KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
KARLHEINZ
HEFTE
DOBSKY
ERZENE STIMME G...
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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
KARLHEINZ
HEFTE
DOBSKY
ERZENE STIMME GLOCKEN I M W A N D EL DER ZEITEN
V E R L A G S E B A S T I A N I, U X u u R N A u
M Ü N C H E N
I N N S B R U C K - B A S E L
DIE H E R K U N F T DER GLOCKEN Lebende rufe ich .. . In des Jahres letzter Stunde — ob wir uns nun zusammengefunden haben mit Menschen, die uns nahestehen, oder ob wir allein in stiller Besinnung diese Wende erleben — in des Jahres letzter Stunde lauscht unser Erwarten hinaus in die Winternacht, deren Sternenmantel sich breitet über Stadt, Land und Meer. In den Gotteshäusern sammeln sich die Gläubigen zu Bitte und Dank, die Rundfunk- und Fernsehstationen unterbrechen für eine kurze Zeitspanne ihre heiter-beschwingten Sendungen, und unaufhaltsam nähern sich die Uhrzeiger dem Zenit ihrer ewigen Kreisbahn. Sieben, acht, neun, zehn, e l f . . . Zwölfmal tropfen die Stundenschläge in unser Herz. Dann hebt von einem fernen Turm die erste, schwere Glockenstimme an, bald mit den näheren Geläuten sich vereinend zu einem einzigen Dröhnen und Schwingen, zu einem ungeheuren Jubel der Materie, die in Hoffen und Erinnern, in blind gehorsamem Sichverströmen für eine kleine Weile ihres Schöpfers innewird. Und wir stolzen Menschenkinder — wir können und wollen uns dem freudigen Ernst, der hohen Feierlichkeit der Stunde nicht entziehen; in zartes Gläserklingen mischen sich gute und herzliche Worte, mischen sich Gedanken an ^Menschen, die wir verloren haben oder die fern von uns sind — Gedanken an Erreichtes und Mißlungenes, an Enttäuschungen und Erfüllungen. Von Glauben, Liebe und Hoffen künden die erzenen Glockenstimmen an der Schwelle eines irdischen Jahres — von der Hoffnung vor al'em, von der unzerstörbaren Sehnsucht nach Glück, worunter freilich jedes Menschenherz etwas anderes versteht. 2
Glockengeläute begleitet im christlichen Abendland den Weg unseres Lebens; die Glockenstimme ruft zur täglichen Andacht und zu den hohen Festen des Kirchenjahres, zu Taufe, Konfirmation und Kommunion, zum Hochzeitsfest und zur stillen Totenfeier. Und wir sind manchmal geneigt anzunehmen, daß dies wohl immer so gewesen sein müsse. Aber es war durchaus nicht „immer so"; in Europa sind die Glocken erst seit etwa eineinhalb Jahrtausenden heimisch, und wenn wir uns mit ihrer Herkunft und mit ihrem Weg beschäftigen wollen, dann müssen wir zunächst einmal im Geiste eine weite Reise unternehmen — bis in den Fernen Osten. In China kannte man schon um die Mitte des dritten vorchristlichen Jahrtausends die Legierung aus Kupfer und Zinn, die wir (nach dem mittellateinischen Wort bronzium) „Bronze" nennen. Ein Mischmetall also, das auch durch Zusätze von Zink oder Blei in verschiedenen Mischungsverhältnissen zur Verarbeitung kommt. Der Zinnzusatz macht die Bronze härter und spröder als das reine Kupfer und damit besonders geeignet für den Guß, so daß wir bei dem Worte „Erzguß" unwillkürlich nur an den Bronzeguß denken, obwohl wir auch den Eisenguß, den Zinn- und Zinkguß und andere kennen, vom modernen „Gußstahl" ganz zu schweigen. Wir wollen uns übrigens hüten, die Chinesen etwa als die „Erfinder" der Bionzemischung zu bezeichnen und uns lieber erinnern an Goethes treffenden Ausspruch, daß „die schönsten Entdeckungen und Erfindungen nicht sowohl durch die Menschen als durch die Zeit gemacht werden. Gewisse Vorstellungen werden reif durch eine Zeitreihe. Auch in verschiedenen Gärten fallen die Früchte zur gleichen Zeit vom Baum . . ." Fast alle Kulturvölker kennen bei ihrem Eintritt in die historische Zeit die Bronze mit ihren vielfältigen Verarbeitungs- und Verwendungsmöglichkeiten, und zuweilen scheint es, als ob sie durch Kupfer, das manchmal schon in der Natur mit Zinn versetzt vorkommt, auf die Vorzüge dieser Legierung aufmerksam geworden seien. Merkwürdig ist, daß die Mischungsverhältnisse der Legierung, also der mengenmäßige Anteil von Kupfer, Zinn und anderen Zusätzen, bei den Bronzen aller Zeiten und Völker nahezu übereinstimmen. Wenn die Chinesen also auch nicht die Bronze entdeckt oder erfunden haben, so waren sie doch unzweifelhaft die ersten Meister des Bronzegusses, und sie waren auch die ersten, die ihre Meisterschaft zum Guß von Glocken verwendet haben. Sie verstanden bereits Öfen zu bauen, mit denen sie die Hitze von achthundert bis tausend Grad erzeugen konnten, die zum Schmelzen der Bronze nötig ist; sie verstanden sich auch auf die kunstvolle Fertigung der Gießformen für die Glocken: Aus 3
Steinen und Lehm wurde ein fester Kern gebildet, den man mit einer weichen Wachs- und Talgschicht überzog. In diese geschmeidige Schicht wurde der vorgesehene ornamentale Zierat der Glocke eingeschnitten und modelliert, dann dichtete man den „Glockenmantel" aufs sorgfältigste ab mit einer besonderen Art von feingeschlcmmtem Lelim, der mit Kalbshaaren durchsetzt war. Nach Monaten, wenn Kern und Mantel vollkommen getrocknet waren, konnte der Guß beginnen, der schwierigste Arbeitsvorgang, für den uns noch Bruchstücke einer uralten chinesischen Werkvorschrift überliefert sind. „Hocke bei der Form nieder", so wird der Meister belehrt, „und lausche sorgfältig, wie es da drinnen mit dem Füllen vorwärtsgeht. Und wenn du gleichsam ein leichtes, fernes Donnergrollen wahrnimmst, dann heiße deine Arbeiter etwas innehalten. Dann dürfen sie weitergießen. So wird durch Innehalten und Weitergießen erreicht, daß sich die Bronze gleichmäßig setzt. . ." Nun wird freilich auch schon damals nicht jeder Guß gelungen sein; oft genug gab es — wie noch heute — unvorhergesehene Zwischenfälle: folgenschwere Unachtsamkeiten, winzige Fehler im Material des Kerns, des Mantels oder der Bronze. Die Kunst des Glockengießens stand in so hohem Ansehen, daß man in China bereits vor unserer Zeitrechnung „Glockengeld" in Umlauf brachte, Geldstücke aus Bronze in Glockenform, in verschiedenen Größen und entsprechend unterschiedlichem Wert. Den altchinesischen Glockengießern verdanken wir auch die Erkenntnis, daß der Glockenklang sich verändert, wenn der Glockenmantel keine ebene Fläche ist. Deshalb tragen die jahrtausendealten Riesenglocken im Reich der Mitte keinerlei Verzierungen, während auf kleineren Glocken oft reiche Schrift- und Ornamentreliefs zu finden sind. Ein schönes Beispiel für eine schmucklose Glocke ist die Sagenreiche Bronzeglocke im Tempel Ta-Chu-Ssu in Peking, die oft — ob mit Recht oder Unrecht, vermögen wir nicht zu entscheiden — als „größte Glocke der Welt" bezeichnet wird. Am Beispiel dieser Glocke können wir auch einen wesentlichen Unterschied zwischen den asiatischen und unseren Glocken erkennen: die chinesischen Glocken besitzen nämlich keinen Klöppel. Sie hängen fest; zum Tönen oder Klingen werden sie mit einer schweren Keule gebracht, die im Gegensatz zu dem uns vertrauten Klöppel die Glocke von außen anschlägt. Meistens sind diese Keulen auch nicht aus Metall, sondern aus Holz, oft aus Bambusholz, dessen Anschlag auf die Bronze einen wunderbar weidien und doch weithin hallenden Ton ergibt. 4
Die Chinesen verwendeten ihre Kunstfertigkeit jedoch nicht nur zur Fertigung riesiger Tempelglocken; sie schufen auch vielstimmige Glockenspiele und zierliche Glöckchen für weltliche Zwecke. In einer Berliner Privatsammlung sahen wir eine bronzene Spielglocke aus der Chou-Dynastie (um 1100—250 v. Chr.), mit rechteckigem Grundriß und flachen, nach oben sich verjüngenden Seitenwänden und ganz merkwürdigen, weit nach außen stehenden Zapfen, in denen man „Tonregler" vermuten könnte. Diese Zapfen sind aber, wie uns der freundliche Sammler belehrte, „Regendrachen", die den Himmel um reichliche Spendung des für die chinesischen Reisbauern so kostbaren Regens anflehen sollen. Auf vier großen Flächen sind je neun solcher Regendrachen angebracht, wobei die Zahl vier die Himmelsrichtungen bedeutet, während die Neun die Glückszahl der Chinesen ist. In der gleichen Sammlung befindet sich auch eine altchinesische Windglocke, die in Form und Mechanik ein wenig an unsere Glocken erinnert: sie trägt nämlich innen an einer seidenen Schnur ein schöngeformtes eisernes Blatt als „Klöppel". Dieses Blatt wird von heftigem Wind nur bewegt, ohne die Glocke zu berühren, bei Sturm aber erreicht es den Glockenrand und warnt mit ihrem Geläute die Menschen vor drohender Gefahr.
