Dieter Teichert Untersuchungen zum Wahrheitsbegriff der Hermeneutik Gadamers
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Dieter Teichert Untersuchungen zum Wahrheitsbegriff der Hermeneutik Gadamers
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In Auseinandersetzung mit dem Werk Gadamers rekonstruiert Teichert die Geschichte der Hermeneutik, skizziert die wesentlichen Wandlungen dieser Disziplin und erörtert ihre zentralen Probleme. Aus der Darstellung der unterschiedlichen Formen der Hermeneutik und der entscheidenden Wendepunkte ihrer Geschichte wird deutlich, daß sie seit Heidegger zunehmend durch einen Prozeß der Ontologisierung geprägt ist. Sie wendet sich vom methodengestützten Interpretieren ab und begreift Verstehen als ein unverfügbares Geschehen. Eine kritische Analyse der Grundbegriffe der hermeneutischen Philosophie Gadamers und ihrer Texttheorie zeigt, daß die gegenwärtige Hermeneutik entgegen ihres eigenen Selbstverständnisses weiterhin interpretationstheoretische und epistemologische Fragen stellen und beantworten muß. Elementare Bausteine der hermeneutischen Theorie sind das Spielmodell ästhetischer Erfahrung, der Begriff des hermeneutischen Zirkels, das Konzept derWirkungsgeschichte, die Metapher vom Horizont des Verstehens sowie die Logik von Frage und Antwort. Auf der Basis einer Darstellung dieser hermeneutischen Grundbegriffe wird der Wahrheitsbegriff der philosophischen Hermeneutik expliziert. Er steht in kritischer Distanz zu szientistisch verengten Konzepten der Geisteswissenschaften, er revidiert aber eine im Zug der Ontologisierung der Hermeneutik aufgekommene Wissenschaftsskepsis und akzentuiert die Bedeutung methodengestützter Leistungen geisteswissenschaftlicher Interpretationsarbeit.
ISBN 3-476-00744-8
Erfahrung, Erinnerung; Erkenntnis
DIETER TEICHERT
Erfahrung, Erinnerung, Erkenntnis
Untersuchungen zum Wahrheitsbegriff der Hermeneutik Gadamers
J.B. METZLERSClIE VERLAGSBUCHHANDLUNG STUTTGART
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Dieter Teichert: Erfahrung, Erinnerung, Erkenntnis: Untersuchungen zum Wahrheitsbegriff der Hermeneutik Gadamers / Dieter Teichert. - Stuttgart: Metzler, 1991 Zugl.: Konstanz, Univ., Diss., 1990 u.d.T.: Teichert, Dieter: Ästhetik, Hermeneutik, Literaturwissenschaft ISBN 3-476-00744-8
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, MikroverfIlrnungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 1991 J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart Einbandgestaltung: Willy Löffelhardt Satz: Johanna Boy, Regensburg Druck: Gulde-Druck GmbH, Tübingen
INHALT .
Vorwort ..................................................................................IX Einleitung ..............................................................................XI
I. Kunst und Wahrheit 1. 1.1. 1.2. 1.2.1. 1.2.2. 1.2.3. 1.3. 1.3.1. 1.3.2. 1.4.
Erkenntnis, Ästhetik, Kunst ..................................................... 1 Humanistische Leitbegriffe ..................................................... 1 Kants »Kritik der Urteilskraft« ................................................7 Subjektivierter Geschmack ...................................................... 8 Kunst ohne Wahrheit? ........................................................... 12 Ästhetische Ideen ................................................................... 15 Autonomie der Kunst und Erlebnisästhetik ........................... 20 Autonomie und Ästhetizismus ............................................... 20 Die Grenzen der Erlebnisästhetik ..........................................24 Zusammenfassung ................................................................. 30
2. 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5.
Gadamers Kunsttheorie ........................................................ .32 Das Modell des Spiels .......................................................... .33 Mimesis: Nachahmung oder Darstellung ............................. .34 Tragödie ................................................................................ .40 Mimesis und Malerei .............................................................46 Zusammenfassung ................................................................. 51
11. Verstehen, Interpretieren, Erkennen 1. 1.1. 1.2. 1.3. 1.3.1. 1.3.2.
Geschichte der Hermeneutik................................................. .53 »Vorgeschichte« .................................................................... 53 Psycho1ogisierung des Verstehens durch Schleiermacher? .. .56 Historisierung, Historismus, Hermeneutik ............................ 62 Verwissenschaftlichung und Hermeneutisierung der Historie bei Droysen ..............................................................64 Erkenntnistheoretische Klärungsversuche .............................67
VI
Inhaltsverzeichnis
1.3.3. 1.3.4. 1.4.
Diltheys Konzeptionen des Verstehens ................................. 70 Existenzialer Neubeginn ........................................................79 Zusammenfassung ................................................................. 82
2.
Grundelemente der Henneneutik Gadamers ......................... 84 Der henneneutische Zirkel .................................................... 86 Vorurteile ...............................................................................93 Autorität oder Autonomie ......................................................98 Tradition(en) ........................................................................ 102 Kritik an der Kompensationstheorie .................................... 105 Wirkungsgeschichte ............................................................. 110 Horizonte des Verstehens .................................................... 113 Sprache ................................................................................ 116 Erfahrung ............................................................................. 119 Dialektik der Erfahrung ....................................................... 119 Henneneutische Erfahrung .................................................. 121 Frage und Antwort ............................................................... 123 Gesprächsmodell. ................................................................. 127 Text und Leser ..................................................................... 127 Gespräch mit dem Autor? .................................................... 129 Bedeutungsvielfalt ............................................................... 131 Gesprächskultur ................................................................... 134 Klassisches ........................................................................... 136 Urteilskraft und praktische Klugheit ................................... 142 Produktivität der Klassiker .................................................. 142 Henneneutik als Praxis ........................................................ 146 Zusammenfassung ............................................................... 151
2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5. 2.6. 2.7. 2.8. 2.9. 2.9.1. 2.9.2. 2.10. 2.11. 2.11.1. 2.11.2. 2.11.3. 2.11.4. 2.12. 2.13. 2.13.1. 2.13.2. 2.14.
Irr. Erkenntnis der Henneneutik 1. 1.1. 1.2. 2.
Erkenntnis der Interpretation ............................................... 154 Zirkel und Spirale ................................................................ 154 Kriterien ............................................................................... 158 Henneneutische Wahrheit: Kunst, Erfahrung, Erinnerung .............................................. 162
Anmerkungen......................................................................................... 171 Literaturverzeichnis ...............................................................................200 Namenregister I Sachregister ................................................................208
Die Darlegung wird dann befriedigen, wenn sie jenen Klarheitsgrad erreicht, den der gegebene Stoff gestattet. Der Exaktheitsanspruch darf nämlich nicht bei allen wissenschaftlichen Problemen in gleicher Weise erhoben werden, genausowenig wie bei handwerklich-künstlerischer Produktion. Aristoteles
C'est la profonde ignorance qui inspire le ton dogmatique. La Bruyere
Wissen ist wenig; im rechten Bezug zu wissen ist viel; im rechten Punkt zu wissen ist alles. Hofmannsthai
VORWORT
Unüberwindlich tiefe Gräben scheinen die Lager hermeneutischer und analytisch orientierter Philosophen zu trennen. Die folgenden Überlegungen leben indes von der Überzeugung, daß sich die hermeneutische Kunst der Gesprächsführung mit der analytischen Disziplin der Begriffsklärung auf fruchtbare Weise verbinden läßt. Wenn die Leser dieser Untersuchungen klarere Vorstellungen von den Aufgaben und Möglichkeiten der philosophischen Hermeneutik gewinnen und ihr Verständnis für die Bedeutung erweitern könnten, die den Arbeiten Gadamers in diesem Gebiet unter den gegenwärtigen Bedingungen zukommt, so wären zwei wesentliche Zwecke erreicht, die ich mir bei den hier niedergelegten Überlegungen gesetzt hatte. Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine leicht gekürzte Fassung meiner im Februar 1990 von der Philosophischen Fakultät der Universität Konstanz angenommenen Dissertation, deren Abfassung durch ein Promotions stipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes ermöglicht wurde. Freunde, Kollegen, Diskussionspartner und meine akademischen Lehrer haben mich während der Niederschrift mit Kritik, Anregungen, Bestätigung und Widerspruch auf hilfreiche Weise unterstützt. Den Gutachtern der Dissertation, Herrn Prof. Dr. G. Gabriel und Herm Prof. Dr. J. Mittelstraß, möchte ich sehr herzlich dafür danken, daß sie die Probleme und Fragen, die in der Konzeptions- und Durchführungsphase auftraten, ausführlich mit mir erörtert haben. Die kontinuierlichen Gespräche mit meinem Freund Dr. Gottfried Schwarz, seine energische Kritik und sein unbestechliches Urteil haben mir sehr geholfen. Sein Tod hat unser Gespräch unterbrochen. Der Text ist seinem Andenken gewidmet. Konstanz, im September 1990
Dieter Teichert
EINLEITUNG
Hans-Georg Gadamers »Wahrheit und Methode« steht an einem vorläufigen Endpunkt in der Geschichte der Hermeneutik, einer Disziplin, die sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts in grundlegender Weise gewandelt hat. Aus der anfanglichen Praxis des Interpretierens und einer Theorie der Textinterpretation in Form von Regelsammlungen entwickelte sich spätestens seit Schleiermachers Arbeiten eine Disziplin, die sich in zunehmendem Maß allgemeinen Fragen des Verstehens und der Methodologie der Geisteswissenschaften widmete. Heidegger schließlich formulierte mit seiner »Hermeneutik der Faktizität« einen neuartigen Begriff des Verstehens, der als Grundlage auch des Textverstehens gelten sollte. Wenn Gadamer mit seinem Hauptwerk die »Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik« vorstellt, so ist das nicht in dem Sinn zu verstehen, daß hier eine fachspezifische Theorie der Interpretation, in diesem Fall philosophischer Texte, vorgelegt würde. Gadamer begreift seine Arbeit aber auch nicht primär als Beitrag zur Methodologie der Geisteswissenschaften etwa im Sinn der Arbeiten Diltheys, sondern er beruft sich auf den von Heidegger eingebrachten existenzialen Verstehensbegriff, um eine hermeneutische Philosophie zu entwickeln. Trotz der deutlichen Abgrenzungsversuche des Autors kann »Wahrheit und Methode«) aber nicht eindeutig von der Fragestellung der Hermeneutik als Theorie der Interpretation und Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaften abgesetzt werden. Denn anders als bei Heidegger ist bei Gadamer ausführlich von Textinterpretation, vom Verstehen eines Kunstwerks, von der Theorie der Geisteswissenschaften die Rede und auch die Frage nach der Angemessenheit von Interpretationen wird behandelt. Gadamers Arbeit stellt ein Monument profunder historischer Gelehrsamkeit dar, das mit unterschiedlicher Gewichtung sämtliche Entwicklungsphasen der Hermeneutik durcharbeitet und zu einer Synthese verbindet. Dabei akzentuiert Gadamer immer wieder den grundlegenden Wandel, den die Problematik der Hermeneutik durch die Arbeit Heideggers durchgemacht hat. Heidegger wird explizit als der zentrale Bezugspunkt der in WM vorgetragenen Überlegungen genannt. Man kann daher erwarten, daß Gada-
XII
Einleitung
mer die von Heidegger behauptete Fundierung aller Verstehensleistungen in einem Existenzial »Verstehen« näher erläutert und zwischen der Hermeneutik als Methodologie der Geisteswissenschaften und dem existenzialen Verstehenskonzept Heideggers vermittelt. 2 Tatsächlich liefert WM eine Geschichte und Darstellung wichtiger Probleme, Kontroversen und Aporien der Hermeneutik aus einer durch Heideggers existenzialen Verstehensbegriff geprägten Perspektive. Dies impliziert eine massive Kritik an einer Verwissenschaftlichung und Methodisierung von Verstehensleistungen. Dem Sprachgebrauch Gadamers entsprechend wird diese Anlehnung an Heidegger als ontologische Wendung oder Ontologisierung der Hermeneutik bezeichnet. Gadamer will aber mehr bieten als eine Darstellung der Entwicklung der Hermeneutik von der Epistemologie zur Ontologie. Er legt auf der Basis seiner Auseinandersetzung mit der Hermeneutikgeschichte den eigenständigen Entwurf einer philosophischen Hermeneutik vor. Die vorliegenden Untersuchungen werden das hermeneutische Modell Gadamers vor dem Hintergrund der philosophiegeschichtlichen Partien von WM kritisch rekonstruieren. Anlaß zu der Durchführung dieser Arbeit ist die Wahrnehmung einer Lücke in der teilweise intensiven, über weite Strecken kontroversen Diskussion über die modeme Hermeneutik: Zwar proflliert Gadamer sein eigenes Unternehmen im ersten Teil von WM dadurch, daß er die Frage nach der Wahrheit der Kunst ausdrücklich ins Zentrum seiner Erörterungen stellt. Die Bedeutung des im Bereich ästhetischer Erfahrung formulierten Wahrheitsbegriffs wurde aber kaum einmal sorgfältig untersucht. 3 Dies ist insofern bedenklich, als der im ersten Teil entworfene Wahrheitsbegriff keineswegs nur für eine spezielle Philosophie der Kunst von Interesse ist. Die Künste sind ein wichtiges Gebiet hermeneutischer Erfahrung und ein bedeutender Gegenstandsbereich der Geisteswissenschaften. Gadamers Begriff der Wahrheit der Kunst ist die Basis des hermeneutischen Wahrheitsbegriffs überhaupt. Eine Vernachlässigung der Überlegungen zur Erfahrung der Kunst führt zwangsläufig zu Verständnisschwierigkeiten in den nachfolgenden Abschnitten des Werks. Aus diesem Grund behandelt der erste Teil die Frage nach der Wahrheit der Kunst und bemüht sich um eine Klärung der anspruchsvollen und teilweise dunklen Ausführungen Gadamers. In einem ersten Abschnitt (1.1.) werden die philosophiegeschichtlichen Ausführungen untersucht, mit denen Gadamer einsetzt. Dabei wird zunächst nach der Bedeutung der Tradition des Humanismus gefragt, auf die sich Gadamer angesichts einer kritisch beurteilten Tendenz zur Auto-
Einleitung
xm
nomisierung der Künste und zur Entkoppelung von Kunst und gesellschaftlicher Praxis in der Moderne beruft. Durch die Analyse humanistischer Leitbegriffe (Urteilskraft, Geschmack) möchte Gadamer an Erkenntnismöglichkeiten erinnern, die angeblich durch die neuzeitliche Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche (politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst) und einen Prozeß zunehmender Verwissenschaftlichung verloren zu gehen drohen (1.1.1.). Im Anschluß an diese Einleitung diskutiere ich Gadamers Lektüre der »Kritik der Urteilskraft«. Die dritte Kritik Kants stellt nach Gadamers Überzeugung den Ausgangspunkt einer problematischen Subjektivierung dar und negiert die Erkenntnisbedeutung der Künste, indem sie eine die Moderne insgesamt charakterisierende Separierung von Kunst, Wissenschaft und Praxis ratifiziert. Gadamer nähert sich hier seinem Begriff der Wahrheit der Kunst dadurch an, daß er die Kantische Ästhetik als Gegenposition charakterisiert, die blind bleibt für die Erkenntnisbedeutung der ästhetischen Erfahrung. Diese These wird einer kritischen Prüfung unterzogen (1.1.2.). Anknüpfend an Gadamers Diagnose einer Subjektivierung der Ästhetik seit dem Ende des 18. Jahrhunderts werden die Ausführungen zur sogenannten Genie- und Erlebnisästhetik vorgestellt und durch Hinweise auf kultur- und sozialgeschichtliche Entwicklungen im 19. Jahrhundert ergänzt. In diesem Zusammenhang wird insbesondere ein Versuch Gadamers diskutiert, der die Grenzen der Erlebnisästhetik mit Hilfe einer Opposition von symbolisierenden und allegorischen Darstellungsverfahren bestimmen soll (1.1.3.). Nach diesem Durchgang durch die ästhetikgeschichtlichen Erörterungen von WM wende ich mich der Gadamerschen Kunsttheorie zu, die von Gadamer als »Ontologie des Kunstwerks« bezeichnet wird, um ihren Abstand zu traditionellen, subjektorientierten Theorien zu markieren (1.2.). Das erste Element dieser Kunstphilosophie ist ein Modell des Spiels, das die allgemeine Basis der Konzeption der Erfahrung von Kunst bildet. Hier zieht Gadamer Konsequenzen aus der Kritik an der subjektzentrierten Ästhetik des 19. Jahrhunderts und beschreibt die Erfahrung der Kunst als ein Geschehen, in das die einzelnen Subjekte - Produzenten und Rezipienten - involviert sind, ohne selbst sein Ursprung zu sein und es zu beherrschen (1.2.1.). Verdeutlicht wird das Spielmodell durch einen Hinweis auf den Wirklichkeitsbezug der Kunstwerke: Gadamer führt den Begriff der Darstellung gegen Nachahmungs- und Abbildungs-
XIV
Einleitung
vorstellungen an und lenkt den Blick auf eine Eigenständigkeit der Werke, die gleichwohl von den Aporien der Kunstautonomie frei ist (1.2.2.). Das Spielmodell wird durch Überlegungen zum Begriff des Tragischen konkretisiert. Hierbei versuche ich anhand eines Beispiels, der Ödipus-Tragödie des Sophokles, zu klären, was Gadamers Rede von der Wahrheit der Kunst auf einen einzelnen Fall bezogen besagt (1.2.3.). Die Konsequenzen des am Beispiel des tragischen Schauspiels erläuterten Kunstbegriffs für andere Kunstgattungen werden anband von Gadamers Überlegungen zur Porträtmalerei aufgezeigt (1.2.4.). Der zweite Teil greift nach dem Durchgang durch die kunstphilos0phischen Partien von WM die Problematik der Hermeneutik und der Theorie der Geisteswissenschaften auf. Am Anfang steht eine knappe Charakterisierung der älteren Hermeneutik, die einige grundlegende Unterscheidungen einführt und die historische Entwicklung skizziert, in deren Verlauf sich die Hermeneutik von der Praxis des Interpretierens und der Sammlung von Interpretationsregeln für bestimmte Textsorten zu einer allgemeinen Auslegungstheorie verwandelt und in unmittelbare Nähe zur Erkenntnistheorie und Theorie der Geisteswissenschaften rückt (11.1.1.). An diesen ersten Überblick schließt sich eine kritische Erörterung der Gadamerschen These von der Psychologisierung der Hermeneutik durch Schleiermacher an. Über die einschneidende Bedeutung der Arbeit Schleiermachers in der Entwicklung der Hermeneutik herrscht ein breiter Konsens. Für Gadamer ist die Öffnung der Hermeneutik zu einer allgemeinen, wissenschaftlichen Theorie des Verstehens allerdings problematisch, weil Schleiermacher angeblich die Position des Subjekts zu stark betont. Offensichtlich konstruiert Gadamer seine hermeneutikgeschichtlichen Darstellungen parallel zu seine~ ästhetikgeschichtlichen Ausführungen: während Kant für eine fragwürdige Subjektivierung der Kunst steht, wird Schleiermacher für eine ebenso fragwürdige Subjektivierung der Hermeneutik verantwortlich gemacht. Diese Konstruktion hat zwar den Vorteil der Einfachheit, sie bildet gewissermaßen den roten Faden in WM, der Kunstphilosophie und Hermeneutik verknüpft. Sie erweist sich aber bei näherer Untersuchung als unhaltbar (11.1.2.). Im folgenden Abschnitt wird auf die Bedeutung der sich formierenden Geisteswissenschaften hingewiesen und die Funktion der Hermeneutik in diesen Disziplinen beschrieben (11.1.3.), wobei am Beispiel Droysens die Verwissenschaftlichung und Hermeneutisierung der Historie dargestellt wird (11.1.3.1.).
Einleitung
xv
Die zunehmende Bedeutung einer scheJllatischen Gegenüberstellung von Natur-und Geisteswissenschaften ist kennzeichnend für die wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung im 19. Jahrhundert. Zwei erkenntnistheoretische Ansätze, die einflußreiche Vorschläge formulierten, werden behandelt, um Aufschluß darüber zu gewinnen, inwieweit die damaligen erkenntnistheoretischen Klärungsversuche in der Lage sind, AufgabensteIlung und Verfahren der Geisteswissenschaften auf befriedigende Weise zu formulieren (TI. 1.3.2). Für eine Verständigung über Zielsetzungen und Methoden der Hermeneutik und der Geisteswissenschaften stellen die von Dilthey formulierten Konzeptionen des Verstehens einen wichtigen Bezugspunkt dar. Aus diesem Grund werden zentrale Aspekte der umfangreichen und vielschichtigen Arbeit Diltheys vergegenwärtigt. Auf der Grundlage dieses kurzen Überblicks wird die in WM formulierte Kritik diskutiert, die Dilthey eine Verstrickung in die Aporien des Historismus zuschreibt. Anders als dies Gadamers Selbsteinschätzung entspricht, wird eine bemerkenswerte Übereinstimmung hinsichtlich der Einschätzung der Geisteswissenschaften bei Dilthey und Gadamer deutlich (TI.l.3.3.). Eine Explikation des »existenzialen« Verstehensbegriffs Heideggers bildet den Schlußpunkt des Überblicks über die Geschichte hermeneutischer und geisteswissenschaftlicher Theoriebildung. Heidegger sprengt die Enge eines auf die Problematik der Wissenschaften bezogenen Verstehensbegriffs auf und legt die Ebene frei, auf der jedes Verstehen aufruht. Die Hermeneutik wird nicht mehr als eine Praxis oder Theorie der Textinterpretation gekennzeichnet, sie steht auch nicht vor der Aufgabe, als Theorie des Verstehens eine Grundlegung der Geisteswissenschaften zu leisten, sondern sie wird zu der Dimension einer »Existenzialontologie«, in der das Sein des Daseins als verstehendes charakterisiert wird (ll.1.3.4.). Die hermeneutik- und ästhetikgeschichtlichen Passagen von WM beschreiben zwei Gefahren, die das Verstehen überlieferter Texte und Kunstwerke bedrohen: Einerseits wird das Verstehen in der jüngeren Hermeneutik auf unzureichende Weise nach dem Schema einer Technik oder Wissenschaft gedacht, die bestimmte Instrumente und Methoden zum Einsatz bringt. Dieser Tendenz einer Verwissenschaftlichung soll ein sich auf Heidegger berufender Verstehensbegriff gegensteuern. Andererseits wird im Rahmen eines ästhetischen Subjektivismus und einer Abgrenzung der Künste von der Lebenspraxis der Bedeutungsgehalt der Kunstwerke und Texte zumindest partiell aufgelöst. Gadamers eigener Entwurf einer philosophischen Hermeneutik ver-
XVI
Einleitung
steht sich als Korrektiv dieser einflußreichen Tendenzen. Den Szientismus der Hermeneutik attackiert Gadamer im Rahmen seines Nachweises der Legitimität des »hermeneutischen Zirkels«. Um zu verstehen, was mit diesem Ausdruck gemeint ist, werden verschiedene Konzepte zirkelhaften Argurnentierens und Sprechens unterschieden. Vor dem Hintergrund einer kurzen Geschichte des Zirkelbegriffs wird die Frage beantwortet, auf welche Sachverhalte sich die Rede vom »hermeneutischen Zirkel« bezieht (ß.2.1.). In Fortführung seiner Ausführungen zum Zirkelbegriff kritisiert Gadamer die aufklärerische Forderung nach einer vorurteilsfreien Denkungsart. Insbesondere wendet sich Gadamer an dieser Stelle gegen die Vorstellung, daß Textinterpretationen in einem strengen Sinn voraussetzungslos, ohne Vormeinungen bezüglich der vom Text behandelten Sache einzusetzen haben. Gadamers Rehabilitierung der Vorurteile stellt allerdings eine Provokation dar, weil nicht geklärt wird, in welchen Fällen welche Arten von Vorurteilen als berechtigt anzusehen sind. Diese Unklarheit hat den gravierenden Nachteil, daß Gadamers Ausführungen als Legitimation diskriminierender und irrationaler Vorurteile mißverstanden werden können (11.2.2.). Ein weiterer Grundbegriff der Hermeneutik Gadamers ist der Autoritätsbegriff. Ebenso wie im Fall des Vorurteils handelt es sich hier darum deutlich zu machen, was Gadamer unter Autorität versteht und wie sich dieses Konzept gegenüber Alternativen unterscheidet, die der Ausübung von Willkür und Zwang Vorschub leisten. Ähnlich wie im Fall der Vorurteilsproblematik verblüfft auch hier eine Unbekümmertheit Gadamers, mit. der die kritikwürdigen Auswirkungen autoritären Gebarens und die zahlreichen Fälle von Machtmißbrauch im politischen Bereich unbeachtet bleiben. Ohne diesen, oftmals als konservativ bezeichneten, Aspekt der Überlegungen Gadamers zu verniedlichen, kann man das Konzept der Autorität in einer Weise rekonstruieren, die die freie Anerkennung von Autorität als vernünftiges Verhalten erkennen läßt (11.2.3.). Die Rehabilitierung von Vorurteilen und Autorität bereitet eine Diskussion des Traditionsbegriffs vor. Es ist das zentrale Anliegen Gadamers, die Bedeutung und den Reichtum der Überlieferung aufzuzeigen und zu betonen, daß die Gegenwart ohne die aus der Überlieferung gewonnenen Einsichten und Orientierungen blind bleibt für Möglichkeiten zukünftiger Praxis. Damit leugnet Gadamer keineswegs, daß die modernen Gesellschaften nicht mehr naturwüchsig Traditionen fortbilden und in keiner bruchlosen Kontinuität mit der Vergangenheit stehen. Im
Einleitung
XVII
Gegenteil, die Moderne ist weitgehend durcJl eine selektive und reflexive Aneignung der Überlieferung charakterisiert. Gadamer weist aber darauf hin, daß eine schrankenlose Diskontinuität nicht denkbar ist, daß ein Bruch mit der Vergangenheit stets ein partieller Bruch ist und daß auch in nicht-traditionalen Zivilisationen die Überlieferung eine wertvolle Quelle für die Orientierung in der Gegenwart ist (II.2.4.). Die Betonung einer grundlegenden Traditionsbestimmtheit auch der modernen Lebensformen ist der Anlaß, eine gegenwärtig oft diskutierte Auffassung zu prüfen, die die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der Vergegenwärtigung verlorener Traditionsbestände sieht. Die sogenannte Kompensationstheorie schreibt den Geisteswissenschaften allerdings nicht die Leistung zu, Traditionselemente in gegenwärtige Praxis zu integrieren. Stattdessen befriedigen diese Wissenschaften eher ein Bedürfnis nach musealer Aufbereitung abgestoßener Zivilisationselemente (II.2.5.).' Daß Gadamer kein Plädoyer für eine verstärkte Pflege von Traditionen im Sinn eines politischen Konservatismus formuliert, wird im Zusammenhang mit der Explikation seines Begriffs der Wirkungsgeschichte deutlich. Gadamers Begriff der Wirkungs geschichte hat nichts zu tun mit der gleichnamigen Hilfsdisziplin, die Wirkungen und Rezeptionen bestimmter Werke erforscht und dokumentiert. Gadamer verfolgt nicht das Interesse, eine bestimm~e - nämlich bewahrende - Form des Bezugs von Vergangenheit und Gegenwart hervorzuheben, sondern eine allgemeingültige Art der Einwirkung der Vergangenheit auf gegenwärtige Praxis zu beschreiben. Das Prinzip der Wirkungs geschichte bildet den Kern der Gadamersehen Hermeneutik. Es besagt, daß gegenwärtige Zustände auf eine von der Reflexion nicht voll auszuschöpfende Weise durch die Tradition geprägt sind. Die Idee der Wirkungs geschichte läßt die Gegenwart als Produkt der Vergangenheit erscheinen, gleichviel ob die Agierenden diese Gegenwart als organische Fortführung vergangener Zustände begreifen oder als radikalen Bruch und Neuanfang feiern (II.2.6.). Die Implikationen des Begriffs der Wirkungs geschichte für ein angemessenes Verständnis der Aneignung einzelner Elemente der Überlieferung und für deren Verständnis werden durch die Horizontmetaphorik der Hermeneutik umschrieben. Durch die Unterscheidung eines Gegenwartshorizonts, der das Wissen des Interpreten abdeckt, und eines Vergangenheitshorizonts, der das im Interpretandum niedergelegte Wissen umfaßt, wird es möglich, den Interpretationsprozeß als eine Verschmelzung beider Horizonte zu bestimmen. Eine Voraussetzung der in
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Einleitung
der Rezeption vollzogenen Horizontverschmelzung ist eine zumindest partielle Überschneidung des Gegenwarts- und Vergangenheitshorizonts. Endpunkt der Horizontverschmelzung ist die Erweiterung des Gegenwartshorizonts, eine Bereicherung des Wissens des Interpreten (11.2.7.). Verstehen vollzieht sich im Medium der Sprache. Diese Sprachlichkeit des Verstehens wird im dritten Teil von WM behandelt. Dabei steht der Gedanke im Vordergrund, daß die Sprache das Medium des Verstehens ist, daß Sprache aber nicht als ein bloßes Mittel des Verstehens begriffen werden kann. Sprache erscheint vielmehr als der Raum des Verstehens, der selbst immer schon eine bestimmte Weltansicht vorgibt. Der hermeneutische Sprachbegriff steht damit in einem gewissen Gegensatz zu Modellen, die die Sprache als Code und willkürlich zu konstruierendes Zeichensystem auffassen. In bezug auf die natürlichen Sprachen betont Gadamer wiederum den Aspekt der Geschichtlichkeit: die Sprachen enthalten sedimentiertes Wissen und transportieren praxiskonstitutive Unterscheidungen (11.2.8.). Der Mensch als das Lebewesen, das Geschichte hat, Geschichte macht und sich geschichtlich bedingt begreift, erwirbt sein Wissen nicht nur auf dem Weg wissenschaftlichen Forschens, sondern durch einen vor- oder außerwissenschaftlichen Prozeß der Erfahrung. Der Begriff der Erfahrung, dem Gadamer eine »systematische Schlüsselstellung«4 zuschreibt, wird mit Rückgriff auf Hegel formuliert (11.2.9.). Die Eigenart der hermeneutischen Erfahrung, derjenigen Erfahrung, die im Umgang und durch Konfrontation mit Elementen der Überlieferung gemacht wird, beschreibt Gadamer mit Hilfe des Schemas von Frage und Antwort (11.2.10.), des Gesprächsmodells (11.2.11.) und des Begriffs des Klassischen (11.2.12.). Mit diesen Konzeptionen werden keine methodologischen Vorschläge oder Direktiven formuliert, sondern allgemeine Bestimmungen der Vollzugsform jeder Aneignung von Tradition gegeben. Aus diesem Grund kann die philosophische Hermeneutik sich als universale Hermeneutik definieren. Sie will nicht ein durch eine besondere Methodik bestimmtes Verstehen begrifflich erfassen, sondern die Vollzugsform von Verstehensleistungen allgemein kennzeichnen: »Ich wollte nicht ein System von Kunstregeln entwickeln, die das methodische Verfahren der Geisteswissenschaften zu beschreiben oder gar zu leiten vermöchten. Meine Absicht war auch nicht, die theoretischen Grundlagen der geisteswissenschaftlichen Arbeit zu erforschen, um die gewonnenen Erkenntnisse ins Praktische zu wenden. Wenn es eine praktische Folgerung aus den hier vorgelegten Untersuchungen gibt,
Einleitung
XIX
so jedenfalls nicht eine für unwissenschaftliches >Engagement<, sondern für die >wissenschaftliche< Redlichkeit, sich das in allem Verstehen wirksame Engagement einzugestehen. Mein eigentlicher Anspruch aber war und ist ein philosophischer: Nicht, was wir tun, was wir tun sollten, sondern was über unser Wollen und Tun hinaus mit uns geschieht, steht in Frage.«5 Die Stellung seiner philosophischen Hermeneutik verdeutlicht Gadamer dadurch, daß er sie nicht als wissenschaftliche Erforschung eines Gegenstandsbereichs bestimmt, sondern mit Rekurs auf Aristoteles als praktische Philosophie präsentiert. Ein Blick auf das sechste Buch der »Nikomachischen Ethik« verdeutlicht den von der philosophischen Hermeneutik reklamierten Begriff praktischer Klugheit (11.2.13.). Der dritte Teil charakterisiert abschließend den hermeneutischen Währheitsbegriff. Dabei wird zunächst das Verhältnis der philosophischen Hermeneutik und der interpretierenden Wissenschaften, insbesondere der Literaturwissenschaft behandelt und ein wissenschaftstheoretischer Vorschlag aufgegriffen, der die Ersetzung des hemeneutischen Zirkels durch das Modell einer Spirale vorschlägt. Durch das Spiralmodell soll der den Interpretationen zu verdankende Erkenntnisgewinn deutlich hervorgehoben werden (m.1.1.). Anschließend wird die Frage behandelt, ob sich allgemeine Kriterien angeben lassen, durch die die Richtigkeit, Angemessenheit oder Qualität von Interpretationen bestimmt werden. Gadamers Hermeneutik verzichtet auf die Formulierung solcher Kriterien. Es wird zu untersuchen sein, ob die Hermeneutik das Geschäft der Interpretation dadurch einem schrankenlosen Relativismus und ungebremster Beliebigkeit ausliefert (111.1.2.). Zum Abschluß werden die drei wesentlichen Dimensionen des hermeneutischen Wahrheitsbegriffs - Kunst, Erfahrung, Erinnerung - beschrieben (m.2.).
