im Osten im Mittel zwischen 2,6 und 2,7 Personen im Haushalt. 52,8 Prozent der in Stichprobe (1) interviewten Personen sind erwerbstatig, arbeiten also halb- oder ganztags bzw. sind in Berufsausbildung, 23,5 Prozent sind Rentner und 12,5 Prozent besuchen entweder noch die Schule oder eine Fachhochschule/Universitat. Die zweite Stichprobe, die Reprasentativitat beziiglich der deutschen Grenzlandregionen zu Polen und der Tschechischen Republik beansprucht, hat einen Umfang von 513 Befragten aus insgesamt 52 Landkreisen bzw. kreisfreien Stadten. Als Grenzlandregion Die Haushalte wurden per Random-Route, die Interview-Personen ebenfalls per Geburtstagsschliissel bestimmt. Das methodische Vorgehen der Studie orientiert sich also am so genannten Etic-Ansatz der kulturvergleichenden Forschung, der davon ausgeht, dass in verschiedenen Kultuien Konstrukte mit den gleichen Messinstrumenten abgebildet werden konnen und auch sollten. In 2003 waren die Bundesbiirger zu 18,0 Prozent ostdeutsch, zu 51,5 Prozent weibhch und im Mittel 46,4 Jahre (Statistisches Bundesamt 2004).
Untersuchte Stichproben
37
wurden diejenigen Regionen definiert, die sich innerhalb eines 50 Kilometer breiten Streifens beiderseits der deutsch-tschechischen bzw. deutsch-polnischen Grenze befinden. Der Anteil an Hohergebildeten ist in der deutschen Grenzregionenstichprobe etwas niedriger als in der gesamtdeutschen Reprasentativerhebung, ansonsten weist sie eine ahnliche soziodemographische Struktur auf. Dass der Anteil Ostdeutscher bier bei weitem hoher ist als der der Westdeutschen ergibt sich daraus, dass nur Bayem teilweise an die Tschechische Republik grenzt; der weit groBere Anteil der Grenzbevolkerung lebt in Sachsen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommem. Die einbezogenen 78,4 Prozent Ostdeutsche spiegeln also die wirklichen Verhaltnisse sehr gut wieder. Trennt man emeut die westdeutsche von der ostdeutschen Befragtengruppe, so findet sich im Bereich der Schulbildung eine deutliche Uberprasenz hoher Abschliisse im Osten. Moglicherweise ist dies Ausdruck der tatsachlichen Verhaltnisse, wenn hohe Abschliisse ofter in ostdeutschen Grenzregionen vorfindbar waren. Allerdings liegen iiber diese besondere Grundgesamtheit keinerlei amtliche Daten vor, so dass nicht zu priifen ist, ob es sich um eine Verzerrung handelt oder um einen realen Unterschied. Um bei den folgenden Auswertungen die Moglichkeit der Verzerrung zu umgehen, wird auch hier die Strategic der Kontrolle samtlicher soziodemographischer Variablen verfolgt, wenn West-Ost-Unterschiede auf Signifikanz gepriift werden. Beziiglich des derzeitigen Erwerbstatus zeigt sich fur diese Stichprobe, dass die westdeutschen (bayerischen) Befragten deutlich haufiger in Arbeit stehen und deutlich seltener noch Schiller oder Student sind. An dieser Stelle ist eine kurze Anmerkung zur Bestimmung der regionalen Herkunft notwendig. Hierfiir gibt es mindestens zwei Wege: Der erste ist, dass einem Befragten entsprechend der Gemeindekennziffer (GKZ), die ohne weiteres auf Basis der TelefonVorwahl bestimmt werden kann, zugewiesen wird, ob er west- oder ostdeutsch ist. Dieser Weg wurde hier gewahlt, d.h. die Unterscheidung west- und ostdeutscher Befragter basiert auf der GKZ, wobei Befragte aus dem Ostteil Berlins als ostdeutsch, Befragte aus dem Westteil Berlins als westdeutsch klassifiziert wurden. Gerade am Beispiel Berlins zeigt sich aber auch, welches Problem sich mit diesem Weg verbindet, namlich das der Mobilitat. Nach der deutsch-deutschen Vereinigung hat es eine nicht unerhebliche Ost-West- aber auch eine gewisse West-Ost-Wanderung gegeben. Gewanderte Personen konnten dementsprechend falsch zugewiesen werden. Dabei muss man sich vergegenwartigen, welche theoretischen Annahmen begriinden, warum die regionale Herkunft fiir Unterschiede verantwortlich sein kann. Hierzu existieren mindestens zwei Thesen: Die erste wiirde annehmen, dass spezifische Sozialisationserfahrungen in der BRD vs. der DDR Unterschiede in Einstellungen begriinden. Die zweite wiirde postulieren, dass aufgrund des rapiden sozialen Wandels nach 1989 Ostdeutsch-Sein einen Unterschied macht, wobei die Meinungsbildungsprozesse nicht ganz unabhangig von vorangegangenen Sozialisationserfahrungen sein diirften. Bei der ersten These wiirden die Effekte der Wanderungen starker durchschlagen als bei der zweiten. Um dieses Problem zumindest einschatzen zu konnen, wurden im deutschen Fragebogen Fragen nach der Geburtsregion, nach dem Aufenthaltsort vor 1989 und nach dem Aufenthaltsort nach 1989 gestellt. Personen, die nach 1989 in ein anderes Gebiet umgezogen sind oder die pendeln, wurden entsprechend ihres Alters zugeordnet. Eine Person, die z.B. 30 Jahre in der DDR gelebt hat, dann aber in die alten Bun-
38
Design der Studie
deslander umgezogen ist, wurde als ostdeutsch klassifiziert. Hatte sie dagegen nur 10 Jahre in der DDR gelebt, nach 1989 aber mehrheidich in den alten Landem, wlirde sie zu den Westdeutschen fallen. Auf diesem Weg lasst sich eine den Einschatzungen der Befragten gemaBe West-Ost-Variable erzeugen. Vergleicht man diese mit der auf Basis der GKZ ermittelten Variable so zeigt sich in der Reprasentativstichprobe, dass 935 Befragte bei beiden Variablen entweder als west- oder als ostdeutsch klassifiziert wurden, bei 62 Befragten hingegen stimmen die Zuordnungen nicht tiberein. Darunter sind 46 auf Basis der GKZ als westdeutsch klassifizierte Personen, die eine ostdeutsche Vergangenheit haben und 16 Befragte, die als ostdeutsch klassifiziert werden, die eine westdeutsche Vergangenheit besitzen. Insgesamt gibt es damit 6,2 Prozent nicht iibereinstimmende Falle (in der Grenzregionenstichprobe sind dies nur 2,7 % aller Falle). Dennoch wird im weiteren Verlauf die West-Ost-Variable auf Basis der GKZ genutzt, weil diese erstens keine fehlenden Werte aufweist. Zweitens kann es bei den Selbstausklinften auch Messfehler geben.^ Das GKZ-MaB stellt insofern eine unabhangige Messung dar. Die Entscheidung fiir dieses MaB hat zur Folge, dass West-Ost-Unterschiede tendenziell unterschatzt werden, da „wahre" Ostdeutsche z.T. in der westdeutschen Stichprobe sind, „wahre" Westdeutsche z.T. in der ostdeutschen Stichprobe. Zur Einschatzung der Qualitat der beiden deutschen Telefonstichproben ist in Tabelle 2 der Feldverlauf dokumentiert. Insgesamt wurden liber 16.000 bzw. fast 7.000 Tabelle 2:
Ubersicht iiber die Telefonkontakte der Studie in Deutschland Deutschland (1)
Deutschland (2)
N
%
N
%
Genutzte Telefonnummern
16272
100,0
6855
100,0
Stichprobeneutrale Ausfalle
4944
30,4
1161
16,9
Systematische Ausfalle
10320
63,4
5181
75,6
Vollstandige Interviews
1008
6,2 8,9'
513
7,5 9,0'
^ berechnet im Verhaltnis zu den genutzten Nummem unter Abzug der neutralen Ausfalle Telefonnummern genutzt, um die anvisierten Stichprobenumfange zu realisieren; 30,4 Prozent bzw. 16,9 Prozent von diesen Nummem waren nicht verwertbar, weil sie z.B. zu einem Betrieb oder einem Fax gehorten, niemand auch nach mehrmaligen Kontaktversuchen erreicht wurde oder weil keine Zielperson im Haushalt existierte. Der weitaus groBere Ausfall hingegen ist systematischer Natur: Mit fast V3 bzw. VA der Nummem konnte kein Interview durchgefiihrt werden, weil der Haushalt bzw. die Zielperson die Teilnahme verweiSo ist z.B. fraglich, ob Personen, die angaben, nach 1989 in einem anderen Teil Deutschlands gelebt zu haben als vorher, tatsachlich mehr als 7 Jahre - die Halfte der bis zui' Befragung seit 1989 vergangene Zeit - dort gelebt haben.
Untersuchte Stichproben
39_
gerte oder Termine letztendlich nicht eingehalten wurden. Dies bedeutet, dass nur bei etwa jedem zehnten hergestellten Kontakt das Interview auch tatsachlich durchgefuhrt werden konnte (8,9 bzw. 9,0 %). Neben den beiden deutschen Stichproben wurde je eine Stichprobe in Poien und in der Tschechischen Republik gezogen. Die Stichproben (3) und (4) stellen Reprasentativstichproben fur die polnische und die tschechische Bevolkerung der Grenzregionen zur Bundesrepublik Deutschland dar. In der Tschechischen Republik wurden 409 und in Polen 397 Personen befragt. Die Zusammensetzung der beiden Stichproben unterscheidet sich kaum von den beiden deutschen Stichproben. Nur die Haushalte scheinen in den polnischen Grenzregionen etwas groBer zu sein. Zudem gibt es hier weniger Erwerbstatige, dafiir etwas mehr Rentner und Schtiler/Studenten. Ftir die polnische Stichprobe wurden in insgesamt drei Woiwodschaften (Zachodnio-Pomorskie, Lubuskie, Dolnoslaskie) bzw. zehn Powiats entlang der Grenze Interviews durchgefuhrt, wovon 246 in Stadten und 151 in landlichen Regionen stattfanden, was der tatsachlichen Verteilung der Bevolkerung entspricht. In der Tschechischen Republik fanden die Befragungen in 17 Kreisen innerhalb von fiinf grenznahen Regionen (Kraj) statt (Libercky, Ustecky, Karlovarsky, Plzensky, Jihocesky). Eine zentrale Frage im Umgang mit den Daten betrifft die nach der Gewichtung. In der Praxis werden zwei verschiedene Gewichtungsformen unterschieden: Die Designund die Anpassungsgewichtung. Die Designgewichtung transformiert Haushalts- in Personenstichproben, wobei jeder Person das Invers seiner bzw. ihrer Auswahlwahrscheinlichkeit zugeordnet wird. Dies bedeutet, dass Personen aus groBen Haushalten, die zunachst eine geringere Auswahlwahrscheinlichkeit batten, hoher gewichtet werden. Da in den Auswahlprozess in alien Stichproben eine doppelte Zufallsprozedur eingebaut ist (zufallige Telefonnummerngenerierung bzw. Random-Route und jeweils Geburtstagsschliissel) und in diesem Sinne keine Haushaltsstichprobe vorliegt, wird auf die Designgewichtung verzichtet. Die Anpassungsgewichtung wiirde - wobei man sich meist auf wenige Variablen wie Alter, Geschlecht, regionale Herkunft oder Bildungsniveau beschrankt - auf Basis der Kenntnis der Beschaffenheit der Grundgesamtheit die vorliegende Stichprobe an diese anpassen, sofern sie Abweichungen aufweist. Hierzu wurden die realisierten Verhaltnisse den tatsachlichen in der Grundgesamtheit gegeniiber gestellt. Wie sich aus der Stichprobenbeschreibung ergeben hat (s.o.), scheint es in den deutschen Stichproben zumindest eine Verzerrung mit Blick auf den Bildungsabschluss der Befragten zu geben. Allerdings lasst sich nur fiir die Reprasentativstichprobe ein entsprechendes Anpassungsgewicht bestimmen, da nur fiir diese die Verhaltnisse in der Grundgesamtheit bekannt sind. Fiir alle Grenzregionenstichproben gibt es diese Informationen nicht. Um die Vergleichbarkeit der Ergebnisse zwischen den einzelnen Gebieten zu wahren, wird deshalb - nolens volens - auf die Gewichtung der Reprasentativstichprobe verzichtet. Eine solche Gewichtung ware prinzipiell auch nur dann notwendig, wenn wir die exakten Verhaltnisse in der Grundgesamtheit bestimmen wollten (z.B. das prozentgenaue AusmaB an Bedrohungswahrnehmungen, die exakte Hohe eines Zusammenhangs). Dies ist aber nicht Anliegen der Studie. Sie konzentriert sich in ihrem deskriptiven Teil vielmehr darauf, ob es iiberhaupt Unterschiede zwi-
40
Design der Studie
schen den einzelnen Regionen gibt.^ In ihrem hypothesenpriifenden Teil geht sie der Frage nach, ob es iiberhaupt einen Zusammenhang zwischen Bedrohungswahmehmungen im Zuge der EU-Osterweiterung und rechten Einstellungen gibt. Bei der Priifung dieser Frage sowie bei der Priifung von Unterschieden werden zudem wichtige Variablen wie das Bildungsniveau statistisch kontrolliert bzw. gehen als Indikatoren z.B. fiir objektive sozialstmkturelle Desintegration in die Analysen mit ein. Und ein letztes Argument lasst sich gegen die Gewichtung ins Feld flihren: Fiir die Priifung von Zusammenhangen ist es keinesfalls nachteilig, dass wir es mit einer „bildungshomogeneren" Stichprobe zu tun haben. Wenn sich in dieser leicht ,nach oben' verzerrten Stichprobe Belege fiir die aufgestellten Hypothesen finden, dann ist dies ein anspruchsvoUer Nachweis, weil man dies bei Bessergebildeten tendenziell weniger erwarten wiirde, da z.B. zentrale abhangige Variablen wie nationalistische oder fremdenfeindliche Einstellungen hier eine geringere Varianz aufweisen. Aus den genannten Griinden haben wir uns deshalb entschieden, ausschlieBlich die ungewichteten Rohdaten auszuwerten. Das Design der Studie eroffnet eine groBe Anzahl von Vergleichsmoglichkeiten, die an dieser Stelle nur erwahnt werden: (1) Vergleich OstdeutschlandAVestdeutschland, (2) Vergleich von grenzfernen und grenznahen Regionen Deutschlands, (3) Vergleich von grenznahen ostdeutschen mit grenznahen westdeutschen Regionen (4) Vergleich von grenzfernen ostdeutschen mit grenzfernen westdeutschen Regionen, (5) Vergleich von Grenzlandregionen zu Polen mit Grenzlandregionen zu Tschechien, (6) Vergleich von ostdeutschen mit westdeutschen Grenzlandregionen zu Tschechien (7) Vergleich ostdeutscher Grenzlandregionen mit polnischen Grenzlandregionen, (8) Vergleich ostdeutscher Grenzlandregionen mit tschechischen Grenzlandregionen, (9) Vergleich westdeutscher Grenzlandregionen mit tschechischen Grenzlandregionen, (10) Vergleich polnischer Grenzlandregionen mit tschechischen Grenzlandregionen. Erganzen lieBe sich u.a. der Vergleich von Regionen Bayems und Sachsens hinsichtlich ihrer Haltung zum gemeinsamen Nachbarn Tschechische Republik (vgl. Baier 2005b). Einige, nicht alle dieser moglichen Vergleiche werden im Folgenden eine RoUe spielen. Das Hauptaugenmerk liegt auf dem Vergleich der vier Stichproben hinsichtlich zentraler, theorierelevanter Variablen. Hierbei kommen verschiedene Datenauswertungsstrategien zum Einsatz: Um die Giite von Skalen zu priifen, werden konfirmatorische und explorative Faktorenanalysen sowie Reliabilitatsanalysen eingesetzt. Die gebildeten Skalen werden, da Intervallskalenniveau unterstellt werden kann und auch weitestgehend Normalverteilung gegeben ist, mittels so genannter OLS-Regressionsanalysen ausgewertet. Um die These der Aktivierung von Bedrohungswahmehmungen zu priifen, werden schlieBlich auch Interaktionsterme in Regressionsgleichungen aufgenommen. Daneben werden Strukturgleichungsmodelle mit dem Programm AMOS berechnet, iiber die komplexe Verursachungszusammenhange sichtbar gemacht werden konnen. Doch im folgenden Abschnitt stehen zunachst einfache sowie bivariate Haufigkeitsauswertungen im Vordergrund.
Zur Kontrolle wurde ein Anpassungsgewicht fiir die deutsche Reprasentativstichprobe bestimmt. Analysen mit Gewichtung haben aber weitestgehend ahnliche Ergebnisse wie Analysen ohne Gewichtung.
4.
Messinstrumente und deskriptive Auswertungen im interkulturellen Vergleich
Das theoretische Modell, das den empirischen Auswertungen zu Grunde liegt (vgl. Kapitel 2, Abbildung 4), verkniipft Elemente verschiedener Traditionen, wobei drei theoretische Ansatze zentral sind: 1. die Desintegrationstheorie, wie sie bislang am deutlichsten von Anhut und Heitmeyer (2000) ausgearbeitet wurde; 2. die Threat-Theory, die an dieser Stelle sozialpsychologisch entsprechend den Arbeiten von Stephan und Stephan (2000) verstanden wird; und 3. die Autoritarismustheorie, die in zahireichen neueren Veroffenthchungen (z.B. Oesterreich 1996) starker auf gesellschafthche Wandlungsprozesse rtickbezogen wird. Den Bedrohungsgeflihlen im Zuge der EU-Osterweiterung kommt dabei eine zentrale Vermittlungsfunktion zu, d.h. es wird davon ausgegangen, dass nicht alle Menschen gleichermaBen fiir eine negative Wahrnehmung makrosozialer Veranderungen empfanglich sind, sondem dass spezifische Antezedenzien wie die tatsachhch erlebte oder perzipierte Desintegration zu einer negativen Interpretation der Situation veranlasst. Personen, die Bedrohungen wahrnehmen, sollten sich dann, so die These, verstarkt Ideologien zuwenden, die eine Abwendung der Bedrohung versprechen. Diese Eigenschaft diirften am ehesten rechtsextreme Ideologien besitzen. Ein zentraler Bestandteil dieser ist die Annahme von Ungleichheit zwischen Angehorigen verschiedener Gruppen. Die Gruppen werden dabei in erster Linie national gefasst. Insofern konnen rechte Einstellungen als Vorstellungen Uber Ungleichheit und Ungleichwertigkeit von Menschen unterschiedlicher nationaler Herkunft beschrieben werden. Damit werden rechtsextreme Einstellungen sehr nah an das Konzept der ethnozentrischen Einstellungen geriickt. Dies ist intendiert, da die hier vorgelegte Studie beansprucht, die Konsequenzen eines sozialen Wandels auf der Einstellungsebene zu untersuchen. Die Verhaltenskomponente, die im Rechtsextremismuskonzept u.a. von Heitmeyer (1989) zu finden ist, wird ganz explizit ausgeklammert. Im weiteren Verlauf werden deshalb die Begriffe rechtsextreme (oder rechte) und ethnozentrische Einstellungen synonym benutzt. Sie werden an dieser Stelle definiert als die Aufwertung der nationalen Eigengruppe bei gleichzeitiger Abwertung nationaler Fremdgruppen. Die Abwertung miisste sich vor allem auf jene Fremdgruppen beziehen, die durch die EU-Osterweiterung salient werden, d.h. in Deutschland vor allem auf polnische und tschechische Burger. Im Folgenden wird vorgestellt, wie die verschiedenen Konzepte empirisch operationalisiert wurden. Eingeleitet wird diese Vorstellung von einem nicht diesen einzelnen Theoriebausteinen zugeordneten Variablenkomplex: der Einschatzung der EU bzw. der Verbundenheit mit Europa.
42 4.1
Messinstrumente Wahrnehmung von Europa, der EU und der EU-Osterweiterung
Regionale und iiberregionale Identifikation kann ein Puffer gegen, aber auch ein bedingender Faktor fiir Geflihle der Ablehnung des Fremden sein. In der wissenschaftlichen Diskussion wird davon ausgegangen, dass hoch-inklusive, iiberregionale Identifikationen wie der Kosmopolitismus, d.li. der Verbundenheit mit der gesamten Welt, am deutlichsten vor der Ausbildung ethnozentrischer Einstellungen schiitzen. Lokal begrenzte, aber insbesondere die eigene Nation betonende Identitaten sollten einen eher gegenlaufigen Effekt haben. Fine europaische Identitat wird der ersteren, inklusiven Variante zugeordnet. Wir haben das AusmaB an regionaler Identifikation mit der Frage ermittelt, ob sich die Befragten drei unterschiedlichen geographischen Einheiten (eher) nicht oder (eher) sehr verbunden fiihlen. Die Ergebnisse sind in Abbildung 9 dargestellt, wobei nur der Anteil an Befragten aufgeflihrt wird, der sich sehr mit der jeweihgen Einheit verbunden fiihlt. An dieser Stelle ist eine kurze Einfiihrung in die Art und Weise der Darstellung der Ergebnisse notwendig. Aufgeflihrt sind jeweils die Variablenbenennungen und in Klammern die signifikanten Unterschiede zwischen den Stichproben. Hierfiir wurden einfaktorielle Varianzanalysen mit Post-hoc-Tests durchgeflihrt, wobei nur jene Unterschiede berichtet werden, die im Scheffe-Test mindestens auf dem 5-%-Irrtumswahrscheinlichkeitsniveau signifikant sind. Die Ziffernfolge „l/3" bedeutet z.B., dass sich die Befragten der deutschlandweiten Reprasentativstichprobe, die durchgangig mit „(1)" gekennzeichnet ist, von den Befragten der polnischen Grenzregionenstichprobe, gekennzeichnet durch die „(3)", signifikant unterscheiden. Zu beachten ist, dass die Bestimmung des Unterschieds auf Mittelwerten beruht. Fiir eine nachvollziehbare Darstellung werden aber an verschiedenen Stellen die Prozentzahlen berichtet. Hierfur muss eine Gruppierung der Antwortkategorien erfolgen, durch die z.T. Informationen verloren gehen. Daher kann es sein, dass die auf Basis der Prozentangaben prasentierten Befunde geringfiigig erscheinen, obwohl sich die Mittelwerte deutlich unterscheiden^^, und vice versa. Fiir deutsche Befragte zeigt die Frage nach den Identifikationseinheiten, ungeachtet ob es sich um die Reprasentativstichprobe oder die Grenzregionenstichprobe handelt, ein charakteristisches Bild (Abbildung 9): Der eigene Wohnort besitzt die hochste affektive Bindungskraft, gefolgt von der Nation und Europa. Dabei fallt die Identifikation mit Europa im Grenzgebiet besonders niedrig aus, wo sich nur noch 22,7 Prozent verbunden fiihlen. Die beiden auslandischen Befragungsgebiete unterscheiden sich deutlich von Deutschland. Dies zeigt sich erstens darin, dass vor allem die eigene Nation ein viel hoheres Gewicht besitzt, so fiihlen sich ihr fast drei Viertel der Polen verbunden. Zweitens gibt es auch keine so deutliche Abnahme bzgl. der Europa-Verbundenheit. Die tschechischen und polnischen Dies ist z.B. der Fall, wenn eine vierstufige Antwortskala vorgegeben wurde, bei der die Antworten 3 („stimme eher zu") und 4 („stimme voll und ganz zu") fiir die Prozent-Darstellung zusammengefasst werden. Wenn jetzt in einer Stichprobe 50 Prozent mit „stimme eher zu" und 0 Prozent mit „stimme voll und ganz zu" geantwortet haben, in einer anderen Stichprobe aber genau umgekehrt 0 Prozent mit „stimme eher zu" und 50 Prozent mit „stimme voll und ganz zu", dami stellen sich beide Stichproben angesichts der gruppierten Prozentdarstellung vollkommen gleich dar. Die informativeren Mittelwerte wurden sich allerdings deudich unterscheiden, da sie im letzten Fall hoher als im ersten Fall ausfallen wiirden (vorausgesetzt naturlich, dass sich die anderen 50 Prozent der Antworten gleichartig auf die verbleibenden Kategorien 1 und 2 verteilen).
Deskriptive Auswertungen
43
Befragten ftihlen sich Europa sehr zugehorig. Moglichweise aufiem sich in dieser Asymmetrie kulturell variierende Assoziationen bzgl. des Europa-Begriffs. In Deutschland mag dieser starker an die Institution der Europaischen Union gekniipft sein, in den auslandischen Gebieten mag er hingegen ofter geographisch gedeutet werden.
Abbildung 9: Verbundenheit mit verschiedenen regionalen Einheiten (Anteile „sehr verbunden", in %; in Klammern = signifikante Gruppenunterschiede) West- und Ostdeutsche Befragte unterscheiden sich im AusmaB ihrer Verbundenheit nur einmal in der Reprasentativstichprobe: Hier fiihlen sich die Ostdeutschen etwas starker mit dem eigenen Wohnort verbunden als die Westdeutschen. Dies bedeutet letztUch, dass die starkere lokale Zuwendung zum Wohnort, die sich in der Grenzregion zeigt, nicht darauf zurtickzufiihren ist, dass diese mehrheitlich durch ostdeutsche Personen bewohnt wird. Hier handelt es sich um einen echten Unterschied, der eventuell auf die besondere Lage dieser Region zurtickzufiihren ist. Diese sich bereits in den Haufigkeitsauswertungen zu den beiden deutschen Stichproben andeutende Opposition zwischen dem Wohnort und iibergeordneten geographischen Einheiten schlagt sich auch in den Beziehungen nieder, die die Verbundenheitsvariablen untereinander aufweisen (Tabelle 2). Ftir Deutschland gilt demnach: Wer sich mit dem eigenen Wohnort verbunden fiihlt, der hat bzgl. der Nation oder Europas keine eindeutigen Praferenzen. Genau genommen ist damit der Begriff der Opposition falsch gewahlt, da die
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Messinstrumente
Korrelationen nicht negativ, sondern nur recht klein bzw. nahe null sind; d.h. wer sich seinem Wohnort sehr verbunden fiihlt, identifiziert sich weder eindeutig mit der eigenen Nation noch mit Europa. In Polen und der Tschechischen Republik ist dies wiedemm anders. Die Menschen hier scheinen eine Art generelle Verbundenheitsbereitschaft zu haben, alle Korrelationen sind positiv und weit davon entfemt, trivial zu sein. Interessant ist zuletzt, dass fur alle Stichproben gilt, dass eine Verbundenheit mit dem Gebiet der Nation positiv mit der Verbundenheit mit Europa assoziiert ist. Es scheint also nicht, wie einleitend vermutet, der Fall zu sein, dass eine nationale Verbundenheit notwendig exkludierend wirkt. Vor allzu weit reichenden Folgerungen sollte allerdings gewarnt werden: Mit der Frage wurde allein die Verbundenheit, also die Identifikationsbereitschaft, nicht die Starke einer Identitat oder Ahnliches erfasst. Tabelle 3:
Interkorrelationen der Verbundenheits-Variablen
Wohnort Nation insgesamt
Nation insgesamt
Europa
0,18**/0,15**/0,50**/0,56**'
0,06*/0,02/0,30**/0,28**
-
0,35**/0,37**/0,44**/0,59**
^ Spearmans p, ** p < .01, * p < .05; 1. Koeffizient = D-Reprasentativstichprobe, 2. = D-Grenzregionenstichprobe, 3. = PL"Grenzregionenstichprobe, 4. = CZ-Grenzregionenstichprobe
Neben der Verbundenheit mit Europa wurde explizit auch die Einstellung zur Europaischen Union erfragt. Hierbei kamen Fragen zum Einsatz, wie sie in den Eurobarometer-Befragungen genutzt werden (Abbildung 10). Diese wurden in alien Gebieten gestellt, wobei in Polen und der Tschechischen Republik der Konjunktiv gewahlt wurde. Da diese beiden Lander zum Zeitpunkt der Umfrage noch keine Erfahrung mit der Mitgliedschaft batten, werden an dieser Stelle nur die Antworten der deutschen Befragten berichtet, da hier angenommen werden kann, dass diese auch die tatsachlichen Erfahrungen mit der EU bilanzieren. Dabei kommt sehr deutlich eine affirmative Haltung zum Ausdruck; 88,1 Prozent bzw. 81,9 Prozent der Befragten finden, dass die Mitgliedschaft insgesamt eine gute Sache ist. Damit liegen unsere Befragungen deutlich iiber den Ergebnissen der EurobarometerUmfragen, was z.T. auch auf die Uberreprasentierung hoher Bildungsabschliisse zuriickgefiihrt werden kann. Gleichwohl zeigt dieses erfreulich positive Bild einige Einschrankungen: So fallt erstens die Einschatzung der EU in den Grenzregionen durchweg weniger positiv aus. Zweitens scheint zudem die Zustimmung zum ersten Item auch eine mehr oder weniger reflexhafte zu sein, da schon deutlich weniger Befragte ein Scheitem der EU bedauern wurden. Wenn es darum geht, die EU auch im eigenen Leben zu verorten, konnen ihr noch weniger Menschen etwas Positives abgewinnen. Betrachten wir in Abbildung 11 die Ost-West-Unterschiede, so findet sich nur fiir die Reprasentativstichprobe, dass Westdeutsche der EU positiver gegeniiber eingestellt sind. Die ostdeutschen Befragten der Reprasentativstichprobe und der Grenzregionenstichprobe unterscheiden sich liberhaupt nicht voneinander, ganz im Gegensatz zu den westdeutschen (bayerischen) Befragten in der Grenzregionenstichprobe, die sich deutlich
Deskriptive Auswertungen
45_
von ihren westdeutschen Pendants unterscheiden. Dies ist ein klarer Beleg daflir, dass zumindest in Westdeutschland die Unterscheidung grenznaher und grenzfemer Gebiete, die in unserer Sampling-Strategie verfolgt wurde, sinnvoll ist. Ungeachtet der Unterschiede, die es zwischen den Personen in den verschiedenen regionalen Einheiten gibt, gilt in intraindividueller Perspektive, dass die Zustimmung zu einem der drei Items tendenziell mit einer Zustimmung zu den anderen Items einhergeht, Oder anders ausgedriickt: Die drei Items bilden eine gute Skala zur Erfassung der Einstellung gegeniiber der Europaischen Union. Cronbachs Alpha als MaB fur die Konsistenz der Antworten betragt 0,76 in Stichprobe (1), 0,78 in Stichprobe (2).
Abbildimg 10: Einstellungen zur Europaischen Union (Anteile „stiimne eher zu'* und „stinune voll und ganz zu", in %, in Klammern = signifikante Gruppenunterschiede) Neben der Einstellung zur Europaischen Union wurde auch mit zwei weiteren Items in alien vier Gebieten explizit die Meinung zum Schritt der EU-Osterweiterung erfasst (Abbildung 12). Dabei zeigt sich eine unerwartet hohe Bereitschaft, den anstehenden Erweiterungsschritt um zehn Lander zu vollziehen. Am niedrigsten ist diese in der deutschen Grenzregion, wo 67,9 Prozent dafiir sind. In den beiden auslandischen Stichproben wird eine Zustimmungsquote beobachtet, wie sie sich auch in den Referenden gezeigt hat:
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Messinstrumente
Eine deutliche Mehrheit (drei Viertel) der Polen bzw. Tschechen begrliBt die EU-Osterweitemng. Allerdings unterscheiden sich die vier Stichproben beziiglich des ersten Items nicht voneinander. Die Unterschiede zeigen sich erst, wenn es gilt, die Folgen der EU-Osterweitemng zu evaluieren. Hier wird eine deutliche Asymmetrie innerhalb der Grenzregionen deutlich. Nur jeder zweite deutsche Grenzregionenbewohner verspricht sich von der EU-Osterweiterung Vorteile fiir das eigene Land, in Polen bzw. der Tschechischen Republik sind dies hingegen wiederum ca. drei von vier Befragten. Im Ausland ist man also fiir die EU-Osterweiterung, weil es dem Land helfen konnte. In Deutschland speist sich die affirmative Haltung zur EU-Osterweiterung aus anderen Quellen, die hier nicht naher untersucht worden sind. West-Ost-Unterschiede gibt es bei beiden Fragen keine. Die Interkorrelation (Spearmans p) zwischen den beiden Items betragt in alien Gebieten mehr als 0,70.
Abbildung 11: EinsteUimgen zur Europaischen Union im West-Ost-Vergleich (in%;*p<.05, **p<.01) Zusatzlich zu den beiden in Abbildung 12 dokumentierten Items wurde auch speziell die Bereitschaft zur Aufnahme der beiden Lander Polen und Tschechische Republik erfragt (Abbildung 13). Ganz ahnlich zeigt sich dabei, dass die Vorbehalte in Deutschland groBer sind als in den beiden Beitrittsnationen: Jeweils ein Drittel der Deutschen sprechen sich gegen die Aufnahme der Lander aus, wobei die Vorbehalte gegeniiber Polen noch signifi-
Deskriptive Auswertungen
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kant iiber denen der Tschechischen Republik liegen.^^ Nur sehr wenige polnische und tschechische Befragte sprechen sich gegen den eigenen Beitritt bzw. den Beitritt des Nachbam aus. In der Tschechischen Republik scheint es, alles in allem, aber eine etwas groBere Bevolkemngsgruppe zu geben, die sich gegen die EU-Osterweiterung stelh: 23,6 Prozent sind gegen den Beitritt ihres Landes, in Polen sind dies nur 14,4 Prozent. Die Tschechen unterscheiden sich damit hinsichtlich der Unterstiitzung des eigenen Landes von den Polen; bei den Tschechen fallt diese signifikant niedriger aus. Dies gilt auch fiir die Fremd-Unterstiitzung, d.h. auch hier gibt es signifikant mehr Tschechen, die gegen einen Beitritt Polens sind als umgekehrt Polen, die gegen den Beitritt der Tschechischen Republik sind. Darin diirfte sich die generell etwas skeptischere Haltung der Tschechen gegeniiber der EU-Osterweiterung widerspiegeln.
Abbildung 12: Einstellung zur EU-Osterweiterung (Anteile „stimme eher zu" und „stimme veil und ganz zu", in %, in Klammern = signifikante Gruppenunterschiede) West-Ost-Unterschiede sind beztiglich der Bereitschaft, die beiden anderen Lander beitreten zu lassen, z.T. recht deutlich. So zeigt sich, dass im Osten Deutschlands die Menschen tendenziell seltener gegen einen Beitritt Polens und der Tschechischen Republik sind. Dies Hierzu wurde eine Varianzanalyse mit Messwiederholung berechnet. Die Effekte fiir die deutschen Stichproben sind F = 9.22** (Reprasentativstichprobe) und F = 25.94** (Grenzregionenstichprobe).
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Messinstrumente
tritt besonders in der Grenzregionenstichprobe zu Tage: Wahrend 48,7 Prozent der westdeutschen Grenzregionenbewohner (Bayern) gegen die Aufnahme Polens sind, sind dies nur 33,9 Prozent der Ostdeutschen. Auch in Bezug auf die Tschechische Republik zeigt sich dieser Unterschied (39,6 % zu 26,9 %). Unter Kontrolle der verschiedenen Zusammensetzung der Stichproben (u.A. Bildungsabschiiisse) sind diese Unterschiede aber nur mehr auf dem 5%- bzw. 10%-Niveau signifikant.
Abbildung 13: Einstellung zum Beitritt einzelner Lander (Anteile „bin sehr dagegen" und „bin dagegen", in %, in Klammern = signifikante Gruppenunterschiede) Eine letzte deskriptive Auswertung zu diesem Themenbereich prasentiert Abbildung 14. Um zu untersuchen, wie gut die Befragten liber die Europaische Union bzw. die EU-Osterweiterung informiert sind, um also den Wissensstand zu messen, wurden zwei Quizfragen konstruiert. Die erste fragte nach der Farbe der Flagge der Europaischen Union, wobei die Farben blau-weiB, rot-griin und blau-gelb zur Auswahl standen. Die zweite fragte danach, welches von drei Landem demnachst der EU beitreten wird, WeiBrussland, Ungarn oder Israel. Uberraschenderweise sind die Burger im Ausland iiber die Union etwas besser informiert als die ihr schon seit mehreren Jahren angehorenden deutschen Befragten: Vor allem die tschechischen Befragten wussten haufiger die richtige Farbe der Flagge der Union zu benennen. Uber die EU-Osterweiterung sind demgegeniiber die deutschen Befragten
Deskriptive Auswertungen
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signifikant besser informiert. Hier wussten liber zwei Drittel, dass Ungarn der EU beitreten wird. Der Umstand, dass die auslandischen Befragten besser liber die EU als iiber die EUOsterweiterung informiert waren, mag damit zusammenhangen, dass die Werbung fiir die EU-Osterweiterung haufig mit Symbolen wie der EU-Flagge durchgeflihrt wurde statt tatsachlich Wissen liber die Vorteile dieses Schritts zu vermitteln. In Deutschland, so hat es den Anschein, wurde sich hingegen sehr intensiv mit der EU-Osterweiterung und den Starken und Schwachen der neuen Mitgliedsnationen auseinandergesetzt. Fasst man beide Quizfragen in einem Index zusammen, so sind es letztlich die deutschen Befragten, die insgesamt besser liber die EU und ihre Osterweiterung informiert sind. Vier von zehn Befragten wussten auf beide Fragen die richtige Antwort. Im Ausland waren dies nur drei von zehn. Westdeutsche Befragte wussten signifikant haufiger die Farbe der EU-Flagge, allerdings nur in der Grenzregionenstichprobe (65 % zu 52 % richtige Antworten). Dies impliziert, dass sie dann auch etwas haufiger zu derjenigen Gruppe Befragter gehoren, die beide Fragen richtig beantworteten (51 % zu 41 %).
Abbildung 14: Wissen iiber die EU und ihre Osterweiterung (Anteil richtiger Antworten, in %, in Klammern = signifikante Gruppenunterschiede)
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Messinstrumente
Wie hangen nun die einzelnen Dimensionen zusammen? Lasst sich aus den vorgestellten Konstrukten eventuell so etwas wie ein MaB zur Erfassung der europaischen Identitat konstruieren? Die Antwort hierauf fallt von Region zu Region unterschiedlich aus. Die empirisch gefundenen Bezlige (Tabelle 4) zeigen ftir Deutschland, dass die Identifikation mit Europa als geographischem Gebiet positiv mit der liber drei Items gemessenen Einstellung zur EU und mit der iiber zwei Items gemessenen Einstellung zur EU-Osterweiterung zusammenhangt. AUerdings konnen die Koeffizienten nur als mittelhoch bezeichnet werden. Die Beziehung zwischen den zuletzt genannten Konstrukten, die nur ftir die deutschen Stichproben bestimmt werden kann, ist hingegen mit 0,56 und 0,53 hoch, d.h. Personen, die eine positive Haltung gegeniiber der EU besitzen, befiirworten ebenfalls ihre Osterweiterung. Tabelle 4:
Interkorrelationen der Konstrukte zur Beurteilung der EU und ihrer Osterweiterung
Identifikation mit Europa Einstellung zur EU (3 Items, nur Deutschland) Einstellung zur EU-Osterweiterung (2 Items)
Einstellung zur EU (3 Items, nur Deutschland)
Einstellung zur EU-Osterweiterung (2 Items)
Wissen liber EU-Osterweiterung (2 Items)
0,37**70,36**7 -/-
0,32**/0,33**/ 0,20**7-0,02
0,13**70,11*7 0,017-0,01
0,56**70,53**7
0,17**70,10*7
-7-
-7-
-
0,10**70,087 0,0670,24**
-
^ Spearmans p; ** p < .01, * p < .05; 1. Koeffizient = D-Reprasentativstichprobe, 2. = D-Grenzregionenstichprobe, 3 = PL-Grenzregionenstichprobe, 4. = CZ-Grenzregionenstichprobe Solch eine positive Haltung basiert aber nicht notwendig auf Wissen, wie die diesbeziiglichen Korrelationen belegen. Es lasst sich sagen, dass nur ca. 1 Prozent der positiven Haltung zur EU bzw. zur EU-Osterweiterung auf die Wirkung von Wissen zurlickgeht (die Korrelationen sind samtlich um 0,10)/^ In Polen findet sich, dass die Identifikation mit Europa noch etwas geringer mit der Haltung zur EU-Osterweiterung zusammenhangt, in der Tschechischen Republik existiert iiberhaupt kein Zusammenhang mehr. Ebenso schwach bis iiberhaupt nicht existent sind die Beziehungen der genannten Konstrukte mit dem Wissensstand eines Befragten in den auslandischen Grenzregionen. Einzig in der Tschechischen Republik wissen Personen, die eine positive Meinung iiber die EU-Osterweiterung besitzen auch etwas mehr als negativ eingestellte Personen. Alles in allem Dabei ist zu berucksichtigen, dass hier keine Partialkorrelationen bzw. Regi*essionsgewichte abgebildet sind. Der Einfluss des Wissens wiirde hochstwahrscheinlich noch etwas geringer ausfallen, wenn man andere Variablen simultan berucksichtigen wiirde, was die These des geringen Einflusses von Wissen auf die Ausbildung von Einstellungen bestatigt.
Deskriptive Auswertungen
5j[^
lassen sich die abgebildeten Korrelationen nicht dahingehend interpretieren, eine einzelne Variable „europaische Identitat" daraus zu bilden. Vor allem das Wissen scheint eine unabhangige GroBe zu sein. Eine hier nicht dokumentierte Auswertung ergab, dass eine wichtige Variable zur Vorhersage des Wissenstandes das Bildungsniveau eines Befragten war, d.h. Hohergebildete wissen in der Kegel besser iiber die EU Bescheid. Besonders stark war der Effekt der Bildung in der Tschechischen Republik, besonders schwach (und nicht signifikant) in Polen. Als zusatzliche Determinanten konnten das Alter (altere Personen wussten weniger; in der Tschechischen Republik nicht signifikant) und das Geschlecht (Frauen wussten weniger; in der Tschechischen Republik nicht signifikant) identifiziert werden. Zusammenfassend lassen sich die Auswertungen dieses Themenbereiches dahingehend interpretieren, dass die Europaische Union und ihre Osterweiterung von den Blirgem aller untersuchten Gebiete weitestgehend befiirwortet werden. Am positivsten scheinen die polnischen Burger gestimmt, weniger positiv die deutschen Grenzregionenbewohner. Zudem hat sich an einigen Stellen bereits gezeigt, dass hinsichtlich mancher Fragen die reservierteste Haltung von den bayerischen Grenzregionenbewohnern zum Ausdruck gebracht wird. 4.2
Desintegration
Soziale Desintegration thematisiert die „Prekaritat des Zugangs zu gesellschaftlichen Teilsystemen (wie zum Arbeitsmarkt etc.), der Partizipation an offentlichen Einrichtungen und der Sicherung gemeinschaftlicher Einbindung" (Heitmeyer 2002: 27). Diese Definition kann als operant bezeichnet werden, insofem sie den Verweis auf die zentralen Desintegrationsbereiche und somit auf die Erfassung des Konzeptes in sich tragt. Wie in Kapitel 2 bereits dargelegt, geht der Ansatz davon aus, dass es in modernen Gesellschaften drei zentrale Spharen gibt, in denen Menschen Anerkennung vorenthalten werden kann: Dies ist der sozial-strukturelle, der institutionelle und der sozial-emotionale Bereich. Desintegration und Anerkennungsverweigerung konnen als ein Ausschluss begriffen werden, der Menschen widerfahren kann. Ausgeschlossen werden sie von der Teilhabe an materiellen oder kulturellen Giitem, von der Teilhabe an der politischen Gestaltung und von der Teilhabe an sozialen Beziehungen. Ein Ausschluss in einem Bereich kann, muss aber keinesfalls mit dem Ausschluss aus einem anderen Bereich einhergehen. Er kann auch kompensiert werden, in dem er zu einer gesteigerten Integration in einem anderen Bereich fiihrt. Zugleich kann ein Ausschluss andere problematische Folgen haben: So kann er beispielsweise eine Person dazu motivieren, den Glauben an die Gleichheit, die unserem demokratischen Gemeinwesen immanent ist, zu verlieren und sich Ideologien der Ungleichheit zuwenden. Aber auch dabei gilt: Nicht jede Form der Desintegration hat notwendig negative Auswirkungen auf den Einstellungs- und Verhaltensbereich. Diese werden aber umso wahrscheinlicher, „je groBer die Desintegrationsbelastungen in unterschiedlichen Teildimensionen mit der Folge einer negativen Anerkennungsbilanz sind"; wenn sich Desintegration also auf verschiedene Bereiche erstreckt und vor allem, „wenn weitere individuelle und politische Einflussfaktoren hinzukommen" (Endrikat et al. 2002, S. 40), dann sind negative Konse-
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Messinstrumente
quenzen erwartbar. Diese Uberlegungen finden sich im eingangs vorgestellten theoretischen Modell wieder. Allerdings wird weniger davon ausgegangen, dass Desintegration direkt die Entstehung rechtsextremer Einstellungen verursacht, sondem dass sie in erster Linie mit anderen, bedrohlichen Interpretationen der Gegenwart in Verbindung steht. Gerade Krisenzeiten bzw. makrosoziale Verandemngen, die dafiir geeignet sind, krisenhaft interpretiert zu werden, konnen Desintegrationsgefiihle mobilisieren. Wir gehen also davon aus, dass Personen in desintegrierten Lebenslagen dazu neigen, die EU-Osterweiterung als einen weiteren Schritt zu begreifen, der die eigenen Lebensumstande negativ beeinflusst. Um diese Uberlegungen priifen zu konnen, wurden aus alien drei Desintegrationsdimensionen Konstrukte in die Befragung aufgenommen, die ebenfalls in der Studie „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" (Heitmeyer 2002) genutzt werden. Dabei werden sowohl objektive als auch subjektive Indikatoren eingesetzt. Objektive Indikatoren sind von den Wahrnehmungen der Personen weitestgehend unabhangige MaBe, wie z.B. die Tatsache, arbeitslos zu sein. Personen neigen aber in sehr unterschiedlicher Weise dazu, mit den objektiven Tatsachen umzugehen (Coping), weshalb die subjektive Wahmehmung der objektiven Situation in den meisten Studien einen hoheren Erklarwert aufweist (u.a. Rippl/Baier 2005). 4.2.1
Sozial-strukturelle Desintegration
Zuerst sollen verschiedene Indikatoren subjektiver struktureller Desintegration vorgestellt werden. Diese konnen sich auf verschiedene Ebenen beziehen: Einerseits ist dies die Ebene der individuellen Lebenswelt, der eigenen Biographic und Familie. Andererseits ist dies die kollektive Ebene. Desintegration ist also kein notwendig individuenbezogenes Ereignis, wie dies in der bisher ausgearbeiteten Desintegrationstheorie von Anhut und Heitmeyer (2000) angedeutet ist. Desintegration kann sich auch auf kollektive GroBen oder ganze Regionen (z.B. das Grenzland, einzelne Kreise, Ostdeutschland) beziehen. Es mlissen also individuelle und kollektive Ebene von Deprivation betrachtet werden (vgl. Rippl/Baier 2005). Fiir die verschiedenen Ebenen wurden entsprechende Indikatoren aufgenommen. Die Ergebnisse sind in Abbildung 15 dargestellt. Die ersten Aussagen beziehen sich dabei auf die individuelle Ebene. Auffallig ist daran, dass die polnischen Befragten bei alien drei Aussagen die hochsten Werte an Desintegration berichten. So meinen 80,1 Prozent - der insgesamt hochste Wert bei diesen Items - der polnischen Grenzregionenbewohner, dass sie sich wenig oder fast iiberhaupt nichts (so die beiden zusammengefassten Antwortkategorien) leisten konnten. In der Tschechischen Republik sind dies signifikant weniger Befragte. Das geringste AusmaB an individueller struktureller Desintegration berichten die Deutschen. Allerdings existieren bei alien drei Items signifikante Unterschiede zwischen Deutschen allgemein und Deutschen, die im Grenzgebiet leben. Letztere sind haufiger der Meinung, dass die eigene wirtschaftliche Lage schlecht oder sehr schlecht ist, dass sie sich weniger leisten konnen und auch im Vergleich zu anderen weniger oder weit weniger als den gerechten Anteil erhalten. Dieses letztgenannte Item erfasst relative Deprivation und wird fiir die Tschechische Republik aufgrund eines tJbersetzungsfehlers in den Antwortkategorien, der erst im Nachhinein entdeckt wurde, nicht berichtet.
Deskriptive Auswertungen
Abbildimg 15: Anteil Befragter, die Benachteiligung wahrnehmen (in %, in Klammern = signifikante Gruppenunterschiede)
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Messinstrumente
Die Fragen 3 und 4 beziehen sich auf zwei unterschiedliche Kollektive. Die Befragten sollten hier angeben, ob sie der Meinung sind, dass die eigene Region bzw. das eigene Land in dem Sinne desintegriert ist, dass die wirtschaftliche Lage schlecht oder sehr schlecht ist. Die Einschatzung der Region sollte dabei relativ zur Lage des Landes insgesamt erfolgen/^ In dieser Einschatzung zeigt sich flir die beiden deutschen Stichproben ein in seinem Ausma6 unerwarteter Unterschied: Zwar wurde vermutet, dass die Grenzregionen in ihrer okonomischen Performanz hinter vielen anderen Bundesgebieten zurlickstehen, was auch ein Grund fiir unsere Sample-Strategie war. Dass diese objektiv vorhandenen, dennoch sicherlich nicht ungeheuer groB ausfallenden Unterschiede als so drastisch wahrgenommen werden, ist aber verwunderUch. Nahezu doppelt so viele deutsche Grenzregionenbewohner wie Deutsche allgemein sind der Auffassung, ihrer Region ginge es wirtschafthch schlecht. MogUcherweise spielte bei der Beantwortung dieser Frage nicht nur die aktuell vorhandene Desintegration, sondem auch die zukiinftig erwartete Des integration nach der EU-Osterweiterung eine Rolle. In den Aussagen der polnischen und tschechischen Befragten scheint hingegen ein gewisser Zukunftsoptimismus mit eingeflossen zu sein. Wir haben zwar hier keine Vergleichsdaten, wie die Polen und die Tschechen allgemein das Wirtschaftsniveau ihrer Region einschatzen, dennoch zeigt sich, dass sie weit weniger besorgt um ihre Region sind als die deutschen Grenzbewohner. Dies gilt zumindest fiir die Polen auch im Hinblick auf die Einschatzung der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes. Alles in allem hat es den Anschein, als ob, zumindest aus der Perspektive der Bewohner, die polnische Grenzregion zu Deutschland einen im innerpolnischen Vergleich gut entwickelter Landstrich darstellt. Wenn Deutsche und Tschechen ihr Land einschatzen sollen, regiert hingegen iiberall der Pessimismus: Jewells etwa vier von fiinf Befragten meinen, dass es dem eigenen Land schlecht oder sehr schlecht geht. Interessant ist damit die gegenlaufige Tendenz, die in den Antworten auftaucht. Die deutschen Befragten sehen eher die kollektive Ebene als problematisch an, die individuelle Ebene ist dadurch noch nicht unbedingt beriihrt. In Polen und tendenziell auch in der Tschechischen Republik ist demgegeniiber eher das Niveau wahrgenommener individueller Desintegration problematisch. Betrachtet man sich zuletzt das AusmaB koUektiver Deprivation, so zeigen wiederum die beiden auslandischen Stichproben Auffalligkeiten. Die Frage zielte darauf ab, die wirtschaftliche Lage der Einheimischen im Vergleich zu den Auslandern einzuschatzen. In deutschen Studien wird bei einer dergestalt erfassten Desintegrationswahmehmung ein deutlicher Einfluss auf rechtsextreme Einstellungen berichtet (u.a. Wagner/Zick 1998). Die Uberlegung dabei ist, dass sich darin eine unrealistische Einschatzung der Situation der Auslander niederschlagt und damit im Prinzip bereits eine generelle Herabsetzung dieser doch sehr heterogenen Bevolkerungsgruppe. Wenn man die Zustimmung zu diesem Item als einen Indikator fiir die Erfassung von Fremdenfeindlichkeit begreift, dann wlirde etwa jeder siebente Befragte aus Deutschland solchen Einstellungen anhangen. Es ist allerdings fraglich, ob eine derart negative Interpretation dieses Items auch einer interkulturellen Sichtweise standhalt, da sich jeder zweite polnische und jeder dritte tschechische Befragte hier zustimmend auBerte. Im Abschnitt 4.4 wird eine Skala zur Erfassung von FremdenDer genaue Wortlaut war: „Denken Sie bitte einmal an die Region, in der Sie wohnen: Wie ist die wirtschaftliche Lage in Ihrer Region im Vergleich zur wirtschaftlichen Lage in der Bundesrepublik insgesamt?"
Deskriptive Auswertungen
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feindlichkeit vorgestellt, auf der zumindest die polnischen Befragten die niedrigsten Werte erzielen. Es kommt also anscheinend darauf an, an weiche Personengmppe gedacht wird, wenn von „Auslandern" die Rede ist. Moglicherweise dachten die polnischen und tschechischen Befragten dabei an Auslander u.a. aus Deutschland, denen es tatsachlich wirtschaftlich besser geht. Es kann sich also auch eine realistische Einschatzung der Verhaltnisse in den Einschatzungen niederschlagen, weshalb durch weitere korrelative Analysen erst zu untersuchen ware, weiche Zusammenhange die hier berichtete kollektive Deprivation in den auslandischen Stichproben mit weiteren EinstellungsmaBen aufweist, um zu priifen, ob es sich tatsachlich um einen guten Indikator fiir die Erfassung von Desintegration handelt. In Abbildung 16 ist fiir drei ausgewahlte Items dargestellt, weiche West-OstUnterschiede existieren.^"* Es zeigt sich, dass die individuelle Desintegration im Osten Deutschlands, unabhangig davon, ob Grenzregion oder nicht, hoher ist als im Westteil. Die erhohte Desintegration in den Grenzregionen, die aus der vorangegangenen Abbildung hervorgegangen ist, basiert also voU und ganz darauf, dass Ostdeutsche hohere individuelle Desintegration wahrnehmen und die Grenzregionenstichprobe zu vier Fiinfteln aus ostdeutschen Befragten besteht. Die Unterschiede in der koUektiven, die Region betreffenden Desintegration sind hingegen keine genuine Folge von West-Ost. Obwohl sowohl in der Reprasentativ- als auch in der Grenzregionenstichprobe Ostdeutsche eine starkere Schlechterstellung der Region vermuten, sind auch die bayerischen Befragten im Grenzgebiet starker hiervon iiberzeugt als die restlichen Westdeutschen. Solch eine Mobilisierung negativerer Einschatzungen kann auch bei der koUektiven Deprivation beobachtet werden. In den bayerischen Regionen ist der Anteil an Befragten, der meint, den Deutschen ginge es schlechter als den Auslandern, doppelt so hoch wie in der westdeutschen Bevolkerung allgemein. Hierin unterscheiden sich die bayerischen Befragten auch signifikant von den Ostdeutschen, die deutlich seltener dieser Meinung sind. Die in Tabelle 5 dokumentierten Korrelationen bestatigen vor allem fiir Polen die geauBerten Zweifel daran, dass kollektive Deprivation ein gutes Ma6 zur Erfassung von Desintegration darstellt. Die Beziehungen zu den anderen Konstrukten sind in drei von vier Fallen nicht signifikant. Auch in Deutschland sind durchweg recht schwache Beziehungen zu den anderen beiden Dimensionen individueller und kollektiver Desintegration vorhanden. AUerdings zeigen sich zwischen diesen beiden Dimension ebenfalls nur recht schwache Beziehungen. Es lasst sich schlussfolgern, dass die Befragten sehr wohl zwischen den unterschiedlichen Ebenen von Desintegration unterscheiden, d.h. ein Befragter, der sich individuell benachteiligt fuhlt, generalisiert dieses Gefiihl nicht notwendig auf die Region oder das Land. Die beiden dargestellten Items zur Erfassung individueller Desintegration korrelieren in alien Stichproben sehr hoch miteinander. Zwischen den beiden koUektiven Einheiten (Region und Land) wird demgegeniiber eine Unterscheidung getroffen. Dies ist mehr oder weniger durch die Frageformulierung veranlasst, da die regionale wirtschaftliche In Bezug auf die di'ci Items zur Erfassung individueller Desintegration existieren drei gleichgerichtete West-Ost-Unterschiede, weshalb hier nur das erste vorgestellt wird. Die allgemeine wirtschaftliche Lage wird von West- und Ostdeutschen in beiden Gebieten gleich eingeschatzt.
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Starke im Vergleich zu Deutschland/Polen/der Tschechischen Republik insgesamt einzuschatzen war.