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Altchinesisches Glockenspiel (Pien Tschung). Rechts: Riesenglocke im Glockentempel Ta-Chu-Ssu in Peking. 5
Die
Wenn auch, wie wir erfahren haben, die gegossene Bronzeglocke in China beheimatet ist, kannte man doch irn fernen Palästina und in Ägypten, in Hellas und Rom schon die Schelle und die vom Blechschmied geschmiedete oder genietete Glocke. Im Zweiten Buch Moses berichtet die Bibel von der Anfertigung des hohenpriesterlichen Gewandes: „ . . . u n d sie machten an seinen Saum Granatäpfel von gelber Seide, Scharlaken, Rosinrot und gezwirnter weißer Seide. Und sie machten Schellen von feinem Golde, die taten sie zwischen die Granatäpfel rings umher am Saum des Seidenrockes . . . " Kleine Glöckchen und Schellen waren auch an den Höfen der ägyptischen Pharaonen bekannt, mit schrillem Schellengerassel ließen sich die Vornehmen durch ihre Dienerschaft Platz verschaffen auf Straßen, Märkten und in den Bädern. Aus dem alten Griechenland berichtet der Philosoph Aristoteles, daß die Fischer kleine Glöckchen an ihre Netze banden in der Hoffnung auf reichere Fangergebnisse, und der Komödiendichter Aristophanes gibt in seinen „Vögeln" dem Nachtwächter eine Schelle als Berufsabzeichen. „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle .. ." Das tönende Erz, von dem der Apostel Paulus in seinem Brief an die Korinther spricht, ist allerdings keine Glocke, sondern eine Art „Schallplatte", ein bronzener Gong, der ebenfalls aus Ostasien stammt und über den Vorderen Orient den Weg nach Europa gefunden hat. Daß uns von bronzenen Geräten der Antike weit mehr erhalten geblieben ist als von antikem Eisen, verdanken wir übrigens einer bemerkenswerten Eigenschaft dieser Legierung: Bronze rostet nicht. Während Eisen vom Rost zerfressen und zerstört wird, überzieht sich die Bronze im Laufe der Zeit nur mit einer Art „Edelrost", den wir Grünspan oder Patina nennen und der das Metall nur im Aussehen verändert. Wir kennen den grünlichen „Patina"-Schimmer von vielen alten Kunstwerken aus Ostasien, aus Hellas und Rom und auch von den schönen Kupferdächern alter Bauwerke — wir könnten ihn auch am berühmtesten Bronze-Kunstwerk der Antike, am Koloß von Rhodos, noch bewundern, wenn die vierunddreißig Meter hohe gegossene Statue nicht durch ein Erdbeben zerstört worden wäre. Der Bronzeguß läßt sich in Griechenland bis ins fünfte vorchristliche Jahrhundert zurück nachweisen; die griechischen Meister besaßen insbesondere in der Kunst, dünnwandige Statuen zu gießen, eine technische Überlegenheit, die bis heute nirgends wieder erreicht worden ist. Sie wären also gewiß in der Lage gewesen, ähnlich den chinesischen Meistern, große Bronzeglocken zu gießen — aber wir ken6
nen aus dem Altertum bis weit in die Frühzeit des Christentums nur kleinere Glocken, die neben heidnisch-kultischen Zwecken sehr weltlichen Aufgaben dienten: sie riefen zum Tempel, aber auch zum Marktbeginn und zur Badezeit, sie schützten das Vieh vor Dämonen und die Kinder vor dem Zugriff böser Geister. Man hat.in antiken Gräbern Glöckchen und Schellen gefunden, die wohl den Toten als Opfergabe in die Unterwelt mitgegeben worden sind.
An frühe Glockenzeiten erinnert der bescheidene hölzerne Glockenturm einer Missionsstation am Kilimandscharo in Ostafrika. Einen ähnlichen Glockenturm besitzt auch Albert Schweitzers Wirkungsstätte in Lambarene. Auch die Sprachgeschichte gibt uns wertvolle Hinweise auf den vermutlichen Weg der Glocken nach Europa. In der altindischen Literatursprache des Sanskrit kennt man das Wort „karkari" mit derselben Bedeutung wie das griechische „karkairo" = dröhnen. Das altslawische „klakol", das im Russischen zu „kolokol" geworden ist, wird ebenso wie das irische „doch" als Stammwort unserer deutschen „Glocke" bezeichnet. Viele Anzeichen sprechen dafür, daß die Glocke auf mehreren Wegen ins Abendland gekommen ist; einer dieser Wege führte am Schwarzen Meer entlang nach Rußland und Skandinavien und weiter nach Schottland und Irland. Ein anderer Weg dürfte von Vordcrasien an der Südküste des Mittelmeeres entlang nach Afrika gegangen sein. Man vermutet auch, daß die — als geschickte Erzgießer bekannten — Kelten die Glocken auf ihren Wanderzügen über Italien und Frankreich nach Schottland und Irland gebracht haben, denn der um 490 n. Chr. verstorbene Ire Forkernus gilt noch heute als Schutzpatron der Glockengießer. Die sicherste und früheste Kunde aber kommt aus Italien, aus dem Kloster Lucullanum bei Neapel, dessen Mönche im sechsten Jahrhundert die erste Glocke erhielten. Diese Glocke kam aus Karthago, sie war das Geschenk eines vornehmen und gelehrten Herrn namens Fulgentius Ferrandus, der nicht geahnt haben mochte, daß mit seiner Gabe der Siegeszug der Glocken begann, ihr ehernes Geläute fortpflanzend von Turm zu Turm, von Land zu Land.
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VON T U R M ZU T U R M Gleichzeitig mit dem sieghaften Vordringen des Christentums verbreitet sich die Glocke über Italien und Frankreich, über Schottland, Irland und die übrigen europäischen Länder. Klösterliche Niederlassungen, v-jr allem der Benediktiner, pflegen und vervollkommnen die Kunst des Glockengusses, aber auch geschmiedete oder genietete Glocken werden in großer Zahl hergestellt. Aus Eisenplatten genietet ist die älteste noch erhalten gebliebene Kirchenglocke im deutschen Spracbbereich, der sogenannte „Saufang" in der Cäcilienkirche zu Köln. Das knapp vierzig Zentimeter hohe Glöckchen erinnert in der Form noch stark an die Kuhschellen und ist vermutlich im Jahre 613 entstanden. In Rom stiftete Papst Stephan II. (752—757) für den ersten Glockenturm neben der alten Peterskirche drei Glocken, deren Schönheit und Wohllaut von Bischof Amalarius von Trier, einem Zeitgenossen Karls des Großen, besonders hervorgehoben werden. Eine aus dem Jahre 835 stammende Glocke im spanischen Cordoba trägt die Inschrift: „Wir haben nicht Musik gelernt und singen doch lieblich und preisen pünktlich den Herrn bei Tag und bei Nacht." Der Text läßt erkennen, wie sehr schon im neunten Jahrhundert die Glocke zur Verkünderin der Stunde geworden ist, zur Teilerin der Zeit. Sie ruft die Mönche zur Andacht, die Gemeinde zum Gottesdienst, sie bestimmt Rhythmus und Ablauf des geistlichen und weltlichen Tages. Schon frühzeitig wird der Glocke eine Art Persönlichkeitsrecht zugestanden — sie wird geweiht und oftmals mit einem eigenen Namen ausgestattet. Die Stimme der Glocke ist die mächtigste Stimme der mittelalterlichen Welt, sie übertönt den Kriegslärm und das geschäftige Treiben der Handwerker, wie das Donnergrollen den Menschenlärm übertönt. S
Und immer strebt die Glocke zum Himmel empor; hoch erhoben über dem Alltäglichen will sich ihr Schwingen und Klingen ausbreiten über das Land. Die Glocke will ihre ureigene und gemäße Heimstätte — den Turm. Der Turm als Bauidee wandelt sich von seiner ursprünglichen Aufgabe als Bollwerk, Wacht und Wehr erst mit dem Auftreten der Glocke zum Symbol christlicher Glaubens- und Verkündigungsmacht. Den kleinen und leichten Glocken des achten und neunten Jahrhunderts genügten einfache Holztürme, wie wir sie heute noch in Norwegen, in Böhmen und anderen Ländern finden können. Von Syrien und Ravenna aus kamen die ersten Anstöße zur Errichtung des steinernen Glockenturms, des Campanile. Die ältesten, bald viereckigen, bald runden Glockentürme standen häufig ganz isoliert, in Italien noch sehr spät, z. B. neben den Domen von Venedig, Pisa und Florenz. Auch im sechzehnten Jahrhundert Jjaute man die Türme vereinzelt noch neben das Gotteshaus, so am Dom von Ferrara und an der Kirche von San Biagio in Montepulciano. Tn der Romantik und Gotik aber vollzieht sich die Vereinigung des Turms mit dem Gotteshaus; ja, die Romanik liebt sogar eine Vielzahl von größeren und kleineren Türmen, während die Bauhüttenmeister der Gotik es vorziehen, die Westfassade der Kirche mit