I.
KUNST UND WAHRHEIT
1.1. Erkenntnis, Ästhetik, Kunst Für Gadamer ist die Koexistenz von Wahrheit und Methode, von Erkenntnis und Wissenschaft eine fragwürdige Angelegenheit. Einige Leser haben den Titel von Gadamers Buch verändert: »Wahrheit oder Methode?«6, »Wahrheit ohne Methode«1 sind Formulierungen, die eine angeblich methodenkritische oder methodenfeindliche Tendenz Gadamers zum Gegenstand kritischer Überlegungen machen. Tatsächlich setzen Gadamers Ausführungen damit an, die angebliche Abhängigkeit der Geistesvon den Naturwissenschaften und die vielfältigen Bemühungen um eine Methodologie der Geisteswissenschaften zu kritisieren und deren Selbstverständnis durch eine Erinnerung an »humanistische Leitbegriffe« zu korrigieren. Um eine Korrektur handelt es sich nach Gadamer insofern, als eine seit dem 19. Jahrhundert verbreitete Auffassung der Kunst und ein Modell der Geisteswissenschaften als )objektiver<, methodisch disziplinierter Erforschung eines Sachgebiets mit den Konzepten »Bildung«, »Gemeinsinn«, »Urteilskraft« und »Geschmack« konfrontiert werden.
1.1.1. Humanistische Leitbegriffe Gadamers eigene Methode beim Kampf gegen das Methodendenken besteht darin, in die Wort- und Begriffsgeschichte einzutauchen, um versunkene oder kaum noch erkennbare Bedeutungen und Gebrauchsweisen eines Begriffs zu Tage zu fördern. Auf diese Weise soll der eigene Sprachgebrauch geschichtlich begründet oder die mit der Würde der Tradition ausgestatteten Begriffe als Argumente in der Diskussion eingesetzt werden. Die Gadamersche Skizze der Geschichte des Bildungsbegriffs8 setzt bei Herder ein, der das Wort als Bezeichnung für die spezifisch menschliche Art der Entfaltung natürlicher Anlagen gebraucht. Später bezeichnet das Wort nicht nur den Vorgang der Ausbildung gestimmter Fähigkeiten,
2
Kunst und Wahrheit
sondern das Resultat dieses Lernprozesses, einen bestimmten Zustand des Menschen. Die zweite Station des geschichtlichen Exkurses bildet Hegels Bildungsbegriff, als dessen Charakteristika Gadamer folgende Punkte nennt: »Abstandnahme vom Unmittelbaren der Begierde, des persönlichen Bedürfnisses und privaten Interesses und die Zumutung eines Allgemeinen. «9 Der sich bildende Mensch hebt nach Hegel seine Natürlichkeit auf, er arbeitet sich aus der Sphäre der Partikularität heraus und erhebt sich auf den Standpunkt des Allgemeinen. Anhand einer Überlegung von H.v. Helmholtz weist Gadamer schließlich auf die Verbindung von Bildung und Taktgefühl hin. Als Resultat dieser begriffs geschichtlichen Ausführungen ergibt sich für Gadamer die Notwendigkeit, die Geschichte einiger humanistischer Schlüsselbegriffe zu verfolgen, um die Bildungsidee deutlich zu konturieren: ))Die Besinnung auf den Begriff der Bildung ( ... ) führt uns weit in die Geschichte dieses Begriffes zurück. Wir müssen diesem Zusammenhang ein paar Schritte folgen, wenn wir das Problem, das die Geisteswissenschaften für die Philosophie darstellen, aus der künstlichen Enge befreien wollen, in der die Methodenlehre des 19. Jahrhunderts befangen war. Der moderne Wissenschaftsbegriff und der ihm zugeordnete Methodenbegriff können nicht ausreichen. Was die Geisteswissenschaften zu Wissenschaften macht, läßt sich eher aus der Tradition des Bildungsbegriffes verstehen, als aus der Methodenidee der modernen Wissenschaft. Es ist die humanistische Tradition auf die wir zurückverwiesen werden.«lo Die Erörterung des Bildungsbegriffs bildet lediglich den Ausgangspunkt, um auf die humanistische Tradition zurückzugreifen und zwischen ihr und dem erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts explizit formulierten Bildungsgedanken eine Verbindung herzustellen. Dadurch soll eine Alternative zur Darstellung der Geisteswissenschaften als wissenschaftlichem Forschungsbetrieb geboten werden, die sich nicht nur an der Bildungsidee des Deutschen Idealismus ausrichtet, sondern auf ältere und das heißt in diesem Fall: nicht durch eine mitunter problematische Betonung der Individualität sich ausbildender Persönlichkeiten belastete - Vorstellungen zurückgreift. Gadamer blendet den individualistischen Aspekt des Bildungsbegriffs und die negativen Figuren des Bildungsphilisters und Bildungsbürgers bewußt aus seiner Betrachtung aus. Es steht nun zur Diskussion, inwieweit es Gadamer gelingt, angesichts der vorherrschenden Auffassung der Geisteswissenschaften als einem Komplex von Disziplinen, die eine methodisch angeleitete Erforschung von Kultu-
Erkenntnis, Ästhetik, Kunst
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ren und ihren Produkten leisten, mit Hilfe h,umanistischer Gedanken eine überzeugende Alternative zu formulieren. Als ersten »humanistischen Leitbegriff« hebt Gadamer den des »sensus communis« hervor. Er verweist dabei zunächst auf G. Vico (16681744).Jl Den Grundgedanken der von Gadamer in diesem Zusammenhangherangezogenen Abhandlung »De nostri temporis studiorum ratione«12 kann man knapp zusammenfassen: Leistungen und Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung sind unbestritten. Das >neue< Denken soll aber keinen Monopolanspruch erheben. Wenn die Studien ausschließlich die wissenschaftliche Methode im Sinn des Cartesianismus vermitteln und deren Anwendung in eng begrenzten Bereichen lehren würden, bestünde die Gefahr, daß die Ausgebildeten in der Lebenswirklichkeit orientierungslos wären. Sie wären zwar in der Lage, theoretisches Wissen zu gewinnen und wissenschaftliche Probleme zu bearbeiten, könnten aber in verschiedenen Handlungszusammenhängen nicht - oder nicht rasch genug - erkennen, worauf es ankomme und was zu tun sei. Den Begriff des »sensus communis«, um den es Gadamer zu tun ist, gebraucht Vico als Bezeichnung für die Klasse unreflektierter Urteile, Ansichten und Meinungen bestimmter Bevölkerungsgruppen oder aller Menschen. 13 Andererseits bezeichnet er mit diesem Ausdruck die Fähigkeit, die Überzeugungen und Ansichten von Menschen richtig einzuschätzen und zu beeinflussen. 14 Der »sensus communis« und nicht der Verstand ermöglicht es, erfolgreich zu handeln. Deshalb sollen die Disziplinen, die ihn kultivieren, d.h. Rhetorik und Topik nicht vernachlässigt werden. Gadamer nobilitiert in seiner Interpretation der Gedanken Vicos den »sensus communis«, indem er seinen pragmatischen, erfolgsorientierten Charakter zurückstellt. So wird die praktische Klugheit zu der Fähigkeit, das für die Allgemeinheit Zuträgliche und das Rechte zu erkennen: »Für Vico (... ) ist der sensus communis ein Sinn für das Rechte und das gemeine Wohl, der in allen Menschen It!bt, ja mehr noch ein Sinn, der durch die Gemeinsamkeit des Lebens erworben, durch seine Ordnungen und Zwecke bestimmt wird.«15 Für Gadamer ist von besonderem Interesse, daß die Disziplinen, die sich der Ausbildung des »sensus communis« widmen, in Bedrängnis geraten. Vor allem die Bedeutung der Rhetorik scheint durch die aufkommende neuzeitliche Wissenschaftsauffassung zunehmend geringer zu werden. Gadamers Ausführungen schildern eindeutige Verhältnisse: Die Krise der Rhetorik wird durch den verstärkt in den Vordergrund tretenden Begriff des methodisch zu gewinnenden Wissens ausgelöst. Mathematik
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und Naturwissenschaften der Neuzeit verdrängen das praktische Wissen des »sensus communis«. Eine Ähnlichkeit zu weitverbreiteten Vorstellungen bezüglich einer Opposition von Natur- und Geisteswissenschaften seit dem 19. Jahrhundert ist deutlich erkennbar. Gadamer berücksichtigt andere Erklärungen für den Geltungsverlust der Rhetorik und des humanistischen Wissens in keiner Weise. Alternative Erklärungsmöglichkeiten liegen aber durchaus nahe. So ist es beispielsweise denkbar, daß die Rhetorik in eine Krise gerät, weil sie die ihr zugeschriebene Funktion, praktisches Wissen zu vermitteln oder situationsangemessenes, dem Gemeinwohl dienendes Verhalten zu fördern, nicht erfüllt. Es ist genau diese Erklärung für die Abwendung von der Rhetorik und dem tradierten Wissensbestand humanistischer Bildung, die Descartes in seinem >Bildungsroman<, dem »Discours de la Methode«, anbietet. Descartes schreibt: »Von Kindheit an habe ich wissenschaftliche Bildung genossen, und da man mir einredete, daß man sich mit Hilfe der Wissenschaften eine klare und gesicherte Kenntnis alles für das Leben Nützlichen aneignen könnte, so wünschte ich sehnlich, sie zu erlernen. Doch sobald ich den ganzen Studiengang durchlaufen hatte, an dessen Ende man für gewöhnlich unter die Gelehrten aufgenommen wird, änderte ich völlig meine Meinung, denn ich fand mich verstrickt in soviel Zweifel und Irrtümer, daß es mir schien, als hätte ich aus dem Bemühen, mich zu unterrichten, keinen anderen Nutzen gezogen, als mehr und mehr meine Unwissenheit zu entdecken. Gleichwohl befand ich mich auf einer der berühmtesten Schulen Europas, wo es doch, wie ich dachte, wenn irgendwo auf der Erde, gelehrte Männer geben mußte. Ich hatte dort an das gelernt, was jeder andere dort lernte (... )«16 Descartes beschreibt anschließend die Lehrfächer im einzelnen17 , stellt seine Enttäuschung angesichts des Lehrstoffs und der verwirrenden Vielfalt von Theorien dar und konstatiert, » ( ... ) daß es eine Lehre von der Art, wie man sie mich früher hatte hoffen lassen, auf der Welt nicht gebe.« - »Daher gab ich die wissenschaftlichen Studien ganz auf, sobald das Alter mir erlaubte, mich der Abhängigkeit von meinen Lehrern zu entziehen, und entschlossen, kein anderes Wissen zu suchen, als was ich in mir selbst oder im großen Buch der Welt würde finden können, verbrachte ich den Rest meiner Jugend damit, zu reisen (... )«18 Die Erzählung Descartes' zeigt, wie problematisch es ist, die Beziehungen zwischen unterschiedlichen Wissenschafts- und Bildungstraditionen pauschal zu beschreiben. Wesentlich ist der Sachverhalt, daß in Descartes Darstellung die Krise
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des rhetorisch-humanistischen Wissens nicht durch eine externe Bedrohung, durch das Methodendenken, ausgelöst wird. Im Gegenteil: das methodische Denken entsteht allererst vor dem Hintergrund der in einer Krise steckenden Rhetorik, es wird als Reaktion auf die desolate Verfassung des Bildungsbetriebs beschrieben. Die These Gadamers, die das Methodendenken als Agressor charakterisiert, erscheint zu allgemein formuliert und ist weniger ein Argument für die Tradition der Rhetorik und des Humanismus als eine communis opinio ohne hinreichende Begründung. An Stelle solcher geistesgeschichtlicher Ideographie könnte wissenschaftsgeschichtliche Mikroskopie die komplexen Verhältnisse mit größerer Trennschärfe erfassen. Der Rückgriff auf Descartes' Ausführungen erhellt die Frage nach dem Verhältnis von humanistischen Disziplinen und methodisch vorgehenden Wissenschaften und zeigt, daß die von Gadamer gegebene Darstellung an diesem Punkt problematisch ist. Damit wird nicht behauptet, daß Descartes' stilisierte Selbstdarstellung das einzig richtige Bild gibt. Die Kritik an der wissenschaftsgeschichtlichen Darstellung Gadamers betrifft nicht das Anliegen Gadamers, auf die Bedeutung von Fähigkeiten und Erkenntnissen aUQnerksam zu machen, die im Rahmen humanistischer Ausbildung trainiert und gelehrt werden konnten. Unabhängig von der wissenschaftsgeschichtlichen Frage nach den Gründen für den Geltungsverlust der humanistischen Lehrfächer will Gadamer vor allem auf die bleibende Bedeutung der in diesen Disziplinen gepflegten praktischen Klugheit hinweisen. Dabei glaubt er direkt an Vico anknüpfen zu können, der sich darum bemühte, das Recht des durch Rhetorik und Topik vermittelten Wissens zur Geltung zu bringen, und die Anerkennung des Sachverhalts forderte, daß nicht alles Wissen durch methodische Forschung konstituiert werde. 19 Diese Position ist nach Gadamer in Hinblick auf die Problematik der Geisteswissenschaften von großer Bedeutung: »Der Rückgriff Vicos auf den römischen Begriff des sensus communis und seine Verteidigung der humanistischen Rhetorik gegen die modeme Wissenschaft ist für uns von besonderem Interesse; denn hier werden wir an ein Wahrheits moment der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis herangeführt, das für die Selbstbesinnung der Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert nicht mehr zugänglich war. Vico lebte in einer ungebrochenen Tradition rhetorisch-humanistischer Bildung und brauchte nur deren unveraltetes Recht erneut zur Geltung zu bringen.«20 Gadamer ist der Ansicht, daß es darauf ankomme zu überlegen, inwieweit die Geisteswissenschaften sich nach dem Ende der rhetorischhumanistischen Tradition und dem durch den Prozeß der Verwissen-
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schaftlichung bedingten Verlust ihrer praktischen Relevanz nochmals auf die Zielsetzung der Gewinnung, Bewahrung und Vermittlung praktischen Wissens beziehen können. Zunächst verfolgt er die Pathogenese der Geisteswissenschaften bzw. den Vorgang des Verschwindens einer, durch die Vorläufer der Geisteswissenschaften (Rhetorik, Topik, Poetik, Philologie) noch bewahrten Tradition praktischen Philosophierens. Anhand der weiteren Begriffsgeschichte von »sensus communis« weist er nach, daß dieser Begriff in England (Shaftesbury) und Frankreich als politisch-sozialer Begriff gebraucht wird, während er bis auf wenige Ausnahmen in Deutschland entpolitisiert wird, seine kritische Funktion bezüglich der Beurteilung von Handlungen verliert und vorwiegend zu einer Bezeichnung für Urteilsfähigkeit wird. Innerhalb der Geschichte des Begriffs der Urteilskraft ist die Fassung: die Kant diesem Begriff gibt, von entscheidender Bedeutung. Das auffälligste Faktum besteht darin, daß die politischsoziale Dimension, die die Urteilskraft zunächst als Nachfolgerin des »sensus communis« noch bewahrt, in den Hintergrund tritt. Im Zusammenhang mit Fragen des rechten Handelns spielt der Begriff der Urteilskraft bei Kant keine wesentliche Rolle mehr: die praktische Urteilskraft ist abhängig von der reinen praktischen Vernunft und dem Sittengesetz und hat nicht mehr den Rang eines autonomen Vermögens. Wenn Kant eine »Kritik der Urteilskraft« schreibt, so stehen in ihr ethische und praktische Probleme nicht im Mittelpunkt des Interesses: Die praktische Dimension des Begriffs der Urteilskraft scheint auf den Aspekt der im Geschmacksurteil mitgedachten Zustimmung der anderen und auf einige Implikationen des Begriffs des Erhabenen sowie der ästhetischen Idee eingeschränkt zu werden. Daß das Moment eines im Geschmacksurteil angestrebten allgemeinen Konsenses - entgegen der Beurteilung Gadamers - für eine Philosophie der Praxis immer noch von außerordentlich großer Bedeutung sein kann, zeigt nicht nur Schillers Anknüpfung an Kant21 , sondern auch der Versuch H. Arendts, vom Begriff der Urteilskraft ausgehend eine politische Philosophie zu formulieren. 22 Ein weiterer Begriff, den Gadamer im Rahmen seiner Erinnerung an die humanistische Tradition behandelt, ist der Geschmack. Wieder weist er auf ältere Schichten der Begriffsgeschichte hin: »Abermals gilt es, weiter auszuholen. Denn in Wahrheit handelt es sich nicht allein um eine Einengung des Begriffs des Gemeinsinns auf den Geschmack, sondern ebenso um die Einengung des Begriffs des Geschmacks selbst. Die lange Vorgeschichte, die dieser Begriff hat, bis er von Kant zum Fundament seiner Kritik der Urteilskraft gemacht wird,
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läßt erkennen, daß der Begriff des Geschmacks ursprünglich eher ein moralischer als ein ästhetischer Begriff ist.«23 Gadamer verweist an dieser Stelle auf die antike, griechische Ethik, in der die Fähigkeit, das Gute zu tun, mit.einer dem Geschmack verwandten Fähigkeit des Treffens des Richtigen dargestellt wird. Zudem hebt Gadamer die Bedeutung des Geschmacks bei B. Gracian hervor, der den Geschmack in umfassender Weise als Beurteilungsvermögen in Hinblick auf Handlungen begreift: Der Geschmack ermöglicht die Unterscheidung zwischen dem Tunlichen und nicht angemessenen Verhalten. Die drei behandelten Begriffe - sensus communis, Urteilskraft, Geschmack - machen eine parallele Entwicklung der Bedeutungsverengung und Spezialisierung durch, die gleichzeitig zu einem Verlust ihrer Erkenntnisrelevanz führt. Nach Gadamers Auffassung ist nicht allein der Umstand von Bedeutung, daß die genannten Begriffe vorwiegend in ästhetischen Zusammenhängen ihren neuen Ort haben und ihrer politischen oder ethischen Bedeutung verlustig gehen, es ist vielmehr der Sachverhalt, daß ihnen als ästhetischen Begriffen keine wesentliche Erkenntnisfunktion mehr zugebilligt wird, auf den es hier ankomme. Der Täter heißt Kant. Seine »Kritik der Urteilskraft« entzieht, so Gadamers These, dem Geschmacksbegriff, dem Bereich des Ästhetischen und der Künste ethisch-praktische Bedeutsamkeit. Dies hat schwerwiegende Folgen für die im 19. Jahrhundert entstehenden Geisteswissenschaften. Doch bevor diese Konsequenzen analysiert werden können, gilt es, die »Subjektivierung der Ästhetik« durch Kant und die Verwissenschaftlichung des Erkenntnisbegriffs zu verfolgen und damit die Voraussetzungen zu schaffen, um Gadamers Versuch einer Rehabilitierung der erkenntnis stiftenden Funktion der Künste beurteilen zu können.
1.1.2. Kants »Kritik der Urteilskraft«
Gadamer formuliert seinen Wahrheitsbegriff in Auseinandersetzung mit Kants dritter Kritik. 24 Dabei geht er so vor, daß er die »Kritik der ästhetischen Urteilskraft« untersucht und danach fragt, ob Kant dem Bereich der Künste Erkenntnisrelevanz zubilligt. Ist die Urteilskraft, genauer die ästhetische Urteilskraft, erkenntnisfähig oder ist sie blind?
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1.1.2.1. Subjektivierter Geschmack
Gadamer behandelt die KU unter dem Titel »Subjektivierung der Ästhetik durch die Kantische Kritik«. Er wendet sich zunächst der Analyse des Geschmacksurteils bei Kant zu und hebt mit großem Nachdruck hervor, daß der Geschmacksbegriff selbst bei Kant in entscheidender Weise eingeengt ist. Kant ist derjenige, der in folgemeicher Weise die Bedeutungsbreite des Geschmacksbegriffs einschränkt und seine ethisch-politischen Aspekte tilgt. Die Bedeutungsweite des Geschmacks in früheren Stadien der Begriffsgeschichte hat Gadamer bereits behandelt. Um die Spezifik des Kantischen Geschmacksbegriffs deutlich werden zu lassen, wird im folgenden kurz der Ort markiert, an dem Kant den Geschmack behandelt. Kants dritte Kritik ist nicht primär eine Philosophie der Kunst, sondern eine systematische Abhandlung, deren zentraler Gegenstand ein spezielles Erkenntnisvermögen, eben die Urteilskraft, ist. Die Konstruktion des Werks basiert auf dem Umstand, daß Kant als drittes apriorisches Prinzip, neben dem der Gesetzmäßigkeit (Erkenntnis der Natur aufgrund der Gesetzgebung des Verstandes) und des Endzwecks (Erkenntnis im Bereich der praktischen Philosophie), das Prinzip der Zweckmäßigkeit entdeckt. Das Erkenntnisvermögen, das in der Lage ist, Zweckmäßigkeitsüberlegungen auszuführen, ist die Urteilskraft. Ihre Leistungen werden dadurch ausgezeichnet, daß Kant sie als apriori bestimmte charakterisiert. Das bedeutet: die Begriffe des Zwecks und der Zweckmäßigkeit werden nicht durch Erfahrung gewonnen, sondern sie ermöglichen es, bestimmte Zusammenhänge zu strukturieren und zu erkennen. Bekanntlich unterscheidet Kant zwei Formen der Urteilskraft: einerseits geht die bestimmende Urteilskraft von gegebenen Begriffen aus und entscheidet, ob Gegenstände unter den Begriff fallen oder nicht. Andererseits geht die reflektierende Urteilskraft von einzelnen Erscheinungen aus und sucht zu diesen mögliche begriffliche Bestimmungen. Mit Kants Worten: »Urteilskraft überhaupt ist das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken. Ist das Allgemeine (die Regel, das Prinzip, das Gesetz) gegeben, so ist die Urteilskraft, welche das Besondere darunter subsumiert ( ... ) b e s tim m end. Ist aber nur das Besondere gegeben, wozu sie das Allgemeine finden soll, so ist die Urteilskraft bloß re fl e k t i e ren d.«25 Es sind im wesentlichen zwei unterschiedliche Weisen, in denen von
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der Zweckmäßigkeit bestimmter Erscheinungen gesprochen werden kann. Zum einen macht Kant darauf aufmerksam, daß Wahrnehmungen als zweckmäßig bezeichnet werden können, sofern sie den Erkenntnisvermögen des Wahrnehmenden angemessen sind. Unter Angemessenheit ist dabei eine mühelose Interaktion von Einbildungskraft und Verstand zu verstehen, eine Interaktion, die mit einem Lustgefühl verbunden sein kann. Als Beispiel für eine solche subjektiv zweckmäßige Wahrnehmung kann etwa das Hören eines Musikstücks in klassischer Kadenzharmonik dienen, dessen Satz weder monoton noch von einer den Hörer überfordernden Komplexität ist. Im Fall der Zweckmäßigkeit von Wahrnehmungen für die Erkenntniskräfte des Subjekts wird kein Anspruch darauf erhoben, einem Gegenstand bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben, d.h. etwas am Objekt selbst zu erkennen. Die mit Lust verbundene subjektive Zweckmäßigkeit begründet das Gebiet der ästhetischen Urteilskraft. Die zweite Form der Zweckmäßigkeit, die in der KU behandelt wird, wird gegenwärtig in weitaus geringerem Maß berücksichtigt als die für die Ästhetik relevanten Ausführungen Kants. Diese zweite Form der Zweckmäßigkeit wird in der »Kritik der teleologischen Urteilskraft« behandelt. Hier geht es um die Beurteilung komplexer Gebilde der Natur als zweckmäßig gebauter Organismen. Kant stellt die Frage, ob wir in bezug auf Gegenstände, die wir nicht oder nicht ausschließlich mit Hilfe kausal-mechanischer Erklärungsmodelle begreifen können, eine gewisse Ordnung dadurch herstellen können, daß wir annehmen, die fraglichen Objekte seien in Hinblick auf bestimmte Zwecke strukturiert. Am Beginn der Untersuchung der ästhetischen Urteilskraft steht die Analyse der Geschmacksurteile. Dies ist der Abschnitt, in dem die von Gadamer diagnostizierte Ausgrenzung der politisch-ethischen Aspekte des Geschmacksbegriffs greifbar ist. Kant interessiert sich zunächst nicht für spezielle Eigentümlichkeiten des Umgangs mit Kunstwerken, sondern stellt durchaus alltägliche Gebrauchsweisen des Prädikats »schön« in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Dabei zeigt er, daß wir überhaupt nicht auf objektive Eigenschaften Bezug nehmen, wenn wir von einem Gegenstand sagen, er sei schön. Nach Kant werden im Fall des Geschmacksurteils nicht die Eigenschaften als solche thematisch, ausschlaggebend ist vielmehr die Beziehung zwischen der Auffassung eines Gegenstands in der Einbildungskraft des Betrachters auf der einen und dem Verstand als Vermögen begrifflicher Bestimmung auf der anderen Seite. Wenn Einbildungskraft und Verstand in einem harmonischen, spielerischen Verhält-
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nis zueinander stehen, empfindet das Subjekt ein Lustgefühl. Das Prädikat »schön« sagt somit nichts über die Beschaffenheit von Gegenständen, sondern es bezieht sich auf den Zustand der betrachtenden Subjekte. In Hinblick auf Gadamers Interpretation ist es von besonderer Bedeutung, daß Kant außerordentliches Gewicht auf die Allgemeingültigkeit des Geschmacksurteils legt. Der Gebrauch des Prädikats »schön« wird ausdrücklich abgehoben von der Verwendung der Ausdrücke »angenehm« oder »reizend«. Letztere können eine bloß private, eventuell idiosynkratische Vorliebe zum Ausdruck bringen. Derjenige, der ein Geschmacksurteil fällt, sagt nicht nur, daß ihm der Gegenstand gefällt, er fordert darüberhinaus die Zustimmung der anderen. Gadamers Kritik setzt nun gerade bei der Subjektivierung des Geschmacksurteils an. Er behauptet, daß Kant dem Geschmack ))jede Erkenntnisbedeutung abspricht«26, wenn er ihn nicht mehr als Beurteilungsvermögen der Beschaffenheit von Gegenständen bestimmt. Gadamer scheint die Ansicht zu vertreten, Kant habe in seinen Erörterungen dem Bereich der Ästhetik jede Erkenntnisrelevanz abgesprochen. Dabei hat er insofern mit seiner Behauptung recht, als Kants Analytik des Geschmacksurteils, wie gerade gezeigt wurde, ausdrücklich darlegt, daß im Geschmacksurteil keine Aussage über die objektive Beschaffenheit von Gegenständen gemacht wird. Die Frage ist allerdings, ob damit - mit der Aufgabe einer auf Eigenschaften von Objekten bezogenen Erkenntnis - der Bereich der ästhetischen Urteilskraft jede Erkenntnisrelevanz einbüßt. Entgegen der Darstellung Gadamers läßt sich zeigen, daß die Zurückweisung eines objektiven Erkenntnisanspruchs keineswegs bedeutet, daß dem Bereich der ästhetischen Urteilskraft jegliche Erkenntnisbedeutung abgesprochen würde. Das Geschmacksurteil erkennt die Zweckmäßigkeit eines Gegenstands für die Erkenntnisvermögen des Subjekts, es sagt also etwas über das Verhältnis des Subjekts zu seiner Welt bzw. zu dem in ästhetischer Einstellung wahrgenommenen Weltausschnitt und gibt dieses Weltverhältnis für andere zu erkennen. Indem das Subjekt Wahrgenommenes nicht nur auf seinen Informationswert hin beurteilt, sondern fahig ist, sich ästhetisch - unmittelbar praktische Interessen suspendierend - zu verhalten, entdeckt es eine Perspektive, die absieht von unmittelbaren, praktischen Bedürfnissen und fmdet eine Möglichkeit zwangloser Übereinstimmung mit den übrigen Gesellschaftsmitgliedern. Gadamers Einschätzung der Subjektivierung der Ästhetik durch Kant scheint mir problematisch zu sein. Selbstverständlich kann man von einer
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Subjektivierung bei Kant sprechen, weil .die »Kritik der ästhetischen Urteilskraft« primär das Verhältnis der Erkenntnisvermögen im Subjekt thematisiert. Bei Gadamer ist die Rede von einer Subjektivierung aber im Zusammenhang mit seiner Kritik am Geniebegriff und der Erlebnisästhetik des 19. Jahrhunderts, die später behandelt wird, zu sehen. Subjektivierung bedeutet hier Auslieferung der Ästhetik an Irrationalismus. Indem Gadamer eine direkte Linie von Kant zu diesen Richtungen des 19. Jahrhunderts zieht, bekommt seine Rede von der Subjektivierung der Ästhetik durch die KU einen negativen und unangemessenen Charakter. Bei Kant ist das Subjekt des Geschmacksurteils keineswegs ein autistisches, seine idiosynkratischen Affekte genießendes Individuum. Derjenige, der ein Geschmacksurteil äußert, richtet sich vielmehr an die Mitglieder der Gesellschaft und fordert sie auf, einen bestimmten Gegenstand als schönes Ding wahrzunehmen. Damit zieht sich der ästhetisch Urteilende nicht in eine abgekapselte Gefühlswelt zurück, er appelliert an die Anderen und strebt eine Übereinstimmung mit ihnen an. Daß diese Übereinstimmung faktisch oft nicht erreicht wird, hat Kant selbstverständlich gesehen. Die im Rahmen einer Ausübung ästhetischer Urteilskraft gegebene Möglichkeit einer Öffnung des einzelnen zu den anderen Gesellschaftsrnitgliedern ist, wie Kant deutlich macht, für eine Lebensform von nicht zu unterschätzender Bedeutung: eine nicht auf äußerlichem Zwang beruhende Gemeinschaftlichkeit kann sich durch ungezwungene Übereinstimmung in der Wertschätzung gewisser Gegenstände ausbilden. Wie Kant im § 40 (»Vom Geschmacke als einer Art von sensus communis«) und § 41 ausführt, ist es für die Menschen wichtig, daß sie in einer Welt leben, in der sie sich nicht nur in begrifflicher Rede verständigen können, sondern im Rahmen der Artikulation ästhetischer Urteile auch ihre Gefühle allgemein mitteilen und anderen zumuten können. Die damit gewonnene Möglichkeit der Verständigung ist insofern wesentlich, als die Menschen sich damit eine neue Dimension der Welt erschließen. Kants Ausführungen lassen keinen Zweifel daran, daß mit seiner Rede von der Mitteilbarkeit des Gefühls gerade nicht einer Versenkung der einzelnen in ihre Innenwelten das Wort geredet wird. Wenn diese Lesart der Analyse des Geschmacksurteils zutreffend ist, dann erscheint es notwendig, die Gadamersche Kritik an diesem ersten Punkt zurückzunehmen. Zwar geht der Geschmack seiner ehemals bedeutenden ethisch-politischen Funktion verlustig: um zu beurteilen, welche Handlungsweise richtig ist, rekurriert Kant nicht auf den Geschmack als Beurteilungsvermögen. Aber der Geschmack steht nach wie vor in
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Verbindung zur Sphäre der Gesellschaft und Öffentlichkeit, er stellt eine Verbindung zwischen den einzelnen Subjekten her.