Abbildung 16: Anteil Befragter, die Benachteiligung wahrnehmen im West-Ost-Vergleich (in%;*p<.05, **p<.01) Wenn es darum geht, die soziale Ausgewogenheit im eigenen Land einzuschatzen, regiert in alien vier Gebieten groBer Pessimismus (Abbildung 17). Der Aussage, dass im jeweiligen Land die Reichen immer reicher, die Armen immer armer wtirden, dass also das Ausmafi an gesellschaftlicher Ungleichheit zunimmt, stimmen zwischen 82,4 und 98,2 Prozent der Befragten zu. Nahezu jeder polnische Befragte ist also dieser Meinung. Ganz ahnlich ist die Wahrnehmung im Hinblick auf das zweite Item. Und obwohl bereits in Gesamtdeutschland eine sehr negative Einschatzung der gesellschaftlichen Ungleichheit vorherrscht, sind in den Grenzregionen die Meinungen noch einmal ein Stiick extremer. Hier gibt es auch (nicht abgebildet) keine Unterschiede mehr zwischen West- und Ostdeutschen, die in der Reprasentativstichprobe vorhanden sind, in der die Ostdeutschen etwas haufiger beiden Aussagen zustimmen. Flir die beiden auslandischen wie die ostdeutschen Stichproben kann nun vermutet werden, dass sich in diesen Einschatzungen die Erfahrungen vor und nach dem Zusammenbruch des realsozialistischen Gesellschaftssystems niederschlagen. Fiir die bayerische Grenzregion kann man diese Erklarung hingegen nicht heranziehen. Vielmehr schlagen sich darin wahrscheinlich Veranderungen nieder, die einerseits mit der Globalisierung, andererseits auch mit der EU-Osterweiterung zusammenhangen, wobei
Deskriptive Auswertungen
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diese Deutungen sicherlich ebenso Geltung fiir die anderen Stichproben beanspruchen konnen. Tabelle 5:
Interkorrelationen der Items zur Erfassung struktureller Desintegration
Leisten konnen
-
Lage in Region 0,17**70,12**/ 0,24**70,30** 0,23**70,16**/ 0,23**/0,27**
Lage in Region
-
-
Lage des Landes
-
-
Leisten konnen Eigene wirtschaftliche Lage
0,56**70,52**/ 0,57**70,67**
Lage des Landes 0,23**/0,16**/ 0,29**/0,35** 0,26**/0,23**/ 0,20**/0,28** 0,15**/0,15**/ 0,34**/0,32** -
Lage der Auslander 0,17**/0,17**/ 0,01/0,25** 0,24**/0,19**/ 0,03/0,24** 0,07*/0,01/ 0,18**/0,25** 0,19**/0,21**/ 0,06/0,16**
^ Spearmans p, * p < .05, ** p < .01; 1. Koeffizient = D-Reprasentativstichprobe, 2. = D-Grenzregionenstichprobe, 3. = PL-Grenzregionenstichprobe, 4. = CZ-Grenzregionenstichprobe
Abbildiing 17: Einschatzung der Sozialstruktur („stimme eher zu" /„stimme voll und ganz zu", in %, in Klammern = signifikante Gruppenunterschiede)
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Messinstmmente
Wenden wir uns nun den objektiven Faktoren zu. Ein zentrales MaB zur Erfassung objektiver struktureller Desintegration stellt die eigene Arbeitslosigkeit dar, da mit ihr mindestens materielle, meist auch kulturelle Einschrankungen (im Sinne Einschrankungen in kulturellen Partizipationsmoglichkeiten) verbunden sind/^ Aus Abbiidung 18 geht hervor, dass die meisten Arbeitslosen im polnischen Grenzland leben. Die geringste Arbeitslosenquote ist in der deutschen Reprasentativstichprobe zu beobachten, wobei diese unter den amtlichen Zahien bleibt, d.h. in unsere Stichprobe sind Arbeitslose zu zwei Prozent unterreprasentiert. In den Grenzregionen Deutschlands ist die Quote etwas erhoht, in der Tschechischen Republik erreicht sie fast bundesdeutsches Niveau. Dies war zu erwarten, da sich insbesondere das nordbohmische Gebiet durch eine recht gute Wirtschaftsentwicklung seit 1989 auszeichnet. Fragt man allerdings nicht allein nach der aktuellen, sondern nach der bereits erlebten Arbeitslosigkeit, so steigen die Quoten sehr stark an, und ebenso gehen die Unterschiede zwischen den Gebieten zuriick.^^ Die haufigsten Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit haben die Grenzregionenbewohner gemacht. Dies ist vor dem Hintergrund, dass diese einen
Abbiidung 18: Betroffenheit von Arbeitslosigkeit (in %, in Klammern = signifikante Gruppenunterschiede)
Ein anderes MaB ist die Schulbildung, da in meritokratisch organisierten Gesellschaften hohe Bildung auch bessere ZugangsmoglicWceiten eroffnet. In Kapitel 3 dieses Bandes ist die Verteilung der Schulabschliisse berichtet. Die Frage, ob bereits Arbeitslosigkeitserfahrungen gemacht wuiden, wurde Schulern und Studenten nicht gestellt, da diese noch in der Phase der Vorbereitung auf die Erwerbstatigkeit sind. Ebenso wurden Personen, die derzeit arbeitslos oder in Rente sind, nicht danach gefragt, ob sie Angst vor einer eigenen zukiinftigen Arbeitslosigkeit haben.
Deskriptive Auswertungen
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strukturellen Wandel seit 1989 durchlebt haben, nicht iiberraschend. Dennoch hat dieser Wandel seltener die tschechischen Gebiete erfasst. Interessant ist zudem, dass Arbeitslosigkeit ein Zustand ist, den knapp ein Drittel aller erwerbstatigen Bundesdeutschen schon einmal erlebt hat. Desintegration und prekare Lebenslagen sind mithin ein temporar zahlreiche Menschen treffendes Schicksal. Das positive Bild, dass die tschechische Stichprobe in den objektiven Indikatoren offenbart, wird etwas relativiert, wenn der zuklinftige Status eingeschatzt werden soil. Uber 60 Prozent der tschechischen Befragten haben mittlere oder groBe Angst davor, in nachster Zeit arbeitslos zu werden. Substanzielle Unterschiede zu Biirgem anderer Gebiete bestehen aber kaum, d.h. mindestens zwei von flinf Befragten auBem Angst vor zukiinftiger Arbeitslosigkeit. Wie Abbildung 19 zeigt, gibt es hinsichtlich der objektiven Desintegration groBe innerdeutsche Unterschiede. Ostdeutsche sind sowohl aktuell haufiger arbeitslos, sie waren in der Vergangenheit haufiger arbeitslos und erwarten auch fiir die Zukunft haufiger, arbeitslos zu werden. Dabei macht es keinen Unterschied, ob man als Ostdeutscher grenznah lebt oder nicht. Tendenziell ist die Betroffenheit in den ostdeutschen Grenzregionen sogar etwas niedriger als im restlichen Ostdeutschland. Die bayerischen Grenzregionenbewohner waren gegeniiber den restlichen westdeutschen Befragten etwas haufiger bereits einmal arbeitslos und haben auch etwas erhohte Angst vor zukiinftiger Arbeitslosigkeit; d.h. auch hier findet sich ein geringer Mobilisierungseffekt.
Abbildung 19: Betroffenheit von Arbeitslosigkeit im West-Ost-Vergleich (in %; ** p < .01) Betrachtet man die Folgen fiir die Wahrnehmung von Benachteiligung, die eine mogliche Arbeitslosigkeit nach sich Ziehen konnte, dann fallen die entsprechenden Korrelationen
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recht gering aus. Aktuell arbeitslose Personen betrachten sich tendenziell haufiger als individueil desintegriert, wenn sie ihre eigene wirtschaftliche Lage als schlechter einschatzen als nicht arbeitslose Personen bzw. auch meinen, sich weniger leisten zu konnen. Dieser Refund gilt flir alle vier Stichproben.^^ Die Zusammenhange mit der kollektiven Desintegrationswahmehmung fallen noch geringer aus und verfehlen z.T. auch das gesetzte Signifikanzniveau. Dies bestatigt die Vermutung, dass Arbeitslosigkeit, gerade weil es flir viele Menschen nur ein temporares Phanomen ist, an sich wenig Folgen fiir Einstellungen und Verhaltensweisen hat (Rippl/Baier 2005). Entscheidender ist, wie lang sie dauert und wie eine Person damit umgeht. Desintegration ist also eher eine Sache der individuellen Einschatzung als eine objektiv zu bestimmende Tatsache. 4.2.2
Institutionelle Desintegration
Diese Betonung der subjektiven Seite spiegelt sich in der Erfassung institutioneller Desintegration wider. Hierbei geht es im Wesentlichen um die politische Partizipation an der Aushandlung verschiedener Interessen. Der wichtigste Modus hierzu ist die Beteiligung an Wahlen. Da die Stichproben auf Staatsangehorige der jeweiligen Nation beschrankt wurden, gibt es keine Varianz hinsichtlich des Merkmals, sich an Wahlen zu beteiligen, da prinzipiell alien Befragten diese Moglichkeit offen steht. Insofern haben wir u.a. eine imaginare Wahlsituation mit der Sonntagsfrage und da die Bereitschaft, daran teilzunehmen, erfragt (s.u.). In Abbildung 20 ist die Verbreitung institutioneller Desintegration auf Basis der Stellungnahmen zu zwei Aussagen abgebildet. Dabei ist auffallig, dass das politische Desinteresse bzw. Gefiihle politischer Machdosigkeit im Ausland verbreiteter sind als in Deutschland. Mehr als acht von zehn polnischen und tschechischen Befragten auBem, dass sie keinerlei Einfluss auf die Regierungsarbeit batten. In Polen ergibt sich daraus mehr oder weniger direkt auch eine Sinnlosigkeit politischen Engagements, da diese Aussage ebenfalls von iiber 80 Prozent der Befragten bejaht wird. In Deutschland sind deutlich weniger Befragte der Ansicht, keinen Einfluss zu haben, wobei immerhin noch ca. jeder Zweite diese Einstellung zum Ausdruck bringt und immerhin noch ein Drittel der deutschen Befragten es als sinnlos erachten, sich politisch zu engagieren. Die Zustimmung zu beiden Aussagen liegt im deutschen Grenzgebiet signifikant tiber der des restlichen Deutschlands. Also auch in dieser Hinsicht weisen die Grenzregionenbewohner ein hoheres AusmaB an Desintegration auf. West-Ost-Unterschiede existieren insofern, als mehr ostdeutsche Befragte in den Stichproben (1) und (2) der Meinung sind, keinen Einfluss auf die Regierung nehmen zu konnen. Das Engagement hingegen wird gleichermaBen von West- und Ostdeutschen als (nicht) sinnlos erachtet. Personen, die dem ersten Item zustimmen bejahen auch haufiger das zweite, die Interkorrelation (Spearmans p) betragt in alien Gebieten iiber 0,45. Beide Items konnen damit zu einer gemeinsamen Skala zusammengefasst werden.
^^ Der schwachste Zusammenhang (Spearmans p) zwischen Arbeitslosigkeit und individueller Desintegration ist 0,13 in Stichprobe (4), der starkste ist 0,34 in Stichprobe (2).
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Zur Erfassung der Einstellung gegeniiber dem politischen System wurden zwei weitere Indikatoren aufgenommen. Der erste ist die klassische Sonntagsfrage. Die Befragten sollten angeben, welche Partei sie wahlen wurden, wenn am nachsten Sonntag Wahlen zum nationalen Parlament waren. Natiirlich wurden hier von Land zu Land verschiedene Antwortmoglichkeiten vorgegeben. An dieser Stelle sollen nicht diese Antworten, sondern die Aussagen „ich wiirde nicht wahlen gehen" und „weiB nicht" ausgewertet werden. Diese beiden Kategorien wurden zu „keine Wahlabsicht" zusammengefasst und driicken eine Distanz zum bzw. fehlende Auseinandersetzung mit dem politischen System aus. Diese Distanz ist am starksten in der polnischen Stichprobe ausgepragt (Abbildung 21), wo iiber die Halfte der Befragten keine Wahlabsicht hatte. In der deutschen Reprasentativstichprobe sind dies nur 18,1 Prozent. Und es zeigt sich erneut, dass sich die Grenzregionen vom restlichen Deutschland abheben, da hier 10 Prozent mehr eine Distanz zum Ausdruck brachten. Dieser Unterschied basiert nicht darauf, dass mehr Ostdeutsche Teil der Grenzregionenstichprobe sind: Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschen existieren bei keinem der zusatzlichen Indikatoren.
Abbildung 20: Einschatzung institutioneller Desintegration (Anteile „stimme eher zu" und „stimme voll und ganz zu", in %, in Klammern = signifikante Gruppenunterschiede) Der zweite Indikator zur Messung institutioneller Desintegration ist ebenfalls klassisch und misst die Selbstverortung auf dem Links-Rechts-Kontinuum, auf welchen sich politische
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Messinstrumente
Parteien gemeinhin anordnen lassen. Dieses ist im Ubrigen im In- wie im Ausland anwendbar, d.h. auch polnische und tschechische Parteien lassen sich problemlos dem linken oder dem rechten Spektrum bzw. der Mitte zuweisen. Auch bei diesem Indikator interessieren nicht die konkreten Verteilungen/^ Stattdessen ist die Frage, wo sich Indizien fiir politische Entfremdung finden lassen. Hierzu gibt es aus unserer Sicht zwei Moglichkeiten: Zuerst konnte man sich die Haufigkeit der Selbstzuordnungen in der Mitte betrachten. Eine solche wirkliche Mitte gibt es im politischen Spektrum nicht, d.h. eine Partei neigt in der Kegel
Abbildung 21: Alternative Indikatoren zur Erfassung institutioneller Desintegration (in %, in Klammern = signifikante Gruppenunterschiede) immer einem Pol mehr zu, dem anderen weniger. Insofern wiirde die Aussage, dass man sich in der Mitte verortet, entweder auf einer Antworttendenz (Befiirwortung von Mittelkategorien) oder aber einer Unwissenheit iiber den eigenen Standpunkt resultieren. Dennoch kann nicht ausgeschlossen werden, dass Befragte auch mit der Mitte ein gewisses politisches Programm verbinden, u.a. in Deutschland, wo im Wahlkampf die „Mitte" wiederholt eine Rolle gespielt hat. Andererseits lieBen sich bei der Frage nach der Selbstzuordnung auch die Personen analysieren, die es iiberhaupt nicht vermogen, sich irgendwo darauf ^^ Diese Verteilungen ergeben, dass sich die Deutschen haufiger dem linken als dem rechten Spektrum zuordnen, bei den Polen und Tschechen ist die umgekehrt, d.h. hier verorten sich die Befragten eher rechts als links.
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zu verorten. Dies ware Ausdruck einer Orientierungsanomie und wiirde ebenfalls ftir eine politische Entfremdung sprechen. Die Ergebnisse beider Strategien sind in Abbildung 21 dargestellt. Der politischen Mitte fiihlen sich in Deutschland fast zwei Drittel der Befragten zugehorig, wobei sich das Grenzland hierbei nicht heraushebt. Im Ausland sind es deutlich weniger Befragte, die dies von sich behaupten. Stattdessen ist der Anteil an Personen, die auf diese Einstufung iiberhaupt nicht geantwortet haben, dort deuthch hoher. In Polen weiB demnach jeder Dritte Befragte nicht, wo er sich politisch einordnen soll/^ In Deutschland haben nur 3,8 bzw. 5,1 Prozent ihre Antwort verweigert. Zusammenfassend zeigt sich damit im Ausland und hier in erster Linie in Polen ein erhohtes AusmaB institutioneller Desintegration. Dies ist moglicherweise auf das wenig gefestigte Parteiensystem und eine geringer ausgepragte Assoziation zwischen Parteien und gefestigten Standpunkten zu aktuell-politischen Fragen zurtickzufiihren^^ oder auch darauf, dass es die Parteien bislang kaum vermocht haben, die Richtung des Wandlungsprozesses nach 1989 zu bestimmen, was zu einer Enttauschung nach der anfanglichen Aufbruchstimmung gefiihrt hat. Die deutschen Grenzregionen haben ebenfalls durchgangig etwas hohere Desintegrationswahmehmungen; die Unterschiede zum restlichen Deutschland fallen aber geringer aus als im Bereich der strukturellen Desintegration. Nichtsdestotrotz sind drei von fiinf Unterschieden signifikant, d.h. auch hier gibt es Indizien daflir, dass die exponierte Lage im Hinblick auf die EU-Osterweiterung mobilisierende Wirkung haben konnte. 4.2.3
Sozial-emotionale Desintegration und zusammenfassende Darstellung
Sozial-emotionale Desintegration bezieht sich auf die sozialen Beziehungen, die ein Individuum pflegt und das AusmaB an Zufriedenheit, das diese Beziehungen ermoglichen. Objektive Indikatoren waren etwa die GroBe des Freundschafts- und Verwandtschaftsnetzwerkes, die Mitgliedschaft in Vereinen und Organisationen usw.. Da allerdings die Beziehungen zwischen diesen Formen der Desintegration und rechtsextremen Einstellungen oder gewalttatigen Verhaltensweisen theoretisch noch nicht abschlieBend geklart sind und auch empirisch eine Bestatigung ausbleibt (u.a. Babka von Gostomski 2003), wurden nur zwei subjektive Indikatoren erfasst. Die Befragten soUten angeben, inwieweit sie in ihrer unmittelbaren Umgebung Menschen kennen, die sie so nehmen, wie sie sind. Zudem sollten sie ihr Wohlbefinden in ihrem Lebenskontext angeben. In Abbildung 22 sind die Ergebnisse dargestellt, wobei nur jene Anteile aufgefiihrt werden, die die Statements verneinten und deshalb als sozial desintegriert zu bezeichnen sind. Diese Anteile sind sehr gering, d.h. nur Nattirlich konnte dahinter auch die bewusste Entscheidung stehen, die politische Selbstzuordnung nicht preisgeben zu wollen (Effekte sozialer Erwiinschtheit). Allerdings ist nicht plausibel, warum sich diese Effekte so deutlich zwischen den einzelnen Gebieten unterscheiden sollten, auch wenn im Ausland Face-to-Face-Befragungen durchgeftihit wurden, die etwas haufiger sozial erwlinschte Antworten produzieren konnten. So war es etwa in der Tschechischen Republik die sozialistische Linke, die sich gegen die Ostweiterung aussprach. In vielen anderen europaischen Landern ist es aber gerade die Linke, die den europaischen Einigungsprozess forciert.
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etwa vier bis fiinf von hundert Personen sind mit ihrem sozialen Nahraum unzufrieden. Nur die tschechischen Befragten gaben signifikant haufiger an, dass sie nicht ausreichend Menschen kennen wlirden, die sie in ihrem Dasein bestatigen. Wohlgemerkt handelt es sich hierbei nicht um ein objektives MaB: Tschechische Befragte mogen ein genau so ausgedehntes Netzwerk haben wie die anderen Befragtengruppen. Sie sind aber etwas seltener damit zufrieden. In Bezug auf das zweite Item gibt es keinerlei statistisch signifikante Unterschiede. Ebenso - hier nicht abgebildet - gibt es keine Unterschiede zwischen westund ostdeutschen Befragten. Die sozial-emotionale Desintegration weist somit die geringste Varianz zwischen den Gebieten und den Person auf. Schon daraufhin lasst sich die Vermutung auBern, dass sie keinen Bezug zu tatsachUchen oder wahrgenommenen Veranderungen im Zuge der EU-Osterweiterung aufweisen wird.^^
Abbildimg 22: AusmaB sozial-emotionaler Desintegration (Anteile „stimme eher nicht zu" und „stimme iiberhaupt nicht zu", in %, in Klammern = signifikante Gruppenunterschiede) Die Analysen zum AusmaB der Desintegration haben ergeben, dass es vor allem im strukturellen und institutionellen Bereich z.T. recht viele Menschen gibt, die sich als desintegriert wahmehmen bzw. so klassifiziert werden konnen. An verschiedenen Stellen hat sich dabei Beide Items der sozial-emotionalen Desintegration konnen zu einer Skala zusammengefasst werden, die Interkorrelationen (Spearmans p) sind tiberall mindestens 0,45.
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Deskriptive Auswertungen
die polnische Stichprobe hervorgetan: Hier gibt es die meisten Personen, die sich selbst als benachteiligt erleben und die eine Distanz zum politischen System aufgebaut haben. Leider stehen keine Langsschnittdaten zur Verfugung, die es erlauben wiirden, die Frage zu beantworten, wie stabil derartige Einschatzungen sind. Im Bereich von Arbeitslosigkeit hat sich aber gezeigt, dass es auch um temporare Zustande gehen kann, die wieder iiberwunden werden. Festzuhalten ist dabei, dass es sich bei den meisten hier referierten Indikatoren um Wahrnehmungen, die auf Einstellungen und Werthahungen beruhen diirften, die selbst wiederum recht stabil sind. Im Vergleich deutscher grenznaher und grenzferner Gebiete hat sich, ebenfalls nur bei den ersten beiden Desintegrations-Dimensionen, gezeigt, dass in der Grenzregion oft problematischere Einschatzungen dominieren. Dies geht z.T. darauf zuriick, dass im Grenzgebiet mehr Ostdeutsche als Westdeutsche leben und erstere generell haufiger Desintegrationswahmehmungen angeben. Zum anderen findet sich aber an verschiedenen Stellen bestatigt, dass die bayerische Grenzregion in ihren Einschatzungen deutlich tiber denen des restlichen westdeutschen Gebietes liegt. Hier ist also, wenn man im Querschnitt davon sprechen kann, ein Schub in Richtung Desintegration zu verzeichnen. Betrachtet man sich abschlieBend die Beziehungen, die zwischen den einzelnen Konstrukten bestehen, dann fallen zwei Befunde auf (Tabelle 6): Tabelle 6:
Interkorrelationen der Items zur Erfassung von Desintegration
Eigene wirtschaftliche Lage (strukturelle Desintegration) Leisten konnen (strukturelle Desintegration) Institutionelle Desintegration (2 Items)
Leisten konnen
Institutionelle Desintegration (2 Items)
Sozio-emotionale Desintegration (2 Items)
0,56**70,52**/ 0,57**70,67**
0,14**70,10*/ 0,20**70,26**
0,0670,067 0,0770,11*
0,18**70,14**7 0,12*70,21**
0,09**70,077 0,0970,06 0,0470,037 -0,24**7-0,04
^ Spearmans p, * p < .05, ** p < .01; 1. Koeffizient = D-Reprasentativstichprobe, 2. = D-Grenzregionenstichprobe, 3. = PL-Grenzregionenstichprobe, 4. = CZ-Grenzregionenstichprobe Erstens sind die Beziehungen zwischen den beiden aufgenommen Variablen zur Erfassung individueller struktureller Desintegration sehr hoch, so dass sie ohne weiteres eine Skala bilden. Demgegenliber sind die Beziehungen zu den anderen Bereichen von Desintegration recht niedrig. Flir alle Gebiete gilt, dass Personen, die sich selbst als benachteiligt erleben, auch eher zu politischer Distanz neigen; die hochste Korrelation betragt allerdings - in der tschechischen Stichprobe - auch nur 0,26. Zur sozial-emotionalen Desintegration bestehen im Prinzip nur Nullkorrelationen. Nur in der polnischen Stichprobe gibt es einen interpre-
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tierbaren Zusammenhang zwischen institutioneller und emotionaler Desintegration, allerdings mit negativen Vorzeichen; d.h. wer sich vom politischen System abwendet, wendet sich den personlichen Beziehungen verstarkt zu. Dies verweist einmal mehr auf die komplexen Prozesse, die sich zwischen Integration und Desintegration abspielen und die im Paradigma der quantitativen Sozialforschung nicht immer adaquat zu erfassen sind. Als generelles Ergebnis lasst sich festhalten, dass es ausweisUch der korrelativen Befunde drei weitestgehend unabhangig voneinander existierende Dimensionen von Desintegration gibt. Es lasst sich kein gemeinsames Desintegrations-Konstrukt bilden.^^ 4.3
Bedrohungsgefuhle
Den Bedrohungsgefiihlen bzw. -wahmehmungen fallt im hier zu priifenden Modell (Abbildung 4) ein zentraler Stellenwert zu: Wenn sich, so die These, Personen durch die EU-Osterweiterung bedroht fiihlen, dann soUte ein Hinwendung zu rechten Orientierungen ein moghcher Weg der Bewaltigung dieser Bedrohungen darstellen. Diese These basiert auf der Integrated-Threat-Theory, die von Cookie und Walter Stephan in verschiedenen VeroffentUchungen ausgearbeitet wurde (vgl. Kapitel 2 und 6). Deren Ausgangsiiberlegung ist, dass sich Vorurteile gegentiber Minderheiten aus unterschiedHchen Quellen speisen konnen. Diese Quellen haben aber eines gemeinsam: Sie sind - aus der Perspektive der Ingroup betrachtet - samtlich als Bedrohungen deutbar. Die Arbeiten von Stephan und Stephan haben ergeben, dass vier Bedrohungen zu unterscheiden sind: Realistische Bedrohungen beziehen sich auf die wirtschaftliche Starke einer Gruppe, die durch neue Gruppen verringert werden kann. Ebenso konnen sich etablierte normative Standards verandem, wenn neue Gruppen eigene Wege der Lebensfuhrung mitbringen (symbolische Bedrohungen). SchlieBlich kann die Beziehung zur Outgroup sowohl kognitiv als auch emotional negativ gerahmt sein. Li kognitiver Hinsicht sind damit die bestehenden Evaluationen der Outgroup in Form von Stereotypen angesprochen. Emotional geht es um die Angst, die Personen vor Angehorigen anderer Bevolkerungsgruppen haben konnen, z.B. weil sie besonders disjunkt und damit fremd im Vergleich zur Eigengruppe erscheinen. Alle vier Bedrohungstypen sind nicht unabhangig von weiteren Umstanden. Hier betonen Stephan und Stephan (2000) vor allem das AusmaB der Eigengruppenfavorisierung (wenn die Identifikation mit dieser gering ist, dann sind auch es auch die Bedrohungsgefuhle), das Vorhandensein von Kontakten zur Outgroup (je mehr Kontakte bestehen, desto geringer werden Bedrohungen empfunden), das Wissen iiber die Zugezogenen, das AusmaB an Konflikten, das zwischen der Ingroup und Outgroup bereits existiert (je starker bereits in der Vergangenheit Konflikte bestanden haben, desto starker werden die Bedrohungsgefuhle sein) sowie den Gruppenstatus (beispielsweise werden Bedrohungen dann gering eingeschatzt, wenn eine Outgroup Um die Tabelle nicht uimotig komplex zu gestalten, wurden andere, waiter oben vorgestellte Variablen zur Erfassung von Desintegi*ation nicht aufgenommen. Fiir die eigene Arbeitslosigkeit zeigt sich in alien Gebieten, dass sie weder die institutionelle noch die sozio-emotionale Desintegrationswahrnehmung erhoht. Keine Wahlabsicht bei einer anstehenden Parlamentswahl zu haben hingegen kon-eliert iiberall mit individuell struktureller und institutioneller, nicht aber mit sozialemotionaler Desintegration.
Deskriptive Auswertungen
67_
bereits ahnliche kulturelle Standards besitzt, wie dies u.a. fiir Nordamerikaner und Westeuropaer der Fall ist). Wir haben uns dafiir entschieden, angesichts des mehrdimensionalen Charakters des Erweiterungsschrittes auch eine mehrdimensionale Erfassung von Bedrohungen zu verfolgen. Im Hinblick auf die Operationalisierung der realistischen und symbolischen Bedrohungen werden somit unsere tJberlegungen zur Adaption der Integrated-Threat-Theory (bzgl. Ereignis, dass auch auf individueller Ebene^^, in jedem Fall aber erst zukiinftig Veranderungen in den etablierten Intergruppenbeziehungen auslosen wird) berticksichtigt, hinsichtlich der Erfassung der Stereotype und Intergruppenangst hingegen bleiben wir bei den von Stephan und Stephan offerierten Messvorschlagen, wobei die Auswahl der drei ethnischen Gruppen nicht deshalb geschehen ist, weil Vorurteile diesen Gruppen gegenliber aktuell ein soziales Problem darstellen, sondern weil sie besonders von der EU-Osterweiterung betroffen sein mlissten, und zwar insofern sie sich dann als gleichberechtigte Partner innerhalb eines erweiterten gesellschaftlichen Raumes begegnen. 4.3.1
Realistische und symbolise he Bedrohungsgefuhle
Im Folgenden wird auf die Bedrohungsgefuhle fokussiert, die die Befragten mit der EUOsterweiterung in Verbindung bringen. Dabei steht zunachst die kollektive Ebene im Vordergrund, d.h. Bedrohungen, die den Status des eigenen Landes beeintrachtigen konnten (im Folgenden als kollektive Bedrohungen bezeichnet). Hierzu wurden verschiedenste Standpunkte und Argumente aus der Literatur zusammengetragen und zu mehreren Aussagen (Items) verdichtet. Um eine Vollstandigkeit der Bedrohungsgefiihle zu garantieren, wurde eine Vorstudie durchgefuhrt. Gewonnen wurden die Daten dieses Pretests wahrend einer Lehrveranstaltung des Diplomstudiengangs Soziologie an der Technischen Universitat Chemnitz, wobei alle Teilnehmer dieser Veranstaltung gebeten wurden, den Fragebogen selbst auszufiillen sowie zwei weitere Personen aus dem naheren Umfeld zum Ausflillen zu motivieren. Insgesamt kamen auf Basis dieses Schneeballprinzips 303 verwertbare Fragebogen zuriick. Der wesentliche Teil des Pretest-Fragebogens kreiste darum, mogliche Folgen der EU-Osterweiterung einzuschatzen sowie von uns nicht ex ante bestimmbare weitere Folgen zu benennen. Die von uns gewonnene Pretest-Stichprobe ist in ihrem durchschnittlichen Bildungsniveau deutlich nach oben verzerrt.^"^ Dennoch diirfte es sich dabei auch um jene Bevolkerungsgruppe handeln, die sich intensiv mit der EU-Osterweiterung und dem Pro und Contra dieses Schrittes auseinandergesetzt hat. Es war also zu erwarten, dass bislang unberiicksichtigte Folgen-Aspekte (positiver wie negativer Art) gerade durch diese Population benannt werden wurden. Allerdings wurden von uns bereits 25 verschiedene Bedrohungen aufgefiihrt, weshalb durch die Befragten kaum weitere Aspekte benannt wurden. Die Analyse der Pretest-Fragen zu den auf die eigene Nation bezogenen Bedrohungen ergab Hinweise, dass sich diese auf drei Bereiche beziehen: Wirtschaft, Politik und Kultur. An dieser Stelle sei nochmals darauf verwiesen, dass die Datenerhebung bereits im Jahr 2003 erfolgte, die Erweiterung aber erst ein Jahr spater vollzogen wurde. Uber 70 Prozent der Befragten hatte einen Bildungsabschluss von Abitur oder hoher.
68
Messinstrumente
Der erste und letzte Bereich ist kompatibel mit der von Stephan und Stephan vorgeschlagenen Differenzierung realistischer und symbolischer Bedrohungen. Politische Bedrohungen haben eher eine realistische (Verteilung von Macht) als symbolische Konnotation; dennoch driicken politische Entscheidungen auch die kultureile Verfassung eines Voikes aus und beinhalten damit symbolische Aspekte. Fiir die Haupterhebung wurden schlieBlich auf Basis von Ergebnissen explorativer Faktorenanalysen aus dem Bereich der kollektiven Bedrohungen 14 Items ausgewahlt. Tabelle 7 gibt Auskunft dariiber, wie haufig diese kollektiven Bedrohungsgefuhle von den Befragten in den vier Gebieten empfunden wurden.^^ Dabei zeigt sich in alien vier Stichproben eine gleich lautende Reihenfolge, nach der zuerst die wirtschaftlichen Folgen mit Sorge betrachtet werden. Danach kommt ein antizipierter Anstieg der Kriminalitat. Politische Veranderungen und Bedrohungen der kulturellen Standards werden liberall als weniger drangende Probleme erachtet. Hervorzuheben sind zusatzlich folgende Befunde: 1. Etwa zwei von drei Deutschen bereitet es Sorge, dass sich durch die EU-Osterweiterung die Situation auf dem Arbeitsmarkt weiter verschlechtem konnte, wozu auch die Abwanderung von Firmen ins Ausland beitragt. Wie erwartet, sind es die Ostdeutschen, die in diesem wirtschaftlichen Bereich, aber auch im politischen Bereich am ehesten negative Auswirkungen erwarten. 2. In den deutschen Grenzregionen ist bis auf eine einzigen Ausnahme („Bedeutungsabnahme der Sprache/Kultur") durchgangig ein erhohtes Bedrohungs-Niveau zu konstatieren, die Unterschiede im Vergleich zur Reprasentativstichprobe sind in 11 von 14 Fallen signifikant. Vier von funf Befragten sorgen sich beispielsweise, dass heimische Betriebe den eigenen Standort aufgeben, um ins Ausland zu gehen. Auch hier sind Ostdeutsche insgesamt besorgter, wobei die Unterschiede weniger deutlich sind als in der reprasentativen Stichprobe Gesamtdeutschlands. Nach Kontrolle der wichtigsten soziodemographischen Variablen finden sich nur noch in drei Fallen signifikante West-Ost-Unterschiede. Zusatzlich gibt es Sorgenbereiche (nicht dargestellt), die in Ostdeutschland sogar geringer ausgepragt sind als in Westdeutschland (z.B. „Abnahme des Einflusses auf Europapolitik", „Zunehmender Einfluss fremder Kulturen"). Das weitgehende Ausbleiben von West-OstUnterschieden ist im GroBen und Ganzen nicht darauf zuriickzufuhren, dass es in den ostdeutschen Grenzregion zu einem Absinken der Bedrohungsgefuhle kommt, sondem dass es die Befragten in westdeutschen Grenzgebieten sind, die deutlich ofter Bedrohungen wahmehmen als die restlichen westdeutschen Befragten. Es kommt also zu einem Schub in der Problemwahmehmung im bayerischen Grenzgebiet, was auch nach den vorangegangenen Befunden erwartet werden konnte und moglicherweise in einem Zusammenhang mit der EU-Osterweiterung steht. Im Gegensatz hierzu kommt es im bereits durch sozialstrukturellen Wandel betroffenen Ostdeutschland zu keiner Mobilisierung von Bedrohungsgefiihlen je mehr man sich der Grenze nahert. Eingeleitet wurde die Abfrage der Bedrohungsgefuhle folgendermaBen: „Wenn iiber die Europaische Osterweiterung gesprochen wird, dann stehen insbesondere deren Folgen im Vordergrund. Nachfolgend nenne ich Ihnen verschiedene Folgen, die in Deutschland eintreten konnten. Bitte sagen Sie mir, inwieweit Dinen diese Dinge Sorge bereiten. Nutzen Sie zur Antwort bitte eine Skala von 1 bis 5, wobei die 1 ,bereitet mir gar keine Sorgen' und die 5 ,bereitet mir sehr groBe Sorgen' bedeutet." Fiir die Darstellung in Tabelle 7 wurden die Antworten 4 und 5 zu „Zustimmung" zusammengefasst.
Deskriptive Auswertungen
69
Tabelle 7; Nationale Bedrohungen durch die EU-Osterweiterung^ D (1)
Bedrohung
Gesamt
D 1
^^^b^
Gesamt
West Ost
PL (3)
CZ (4)
Signifikante Unterschiede zwischen Regionen''
Okonomischer (realistischer) Bereich Abwanderung von Firmen
68,4
-
79,1
-
67,4
41,0
1/2,1/4,2/3, 2/4,3/4
Anstieg von Arbeitslosigkeit
67,3
65,5 75,0**
77,6
-
81,0
53,9
1/2,1/3,1/4, 2/4,3/4
Zunahme der Ungleichheit
56,5
53,0 71,8**
66,0
54,6 69,0**
79,6
63,1
1/2,1/3,2/3,3/4
Schwachung der Wirtschaft
49,1
-
58,4
-
73,3
49,2
1/2,1/3,2/3,3/4
Steigende Preise
46,5
44,4 55,5**
53,8
48,6 55,3*
86,0
71,1
1/2,1/3,1/4,2/3, 2/4,3/4
Ausverkauf des Landes
34,4
31,9 44 9**
41,0
-
70,3
64,9
1/2,1/3,1/4,2/3, 2/4
Politischer (realistisch-symbolischer) Bereich Zunahme der Biirokratie
46,8
45,8 51,4*
57,1
-
72,9
57,8
1/2,1/3,1/4,2/3, 3/4
Schwindender Burgereinfluss
44,9
42,8 53,8**
55,2
47,7 47,2*
62,2
38,2
1/2,1/3,2/4,3/4
Abnahme des Einflusses auf Europapolitik
35,5
-
44,0
-
58,9
37,1
1/2,1/3,2/3,3/4
Kultureller (symbolischer) Bereich Bedeutimgsabnahme der Sprache/Kultur
32,9
-
32,4
-
52,5
41,3
1/3,1/4,2/3,2/4
Bedrohung der Werte/Normen
27,4
-
32,3
-
53,1
37,3
1/2,1/3,1/4,2/3, 3/4
Einfluss fremder Kulturen
25,8
-
27,0
-
50,9
31,6
1/3,1/4,2/3,3/4
1/2,1/3
Ohne Bereichszuordnung Steigende Kilminahtat
57,5
-
69,7
-
71,6
64,1
Zuzug von Menschen
29,8
-
34,0
-
-
-
^ Zustimmung in %, ^ wird nur aufgeflihrt, wenn West-Ost-Unterschiede signifikant bei * p < .05 bzw. ** p < .01 (nach Kontrolle von Alter, Geschlecht, HaushaltsgroBe und Schulbildung), ^ Scheffe-Test, p < .05
70
Messinstrumente
3.
Zwei Sorgen, die sich nicht eindeutig einem Bereich zuordnen lassen, sollen gesondert gewlirdigt werden: Zum einen ist der „Zuzug von Menschen aus den neuen Mitgliedsstaaten" keinesfalls ein so drangendes Problem fiir unsere Befragten, wie das in der Offentlichkeit vermutet wurde. Nur ca. jeder Dritte erwartet hier - ahnlich wie iibrigens im gesamten kulturellen Bereich - eine besorgniserregende Veranderung durch die Ausdehnung der freien Arbeitsplatzwahl auch auf die Lander Osteuropas.^^ Die geringere Besorgnis mag vielleicht auch darauf zuriickzufiihren sein, dass durch Gesetzesregelungen die Freizligigkeit in vollem Umfang derzeit noch nicht reaUsiert ist. Ein BUck auf die starke Sorge, die im Bereich der KriminaUtatszunahme besteht, iasst vermuten, dass u.a. medial vermittelte Zerrbilder ihre Wirkung nicht verfehlt haben. Im Vergleich der vier Stichproben stechen besonders die polnischen Grenzregionenbewohner hervor: Bis auf die „Abwanderung von Firmen" sind bei jeder Sorge die hochsten Zustimmungswerte zu beobachten, d.h. die Polen sehen die eigenen nationalen Standards in jeder Hinsicht als am starksten durch die EU-Osterweiterung bedroht. Mindestens jeder Zweite, meist sogar noch ein viel groBerer Anteil erwartet negative wirtschaftliche, politische oder kulturelle Auswirkungen dieses Schrittes. Die Sorge ist unabhangig von der Zustimmung zur EU-Osterweiterung insgesamt, die ja in Polen recht hoch ist (s.o.). Polen sind mehrheitlich ftir den Beitritt, sehen aber auch mehrheitlich darin eine Gefahr ftir das eigene Land. Dieses Paradox Iasst sich vielleicht losen, wenn man kurzfristige von langfristigen Folgen trennt. Mit unseren Daten Iasst sich dies zwar nicht zeigen, moglich ist aber, dass die Polen kurzfristig Verwerfungen erwarten, dass aber langfristig keine Alternative zur EU-Osterweiterung besteht. Viele strukturelle Probleme wie z.B. der LFbergang von einer agrarwirtschaftlich gepragten zu einer Wissens-Gesellschaft lassen sich nicht ohne die Hilfe der Europaischen Union losen. Moglicherweise auBert sich darin auch eine Stichprobenbesonderheit: Wie sich gezeigt hat, befinden sich in der polnischen Stichprobe recht viele Rentner, aber auch sehr viele Schiiler/Studenten. Die Stichprobe scheint also altersmaBig zweigeteilt. Dies konnte zu der These Anlass geben, dass es vorwiegend die Jungen sind, die sich fiir die EU-Osterweiterung aussprechen und iiberwiegend die Alten, die davor Angst haben. Diese Deutung stimmt jedoch nicht mit den Daten iiberein, da Schiiler/Studenten zwar tatsachlich positiver gegeniiber der EU-Osterweiterung eingestellt sind, aber etwa genau so haufig wie Rentner Bedrohungsgefiihle artikulieren. Dies bedeutet letztlich, dass es in Polen den iiberaus ungewohnlichen Befund gibt, dass Einstellungen zur EUOsterweiterung vollig unabhangig sind von wahrgenommenen Sorgen, was wiederum fiir die Deutung der Unterscheidung in kurz- und langfristige Folgen spricht; in den anderen drei Gebieten korrelieren diese Variablen namlich hoch negativ miteinander. Die Befunde in den tschechischen Grenzregion entsprechen in etwa denen aus den deutschen Grenzregionen, d.h. das Niveau der Sorgen ist tendenziell ahnlich, die Reihenfolge innerhalb der einzelnen Sorgenbereiche unterscheidet sich aber, was den unterschiedlichen Voraussetzungen geschuldet sein diirfte. Bei tschechischen Biirgern
4.
5.
Die Frage, ob man sich vor dem Zuzug von Menschen aus den neuen Mitgliedsstaaten sorgt, wuide in der Tschechischen Republik und in Polen nicht gestellt, weil dies keine klassischen Einwanderungslander sind. Moglicherweise werden diese Lander aber zukiinftig ebenfalls Zielregionen ftir Migranten aus Landern sein, die noch weiter im Osten Europas liegen.
Deskriptive Auswertungen
71_
in den Grenzregionen stehen die steigenden Preise ganz oben auf der Bedrohungsagenda, die Abwanderung von Firmen ist eher sekundar. Was sich auch zeigt ist, dass die Tschechen generell mehr Bedrohungen im kulturellen Bereich antizipieren. Der Stolz auf die traditionelle Kultur ist in der Tschechischen Republik starker ausgepragt als z.B. der Nationalstolz in Deutschland; der europaische Integrationsprozess scheint die typisch tschechischen Normen und Werte zu gefahrden. Interessanterweise zeigt sich in alien Stichproben eine Zwei-Faktoren-Struktur, d.h. die Befragten unterscheiden iiberall zwei Bedrohungsbereiche. Der erste Faktor misst dabei in erster Linie die symbolische Dimension, d.h. die Items mit der hochsten Ladung sind durchweg jene, die mogliche kulturelle Veranderungen ansprechen. Daneben laden aber auch, z.T. deutlich schwacher, die politischen Bedrohungswahrnehmungen auf diesem Faktor. Damit wird die Einschatzung, dass diese Bedrohungen einen eher realistischen Status besitzen, eindeutig nicht gestiitzt. Bei der Politik geht es im Verstandnis unserer Befragten um genuin symbolische Giiter und damit um die kulturelle Identitat einer Nation. Die geringeren Faktorladungen deuten aber darauf hin, dass ein Symbol-Faktor nicht die gesamte Varianz dieser Items erklaren kann. Deshalb werden diese Items im weiteren Verlauf auch nicht einfach der symbolischen Dimension zugeordnet. Diese bestimmt sich vielmehr nur aus den drei kursiv gesetzten Items. Dass diese liber alle Gebiete hinweg zu einer hoch reliablen Skala zusammengefasst werden konnen, bestatigen auch die Konsistenzkoeffizienten, Cronbachs Alpha sinkt in keiner Stichprobe unter einen Wert von 0,79. Der zweite Faktor fasst die realistisch-koUektive, d.h. die okonomisch konnotierten Bedrohungen zusammen. Das in der Faktorenanalyse ladungsstarkste so genannte Ankeritem hier ist der „Anstieg der Arbeitslosigkeit". Es findet sich aber auch, dass nicht gleichermaBen alle Items allein „realistisch" zu interpretieren sind. Insbesondere der „Ausverkauf des eigenen Landes" wird sowohl okonomisch, als auch kulturell gedacht. Aufgrund dieser Doppelladungen wird es nicht weiter bei der Skalenbildung berticksichtigt. In der polnischen und tschechischen Stichprobe erweist sich auch, aufgrund der differenziellen Ausgangsbedingungen, die „Abwanderung von Firmen" nicht zum Faktor gehorig. Die verbleibenden vier Aussagen liefien sich zwar zu einem Faktor zusammenfassen, dennoch haben Skalenanalysen gezeigt, dass die Nicht-Beriicksichtigung der „Zunahme der Ungleichheit" leicht verbesserte Konsistenzkoeffizienten zur Folge hat; Cronbachs Alpha ist damit fiir die drei kursiv gesetzten Items groBer als 0,77. In drei der vier Stichproben erweist sich auch das Item „steigende Kriminalitat" als nicht eindeutig zuordenbar, wie dies auch bereits anhand der vorangegangenen Tabelle vermutet werden konnte. Kriminalitat greift also nicht allein die Ressourcen und Giiter einer Gemeinschaft an, sie stellt auch das kulturelle Selbstverstandnis eines Gemeinwesens vor eine Herausforderung. Letztendlich werden die anfanglichen 14 bzw. 13 Items damit auf zwei Faktoren reduziert, die realistisch-kollektiven und die symbolisch-kollektiven Bedrohungen. Bivariate Korrelationen belegen allerdings, dass keine Unabhangigkeit der Bedrohungseinschatzungen gegeben ist. Stattdessen neigen Personen, die die Nation okonomisch bedroht sehen, auch stark dazu, dies in symbolischer Hinsicht zu tun; die Korrelationen (Spearmans p) betragen 0,57 bzw. 0,49 in den beiden deutschen Stichproben, 0,46 in Polen und 0,51 in der Tschechischen Republik.
72
Messinstrumente
Tabelle 8:
Explorative Faktorenanalyse^ D (1)
Bedrohung I Abwanderimg von Firmen Anstieg Arbeitslosigkeif Zunahme der Ungleichheit Schwdchung der Wirtschaft Steigende Preise Ausverkauf des Landes Zunahme der Biirokratie Schwindender Biirgereinfluss Abnahme des Einflusses auf Europapolitik Bedeutungsabnahme der Sprache/Kultur Bedrohung der Werte/Normen Einfluss fremder Kulturen Steigende Kriminalitat Erklarte Varianz in %
D (2) II 0,70 0,81 0,66 0,75 0,66 0,61
I
PL (3) II 0,79 0,85 0,64 0,69 0,58 0,49
I 0,48
0,42
CZ (4) II 0,50 0,80 0,68 0,76 0,75 0,53
I
0,48 0,43
0,54 0,62
0,40 0,60 0,57 0,64
0,63
0,59
0,77
0,63
0,78
0,76
0,80
0,83
0,78 0,73 0,56 28,9
0,80 0,83
0,81 0,77 0,58 35,4
0,82 0,78 0,50 32,4
0,51
0,45 27,6
0,49 29,7
0,41
0,51 26,6
0,60 0,62 0,69
0,57
II 0,61 0,82 0,66 0,67 0,75 0,55
0,62 0,62
25,7
0,51 27,3
^ Hauptkomponentenanalyse, varimax-rotiert; dargestellt: Faktorladungen > 0,40 ^ kursiv gesetzte, gerahmte Items wurden zu Skalen zusammengefasst Wie oben dargelegt, gehen wir davon aus, dass es neben den auf das Kollektiv bzw. die Eigengruppe bezogenen Bedrohungsgefiihlen auch solche gibt, die um die personliche Situation und ihre Verbesserung bzw. Verschlechterung kreisen. Durch die Erfassung dieser Gefiihle bietet die Studie als eine der ersten iiberhaupt in diesem Forschungsbereich die Moglichkeit, die Folgen kollektiver und die individueller Bedrohungszustande gegeneinander abzuschatzen. Im Fragebogen wurde dementsprechend eine Item-Batterie aufgenommen, die nach der Einschatzung potenzieller personlicher Veranderungen fragte. Auch diese wurden im Anschluss an die Ergebnisse des Pretests ausgewahlt. Wenden wir uns diesen personlichen Bedrohungsgefiihlen zu, dann finden wir ein deutlich weniger pessimistisches Bild (Tabelle 9), als wie wir es in Bezug auf die kollektiven Bedrohungen beobachten konnen.^^ Zudem verandert sich die Reihenfolge der Bedrohungsbereiche, wobei sich in dieser neuen Reihenfolge die vier Stichproben wiederum nicht unterscheiden: Die Sorge mit der hochsten Zustimmung sowohl in Deutschland, als Beispielsweise gibt nur etwa jeder 5. Befragte in der Reprasentativstichprobe an, dass die Erweiterung Auswirkungen auf die eigene Inklusion in den Arbeitsmarkt haben wird; demgegeniiber sind aber fast 7 von 10 Befragten der Meinung, dass sie die Inklusionschancen im allgemeinen beeinflussen wird (vgl. Abbildung 5).
Deskriptive Auswertungen
73_
auch in der Tschechischen Republik und Polen betrifft die Kriminalitat. Fast jeder zweite Befragte (in der deutschlandweiten Reprasentativ-Stichprobe jeder Dritte) ist der Ansicht, dass sich seine bzw. ihre Furcht vor Kriminalitat erhohen wird. Organisierte Kriminalitat, aber auch Kleinkriminalitat, wird damit nicht nur als nationales, sondern auch als ganz personliches Problem erlebt. Neben der Kriminalitat werden zudem Veranderungen im politischen Bereich erwartet, wobei einerseits die EU-Biirokratie ihre Schatten voraus wirft. Andererseits glauben die Menschen, dass es nach der EU-Osterweiterung noch schwieriger sein wird, Einfluss auf die Regierungsarbeit auszuiiben. Weit seltener wird der Aussage zugestimmt, dass die EU-Osterweiterung das eigene politische Engagement sinnlos macht. Die wirtschaftlichen Angste, d.h. die Angst vor Arbeitslosigkeit und sinkendem Einkommen, sind noch fiir ca. jeden vierten Befragten relevant. Hinsichtlich des Items „Ich werde arbeitslos" ist eine Besonderheit zu erlautem: Wir haben uns entschieden, die Antworten hierzu zu korrigieren bzw. zu bereinigen. Wie bei alien anderen Aussagen auch sollten alle Befragten zu dieser Aussage Stellung beziehen. Dabei ist im Nachhinein klar geworden, dass dies nicht fiir alle Befragten gleichermaBen sinnvoU ist. So konnen Rentner, aber auch aktuell Arbeitslose und Schiller per se nicht (mehr) arbeitslos werden. Es hatte also ein Filter eingebaut werden miissen, der diesem Umstand Rechnung tragt. Zugleich ist zu beachten, dass eine Korrektur nicht hatte dadurch erfolgen konnen, dass alle Antworten der betroffenen Gruppen auf „Missing" gesetzt werden, weil dadurch teilweise ein Drittel der Gesamtstichproben fehlende Angaben besitzen wiirde und Regressions- oder Strukturgleichungsmodelle mit einer recht geringen Fallzahl gerechnet werden miissten. Deshalb haben wir uns dazu entschieden, den angesprochenen Gruppen den Wert 1 zuzuweisen, der bedeutet, dass die Befragten gar keine Sorgen bzgl. eigener Arbeitslosigkeit haben. Dadurch sinkt der Anteil an Personen, der realistische Bedrohungsgeflihle in dieser Hinsicht empfindet, in alien Stichproben deutlich. Zumindest in Deutschland und der Tschechischen Republik wird daneben nur von sehr wenigen Befragten eine Auswirkung der EU-Osterweiterung auf das soziale Miteinander im unmittelbaren Umfeld antizipiert. Nur ca. 10 bis 15 Prozent sind der Meinung, dass man sich nach der EU-Osterweiterung nicht mehr wohl und sicher in der eigenen Umgebung fiihlen wird (was einen gewissen Widerspruch zur Kriminalitatsfurcht markiert), dass man weniger personliche Beziehungen zu Menschen haben wird, die einen so nehmen wie man ist, oder dass man nicht mehr so richtig weiB, wo man eigentlich hingehort, d.h. weniger Identifikationsmoglichkeiten hat. Fiir die Menschen in Polen ist dieser Sorgenkomplex aber genauso relevant wie der zur eigenen wirtschaftlichen Situation. Interessant ist weiterhin, dass in der gesamtdeutschen Reprasentativstichprobe fiir fast alle betrachteten Sorgen signifikante West-Ost-Unterschiede bestehen und zwar derart, dass Ostdeutsche immer hohere Sorgenniveaus erreichen. Besonders offensichtlich ist dies bei den wirtschaftlichen und politischen Sorgen, sowie bei der Kriminalitatsfurcht. Wahrend nur ein Viertel bis ein Drittel der westdeutschen Befragten in diesen Bereichen Sorge kundtut, so sind dies im Osten ein Drittel bis die Halfte aller Befragten. Die Bewohner in den ostdeutschen Grenzregionen sind nicht noch besorgter, sondern sie sind in nahezu alien Bereichen in etwa gleichauf mit ihren gesamt-ostdeutschen Pendants. Starke Sorgen finden sich allerdings in den westdeutschen Grenzregionen, die sich sehr eng an das ostdeutsche
74
Messinstrumente
Niveau annahern. GroBere Unterschiede existieren dementsprechend nur noch im wirtschaftlichen Bereich. Es zeigt sich damit zum wiederholten Male der exzeptionelle Status der bayerischen Grenzregion. Der bei acht von zehn Items vorhandene Unterschied zwischen der Reprasentativ- und der Grenzregionenstichprobe ist mithin nicht allein auf den hoheren Anteil ostdeutscher Befragter hier zurtickzufiihren, sondern auch auf - vor allem in Bayern vorhandene - erhohte Problemwahrnehmungen. Wie bereits erwahnt, wurden symbolische Bedrohungen auf der Individualebene nicht operationaHsiert. Neben den realistischen wurden aber, wie in Tabelle 9 gezeigt wurde, dennoch politische und zusatzlich soziale Statements formuHert. Da diese Konstruktion keinen Riickhalt in der Bedrohungstheorie hat, wurde ftir jede Stichprobe untersucht, ob es eine feste Faktorenstruktur innerhalb dieses Item-Pools gibt. Die Ergebnisse sind uneinheitlich: In der Reprasentativstichprobe laden alle 9 Items auf einem einzigen Faktor, d.h. die Befragten unterscheiden hier nicht zwischen den Bereichen. In den Grenzregionenstichproben hingegen werden immer zwei Faktoren extrahiert, wobei die Zuordnung der einzelnen Items keinem eindeutigen Muster unterliegt. In der Stichprobe (2) bspw. laden okonomische und politische Aussagen auf einem Faktor, beide soziale Items sowie das letzte politische Item hingegen auf dem zweiten. In der Stichprobe (3) dagegen gehen politische und soziale Bedrohungswahrnehmungen zusammen. Auf Basis dieser divergenten Befunde haben wir uns dazu entschlossen, nur die beiden Items des realistischen Bereichs zu den realistisch-individuellen Bedrohungen zusammenzufassen, wobei das bereinigte Item in die Skalenbildung eingeht. Die Interkorrelationen beider Items von Spearmans p > 0,35 in alien vier Gebieten stiitzen diese Entscheidung. Ein kiirzerer Frageblock beschaftigte sich auch mit Hoffnungen, die mit der EUOsterweiterung verbunden werden. Hier soUten allerdings nur vier Items beantwortet wer den, die sich auch nur auf die nationale Ebene bezogen. Hoffnungen sind kein Bestandteil der Threat-Theory und auch wir haben hierzu keine eigenen Thesen entwickelt. Es ging prinzipiell darum, eine gewisse Ausgewogenheit im Fragebogen zu schaffen und die Befragten nicht auf negative Sichtweisen festzulegen. Die Ergebnisse zeigen (ohne Abbildung), dass in der Reihenfolge antizipierter Veranderungen emeut alle vier Stichproben ubereinstimmen, da mit der EU-Osterweiterung in erster Linie das kulturelle Zusammenrticken und die Beilegung historischer Konflikte assoziiert werden. Nur ein Drittel der Befragten hofft auf wirtschaftliche Prosperitat, wobei einmal mehr nicht nur bei dieser Hoffnung die polnische Grenzregionenbevolkerung am positivsten gestimmt ist (62,6 % erhoffen sich einen Wirtschaftsaufschwung). Damit wird das bereits erwahnte polnische Paradoxon emeut bestatigt: In den Einstellungen beziiglich der EU-Osterweiterung scheinen in der polnischen Bevolkerung zwei Herzen zu schlagen, eines, das um die Vorziige dieses Schritts weiB (langfristig), und ein anderes, das an die damit verbundenen Entbeh rungen erinnert (kurzfristig). Eher reserviert zeigt sich hingegen die tschechische Grenzbevolkerung. Im Unterschied zu den koUektiven Bedrohungsgefiihlen finden sich im Bereich der Hoffungen keinerlei Unterschiede zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen in der gesamtdeutschen Reprasentativstichprobe. Ostdeutsche sind zwar etwas pessimistischer gestimmt, dieser Unterschied ist allerdings zu gering, um dahinter einen substanziellen Unterschied zu vermuten. Ein anderes Bild bietet sich hingegen in den Grenzregionen:
Deskriptive Auswertimgen TabeUe 9:
75
Individuelle BedrohungerI durch die EU-Osterweiterimg^
Bedrohung
Gesamt Okonomischer (realistischer) Mein Einkoirmien 25,1 wird sich verringern. Ich werde arbeitslos.