zwei Türmen, später wieder nur mit einem einzigen Turm zu versehen, oft von gewaltiger Höhe, deren statische Bewältigung uns heute noch in staunende Bewunderung versetzt. Im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert erhält der Glockenturm noch eine weitere Bestimmung: Er wird zum Uhrturm und oft zum Bestandteil auch weltlicher Bauten, wie Rathäusern und Fürstenschlössern; die Zeit kann nun nicht nur am Glockenschlag abgehört, sondern am Zeigergang der riesigen Zifferblätter auch abgelesen werden. Im Siebenjährigen Krieg (1756—1763) sank die herrliche Stiftskirche von Hersfeld in Hessen, eine der schönsten und größten romanischen Kirchen Deutschlands, in Schutt und Asche. Erhalten blieb nur der Turm mit der aus dem Jahre 1050 stammenden Lullusglocke. Sie trägt ihren Namen nach dem Mönch Lullus, der 769 das Kloster Hersfeld gegründet hat, und auch der Name des Glockengießers ist überliefert, denn die Glocke ist mit einer lateinischen Inschrift versehen, die unter anderem den Vermerk aufweist: Meginhari hat mich gegossen .. . Die schöne Glocke der Burchardikirche in Würzburg trägt ebenfalls eine aufschlußreiche Inschrift mit der Jahreszahl 1249 und beweist, daß um diese Zeit der Glockenguß über die rein technischen Probleme hinaus bereits zur künstlerischen Formgestaltung vorgedrungen ist. Das chinesische 9
Erbe bleibt aber unvergessen: Noch im „Diversarium artium schedula", diesem „Abriß aller . Handwerkskünste", den vermutlich ein Benediktinermönch aus dem Kloster Helmershausen im 10. oder 11. Jahrhundert verfaßt hat, finden wir bei der Beschreibung des Glockengusses eine verblüffende Übereinstimmung mit den ostasiatischen Vorschriften. Man erarbeitete sich auch die chinesische Erkenntnis neu, daß jede ornamentale Ausgestaltung der Glockenform ihren Klang beeinflußt, und berücksichtigte diese Erfahrung bei der Verwendung von Schmuckwerk in Form von Schriftbändern, Münzen und Siegeln, Wappen oder figürlichen Szenen. Mönchischem Fleiß und mönchischer Werktreue verdanken wir die frühesten europäischen Aufzeichnungen über die Konstruktion der Glockenprofile sowie über Maße und Gewichte der Glocken; die Klöster haben wohl auch ein gewisses Privileg zum Glockenguß beansprucht, bis diese Kunstfertigkeit zum sorgfältig gehüteten und vererbten Geheimnis der großen Glockengießerfamilien wurde, die — z. B. in Frankreich — sich ihre Traditionen bis in unsere Tage zu wahren wußten. Die künstlerische Gestaltung der Glocken, die Befähigung, große und handwerklich vollkommene Glocken von harmonischem Wohllaut zu gießen, erreichen um die Wende des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts ihren Höhepunkt. Der Glockenklang ist aus dem Leben des Volkes nicht mehr wegzudenken, der Glockenturm überragt die Städte der bürgerlichen Welt, und die Glocke übersteht auch die Glaubensspaltung im Zeitalter der Reformation: Sie ruft Katholiken und Protestanten mit gleicher, unüberhörbarer Eindringlichkeit. Die Glockenweihe ist seit dem zwölften Jahrhundert bis heute ein kirchliches und gemeindliches Ereignis hohen Ranges; im Italien der Renaissance, zur Zeit der Städtefehden, raubten die Sieger die Glocken und führten sie im Triumphzug weg, die Unterlegenen waren des tröstlichen und erhebenden Glockenzuspruchs beraubt und blieben in stummer Verzweiflung zurück, bis eine Schicksalswende sie wieder in den Besitz ihrer ehernen Stimmen brachte. Bald bemächtigt sich auch die Voikssage und Legende der Glocke, so in der Schweiz, wo die Glockensage von Sitten noch heute zum lebendigen Volksgut gehört: „Dem heiligen Bischof Theodul wurde einst offenbar, daß der Papst in Rom in Gefahr schwebe. Um den Heiligen Vater zu warnen, schloß der Bischof mit dem Teufel einen Vertrag. Er versprach ihm seine Seele, wenn er ihn vor dem ersten Hahnenschrei in den Vatikan nach Rom und dann wieder ins Sittener Bischofsschloß zurücktrage. Der Teufel erklärte sich mit dieser Bedingung einverstanden und setzte einen 10
Manni Hesse
Digital unterschrieben von Manni Hesse DN: cn=Manni Hesse, c=DE Datum: 2007.01.07 11:21:50 +01'00'
schwarzen Hahn auf die Stadtmauer. Der Bischof Theodul aber den der Schweizer Volksmund St. Joder nennt, setzte einen weißen Hahn auf einen unbequemen Giebel, dann wurde die Reise angetreten. Im Nu waren die beiden in Rom, wo der dankbare Papst seinem getreuen Bischof eine große, schöne Glocke schenkte. Der Teufel war sehr verärgert darüber, daß er neben dem wohlbeleibten Bischof nun auch noch die schwere Glocke mit heimschleppen sollte nach Sitten, aber er schaffte es doch, daß er mit Bischof und Glocke in der zweiten Morgenstunde wieder in Sitten ankam. Dort stellte der müde Teufel die schwere Glocke vor dem Stadttor ab, und weil er sie in seinem Ärger etwas unsanft absetzte, gab es einen hellen Klang. Davon erwachte der weiße Hahn und krähte laut, weil er glaubte, daß der Morgen gekommen sei; und wenig später schrie auch der schwarze Hahn sein Kikeriki in die dunkle Nacht. Der Teufel — ergrimmt darüber, daß ihm die Seele des Bischofs verloren war — schmetterte die vorlaute Glocke mit solcher Wucht in den Boden, daß sie neun Ellen tief versank. Aber der Bischof rief fröhlich: „Dona, Dona, laut!" und die Glocke kam mit mächtigem Läuten wieder heraus aus dem Erdboden und schwebte in den Kirchturm hinauf." Daß der Teufel, daß alles Böse keine Macht habe über die Menschen, solange die Glocken läuten — diese Überzeugung zieht sich durch die Glockengeschichten aller Zeiten und Völker. Die Glocken bannten nicht nur die bösen Geister, sie wehrten sich auch gegen Unrecht, wie die Glocke von Altdorf, die plötzlich in heller Verzweiflung von selbst zu läuten anfing, als ein unschuldig zum Tode verurteilter Ratsherr zum Galgen geführt wurde. Ein kleines Schweizerstädtchen verdankt sogar seinen Namen „Klingnau" einer alten Glockensage, und die Volkskunde nennt das Glockengeläute eines der bekanntesten Abwehrmittel gegen dämonische Mächte. Abgefeiltes Glockenmetall wurde als Heilmittel gegen Fallsucht und Fieber angesehen; wer seinen eigenen Namen an die Glocke schreiben konnte, blieb zeitlebens von Husten und Heiserkeit verschont, und mit Glockengeläut vertrieb man die Hexen, die auf Lawinen oder Besenstielen durch die Angstvorstellungen abergläubischer Leute geisterten. Weit verbreitet war auch der Brauch des „Wetterläutens". Aber bei der erhofften Abwehr von Gewitterschäden wurden so viele Menschen am Glockenseil vom Blitz getötet, daß dieses Wetterläuten im Jahre 1784 in Bayern und zwei Jahre später auch in Österreich durch Gesetze streng verboten werden mußte. Das alte, fromme Rußland, das von einem der Wanderwege der Glocken aus Ostasien nach Europa berührt wurde, hat man oft und 11
mit gutem Recht als „Glockenland" bezeichnet. Da war kein Dorf, das nicht — trotz sonstiger Armut — sich des stolzen Besitzes einer Kirchenglocke erfreute; da war keine Stadt, die nicht mit den Nachbarstädten wetteiferte in der Anschaffung kunstvoller Geläute. Eintausendsiebenhundertundsechs Glocken läuteten allein von den goldfunkelnden Türmen Moskaus, bevor der große Kriegsbrand des Jahres 1812 weite Teile der alten Stadt zerstörte. Im Kreml zu • Moskau befindet sich auch eine der größten uns bekannten Glocken der Welt — der „Zar Kolokol", der Glockenkaiser. Der mächtige Klangkörper stürzte im Jahre 1737 bei einem Brand aus seiner stolzen Höhe, und man hat nie wieder versucht, die zweihunderttausend Kilogramm Bronze ihrer eigentlichen Bestimmung zuzuführen. Die zerbrochene Riesenglocke ruht noch heute auf einem schweren Granitsockel vor den Kremlmauern, als eindrucksvolles Monument altrussischer Glockengießerkunst.
In seiner „Beschreibung aller Stände" hat der berühmte Holzschneider Jost Amman (1539-1591) auch den Erzgießer dargestellt, der außer Glocken A p o t h e k e r m ö r s e r und Geschützrohre anfertigt. Die formvollendete Glocke (oben) der Offenbacher FriedensKirche entwarf Rudolf Koch.