1.1.2.2. Kunst ohne Wahrheit?
Das Hauptgewicht der Auseinandersetzung Gadamers mit Kant liegt auf den Begriffen der Kunst und des Künstlers (Genie), die Kant entwickelt. Gadamer stellt zwar fest: »Die >Kritik der ästhetischen Urteilskraft< will nicht eine Philosophie der Kunst sein (... )«2", aber für sein eigenes Vorhaben, einen Begriff der Wahrheit der Kunst zu entwerfen, sind die kunsttheoretischen Passagen der KU von besonderem Interesse. Den Übergang von der Theorie des reinen Geschmacksurteils zur Theorie der Kunst behandelt Gadamer verhältnismäßig ausführlich.. Das reine Geschmacksurteil würdigt die Gegenstände, ohne eine begriffliche Bestimmung vorauszusetzen, insoweit, als ihre Vorstellung das freie Spiel von Einbildungskraft und Verstand fördert. Gadamer zeigt, daß die Analyse der reinen Geschmacksurteile in erster Linie einer Klärung der Eigenständigkeit dieser Urteilsform dient. Das Geschmacksurteil wird klar abgegrenzt von Redeformen, die die objektive Beschaffenheit von Gegenständen oder den ethischen Aspekt von Verhaltensweisen erörtern. Zudem soll die Analyse des Geschmacks zeigen, daß die Kundgabe der ästhetischen Wertschätzung nicht als Beurteilung der Vollkommenheit des Gegenstands begriffen wird, wie dies etwa in dem Baumgartenschen Projekt der Ästhetik der Fall war. Gadamer konstatiert nun, daß von der Ebene des reinen Geschmacksurteils aus eine Theorie der Kunst nicht entwickelt werden kann. Denn bezüglich der Beurteilung von Kunstwerken kann zwar das Wohlgefallen des Betrachters sehr wohl auf das Spiel von Einbildungskraft und Verstand gegründet sein, es liegt aber eine begriffliche Einschränkung vor, weil der Beurteilende durchaus gewisse begriffliche Erwägungen, wir können auch sagen, ein kulturspezifisches Wissen, in Anschlag bringt, wenn er eine Tragödie sieht, ein Gedicht liest oder ein Porträt betrachtet. Das reine Geschmacksurteil, das an der bloßen Form eines Tapetenmusters, an den verschlungenen Linien einer Arabeske oder an den Modulationen eines musikalischen Motivs Gefallen findet, rekurriert nicht auf einen bestimmten Begriff des jeweils betrachteten Gegenstands. Dieser gefällt vielmehr unmittelbar in der Auffassung durch die Einbildungskraft.
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Von diesen Beispielen des reinen Geschmacksurteils unterscheiden sich die Stellungnahmen zu literarischen Texten oder bildnerischen Darstellungen dadurch, daß hier das Vermögen der Begriffe weitaus stärker beteiligt ist als im Fall der Begutachtung der rein formalen, inhaltlich unbestimmten Züge des durch die Einbildungskraft aufgefaßten Gegenstands. Gadamer hebt den Abstand der Kunsttheorie von der Geschmacksanalyse heraus, indem er schreibt: »Die Anerkennung der Kunst scheint von der Grundlegung der Ästhetik im >reinen Geschmacksurteil< aus unmöglich (... )«28 Der Kantische Begriff des »Ideals der Schönheit« (§ 17) führt den für die kunsttheoretischen Überlegungen Kants wesentlichen Gedanken ein, daß die sinnenfälligen Darstellungen der Künste in bezug auf Ideen der Vernunft verstanden werden können. Damit ist die Ebene des reinen Geschmacks verlassen: das ästhetische Urteil ist nicht mehr ein reines Geschmacksurteil. Kants Beispiel ist die bildnerische Darstellung eines Menschen, die nicht bloß als schönes Bild gefällt, sondern als Darstellung eines Menschen mit bestimmten charakterlichen Eigenschaften aufgefaßt werden kann. Die Kunst kann ein Bild (»Ideal«) des Menschen darstellen, in dem sie dem Dargestellten den Ausdruck der »Seelengüte, oder Reinigkeit, oder Stärke, oder Ruhe« (KU § 17) verleiht. Sie gibt ihm also Charakterzüge, die mit der Idee des Sittlich-Guten verbunden sind. Die Möglichkeit der Veranschaulichung von Vernunftideen liegt im Interesse der Vernunft selbst. Gadamer würdigt diese Überschreitung der Grenzen der Geschmackstheorie als ein entscheidendes Verdienst der KU: »Kants Nachweis, daß das Schöne begrifflos gefällt, hindert also durchaus nicht, daß nur das Schöne, das uns bedeutsam anspricht, unser volles Interesse findet. Gerade die Erkenntnis der Begrifflosigkeit des Geschmacks führt über eine Ästhetik des bloßen Geschmacks hinaus.«29 Um entscheiden zu können, ob Gadamer Kant dennoch mit Recht als Zeugen für das Vergessen der Wahrheit oder Erkenntnismöglichkeit der Kunst anführt, ist es zweckmäßig, einen Blick auf die kunsttheoretischen Passagen der KU zu werfen. Kant widmet die §§ 44-53 den Erörterungen über die Künste und beschreibt zunächst die Produktion des Kunstwerks, das Einbildungskraft und Verstand des Rezipienten aktivieren und in ein harmonisches Wechselverhältnis setzen soll. Die bloße Befolgung bestimmter Herstellungsregeln garantiert nun keineswegs, daß dieses Ziel tatsächlich erreicht wird. Wie Kant eindrucksvoll klarmacht, ist es etwas ganz anderes, von einem Gegenstand zu behaupten, er sei nach allen Regeln der Kunst
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angefertigt, als an ihm als gelungenem Kunstwerk Gefallen zu finden. »Wenn mir jemand sein Gedicht vorliest, oder mich in ein Schauspiel führt, welches am Ende meinem Geschmacke nicht behagen will, so mag er den Bat t e u x oder L e s s i n g, oder noch ältere und berühmtere Kritiker des Geschmacks, und alle von ihnen aufgestellten Regeln zum Beweise anführen, daß sein Gedicht schön sei; auch mögen gewisse Stellen, die mir eben mißfallen, mit Regeln der Schönheit (so wie sie dort gegeben und allgemein anerkannt sind) gar wohl zusammenstimmen: ich stopfe mir die Ohren zu, mag keine Gründe und kein Vernünfteln hören, und werde eher annehmen, daß jene Regeln der Kritiker falsch sein, oder wenigstens hier nicht der Fall ihrer Anwendung sei, als daß ich -mein Urteil durch Beweisgründe apriori sollte bestimmen lassen, da es ein Urteil des Geschmacks und nicht des Verstandes oder der Vernunft sein soll.«30 Die Zustimmung zu einem Geschmacksurteil kann demnach argumentativ nicht erzwungen werden. Das Wohlgefallen am Gegenstand kann durch Beweisführungen nicht ersetzt werden. In Hinblick auf den Produzenten ergibt sich daraus, daß der einzelne Künstler trotz aller eventuell zu beachtenden gattungsspezifischen Regeln einen Spielraum für die Gestaltung seines Produkts hat, der durch externe Funktionsbestimmungen nicht ausgefüllt wird. Die entscheidende Frage lautet: Wie kann es gelingen, diesen Spielraum so zu nutzen, daß das fertige Produkt den Rezipienten anspricht? Kant gebraucht hier die Wendung, das Kunstwerk müsse wie ein Naturprodukt erscheinen: »Als Natur ( ... ) erscheint das Produkt der Kunst dadurch, daß zwar alle P ü n k t li c hk e i t in der Übereinkunft mit Regeln ( ... ) angetroffen wird; aber ohne P ein I ich k e i t , ohne daß die Schulform durchblickt, d.i. ohne eine Spur zu zeigen, daß die Regel dem Künstler vor Augen geschwebt, und seinen Gemütskräften Fesseln angelegt habe.«3l Das nicht restlos auf die Beherrschung eines regelgeleiteten Produktionswissens zurückzuführende Können des Künstlers nennt Kant Genie. Zum Fachwissen des Artisten, der wie jeder Handwerker sein Werkzeug zu gebrauchen lernt, kommt eine Gabe hinzu, die es ermöglicht, gelungene Gebilde herzustellen. Im historischen Kontext der Kantischen Philosophie sind diese Überlegungen äußerst brisant, da Kant mit ihnen die Berechtigung normativer Poetiken wirkungsvoll angreift und den zentralen Bestandteil dieser Poetiken, das Prinzip der Naturnachahmung, auflöst. 32 Indem nicht mehr der Verstand allein über das Kunstwerk urteilt, verlieren die Normen des
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Wahrscheinlichen und Naturgemäßen ihre maßgebende Bedeutung. ll Am deutlichsten wird die Loslösung vom Nachahrnungspostulat anhand des § 49 der KU. Dieser Abschnitt ist aber nicht nur hinsichtlich der kunsttheoretisch bedeutsamen Verabschiedung des Nachahrnungsprinzips relevant. Er ist zentral, weil er einen Begriff für die durch Kunstwerke vermittelte Erkenntnis einführt.
1.1.2.3. Ästhetische Ideen
Kant überlegt, woran es liegt, daß verschiedene Kunstprodukte platt, geistlos und trocken erscheinen, während andere anregend und geistvoll sind. Er stellt fest, daß das gelungene Werk ästhetische Ideen vermittelt. Unter einer ästhetischen Idee versteht Kant »( ... ) diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranIaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Beg r i f f adäquat sein kann ( ... ) Die Einbildungskraft (als produktives Erkenntnisvermögen) ist ( ... ) sehr mächtig in Schaffung gleichsam einer andern Natur, aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche gibt.«l4 Kant unterscheidet die ästhetische Idee sowohl von der Erkenntnis im engeren Sinn als auch von den Ideen der Vernunft. Objektive Erkenntnis ist für Kant durch das Übereinkommen von Anschauung und Begriff definiert. Beide Komponenten müssen zusammenwirken, damit wir Gegenstände erkennen können. Kant sagt in einem bekannten Satz: »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind ( ... ) Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen kann Erkenntnis entspringen. «lS Unter den Begriff objektiver Erkenntnis fallen weder die ästhetischen Ideen noch die Ideen der Vernunft (Gott, Freiheit, Unsterblichkeit). Die ästhetischen Ideen fallen deshalb nicht unter den engeren Erkenntnisbegriff, weil auf der Seite der Vorstellungen der Einbildungskraft ein Übergewicht besteht. Das >Defizit< der Vernunftideen besteht darin, daß ihnen in der Erfahrung kein adäquater Gegenstand zugewiesen werden kann. Nun bedeutet dies nicht, daß Kant weder den ästhetischen Ideen noch den Vernunftideen erkenntnisvermittelnde Leistungen zugesprochen hätte. Die Ideen der Vernunft haben zwar keine direkte, konstitutive Funktion für unsere Erkenntnis im Bereich der Erfahrung, aber sie geben wesentliche Orientierungen. Aus diesem Grund bestimmt Kant ihre Leistungen als regulativ.
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Entscheidend ist nun die Frage, welche Bedeutung Kant den ästhetischen Ideen gibt und ob sein Vorschlag überzeugend ist. Wichtig scheint der Umstand zu sein, daß im Fall der ästhetischen Idee eine komplexe Fülle von Vorstellungen gegeben ist. Komplexe Vorstellungen sind solche, deren Einzelelemente nicht vollständig angegeben werden können: beispielsweise die visuelle Vorstellung eines fließenden 'Bachs im Gegensatz zu der deutlichen (distinkten) Vorstellung eines Dreiecks. Der Vorstellungskomplex, der eine ästhetische Idee konstituiert, kann nicht ohne Rest unter einen Begriff subsumiert werden. Dennoch steht das Anschauungsmaterial in einer Beziehung zu Begriffen. Es handelt sich nicht um ein völlig inkohärentes, chaotisches Sammelsurium von nicht benennbaren Vorstellungen. Nur aufgrund der möglichen Verbindung der verschiedenartigen Bilder und Vorstellungen zu Begriffen entfalten die ästhetischen Ideen ihr eigentümliches Erkenntnispotential. Indem in der ästhetischen Idee ein Begriff, beispielsweise der der Gerechtigkeit, mit einer prägnanten und reichhaltigen Klasse von Teilvorstellungen verbunden wird, kann der Begriff selbst »auf unbegrenzte Art« erweitert werden. Die Einbildungskraft bringt damit »das Vermögen der intellektuellen Ideen (die Vernunft) in Bewegung (00.)«36 Wenn Kant explizit von der Einbildungskraft als produktivem Erkenntnisvermögen spricht und diese Produktivität von rigiden Bindungen an den Verstand befreit, so ist dies nicht eine plötzliche irrationale Anwandlung, sondern der gelungene Versuch, eine erkenntnisvermittelnde Leistung von Kunstwerken auf den Begriff zu bringen. Der kognitive Effekt gezielten metaphorischen Sprechens beispielsweise besteht darin, daß bestimmte Aspekte von Gegenständen treffend und evozierend vergegenwärtigt werden können. Kant stellt auch fest, daß Vernunftideen durch Verknüpfung mit Bildern zwar nicht an begrifflicher Deutlichkeit aber an Lebhaftigkeit und Anschaulichkeit gewinnen. Der § 49 der KU macht klar, daß Bedeutungsfülle und Vieldeutigkeit essentielle Merkmale von Kunstwerken sind, die keineswegs als Makel undeutlichen Ausdrucks abgetan werden können. Gadamer sieht nun im Konzept der ästhetischen Ideen einen Primat des begrifflichen Denkens enthalten, den er vorwiegend aus Kants Beispielen herausliest3?, und übergeht daraufhin Kants Hinweis auf ästhetische Erkenntnis. Dies ist äußerst erstaunlich, da doch Kants Hinweis auf eine nicht restlos in Begriffen zu reformulierende Bedeutungsfülle der Kunstwerke einen willkommenen Ansatzpunkt für den Versuch der Entfaltung eines
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im Bereich der Künste operierenden Wahrheitsbegriffs bieten könnte.
Daß Gadamer im Konzept der ästhetischen Idee eine Vorherrschaft begrifflichen Denkens enthalten sieht, zeigt, wie sehr er in unglücklicher Weise einer partiell berechtigten Kritik an der Subjektivierung der Ästhetik verhaftet bleibt. An diesem Punkt ist Gadamers Auffassung nicht gut begründet. Kants Ausführungen zur ästhetischen Idee lassen keinen Zweifel daran, daß dem Begriff hier keine Vorrangstellung zugebilligt wird: »Wenn ( ... ) einem Begriff eine Vorstellung der Einbildungskraft unterlegt wird, die zu seiner Darstellung gehört, aber für sich allein so viel zu denken veraniaßt, als sich niemals in einem bestimmten Begriff zusammenfassen läßt, mithin den Begriff selbst auf unbegrenzte Art ästhetisch erweitert: so ist die Einbildungskraft hierbei schöpferisch, und bringt das Vermögen intellektueller Ideen (die Vernunft) in Bewegung ( ... )«38
Würden gegebene Begriffe lediglich illustriert, so wäre mit Recht von einer Dominanz des Begriffs zu sprechen. Dies aber ist gerade nicht der Fall. Das Kunstwerk wird als eine solche Darstellung bestimmt, die mehr als die Veranschaulichung eines Begriffs ist; es erweitert den Begriff durch eine prägnante Fülle von Vorstellungen und Konnotationen. Kants Beispiele stehen nun allerdings einem Verständnis, das der vollen Tragweite dieses Vorschlags gerecht wird, eher im Weg. Sie zeigen gerade nicht, daß Begriffe »auf unbegrenzte Art« erweitert werden. Das hängt damit zusammen, daß Kants Exempel an der allegorischen Kunstsprache seiner Zeit, an den Verfahren allegorischer Attribution orientiert sind. Da die Emblematik eine recht streng codierte Darstellungsweise ist, sind die Bedeutungen der Zeichen gerade nicht frei zu bestimmen. Die unglückliche Wahl der Beispiele beeinträchtigt die Fruchtbarkeit des Konzepts der ästhetischen Idee aber keineswegs. Denkt man an das zentrale Merkmal, das das Kunstwerk als Darstellung ästhetischer Ideen auszeichnet, nämlich an das der Erweiterung der Begriffe, so wird deutlich, daß damit in der Tat eine wesentliche Leistung der Künste erfaßt werden kann. Gelungene Werke der Literatur oder der bildenden Kunst geben keine bloßen lllustrationen vorgegebener Begriffe, sie stellen eher gegebene Begriffe in Frage, erweitern erstarrte Denkformen und regen zu einer Revision unserer Interpretation der Wirklichkeit an. Anders formuliert: sie geben uns Anlaß, unsere Ordnungs schemata und Klassifizierungen zu überdenken und stellen uns neue Ordnungsmuster zur Verfügung, mit denen wir Weltausschnitte schärfer erfassen können als bisher.
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An einem literarischen Text, Kleists »Michael Kohlhaas«, kann man das Gesagte erläutern.
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Das zentrale Problemfeld des »Michael Kohlhaas« wird gleich zu Beginn vom Erzähler markiert: »An den Ufern der Havellebte, um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, ein Roßhändler, namens Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Men~ schen seiner Zeit. ( ... ) nicht einer war unter seinen Nachbarn, der sich nicht seiner Wohltätigkeit, oder seiner Gerechtigkeit erfreut hätte; kurz; die Welt würde sein Andenken haben segnen müssen, wenn er in einer Tugend nicht ausgeschweift hätte. Das Rechtsgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder.«39 In wesentlichen Teilen kann Kleists Text als Reflexion über Gerechtigkeit verstanden werden. Gerechtigkeit wird einerseits als Charaktereigenschaft des Helden, als eine Tugend hervorgehoben, andererseits wird die Regulierung wechselseitiger Ansprüche der Bürger durch den Staat als Gerechtigkeit gefaßt. Der Text zeigt das spannungsreiche Verhältnis beider Aspekte auf. Das ungebrochene Vertrauen des rechtschaffenen Kohlhaas in die staatlichen Institutionen, die als Garanten der Rechtssicherheit gelten, wird erschüttert. Da er aufgrund seines ausgeprägten Rechtsgefühls das Versagen der Justiz nicht akzeptieren kann, entschließt er sich dazu, sich selbst sein Recht zu verschaffen. Dabei verstößt er, wie der Erzähler deutlich herausstellt, gegen fundamentale Rechtsnormen. Sein Handeln wird als rachsüchtig, zerstörerisch und terroristisch gekennzeichnet. Das Streben nach Recht führt in einen rechtlosen, widergesetzlichen Zustand. Am Ende gewinnt Kohlhaas das Vertrauen in die Rechtsorgane zurück: da sein Gegner endlich rechtmäßig abgeurteilt wird, ist er bereit, die Strafe für seine eigenen Verbrechen auf sich zu nehmen. Indem der Text eine problematische Verbindung von Eigenschaften einzelner Personen (Gerechtigkeit als Rechtschaffenheit) und bestimmten gesellschaftlichen Zuständen (Garantie der Rechtssicherheit durch die staatlichen Organe) herausstellt, regt er im Sinn der Kantischen Bestimmungen zur Reflexion an. Der Text kann Anstoß dazu sein, angesichts eines krassen Falls nach einem angemessenen Begriff zu suchen. Demnach würde durch Kleists Text die reflektierende Urteilskraft der Leser aktiviert. In welcher Weise ist die Erzählung aber als Darstellung einer ästhetischen Idee zu begreifen, das heißt an welchem Punkt werden solche Vorstellungen wichtig, die ihrerseits nicht restlos auf den Begriff gebracht werden können?
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Bisher wurde eine grobe Skizze der Kleistschen Novelle gegeben. Nun ist dieses Schema in der Tat in wesentlicher Hinsicht zu grob. Ich möchte hier nur auf einen Punkt eingehen, der in Hinblick auf die gestellte Frage nach der Möglichkeit von Kants Konzept der ästhetischen Idee her einzelne Kunstwerke zu betrachten, relevant ist. Gegen Ende der Erzählung tritt mit der Figur der Wahrsagerin ein Element des Phantastischen in den ansonsten äußerst prosaischen Textzusammenhang. Ohne auf die Feinstruktur der Novelle eingehen zu können, kann man festhalten, daß durch diesen Erzählstrang eine neue Ebene innerhalb der Narration eröffnet wird. Das Ende der Erzählung erscheint vor diesem Hintergrund in einem schillernden Licht. Der Augenblick, in dem Kohlhaas von der Bestrafung seines Gegners erfährt, geht dem Moment unmittelbar voraus, in dem er sich selbst dem Todesurteil unterwirft. Die dramatische Zuspitzung wird aber dadurch verschärft, daß eine weitere Figur in diese Schluß szene verwickelt ist. Es handelt sich um den Kurfürsten von Sachsen, den Repräsentanten der staatlichen Organe, deren Versagen für die Ausschreitungen des Kohlhaas auslösend gewesen war. Kohlhaas ist im Besitz eines Zettels, auf den eine Wahrsagerin eine Mitteilung gekritzelt hat. Der Kurfürst glaubt, dieser Mitteilung entscheidende Informationen über die Zukunft seines Landes entnehmen zu können. Kurz vor seiner Hinrichtung vernichtet Kohlhaas vor den Augen des entsetzten Fürsten dieses Papier. Wie diese Szene verstanden werden soll, bleibt im Text letztlich offen. Soviel ist allerdings klar: aufgrund einer phantastisch anmutenden Handlungsführung wird nicht nur dem Helden Gerechtigkeit zuteil, der Held selbst scheint den Souverän zu strafen. Die Ambivalenz des Texts ist beabsichtigt. Seine Widerständigkeit gegen eine glatte Lösung, die Polysemie der genannten Partien kann als ein semantischer Mehrwert verstanden werden, der im Sinn der Kantischen Ausführungen zur ästhetischen Idee als Begriffserweiterung zu begreifen wäre. Dieses Beispiel sollte andeuten, daß von Kants Konzept der ästhetischen Idee her eine wesentliche Leistung künstlerischer Darstellung in den Blick kommt. Man kann also feststellen, daß Gadamers Interpretation den in der Konzeption des Geschmacksurteils enthaltenen Erkenntnismomenten nicht gerecht wird. Dies ist umso erstaunlicher, als Gadamer gerade den Geschmack als wichtiges Beurteilungsvermögen gewürdigt hat. Offenbar führt Gadamers Versuch, Kants Position als Ausgangspunkt des im 19. Jahrhundert dominierenden Subjektivismus darzustellen, zu einer Ausblendung der sich nicht in dieses Bild einfügenden Aspekte der KU.40
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Darüber hinaus werden auch die in den kunstspezifischen Erörterungen Kants gegebenen Hinweise auf Erkenntnisweisen der ästhetischen Erfahrung vernachlässigt. Kants Rede von den ästhetischen Ideen ist - entgegen Gadamers Auffassung - gerade in Hinblick auf solche Gegenstände sinnvoll, die nicht mehr umstandslos als abgeschlossene Werke mit einer der Intention des Autors nach kohärenten und klaren Bedeutung zu begreifen sind. Gerade mit solchen Gegenständen hat sich aber jeder Kunstrezipient zu befassen, wenn er sich nicht auf die Wahrnehmung einer begrenzten Klasse von Kunstwerken beschränken will, denen angeblich eine eindeutige Bedeutung zugeschrieben werden kann. Spätestens an der Erfahrung von Werken nicht-darstellender Künste (Architektur, absolute Musik, abstrakte Malerei, moderner Tanz) wird die Stärke des Kantischen Ansatzes beim Rezipienten und die Bedeutung des Konzepts der reflektierenden Urteilskraft offensichtlich. 41 Der Umstand, daß man in Hinblick auf solche Gegenstände auf die KU und ihren Begriff der reflektierenden Urteilskraft zurückgreifen kann, relativiert Gadamers Position. Es trifft nicht zu, daß Kant der ästhetischen Einstellung und der Kunst jede Erkenntnisbedeutung absprichr'2, er spricht nur nicht von der Wahrheit, die Gadamer sucht.
1.1.3. Autonomie der Kunst und Erlebnisästhetik 1.1.3 .1. Autonomie und Ästhetizismus Bei Kant wird die ästhetische Einstellung deutlich von anderen Verhaltensweisen unterschieden. Dennoch spricht Gadamer in Hinblick auf Kant noch nicht von der Ausbildung eines ästhetischen Bewußtseins und einer völlig autonomen Kunst. Das hängt mit der Rolle des Geschmacks in der KU zusammen, der als Urteilsvermögen in vielfältigen und ganz alltäglichen Situationen seine Funktion ausübt. So ist es die gerade bei Kant berücksichtigte Nachbarschaft der ästhetischen Einstellung und lebenspraktischer Gesichtspunkte, die eine Rede von einem ästhetischen Bewußtsein noch nicht als angebracht erscheinen läßt. Als Beispiel für die mögliche Mischform von Urteilen kann die Wertschätzung von Gebrauchsgegenständen dienen: ich sage, daß ich einen Pullover gern mag, weil er zweckmäßig wärmend ist (praktisches Interesse) und weil mir Farbe und Muster gefallen (positives Geschmacksurteil).43 Von Kant her gesehen ist der Sachverhalt, daß das positive Geschmacksurteil
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gleichzeitig mit der Anerkennung angeme&sener Zweckerfüllung ausgesprochen werden kann, völlig unproblematisch. Die Rede von der Reinheit des Geschmacksurteils dient Kant dazu, die Unabhängigkeit der Gründe des Geschmacksurteils aufzuzeigen und zu beweisen, daß die Erfüllung von Funktionen nie ein Grund für die Zustimmung zu einem Geschmacksurteil sein kann. Zwar mag es sein, daß praktische Überlegungen uns davon abhalten, eine ästhetische Einstellung zu einem Gegenstand einzunehmen. Dieser Umstand berechtigt aber nicht dazu, von praktischen Gesichtspunkten als Elementen der ästhetischen Einstellung zu sprechen. Kants Interesse besteht keinesfalls darin, solche Fälle als Muster ästhetischer Beurteilung auszusondern, in denen praktische Erwägungen nicht auch begleitend auftreten können. Es geht ihm im Gegenteil eher darum, die Bedeutung des Geschmacksurteils als eines integralen Bestandteils unserer Lebensvollzüge zu betonen. Daß in diesem Modell die Simultaneität praktischer Erwägungen und geschmacklicher Beurteilung keine Ausnahme darstellt, beeinträchtigt die grundsätzliche Unabhängigkeit beider Komponenten in keiner Weise. Gadamer bezieht sich mit den Ausdrücken »ästhetisches Bewußtsein«, »ästhetische Unterscheidung« und »Autonomie der Kunst« auf einen Standpunkt, dessen Genese er auf Schiller zurückführt. In den Briefen »Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen«44 radikalisiert Schiller den Ansatz der KU: der im Geschmacksurteil implizierte Konsens aller Mitglieder der Gesellschaft wird politisiert. Von der Übereinstimmung aller aus, die sich im ästhetischen Urteil realisiert, soll eine ideale Gesellschaft aufgebaut werden.45 In der ästhetischen Einstellung lösen sich die Gesellschaftsmitglieder aus der Befangenheit in partikulare Interessen und werden fahig, ihre Freiheit gegenseitig anzuerkennen: »Ich hoffe, Sie zu überzeugen, ( ... ) daß man, um jenes politische Problem (...) zu lösen, durch das ästhetische den Weg nehmen muß, weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freyheit wandert.«46 Die ästhetische Erfahrung und die Künste werden hier als Mittel für die Erreichung eines politischen Ziels dargestellt. Damit gerechte und vernünftige Verhältnisse eintreten, müssen die Mitglieder der Gesellschaft vernünftig handeln. Um das zu erreichen, sollen die einzelnen ihr egoistisches Verhalten zügeln und die gesellschaftlichen Gruppen ihre unterschiedlichen Interessen ohne gewalttätige Auseinandersetzungen aufeinander abstimmen. Die Handlungen sollen sich an Maximen orientieren, die dem Allgemeinwohl dienen. Durch Zwang und Gewalt ist das Ziel einer gerechten Gesellschaftsordnung nicht zu erreichen. Ein Über-
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gang ist aber dadurch möglich, daß der einzelne die Abstandnahme von eigennützigen Interessen in der ästhetischen Einstellung als lustvoll erlebt. Schiller akzentuiert das Moment der Interesselosigkeit des ästhetischen Wohlgefallens: die ästhetische Einstellung ist eine Einübung in eine nicht von egozentrischen Interessen bestimmte Haltung. Wenn das politische Problem der Einrichtung einer gerechten Gesellschaftsordnung überhaupt lösbar ist, dann, so der utopische Entwurf Schillers, dank der Emanzipation der einzelnen durch ästhetische Erziehung. Diese idealistische Vorstellung stellt eine wohl allzu schöne Alternative zu Kants nüchterner geschichtsphilosophischer Hypothese von der Annäherung an eine gerechte Gesellschaftsordnung dank eines das menschliche Zusammenleben prägenden Antagonismus' dar47, sie ist aber nur die eine Hälfte der in den Briefen zur Darstellung kommenden Kunstauffassung. Innerhalb der Briefsammlung findet eine Akzentverschiebung statt, die die politische Funktion der ästhetischen Erfahrung abschwächt und die Konzeption einer autonomen Kunst entwickelt. Durch die Hervorhebung der Unabhängigkeit und Eigengesetzlichkeit der Kunst wird aber ihre Verbindung zu anderen Kulturbereichen problematisch. Die Ausgrenzung der Kunst vollzieht Schiller zunächst mit Hilfe der Kategorien Spiel, Schein, Schönheit. Der Gegensatz zur Lebenswirklichkeit und nicht die Funktion der Künste für und in der Praxis rücken in den Vordergrund. Gadamer konzentriert sich auf diesen zweiten Aspekt der Schillerschen Abhandlung: die Autonomiethese begründe den »Standpunkt der Kunst«, wer ihn einnehme, interessiere sich ausschließlich für ein Objekt als Kunstwerk und klammere ethische, religiöse, ökonomische u.a. Gesichtspunkte aus: »Die Abstraktion des ästhetischen Bewußtseins vollbringt insofern eine für es selbst positive Leistung. Sie läßt sehen und für sich sein,was das reine Kunstwerk ist. Ich nenne diese seine Leistung die >ästhetische Unterscheidung< ( ... )«48 »Ästhetisches Bewußtsein«, »ästhetische Unterscheidung« und »Autonomie der Kunst« sind nun nicht nur Begriffe, die sich auf die Kunsttheorie Schillers und seiner Nachfolger beziehen, sie bilden auch eine historische Entwicklung ab. Gadamers Ausführungen sind hier äußerst knapp gehalten, aber er verweist zumindest auf einen Sachverhalt, der als Ausdifferenzierung eines Teilbereichs »Kunst« bezeichnet werden kann: seit dem Ende des 18. Jahrhunderts entstehen verschiedene Institutionen, die einen neuen Umgang mit Kunstwerken ermöglichen.