20,0
D (1) West Ost^ Bereich 22,8 35,3** 17,2 32,3**
"D"^ PL (3)
CZ (4)
Signifikante Unterschiede zwischen Regionen''
37,6
20,8
1/2,1/3,2/4, 3/4
26,0
21,9
1/2,1/3
-
11,1
16,4
1/2,1/4,2/3, 3/4
-
53,7
41,9
1/2,1/3,1/4, 3/4
-
59,4
25,0
1/2,1/3,2/4, 3/4
47,8
18,1
1/3,2/3,3/4
-
27,5
9,6
1/2,1/3,2/3, 2/4,3/4
-
36,9
16,1
1/2,1/3,1/4, 2/3,3/4
27,2
13,5
1/3,1/4,2/3, 3/4
49,6
46,0
1/2,1/3,1/4
(2) GeWest samt Ost 36,2 31,6
Ich werde arbeitslos. 12,2 19,1 (bereinigt) Politischer (realistisch-symbolischer) Bereich Die biirokratischen Regelungen werden 32,8 45,1 34,9 Leben noch kompli44,0** zierter machen. Leute wie ich werden noch weniger Einfluss 31,1 33,7 46,3 darauf haben, was die 44,3** Regierung tut. Ich werde es ftir 15,7 sinnlos erachten, mich 16,9 21,9 politisch zu engagie22,2* ren. sozialer Bereich Ich werde mich in 11,4 meiner unmittelbaren 12,4 14,2 Umgebung nicht mehi" 16,8** wohl fiihlen. Ich werde nicht mehr genau wissen, wo ich 11,5 18,1 eigentlich hin gehore. Ich werde in Umgebung weniger Men8,1 schen kennen, die 10,4 8,9 12,1** mich nehmen wie ich bin. Ohne Bereichszuordnung Meine Furcht vor 34,2 Kriminalitat wird sich 36,3 45,1 44,8** erhohen.
27,1 38,7** 28,5 32,4*
-
^ Zustimmung in %; ^ wird nur aufgefuhrt, wenn West-Ost-Unterschiede signifikant bei * p < .05 bzw. ** p < .01 (nach Kontrolle von Alter, Geschlecht, HaushaltsgroBe und Schulbildung); *" Scheffe-Test, p < .05
76
Messinstrumente
Ostdeutsche glauben hier starker an die positiven Effekte der EU-Osterweiterung, was sich vor allem in Bezug auf einen moglichen Wirtschaftsaufschwung zeigt (32,2 % Zustimmung). Demgegeniiber versprechen sich nur 20,7 Prozent der Westdeutschen in den grenznahen Gebieten einen Wirtschaftsaufschwung. Die vorgestellten Bedrohungsgefiihle wurden im Fragebogen durch einen entsprechenden Einleitungstext zu jedem Variabienblock in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der EU-Osterweiterung gestellt. Insofem wird davon ausgegangen, dass die Bedrohungsgefiihle einen Sachbezug aufweisen, sich Befragte also tatsachlich vor dem Ereignis der EU-Osterweiterung und damit verbundenen Veranderungen angstigen. Dies ist eine notwendige Voraussetzung zur Priifung des integrativen Modells, da im anderen Fall keine Integration von situativen und dispositionellen Theorien, sondern eine reine Elaboration der letztgenannten erfolgen wiirde. Dennoch reicht es nicht aus, den Sachbezug der Bedrohungsgefiihle nur zu postulieren, sondern dieser Bezug muss empirisch gesichert werden. Ausgangspunkt fiir die Erbringung des notwendigen empirischen Belegs ist die tJberlegung, dass die Wahmehmung von Bedrohungen im Zuge der EU-Osterweiterung tatsachlich nie ganz unabhangig von Personlichkeitseigenschaften, d.h. dispositionellen Faktoren ist. Menschen beurteilen auBere Umstande nicht nach rein rationalen Kriterien, sondern immer innerhalb eines personlichen Beurteilungsrahmens, der im Verlauf der Lebensbiographie entwickelt wurde. Dies bedeutet, dass sich sorgende und zu bedrohlichen Interpretationen neigende Menschen auch mehr Sorgen und Bedrohungen beztiglich der EU-Osterweiterung wahmehmen werden. Wenn solch ein Mensch sagt, dass er sich z.B. vor einer steigenden Arbeitslosigkeit als Resultat der gestiegenen Arbeitnehmerfreiziigigkeit nach 2004 sorgt, dann geschieht das einerseits, well dieser Mensch jede Veranderung in dieser Hinsicht interpretiert, andererseits liegt darin auch eine Wahrnehmung, die nur durch die EU-Osterweiterung erzeugt wurde. Wenn man nun den ersten Bestandteil aus den Antworten eines Befragten herausrechnen - im Sprachgebrauch der sozialwissenschaftlichen Statistik auspartialisieren - kann, dann bliebe der sachbezogene Teil iibrig. Diesen dispositionellen Anteil an der Bedrohungswahmehmung konnen wir auspartialisieren, wenn wir ihn messen. Hierzu existieren verschiedene Vorschlage u.a. aus der Psychologic. Wir haben hierfiir auf eine Skala zur Messung der allgemeinen Besorgtheit von Boehnke et al. (1998) zuriickgegriffen. Diese misst, wie stark sich Menschen im Allgemeinen um verschiedene Dinge Sorgen machen. Die entsprechenden Items sind in Tabelle 10 aufgefiihrt. Die Haufigkeitsverteilungen zu den einzelnen Items^^ sind flir die hier verfolgte Frage der Auswirkung der EU-Osterweiterung auf rechtsextreme Einstellungen nicht interessant, da diese Skala nur in den multivariaten Analysen eingesetzt wird, um aus den Bedrohungsgeftihlen das dispositionelle Element auszupartialisieren. Dennoch soil kurz auf die Mittelwerte im Kulturvergleich eingegangen werden. Unterschieden wird in dieser Skala zwischen sog. Micro-Worries, die das Individuum und sein/ihr Mikrosystem i.S. der Bronfenbrennerschen Klassifikation (Bronfenbrenner 1976) betreffen, und Macro-Worries, die im Sinne Bronfenbrenners das Exo- und Makrosystem betreffen. Es zeigt sich, dass wie in Mitteleuropa typisch (vgl. Schwartz/Melech 2000) - Micro-Worries in geringerem MaBe artikuliert werden als Macro-Worries, d.h. um das Land oder die Umwelt wird sich Die Antwortskala reichte von 1 - bereitet mir gar keine Sorgen bis 5 - bereitet mir groBe Sorgen.
77
Deskriptive Auswertungen
haufiger gesorgt als um die eigene Gesundheit oder das bemfliche Fortkommen. Diesen Refund konnten wir auch bei den oben berichteten EU-Osterweiterungs-Bedrohungsgefiihlen feststellen. TabeUe 10: Allgemeine Besorgtheit^
Sorge
D (1) r. , West ^"^"^^ Ost^
Dass ich Krebs bekomme. Dass ich mit dem StudiunV der Arbeit nicht zu Rande komme. Dass ich in finanzielle Schwierigkeiten gerate. Dass die Umweltzerstorung schlimmer wii'd. Dass in Deutschland/Polen/der Tschechischen Republik viele Menschen in Armut leben. Dass unser Land in einen Krieg verwickelt wird. Cronbachs Alpha
0,67
Skala
3,38
D (2) r. , West Gesamt ^ ^ Ost
PL (3)
CZ (4)
Signifikante Unterschiede zwischen Regionen''
3,32
-
3,50
-
3,60
2,80
1/3,1/4,2/4,3/4
2,53
-
2,63
2,34 2,70**
2,91
2,38
1/3,2/3,3/4
3,23
3,14 3,62**
3,53
3,15 3,64**
4,26
3,40
1/2,1/3,2/3,3/4
4,19
-
4,29
-
4,20
3,18
1/4,2/4,3/4
3,72
3,66 3,95**
3,93
3,68 4,00**
4,50
3,11
1/2,1/3,1/4,2/3, 2/4,3/4
3,27
3,17 3,69**
3,71
3,34 3,81**
3,60
2,78
1/2,1/3,1/4,2/4, 3/4
0,68
0,77
3,86
2,94
3,33 3,62**
0,72 3,61
3,37 3,67**
1/2,1/3,1/4,2/3, 2/4,3/4
^ Mittelwerte ^ - wird nur aufgefuhrt, wenn West-Ost-Unterschiede signifikant bei * p < .05 bzw. ** p < .01 (nach Kontrolle von Alter, Geschlecht, HaushaltsgroBe iind Schulbildung) ' Scheffe-Test, p < .05
In der deutschen Grenzregion ist das allgemeine Besorgtheitsniveau in drei von sechs Fallen signifikant hoher; dies ist allerdings ein reiner West-Ost-Unterschied, da sich Ostdeutsche haufiger sorgen und in der Grenzregionenstichprobe mehr ostdeutsche Befragte sind. Durchweg die geringsten Sorgen artikuiieren die tschechischen Befragten. Auch das bestatigt die Befunde, die wir beziiglich der EU-Osterweiterungs-Bedrohungen erzielt haben. Besonders deutlich fallen die Unterschiede im Vergleich zu den anderen drei Landern im
78
Messinstrumente
Bereich der Macro-Worries (letzte drei Items) aus, d.h. das Schicksal des eigenen Landes/der Umwelt ist fiir Tschechen von geringerem Interesse. Und schlieBlich findet sich auch bestatigt, dass die Polen sich besonders besorgt zeigen. Der Mittelwert der Gesamtskala (3.86) unterscheidet sich signifikant von alien anderen Erhebungsgebieten. Insofern deuten allein die deskriptiven Ausvy^ertungen darauf hin, dass ein nicht geringer Teil der EU-Osterweiterungs-Bedrohungsgefiihle einen dispositionellen Hintergrund hat, der z.T. auch auf kulturell verschiedenen Mentalitaten beruht. Dies bestatigen schlieBlich auch Korrelationsanalysen: Die Koeffizienten zwischen den weiter oben unterschiedenen drei Bedrohungsgeftihlen und der allgemeinen Besorgtheit variieren, alle Gebiete betrachtet, zwischen 0,27 und 0,55 (Spearmans p) und sind samtlich hochsignifikant. Es gibt also substanzielle Beziehungen zwischen dem Personlichkeitsfaktor Besorgtheit und der Bedrohung, die man mit der EU-Osterweiterung in Verbindung bringt. Um diese Beziehung zu kontrollieren, wird in den nachfolgenden Auswertungen die allgemeine Besorgtheit stets einbezogen. 43.2
Stereotype und Intergruppenangst gegenuber Deutschen, Polen und Tschechen
Stereotype und Intergruppenangste wurden in Bezug auf konkrete Bevolkerungsgruppen operationalisiert. Dabei standen in jeder Erhebungsregion zwei Gruppen im Vordergrund: In Deutschland wurde nach den Einstellungen zu Biirgern Polens und der Tschechischen Republik gefragt, in Polen zu Deutschen und Tschechen und in der Tschechischen Republik zu Deutschen und Polen. Dies hat den Vorteil, dass immer zwei Perspektiven auf den gemeinsamen Nachbam untersucht werden konnen. Aus Griinden der zeitlichen Begrenzung des Interviews wurde darauf verzichtet, auch die Stereotype iiber die eigene Gruppe abzufragen. Der Einleitungstext des entsprechenden Frageblocks zu den Stereotypen lautete: „Denken Sie jetzt bitte einmal an die Menschen in Deutschland/Polen/der Tschechischen Republik. Ich lese Ihnen dazu einige Eigenschaften vor. Bitte sagen Sie mir jeweils, inwieweit diese Eigenschaften auf die Menschen dort Ihrer Meinung nach zutreffen oder nicht." Zu evaluieren waren die Nachbam dann sowohl auf einer positiven als auch einer negativen Dimension. Zur Erfassung positiver Stereotype wurden die Eigenschaften „freundlich", „fleiBig" und „gesellig" vorgelegt, zur Erfassung negativer Stereotype die Eigenschaften „krimineH", egoistisch", „unehrlich" und „ruckstandig" (positive und negative Stereotype in abwechselnder Reihenfolge). Hierbei handelt es sich um eine Auswahl aus dem Instrument von Stephan et al. (2002), das in seiner vollen Lange iiber ein Duzend Eigenschaften abfragt. Dieses Instrument konnte in einer Telefonbefragung naturgemaB nicht vollstandig eingesetzt werden, weshalb sich auf Basis inhaltlicher tJberlegungen und der Ergebnisse des Pretests, bei dem 16 Eigenschaften abgefragt wurden, fiir eine gekiirzte Version entschieden wurde. Tabelle 11 zeigt die Ergebnisse, wobei diese im Gegensatz zur bisherigen Darstellungsweise zuerst nach der zu bewertenden Gruppe und dann nach Erhebungsregion geordnet sind.
Deskriptive Auswertungen
79_
Tabelle 11: Zuschreibung von Eigenschaften zu verschiedenen Nationalitaten^
Freundlich
Die Tschechen sind... D D PL (1) (2) (3) P^-^^ 5,20 5,50 5,27 1/2
FleiBig to Gesellig
4,80
4,86
5,10
Kriminell
Die Polen sind... D D CZ (1) (2) (4) 5,09 5,02 5,27 4,51
4,43
5,40
4,58 V,"^' 4,75 ' 2 / 3 5,39 ^^^j^ 5,35
5,43
3,35
3,51
2,15
^73'
^'^^
Egoistisch
3,40
3,31
2,70
^^^
Unehrlich
3,35
3,33
2,50
Riickstandig
3,54
3,57
1,92
P^'^^ 2/4
Die Deutschen sind... PL CZ (3) (4) P^-^^ 4,60 4,30 3/4 5,04
5,60
3/4
5,30
^j}: 1/4 -
4,71
5,02
3/4
^,01
2,77
^^^'
2,14
2,43
3/4
3,47
3,34
3,46
-
3,77
4,52
3/4
^^j^
3,54
3,70
3,28
^^'
3,28
2,82
3/4
^^^
3,79
3,89
3,03
^74'
^'^^
^'^^
'^'^
"" Mittelwerte, signifikante Unterschiede bei p < .05, Scheffe-Test; die Antwortskala reichte von 1 - trifft iiberhaupt nicht zu bis 7 - trifft vol! und ganz zu Uber alle Erhebungsgebiete und einzuschatzenden Nachbam hinweg ist zunachst festzustellen, dass positive Eigenschaften z.T. deutlich haufiger attestiert werden als negative. In der Regel bleibt der empirische Mittelv^ert der negativen Stereotype auch weit unter dem theoretischen Mittelwert von 4.00, was bedeutet, dass nur eine Minderheit den Nachbarn gegeniiber negativ gesonnen ist.^^ Im Detail sind folgende Befunde hervorzuheben: Tschechen werden in der deutschen Reprasentativstichprobe generell etwas seltener positiv beschrieben, in Bezug auf die Eigenschaften „freundHch" und „gesellig" bleiben die Einschatzungen hinter denen der Bewohner des Grenzlandes signifikant zuriick. Dies liegt, wie weitergehende Analysen zeigen, vor allem daran, dass die ostdeutschen Befragten die Tschechen generell positiver beurteilen und in der Grenzregionenstichprobe mehr ostdeutsche Befragte sind. Im Hinblick auf die negativen Einschatzungen hingegen verlauft die Trennungslinie zwischen den deutschen und den polnischen Befragten. Letztere sind deutlich seltener bereit gewesen, den Tschechen kriminelle, egoistische usw. Eigenschaften zuzuschreiben. Damit deutet sich bereits an, was nachfolgende Korrelationsanalysen statistisch belegen werden, dass positive Urteile liber den Nachbarn die Existenz negativer Urteile keinesfalls ausschlieBt. Im AUgemeinen wiirde man erwarten, dass Personen nicht gleichzeitig positiv und negativ gegeniiber anderen Menschen oder Menschengruppen eingestellt sein konnen. Aber bereits die deskriptiven Befunde konnen diese These in Zweifel Ziehen. ^^ Nur in zwei Fallen wird der theoretische Skalenmittelwert bei den negativen Stereotypen iiberschritten, und zwar dann, wenn deutsche Grenzregionenbewohner die Kriminalitat der Polen und wenn tschechische Befragte den Egoismus der Deutschen einschatzen sollen.
80
Messinstrumente
In Bezug auf Polen unterscheiden sich die Befragten Gesamtdeutschlands und der Grenzregionen nur in einem Punkt signifikant voneinander: Die Befragten der Reprasentativstichprobe (1) attestieren ihnen etwas haufiger, dass sie fleiBig sind. Dies bedeutet zugleich, dass es keine ausgepragten West-Ost-Unterschiede in der Einschatzung der Polen gibt. Zudem zeigt sich, dass die Polen im Vergleich zu den Tschechen von den Deutschen bis auf die Ausnahme „gesellig" - durchweg etwas negativer beschrieben werden. Besonders augenfallig ist dies bei den Eigenschaften „krimineH" und „ruckstandig". Ahnlich wie bereits bei der Einschatzung der Tschechen findet sich, dass nicht-deutsche Befragte ihrem auslandischen Gegentiber weniger negativ eingestellt sind als die deutschen Befragten: Die Tschechen schreiben den Polen signifikant seltener zu, „krimineH", „unehrlich" und „ruckstandig" zu sein. Vergleicht man allerdings die Urteile der Polen (iber die Tschechen mit denen der Tschechen iiber die Polen, so ist festzustellen, dass auch die Tschechen (ahnlich wie die Deutschen) etwas haufiger zu negativen Urteilen neigen. Damit erscheinen im interkulturellen Vergleich die Polen als die ethnische Gruppe, der am ehesten Vorbehalte entgegengebracht werden. Die Deutschen schlieBlich werden von den Polen und den Tschechen sehr uneinheitlich bewertet. Polen meinen haufiger, dass die Deutschen „freundlich" aber auch „unehrlich" waren; Tschechen hingegen sprechen den Deutschen eher FleiB und Geselligkeit zu, wobei sie gleichzeitig auch haufiger der Auffassung sind, dass diese „krimineir', „egoistisch" und „ruckstandig" waren. Auch hier gilt also der Befund, dass positive und negative Einschatzungen sich nicht ausschlieBen, sondem koexistieren. Im Vergleich aller Stichproben werden die Deutschen als besonders egoistisch und als am wenigsten riickstandig eingeschatzt. Die sieben Stereotypen-Items wurden nun in eine explorative Faktorenanalyse aufgenommen, um zu untersuchen, welche Items Ahnliches messen und zu einer Skala zusammengefasst werden konnen. Theoretisch moglich waren mindestens drei Ergebnisse: Erstens konnten durch eine Faktorenanalyse semantische Uberschneidungen zwischen den Items aufgedeckt werden. In dieser Hinsicht hatten z.B. „freundlich" und „unehrlich" einen eigenen Faktor bilden konnen, da zu vermuten ist, dass Unehrlichkeit zwar nicht UnFreundlichkeit, aber zumindest eine Voraussetzung hiervon erfasst. Zweitens ware es nicht unplausibel anzunehmen, dass alle sieben Items Ausdruck ein und desselben Faktors sind, der als Affinitat zur Stereotypisierung bezeichnet werden konnte. Insofern wurden Personen konsistent positive Urteile abgeben und negative ablehnen bzw. vice versa. Dies erscheint aber allein auf Basis der Kenntnis der deskriptiven Auswertungen zweifelhaft. Stattdessen scheint es vielmehr so zu sein, dass Personen drittens eher positive von negativen Bewertungen unterscheiden. Insofern kommt es weniger darauf an, was eine Eigenschaft inhaltlich bedeutet, sondern ob sie eher positive oder eher negative Aspekte erfasst; es ginge also um die Valenz einer Aussage. Eine solche Losung ware nicht inkompatibel mit gangigen Stereotypen-Konzepten, die betonen, dass es nicht um wirkliches Wissen geht, sondern um die Starke von Vor-Urteilen. Und gerade dadurch wird ein Bogen zum Konzept der Bedrohungen geschlagen. Einerseits sind Bedrohungsgeflihle in der im vorangegangenen Abschnitt vorgestellten Form ebenfalls ein Aspekt stereotypen Urteilens; andererseits driickt die Zustimmung zu negativen Charaktereigenschaften bzw. die Ablehnung positiver Eigenschaften bei Fremdgruppen eine Bedrohung aus, die in der Wahrnehmung der Person
Deskriptive Auswertungen
81
von einer bestimmten Bevolkemngsgruppe ausgeht. Empirisch zeigt sich deutlich und in alien Stichproben, dass die entscheidende Differenz zwischen negativen und positiven Stereotypen besteht (Tabeile 12). TabeUe 12: Explorative Faktorenanalyse^ Die Tschechen sind... I Freimdlich FleiBig Gesellig Kiiminell Egoistisch Unehrlich Riickstandig Cronbachs Alpha Die Polen sind...
0,78 0,64 0,82 0,62 30,0 0,69^^ I
Freundlich FleiBig Gesellig Kriminell Egoistisch Unehrlich Riickstandig Erklarte Varianz in % Cronbachs Alpha Die Deutschen sind...
D (1)
0,69 0,77 0,81 0,72 32,3 0,70^
?8 3 0,74 D (1)
0,71 0,64 0,77 0,57 26,5 0,61^
I
II 0,80 0,71 0,75
0,56 0,74 0,69 0,46 23,8 0,59'5
PL (3)
II 0,81 0,79 0,82
28,2 0,74 D (2)
0,72 0,59 0,77 0,59 26,2 0,57^
25,0 0,62
I Freundlich FleiBig Gesellig Kriminell Egoistisch Unehrlich Riickstandig Erklarte Varianz in % Cronbachs Alpha
I
II 0,82 0,79 0 80
D (2)
II 0,82 0,67 0,68
22,8 0,56 II 0,76 0,67 0,67
23,4 0,54
PL (3) II 0,83 0,60 0,74
I
0,70 0,76 0,85 0,56' 27,7 0,72^ I
24,4 0,63 CZ (4)
0,71 0,68 0,79 0,77 32,5 0,67^ I
0,81 0,60^= 0,79 0,69 26,8 0,62^
III -0,59
0,86 16,3
II 0,81 0,68 0,85
28,6 0,71 CZ (4) II 0,70 0,72 0,85
III -0,49
0,88 25,3 0,66
18,4
" Hauptkomponentenanalyse, varimax-rotiert; dargestellt: Faktorladungen > .40; ^ berechnet ohne Item ^riickstandig", ^' Faktorladung bei erzwungener 2-Faktor-Losung
In alien Stichproben laden die vier negativ konnotierten Items hinreichend auf einem, die drei positiven Items auf einen anderen Faktor. Allerdings existieren zwei Ausnahmen: In der polnischen Grenzregionenstichprobe wird ein dritter Faktor extrahiert, der durch die
82
Messinstrumente
Eigenschaft „ruckstandig" bestimmt wird. Darin schlagt sich nieder, dass es doch inhaltliche Uberschneidungen zwischen den Einzelitems gibt, die sich jenseits von positiv vs. negativ bewegen. Zumindest in der Bewertung der Tschechen durch die Polen schlieBt die Zuschreibung von Riickstandigkeit aus, dass man auch FleiB attestieren kann. Ein ahnlich gearteter Befund existiert fiir tschechische Befragte, die die Deutschen einschatzen: Egoismus ist hier mehr oder weniger das Gegenteil von Freundlichkeit. Dennoch bleiben diese Befunde eine Ausnahme. Hinzu kommt, dass eine konfirmatorische Faktorenanalyse, bei der eine Zwei-Faktoren-Losung gefordert wird, die angedeutete inhaltsbezogene Deutung nicht aufrechterhalt. Stattdessen laden die Items dann, wie erwartet, entweder auf dem positiven oder auf dem negativen Faktor. Da sich in den anschlieBenden Reliabilitatsanalysen herausgestellt hat, dass durch die Auslassung des Items „ruckstandig" bessere Konsistenz-Koeffizienten erreicht werden konnen, werden nachfolgend jeweils nur drei Items zu einer Skala zusammengefasst. Betrachtet man sich auf Basis der gebildeten Skalen die gegenseitigen Wahrnehmungen, so wird das here its bekannte Bild noch einmal bestatigt (Tabelle 13): Die Tschechen werden in der deutschen Reprasentativstichprobe weniger positiv beurteilt (wobei dies darauf zuriickgeht, dass vor allem die Ostdeutschen die Tschechen positiver einschatzen und diese in der Grenzregion iiberreprasentiert sind). Die Polen erhalten haufiger negative Zuschreibungen. Und vor allem die tschechischen Befragten sind in der Einschatzung der Deutschen ambivalent, da hier sowohl positive, als auch negative Stereotype existieren. TabeUe 13: Zuschreibung von Eij^enschai'ten zu verschiedenen ?<^ationaI itaten^
Positiv Negativ
Die Tschechen sind... D D PL p<.05 (1) (2) (3) 5,02 1/2 5,25 5,11 1/3, 2,44 3,38 3,39 2/3
Die Polen sind... D D CZ (1) (2) (4) 5,05 4,96 5,00 3,65
3,70
3,17
p<.05 1/4, 2/4
Die Deutschen sind... PL CZ ^^ (3) (4) P<-^^ 4,96 3/4 4,79 3,09
3,26
^ Mittelwerte, signifikante Unterschiede bei p < .05, Scheffe-Test; die Antwortskala reichte von 1 - trifft iiberhaupt nicht zu bis 7 - trifft voll und ganz zu
Aufgrund der Skalenkonstruktion besitzt nun jeder Befragte im Datensatz vier Variablen, die das AusmaB stereotypen Urteilens messen. Am Beispiel eines deutschen Befragten in Stichprobe (1) bedeutet dies: Es gibt eine Variable, die das AusmaB positiven Urteilens gegeniiber Polen misst; eine weitere erfasst das AusmaB negativen Urteilens gegeniiber dieser Bevolkerungsgruppe. Ebenso gibt es zwei Variablen, die positive bzw. negative Stereotype gegeniiber Tschechen abbildet. Die Ergebnisse der Faktorenanalysen legen bereits nahe, dass negative und positive Urteile kaum miteinander in Beziehung stehen. Gilt das aber auch fiir die Urteile iiber die Gruppe hinweg? Hieriiber gibt Tabelle 14 Auskunft, Es ist zu beachten, dass nicht alle Gruppen in alien Erhebungsgebieten einzuschatzen waren, was die hohe Anzahl nicht vorhandener Korrelationen erklart.
Deskriptive Auswertungen
83_
Tabelle 14: Interkorrelationen zwischen Stereotyp-Skalen^ Stichprobe
Tschechen negativ
Tschechen positiv
D(l) D(2) PL (3) CZ(4)
-0,08 -0,34^^
Tschechen negativ
D(l) D(2) PL (3) CZ(4)
Polen positiv
D(l) D(2) PL (3) CZ(4)
Polen negativ
D(l) D(2) PL (3) CZ(4)
Deutsche positiv
D(l) D(2) PL (3) CZ(4)
Polen positiv 0,56** 0,52**
./.
Polen negativ
Deutsche positiv
Deutsche negativ
./.'
0,14*
./.
./.
0,53**
0,61** 0,52**
-0,7(5** -0,16^^ -0,32"^*
./. 0,40** ./. 0,62**
-0,27"^* -0,25''''
"Spearmans p, * p < .05, ** p < .01) ^ theoretisch irrelevant Der wesentliche Refund besteht darin, dass die Korrelationen zwischen negativen und positiven Stereotypen in Bezug auf ein und dieselbe Gruppe deutlich geringer ausfallen (kursiv) als die Korrelationen zwischen positiven (bzw. negativen) Einschatzungen iiber die Gruppen hinweg.^^ Deutsche in der Stichprobe (1) etwa, die den Tschechen positive Eigenschaften attribuieren, neigen auch dazu, dies fiir Polen zu tun (Korrelation 0,56). Besonders ausgepragt sind diese Beziehungen aber bei den negativen Stereotypen.^^ Wer also Polen negativ beschreibt, tut dies auch bei Tschechen bzw. Deutschen. Aus diesen Ergebnissen lasst sich ableiten, dass es eine Art Disposition zur negativen Stereotypisierung gibt, d.h. eine generelle und nicht gruppenspezifische Voreingenommenheit gegenliber Personen anderer Bevolkerungsgruppen. Dieser Disposition, die eine zusatzliche Facette von Bedro-
30
Nur Deutsche und Polen, d.h. Personen in den Stichproben (1), (2) und (3) hatten etwa die Tschechen einzuschatzen, weshalb nur drei Korrelationen zwischen positiven und negativen Einschatzungen den Tschechen gegentiber zu berichten sind. So gibt es in der polnischen Stichprobe nur eine schwach signifikante Korrelation zwischen dem positiven Urteil gegeniiber Tschechen und dem gegentiber Deutschen von ,14. Die Korrelationen zwischen den negativen Zuschieibungen sind hingegen nirgendwo unter .50.
84
Messinstrumente
hungsgefuhlen abbildet, gilt im Folgenden die Aufmerksamkeit.^^ Das AusmaB dieser Disposition lasst sich bestimmen, indem fizr jeden Befragten die vorhandenen negativen Einschatzungen bzgl. der zwei einzuschatzenden Gruppen zu einer Variablen zusammengefasst werden. Wenden wir uns der letzten Dimension der Bedrohungstheorie zu, der Intergruppenangst. Diese erfasst etwas starker die emotionale Seite von Bedrohungen. Es wird danach gefragt, wie man sich in einer Kontaktsituation mit Personen einer fremden Herkunft fiihlen wlirde. Nichtsdestotrotz sind damit auch kognitive Urteile angesprochen, weil es nicht um Erfahrungen im Anschluss an eine reale Kontaktsituation geht, sondem um eine hypothetische Einschatzung."^^ Auch bei dieser Dimension wurde im Wesentlichen den Operationalisierungsvorschlagen von Stephan et al (2002) gefolgt. In der Vorstudie kam die gesamte Skala, die 12 mogliche Gefiihlszustande abfragt, zum Einsatz. Nach einer Reduktion im Anschluss an den Pretest wurden letztlich nur vier Zustande erfasst, und zwar, ob man sich in einer Kontaktsituation „vertraut", „freundschaftlich", „uberlegen" Oder „bedroht" fiihlen wiirde. Die deskriptiven Auswertungen (Tabelle 15) zeigen emeut, dass positive Urteile generell haufiger zu finden sind als negative. Beriicksichtigt man jedoch, dass der Antwortrange von 1 - „wurde mich liberhaupt nicht so fiihlen" bis 7 - „wiirde mich voll und ganz so fiihlen" reichte, die beobachteten Mittelwerte bei den positiven Items aber nur geringfiigig iiber den theoretischen Mittelwert von 4.00 liegen (teilweise auch deutlich darunter), dann kann gefolgert werden, dass die emotionale Wohlgesonnenheit deutlich hinter der kognitiven zuriicksteht. Moglicherweise auBert sich darin auch eine gewisse Unvertrautheit mit dem Frageformat, da es fiir viele Menschen schwierig sein mag, sich eine Kontaktsituation wirklich vorzustellen. Die beobachteten Unterschiede sind recht ahnlich den fiir Stereotype gefundenen. Erneut zeigt sich, dass sich Befragte der deutschen Reprasentativstichprobe seltener ver32
Letztlich gilt damit fiir Stereotype (und auch fiir die Intergruppenangst, s.u.), dass sie einen geringeren Sachbezug zu haben scheinen, und zwar in dem Sinne, wie er fiir die weiter oben berichteten realistischen und symbolischen Bedrohungen im Zuge der Osterweiterung angenommen wird. Deutsche unterscheiden nicht, ob es sich um Polen oder Tschechen handelt, wenn sie ein Urteil iiber eine der beiden Nationen abgeben. Dies liegt moglicherweise daran, dass sich zumindest im Auge eines deutschen Betrachters diese beiden Nationen nur geringfiigig unterscheiden. Moglichweise auBert sich darin aber auch eine generelle Tendenz, andere Volker aufbzw. abzuwerten. Wenn diese Deutung zutreffen wiirde, wiirde sich ein Problem fiir die ThreatTheory ergeben, die dann mehr oder weniger nur als Elaboration dispositioneller Sichtweisen auf Vorurteile und Ethnozentrismus aufzufassen ware. Zumindest die geringe Korrelation zwischen der positiven Einschatzung der Deutschen und der Tschechen in der polnischen Stichprobe gibt aber zu der Uberlegung Anlass, dass es durchaus einen Unterschied machen kann, welche Nation einzuschatzen ist. Insofem mag fiir die hier berichteten Ergebnisse fiir die deutschen Stichproben tatsachlich ausschlaggebend sein, dass Polen und Tschechen als zwei recht ahnliche osteuropaische Nationalitaten erscheinen und Stereotype nicht nur dispositionell zu erklaren sind. Wie Abbildung 4 verdeudicht, nimmt die Bedrohungstheorie allerdings an, dass tatsachliche Kontakterfahrungen auf das AusmaB an Intergruppenangst Einfluss nehmen. Die Annahme ist, dass reale Kontakte Intergruppenangst senken. Was ist aber mit jenen Personen, die keine solchen Erfahrungen haben? Hier ist es, ahnlich wie bereits bei den Stereotypen, entscheidend, welche Gefuhls-Disposition eine Person hat, ob sie grundsatzlich anderen Bevolkerungsgruppen gegenuber feindlich in dem Sirme gesonnen ist, dass sie sich bedroht fiihlt, oder ob sie ein eher offener, extrovertierter Typ ist.
Deskriptive Auswertungen
85_
traut Oder freundschaftlich den Tschechen gegenliber flihlen wiirden als Personen in den Grenzregionen, was auf West-Ost-Unterschiede zuriickzufuhren ist. Wenn es hingegen urn die Einschatzung der Kontakte mit Polen geht, sind hinsichtlich der positiven Charakterisierungen keine Unterschiede erkennbar. Die Tschechen sind aber deutUch seitener der Meinung, dass sie sich „uberlegen" oder „bedroht" flihlen wiirden. Es besteht auch die Tendenz, dass Deutsche den Tschechen gegenliber etwas aufgeschlossener sind als gegenuber Polen. Wenn Polen und Tschechen schlieBlich einen moglichen Kontakt mit Deutschen bewerten sollen, dann neigen die Polen haufiger zu positiven Statements, bei den negativen gibt es keine Unterschiede. TabeUe 15: Zuschreibung von Kontakt-Eigenschaften zu verschiedenen Nationalitaten^ Wie wurden Sie sich bei Begegniing mit...
... Tschechen
... Polen
flihlen?
D (1)
D (2)
PL (3)
Vertraut
3,41
4,00
4,73
Freundschaftlich
4,21
4,59
4,74
Uberlegen
2,40
2,32
2,14
-
Bedroht
2,19
2,16
1,75
1/3, 2/3
^^'^^
D (1)
flihlen?
... Deutschen flihlen?
D (2)
CZ (4)
P^'^^
PL (3)
CZ (4)
^^'^^
3,45
3,36
-
4,23
3,12
3/4
4,39
4,18
-
4,35
3,92
3/4
2,50
2,54
1,90
2,18
2,07
-
2,21
2,35
1,97
2,06
2,26
-
1/2,1/3, 3,43 2/3 1/2, 4,33 1/3
1/4, 2/4 1/4, 2/4
^ Mittelwerte; signifikante Unterschiede bei p < .05, Scheffe-Test; die Antwortskala reichte von 1 - wtirde mich iiberhaupt nicht so fiihlen bis 7 - wiirde mich voll und ganz so fiihlen
Eine Faktorenanalyse mit alien vier Items ergibt in alien Stichproben und in Bezug auf alle einzuschatzenden Gruppenkontakte dasselbe Bild (Tabelle 16): Die positiv konnotierten Einschatzungen laden auf einem Faktor, die negativ konnotierten Items auf einem anderen. Die Korrelationen zwischen jeweils beiden Items sind ausreichend, um sie zu einer Skala zusammenzufassen. Allerdings wollen wir bei der Bennennung der Skalen nicht erneut auf die Begriffe positiv vs. negativ zurlickgreifen. Stattdessen nutzen wir die Begriffe konfliktarm bzw. konfliktreich. Dies resultiert aus der Uberlegung, dass moglichen Kontakten, die als „vertraut" oder „freundschaftlich" interpretiert werden, kein Konflikt immanent sein sollte. Wenn man hingegen einen Kontakt in den Kategorien „uberlegen" und „bedroht" wahmimmt, dann ist eine Asymmetric zwischen den Beteiligten gegeben, die konflikttrachtig sein diirfte. Die deskriptiven Auswertungen der zusammengefassten Skalen verdeutlichen noch einmal die bekannten Muster (Tabelle 17). Dariiber hinaus findet sich in Bezug auf die Korrelationen der einzelnen Einschatzungen (ohne Abbildung), dass wiederum nicht zwischen den Nationalitaten unterschieden wird. Wer konfliktarme Kontakte z.B. zu Tschechen vermutet, der fiihlt sich auch bei einer Begegnung mit Polen oder Deutschen
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Messinstrumente
eher vertraut und freundschaftlich. Die Korrelationen zwischen konfliktarmen und konfliktreichen Einschatzungen in Bezug auf eine Gruppe werden nur einmal signifikant, und zwar in der polnischen Stichprobe wenn es um die Einschatzung des Kontakts mit Deutschen geht. Tabelle 16: Explorative Faktorenanalyse^ Wie wtirdenSiesich beiBegegnungmit...
... Tschechen fiihlen? D D PL (1) (2) (3) I n I n i H
D (1) I
... Polenfuhlen? D CZ (2) (4) H I n I n
... Deutschen filhlen? PL CZ (3) (4) I H I n
Vertraut
0,87
0,90
0,91
0,86
0,85
0,90
0,88
0,90
Freundschaftlich
0,87
0,90
0,89
0,85
0,85
0,91
0,83
0,89
Uberlegen
0,84
0,85
Bedroht
0,83
0,85
<0,89
0,83
0,85
0,87
0,93
0,81
066
0,80
0,82
0,87 -0,52 0,64
0,80
m
Erklarte Varianz 38,2 35,1 40,5 36,4 45,4 30,8 37,2 33,5 37,1 35,0 40,8 38,5 43,4 32,0 43,0 32,5 in% KoiTelation ^ ^ ^ ^ (Speai-mans p) ^ Hauptkomponentenanalyse, varimax-rotiert; dargestellt: Faktorladungen > 0,40 Tabelle 17: Zuschreibung von Kontakt-Eigenschaften zu verschiedenen Nationalitaten^ ... Tschechen fiihlen?
... Polenfuhlen?
... Deutschen fiihlen?
Wie wiir^^\^u^.
D
D
PL
Bejegnung mit... Konfliktarm Konfliktreich
^^^
^2)
(^>
3,81
4,28
4,75
2,30
2,25
1,94
^_ ^
D
D
CZ
^'^
(^^
1/2,1/3, 3,87 2/3 1/3, 2,37 2/3
^^
PL
CZ
^^
^
P^*"'
0)
(4)
P<-^^
3,93
3,78
-
4,28
3,52
3/4
2,44
1,93
1/4, 2/4
2,12
2,17
-
° Mittelwerte; signifikante Unterschiede bei p < .05, Scheffe-Test; die Antwortskala reichte von 1 - wurde mich iiberhaupt nicht so fiihlen bis 7 - wiirde mich vol! und ganz so fiihlen Demgegentiber sind die Einschatzungen auf einer Dimension in Bezug auf unterschiedliche Gruppen immer mindestens 0,60 (Spearmans p). Es existiert also auch hier eine Art Disposition, die Menschen dazu anhalt, Kontakte zu anderen Bevolkerungsgruppen generell in einem negativen oder einem weniger negativen Licht zu sehen. Da im Sinne der Bedro-
Deskriptive Auswertungen
87
hungstheorie in erster Linie jene Evaluationen von Interesse sind, die die negativen Aspekte beinhalten, soil im weiteren Verlauf auch eher die Dimension der konfliktreichen KontaktEinschatzung beriicksichtigt werden. Fassen wir die bisherigen Ausfuhrungen zur Operationalisierung der Bedrohungsgefiihle zusammen, so lassen sich fiinf zentrale Variablen benennen: 1. die realistisch-kollektive Bedrohungen, die erfassen, wie stark sich die Befragten im Zuge der EU-Osterweiterung davor sorgen, dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland/Polen/der Tschechischen Republik zunimmt, dass die Preise steigen werden und dass die einheimische Wirtschaft geschwacht wird; 2. die symbolisch-kollektiven Bedrohungen, die das AusmaB der Zustimmung dazu messen, dass durch die EU-Osterweiterung die einheimische Sprache und Kultur an Bedeutung verliert, dass einheimische Werte und Normen an Bedeutung verlieren und fremde Kulturen an Bedeutung gewinnen; 3. die realistisch-individuellen Bedrohungen, die als Erweiterung der bisherigen Bedrohungstheorie um Aspekte individueller Bedrohungen anzusehen sind und die die Erwartung beinhalten, im Prozess der EU-Osterweiterung ein sinkendes Einkommen bzw. einen Arbeitsplatzverlust in Kauf nehmen zu mlissen; 4. negative Stereotype, die ohne Bezug zu einer spezifischen Gruppe und ohne Bezug auf die EU-Osterweiterung die Neigung einer Person erfasst, Menschen einer anderen Herkunft vorurteilsbehaftet entgegenzutreten, 5. konfliktreiche Kontakt-Einschatzung (Intergruppenangst), die ebenso jenseits einer konkreten Gruppe, mit der interagiert wird, und ohne Rekurs auf die EU-Osterweiterung das AusmaB spezifiziert, zu dem sich eine Person vor einem Kontakt mit Personen anderer Herkunft angstigt. Die Analysen zur Haufigkeit des Auftretens dieser fiinf Bedrohungsarten haben recht unterschiedliche Ergebnisse hervorgebracht. So konnte gezeigt werden, dass polnische Befragte bei den ersten drei Bedrohungsarten besonders hohe Werte erzielten, deutsche Befragte der Reprasentativstichprobe sowie tschechische Befragte hingegen eher niedrigere. Negative Stereotype und Intergruppenangst finden sich demgegenliber etwas haufiger in Deutschland, polnische Befragte weisen diesbeziiglich geringere Werte auf. Entsprechend der Bedrohungstheorie sollten die einzelnen Variablen nicht unabhangig voneinander sein. Wie Tabelle 18 zeigt, lassen sich tatsachlich geringe bis mittlere Korrelationen beobachten. Flir die beiden deutschen Stichproben gilt dies in besonderer Weise, da hier alle Korrelationen positiv und mindestens tiber 0,19 sind; d.h. Personen, die Bedrohungen im Zuge der EU-Osterweiterung wahmehmen (unabhangig davon, ob realistischer oder symbolischer Art), neigen haufiger zu negativen Stereotypen und zu Intergruppenangst. In Deutschland lasst sich damit von einem Bedrohungssyndrom sprechen. Dies ist wahrscheinlich auch deshalb der Fall, weil aus der Perspektive der Deutschen die EUOsterweiterung unmittelbar mit der polnischen und tschechischen Bevolkerung verbunden ist. Zwar ist die EU-Osterweiterung flir Polen und Tschechen auch unmittelbar mit Deutschen verbunden, jedoch dtirfte der damit einhergehende Prozess ein anderer sein, da Deutsche nicht notwendig als Konkurrenten erscheinen. Fiir die beiden nicht-deutschen Stichproben zeigt sich, dass die realistischen und symbolischen (individuellen wie kollektiven)
Messinstrumente Bedrohungsgefiihle ebenfalls in mittlerem AusmaB miteinander korrelieren, allerdings sind die Beziehungen zu den anderen beiden Dimensionen gering, in Polen sogar negativ. Wer in Polen und der Tschechischen Republik also bedrohliche Verandemngen im Zuge der EU-Osterweiterung empfindet, der bringt damit nicht notwendig die Nachbarn in Verbindung. Dieser Refund kann instmktiv fiir die Weiterentwicklung der Threat-Theory sein, da damit Konstellationen aufgefunden worden sind, in denen Bedrohungen des materiellen und kulturellen Status der Eigengruppe nicht mit anderen ethnischen Gruppen in Zusammenhang gebracht werden. Das Ereignis der EU-Osterweiterung ruft Bedrohungsgefiihle wach, und zwar unabhangig davon, ob Menschen generell dazu neigen, die Anwesenheit anderer Gruppen als bedrohlich zu empfinden. Tabelle 18: Interkorrelationen zwischen den verschiedenen Bedrohungen^
RealistischkoUektive Bedrohungen SymbolischkoUektive Bedrohungen Realistischindividuelle Bedrohungen Negative Stereotype
Symbolischkollektive Bedrohungen
Realistischindividuelle Bedrohungen
Negative Stereotype
Konfliktreiche KontaktEinschatzung
0,57**/0,49**/ 0,46**/0,51**
0,46**70,47**/ 0,25**70,32**
0,30**70,21**7 -0,01/0,06
0,26**/0,19**/ -0,ll*/0,05
0,41**70,40**/ 0,30**70,23**
0,35**70,30**/ -0,12*/0,08
0,34**/0,32**/ 0,09/0,19**
0,21**/0,23**/ 0,14**/0,10
0,27**/0,24**/ 0,16**/0,12* 0,35**/0,38**/ 0,26**/0,34**
^ Spearmans p, * p < .05, ** p < .01; 1. Koeffizient = D-Reprasentativstichprobe, 2. = D-Grenzregionenstichprobe, 3. = PL-Grenzregionenstichprobe, 4. = CZ-Grenzregionenstichprobe
4.3.3
Auswirkungen von Kontakten und Geschichtsbildem auf Bedrohungsgefiihle
Die Bedrohungstheorie, wie sie von Stephan und Stephan (2000) ausgearbeitet wurde, enthalt Annahmen darliber, welche Faktoren als Ausloser von Bedrohungsgefiihlen betrachtet werden konnen. Eine zentrale RoUe kommt dabei den interethnischen Kontakten zu. Bereits die Arbeiten Allports haben gezeigt, dass Kontakte vor Vorurteilen und Diskriminierungen schtitzen konnen (Allport 2000). Dies ist vor allem dann der Fall, wenn sie als angenehm erlebt werden, wenn sie freiwillig sind, eine kooperative Basis haben, personlich sind und zwischen Individuen desselben Status erfolgen (u.a. Jonas 1998). Erzwungene Kontakte hingegen konnen kontraproduktiv sein und vorhandene Vorurteile weiter verstarken. Insofern ist die Beziehung zwischen Kontakten und Bedrohungsgefiihlen nicht linear, sondern wird durch verschiedene Faktoren moderiert. Dies wurde in unserer Befragung insofern beriicksichtigt, als wir nicht allein danach gefragt haben, ob Deutsche/Polen/Tschechen bereits personlichen Kontakt mit den beiden Nachbarn batten. Befragte, die von solchen
Deskriptive Auswertungen
89
Kontakten berichteten, sollten auch einschatzen, ob sie diese im GroBen und Ganzen als angenehm oder als unangenehm empfunden haben. Tabelle 19 verdeutlicht sowohl in Bezug auf die Kontakthaufigkeit, als auch auf die Bewertung interessante Unterschiede zwischen den Befragungsregionen. Zunachst ist auffallig, dass deutsche Befragte haufiger angaben, Kontakte mit Polen und Tschechen zu haben, als umgekehrt die Polen mit Tschechen bzw. die Tschechen mit Polen. Dies ist einerseits ein geographisches Phanomen, da die Grenzen zwischen Deutschland und Polen bzw. der Tschechischen Republik langer ist als die zwischen der tschechischen und der polnischen Grenzregion. Dementsprechend gaben nur 30,8 Prozent der Polen an, bereits mit Tschechen Kontakt gehabt zu haben, demgegenliber stehen 16,9 Prozent der Tschechen, die dies in Bezug auf Polen behaupten. Die Befragten in der deutschen Grenzregionenstichprobe gaben signifikant haufiger als die Deutschen im Allgemeinen an, Kontakte mit tschechischen Biirgern gehabt zu haben. Im Hinblick auf Kontakte mit polnischen Biirgern kehrt sich das Bild um, da hier nur noch 56,3 Prozent der Grenzregionenbewohner Kontakte berichteten im Gegensatz zu 63,5 Prozent der bundesdeutschen Gesamtbevolkerung. Dies lasst sich sicherlich damit begriinden, dass die Polen haufiger als die Tschechen im bundesdeutschen Gebiet und vor allem in den alten Bundeslandem arbeiten; zugleich ist der Anteil in Deutschland lebender Polen deutlich hoher als der hier lebender Tschechen. Betrachten wir etwas detaillierter den Grenzraum als dasjenige Gebiet, in dem eine hohere interethnische Interaktionsdichte herrscht und Kontakte weitestgehend tatsachlich Grenzen uberwinden, so zeigt sich ein diskussionswiirdiger Befund: 68,6 Prozent der deutschen Befragten aus Stichprobe (2) gaben an, bereits einmal mit Tschechen in personlichen Kontakt getreten zu sein. Demgegeniiber stehen aber nur 44,0 Prozent der Tschechen, die dies angaben. Eine solche Asymmetrie besteht zwischen Deutschen und Polen nur tendenziell und in umgekehrter Richtung (56,3 zu 70,5 %). Eine mogliche Erklarung hierflir ist, dass tatsachlich viele Deutsche mit wenigen Tschechen Kontakt haben. Allerdings mag sich darin auch ein Perspektivenunterschied verbergen: Bekanntlich hat entlang der deutschtschechischen Grenze jahrelang ein Einkaufsverkehr stattgefunden, d.h. die Deutschen haben den Preisunterschied bei diversen Waren genutzt und billiger eingekauft. Die dabei entstandenen Kontakte konnen nun von Deutschen als personlich empfunden worden sein, ftir Tschechen hingegen waren sie rein geschaftlich. Fraglich dabei ist, warum nicht auch die Polen, ftir deren Land ebenfalls ein Preisgefalle existierte, die Kontaktsituation ahnlich wahmehmen. Hochstwahrscheinlich spielen auch kulturell verschiedene MaBstabe der Beurteilung von Kontakten eine Rolle, und diese MaBstabe sind bei den Tschechen moglicherweise besonders anspruchsvoll, denn es zeigt sich ja auch, dass deutlich weniger Tschechen mit Polen Kontakt batten (16,9 %) als Polen mit Tschechen (30,8 %). Zudem ist auffallig, dass es nur ein einziges Mai einen signifikanten Unterschied bei der Bewertung der Kontakte als angenehm bzw. unangenehm gab: Die Tschechen empfanden die Kontakte mit Deutschen nur in drei von vier Fallen als angenehm, in alien anderen Stichproben und im Hinblick auf alle anderen Bevolkerungsgruppen liegt die Quote bei um die 90 Prozent. Betrachten wir uns die Haufigkeit des Kontakts im West-Ost-Vergleich (Abbildung 23), dann zeigen sich ftir ostdeutsche Befragte in beiden Stichproben fast keine Unterschiede. Es sind in der Regel zwei Drittel der Ostdeutschen, die angaben, mit Polen und
Messinstrumente
90
auch mit Tschechen mindestens selten in personlichen Kontakt getreten zu sein. Die westdeutschen Befragten hingegen erzielen je nach Befragungsregion deutlich verschiedene Werte. Fast acht von zehn bayerischen Grenzregionenbewohnem batten schon personlichen Kontakt mit Tschechen; das sind doppelt so viele Menschen wie in den restlichen westdeutschen Bundeslandem. Die Kontakte mit Polen werden demgegenliber seltener in der bayerischen Grenzregion, was sich einerseits mit der raumhchen Entfernung zur polnischen Grenze, andererseits auch mit der wirtschaftlichen Schwache dieser Region begriinden lasst, die auf Arbeit suchende Migranten nicht anziehend wirkt. In der Gesamtschau findet sich dann auch kein einheitHches Bild, da West-Ost-Unterschiede einmal zugunsten der westdeutschen, ein anderes Mai zugunsten der ostdeutschen Befragten bestehen. Dennoch liberrascht das generell recht hohe Kontaktniveau: Fast durchweg gab jeder Zweite an, Kontakte mit Personen aus einem der beiden Nachbarlander zu besitzen. Im Hinblick auf die Evaluation des Kontaktes existiert nur ein einziger Unterschied: Die Westdeutschen in Stichprobe (1) empfinden ihren insgesamt selteneren Kontakt zu Tschechen auch signifikant seltener als angenehm. TabeUe 19: Kontakte zu verschiedenen National!taten^ ... mit Tschechen D PL D (2) (3) P^-^^ (1) 1/2, 44,6 68,6 30,8 1/3, 63,5 2/3
... mit Polen D CZ (2) (4) P^-^^ 1/2, 56,3 16,9 1/4, 2/4
88,8
88,4
D (1)
Mindestens ,eher selten' Kontakt Davon: angenehm erlebte Kontakte
90,0
87,4
-
87,6
92,7
-
... mit Deutschen PL CZ p<.05 (3) (4) 70,5
44,0
3/4
87,7
77,5
3/4
' Angaben in %; signifikante Unterschiede bei p < .05, Scheffe-Test Eine letzte Auswertung soil diesen Komplex zu den Bedrohungsgeflihlen und moglichen Vorlaufern abschlieBen. In der Threat-Theory wird ein Zusammenhang zwischen der Wahmehmung der Vergangenheit und der aktuellen Einschatzungen iiber die Bedrohlichkeit von Ereignissen bzw. Bevolkerungsgruppen postuliert. Die Annahme ist, dass Personen, die die Beziehungen zwischen In- und Outgroup auch in einer historischen Perspektive als problembelastet und konfliktbeladen interpretieren, in der Gegenwart haufiger Bedrohungsgefiihle auBem. Die Wirkrichtung ist allerdings unklar, da sich sowohl begriinden lasst, dass aktuelle Wahrnehmungen die Interpretation der Vergangenheit oder aber Bilder iiber diese auch die Gegenwart beeinflussen konnen. Einmal mehr ware zur Beantwortung der Frage, welche kausalen Mechanismen tatsachlich am Werke sind, eine Langsschnittuntersuchung notig, die bislang leider nicht vorliegt. Insofern folgen wir den theoretischen Vorgaben, die historische Intergruppenkonflikte als kausal vorgeschaltet betrachtet.