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Am Beispiel der „Pummerin", der großen Glocke des Wiener Stephansdoms, wird uns deutlich, wie sehr eine Glocke zum Schicksalssymbol eines ganzen Volkes werden kann. Die „Pummerin" war um 1710, nach der siegreichen Abwehr des Türkensturms auf Wien, aus erbeuteten türkischen Geschützen gegossen worden. Als der ehrwürdige Stephansdom gegen Ende des Zweiten Welt-" krieges unter dem Bombenhagel der Luftgeschwader in Flammen aufging, fiel auch die im Nordturm aufgehängte große Glocke mit schauerlichem Getöse herab und barst in tausend Stücke. Noch während der Besatzungszeit entschloß man sich, zum Zeichen friedlichen Wiederaufbaus auch die Pummerin neu zu gießen, man rief die Bevölkerung zu Spenden und tätiger Mithilfe auf, und endlich konnte in der alten Glockengießerei von St. Florian bei Linz der Guß beginnen. Auf den Tribünen, die unmittelbar vor der sorgfältig eingemauerten Gußform errichtet waren, hatten sich Hunderte von Festgästen versammelt. Nach einem kurzen Gebet gab der Meister den Befehl: „Zapfen heraus!" In hellrotem Glutstrom stürzte das flüssige Erz in die Gießkanäle, innerhalb von acht Minuten hätte der Guß vollendet sein sollen. Aber wenige Sekunden später starrte der Meister mit Tränen in den Augen auf den rasch sinkenden Metallspiegel. Die „Glockenspeise" hatte die Form durchbrochen, der Guß war mißlungen... Es dauerte über ein Jahr, bis die Vorbereitungen für einen neuen Guß abgeschlossen waren, der dann auch gelungen ist, so daß im Frühjahr 1957 die neue „Pummerin", die der Volksmund liebevoll die „Königin von Österreich" nennt, mit großer Feierlichkeit und unter dem Jubel einer unübersehbaren Menschenmenge ihren Einzug im Stephansdom halten konnte, von dessen Nordturm aus nun ihre Stimme wieder vom Friedens- und Freiheitswillen eines Volkes kündet, von Heimatliebe und unzerstörbarer Glaubenskraft durch alle Notzeit hindurch. Notzeiten der Menschen sind immer auch Notzeiten der Glocken gewesen. Wenn die Fürsten die kostbare Bronze zum Kriegführen benötigten, dann holten sie ohne viel Bedenken dem eigenen Volk und den befehdeten Völkern die Glocken von den Türmen der Kirchen und der Rathäuser. So handelte schon König Heinrich der Achte von England, so handelte auch Napoleon, der bei der Auflösung der Klöster und des Kirchenbesitzes so unbarmherzig mit den tönenden Mahnern umging, daß noch heute ganze Distrikte von Frankreich ohne Glocken sind. Oft erleiden Glocken auch das Menschenschicksal des Vermißt- oder Verschollenseins: Die Glocke der katholischen Doppelkirche von Schwarzrheindorf bei Bonn 13
wurde in den Kriegswirren des Jahres 1802 von französischen Soldaten mitgenommen und galt als verloren, bis man sie im Oktober 1962, also nach hundertsechzig Jahren, zufällig im Glockenstuhl der kleinen Dorfkirche von Mirecourt südlich von Nancy wiederentdeckte. Nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 goß man aus den erbeuteten französischen Kanonen die „Kaiserglocke" für den Kölner Dom, die im Ersten Weltkrieg wiederum eingeschmolzen und zu Kanonen verarbeitet wurde. Und im Zweiten Weltkrieg fielen über neunzigtausend deutsche Kirchenglocken der unersättlichen Materialgier der Kriegsfurie zum Opfer; „zur Sicherung der Metallreserve auf lange Sicht", wie es in der amtlichen Begründung hieß. Die Glocken teilten auch das deutsche Flüchtlingsleid — über sechzehntausend Glocken aus den zur Zeit unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten erheben heute ihre Stimme in der Bundesrepublik. Die Domglocke aus dem ostpreußischen Frauenburg, dem Sterbeort des Kopernikus, läutet nun in Münster in Westfalen; eine Glocke aus dem pommerschen Stargard ruft in München die Gläubigen zum Gottesdienst, und mehrere Danziger Glocken grüßen von den Türmen Lübecks. Die Glocke, die im „Durchgangslager Friedland" heimkehrende Kriegsgefangene, Flüchtlinge und Heimatvertriebene willkommen hieß, ist selbst ein Flüchtling: Sie stammt vom Frischen Haff hoch droben im nördlichen Ostpreußen. Die Weltgefahr des Atomkrieges wird beschworen mit einer Glokkenstimme: In der japanischen Stadt Hiroshima, über der am 6. August 1945 die erste Atombombe aufblitzte, erhebt sich heute eine „Weltfriedenskirche", gestiftet von christlichen Gemeinden aus allen Erdteilen. Die Glocke der Kirche stammt aus Deutschland, aus einem Bochumer Stahlwerk, und trägt in deutscher und japanischer Sprache die Inschrift: Stahl, Grundstoff des Krieges, ruft die Völker zum Frieden . . Zum Frieden in Freiheit mahnt in der schwergeprüften ehemaligen Reichshauptstadt Berlin die von amerikanischen Freunden gestiftete „Freiheitsglocke". Sie wurde in einer englischen Glockengießerei gefertigt und unternahm, bevor sie in Berlin ihre Heimstatt fand, eine 25 000 Kilometer lange Reise über den Ozean, durch die Vereinigten Staaten von Amerika, wo ihre Stimme an das bedrohte Berlin und an die Notwendigkeit der Verteidigungsbereitschaft aller freiheitliebenden Menschen der westlichen Welt erinnerte. Dann kehrte die „Freiheitsglocke" nach Europa zurück und wurde in feierlichem Geleit nach Berlin gebracht. Ihr machtvoller Klang überwindet auch die unselige Mauer — tröstend, mahnend, verheißend . . . 14
Im Sommer 1936 rief die Olympiaglocke die Jugend der Welt zu friedlichem Wettstreit nach Berlin. Sechzehn Jahre später — nach dem Flammensturm des Zweiten Weltkrieges — dröhnte die Freiheitsglocke über die geteilte Stadt. Alle Sternstunden des christlichen Abendlandes — Sieg und Untergang, Triumph und Niederlage — werden von Glockenstimmen begleitet. Oft sind sie Jubel und Klage zugleich, so, wenn die Glokken der St. Pauls Kathedrale in London mit dem Sieg von Trafalgar auch Nelsons Heldentod dem Volke künden. Die Glocke der Dorfkirche feiert Geburt und Auferstehung des Heilands, sie mahnt auch bei Sturm- oder Feuersnot. Sie grüßt das junge Menschenpaar, das sich fürs Leben zusammentun will, und sie grüßt die Trauernden, die einen der ihren auf seinem letzten Wege begleiten. Im Zeichen der fünf Ringe trägt der Klang der Olympia-Glocke das hohe Ideal friedlichen, sportlichen Wettkampfes in die Herzen der Jugend, und über den beklagenswerten Opfern eines unfriedlichen Wettkampfes, über den Tausenden von Kreuzen der großen Krieger-Friedhöfe, mahnen die Gedächtnisglocken zur Wahrung des Friedens. Von Turm zu Turm . . . Der Kirchenbau unserer Zeit hat, von der Öffentlichkeit kaum bewußt wahrgenommen, eine tausendjährige Entwicklung an ihren Ausgangspunkt zurückgeführt mit dem Bestreben, den Glockenturm wieder von der Kirche zu lösen. Während Romanik und Gotik, Renaissance und Barock, Rokoko und 15
Klassizismus den Turm in die liturgische Funktion der Grundrisse einbezogen, neigen die modernen Meister des Kirchenbaus immer deutlicher zur Konzeption des freistehenden Glockenturms, dessen Gestalt uns von den Campaniles am Beginn der abendländischen Glockengeschichte so vertraut ist. Wir dürfen diese Entwicklung als Sinnbild eines außerordentlichen geistigen Wandlungsprozesses nehmen, dessen Bedeutung erst spätere Generationen erkennen und überschauen werden. Auf unserem Wege durch die Glockengeschichte aber mag uns besonders interessieren, daß man neuerdings wieder dazu übergeht, die Glocken aus ihrer gotischen Turmgefangenschaft herauszunehmen und sie frei und sichtbar im Gestühl des Turmes aufzuhängen. Die Neigung zum Experiment, eine der entscheidenden Wesenseigentümlichkeiten unserer Zeit, sucht auch im Kirchenbau und im Bau der Glockentürme mit großem Ernst nach neuen Möglichkeiten. So wurde vor etwa zehn Jahren in Dortmund der erste ganz aus Stahl gefertigte Kirchturm Europas errichtet, und das Zusammenwirken von Stahlturm und Bronzeglocken hat die hochgespannten Erwartungen nicht enttäuscht. Durch die zu einem einzigen Stück zusammengeschweißte Hohlkörperkonstruktion des stählernen Turms wurde ein zusätzlicher Resonanzkörper geschaffen, der den Klang der Glocken übernimmt und verstärkt und den Klangcharakter der einzelnen Glocken zu einem harmonischen Ganzen verschmilzt. Zu welch schönem Ergebnis die Einigkeit — auch unter den christlichen Konfessionen — führen kann, dafür geben die Glocken der württembergischen Stadt Salach ein des Nachdenkens wertes Beispiel. Dort gelang die harmonische Abstimmung der Glocken der evangelischen und der katholischen Kirche derart, daß man aus dem gemeinsamen Geläut die Melodie des frühmittelalterlichen Gebets „Gelobt seist Du, Herr Jesu Christ" heraushört. Läutet die katholische Kirche allein, dann klingt „Wie schön leuchtet der Morgenstern" — der Choral des Protestanten Nicolai — heraus, während die Glocken der evangelischen Kirche das katholische „Te Deum laudamus" intonieren.