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In einer ersten Version ist die Autonomiethese demnach ein sozialgeschichtlicher Befund, der festhält, daß in einem bestimmten Zeitraum Gegenstände aus ihrem Sitz im Leben herausgehoben werden und als }reine< Kunstwerke an einem oft speziell für die Kunstbetrachtung errichteten Ort49 plaziert werden: Altarbilder werden im Museum ausgestellt50, die griechische Götterstatue siedelt aus dem Tempelbezirk in das Antikenmuseum übe~l, die Kantate erklingt im Konzertsaal, das Theater führt Werke verschiedenster Epochen auf. Auch die Produktionsbedingungen verändern sich: an die Stelle direkter Aufträge, die die Künstler von der Kirche und einem primär aristokratischen Publikum erhalten, tritt der Kunstmarkt. Professionalisierung und Spezialisierung der künstlerischen Berufe, die Ausbildung in Konservatorien und Akademien prägen den Kunstbetrieb des 19. Jahrhunderts, zu dessen tragender Schicht das Bürgertum wird. Gadamers Äußerung: }}Der freie Künstler schafft ohne Auftrag«52, die sich auf diese Veränderungen des Kunstbetriebs bezieht, ist allerdings mißverständlich. Zwar verlieren die Künstler ihre direkte Abhängigkeit von einzelnen Dienstherren (schwindende Bedeutung der Funktionen des Hofrnalers, Hofdichters, Hofkapellmeisters), aber die Orientierung an der Nachfrage auf dem Kunstmarkt, den Wünschen der Kundschaft und die fortdauernde Bedeutung der Auftragsarbeit kann nicht übersehen werden. Nicht nur ein Großteil der Produktion Mozarts53 oder Balzacs ist direkt absatzorientiert, auch später arbeiten Künstler für bestimmte Auftraggeber (zum Beispiel Brahms, Strawinsky oder Bart6k). Die Verhältnisse sind je nach Kunstgattung und Region unterschiedlich, so daß Generalisierungen kaum möglich sind. Auch für die Literatur spielt die Orientierung am Markt eine wesentliche Rolle. 54 Der }}freie Künstler« in Gadamers Sinn, wenn es ihn denn jemals gegeben haben sollte, ist mit Sicherheit eine Ausnahmeerscheinung. Die Rede von der Autonomie der Künste betrifft nicht nur die Sozialgeschichte; sie bezieht sich auch und zunächst auf die Abwendung zahlreicher Artisten von didaktischen oder moralischen Zielsetzungen für die Künste, wie sie zum Beispiel in den Aufklärungspoetiken formuliert worden waren. Das Kunstwerk soll nicht mehr in erster Linie dem Zweck der Belehrung oder Ermahnung dienen, es soll in ästhetischer Betrachtung gefallen. Wenn es darüber hinaus auch noch belehrend wirkt, umso besser. Die Betonung der Autonomie der Künste kann aber in einer extremen Fassung zu einer rigiden Verbannung aller außerkünstlerischer Gesichtspunkte übersteigert werden. Dies ist ansatzweise noch als Reaktion der
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Künstler gegen die Konfrontation mit penetranten moralischen, religiö-. sen oder politischen Ansprüchen zu erklären. 55 In ihren radikalen Versionen wird diese Haltung als Ästhetizismus bezeichnet. Dieser führt die Autonomiethese nicht mehr nur als Argument gegen kunstfremde Ansprüche an, sondern hält ausschließlich künstlerische Gesichtspunkte für relevant. Mit einer solchen Überbewertung der Künste droht deren Verbindung zu anderen Lebensbereichen abgeschnitten zu werden56 , teilweise wird sogar die Forderung erhoben, das Leben solle zur Kunst werden. Die Aporien dieser Tendenz hat die Literatur selbst offengelegt und den weltfremden Ästheten den Prozeß gemacht. 57 Der Ästhetizismus vertritt, oft im Bewußtsein der eigenen Machtlosigkeit hinsichtlich der sozialen und politischen Verhältnisse, einen elitären Anspruch, der das Heiligtum der Kunst vor der Profanation durch die modeme Massengesellschaft schützen wilp8 Gegenüber einem solchen Extremismus und falsch verstandener Autonomie kann man darauf verweisen, daß die Eigenart zahlreicher Werke der Modeme, deren Autoren mitunter selbst einen starken Autonomieanspruch vertraten, nicht darin besteht, Evasionsräume für verträumte Ästheten zu kreieren und jegliche Verbindung zur sozialen Wirk1ichkeit zu negieren, sondern gerade dank der künstlerischen Unabhängigkeit neue Sichtweisen aufzuzeigen, um sich auch subversiv auf geltende Ansichten und Normen beziehen zu können. 59 Man kann die Gadamerschen Ausführungen zum »ästhetischen Bewußtsein«, zur »ästhetischen Unterscheidung« und zur Autonomie der Kunst dahingehend zusammenfassen, daß der Rezipient alltägliche Interessen suspendiert und sich ausschließlich dem Kunstwerk als solchem zuwendet. Der Betrachter wird durch verschiedene Institutionen und Rituale (Schulunterricht, Museums-, Theater-, Konzertbesuch) mit den Werken bekannt und lernt, wie die Kunst genossen wird. Häufig werden die Werke dabei als Zeugen vergangener Zeiten wahrgenommen, in die sich der Betrachter, Leser oder Hörer imaginativ zurückversetzt.
1.1.3.2. Die Grenzen der Erlebnisästhetik Gadamer kritisiert diese Entwicklung, wobei er sich verschiedenartigen theoretischen Ansätzen zuwendet und nicht auf der empirischen Ebene der Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts arbeitet. 60 Seine Gegenthese
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betont die Mängel einer Haltung, in der der. Rezipient seine eigenen Maßstäbe außer Kraft setzt und sich in die Welt des Kunstwerks einfühlt, anstatt die Bedeutung des Werks für sein eigenes Weltverständnis zu erkennen. Das episodenhafte Leben in der Welt großer Werke verzichtet auf ein angemessenes Verstehen und verfehlt in der scheinbaren Unmittelbarkeit des Kunstgenusses die wesentlichen Möglichkeiten der Kunst. Seine Kritik an der als Erlebnisästhetik bezeichneten Auffassung stützt Gadamer auf einen Exkurs zur Wort- und Begriffsgeschichte von »Erlebnis«.61 Er zieht eine Verbindungslinie von der Kantischen Subjektivierung der Ästhetik zu einem nachkantischen Geniebegriff, vor dessen Hintergrund die Produktion eines Kunstwerks durch Erlebnisse des Künstlers bestimmt erscheint, und zu erlebnis ästhetischen Vorstellungen von der Rezeption als Erleben, als Nachvollzug der Erfahrungen des Autors und Einfühlung in das Werk. Hier wird deutlich, daß Gadamers Kant-Kritik durch die Einseitigkeiten und Schwächen späterer Positionen, die Kantische Überlegungen weiterentwickeln und verändern, motiviert ist. So berechtigt die Lektüre Kants mit Blick auf die Folgen auch sein mag, so bleiben Zweifel daran bestehen, ob eine philosophische Theorie deshalb kritisiert werden muß, weil sie durch Nachfolger in fragwürdiger Weise transformiert wurde. Es scheint mir wichtig zu sein, gegen die Tendenz von Gadamers Darstellung nochmals zu betonen, daß der Subjektivismus der KU von den subjektzentrierten Ästhetiken des 19. Jahrhunderts abzuheben ist. Gadamer möchte die Grenzen der Erlebnisästhetik aufzeigen. Im Grunde genügt es, ein einziges Beispiel anzuführen, das nicht als Ausdruck von Erlebnissen des Künstlers verstanden werden kann, um die Begrenztheit dieses Ansatzes zu belegen. Aber Gadamer schlägt einen anderen Weg ein. Er stellt die Behauptung auf, daß der Symbolbegriff wie ihn J.W. Goethe in seinen Reflexionen formuliert hat, an die Erlebnisästhetik gekoppelt sei. 62 Gegen diese Allianz von Erlebnis und Symbol führt Gadamer die Allegorie ins Feld, deren Bedeutung rehabilitiert werden soll. Gadamer will also zeigen, daß die Allegorie nicht in den Bezugsrahmen der Erlebnisästhetik integriert werden kann und daß sie darüberhinaus eine wichtige Form künstlerischer Darstellung ist. Auf diesem Weg sollen die Grenzen der Erlebnisästhetik dokumentiert werden. Die These von der Begrenztheit der Erlebnisästhetik ist nicht nur in Hinblick auf populäre Vorstellungen über die Künste, sondern auch bezüglich der großen Bedeutung, die diese Auffassung in den Literaturwissenschaften besaß, von Interesse. 63
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Gadamer stellt fest, daß die Ausdrücke »Allegorie« und »Symbol« eine Vielzahl von Bedeutungen besitzen und erst gegen Ende des, 18. Jahrhunderts als gegensätzliche Begriffe gebraucht werden. Bezeichnend für die wachsende Bedeutung des Symbolbegriffs ist, daß er zur zentralen poetologischen Kategorie in Hinblick auf Goethes Werk avanciert und in den literaturästhetischen Überlegungen der Zeit ein oft diskutierter Gegenstand ist. Goethes erste Reflexionen über das Symbol finden sich in einem Brief an Schiller vom 17. August 1797. Gadamer zitiert aus dem Schreiben und erwähnt, daß Goethe hier überhaupt nicht vom Symbol als einem kunsttheoretischen Begriff spricht, sondern in sehr allgemeiner Weise über eine bestimmte Form der Wirklichkeitserfahrung berichtet. 64 Goethe spricht sich über Erfahrungen aus, die er nach langer Abwesenheit von seiner Heimatstadt Frankfurt anläßlich eines Besuchs macht. Vieles ist fremd geworden, vieles hat sich verändert. Eine sentimentalische Stimmung bemächtigt sich des Besuchers: »Ich habe ( ... ) die Gegenstände, die einen solchen Effekt hervorbringen, genau betrachtet und zu meiner Verwunderung bemerkt, daß sie eigentlich symbolisch sind. Das heißt, wie ich kaum zu sagen brauche, es sind eminente Fälle, die, in einer charakteristischen Mannigfaltigkeit, als Repräsentanten von vielen andern dastehen, eine gewisse Totalität in sich schließen, eine gewisse Reihe fordern, Ähnliches und Fremdes in meinem Geiste aufregen und so von außen wie von innen an eine gewisse Einheit und Allheit Anspruch machen.«65 Anhand zweier Beispiele präzisiert Goethe diese Redeweise von symbolischen Gegenständen: »Bis jetzt habe ich nur zwei solcher Gegenstände gefunden: den Platz auf dem ich wohne, der in Absicht auf seine Lage und alles dessen, was darauf vorgeht, in einem jeden Momente symbolisch ist, und den Raum meines großväterlichen Hauses, Hofes und Gartens, der aus dem beschränktesten, patriachalischen Zustande, in welchem ein alter Schultheiß von Frankfurt lebte, durch klug unternehmende Menschen zum nützlichsten Waren-und Marktplatz verändert wurde. Die Anstalt ging durch sonderbare Zufälle bei dem Bombardement zugrunde und ist jetzt, größtenteils als Schutthaufen, noch immmer das Doppelte dessen wert, was vor elf Jahren von den gegenwärtigen Besitzern an die Meinigen bezahlt worden. Insofern sich nun denken läßt, daß das Ganze wieder von einem neuen Unternehmer gekauft und hergestellt werde, so sehn Sie leicht, daß es, in mehr als Einem Sinne, als Symbol vieler tausend andern Fälle, in dieser gewerbereichen Stadt, besonders vor meinem Anschauen dastehen muß.«66
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Überraschenderweise ist hier keineswegs von »poetischen« Gegenständen die Rede, Goethe bezieht sich vielmehr auf die ökonomischen Verhältnisse des Lebens in einer großen Stadt. Er beschreibt bestimmte Vorgänge, die ihm signifikant in Hinblick auf die Veränderungen einer Lebensform erscheinen und ist darüber erstaunt, daß sich der Marktwert eines Grundstücks in verhältnismäßig kurzer Zeit verdoppeln kann, obwohl der Gebrauchswert des Anwesens durch Zerstörung stark beeinträchtigt ist. Die beschriebenen Sachverhalte scheinen ihm symptomatisch zu sein, er nennt sie symbolisch. Diese erste Ausführung Goethes über symbolische Gegenstände stellt zwar eine Verbindung zwischen seinen persönlichen Erfahrungen und dem Symbol her, aber sie kann keineswegs für die von Gadamer angesprochene Allianz von Symbol und Erlebnisästhetik dienen, denn offenbar handelt es sich hier noch gar nicht um einen spezifisch ästhetischen Symbolbegriff. Die symbolischen Gegenstände des zitierten Schreibens sind nicht Symbole in dem später in Hinblick auf Goethes Werke gebräuchlichen Sinn. Goethe selbst räumt dieser ersten Reflexion über das Symbol offensichtlich keine große Bedeutung ein: bereits nach acht Tagen scheint sie vergessen und er schreibt, dem allgemeinen und undifferenzierten Sprachgebrauch der Zeit gemäß, an Schiller über symbolische und allegorische Darstellungen auf Kupferstichen. 68 Der Aufstieg des Symbols zu einem wichtigen literaturästhetischen Begriff erfolgt also keineswegs kontinuierlich. Verschiedene Symbolkonzeptionen Goethes sind zu unterscheiden und gegen den Symbolbegriff Schillers und anderer zeitgenössischer Autoren abzusetzen. 69 Verallgemeinernd kann man sagen, daß die Kritik an einer ganz bestimmten Form allegorischer Darstellung in bildender Kunst und Literatur zu einer Gegenüberstellung des Symbols und der Allegorie als unvereinbaren Verfahren führt. Die neue Kunstauffassung profiliert sich, indem sie die artifiziellen Allegorien der Tradition als unnatürlich und ausdruckslos verurteilt. Gadamer stellt generalisierend fest: »( ... ) die Abwertung der Allegorie war das beherrschende Anliegen der deutschen Klassik.« 70 Als Beispiel für die kritisierten Allegorien kann man die Personifikationen abstrakter Begriffe anführen, etwa die plastische Darstellung des Begriffs Gerechtigkeit durch eine Frauengestalt, die eine Waage in Händen hält. 7l Um die Bedeutung dieser Figur zu verstehen, muß man die Bedeutung des Attributs (Waage) kennen, man muß das betreffende Element der Darstellung decodieren. Wenn der Betrachter den betreffenden
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Code nicht kennt, bleibt die Bedeutung der Darstellung unzugänglich. Der Signifikant und das Signifikat stehen in keiner direkt motivierten Beziehung zueinander. Mit einer solchen Darstellungsweise wird das symbolisierende Verfahren kontrastiert. Im Fall des Symbols soll keine >verstandesmäßige< Decodierung notwendig sein, da die Beziehung von Signifikant und Signifikat als unvermittelt, direkt und motiviert gedacht ist. Der Symboliker verneint den Zeichencharakter des Symbols und redet vom »Zusammenfall von sinnlicher Erscheinung und übersinnlicher Bedeutung«.72 Läßt man solche problematischen Wendungen beiseite, so wird zumindest verständlich, daß dann von symbolisierenden Darstellungen oder Redeweisen gesprochen wird, wenn Bedeutung nicht auf Grund spezifischer Codes generiert wird, sondern wenn der Künstler in weitaus stärkerem Maß als der Allegoriker versucht, an allgemeines Wissen, bekannte Darstellungsverfahren und die natürlichen Sprachen anzuschließen. Ein Beispiel mag das erläutern: anders als die bildliche oder plastische Personifikation des Abstraktums >Gerechtigkeit< ist die Bedeutung einer Frauenstatue, die ein epochenspezifisches Schönheitsideal verkörpert und deren Nacktheit darauf hinweist, daß hier kein bestimmtes Individuum porträtiert werden soll, ohne große Mühen verständlich. Die Wahrnehmung des dargestellten Körpers als schöner Frauengestalt verlangt nicht die Kenntnis eines bestimmten Codes. Natürlich benötigt der Betrachter ein kulturspezifisches Wissen um zu erkennen, was er sieht.73 Dennoch besteht ein beträchtlicher Unterschied zwischen der symbolisierenden Darstellung weiblicher Schönheit und der allegorischen Darstellung des Begriffs der Gerechtigkeit. Anband der gegebenen Beispiele kann eine weitere Eigentümlichkeit des Verhältnisses von Allegorie und Symbol erörtert werden. Unter bestimmten Voraussetzungen mag es durchaus angebracht sein, in Hinblick auf die Darstellung einer schönen Frau zu sagen, es handele sich um eine Personifikation des Begriffs >weibliche Schönheit<, mithin um eine allegorische Darstellung. Was wird aber unter diesen Umständen aus der eben eingeführten Unterscheidung von Symbol und Allegorie? Offenbar handelt es sich im Fall der Allegorie und des Symbols nicht um zwei grundsätzlich getrennte, stets eindeutig zu unterscheidende, unvereinbare Arten der Bedeutungskonstitution. Tatsächlich sind zahlreiche Misch- und Übergangsformen möglich. Allgemeine Aussagen über die Allegorie und das Symbol ohne Bezugnahme auf begrenzte Epochen, Gattungen und Medien führen stets zu Konfusion. In Hinblick auf die
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gegebenen Beispiele ist es sicher auch keine glückliche Lösung, die Personifikation weiblicher Schönheit als »symbolische Allegorie« von der »allegorischen Allegorie« der Gerechtigkeit abzusetzen. 74 Am plausibelsten scheint die Auffassung, daß die Allegorie und das Symbol unterschiedliche Möglichkeiten der Bedeutungszuordnung zu Zeichen oder Zeichenkonfigurationen benennen: im Fall der Allegorie ist die Bedeutung meist auf Grund eines bestimmten Codes festgelegt, das Symbol hingegen verbirgt s.eine Zeichenhaftigkeit, intendiert eine unvermittelte Präsenz der Bedeutung.15 Selbst wenn man, wie Gadamer, die Untersuchung auf einen relativ eng begrenzten Zeitraum (»das Jahrhundert Goethes«76) einschränkt, bleiben die Verhältnisse verworren genug. Die Schwäche von Gadamers Ausführungen besteht darin, daß er ausschließlich auf der Ebene der Poetik, Kunsttheorie und Philosophie arbeitet, ohne die künstlerische Produktion selbst zu beachten. Dies wäre unproblematisch, wenn die theoretischen Diskurse die künstlerische Praxis lückenlos abdecken würden. Davon kann man aber nicht ausgehen, da sie häufig in Widerspruch zu den Werken der Künstler stehen. Gadamer präpariert den Gegensatz von Allegorie und Symbol als Spezifikum der Weimarer Klassik heraus. Er unterläßt es aber, zwischen verschiedenen Formen der Allegorie und des Symbols in bildender Kunst und Literatur zu unterscheiden und spricht vom Symbol als Einheit von Bild und Bedeutung. 77 Sein Symbolbegriff bleibt damit trotz der umfangreichen begriffsgeschichtlichen Recherchen vage und lebt allein von dem Kontrast zur Allegorie. Dieses Ergebnis ist unbefriedigend, zumal die Dichotomie von Allegorie und Symbol- wie Gadamer selbst konstatiert - durch einen uneinheitlichen Sprachgebrauch ständig unterlaufen wird. Darüber hinaus machen verschiedene Zeitgenossen Goethes von allegorischen Verfahren Gebrauch (Jean Paul, C.Brentano), und schließlich wird Gadamers These von der Unvereinbarkeit der Allegorie und des Symbols in der Weimarer Klassik durch die Tatsache erschüttert, daß Goethe selbst allegorische Verfahren massiv einsetzt und zwar nicht in peripheren Produkten, sondern im zweiten Teil des Faust,78 In einem Gespräch sagt Goethe beispielsweise über eine Figur des zweiten Teils des Faust-Dramas: »Der Euphorion (... ) ist kein menschliches, sondern nur ein allegorisches Wesen. Es ist in ihm die Poesie personifiziert, die an keine Zeit, an keinen Ort und an keine Person gebunden ist.«79 Daß solche allegorischen Darstellungen einen erheblichen Aufwand an Entschlüsselungsarbeit vom Rezipienten verlangen, war Goethe
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durchaus klar: »Ja (... ) die Philologen werden daran zu tun fmden.«80 Von einer Unvereinbarkeit des Symbols und der Allegorie kann zwar hinsichtlich wesentlicher Stücke der Kunsttheorie der Weimarer Klassiker mit guten Gründen gesprochen werden, die künstlerische Praxis hält sich jedoch nicht an solche theoretischen Bestimmungen. Die Überlegungen zum Begriff der Allegorie und des Symbols haben weit weg von der Frage nach der Kritikwürdigkeit erlebnisästhetischer Vorstellungen geführt. Dieser Umweg mußte eingeschlagen werden, um die Schlüssigkeit von Gadamers Ausführungen beurteilen zu können. Ausgehend vom Autonomiebegriff wurden Veränderungen des Kunstbegriffs und -betriebs seit dem Ende des 18. Jahrhunderts dargelegt und die Verbindung zwischen Gadamers Autonomiethese und seinem Konzept der Erlebnisästhetik herausgearbeitet. Die Auseinandersetzung mit Gadamers Kritik der Erlebnisästhetik erwies sich als besonders mühsam, weil Gadamer nicht direkt bestimmte Elemente der Erlebnisästhetik angreift, sondern von einer Verbindung der Erlebnisästhetik und des Symbolbegriffs ausgeht. Das Vorhaben, die Erlebnisästhetik über eine Kritik am Symbolbegriff zu attackieren, scheitert an den Inkonsistenzen dieser Begriffe und an der Unhaltbarkeit der postulierten Allianz von Erlebnisästhetik und symbolisierender Kunst. Die zur Gegeninstanz des Symbols und der Erlebnisästhetik erhobene Allegorie kann sinnvollerweise nicht als Gegensatz des Symbols, sondern als spezifische Form der Bedeutungskonstitution von Zeichenkonfigurationen verstanden werden.
1.1.4. Zusammenfassung Der Rekurs auf »humanistische Leitbegriffe«, mit dem Gadamers Erörterungen einsetzen, ist in doppelter Hinsicht von Belang. Er steht einerseits im Dienst einer »Transzendierung der ästhetischen Dimension« und soll die Erarbeitung eines Kunstbegriffs vorbereiten, der nicht länger durch die Einseitigkeiten und Aporien der Autonomie- und Erlebnisästhetik belastet ist. Zu diesem Zweck dokumentiert Gadamer am Beispiel der Begriffe }}sensus communis«, Urteilskraft und Geschmack einen Prozeß der Bedeutungsverengung und Spezialisierung, der zum Erlöschen der Erkenntnisrelevanz dieser Begriffe oder der durch sie bestimmten Fähigkeiten führt. Am deutlichsten wird diese Transformation am Beispiel des Geschmacksbegriffs, dessen politisch-praktische Dimension zunehmend zugunsten einer rein ästhetischen Bedeutung ausgeblendet wird.
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Andererseits tangiert der Rekurs auf die humanistische Tradition auch die Problematik des Wissenschafts verständnisses der Geisteswissenschaften. Gadamer bemüht sich darum, vorgebliche Hegemonieansprüche der sogenannten exakten Wissenschaften zu belegen und Wege aufzuzeigen, wie gegen einen Trend der Verwissenschaftlichung und Anpassung aller Disziplinen an das einseitige Ideal methodisch fortschreitender Forschung eine Tradition praktischer Philosophie aufgeboten werden kann. Dieser zweite Argumentationsstrang wird erst im Rahmen der Behandlung der Grundelemente der Gadamerschen Theorie hermeneutischer Erfahrung wieder aufgegriffen. Dagegen werden die kunsttheoretischen Überlegungen durch Gadamers kritische Interpretation der Kantischen KU fortgeführt. Die Diagnose Gadamers, derzufolge der Kunst und den in ästhetischer Einstellung wahrgenommenen Gegenständen durch Kant jede Erkenntnisbedeutung abgesprochen wird, konnte nicht unwidersprochen akzeptiert werden. In Hinblick auf den Geschmacksbegriff und die kunsttheoretischen Ausführungen der KU konnte vielmehr gezeigt werden, daß Kant der ästhetischen Erfahrung durchaus eine spezifische Erkenntnisfunktion zuschreibt. Gadamers Auseinandersetzung mit den Entwicklungen der Ästhetik und Kunsttheorie nach Kant stellt die Erlebnisästhetik in den Mittelpunkt. Seine Kritik an der Erlebnisästhetik, die als eine die neuere Ästhetik dominierende Richtung aufgefaßt wird, richtet sich gegen eine Auflösung des Gehalts der Kunstwerke durch die Betonung der subjektiven Reaktionsweisen des Rezipienten. Die Argumentation gegen die Erlebnisästhetik wird von Gadamer indirekt geführt, indem er eine Verbindung von Erlebnisästhetik und symbolisierenden Darstellungsverfahren annimmt und daraufhin nicht-symbolisierende Darstellungsverfahren rehabilitiert. Diese Ausführungen Gadamers wurden kritisiert, da die zugrunde gelegten Symbol- und Allegoriebegriffe in WM nicht hinreichend geklärt sind und somit auch die Annahme einer Allianz von Erlebnisästhetik und symbolisierender Kunst, die der gesamten Argumentation zugrundeliegt, nicht tragfähig ist. Auf der Grundlage der Aufarbeitung der ästhetikgeschichtlich orientierten Einleitungsteile von WM soll im folgenden Gadamers »Ontologie des Kunstwerks« analysiert werden. Die Positionen, von denen er sich bewußt absetzen möchte, sind im Rahmen der bisherigen Überlegungen klar benannt worden. Gadamer wendet sich gegen einen subjektivistischen Kunstbegriff, gegen eine Transformation der Kunst zu einem spe-
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ziellen Sektor der Freizeit- und Vergnügungsindustrie, gegen eine Bagatellisierung der Werke durch deren Ansiedlung in einer Kunstsphäre ohne jede Beziehung zur Welt der Betrachter und gegen eine willkürliche Auflösung des Bedeutungsgehalts der Artefakte durch die Emotionen der Rezipienten.
/.2. Gadamers Kunsttheorie Die bisher besprochenen Ausführungen Gadamers zur Erfahrung der Kunst setzen sich in kritischer Absicht mit verschiedenen Kunstkonzeptionen auseinander und formulieren vorwiegend Einwände gegen deren subjektivistische Implikationen. Unter dem Titel einer »Ontologie des Kunstwerks«81 stellt Gadamer seine eigene Kunsttheorie vor. Anders als bei den bisher erörterten Kapiteln von WM, die ausgewählte theoretische Positionen in geschichtlicher Folge diskutieren und sich dabei an die Begrifflichkeit der behandelten Autoren anlehnen, ergibt sich im folgenden die Schwierigkeit, Gadamers eigenem Nachdenken und seinem - oft kritisierten82 - Sprachgebrauch gerecht zu werden. Schwierig ist dies deshalb, weil Gadamer keine Terminologie im Sinne einer festen Begrifflichkeit entwickelt, sondern mit Metaphern arbeitet, denen der Status von Begriffen zugeschrieben wird. Die so entstehenden Konzepte werden meist durch die Opposition zu kritisierten theoretischen Positionen konturiert, wobei Gadamer anzunehmen scheint, daß durch sie unerwünschte Verengungen und Einseitigkeiten vermieden werden. Darüber hinaus wird die Bedeutung dieser Metaphern meist offengelassen. Der Vorteil einer solchen Strategie liegt auf der Hand: die permanent offenen Leitmetaphern können im Gegensatz zu schwerfälligeren Begriffen mit abgeschlossener Bedeutung in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen eingesetzt werden und scheinen vor allem in dem häufig unübersichtlichen Gebiet der Kunsttheorie und Ästhetik am rechten Ort zu sein. Die Frage, ob der Wunsch nach stärkerer begrifflicher Präzision anstelle der Flexibilität von Metaphern in Hinblick auf die von Gadamer erörterten Probleme sinnvoll ist und nicht nur einer Verkennung der vorliegenden Problematik entspringt, wird erst im Anschluß an den Versuch einer Rekonstruktion der Grundzüge der Gadamerschen Kunsttheorie zu beantworten sein.
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1.2.1. Das Modell des. Spiels
Zunächst stellt Gadamer ein Modell des Spiels vor, das eine adäquate Beschreibung der Erfahrung der Kunst ennöglichen soll. Die zentrale These, die Gadamer bei seiner Wesensbestimmung des Spiels aufstellt, ist die von einem »Primat des Spieles gegenüber dem Bewußtsein des Spielenden«.83 Damit wird der Umstand hervorgehoben, daß ein Spielgeschehen aus der Perspektive eines einzelnen Spielers mitunter nicht vollständig zu erfassen ist. Die Spielordnung weist den Teilnehmern bestimmte Funktionen zu; die Spieler sind Elemente der Spielstruktur und als solche von ihr detenniniert. Sie sind allerdings die konstitutiven Elemente des Spiels insofern, als dieses selbst aus ihren Handlungen besteht. Die Unterwerfung der Spieler unter die Spielordnung wird besonders betont, da das Modell des Spiels die Aufgabe hat, den Ansatz beim Subjekt, der - wie Gadamer zu zeigen versucht hat - seit Kant die Ästhetik beherrscht, abzulösen und durch eine Ontologie des Kunstwerks zu ersetzen. 84 Die Parallelen sind deutlich: Ebenso wie der Versuch, zu erfahren, was das Wesen eines Spiels ist, erfolglos bleiben kann, wenn man Auskunft nur von einem Spieler mit beschränktem Einblick in das Spielgeschehen erhält, ebenso kann der Versuch, das Wesen der Kunst zu bestimmen, scheitern, wenn man sich etwa nur nach dem Kunstverständnis bestimmter Rezipienten ausrichtet oder diese mit ihren affektiven Reaktionen zum Zentrum des Kunstgeschehens deklariert. Gadamer will zeigen, daß Spiele komplexe Gefüge sind, deren Struktur nicht durch die bloße Berücksichtigung der Verhaltensweisen der Teilnehmer oder ihres Selbstverständnisses erfaßt werden kann. Ohne konkrete Fonnen des Spielens zu untersuchen, arbeitet Gadamer verschiedene Aspekte des Spiels heraus, wobei man G. Warnke zustimmen muß, die feststellt: »Gadamer's remarks on the similarity between playing games and reading books or experiencing art works in general are largely suggestive rather than conclusive«.85 Gadamer widmet seine Aufmerksamkeit dem Sprechen über das Spiel im allgemeinen. Diese Reflexion über das »Wesen des Spieles«86, die sich nicht in Auseinandersetzung mit einzelnen Gegenständen entfaltet, greift zunächst auf Beobachtungen des Sprechens über Spiele zurück. Dabei geht Gadamer von der nicht weiter begründeten - Feststellung aus: »Der metaphorische Gebrauch hat wie immer, so auch hier einen methodischen Vorrang.«87 Aus einigen Redewendungen (»Spiel des Lichts«, »Spiel der Wellen«) folgert er, daß »( ... ) die Spielbewegung als solche ( ... ) gleichsam ohne Substrat (ist). Es ist das Spiel, das gespielt wird oder sich abspielt - es ist
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kein Subjekt dabei festgehalten, das da spielt ( ... ) Die Seinsweise des Spieles ist also nicht von der Art, daß ein Subjekt da sein muß, das sich spielend verhält ( ... ) Für die Sprache ist das eigentliche Subjekt des Spieles offenbar nicht die Subjektivität dessen, der unter anderen Betätigungen auch spielt, sondern das Spiel selbst.«88 Die Wendung gegen einen subjektivistischen Standpunkt führt an dieser Stelle zu einer Liquidation der Subjekte. Allein aufgrund des vorher aufgestellten Postulats eines Vorrangs metaphorischer Rede gewinnt Gadamer sein Ergebnis. Der Hinweis darauf, daß die Umgangssprache durchaus Subjekte des Spiels kennt (»Hans und Peter spielen Fußball«) und nicht immer von einem selbständig ablaufenden Geschehen spricht, stellt kein triftiges Argument gegen Gadamer dar, weil er gerade die metaphorische Rede ausgezeichnet hat und davon ausgeht, daß durch sie das Wesen der Sache zum Vorschein kommt. Auf die Fragwürdigkeit der Annahme eines generellen Vorrangs metaphorischer Rede möchte ich hier nicht weiter eingehen; der entscheidende Punkt der Überlegungen Gadamers besteht darin, daß er sich gegen eine Überbewertung der Subjektivität wendet .