Deskriptive Auswertungen
91
Abbildimg 23: West-Ost-Unterschiede in der Haufigkeit der Kontakte mit Tschechen imd Polen (in%;*p<.05, **p<.01) Bei der diesbeziiglichen Operationalisierung ist, genau wie bei den Stereotypen und der Intergruppenangst, ein Bezug zur EU-Osterweiterung selbst nicht sinnvolL Stattdessen wurden erneut die Beziehungen zwischen den unmittelbar beteiligten Bevolkerungen fokussiert. Historische Konfliktlinien zwischen Deutschen, Tschechen und Polen sind gerade in der jiingeren Vergangenheit zahlreich. Auf der Basis einer eigens zur Identifikation auch heute noch virulenter Konflikte durchgefiihrten Telefonbefragung sowie der Befunde des Pretests haben wir uns dafiir entschieden, in der Hauptbefragung die Meinung zu vier historischen Vorfallen einzuholen. In alien Gebieten wurde danach gefragt, wie bedeutsam heute noch der deutsche Uberfall auf Polen 1939, die Vertreibung Deutscher aus Polen nach 1945, die Zerschlagung der Tschechoslowakei durch die Nationalsozialisten 1939 sowie die Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei nach 1945 eingeschatzt werden. Es werden also jeweils bilaterale Konflikte erfasst. Generell meint mindestens die Halfte aller Befragten, dass die erwahnten historischen Begebenheiten heute noch Bedeutsamkeit besitzen. Die Unterschiede im AusmaB der Bedeutsamkeitszuweisung zwischen den Erhebungsregionen sind gering (Abbildung 24). Generell gilt, dass auslandische Befragte vor allem dann die Bedeutsamkeit eines historischen Konflikts betonen, wenn die eigene Nation davon betroffen war: Fast drei Viertel der Polen meinen, dass sowohl der Uberfall auf, als auch die Vertreibung Deutscher aus Polen
92
Messinstrumente
heute noch eine Rolle spielen. Ahnlich hoch fallen die Werte aus, wenn die Tschechen die Annexion ihres Landes bzw. die Vertreibung der Sudetendeutschen einschatzen sollen. Es ist nicht unplausibel anzunehmen, dass diese Konflikte gerade im Ausland im Zuge der EUOsterweiterung emeut ins Bewusstsein gehoben werden, Vergleichsdaten aus Umfragen von vor fiinf oder zehn Jahre liegen aber leider nicht vor. Fiir die beiden deutschen Stichproben ist demgegeniiber keine Aktivierung bzw. Mobilisiemng festzustellen. Die Grenzregionen erachten die Konflikte sogar etwas seltener als bedeutsam als die Befragten der Reprasentati vs tichprobe. Dieser tendenziell vorhandene, aber nicht signifikante Unterschied zwischen den beiden deutschen Stichproben ist darauf zuriickzufiihren, dass vor allem die ostdeutschen Befragten in den Grenzregionen seltener Konflikten Bedeutsamkeit attestieren (Abbildung 25). Dies ist in der Reprasentativstichprobe nicht der Fall. Insofern kann man nicht behaupten, dass der Umgang der Ostdeutschen mit der Vergangenheit ein anderer ist als der der Westdeutschen."^"^ Einen besonderen Bezug zur Vergangenheit scheinen die bayerischen Befragten zu haben: Hier sind iiber 70 Prozent der Meinung, dass die Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei nicht an Bedeutung verloren hat. Dies ist nicht unerwartet, da sich viele Sudentendeutsche nach der Vertreibung genau in diesem Landstrich niedergelassen haben. Insofern werden viele Befragte selbst betroffen sein bzw. Verwandte haben, denen das Schicksal der Vertreibung widerfahren ist. Hinzu kommt die Sudetendeutsche Landmannschaft, die die Erinnerung an die Ereignisse aufrechterhalt. In diese Erinnerung mischten sich in der Vergangenheit auch haufiger Stimmen, die die Vertreibung und die ihr zugrunde liegenden Benes-Dekrete als Unrecht klassifizierten und eine Aufarbeitung, z.T. sogar eine Rticknahme forderten. Die tschechische Seite reagiert auf diese Stimmen in der Regel verstandnislos. In diesem Sinne wird die Erinnerung an die Vergangenheit zum Ausgangspunkt aktueller Konflikte zwischen der bayerischen und tschechischen Seite. Ob und wann sich der Grundkonflikt um die Vertreibung beilegen wird, ist unklar. Wie sich empirisch zeigt, steht er aber mit einem allgemein schlechteren Klima gegenseitiger Wahmehmung in dieser Region in Verbindung (Boehnke et al. 2006; Baier 2005b) und erweist sich als Hindernis fiir das transnational Zusammenwachsen. Personen, die einen Konflikt als bedeutsam erachten, neigen auch dazu, dies bei anderen Konflikten zu tun. Die vier genannten Items bilden eine hoch reliable Skala, deren Konsistenzkoeffizient in keiner Stichprobe unter 0,84 (Cronbachs Alpha) liegt. Die deskriptive Auswertung der so gebildeten Skala zeigt, dass die Polen alles in allem das am starksten ausgepragte Bewusstsein fiir die Vergangenheit haben und sich darin auch signifikant von den deutschen Befragten beider Stichproben unterscheiden. Nur in der deutschen Grenzregion gibt es einen West-Ost-Unterschied derart, dass die Bayern haufiger Konflikten Bedeutsamkeit zumessen.
Zieht man in Betracht, dass in der DDR die historischen Beziehungen nahezu keine Rolle - weder im Schulunterricht noch in der Politik - gespielt haben, da nach 1949 laut verkiindeter Doktrin ein neues, landertibergreifendes, sozialistisches Zeitalter angebrochen war („B ruder lander"), wai^e zu vermuten gewesen, dass Ostdeutsche generell seltener Vorfallen aus der vorsozialistischen Zeit Bedeutsamkeit zumessen. Die Konflikte mo gen zu DDR-Zeiten generell eher latent geblieben sein (vgl. Holly 2002), entsprechend der Befunde zu Stichprobe (1) wurden sie aber weder verges sen noch verdrangt.
Deskriptive Auswertungen
93
Abbildung 24: Die Bedeutsamkeit historischer Konflikte (Anteile „bedeutsam" und „sehr bedeutsam", in %, in Klammern = signifikante Gruppenunterschiede) Betrachten wir die Zusammenhange, die zwischen den fiinf unterschiedenen Bedrohungsgefuhlen und der Bewusstheit historischer Konflikte bzw. vorhandenen Kontakten bestehen, dann zeigt sich folgendes Bild (Tabelle 20): Nur in vier von zwanzig moglichen Fallen existieren positive Beziehungen zwischen der Bewusstheit historischer Konflikte und Bedrohungsgefiihlen. Wer in Polen die Konflikte auch heute noch als bedeutsam erachtet, der neigt auch eher zu negativen Stereotypen und Intergruppenangst. Bei den tschechischen Befragten lasst sich damit eine hohere kollektive Bedrohungswahmehmung vorhersagen. Diese Befunde sind konsistent mit der Threat-Theory. In der deutschen Grenzregionenstichprobe hingegen sind diese Zusammenhange negativ, d.h. hier schiitzt ein historisches Bewusstsein davor, Bedrohungen auszubilden. Dies gilt, wie weitergehende Analysen bestatigen, sowohl fiir die bayerischen als auch die ostdeutschen Befragten. In diesem Sinne schiitzt historisches Bewusstsein vor negativen Einschatzungen. Die Korrelationen sind zwar eher gering, ftir die Threat-Theory bedeuten sie dennoch eine Herausforderung. Wie bereits im vorangegangenen Abschnitt erwahnt, scheinen unterschiedliche Kontextbedingungen die Beziehungen der in der Theorie angesprochenen Variablen zu beeinflussen. Konfliktwahmehmungen mogen dementsprechend dann positive Folgen zeitigen, wenn sie Ergebnis eines niichtemen Blicks auf die Vergangenheit sind und wenn eigene Schuld nicht verdrangt wird.
94
Messinstrumente
Abbildung 25: West-Ost-Unterschiede in der Einschatzung der Bedeutsamkeit historischer Konflikte (in %; * p < .05, ** p < .01) Fiir die Darstellung der Wirkungen der Kontakte wurden zwei Variablen gebildet. Die erste erfasst, ob Befragte angaben, iiberhaupt Kontakte mit Personen der Nachbarnation gehabt zu haben (unabhangig davon, um welche Nationalitat es sich dabei handelte). Die zweite Variable gewichtet die Kontakte noch einmal mit der Bewertung. Insofem gehen nur die Befragten mit dem Wert „1" in die Analyse ein, die angenehme Kontakte batten, alle anderen erhalten den Wert „0", ungeachtet dessen, ob sie iiberhaupt keine Kontakte oder negativ empfundene Kontakte batten. Dabei zeigt sich einerseits recht deutlich, dass die vorhandenen Kontakte generell einen Beitrag zur Reduktion von Bedrohungsgefiihlen leisten. Die Beziehungen sind iiberall negativ, d.h. Personen mit Kontakten auBem weniger Bedrohungsgefuhle. Andererseits bestatigt sich die bereits von AUport getroffene Feststellung, dass es vor allem besonders strukturierte Kontakte vermogen, positive Wirkungen zu entfalten. Die Beziehungen zu den Bedrohungen fallen hoher aus, wenn die Personen mit angenehmen Kontakten von alien anderen unterschieden werden. Dennoch verbleiben die beobachteten Korrelationen im geringen bis mittleren Bereich. Einige andere Einflussfaktoren, die u.a. in der Threat-Theory angesprochen werden, stehen in den nachfolgenden Kapiteln im Zentrum der Prtifung. An dieser Stelle kann zusammengefasst werden, dass das Erleben von Bedrohungen durchaus auf das Fehlen von Kontakten zuriickzufuhren ist oder umgekehrt, dass der Aufbau von subjektiv angenehmen Kontakten Bedrohungsgefuhle
Deskriptive Auswertungen
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infolge der EU-Osterweiterung abzubauen hilft. Fiir die Geschichtsbilder lasst sich demgegeniiber kein einheitliches Muster ausmachen, was wohl auf die Mehrdeutigkeit der Einschatzung eines Konflikts als historisch bedeutsam zuriickgefiihrt werden muss. Tabelle 20: Interkorrelationen zwischen Kontakten sowie Geschichtsbildem und Bedrohungsgefiihlen^ Bewusstheit historischer Konflikte D D PL CZ (1) (2) (3) (4)
Realistischkollektive Bedrohungen Symbolischkollektive Bedrohungen Realistischindividuelle Bedrohungen Negative Stereotype Konfliktreiche KontaktEinschatzung
-0,14
Kontakte D (1)
D (2)
PL (3)
0,12 -0,06 -0,09
Angenehme Kontakte CZ (4)
D (1)
D (2)
PL (3)
CZ (4)
-0,11 -0,16 -0,13 -0,11 -0,12
0,19 -0,08 -0,11 -0,19 -0,10 -0,15 -0,18 -0,17 -0,14 -0,11
-0,21
-0,11
-0,23
0,15
-0,10
-0,16 -0,10 -0,16
-0,10 0,20
-0,14
-0,21
^ nur signifikante Spearmans p bei p < .05
4.4
Rechtsextreme Einstellungen
Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ist mit rechtsextremen Einstellungen eine spezifische Vorstellung zum Zusammenleben verschiedener vor allem nach nationalen Merkmalen unterscheidbarer sozialer Gruppierungen angesprochen. Ethnozentrische Sichtweisen spielen dabei eine zentrale Rolle. Sie lassen sich als Aufwertung der nationalen Eigengruppe bei gleichzeitiger Abwertung nationaler Fremdgruppen definieren. Die eigene Nation und ihre Positionierung zu anderen Nationen bzw. Nationalitaten stehen im Zentrum rechtsextremer Einstellungen (vgl. Falter 2000; Kleinert/de Rjike 2000; Moller 1998; Winkler 2000). In verschiedenen anderen Definitionen dessen, was unter Rechtsextremismus zu verstehen ist, werden dariiber hinaus noch weitere Charakteristika genannt. So zahlen manche Autoren Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und sogar Autoritarismus dazu. Recht popular ist der Ansatz von Heitmeyer (1989), der Rechtsextremismus in eine Einstellungsund eine Verhaltensdimension aufteilt. Erstere ist durch eine Ideologic der Ungleichheit gekennzeichnet, d.h. rechtsextremes Denken unterscheidet kategorisch zwischen der Eigenund der Fremdgruppe, wobei der Fremdgruppe zugieich fundamentale Rechte abgespro-
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Messinstrumente
chen werden, was als Legitimation ihrer Ungleichbehandlung dient. Die zweite Dimension ist die Gewaittatigkeit, d.h. rechtsextreme Einstellungen manifestieren sich sowohl in einer generellen Gewaltbefiirwortung als auch in der tatsachlich voilzogenen Gewaittatigkeit gegen Fremdgruppen. Dass Gewaltbefiirwortung ein Bestandteil von Rechtsextremismus ist, wird von verschiedenen anderen Autoren allerdings bezweifelt; es wird moniert, dass damit eine zu starke Fokussierung auf den jugendlichen Rechtsextremismus stattfindet (Rippl 2005). Ursachen rechtsextremen Denkens mtissen mittlerweile vermehrt auch in der Mitte der Geselischaft gesucht werden (Hadjar 2004). Diese Entwicklung wiirde nicht sichtbar, wenn man neben Einstellungs- auch Verhaltensaspekte als integrale Bestandteile von Rechtsextremismus auffasst. Da es Anliegen dieser Untersuchung ist, die Potenziale fiir die Mobilisierung von Rechtsextremismus im Zuge der EU-Osterweiterung in der allgemeinen Bevolkerung und nicht in einer spezifischen Gruppe zu analysieren, konzentrieren wir uns nachfolgend allein auf verschiedene EinstellungsmaBe. Erfasst wurden nationalistische, fremdenfeindliche und antisemitische Einstellungen sowie kontrastive Sympathie-Einschatzungen anderer Nationen. In diesem Abschnitt werden deskriptive Befunde zu diesen Konstrukten vorgestellt. Nationalismus wurde liber die Zustimmung zu vier Items erfasst. Es handelt sich um eine Eigenkonstruktion auf der Basis von Aussagen aus Programmen deutscher rechtsextremer Parteien (NPD, DVU, Die Republikaner).^^ Hierzu wurden die zentralen Positionen dieser Parteien zu anfanglich elf Aussagen flir den Pretest zusammengefasst. Da diese z.T. Uberschneidungen mit der Erfassung fremdenfeindlicher Haltungen aufwiesen (s.u.), wurden liber Faktorenanalysen diejenigen Aussagen in die Hauptuntersuchung ubernommen, die eine eigenstandige Dimension, den Nationalismus, bildeten. Flir die einzelnen Aussagen zeigt sich nun (Abbildung 26), dass sich die auslandischen Befragten sehr viel haufiger zustimmend auBerten als die Deutschen. Beim ersten Item, mit dem sich noch die wenigsten Polen und Tschechen einverstanden erklarten, sind es dennoch liber zwei Drittel der Befragten dort, die eher bzw. voll und ganz zustimmten. Bei den anderen drei Items liegt die Unterstlitzung mindestens bei 75 Prozent; die Identitat zu wahren bzw. die nationale Gemeinschaft zu schlitzen ist im Prinzip alien Polen und Tschechen ein Anliegen. Die deutschen Befragten stimmen zwar alien Items signifikant weniger zu, aber gerade die letzten beiden Aussagen erhalten auch hier sehr hohen Zuspruch. In Bezug auf die vier Items finden sich signifikante Unterschiede zwischen der Reprasentativstichprobe und der Grenzregionenstichprobe, was sich wiederum im Sinne unserer Mobilisierungsthese deuten lieBe. Vergegenwartigt man sich noch einmal, dass die Statements auf Parteiprogramme rechtsextremer (deutscher) Parteien zurlickgehen, dann ist das AusmaB der Verbreitung nationalistischen Denkens sicherlich hoher als erwartet, da bei mindestens zwei von flinf Befragten die Einstellungen nationalistisch gefarbt sind. Aufgrund des Pretests kann angenommen werden, dass die vier zur MesDiese Sti'ategie der Skalenkonstruktion unter Rekurs auf die Standpiuikte Dritter, die sich dezidiert als nationalistisch bezeichnen, kann vor allem flir den deutschsprachigen Raum Validitat beanspruchen, Fraglich ist, inwieweit damit auch Nationalismus im interkulturellen Vergleich erfasst werden kann. Rechtsextreme, nationalistische Standpunkte mogen in Polen oder der Tschechischen Republik anders artikuliert werden. Die im Folgenden geschilderten empirischen Validitatsprlifungen sprechen jedoch implizit gegen eine solche Annahme.
Deskriptive Auswertungen
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sung von nationalistischen Einstellungen genutzten Variablen zu einem einzigen Faktor gehoren. Allerdings fand der Pretest nur an deutschen Befragten statt, interkulturelle Unterschiede in der Skalenqualitat konnten also durchaus existieren. Die in Tabelle 21 aufgefiihrten Faktorladungen und Trennscharfen bestatigen dies zu einem gewissen Grade.
Abbildung 26: Nationalistische Einstellungen (Anteile „stimme eher zu" iind „stimme voll und ganz zu", in %, in Klammern = signifikante Gruppenunterschiede) In Deutschland und in Polen betragen die Faktorladungen der einzelnen Items durchweg iiber .70. In der Tschechischen Republik hingegen stellt das erste Item eine Ausnahme dar, da es nur schwach auf dem Generalfaktor ladt. Eine Erklarung hierfur ist im Nachhinein schwer zu finden. Das Item unterscheidet sich in seinem Wortlaut im Vergleich zu den anderen sowohl darin, dass nach „Werten" gefragt wird als auch dass der „Nationalstaat" erwahnt wird. Finer dieser Begriffe mag in der Tschechischen Republik andere Assoziationen wecken als in den anderen Erhebungsregionen. Die historisch gesehen erst kiirzlich
98
Messinstrumente
erfolgte Trennung von der Slowakei mag diffuse Vorstellungen dazu hervorrufen, was eigentlich in der Tschechischen Republik gemeint ist, wenn von „unserem Nationalstaat" die Rede ist. Vergleicht man den Reliabilitatskoeffizienten einer um dieses Item gekiirzten Skalen-Version mit der Vier-Item-Version, so steigt dieser in Stichprobe (4) an. Zugleich ist der Rlickgang in den anderen Stichproben als geringfligig zu bezeichnen, so dass die Nutzung dieser gekiirzten Skala fiir weitere Ausvs^ertungen durchaus angebracht scheint. Damit kann auch ausgeraumt werden, dass eventuell vorhandene Beziehungen zwischen symbolischen Bedrohungsgefiihlen und nationalistischen Einstellungen auf Ubereinstimmungen im Wortlaut einzelner Items dieser Skalen zuriickgefiihrt werden k5nnen.^^ TabeDe 21: Analyse der Nationalismusskala Item
Faktorladung (konfirmatorisch) D D PL CZ (1) (2) (3) (4)
Trennscharfe D (1)
D (2)
PL (3)
CZ (4)
DieWerteunseresNationalstaates werden zu wenig geschutzt. Es schadet uns, wenn sich Deutschland/Polen/die Tschechische Republik als unabhangiger Staat aufgibt. Esistwichtig,unserekulturelleund nationale Identitat zu wahren. Unsere nationale Gemeinschaft, Kultur und Wirtschaft muss geschutzt werden.
0,82
0,79
0,89
0,83
0,63
0,57
0,70
0,55
Cronbachs Alpha (Items 1-4)
_
_
_
_
o,78
0,75
0,78
0,70
Cronbachs Alpha (Items 2-4)
-
.
.
.
o,73
0,70
0,76
0,77
Betrachtet man sich die Mittelwerte der gekiirzten Skala^^ im Kulturvergleich (Abbildung 27), dann zeigt sich folgendes Bild: Die beiden auslandischen Stichproben erzielen die hochsten Werte und unterscheiden sich signifikant von den deutschen Stichproben. Die Skala ist zugleich sehr rechtssteil, da sich im zustimmenden Bereich die Antworten sammeln. Auch in Deutschland sind die beobachteten Mittelwerte noch deutlich vom theoretischen Mittelwert der Skala (2,5) entfemt. In der Reprasentativstichprobe gibt es wiederum einen West-Ost-Unterschied, Ostdeutsche zeigen sich hier nationalistischer. Dieser Unterschied geht in der Grenzregionenstichprobe verloren, und zwar wiederum auf Basis des ^^ Ein Item der symbolisch-kollektiven Bedrohungen fragt nach der „Bedrohung der eigenen Werte und Normen". ^^ Die Antwortskala reichte von 1 - stimme tiberhaupt nicht zu bis 4 - stimme voll und ganz zu.
Deskriptive Auswertungen
99_
deutlich erhohten Nationalismusniveaus im bayerischen Grenzland. Wenn es also einen Mobilisierungsschub gibt, dann vor allem hier, Der Wert der Ostdeutschen Befragten allgemein und der Wert der ostdeutschen Befragten im Grenzland unterscheidet sich hingegen nicht (3,03 zu 3,05).
Abbildung 27: Nationalismus in den vier Erhebungsgebieten und im West-Ost-Vergleich (Mittelwerte; signifikante Unterschiede, p < .01) Neben Nationalismus wurde im Fragebogen auch Fremdenfeindlichkeit erfasst (Abbildung 28). Die Items hierzu entstammen dem ALLBUS (Item 3 und 4) bzw. der Langzeitstudie „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" (vgl. Heitmeyer 2002). Im Vergleich zu den nationalistischen Statements erhalten die entsprechenden Items deutlich weniger Zustimmung. Die ethnozentrische Aufwertung der Eigengruppe ist denmach ein viel weiter verbreitetes Phanomen als die Abwertung der Fremdgruppe. Bei drei von vier Aussagen sind es die tschechischen Befragten, die das starkste AusmaB an Fremdenfeindlichkeit zeigen, 63,7 Prozent stimmen bspw. der Aussage eher oder voll und ganz zu, dass man Auslander wieder in ihre Heimat schicken sollte, wenn Arbeitsplatze knapp werden. Und immerhin ein Drittel meint, dass er oder sie versucht, sich von Auslandern moglichst fern zu halten. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Analysen zum Nationalismus findet sich aber beziiglich von Fremdenfeindlichkeit, dass die polnischen Befragten nicht die hochsten
100
Messinstrumente
Zustimmungswerte aufweisen. Stattdessen liegen sie in etwa gleicher Hohe mit den deutschen Befragten der Reprasentativstichprobe. Diese divergenten Ergebnisse lassen den Schluss zu, dass Auslander in Polen entweder tatsachlich weniger Ziel von diskriminierenden Einstellungen sind oder aber dass Tschechen und Polen sehr unterschiedliche Bevolkerungsgruppen vor Augen haben, wenn die Rede auf die „Auslander" kommt. Im Rahmen einer quantitativen Studie lasst sich der letzten tJberlegung leider nicht weiter nachgehen. Aber es ist nicht unplausibel zu vermuten, dass sich in den jeweihgen Landem andere Auslandergruppen aufhalten und diese zu anderen Einstellungen in der Bevolkerung fiihren, bspw. dann, wenn sich der Status der Auslandergruppe im Vergleich zu dem der Einheimischen unterscheidet. In Bezug auf die beiden deutschen Stichproben fallt erneut auf, dass die Grenzlandregionen ein signifikant hoheres Niveau der Fremdenfeindlichkeit aufweisen als Deutschland insgesamt. Je nach Item stimmen zwischen 20 und 50 Prozent der Grenzregionenbewohner zu, in Stichprobe (1) schwankt dieser Anteil zwischen 12 und 40 Prozent, d.h. er ist durchgangig mindestens um ein Viertel geringer.
Abbildung 28: Fremdenfeindliche Einstellungen (Anteile „stimme eher zu" und „stimme voll und ganz zu", in %, in Klammern = signifikante Gruppenunterschiede) Da auch diese Skala im Vorfeld getestet wurde und darauf aufbauend angenommen werden kann, dass die Messung eindimensional ist, wurde mit den vier Einzelitems eine konfirmatorische Faktorenanalyse durchgeflihrt. Die Ergebnisse konnen die Eindimensionalitat des Konstruktes eindeutig und fur alle Gebiete bestatigen (Tabelle 22). Die Faktorenladungen
Deskriptive Auswertimgen
101
liegen samtlich iiber 0,70, die Trermscharfen erreichen Werte von 0,50 oder hoher. Die Reliabilitat der Skala ist in Anbetracht der Tatsache, dass es sich nur um cine Vier-ItemSkala handelt, als ausgezeichnet zu bewerten, Cronbachs Alpha liegt iiber 0,75. Tabelle 22: Analyse der Fremdenfeindlichkeitsskala Item D (1)
Ich versuche mich, von Auslandernmoglichstfernzu halten. Ich hatte Probleme, in eine Gegend mit vielen Auslandern zu Ziehen. Wenn Arbeitsplatze knapp werden, sollte man Auslander in ihre Heimat zuriick schicken. Die Auslander sollten sich Ehepartner unter eigenen Landsleuten auswahlen. Cronbachs Alpha (Items 1-4)
Faktorladung (konfirmatorisch) D PL CZ (2) (3) (4)
Trennscharfe D (1)
D (2)
PL (3)
CZ (4)
0,82
0,77
0,78
0,84
0,65
0,57
0,58
0,69
0,76
0,77
0,83
0,85
0,56
0,57
0,65
0,69
0,80
0,79
0,80
0,77
0,62
0,60
0,61
0,59
0,74
0,71
0,71
0,76
0,54
0,50
0,50
0,58
_
_
_
_
0,78
0,76
0,78
0,82
Die deskriptive Auswertung der zusammengefassten Items^^ verdeutlich noch einmal, dass Fremdenfeindlichkeit kein normalverteiltes Phanomen ist, die Mittelwerte in alien Stichproben liegen imter dem theoretischen Mittelwert von 2,5, d.h. die Verteilung ist eher linkssteil (vgl. Abbildung 29). Die Tschechen allerdings erreichen hier die hochsten Werte, Polen und Deutsche der Gesamtstichprobe die niedrigsten. Und wiederum sind es die Bewohner der bayerischen Grenzregion, die im Vergleich zu den Westdeutschen im AUgemeinen haufiger fremdenfeindlich eingestellt sind. Der Unterschied von 1,88 zu 2,11 ist signifikant. Der haufig zu findende West-Ost-Unterschied verschwindet hier, anders als beim Nationalismus, nicht ganz, da auch im Grenzgebiet die Ostdeutschen noch signifikant hohere Mittelwerte erreichen. Die hohere Fremdenfeindlichkeit im Grenzgebiet ist demnach kein alleiniges Resultat des hoheres Ostdeutschen-Anteils, sondern hier spielen weitere Faktoren wie z.B. die exponierte Lage, die Nahe zu osteuropaischen Nachbarn, von denen moglicherweise eine Bedrohung durch die Veranderungen im Zuge der EU-Osterweiterung ausgeht, eine RoUe.
Die Antwortskala reichte von 1 - stimme iiberhaupt nicht zu bis 4 ~ stimme voll und ganz zu.
102
Messinstrumente
Abbildung 29: Fremdenfeindlichkeit in den vier Erhebungsgebieten und im West-Ost-Vergleich (Mittelwerte; signifikante Unterschiede p <.05) Eine ganz besondere Form der Abwertung Anderer stellt der Antisemitismus dar. Dieser weist landerspezifische Charakteristika auf. In Deutschland gab es in der Folge der Auseinandersetzung mit diesem Thema, begleitet von (sozial-)padagogischen MaBnahmen, die dazu beitragen soUten, Antisemitismus zu iiberwinden. Ganz anders in Ostdeutschland und den osteuropaischen Staaten. Die Bekampfung von Antisemitismus spielte in der sozialistischen Doktrin praktisch keine RoUe. Insofern konnten Vor-Kriegs-Denkmuster tiberdauern. Unsere Daten spiegeln dies teilweise wider (Abbildung 30). Als besonders antisemitisch erweisen sich die polnischen Befragten. So stimmt fast die Halfte der Aussage zu, dass Juden im eigenen Land zu viel Einfluss batten. Immerhin noch etwas mehr als ein Drittel ist der Meinung, dass Juden an ihren Verfolgungen eine Mitschuld tragen. Und aucb jeder Vierte findet es nicht gut, dass sich wieder mehr Juden im eigenen Land niederlassen. Die tschechischen Befragten stimmen diesen Aussagen mit Ausnahme der ersten fast genauso haufig zu. Sehr viel seltener hingegen vertreten Deutsche derartige Standpunkte. Etwa jeder Sechste bis jeder Zehnte auBerte sich zustimmend. Die Analysen belegen zudem, dass die Grenzregionen in dieser Hinsicht keine erhohten Pravalenzen aufweisen, ein Schub antisemitisch-rechtsextremer Einstellungen zeichnet sich auf den ersten Blick nicht ab. Wie die Auswertungen der Gesamtskala im West-Ost-Vergleich offenbaren werden, stimmt dies aber nur zum Teil (s.u.).
Deskriptive Auswertungen
103
Abbildung 30: Antisemitische Einstellimgen (Anteile „stimme eher zu" und „stimme voll und ganz zu", in %, in Klammern = signifikante Gruppenunterschiede) Zunachst belegt Tabelle 23, dass die drei Items zur Erfassung antisemitischer Einstellungen ohne weiteres zu einer Skala zusammengefasst werden konnen. Die Faktorladungen, Trennscharfen und Reliabilitatskoeffizienten erreichen sehr gute Werte. Insofem gilt der Befund, dass Personen, die einem Item zustimmen sich auch eher den anderen beiden Items gegentiber zustimmend auBem. Nicht unbedingt erwartet werden konnte, dass Ostdeutsche sich in ihrem AusmaB an Antisemitismus (gemessen iiber die 3-Item-Skala^^) nicht von den Westdeutschen unterscheiden. Obwohl es in der Vergangenheit unterschiedliche Formen des Umgangs mit der NS-Vergangenheit gab, wirkt sich dies ebenso wenig auf das Antisemitismusniveau in den beiden deutschen Regionen aus wie der Umstand, dass Ostdeutschland einen rapiden sozialen Wandel erfahren hat, von dem anzunehmen ist, dass er sich auch in den personlichen Einstellungen widerspiegeln sollte. Entsprechende Befunde lieBen sich ja zumindest fiir nationalistische und fremdenfeindliche Einstellungen gewinnen. Bis auf die polnische Stichprobe weisen die Stichproben im Vergleich der bisher betrachteten Einstellungskonstrukte die geringste Zustimmung bei den antisemitischen Aussagen auf. Die Verteilung ist 39
Die Antwortskala reichte von 1 - stimme iiberhaupt nicht zu bis 4 - stimme voll und ganz zu.
104
Messinstrumente
linkssteil. Auffallig ist jedoch emeut die bayerische Grenzregion. Obwohl sich die Grenzregionenstichprobe allgemein nicht signifikant von der Reprasentativstichprobe unterscheidet (1,62 und 1,72) gilt dieser Befund nicht fiir die bayerische Grenzregion. Der Unterschied im Antisemitismus gegeniiber der Reprasentativstichprobe (1,83 vs. 1,61) ist signifikant. Flir die Ostdeutschen ist ein solcher Unterschied nicht feststeilbar, stattdessen kehrt sich das Verhaltnis zwischen West und Ost in gewissem MaBe um: bayerische Befragte stimmten etwas ofter antisemitischen Aussagen zu als Ostdeutsche im Grenzgebiet (nicht signifikant). TabeUe 23: Analyse der Antisemitismusskala Item D (1)
Juden haben in Deutschland/Polen/der Tschechischen Repubhk zu viel Einfluss. Durch ihr Verhalten sind die Juden an ihren Verfolgungen 0,84 mitschuldig. Ich finde es nicht gut, dass wieder mehr Juden in Deutschland/Polen/der Tschechischen Republik leben. Cronbachs Alpha (Items 1-3) _
Faktorladung (konfirmatorisch) D PL CZ (2) (3) (4)
0,83
_
0,88
.
0,84
_
Trennscharfe D (1)
D (2)
PL (3)
CZ (4)
0,62
0,59
0,73
0,64
^^^^
^^^^
o,76
0,75
^^^^ 0,86
0,80
Es zeigt sich bzgl. der Ergebnisse zu Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus, dass es einen erheblichen Unterschied macht, welche Fremdgruppe spezifiziert wird, wenn im Kontext einer Erfassung von Rechtsextremismus und Ethnozentrismus die Abwertung derselben erhoben werden soil. So kommt in Polen die Ablehnung von Auslandern sehr viel seltener vor als die Diskriminierung von Juden. In den anderen Gebieten hingegen sind Auslander haufiger Zielscheibe von Abwertung und Ausgrenzung, Juden etwas seltener. Dies ist kein unerwartetes Ergebnis, da es nur eine Eigengruppe, aber zugleich immer mehrere Fremdgruppen gibt. Um die differenzielle Abwertungsbereitschaft von Fremdgruppen detaillierter erfassen zu konnen, haben wir entschieden, als weiteres MaB eine Sympathieeinschatzung in die Befragung aufzunehmen. Die Befragten wurden gebeten, Angehorige verschiedener Nationen dahingehend zu bewerten, wie sympathisch sie ihnen sind. Natiirlich wurde dabei wiederum nach den beiden direkten Nachbarn gefragt, in Deutschland also nach Polen und Tschechen usw. Zusatzlich wurden 'unbeteiligte' Nationen aufgenommen, unbeteiligt insofern, als sie iiberhaupt nicht zur EU gehoren (Schweizer) oder aber mit der Osterweiterung wenig zu tun haben (Danen). In Tabelle 24 sind nun nicht die Anteile an Befragten abgebil-
Deskriptive Auswertungen
105
det, die die entsprechenden Nationen als sympathisch einstufen, sondern die sozusagen UnSympathie attestieren, da dies als AusmaB an Abwertung zu interpretieren ist. Fiir die beiden deutschen Stichproben findet sich eine identische Reihung. Die beiden unbeteiligten Nationen werden nur sehr selten als unsympathisch eingestuft, Tschechen und vor allem Polen gilt hingegen weniger Sympathie. Interessant ist, dass Ostdeutsche Tschechen signifikant positiver einschatzen als Westdeutsche dies tun; interessant ist ein solcher Befund insbesondere fiir das Grenzland, da hier Bayem Tschechen quasi vor der Haustiire haben, was fiir viele Ostdeutsche, die entlang der deutsch-polnischen Grenze leben, nicht gilt. Und trotz der raumlichen Nahe, die Auswirkungen auf die Kontakthaufigkeit hat, entwickelt sich keine emotionale Nahe. Fiir die polnische und tschechische Stichprobe gilt in ahnlicher Weise, dass gegenuber Schweizern und Danen kaum negative Stimmungen existieren. Fiir polnische Befragte gilt dies auch gegeniiber Tschechen, weniger allerdings gegenuber Deutschen, die 18,9 Prozent von ihnen unsympathisch finden. Bei den Tschechen verdoppelt sich diese Anzahl fast, 32,2 Prozent haben Deutschen gegeniiber Antipathien."^^ Nahere Analysen zeigen, dass es eher die Westbohmen als die Nordbohmen sind, die fiir diesen hohen Anteil verantwortlich sind (Baier 2005b). Im bayerisch-tschechischen Grenzraum scheint also aus beiden Perspektiven ein gestortes Verhaltnis zu existieren.
Abbildung 31: Antisemitismus in den vier Erhebungsgebieten und im West-Ost-Vergleich (Mittelwerte) Dieser Unterschied ist allerdings nur auf dem p<.10-Niveau signifikant, was darauf zuruckzufuhren ist, dass es fast doppelt so viele Tschechen wie Polen gibt, die Deutsche sehr sympathisch finden (18,9 zu 10,9%). Dies senkt den Unterschied, der bei den Mittelwerten besteht, auf den sich die Signifikanzpriifungen ja beziehen.
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Messinstrumente
TabeDe 24: Einschatzung der Sympathie gegeniiber verschiedenen Nationen^ D (1) West Gesamt Ost*'
D (2) West Gesamt Ost
PL (3)
CZ (4)
Signifikante Unterschiede zwischen Regionen*^
Schweizer
12,2
-
8,8
-
3,9
8,7
1/4
Danen
6,6
-
6,9
-
8,8
6,4
3/4
Polen
23,4
30,2
19,5
1/2,1/4,2/4
19,3
16,7
32,1 12,4**
-
Tschechen
7,4
-
1/3,2/3
Deutsche
-
21,1 12,6** -
-
-
18,9
32,2
-
^ in %; Anteile „sind mir unsympathisch" und „sind mir sehr unsympathisch" ^ wird nur aufgefiihrt, wenn West-Ost-Unterschiede signifikant bei * p < .05 bzw. ** p < .01 (nach Kontrolle von Alter, Geschlecht, HaushaltsgroBe und Schulbildung) ' Scheffe-Test, p < .05 Fiir Deutsche, Polen und Tschechen gilt, dass alle Sympathieeinschatzungen positiv miteinander korrelieren. Dabei sind die Korrelationen z.T. jedoch recht gering, so dass aus ihnen ein einziges Konstrukt zur Erfassung ethnozentrischer Einstellungen nicht gebildet werden sollte. Fiir deutsche Befragte gibt es stattdessen zwei Faktoren: Sympathien fiir Schweizer und Danen fallen ahnlich aus, Sympathien fiir Polen und Tschechen sind davon eher unabhangig. Den ersten Faktor kann man ebenfalls bei den beiden anderen Stichproben finden. Fiir die tschechische Stichprobe wiirde zu diesem Faktor zusatzlich die Sympathieeinschatzung gegeniiber den Deutschen gehoren (Korrelation mit der Bewertung der Schweizer 0,49, der Danen 0,46), bei den Polen fallen diese Korrelationen geringer aus (0,19 und 0,34). Um aber kulturiibergreifend gleiche Konstrukte zu bilden, soUen an dieser Stelle fiir alle Stichproben nur die Einschatzungen fiir Danen und Schweizer zusammengefasst werden. Fiir die deutschen Stichproben wird zusatzlich noch eine Variable „Antipathie gegeniiber Polen und Tschechen" bestimmt. Tabelle 25: Interkorrelationen zwischen den verschiedenen Sympathieeinschatzungen^
Schweizer Danen Polen Tschechen
Danen
Polen
Tschechen
Deutsche
0,44/0,46/0,66/0,81
0,21/0,26/ - /0,46
0,24/0,17/0,25/ -
-/-/0,19/0,49
0,21/0,16/-/0,42
0,27/0,27/0,31/-
- / - /0,34/0,46
0,47/0,39/ - / -
-/-/-/0,33 -/-/0,16/-
^ Spearmans p; alle Korrelationen signifikant bei p < .01; 1. Koeffizient = D-Reprasentativstichprobe, 2. = DGrenzregionenstichprobe, 3. = PL-Grenzregionenstichprobe, 4. = CZ-Grenzregionenstichprobe
Deskriptive Auswertungen
107
Tabelle 26: Interkorrelationen zwischen den verschiedenen Konstrukten zur Erfassiing rechtsextremer EinsteUungen^ Fremdenfeindlichkeit Nationalismus (3 Items) Fremdenfeindlichkeit Antisemitismus Antipathie gegeniiber Schweizern/Danen
0,51**70,49**/ 0,11*70,18**
Antisemitismus 0,36**/0,28**/ 0,15**70,05 0,43**70,46**7 0,45**70,34**
Antipathie gegen- Antipathie gegeniiber iiber Schweizern/ Polen/Tschechen Danen -0,057-0,017 -0,0170,03
0,26**70,20**7 -7-
0,07*70,17**7 0,21**70,21** 0,10**70,11*7 0,047-0,01
0,38**70,31 -70,25**70,21**7 -70,30**70,31**7 -7-
^ Spearaians p; ** p < .01, * p < .05; 1. Koeffizient = D-Reprasentativstichprobe, 2. = D-Grenzregionenstichprobe, 3. = PL-Grenzregionenstichprobe, 4. = CZ-Grenzregionenstichprobe Betrachtet man sich die West-Ost-Unterschiede fiir die so entstandenen Variablen'^\ so ist zu konstatieren (ohne Abbildung), dass sich in beiden deutschen Stichproben die Einschatzungen bzgl. der Schweizer7Danen nicht signifikant unterscheiden. Anders hingegen das Ergebnis flir die Einschatzung der Polen/Tschechen. Wie schon vermutet werden konnte, ist es wiederum die bayerische Grenzregion, die sich signifikant von Westdeutschland im Allgemeinen unterscheidet. Demgegeniiber haben Ostdeutsche allgemein und ostdeutsche Grenzregionenbewohner im Besonderen keine differierenden emotionalen Bezlige zu diesen beiden Nationen. Die Befunde zum AusmaB rechtsextremer Einstellungen lassen sich nun wie foigt resiimieren: 1. Eigengruppenaufwertung (nationalistische Einstellungen) ist in alien Gebieten haufiger anzutreffen als Fremdgruppenabwertungen. 2. Auslandem gegeniiber sind die Einstellungen zumindest in Deutschland und der Tschechischen Republik ablehnender als gegeniiber Juden. In Polen sind antisemitische Einstellungen verbreiteter. 3. Die Ablehnung konkreter Nationen findet sich in etwa genau so haufig wie die Ablehnung von Auslandem im Allgemeinen. Es gibt aber betrachtliche Unterschiede zwischen den Einschatzungen der einzelnen Nationalitaten. So finden Deutsche Polen und Tschechen sehr viel haufiger unsympathisch als Danen oder Schweizer. Im Fall der Polen und Tschechen gilt, dass im Vergleich der vier Gruppen Deutschen die geringste Sympathie entgegengebracht wird. In der Tschechischen Republik finden beispielsweise fiinfmal mehr Menschen Deutsche unsympathisch als Danen. 4. Fiir alle hier vorgestellten Konstrukte gilt der Befund, dass westdeutsche GrenzregioDie Antwortskala reichte von 1 - sind mir sehr unsympathisch bis 4 - sind mir sehr sympathisch.
108
Messinstrumente nenbewohner (Bayern) sich in ihren Einstellung von Westdeutschen insgesamt unterscheiden und sich den Ostdeutschen annahem. Die bayerischen Grenzbewohner sind nationalistischer, fremdenfeindlicher, antisemitischer und empfinden weniger Sympathie fiir Polen und Tschechen als Westdeutsche im Allgemeinen. In Bezug auf die Sympathieeinschatzung wird dies von tschechischer Seite erwidert, hier wird Deutschen gegeniiber besonders haufig Antipathie empfunden. Inwieweit sich diese Befunde mit der These des MobiUsiemngsschubs rechter Einstellungen auf Basis der drohenden Verandemngen durch die EU-Osterweiterung verbinden lassen, werden nachfolgende Auswertungen zeigen. Es stellt sich aber heraus, dass insbesondere die bayerische Grenzregion flir derartige Analysen geeignet erscheint. Die verschiedenen Konstrukte zur Erfassung rechtsextremer Einstellungen korrelieren zwar positiv, eine Zusammenfassung zu einem Konstrukt zweiter Ordnung ist aber nicht sinnvoll. Dies kommt auch in den in Tabelle 26 dokumentierten Korrelationen zum Ausdruck. Am ehesten lieBe sich in den beiden deutschen Stichproben ein solches Konstrukt zweiter Ordnung vermuten, wobei die Antipathie fiir Schweizer/Danen ausgeschlossen werden miisste. Aber auch die Zusammenhange zwischen Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und der Antipathie gegeniiber Polen/Tschechen sind eher mittelmaBig. Insofern erfassen die Konstrukte verschiedene Aspekte rechter Einstellungen und soUten getrennt in Analysen eingehen. Dies unterstreichen auch die Befunde der auslandischen Stichproben. Insbesondere Nationalismus korreliert in Polen und der Tschechischen Republik nur sehr geringfiigig mit Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus. Dies ist darauf zuriickzufiihren, dass eine groBe Mehrheit der Menschen dort nationalistische Einstellungen favorisiert. Diese konnen dann kein gutes Korrelat fiir andere Einstellungen sein, die deutlich seltener vorkommen. Ein Merkmal, was in einer Gruppe nicht oder kaum variiert, kann nicht mit der Variation eines anderen Merkmals in Verbindung stehen. Sehr ahnlich in alien Stichproben sind die Beziehungen, die zwischen Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus bestehen. Dies waren dementsprechend die einzigen Skalen, die sich zusammenfassen lassen wiirden. AUerdings wiirden wir uns damit die Moglichkeit nehmen, Antisemitismus im Kulturvergleich gesondert zu analysieren. Im Sinne dieser Uberlegungen erfolgt keine weitere Zusammenfassung von Skalen zur Erfassung rechter Einstellungen.
4.5
Zusammenfassung zentraler Befunde
Mit der hier vorgelegten Studie soil unter anderem ein Stimmungsbild der Bevolkerung in Deutschland vor der EU-Osterweiterung entworfen werden. Besonderes Augenmerk gilt dabei den Grenzregionen, die aufgrund der raumlichen Nahe quasi als Testfall der europaischen Integration gesehen werden konnen. Spiegelbildlich werden auch die Sichtweisen der polnischen und tschechischen Grenzregionen betrachtet. Die wichtigsten Befunde dieser ersten primar deskriptiven Analysen lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. Es findet sich eine durchgehend positive Haltung zur EU-Osterweiterung in alien betrachteten Gebieten.
Deskriptive Auswertungen 2.
109
Uberraschenderweise ist das Gefiihl der Verbundenheit mit Europa im polnischen und tschechischen Grenzgebiet deutlich starker als in Deutschland. Im deutschen Grenzgebiet findet sich die geringste Verbundenheit. 3. Ein relativ groBer Teil der Befragten zeigt deutliche Desintegrationswahrnehmungen insbesondere im struktureilen und institutionellen Bereich. Die Belastungen sind - wie zu erwarten - im Grenzgebiet hoher als in Gesamtdeutschland. Im Vergleich der Grenzgebiete erreichen die Polen die hochsten Werte. 4. Bedrohungen durch die EU-Osterweiterung werden insbesondere auf der kollektiven Ebene und weniger auf der individuellen Ebene wahrgenommen. Die symbolischen Bedrohungsgefiihle sind schwacher als die realistischen. Dieses Muster findet sich in alien Stichproben. Hinsichtlich des Niveaus der Bedrohungsgefiihle zeigt sich in den Grenzregionen haufig ein hoheres Niveau, \yobei Polen die hochsten Werte erreichen. 5. Negative Stereotype gegenliber der Fremdgruppe finden sich in alien Stichproben, wobei die Merkmale und deren Gewichtung je nach Fremdgruppe variieren. Deutsche werden hier insbesondere als egoistisch gesehen. Deutsche schreiben Polen vor allem das Attribut ,krimineir zu, Tschechen wird Riickstandigkeit attestiert. Es finden sich aber auch positive Stereotype, die durchweg hohere Zustimmung aufweisen als die negativen. 6. Intergruppenangste sind bei den Polen am schwachsten ausgepragt. Bei Deutschen und Tschechen findet sich ein ahnliches, allerdings im Durchschnitt recht niedriges Niveau. 7. Etwa die Halfte der deutschen Befragten hat Kontakte zu Polen oder Tschechen, die von fast 90 Prozent auch als angenehm bewertet werden. Polen weisen eine deutlich hohere Kontaktintensitat mit Deutschen auf als Tschechen, die Bewertung der Kontakte fallt auch hier sehr positiv aus. 8. Friihere Gruppenkonflikte werden von mehr als der Halfte aller Befragten als bedeutsam eingestuft. Eine genauere Einschatzung, wie diese Bedeutsamkeit interpretiert wird, lassen unsere Daten leider nicht zu. 9. Nationalistische Einstellungen sind in den Grenzregionen deutlich starker ausgepragt als in der deutschen Gesamtstichprobe, was mit den sozialstrukturellen Besonderheiten der in den Grenzregionen lebenden Bevolkerung und mit der „geographisch" unmittelbaren Betroffenheit durch die EU-Osterweiterung in Zusammenhang stehen konnte. Im Vergleich der Grenzregionen erreichen Polen und Tschechen ein deutlich hoheres Niveau als die deutschen Befragten. Die hochsten Werte erreichen hier die Polen. 10. Etwas anders ist das Bild bei fremdenfeindlichen Einstellungen. Hier erreichen die Polen das niedrigste Niveau von alien, wohingegen diese Haltungen in der Tschechischen Republik starker verbreitet sind als in alien anderen Regionen. 11. Ganz anders wiederum das Bild beim Antisemitismus: Diesen bringen polnische Befragte recht unverhohlen zum Ausdruck, wahrend das Antisemitismusniveau in Deutschland am geringsten ist. 12. Betrachtet man zuletzt die wechselseitigen Sympathieeinschatzungen so zeigt sich, dass 20-30 Prozent der deutschen Befragten Ressentiments gegeniiber Polen und Tschechen haben. Im polnischen Grenzgebiet fallt die Sicht auf die deutschen Nachbam deudich positiver aus als dies vis-a-vis der Fall ist. Die Bewohner des tschechi-
110
Messinstrumente
schen Grenzgebietes zeigen hingegen eine deutlich negativere Haltung gegeniiber ihren deutschen Nachbam als dies bei Deutschen gegeniiber Tschechen der Fall ist. Insgesamt findet sich damit zwar eine prinzipiell positive Bewertung der EU-Osterweiterung, die aber von negativen Rahmenbedingungen begleitet wird. Trotz der positiven Haltung sind Desintegrationserfahrungen, Angste, Stereotype und Ressentiments vorhanden, die auch zu negativen Formen der Verarbeitung dieses Ereignisses fiihren konnten. Eine vertiefende Analyse dieser potenziellen Gefahren liefem die folgenden Kapitel. Kapitel 5 greift dabei zunachst die in Kapitel 2 dargelegten theoretischen Uberlegungen in modifizierter Form auf und unterzieht sie einem empirischen Test. Kapitel 6 wendet sich der Frage zu, welche Rolle einem Personlichkeitsmerkmal wie dem des Autoritarismus im Kontext der Deutung von Sorgen um die EU-Osterweiterung als eine Art Motor von Nationalismus in seinen verschiedenen Facetten zukommt. In diesem Kapitel werden auch einige deskriptive Analysen zur Verbreitung von Autoritarismus in den vier befragten Stichproben vorgestellt. Kapitel 7 wendet sich der Bedeutung von Hierarchischem Selbstinteresse (HSI), einer Art intemalisierter, der kapitalistischen Form des Wirtschaftens immanenter EUenbogenmentalitat (Hadjar 2004), fiir die Genese von Nationalismus in seinen verschiedenen Facetten zu. Kapitel 8 priift die zuvor vorgetragenen Einzelbefunde in einem komplexen Strukturgleichungsmodell. Das abschlieBende Kapitel 9 versucht eine Gesamtwtirdigung der Befunde der hier vorgestellten Studie und erortert diese aus einer angewandten Perspektive der Politikberatung und gibt gleichzeitig einen Ausblick auf zukiinftige Forschung.
5.
Bedrohungsgefiihle als Reaktion auf politischen Wandel durch die EU-Osterweiterung
5.1
Bedrohungstheorien als Erklarungsansatze
Wie bereits erwahnt, stellt das Bedrohungskonzept in der hier vorgelegten Studie das zentrale Bindeglied zwischen Wandlungsprozessen auf der Makroebene und den Reaktionen auf der Mikroebene dar. Das Konzept der Bedrohung wird in der wissenschaftlichen Diskussion um die Entstehung diskriminierender Einstellungen zunehmend diskutiert (Quiilian 1995; Stephan/Stephan 2000; Mc Laren 2003). Dabei werden Bedrohungsgefiihle als direkte Pradiktoren fiir die Entstehung von Vorurteilen gesehen. In den meisten theoretischen Ansatzen wird das Konzept der Bedrohung allerdings primar auf die Bedrohung durch Fremdgruppen bezogen. Wir verwenden in unseren Uberlegungen einen umfassenderen Bedrohungsbegriff. Bedrohungsgefiihle konnen nicht nur durch Ungleichgewichte in Intergruppenbeziehungen ausgelost werden, sondern Bedrohungen sind ein grundlegenderes Phanomen, das primar dann auftritt, wenn vorhandene Strukturen verandert werden (Olzak 1992). Solche Strukturen konnen etabherte Relationen zwischen Gruppen sein, es kann sich aber auch um politische Institutionen oder andere Rahmenbedingungen handeln, die durch das Ereignis EU-Osterweiterung verandert werden. Dementsprechend werden Bedrohungsgefiihle nicht alleine auf die koUektive Ebene beschrankt. Bedrohungsgefiihle konnen sich auch auf individuelle Befindlichkeiten beziehen. Ich kann mich personlich von Arbeitslosigkeit bedroht sehen oder ich kann meine Eigengruppe von zunehmender Arbeitslosigkeit bedroht sehen. Negative oder diskriminierende Tendenzen auf der Gruppenebene (Fremdenfeindlichkeit) als Folge der Bedrohungswahmehmung werden dann erwartet, wenn die Verantwortung ftir die Bedrohung in anderen Gruppen gesehen wird. Das Bedrohungskonzept wird im Kontext dieser Studie zum einen als Verbindungsglied zwischen Ereignissen der Makroebene und Entwicklungen auf der Mikroebene gesehen (vgl. Kapitel 2). Zum anderen erweist sich das Konzept als fruchtbar, da es im Rahmen der Theorie nahe liegt emotionale Aspekte (Besorgnisse und Angste) einzubeziehen (vgl. Kapitel 2). Emotionale Einflussfaktoren wurden lange in der von Kognitionsstudien dominierten Sozialpsychologie vernachlassigt. In der gegenwartigen Diskussion um die Wirkungen von Bedrohungserfahrungen lassen sich verschiedene Argumentationsstrange unterscheiden. In einer frlihen Fassung der Threat-Theory wird die Wirkung von Bedrohungen in einer Intergruppen-Perspektive von Sherif und Sherif (1979) untersucht. Dabei stehen die so genannten 'realistischen' Bedrohungen um okonomische und politische Ressourcen im Vordergrund. Die faktische Anwesenheit einer entsprechend groBen Gruppe kann von Angehorigen einer anderen Gruppe als genuin konflikttrachtig wahrgenommen werden und Konkurrenzgefuhle wachrufen. Sowohl Quiilian (1995) als auch Taylor (1998) finden in
112
Bedrohungsgeflihle
ihren empirischen Studien, dass sich ein hoherer Bevolkerungsanteil einer auslandischen Bevolkerung in auslanderfeindlichen Einstellungen der autochthonen Bevolkemng niederschlagt. Demgegeniiber zeigen McLaren (2003) und Wagner et al. (2006), dass ein hoherer Bev51kerungsanteil nicht notwendig als Bedrohung interpretiert wird; er erhoht auch die Chancen fiir interkulturelle Kontakte, liber die die Ausbildung rechtsextremer Einstellungen verhindert wird. Deshalb konstatiert bereits Quillian (1995: 607): „Additional research could contribute to understanding group causes of prejudice by attempting to directly measure perceived threat by asking questions about threats against one's ethnic or national group". Bedrohungen lassen sich nur unzureichend iiber kollektive MaBzahlen erfassen, sie miissen tatsachlich als Wahrnehmung operationalisiert werden, die sich zwischen Individuen, die ein und derselben Situation ausgesetzt sind, durchaus unterscheiden kann. Den Annahmen der 'theory of symbolic racism' (Sears 1988) folgend, konnen sich die empfundenen Bedrohungen nicht nur auf realistische Aspekte, sondern auch auf symbolische Bereiche erstrecken. Erste empirische Studien im europaischen Kontext belegen den Einfluss beider Bedrohungsarten auf die Entstehung rechtsextremer Einstellungen, wobei einerseits symbolische Bedrohungen (McLaren 2003), andererseits realistische Bedrohungen (Rippl 2003) einen starkeren Effekt zeigen. Eine etwas anders gelagerte Differenzierung schlagen Boehnke et al. (1998) vor. Sie beschaftigen sich allerdings in einem allgemeinen Kontext unabhangig von der Vorurteilsforschung mit Bedrohungen und Besorgnissen {worries). Sie unterscheiden nicht realistische von symbolischen, sondern individuelle von kollektiven Bedrohungen. Dies scheint vor dem Hintergrund der oben erwahnten Studien eine notwendige Erganzung der Differenzierung von Stephan und Stephan (2000) zu sein. Diese Differenzierung bezieht sich allerdings nur auf die realistische Ebene von Bedrohungen. Stephan und Renfro (2002) haben inzwischen ebenfalls eine Modifikation ihrer Theorie vorgelegt, die eine Differenzierung in individuelle und kollektive Aspekte vorsieht. Sie beziehen diese Differenzierung allerdings auf alle Bedrohungsfaktoren. Wir verfolgen hier eine eingeschranktere Sichtweise. Die symbolische Ebene spricht quasi per definitionem kollektive Sachverhalte an."^^ Das Bedrohungskonzept hat jedoch nicht nur Einzug in sachbezogene Erklarungsansatze gehalten, es spielt auch in der personlichkeitsbezogenen Perspektive und hier insbesondere in der Autoritarismusforschung eine RoUe. Dabei lassen sich zwei theoretische Deutungen unterscheiden: Einerseits, so die eher traditionelle Lesart, macht eine autoritare Personlichkeitsstruktur daftir anfallig, soziale Veranderungsprozesse per se als beangstigend zu erleben. Autoritarismus erhoht damit insbesondere kollektive Bedrohungsgeflihle (Doty et al. 1991; Feldman/Stenner 1997; Rickert 1998). Andererseits entfernen sich neuere Ansatze der Forschung von der Annahme, dass es sich bei Autoritarismus um eine feste Personlichkeitseigenschaft handelt, die notwendig in den Rechtsextremismus flihrt. Autoritarismus erscheint vielmehr als das Produkt eines als bedrohlich gedeuteten sozialen Wandels und damit als eine Flucht in die Sicherheit (Duckitt/Fisher 2003; Feldman 2000; Oesterreich 1996). In dieser Lesart ist nicht mehr von der Personlichkeitsdisposition, son^'^ Die Verwendung von Zeichen und Symbolen verweist notwendig auf die Gegenwart eines diese Zeichen und Symbole verwendenden Kollektivs. Dies gilt auch fiii- personliche Werthaltungen Oder Prinzipien.