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GLOCKENGUSS UND GLOCKENKLANG Die Wissenschaft von den Musikinstrumenten zählt unsere Glokken zu den „Schlag-Idiophonen", zu den „Selbstklingern" also, im Gegensatz zu den „Saitenklingern" wie Zither, Harfe, Klavier und Streichinstrumenten. Das einfachste Aufschlaginstrument ist die Triangel, aber auch Xylophon und Gong gehören in diese Familie. Wird die Glocke, wie in Ostasien, von außen mit einem Hammer oder einer Keule zum Klingen gebracht, so nennt man das „Schlagen"; wird das Klingen aber im Innern der Glocke durch einen Klöppel erzeugt, dann spricht man von „Läuten". Wenn der eiserne Klöppel (der Klöppel oder der Hammer müssen stets aus einem anderen Metall oder Material sein als die Glocke selbst) die Glocke berührt, entsteht zuerst ein heller, von uns als „metallisch" empfundener Ton, der bald wieder verstummt. Dann erst treten die sogenannten „Schwingtöne" auf, die Teiltöne, die für die Klanggestaltung der Glocke von entscheidender Bedeutung 17
sind. Mit der wissenschaftlichen Untersuchung des Glockenklangs beschäftigt man sich seit etwa einem Jahrhundert, ohne bis jetzt zu abschließenden Ergebnissen gekommen zu sein. Die Forschungen Prof. Johannes Biehles in seiner „Analyse des Glockenklanges" sowie die Arbeiten des Heinrich-Hertz-Institutes für Schwingungsforschung zu Berlin gaben jedoch zahlreiche fruchtbare Anregungen und Hinweise: wir wissen heute, daß der physikalisch kaum nachweisbare „Schlagton" der Glocke höchstens 1,2 Sekunden dauert, und wir konnten auch die Teiltöne in eine acht- bis zwölfstellige Formel bringen, die für Glockengießer und Glockenprüfer sehr wertvoll ist. Die Gelehrten sind sich jedoch darüber einig, daß eine letzte physikalisch-akustische Deutung des Glocken-Schlagtons bis heute nicht möglich ist. Um so mehr müssen wir die Kunst und die Einfühlungskraft der alten Glockengießer bewundern, die ohne „wissenschaftlichen Apparat" mit ihren Glocken Klangharmonien von nie wieder erreichter Schönheit und Vollendung geschaffen haben.
Neun Jahrhunderte liegen zwischen der Hersf eider Lullusglocke (UnKs) und der stählernen Friedensglocke von Hiroshima [rechts). Wie ist es denn nun überhaupt möglich, den „Ton" einer Glocke von vornherein weitgehend festzulegen und zu beeinflussen? Es ist möglich — mit Hilfe des Materials und mit Hilfe der Form. Die richtige „Form" zu finden, das ist neben gründlichen Materialkenntnissen eben das große Geheimnis der Glockengießer, das sich in manchen Familien durch Jahrhunderte als kostbarstes Erbgut 18
erhalten hat. Zum Glockengießen gehört unter anderem auch Geduld — Geduld und Zeit. Mit oberfläch 1 icher Hast wird da nichts erreicht! Wir wollen nun einmal versuchen, den Werdegang einer Glocke vom ersten Entwurf bis zum Probeläuten zu verfolgen. Die eigentliche Arbeit beginnt am Zeichenbrett des Meisters, der je nach dem Auftrag eine größere oder kleinere Schablone entwirft, eine „Profilrippe", die wie ein senkrechter Schnitt durch eine halbierte Glocke aussieht. In dieser Rippe, in ihrer Gestaltung, liegt schon die Tonbestimmung der künftigen Glocke beschlossen, und bereits die Gestaltung der „Profilrippe" enthält viel von Generation zu Generation überliefertes, sorgfältig gehütetes Familiengut. Farbe und Harmonie des Glockenklangs werden durch das „richtige" Verhältnis von Form, Durchmesser und Gewicht der Glocke bestimmt, die eben von der Profilrippe festgelegt werden. Wenn der Meister endlich mit seiner Zeichnung zufrieden ist, dann überträgt er sie auf ein dickes Brett aus Buchenholz und sägt diese „Schablone" sorgsam aus. Die Schablone wird geglättet und in der „Glockenmitte" mit einer drehbaren eisernen Achse versehen. Nun kommt die Schablone auf den Formboden, wo mittels ungebrannter Backsteine def Glockenkern aufgemauert wird. Der innen hohle Backsteinkern, der auf einer eisernen, durchlochten Grundplatte ruht, wird mit mehreren Schichten aus feinem Lehm bestrichen und mit der um ihre Achse drehbaren Schablone immer wieder geformt und geglättet, bis dieser Kern genau dem inneren Hohlraum der geplanten Glocke entspricht. Während dieses Arbeitsvorgangs brennen in dem hohlen Backsteinkern Holzkohlenfeuer, die das Austrocknen der Lehmschicht beschleunigen. Nachdem der Kern mit einer trennenden und schützenden Schicht aus Wachs und Fett bestrichen ist, wird — ebenfalls aus feinem Lehm — die Modellglocke, auch „falsche Glocke" genannt, aufgetragen und geformt, wobei für die Formung die äußere Kontur der Holzschablone um ihre Achse kreist. Immer noch brennen im Kerninnern die Holzkohlenfeuer, die auch die letzten Spuren von Feuchtigkeit im Lehmkern beseitigen müssen, denn auch die geringste Feuchtigkeitsmenge würde die Form beim Guß zerspringen lassen. Wenn nun die äußere Form der Glocke allen Vorstellungen und Anforderungen des Meisters entspricht, versieht er i sie wieder mit einer Talgschicht zum Glätten. Auf diese Schicht werden dann die Wachsmodelle der Inschriften und vorgesehenen Ornamente aufgeklebt, die zum Schmuck der Glocke dienen sollen. Alle diese Arbeiten erstrecken sich über viele Wochen, denn auch der kleinste Fehler, die geringste Unterlassung kann das Gelingen des Ganzen in Frage stellen. 19
Jetzt muß die „falsche Glocke" mit einer trennenden Schicht von „Zierlehm" versehen werden, für dessen Zusammensetzung jede Glockengießerfamilie ihr eigenes, geheimnisvolles Rezept hat. Da wird Bier mit Feinsand vermischt, da werden Kälberhaare und Zucker mit merkwürdigen Flüssigkeiten zu einem dicken Brei verrührt — und der Meister duldet nur ungern Zuschauer bei solchem Tun, denn er will ja sein wohlgehütetes Geheimnis getreulich vererben auf seinen Sohn. Über dieser Zierlehmschicht wird aus Lehm, vermischt mit Hanfeinlagen und metallenen Armierungen, der Glockenmantel gebildet, dessen Innenseite ein gewissermaßen „negatives" Spiegelbild des künftigen Glockenäußeren zeigt. Wieder dauert es Wochen, bis auch der Mantel vollkommen getrocknet ist und — mit Eisenschienen gesichert — von einem Kran vorsichtig abgehoben werden kann. Die „falsche Glocke" hat ihren Dienst getan, sie wird zerschlagen, und übrig bleiben Glockenkern und Glockenmantel, die zusammen die eigentliche Gußform bilden. Auch die künftige „Krone" der Glocke mit der Aufhängevorrichtung wird aus Pech geformt und mit Lehm überzogen, worauf das Pech wieder herausgeschmolzen werden kann; die Kronenform erhält die Einguß-Öffnung und mehrere Löcher als „Windpfeifen", durch die beim Guß das Gas entweichen kann. Wir schildern hier den Guß einer Bronzeglocke — der Glockenguß aus anderen Materialien, von denen wir noch sprechen werden, verlangt natürlich auch entsprechend andere Vorarbeiten.