. 122. Mimesis: Nachahmung oder Darstellung Aus der Klasse menschlicher Spiele grenzt Gadamer einige Spiele aus, die als Darstellungen zu begreifen sind. Zu dieser Gruppe gehören die Spiele von Kindern, kultische Spiele und Darstellungen von Handlungen und Ereignissen für Zuschauer. Daß Gadamer kultische Spiele berücksichtigt, ist insofern relevant, als er hierdurch auf eine elementare Funktion des Spiels hinweist und das Spiel als eine Urform menschlichen Verhaltens belegt. Gleichzeitig trägt er damit seiner Kritik an der neuzeitlichen Ausgrenzung eines eigenständigen Bereichs der Künste Rechnung. Ein Grundzug des neuzeitlichen Kunstbegriffs soll überwunden und die Voraussetzungen geschaffen werden, um beispielsweise ein Phänomen wie die griechische Tragödie angemessen zu verstehen. Diese ist nach Gadamers Verständnis nicht als reines Kunstwerk, im neuzeitlichen Sinn dieses Begriffs, zu begreifen. Unter den als Darstellungen zu bezeichnenden Spielen kommt der Darstellung von Handlungen und Ereignissen für Zuschauer eine besondere Bedeutung zu. Bei diesen Spielen ist eine grundlegende Unterscheidung der Beteiligten in Akteure/Schauspieler und Zuschauer zu beobachten. Die Instanz des Zuschauers ist dadurch festgelegt, daß er nicht aktiv
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an der Darstellung mitwirkt, aber doch ein konstitutives Element des Spiels selbst ist und nicht etwa als völlig unbeteiligter Betrachter außerhalb des Spielgeschehens bleibt. Der Zuschauer vollzieht die Bedeutung der Darstellung mit und ist somit - in anderer Weise als der Schauspieler - Mitspieler. Mit der Formel von der Darstellung von Handlungen und Ereignissen für Zuschauer hat Gadamer eine Rohdefinition des Dramas gegeben; der Begriff der Darstellung ist aber selbstverständlich nicht nur in Hinblick auf Schauspiele, sondern ganz allgemein für die Kunsttheorie von großer Bedeutung. Gadamer möchte mit dem nächsten Schritt dem Umstand Rechnung tragen, daß Spiele allgemein - und dies gilt insbesondere für Spiele der Künste - nicht einmalige und unwiederholbare Ereignisse sind, sondern wiederholt werden können. In diesem Zusammenhang spricht Gadamer von einer» Verwandlung ins Gebilde«.89 Dadurch, daß beispielsweise der Dramentext den Wortlaut und zentrale Bestimmungen für die szenische Gestaltung festlegt und verbindlich vorschreibt, erhält das jeweilige Schauspiel seine Identität und wird prinzipiell reproduzierbar. Die fixierte Spielanweisung, der Text sichert diese Identität. Allerdings macht Gadamer deutlich, daß im Fall der reproduktiven Künste die Rede von der Identität des Werks keineswegs so zu verstehen ist, als ob die Aufführungen lediglich Wiederholungen identischer Darstellungshandlungen wären. Die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Inszenierungen wird als Entfaltung des Bedeutungspotentials des Texts akzeptiert. Mit der Rede von der Verwandlung des Spiels ins Gebilde ist eine Unterscheidungsmöglichkeit der Künste von anderen Weisen des Spiels hergestellt. Anläßlich der Rede von der Verwandlung ins Gebilde drängt sich ein Vergleich zwischen diesem Gadamerschen Beschreibungsversuch und solchen Vorstellungen auf, die das Kunstwerk als einen durch einen Künstler hergestellten Gegenstand begreifen und konstitutive Regeln der Herstellung formulieren. Als Paradigma dieses, die herkömmlichen Kunsttheorien prägenden Ansatzes, kann die »Poetik« des Aristoteles gelten. Offensichtlich ist Gadamer darum bemüht, keinerlei Verbindung zwischen seiner eigenen Auffassung und solchen mit produktionstheoretischen/poietischen Vorstellungen arbeitenden Positionen zuzulassen. Die Gründe dieser Zurückhaltung sind aus seinen bisherigen Ausführungen leicht zu erschließen. Der Zugang zu Kunstwerken im Rahmen einer poietischen Theorie impliziert in Gadamers Augen eine inadäquate Vergegenständlichung des Kunstwerks und bleibt - insofern das Werk als hergestellter Gegenstand begriffen wird - primär auf eine (technizisti-
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sche) Produktionsperspektive beschränkt. Die Bestimmung von Herstellungshandlungen und Eigenschaften des Produkts erfaßt aber den Gehalt des Kunstwerks nicht erschöpfend. Natürlich schließt Gadamer keineswegs aus, daß bestimmte Kunstwerke mit Hilfe einer poietischen Theorie erfaßt oder die gattungsspezifischen Herstellungsregeln angegeben werden können. Er ist jedoch der Ansicht, daß ein angemessenes Verständnis dessen, was Kunst überhaupt ist, worin sich Kunstwerke von anderen Produkten der Menschen unterscheiden und welche Bedeutung die Werke der Kunst für die Menschen haben können, nicht auf der Basis eines poietischen Kunstbegriffs gewonnen werden kann. Aus diesem Grund geht er vom Spiel als einer Grundform des Lebens aus und bemüht sich darum, einen Kunstbegriff zu gewinnen, der frei von den skizzierten Defiziten ist. Der Punkt, an dem Gadamer den Werkcharakter der Kunst thematisiert, ist von besonderem Interesse, da er hier in unmittelbarer Nähe zu den traditionellen produktionstheoretischen Ansätzen operiert. Er behauptet, daß die Verwandlung ins Gebilde ein Vorgang sei, den das Spiel autonom, in grundsätzlicher Unabhängigkeit von Produzenten und Rezipienten vollziehe: »Ihnen allen (i.e. den Künstlern und Zuschauern) gegenüber hat das Spiel ( ... ) eine schlechthinnige Autonomie, und eben das soll durch den Begriff der Verwandlung angezeigt sein.«90 Damit wird die bereits behandelte These vom Primat des Spiels über das Bewußtsein der Spielenden wesentlich verschärft. Das Spiel wird wenn überhaupt die Rede von einem Subjekt noch beibehalten werden kann - selbst zum Subjekt. Mir scheint diese Verschärfung deshalb problematisch zu sein, weil nun nicht mehr die Korrektur eines verzerrenden Bilds der Kunstproduktion im Vordergrund steht, sondern das Spielgeschehen selbst zu einem >Über-Subjekt< stilisiert zu werden droht. Selbstverständlich ist es ein Irrtum anzunehmen, ein Künstler schaffe vollkommen eigenständig, ~s einsames Genie, sein Werk. Diese Auffassung hat Gadamer nachdrücklich kritisiert. Es scheint aber kein Anlaß dazu zu bestehen, aus dieser Beschränkung der Autonomie des Produzenten auf eine völlige Heteronomie zu schließen. Gerade eine solche Vorstellung wird von Gadamer aber durch seine Verschärfung der These vom Primat des Spiels über die Spielenden unterstützt. Nicht vom Produzenten, nicht vom Rezipienten und schon gar nicht vom Kunstwerk als vorhandenem Gegenstand her, sondern allein vom Gehalt und von der zu vermittelnden Wahrheit aus kann - nach Gadamers Überzeugung - ein philosophisch befriedigender Kunstbegriff
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gewonnen werden, wobei allerdings nicht geklärt wird, wie denn der Bedeutungsgehalt überhaupt zugänglich werden kann. Bezüglich dieser Auffassung Gadarners sind zwei Einwände zu formulieren: 1. Grundsätzlich muß gegenüber der Gadamerschen Skepsis an produktionstheoretischen Ansätzen daran erinnert werden, daß diese Positionen keineswegs den Bedeutungsgehalt der Werke zu übersehen gezwungen sind, wie das Beispiel der Aristotelischen »Poetik« eindrucksvoll zeigt. Auf dem Weg einer Untersuchung der Prinzipien, die der Herstellung eines Werks implizit oder explizit zu Grunde lagen, kann auch die Bedeutung erhellt werden. 9J Gadarners auf den Spielbegriff gestützter Begriff von Kunst wehrt dagegen einen Zugang von der Produzenten- oder Rezipientenperspektive ab, weil entweder die Gefahr einer Verdinglichung des Kunstwerks oder einer Auflösung des Bedeutungsgehalts in Erlebnisse des Künstlers oder Betrachters drohe. Indem er ein Produktion und Rezeption übergreifendes Bild der Kunsterfahrung entwirft, in dessen Fluchtpunkt die ideelle Bedeutung des Werks liegt, hofft Gadarner einer solchen einseitigen Betrachtungsweise und ihren Gefahren zu entgehen. 2. Gadarner bemüht sich darum, produktions- und erlebnisästhetische Verzerrungen zu vermeiden und hebt deshalb als entscheidendes Moment der Kunsterfahrung den Bedeutungsgehalt oder die Wahrheit des Kunstwerks hervor. Die entscheidende Frage ist aber doch gerade, wie dieser Gehalt zugänglich wird und ob es überhaupt eine Möglichkeit gibt, zwischen angemessenen und unangemessenen Bestimmungen des Bedeutungsgehalts oder der »Wahrheit« des Kunstwerks zu unterscheiden. Um seinen Begriff des Kunstwerks genauer zu bestimmen, greift er nochmals auf die Kennzeichnung des Kunstgeschehens als Darstellung zurück. Er betont nachdrücklich, daß es einem verkürzten Kunstbegriff entspricht, die Darstellungsleistung des Werks als bloße Abbildung eines vorgegebenen Gegenstands aufzufassen. Ein solcher auf einer einfachen Nachahmungsvorstellung basierender Darstellungsbegriff verfehlt die eigentliche Leistung künstlerischer Vergegenwärtigung. Aber gerade dieser anscheinend zu einfache Nachahmungsbegriff ist ein wirkungsmächtiger Bestandteil der Kunsttheorie, seitdem er im Rahmen einer Kritik an Künstlern und Dichtem im zehnten Buch von Platons »Staat« formuliert wurde. Gadarner muß also die Unangemessenheit dieses platonischen Mimesiskonzepts deutlich machen. Er tut dies - wie so oft - nicht auf dem Weg einer direkten Widerlegung oder expliziten Argumentation für
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eine bestimmte Position, sondern durch den Versuch, eine Gegenposition überzeugend zu präsentieren. Angesichts des platonischen Mimesisbegriffs beruft er sich auf eine Untersuchung H. Kollers92 , derzufolge ditl. ursprüngliche Bedeutung des Wortes »mimesis« die der Darstellung ist, wobei eben noch nicht an eine bloß abbildende oder nachahmende Wiedergabe gedacht ist. In einem äußerst verschlungenen Gedankengang bemüht sich Gadamer daraufhin, die Darstellungsleistung des Kunstwerks gegen den platonischen Nachahmungsgedanken mit Hilfe eines anderen platonischen Konzepts, dem der Wiedererinnerung, zu bestimmen. 93 Das Resultat dieser Überlegungen besteht darin, daß Darstellung als »Erkenntnis des Wesens« bestimmt wird: »( ... ) die Darstellung des Wesens ist so wenig bloße Nachahmung, daß sie notwendig zeigend ist. Wer nachahmt, muß weglassen und hervorheben.«94 Man kann sich, noch ohne auf die speziellen Probleme künstlerischer Darstellung einzugehen, anhand einer einfachen Überlegung die Begrenztheit des Nachahmungsgedankens deutlich machen: Die scheinbar einfache Aufgabe, die eigene Lebensgeschichte zu erzählen, stellt den Erzähler vor Schwierigkeiten, die vom Gedanken der Nachahmung her kaum erfasst werden können. In diesem Fall kommt es sicher nicht auf eine vollständige Wiedergabe aller Handlungen und Ereignisse - also auf eine Nachahmung von Vorgegebenem an - , sondern auf eine Darstellung, die Wesentliches auswählt und Akzente setzt. In diesem Sinn ist die Darstellung ein Offenlegen des Wesentlichen. Und dies gilt nicht nur für den skizzierten Fall der Erzählung der eigenen Lebensgeschichte, sondern eben in besonderer Weise für die Darstellungen der Künste, bei denen die Rede von vorgegebenen Sachverhalten oder nachzuahmenden Gegenständen noch weniger sinnvoll ist, als im Fall einer Lebensgeschichte. Mit Bezug auf die Kritik an dem Subjektivismus in der Ästhetik und Kunsttheorie, die unter dem Konzept der »ästhetischen Unterscheidung« zusammengefasst wurde, führt Gadamer seinen Gegenbegriff der »ästhetischen Nichtunterscheidung« ein. 95 Dieser Begriff soll eine angemessene Vorstellung der Kunsterfahrung möglich machen. Er besagt, daß die Betrachter von Kunstwerken zwar den Werkcharakter zur Kenntnis nehmen, daß dieses Wissen aber in Anbetracht des vermittelten Bedeutungsgehalts vollkommen in den Hintergrund treten kann: ein Theaterbesucher weiß zwar, daß ein Schauspieler die Rolle eines leidenden Tragödienhelden spielt, dieses Wissen kann aber völlig nebensächlich sein, wenn die Aufmerksamkeit ganz auf die Bedeutung des Dargestellten gerichtet ist.
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Unter idealen Bedingungen bringt sich der.Theaterbesucher während der Vorstellung den Aufführungscharakter überhaupt nicht ausdrücklich zu Bewußtsein, sondern ist ganz bei der Sache: »Es ist ein Herausfallen aus der eigentlichen Erfahrung einer Dichtung, wenn man die ihr zugrunde liegende Fabel etwa auf ihre Herkunft hin betrachtet, und ebenso ist es schon ein Herausfallen aus der eigentlichen Erfahrung des Schauspiels, wenn der Zuschauer über die Auffassung, die einer Aufführung zugrunde liegt, oder über die Leistung der Darsteller als solche reflektiert. Eine solche Reflexion enthält ja schon die ästhetische Unterscheidung des Werkes selbst von seiner Darstellung.«96 Gadamer zeichnet bezüglich der reproduzierenden Künste97 solche Aufführungen aus, die den Rezipienten die Differenz von Werk (Dramentext, Partitur) und Aufführung vergessen lassen und als »totale Vermittlung«98 gelten können. Er diskutiert die Frage, ob die Rede von einer einzigen richtigen Aufführung oder Interpretation eines Werks sinnvoll ist. Dabei bemüht er sich um eine Position, die nicht einseitig bestimmte Aspekte betont und spricht in vorsichtiger Weise davon, daß die Aufführungen oder Interpretationen nicht anhand eines festen Maßstabs beurteilt werden können, was aber keine Legitimation hermeneutischer Anarchie bedeuten soll: »( ... ) die Verbindlichkeit der Darstellung wird dadurch nicht gemindert, daß sie auf einen festen Maßstab verzichten muß. So werden wir gewiß der Interpretation eines Musikwerks oder eines Dramas nicht die Freiheit einräumen, daß sie den fixierten >Text< zum Anlaß der Erzeugung beliebiger Effekte nimmt, und werden doch auch umgekehrt die Kanonisierung einer bestimmten Interpretation ( ... ) für eine Verkennung der eigentlichen Interpretationsaufgabe halten. Eine dermaßen angestrebte >Richtigkeit< würde der wahren Verbindlichkeit des Werkes selbst nicht gerecht ( ... )«99 Diese Stellungnahme ist in Hinblick auf ein Grundproblem der Hermeneutik von außerordentlicher Relevanz. Gadamers Überlegungen zur Frage der Angemessenheit von Interpretationen schlagen einen Mittelweg ein zwischen der Vorstellung einer >objektiven< Interpretation, die den >tatsächlichen< Bedeutungsgehalt des Werks ermittelt und reformuliert, und einer Interpretation! die in eventuell willkürlicher Weise das Werk mit Vorstellungen des Interpreten >anreichert<. Gadamer stellt fest, daß die Interpreten »( ... ) sich alle dem kritischen Leitrnaßstab der >richtigen< Darstellung (... )«100 unterwerfen. Diese Formulierung stellt aber keine Anerkennung der Auffassung dar, daß ein Werk eine zeitlos gültige oder eindeutig bestimmbare Bedeutung besitzt.
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Weshalb wird diese Auffassung eigentlich abgelehnt? - Die Vorstellung, es gebe einen festen Bedeutungsgehalt von Kunstwerken und di~ Aufgabe der Interpretation bestünde darin, diesen als objektiven Sachverhalt zu ennitteln und zu vennitteln, arbeitet mit Voraussetzungen, die Gadamer als unzutreffend zurückweist. Vom Konzept des Spiels aus sollte gerade die Komplexität der Kunsterfahrung als Produktion und Rezeption umfassendes Geschehen deutlich werden, durch die wiederum eine Analyse des Werks und seiner Bedeutung unabhängig von den sinnkonstitutiven Leistungen der Rezipienten als verdinglichende Entstellung erscheint. Die Vorstellung einer Ennittlung des Bedeutungsgehalts von Kunstwerken in Analogie zur Feststellung der Eigenschaften eines vorhandenen Objekts - etwa der Größe, Farbe und des Gewichts eines Stuhls - ist nach Gadamers Auffassung vollkommen irreführend. Die Bedeutung der Kunstwerke ist nicht vorfindlich, fixierbar und zeitunabhängig, sie entfaltet sich in der Begegnung mit den Lesern, Zuschauern und Zuhörern. An dieser Stelle ist es noch nicht möglich, weitere Begründungen für die Position Gadamers in bezug auf die Frage nach einem Angemessenheitskriterium von Interpretationen zu geben, weil hierzu die Konzepte der Geschichtlichkeit, einer Logik von Frage und Antwort und das die henneneutische Erfahrung allgemein kennzeichnende Gesprächsmodell berücksichtigt werden müßen. lOl Im Augenblick kann ich lediglich den Problembereich markieren, der in Anschluß an die Erörterung der noch fehlenden Elemente der Henneneutik Gadamers erneut behandelt werden soll.
1.2.3. Tragödie Am Beispiel des Tragischen will Gadamer zeigen, in welcher Weise Kunstwerke Wahrheit vennitteln können, er möchte die »Struktur des ästhetischen Seins« erläutern. Dabei bezieht er sich nicht allein auf die Gattung der Tragödie, sondern insistiert darauf, daß auch hinsichtlich anderer literarischer Gattungen - beispielsweise in bezug auf das Epos und ganz allgemein, außerhalb der Künste, im Leben vom Tragischen gesprochen wird; es handle sich um ein »Grundphänomen«.I02 Um dieses weit gefaßte Konzept des Tragischen genauer zu bestimmen, will Gadamer zunächst den Begriff der Tragödie erörtern, um von diesem her eine Bestimmung des Tragischen vorzunehmen. Als erste Schwierigkeit begegnet hier die Verschiedenartigkeit der unter dem Gattungsnamen »Tragödie« versammelten Dramen. Das Spektrum der unter
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diesem Stichwort verzeichneten Kunstwer\ce reicht von den antiken Prototypen - den Stücken des Aischylos, Sophokles und Euripides - über so gegensätzliche Formen wie die der Tragödien Shakespeares und Racines bis zu Schauspielen, die in Anschluß an Nietzsches Vorstellung von einer aus dem Geist der Musik geborenen Tragödie entstanden. 103 Angesichts der Disparatheit dieser Werke erscheint die Frage nach einer einheitlichen Bestimmung der Tragödie fast aussichtslos. Gadamer ist sich wohl dieser Sachlage bewußt, er diskutiert diese Probleme allerdings nicht, sondern geht davon aus, daß eine Einheit der Gattung durch eine ununterbrochene Reflexion über die antiken Tragödien, eine permanente Auseinandersetzung mit diesen Texten und die Bedeutung der Aristotelischen Tragödientheorie gewährleistet sei. Gerade der Aristotelischen Tragödientheorie wird insofern eine gattungskonstituierende Funktion zugebilligt, als sie nicht nur als Beschreibung der dem Aristoteles bekannten tragischen Schauspiele aufzufassen ist, sondern ein Modell der Tragödie erstellt, das in der Folgezeit bestimmenden Einfluß erhielt: »Wenn wir bei Aristoteles einsetzen, werden wir daher das Ganze des tragischen Phänomens in den Blick bekommen.«I04 Die innerhalb der Aristotelischen »Poetik« formulierte Tragödientheorie arbeitet mit Begriffen, deren Relevanz für die Kunsttheorie kaum überschätzt werden kann, deren Bedeutung aber teilweise umstritten ist. Die zusammenfassende Bestimmung der Tragödie durch Aristoteles lautet folgendermaßen: »Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung (praxis) von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache (hedysmenos 16gos), wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden - Nachahmung von Handelnden (dr6ntes) und nicht durch Bericht (apangelia), die Jammer (eleos) und Schaudern (ph6bos) hervorruft und hierdurch eine Reinigung (katharsis) von derartigen Erregungszuständen (pathemata) bewirkt.«IOs Für Gadamer ist die Miteinbeziehung der Wirkung auf den Rezipienten in dieser Tragödiendefinition von besonderem Interesse, denn sein Modell des Spiels hatte die Bedeutung der Rezipienten herausgestellt und darüberhinaus zu zeigen versucht, daß im Fall der reproduktiven Künste die Aufführungen keine den Kunstwerken selbst äußerliche Präsentationen sind, sondern daß das Werk eigentlich erst in der Aufführung da ist. Daß Aristoteles den Bezug auf die Rezipienten zu einem wichtigen Element seines Tragödiensatzes erhebt, scheint Gadamer als Argument für seine Position verbuchen zu können. Er übergeht dabei allerdings die von Aristoteles zu Beginn des 14. Kapitels der »Poetik« geäußerte Auf-
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fassung, derzufolge die tragödien spezifische Wirkung nicht von einer szenischen Aufführung abhängt, sondern ebenso bei der bloßen Lektüre eintritt. Anders als bei Gadarner hat hier die Aufführung keinen besonderen Vorrang vor anderen Rezeptionsforrnen. I06 Zunächst kommt es darauf an, die teilweise dunklen und knappen Bestimmungen, die die »Poetik« über die Tragödie gibt, angemessen zu verstehen. Gadamer widmet seine Aufmerksamkeit der Diskussion über das Problem der Bedeutung und Übersetzung der die Wirkung der Tragödie bezeichnenden Wörter »eleos« und »ph6bos«. Dabei übernimmt er die Arbeitsergebnisse von W. Schadewaldt, der auch einen Vorschlag zum Verständnis der Rede von einer Reinigung (»katharsis«), die ebenfalls zur Wirkung der Tragödie gehören soll, gemacht hat. 107 Schadewaldt kritisiert die gebräuchliche Übersetzung von »eleos« und »ph6bos« durch »Mitleid« und »Furcht«, weil diese seit Lessing übliche Übertragung eine Abschwächung und Verinnerlichung der von Aristoteles als Wirkungen der Tragödie bezeichneten Elementaraffekte bedeute. Aristoteles spricht nicht von gemäßigten Empfindungen, sondern von starken Erregungszuständen, die sich als Jammern, Wehklagen, Seufzen und in Körperreaktionen wie Kälteschailern und Weinen äußern. lo8 Gadamer stimmt in diesem Punkt den Ausführungen Schadewaldts zu. Hinsichtlich der Erläuterung der Katharsis schlägt er allerdings einen von Schadewaldt abweichenden Weg ein. Schadewaldt hatte in Reaktion auf die vielfältigen Spekulationen zum Katharsis-Begriff eine äußerst nüchterne Erklärung angeboten: Die reinigende Wirkung der Tragödie sei keineswegs als moralisch-erzieherische Besserung der Zuschauer aufzufassen. Aristoteles schlage - im Gegensatz zu Platons Kunstkritik keinen ethisch-moralisch fundierten Kunstbegriff vor. Stattdessen beziehe sich Aristoteles auf die medizinische Erfahrung, nach der durch Ausscheidung schädlicher Stoffe aus dem Organismus eine Erleichterung des Kranken eintrete, und übertrage diese Vorstellung auf die Tragödienzuschauer: »( ... ) als Zuschauer einer Tragödie erfährt man Erregungen, nämlich solche, in denen sich einem die Haare sträuben und das Herz bebt und Tränen in die Augen treten; auch hier kehrt man, wenn die Tragödie richtig gemacht ist, am Schluß wieder in die Normallage zurück ( ... ) diese Rückkehr in die Normallage (ist) auch hier so, als hätte man eine Kur, und zwar eine >Reinigung<, wie jene medizinische erfahren: nämlich eine mit Lust verbundene ( ... )«109 Damit ist eine Antwort auf die Frage gegeben, weshalb Menschen sich freiwillig einem Geschehen aussetzen, das zunächst Schauder und
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Jamml;r, d.h. Unlust erregt. Offenbar soll di.e Rede von der Katharsis diese Frage beantworten, indem darauf verwiesen wird, daß die Tragödie am Ende den Zuschauer von dieser Unlust befreit entläßt. Es handelt sich also um ein Verfahren, das durch Formeln wie >Beruhigung durch Erregung< oder >Entlastung durch Belastung< in seiner komplexen Struktur skizziert werden kann. Mit dieser Beantwortung der Frage nach der Bedeutung der tragödienspezifischen Katharsis geht Schadewaldt nicht auf einzelne inhaltliche Momente der Tragödien ein. Gadamer behauptet nun, der von Jammer und Schauder ergriffene Zuschauer erfahre eine »schmerzhafte Entzweiung«l1O und sträube sich gegen das verhängnisvolle Geschehen auf der Bühne. Entscheidend sei aber, daß diese Entzweiung durch die das Schauspiel beendende Katastrophe aufgelöst würde: »Nicht nur von dem Banne ist man befreit, in den einen das Jammervolle und Schauerliche dieses einen Geschickes gebannt hielt, sondern in eins damit ist man von allem frei, was einen mit dem, was ist, entzweit. Die tragische Wehmut spiegelt also eine Art Affirmation (... )«111 Damit geht Gadamer deutlich über Schadewaldts Deutung der Katharsis als psychohygienischer Stabilisierung hinaus. Die genauere Bestimmung der in eine Affirmation einmündenden Katharsis wird, wie Gadamer selbst feststellt, problematisch, weil man nicht generell behaupten kann, daß der Zuschauer dem Untergang des Helden als gerechte Strafe für dessen Verfehlungen zustimmt. Es ist gerade das dem Helden widerfahrende Übermaß an Leid und Unglück, das die Tragödie im allgemeinen auszeichnet. Gadamer konstatiert, daß durch den Zuschauer dieses »Übermaß des tragischen Unheils«112 anerkannt wird: »Der Zuschauer erkennt sich selbst und sein eigenes endliches Sein angesichts der Macht des Schicksals ( ... ) Die Zustimmung der tragischen Wehmut gilt nicht dem tragischen Verlauf als solchem oder der Gerechtigkeit des Geschicks, das den Helden erreicht, sondern meint eine metaphysische Seinsordnung, die für alle gilt. Das >So ist es< ist eine Art Selbsterkenntnis des Zuschauers, der von den Verblendungen, in denen er wie ein jeder lebt, einsichtig zUTÜckkommt.«ll3 An dieser Stelle ensteht das Problem, Gadamers Rede von der Erkenntnis einer nicht näher gekennzeichneten »metaphysischen Seinsordnung« und von einer »Selbsterkenntnis des Zuschauers« zu begreifen. Ist es nicht abwegig, zu behaupten, auch noch ein Theaterbesucher unserer Tage mache eine so zu qualifizierende Erfahrung? Muß man diese These nicht auf die Antike einschränken, auf eine Epoche, in der der
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Zuschauer unter Umständen an eine fest gefügte Weltordnung glaubte und die Bestimmtheit menschlichen Lebens durch die »Macht des Schicksals« fraglos hinnehmen konnte? Und ist die Rede von einer Affirmation des Geschehens nicht allein in Hinblick auf die Sophokleischen Dramen sinnvoll, da bei anderen Autoren, beispielsweise bei Euripides, das Schicksal der Helden als nicht mehr verständliches, maßloses Übermaß des Unheils erscheint? Falls auf diese Fragen keine anderen als bejahende Antworten gefunden werden können, ist Gadamers Versuch einer Konkretisierung seiner Kunsttheorie am Beispiel des Tragischen als mißlungen anzusehen. Seine Theorie erhebt ja den Anspruch auf universale - nicht auf einzelne Epochen eingeschränkte - Geltung. Um angesichts dieser Problemlage eine Klärung zu ennöglichen, will ich mich auf eine bestimmte Tragödie, das Ödipus-Drama des Sophokles, beziehen. Welche »metaphysische Seinsordnung« kann dieses Schauspiel dem Zuschauer zu erkennen geben? Welche Selbsterkenntnis vennittelt ihm diese Tragödie? Die Eigenart der Tragödie des Sophokles besteht, im Gegensatz zu möglichen linearen Erzählungen des Lebenslaufes des Ödipus, darin, daß der mühsame Prozeß der Selbsterkenntnis des Helden, der sich das Wissen über die Bedeutung bestimmter Handlungen nachträglich erwerben muß, das Zentrum des Stücks bildet. ll4 Nicht der Vatennord oder der Inzest als Verbrechen stehen im Vordergrund, sondern eine Aufklärungsarbeit, die Ödipus selbst leistet: Er muß als Herrscher über Theben die Stadt von einer furchtbaren Pestepidemie befreien. Da er erfährt, daß die Krankheit als Strafe für den ungesühnten Mord an seinem Vorgänger Laios in der Stadt wütet, versucht Ödipus den Mörder zu finden. Das Bestreben, seine Mitbürger und sich selbst von dem Übel zu befreien, wird ihm aber zum Verhängnis: Es zeigt sich, daß er selbst derjenige ist, der Laios erschlagen hat, mehr noch, daß Laios sein Vater war und die Frau, mit der er Kinder zeugte, seine Mutter ist. Ein protokollartiges Resümee der >Tatsachen< würde den Bedeutungsgehalt des Dramas verfehlen. Für diesen ist das eigentümliche Verhältnis von Rettung und Vernichtung kennzeichnend. Ödipus ist nicht nur unwissend schuldig geworden, er geht unwissend durch seinen Versuch, dem Unheil zu entgehen, dem eigenen Untergang entgegen. Nicht ein Schicksal vernichtet ihn, sondern die aufgrund seiner eigenen Bemühungen gefundene Wahrheit. Der Erkenntnisprozeß des Helden macht die Beschränktheit des Wissens der Handelnden über die Bedeutung ihres Tuns und den Widerfahrnischarakter von Erfahrung deutlich. Mit Beschränktheit ist hier selbst-
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verständlich kein fehlender Scharfsinn geroeint: Gerade Ödipus ist als derjenige, der das Rätsel der Sphinx löste und aufgrund seiner unbeirrbaren - zur Katastrophe führenden - Wahrheitssuche eine Inkarnation der Intelligenz. Die Exemplarität der Geschichte des Ödipus liegt darin, daß die Unverfügbarkeit bestimmter Erfahrungen aufgezeigt wird. Es wird gezeigt, wie ein Mensch schuldlos schuldig wird und der Zuschauer erkennt, daß es auch für ihn keine Möglichkeit gibt, eine solche Verstrickung in Schuld aus eigener Kraft mit Sicherheit auszuschließen. Gadamers These, daß das tragische Schauspiel dem Zuschauer Selbsterkenntnis und Einsicht in Grundstrukturen menschlicher Erfahrung vermittelt, kann damit in Hinblick auf einen Prototyp der Tragödie als erwiesen gelten. Der Zuschauer kann durch das außergewöhnliche Schicksal der Helden erkennen, daß auch er selbst als Handelnder nicht völlig sicher sein kann, die Bedeutung seiner Handlungen richtig einzuschätzen, weil ihm Hintergründe unbekannt, bestimmte Aspekte verborgen sein können und mögliche Folgen nicht absehbar sind. Er kann erkennen, daß seine Entwürfe, Pläne und Handlungen in Situationen eingebettet sind, über die er nicht in dem Sinn verfügen kann wie über seine einzelnen Handlungen. Er kann zwar auf eine Veränderung dieser Situationen hinarbeiten, aber nur nachdem er zu Kenntnis genommen hat, was vorgegeben ist. Einsicht in Unverfügbarkeit allein bestimmt die Tragödie allerdings nicht hinreichend, da gerade der Umstand charakteristisch ist, daß der Betroffene diese Einsicht nur aufgrund eines leidvollen und grauenhaften Geschehens gewinnt. Ohnmacht, Not und Leiden erscheinen als konstitutive Momente der Tragödie. Die dem Zuschauer durch das Drama vermittelte Erkenntnis ist sehr allgemeiner Art und bezieht sich auf elementare Bedingungen menschlichen HandeIns. Wichtig ist der Umstand, daß dem Tragödienzuschauer diese Einsicht nicht diskursiv vermittelt wird, sondern durch die Teilnahme an der exemplarischen Geschichte eines Einzelnen gewonnen werden kann. Vielleicht stellt diese Auffassung eine überzeugende Antwort auf die Frage dar, was Gadamer meint, wenn er davon spricht, daß der Zuschauer »( ... ) sich selbst und sein eigenes endliches Sein ( ... )« erkennt und »( ... ) von den Verblendungen, in denen er wie ein jeder lebt, einsichtig zurückkommt (... )«.115 Daß das skizzierte Konzept der Tragödie insofern selektiv ist, als es eine mögliche Form der Tragödie und ihrer Rezeption auszeichnet und andere Tragödien, die sich kaum in dieses Modell integrieren lassen, aus-
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schließt, muß nicht von vornherein als entscheidender Einwand gegen Gadamers Ausführungen zählen. Selbstverständlich kann kein Zweifel daran bestehen, daß viele Zuschauer die tragische Handlung gerade nicht als exemplarisch für menschliche Erfahrung, sondern als eine Verkettung unwahrscheinlicher Begebenheiten und als exotischen Ausnahmefall betrachten, wobei die Helden und HeIdinnen der Tragödie als interessante Kunstfiguren bestaunt werden. Eine solche identifikationsvermeidende Rezeption1l6, die den Betrachter in Distanz zum Bühnengeschehen hält, wird von Gadamer der Position des ästhetischen Bewußtseins zugerechnet. Sie mißachtet den Geltungsanspruch des Schauspiels, das - nach Gadamer - beansprucht, eine verbindliche Wahrheit zu vermitteln. Als Gegenpol zu einer solchen Position kennzeichnet er die - gegenwärtig vermutlich eher seltene - Erfahrung einer »Kommunion des Dabeiseins«.1l7 Gadamer läßt keinen Zweifel daran, daß er diese nicht-distanzierte Teilnahme des Zuschauers für die angemessene Rezeptionsform hält, nur sie läßt sich auf den Geltungsanspruch der Tragödie ein, den Gadamer auf alle Kunstgattungen auszudehnen scheint: das Werk des Künstlers ist die »Darstellung einer gemeinsamen Wahrheit«.118 Ich wollte zunächst die abbreviaturartigen Überlegungen zur Tragödie eingehend untersuchen und den Begriff einer durch die Kunsterfahrung vermittelten Erkenntnis konkretisieren. Dabei ist deutlich geworden, daß die Tragödie Erkenntnis im Sinn einer Einsicht in Grundstrukturen menschlicher Erfahrung vermitteln kann. Am Beispiel der Tragödie ist eine erste Konkretisierung des von Gadamer in Hinblick auf die Künste erhobenen Erkenntnisanspruchs gelungen. Ob und wann die Vermittlung von Erkenntnis durch das Kunstwerk tatsächlich stattfindet, ist damit noch nicht geklärt. Ebenso bleibt die Frage offen, ob die Rede von der Erkenntnisvermittlung ohne Probleme von der Tragödie auf andere Kunstgattungen übertragen werden kann, was Gadamers Absicht ist, da er das Tragische lediglich als Beispiel diskutiert.