Politischer Wandel
113
dem von der autoritaren Reaktion die Rede. Bedrohungen ftihren aus dieser Sicht zu Autoritarismus. Es stehen sich damit zwei Auffassungen gegeniiber, von denen bislang keine eine hohere empirische Gliltigkeit reklamieren kann, weil es einen simultanen empirischen Test im Langsschnitt noch nicht gegeben hat. Allerdings erscheint es sinnvoll, beide Sichtweisen nicht als gegensatzlich, sondem als komplementar aufzufassen, womit weder eine rein dispositionelle Sichtweise noch eine Perspektive vertreten wird, die alleine der Situation zentrale Bedeutung zuspricht. An dieser Stelle wird Autoritarismus als Disposition verstanden, die aber in Wechselwirkung mit bestimmten Situationen eine zusatzHche Aktivation erfahren kann (vgl. Kapitel 6 in diesem Band). Die bisherige Literatur zum Bedrohungskonzept im Kontext der Rechtsextremismus- und Vorurteilsforschung weist mehrere Beschrankungen auf, die fiir dessen Anwendung auf den EU-Osterweiterungs-Kontext zu tiberwinden sind: Wie bereits erwahnt, geht in der bisherigen theoretischen Formulierung Bedrohung immer nur von der Anwesenheit einer bestimmten Fremdgruppe (z.B. 'Schwarze', Auslander') aus. Eine solche eindeutig benennbare Fremdgruppe ist im Fall der EU-Osterweiterung nur indirekt vorhanden. Die Bedrohung geht deshalb zunachst von einem Ereignis und potenziellen Veranderungen aus, die dieses Ereignis nach sich ziehen konnte. Potenzielle Veranderungen sind allerdings auch in Statusveranderungen in Relation zu der Bevolkerung der Beitrittslander zu sehen. Eine primar ereignisbasierte Interpretation von Bedrohungen ist innerhalb der Rechtsextremismusforschung bisher neu. Das Bedrohungskonzept im Kontext der Vorurteilsforschung bezieht sich in der Regel auf kollektive Giiter und Ressourcen (z.B. Arbeitsmarkt, Werte). Diese Sichtvy^eise wird in der hier vorgelegten Studie erweitert. Wir beziehen uns dabei wie bereits erwahnt auf einen Ansatz von Boehnke et al. (1998), der die unterschiedliche Bedeutung mikro- und makrosozialer Bezlige von Bedrohungsgefuhlen herausarbeitet, der allerdings noch nicht im Kontext der Rechtsextremismusforschung rezipiert wurde. Diese Differenzierung soil zusatzlich zur inhaltlichen Distinktion (realistisch versus symbolisch) in der hier vorgelegten Studie einbezogen werden. Bedrohungen konnen ganz konkret die personliche Situation betreffen, wobei prinzipiell nur realistisch-individuelle Bedrohungen zu erwarten sind (z.B. Verlust des eigenen Arbeitsplatzes). Den vorliegenden Ausformulierungen von Threat-Theorien zufolge ergibt sich die Bedrohung durch die aktuelle Prasenz einer Fremdgruppe. Auch diese Aktualitat muss keine notwendige Bedingung fiir die Ausbildung negativer Einstellungen sein. Die EUOsterweiterung wurde bereits mehrere Monate bevor sie iiberhaupt stattfand als Bedrohung erachtet. Insofern kann die Antizipation eines Ereignisses einen gleichen Realitatsgehalt aufweisen wie die konkrete Gegenwart einer konkurrierenden Fremdgruppe. Die Integration eines solcherart adaptieren Bedrohungskonzepts bietet verschiedene Vorteile. Es ermoglicht einerseits die Verbindung von Gruppen- und Individualtheorien. Andererseits werden emotionale Elemente in einer bisher kognitionsorientierten Forschungsperspektive etabliert. Drittens schlieBlich wird damit ein Ubergang zu einer dynamischen Sichtweise der Entstehung von Vorurteilen im Zusammenhang mit sozialen Prozessen der Makroebene geschaffen.
114 5.2
Bedrohungsgefilhle Eine modifizierte Version der Integrated-Threat-Theory
Gmndlage unserer Uberlegungen ist die bereits mehrfach angesprochene IntegratedThreat-Theory von Stephan und Stephan (2000). Diese „Theorie" ist wohl eher als Modell zu beschreiben, das aus unterschiedlichen Theoriestromungen Erklarungsfaktoren einbezieht und in das Bedrohungskonzept integriert. Damit liegt die zurzeit wohl umfassendste Konzeptualisierung des Bedrohungskonzeptes vor, die wie der Name schon verdeutlicht, die verschiedenen theoretischen Richtungen integriert. Erganzt wird in unserer Modifikation die Differenzierung in kollektive und individuelle Aspekte von Bedrohungserfahrungen. Eine ahnliche Erganzung legten inzwischen auch Stephan und Renfro (2002) vor. Das von Stephan und Stephan (2000) vorgelegte Modell umfasst die vier oben auch bereits beschriebenen Bedrohungsaspekte (vgl. Abbildung 32): Realistic Threat. Hier sind Faktoren gemeint, die die faktische Existenz der Eigengruppe in Frage stellen, etwa ihre politische und okonomische Macht wie auch ihr physisches Oder materielles Wohlergehen (z.B. durch zunehmende Konkurrenz etwa um Arbeitsplatze, um Lohne, die Auslagerung von Arbeitsplatzen, den Verlust der politischen Souveranitat und des politischen Einflusses). Symbolic Threat. Hierunter werden wahrgenommene Unterschiede in den moralischen Standards, Wertorientierungen und Sitten der unterschiedlichen Gruppen gefasst, die als Bedrohung der jeweils eigenen Standards empfunden werden (z.B. die Zunahme der Pluralitat von Lebensformen, die Bedrohung vorhandener Wertvorstellungen und etablierter Standards oder die Auflosung der Gruppengrenzen und der Verlust der Distinktionsfahigkeit). Intergroup Anxiety. Hier geht es um die Wahmehmung von Gefiihlen, die entstehen, wenn die Personen mit Mitgliedem der Fremdgruppe interagieren. Es geht dabei um Gefiihle der Bedrohungen des eigenen Selbst. Dabei sollen Gefiihle wie Angst, Unwohlsein, Erregung, Uberlegenheit oder Besorgnis erfasst werden. Negative Stereotypes. Solche vorhandenen Stereotype spielen gerade fiir die Beziehungen zwischen Polen, Tschechen und Deutsche eine besondere RoUe. Es existieren historisch gewachsene Feindbilder, die insbesondere durch den 2. Weltkrieg gepragt sind und die Intergruppenbeziehungen pragen. Die beiden Aspekte Stereotype und Intergruppenangste stellen u.E. qualitativ anders geartete Konzepte dar als die beiden erstgenannten Threat-Komponenten. Wahrend realistische und symbolische Bedrohungen einen klaren Sachbezug aufweisen und auf die Veranderungen durch die EU-Osterweiterung klar zu beziehen sind, stellen Intergruppenangste und Stereotype von einem Ereignis unabhangigere Konzepte dar, Insbesondere die Stereotype sind unseres Erachtens nicht in den Kontext der direkten ereignis- oder sachbezogenen Bedrohungen einzuordnen. Stereotype haben eine kognitive Ordnungsfunktion, sie dienen der Komplexitatsreduktion, die auch nicht zwingend an Vorurteile gekniipft ist. Dies gilt fiir positive wie negative Stereotype (Kindervater 2007). Wir gehen daher davon aus, dass negative stereotype Wahrnehmungen einer Fremdgruppe die Wahrnehmung von Bedrohungen begiinstigen konnen. Stereotype sind somit ein kausal vorgelagertes Konzept. Eine ahnliche Sichtweise findet sich inzwischen auch in der Forschergruppe um Walter Stephan (Stephan et al. 2002) Intergruppeangste sind hingegen in den Kontext der Bedro-
Politischer Wandel
115
hungen einzuordnen, sie haben allerdings einen stabileren und aligemeineren Charakter als reaiistische und symbolische Bedrohungen. In der neuen Konzeptualisierung von Stephan und Renfro (2002) versuchen die Autoren die Intergruppenangste und die Stereotype besser in das Modell einzubinden, sie versuchen, die Merkmale realistisch/symbolisch und individuell/kollektiv auch auf Intergruppenangste und Stereotype zu beziehen. Die Rekonzeptualisierung bleibt aus unserer Sicht an diesen Stellen allerdings relativ unscharf. Reaiistische Bedrohung
^ ^ ^^^x^^^
Symbolische Bedrohung Intergruppenangst Negative Stereotype
^^^T^^^ '^"*""^~"~"-~--^^
""^
_____—^—^
Vorurteile
^ ^ ^ ^ ^ -^^^^^
Abbildung 32: Bedrohimgsmodell nach Stephan und Stephan (2000) In den nachfolgenden Analysen soil deshalb ein modifiziertes Erklarungsmodell von Stephan und Stephan (2000) fixr den Kontext der EU-Osterweiterung gepriift werden. Entsprechend der Uberlegungen von Stephan und Stephan (2000) werden zusatzlich als Determinanten von Bedrohungsgefiihlen spezifische Merkmale der Intergruppenbeziehungen hinzugezogen. In den Studien von Stephan und Stephan (2000) werden verschiedene Pradiktoren fiir das Entstehen von Bedrohungswahmehmungen benannt, die alle dem Intergruppenkontext zugehoren (Kontakte, Identifikation mit der Eigengruppe, historische Konflikte und Statusgefalle zwischen den Gruppen). Diese Faktoren erscheinen allerdings recht willkiirlich ausgewahlt zu sein. Es werden zwar implizite Hypothesen formuliert, es erfolgt aber keine theoretische Elaboration zur Auswahl der Pradiktoren. Die Faktoren werden herangezogen, die sie sich in anderen Studien als besonders relevant erwiesen haben. Da es sich in der hier vorgelegten Studie um einen Test dieser 'klassischen' Integrated-Threat-Theory handelt, werden diese Faktoren, soweit sie in der hier vorgelegten empirischen Studie erhoben wurden, iibernommen. Folgende Zusammenhange werden vermutet. Flir Personen mit einer starken Identifikation mit der Eigengruppe sind Bedrohungen dieser von groBere Relevanz flir ihre eigene Identitat, sie werden daher sensibler fiir solche Situationen sein und daher auch eher solche Bedrohungen wahrnehmen als Personen mit einer schwacher Eigengruppenidentifikation. Uberlappende Identifikationen, die Mitglieder beider Gruppen gleichermaBen betreffen, in unserem Fall etwa, dass alle untersuchten Gruppen Europaer sind, werden in der Integrated-Threat-Theory zwar nicht expli-
Bedrohungsgeftihle
116
zit anfiihrt, sollten aber im Gegenzug die Bedrohungswahmehmung senken, da aufgrund der Gemeinsamkeit ein geringeres Konkurrenzempfinden besteht. Die positiven Effekte auf Intergruppenkonflikte durch iiberlappende Identifikationen zeigen verschiedenen Studien im Kontext der Social-Identity-Theory (vgl. Hewstone 2004). Kontakte mit Mitgliedem der Fremdgruppe konnen negative Stereotype aufweichen und zu positiveren Erwartungen gegeniiber der gesamten Fremdgruppe beitragen. Die Forschung zeigt zwar ambivalente Wirkungen von Kontakten, allerdings zeigt die Mehrzahl der Studien eher positive Effekte von Kontakten auf Vorurteile (Pettigrew/Tropp 2000). Friihere Konflikte zwischen den Gruppen steigem die Erwartung auch zukiinftiger Konflikte.
IntergruppenAngst Negative Stereotype
Vorurteile (Nationalismus, etc.)
\
^ ^
Bedrohungsgefiihle
Friihere Konflikte
Geringe Kontakte
iI
• Symbolische Bedrohung
Realistische Bedrohung
/
\
... auf individueller Ebene
...auf koUektiver Ebene
^r ...auf koUektiver Ebene
Abbildung 33: Modifiziertes Bedrohungsmodell Allerdings sind auch andere Pradiktoren flir Bedrohungswahmehmungen denkbar, die nicht direkt dem Kontext der Intergruppenforschung entspringen. Individuelle Desintegrationserfahrungen oder Autoritarismus konnen hier beispielhaft genannt werden. Die potentiellen Einflusse von Pradiktoren der Individualebene aus der Desintegrations- und der Autoritarismusforschung, die im Kontext des Modell von Stephan und Stephan (2000) nicht bertxcksichtigt werden, werden dann erst im nachsten Schritt gepriift (vgl. Kapitel 6-8).
Politischer Wandel 5.3
117
Ergebnisse
Ausgangspunkt unsere Analyse ist eine faktorenanalytische Priifung des vorgeschlagenen Bedrohungsmodells an der deutschen Reprasentativstichprobe. Entsprechend unseres modifizierten Modells wird zunachst die Faktorstruktur der Bedrohungsgefiihle untersucht. Hierzu wurden mittels AMOS (ArbuckleAVothke 1999) vier verschiedene Faktorenmodelle spezifiziert und tiber einen Vergleich der vom Programm bereitgestellten x^-Tests das die empirischen Daten am besten reprasentierende Modell ausgewahlt (zum Vorgehen Byrne 2001: 173ff). Das Verfahren der konfirmatorischen Faktorenanalyse wurde gewahlt, da bereits im Pretest und auch mit Daten der Hauptuntersuchung explorative Faktorenanalysen durchgefiihrt wurden (vgl. Kapitel 4), die darauf hin deuteten, dass es eine Mehrfaktorenstruktur gibt. Ausgehend von einem Nullmodell, das keinerlei Unterscheidungen zwischen verschiedenen Bedrohungsgefiihlen postuliert, werden nach und nach die oben skizzierten Differenzierungen durchgefiihrt (vgl. Tabelle 27). Tabelle 27: Vergleich verschiedener Faktorenmodelle (N = 1008)^ Modell 0
ein Faktor (8 Items) zwei interkorrelierte Faktoren (realistische und symbolische Bedrohungen; Vergleich zu Modell 0) zwei interkorrelierte Faktoren (kollektive und individuelle n Bedrohungen; Vergleich zu Modell 0) drei interkorrelierte Faktoren (realistisch-kollektive, III symbolisch-kollektiveund realistisch-individuelle Bedrohungen; Vergleich zu Modell I)
t
df
%2-A
5^2,661
20
-
232,801
19
349,866
1
< .01
^36,929
19
145,738
^^
^
GFI
RMSEA
0,857
0,168
0,944
0,106
1
< .01 0,884
0,149
2
<.01 0,985
0,053
df-A
p
^ zur Formulierung der einbezogenen Items vgl. Tabelle 7 und Tabelle 9 Das Nullmodell weist einen nicht akzeptablen Goodness-of-Fit-Wert auf, d.h., die Annahme einer Nicht-Unterscheidbarkeit von Bedrohungsaspekten stimmt nicht mit den erhobenen Daten liberein (vgl. Grenzwerte fiir akzeptable Fit-Werte bei Hu/Bentler 1999). Der Modellfit bessert sich signifikant, wenn die u.a. von Stephan und Stephan (2000) vorgeschlagene Unterscheidung in realistische und symbolische Bedrohungen eingefiihrt wird; dennoch liegt das Verhaltnis von x^-Wert und Freiheitsgraden sowie der so genannte RMSEA-Wert noch deutlich tiber den vorgeschlagenen 'Cut-off-Kriterien. Die von
118
Bedrohungsgefiihle
Boehnke et al. (1998) getroffene Unterscheidung in individuelle und kollektive Bedrohungen (Modell II) fiihrt auch im Fall der EU-Osterweiterung zu besseren Modellfits im Vergleich zum NuUmodell; allerdings scheint diese Unterscheidung weniger wichtig als die nach realistischen und symbolischen Bedrohungen, was darauf bin deutet, dass Befragte eher zwischen Ressourcenbereichen als zwischen Ressourcenebenen differenzieren. Das nach den Fit-MaBen beste Modell ist Modell III, das simultan beide Differenzierungen vornimmt.
5.3.1
Der Zusammenhang von BedrohungsgefUhlen und soziookonomischen Hinte rgrundvariablen
In einem ersten Schritt werden drei objektive soziookonomische Variablen in ihrem Bezug zu den drei verschiedenen Bedrohungswahrnehmungen verglichen. Ein Bildungseffekt kann unter Bezugnahme zur Thesen der kognitiven Mobilisierung postuliert werden, nach der eine hohere Bildung hohere individuelle Fahigkeiten der Informationsverarbeitung, im Umgang mit Problemstellungen bzw. starkere Handlungskompetenzen und damit „verbesserte Teilhabe- und Gestaltungsmoglichkeiten in vielen Bereichen des privaten und offentlichen Lebens" (Baumert et al. 2003; Hadjar/Baier 2006) bedeutet. Erweiterte kognitive Fahigkeiten, eine starkere Hinterfragung von Sachverhalten, sollte mit einem geringeren AusmaB an Bedrohungswahrnehmung einhergehen, da Bedrohungsszenarien - wie sie einige Massenmedien vermitteln oder in Face-to-Face-Interaktionen weitergegeben werden - nicht einfach iibernommen werden. Eigene Arbeitslosigkeitserfahrungen sollte demgegeniiber zu einer starkeren Bedrohungswahrnehmung, besonders beztiglich realistischindividueller Bedrohung fiihren, da gerade bei Personen, die in den letzten Jahren vor der Befragung arbeitslos waren, die Angste vor einer erneuten Arbeitslosigkeit im Zuge der EU-Osterweiterung durch die Abwanderung von Betrieben oder den Zuzug so genannter „Billig-Arbeitskrafte", groBer sein sollten. Hinsichtlich eines Einkommenseffekts kann davon ausgegangen werden kann, dass Individuen, die iiber ein hoheres Einkommen verfiigen, in Anbetracht ihrer finanziellen Kompensationsmoglichkeiten etwaigen Bedrohungen gelassener gegeniiberstehen sollten. Tabelle 28: Soziookonomische Faktoren und Bedrohungen D-Reprasentativstichprobe
Korrelationskoeffizienten^ Realistisch-
Symbolisch-kollektive Realistisch-individuelle
nationale Bedrohung
Bedrohung
Bedrohung
Bildung (Abitur)
-0,33** (958)
-0,30** (958)
-0,26** (945)
Arbeitslosigkeitseifahrung
0,09** (866)
-0,05 (866)
0,18** (857)
Einkommen (iiber 1750 EU)
-0,18** (783)
-0,16** (783)
-0,19** (778)
' in Klammem: N; * p < .05; ** p < .01
Politischer Wandel
119
Die bivariaten Korrelationskoeffizienten in Tabelle 28 weisen darauf bin, dass dem Bildungseffekt eine SchliisselroUe zukommt. Entsprechend der aufgestellten These ftihrt eine hohere Bildung dazu, dass sich Menschen weniger durch die EU-Osterweiterung bedroht fiihlen. Die erwarteten Effekte zeigen sich auch bezogen auf die Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit. Von Arbeitslosigkeit Betroffene empfinden die EU-Osterweiterung im HinbHck auf die Wirtschaftslage Deutschlands und ihre individuelle Wirtschaftslage als bedrohUcher. Die Beziehungen zwischen Arbeitslosigkeitserfahrung und reahstisch-kollektiver und reaUstisch-individueller Bedrohungswahmehmung erweisen sich als signifikant, wobei die Starke des Effekts auf die reaUstisch-kollektive Bedrohungswahmehmung deuthch geringer ist. Entsprechend der Erwartungen zeigt sich ein negativer Effekt des Einkommens auf die Bedrohungsgefiihle. Insgesamt ergibt sich, dass objektive okonomische Merkmale durchaus in einem signifikanten Zusammenhang zu Bedrohungswahrnehmungen stehen, dass diese sich - mit Ausnahme der Bildungseffekte - allerdings auf recht niedrigem Niveau bewegen. Auf moghche indirekte Wirkgefiige werden wir in Kapitel 8 genauer eingehen. 5.3.2
Bedrohungsgefiihle als Katalysatorflir ethnozentrische Orientierungen?
Im Rahmen einer ersten Pfadanalyse werden die Zusammenhange von sachbezogenen Besorgnissen im Kontext der EU-Osterweiterung (reaUstischer und symboUscher Art) sowie der allgemeinen Intergruppenangst gegeniiber der Bevolkerung der Beitrittslander mit ethnozentrischen Einstellungen vergleichend beleuchtet. Hierzu werden ausnahmsweise alle sachbezogenen Bedrohungstypen im Kontext der EU-Osterweiterung zu einem Allgemeine Bedrohungsgefiihle zusammengefasst. Diese Vorgehensweise erleichtert in diesem ersten Schritt die Bewertung des Einflusses allgemeiner versus sachbezogener Angste. Als exogene Variablen fungieren verschiedene Indikatoren fur die Qualitat von Intergruppenbeziehungen, die Stephan und Stephan (2000) in ihrem Modell vorschlagen. Im Unterschied zum Modell von Stephan und Stephan gehen wir - wie erlautert - von einem anderen Stellenwert der Stereotype im Modell aus. Auch diese stellen in unserem Modell eine exogene Variable dar (vgl. Abbildung 34). Von den von Stephan und Stephan (2000) vorgeschlagenen Pradiktoren ftir Bedrohungsgefiihle erweisen sich die vorhandenen Kontakte als bedeutsam. Interessant ist ihre differentielle Wirkung. Vorhandene Kontakte reduzieren Bedrohungsgefiihle, erhohen aber Intergruppenangste. Ebenso zeigen die Stereotype signifikante Effekte. Negative Stereotype forcieren Bedrohungsgefiihle und auch Intergruppenangste in starkem MaBe. Richtet man seinen Blick auf die Frage, inwieweit Bedrohungsgefiihle im Zusammenhang mit der EUOsterweiterung Oder allgemeine Intergruppenangste fiir die Entwicklung von ethnozentrischen Einstellungen von Bedeutung sind, so zeigt sich ein starker Mobilisierungseffekt der sachbezogenen Bedrohungsgefiihle. Intergruppenangste zeigen nur einen Einfluss auf die Sympathie zur Bevolkerung der Beitrittslander, sie haben aber keinen Effekt auf die Auspragung von Nationalismus.
Bedrohungsgeflihle
120
Realistische koUektive -.10** Bedrohung
Symbolische koUektive Bedrohung
Kontakte
Konflikte
Negative Stereotype
Realistische individuelle Bedrohung Nationalismus
I
Sympathie Polen/ Tschechen
Identifikation mit der Eigengruppe Modellfit: ^\ 169,82; df: 23; RMSEA: .080; AGFI:.92; CH: .92 Abbildimg 34: Besorgnisse zur EU-Osterweiterung und Intergruppenangst und die Mobilisierimg ethnozentrischer Einstellungen (Gestrichelte Pfeile sind nicht signifikant, ** p<.01) In einem nachsten Schritt sollen die Bedrohungsgeflihle im Zusammenhang mit der EUOsterweiterung differenziert nach ihren inhalthchen Beziigen betrachtet werden. In das folgende Analysemodell gehen die Bedrohungsgeflihle daher nicht mehr als ein einzelner Faktor ein, sondern dreigegliedert, entsprechend der optimalen Losung der konfirmatorischen Faktorenanalysen (vgl. Tabelle 27). Das Ergebnis der Analyse zeigt die Abbildung 35. Die von Stephan und Stephan (2000) vorgeschlagenen Pradiktoren fiir Bedrohungsgeflihle zeigen auch in diesem Modell nur relativ geringe Effekte. Bedeutsam sind allerdings die negativen Stereotype. Sie forcieren insbesondere symbolische Bedrohungsgeflihle, haben aber auch deutlich Effekte bei den anderen Bedrohungsarten. Zudem verbleibt in diesem Modell, das im Unterschied zum Modell in Abbildung 34 die Intergruppenangste nicht berlicksichtigt, ein relativ starker direkter negativer Effekt der Stereotype auf die Sympathie flir Polen und Tschechen. Interessant ist auch die differentielle Wirkung unterschiedlicher Typen von Bedrohungsgeflihlen. Individuelle Besorgnisse zeigen nur sehr geringe Effekte flir Sympathie flir Polen und Tschechen und Nationalismus, die Angst vor personlicher Arbeitslosigkeit oder sinkendem Einkommen erweist sich als nahezu irrele-
Politischer Wandel
121
vant. Weitaus bedeutsamer sind Besorgnisse auf der kollektiven Ebene. Hier zeigen die Besorgnisse vor der EU-Osterweiterung deutliche Mobilisierungswirkungen fiir ethnozentrische Einstellungen, im Besonderen fiir nationalistische Einstellungen. Besonders relevant erweisen sich die symboiischen Besorgnisse, die Angst also vor dem Verlust eigener kultureller Standards, von nationalen Normen und Werthaltungen. Diese erweisen sich als bedeutsamer als okonomische Aspekte.
Kontakte
Realistische kollektive Bedrohung Nationalismus
negative Stereotype
Identifikation mit der Eigengruppe
Symbolische kollektive Bedrohung
Realistische individuelle Bedrohung
40** Sympathie Polen/ Tschechen 2V
Modellfit: x^: 11,92; df: 3; RMSEA: .054; SRMR: .017; AGH: .96; CFI: .99
Abbildung 35: Sachbezogene Bedrohungstypen und Ethnozentrismus (** p<.01; Korrelationen zwischen Bedrohungstypen >0,45; gestrichelte Pfade nicht signifikant) Beide Analysen belegen eine deutliche Mobilisierung nationalistischer Orientierungen durch Bedrohungsgefuhle. Die Beschaftigung mit dem Status der Eigengruppe scheint durch die EU-Osterweiterung besonders salient. Uberraschenderweise gibt es zwischen Nationalismus und der Sympathie fiir die Bevolkerung der Beitrittslander keinen Zusammenhang. Ein gesteigerter Nationalismus geht hier also nicht unbedingt mit einer Abwertung der Bevolkerung der Beitrittslander einher. In einem nachsten Analyseschritt wird nun im Rahmen von Regressionsanalysen
Bedrohungsgefuhle
122
ein Blick auf weitere abhangige Variablen geworfen. Zum einen wird die Sympathie fiir Polen und Tschechen getrennt analysiert, des Weiteren wird eine allgemeine Tendenz zu Fremdenfeindlichkeit (unabhangig von Nationalitaten) als abhangige Variable berticksichtigt. Verglichen werden zudem die Befragten der Gesamtstichprobe und die Befragten, die in den Grenzgebieten leben. Tabelle 29: Beziehung zwischen Bedrohungen und Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus Deutschland und die deutschen Grenzgebiete im Vergleich
Realistischekollektive Bedrohung Symbolischekollektive Bedrohung Realistischeindividuelle Bedrohung
Fremdenfeindlichkeit D D Repra- Grenzsentativ- region stichprobe
Nationalismus
Sympathie fiir Polen D D D D D Repra- Grenz- Repra- Grenzsentativ- region sentativ- region stichstichprobe probe
Sympathie fur Tschechen D Repra- Grenzsentativ- region stichprobe
0,13**
0,00
0,27**
0,08*
0,11**
0,06
0,12**
0,06
0,43**
0,30**
0,37**
0,34**
0,20**
0,06
0,22**
0,02
0,11**
0,18**
0,05**
0,02
0,08*
-0,08*
0,03
-0,09*
*p<.05; ** p< 01
Die Analyse belegt eine differentielle Wirkung von Besorgnissen in Abhangigkeit von bestimmten Kontexten. Im Grenzgebiet mit seiner raumlichen Nahe zu den Beitrittslandem fmden sich andere Beziehungen als in der gesamtdeutschen Stichprobe. Hinsichtlich der Phanomene Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit zeigt sich in der Grenzstichprobe uberraschenderweise - eine geringere Mobilisierungswirkung der Angste vor der EU-Osterweiterung als in der deutschen Gesamtstichprobe. Betrachtet man die spezifischeren Messungen von Einstellungen zu Fremden, namlich die Sympathie zu Polen und Tschechen, so zeigt sich in der Grenzstichprobe ein anderes Bild als in der Gesamtstichprobe. Bedrohungserfahrungen haben hier keine signifikante Bedeutung fur die Sympathie mit dem Nachbam. Anders das Bild in der Gesamtstichprobe: hier spielen insbesondere Bedrohungen auf der KoUektivebene eine gewisse Rolle, die Effekte sind aber deutlich geringer als bei den globaleren Konstrukten Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit. Im deutschen Grenzgebiet flihrt die EU-Osterweiterung also zu keiner Verschlechterung der Haltung zu den Bevolkerungen der Beitrittslander, wohl aber zu einem Anstieg einer allgemeinen Fremdenfeindlichkeit. Die Effekte der Bedrohungsgefuhle erweisen sich somit weniger als sach- oder konfliktbezogen, sondem als unspezifisch. Sie mobilisieren offenbar weniger Konfliktwahmehmungen mit den konkret betroffenen Gruppen als Kompensationsbedtirfnisse von Verunsicherung, die sich unspezifisch in Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit auBem.
Politischer Wandel 5.3.3
123
Bedrohungsgefuhle und deren Folgen in kulturvergleichender Perspektive
Aus kulturvergleichender Perspektive ergeben sich weitere Fragen zur Wirkung von Wandlungsprozessen im Kontext der EU-Osterweiterung. Dabei konnen die Grenzregionen in gewisser Weise als „Testfall der Integration" gesehen werden. Durch die raumliche Nahe sind die Folgen der EU-Osterweiterung hier zuerst und am deutlichsten zu erwarten. Daher scheint es sinnvoll, diese Regionen besonders in den Blick zu nehmen. Wie die bisherigen Analysen zeigen, wird sozialer Wandel als Veranderung bekannter Strukturen in der Bevolkerung insgesamt durchaus als bedrohlich wahrgenommen, wobei die Starke dieser Empfindungen sehr vv^ohl von Kontexten beeinflusst wird. In der deutschen Grenzregion zeigen sich Unterschiede im Vergleich zur Gesamtstichprobe (vgl. Kapitel 6). Im Weiteren wird nun gefragt, welche Unterschiede sich fiir die von der raumlichen Distanz ahnlich betroffenen Grenzregionen Deutschlands, Polens und Tschechiens ergeben, die sich durch ihren Status unterscheiden. Wie bereits dargelegt, gibt es in der aktuellen Situation dieser Regionen grundlegend unterschiedliche Ausgangsbedingungen: Deutschland ist wichtiges Mitgliedsland der EU, Polen und die Tschechische Republik waren Beitrittskandidaten. Und auch hinsichtlich des Wohlstandsniveaus der Lander gibt es deutliche Unterschiede. Selbst zum Bruttoinlandsprodukt der derzeit wirtschaftlich schwachsten EU-Lander (Griechenland, Portugal, Spanien) besteht ein erheblicher Abstand. Diese Relation spiegelt sich auch im Wohlstandgefalle: die Relation zwischen Polen und Deutschland betragt 4,3:1, die Relation zur Tschechische Republik noch 3,9: 1 (vgl. Baier et al. 2004). Etwas anders die Situation auf dem Arbeitsmarkt: Wahrend in Polen die Arbeitslosigkeit prozentual etwa doppelt so hoch wie in Deutschland ist, liegt sie in der Tschechischen Republik unterhalb dem deutschen Niveau. Insgesamt ist aber ohne Frage ein deutliches Statusgefalle zwischen dem Mitgliedsland Deutschland und den Beitrittskandidaten zu konstatieren. TabeOe 30: Arbeitslosenquote und Bruttoinlandsprodukt
Deutschland Polen Tschechische Republik
Arbeitslosenquote in % (2003) (Quelle: Eurostat) 9,7 19,7 7^6
Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Euro (2003) (Quelle: Eurostat) 25.840 4.849 7.420
Kulturelle Unterschiede der Bedrohungswahrnehmung. In diesem Abschnitt soUen nochmals die kulturellen Unterschiede in der Bedrohungswahrnehmung dargestellt wurde, obwohl dies zum Teil schon in Kapitel 4 geschehen ist. Im Unterschied zur oben erfolgten deskriptiven Darstellung, findet sich hier eine hypothesenbezogene Sichtweise; zudem werden die Bedrohungskonzepte hier in der Dimensionierung prasentiert, die sich mit Bezug auf die Integrated-Threat-Theory im Rahmen der vorgestellten konfirmativen Faktorenanalysen ergeben hat. Aus dem unterschiedlichen Status der Volkswirtschaften der drei hier untersuchten
124
Bedrohungsgefiihle
Lander sollten sich Unterschiede auch in der Wahrnehmung des Prozesses der EU-Osterweiterung ergeben. Es ist davon auszugehen, dass in Abhangigkeit vom Status des jeweiligen Landes die verschiedenen Bedrohungen unterschiedlich stark wahrgenommen werden (vgl. Kapitel 4). Bezieht man sich auf die Integrated-Threat-Theory so ist davon auszugehen, dass (1) in den statusniedrigeren Regionen die symbolischen Bedrohungsgefiihle starker ausgepragt sein sollten als in der statushoheren Region (gerade auf dem Gebiet der Werte und kulturellen Standards ist eine verstarkte Bedrohungswahmehmung der „Schwacheren" gegenliber der „Starkeren" zu erwarten; die Angst vor dem Verschwinden der eigenen kulturellen Identitat diirfte daher in den Beitrittslandern am starksten sein); (2) in der statushoheren Region sollten hingegen realistische Bedrohungsgefiihle starker ausgepragt sein (gerade hier erwachst eine neue Konkurrenz um vorhandene Ressourcen, die fiir die statusniedrigeren Regionen erreichbarer werden; aufgrund etwa niedriger Lohne, niedrigere Steuern und ahnlichem sind hier Konkurrenzvorteile der statusniedrigeren Regionen zu erwarten); (3) die Intergruppenangst und die negativen Stereotype sollten geringe Unterschiede aufweisen, da fiir alle Gruppen einen Konkurrenzsituation besteht, die die Salienz von Intergruppenangsten wie auch von negative Stereotypen erhoht. Die drei Thesen nehmen den bereits in Abbildung 7 dokumentierten Gedanken wieder auf. Einen ersten Eindruck iiber die Zusammenhange vermittelt die folgende Analyse von relativen Haufigkeiten (Abbildung 36).
Abbildung 36: Realistische und symbolische Bedrohungsgefiihle im Vergleich (Angaben in Prozent)
Politischer Wandel
125
Auf den ersten Blick fallt auf, dass die Polen in alien Bereichen das hochste Niveau an Besorgnissen aufweisen, relativ haufig gefolgt von der deutschen Grenzregion und dann erst von der tschechischen Grenzregion. In alien Regionen sind realistische kollektive Besorgnisse am starksten ausgepragt (erster und zweiter Balken), gefolgt von den symbolischen Besorgnissen. Von deutlich geringerem AusmaB sind die individuellen Bedrohungsgeftihle. Ein wenig iiberraschend bleibt, dass sich dieses Muster in alien betrachteten Regionen wieder findet. Urn die Hypothesen genauer zu uberprufen, wurden die jeweiligen Items zur Messung einer Facette von Bedrohung zu Kurzindices zusammengefasst. Dann wurden die Mittelwerte der unterschiedlichen Gruppen fur die relevanten Variablen mittels einer Varianzanalyse verglichen. Die Mittelwerte finden sich in Abbildung 37.
Abbildung 37: Bedrohiingsgefiihle im Vergleich (Mittelwerte) Es zeigt sich, dass wie vermutet die symbolischen Bedrohungsgeftihle am starksten in den polnischen und tschechischen Grenzregionen ausgepragt sind, wobei allerdings der Unterschied zwischen der tschechischen und der deutschen Grenzregion nicht signifikant ist. Die Annahme, dass realistische Bedrohungen in der statushoheren Region starker wahrgenommen werden, bestatigt sich nicht. Auch die realistischen Bedrohungsgeftihle sind in Polen am starksten ausgepragt. Nicht bestatigt wird auch die dritte Annahme. Die Relation ist umgekehrt, die Intergruppenangste sind in der polnischen Grenzregion am geringsten ausgepragt, gefolgt von der tschechischen. Die groBten Intergruppenangste finden sich in der deutschen Grenzregion. Hinsichtlich der Zuschreibungen von Stereotypen zu den Gruppen zeigen bei den Merkmalen „egoistisch" und „krimineU" deutliche Unterschiede. Wahrend Polen und Tschechen Deutschen am haufigsten die stereotype Eigenschaft „egoistisch" zuschreiben.
126
Bedrohungsgefiihle
nutzen Deutsche fiir die beiden Fremdgruppen das Stereotyp „krimineir' am haufigsten (vgl. Abbildung 38). Trotz dieser Differenzen haben wir ein einheitliches Instrument fiir die Messung der Stereotype weiterverwendet, um eine Vergleichbarkeit zu gewahrleisten. Die jeweiligen Items zeigten zumindest eine hinreichend hohe Interkorrelation in den unterschiedlichen Stichproben.
—0—fleiBig —•—freundlich —O— kriminell — I — egoistisch —^— unehrlich
Deutsche iiber Polen
Pol en iiber Deutsche
Deutsche iiber Tschechen
Tschechen iiber Deutsche
Abbildung 38: Stereotype im Vergleich - Deutsche und ihre Nachbarn Zur Relevanz von Bedrohungserleben fiir die Ausprdgung von Ethnozentrismus. Aus unserer Argumentation zur Bedeutung von Statusunterschieden zwischen verschiedenen Regionen lassen sich zur Frage moglicher erklarender Variablen fiir die Auspragung von Ethnozentrismus folgende Annahmen ableiten: 1. Individuelle Bedrohungsgefiihle sollten in der Grenzregion ein bedeutsamerer Pradiktor fiir Ethnozentrismus sein als kollektive Bedrohungsgefiihle, da hier aufgrund der raumlichen Nahe des neuen EU-Nachbars eine besonders starke individuelle Betroffenheit von der EU-Osterweiterung zu erwarten ist. 2. Gefiihle symbolischer Bedrohung sollten in den statusniedrigeren Regionen relevanter fur die Auspragung von Ethnozentrismus sein. 3. Gefiihle realistischer Bedrohungen sollten in den statushoheren Regionen relevanter sein. 4. Situatives Bedrohungserleben jedweder Art sollte iiberall in gleichem MaBe relevant sein wie personales Bedrohungserleben (Intergruppenangst). Die folgende vergleichende Analyse beschrankt sich auf die Grenzregionen in Deutschland, Polen und der Tschechischen Republik. Es wurden OLS-Regressionsanalysen
Politischer Wandel
127
durchgefiihrt. Betrachten wir zuerst die mobilisierende Wirkung von Bedrohungsgefiihlen flir Fremdenfeindlichkeit und fiir Nationalismus (vgl. Tabelle 31). Fiir die Auspragung nationalistischer Einstellungen zeigt sich in den drei Grenzgebieten ein ahnliches Muster - insbesondere die symbolischen Besorgnisse, die im Zusammenhang mit der EU-Osterweiterung entstehen, haben mobilisierende Wirkung. Am deutlichsten ist dies in der deutschen und der tschechischen Grenzregion ausgepragt. Fiir Fremdenfeindlichkeit zeigt sich ein etwas anderes Bild. Im deutschen Grenzgebiet haben insbesondere kollektive Besorgnisse mobilisierende Wirkung. Im polnischen und tschechischen Grenzgebiet sind hier allerdings auch die individuellen Besorgnisse von Bedeutung. Die Intergruppenangst zeigt relativ geringen Einfluss. In alien drei Grenzgebieten haben Bedrohungsgefiihle durch die EU-Osterweiterung also mobilisierende Wirkung fiir Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit. Die groBte Mobilisierungswirkung findet sich in Deutschland, es folgt die Bevolkerung des tschechischen Grenzgebietes. In Polen findet sich allerdings die mit Abstand geringste Mobilisierungswirkung. Tabelle 31: Beziehimg zwischen BedrohuBgen und Fremdenfeindlichkeit/Nationalismus Grenzgebiete im Vergleich Fremdenfeindlichkeit Realistische kollektive Bedrohungen Symbolische kollektive Bedrohungen Realistische individuelle Bedrohungen IntergruppenAngst
R^
Nationalismus
D
PL
CZ
D
PL
CZ
0,17=*
-0,02
0,11"
0,09*
0,04
0,15
0,26**
0,01
0,22*
0,29*
0,15**
0,26*
0,10*
0,16*
0,22*
0,14*
0,02
0,10
0,13*
0,08
0,08
0,16*
0,14*
0,04
0,18
0,03
0,19
0,19
0,05
0,17
= p<.05; ** p< .01 In einem letzten Analyseschritt wird die Sympathievariable als abhangige Variable verwendet, die man in ihrer negativen Auspragung (Artikulation besonders geringer Sympathie) ebenfalls als Ethnozentrismusmessung auffassen konnte (vgl. Tabelle 32). Auch diese Analyse bestatigt eine bereits gefundene Tendenz. Bedrohungsgefiihle, die im Kontext der EU-Osterweiterung entstehen, haben nahezu keine signifikanten Effekte auf die Sympathieeinschatzung der Bevolkerung der Nachbarlander. Dieses Ergebnis findet sich durchgangig fiir alle Grenzregionenstichproben.
128
Bedrohungsgefiihle
Tabelle 32: Beziehiing zwischen Bedrohimgen und Sympathie fiir die Bevolkerung der Nachbarlander im Vergleich Sympathie fiir Deutsche Realistische koUektive Bedrohimgen Symbolische kollektive Bedrohungen Realistische individuelle Bedrohimgen IntergruppenAngst R^
PL
CZ
Sympathie fiir Tschechen D
0,04
-0,01
-0,01
0,08
0,09
-0,12*
0,00
0,06
-0,04
0,03
-0,07
0,06
0,09
0,17**
0,22**
0,00
0,02
0,03
0,05
0,01
Sympathie fiii' Polen D
* p<.05; ** p< .01 Insgesamt erweist sich das Statusgefalle zwischen dem Mitgliedsland Deutschland und den Beitrittskandidaten nicht als eindeutig differenzierende Variable. Obwohl dieses Statusgefalle im Kontext der EU-Osterweiterung oft diskutiert wird, schafft es nicht die erwarteten Effekte, in dem Sirme, dass eine gewisse Homogenitat der statusschwacheren Regionen aufzufinden ist. Hier iiberwiegt eine Landerspezifik, die sicherlich auch mit den doch relativ groBen kulturellen Unterschieden dieser beiden Lander zusammenhangt. Gerhards (2005) konstatiert deutliche Unterschiede zwischen Polen und Tschechen in alien von ihm untersuchten Einstellungsbereichen (Haltung zur Demokratie, zur Wirtschaft, zur Zivilgesellschaft, zur Religion und zu Familie und Partnerschaft). 5.4
Zusammenfassung
Der zentrale Refund zur Priifung der Bedrohungstheorie im Kontext der EU-Osterweiterung lasst sich wie folgt zusammenfassen: Die EU-Osterweiterung lost Bedrohungsgefiihle in der Bevolkerung aus, die durchaus zu einer Mobilisierung rechter Orientierungen beitragen. Bedeutsam sind dabei insbesondere Bedrohungsgefiihle auf der kollektiven Ebene und hier insbesondere symbolische Bedrohungen. Zu unserer Uberraschung dominiert bei dieser Wahrnehmung von Bedrohungen offenbar keine Konfliktperspektive in dem Sinne, dass ethnozentrische Orientierungen als Reflex konkreter Konflikte entstehen. So findet sich in den Grenzgebieten, die die groBte Betroffenheit von den Folgen der EU-Osterweiterung aufweisen, keine Mobilisierung negativer Gefuhle gegeniiber der Bevolkerung der Nachbarlander durch die EU-Osterweiterung. Im Unterschied dazu sind aber sehr wohl von spezifischen Gruppenzugehorigkeiten unabhangige Mobilisierungen rechter Orientierungen zu beobachten (Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus). Auch in der Gesamtstichprobe zeigt
Politischer Wandel
129
sich die einheitliche Tendenz, dass unspezifischere allgemeine Orientierungen, wie eine allgemeine Fremdenfeindlichkeit und nationalistische Einstellungen eher mobilisiert werden. Man kann hinsichtlich der Frage der Ursache der Mobilisierung zum jetzigen Stand der Analyse also feststellen, dass die Mobilisierungswirkung offenbar eher ein Kompensations- denn einen Konflikteffekt ist. Nicht konkrete Konfliktpotentiale mit den Nachbarn, die zu einer objektbezogenen Gmppenabwertung fiihren miissten, sind entscheidend. Es scheint eher so zu sein, dass die Verunsicherungen durch die EU-Osterweiterung durch Orientierungen an abstrakten fremdenfeindlichen und nationalistischen Orientierungen kompensiert werden. Dieser Wirkmechanismus weist starke Parallelen zu den Erklarungsansatzen auf, die in der neueren Autoritarismusforschung (Kindervater et al. 2006; Oesterreich 1996; Feldman/Stenner 1997) diskutiert werden (vgl. Kapitel 6 in diesem Band).
6.
Desintegration, Deprivation, Autoritarismus und Bedrohungsgefiihle (von Andreas Hadjar)
In diesem Kapitel werden unter Bezug auf neuere Ansatze der Autoritarismusforschung die Wirkungen bestimmter Kontextbedingungen auf Bedrohungswahrnehmungen, Autoritarismus und ethnozentrische Einstellungsmuster (Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus) betrachtet. Im Fokus der Analysen stehen dabei die besonders von der EUOsterweiterung betroffenen Grenzregionen in Deutschland, Polen und der Tschechischen Republik, die jeweils mit der deutschen Gesamtstichprobe verglichen werden. Herauszuarbeiten ist vor allem, ob in den deutschen Grenzregionen zu den neuen EU-Nachbam starkere Auspragungen autoritarer Einstellungen als Ausdruck von Bedrohungsgeflihlen festzustellen sind und welche Folgen diese haben. Das seinem Ursprung nach psychologische Grundkonzept"^^ des Autoritarismus basiert auf der Annahme der Existenz einer generellen antidemokratischen, vorurteilsbehafteten und faschistischen Orientierung, der „autoritaren Personlichkeit/' Diese wird charakterisiert durch zwei ambivalente Tendenzen: Zum einen dienen sich autoritare Individuen Autoritaten an und ordnen sich diesen unter, zum anderen streben sie aber auch danach, seibst eine Autoritat zu werden (Boehnke/Hadjar 2004: 251). Diese Tendenzen werden landlaufig als „Radfahrerhaltung" bezeichnet: Nach oben buckeln, nach unten treten. Die verschiedenen Autoritarismus-Ansatze der Sozialwissenschaften differieren in ihrer Auffassung darliber, inwieweit die autoritare Personlichkeit eine konstante Charakterstruktur darstellt bzw. inwieweit sie von situationalen Faktoren beeinflussbar ist. In diesen Fragen kristallisieren sich die unterschiedHchen Ausrichtungen von Psychologic und Soziologie heraus. 6.1
Das klassische Konzept der autoritaren Personlichkeit
Wurzeln des Konzepts der autoritaren Personlichkeit finden sich in den Analysen des Marxisten und Psychoanalytikers Wilhelm Reich (1971 [1933]), der das Wahlverhalten der Deutschen zwischen 1929 und 1933 im Hinblick auf den steigenden Stimmenanteil der NSDAP untersuchte. Aus den Ergebnissen leitete Reich eine relativ stabile Charakterstruktur der Unterordnung unter Autoritaten ab, deren Ursache in den gesellschaftlichen Verhaltnissen der Epoche zu suchen ist. Unter Bezugnahme auf diese Befunde fiihrte eine Gruppe der Frankfurter Schule um Erich Fromm, Theodor Adorno, Max Horkheimer und Erich Marcuse Anfang der 1930er Jahre zunachst eine Studie zu „Autoritat und Familie" "^^ Auch wenn die Studien zu Autoritat und Familie (Institut fur Sozialforschung 1936) bzw. zum Autoritarismus (Adorno et al. 1963 [1950]) interdisziplinat' angelegt waren, ist doch die „autoritare Personlichkeit" ein psychologisches Konzept (vgl. Baier/Hadjar 2006).
132
Andreas Hadjar
(Institut fiir Sozialforschung 1936) durch, um dann in den 1940er Jahren im amerikanischen Exil - mit dem Ziel, den Faschismus zu bekampfen - in einer groB angelegten Untersuchung zur „autoritaren Personlichkeit" (Adorno et al. 1963 [1950]) die psychologischen Krafte zu isolieren, die faschistische und antidemokratische Tendenzen in der Gesellschaft fordem (vgl. Hadjar 2004). Die wesentliche These der Theorie der autoritaren Personlichkeit, die im Zuge dieser Untersuchungen entwickelt wurde, ist, dass politische, okonomische und soziale Orientierungen eine koharente Denkstruktur bilden, die Abbild einer tiefer liegenden stabilen Personlichkeitsstruktur ist. Eine solche psychische Struktur bildet sich im Verlaufe der ~ aus Freudscher Sicht: fruhkindlichen - Sozialisation heraus, wenn die sozialen Erfahrungen des Kindes von autoritaren Familienbeziehungen, autoritarer Erziehung sowie Abwesenheit von Warme und Emotionalitat gepragt sind (Adorno 1963 [1950]; Hopf 1990; vgl. Rippl et al. 2000). Das klassische Instrument zur Messung der autoritaren Personlichkeit die so genannte F-Skala - wurde von Adorno et al. (1963 [1950]) entworfen und enthalt neun Dimensionen, die gemeinsam ein Syndrom bilden: Konventionalismus (starre Bindung an die konventionellen Werte der Mittelklasse), autoritare Unterwiirfigkeit (unreflektierte Unterordnung unter idealisierte Autoritaten der Eigengruppe), autoritare Aggression (Tendenz nach Menschen Ausschau zu halten, die konventionelle Werte missachten, um sie verurteilen und bestrafen zu konnen), Anti-Intrazeption (Abwehr des Subjektiven, des Phantasievollen, Sensiblen), Aberglaube und Stereotypie (Glaube an die mystische Bestimmung des Schicksals, Neigung zu rigidem Schwarz-WeiB-Denken), Machtdenken und „Kraftmeierei" (Denken in Dimensionen wie Herrschaft - Unterwerfung, FtihrerGefolgschaft; Identifizierung mit Machtgestalten; iibertriebene Zurschaustellung von Starke und Robustheit), Destruktivitat und Zynismus (allgemeine Feindseligkeit, Diffamierung des Menschlichen), Projektivitat (Disposition, an wliste und gefahrliche Vorgange in der Welt zu glauben; Projektion unbewusster Triebimpulse auf die AuBenwelt) und Sexualitat (Iibertriebene Beschaftigung mit sexuellen Vorgangen). Auch wenn Adorno et al. (1963 [1950]) die autoritare Personlichkeit als Ausdruck der gesellschaftlichen Ordnung ansehen, thematisieren sie diese aus ihrer psychoanalytischen Grundrichtung heraus als eher stabile, tiefer liegende Struktur und vernachlassigen situationale Faktoren.
6.2
Situationale Faktoren und „autoritare Reaktion"
Ein wesentlicher Schwachpunkt streng psychologischer Ansatze des Autoritarismus ist die Vemachlassigung des sozialen Kontexts. Autoritarismus unabhangig von situationalen Faktoren zu betrachten, fiihrt einerseits zu dem Fehlschluss, Autoritarismus und autoritare Verhaltensweisen basierten ausschlieBlich auf stabilen Personlichkeitsdispositionen, andererseits erscheint damit Autoritarismus als unabanderlich (Stellmacher/Petzel 2005; vgl. Pettigrew 1999). Wie schon Fromm (1973 [1941]) aufzeigte, sind auch immer die Bedingungen zu analysieren, die Autoritarismus befordern. Neuere Ansatze der Autoritarismusforschung haben sich daher von einigen klassischen Grundannahmen getrennt. Statt tiefenpsychologische Erklarungen fiir die Genese der autoritaren Personlichkeit heranzuziehen, fokussiert Altemeyer (1981, 1996) auf lemtheo-
Autoritarismus
133
retische Uberlegungen und damit Einfliisse von Sozialisationsinstanzen wie Familie und Peers sowie den gesamtgesellschaftlichen Kontext. Zur zeitgenossischen Analyse des antidemokratischen Syndroms reduziert er die F-Skala auf drei Merkmalsdimensionen: autoritare Unterwiirfigkeit, autoritare Aggression und Konventionalismus. Oesterreich (1996) stellt den Einfluss situativer Kontexte ebenso in den Vordergrund und begreift das autoritare Einstellungssyndrom als Subjekt der Sozialisation (Modelllemen). In Krisenzeiten etwa rapidem sozialen Wandel - werden autoritare Potenziale, die durch Sozialisationserfahrungen und emotionale Prozesse erworben werden, aktiviert. Funktion dieses Mechanismus ist es, aus der Situation erwachsende Verunsichemngen und Angste durch die Flucht in die klare, autoritare „Weltsicht" aufzulosen (Oesterreich 1999; vgi. auch Hadjar 2004). In bestimmten (krisenhaften) historischen Situationen werden autoritare Reaktionen befordert, d.h. erlebte Bedrohung wird mit der Hinwendung zu starken und Sicherheit suggerierenden Institutionen kompensiert und Angste minimiert („Flucht in die Sicherheit"). Gerade in Zeiten rapiden sozialen Wandels und in benachteiligten Regionen wie den Grenzregionen ware ein besonderer Konnex zwischen Autoritarismus und bestimmten Folgen auf der Einstellungsebene (Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Nationalismus) zu erwarten. Empirische Befunde von Jugendstudien zwischen 1991 und 1995 (Oesterreich 1997, 2001) bestatigen diesen situativen Ansatz. Ein Vergleich ost- und westdeutscher Jugendlicher lieferte Hinweise auf eine anomische Situation im Zuge der Transformationsprozesse in Ostdeutschland nach der Vereinigung beider deutscher Staaten. Die ostdeutschen Jugendlichen neigten starker Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit zu und hatten eine im Vergleich starkere Praferenz fiir rechtsextreme Gruppen und Politiker als ihre Altersgenossen aus dem Westen. Die Reaktion verstarkte sich im Zuge zunehmender Probleme auf dem Arbeitsmarkt. Oesterreich (2001) kehrt mit dieser situativen Sichtweise zu den interdisziplinaren Wurzeln der Autoritarismusforschung zuriick. Autoritarismus tritt in zwei Varianten auf (vgl. hierzu Kindervater et al. 2006), zum einen ahnlich der klassischen Definition als problematische Entwicklung der Personlichkeit aufgrund spezifischer Lemdefizite in der Kindheit, zum anderen aber auch als eine Reaktion auf situative Bedingungen, die potenziell bei alien menschlichen Individuen - egal ob sie eine autoritare Charakterstruktur haben oder nicht - moglich ist: „Die Idee einer situationsspezifischen autoritaren Reaktion beschreibt sowohl menschliches Verhalten in kritischen, Angst erzeugenden Situationen als auch die Entwicklung eines Personlichkeitstyps, der durch die Unfahigkeit, sich aus der autoritaren Reaktion zu losen, gekennzeichnet ist" (Oesterreich 1993: 43). Im Hinblick auf die situative Sichtweise sind situationsspezifische Angste und Unsicherheiten - und letztlich auch Bedrohungen - hervorzuheben, die Ausloser fiir autoritare Reaktionen sind. Dies hatten bereits das so genannte Milgram-Experiment (Milgram 1993 [1974]) oder Bettelheims (1982 [1943]) Erfahrungen im Konzentrationslager veranschaulicht. Im Kern des Ansatzes der autoritaren Reaktion finden sich die Begriffe der Verunsicherung und der Bedrohung, die eine wichtige Rolle bei der Genese autoritarer Reaktionen spielen. Eine Verkntipfung des Ansatzes der autoritaren Reaktion (Oesterreich 1993, 1996) mit bedrohungstheoretischen Annahmen (vgl. u.a. Quillian 1995; Sears 1988; Stephan/Stephan 2000) liefert ein detaillierteres Bild der sozialen Mechanismen der autoritaren
134
Andreas Hadjar
Reaktion. Aus den theoretischen tJberlegungen - die ausftihrlicher im Kapitel 2 dieses Bandes dargelegt wurden - ergibt sich folgende Kernthese: Autoritarismus ist eine Folge von als bedrohlich wahrgenommenem sozialen Wandel (vgl. Rippl et al. 2005). Aus Verunsichemngen und realistisch-kollektiven, realistisch-individuellen und symbolisch-koUektiven Bedrohungen erwachst der Wunsch nach einfachen, rigiden Antworten und nach Sicherheit, wie sie charakteristisch fiir das autoritare Denkmuster sind. Autoritarismus ist eng verbunden mit antidemokratischen Einstellungsmustern. Ethnozentrische Einstellungen wie Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus oder Nationalismus weisen eine tJbereinstimmung - namlich eine einfache hierarchische Weltsicht - auf. Wird der Unterscheidung von Werten und Einstellungen gefolgt, erscheint es plausibel, dass Autoritarismus als stabileres (v^ertahnliches) System die hier thematisierten Einstellungsmuster strukturiert (vgl. Hadjar 2004; Baier/Hadjar 2006). Die Orientierung an klaren hierarchischen Weltbildern, die einfache Problemlosungen und eindeutige Freund-FeindUnterscheidungen implizieren, stellen einen Weg dar, die durch den sozialen Wandel bedingten Probleme zu bevs^altigen (Rippl et al. 1998) und - i.S. etwa eines Rational Choice-Ansatzes - Orientierungskosten zu sparen (vgl. Hadjar 2004).