Wie eine Königin geschmückt hält die neugegosseve „Pummerin" ihre feierlichen Einzug in den Wiener Stephansdom. 20
Links: Die Gußkanäle werden angelegt. Mitte: Der abgekühlte Mantel wird zerschlagen. Rechts: Nun kann die neue Glocke gereinigt und poliert werden. Nun wird der Glockenkern in die „Dammgrube" gebracht, in die Stätte des eigentlichen Gießvorgangs, und der Glockenmantel wird wieder sorgfältig und im rechten Abstand über den Kern gestülpt. Bis obenhin wird die Dammgrube mit Erde gefüllt, die Meister und Gesellen mit vereinten Kräften feststampfen. Backstein — und Lehmkanäle führen vom Schmelzofen zu den Eingußlöchern der Glockenform. Auch diese Kanäle werden mit Holzkohlefeucrn vorgewärmt, damit die flüssige, glühende Bronze sie ungehindert passieren kann. Der große Schmelzofen wird schon zwölf Stunden vor Gußbeginn mit Fichtenholz geheizt. (Manche Glockengießer haben allerdings, dem „Zuge der Zeit" folgend, ihre Schmelzöfen auf Ölheizung umgestellt.) Endlich, endlich bricht der große Tag des Gusses an — der Tag, an dem sich entscheidet, ob die langen Vorarbeiten vergeblich waren oder ob sie von Erfolg gekrönt werden. Kein Wunder, daß Meister und Gesellen in äußerster Anspannung aller Nerven und Sinne den entscheidenden Augenblick erwarten! Diese Spannung, ja, eine gewisse Feierlichkeit teilen sich auch den Zuschauern mit. Der Meister prüft, ob das flüssige Erz die vorgeschriebene Temperatur von 1100 Grad hat; er nimmt noch eine Schmelzprobe von der „Glockenspeise", wie die Bronze auch genannt wird. Die Mischung ist seit Jahrhunderten festgelegt — es sind 78 Teile Kupfer und 22 Teile Zinn in größtmöglicher Reinheit, denn eine Verunreinigung der Glockenspeise durch Antimon, Zink oder Blei mit mehr als einem Prozent kann sich schon verhängnisvoll auf den erhofften Ton der Glocke auswirken. 21
Noch einmal prüft der Meister Eingußlöcher und Windpfeifen; die Gesellen nehmen ihren vorgeschriebenen Platz ein an den Kanälen, in die sich bald die glühende Glockenspeise stürzen wird. Nach einem kurzen Gebet ertönt endlich der in verhaltener Erregung gegebene Befehl: „Stoßt den Zapfen aus!" Wie weißglühende, golden funkelnde Lava bricht der Strom des flüssigen Erzes aus dem Schmelzofen und wälzt sich durch die Kanäle dem Gußloch zu. Durch die Windpfeifen entweichen zischend, puffend und singend die Gase schmelzenden Wachses, das man zwischen Glockenmantel und Glockenkern eingefüllt hat und das nun der Glockenspeise Platz macht. Manchmal entzünden sich auch die entweichenden Gase, dann hüpfen blaue Geisterflämmchen gespenstisch über die festgestampfte Erde hin und tauchen den Raum in magisches Licht. Ist der Guß gelungen? Wieder heißt es mehrere Tage sich gedulden, ehe diese Frage beantwortet werden kann. Denn so lange muß die Glocke in der Erde bleiben zum Abkühlen. Die Bronze „arbeitet" ja noch, ehe sie ganz erkaltet ist, sie zieht sich zusammen und saugt auch noch die letzten Rinnsale in die Form hinein. Nach der vorgeschriebenen Wartezeit wird das festgestampfte Erdreich in der Dammgrube wieder aufgegraben; vorsichtig lösen die Gesellen den Glockenmantel von der erkalteten Bronze, und die neue Glocke zeigt sich den prüfenden Blicken. Gleich den Menschenkindern kommt auch die Glocke durchaus nicht schön frisiert und frisch gewaschen zur Welt, sie sieht eher ein wenig runzlig und unansehnlich aus und muß erst mit Sand und Wasser gereinigt, geglättet und poliert werden, ehe sie den mattschimmernden Glanz erhält, den wir von einer neuen Glocke erwarten. Und erst das — heute meist auf einem transportablen stählernen Glockenstuhl vorgenommene — „Probeläuten" läßt erkennen, ob der Guß nach dem Sinne des Meisters gelungen ist und ob die Glocke auch die Wünsche des Auftraggebers erfüllt. Die weitaus meisten Glocken sollen ja nicht für sich allein erklingen, sondern sich harmonisch in ein „Geläute" einfügen, das bei kleineren Kirchen in der Regel aus drei, bei größeren Gotteshäusern aus vier bis neun Glocken besteht. Bei der musikalischen Bestimmung des Geläutes nimmt man heute weitgehend Rücksicht auf die Geläute benachbarter Kirchen; ungeachtet der verschiedenen Bekenntnisse beraten die Kirchengemeinden die Anschaffung oder Ergänzung der Geläute in freundschaftlichem Einvernehmen, wodurch in den Städten das Zusammenklingen aller Kirchengeläute in einem einzigen feierlichen Lobgesang gewährleistet wird. 22
Das „richtige" Glockenläuten ist eine Kunst für sich, die leider vielerorts schon in Vergessenheit geraten ist, so daß es heute mehr Glocken als Glöckner gibt. Im Mittelalter versahen Priester im liturgischen Gewände den Glöcknerdienst, der später in die Hände von Amtsträgern des niederen Klerus und auch von Laien übergegangen ist. Die alten Glöckner beherrschten noch mancherlei Kunstfertigkeiten, wie das „Taktläuten", das „Baiern" oder das Auslassen jedes vierten Schlages bei kleineren Glocken. Schon das „Anläuten", das heißt der erste Abschnitt des Läutens, in dem die Glocke erst einmal in Bewegung gebracht werden muß, bevor sie zum vollen Ausschwingen kommt — schon dieses Anläuten erfordert ein hohes Maß von Übung und von Einfühlung in das Wesen dieses einzigartigen Klangkörpers. Das gleiche gilt für die letzte Phase, für das „Ausläuten", mit dem die Glocke allmählich wieder zur Ruhe kommt. Wenn mehrere Glocken zu einem Geläute vereint sind, dann beginnt das Anläuten immer mit der kleinsten Glocke; erst nach ihrem vollen Ausschwingen wird die nächstgrößere Glocke angeläutet und so fort, bis endlich das ganze Geläute seine mächtigen Schallwellen ausbreitet. Dieses Geläute hat durch die Jahrhunderte nicht nur zu den hohen Festen des Kirchenjahres gerufen — es hat auch Krieg und Frieden, Siege und Niederlagen verkündet. Feuersnot und Sturmgefahr meldete die Glocke den aufgeschreckten Menschen, bevor die Sirene diese Aufgabe übernahm. Die naive Freude am technischen Fortschritt, unter der sich ein uralter menschlicher Spieltrieb nur mühsam verbirgt, bezog natürlich auch die Glockengeläute in ihre „Modernisierungspläne" ein; man machte sogar den Versuch, die Glocken durch auf Schallplatten oder Tonbänder aufgenommenes Geläute zu ersetzen, das vom Turme herab durch Lautsprecher übertragen werden sollte — eine Barbarei, gegen die hohe Kirchenbehörden bald mit energischen Verboten eingeschritten sind. Der Mangel an Glöcknern erzwang jedoch die Zulassung und Einführung von Apparaturen, mit deren Hilfe die Glocken auf mechanischem Wege geläutet werden können, und die vermeintliche „Zuverlässigkeit" dieser elektrischen Anlagen verführte manche Gemeinden dazu, die Glockenseile und damit die Möglichkeit des Handläutens überhaupt abzuschaffen. Welch schlimme Folgen ein allzu leichtfertiges und blindes Vertrauen in die „technische Vollkommenheit" haben kann, zeigte sich bei der verheerenden Flutkatastrophe, die im Frühjahr 1962 die Hansestadt Hamburg und ihre Umgebung heimsuchte und Hunderte von Todesopfern forderte: Durch die Überschwemmung der meisten Elektri23
zitätswerke kam auch die Stromversorgung der Stadt zum Erliegen, die elektrischen Geläute der Kirchtürme versagten, und die Glokke'n blieben stumm. Man hat aus dieser bitteren Erfahrung gelernt und damit begonnen, alle Kirchenglocken in Hamburg wieder mit Seilen auszurüsten, damit bei einem Ausfallen der elektrichsen Läuteeinrichtung Menschenhände die warnenden und mahnenden Glockenstimmen wieder zum Erklingen bringen können. Ein Vorgang von großer Eindringlichkeit und gleichnishafter Bedeutung — als ob die Glocken uns daran erinnern wollten, daß aller „Fortschritt", alle „Perfektion der Technik" eitel und vergeblich sind ohne die Menschenhand, in die das Vertrauen des Schöpfers Macht und Entscheidung legte zum Zerstören und zum Bewahren, zur äußersten Gefährdung und auch zur Rettung . . . Beim Betrachten der Bilder dieses Lesebogens fällt uns auf, daß alle Glocken des abendländischen Kulturkreises in der Form und Gestaltung seit Jahrhunderten nahezu übereinstimmen; sie zeigen im Profil die bereits im vierzehnten Jahrhundert ausgebildete sogenannte „Gotische Rippe", die der Glocke die Form eines abwärts geneigten gotischen Kelches gibt, in dem — gleich einem erstarrten letzten Tropfen — der Klöppel schwebt. Diese Kelchform, die wir als die schönste, als die „absolute Form" der Glocke empfinden, krönt eine lange Entwicklung, an deren Beginn wir uns eine kürbisartige „Urform" zu denken haben. Ein leeres Fruchtgehäuse, etwa einen Kürbis, kann man mit einigen Steinen füllen und so eine „Rassel" herstellen, wie sie bei primitiven Völkern noch heute in Gebrauch ist. Aus dieser Fruchtschalenform entwickelte sich die „Bienenkorbform", die noch die ersten europäischen Glocken aufweisen; später folgte die „Zuckerhutform", bis endlich in der „Flohen Zeit des Abendlandes" der Geist der Gotik in der noch heute gültigen Glockenform Gestalt und Ausdruck fand. Eine Gestalt allerdings, die nicht aus ästhetischen Stilprinzipien, sondern aus einem erstrebten und erreichten Klangideal ihre vollkommene Schönheit erhalten hat, denn die „Gotische Rippe" ermöglicht die Ordnung der bei den Bienenkorb- und Zuckerhutglocken noch ungeregelten und von Dissonanzen nicht freien Teiltöne zu einem harmonischen Ganzen. Die Schemazeichnung auf Seite 25 zeigt die aus jahrhundertealten Erfahrungen gewonnenen Maßverhältnisse und nennt die wichtigsten Bezeichnungen des Glockenprofils; wir sehen, wie die Glocke von ihrem unteren Rand, der „Schärfe", über Schlagring, Wolm, Flanke und Hals emporwächst bis zur Krone, der Aufhängevorrichtung, die sich mit dem „Joch" zum eigentlichen Bewegungselement vereint. 24