1.2.4. Mimesis und Malerei Gadamer untersucht die Frage, wie der Darstellungsmodus der Malerei gegenüber einer naiven Abbildungsauffassung sinnvoll abgehoben werden kann. Worin liegt die über eine kopierende Abbildung hinausgehende Darstellungsleistung von Gemälden? Bei dem Versuch, eine Antwort auf diese Frage zu geben, kann man auf das Spielmodell sowie die Überlegungen zum Drama als Darstellung
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von Handlungen und Ereignissen verweise~ und deren Argumente übernehmen. Im Fall der Malerei ist - ebenso wie bei literarischen Werkendie Rede von abgebildeten Objekten nicht ausreichend, um ein mehr als oberflächliches Verständnis des jeweiligen Gemäldes zu gewinnen. Hier sind, in Analogie zu dem über Selektion und Akzentuierung in Erzählungen Gesagten, Gestaltung und Faktur des Werks nicht lediglich sekundäre, von den im Bild vorhandenen Inhalten unabhängige Aspekte der Präsentation. Es genügt, sich Bilder anzusehen, die Teufel, Satyrn, Einhörner, Sphinxe oder Nymphen darstellen, um zu erkennen, daß die Rede von der Nachahmung gegebener Gegenstände durch die Malerei keine erfolgversprechende Basis für eine allgemeine Theorie der bildenden Künste bildet. Gadamer erläutert seine Gedanken anhand einer Bildgattung, bei der die Nachahmungsvorstellung besonders nahe zu liegen scheint, dem Porträt. Am Beispiel des Herrscherporträts zeigt er, daß das Bild zwar durchaus als Darstellung einer bestimmten Person verstanden werden soll. Aber es handelt sich insofern um mehr als ein bloßes Abbild, als der Herrscher selbst bestimmten Erwartungen, und zwar Erwartungen, die ihrerseits durch bildliche Darstellungen bestimmt sind, gerecht werden muß. Seine soziale Rolle ist auch durch die Darstellungsweisen der Künste, ein bestimmtes Repertoire an Mienen, Gesten und Körperhaltungen, deflniert. Tatsächlich ist der Fall des Herrscherporträts ein gutes Beispiel, um eine Nachahmung der Kunst durch das Leben zu belegen. Gerade politische Machthaber ließen sich nicht nur in Bildwerken mit charakteristischen Zeichen der Macht verewigen, sie bemühten sich auch darum, ihre alltägliche Erscheinung in Anlehnung an künstlerische Darstellungen zu gestalten. H9 Mit diesen Ausführungen scheint eine erste Zurückweisung der Abbildtheorie bezüglich der Malerei vollzogen zu sein. Gadamer bestimmt den Status der Werke der bildenden Künste darüber hinaus durch den sakralrechtlichen Begriff der Repräsentation. Durch ihn soll erfaßt werden, daß das Bildwerk stellvertretend für das Dargestellte stehen kann und nicht als lediglich verweisendes Zeichen zu begreifen ist. Damit greift Gadamer auf magische oder religiöse Bildvorstellungen zurück, die als Antithese zur Abbildvorstellung und ihrer strikten Trennung von Bild und abgebildetem Gegenstand angesehen werden können. Die magischen oder religiösen Bildauffassungen machen keine Unterscheidung zwischen dem Bild und dem Dargestellten, was beispielsweise dadurch deutlich wird, daß eine nonnverletzende Handlung (Verunreinigung, Übermalung) als Gotteslästerung gewertet wird: das Bild verweist nicht als
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Zeichen auf einen Gott oder Heiligen, dieser wird als in den verehrten Werken anwesend vorgestellt. I2O Gadamer knüpft offensichtlich an eine solche Auffassung an, wenn er sagt: »Ein Kunstwerk hat immer etwas Sakrales an sich. Es ist zwar richtig, daß ein religiöses Kunstwerk, das im Museum Aufstellung gefunden hat, oder eine Denkmalstatue, die dort gezeigt wird, nicht mehr im selben Sinne geschändet werden kann, wie ein an seinem ursprünglichen Platze gebliebenes. Aber das bedeutet nur, daß es in Wahrheit schon verletzt ist, sofern es ein Museumsstück geworden ist. Offenbar gilt das nicht für religiöse Kunstwerke allein.«121 Um die Einseitigkeit eines auf der Grundlage der ästhetischen Unterscheidung sich seit der Hochrenaissance durchsetzenden Bildbegriffs l22 zu korrigieren, skizziert Gadamer unter Verwendung neuplatonischer Ausdrücke eine Dialektik des Bildes, deren Hauptsatz lautet: »( ... ) das Urbild wird erst vom Bilde her zum Bilde - und doch ist das Bild nichts als die Erscheinung des Urbildes.«123 Auf den Fall des Herrscherporträts angewandt kann man diesem Satz die Fassung geben, daß die als entscheidend angesehenen Eigenschaften eines Regierenden in der bildlichen Darstellung deutlicher zum Ausdruck kommen können als in seiner leibhaften Erscheinung. Gleichzeitig ist die Bedeutung des Gemäldes aber dadurch mitbestimmt, daß es auf eine bestimmte Person Bezug nimmt. Mit diesem Hinweis ist allerdings die Bedeutung der Gadamerschen Dialektik des Bildes noch nicht erschöpft. »Die Bedeutung des religiösen Bildes ist ( ... ) eine exemplarische. An ihm wird zweifelsfrei klar, daß das Bild nicht Abbild eines abgebildeten Seins ist, sondern mit dem Abgebildeten seinsmäßig kommuniziert. Von seinem Beispiel her wird einsichtig, daß die Kunst überhaupt und in einem universellen Sinn dem Sein einen Zuwachs an Bildhaftigkeit einbringt. Wort und Bild sind nicht bloß nachfolgende Illustrationen, sondern lassen das, was sie dar~tellen, damit erst ganz sein, was es ist.«l24 Deutlich ist, daß Gadamer den religiösen Bildbegriff nicht nur als Korrektiv gegen die Abbildungsvorstellung einsetzt, sondern als Alternative zu der neuzeitlichen Bildauffassung des ästhetischen Bewußtseins profilieren will. Ebenso wie im Fall der Tragödie davon gesprochen werden konnte, daß durch das Drama Einsichten in Grundstrukturen menschlichen Lebens vermittelt werden, wird nun das Bildwerk als eine Darstellung verstanden, die Wesenszüge ihres Gegenstands sichtbar macht. Diese Leistung bildender Kunst wird von Gadamer nicht nur als erkenntnisvermittelnde Funktion im Hinblick auf den Betrachter hervorgehoben, sondern in einer ontologischen Wendung als »Seinszuwachs« des Gegen-
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stands selbst aufgefaßt. Um die Anknüpfung an den religiösen Bildbegriff besser zu verstehen, jst es sinnvoll, den Versuch einer Unterscheidung von Zeichen, Bild und Symbol zu referieren. Gadamer bestimmt das Zeichen als vollkommen durch seine Verweisungsfunktion bestimmten Gegenstand. Materialität und Beschaffenheit des Zeichens sind insofern als sie zur Referenzleistung nicht beitragen völlig unerheblich. l25 Als Beispiel für ein Zeichen führt Gadamer das Verkehrszeichen an, das auf eine Kurve hinweist. Ein Bild ist nach Gadamer nicht als Zeichen zu begreifen, weil es nicht ausschließlich durch eine Funktion des Verweisens, beispielsweise auf ein externes Objekt, bestimmt ist. »Das Bild ( ... ) erfüllt seine Verweisung auf das Dargestellte allein durch seinen eigenen Gehalt. Indem man sich in es vertieft, ist man zugleich bei dem Dargestellten (... ) Wir sahen, das Dargestellte kommt im Bilde zu sich selbst. Es erfährt einen Seinszuwachs. Das heißt aber, es ist im Bilde selber da (... ) Der Unterschied von Bild und Zeichen hat also ein ontologisches Fundament. Das Bild geht nicht in seiner Verweisungsfunktion auf, sondern hat in seinem eigenen Sein teil an dem, was es abbildet.«l"; Die Differenz zwischen der Referenzleistung eines Zeichens, das gänzlich durch seine Verweisungsfunktion definiert ist, und anderen Arten der Bezugnahme ist deutlich markiert. Wie ist aber die Rede von der Präsenz des Dargestellten im Bild zu verstehen? Greift man nochmals auf das Beispiel der Porträtmalerei zurück, wird verständlich, daß das Bild nicht bloß als verweisendes Zeichen (Verkehrszeichen, Paßfoto ) aufgefaßt werden kann. Es ist nicht schematisiert und streng codiert, sondern konstituiert seine Bedeutung durch komplexe und variable Darstellungsverfahren. Durch die Betrachtung des Porträts kann der Betrachter die porträtierte Person unter Umständen als fromme Christin, als wohlhabenden Bürger, als elegante Aristokratin oder als nachdenklichen Briefschreiber kennenlernen. Dabei ist die Kenntnis der dargestellten Person keine unerläßliche Voraussetzung dafür, das Bild als Porträt wahrzunehmen. Auch für einen Betrachter, der den porträtierten Menschen überhaupt nicht kennt und das Bild eventuell lange nach dessen Tod betrachtet, bleibt das Gemälde bedeutungsvoll. Hinsichtlich des Stellenwerts der externen Bezugnahrrle unterscheidet sich das Porträt also radikal von einem Verkehrszeichen. Das auf eine Kurve hinweisende Schild verliert mit einer Begradigung der Straße seine Funktion und mit seiner Hinweisfunktion seine Relevanz. Das Porträt verliert mit dem Erlöschen seiner externen Verweisung keineswegs seine Bedeutung.
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Daher kann man Gadamers Äußerung zustimmen, daß man durch Betrachtung des Bildes gleichzeitig bei dem Dargestellten sei, die Bedeutung des Bilds ist nicht durch die externe Bezugnahme erschöpft. Als Symbol bestimmt Gadamer solche Gegenstände, die stellvertretend für etwas stehen. Stellvertretung wird von Gadamer als eigenständige Form der Darstellung von der Verweisung unterschieden, indem er von der Gegenwart des Symbolisierten im Symbol spricht: »Ein Symbol also verweist nicht nur, sondern es stellt dar, indem es vertritt. Vertreten aber heißt, etwas gegenwärtig sein lassen, was nicht anwesend ist. So vertritt das Symbol, indem es repräsentiert, das heißt, etwas unmittelbar gegenwärtig sein läßt. Nur weil das Symbol so die Gegenwart dessen darstellt, was es vertritt, wird ihm selbst die Verehrung bezeugt, die dem von ihm Symbolisierten zukommt. Symbole wie das religiöse Symbol, die Fahne, die Uniform, sind so sehr stellvertretend für das Verehrte, daß es in ihnen da ist.«'27 Wenn auch Gadamers Rede von der Gegenwart eines Abwesenden im Symbol etwas mißverständlich scheint, weisen die Beispiele doch auf eine Unterscheidungsmöglichkeit von Bild und Symbol hin. Das Symbol ist ein Gegenstand, dessen Bedeutung arbiträr festgelegt ist. '2B Die Bedeutung einer Nationalflagge etwa kann nicht durch reine Kontemplation erkannt werden, man muß auf andere Weise erfahren, für was dieser Gegenstand steht. Mit den genannten Unterscheidungen glaubt Gadamer, die Begriffe des Zeichens, des Bilds und des Symbols hinreichend geklärt und damit gleichzeitig den Darstellungsmodus der Malerei angemessen charakterisiert zu haben. 129 » (... ) das Bild (steht) in der Tat in der Mitte zwischen dem Zeichen und dem SymboL Sein Darstellen ist weder ein reines Verweisen noch ein reines Vertreten. Eben diese Mittelstellung, die ihm zukommt, hebt es auf einen ganz ihm eigenen Seinsrang. Künstliche Zeichen so gut wie Symbole empfangen ihren Funktionssinn nicht wie das Bild aus ihrem eigenen Gehalt, sondern müssen als Zeichen oder als Symbol genommen werden. «130 Gadamers Rückgriff auf den religiösen Bildbegriff muß nicht zwangsläufig als ein Versuch angesehen werden, Kunstwerke in den Rang verehrungswürdiger Kultgegenstände zu erheben. Er soll vielmehr eine Alternative zum Zeichenbegriff bieten und von dieser aus die Darstellungen der bildenden Künste bestimmen. Wenn die Äußerungen über den sakralen Charakter der Kunst und die Profanation der Kunstwerke durch ihre Versetzung in Museen das Selbstverständnis des gegenwärtigen
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Lesers auch provozieren und als unhaltbare Reauratisierung erscheinen, kann man zunächst an der korrektiven Funktion dieser Überlegungen festhalten und betonen, daß sie einer Vergegenständlichung der Kunstwerke gegensteuern sollen. Die Kritik an einer solchen Vergegenständlichung der Kunstwerke wird von Gadamer auch in Form einer Hervorhebung des situativen Kontexts, in dem die Werke standen, vollzogen. l3I Hier geht es Gadamer darum, die Funktion von Kunstwerken innerhalb einer Lebensform zu betonen und zu fordern, daß der Anlaß für die Produktion und die Zweckbestimmung eines Gegenstands nicht vernachlässigt werden sollen. Gadamer schließt seine Ausführungen zu den bildenden Künsten mit der Feststellung ab, daß sich die grundlegenden Bestimmungen des Kunstwerks durch das Spielmodell auch im Bereich der bildenden Künste bewährt hätten. Der zentrale Begriff, der die verschiedenen Künste urnfaßt, ist der der Darstellung: »Die spezifische Präsenz des Kunstwerks ist ein Zur-Darstellung-Kommen des Seins.«132 Inwiefern mit dieser Aussage tatsächlich die Eigenart der Kunst begriffen ist, bleibt indes fraglich: Was spricht dagegen, wissenschaftliche oder philosophische Werke ebenso als Darstellungen des Seins aufzufassen?
/.2.5. Zusammenfassung Zum Abschluß des vorgelegten Versuchs, die Grundlinien der in WM formulierten Ontologie des Kunstwerks nachzuzeichnen, möchte ich die bisherigen Ausführungen zusammenfassen. Der erste Teil von WM behandelt im wesentlichen zwei Fragen, die wie im Gang der Erörterungen deutlich wurde -eng miteinander verbunden sind. Einerseits setzt sich WM mit dem Problem der Ausarbeitung eines befriedigenden Kunstbegriffs auseinander, andererseits fragt WM nach einem Begriff der Wahrheit, der nicht auf ein enges Konzept der Tatsachenwahrheit oder einen wissenschaftlichen Wahrheitsbegriff eingeschränkt ist. In beiden Fällen geht es darum, bestimmte einflußreiche Positionen zu überwinden. Dabei bemüht sich Gadamer in den einleitenden Abschnitten darum, an Begriffe anzuknüpfen, die noch nicht durch eine angeblich auf Kant zurückzuführende Subjektivierung der Ästhetik geprägt sind. Zu diesem Zweck rekurriert er zunächst auf die dargestellten »humanistischen Leitbegriffe«, um anschließend einige Stationen der
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Geschichte der Kunst und Kunsttheorie zu untersuchen. Anknüpfend an diese historische Aufarbeitung stellt Gadamer seine eigene Kunsttheorie vor. Die »Ontologie des Kunstwerks« ist in maßgeblicher Weise durch das Spielmodell bestimmt. Dieses Modell dient der Erarbeitung eines nichtsubjektivistischen Kunstbegriffs, der den Gehalt der Kunstwerke nicht durch eine Überbewertung der Reaktionen der Betrachter einengt und gleichzeitig die Aporien eines verdinglichenden Objektivismus umgeht. Im Zusammenhang mit der Diskussion des Spielmodells wurden ausgehend von elementaren Unterscheidungen (Zuschauer, Schauspieler, Autor) einige kunsttheoretische Grundbegriffe (Darstellung, Nachahmung) erörtert. Dabei wurde nochmals Gadamers Intention einer Überwindung der Erlebnisästhetik und einer falsch verstandenen Kunstaut0nomie deutlich. Am Beispiel der Tragödie wurde Gadamers Rede von der Wahrheit des Kunstwerks untersucht. Auf der Grundlage einer Analyse der Begriffe des Tragischen und der Tragödie konnte anhand der Ödipus-Tragödie des Sophokles der Vorschlag gemacht werden, Gadamers Rede von einer durch das Kunstwerk deutlich werdenden »metaphysischen Seinsordnung« und einer »Selbsterkenntnis des Zuschauers« (WM, 126) im Sinn einer Vermittlung von Einsichten in Grundstrukturen menschlicher Erfahrung zu verstehen. Von dieser Fassung des Wahrheitsbegriffs her stellt sich die Frage nach einer Anwendbarkeit der Überlegungen Gadamers auf die bildenden Künste oder andere Kunstgattungen. Mit Bezugnahme auf die Malerei wurde Gadamers Kritik am Nachahmungsgedanken wieder aufgegriffen. Am Beispiel der Porträtmalerei konnte die eigentümliche, nicht als bloße Reproduktion zu erfassende Darstellungsleistung des Bildes schlüssig belegt werden.
11. VERSTEHEN, INTERPRETIEREN, ERKENNEN
Der zweite Teil von WM behandelt die Geschichte der Hermeneutik und stellt danach die »Grundzüge einer Theorie der hermeneutischen Erfahrung« vor. Wie im vorangegangenen Kapitel folge ich Gadamers geschichtlichen Ausführungen und rekonstruiere anschließend die Grundelemente seiner Theorie der hermeneutischen Erfahrung.
lI.1. Geschichte der Hermeneutik /1.1.1. »Vorgeschichte« Gadamer gibt zunächst in einem äußerst knapp gehaltenen Kapitel zur »Vorgeschichte der romantischen Hermeneutik«l33 eine Einführung in das Gebiet der Hermeneutik, die die Weichen für die nachfolgenden Erörterungen stellt. Zwei unterschiedliche Konzeptionen der Textinterpretation werden benannt. Auf der einen Seite steht eine Hermeneutik, die von der Vorbildlichkeit und verbindlichen Gültigkeit des in den auszulegenden Texten Gesagten ausgeht. Es handelt sich um dogmatische Interpretation. Auf der anderen Seite steht eine Hermeneutik, die sich bemüht, die Bedeutung ihrer Gegenstände zu ermitteln, ohne die Gültigkeit des Bedeutungsgehalts von vornherein zu behaupten. Diese nicht-dogmatische, freie Interpretation entsteht relativ spät. Bis in die Neuzeit hinein dominiert die erstgenannte Form der Hermeneutik, deren Primat - wie Gadamer nachdrücklich betont - erst im 19. Jahrhundert endet. Bis zu diesem Umbruch sind vorwiegend solche Texte Gegenstand der Interpretationsarbeit, von denen angenommen wird, sie vermittelten relevantes Wissen oder maßgebliche Orientierungen. An erster Stelle stehen dabei die Bibel oder die Schriften einiger antiker Autoren. Gadamer läßt sich auf eine Darstellung der Interpretationspraxis im einzelnen nicht ein, sondern steuert direkt die Übergangsphase von der
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dogmatischen zur freien Interpretationsauffassung an. Während Dilthey diesen Übergang als Befreiung von dogmatischen Bindungen positiv bewertet 134 , sieht Gadamer die Entdogmatisierung als drohende Gefahr einer Liquidation der» Vorbildlichkeit der Überlieferung «. 135 Gadamer ist der Auffassung, daß die nicht-dogmatische Interpretation tendenziell die Geltungsansprüche der Texte ignoriert. Aus diesem Grund sei an die grundsätzliche Sachbezogenheit des Verstehens zu erinnern: »Verständigung ist also immer: Verständigung über etwas. Sich verstehen ist Sichverstehen in etwas.«136 Diese Sachbezogenheit des Verstehens wird durch das Prinzip nichtdogmatischer Hermeneutik nach Gadamers Ansicht verletzt. Ihr »Grundsatz, Texte aus sich selbst zu verstehen, (hat) selber etwas Ungenügendes (... ) und (bedarf immer) einer meist nur uneingestandenen Ergänzung durch einen dogmatischen Leitfaden ( ... )«.137 Was Dilthey als Emanzipation von dogmatischer Beschränkung begrüßt, wird von Gadamer als fragwürdiger Prozeß beurteilt. Angesichts dieser kontroversen Beurteilung ist es angebracht, den Begriff dogmatischer Interpretation kurz zu erläutern. Dogmatische Interpretationen bestimmen die Bedeutung von Texten, denen innerhalb einer Lebensform Sozialisations-, Ordnungs- und Orientierungsfunktionen zugeschrieben werden. Dabei wird die Gültigkeit der Textbedeutung vorausgesetzt. Der Zwang, die jeweilige Interpretation nicht gegen diese Gültigkeitsvoraussetzung verstoßen zu lassen, setzt vielfältige Reparaturmaßnahmen in Gang. Diese sollen bewirken, daß alles im Text Gesagte als gültig ausgewiesen werden kann. Zu den hierfür bedeutsamen Strategien gehören die unter dem Titel >Allegorese< subsumierten Verfahren. I38 Dogmatisches Interpretieren hat demnach nicht die allgemeine Aufgabe zu lösen, den Gehalt eines Texts zu ermitteln, dieser ist vielmehr schon weitgehend vorherbestimmt. Aufgabe der dogmatischen Interpretation ist es, den Text so zu bearbeiten, daß er als Vehikel dogmenkonformer Aussagen erscheint. Vor allem im Bereich der Theologie ist die Bindung der Lektüre und Interpretation der Bibel an orthodoxe Lehrmeinungen von großer Relevanz. Ein instruktives Beispiel für eine dogmatische Bestimmung des Interpretierens [mdet sich bei Flacius: »Was Gott sagt, das ist wahr. Das bedarf keines Beweises. Es ist nämlich der erste Grundsatz der ganzen Theologie ( ... ) Alles, was also von der Schrift oder aus der Schrift gesagt wird, muß mit der (... ) katechetischen Summe oder mit den Glaubensartikeln übereinstimmen.«l39 Flacius setzt also nicht nur die Wahrheit und Gültigkeit der Heiligen
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Schrift voraus, sondern geht weiter, indem er verlangt, der Gehalt des Bibeltexts müsse in Übereinstimmung mit der orthodoxen Theologie reformuliert werden. Damit wird verhindert, daß eine abweichende Auffassung sich auf die Autorität der Heiligen Schrift beruft. Dogmatisches Interpretieren impliziert also eine starke Gültigkeitsvoraussetzung, die nicht widerrufen werden kann und schränkt den Spielraum des Interpreten radikal ein. Zwischen dogmatischer Interpretation in diesem Sinn und einer freien Interpretation, die die Geltungsansprüche der Texte ignoriert - indem beispielsweise ein religiöser Text als sozialhistorisches Dokument ausgewertet wird - gibt es zahlreiche Zwischenformen. Der nicht-dogmatische Interpret kann sich durchaus auf den Geltungsanspruch des Texts einlassen, indem er eine Gültigkeitsunterstellung macht und mit der heuristischen Maxime ansetzt, daß der Text ihm etwas zu sagen hat oder ihn etwas lehren kann. Diese Gültigkeitsunterstellung kann sich aber - im Gegensatz zu der strengen Gültigkeitsvoraussetzung des Dogmatikers als unbegründet erweisen. Der nicht-dogmatische Interpret kann am Ende seiner Bemühungen feststellen, daß sein Text ihn nur partiell überzeugt oder eine sachlich unangemessene Position vertritt. Diese Rede von nicht-dogmatischer Interpretation ist nicht allein auf der Basis der anti-dogmatischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts möglich. Noch vor der ersten großen Zäsur in Gadamers Hermeneutikgeschichte, vor Schleiermachers Transformation der Hermeneutik, formuliert der Baumgarten-Schüler G.F. Meier (1718-1777) in seinem »Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst« (1757) eine Maxime, die eine Zwischenform zwischen den Extremen dogmatischer und freier Interpretation belegt. Meier fordert vom Interpreten »hermeneutische Billigkeit« und versteht darunter »( ... ) die Neigung eines Auslegers, diejenigen Bedeutungen für hermeneutisch wahr zu halten, welche, mit der Vollkommenheit des Urhebers der Zeichen, am besten übereinstimmen, bis das Gegenteil erwiesen wird.«I40 Meier rechnet also mit dem Fall, daß die Gültigkeitsunterstellung sich als ungerechtfertigt erweisen kann, wodurch er sich vom dogmatischen Hermeneuten distanziert. Meiers kurze Abhandlung ist im Zusammenhang mit den von Gadamer behandelten Fragen aus zwei weiteren Gründen von Interesse. Bei Meier findet sich bereits eine Ausweitung des Gegenstandsbereichs der Hermeneutik über den Bereich von Schriftstücken hinaus auf alle möglichen Arten von Zeichen (gesprochene Sprache, Gesten u.a.). Damit vollzieht Meier einen Schritt, der im allgemeinen der
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Universalisierung des Verstehens bei Schleiennaeher zugeordnet wird . Allerdings ist bei Meier die Ausweitung des Gegenstandsbereichs gerade nicht wie bei Schleiennaeher mit einer Vereinheitlichung des Verstehensvorgangs, sondern mit einer Differenzierung von Interpretationsweisen verbunden. Anstelle einer Universalisierung des Verstehens propagiert Meier eine Spezialisierung. Dabei ist bemerkenswert, daß der Begriff einer »aesthetischen Auslegung«'4' eingeführt wird. Die Prägung dieses Tenninus' artikuliert das Bewußtsein für die eigentümlichen Probleme der Auslegung von Kunstwerken oder Texten, die sich nichtbegrifflicher Redeweisen bedienen. Im Sinn der Ästhetik seines Lehrers Baumgarten kann die nicht-begriffliche Rede der Dichtung - entgegen einer weit verbreiteten Auffassung - Erkenntnis vennitteln. Es handelt sich dabei um eine »sinnliche Erkenntnis«'42, die sich im Vergleich zu begrifflicher Erkenntnis durch Reichhaltigkeit, Größe und Lebhaftigkeit auszeichnet, eine Fülle von Merkmalen vergegenwärtigt und ihre Gegenstände nicht als bestimmte Summe von Einzelelementen erfaßt, sondern in bildhafter Anschaulichkeit präsentiert. Der Begriff der »aesthetischen Auslegung« ist die Konsequenz des Baumgartensehen Projekts der Ästhetik für das Gebiet der Henneneutik. Meier gibt keine detaillierte Bestimmung dieser Auslegungsart. Seine Aufgliederung verschiedener Bedeutungsschichten des Texts'43 berücksichtigt jedoch mit Metapher, Allegorie, Ironie und Konnotation zentrale Elemente poetischer Rede. In Bezug auf Gadamers einleitende Bemerkungen ist Meiers Theorie der Interpretation von Bedeutung, weil sie die Vorstellung einer ausschließlichen Opposition dogmatischer und freier Interpretation revidiert. Bei Meier läßt sich eine sinnvolle Abschwächung einer starken dogmatischen Gültigkeitsvoraussetzung zu einer revidierbaren GültigkeitsuntersteIlung nachweisen. Bei der folgenden Betrachtung der Schleiermachersehen Henneneutik wird zu untersuchen sein, in.wieweit hier die Entdogmatisierung des Verstehens mit einer Ausklammerung der Geltungsansprüche der Texte verbunden ist.