6.3 6.3.1
Autoritarismus und Bedrohungserleben Instrumentenentwicklung und deskriptive Befunde
Unabhangig von Kontroversen sowohl um die Entstehungsbedingungen von Autoritarismus als auch bezogen auf seine Konzeptualisierung als Personlichkeitsmerkmal vs. als situatives Reaktionsmuster hat sich hinsichtlich seiner Messung die Position durchgesetzt, dass Autoritarismus ~ wie schon in den urspriinglichen Arbeiten von Adomo et al. (1950) - als ein Syndrom unterschiedlicher Dimensionen zu erfassen ist, wobei 'autoritare Unterwurfigkeit' (gegeniiber der Eigengruppe), 'autoritare Aggression' (gegenliber Schwacheren, die als 'abweichend' erfahren werden) und 'Konventionalismus' als unverzichtbar gelten (Altemeyer 1988; Hopf 2000). In Anlehnung an Vorschlage von Altemeyer (1996) kamen in der hier vorgestellten Studie zwei Items zur autoritaren Aggression und zwei Items zur autoritaren Unterwiirfigkeit zum Einsatz (vgl. Abbildung 39). Eine solche Kurzskala wurde u.a. auch von Heitmeyer (2002) genutzt. Die Haufigkeitsauswertungen zu den vier Erhebungsregionen zeigen ein recht konsistentes Bild: Polen und Tschechen weisen immer deutlich hohere Zustimmungswerte auf als Deutsche. Dabei sind allerdings in einigen Fallen die Unterschiede nur in Bezug auf die deutsche Reprasentativstichprobe signifikant. Dies verdeutlicht zugleich, dass die Befragten in den deutschen Grenzregionen ofter autoritaren Statements zustimmen. Insofern lieBe sich im Vergleich der Stichproben (1) und (2) tatsachlich von einer Mobilisierung von Autoritarismus aufgrund der unmittelbaren Betroffenheit von der EU-Osterweiterung sprechen. Allerdings ist zu bedenken, dass Ostdeutsche einerseits aufgrund der Wandlungsprozesse nach der deutsch-deutschen Vereinigung, aber andererseits sicherlich auch auf Basis entsprechender Erziehungspraktiken in der DDR, etwas haufiger autoritare Dispositionen ausbilden. Ein hoheres Autoritarismusniveau in Stichprobe (2) konnte damit auf die groBere Anzahl Ostdeutscher in dieser Stichprobe zuriickzufiihren sein. Im Ver-
Autoritarismus
135
gleich der vier Items findet sich, dass den beiden Items zur autoritaren Aggression haufiger zugestimmt wird als denen zur Unterwtirfigkeit. Nahezu alle Polen und Tschechen bzw. iiber 80 Prozent der Deutschen sind der Meinung, dass Verbrechen barter bestraft werden sollen. Dies ist in der kriminologischen Forschung kein unbekannter Befund (vgl. Pfeiffer et al. 2004), steht aber in deutlichem Kontrast zur tatsachlichen Kriminalitatsentwicklung, die nahezu in alien Bereichen riicklaufig ist und somit gar keinen Anlass fiir Strafverhartungen gibt. Nur ein Viertel der Deutschen und ca. die Halfte der auslandischen Befragten stimmen hingegen der Ansicht zu, dass man dankbar sein sollte flir fiihrende Kopfe. Die vier Items haben also - im testtheoretischen Sinne - eine sehr unterschiedliche Schwierigkeit.
Abbildung 39: Zustimmung zu autoritaren Aussagen (Anteile „stimme eher zu" und „stimme voll und ganz zu", in %, in Klammern = signifikante Gruppenunterschiede) Die unterschiedliche Item-Schwierigkeit schlagt sich vor allem hinsichtlich des letzten Items in den Skalenanalysen nieder, die in Tabelle 33 berichtet werden. In drei der vier Stichproben weist es die geringste Faktorladung bei Durchfiihrung einer konfirmatorischen Faktorenanalyse auf. Nur in Polen weicht das Ergebnis etwas von den anderen drei Stichproben ab, da hier das erste Item die geringste Ladung hat. Reliabilitatsanalysen bestatigen diese Befunde noch einmal fiir beide deutschen Stichproben, wo das letzte Item
136
Andreas Hadjar
auch die geringste Trennscharfe aufweist."^"^ In Polen ist dies wiedemm das erste, in der Tschechischen Republik sticht kein Item hervor. Vergleicht man die Reliabilitatskoeffizienten (Cronbachs a) der 4- und der 3-Item-Skala, so weist in den deutschen Stichproben die letztgenannte bessere Eigenschaften auf. Obwohl in den beiden anderen Stichproben die Koeffizienten zuriickgehen, ist dieser Riickgang eher als geringfiigig einzuschatzen. Insofern spricht auch in diesen Gebieten nichts gegen die Verwendung einer um ein Item gekiirzten Autoritarismusskala. TabeUe 33: Analyse der Autoritarismusskala Item DReprasentativ stichprobe 1) Verbrechen soilten barter bestraft werden. 2) Um Recht und Ordnung zu wahren, sollte man barter gegen Unruhestifter vorgehen 3) Zu den wichtigsten Eigenschaften gehoren Gehorsam und Respekt vor Vorgesetzten. 4) Wir sollten dankbar sein fiir fiihrende Kopfe, die uns sagen, was wir tun sollen. Cronbachs Alpha (Items 1-4) Cronbachs Alpha (Items 1-3)
Faktorladung (konfkmatorisch) DPLGrenz- Grenzregion region
Trennscharfe
cz-
CZGrenzregion
DReprasentativ stichprobe
D^^ Grenzregion
PLGrenzregion
Grenzregion
0,73
0,71
0,60
0,77
0,49
0,45
0,32
0,35
0,83
0,81
0,75
0,78
0,62
0,57
0,44
0,34
0,78
0,77
0,78
0,63
0,57
0,54
0,56
0,48
0,60
0,58
0,68
0,53
0,37
0,35
0,44
0,38
-
-
-
0,72
0,69
0,64
0,59
-
-
-
0,73
0,70
0,57
0,54
Die deskriptiven Auswertungen der 3-Item-Autoritarismusskala.45 reproduzieren noch einmal die Ergebnisse aus der vorangegangenen Abbildung. In Abbildung 40 weisen die Es wurde an dieser Stelle auf die konfirmatorische Analyse zuruckgegriffen und nicht auf die explorative, da ein erprobtes Instrument zum Einsatz gekommen ist, von dem erwartet werden konnte, dass alle Items auf einem Faktor laden. Die Antwortskala reichte von 1 - stimme uberhaupt nicht zu bis 4 - stimme voll und ganz zu.
Autoritarismus
137
Tschechen die hochsten autoritaren Dispositionen auf und unterscheiden sich darin ebenso wie die Polen - von beiden deutschen Stichproben signifikant. Ebenfalls hoher fallt die Zustimmung in der Grenzregion im Vergleich zur deutschen Reprasentativstichprobe aus. Wie die Abbildung aber zugleich verdeutlicht, ist dies kein Effekt des hoheren Autoritarismusniveaus in Ostdeutschland. Zwar gibt es, die Reprasentativstichprobe betrachtend, tatsachHch einen signifikanten West-Ost-Unterschied derart, dass Ostdeutsche autoritarer sind. Dieser Unterschied verschwindet aber vollkommen in Stichprobe (2), was darauf zurlickzufiihren ist, dass die bayerischen Befragten deutlich starker autoritar strukturiert sind als die Westdeutschen im Allgemeinen.
Abbildung 40: Autoritarismus in den vier Erhebungsgebieten und im West-Ost-Vergleich (Mittelwerte, ** p < .01) Damit wiederholt sich ein in den vorangegangenen Analysen bereits mehrfach beobachteter Refund: Problematisch in dem Sinne, dass die EU-Osterweiterung zu einer Mobilisierung oder Verscharfung vorhandener negativer Einstellungen fiihren konnte, erweisen sich die Bedingungen besonders im bayerischen Grenzland. Allerdings sollte emeut betont werden, dass aufgrund der Datenlage (Querschnittbefragung) keine eindeutigen kausalen Aussagen getroffen werden konnen. Ob das Autoritarismus-Niveau im bayerischen Grenzland hoher ist, weil die EU-Osterweiterung zum Zeitpunkt der Befragung bevorstand oder ob sich darin spezifische Umstande dieser Region im Allgemeinen niederschlagen (z.B. beschleu-
138
Andreas Hadjar
nigter struktureller Wandel, Existenz einer eher landlich gepragten Mentalitat), kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht gesagt werden. Der Frage, welche Folgen autoritare Dispositionen fiir die Entstehung von Bedrohungsgeflihlen und rechten Einstellungen haben, wird im weiteren Verlauf des Kapitels untersucht. An dieser Stelle wird zunachst nur noch gepriift, welche Faktoren fiir die Entstehung von Autoritarismus verantwortlich sind. Hierfiir v^urden vier Regressionsanalysen berechnet. Dabei findet sich fiir alle Stichproben ein Generationeneffekt: Altere Befragte weisen hohere autoritare Dispositionen auf als jiingere Befragte. Teilt man die Auffassung, dass in erster Linie Sozialisationserfahrungen in der Kindheit die Ausbildung von Autoritarismus bestimmen, dann ist dieser Befund insofem plausibel als altere Generationen in ihrer Kindheit noch sehr viel haufiger etwa gewaltausiibenden - die Entwicklung autoritarer Personlichkeitsdispositionen begiinstigenden - Erziehungspraktiken ausgesetzt waren als jiingere Generationen (vgl. Baier/Hadjar 2006). Daneben erweist sich zumindest in den deutschen Stichproben das Bildungsniveau als Einflussfaktor, hohere Bildung schiitzt sozusagen vor autoritaren Dispositionen. Die inhaltliche Deutung dieses Befundes ist allerdings nicht einfach. Einerseits mag sich darin die Tatsache widerspiegeln, dass hohere Bildung eine Art kognitive Barriere gegen Submission und Projektion bereitstellt. Eine andere Deutung wiirde hingegen eher im Sinne eines Artefakts argumentieren: Personen mit besserer Bildung sind eher in der Lage, die StoBrichtungen von Fragebogenitems zu durchschauen und antworten dann sozial erwiinscht. Ein solcher Bildungsbias wurde auch bereits der F-Skala vorgeworfen (Cohn 1952; Kirscht/Dillehay 1967). Nur in der Tschechischen Republik erhoht die Wahrnehmung, dass man sich derzeit in einer schlechten wirtschaftlichen Lage befindet, das Autoritarismusniveau; in der deutschen Reprasentativstichprobe haben Ostdeutsche einen hoheren Autoritarismus. Beide Ergebnisse lassen sich dahingehend interpretieren, dass auch aktuelle, d.h. situative Bedingungen einen Einfluss auf autoritare Dispositionen haben. Dies entspricht in der Tendenz der Lesart der neueren Autoritarismustheorie (Oesterreich), die bedrohliche Situationen als Ausloser autoritarer Reaktionen betrachtet. Allerdings finden sich fiir diese Konzeption nur in zwei Befragungsgebieten Belege; zudem findet sich fiir einen weiteren Indikator, der die situativen Umstande beschreibt, namlich die Arbeitslosigkeit, nirgendwo eine Beziehung zum Autoritarismus. Und noch ein letzter Befund lasst sich gegen eine situationsbezogene Interpretation des Autoritarismus ins Feld fiihren: Einen durchweg vorhandenen, wenn auch nur moderaten Einfluss iibt die institutionelle Desintegration aus, also die subjektive Sichtweise von Befragungsteilnehmerinnen und -teilnehmern, dass politisches Engagement im GroBen und Ganzen wirkungslos ist. Eine solche Sichtweise diirfte sich aber in der Regel nicht iiber Nacht entwickeln, d.h. auch sie ist eher Ergebnis einer langer wahrenden Sozialisation. Die Ergebnisse zu den Ursachen von Autoritarismus bestatigen damit weitestgehend eine sozialisationsbedingte und damit auch dispositionelle Sichtweise. IJber alle Regionen hinweg stehen hoheres Alter und hohere institutionelle Desintegrationswahrnehmung damit in Verbindung. Dennoch bleibt die Varianzaufklarung vor allem in den drei Grenzregionen recht niedrig, was die Frage nach bislang nicht beriicksichtigten Ursachen provoziert. Natiirlich konnten diese in den situativen Rahmenbedingungen gesucht werden,
Autoritarismus
139
wobei die geringen Korrelationen zwischen den drei aufgenommenen Variablen (wirtschaftliche Lage, Arbeitslosigkeit, ostdeutscher Wohnsitz) und Autoritarismus allerdings vermuten lassen, dass eine solche Suchstrategie wenig Erfolg verspricht. Lohnender schiene da eine kultur-historische Analyse. Tabelle 34: Pradiktoren von Autoritarismus^ DReprasentativ stichprobe (1) 0,12
Alter Geschlecht Schulbildung
DPLCZGrenzregion Grenzregion Grenzregion (2) (3) (4) 017
OlO
019
-0,33
(schlechte) eigene wirtschaftliche Lage
-
aktuelle Arbeitslosigkeit institutionelle Desintegration (2 Items) ostdeutscher Wohnsitz
-
0,13
R2
025
0,25
-0,22
0,13 0,12
0,19
0,16
Oil
0£4
0,08
^ Regressionsanalysen; dokumentiert B, p < .05 Im Vergleich der vier Regionen hat sich ergeben, dass die beiden auslandischen Grenzgebiete durch ein recht hohes Autoritarismusniveau gekennzeichnet sind. Leider stehen keine Vergleichsdaten aus dem Landesinneren Polens und der Tschechischen Republik zur Verfiigung, die helfen wiirden, diesen Befund richtig einzuordnen. Moglicherweise weisen Polen und Tschechen im Allgemeinen eher autoritare Dispositionen auf. Moglich ist aber auch, dass die Grenzregionen besonders betroffen sind. Fiir Deutschland und besonders die bayerische Grenzregion kann dies bestatigt werden. Hier finden sich haufiger autoritare Dispositionen als im restlichen Westdeutschland. 6.3.2
Autoritarismus und EU-Osterweiterung - Hypothesen
Der Frage, welche autoritaren Reaktionen im Zuge der EU-Osterweiterung auszumachen sind, wird auf zwei verschiedenen Ebenen und unter Heranziehung verschiedener Teilstichproben des gesamten zur Verfiigung stehenden Datensatzes nachgegangen: Zunachst wird auf der Ebene der Regionen untersucht, ob in den Grenzregionen in besonderem AusmaB Zusammenhange von Bedrohungen, Autoritarismus und negativen Einstellungsmustern festzustellen sind. Individuelle Zusammenhange beziiglich soziookonomischer Bestimmungsfaktoren von Bedrohungswahmehmungen, der Genese von Autoritarismus und den
140
Andreas Hadjar
Folgen von Autoritarismus auf der Einstellungsebene werden in einem zweiten Analyseschritt untersucht. Im Kern dieser Analysen stehen die bayerischen und sachsischen Grenzregionen sowie die gesamtdeutsche Reprasentativstichprobe. Die Hypothesen zu regionalen Unterschieden zwischen Gesamtdeutschland und den starker von der EU-Osterweiterung betroffenen Grenzregionen sind koUektiver Natur, d.h. sie beziehen sich auf die Makroebene. Innerhalb der Regionen werden jedoch individuelle Zusammenhangsmuster gepriift, wenngleich diese im Rahmen einer Querschnittsanalyse in ihren Kausalitatsbeziehungen nicht abschlieBend zu klaren sind. Zudem stellt sich die Frage, wie sich eine autoritare Reaktion empirisch auBert. Aus der theoretischen Exploration ergeben sich zwei Sichtweisen: (1) Im Kontext von verunsichemden Situationen sind die Korrelationen zwischen Bedrohungswahrnehmung und Autoritarismus besonders hoch; (2) die Bedrohungswahrnehmung moderiert den Zusammenhang zwischen Autoritarismus und seinen Folgen, d.h. dass nur dann autoritares Potenzial aktiviert wird und zu negativen Einstellungsmustern fiihrt, wenn eine Bedrohungswahrnehmung vorliegt. Auf der Makroebene werden Unterschiede zwischen Gesamtdeutschland und den Grenzregionen erwartet, die u.a. in der besonderen Sozialstruktur der Grenzregionen begriindet liegen: {HI) In den Grenzregionen ist das Ausmafi an Bedrohungswahrnehmungen, Autoritarismus und Folgen wie Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Nationalismus grofier als in der Vergleichsstichprobe Gesamtdeutschland. AuBerdem werden Unterschiede zwischen den wirtschaftlich starkeren bayerischen Grenzregionen und den strukturschwacheren sachsischen Grenzregionen vermutet. Potentielle Unterschiede sind hier allerdings nur bedingt auf die wirtschaftliche Situation zurtickzufiihren, da hier eine Konfundierung insbesondere mit dem Ost-West-Effekt vorliegt: (H2) In den sachsischen Grenzregionen ist das Ausmafi an Bedrohungswahrnehmungen, Autoritarismus und Folgen wie Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Nationalismus grofier als in den bayerischen Grenzregionen. Auf der Mikroebene ergeben sich folgende Hypothesen: {H3) Je starker jemand die EU-Osterweiterung als bedrohlich wahmimmt, desto starker ist sein/ihr Autoritarismus. (H4) Je autoritdrer ein Individuumjst, desto starker die Tendenz zu normativ negativen Einstellungsmustern (Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Nationalismus). (H5) Individuelle Bedrohungswahrnehmungen beeinflussen den Ejfekt von Autoritarismus auf negative Einstellungsmuster (Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Nationalismus): Lediglich bei starken Bedrohungsempfindungen besteht ein enger Zusammenhang zwischen Autoritarismus und negativen Einstellungsmustern. Beziiglich der regionalen Unterschiede wird erwartet, dass der Zusammenhang zwischen Bedrohungswahrnehmungen und Autoritarismus in den Grenzregionen - und hier insbesondere in den wirtschaftlich schwachen sachsischen Grenzregionen - starker ausgepragt ist als in der Vergleichsstichprobe Gesamtdeutschland. Auch sollte der Zusammenhang zwischen Autoritarismus und negativen Einstellungsmustern (Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Nationalismus) in den Grenzregionen - und wiederum insbesondere in den sachsischen Grenzregionen - starker ausgepragt sein als in der Vergleichsstichprobe Gesamtdeutschland.
Autoritarismus 6.4
141
Ergebnisse
Als erste Annaherung an die zu untersuchende Fragestellung, ob situative bzw. regionenspezifische Faktoren mit unterschiedlichen Auspragungen von Bedrohungswahmehmungen, Autoritarismus und anderen negativen Einstellungsmustem einhergehen, sollen Ergebnisse von Mittelwertvergleichen graphisch prasentiert werden. In Abbildung 41 sind zunachst die Mittelwerte der drei Bedrohungsdimensionen fiir die beiden Grenzregionen und die Referenzstichprobe Gesamt-Deutschland dargestellt. Dabei ist zu konstatieren, dass sich die beiden deutschen Grenzregionen in Bayern und Sachsen nur wenig von GesamtDeutschland unterscheiden. Im Hinbiick auf symbolisch-kollektive Bedrohungen finden sich gar keine signifikanten Unterschiede zwischen den wirtschaftlich sehr unterschiedlichen Grenzregionen sowie zwischen diesen Grenzregionen und Gesamt-Deutschland.
Abbildung 41: Bedrohungswahrnehmungen in verschiedenen Regionen (Mittelwerte; in Klammern: signifikante Unterschiede zwischen den Regionen; p < .05)
142
Andreas Hadjar
Beziiglich kollektiver und individueller realistischer Bedrohungen finden sich in den sachsischen Grenzregionen hohere AusmaBe als in der Referenzstichprobe Deutschland; auch die bayerischen Grenzregionen haben ein hoheres AusmaB an realistisch-kollektiven und realistisch-individuellen Bedrohungswahmehmungen, unterscheiden sich aber nicht signifikant von Gesamt-Deutschland. Die Hypothese HI ist somit nur in Bezug auf realistisch-kollektive und realistisch-individuellen Bedrohungen in sachsischen Grenzregionen zu bestatigen.
Abbildimg 42: Autoritarismus und seine Folgen in verschiedenen Regionen (Mittelwerte, in Klammern: signifikante Unterschiede zwischen den Regionen; p < .05) Autoritarismus ist - entsprechend der Hypothese 1 ~ in den bayerischen und sachsischen Grenzregionen Deutschlands signifikant starker ausgepragt als in Gesamt-Deutschland. Ftir die normativ negativen Einstellungsmuster Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus, die mit Autoritarismus korrespondieren, ist gleichermaBen ein signifikant hoheres AusmaB in den Grenzregionen zu konstatieren. Antisemitische Tendenzen finden sich verstarkt nur in
Autoritarismus
143
der bayerischen Grenzregion; Gesamt-Deutschland und die sachsischen Grenzregionen unterscheiden sich hier nicht signifikant voneinander (vgl. Abbildung 42). Die Hypothese 2 iiber Unterschiede zwischen bayerischen und sachsischen Grenzregionen, die auf unterschiedliche wirtschaftHche Lagen zurtickzufiihren waren, konnte im Hinblick auf alle Dimensionen - Bedrohungen, Autoritarismus und damit korrespondierende Einstellungsmuster - anhand der Befunde nicht gestiitzt werden. Inwieweit die verschiedenen Orientierungsmuster auf der individuellen Ebene miteinander korrespondieren, ist anhand von anderen statistischen Verfahren zu klaren, wenngleich die Auswahl der Verfahren infolge der geringen Fallzahlen eingeschrankt ist. So sind beziighch der Grenzregionenstichproben keine Strukturgleichungsmodelle oder komplexe Regressionsmodelle anwendbar. Eine getrennte Betrachtung einiger in den theoretischen Uberlegungen thematisierter Zusammenhange soli Erkenntnisse iiber verschiedene Einflussfaktoren beziighch der Forderung autoritarer Einstellungen bringen. Um kulturelle Unterschiede weitgehend auszublenden, werden im Rahmen dieser Analysen nur jeweils zwei deutsche Grenzregionen - die bayerische Grenzregion zur Tschechischen Republik und die sachsische Grenzregion zur Tschechischen Repubhk bzw. zu Polen - miteinander sowie mit GesamtDeutschland verghchen. Da sich beide Grenzregionen in ihrer soziookonomischen Struktur sehr stark voneinander unterscheiden, konnen Riickschliisse auf den Einfluss regionaler situativer Faktoren - im Sinne des Einflusses einer Situation rapiden sozialen Wandels gezogen werden. Wahrend Bayern von einer starkeren Wirtschaftskraft und einer vergieichsweise niedrigen Arbeitslosigkeit gepragt ist, sind Sachsen und insbesondere die sachsischen Grenzregionen durch hohe Arbeitslosigkeit und wirtschafthche Probleme charakterisiert. Sachsen - als Teil der ehemaligen DDR - unterhegt ahnhch den EU-Beitrittsstaaten seit Anfang der 1990er Jahre einem immensen Transformationsprozess. Vor diesem Hintergrund miissten sich insbesondere in Sachsen starkere autoritare Orientierungen feststellen lassen. Ein Vergleich soli hier nicht aus Sicht der Mittelwerte erfolgen, sondem im HinbHck auf die Bestimmungsfaktoren von Bedrohungen und Autoritarismus sowie die Beziehung zwischen Autoritarismus und negativen Einstellungsmustern wie Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und NationaHsmus. Die vorgestellten Analysen erganzen - mit speziellem Blick auf Sachsen vs. Bayern - die bereits in Tabelle 34 berichteten Analysen. 6.4,1
Bestimmungsfakto ren von A utoritarismus
Die Bestimmungsfaktoren von Autoritarismus als Indikator fiir eine autoritare Reaktion werden in multiplen Regressionsmodellen hierarchisch modelliert und analysiert. Als unabhangige Variablen werden (1) die Bildung, die mit Blick auf die These der kognitiven Mobilisierung (Baumert 1991; Baumert et al. 2003; Hadjar/Becker 2006) einen negativen Effekt auf Autoritarismus haben sollte, (2) die relative Deprivation als Wahrnehmung der Kluft zwischen Wunsch- und Ist-Zustand der eigenen wirtschaftlichen Befindlichkeit, die einen ,positiven' Einfluss auf Autoritarismus haben sollte (Runciman 1966; Scheuch/Klingemann 1967; Walker/Smith 2001; Rippl/Baier 2005), sowie (3) die Wahr-
Andreas Hadjar
144
nehmung der wirtschaftlichen Lage der Bundesrepublik, die einen negativen Einfluss auf Autoritarismus haben soUte, als Kontrollvariablen eingefiigt. In einem letzten Schritt werden die drei Bedrohungsdimensionen in die Regressionsmodelle integriert, da hier ein Mediationseffekt zu vermuten ist. Die Rolle der Bedrohungen als Mediator fiir den Zusammenhang zwischen individuellen Kontextfaktoren und Autoritarismus soUte dergestalt zum Ausdruck kommen, dass diese situationalen Effekte nach Einfiigung der Bedrohungsvariablen an Einfluss verlieren (vgl. MacKinnon et al. 2000: 173f.). Die Resultate der multivariaten Analysen (vgl. Tabelle 35) weisen auf Unterschiede zwischen den sachsischen und den bayerischen Grenzregionen in Deutschland hin. TabeDe 35: Erklarung von Autoritarismus^ Pradiktor
Gesamt-Deutschland
Bayerische Grenzregion
Sachsische Grenzregion
Modell Modell Modell Modell Modell Modell Modell Modell Modell 1 2 3 1 2 3 1 2 3 Hohere Bildung (Abitur)
-0,38
-0,38
Relative Deprivation
0,07
Wahrgenommene wirtschaftliche Lage in Deutschland
-0,10
-0,08
-0,01
-0,30
-0,28
0,02
-0,06*
0,01
-0,01
-0,19*
0,15**
0,12*
0,08
-0,19"
-0,09**
-0,23
-0,20*
-0,18"
-0,09
Realistischkollektive Bedrohung
022**
Symbolischkollektive Bedrohung
031**
Realistischindividuelle Bedrohung
0,03
R^
0,16
-0,15
-022
0,19
0,37
0,14
0,19*
024**
0,30
0,03
0,22*
0,01
0,03
0,26
0,12
0,15
0,23
^ OLS-Regression; standardisierte Koeffizienten, * p < .05; ** p < .01 Beide Grenzregionen unterscheiden sich wiederum hinsichtlich verschiedener Einflussfaktoren von Autoritarismus von der Referenzstichprobe Gesamt-Deutschland. Eine hohere Bildung hat nur in Gesamtdeutschland und in den sachsischen Grenzregionen einen hemmenden Einfluss auf Autoritarismus (Modell 1); offenbar sind in Bayern hoch und niedrig Gebildete in ahnlichem MaBe autoritar. Mit der Komplexitat des Modells sinkt zwar in
Autoritarismus
145
Gesamt-Deutschland und in den sachsischen Grenzregionen der Einfluss der Bildung, vor allem durch den Mediationseffekt der Bedrohungswahrnehmungen, dennoch erweist sich der Einfluss der Bildung hinsichtlich seiner Signifikanz hier als stabil (vgl. Modelle 2, 3). Die relative Deprivation, die zusammen mit der Bildung im jeweils ersten Modell als Pradiktor fiir Autoritarismus eingefuhrt wurde, hat in der Stichprobe Gesamt-Deutschland und in der sachsischen Grenzregionenstichprobe einen eher geringen, aber dennoch signifikanten Effekt auf die Auspragung des Autoritarismus. In den bayerischen Grenzregionen spielt die relative Deprivation zunachst keine Rolle, hier zeigt sich aber in Modell 3 nach Einfiihrung der Bedrohungswahrnehmungen ein ausgepragter Suppressionseffekt. Die wahrgenommene wirtschaftliche Lage der Bundesrepublik, die in Modell 2 eingefiihrt wird, hat in alien drei Stichproben einen signifikanten, negativen Effekt auf Autoritarismus; d.h. je positiver die Befragten die wirtschaftliche Lage Deutschlands einschatzen, desto weniger neigen sie zu autoritaren Orientierungen. Das komplexe Modell 3 dient jeweils der Analyse des Einflusses der Bedrohungswahrnehmungen - entsprechend der Hypothese H4. Eine besondere Bedeutung aller drei Bedrohungswahrnehmungen (realistisch-kollektive, symbolisch-kollektive und symbolischindividuelle Bedrohung) ist fiir die bayerischen Grenzregionen zu konstatieren. Die relative Deprivation des befragten Individuums hat bei Kontrolle der Bedrohungswahrnehmung einen negativen Einfluss auf die Auspragung autoritarer Orientierungen. Dies bedeutet, dass bei einem gleichen AusmaB an wahrgenommener Bedrohung Menschen, die sich starker depriviert flihlen, sogar weniger autoritar sind. In den sachsischen Grenzregionen steht nur die symbolisch-kollektive Bedrohung, also die Bedrohungswahrnehmung bezuglich von Kultur und Werten, in einer signifikanten positiven Beziehung zu Autoritarismus; die anderen Bedrohungsdimensionen sind hier weniger wichtig. Die symbolisch-kollektive Bedrohungswahrnehmung mediiert in den sachsischen Grenzregionen sowohl den Einfluss der relativen Deprivation, als auch den Einfluss der Einschatzung der wirtschaftlichen Lage Deutschlands auf Autoritarismus. Relative Deprivation und eine pessimistische Einschatzung der deutschen Wirtschaft fiihren somit in den sachsischen Grenzregionen nicht per se zu verstarktem Autoritarismus, sondem zunachst zu einer ausgepragteren Wahrnehmung einer Bedrohung nationaler Kultur und Werte, und damit indirekt zu Autoritarismus. In der Referenzstichprobe Gesamt-Deutschland erweisen sich die realistisch-kollektive und die symbolisch-kollektive Bedrohung als signifikante Pradiktoren von Autoritarismus. Hier spielen individuelle Bedrohungswahrnehmungen offenbar keine Rolle, was damit erklart werden kann, dass die Individuen in den Grenzregionen starker auch individuell von der EU-Osterweiterung betroffen sind als in der Gesamtstichprobe Deutschland (vgl. Kapitei 4). Technisch gesprochen binden kollektive Bedrohungswahrnehmungen Varianz der Einschatzung der deutschen Wirtschaftslage, was auf einen Mediationseffekt hinweist. Ahnlich wie in der bayerischen Substichprobe gewinnt erst nach Einfiihrung der Bedrohungswahrnehmungen die individuelle relative Deprivation an Einfluss bzw. erhalt erst dann einen signifikanten Einfluss auf Autoritarismus.
146 6,4.2
Andreas Hadjar Autoritdre Einstellungen und FremdenfeindlichkeiU Antisemitismus und Nationalismus
Die Effekte autoritarer Reaktionen sind in alien drei Stichproben ahnlich. Es bestehen signifikante positive Korrelationen - entsprechend der Hypothese H4 - zwischen Autoritarismus und Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus. Autoritare Individuen tendieren starker zu antisemitischen, fremdenfeindlichen und nationalistischen Einstellungen. Wahrend die Varianz des Antisemitismus in den beiden Grenzregionen zu ca. 5 Prozent durch Autoritarismus (in Gesamt-Deutschland 10 %) erklart wird, liegen die durch Autoritarismus erklarten Varianzanteile der Fremdenfeindlichkeit und des Nationalismus in den Grenzregionen zwischen 14 Prozent und 20 Prozent (in Gesamt-Deutschland 26 %). Offenbar fiihren autoritare Orientierungen bzw. eine autoritare Reaktion in den deutschen Grenzregionen weniger zu Antisemitismus, sondern eher zu Nationalismus und Auslanderablehnung. Ein besonders stark ausgepragtes Zusammenspiel zwischen Autoritarismus und normativ negativen Folge-Einstellungen - im Sinne einer dort besonders autoritaren Reaktion - ist in den Grenzregionen aufgrund dieser Zusammenhangsanalysen nicht festzustellen. Tabelle 36: Korrelationen zwischen Autoritarismus und negativen Einstellungsmustern Gesamt-Deutschland
Bayerische Grenzregion
Sachsische Grenzregion
Antisemitismus
0,32**
0,22*
0,23*'
Fremdenfeindlichkeit
0,43**
0,45**
0,40*
Nationalismus
0,51**
0,38**
0,41*
= p < 0.05; ** p < .01 6.4.3
Bedrohungswahrnehmungen und ihre Bedeutung fur den Zusammenhang zwischen Autoritarismus und den Folge-Einstellungen Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Nationalismus
Die Regressionskoeffizienten in Tabelle 37 zeigen, inwieweit den einzelnen Bedrohungswahrnehmungen eine RoUe in der Erklarung des Effekts von Autoritarismus auf Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Nationalismus zukommt. Im Zentrum der Analysen stehen dabei jeweils drei Interaktionseffekte, die sich aus der multiplikativen Verkniipfung von Autoritarismus und jeweils einer Bedrohungswahrnehmung ergeben."^^ Hinter der Einfiihrung von Interaktionstermen steht die These der Aktivation autoritarer Einstellungen im Zuge verstarkter Bedrohungswahrnehmungen. Interaktionseffekte zeigen sich zunachst insbesondere fiir die sachsischen Grenzregionen. Die Hypothese H5 "^^ Zur Vermeidung von Multikollinearitat zwischen den Variablen wurden die Interaktionsterme entsprechend dem Vorschlag von Jaccard et al. (1990; vgl. Jaccard 2001) aus mittelwertszentrierten Variablen gebildet.
Autoritarismus
147
lasst sich anhand der Daten aus der sachsischen Grenzregion hinsichtlich eines Einflusses der symbolisch-kollektiven und der realistisch-kollektiven Bedrohung auf den Zusammenhang zwischen Autoritarismus und Nationalismus stiitzen. Realistisch-koUektive Bedrohungen beeinflussen den Zusammenhang zwischen Autoritarismus und Nationalismus positiv, d.h. sie wirken als eine Art Katalysator fiir die Genese von Nationalismus. Tabelle 37: Bedrohungserleben und die RoUe des Autoritarismus in der Erklarung von Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Nationalismus Gesamt-Deutschland Pradiktor Autoritarismus RealistischkoUektive Bedrohung
, ' Antir . . semifemd- ^. T , 1 .^ tismus lichkeit 0,24**
Nationalismus
Bayerische Grenzregion , " Antir • •, semifemd.. ,. .^ tismus lichkeit
Nationalismus
Sachsische Grenzregion J Antiden. r • J semilemd.. ,. .^ tismus lichkeit
NatioT nalismus
0,12**
0,28**
0,24*
0,08
0,32**
0,23
0,09
0,06 <-0,01
0,17**
0,10
0,12
0,17
-0,03
-0,01
0,16*
0,20
Symbolischkollektive Bedrohung
0,30**
0,30**
0,26**
0,20
0,31*
0,19
0,39**
0,31**
0,27*
Realistischindividuelle Bedrohung
0,09**
0,09*
0,02
0,25*
-0,04
-0,13
0,08
0,06
0,02
-0,02
-0,05
-0,01
0,06
0,16
0,14
0,06
0,05
0,22'
0,05
0,06
-0,02
-0,17
-0,22
-0,07
-0,08
-0,06
-0,19
-0,12**
0,01
0,06
0,17
0,08
0,04
-0,01
0,06
0,20
0,36
0,32
0,10
0,15
0,29
0,12
0,31
RealistischkoUektive Bedrohung X
Autoritarismus Symbolischkollektive Bedrohung X
Autoritarismus Realistischindividuelle Bedrohung
< -0,01
X
Autoritarismus "R^
0,30
OLS-Regression; standardisierte Koeffizienten; * p < .05; ** p < .01
148
Andreas Hadjar
Je starker die Bedrohungswahmehmungen sind, desto enger ist der Zusammenhang zwischen Autoritarismus und Nationalismus. Schwer zu interpretieren ist der negative Interaktionseffekt aus symbolisch-kollektiver Bedrohungswahmehmung und Autoritarismus. Dieser Effekt indiziert, dass mit einer hoheren Bedrohungswahmehmung ein geringerer Zusammenhang zwischen Autoritarismus und Nationalismus einhergeht. Offenbar ist die Gruppe derer, die die gesellschaftlichen Normen und Werte in starkerem MaBe als bedroht ansehen, heterogener, d.h. ein Zusammenspiel autoritarer Orientierungen mit Nationalismus ist hier weniger wahrscheinlich. Gleiches gilt auch fur den einzigen weiteren Interaktionseffekt, der fiir die Stichprobe Gesamtdeutschland zu konstatieren ist. Der negative Effekt der Interaktion zwischen realistisch-individueller Bedrohung und Autoritarismus auf Antisemitismus weist wiederum darauf hin, dass in der Gruppe derer, die sich durch die EUOsterweiterung in ihrer eigenen wirtschaftlichen Lage besonders bedroht fiihlen, der Zusammenhang zwischen Autoritarismus und Antisemitismus eher schwacher ausfallt. Plausibler erscheinen diese Befunde, wenn der Umkehrschluss in Betracht gezogen wird: Bei Individuen, die sich nur wenig bedroht fiihlen, ist der Zusammenhang zwischen Autoritarismus und Nationalismus (im Falle der sachsischen Grenzregion) bzw. Autoritarismus und Antisemitismus (im Hinblick auf die Referenzstichprobe Gesamt-Deutschland) starker ausgepragt - und das bedeutet in der Regel, dass in diesen Gruppen Autoritarismus und Nationalismus bzw. Antisemitismus gleichermaBen in geringem Ausmafi angehangen wird. Im Hinblick auf Unterschiede zwischen den Grenzregionen und der Referenzstichprobe Gesamt-Deutschland ist nur fiir die wirtschaftlich deprivierte sachsische Grenzregion ein moderierender Einfluss der Bedrohungswahmehmung auf den Zusammenhang zwischen Autoritarismus und negativen Folge-Einstellungen festzustellen, der jedoch nicht beziiglich aller Bedrohungswahmehmungen gleich gerichtet ist. Li den bayerischen Grenzregionen gibt es keine Moderatoreffekte. Insofem weisen nicht die Grenzregionen per se Besonderheiten auf, sondem vermutlich spielen sozialstrukturelle und kulturelle Spezifika in den Grenzregionen eine Rolle. 6.5
Zusammenfassung
Im Ergebnis dieser Vergleiche lassen sich - iiber regionale kulturelle Unterschiede hinweg - einige wesendiche Einflussfaktoren auf Autoritarismus und dessen Folgen herausarbeiten, wenngleich diese nicht in alien Einzelanalysen und in Bezug auf alle Regionen belegt werden konnten. Bedrohungswahmehmungen scheinen Autoritarismus auf der individuellen Ebene zu verstarken. Eine hohere Bildung erweist sich als starkster Faktor zur Autoritarismus-Pravention, d.h. ein hoherer Bildungsstand geht mit einem geringeren Autoritarismus einher. Die theoretisch vielfach postulierten Beziehungen zwischen autoritaren Orientierungen und auslanderablehnenden, antisemitischen und nationalistischen Einstellungen konnten in alien Fallen (Teilstichproben) belegt werden. Die verschiedenen Analysen zu autoritaren Tendenzen haben gezeigt, dass Bedrohungswahmehmungen in den Grenzregionen starker verbreitet sind. Autoritarismus und dazu passende negative Einstellungsmuster (Antisemitismus, Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit) werden ebenfalls von den Bewohnerinnen und Bewohnern der Grenzregionen
Autoritarismus
149
im starkeren AusmaB geteilt. Der Vergleich zwischen den wirtschaftlich schwachen sachsischen und den wirtschaftlich starkeren bayerischen Grenzregionen zeigt im Hinblick auf die Bedrohungswahmehmungen und die Autoritarismus-Folgen Fremdenfeindlichkeit, Antisemi tismus und NationaUsmus keine signifikante Unterschiede. Zusammengefasst kann festgehalten werden, dass in den deutschen Grenzregionen die EU-Osterweiterung durchaus als bedrohlicher wahrgenommen wird, was mit einem hoheren Autoritarismus und einer starkeren Pravalenz von FremdenfeindUchkeit, Nationahsmus und Antisemitismus einhergeht. Die regionenspezifischen Analysen zur Genese von Autoritarismus weisen wiederum auf regionale Unterschiede hin. Es zeigt sich, dass - bis auf die bayerischen Grenzregionen - in der Regel geringe Bildung ein wesenthcher Bestimmungsfaktor von Autoritarismus ist. Eine pessimistische Einschatzung der bundesdeutschen Wirtschaftslage hat starkeren Autoritarismus zur Folge, wahrend sich der Einfluss der relativen Deprivation als schwer interpretierbar erweist: Wahrend sich in der sachsischen Grenzregion Hinweise darauf finden, dass eine starkere relative Deprivation mit hoherem Autoritarismus einhergeht, zeigt sich fiir die bayerischen Grenzregionen und fiir Gesamt-Deutschland im komplexen Modell unter Integration der Bedrohungswahmehmungen ein negativer Effekt der relativen Deprivation auf Autoritarismus. Offenbar lassen sich hier Hinweise auf eine Art „Wohlstandsautoritarismus" - ahnlich dem von Held et al. (1991; vgl. Hadjar 2004) thematisierten Wohlstandschauvinismus - finden. Regionale Unterschiede gibt es auch in der Frage, ob Bedrohungswahmehmungen in Form von autoritaren Orientiemngen verarbeitet werden, d.h. aufgrund von Bedrohungen eine autoritare Reaktion eintritt. Eindeutige Zusammenhange in alien drei Stichproben lassen sich nur beziiglich der symbolisch-kollektiven Bedrohung und Autoritarismus nachweisen. Zudem scheinen regional verschieden auch realistisch-kollektive und realistischindividuelle Bedrohungswahmehmungen mittels Autoritarismus kompensiert zu werden. Eindeutig hingegen sind die Befunde hinsichtlich der von Adorno et al. (1963 [1950]) als mit dem Autoritarismus verwandt thematisierten Einstellungsmuster Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und NationaUsmus. Durchweg ist zu konstatieren, dass starkerer Autoritarismus mit hoherer Fremdenfeindlichkeit und pronouncierteren antisemitischen und nationalistischen Einstellungen einhergeht. Ein genereller moderierender Effekt der Bedrohungswahmehmungen konnte in den Befunden nicht identifiziert werden. Nur in den sachsischen Grenzregionen scheinen kollektive Bedrohungswahmehmungen den Konnex zwischen Autoritarismus und NationaUsmus zu beeinflussen. Jedoch ist eine abschlieBende Beurteilung des Aktivationsmechanismus infolge differierender Richtungen der Moderatoreffekte nicht moglich. Um auf die theoretischen Uberlegungen zur autoritaren Reaktion zuriickzukommen: Es zeigt sich, dass regionale und individuelle Unterschiede okonomischer Art die Definition der Situation beeinflussen. Je nach Definition des Kontextes EU-Osterweiterung wird dieser als mehr oder weniger bedrohlich empfunden, was letztlich durch eine Hinwendung zu hierarchischen Weltbildern bzw. Autoritarismus - interpretiert als Unsicherheitsreduktion durch die Hinwendung zu einfachen Mustern (vgl. Rippl et al. 1998) - kompensiert wird. Autoritarismus ist somit nicht als stabile psychologische Personlichkeitsdisposi-
150
Andreas Hadjar
tion aufzufassen, sondem ist ahnlich sozialer Werthaltungen kontextabhangig, d.h. wird von individuellen und gesellschaftlichen Faktoren beeinflusst. Damit wird die neue Sichtweise auf Autoritarismus von Altemeyer (1981) und insbesondere Osterreich (1996, 1997) gestiitzt. Wie im einzelnen die situativen Mechanismen in der Genese von Autoritarismus wirken und wie die Kausalzusammenhange sich detailliert darstellen, kann mit einer Querschnittsanalyse - wie sie hier unternommen wurde - nicht abschlieBend geklart werden. Auch ist einzuschranken, dass Autoritarismus nur mit wenigen Items gemessen wurde. Panel-Befragungen - unter Heranziehung verschiedener AutoritarismusmaBe (z.B. die von Oesterreich 1998 adaptierte Skala; vgl. Kindervater et al. 2006) und einer detaillierten Modellierung der sozialen Situation auf mehreren Ebenen - waren im Anschluss an die hier vorgelegten Analysen sinnvoll.
7.
EU-Osterweiterung und die Mobilisierung von Dominanzideologien
7.1.
Theoretische Uberlegungen
Im vorangegangenen Kapitel wurde untersucht, ob autoritare Dispositionen durch die EUOsterweiterung mobilisiert werden und ob sich eventuell iiber diesen Weg rechtsextreme Einstellungen verstarken. Die dahinter liegende Uberlegung ist, dass sich Prozesse des sozialen Wandeis nicht ungebrochen in Fremdenfeindlichkeit und Ethnozentrismus niederschlagen, sondem vielmehr Antezedenzien derartiger Einstellungen beeinflussen. Wenn sozialer Wandel zu erhohter Verunsicherung der Bevolkerung fiihrt und wenn Menschen in dieser Situation verstarkt zu autoritaren Reaktionen tendieren, dann konnte die haufigere Flucht in Sicherheit verheiBende Ideologien kollektiv zu einem Anstieg von Fremdenfeindlichkeit fiihren. Einige Belege fur diese Uberlegungen konnten wir in den Daten finden. Die Auswertungen in diesem Kapitel beschaftigen sich mit derselben Frage, nur dass statt des Autoritarismus ein anderes sozialpsychologisches Konzept untersucht wird, das sich in verschiedenen Studien als ein starker Pradiktor von Fremdenfeindlichkeit erwiesen hat: das Hierarchische Selbstinteresse (HSI). Dieses Konzept wurde in den 1990er Jahren von Hagan et al. (1998) im Rahmen von Analysen zur soziologischen „Power-Control Theory of Gender and Delinquency" entwickelt. Spater hat es Hadjar (2004) systematisch innerhalb soziologischer und sozialpsychologischer Theorietraditionen verortet. HSI ist als individueller Ausdruck gesellschaftlicher Dominanzideologien zu begreifen, die in der Mitte moderner, wettbewerbsorientierter Industriegesellschaften angesiedelt sind. Zentral fiir Dominanzideologien ist die (Jberzeugung, dass Erfolg in alien Lebensbereichen bedeutet, 'besser als andere' zu sein. Sie stellen - in die AUtagssprache libersetzt - eine Art Ellenbogenmentalitat dar. Hinweise auf die Existenz solcher Ideologien lassen sich in klassischen und modernen theoretischen Ansatzen identifizieren. So stimmen Adam Smith, Georg Simmel und Max Weber mehr oder weniger in der Annahme iiberein, dass Kapitalismus und Marktwirtschaft auf einem spezifischen Wertesystem griinden, zu dem Elemente wie rationale Lebensflihrung, Versachlichung, Konkurrenz, Nutzenmaximierung, Selbstinteresse und Selbstliebe gehoren. In Gesellschaften, die durch Wettbewerb, Ungleichheit und Vereinzelung charakterisiert sind, pragt das individuelle Streben nach Reichtum und Status die sozialen Beziehungen. Auf der Personlichkeitsebene sind die kapitalistischen Gesellschaften eigenen Dominanzideologien als Werthaltungskonstrukt 'Hierarchisches Selbstinteresse' messbar (Hagan et al. 1998; Hadjar 2004). HSI besteht aus Macht- und Leistungswerten auf der „Self-Enhancement"-Dimension des Wertekreises von Schwartz (1992). Innerhalb des MateriaUsmus-Postmaterialismus-Kontinuums von Inglehart (1977) positioniert sich HSI
152
Dominanzideologien
auf der materialistischen Seite. Ahnlich dem Autoritarismus-Syndrom stellt das Hierarchische Selbstinteresse ein Konstrukt zweiter Ordnung dar, das aus mehreren Faktoren erster Ordnung besteht (vgl. Boehnke et al. 2002; Hadjar 2004; Hadjar/Baier 2002). Diese Faktoren konnen - entsprechend der Definition eines Syndroms - variieren und durch die Integration weiterer Faktoren erganzt werden. Folgende Faktoren sind zentrale Bestandteile des HSI-Syndroms: Der Faktor Individualismus bezieht sich auf ein Menschenbild, das typisch fiir westliche Gesellschaften ist. Individualisten streben nach Unabhangigkeit von Gruppen und orientieren ihr Verhalten an ihren eigenen Ressourcen, Bediirfnissen und Prinzipien. Die Dimension geht zuriick auf das Individualismus-KoUektivismus-Konzept von Hofstede (2001), nach dem individualistische Kulturen durch Selbstbestimmung, Selbstinteresse und Selbstdurchsetzung charakterisiert sind. Der Faktor Leistungsorientierung bezieht sich auf Rationahtat in Arbeits- und Lemprozessen und das Streben, materielle Werte zu produzieren. Diese Dimension geht auf das MateriaUsmus-PostmateriaUsmus-Konzept von Inglehart (1977) zurtick. Konkurrenzdenken bezieht sich auf die Motivation, besser als andere zu sein. Ursprung ist das Konzept des sozialen Vergleichs von Festinger (1954), der betont, dass Individuen zur Erlangung von Identitat und Selbstkonzepten den Vergleich mit relevanten Bezugsgruppen benotigen. Zentral dabei ist das Bediirfnis, beim sozialen Vergleich zu besseren Bewertungen der eigenen Kompetenzen zu kommen, also besser 'abzuschneiden'. Der Faktor Machiavellismus bezieht sich auf eine von Niccolo Machiavelli im 16. Jahrhundert formulierte Art der Staatsflihrung, in deren Zentrum eine herrschende Klasse steht, die von Ehrgeiz, Selbstbewusstsein und starkem Willen gepragt ist und der es andererseits an Altruismus, Moral und Weisheit mangelt. Machiavellistisch zu sein heiBt, seine eigenen Ziele ohne Riicksicht auf die Interessen anderer durchzusetzen. Der Faktor Akzeptanz sozialer Ungleichheit hebt auf die hierarchische Struktur der kapitalistischen Gesellschaft ab; Forschung hierzu wurde von Mayer at al. (1992) vorgelegt. Dabei geht es um das in hierarchischen Gesellschaften bestehende Bestreben, soziale und okonomische Ungleichheiten zu rechtfertigen und zu legitimieren. Gerade die Existenz von Ungleichheiten wird dabei als Motor der Leistungsfahigkeit marktwirtschaftlicher Gesellschaften betrachtet, da diese fiir die Chance der Aufwarts-, aber auch die Gefahr der Abwartsmobilitat stehen. Individualismus, Leistungsorientierung, Konkurrenzdenken und Machiavellismus sind Ausdruck eines Weltbildes, in dem das Selbst im Mittelpunkt steht und sich in Abgrenzung zu den Interessen der Anderen definiert. Diese Dimension bezeichnet also das Selbstinteresse, Die Akzeptanz von sozialer Ungleichheit und Konkurrenzdenken sind zudem Ausdruck einer hierarchischen Sichtweise von Gesellschaft, die implizit auch dem Machiavellismus immanent ist. In der Gesellschaft gibt es Gruppen von Personen, die 'oben' sind und Gruppen, die 'unten' sind. In diesem hierarchischen Kontext gilt es, sich selbst zu verorten. Diese grundlegenden Eigenschaften modemer, marktwirtschaftlich organisierter Gesellschaften geben dem HSI den Namen. HSI erweist sich in empirischen Analysen als stabiler Pradiktor von Fremdenfeindlichkeit (Hadjar 2004) und Jugenddelinquenz (Baier 2005a). Dieser Zusammenhang wird durch die Annahmen des Rechtextremismuskonzepts von Heitmeyer et al. (1992), das
Hierarchisches Selbstinteresse
153
auf die Schattenseiten der Individualisierung verweist, theoretisch untermauert. Die „Unterscheidung von anderen" sowie die „Selbstdurchsetzung gegenliber anderen" haben sich im Zuge der Individualisierung zu dominanten Imperativen entwickelt (Heitmeyer/Moller 1989, 1998). Dementsprechend lautet die erste nachfolgend zu untersuchende These, dass stark an HSI orientierte Individuen verstdrkt zu fremdenfeindlichen Einstellungen neigen. Fremde erscheinen im Sinne der Theorie des realistischen Gruppenkonflikts als zusatzliche Konkurrenz um die knappen Ressourcen wie Arbeit und Macht. Dies ist vor allem fur jene Personen problematisch, die sich verstarkt im Konkurrenzkampf wahnen. Das HSI-Konzept lasst sich im Vergleich mit dem bereits im vorangegangenen Kapitel detailHert vorgestellten Autoritarismus-Konzept noch weiter bestimmen (vgl. auch Baier/Hadjar 2006). Hierzu konnen verschiedene Dimensionen des Vergleichs herangezogen werden (Tabelle 38). Tabelle 38: Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Autoritarismus und HSI Erklarungsproblem Charakter der 'Losung'
Autoritarismus
Hierarchisches Selbstinteresse
Anti-demokratische und faschistische Einstellungen in der Gesellschaft
Fremdenfeindliche Einstellungen, delinquentes Verhalten
Muster
Charakterstruktur, Disposition, Krisenreaktion
Inhalt
Autoritare Unterwiirfigkeit, Autoritare Aggression, Konventionalismus ...
Verortung
Intra-Gruppenphanomen (Unterwiirfigkeit) mit Inter-Gruppen-Ergebnis (Aggression)
Wertesystem (Mitte der Gesellschaft) Individualismus, Materialismus, Konkurrenzdenken, Machiavellismus, Akzeptanz sozialer Ungleichheit... Individuelles Phanomen (Beziehungen eines Individuums zu anderen Individuen in hierarchisch organisierten Gesellschaften)
Das Autoritarismus-Konzept wurde in den 1930er und 1940er Jahren unter dem Eindruck des Faschismus entwickelt und zielte auf die Erklarung des Verhaltens der Arbeiterschaft, die sich nicht als Trager der Revolution sondem als Trager anti-demokratischer und faschistischer Einstellungen erwies. HSI wurde demgegeniiber in den 1990er Jahren entwickelt, um den Bezug zwischen Werthaltungen 'der Mitte der Gesellschaft' und fremdenfeindlichen Einstellungen bzw. delinquenten Verhalten zu untersuchen; angewandt wurde das Konzept u.a. auf die Erklarung des Anstiegs von Fremdenfeindlichkeit im Zuge der deutsch-deutschen Vereinigung. Beide Male ist damit der Versuch unternommen worden, ein soziales Problem unter Riickgriff auf Personlichkeitsfaktoren zu deuten, wobei der Autoritarismus eher eine Pathologie-These vertritt, HSI demgegeniiber eine Normalitatsthese, da davon ausgegangen wird, dass die Dominanzideologien als genuiner Bestandteil marktwirtschaftlich organisierter Gesellschaften zu betrachten sind.