Links: (a) der untere Glockenrand, die „Schärfe", (b) der Schlagring. (c) Flanke und Wolm. (d) Haube, (e) Platte, (f) Krone und Henkel. Rechts: Holzschnitt aus Holbeins Totentanz. Verständlich, daß ein Klangkörper wie die Glocke auch weitgehend beeinflußt wird von der Art und Beschaffenheit des zum Guß verwendeten Materials. Man spricht so oft von „silberhellem Glockenklang" und könnte daraus schließen, daß Glocken aus besonders kostbarem Material auch besonders schön klingen. Die Erfahrung hat gelehrt, daß diese Annahme irrig ist — Glocken aus reinem Gold oder reinem Silber enttäuschen in ihrem Klang auch die bescheidensten Erwartungen, während die Bronzeglocken bisher von keinem anderen Material erreicht oder gar übertroffen worden sind, denn nur die Bronze gewährleistet die absolute Harmonie zwischen der Stärke des Schlagtons und der Stärke der Teiltöne. Da jedoch Bronze ein verhältnismäßig teurer Werkstoff ist, hat man immer wieder nach möglichst gleichwertigen Ersatzmaterialien für den Glockenguß gesucht und ist dabei vor allem mit Stahlglocken zu hochwertigen Ergebnissen gekommen. Anspruchsvolle Fachleute bemängeln jedoch die im Verhältnis zur Bronze viel schwerere „Erregbarkeit" des Stahls, die einen überschweren Klöppel erfordert, was wiederum oft zu einem sehr harten und gellenden Anschlag führt. Die Stahlwerke arbeiten jedoch unablässig daran, ihre Glocken gütemäßig d e n • Bronzeglocken annähernd gleichwertig zu machen und haben in diesen Bestrebungen schon erstaunliche Erfolge zu verzeichnen. 25
GLOCKENSPIELE GLOCKENVERSE GLOCKENLIEDER Mit vier verschiedenen Glocken kann man — durch den Wechsel in der Reihenfolge des Anschlags — vierundzwanzig verschiedene „Melodien" erzeugen; mit fünf Glocken ergeben sich schon hundertzwanzig Variationsmöglichkeiten, und bei zwölf Glocken erhöht sich die Zahl der melodischen Abwandlung auf vierhundertachtzig Millionen. Das Mittelalter verwendete diese Erfahrung zur Konstruktion kunstvoller Glockenspiele oder „Carillons"; weithin berühmte Glockenspiele gab es in England, in Belgien und in den Niederlanden, die auch heute noch — wie zum Beispiel in Amersfoort — staatlich anerkannte Schulen für Glockenspiel unterhalten. Als „Campanolgie" ist die Kunst des Glockenspiels ein Lehrfach, das unter anderem auch von der englischen Universität Birmingham als offizielles Prüfungsfach für Musikstudenten zugelassen wurde. Leider sind viele der schönsten holländischen Glockenspiele dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer gefallen, der auch das Glockenspiel der Marienkirche in Lübeck vernichtet hat. Deutschland besitzt — in Meißen, Bremen und Lüneburg — drei Glockenspiele, deren Glocken nicht aus Metall, sondern auf feinstem Meißener Porzellan bestehen. Die Zusammensetzung und Herstellung dieses „Glocken-Porzellans" bewahrt die altberühmte Meißener Manufaktur mit dem Gütezeichen der „Blauen Schwerter" (siehe Lux-Lesebogen 235 „Das Weiße Gold") als wohlbehütetes Geheimnis, und es ist trotz vieler Bemühungen noch nicht gelungen, den klaren und reinen „Meißener Glockenton" nachzuahmen. Das Lüneburger Glockenspiel, mit dem 1956 die Tausendjahrfeier der niedersächsischen Salz- und Handelsstadt eingeläutet wurde, besteht aus einundvierzig Porzellanglocken, die in Meißen geformt und gebrannt und in einer westfälischen Turmuhrenfabrik, die als einzige in Deutschland noch Glockenspiele herstellt, mit der erforderlichen Apparatur zusammengefügt worden sind. Die altchinesischen Glockenspiele (siehe Seite 5) wurden natürlich mit der Hand angeschlagen und zum Klingen gebracht; die niederländischen Glokkenspiele können sowohl mechanisch, d. h. mit Walzen, aber auch mit der Hand bedient werden, an einem „Spieltisch" mit Manualen und Pedalen ähnlich dem Orgeltisch. Es gibt auch eigens für Glokkenspiele geschaffene Kompositionen; Händel und Mozart, Haydn 26
und Friedemann Bach haben Musikstücke für mechanische Giockenwerke geschrieben. In Beethovens Wiener Stamm-Kaffeehaus stand — so wie heute in vielen Lokalen die groschenverschlingenden und oftmals recht lästigen „Musikboxen" zu finden sind — ein mechanisches Glockenspielwerk, von dem sich der Schöpfer der Eroica und der Neunten Sinfonie gern die Ouvertüre zu Cherubinis „Medea" vorspielen ließ . .. Die Entwicklung der Glockenspieltechnik geht vom einfachen Hammeranschlag bis zum komplizierten Mechanismus mit einer immer größeren Glockenzahl; das berühmte Spielwerk auf dem Turm von St. Jan in der holländischen Stadt Gouda hat achtundvierzig Glocken, vom winzigen St. Ruprechtsglöcklein bis zu den schweren und tieftönenden Glocken, deren Klöppel nur mit Pedaltasten in Bewegung gesetzt werden können. Aus Holland stammt auch das schöne Glockenspiel auf dem Residenzplatz der Festspielstadt Salzburg — seine fünfunddreißig Glokken wurden von Melchior de Haca 1689 in Antwerpen gegossen und waren ursprünglich für den Glockenturm von Breda bestimmt, der jedoch vor der Vollendung des Glockenspiels ein Raub der Flammen wurde. Daraufhin kaufte der Salzburger Erzbischof Graf Thun die Glocken und ließ sie von dem berühmten Uhrmacher Jeremias Sauter zu dem noch heute vorhandenen Spielwerk vereinen, das um 1705 zum erstenmal über Salzburg erklang und später auch den Knaben Wolfgang Amadeus Mozart in staunendes Entzücken versetzte. Das „höchste" deutsche Glockenspiel hängt im Turm des neugotischen Münchner Rathauses; es ist erst fünfzig Jahre alt und lockt zur elften Morgenstunde und zur neunten Abendstunde mit seinem zarten Spiel viele Besucher an, die sich nicht nur an den Melodien, sondern auch am Kreisen des Ritterturniers und des Schäfflertanzes erfreuen. Die Glocken wurden aus erbeuteten bronzenen Geschützrohren aus dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 gegossen; der historische Schäfflertanz mahnt an die verheerenden Pestjahre von 1515 bis 1517, nach denen die Schäffler als erste die schwergeprüfte Stadt wieder mit Gesang und Tanz zu erfreuen gewagt hatten. In der Musikgeschichte begegnen uns Haydns Quintenquartett, das auch den Beinamen „Glockenquartett" trägt, Liszts „Campanella" und Ravels „Tal der Glocken". In Händeis Oratorium „Saul" ist ein „Carillon" eingebaut, ebenso in Mozarts „Zauberflöte", während in der modernen Kunstmusik das Spiel der Glocken nicht mehr mit wirklichen Glocken, sondern durch ein „Celesta" genanntes Instrument erzeugt wird. Aber noch zur Uraufführung von Meyerbeers Prunkoper „Die Hugenotten" ließ die Pariser Oper 27
eigens eine große Glocke für die Szenen der Bartholomäusnacht gießen, und Meyerbeers ehrgeizigster „Konkurrent" Hcctor Berlioz verlangte gleich den Guß eines ganzen Geläutes. Auch Richard Wagner, der sich keine noch so ausgefallene'Effektmöglichkeit entgehen ließ, verwendete in seinem „Parsifal" eine besonders konstruierte „Glockenmaschine", die allerdings mit dem herkömmlichen Glockenspiel keinerlei Ähnlichkeit mehr hatte, sondern aus einer Unzahl von Klaviersaiten, Gongs und Baikuben hergestellt war. Die Älteren unter uns werden sich noch des Glockenspiels von Potsdam erinnern, dessen Melodie „Üb' immer Treu und Redlichkeit . . . " durch Jahrhunderte als Symbol edelsten Preußentums empfunden worden ist (siehe Umschlagseite 2). Das Glockenspiel von Potsdam ist im Flammensturm des Zweiten Weltkrieges untergegangen, ebenso das Geläute der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin. Aber an der Stelle dieser Kirche erhebt sich nun ein neuer Kirchenbau, der — einer gewandelten Gesinnung entsprechend — wieder den Glockenturm ganz gelöst und getrennt zeigt vom eigentlichen Sakralbau. Dieser Glockenturm birgt jetzt ein neues, in der Bundesrepublik gegossenes Geläute, dessen Melodie von Prinz Louis Ferdinand von Preußen stammt, dem jetzigen „Chef" des Hauses Hohenzollern. Oft wird die Glocke zur „Jubiläumsglocke", wie das schöne Beispiel der neuen Glocke von St. Peter in München zeigt, die zur 800-Jahr-Feier der Bayerischen Landeshauptstadt der ältesten Münchner Pfarrkirche von der Prinzregent-Luitpold-Stiftung geschenkt worden ist. Es ist eine sieben Tonnen schwere, in der bayerischen Stadt Erding gegossene Bronze~'ocke, deren Klöppel allein fast sechs Zentner wiegt und deren 'Ion sorgfältig auf die Harmonie mit den Glocken des Liebfrauendoms, der Matthäuskirche und der Hcilig-Geist-Kirche abgestimmt wurde. Glocken in aller Welt stammen aus der Erdinger Gießerei; sie läuten in Südamerika und im Fernen Osten, auf dem Berge Montserrat und in Nazareth. In Bethlehem, der Geburtsstätte unseres Herrn und Heilands, wo einst die Hirten das Engelsgebot „Fürchtet euch nicht!" vernahmen, erklingt heute vom Turm der Kirche „Unserer Lieben Frau vom Hirtenfeld" eine von deutschen Flüchtlingen und Heimatvertriebenen gestiftete Glocke, die in der Drei-Flüsse-Stadt Passau gegossen worden ist. Als anmutiges Kuriosum dürfen wir noch erwähnen, daß der Bildhauer, der dieser aus Passau stammenden BethlehemGlocke das schöne äußere Gewand gab, Friedrich Schiller heißt — wie der Dichter, dem wir das größte und berühmteste Glockengedicht verdanken, das „Lied von der Glocke". 28
LETZTES LÄUTEN Alfred Rethels Holzschnitt „Der Tod als Freund" gehört zu den bekanntesten Kunstblättern des neunzehnten Jahrhunderts. Der alte Türmer hat die kraftlosen Hände gefaltet; der stille Besucher erweist ihm den letzten Liebesdienst. Frteduoll erklingt die Abendglocke über dem vom Sonnenuntergang überglänzten Land.