Il.l.2. Psychologisierung des Verstehens durch Schleiermacher ? Bei Schleiennaeher wird die Henneneutik nicht mehr im gleichen Sinn als Theorie der Interpretation bestimmt wie bei seinen Vorgängern. Er setzt sich vielmehr programmatisch von den bisherigen Henneneuten ab,
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wenn er zu Beginn seiner Ausführungen betont: »Die Hermeneutik als Kunst des Verstehens existiert noch nicht allgemein, sondern nur mehrere spezielle Hermeneutiken.«l44 Schleiermachers eigener Anspruch besteht darin, die Hermeneutik als Wissenschaft zu etablieren. Er möchte nicht lediglich bewährte Verfahren beschreiben und lehren, wie durch sie Verständnisschwierigkeiten behoben werden können, sondern er will den Begriff des Verstehens selbst erörtern und die Grundlagen jeglichen Sprachgebrauchs aufzeigen. Durch diesen Anspruch, eine universale und wissenschaftliche Hermeneutik zu entwickeln, unterscheidet sich sein Ansatz auch von der oben skizzierten allgemeinen Hermeneutik G.F. Meiers. Diese hat zwar genau wie Schleiermacher - den Gegenstandsbereich der Hermeneutik ausgeweitet, aber diese Erweiterung führt bei Meier nicht wie bei Schleiermacher zu einer Veränderung der AufgabensteIlung in Richtung auf eine Fundierung der Hermeneutik durch eine allgemeine Theorie der Sprache und des Verstehens. Eine Theorie der Sprache und eine den Sprecher ins Zentrum rückende Betrachtungsweise bilden die beiden Grundelemente der Schleiermachersehen Hermeneutik. Die Sprache ist nicht nur als ein aufgrund allgemeiner Regularitäten funktionierendes Kommunikationssystem aufzufassen. Vielmehr soll der eigentümliche Sprachgebrauch der einzelnen Sprecher beachtet werden. Diese können einen vorgegebenen Code nicht nur korrekt anwenden, sondern modifizieren oder kreativ erweitern. Der Umstand, daß die Sprachverwendung nicht allein auf der Grundlage fixierter Sprachregeln verstanden werden kann, ist von großer Bedeutung. Die Sprecher können gegebene Regeln auf unvorhersehbare Weise durchbrechen und dadurch neue Sprachmöglichkeiten schaffen. Wenn demnach der Sprachgebrauch nicht lückenlos durch ein Ensemble von Regeln determiniert ist, muß man als Hermeneut bei der Rekonstruktion der Bedeutung von Texten die Möglichkeit von Regelabweichungen berücksichtigen, man muß den individuellen Spielraum der einzelnen Sprecher beachten. Das Spannungsverhältnis zwischen der Allgemeinheit des Sprachsystems und der Individualität der einzelnen Sprachverwendung bestimmt die Arbeit des Hermeneuten. Aus diesem Grund insistiert Schleiermacher auf der Komplementarität grammatischer und psychologischer Interpretation. Erstere bestimmt die Bedeutung von den Regularitäten der Sprache ausgehend, letztere vom Sprecher und seinem charakteristischen Stip45 aus: »Das Verstehen ist nur ein Ineinandersein der beiden Momente (des grammatischen und psychologischen). ( ... ) Beide stehen einander völlig
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gleich, und mit Unrecht würde man die grammatische Interpretation die niederere und die psychologische die höhere nennen.«I46 In Gadamers Auseinandersetzung mit der romantischen Hermeneutik werden schwerwiegende Bedenken in bezug auf Schleiermachers Position formuliert. Der zentrale Einwand betrifft den Umstand, daß bei Schleiermacher »( ... ) die Texte unabhängig von ihrem Wahrheitsanspruch als reine Ausdrucksphänomene (... )«147 angesehen würden. Gadamer kommt zu dieser Feststellung aufgrund einer Sichtweise, die die Psychologisierung des Verstehens als maßgeblichen Schritt Schleiermachers wertet. Er schreibt: »Die Hermeneutik urnfaßt grammatische und psychologische Auslegungskunst. Schleiermachers Eigenstes ist aber die psychologische Interpretation. Sie ist letzten Endes ein divinatorisches Verhalten, ein Sichversetzen in die ganze Verfassung des Schriftstellers (... )«.148 Demnach interessiere im Rahmen der Schleiermacherschen Hermeneutik nicht die von einem Text behandelte Sache, sondern die Person des Schreibers. Das Verstehen sei nicht primär dem Text zugewandt, sondern auf das sich ausdrückende Individuum gerichtet. Gadamer hebt hervor, daß die Hermeneutik nun »( ... ) die vom Sachverständnis ge~hrte Kritik aus dem Bereich wissenschaftlicher Auslegung (... )«149 herausdränge. Dies sind massive Vorwürfe, die nicht so sehr innerhalb des begrenzten Bereichs der Schriften Schleiermachers über hermeneutische Probleme, sondern vom Gesamtwerk und der geistes geschichtlichen Wirkung Schleiermachers her argumentieren. In der Tat war es ein psychologischer Ansatz Schleiermachers, der als Innovation auffiel, so daß auch im Bereich der Hermeneutik die psychologische Auslegung ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken konnte. Dilthey, der in ausführlichen Untersuchungen Leben und Werk Schleiermachers behandelt, konstatiert bereits eine »Einseitigkeit« des psychologischen Ansatzes. 150 Gadamer stimmt in diesem Punkt mit Dilthey überein, er wertet allerdings die Psychologisierung des Verstehens im Gegensatz zu Dilthey grundsätzlich negativ. Die Psychologisierung scheint ihm sowohl das innovative Moment als auch der schwächste Punkt bei Schleiermacher zu sein. Gegen diese Auffassung wurde Einspruch erhoben. 151 Gadamers Schleiermacherbild stimme mit der Rezeption der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts überein: Psychologisierung und Subjektivierung würden als die entscheidenden Schritte angesehen. »Gadamers eindrucksvolles Verdikt gegen die >romantische Hermeneutik< - Titel, der als Kontrastfolie gute Dienste zur Profilierung des
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existenzial-hermeneutischen Arguments von Wahrheit und Methode tuthat diese Rezeption rückwirkend und gleichsam ex negativo bestätigt.«152 Frank hält Gadamer vor, sein Schleiermacherbild weise »Züge der Fiktion«153 auf und zeigt, daß die Akzentuierung der Psychologisierung des Verstehens sich nicht auf Schleiermachers eigene Aufzeichnungen zur Hermeneutik berufen kann. Da es keine definitive und autorisierte Fassung der Hermeneutik-Vorlesungen von Schleiermacher gibt, fordert Frank, man müsse die Entwicklung der Schleiermacherschen Überlegungen berücksichtigen. Er belegt daraufhin, daß die Bedeutung der psychologischen Interpretation im Lauf dieser Entwicklung abgeschwächt wird: »Während der Entwurf von 1819 die grammatische und die psychologische Interpretation als vollkommen gleichrangig bezeichnet, spricht der Vorspann der Vorlesung von 1832 von einer historisch gewachsenen >Priorität< der >grammatische Seite< der Auslegung ( ... ) in diesem späteren Vortrag (findet sich) der Ausdruck der Divination, der ebensoviel Anstoß erregt wie Mißverständnis entzündet hat, gar nicht mehr (... )«154 Demnach scheint die Betonung der Psychologisierung in der Schleiermacher-Literatur eine auch auf die unglückliche Editionslage der Hermeneutik-Vorlesungen zurückzuführende Fehleinschätzung zu sein. Ergänzend und unabhängig von dieser Richtigstellung Franks kann man fragen, ob eine Miteinbeziehung psychologischer Überlegungen in die Hermeneutik, wie sie Schleiermacher vorschlägt und als Komplement der grammatischen Interpretation begreift, notwendigerweise zu einer psychologistischen Einfühlungshermeneutik führen muß. Generell läßt sich dies sicher nicht behaupten. Der Kern des Psych0logismusvorwurfs besteht darin, daß die Sachbezogenheit des Interpretierens zugunsten eines gleichsam tagträumerischen Nacherlebens vergangenen fremden Lebens verdrängt wird. Dabei kann dieser Vorwurf sich scheinbar mit guten Gründen auf Schleiermacher beziehen. Tatsächlich impliziert dessen Hermeneutik einen ganz neuen Kontextbegriff, der einen zu interpretierenden Text nicht nur als Teil des Gesamtwerks eines Autors würdigt oder im Rahmen der jeweiligen Gattungsgeschichte situiert, sondern das Leben des Autors als relevantes Element heranzieht. Die Biographie des Autors und die geschichtliche Situation, in der er schrieb, gehen so in die Arbeit des Hermeneuten ein. Schleiermacher behauptet, daß jede Rede »( ... ) immer nur ( ... ) aus dem ganzen Leben, dem sie angehört (zu verstehen ist), d.h., da jede Rede nur als Lebensmoment des Redenden in der Bedingtheit aller seiner Lebensmomente erkennbar ist (... ), so ist jeder Redende nur verstehbar durch seine Nationalität und sein Zeitalter.«155
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An die Stelle eines direkten Zugriffs auf die Bedeutung des Texts, seine Argumente und die verhandelte Sache, tritt zunächst die Beschäftigung mit der historischen Situation des Autors, seinem Leben und seiner Gedankenwelt. Dies bedeutet noch nicht zwangsläufig, daß ein hemmungsloser Psychologismus durchbricht, der die Texte ausschließlich zum Ausgangspunkt für eine Einfühlung in die Autoren und Genies der Geistesgeschichte nimmt. Sowohl in der Zielsetzung als auch in der Wahl der geeigneten Hilfsmittel können Unterschiede zwischen dem Verstehen von Objekten (Texten, Gemälden, Musikwerken) und dem Verstehen von einzelnen Personen bestehen. Man kann aber durchaus von einem Zusammenhang beider Aufgaben sprechen, da beispielsweise die genaue Kenntnis der Absichten, Überzeugungen und Handlungen eines Autors hilfreiche Hinweise zum Verständnis seiner Werke liefern kann. Fragwürdig erscheint lediglich eine Auffassung, die das Verstehen einzelner Personen in ihrer vorgeblich einmaligen Individualität zum vorwiegenden Ziel der Beschäftigung mit Texten und Kunstwerken erhebt. Einer in angreifbarer Weise psychologisierenden Auffassung wären Platons Dialoge nicht deshalb wichtig, weil wir von diesen Texten lernen können, sondern weil wir durch sie einen Zugang zu der Welt und zum Leben eines genialen Denkers erhalten. Gerade am Beispiel Platons kann man überprüfen, ob Schleiermacher tatsächlich diese Form psychologistischen Verstehens betreibt. In seiner Theorie der Interpretation steht, so hatten wir gesehen, das psychologische Verstehen nicht im Vordergrund. Der Vorwurf, auf einseitige Weise psychologische Gesichtspunkte bei der Interpretation zu beachten, könnte sich aber auch auf Schleiermachers Interpretationspraxis beziehen. Im folgenden soll geprüft werden, ob auf diesem Gebiet der Vorwurf des Psychologismus mit größerer Berechtigung erhoben werden kann als im Bereich der hermeneutischen Theorie. Schleiermachers Arbeit als Platon-Interpret und Übersetzer gilt als Markstein in der Geschichte der Platon-Rezeption und der klassischen Philologie. 156 In der Einleitung zu seinem Unternehmen hat er seine Absicht beschrieben, die Prinzipien seines Vorgehens benannt und die bisherige Platon-Forschung kritisiert. Bei seiner Übersetzung der Platonischen Schriften kommt es ihm darauf an, aus der Unhaltbarkeit eines seinerzeit gängigen Verfahrens Konsequenzen zu ziehen. Dieses Verfahren zerstörte die dialogische Entwicklung des Gedankengangs, isolierte einzelne Thesen und fügte diese zu einem System der Platonischen Philosophie zusammen. Vorausset-
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zung für ein solches Verfahren ist die Beurteilung der Dialogform als Verschleierung des Platonischen Systems: »Die innige Verknüpfung des Dichterischen und Philosophischen in Plato's Lehren, bei dem Mangel an streng systematischer Form, erschwert das Verständnis seiner Philosophie (... )«157 Dieses Unverständnis für die literarische Form, deren Platon sich bedient, geht Hand in Hand mit einem - teilweise naiven - Losstürzen auf die Thesen der Platonischen Philosophie.1 58 Angesichts einer solchen Auffassung betont Schleiermacher mit Nachdruck, daß in Platons Texten »( ...) Form und Inhalt unzertrennlich (sind)«.159 Ein Extrakt verschiedener Thesen vermag zwar aufzulisten, welche Behauptungen in den Dialogen aufgestellt, widerlegt oder akzeptiert werden. Er kann aber nicht begreiflich machen, was die Dialoge dem Leser zeigen, indem diese Thesen diskutiert werden. Schleiermacher hebt hervor, daß Platons Hauptabsicht darin bestehe, »( ... ) jede Untersuchung von Anfang an so zu führen und darauf zu berechnen, dass der Leser entweder zur eignen inneren Erzeugung der beabsichtigten Idee, oder dazu gezwungen werde, dass er sich dem Gefühle nichts gefunden und nichts verstanden zu haben, auf das allerbestimmteste übergeben muss.«I60 Die Dialoge vermitteln primär keine Information, sondern sie führen den Leser zu der Einsicht, daß er (im Sokratischen Sinn) kein Wissen besitzt und regen ihn zu selbständigem Denken an. Eine »zerlegende Darstellung«161, die einzelne Theoreme der Lehre Platons mitteilt, verfehlt, indem sie diesen Aspekt der Texte ignoriert, den eigentlichen Gegenstand des Platonischen Philosophierens. Die skizzierte Position Schleiermachers bietet wenige Anhaltspunkte, um ihn als Psychologisten anzugreifen. Eine Einfühlung in den Menschen Platon scheint ihm fern zu liegen. Dabei ist bemerkenswert, daß er der Biographie Platons keine Aufmerksamkeit schenkt, weil ihm die Quellenlage unbefriedigend erscheint und er sich von den biographischen Daten keine Unterstützung für ein Verständnis der Texte erhofft. 162 Zusammenfassend kann man festhalten, daß Schleiermacher in seinen theoretischen Ausführungen zur Hermeneutik und in seiner Praxis als Platon-Interpret keine Ansichten vertritt, die als psychologistisch zu kritisieren wären. Die Einleitung zur Platon-Ausgabe suspendiert in keiner Weise den Sachbezug des Verstehens zugunsten einer Einfühlungshermeneutik. Zwar prägt Schleiermacher Formeln, die später von einer psychologistischen Interpretationsrichtung aufgegriffen werden konnten l6l, seine eigenen Erörterungen sind insgesamt jedoch keinesfalls als psychologistisch zu etikettieren.
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1I.1.3. Historisierung, Historismus, Hermeneutik Gadamer wendet sich in Anschluß an seine Auseinandersetzung mit Schleiermacher den unter der Führung der Geschichtswissenschaft im 19.· Jahrhundert entstehenden Geisteswissenschaften zu. Er behandelt die Positionen zweier führender Historiker des 19. Jahrhunderts (L.v.Ranke und J.G.Droysen) und untersucht anschließend die Arbeiten W. Diltheys. Bevor ich diese Ausführungen Gadamers diskutiere, möchte ich vorbereitend an grundlegende kultur- und wissenschaftsgeschichtliche Umstände erinnern, deren Kenntnis Gadamer als selbstverständlich voraussetzt. Im 19. Jahrhundert entstehen die Geisteswissenschaften durch eine Zusammenfassung verschiedener universitärer Disziplinen unter der Leitung der Geschichtswissenschaft. l64 Diese Wissenschaftsformation setzt sich einerseits von der idealistischen Philosophie, andererseits von den Naturwissenschaften ab. Einen Einblick in das Konkurrenzverhältnis unterschiedlicher Wissenschaftsgruppierungen gibt Droysen in seiner »Historik« : »(".) kaum, daß sich unsere Wissenschaft (die Geschichtswissenschaft) von der philosophischen und theologischen Beherrschung freigemacht hat ( ... ), so sind die Naturwissenschaften da, sich ihrer anzunehmen und sie bevormunden zu wollen. So wie vor 50 Jahren die Philosophie noch im vollen Übermut der Alleinherrschaft sagte, nur das Philosophische ist wissenschaftlich und die Geschichte ist nur Wissenschaft, sofern sie philosophisch zu sein weiß, - ebenso kommen jetzt die Naturwissenschaften und sagen, Wissenschaft ist nur, was in der naturwissenschaftlichen Methode sich bewegt, und die sog. positive Philosophie von Comte und Littre schließt sich ihnen an (".)«165 Von philosophischer Spekulation, als deren Paradigma vor allem Hegels Philosophie gilt, wollen sich die Geisteswissenschaften distanzieren, indem sie auf spekulative Entwürfe des Gangs der Weltgeschichte zugunsten einer auf Quellen gestützten empirischen Forschung verzichten. l66 Von den Naturwissenschaften werden die Geisteswissenschaften durch spezifische Erkenntnisziele und Methoden unterschieden. Die Arbeit der Geisteswissenschaften ist außerordentlich erfolgreich. Eine Vielzahl von kritischen Ausgaben, Sammelwerken, Lexika und Kommentaren ist das Resultat einer Wissenschaftspraxis, die dank verfeinerter text- und quellenkritischer Verfahren strengen Anforderungen genügt. 167 Aufgrund dieser Leistungen erfreut sich die deutsche Historiographie und Philologie einer konkurrenzlosen Reputation im Aus-
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land. [68 Darüberhinaus genießt die Geschichtswissenschaft auch im außeruniversitären Bereich ein außerordentlich großes Ansehen. Dieses allgemeine Interesse hängt mit den politischen Veränderungen in Deutschland, dem Entstehen eines Nationalstaats und mit einem durch die beschleunigte Veränderung der Lebensverhältnisse eintretenden Traditionsverlust zusammen.[69 Die bekannte Formel vom 19. Jahrhundert als dem »historischen Jahrhundert« bringt die allgemeine Bedeutung geschichtlichen Denkens als Signatur der Zeit zum Ausdruck. Aber nicht nur aufgrund ihrer Funktion für ein entstehendes Nationalbewußtsein ist die Historiographie von Belang. Nach dem sogenannten »Zusammenbruch des Idealismus«, d.h. seit dem rapiden Geltungsverlust idealistischer Philosophie nach Hegels Tod, wird die Geschichtswissenschaft zur »( ... ) führenden Bildungsrnacht und übernimmt damit die traditionelle Rolle der Philosophie.«170 Das historische Denken des 19. Jahrhunderts läßt sich nun keineswegs bündig charakterisieren, da verschiedenartige Positionen vertreten wurden. Das Spektrum reicht von einem eher kontemplativen Interesse an der Weltgeschichte bis zu einer sich politisch verstehenden Historiographie. Gerade die beiden von Gadamer genannten Historiker, Ranke und Droysen, stehen in einem äußerst spannungsreichen Verhältnis zueinander. l7l Auffallend ist eine Tendenz zu geschichtlichen Darstellungen weitesten Umfangs. Daß die Historie nicht nur begrenzte Handlungszusammenhänge erforscht und eine Orientierung in der Gegenwart von der Vergangenheit her zu ermöglichen sucht, sondern, den Umfang von Epochendarstellungen sprengend, die Erfassung der - mit großer Selbstverständlichkeit eurozentrisch konzipierten - Weltgeschichte in Angriff nimmt, ist als Auswirkung philosophischer Spekulation zu begreifen. Das Spannungsverhältnis von wissenschaftlicher Detailarbeit und angestrebten universalgeschichtlichen Synthesen ist ein Kennzeichen des Historismus. Wesentlich für die Geisteswissenschaften insgesamt ist der Umstand, daß das historische Denken in nahezu allen Disziplinen beherrschend wird. Rechtswissenschaft, Nationalökonomie, Theologie, Literaturwissenschaft, Altphilologie und Philosophie werden von dem Prozeß der Historisierung erfaßt. Die Gefahren dieses Vorgangs wurden oft aufgezeigt. Geschichte droht auf Vergangenheitsforschung reduziert zu werden, so daß kein Gegenwartsbezug mehr hergestellt wird und die Relevanz der Forschung nicht mehr einsichtig ist. Trotz des faktischen Erfolgs im Wissenschaftsbetrieb besteht im 19. Jahrhundert keineswegs Einigkeit über die wesentlichen Kategorien
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Interpretieren, Erkennen
und Ziele geisteswissenschaftlicher Arbeit. Eine Vielzahl erkenntnistheoretischer und methodologischer Ansätze bemüht sich um eine Klärung dieser Frage und um eine Grundlegung der Geisteswissenschaften. Einige der in diesem Zusammenhang auftretenden Begriffe finden sich unter veränderten Vorzeichen noch in der gegenwärtigen Diskussion, beispielsweise die Opposition von Verstehen und Erklären oder die Dichotomie von Geistes- und Naturwissenschaften.
II.I .3.1. Verwissenschaftlichung und Hermeneutisierung der Historie bei Droysen
Droysen wird von Gadamer neben Ranke als zentraler Vertreter der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts behandelt. Mit seiner »Historik«172 hat Droysen eine Wissenschaftslehre der Historiographie geschaffen, die »( ... ) zum klassischen wissenschaftstheoretischen Text der modemen Geschichtswissenschaft (... )« wurde. I7l Im Hinblick auf Droysens Geschichtsbegriff kommt Gadamer zu der Auffassung, daß dieser »( ... ) am Ende die Aufgabe der Historie nur in ästhetisch-hermeneutischen Kategorien zu denken ( ... )« vermöge174 und daher mit Rankes Position weitgehend übereinstimme. Diese These ist angesichts der beträchtlichen Unterschiede zwischen Ranke und Droysen, die Gadamer selbst zumindest andeutet, überraschend. 175 Vor allem die Behauptung, Droysens Position sei durch ästhetische Kategorien geprägt, läßt sich zunächst nicht verifizieren. Droysen kritisiert explizit eine Ästhetisierung und Narrativisierung der Geschichtsschreibung und steht zudem offen für eine engagierte, den Gegenwartsbezug berücksichtigende Historie ein. Seine Kritik an einer den wissenschaftlichen Charakter der Historiographie auflösenden Haltung weist gleichzeitig auf die lediglich partielle Berechtigung psychologischer Interpretation hin: »( ... ) nur zu sehr ist es in alter und neuer Zeit in Übung gewesen, daß die Historiker erzählend ein möglichst lebhaftes Bild der handelnden Persönlichkeiten zu geben suchten und aus deren Begabung, Charakter, Leidenschaft möglichst alles ableiteten, was geschehen ist. (... ) Wäre die psychologische Interpretation die wesentliche Aufgabe des Historikers, so würde Shakespeare der größte Historiker sein. Wie verfährt er? (... ) er erklärt aus dem Inneren der Menschen ihre Schicksale (... )«176 Das primäre Interesse des Historikers gilt demgegenüber nicht der Innenwelt des Individuums, sondern den vergangenen Ereignissen und
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Situationen, von denen er aufgrund überlieferter Quellen eine angemessene Vorstellung gewinnen möchte. Droysen betont nachdrücklich die Differenz, die zwischen der Arbeit des Historikers und des Dichters besteht: »Warum darf unsere Wissenschaft nicht dasselbe tun oder versuchen (wie die Dichtung)? Empirischer Art, wie sie ist, muß sie möglichst exakt zu sein suchen, und exakt ist sie in dem Maße, als sie für die einzelne Aufgabe ( ... ) aus dem kritisch verifizierten Material in möglichst gesicherter Schlußfolgerung ihre Ergebnisse zieht.«177 Die wissenschaftliche Darstellung erhebt den Anspruch, auf der Grundlage tradierter Nachrichten ein zutreffendes Bild der Vergangenheit zu entwerfen. Dabei sind Lücken in der Darstellung nicht als Fehler anzusehen: »Immer oder fast immer liegen nur Einzelheiten aus den einstigen Wirklichkeiten ( ... ) vor. Jedes historische Material ist lückenhaft ( ... ) die Schärfe in der Bezeichnung der Lücken und der möglichen Fehler ist das Maß für die Sicherheit der Forschung.«178 Forschung ist ein wichtiges Stichwort in der Historik Droysens. Die Auswertung von Quellen erfolgt mittels präziser quellenkritischer Verfahren, die in seiner Wissenschaftslehre ausführlich dargestellt werden. Diesen Aspekt der Verwissenschaftlichung der Historie vernachlässigt Gadamer in seiner Auseinandersetzung. Gadamers These von der Abhängigkeit der Position Droysens von »ästhetisch-hermeneutischen Kategorien«179 erscheint daher in Hinblick auf die tatsächliche Tragweite ästhetischer Konzepte als nicht zutreffend. Im folgenden soll die Frage nach der Bedeutung hermeneutischer Kategorien erörtert werden. Basiert Droysens Historiographie auf der Hermeneutik und welche Bedeutung hat diese Hermeneutisierung der Historie? Der Historismus insgesamt und Droysens Position kann in der Tat nicht allein durch den Begriff der Verwissenschaftlichung erfaßt werden. Seine Geschichtsauffassung impliziert ein interpretatorisches Vordringen des Historikers zu einer Tiefenschicht jenseits der ermittelten Fakten. Der Historiker rekonstruiert nicht nur historische Gegenstände im Sinn einer quellenkritisch abgesicherten Darstellung von aufeinander folgenden Handlungen und Ereignissen. Er interpretiert diese Handlungen und Ereignisse, indem er in ihnen »sittliche Mächte« und Ideen 180 erkennt. Die wissenschaftliche Forschungsarbeit wird demnach komplementiert durch ein Verstehen, eine Deutung und Bestimmung von Triebkräften geschichtlicher Veränderung. l81 Die Vertreter des Historismus erkennen dabei durchaus an, daß diese Hermeneutisierung der Historie
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mit der traditionellen Forderung nach Unparteilichkeit und Neutralität des Geschichtsschreibers kaum noch vereinbar ist. Das Postulat der Unparteilichkeit wird beiseite gerückt zugunsten einer Auffassung, die die Standortgebundenheit des Historikers nicht als Hindernis, sondern als Ermöglichung historischer Erkenntnis sieht. Zwischen Parteilichkeit und Perspektivierung kann nun unterschieden werden. 182 Der Historiker kann keinen Anspruch auf Objektivität erheben, weil er in dem umfassenden Wirkungszusammenhang der Geschichte steht und diesen nicht von außen als Objekt beobachten kann. Aber gerade seine Position innerhalb dieses Wirkungszusammenhangs ermöglicht es ihm, die Bedeutung einzelner Gegenstände zu erkennen. Droysen wendet sich ausdrücklich gegen die Vorstellung einer streng objektiven Geschichtswissenschaft:· »Ich will nicht mehr, aber auch nicht weniger zu haben scheinen, als die relative Wahrheit meines Standpunktes ( ... )«183 Wohlgemerkt handelt es sich bei dieser Veränderung der Geschichtsschreibung nicht um eine Affirmation subjektiver Willkür und Beliebigkeit. Dies wird dadurch verhindert, daß die Historie als exakte Forschung die Voraussetzung für die Historie als Deutung darstellt. Die Neubewertung der Standortabhängigkeit historischer Arbeit hängt mit dem gegenwartsbezogenen Erkenntnisinteresse der Historiker zusammen. Bei Droysen herrscht kein Zweifel daran, daß die historische Arbeit einer Orientierung in der jeweiligen Gegenwart zu dienen hat: »Das, was war, interessiert uns nicht darum, weil es war, sondern weil es in gewissem Sinn noch ist, indem es noch wirkt, weil es in dem ganzen Zusammenhang der Dinge steht, welche wir die geschichtliche, d.h. sittliche Welt (... ) nennen.«I84 Die beiden herausgestellten Momente der Geschichtsauffassung Droysens (Verwissenschaftlichung und Hermeneutisierung) bilden die Elemente seiner bekannten Definition der historischen Methode: »Das Wesen der historischen Methode ist f 0 r s c h end zu ver s te he n.«185 Beide Elemente sind konstitutiv: Der Forschungscharakter historischer Arbeit soll die wissenschaftliche Gültigkeit der Resultate gewährleisten, setzt die Arbeit des Historikers von der des Romanciers ab und verhindert willkürliche Verzerrungen aufgrund privater Ansichten des Historikers. Die Bestimmung der historischen Methode als Verstehen soll den Gegenwartsbezug der Historie verbürgen und begreift diese als Moment gegenwärtiger Praxis. l86 Gadamers These von der ästhetisch-hermeneutischen Fundierung der Historie bei Droysen kann demnach nur partiell akzeptiert werden. J.
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Rüsen stellt diesbezüglich fest: »Droysen verfällt ( ... ) nicht dem ihm von Gadamer vorgeworfenen Fehler, die Geschichte >nur in ästhetisch-hermeneutischen Kategorien zu denken< ( ... ), weil er an Kants Begriff der praktischen Vernunft anknüpft und ihre Konkretisierung zu den >sittlichen Mäclften< von Hegel übernimmt. «187 Entgegen der Behauptung Gadamers geht die Hermeneutisierung der Historie bei Droysen nicht mit einer kontemplativen oder >ästhetischen< Geschichtsauffassung einher, sondern sie verdankt sich dem Bedürfnis nach Orientierung in der eigenen Gegenwart.