154
Dominanzideologien
In den als klassisch zu bezeichnenden Studien wird dementsprechend Autoritarismus als Teil einer stabilen, friihkindlich sozialisierten Personlichkeitsstruktur verstanden (Adorno et al. 1950), die Menschen in spateren Lebensaltem dazu verleitet, eigene Probleme oder Konflikte iiber Projektion zu losen, d.h. Siindenbocke zu suchen und diese flir eigene Frustrationen verantwortlich zu machen. Neuere Ansatze heben diesen Personlichkeitsbezug teilweise auf (u.a. Oesterreich 1996) und sprechen stattdessen von der „autoritaren Reaktion", zu welcher Personen in bedrohlichen Zeiten neigen. HSI als eine Werthaltung ist ebenfalls eher eine Personlichkeitseigenschaft, die vor allem auch durch sekundare Sozialisationsagenturen wie die Schule vermittelt wird, in der u.a. das Leistungsprinzip eine herausgehobene Bedeutung hat. Kinder und Jugendliche, die heute aufwachsen, werden dazu erzogen, in bestimmten Kategorien wie Selbstinteresse, Erfolg, Selbstdurchsetzung etc. zu denken. Betrachten wir die konkreten Operationalisierungen, so gilt fiir Autoritarismus, dass seine drei Kemelemente seit Altemeyer (1981) 'autoritare Unterordnung' (eine unkritische und unterwiirfige Einstellung gegentiber idealisierten Autoritaten der eigenen Gruppe), 'autoritare Aggression' (eine Tendenz zur Zurtickweisung und Bestrafung von Individuen, die konventionelle Werte missachten) und Konventionalismus (starre Bindung an Traditionen) sind. Genauso ist HSI als Syndrom bzw. Konstrukt zweiter Ordnung strukturiert, mit den bereits genannten Kemelementen. Beziiglich der sozialen Beziehungen, die in den Theorien thematisiert werden, sind bedeutende Unterschiede auszumachen. Wahrend Autoritarismus iiberwiegend ein IntraGruppenphanomen darstellt, da er sich auf die Unterordnung unter Autoritatsfiguren der Eigengruppe bezieht (wobei eine Intergruppenperspektive insofem eroffnet wird, als die erlittenen Frustrationen den theoretischen Annahmen nach i.d.R. auf einen einer Fremdgruppe angehorenden Dritten projiziert werden), ist HSI als individualistisches Phanomen aufzufassen, durch das die Beziehungen einer Person zu anderen Individuen in einer hierarchisch strukturierten Gesellschaft charakterisiert sind. Es ist Ausdruck des Wettbewerbs 'jeder gegen jeden'. Wenn, wie dies die erste These vermutet, den allgegenwartigen Konkurrenzbeziehungen marktwirtschaftlicher Gesellschaften die Gefahr der Abwertung von Fremden immanent ist, dann miissten sich Veranderungen dieser Beziehungen auch auf die Folgen von HSI auswirken. Insofern die EU-Osterweiterung als ein Prozess gedeutet werden kann, der zu einer wahrgenommenen oder tatsachlichen Konkurrenzzunahme fiihrt, ist zu erwarten, dass sich Personen mit hohem HSI und hohen Konkurrenzwahmehmungen (d.h. Bedrohungswahmehmungen) eher fremdenfeindlichen Einstellungen zuwenden sollten als Personen mit geringem HSI. Insofem kann behauptet werden, dass die Wirkung von Werthaltungen als Personlichkeitskonstrukt von Veranderungen der sozialen Gegebenheiten abhangig ist. Sozialer Wandel wirkt sich darauf aus, inwieweit den eigenen MaBstaben entsprechend gelebt werden kann. Es kann also davon ausgegangen, dass das gleichzeitige Vorliegen von Umstanden, d.h. das Aufeinandertreffen von hohem HSI und hohen Bedrohungsgefiihlen (Interaktion), besonders folgenreich ist. Dies ist zugleich die zweite These dieses Kapitels: Wenn Menschen HSI als wichtigen Wert der eigenen Lebensfuhrung erachten und wenn zugleich von der EU-Osterweiterung erwartet wird, dass die Moglichkeiten des Lebens nach diesen
Hierarchisches Selbstinteresse
155
Maximen beeintrdchtigt werden, dann sollte eine Hinwendung zu rechtsextremen Einstellungen, d.h. eine Abwertung der Konkurrenten, hdufiger die Folge sein, Diese Hypothese iiber die Interaktionseffekte sollte sich vor allem im Hinblick auf die realistischen Bedrohungsdimensionen bestatigen, da in diesen die Erwartungen liber veranderte Konkurrenzsituationen nach der EU-Osterweiterung zum Ausdruck kommen. Realistisch-koUektive und realistisch-individuelle Bedrohungen beziehen sich wie HSI vor allem auf den okonomischen Bereich. Zunachst ist davon auszugehen, dass die beiden formulierten Thesen Giiltigkeit in alien untersuchten Gebieten (Deutschland, Polen, Tschechische Republik) haben. Allerdings liegen bislang keine Informationen iiber Ursachen und Folgen von HSI in einem interkulturellen Vergleich, der auBer Kanada weitere (nicht-deutsche) Lander umfasst, vor. Flir kanadische Jugendstichproben konnte wiederholt gezeigt werden, dass sich HSI ahnlich verhalt wie in deutschen Stichproben (Hagan et al. 2004). Allerdings handelt es sich bei Polen und der Tschechischen Republik um Nationen, in denen die Marktwirtschaft und die zugehorigen Ideologien erst wenige Jahre existieren, ein GroBteil der Menschen also unter anderen Bedingungen sozialisiert wurde. Moglicherweise sind die Trager dieser Werthaltungen hier noch andere Personengruppen, was zur Folge haben kann, dass sich empirische Beziehungen anders darstellen. Konkrete Hypothesen lassen sich so nicht ex ante formulieren. Die Analysen zu den nicht-deutschen Stichproben sind in diesem Sirnie explorativ. 7.2
Erfassung von Hierarchischem Selbstinteresse (HSI)
HSI ist ein Konstrukt zweiter Ordnung, d.h. es besteht aus Einzelskalen, die wiederum zu einer gemeinsamen Skala zusammenzufiihren sind. Die Begriindung fiir eine solche Erfassung des Konstrukts sowie den Nachweis, dass es sich dabei um die empirisch beste Losung handelt - im Gegensatz zu der Option, alle Einzelitems zu einer Skala zusammenzufassen - hat Hadjar (2004) geliefert. In der vorliegenden Studie sollte das Konstrukt ebenfalls wieder durch mehrere Subskalen erfasst werden. Dabei gibt es zwei Moglichkeiten: Entweder es werden wenige Subskalen, diese aber dafiir mit mehreren Items oder aber viele Subskalen mit wenigen Items aufgenommen. HSI mit vielen Subdimensionen und vielen Items zu erfassen war nicht moglich, da Telefoninterviews eine Lange von 30 Minuten nicht iiberschreiten sollten, um die Abbrecherrate nicht iiber die MaBen zu erhohen. Es wurde sich fur die zweite Option entschieden, d.h. es wurde die Einstellung zu fiinf Subdimensionen abgefragt, diese aber jeweils nur mit zwei Items. Derartige Kurzskalen sind weniger reliabel als Langskalen. Das Reliabilitatsproblem wurde allerdings dadurch zu minimieren versucht, dass Items aufgenommen wurden, die sich in vorangegangenen Studien als gute Reprasentanten eines Konstrukts erwiesen haben, die also hohe Faktorenladungen und hohe Trennscharfen aufwiesen. Die Items sowie die Mittelwerte der Items in den vier Stichproben sind in Tabelle 39 aufgefuhrt."^^ Individualismus wurde mit zwei Items erfasst, die auf Skalen von Hui Die Antwortskala reichte von 1 - stimme iiberhaupt nicht zu bis 4 - stimme voll und ganz zu.
156
Dominanzideologien
(1988) und Hui und Villareal (1989) zuriickgehen. Alle Stichproben unterscheiden sich signifikant voneinander, mit der Ausnahme, dass die deutsche Reprasentativstichprobe (1) und die deutsche Grenzregionenstichprobe (2) das gleiche Zustimmungsniveau aufweisen. Die Befragten in Polen und der Tschechischen Republik stellen sich individualistischer dar, was etwas uberrascht, da zumindest in der kulturvergleichenden Studie von Hofstede (2001) Polen eher als kollektivistisch eingestuft wurde. Womoglich schlagt sich darin ein VaUditatsproblem der Skala nieder, insofern damit weniger Individuahsmus als Egoismus gemessen wird. Gerade die Transformationsprozesse in den ehemaligen Ostblocklandern konnen einen Schub dahingehend ausgelost haben, dass sich vorrangig um die eigenen Belange gekiimmert wird. Diese tJberlegungen stiitzt der Refund, dass im Osten Deutschiands zumindest in Stichprobe (1) ebenfalls haufiger dem zweiten Item zugestimmt wird. Insofern wird durch die Items in Transformationsgesellschaften weniger das Motiv erfasst, sich als eigenstandiges, von Gruppen unabhangiges Selbst aufzufassen, sondem eher ein auf anomische Situationen bezogener Individuahsmus. Beziiglich der Erfassung der Leistungsorientierung bestehen demgegeniiber weniger Vorbehalte. Es ware zwar zu erwarten, dass sich die Befragten als leistungsorientierter begreifen, die bereits langere Zeit in einer marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaft leben, namentlich in Westdeutschland. Die Ergebnisse sprechen aber eher dafiir, dass die Unterschiede zwischen alien Gebieten gering sind. Moglichweise driickt sich darin auch eine besondere Bereitschaft der Menschen in Ostdeutschland, Polen und der Tschechischen Republik aus, die 'neuen' Spielregeln zu akzeptieren und das eigene Leben daran auszurichten. Die Operationalisierung der Leistungsorientierung geht auf eine Materialismus/Postmaterialismus-Skala fiir Jugendliche von Boehnke (1988) zunick, wobei nur zwei Items einbezogen wurden, die die materialistische Dimension messen. Befragte aus Polen weisen die hochste Leistungsorientierung auf. Konkurrenzdenken als dritte Subdimension wird mittels zwei Items aus einer Schiilerstudie von Jerusalem (1984) operationalisiert. Auch hier sind kaum Unterschiede zwischen den Erhebungsgebieten existent. Befragte der Reprasentativstichprobe (1) sind tendenziell weniger konkurrenzorientiert, wobei sich West- und Ostdeutsche dabei nicht unterscheiden. Machiavellismus weist demgegeniiber wieder deutlichere interkulturelle Antwortunterschiede auf. Zur Erfassung dieser Dimension der Selbstdurchsetzung ohne Rticksicht auf die Folgen auf dritte Personen wurden der Machiavellismus-Skala von Henning und Six (1977) zwei Items entnommen. Die Schltisse aus den Antwortmustem fallen dabei recht ahnlich aus wie in Bezug auf den Individuahsmus. Die Skala scheint besonders Befragte in Transformationsgesellschaften anzusprechen und enthalt damit zugleich eine anomische Grundaussage. Dies ist - im Gegensatz zur Individuahsmus-Skala - dem Konzept des Machiavellismus allerdings immanent. Personen, die dazu neigen, sich selbst durchzusetzen, tun dies eben auch dadurch, dass sie herrschende Gesetze nicht akzeptieren und stattdessen eigene Gesetze schaffen. Der Zweck heiligt die Mittel. Ostdeutsche Befragte und Polen sind haufiger der Meinung, dass auf diese Art vorgegangen werden kann. Dadurch wird auch deutlich, dass die leicht erhohten Zustimmungsniveaus in der deutschen Grenzregionenstichprobe (2) allein durch den Anteil Ostdeutscher verursacht sind. Bayrische Befragte ahneln im AusmaB ihres Machiavellismus allgemein den Westdeutschen.
Hierarchisches Selbstinteresse
157
Tabelle 39: Hierarchisches Selbstinteresse^
Item
Individualismus Wir stiinden besser da, wennjeder sich nur um sich selbst kiimmern wiirde Um Spitze zu sein, muss der Mensch allein bestehen Leistungsorientierung Wer keine Leistung bringt, wird nicht glucklich Das Wichtigste im Leben ist Leistung Konkurrenzdenken Ich mochte in alien Lebensbereichen zu den Besten gehoren Ich habe Ehrgeiz, besser als Durchschnitt zu sein Mach iavellismus Es ist nicht wichtig, wie, sondern das man gewinnt Man muss die Taten der Menschen nach ihrem Erfolg beurteilen Akzeptanz soziale Ungleichheit Die Unterschiede zwischen Menschen sind akzeptabel Ich finde soziale Unterschiede in unserem Land gerecht
DeutschlandReprasentativstichprobe (1) Gesamt West Ost' 1,52
Deutschland Grenzregion (2)
Polen Grenzregion (3)
^'schf" T5 ,,., Republik r.^ Grenz... region (4)
Signifikante Unterschiede . , zwischen ^ . b Regionen ^
1,60
2,09
2,51
1/3,1/4,2/3,2/4, 3/4
Gesamt West Ost
2,24
221 236*
2,27
3,42
2,62
1/3,1/4,2/3,2/4, 3/4
2,67
2,62 2,89**
2,77
2,85
2,72
1/3
2,28
23 2,49**
2 A^
2 "^2 ^,-»^
2,31
1/2,1/3,3/4 1/3,1/4,2/3
^ 2,49**
2,35
2,42
2,63
2,57
2,69
2,79
2,68
2,74
2 19
1,96
1/4,2/4,3/4
2,17
2,12 236**
2 30
2 14 '
^^ 2,40**
9 2Q
2,36
1 94
1'^ 175**
^ 234**
^fi-y
2,01 236**
^ c:^ ^»>^A
2,36
1/2,1/3,1/4,2/3
2,37
2,85
2,47
1/3,2/3,3/4
1,82
1,89
2,00
2/4
' Mittelwerte; ^ Scheffe-Test, p < .05; ^' nur berichtet, wenn signifikant bei p < .05; * p < .05; ** p < .01
158
Dominanzideologien
Die Erfassung der Akzeptanz sozialer Unterschiede als letzte Subdimension von HSI geht zuriick auf Vorschlage von Mayer at al. (1992). Die Stichproben unterscheiden sich in dieser Akzeptanzbereitschaft eher geringfligig voneinander, wobei zwei interessante Befunde existieren: Ostdeutsche in der Reprasentativstichprobe finden die sozialen Unterschiede im Land signifikant weniger gerecht als Westdeutsche. Und Polen akzeptieren etwas starker die sozialen Unterschiede zwischen den Menschen. Weist der letzte Befund Ubereinstimmung mit der allgemeinen Tendenz der Polen auf, hohere HSI-Werte zu erzielen, insofern sie sich von den anderen Stichproben signifikant unterscheiden, so ist der erste Befund weniger konsistent mit den vorangegangenen Befunden. Uberall dort, wo West-Ost-Unterschiede in den anderen HSI-Dimensionen bestehen, weisen Ostdeutsche eine hohere Zustimmung auf als Westdeutsche. Nur Ungleichheit akzeptieren sie weniger. Die ist hochstwahrscheinlich das Resultat eines Gleichheitsideals, das sich in realsozialistischen 2^iten herausgebildet hat. Fiir Ostdeutsche ist damit das Selbstinteresse eher weniger hierarchisch gepragt. Sie auBem implizit die Vorstellung eines Kapitalismus, der ohne Ungleichheit auskommt. Tabelle 40 dokumentiert die Korrelationen zwischen den einzelnen Items einer Subdimension, die an dieser Stelle als Indikatoren der Reliabilitat aufzufassen sind. Dabei zeigt sich insbesondere fiir Individualismus, dass die Reliabilitat niedrig ist. In Polen existiert iiberhaupt keine Beziehung zwischen den beiden Items von Individualismus, d.h. beide Items erfassen vollig unterschiedliche Wertvorstellungen."^^ In den beiden deutschen Stichproben sind die Korrelationen nur mittelmaBig. Da entsprechend dieser Befunde Individualismus nicht reliabel iiber die vier Stichproben hinweg gemessen wurde, kann diese Dimension bei der Bildung des HSI-Indexes nicht beriicksichtigt werden. Ebenfalls geringe, allerdings in alien Stichproben hochsignifikante Beziehungen existieren im Hinblick auf die zwei Items der Akzeptanz sozialer Unterschiede. Hier zeigt sich, dass bei den ostdeutschen Samples die Reliabilitaten etwas geringer ausfallen. Die verbleibenden drei Subdimensionen sind in alien Stichproben hinreichend reliabel erfasst. Ein Faktor zweiter Ordnung, der sich aus den vier Einzelskalen (ohne Individualismus) zusammensetzt, erzielt CronbachsAlpha-Werte von mindestens 0,62, was bei vier Items ebenfalls als hinreichend erachtet werden kann. Etwas schwachere Trennscharfen weist die Subdimension Konkurrenzdenken vor allem in den deutschen Stichproben auf. AUerdings fallen die Trennscharfen nirgends unter 0,30, weshalb eine gemeinsame Skalenbildung akzeptabel ist. Zwei Fragen schlieBen sich an diese Auswertungen an: (1) Ist die Modellierung eines Faktors zweiter Ordnung tatsachlich der Variante vorzuziehen, bei der alle acht Einzelitems gleichzeitig in die Skalenbildung eingehen? (2) Wird HSI iiber die vier Subdimensionen in alien Erhebungsgebieten gleichartig erfasst? Frage (1) lasst sich mittels konfirmatorischer Faktorenanalysen beantworten (vgl. Hadjar 2004). Hierzu wurden in alien Stichproben zwei Faktorenmodelle verglichen (vgl. Tabelle 41). Weitere Korrelationsanalysen haben ergeben, dass im Wesentlichen das erste IndividualismusItem mit den anderen HSI-Faktoren korreliert. Insofern misst die Aussage, dass ein Mensch allein bestehen muss, um Spitze zu sein (Item 2), in Polen etwas von HSI Unabhangiges, Moglicherweise auBert sich darin auch eine Ubersetzungsungenauigkeit, da bekanntlich die Ubersetzung von stehenden Begriffen oder Sprichwortern niemals vollig gelingt. Die Diskussionen wahrend der wiederholten Hin- und Riickiibersetzung der Fragebogen mit 'native speakers' hatten allerdings keine Hinweise auf mogliche Ubersetzungsfehler geliefert.
Hierarchisches Selbstinteresse
159
TabeUe 40: Analyse der HSI-Skala"
Individualismus Leistungsorientierimg Konkurrenzdenken Machiavellismus Akzeptanz sozialer Ungleichheit
Hsr
Deutschland Reprasentativstichprobe (1) 0,29** (0,30**70,28*)^ 0,45** (0,46**70,39**) 0,48** (0,48**70,47**) 0,41** (0,40**70,42**) 0,33** (0,35**70,26**) 0,63 (0,6370,62)
Deutschland Grenzregion (2) 0,27** (0,25**70,28**) 0,41** (0,36**70,42**) 0,43** (0,49**70,41**) 0,38** (0,35**70,37**) 0,32** (0,37**70,31**) 0,62 (0,5970,63)
Polen Grenzregion (3)
Tschechische Republik Grenzregion (4)
0,04
0,42**
0,56**
0,57**
0,60**
0,56**
0,43**
0,41**
0,28**
0,51**
0,74
0,67
^ Spearmans p der beiden Items der Skala, ** p<.01; Deutschland-Ost^eutschland-West;" Cronbachs Alpha fiir die Mittelwerte von vier Skalen (ohne Individuahsmus) Im ersten Modell wird nur ein einziger Faktor aus acht Einzelitems gebildet, im zweiten Modell wird das Faktorenmodell zweiter Ordnung eingefiihrt. Tabelle 41: Vergleich verschiedener HSI-Faktor-ModeUe (ohne Individualismus) DeutschlandReprasentativstichprobe (1)
Deutschland Grenzregion (2)
Polen Grenzregion (3)
Tschechische Republik Grenzregion (4)
360.154720 .85 .77 .13
146.705720 .88 .80 .11
176.444720 .80 .82 .14
229.826720 .77 .72 .16
47.457716 .97 .98 .04
20.383716 .98 .99 .02
64.861716 .91 .94 .09
45.064716 .94 .96 .07
312.69774**
126.32274**
111.58374**
184.76274**
Ein Faktor (8 Items) AGFI CFI RMSEA Faktor zweiter Ordnung X'/df AGFI CFI RMSEA A^/Adf
** Verandenmg des Modellfits signifikant bei p < .01
160
Dominanzideologien
Die Ergebnisse sind in alien Stichproben eindeutig: Das Modell mit dem Faktor zweiter Ordnung erzielt signifikant bessere Anpassungswerte als das Ausgangsmodell. Dies kann mittels eines x^-Tests belegt werden. Wenn das Modell mit dem Faktor zweiter Ordnung einen im Vergleich zum Verlust an Freiheitsgraden kleineren x^-Wert aufweist, entspricht dieses der Datenstruktur besser als ein einzelner Faktor (vgl. Byrne 2001). Bei einer Verringerung um vier Freiheitsgrade muss sich der x^-Wert um mindestens 13,28 Einheiten verkleinem, damit eine auf dem 1%-Signifikanzniveau abgesicherte Verbesserung des Modells eintritt. Dieser Wert wird in alien vier Stichproben deutlich iiberschritten. Insgesamt erreichen im Falle des Modells zweiter Ordnung alle dargestellten Fit-Indizes akzeptable Werte. Einzig im polnischen Sample deuten AGFI- und RMSEA-Wert darauf bin, dass ein Modell zweiter Ordnung noch nicht die gesamte Varianz erklart. Dies ist, wie weiterftihrende Analysen bestatigen, darauf zuriickzufiihren, dass zwischen den Dimensionen Leistungsorientierung und Konkurrenzdenken eine Fehlerkorrelation bestehen bleibt. In diesem Sinne haben wir es in Polen mit einem Faktorenmodell dritter Ordnung zu tun: Konkurrenzdenken und Leistungsorientierung bilden einen eigenstandigen Faktor, der sich mit Machiavellismus und Ungleichheitsakzeptanz zum Faktor dritter Ordnung zusammenfassen lasst. Allerdings sind die Anpassungswerte des Modells mit dem Faktor zweiter Ordnung hinreichend gut. Im Hinblick auf die interkulturelle Vergleichbarkeit wird deshalb in alien vier Stichproben das Modell zweiter Ordnung genutzt. Mit derselben Strategic konfirmatorischer Faktorenanalysen lasst sich auch die zweite Frage beantworten, ob das Konstrukt in alien Gebieten gleichartig erfasst wird. Hierzu wurden zwei Analysen miteinander verglichen. Im ersten Modell werden in alien vier Erhebungsregionen die einzelnen Faktorladungen gleichgesetzt, d.h. es wird davon ausgegangen, dass die einzelnen Faktorladungen erster Ordnung (Einzelitems) und die einzelnen Faktorladungen zweiter Ordnung (Subskalen) in alien vier Gebieten die gleiche Hohe haben. Dies wurde bedeuten, dass davon ausgegangen wird, dass z.B. dass Item „Wer keine Leistung bringt, wird auch nicht gliicklich" in derselben Art in alien vier Gebieten in den Faktor Leistungsorientierung eingeht bzw. dass die Leistungsorientierung iiberall gleichgewichtig zum Faktor zweiter Ordnung, dem HSI, beitragt. Das Konstrukt HSI ware seiner Struktur nach in alien Gebieten gleich. Die Anpassungswerte dieses Identitatsmodells sind: x^ = 270.57, df = 85, RMSEA = .03, AGFI = .95. Diese Werte konnen als sehr gut eingestuft werden (Hu/Bentler 1999). Allerdings erzielt ein vollig freigesetztes Modell ohne gleichgesetzte Parameter einen etwas besseren Fit (x^ = 177.83, df = 65, RMSEA = .03, AGFI = .96). Insbesondere der x^-Wert verringert sich unter Beriicksichtigung der geringeren Freiheitsgrade signifikant. In diesem Sinne miisste die These verworfen werden, dass HSI in alien Gebieten die gleiche Struktur besitzt. Dieses Ergebnis ist aber vor allem auf die polnische Stichprobe zuriickzufiihren und auf den bereits erwahnten Befund, dass Leistungsorientierung und Konkurrenzdenken hier etwas mehr Varianz teilen als in den anderen Gebieten. In Deutschland und der Tschechischen Republik kann hingegen davon ausgegangen werden, dass HSI dieselbe Struktur besitzt. Der Vergleich der Mittelwerte der HSI-Skala zeigt, dass sich die vier Erhebungsregionen kaum unterscheiden (Abbildung 43). Am geringsten ist die Zustimmung zu HSIWerten in der deutschen Reprasentativstichprobe (1), am hochsten in Polen (3). Dieser Mittelwertsunterschied ist beim Vergleich der vier Erhebungsstichproben als einziger signi-
Hierarchisches Selbstinteresse
161
fikant. Zudem ist festzustellen, dass Ostdeutsche etwas ofter Werthaltungen der Selbstbehauptung und Selbstdurchsetzung anhangen. Dieser Unterschied ist aber nur innerhalb der deutschen Reprasentativstichprobe (1), nicht aber in der deutschen Grenzregionenstichprobe (2) signifikant. Es zeigt sich damit bereits in den Haufigkeitsanalysen keine Mobilisierung von HSI im Zuge der Erweiterung wie dies z.B. fiir Autoritarismus festgestellt werden konnte. Weder die deutsche Grenzregion im Allgemeinen, noch Bayern im Speziellen weisen erhohte Zustimmungen zu diesen Werthaltungen auf.
Abbildimg 43: HSI (ohne Individualismus) in den vier Erhebungsgebieten und im West-Ost-Vergleich (Mittelwerte, ** p < .01) 7.3
Ursachen und Folgen von HSI
Dieser Abschnitt verfolgt zwei Ziele: Zum einen werden die Faktoren identifiziert, die als Ursachen der Ausbildung von Werthaltungen des Hierarchischen Selbstinteresses gelten, womit angenommen wird, dass HSI ahnlich wie Autoritarismus als Einflussfaktor eine Mittlerfunktion einnimmt. Andererseits wendet sich der Abschnitt den beiden einleitend aufgestellten Thesen zu, dass HSI (1) ein Pradiktor fiir rechtsextreme Einstellungen ist und dass (2) eine Verstarkung dieses Einflusses durch den Prozess der EU-Osterweiterung zu erwarten ist.
162
Dominanzideologien
Beziiglich der Ursachen der Ausbildung von HSI existieren verschiedene Annahmen und Befunde. Hinsichtlich des sozialen Status einer Person ist zu erwarten, dass Individuen mit niedrigerem Status ein groBes Interesse an der Verbesserung desselben haben, wahrend Individuen mit hoherem Status diesen eher erhalten oder nur leicht verbessern woUen. HSI ist deshalb in starkerem AusmaB in niedrigeren Schichten zu vermuten (vgl. Hadjar 2004). Mogliche Indikatoren des sozialen Status sind in objektiver Hinsicht die Schulbildung und in subjektiver Hinsicht die wahrgenommene Benachteiligung. Jenseits dieser Statusthese geht das HSI-Konzept weiterhin davon aus, dass Manner starker an HSI-orientiert sind als Frauen. Dieses 'Gender Gap' wird dabei als Resultat geschlechtsspezifischer Sozialisationserfahrungen und Erziehungspraxen begriffen. Obwohl die nominelle Gleichstellung der Frau in verschiedenen beruflichen Sektoren mittlerweile erreicht worden ist, dominieren in der Kindererziehung haufig noch patriarchate Zielvorstellungen. Jungen werden dazu ermuntert, sich selbst durchzusetzen, sich zu beweisen. Madchen wird zwar ebenso erlaubt, einen erfolgreichen Weg einzuschlagen, dabei sollen aber andere Strategien verfolgt werden. Der Erfolg soil eher durch Unterordnung und nicht durch Dominanz erzielt werden. Sozialisationstheoretisch verankerte tJberlegungen konnen auch bzgl. der Wirkung des Alters formuliert werden. Insofern sich HSI in Konfrontation mit autoritar-leistungsbezogenen Erziehungsstilen ausbildet (vgl. Hadjar 2006a). Da diese aber die Erziehungswirklichkeit vor allem alterer Generationen beschreiben, ist anzunehmen, dass HSI mit dem Alter zunimmt. Eine Ausnahme hiervon stellen die ostdeutschen, polnischen und tschechischen Befragte dar: Da der Kapitalismus als wirtschaftliches Ordnungsprinzip hier erst mit dem politischen Umbruch zu Beginn der 1990er Jahre Einzug gehalten hat, ist eher zu vermuten, das jungere Kohorten HSI verstarkt internalisiert haben und zwar weniger auf dem Weg einer streng hierarchisch-leistungsbezogenen Erziehung sondern eher durch Sozialisation in nicht familialen Bereichen wie Schule und Ausbildung. Daneben werden auch gesellschaftliche Einflusse in Form sozialer Wandlungsprozesse auf die Ausbildung von HSI vermutet. Hier bestehen unmittelbare Anknlipfungspunkte fiir Uberlegungen zu moglichen Folgen der EU-Osterweiterung. Es ist anzunehmen, dass HSI in Zeiten rapiden sozialen Wandels und unter dem Eindruck knapper werdender Ressourcen zunimmt. Personen, die durch das Ereignis EU-Osterweiterung ausgeloste Bedrohungen haufiger wahmehmen als andere, werden dazu motiviert, sich verstarkt auf die eigenen Belange, das eigene Fortkommen zu konzentrieren. In Reaktion auf verstarkte Konkurrenz um knappe Guter wird mit einer Uberbetonung der marktwirtschaftlichen Grundprinzipien reagiert. Zur empirischen Erfassung der gesellschaftlichen Einflusse wird an dieser Stelle wiederum auf die verschiedenen Bedrohungskonstrukte zuriickgegriffen. In Tabelle 41 werden die Ergebnisse von linearen Regressionsanalysen in den vier Stichproben dargestellt. Ein Blick auf die R^-Werte zeigt, dass jeweils nur 12-14 Prozent der Varianz von HSI erklart werden. Dies ist angesichts der zahlreichen Pradiktoren sehr wenig. Nur zwei Variablen tragen in alien vier Gebieten zur Vorhersage erhohter HSIWerthaltungen bei: Weibliche Befragte weisen iiberall weniger Ellenbogenmentalitat auf. Und Personen, die sich in Kontaktsituationen mit Angehorigen der Nachbamationen bedroht fiihlen, sind haufiger selbstinteressiert. Insofern bestatigt sich zumindest fiir diese Bedrohungsdimension eine Beziehung mit HSI.
Hierarchisches Selbstinteresse
163
TabeUe 41: Einfliisse auf HSF
Alter (weibliches) Geschlecht Hohere Schulbildung Aktuelle Arbeitslosigkeit
DDReprasentativGrenzregion stichprobe (2) (1) 0,14 0,07
cz-
PLGrenzregion (3)
Grenzregion (4)
-
-0,22
-0,16
-0,14
-0,18
-0,17
-
-
-
-
-
-
-
-
0,08
-
-
-
Eigene wirtschaftliche Lage
-
-
-
-
Institutionelle Desintegration
0,07
-
-
-
Realistisch-kollektiveBedrohungen
0,09
0,16
Symbolisch-kollektiveBedrohungen
0,12
Realistisch-individuelle Bedrohungen
_
.
_
_
Negative Stereotype
_
_
_
_
Intergruppenangst
0,14
0,21
0,29
0,16
Allgemeine Besorgtheit R2
_ 013
_ 004
_ 014
_ 012
Ostdeutscher Wohnsitz
^ OLS-Regressionsanalysen; aufgefiihrte^ signifikant bei p < .05 In den beiden deutschen Stichproben tragt dariiber hinaus auch die Wahmehmung realistisch-kollektive Bedrohungen zur Erklarung von HSI-Werten bei. In drei Stichproben wird ein Einfiuss des Alters beobachtet: In den deutschen Stichproben weisen altere Befragte ein hoheres HSI auf. In der tschechischen Stichprobe sind dies demgegeniiber die jiingeren Befragten. Hier bestatigt sich also die Annahme, dass der junge Kapitalismus in erster Linie die jungen Menschen gepragt hat."^^ Die alteren Einwohner wuchsen in einer anderen historischen Epoche auf. Im Prinzip kein Einfiuss geht von der tatsachlichen oder wahrgenommenen Benachteiligung aus. Der iiber diese Variablen erfasste Status steht in dieser In der polnischen Stichprobe betragt B = -0,10. Dieser Koeffizient ist nur auf dem 10%Irrtumswahrscheinlichkeitsniveau signifikant, weshalb er hier nicht berichtet wird. Er weist aber in dieselbe Richtung wie in der Tschechischen Republik, d.h. die jungeren Befragten haben in Polen ebenfalls ein hoheres HSI.
164
Dominanzideologien
Studie also nicht mit HSI in Verbindung. Nur diejenigen Personen, die sich institutionell benachteiligt ftihlen, neigen tendenziell starker zu HSI-Werten. SchlieBlich sind es die Ostdeutschen, die entsprechend unserer Ergebnisse mehr Ellenbogenmentalitat internalisiert haben, allerdings nur in der Reprasentativstichprobe. Im Grenzgebiet gibt es keinen Unterschied mehr zwischen West- und Ostdeutschen. Die Befunde sprechen damit tendenziell gegen die These, dass dem HSI der Stellenwert eines Mediators zukommt. HSI ist relativ unabhangig davon, ob man sich aktuell vor der EU-Osterweiterung sorgt. Es erscheint daher weniger als Resultat situationaler Faktoren. Dies ist angesichts der Konzeption als Werthaltung nicht vollig iiberraschend. Werthaltungen werden friihzeitig und in einem langen Sozialisationsprozess aufgebaut; aktuelle Ereignisse haben dann nur noch einen eher geringen Einfluss. Zugleich bedeuten diese Befunde, dass HSI eine von den bisher betrachteten Faktoren relativ unabhangige Variable darstellt. Es steht kaum in Beziehung mit den Bedrohungsgefiihlen und auch mit Autoritarismus bestehen hochstens mittlere Zusammenhange. In Polen betragt die Korrelation mit Autoritarismus 0,17, in der Tschechischen Republik nur 0,01. In den deutschen Stichproben liegen die Korrelationen bei r = 0,41 bzw. r = 0,35. Dass HSI dennoch einen wichtigen Beitrag zur Erklarung von Fremdenfeindlichkeit und ahnlicher sozialer Probleme leisten kann, verdeutlichen die Ergebnisse in Tabelle 42. Allerdings gilt dies in erster Linie fur Deutschland. In den beiden deutschen Stichproben steht HSI in Verbindung mit Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus, wobei die Korrelationen durchgehend eine mittlere Hohe erreichen. Es ist damit also nicht zu bezweifeln, dass Ellenbogenmentalitat, wie sie durch das HSI-Konstrukt erfasst v^ird, negative Folgen hat. Erklarungsbediirftig bleibt hingegen, warum dies nur fiir Deutschland der Fall ist. In der tschechischen Stichprobe findet sich sogar eine negative Korrelation, d.h. hier verhindert HSI die Ausbildung von Nationalismus. Tabelle 42: Korrelationen zwischen HSI und ausgewahlten abhangigen Variablen^
Nationalismus
D-Reprasentativstichprobe (1) 0,33
D-Grenzregion (2)
PL-Grenzregion (3)
CZ-Grenzregion (4)
0,24
-
-0,16
Fremdenfeindlichkeit
0,32
0,35
-
-
Antisemitismus
0,28
0,22
-
0,17
Nicht-Sympathie Schweizer/Danen
-
-
-
-
Nicht-Sympathie Polen/Tschechen
0,13
-
-
-
^ Korrelationen signifikant bei p < .05 Denkbar ist, dass sich die „kapitalistische" Einstellungen in Polen und der Tschechischen Republik in okonomisch erfolgreichen Bevolkerungsgruppen (Eliten) finden, die um die
Hierarchisches Selbstinteresse
165
Vorziige einer offenen Gesellschaft wissen und Formen der Abwertung und Abgrenzung ablehnen. In der tschechischen Stichprobe finden sich beispielsweise mittlere positive Beziehungen zwischen HSI und wahrgenommener okonomischer Integration; wer hier also meint, sich mehr als der Durchschnitt leisten zu konnen und seine okonomische Lage als gut bezeichnet, hat hohere HSI-Werte. Dies deutet darauf hin, dass die Trager dieser Werte in den jungen Marktwirtschaften derzeit noch andere sind als in Deutschland. Allerdings sind hierfiir weitere Analysen notwendig, die mit den vorhandenen Datensatz kaum durchzufiihren sind, da differenziertere Statusvariablen als die erwahnten nicht erfasst wurden. Tabelle 43: Einfliisse auf Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit^ DReprasentativstichprobe (1) West FremNatiodennalis- feindlichmus keit
DReprasentativstichprobe (1) Ost FremNatiodennalis- feindlichmus keit
DGrenzregion (2) West
DGrenzregion (2) Ost
Nationalismus
Fremdenfeindlichkeit
Nationalismus
Fremdenfeindlichkeit
(1) HSI
0,16
0,16
0,20
-
-
0,24
0,18
0,21
(2) Realistisch-kollektive Bedrohungen
0,20
0,09
0,18
-
0,22
-
0,22
-
(3) Symbolisch-kollektive Bedrohungen
0,31
0,39
0,23
-
-
0,19
0,21
0,32
(4) Realistisch-individuelle Bedrohungen
-
-
-
0,29
-
0,24
-
-
(5) Negative Stereotype
-
0,15
0,16
0,16
-
-
0,13
0,11
(6) Intergruppenangst
_
_
_
0,21
_
0,20
_
0,15
0,32
0,38
0,29
0,32
0,06
0,35
0,25
0,36
Interaktion (1) und (2) Interaktion (1) und (3) Interaktion (1) und (4) Interaktion (1) und (5) Interaktion (1) und (6) R2
' OLS-Regressionsanalysen;^ signifikant bei p < .05
166
Dominanzideologien
Da es substanzielle Beziehungen zwischen HSI und Rechtsextremismus im Wesentlichen nur in Deutschland gibt, soil sich bei den nachfolgenden Auswertungen zur Frage, ob eine Mobilisierung dieser Werthaltungen im Zuge der EU-Osterweiterung moglich ist, auf die beiden deutschen Stichproben beschrankt werden. Dabei sollen jeweils ost- und westdeutsche Stichproben getrennt betrachtet werden, da sich bereits bei mehreren Anaiysen herausgestellt hat, dass die bayerische Grenzregion einen besonderen Status. Die in Tabelle 43 dokumentierten Ergebnisse lassen folgende Schliisse zu: HSI erweist sich auch unter Auspartialisierung der fiinf erfassten Bedrohungen immer noch als wichtiger Pradiktor flir Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit, wie dies in der ersten These vermutet wurde. Sein Einfluss liegt durchgangig bei 0,20, d.h. ca. 4 Prozent der Varianz der abhangigen Variablen wird durch HSI erklart. Die Bedrohungswahmehmungen stehen vor ailem dann, wenn sie den vermeintlichen Angriff auf koUektive Gliter beinhalten, mit rechten Einstellungen in Verbindung. Diese Befunde sind bereits aus den vorangegangen Kapiteln bekannt. Es bestatigt sich zudem, dass unter spezifischen Bedingungen die individuellen Bedrohungsgeflihle zu wichtigen Determinanten von Fremdenfeindlichkeit werden. Dies gilt ftir Ostdeutschland im AUgemeinen und das bayerische Grenzland im Speziellen; d.h. dies ist insbesondere in den Gebieten der Fall, in den sich Konkurrenzsituationen verscharfen konnten, die also okonomisch tendenziell schwacher sind (Rippl/Baier 2005). Eine mobilisierende Wirkung der EU-Osterweiterung bezogenen Bedrohungswahmehmungen auf den Einfluss von HSI ist nicht festzustellen. Die aufgenommenen Interaktionsterme werden in keiner Stichprobe signifikant. Insofem kann die zweite These verworfen werden. HSI erweist sich damit auch in dieser Analyse als weitestgehend unabhangig von situationalen Faktoren. 7.4
Zusammenfassung
Moderne, kapitalistisch organisierte Gesellschaften verdanken ihre hohe Leistungsfahigkeit funktionierenden Markten. Auf diesen stromen die Menschen zusammen und interagieren. Dabei verfolgen sie weitestgehend ihre eigenen Interessen. Marktwirtschaften setzen Menschen voraus, die die eigenen Interessen gegen die der anderen durchsetzen. Sich durchzusetzen bedeutet, Erfolg zu haben. Diese Mentalitat bezeichnen wir als Hierarchisches Selbstinteresse. HSI hat allerdings nicht nur positive Implikationen, was in der Umschreibung als Ellenbogenmentalitat anklingt. Personen, die HSI starker internalisiert haben als andere, die starkerer zur Selbstdurchsetzung und Abgrenzung neigen, laufen auch haufiger Gefahr, fremdenfeindliche Einstellungen auszubilden. Die daran anschlieBende tJberlegung war, dass konkurrenzverscharfende soziale Ereignisse diese Beziehungen zwischen HSI und Fremdenfeindlichkeit noch verstarken konnten. Die empirischen Ergebnisse konnen zumindest die erweiterte These des Mobilisierungsschubs von EUenbogenmentalitaten nicht bestatigen. Hierfur wurden drei Befunde prasentiert: Erstens sind die HSI-Niveaus in Gebieten, in denen eine hohere Betroffenheit vom Erweiterungsprozess zu vermuten ist, d.h. etwa in den deutschen Grenzregionen, nicht signifikant von denen der anderen Gebiete verschieden. Zweitens erweist sich HSI auch als
Hierarchisches Selbstinteresse
167
relativ unabhangig von der individuellen Auspragung der Bedrohungsgeflihle. Drittens lieBen sich keine Interaktionseffekte derart finden, dass erst das Zusammentreffen hoher HSI-Werte und hoher Bedrohungswahrnehmungen Nationalismus oder Fremdenfeindlichkeit nach sich zieht. Der vermeintlich hohere Konkurrenzdruck infolge der EU-Osterweiterimg scheint Personen mit HSI also nicht in besonderer Weise anzusprechen. Dies konnte u.a. daran liegen, dass die durch die Beitrittsstaaten drohende Konkurrenz auf einem Sektor angesiedelt ist, auf dem vieie Deutsche derzeit gar nicht mehr tatig sind. Die nach Deutschland migrierenden Arbeitskrafte werden eher im Niedriglohnsektor tatig sein, wahrend Deutsche aufgrund ihrer durchschnittUch hoheren (Aus-)Bildung in quaUfizierteren und speziaHsierteren Bereichen arbeiten. Ebenfalls nicht fur alle Gebiete bestatigt werden konnte die These, dass den Werthaltungen des Hierarchischen Selbstinteresses notwendig ein negatives Potenzial immanent ist. In Polen und der Tschechischen RepubUk bestehen keine oder nur geringftigige Zusammenhange mit rechtsextremen, ethnozentrischen Einstellungen. Hierin spiegelt sich moghcherweise die kurze Geschichte der Marktwirtschaft in diesen Landern. Erst seit ca. zehn Jahren bestimmt hier das neue System die Erfahrungen der Burger. In dieser kurzen Zeit sind es dann eher die jungen Menschen, die die entsprechenden Werthaltungen internaUsiert haben. Von diesen ist aber allgemein bekannt, dass sie weniger fiir fremdenfeindHche Einstellungen empfanglich sind. Zudem sind es hier tendenziell eher die erfolgreichen Personen, die hoherer HSI-Werte aufweisen, d.h. die „Gewinner" der gesellschafdichen Transformation. Offen artikulierte Fremdenfeindlichkeit konnte diese Erfolge zunichte machen. In Deutschland hingegen bestatigt sich, dass HSI mit rechtsextremen Einstellungen in Verbindung steht. An anderer Stelle konnte gezeigt werden, dass diese Effekte robust sind, insofern sie auch dann noch bestehen bleiben, wenn weitere Konstrukte wie der Autoritarismus oder die Dominanzorientierung in die Analysen einbezogen werden (Baier/Hadjar 2006). Erklarungsbedtirftig bleibt dabei, wie Menschen iiberhaupt zu diesen Werthaltungen kommen. Von den einbezogenen Faktoren standen nur das Geschlecht und einzelne Bedrohungsdimensionen mit HSI in Verbindung. Auf die Frage nach den Ursachen von HSI konnen wohl am ehesten Jugendstudien Antworten liefem, da zu vermuten ist, dass der Aufbau dieser Werthaltungen in dieser Lebensphase geschieht. Der Vergleich von Jugendgeneration in verschiedenen Kulturen konnte darliber hinaus Auskunft geben, welche gesellschaftlichen Bedingungen die positiven Seiten von HSI und welche die negativen Seiten aktivieren.
8.
EU-Osterweiterung als Mobilisierungsschub fiir rechte Einstellungen
8.1 Theoretische Uberlegungen Kemfrage der hier vorgelegten Studie ist, inwieweit die EU-Osterweiterung zu einer Mobilisierung rechter Einstellungen fiihrt. Zur Analyse dieser Fragestellung wurde insbesondere das Bedrohungskonzept herangezogen, da es in der Lage ist, Veranderungen auf der Makroebene konzeptuell zu fassen. Des Weiteren stellt sich nun die Frage, in welcher Beziehung das Bedrohungskonzept zu anderen theoretischen Konzepten steht, die sich in der Rechtsextremismusforschung als bedeutsam erwiesen haben. Insbesondere hinsichtlich der Frage danach, unter welchen Bedingungen Menschen die EU-Osterweiterung als Bedrohung wahrnehmen, konnten diese Konzepte weiteren Aufschluss geben, nachdem die von Stephan und Stephan (2000) angefiihrten Pradiktoren des Intergruppenkontextes im Kontext unserer Studie hier relativ wenig Varianz aufklaren konnten (vgl. Kapitel 5). Dabei werden theoretische Erklarungsansatze berticksichtigt, die sich zuerst einmal grundlegend dadurch unterscheiden, dass sie entweder in starkerem MaBe situative oder personlichkeitsbezogene Aspekte hervorheben. Wahrend Deprivations- und Desintegrationstheorien primar situative Momente ansprechen, die durch den Prozess der EU-Osterweiterung direkt tangiert werden, etwa Bedrohung durch Arbeitslosigkeit durch zunehmende Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, bezieht sich die Autoritarismusforschung eher auf stabilere personlichkeitsimmanente Faktoren. Autoritare Personlichkeiten tendieren generell dazu, auf verunsichemde Situationen durch eine Orientierung an scheinbar ordnungsstiftenden Ideologien zu reagieren. Im Folgenden soUen die Wirkungsweisen dieser unterschiedlichen Konzepte vor dem Hintergrund der EU-Osterweiterung untersucht und in ihrer Wirkung verglichen werden. Im Rahmen der theoretischen Voriiberlegungen (vgl. Kapitel 2, Abbildung 4). wurde davon ausgegangen, dass die Wahrnehmung der EU-Osterweiterung durch verschiedene Bedingungen auf der Ebene des Individuums und von dessen sozialem Kontext beeinflusst wird. Bedingungen des sozialen Kontextes spielen im Rahmen des Desinteg rationsansatzes (Anhut/Heitmeyer 2000; Heitmeyer 2002) eine groBe Rolle. Die Desintegrationstheorie lasst sich im Prinzip als ein „Dachkonzept" verstehen, dass zahlreiche Anleihen bei anderen Erklarungsansatzen der Rechtsextremismusforschung (z.B. Sozialisationsansatz, Sozialkapitalansatz, Anomietheorie, Deprivationstheorie) macht und diese Ansatze in eine umfassendere Theorie der gesellschaftlichen Desintegration einordnet. Desintegration ist dabei die negative Folge von sozialen Wandlungsprozessen der modemen Gesellschaft, die prinzipiell Chancen und Risiken einer individualisierten Lebensfiihrung beinhalten. Positive Effekte einer zunehmenden Flexibilitat und Gestaltbarkeit sind verbunden mit der Zunahme von Unsicherheit, die insbesondere in Kombination mit der anhaltenden okono-
170
EU-Osterweiterung
mischen Krise in der Bimdesrepublik zu problematischen Konsequenzen fiihrt. Anhut und Heitmeyer (2000) verweisen auf unterschiedliche Dimensionen der Integration bzw. - bei einem Misslingen von Integration - der Desintegration. Sie unterscheiden dabei die sozialstrukturelle Dimension, die institutionelle Dimension und die sozial-emotionale Dimension. Der objektive Zustand der Desintegration z.B. durch Arbeitslosigkeit wird aber nur dann problemrelevant, wenn eine spezifische subjektive Wahmehmung der Situation erfolgt, diese notwendige Art der Wahmehmung wird im Prinzip im Rahmen der Deprivationstheorie beschrieben (Rippl/Baier 2005), so dass man den mikrosoziologischen Teil der Desintegrationstheorie weitgehend mit dem Deprivationsansatz gleichsetzten kann. Die sozial-strukturelle Dimension von Desintegration bezieht sich auf den angestammten Bereich der Deprivationsthese in der Rechtsextremismusforschung, d.h. auf die Frage der okonomischen Teilhabe, die vor allem durch den Zugang zum Arbeitsmarkt sichergestellt wird. Hinzu kommt die institutionelle Dimension; sie umfasst Fragen der institutionellen Teilhabe hauptsachlich in Form politischer Partizipation. Die sozial-emotionale Dimension beinhaltet die Frage nach Rtickhalt und sozialer Unterstiitzung im nahen gemeinschaftlichen Lebensbereich. Hier werden Beziige zur sozialisationstheoretischen Ansatzen und zur Sozialkapitaltheorie deutlich. Obwohl auf der strukturellen Ebene auch kollektive Aspekte genannt werden, stehen in Heitmeyers Ansatz primar die individuelle Ebene also auch individuelle Folgen von Desintegration im Vordergrund. Aus der Sicht der Desintegrationstheorie ist die EU-Osterweiterung dann relevant, wenn Personen durch sie ihren Integrationsstatus gefahrdet sehen. Die Argumentation bezieht sich somit primar auf die individuelle Ebene. Inwieweit gefahrdet die EU-Osterweiterung mein Einkommen, meinen Arbeitsplatz oder meine Moglichkeiten der politischen Partizipation? Die Ausgangsthese lautet hier, dass insbesondere Personen mit einem bereits vor der EU-Osterweiterung prekaren Integrationsstatus die EU-Osterweiterung als Bedrohung erleben. Hierbei miissten insbesondere individuelle Bedrohungsaspekte eine RoUe spielen. In diesem Falle miissten ethnozentrische Haltungen aus einer wahrgenommenen Konflikt- bzw. Konkurrenzsituation auf der individuellen Ebene resultieren (Rippl 2003). Die Desintegrationstheorie selbst bietet keine expliziten Ankniipfungspunkte, solche Verteilungskonflikte auch auf der kollektiven bzw. Gruppenebene zu elaborieren. Die Konzepte Desintegration und Deprivation weisen, wie bereits erwahnt, sehr Starke Uberschneidungen auf. Heitmeyer (2002) bettet seinen Forschungsansatz in eine allgemeinere Theorie der gesellschaftlichen Desintegrationsprozesse ein, dabei werden die Konzepte Desintegration und Deprivation allerdings nicht trennscharf verwendet (vgl. Rippl/Baier 2005). Betrachtet man die Forschungslandschaft, so fallt auf, dass Deprivation ein vielfaltig verwendeter und ebenso uneindeutiger Begriff ist. Kleinster gemeinsamer Nenner aller verwandten Ansatze ist eine basale Definition des Konzeptes „Deprivation": Unter Deprivation wird ein Zustand des Entzugs oder der Entbehrung von etwas Erwiinschtem verstanden. Zumeist wird dabei auf okonomische Aspekte Bezug genommen. Interessant ist in unserem Zusammenhang als Erganzung zur Desintegrationstheorie der Befund verschiedener Studien der Deprivationsforschung, dass offenbar die kollektive Ebene von Deprivation weitaus bedeutsamer fiir die Mobilisierung von Vorurteilen ist als die individuelle Ebene (Smith/Ortiz 2002; Tougas/Beaton 2002; Rippl/Baier 2005). Allerdings stehen auch aus dieser Sicht die individuelle und die kollektive Ebene nicht unver-
Mobilisierungsschub flir rechte Einstellungen?
171
bunden nebeneinander. Es wird davon ausgegangen, dass individuelle Deprivationserfahrung zwar keine notwendige Vorbedingung flir das Erleben kollektiver Deprivation ist, dass diese aber im Sinne eines „Spill-over"-Effekts dieses Erleben begiinstigen (Tougas/Beaton 2002). Eine erganzende Erkenntnis der neueren Deprivationsforschung bietet der Refund, dass die affektive Ebene in der Forschung falschlicherweise vernachlassigt wurde. Smith und Ortiz (2002) zeigen in einer Metaanalyse, dass Deprivationsstudien, die affektive Aspekte berlicksichtigen, in ihren empirischen Analysen erheblich bessere Vorhersagewerte erreichen. Bedrohungstheorien thematisieren zumindest im okonomischen Bereich den affektiv „geladenen" Zustand der Angst vor Deprivation bzw. vor dem Verlust eines spezifischen Integrationsstatus. Desintegration-, Deprivations- und Bedrohungstheorien legen somit unterschiedliche Uberlegungen zu sehr ahnhchen Konzepten vor. Wahrend die Desintegrationstheorie insbesondere eine inhaltliche Erweiterung des zumeist auf die okonomische Ebene begrenzten Deprivationskonzeptes auf institutionelle und soziale Dimensionen einbringt, differenziert der Deprivationsansatz vor allem die Unterscheidung individueli vs. kollektiv aus. Die Bedrohungstheorie erganzt diese Sichtweise zusatzlich um den Aspekt der Affektivitat (vgl. Abbildung 44).
Individuelle objektive Desintegration
Individuelle subjektive Deprivation
Individuelle B edrohungsgefiihle
Kollektive subjektive Deprivation
Abbildung 44:
Zusammenspiel von Desintegration, Deprivation und Bedrohungsgefiihlen
Wie in Kapitel 6 ausfiihrlicher dargestellt, kann man im Rahmen der Theorie der autoritdren Personlichkeit (Adorno et al. 1950) davon ausgehen, dass Personen mit autoritaren Dispositionen Veranderungen per se als Bedrohung ihrer Ordnung wahrnehmen. Aufgrund ihrer Ich-Schwache sind sie aber besonders stark auf eine auBere Ordnung angewiesen.
EU-Qsterweiterung
172
Autoritare Personlichkeiten werden als wenig flexibel, rigide und konventionalistisch beschrieben. Ihre starke Orientierung an iibergeordneten Autoritaten, die Suche nach Starke auBerhalb der eigenen schwachen Personlichkeit, fiihrt zu einer Abwehrhaltung gegeniiber AUem, was kollektive IdentifikationsgroBen verandern konnte. Es ist also davon auszugehen, dass autoritare Dispositionen Bedrohungsgefiihle im Kontext der EU-Osterweiterung insbesondere auf der kollektiven Ebene aktivieren; dabei diirften aufgrund der konventionalistischen Haltung insbesondere Angste urn einen Zerfall nationaler Werte und Normen von Bedeutung sein. In diesem Fall kommt den daraus resultierenden ethnozentrischen Haltungen eine Kompensationsfunktion der eigenen Ich-Schwache zu (Rippl 2003). Autoritarismus mobilisiert also im Unterschied zu Desintegration Bedrohungsgefiihle insbesondere auf koUektiver Ebene. Hierbei diirften symbolische Bedrohungsgefiihle eine besonders groBe RoUe spielen (vgl. Abbildung 45).
Autoritarismus
Verstarkte Orientierung am Kollektiv
Bedrohungsgefiihle auf kollektiver Ebene
Abbildung 45: Autoritarismus und Bedrohungsgefuhle In der hier vorgelegten Studie wird versucht, diese unterschiedlichen Sichtweisen auf ahnliche Phanomene fruchtbar zu integrieren oder, wenn dies nicht sinnvoll erscheint, im Rahmen konkurrierender Hypothesen zu untersuchen. Theorie
Ursachen
Mobilisierende Wirkung auf welche Bedrohungsgefiihle?
Funktion
Desintegrationstheorem (Anhut/Heitmeyer 2000)
Strukturelle Desintegration Institutionelle Desintegration Sozio-Emotionale Desintegration
Individuelle B edrohungsgefiihle
Konkurrenz
Kollektive okonomische Deprivation
Kollektive realistische B edrohungsgefiihle
Konkurrenz
Autoritare Personlichkeit
Kollektive symbolische Bedrohungsgefuhle
Kompensation
Gruppenstatus Wissen iiber andere, Bedeutung der Eigengruppe, Kontakte, friihere Gruppenkonflikte
Kollektive B edrohungsgefiihle
Konflikt
Deprivationstheorie (Gurr 1970; Olson et a l l 986) Autoritarismus (Adorno et al. 1950) B edrohungstheorie (Stephan/Stephan 2000)
AbbOdung 46: Theoretischen Ansatze und ihre Zusammenhange zum Bedrohungskonzept
Mobilisierungsschub ftlr rechte Einstellungen?
173
Die in Abbiidung 46 vorgelegte tJbersicht gibt einen zusammenfassenden Blick auf die Merkmale und die vermuteten Zusammenhange der verschiedenen theoretischen Konzepte zum Bedrohungskonzept. 8.2 8.2.1
Ergebnisse Ursachen fiir Bedrohungsgefuhle
Im Rahmen der empirischen Analyse der Fragestellungen werden zuerst - wie bereits in Kapitel 5 vorgestellt - Ursachen fiir die spezifischen Bedrohungsgefuhle naher betrachtet. Dabei werden jetzt personlichkeitsbezogene Faktoren, Aspekte der Desintegrations- bzw. Deprivationstheorie sowie gruppenbezogene Faktoren wie sie von Stephan und Stephan (2000) benannt werden, vergleichend betrachtet. Dem folgt ein komplexeres Analysemodell, das alle relevanten Faktoren der verschiedenen Ebenen integriert und indirekte und direkte Effekte differenziert. AbschlieBend wird der Blick dann noch mal auf die Frage gerichtet, welche Effekte hinsichtlich der Haltung zur EU-Osterweiterung in der Bevolkerung zu erwarten sind. Ausgangspunkt der Untersuchung sind Regressionsanalysen, die den Einfluss verschiedener Pradiktoren auf das Bedrohungserleben priifen. Die unabhangigen Variablen wurden in vier Blocke unterteilt. Neben demographischen Variablen und den von Stephan und Stephan (2000) vorgeschlagenen Pradiktoren der Intergruppenebene werden Personlichkeits- und Desintegrationsfaktoren berticksichtigt. Als relevante Aspekte der Personlichkeit wurde zum einen der Autoritarismus betrachtet. Zum anderen wurde das Konstrukt „allgemeine Besorgtheit" (vgl. Kapitel 4) in die Analyse aufgenommen. Hiermit soil durch Partialisierung der Einfluss einer allgemeinen personlichkeitsspezifischen Tendenz zu Angstlichkeit von dem situationsbezogen entstandenen Bedrohungserleben getrennt werden. Desweiteren werden die drei Ebenen von Desintegration, die Anhut und Heitmeyer (2000) benennen, in die Analyse einbezogen. Hier wurden die Operationalisierungen von Heitmeyer verwendet (beschrieben z.B. bei Endrikat et al. 2002), die eigentlich traditionelle Deprivationsmessungen darstellen. Der Deprivationsansatz ist durch okonomische Deprivationsgefiihle bezogen auf die kollektive Ebene, also hinsichtlich der okonomischen Situation in Deutschland und der Situation der Eigengruppe im Vergleich zu anderen in Deutschland lebenden Gruppen erfasst. Das Ergebnis - fiir die deutsche Reprasentativstichprobe - findet sich in Tabelle 44. Betrachtet man die demographischen Faktoren, so ergeben sich hier kaum signifikante Effekte. Eine Ausnahme ist die Alters variable. Wie zu erwarten war, zeigen insbesondere Altere auf der symbolischen Ebene eine hohere Wahrscheinlichkeit, Angste zu empfinden. Dies entspricht einer im Allgemeinen starkeren Neigung alterer Personen zu konventionalistischen Haltungen. Jiingere Personen hingegen empfinden eher als Altere realistische individuelle Bedrohungen, was sicherlich auf ihre weniger etablierte Stellung im Erwerbsleben zuriickzufiihren ist. Sie nehmen die potenziellen Veranderungen durch die EU-Osterweiterung offenbar etwas starker als Altere als zunehmende individuelle Konkurrenzsituation wahr. Uberraschend ist das hohere Niveau der Intergruppenangst bei den
174
EU-Osterweiterung
jlingeren Befragten. Die These, dass die Ursache hierfur in einem bei den Alteren lebensgeschichtlich bedingten hoheren Niveau an Kontakten zu Polen und Tschechen zu finden ist, lasst sich nicht bestatigen. Es findet sich keine Unterschiede in der Kontaktintensitat zwischen alteren und jtingeren Befragten.^^ Tabelle 44: Ursachen fur Bedrohungsgefiihle im Kontext der EU-Osterweiterung^
Ursache
ReaHstische kollektive Bedrohung
Symbohsche kollektive Bedrohung
ReaHstische Individuelle Bedrohung
hitergruppenangst Polen/ Tschechen
-
0,10*
-0,15**
-0,16*
Demographie Alter Bildung Ost/West Erfahrung mit Arbeitslosigkeit
0,09*
Personlichkeit Autoritarismus
0,26**
0,27**
0,16**
Angstlichkeit
0,28**
0,15**
0,20**
0,14**
0,21**
0,12**
-0,09**
-0,12*
0,36*
Gruppenbezogene Faktoren Negative Stereotype
0,32*
Vergangene Konflikte Europa-Identifikation Nationale Identifikation Kontakte Subjektive Desintegrations-ZDeprivationserfahrungen Struktm'elle Des integration Institutionelle 0,08* 0,07* Des integration Sozio-emotionale Desintegration Strukturelle kollektive 0,16** 0,12* Desintegration R2 0,42 0,37
0,19** 0,11**
0,07* 0,37
0,21
^ OLS-Regression, j3-Koeffizienten, p < .05 ** p < .01
^^ Die KoiTelation von Alter und Haufigkeit positiver Kontakte zu Polen und Tschechen liegt bei r=0,02.