Daß wir uns Schillers Gedicht nur mit einer gewissen Scheu nähern, hat seine Gründe darin, daß dieses Lied von der Glocke in vergangenen Jahrzehnten fast „zu Tode zitiert" worden ist und daß fast jede Zeile daraus zum „Geflügelten Wort" gestempelt wurde. „Arbeit ist des Bürgers Zierde — Segen ist der Mühe P r e i s . . ." konnte man um die Jahrhundertwende auf kreuzstichgestickten Küchenhandtüchern lesen. „Heilige Ordnung — segensreiche Himmelstochter" — „Soll das Werk den Meister loben — doch der Segen kommt von o b e n . . . " — Oh, daß sie ewig grünen bliebe, die schöne Zeit der jungen Liebe — „Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich das Herz zum Herzen findet!" — „Doch mit des Geschickes Mächten ist kein ewiger Bund zu flechten . . . " — „Er zählt die Häupter seiner L i e b e n . . . " — „Der Mann muß hinaus ins feindliche Leben . . . " — „Wehe, wenn sie losgelassen . . . " — lange könnte man die Zitate ausspinnen, von denen heute die wenigsten wissen, daß sie alle aus Schillers „Lied von der Glocke" stammen, aus diesem wahrhaft schönen und bedeutenden Gedicht, das einst eine veraltete Pädagogik zum Schrecken der Schulkinder gemacht hat. Einsichtsvolle Menschen stimmen mit Recht dafür, diesem SchillerGedicht .eine Zeit der Ruhe zu gönnen, die erhabenen Verse aus der Gefährdung der Parodie und des Mißbrauchs herauszunehmen, bis einmal eine besonnenere Zeit, eine ruhevollere Epoche als die unsere das Lied von der Glocke wieder als wundersames Gleichnis menschlichen Lebens erkennen und würdigen kann. Schiller war nicht der erste, dem die Glockenstimme zum großen Erlebnis wurde, und er wird auch nicht der letzte sein. Annette von Droste-Hülshoff hat die eherne Mahnung der Silvesterglocken empfunden und gedeutet: „Horch, welch Gesumm . . . Und wieder: Sterbemelodie! O Herr, ich falle in die Knie: Sei gnädig meiner letzten Stund! Das Jahr ist um . . . " Und wer erinnert sich nicht an Goethes Gedicht von der „Wandelnden Glocke", die das für den Kirchgang zu faule Kind verfolgt: „Die Mutter Glocke tönt nicht mehr, Die Mutter hat gefackelt. Doch welch ein Schrecken hinterher! Die Glocke kommt gewackelt. 30
Sie wackelt schnell, man glaubt es kaum; Das arme Kind in Schrecken. Es läuft, es kommt, als wie ein Traum; Die Glocke wird es decken! Doch nimmt es richtig seinen Husch Und mit gewandter Schnelle Eilt es durch Anger, Feld und Busch Zur Kirche, zur Kapelle. Und jeden Sonn- und Feiertag Gedenkt es an den Schaden, Läßt durch den ersten Glockenschlag Nicht in Person sich laden . . ." In seinem Gedicht „Der Totentanz" hat Goethe die Gewalt der Glockenstimme noch einmal beschworen: „Schon trübet der Mond sich verschwindenden Scheins — Die Glocke, sie donnert ein mächtiges EINS, Und unten zerschellt das Gerippe." In Eduard Mörikes zartem Gedicht „In der Frühe" wird die Glocke zum tröstenden, hoffnungspendenden Element: „Ängste, quäle Dich nicht länger, meine Seele! Freu Dich! Schon sind da und dorten Morgenglocken wach geworden . . . " Der französische Dichter Paul Verlaine hat die katholische Überlieferung, daß in der Leidenswoche des Heilands die Glocken nach Rom wandern, in seinem Ostergedicht verarbeitet: „Von Rom sind gestern zurückgekehrt die Glocken, Bis zu den Wolken hoch dringt glorreich ihr Frohlocken. Ein donnernd Echo schwillt und fällt herab vom Turm, Das will die Erde preisen und den Frühlingssturm. Im Lande überall hebt an ein Geläut, von allen alten Dorfglocken, Königskapellen, von Türmen in allen Gestalten, Und donnernd bricht das Heilige Geschmetter die Stille Von Paris nach Moskau, von London nach Seville . . . " 31
Nicht weniger feierlich hören sich die Verszeilen Rainer Maria Rilkes an: „ . . . a u s allen Türmen stürzt sich, Fluß um Fluß, Hinwallendes Metall in solchen Massen, Als sollte drunten in der Form der Gassen Ein blanker Tag erstehn aus Bronzeguß . . ." In Tschaikowskis „Ouvertüre 1812" zum Gedenken an die Besetzung Moskaus durch die Truppen Napoleons vereinen sich die Glocken der Kremlstadt zu einem einzigen Lob- und Dankgesang an die himmlischen Mächte, die die Stadt von Untergang und Bedrohung retteten; und in Rimski-Korssakows „Russische Ostern" feiern die Glocken des alten Heiligen Rußland jubelnd die Auferstehung des Herrn. „Wir heißen euch hoffen . . .!" In des Jahres letzter Stunde — ob wir uns nun zusammengefunden haben mit Menschen, die uns nahestehen, oder ob wir allein in stiller Besinnung diese Wende erleben — lauscht unser Erwarten hinaus in die Winternacht, deren Sternenmantel sich breitet über Stadt, Land und Meer. Und wir stolzen Menschenkinder — wir wollen und können uns dem mahnenden, dem fordernden und verheißenden Klang der Glocken nicht entziehen. Das große und erhabene Geläute, das vor Jahrtausenden von Osten her über unseren Erdenstern kam, soll uns daran erinnern, daß Orient und Okzident, daß nörd- und südliches Gelände im Frieden von Gottes Händen ruhen. Und jeder neuen Glocke, die irgendwo auf der Welt zum Preise des Schöpfers und den Menschen zur Besinnung ihre erzene Stimme erhebt, ist der inständige Wunsch mitgegeben, der Schillers Lied von der Glocke beschließt:
FRIEDE
SEI
IHR
ERST
GELÄUTE
Umschlaggestaltung: Karlheinz Dotasky L u x - L e s e b o g e n 3 8 0 ( M u s i k ) H e f t p r e i s 3 0 PfgNatur- und kulturkundliche Hefte — Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1 80) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Alle früher erschienenen Lux-Lesebogen sind in jeder guten Buchhandlung vorrätig — Druck: Hieronymus Mühlberger. Augsburg — Verlag: Sebastian Lux, Murnau vor München — Herausgeber: Antonius Lux