Mobilisierungsschub fiir rechte Einstellungen?
175
Die Personlichkeitsfaktoren erweisen sich fiir alle vier abhangigen Variablen als die starksten Pradiktoren. In vielen Fallen entwickeln sich Bedrohungsgefiihle und Angste offenbar besonders stark, wenn bereits autoritare Dispositionen vorliegen. Auch die Disposition zu Besorgtheit erweist sich als relevant. Allerdings lasst sich sicherlich nicht davon sprechen, dass das Bedrohungserleben im Kontext der EU-Osterweiterung allein durch eine allgemeine Tendenz zu Angstlichkeit gespeist wird. tJberraschenderweise hat die Besorgtheit keinen signifikanten Einfluss auf die Intergruppenangst. Hier wird offenbar eine andere Dimension von Angst angesprochen, eine „Angst vor Fremdheit", die anscheinend wenig mit einer allgemeinen Tendenz zu Besorgtheit zu tun hat. Die gruppenbezogenen Faktoren, die von Stephan und Stephan (2000) genannt wurden, erweisen sich insgesamt als relativ wenig bedeutsam; nur die Identifikation mit Europa und die negativen Stereotype erweisen sich als relevant (vgl. auch Kapitel 5). Die Identifikation mit Europa zeigt dampfende Wirkung auf die Auspragung von Bedrohungsgefiihlen auf der kollektiven Ebene. Die negativen Stereotype forcieren insbesondere Intergruppenangste und symbolische Besorgnisse. Die Desintegrationserfahrungen zeigen bedeutsamen Einfluss insbesondere auf die erweitemngsbezogenen Angste. Am starksten wirken sie auf das Niveau individueller Bedrohungsgefiihle, allerdings bleibt die Hohe der Koeffizienten deutlich hinter den Effektstarken der Personlichkeitsvariablen zuriick. Kollektive DesintegrationsgefUhle sind - wie zu erwarten war - fiir die Auspragung von Bedrohungserleben auf der kollektiven Ebene bedeutsamer als individuelle Aspekte. Die sozio-emotionale Desintegration zeigt keinerlei signifikante Effekte. Zusammenfassend betrachtet werden die erweitemngsbezogenen Bedrohungsgefiihle immerhin zu 35-40 Prozent durch die einbezogenen Variablen erklart. Die Intergruppenangst erreicht mit 15 Prozent einen deutlich schlechteren Wert. Sie erweist sich damit wie vermutet als „Bedrohungskonzept" mit deutlich anderer Qualitat. Der Nahrboden fiir die Entwicklung von Bedrohungsgefiihlen muss - so scheint es - also primar in bereits vorhandenen autoritaren Dispositionen gesucht werden. Eine gewisse Bedeutung erlangen auch vorhandene Desintegrationserfahrungen. Bezogen auf die postulierten Zusammenhange (vgl. Abbildung 46), lassen sich in ihrer Tendenz fast alle Thesen stiitzen. Autoritarismus fiihrt insbesondere zu kollektiv symbolischem Bedrohungserleben (auch zu anderem Bedrohungserleben, aber in geringerem MaBe), kollektive okonomische Deprivationsgefiihle mobilisieren Bedrohungsgefiihle insbesondere im kollektiv-realistischen Bereich und Desintegration wirkt insbesondere auf individuelle Bedrohungsgefiihle. Die von Stephan und Stephan (2000) eingebrachten gruppenbezogenen Variablen zeigen im Kontext unserer Studie keine relevanten Effekte. 8,2,2
Die Mobilisierungswirkung der EU-Osterweiterung fiir ethnozentrische Einstellungen - ein Integrationsmodell
Um die Wirkungswege genauer analysieren zu konnen, ist es notwendig komplexere Analyseverfahren zu verwenden, die die Betrachtung von Kausalketten ermoglichen. Zu diesem
EU-Osterweiterung
176
Zwecke wurde ein Strukturgleichungsmodell spezifiziert, in dem Elemente der Desintegration-/Deprivationstheorie, der Autoritarismusforschung und der Bedrohungstheorie integriert wurden. Zudem wurden objektive Indikatoren der okonomischen Situation - also objektive Desintegrationsaspekte -der Makro- und Mikroebene beriicksichtigt. Die Ergebnisse der Analyse finden sich in Abbildung 47, wobei nur signifikante (p<.05) Pfade > 0,20 berichtet werden. Betrachtet man zuerst die objektiven Indikatoren, so zeigen insbesondere die Indikatoren der Makroebene nur sehr geringe Effekte. Auf der Mikroebene erweist sich - wie erwartet - die tatsachliche Erfahrung mit Arbeitslosigkeit als Pradiktor fur strukturelle Desintegrationswahmehmung. Bedeutsam ist auch die Bildungsbeteiligung. Besonders stark ist ihr Einfluss auf die Auspragung von Autoritarismus. Gering gebildete Personen weisen ein deutlich hoheres Niveau an Autoritarismus auf. Wie bereits in den getrennten Regressionsanalysen sichtbar, erweist sich auch hier der Autoritarismus als starkster Pradiktor fiir Bedrohungsgefiihle.
individuelle Arbeitslosigkeitserfahrung
Bildungsbeteiligung
Fit-MaBe: t = 694.620, df = 301; RMSEA = .04, SRMR = .04; GFI = .95, AGH = .94, CFl = .95
Abbildung 47:
Strukturgleichungsmodell zur Erklarung von rechtsextremen Einstellungen
Besonders stark ist der Effekt auf kollektives Bedrohungsempfinden. Dieses scheint weitaus starker losgelost zu sein von realen individuellen Desintegrationsmomenten als das Bedrohungserleben auf der individuellen Ebene, was auch die Effekte der Desintegrations-
Mobilisierungsschub flir rechte Einstellungen?
177
indikatoren zeigen. Die strukturelle Desintegration ist ein guter Pradiktor fur das realist!sche individuelle Bedrohungserleben, der Effekt ist auf der kollektiven Ebene aber deutlich geringer. Desintegrationserleben auf der individuellen Ebene ist zwar in beschranktem MaBe ein Nahrboden fiir Bedrohungserleben auf der kollektiven Ebene, aber keine zentrale Ursache. Realistische Bedrohungsgefiihle auf der kollektiven Ebene entstehen zum GroBteil vollig unabhangig von der individuellen Desintegrationssituation. Hinsichtlich der direkten Effekte auf die abhangigen Variablen erweisen sich die kollektiven Bedrohungsgefiihle als deutlich relevanter als die individuellen. Dieses Ergebnis entspricht den Befunden der Deprivationsforschung, die auf die groBere Bedeutung kollektiver Faktoren fur die Vorhersage von Vorurteilen und Ethnozentrismus hingewiesen haben (Smith/Ortiz 2000; Rippl/Baier 2005) und relativiert die Bedeutung individueller Desintegrationserfahrungen fiir die Erklarung der Entwicklung von Vorurteilen wie es besonders prominent im Desintegrationstheorem Heitmeyers betont wird. Die Indikatoren zur Erfassung der Desintegrationswahrnehmung nach Heitmeyer zeigen in diesem Modell nur indirekte, iiber Bedrohungen vermittelte Effekte auf die abhangigen Variablen. Es verbleiben doch nur relativ geringe totale Effekte (vgl. Tabelle 45). Als starkste Pradiktoren im Modell erweisen sich die symbolischen kollektiven Bedrohungsgefiihle und der Autoritarismus. Die Effekte des Autoritarismus werden nur zum Teil durch die Besorgnisse mediiert. Autoritare Personen neigen in Situationen sozialen Wandels offenbar grundsatzlich eher dazu, Angste zu entwickeln. Hier ist eine Mobilisierungswirkung festzustellen. Der Autoritarismus wirkt aber auch unabhangig davon relativ stark als Ursache fiir nationalistische Einstellungen (B=0,41). Diese unterschiedlichen Befunde fiir Autoritarismus (direkt und indirekt) sprechen fiir einen dispositionellen und einen situativen Anteil des Konzeptes. Vorhandener Autoritarismus mobilisiert in bedrohlichen Situationen offenbar Angste und damit indirekt rechte Orientierungen. Fassen wir die Ergebnisse mit Blick auf die formulierte Ausgangsfrage zusammen, so ist auch aus der Sicht dieses erweiterten Integrationsmodells zu konstatieren, dass die EU-Osterweiterung tatsachlich ein Mobilisierungspotenzial fiir rechtsextreme Einstellungen aufweist, wobei Quantitaten schwer zu ermitteln sind. Moglich ist es allerdings, die Bedingungen zu spezifizieren, die es wahrscheinlich machen, dass sich Personen rechtsextremen Einstellungen zuwenden. Uber Voraussetzungen und Kontextvariationen geben die Daten relativ klar Auskunft. Wenn Personen soziale Veranderungen im Zuge der EU-Osterweiterung auf kollektiver Ebene antizipieren und insbesondere symbolische Giiter angegriffen sehen, dann erhoht dies die Wahrscheinlichkeit der Ausbildung rechter Orientierungen. Anfallig fiir derartige Empfindungen sind im Wesentlichen autoritare Personlichkeiten. Eigene Desintegration steht mit kollektiven Bedrohungsgefiihlen nur in einer schwachen Beziehung, sie kann aber als Nahrboden fiir solche gelten. Im Osten Deutschlands existieren davon leicht abweichende Verhaltnisse (vgl. Tabelle 46). Einerseits fiihren im Osten Deutschlands autoritare Personlichkeitseigenschaften direkt zu nationalistischen Einstellungen, schlagen sich also weniger iiber den 'Umweg' der Bedrohungsgefiihle in Rechtsextremismus nieder. Im Westteil Deutschlands deuten die Befunde zum Autoritarismus darauf hin, dass z.T. die dispositionelle, z.T. die Aktivations-Perspektive die Entstehung rechter Einstellungen erklart. Zweitens spielen im Osten Deutschlands individuelle Des-
178
EU-Osterweiterung
integrationsmomente eine groBere Rolle als in Westdeutschland: Arbeitslosigkeitserfahrungen schlagen sich starker in der Wahmehmung von Deprivation und diese in der antizipierten Verschlechterung der eigenen okonomischen Lage durch die EU-Osterweiterung nieder. Letztere fiihren dann direkt in die Fremdgruppenabwertung. Dieser letzte Befund speist die Hypothese, dass individuelle Desintegrationserfahrungen dann von Bedeutung flir die Entwicklung fremdenfeindlicher Haltungen sind, wenn „reale" Konkurrenzsituationen an Bedeutung gewinnen. Dieser Aspekt konnte hier ftir die genannten Ost-West-Unterschiede verantwortlich sein. Tabelle 45: Totale Effekte der Pradiktoren von Nationalismus und Sympathie im West-Ost Vergleich Pradiktor BIP in Euro je Einwohner Arbeitslosenquote Arbeitslosigkeitserfahrung B ildungsbeteiligung strukturelle Desintegration Institutionelle Desintegration Autoritarismus (in Klammern: direkter Effekt) realistisch-kollektive B edrohungen symbolisch-koUektive B edrohungen r ealis tis ch- individuelle B edrohungen
Nationalismus Gesamt 0,00 0,08 0,02 -0,30 0,06 0,08 0,67 0,15 0,38 0,03
West 0,00 -0,01 0,02 -0,32 0,07 0,08 0,67 (0,38) 0,20 0,38 0,02
Ost -0,01 -0,04 0,03 -0,23 0,08 0,08 0,61 (0,50) -0,10 0,46 0,04
Sympathie Polen/Tschechen West Gesamt Ost 0,00 0,02 0,00 -0,05 0,00 0,02 -0,03 -0,03 -0,06 0,15 0,17 0,10 -0,10 -0,09 -0,16 -0,08 -0,09 -0,08 -0,31 -0,18 -0,29 -0,26 -0,29 -0,11
-0,29 -0,31 -0,06
-0,24 -0,11 -0,25
Um diese Hypothese zu erharten, wurde eine vergleichende Analyse flir grenznahe und grenzferne Gebiete durchgeftihrt, da diese Kontexte weitaus starker als die Ost-West-Variable ein unterschiedliches AusmaB an zunehmender Konkurrenz durch die EU-Osterweiterung spiegeln. Die Ergebnisse in Tabelle 46 bestatigen die Hypothese. In den grenznahen Gebieten gewinnen die individuellen Desintegrationsangste an Bedeutung und werden sogar wichtiger als kollektive Aspekte. Tabelle 46: Kontexteffekte und die Wirkung individueller und kollektiver Deprivation^ Angst vor kollektiver Deprivation Angst vor individueller Deprivation
Grenzferner Kontext
Grenznaher Kontext
0,29**
0,17**
0,02
0,32**
' 6-Koeffizienten; ** p<.01 Es erweist sich also als bedeutsam die besonderen Einfllisse bestimmter Kontexte genauer zu betrachten, Diese Erkenntnis ist auch fiir die Uberlegung moglicher PraventionsmaB-
Mobilisierungsschub fiir rechte Einstellungen?
179
nahmen relevant. Konkurrenzbezogenen Angsten kann weitaus eher durch Informationen begegnet werden als Angsten, die primar einer spezifischen defizitaren Personlichkeitsstruktur zuzuschreiben sind. 8.2.3
Ursachen der Einstellung zur EU-Osterweiterung
Ausgangspunkt der Studie war die Frage, inwieweit die EU-Osterweiterung mobilisierende Wirkung auf die Auspragung rechtsextremer Orientierungen hat. Diese Frage haben wir mit „ja, insbesondere unter bestimmten Bedingungen" beantwortet. AbschlieBend soil nun auf die Frage nach den Ursachen fiir eine positive oder negative Haltung zur EU-Osterweiterung eingegangen werden. Zu diesem Zweck wurde eine hierarchische Regressionsanalyse berechnet, wobei die Haltung zur EU-Osterweiterung die abhangige Variable ist. Als unabhangige Variablen wurden insbesondere die Faktoren beriicksichtigt, die sich in den vorherigen Analysen als bedeutsam erwiesen haben, Besonderes Augenmerk liegt auf den Einfliissen des Bedrohungserlebens, das im Unterschied zu den anderen Pradiktoren den starksten Situationsbezug aufweist. Alle anderen Variablen umfassen Merkmale deren Auspragung in weitaus groBerem MaBe unabhangig vom Ereignis der EU-Osterweiterung ist. Zusatzlich wurden wiederum demographische Variablen, gruppenbezogene und Personlichkeitsfaktoren beriicksichtigt. Neu in diesem Modell ist die Beriicksichtigung politischer Orientierungen als Pradiktor. Die Ergebnisse der Analyse finden sich in Tabelle 47. Betrachtet man die demographischen Variablen in Modell 1, so zeigt sich, dass altere und hoher gebildete Personen eine positivere Haltung zur EU-Osterweiterung haben. Es finden sich keine signifikanten OstAVest-Unterschiede. Die Ergebnisse in Modell 2 belegen, dass ahnlich wie in bereits prasentierten Modellen auch fiir die Vorhersage der Haltung zur EU-Osterweiterung die koUektiven Besorgnisse am bedeutsamsten sind; hier dominieren allerdings die realistischen koUektiven Bedrohungsgefuhle, im Falle der ethnozentrischen Haltungen waren die symbolischen Bedrohungsgefiihle bedeutsamer. Interessant ist die Veranderung des Vorzeichens des Koeffizienten, der den Effekt der Bildungsvariable in diesem Modell belegt. Beriicksichtigt man die Bedrohungsgefiihle, so erweisen sich nun sogar die hoher gebildeten Personen als etwas skeptischer hinsichtlich der EU-Osterweiterung. Die individuelle Ebene von Bedrohungserleben hat in alien Modellen einen sehr geringen bis gar keinen Effekt. Auch die Intergruppenangst ist nahezu bedeutungslos. In Modell 3 werden erganzend politische Orientierungen als Pradiktoren verwendet. Es zeigt sich der erwartet negative Effekt des Nationalismus. Unter KontroUe des Nationalismus verbleiben keine Effekte der Variable Links-Rechts-Selbsteinstufung (Die bivariate Korrelation der Links-Rechts-Selbsteinstufung - hohe Werte stehen fiir eine nach rechts tendierende Selbsteinstufung - und der Haltung zur EU-Osterweiterung liegt bei r=-0,18**). In Modell 4 wurden dann die gruppenbezogenen Variablen integriert. Hier erweisen sich insbesondere die Sympathie fiir Polen und Tschechen und die Identifikation mit Europa als bedeutsam. Stereotype sind weitaus weniger relevant als dies fiir die ethno-
EU-Osterweiterung
180
zentrischen Einstellungen der Fall war. Die Identifikation mit einer alle Gmppen einschlieBenden Gruppenzugehorigkeit im Sinne einer iiberlappenden („criss-cross") Kategorie (Brown/Turner 1979) - hier Europa - zeigt deutliche positive Effekte. Die Sympathie fur Polen und Tschechen ist der starkste Pradiktor fur eine positive Haltung zur EU-Osterweiterung. Die Intergruppenangst, die Bewertung friiherer Konflikte und die Kontakte bringen keine zusatzliche Varianzaufklarung. Tabelle 47: Pradiktoren einer positiven Einstellung zur EU-Osterweiterungf
D-Reprasentativstichprobe (1)
Pradiktor Modell 1
Modell 2
Modell 3
Modell 4
Modell 5
Bildung
0,11**
-0,05*
-0,07*
-0,07*
-0,07*
Alter
0,12**
0,11**
0,14**
0,07*
0,07*
0,02
-0,04
-0,04
0,00
-0,01
-0,32**
-0,27**
-0,24**
-0,24**
-0,16**
-0,10**
-0,02
-0,02
0,08*
-0,07*
-0,05
-0,05
0,05
0,00
-0,01
-0,17**
-0,15**
-0,15**
0,26**
0,26**
Demo graphic
Ostdeutscher Wohnsitz Bedrohungsgefuhle Realistisch kollektive Bedrohung Symbolisch kollektive Bedrohung Realistisch individuelle Bedrohung Politische Orientierung Links-Rechts-Selbsteinstufung Nationalismus Gruppenbezogene Faktoren Sympathie Polen/Tschechen Intergruppenangst Europa-Identifikation Nationale Identifikation Negative Stereotype
0,01
-0,01
0,20**
0,20**
0,05
0,05
-0,09*
-0,09*
Personlichkeit Autoritarismus R2
0,09* 0,02
' OLS-Regressionen, 6-Koeffizienten,* p < .05 ** p < .01
0,23
0,25
0,38
0,38
Mobilisierungsschub fiir rechte Einstellungen?
181
Im Modell 5 wurde dann zudem noch das personlichkeitsbezogene Merkmal Autoritarismus hinzugefiigt. Im Unterschied zu den ethnozentrischen Einstellungen zeigt sich hier nur ein relativ schwacher Effekt des Autoritarismus. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Haltung zur EU-Osterweitemng durch verschiedene Faktoren bestimmt wird, die sich von denen, die ethnozentrische Haltungen vorhersagen, unterscheiden. Aus dem Bereich der erweiterungsbezogenen also eher als situativ zu betrachtenden Faktoren spielen insbesondere die Angste vor einer okonomischen Verschlechterung des Status der Eigengruppe - also der Deutschen - eine Rolle. Situationsunabhangiger sind die Einfltisse der politischen Orientierungen. Hier haben Personen mit nationalistischen Einstellungen eine negativere Haltung. Ebenfalls als weitgehend situationsunabhangig zu betrachten, sind die Effekte der Identifikation mit Europa und der Sympathie fiir die Bevolkerung der Beitrittslander. Es zeigt sich, dass die Haltung zur EUOsterweiterung zu groBen Teilen durch Faktoren gepragt wird, die relativ unabhangig vom Ereignis sind ~ ein Abwagen von Kosten und Nutzen bzw. potentiellen Gefahren der EUOsterweiterung hat somit wohl einen nur bedingten realen Einfluss. 8.3
Zusammenfassung
Zusammenfassend lassen sich die folgenden zentralen Befunde festhalten: Die EU-Osterweitemng kann sehr wohl im Sinne eines Mobilisierungsschubs fiir rechte Einstellungen verantwortlich sein. Besorgnisse und Angste, die sich auf diese Art des beschleunigten sozialen Wandels beziehen, stehen in einem Zusammenhang zu fremdenfeindlichen und nationalistischen Orientierungen. Festzuhalten bleibt aber auch, dass Faktoren, die situationsunabhangig und dem Bereich der Personlichkeit zuzuordnen sind, von groBerer Bedeutung zu sein scheinen. Sie wirken unabhangig, aber auch in Interaktion mit der Situation. Besonders anfallig fiir Mobilisierungswirkungen sind z.B. Personen, die auch vorher schon zu autoritaren Haltungen tendiert haben, bei Ihnen gibt es einen deudichen Mobilisierungsschub. Vorhandene Desintegrationserfahrungen erweisen sich nur bedingt als Nahrboden fiir die Entwicklung von Bedrohungsgefiihlen und rechten Einstellungen. Die individuelle okonomische Deprivation in Form von Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit und niedrigem Einkommen steht nur in einem sehr indirekten Verhaltnis zur Auspragung rechter Einstellungen. Bedeutsamer sind Deprivationswahmehmungen auf der kollektiven Ebene, insbesondere solche, die durch emotionale Aspekte wie Angste und Bedrohungsgefiihle gekennzeichnet sind. Solche kollektiven Deprivationen werden vor allem von Personen geauBert, die zu autoritaren Haltungen neigen. Insgesamt fallt auch bei anderen Analysen die besondere Relevanz von Faktoren mit kollektiven Beziigen auf.
9.
Was tun? Ergebniszusammenfassung und Konsequenzen
Am 1. Mai 2004 nahm die Europaische Union zehn neue Mitgliedslander auf. Unter anderem traten Polen und die Tschechische Republik der Staatengemeinschaft bei. Am 19. September 2004 fanden in Deutschland Landtagswahlen statt. In Brandenburg zog die rechtextremistische Deutsche Volksunion (DVU) emeut in den Landtag ein; in Sachsen gewann erstmals seit den spaten 1960er Jahren, als die Partei im baden-wiirttembergischen Landtag vertreten war, die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) Sitze im Par lament eines der Lander der Bundesrepublik Deutschland, und das mit fast 10 Prozent der abgegebenen Stimmen nur sehr knapp hinter der SPD: Die EU-Osterweiterung als Mobilisierungsschub nicht nur fiir rechte Einstellungen, sondern auch flir rechtsextremes (Wahl-)Verhalten? Das Leben als Beweis fiir die zentrale These des Forschungsprojekts, iiber das hier berichtet wurde? So einfach kann es sich die Wissenschaft - man ist geneigt zu sagen ,leider' nicht machen. Auch Interpretationen wie die von Edmund Stoiber vorgebrachte Deutung, „Gerhard Schroder ist schuld am Wahlerfolg der NPD in Sachsen" (vgl. Hartleb 2005) oder Franz Miinteferings Verweis auf die „Heuschrecken" eignen sich vermutlich nur sehr bedingt zur Erklarung des Phanomens einer groBer werdenden Wahlerschaft rechtsextremer Parteien. In rechtsextremen Intemetpublikationen wird allerdings sehr deutlich gemacht, dass die EU-Osterweiterung das Wahlerpotential der NPD und anderer rechtsextremer Krafte erhoht haben konnte. So kann man dort von der „arbeitsplatzvernichtenden EU-Osterweiterung" (Demokratie direkt 2006) lesen, oder wird davon in Kenntnis gesetzt, dass „auch die zunehmende Konkurrenz aus Osteuropa, die durch eine blauaugige EU-Osterweiterung hervorgerufen wird, [...] ein weiterer Sargnagel fiir die deutsche Wirtschaft [ist]" (Die Republikaner-Siidwestfalen 2006). Die hier vorgelegte Studie zeigt, dass Grund zu der Annahme besteht, dass die EUOsterweiterung zu einer Starkung rechtsextremer, nationalistischer, fremdenfeindlicher, antisemitischer, in Wilhelm Heitmeyers Begrifflichkeit (vgl. Heitmeyer 2005) „menschenfeindlicher" Einstellungen in Mitteleuropa beitragt. Nun ist es natiirlich nicht die EU-Osterweiterung selbst, die dies vollbringt. Der von uns angenommene Wirkmechanismus ist anderer Natur. Die EU-Osterweiterung (EUO) sehen wir als Manifestation von sozialem Wandel in Zeiten, fiir die auch jenseits der EUO ein erhohtes Tempo sozialer und politischer Veranderungen zu konstatieren ist (Baier et al. 2005). Sozialem Wandel (der natiirlich permanent stattfindet, aber eben in unterschiedlichen historischen Phasen nicht die gleiche Geschwindigkeit und Intensitat hat), wohnt, besonders wenn er - neudeutsch - Eventcharakter gewinnt, ein nicht zu iibersehendes Bedrohungspotential inne. Biirgerinnen und Biirger konnen sich von ihm „iiberrollt fiihlen" und sich gezwungen sehen, sich an etwas festzuhalten, um nicht den Halt zu verlieren. Die erlebte Bedrohung sucht sich einen Stroh-
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Ergebniszusammenfassung und Konsequenzen
halm in Form eines kompensativen Nationalismus, in einer LFberhohung der Eigengruppe, des eigenen geopolitisch definierten KoUektivs. Erlebte Ohnmachtsgefiihie warden auf diese Weise be- aber nicht verarbeitet. Doch verlassen wir die Welt der - durchaus einschlagigen - Metaphem und wenden uns den konkreten Befunden der hier vorgelegten Studie zu. Wir stellen zunachst fest: So enorm groB scheint die erlebte Bedrohung gar nicht zu sein! In alien Befragungsgebieten, der Bundesrepublik Deutschland insgesamt, den deutschen Grenzregionen zu Polen und der Tschechischen Republik, wie auch in den an Deutschland grenzenden Regionen der beiden Nachbarlander und Neu-EU-Mitglieder, gibt es in der im Jahre 2003 durchgefiihrten Befragung deutliche Mehrheiten fixr die EU-Osterweiterung. Das AusmaB der Mehrheiten mag zwar zu einem gewissen Grad der Bildungsverzerrung der Stichprobe insbesondere in Deutschland geschuldet sein, doch die Existenz einer solchen Mehrheit in alien in die Befragung einbezogenen Regionen lasst sich nicht bezweifeln. Bedeutet dies nun, dass unsere These von der EU-Osterweiterung als Bedrohung hinfallig ist? Sicher nicht! Die EU-Osterweiterung wird zwar in Deutschland, Polen und der Tschechischen Republik in keiner Weise mehrheitlich als bedrohlich empfunden, aber auch rechtsextreme Einstellungen sind ja in den drei Landern nicht mehrheitsfahig und auch hohere Nationalismuspotentiale bei unseren Nachbam sollten nicht so interpretiert werden, dass sie ausschlieBlich in Reaktion auf die anstehende EU-Osterweiterung entstanden sind. Dennoch tragt die empfundene Bedrohung durch die EU-Osterweiterung durchaus zu einer Starkung menschenfeindlicher Orientierungen in der Bevolkerung bei; aber nicht alle Burgerinnen und Burger reagieren gleichartig auf sozialen Wandel. Welche Menschen sind nun besonders anfallig dafiir, beschleunigten sozialen und politischen Wandel, wie er sich in der EU-Osterweiterung manifestiert, durch einen kompensativen Nationalismus zu bearbeiten? Wie so oft in komplexen Befragungsstudien ist die Antwort vielschichtig; es lassen sich aber dennoch einige klare Befunde herausarbeiten. Festzuhalten ist zunachst, dass nicht das AusmaB an objektiver Desintegration und Deprivation - auch nicht an relativer Deprivation - dafur verantwortlich ist, dass Menschen sich in besonderem MaBe von der EUOsterweiterung bedroht flihlen. Es ist - verkiirzt formuliert - nicht die Arbeitslosigkeit, die ein besonderes Bedrohungserleben bewirkt. Die Wahrnehmung struktureller und institutioneller Desintegration der Gesellschaft ist vor allem in den Grenzregionen recht ausgepragt, steht aber kaum damit in Zusammenhang, ob jemand sich personlich von der EUO bedroht fiihlt Oder nicht. Uberhaupt wird eine Bedrohung durch den sozialen und politischen Wandel, wie er sich in der EU-Osterweiterung manifestiert, vor allem auf der kollektiven Ebene und nicht auf der individuellen Ebene verspiirt: „Wir" sind bedroht, nicht „Ich" bin bedroht; Deutschland, Polen und die Tschechische Republik als Nationen sind bedroht, und zwar in Deutschland^^ - umso starker, je naher man geographisch dem neuen EU-Nachbam ist. In dieser Situation kommt es bei nennenswerten Teilen der Bevolkerung zu einer Eigengruppenaufwertung: Es werden verstarkt nationalistische tjberzeugungen artikuliert. In Polen und der Tschechischen Republik gibt es hierbei eine deutlich hohere ,Baseline', d.h., die Zustimmung zu nationalistischen Items ist dort deutlich hoher, ohne dass hierfiir Fur Polen und die Tschechische Republik kann dasselbe nur vermutet werden, da dort nur Daten aus den Grenzregionen vorliegen und keine Vergleichsdaten aus dem gesamten Staatsgebiet.
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die EU-Osterweiterung als Erklarung bemiiht werden konnte. Ganz allgemein sollte nicht der Fehler begangen werden, die Artikulation menschenfeindlicher Einsteliungen in Ganze oder zu einem iiberwiegenden Teil der EUOsterweitemng bzw. dem beschleunigten sozialen und politischen Wandel zuzuschreiben. Zunachst ist festzuhalten, dass die einheitliche Betrachtung menschenfeindlicher Orientierungen im Sinne eines Syndroms nur bedingt sinnvoll ist. Zwar lasst sich ftir Deutschland die Heitmeyersche These bestatigen, dass Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Fremdgruppenabwertung, die sich in tiefsitzenden Ressentiments gegeniiber dem Anderen ausdriickt, fiir eine gemeinsame einheitliche Grundorientierung der Menschenfeindlichkeit stehen. Fiir Polen und die Tschechische Republik kann jedoch von einer einheitlichen Orientierung nicht die Rede sein. Dort gibt es durchaus auch Nationalisten, die nicht fremdenfeindlich sind, oder Antisemiten, die keine nationalistischen Uberzeugungen haben. Sicher ist dies auch der Tatsache geschuldet, dass in den drei einbezogenen Landern Nationalismus andersartig mit politischen Orientierungen verkniipft ist: Wahrend in Deutschland Nationalismus eindeutig mit einer Selbsteinschatzung der eigenen politischen Orientierung als ,rechts' in Beziehung steht, ist es in der Tschechischen Republik genau umgekehrt; dort artikulieren Personen, die von sich selbst sagen, sie stunden links, einen hoheren Nationalismus. In Polen wiederum besteht zwischen der politischen Selbstverortung und nationalistischen Einsteliungen tiberhaupt kein Zusammenhang.^^ Dennoch gilt in alien Befragungsgebieten, dass starkere Geftihle der Bedrohtheit durch die EU-Osterweiterung mit hoherem Nationalismus einhergehen, nicht aber liberall mit erhohter Fremdenfeindlichkeit, ausgepragterem Antisemitismus und groBeren Ressentiments gegeniiber dem Nachbarn. Das AusmaB der Ressentiments gegeniiber dem Nachbarn wird im tJbrigen nachhaltig von Konflikten der Vergangenheit gepragt. Besonders eindeutig ist dies im tschechisch-bayerischen Grenzgebiet - auf beiden Seiten der neuen EU-Binnengrenze festzustellen: Das Thema Uberfall auf die Tschechoslowakei durch Hitlerdeutschland und die nachfolgende Vertreibung der Sudetendeutschen von tschechischem Staatsgebiet ist zu beiden Seiten des ehemaligen „Eisernen Vorhangs" nach wie vor virulent. Interessant ist dabei, dass dies im sachsisch-tschechischen Grenzgebiet weniger der Fall ist, ein Befund, den nicht nur unsere Studie erbrachte (auch Baier 2005), sondern der in gleicher Weise auch in einer Grenzlandstudie von Werner Holly (2002) zu Tage trat. Das deutsch-polnische Verhaltnis ist ebenfalls nicht frei von Ressentiments, doch muss hier differenziert werden. Es sind hauptsachlich die befragten Deutschen, die Ressentiments gegeniiber Polen artikulieren; umgekehrt gibt es weniger Ressentiments gegeniiber dem Nachbarn. Hier mag die radikale Umsiedlungspolitik innerhalb Polens nach dem Zweiten Weltkrieg durchaus eine RoUe gespielt haben, ist es doch so, dass nahezu alle befragten Polen selbst bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs nicht in der Befragungsregion 52
Ein Grund dafiir ist sicher, dass Polen nur wenige Zeit in der Geschichte vollstandige Souveranitat besaB, und liber lange Zeit als „Spielbair' der Nachbar-Nationen Russland und Deutschland fungierte. Dieses Defizit in der nationalen Unabhangigkeit auBert sich vermutlich in verstarkter Betonung polnischer Nationalitat.
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gewohnt haben und auch keine Verwandten haben, die dort lebten. Insofem ist die personliche Betroffenheit durch die Verbrechen Hitlerdeutschlands gegeniiber Polen im polnischen Befragungsgebiet geringer als dies in Bohmen und in Bayern der Fall ist (gerade in Bayern wurden ja viele vertriebene Sudentendeutsche ansassig). Wenn wir nun bisher in unserer Ergebniszusammenfassung konstatiert haben, dass Bedrohungsgefuhle angesichts der EU-Osterweiterung ein Phanomen einer starken Minderheit der Befragten und kein Mehrheitsbefund sind, wenn wir gleichzeitig festgestellt haben, dass eine erlebte Bedrohung regelhaft mit erhohtem Nationalismus einhergeht, aber nicht einfach auf eine objektiv problematische Lage einer Region oder eines Individuums zuriickzufiihren ist, liegt die Frage nahe, was denn fiir diesen Zusammenhang zwischen Bedrohungserleben und Nationalismus verantwortlich ist und welche Menschen von besonders starken Bedrohungsgefiihlen berichten. Auch bei der Beantwortung dieser Fragen ist emeut zu differenzieren: Bedrohungserleben ist nicht gleich Bedrohungserleben. Mindestens drei Formen von Bedrohungsgefiihlen lassen sich unterscheiden: die realistisch-kollektive Bedrohung - die Wirtschaft unseres Landes wird durch die EU-Osterweiterung in Mitleidenschaft gezogen, die symbolisch-kollektive Bedrohung - die gewachsene Kultur unseres Landes gerat unter Druck, und die realistisch-individuelle Bedrohung - ich verliere unter Umstanden meinen Arbeitsplatz. Wenn man nun genauer untersucht, welche Form des Bedrohungserlebens eine Hinwendung zu Nationalismus und Fremdgruppenabwertung nach sich zieht, so sind dies ausschlieBlich die koUektiven Formen des Bedrohungserlebens. Ob eine Person ihren eigenen Arbeitsplatz in Gefahr wahnt oder nicht, hat keinerlei Einfluss auf die Artikulation eines kompensativen Nationalismus. Wie Soziologinnen und Soziologen vermuten wurden, finden die sozialstrukturellen Lebensbedingungen von Menschen wie auch ihre individuelle Erfahrung mit Arbeitslosigkeit durchaus einen Niederschlag in ihren Desintegrationswahmehmungen, d.h., sie fiihren durchaus dazu, dass Menschen sich marginalisiert fiihlen und im Zusammenhang mit der EU-Osterweiterung eine Verschlechterung ihrer individuellen Situation befiirchten, doch hat diese Wahmehmung von Desintegration und Bedrohung durch die EU-Osterweiterung nichts mit dem AusmaB von Nationalismus zu tun, den ein(e) Befragte(r) artikuliert. Das AusmaB des je individuellen Nationalismus ist vielmehr davon bestimmt, in welchem Umfang das Kollektiv der Eigengruppe als durch die EU-Osterweiterung beeintrachtigt erlebt wird. Nur wer das nationalstaatlich definierte „Wir" als durch die EUO bedroht erlebt, versucht dieses Gefiihl durch einen kompensativen Nationalismus zu bewaltigen. Das kollektive Bedrohungserleben wiederum ist nicht nachhaltig von den sozialstrukturellen Lebensbedingungen determiniert. Objektive Indikatoren helfen kaum weiter, wenn man sich fiir die Frage interessiert, welche Menschen denn vermehrt kollektive Bedrohungsgefuhle artikulieren. Es scheint eher eine Frage der Personlichkeit zu sein, ob jemand dazu tendiert, sich durch sozialen und politischen Wandel kollektiv bedroht zu fiihlen. Befragte, die ein erhohtes Ma6 an Autoritarismus zum Ausdruck bringen, sind kulturlibergreifend diejenigen, die auch eher dazu tendieren, Bedrohungen kollektiver Natur zu erleben: offenbar wird mit der eigenen Nation genau das als bedroht erlebt, was Autoritaren Halt gibt. Der andere von uns ins Visier genommene Personlichkeitsaspekt, die Zustimmung zu Dominanzideologien im Sinne eines hohen Hierarchischen Selbstinteresses (HSI),
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ist offenbar im Kontext der EU-Osterweiterung von geringerer Bedeutung. Zwar ist im Allgemeinen auch hinsichtlich von HSI - allerdings nur in Deutschland - der erwartete Zusammenhang mit menschenfeindlichen Einstellungen zu konstatieren, doch findet sich kein Zusammenhang mit dem Bedrohungserleben im Kontext der EU-Osterweiterung: Dem Hierarchischen Selbstinteresse kommt durchaus eine Bedeutung bei der Erklarung menschenfeindlicher Einstellungen zu (auch Hadjar 2004), doch steuert HSI anders als der je individuelle Autoritarismus offenbar nicht das Erleben von Bedrohung durch die EU-Osterweiterung. Wenn nun festzuhalten ist, dass das je individuelle AusmaB an Autoritarismus sowohl das AusmaB an kollektivem Bedrohungserleben und damit indirekt an Nationalismus und Fremdgruppenabwertung bestimmt, zusatzlich aber auch noch unmittelbar mit diesen beiden Facetten menschenfeindlicher Orientierungen in Zusammenhang steht, stellt sich die Frage nach den Einflussmoglichkeiten der - deutschen wie europaischen - Politik auf die Meinungsentwicklung seiner Blirgerinnen und Burger nach rechts auBen, wie Deutschland sie ja unter anderem in Form des Einzugs rechtsextremer Parteien in mehrere Landtage erleben konnte. Autoritarismus selbst hat keine - im Kontext der hier vorgelegten Studie - allgemeinverbindlich beschreibbaren Antezedenzbedingungen. Einzig der Befund, dass ein Mehr an Bildung regelmaBig mit geringerem Autoritarismus einhergeht, scheint iiber die Vielzahl vorliegender Studien hinweg robust zu sein. Individueller Autoritarismus ist darliber hinaus ein Resultat familialer Sozialisation (Hopf 2000; Boehnke/Hadjar 2004), allerdings ist das, was in Familien geschieht, politischen EinzelmaBnahmen nur sehr schwer zuganglich. Was kann also von Seiten der Politik getan werden, um dem Mobilisierungsschub fiir rechte Einstellungen, den die EU-Osterweiterung bei einer Minderheit von Burgem in Mitteleuropa mit sich gebracht hat, die Wirkkraft zu nehmen? Klassische Antwort konnte zunachst sein, es miisse mehr in Kampagnen investiert werden, die die utilitaristische Niitzlichkeit der europaischen Integration dem Volk nahe bringen. Eine solche Antwort lasst aber auBer Acht, dass es offenbar nicht darum geht, die Mehrheit der Biirgerinnen und Burger, die der EU entweder positiv oder indifferent gegeniiber steht, davon zu iiberzeugen, dass man nichts zu befurchten braucht. Stattdessen geht es darum, Menschen mit einer bestimmten Charakterstruktur hiervon zu iiberzeugen, die dazu tendieren, in Fremdem und Neuem eine Bedrohung fiir ihre kollektive Identitat zu sehen. Kampagnen funktionieren typischerweise nach dem GieBkannenprinzip: Sie erreichen Menschen mit unterschiedlichsten Personlichkeitsstrukturen, die in sehr unterschiedlichen sozialen Kontexten leben. Wenn es um eine Brechung des Mobilisierungsschubs fiir rechte Einstellung geht, versprechen global angelegte Kampagnen - in Wiirdigung der hier vorgelegten Forschungsergebnisse - keinen Erfolg. Will man dennoch in Kampagnen investieren, so kann es nur um spezifische Zielgruppenkampagnen gehen. Erreicht werden miissen autoritar disponierte Personen, die sich kollektiv bedroht fiihlen. Wenig Erfolg versprechend scheinen dabei aus unserer Sicht Kampagnen zu sein, die das Selbstvertrauen beziiglich des eigenen Kollektivs starken. Zwar konnte man meinen, dass ein groBeres Vertrauen in das eigene Kollektiv, die nationale Eigengruppe, das Gefiihl einer kollektiven Bedrohung verringem helfen konnte, doch birgt eine solche Kampagne, wie wir sie etwa mit „Du bist Deutschland" erlebt haben, immer auch den Samen des Nationalismus und der Fremdgrup-
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penabwertung in sich, was wir nicht zuletzt auch in der schwarz-rot-goldenen Euphoric der FuBbaliweltmeisterschaft im Sommer 2006 erleben durften. Zwar fiihlte man(n) sich wahrend der WM „rundum gut", aber cine Uberhohung der Eigengruppe war als Zwillingsbruder des gcfiihlten Wohlbefindens immer mit von der Partie. Wenn Kampagnen in Betracht gezogen werden, so sollten sic eine andere StoBrichtung haben. Da sich vor allem Menschcn verstarkt dem Rechtsextremismus zuwenden, die in einem realistischen und/oder einem symboHschen Sinne ihr Kollektiv durch sozialen und politischcn Wandcl bedroht schen, so diirfte es mittelfristig hilfrcich sein, den Konnex zwischen Bedrohung des Kollektivs und Nationahsmus dadurch zu entkoppeln, dass das - vermeintlich odcr tatsachlich - bedrohte Kollektiv nicht mehr die Nation ist. Wenn es gelingt, in den Biirgerinnen und Biirgern Mitteleuropas ein neues „Wir", ein neues, nationalen Zugehorigkeiten vorgelagertes Gefiihl koUektiver Zugehorigkeit zu entwickeln, bestehen gute Chancen, dass Gefiihle kollektiver Bedrohung nicht mehr zu einer Starkung von Nationahsmus und Abwertung des Nachbarn beitragen. Kampagnen, dariiber hinaus aber ganz sicher auch stmkturpolitische MaBnahmen, miissen in Zukunft vermehrt auf dieses neue „Wir" ausgerichtet sein. Auch die Entwicklung eines nationalen Wir-Gefiihls ist historisch gesehen ein junges Phanomen der Menschheitsgeschichte. Noch im 19. Jahrhundert fiihlten sich in Deutschland vermutlich Menschen eher - um nur ein Beispiel zu nennen - dem GroBherzogtum Oldenburg verbunden als dem fernen deutschen Nationalstaat. Warum soUte ein solches Umdenken von der Kleinstaaterei zum transnationalen Wir-Gefiihl nicht auch mit dem vereinten Europa gelingen? Kampagnen allein werden dabei aber nicht ausreichen. Es geht um ein Erleben eines Wir-Gefiihls „von unten". Wenn die Politik - sei es die in Briissel oder in den nationalen Hauptstadten - hier behilflich sein will, dann muss sie aus unserer Sicht vor allem in die Etablierung einer transnationalen Zivilgesellschaft investieren. Und wo konnte dies am unmittelbarsten und voraussetzungsarmsten geschehen? In gerade den Grenzregionen, die Erhebungsgebiete unserer Befragungsstudie gewesen sind. Strukturmittel aus Briissel und den nationalen Hauptstadten sollten in Zukunft nicht mehr einfach in die Grenzgebiete gehen, sondern nur dann bereitgestellt werden, wenn grenziiberschreitende Aktivitaten Teil der geforderten MaBnahme sind. Wenn das eigene Kollektiv nicht mehr die Nation, sondern Europa ist, besteht auch kein Grund zu versuchen, Gefiihle der Bedrohung durch sozialen und politischen Wandel in Form eines kompensativen Nationahsmus zu bewaltigen. Sicher wird die Formation einer neuen kollektiven BezugsgroBe nicht verhindem, dass sich eine Vielzahl von Biirgerinnen und Biirgern Mitteleuropas vom derzeit stattfindenden schnellen sozialen Wandel bedroht oder gar iiberrollt fiihlen. Die hier vorgelegte Studie hat aber gezeigt, dass derartige realistisch-individuelle Bedrohungen kein Quell menschenfeindlicher Orientierungen sind. Die Starkung einer transnationalen Zivilgesellschaft und einer europaischen Identitat ist kein Allheilmittel gegen die Verwerfungen der Globalisierung, sie bietet aber die Chance, eine Verschiebung der Sorgen der Biirgerinnen und Blirger in menschenfeindliche Orientierungen zu unterbinden und vielleicht sogar die Krafte eines ,Gemeinsam sind wir stark' freizusetzen und ein Klima zu schaffen, indem man sich dann solidarisch fiir die gemeinsamen Interessen der besonders an den Folgen beschleunigten sozialen und politischen Wandels leidenden Teile der Bevolkerung diesseits und jenseits der neuen EU-Binnengrenzen einsetzen kann.
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Einzige weitere sich aus den Befunden der hier vorgelegten Studie ergebende Stellschraube fiir politische MaBnahmen ist im tjbrigen die Fordemng von Bildung. Auch dies sicherlich eher ein mittel- und langfristiges Unterfangen als etwas, was kurzfristig Erfolge zeitigen kann. Wie wir gezeigt haben, ist allein der Bildungsgrad eines Menschen ein zumindest indirekter Pradiktor dafur, wie weit er oder sie sich einem kompensativen Nationalismus als Bewaltigungsstrategie im Kontext der EU-Osterweiterung hingeben wird. Hoher Gebildete zeigen - unabhangig von ihren tatsachlichen sozialstrukturellen und okonomischen Lebensbedingungen - ein geringeres AusmaB an Autoritarismus, was wiederum geringeres kollektives Bedrohungserleben und geringeren Nationalismus zur Folge hat. Investition in Bildung - die sowohl auf kognitive Ressourcen und Fahigkeiten verweist, als auch auf spezifische Chancen bei der Statuszuweisung sowie ein spezifisches Sozialisationsumfeld (vgl. Hadjar 2006b) •- scheint aktuell neben der Bereitstellung von Mitteln fiir die Starkung einer transnationalen Zivilgesellschaft die erfolgversprechendste Praventionsstrategie gegen einen nachhaltigen Rechtsruck in nennenswerten Teilen der mitteleuropaischen Bevolkerung zu sein (vgl. auch Rippl 2006 zu Bildungsexpansion und Fremdenfeindlichkeit). Sicher wird man diesen beiden zentralen „Ratschlagen" an die Politik wirklichkeitsfremde Blauaugigkeit vorwerfen. Es sei jedoch darauf verwiesen, dass der Glaube, man miisse nur die okonomischen Lebensbedingungen der Menschen verbessern, dann werde der braune Spuk schon bald ein Ende nehmen, (auch) keinen wirklichen Realitatsbezug fiir sich in Anspruch nehmen kann. Zunachst einmal konnte die hier vorgelegte Studie zeigen, dass die okonomischen und sozialstrukturellen Lebensbedingungen der Befragten hochst wenig damit zu tun haben, ob jemand in kompensativem Nationalismus eine Bewaltigungsoption fiir seine/ihre Probleme sieht. Dariiber hinaus haben die letzten zwei Dekaden immer deutlicher werden lassen (vgl. Sampson, 2004), dass die Optionen der Politik tendenziell immer geringer geworden sind, in globale okonomische Prozesse so einzugreifen, dass die Lebensumstande der vor allem vom beschleunigten sozialen Wandel betroffenen Menschen nachhaltig verbessert werden - selbst wenn man einmal annimmt, dies sei das Ziel einer Mehrzahl der politischen Verantwortungstrager (vgl. auch Schlussbericht der Enquete-Kommission des 14. Deutschen Bundestags „Globalisierung der Weltwirtschaft - Herausforderungen und Antworten, 2002). Nun werden aufmerksame Leserinnen und Leser des hier vorgelegten Berichts iiber die von uns durchgefiihrte Studie zu Konsequenzen der EU-Osterweiterung die Autoren vermutlich schnell mit dem Einwand konfrontieren, ob hier nicht eventuell Henne und Ei verwechselt wurden. Ist es nicht vielmehr so, dass Menschen, die sowieso schon zu nationalistischen Uberzeugungen tendieren, die EU-Osterweiterung als willkommenen Anlass sehen, sich in ihren Uberzeugungen gefestigt zu fiihlen, Bedrohungen iiberzuakzentuieren und eine gute Entschuldigung fiir ihre Menschenfeindlichkeit zu haben? Aus einer wissenschaftlich-methodologischen Perspektive konnen wir dieser Argumentation nicht wirklich iiberzeugend begegnen. Unsere Studie ist eine so genannte Querschnittstudie, bevolkerungsreprasentative Stichproben wurden im Sinne einer Momentaufnahme einmalig befragt. Interpretiert haben wir unsere Befunde aber im Sinne eines gerichteten Prozesses, namlich der EU-Osterweiterung als Antezedenzbedingung fur einen Rechtsruck. Zwar
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lassen sich dem Einwand einige Uberlegungen entgegen halten, doch lasst sich die Richtung des Prozesses, wie wir sie als belegt ansehen, schliissig nur in einer Langsschnittstudie priifen, in der emeut Menschen in Deutschland, Polen und der Tschechischen Republik zu ihren politischen tJberzeugungen und zu ihrem Umgang mit der EU-Osterweiterung befragt werden, idealiter dieselben Menschen, die wir bereits 2003 befragt haben. Aktuell lieBe sich dem Einwand allerdings bereits entgegenhalten, dass statistische Analysen mit der Annahme einer umgekehrten Wirkrichtung nicht in Einklang mit den empirisch gewonnenen Daten zu bringen sind. Deshalb haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, zwei zentrale Aussagen der hier vorgelegten Studie in einer Folgestudie einer Priifung zu unterziehen. Mit Unterstiitzung der Deutschen Forschungsgemeinschaft wurde eine Fortsetzungsstudie auf den Weg gebracht. In ihr werden in der deutsch-polnischen und der deutsch-tschechischen Grenzregion emeut representative Stichproben von Bewohnern zu ihrem Umgang mit der EU-Osterweiterung und zu ihren politischen Uberzeugungen befragt. Dabei wird auch versucht, eine moghchst groBe Anzahl der 2003 Befragten erneut in die Untersuchung einzubeziehen. Der Bericht iiber die Nachfolgestudie wird zeigen, ob sich die von uns postuherte Wirkrichtung „eriebte Bedrohung durch sozialen und poUtischen Wandel fiihrt zu einer Starkung nationalistischer und rechtsextremer Einstellung" auch einer methodologisch strikteren empirischen LFberpriifung standhalt. Weiterhin versucht sich das angelaufene Nachfolgeprojekt an einer Priifung des zentralen Vorschlags, den wir an die Politik gemacht haben, namUch dass die Starkung einer transnationalen Zivilgesellschaft in besonderem MaBe geeignet ist, ein Umschlagen von Bedrohungsgefuhlen in der Folge von sozialem Wandel in kompensativen Nationalismus verhindem zu helfen, wobei nunmehr auch der Einfluss der Medien auf Transnationalisierungsprozesse geprtift wird, AbschlieBend sei es erlaubt, dem Mittelgeber der hier vorgelegten Studie noch einmal unseren Dank auszudriicken und zu hoffen, dass wir trotz aller Miihsal, die unsere Leserinnen und Leser bei der Lektiire des hier vorgelegten Berichts empfunden haben mogen (schlieBlich konnten wir unsere Vorliebe fiir anspruchsvoUe statistische Auswertungsverfahren im gesamten Buch kaum verbergen), mit dieser Studie zu einem besseren Verstandnis der Bedeutung der EU-Osterweiterung in der politischen Kultur Deutschlands und Mitteleuropas beigetragen zu haben.
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Autorinnen und Autoren
Susanne Rippl, geb. 1966, PD, Dr. rer. soc, ist seit 1994 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut fiir Soziologie der TU Chemnitz, zunachst im Bereich Sozialisationsforschung und Empirische Sozialforschung, seit 1996 im Bereich AUgemeine Soziologie. Sie promovierte mit einer Arbeit zur Bedeutung von Kontakten zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen fiir die innere Einheit. Ihre Habihtationsschrift beschaftigte sich mit einem umweltsoziologischen Thema. Forschungsschwerpunkte Hegen in den Bereichen PoHtische Soziologie, Sozialisation, Rechtsextremismus, Zivilgesellschaft, Kulturvergleich und Methoden. Dirk Baier, geb. 1976, Dipl.-Soz., ist seit 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) in Hannover. Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter and der TU Chemnitz im Projekt „EU-Osterweiterung als Mobilisierungsschub fiir rechte Einstellungen", tiber das in diesem Band berichtet wird und wissenschaftliche Hilfskraft im Projekt „Jugend in neuen Lernwelten des Deutschen Jugendinstituts. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen: Deviantes Verhalten, Auslanderfeindlichkeit und Rechtsextremismus, Jugendsoziologie. Klaus Boehnke, geb. 1951, Dr. phil., ist Full Professor for Social Science Methodology an der Jacobs University Bremen (bisher: International University Bremen). Zuvor war er Professor fiir Sozialisationsforschung und Empirische Sozialforschung am Institut fiir Soziologie der TU Chemnitz, Hochschulassistent am Institut fiir AUgemeine und Vergleichende Erziehungswissenschaft der FU Berlin und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut fiir Psychologic der TU Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der interdisziplinaren Jugendforschung und ihrer Methoden. Angela Kindervater, geb. 1961, PhD, war bis 2005 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der International University Bremen im Projekt „EU-Osterweiterung als Mobilisierungsschub fiir rechte Einstellungen", iiber das in diesem Band berichtet wird. Zuvor hat sie in nationalen und intemationalen Projekten der Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsforschung gearbeitet. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt in der Autoritarismusforschung. Andreas Hadjar, geb. 1974, Dr. phil., ist Oberassistent an der Abteilung Bildungssoziologie an der Universitat Bern. Er war zuvor wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich am Institut fur Soziologie der TU Chemnitz. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Politische Soziologie, Methoden der empirischen Sozialforschung und Datenanalyseverfahren, Familienforschung und Bildungssoziologie.