11.1.3.2. Erkenntnistheoretische Klärungsversuche
Gadamer stellt ein Spannungsverhältnis von Verwissenschaftlichung und Hermeneutisierung als ausschlaggebend für die Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert dar. Der Prozeß der Hermeneutisierung selbst kann mindestens in zwei unterschiedliche Richtungen verlaufen. Er kann einerseits von einer psychologistischen Einfühlungshermeneutik her zu einer Ästhetisierung der Historie führen, andererseits kann die Historie versuchen, durch eine Hermeneutik der Ideen und »sittlichen Mächte« einem Orientierungsbedürfnis in der Gegenwart gerecht zu werden. Einhelligkeit besteht in der Beurteilung der Ästhetisierung: sie erfolgt zu Lasten der Verbindlichkeit der Überlieferung. Der Historiker bleibt hier distanzierter Beobachter und vergibt die Chance, aus den Quellen der Überlieferung zu lernen. Allerdings verfügt die kontemplative Historie über ein wirkungsvolles Argument, da sie sich in Entgegensetzung zu gegenwartsbezogener Geschichtsschreibung als objektive und wissenschaftliche Forschung ausgeben kann. Angesichts einer Situation, in der der wissenschaftstheoretische Status der Geisteswissenschaften ein beträchtliches Problem darstellt, ist die Wirksamkeit dieses Arguments nicht zu unterschätzen. Im 19. Jahrhundert kann man ganz im Sinn der Gadamerschen Opposition von Methode und Wahrheit eine zunehmende Entfremdung zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften registrieren. Der Wissenschaftscharakter der Geisteswissenschaften wird immer häufiger zum Gegenstand erkenntnistheoretischer Grundlegungsbemühungen. Exemplarisch für diese Versuche sind die Überlegungen eines Naturwissenschaftlers: In seiner 1862 gehaltenen Rede »Ueber das Verhältniss
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der Naturwissenschaften zur Gesammtheit der Wissenschaft«188 gibt H.v. HeImholtz eine Situationsbeschreibung, die die beiden Wissenschaftsformationen voneinander absetzt und wesentlich zur Verbreitung des Ausdrucks »Geisteswissenschaft« beitrug. Helmholtz geht bei seinen Überlegungen vom Ifefund einer rasanten Akkumulation des Wissens, einer wachsenden Spezialisierung der Wissenschaftler und der Unmöglichkeit eines Überblicks über die verschiedenen Wissenschaften aus. 189 Angesichts dieser Sachlage versucht HeImholtz eine Orientierung durch die Unterscheidung zweier Wissenschaftsblöcke zu ermöglichen. Auf der einen Seite stehen die Wissenschaften, die den Bereich des Menschlichen erforschen, auf der anderen Seite stehen die Naturwissenschaften. Die Geisteswissenschaften konservieren und untersuchen vor~ wiegend die Produkte menschlichen HandeIns und die Überreste vergangener Epochen. Bei ihrer Arbeit spielt die Entdeckung von Gesetzen keine wichtige Rolle. Seiner Ansicht nach gewinnt der GeisteswissenschaftIer seine Arbeitsergebnisse aufgrund langer Vertrautheit mit dem Gegenstand: »Man könnte ( ... ) diese Art der Induction im Gegensatz zu der logischen, welche es zu scharf definirten allgemeinen Sätzen bringt, die künstlerische Induction nennen ( ... )«190 Dieser lockeren Verfahrens weise stehe diejenige des experimentierenden Naturwissenschaftlers gegenüber: »Die Naturwissenschaftler sind meist im Stande, ihre Inductionen bis zu scharf ausgesprochenen allgemeinen Regeln und Gesetzen durchzuführen, die Geisteswissenschaftler dagegen haben es überwiegend mit Urtheilen nach psychologischem Tactgefühl zu thun ( ... )«191 Offensichtlich gerät Helmholtz in Verlegenheit, wenn er die Eigenart der Geisteswissenschaften bestimmen soll. Seine These ist äußerst problematisch. Für wissenschaftliche Arbeit ist generell Urteilskraft erforderlich und die Berufung auf ein Taktgefühl des Wissenschaftlers wird bei der Erörterung eines Problems kaum als Argument gelten. Taktgefühl und Intuition können natürlich bei der Auffindung einer Problemlösung oder der Einschätzung der Wichtigkeit einer Beobachtung entscheidend sein. Allerdings spielen bei der wissenschaftlichen Arbeit andere Erkenntnisoperationen eine entscheidende Rolle, so daß die Berücksichtigung des Taktgefühls allein kein zureichendes Bild vermitteln kann. Helmholtz bekommt die Eigenart der Geisteswissenschaften nicht in den Griff. Seine Rede dokumentiert vielmehr die zunehmende Entfremdung zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften und die einseitige Orientierung einer unter dem Einfluß empiristischer Vorstellungen stehenden Wissenschaftstheorie an den Naturwissenschaften, bzw. die Problematik
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einer Beschreibung von Problemen und Verfahren der Geisteswissenschaften mit einem Begriffsapparat, der unangemessen ist. Sein Versuch, die Differenz dieser beiden Wissenschaftsrichtungen als Unterschiedlichkeit der Methoden zu erfassen, wird gleichwohl von vielen Autoren im 19. Jahrhundert aufgegriffen. In Hinblick auf die Geschichtswissenschaft und das sie bestimmende Spannungsverhältnis von Verwissenschaftlichung, Ästhetisierung und Hermeneutisierung ist ein Ansatz von besonderem Interesse, den W. Windelband in seiner Straßburger Rektoratsrede von 1894 vorstellt. Unter dem Titel »Geschichte und Naturwissenschaft«192 schlägt er eine Klassifikation der akademischen Disziplinen vor, die den beiden »rationalen« Disziplinen, Philosophie und Mathematik, die Erfahrungswissenschaften gegenüberstellt. Letztere werden in Natur- und Geisteswissenschaften unterteilt. Da Windelband die bisherigen erkenntnistheoretischen Erläuterungen der Differenz von Natur- und Geisteswissenschaften für unzureichend hält, sucht er nach einer befriedigenden Begründung für diese Unterscheidung. Dabei will er nicht lediglich den Hinweis auf die verschiedenartigen Gegenstände gelten lassen, sondern ein methodologisches Unterscheidungskriterium angeben. Er steht also vor dem gleichen Problem wie Helmholtz. Sein Lösungsversuch ist verbunden mit einer terminologischen Erfindung: » ... die Erfahrungswissenschaften suchen in der Erkenntnis des Wirklichen entweder das Allgemeine in der Form des Naturgesetzes oder das Einzelne in der geschichtlich bestimmten Gestalt; sie betrachten zu einem Teil die immer sich gleichbleibende Form, zum anderen Teil den einmaligen, in sich bestimmten Inhalt des wirklichen Geschehens. Die einen sind Gesetzeswissenschaften, die anderen Ereigniswissenschaften; jene lehren, was immer ist, diese was einmal war. Das wissenschaftliche Denken ist - wenn man neue Kunstausdrücke bilden darf - in dem einen Fall nomothetisch, in dem anderen idiographisch. Wollen wir uns an die gewohnten Ausdrücke halten, so dürfen wir ferner in diesem Sinne von dem Gegensatz naturwissenschaftlicher und historischer Disziplinen reden, vorausgesetzt, daß wir in Erinnerung behalten, in diesem methodischen Sinne die Psychologie durchaus zu den Naturwissenschaften zu zählen.«'93 Es ist deutlich, daß Windelband die Geisteswissenschaften von der Historie her bestimmt, was mit der oben genannten Dominanz des historischen Denkens im 19. Jahrhundert übereinstimmt. Den historischen Wissenschaften wird nun die Aufgabe zugeschrieben, »Bilder von Menschen und Menschenleben mit dem ganzen Reichtum ihrer eigenartigen
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Ausgestaltungen ( ... )« zu liefem. 194 Ein Hinweis auf die Gründe für ein starkes Interesse an der Wiederbelebung des Vergangenen wird nicht gegeben. Windelband spricht lediglich von der Aufgabe, »ein Gebilde der Vergangenheit in seiner ganzen individuellen Ausprägung neu zu beleben«.195 Die Vorstellung, daß die Historie und die Geisteswissenschaften sich insgesamt mit einmaligen, individuellen Gegenständen befassen, war äußerst wirkungsvoll. Sie ist als ein Reflex der oben dargestellten kontemplativen Geschichtsauffassung und der psychologistischen Elemente der romantischen Hermeneutik zu begreifen. Windelbands Versuch, die Eigenart der bei den Wissenschaftstypen durch den Gegensatz nomothetischen und idiographischen Wissens zu erfassen, kann nicht als gelungen angesehen werden. Windelband selbst muß zugestehen, daß es nicht möglich ist, die Unterscheidung von singularen, assertorischen Sätzen als exemplarischer Aussageform der Geisteswissenschaften und generellen, apodiktischen Urteilen als charakteristischer Aussageform der Naturwissenschaften strikt durchzuhalten. In den Geisteswissenschaften, zum Beispiel in den Sprachwissenschaften, werden durchaus generelle Sätze gebildet und Gesetze formuliert. Das bedeutet: sie verfahren in einer Weise, die im Grunde, wenn man Windelbands Unterscheidung streng durchführen wollte, den Naturwissenschaften vorbehalten bleiben müßte. Windelband wertet diesen Sachverhalt nicht als grundsätzlichen Einwand gegen seinen Vorschlag. Er behauptet vielmehr, daß der Sprachwissenschaftler zwar Gesetzmäßigkeiten feststelle, dies jedoch nur in Hinblick auf eine historische Sprache tue und diese stelle »( ... ) eine einmalige, vorübergehende Erscheinung im Sprachleben (... )« dar. 196 Damit ist man wieder bei dem EinmaligkeitsTopos angelangt, der eingesetzt wird, um die Eigentümlichkeit geisteswissenschaftlicher Gegenstände zu beschreiben. Daß es sich hierbei um ein - womöglich undurchschautes - Ausweichmanöver handelt, wird deutlich, wenn man bedenkt, daß in Disziplinen wie der Geologie, der Astronomie oder der Zoologie an Gegenständen, die als einmalige und vorübergehende Erscheinungen bezeichnet werden können, kein Mangel herrscht.
II.i.3.3. Diltheys Konzeptionen des Verstehens Windelbands Versuch, eine ganze Wissenschaftsformation erkenntnistheoretisch durch den auf eine Individualitätsvorstellung begründeten
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Begriff idiographischen Wissens zu legitimieren, zeigt Schwächen, die Gadamer an der romantischen Hermeneutik kritisiert. Der Wahrheitsanspruch der Gegenstände wird aufgelöst, die sachliche Auseinandersetzung wird aufgegeben zugunsten der lebendigen Darstellung, die Objekte sind nicht als mögliche Orientierungshilfen relevant, sondern werden als Spuren der Fülle des Gewesenen kontemplativ zur Kenntnis genommen. Geradezu verräterisch ist der Umstand, daß Windelbands Kennzeichnung der Arbeit des Historikers ebensogut auf diejenige eines Autors historischer Romane zutreffen könnte. Sein Ziel besteht laut Windelband darin, »( ... ) ein Gebilde der Vergangenheit in seiner ganzen individuellen Ausprägung neu zu beleben.«197 Die Arbeiten W. Diltheys sind bemüht, solche einseitigen und vergleichsweise undifferenzierten Lösungsvorschläge zu vermeiden. Ein großer Teil der Schriften Diltheys untersucht die Geisteswissenschaften in erkenntnistheoretischer Perspektive. 198 Dabei werden die Geistes- mit den Naturwissenschaften verglichen und von diesen abgegrenzt. Von unterschiedlichen Ausgangspositionen aus versucht Dilthey immer wieder, eine epistemologische Grundlegung der Geisteswissenschaften auszuarbeiten, ohne daß ihm eine definitive Lösung dieser Aufgabe gelänge. Bei seinem Vorhaben leitet ihn nicht das Interesse an einer wissenschaftstheoretischen Klassifikation als Selbstzweck, sondern das Bedürfnis, Klarheit über die Bedeutung und Reichweite geisteswissenschaftlicher Forschung zu gewinnen. Die Auseinandersetzung mit dem Werk Diltheys kann direkt an das über Windelbands Ausführungen Gesagte anschließen. Dilthey kritisiert den Vorschlag Windelbands mit dem Hinweis darauf, daß auch in den Geisteswissenschaften Gesetze formuliert würden. l99 Der Ansatz Windelbands bringe also Widersprüche hervor und sei den tatsächlichen Verhältnissen der Wissenschaften nicht angemessen, da beide Wissenschaftsgruppen nicht durch exklusive Methoden zu beschreiben seien. Demgegenüber betont Dilthey die Pluralität der in den Geisteswissenschaften zur Anwendung kommenden Methoden und verweist auf allgemeine Merkmale wissenschaftlichen Denkens, die unabhängig von einer möglichen Zuordnung zu Natur- oder Geisteswissenschaften sind: »Der Unterschied, welcher zwischen den Methoden der Naturwissenschaften und denen der Geisteswissenschaften besteht, ist Gegenstand lebhafter Diskussionen gewesen und ist es noch (... ) Selbstverständlich sind es dieselben logischen Operationen, durch welche auf allen Gebieten gleichmäßig Tatsachen in Beziehung zueinander gesetzt werden. Mögen
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diese Tatsachen physische oder geistige sein, mögen sie in der äußeren oder in der inneren Erfahrung auftreten, sie werden durch dieselben Denkakte und logischen Vorgänge miteinander verbunden. Vergleichen, sonach Unterscheiden, Gleichfinden und Grade des Unterschiedes bestimmen, Verbinden, Trennen, Urteilen, Schließen sind in Naturwissenschaften und in Geisteswissenschaften gleichmäßig wirksam, die Verhältnisse von Tatsachen zur Erkenntnis zu bringen.«2oo Damit steuert Dilthey einer Überbewertung der Unterteilung in Naturund Geisteswissenschaften gegen und betont die Bedeutung einer die Grenzen der Disziplinen überschreitenden wissenschaftlichen Rationalität. Bezeichnend für Diltheys Denken ist nun gerade, daß er zwar einerseits von einer einheitlichen wissenschaftlichen Rationalität spricht, andererseits aber bei dem Versuch, die Eigenart der Geisteswissenschaften herauszuarbeiten, in einen strikten Wissenschaftsdualismus zurückfällt, der diese Einheit marginalisiert. Seine Gegenüberstellung von Natur- und Geisteswissenschaften bezeichnet den Zusammenhang von Leben, Ausdruck und Verstehen als Basis der Geisteswissenschaften. 201 Dilthey bemüht sich in einer ersten Phase um eine Fundierung der Geisteswissenschaften, indem er die Psychologie als Basiswissenschaft auszuarbeiten versucht. Psychologie als Wissenschaft von den geistigen Tatsachen soll dieser Konzeption nach den Geisteswissenschaften die grundlegenden Begriffe und Kategorien bereitstellen. Mit deren Hilfe sollen die Geisteswissenschaften sich mit den Zeugnissen innerer Erfahrung der Menschen befassen und als historische Disziplinen die Geschichte der geistigen Welt schreiben. In seiner Diskussion der Arbeiten Diltheys zeigt Gadamer, wie das texthermeneutische Schema von Teil und Ganzem auf das Gebiet der Psychologie als geisteswissenschaftlicher Basisdisziplin übertragen wird. Dilthey expliziert seinen Begriff des Zusammenhangs des Seelenlebens durch eine Übernahme hermeneutischer Vorstellungen. Gadamer bestimmt diesen Vorgang folgendermaßen: »Es ist deutlich, daß auch hier, wie bei Droysen, die Verfahrensweise der romantischen Hermeneutik vorschwebt und nun eine universale Ausweitung erfährt. Wie der Zusammenhang eines Textes ist der Strukturzusammenhang des Lebens durch ein Verhältnis von Ganzem und Teilen bestimmt. Jeder Teil desselben drückt etwas vom Ganzen des Lebens aus, hat also eine Bedeutung für das Ganze, wie seine eigene Bedeutung von diesem Ganzen her bestimmt ist. Es ist das alte hermeneutische Prinzip der Textinterpretation, das deshalb auch für den Lebenszusammen-
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hang gilt, weil in ihm in gleicher Weise die. Einheit einer Bedeutung vorausgesetzt wird, die in allen seinen Teilen zum Ausdruck kommt. «202 Diese Übertragung mag nun zwar als Erläuterung des Begriffs eines Lebenszusammenhangs hilfreich sein. Sie bietet aber, wie Gadamer kritisch anmerkt, keine tragfähige Basis für die in den Geisteswissenschaften erforderliche Erfassung von Zusammenhängen (Epochen, langfristige Prozesse), die den Rahmen eines Lebenszusammenhangs überschreiten. »Der entscheidende Schritt, den Diltheys erkenntnistheoretische Grundlegung der Geisteswissenschaften zu tun hat, ist nun der, daß von dem Aufbau des Zusammenhangs in der Lebenserfahrung des einzelnen der Übergang zu dem geschichtlichen Zusammenhang genommen wird, der von keinem einzelnen mehr erlebt und erfahren wird.« 203 Gadamer meldet Zweifel daran an, ob Dilthey dies im Rahmen seiner psychologischen Grundkonzeption gelingen kann und verweist darauf, daß Dilthey beim Versuch der Erfassung übergreifender Zusammenhänge in eine ungewollte und undurchschaute Nähe zum Idealismus gerät. Nachdem Dilthey den Versuch aufgegeben hat, die Psychologie als Metawissenschaft zu entwerfen, bemüht er sich um neue Möglichkeiten, die geisteswissenschaftliche Arbeit zu begründen. Dabei wird das Modell des Verstehens von Lebensäußerungen zum zentralen Bezugspunkt. Die Explikationen des die Geisteswissenschaften charakterisierenden Verstehens erfolgt mit unterschiedlicher Akzentsetzung. Zunächst zeigt der Verstehensbegriff Diltheys deutlich psychologistische Züge: Die Einfühlung in eine andere Person und das Nacherleben einer bestimmten Situation werden als exemplarische Formen des Verstehens geschildert. Dadurch entsteht der Eindruck, die eigentliche Leistung des Verstehens bestünde darin, sich imaginativ und empathisch in das Innere einer Person hineinzuversetzen und deren Gefühle, Willensregungen und Vorstellungen nachzuerleben. Diese Konzeption des Verstehens wird in folgenden Äußerungen deutlich: »(00') das Verstehen ist von dem Maß der Sympathie abhängig, und ganz unsympathische Menschen verstehen wir überhaupt nicht mehr(oo.)« - »Nie kann (00') Verstehen in rationales Begreifen aufgehoben werden.«204 Die Gefahren dieser Auffassung hat Dilthey aber selbst gesehen: »(00') die Literaturgeschichte und die Poetik haben nur zu tun mit dem Bezug dieses sinnenfälligen Zusammenhangs von Worten (i.e. dem auszulegenden Text) auf das, was durch sie ausgedrückt ist. Und nun ist entscheidend: dieses sind nicht die inneren Vorgänge in dem Dichter (00.) So ist der Gegenstand mit dem die Literaturgeschichte oder die Poetik
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zunächst zu tun hat, ganz unterschieden von psychischen Vorgängen im Dichter oder seinem Leser.«20S Der zu interpretierende Gegenstand besitzt seine Bedeutung nicht dank seiner Verbindung zu inneren Zuständen des Produzenten oder Rezipienten, sondern als Zeichenkomplex, dessen Sinngehalt allgemein zugänglich ist und keine Transposition in die Innenwelt des Autors voraussetzt. Das Verstehen richtet sich auf »Objektivationen des Lebens« und wird von Dilthey dem privaten, subjektiven Erleben gegenübergestellt. 206 Mit Beziehung auf die anti-psychologistische Version des Verstehensmodells wird in der Forschung von der hermeneutischen Wende Diltheys gesprochen (weg vom Psychologismus hin zu einer hermeneutischen Fundierung der Geisteswissenschaften).207 Die Schwierigkeiten einer Auseinandersetzung mit Dilthey liegen aber gerade in dem Umstand, daß er nicht eindeutig ein bestimmtes Konzept des Verstehens ausarbeitet, sondern gleichzeitig mit verschiedenartigen und nicht umstandslos zu vereinbarenden Konzepten arbeitet. Dies wird besonders in Zusammenhang mit seiner Rede vom Nacherleben bestimmter Situationen und Ereignisse deutlich. Die Eigenart der Auffassung Diltheys - im Kontrast zu den bisher angeführten Formen des Interpretierens - kann anhand seines Konzepts des Lebenszusammenhangs leicht verdeutlicht werden. Wenn Schleiermacher bei der Interpretation das Leben des Autors als Kontext hinzuzieht, so wird damit, wie am Beispiel der Einleitung zur Platon-Übersetzung gezeigt wurde, nicht das Leben selbst zum eigentlichen Gegenstand der Aufmerksamkeit. Der Rekurs auf die Biographie dient dem Textverständnis. Bei Dilthey liegt nun eine neue Möglichkeit vor: mit Hilfe der Überlieferung wird das vergangene Leben selbst nacherlebt. Der Nachvollzug der Vergangenheit dient nicht mehr primär der Textinterpretation, sondern stellt einen Triumph des historischen Wissens dar, das vergangenes Leben und feme Epochen wiederbelebt. Konsequenterweise hebt ein solcher Ansatz die Bedeutung von Autobiographie208 und Biographie209 als literarischer Gattungen hervor. Diese geben Darstellungen von Lebenszusammenhängen und stellen die maßgeblichen Bezugsrahrnen für das Verständnis einzelner Werke, Situationen und Ereignisse zur Verfügung. Letzlich dienen sie aber dem Verstehen von Personen. In seinem Aufsatz über »Die Entstehung der Hermeneutik«2lO schlägt sich die zeitweise Dominanz dieses personenbezogenen Verstehenskonzepts deutlich nieder. Dilthey spricht hier vom Verstehen als »Nachfühlen fremder Seelenzustände«211 und formuliert das Problem der Hermeneutik mit der Frage: »Wie kann ( ... ) ein individuell gestaltetes Bewußtsein durch ( ... )
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Nachbildung eine fremde und ganz anders geartete Individualität zu objektiver Erkenntnis bringen?«212 Die Fokussierung auf das zu verstehende Individuum impliziert eine Unterordnung des Verstehens von Texten und Kunstwerken unter das Verstehen der Schöpfer. 213 Das Interesse des Henneneuten gilt demnach nicht in erster Linie dem einzelnen Kunstwerk, dem Gemälde und seiner Bedeutung, sondern dem Künstler, dessen Erleben durch das Kunstwerk hindurch zugänglich werden soll. Die Henneneutik dient dem Nachvollzug des Lebens. Dilthey hat neben seinen erkenntnistheoretischen Untersuchungen selbst biographische Arbeiten vorgelegt, darunter die monumentale, unvollendet gebliebene Schleiennacher-Biographie. In ihr stellt Dilthey den Lebenslauf in einen weiten Zusammenhang. Eine Sequenz sich wechselseitig erhellender Instanzen bestimmt die biographische Arbeit: Das Leben eines Individuums wird als Element einer Epoche aufgefaßt, die Epoche ihrerseits eingegliedert in einen umfassenden, geistes geschichtlichen Zusammenhang. Das wechselseitige Bedingungsverhältnis von Biographie, Epoche und Geistesgeschichte kann als Anwendung des henneneutischen Schemas von Ganzem und Teil verstanden werden. Wechselseitig ist dieses Verhältnis, da das Leben eines Menschen unter Bezugnahme auf spezifische historische Bedingungen dargestellt werden kann und andererseits eine Vorstellung von einer bestimmten Epoche dank der Überlieferung von Dokumenten und Überresten individuellen Lebens gewonnen werden soll. In dieser Optik erscheint die Arbeit der historischen Geisteswissenschaften nicht mehr einer Begründung bedürftig. Es ist nicht notwendig, eine bestimmte Basiswissenschaft als Grundlegung auszuarbeiten. Eine solche Begründung soll vielmehr durch den Verweis auf den Umstand ersetzt werden, daß das geisteswissenschaftliche Verstehen eine elaborierte Fonn eines immer schon in der Lebenspraxis geübten Verstehens von Äußerungen ist. 214 Der Hinweis auf das Verstehen von Handlungen und Äußerungen selbst stellt kein Novum dar; bereits Schleiennacher hatte alltägliche Kommunikationssituationen als Beispiele für Verstehensvollzüge erwähnt. Indem Dilthey nun die Verbindung dieses grundlegenden, in alltäglichen Handlungszusammenhängen geübten Verstehens mit höheren Formen des Verstehens betont, arbeitet er einer Auffassung entgegen, die das geisteswissenschaftliche Verstehen als interesselose, distanzierte und kontemplative Beschäftigung mit Vergangenem begreift, und korrigiert ansatzweise ein psychologistisches Konzept des Verstehens, dem er selbst in seinen Schriften immer wieder Anhaltspunkte bietet:
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»D i e B e d e u tun g der Gei s t e s w iss e n s c h a f te n und ihr e r T h e 0 r i e kann zunächst nur darin liegen, daß sie uns zu dem helfen, was wir in der Welt zu machen haben, was wir aus uns machen können, was wir mit der Welt anfangen können und diese mit uns (... )«.215 Die Beschäftigung mit vergangenen Epochen kann nach Diltheys Überzeugung einen sinnvollen Beitrag zur Selbstbesinnung über die gegenwärtige Situation leisten, indem Möglichkeiten menschlicher Praxis vergegenwärtigt werden und der Blick für die eigene Situation geschärft wird. Geisteswissenschaftliches Verstehen soll in Verbindung mit der jeweiligen Gegenwart stehen. Allerdings führt ihn die Forderung eines Gegenwartsbezugs nicht dazu, den Geisteswissenschaften die Funktion zuzuschreiben, einen Traditionsverlust zu kompensieren, der durch die beschleunigte Veränderung der Lebensbedingungen in der industriellen Gesellschaft eingetreten ist. Kompensation des Traditionsverlusts steht Diltheys·Selbstverständnis nach nicht zur Debatte, weil von einem Traditionsverlust überhaupt nicht die Rede sein kann. 216 Zwar konstatiert Dilthey gerade auch in der Entwicklung der Philosophie Brüche und neue Ansätze. Die eigene Gegenwart scheint aber dennoch bestimmt durch Erfahrungen, Sichtweisen und Überzeugungen, die von der Tradition übernommen wurden. Dilthey gibt Beispiele für die Prägung der Wahrnehmung durch tradierte Muster, die gleichzeitig aufschlußreich im Hinblick auf seinen Kunstbegriff sind: »Die Kunst ist das Organ des Lebensverständnisses (... ) Auf jeder Stufe unseres geistigen Lebens besitzen wir unser Wissen über die menschliche Lebenswirklichkeit und die in ihr stattfindende Individuation im Zusammenhang der lebendigen Erfahrung mit den Werken der Kunst und den Leistungen der Wissenschaft ( ... ) Wir alle würden nur einen geringen Teil unseres gegenwärtigen Verständnisses menschlicher Zustände besitzen, hätten wir uns nicht gewöhnt, durch das Auge des Dichters zu sehen ( ... ) Maler waren unsere Lehrer, im Antlitz des Menschen zu lesen und Gestalt und Gebärde zu deuten. Dichter sind unsere Organe, Menschen zu verstehen, und sie beeinflussen die Art, wie wir in Liebe, Ehe und mit Freunden unser Dasein führen. Geschichtschreiber geben uns ein Verständnis der historischen Welt, in welche doch jeder durch sein Wirken mit irgendeinem Grad von Verständnis eingreifen soll (... )«.217 Was hier über die Funktion von Kunstwerken gesagt wird, soll prinzipiell für alle den Bereichen von Kunst, Religion und Philosophie zuzuordnenden Werke gelten. Es ist merkwürdig, daß Gadamer in seiner
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detaillierten Auseinandersetzung mit den labyrinthischen Gedankengängen Diltheys zwar die verschiedenartigen Versionen seiner Theorie der Geisteswissenschaften untersucht, aber diese dezidierten Aussagen Diltheys über das Interesse an Kunstwerken nur am Rande erwähnt.218 Gadamer sieht in Diltheys Rede von der Kunst als Organ des Lebensverständnisses lediglich einen Hinweis auf den Verlust einer metaphysischen Gesamtorientierung. An die Stelle des verbindlichen metaphysischen Wissens und seiner »unmittelbaren Wahrheit«219 träten die vielfältigen und unverbindlichen Sinnangebote von Philosophie und Kunst. Im Gegensatz zu dieser Einschätzung scheint mir Dilthey hier eine sachgerechte und plausible Erläuterung der Erkenntnisvennittlung durch die Künste zu geben. Für Gadamers eigene Position ist diese Äußerung relevant, weil sie die Hauptthese des ersten Teils von WM relativiert. Im ersten Teil von WM hat Gadamer behauptet, daß die Kunstwerke seit der »Subjektivierung der Ästhetik durch die Kantische Kritik« nicht mehr als erkenntnisvennittelnd wahrgenommen würden. Die Subjektivierung der Kunst, das Vordringen der Genie- und Erlebnisästhetik löse angeblich deren Wahrheit in die unverbindlichen Reize der einfühlenden Rezeption auf. In Ergänzung zu den im ersten Kapitel bereits fonnulierten Einwänden gegen diese These Gadamers zeigt die zitierte Überlegung Diltheys, daß den Werken der Künste in den kunsttheoretischen Reflexionen nach Kant keineswegs generell die Möglichkeit abgesprochen wird, Orientierungen anzubieten und Erkenntnis zu vennitteln. Gerade Dilthey als der Theoretiker des Erlebens, der maßgeblich die Karriere dieses Ausdrucks in den Kunstwissenschaften mitzuverantworten hat, dürfte nach Gadamers eigenen ästhetikgeschichtlichen Darstellungen von einer solchen Bestimmung der Künste überhaupt keine Vorstellung mehr haben. Tatsächlich geht aus Diltheys Reflexion aber klar hervor, daß Kunstwerke unser Wissen erweitern und Einsichten vermitteln. Indem die Werke neue Wahrnehmungs weisen eröffnen und den Rezipienten mit verschiedenartigen Handlungsmustern und -nonnen bekannt machen, bereichern sie seine Welt. Sie können dies auf eine die Lebenspraxis des Wahrnehmenden verändernde Weise tun. Gerade dies schließt aber Gadamer mit seinem Begriff der »ästhetischen Unterscheidung« in Hinblick auf die Zeit nach Kant aus. Dilthey hat die Arbeit an seiner Theorie der Geisteswissenschaften nicht abgeschlossen; sein fragmentarisches Werk konfrontiert den Leser mit widersprüchlichen Momenten: Dem Psychologismus der Einfühlung
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steht die Frage nach dem Ertrag des historischen Studiums für eine Orientierung in der eigenen Gegenwart gegenüber. Der Versuch, eine Metatheorie der Geisteswissenschaften zu entwerfen, kollidiert mit eineI'Auffassung des Verstehens als begrifflich nicht voll zu erfassender Leistung. Für Dilthey stellt sich das Problem des Verstehens nicht mehr in der eingeschränkten Form der Frage nach der Verständlichkeit einer bestimmten TextsteIle oder eines einzelnen Texts; diese elementaren Probleme sind ihm keine Gegenstände theoretischer Überlegung. Auch die Polysemie von Texten wird ihm kaum zum Problem, da er durch die über Schleiermacher hinausgehende radikale Kontexterweiterung (Rekurs auf Biographie, Geist der Epoche und universalgeschichtliche Zusammenhänge) starke Vorgaben für die Ermittlung der Textbedeutung macht. Dank der scheinbaren Souveränität des einfühlenden und nacherlebenden Verstehens und der umfassenden historischen Bildung werden die Texte semantisch homogenisiert. Gadamer stellt als Grundzug der Arbeit Diltheys die Spannung zwischen Verwissenschaftlichung und Erkenntnistheorie einerseits und lebensphilosophischen Tendenzen andererseits heraus. Er hält das ganze Unternehmen einer Kritik der historischen Vernunft für einen bewundernswerten Schritt in die falsche Richtung. Bewundernswert, weil Diltheys Kompetenz auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften, seine Vertrautheit mit ihren vielfältigen Problemen und seine profunde Kenntnis einer unüberschaubaren Literatur außer Frage stehen. 220 In die falsche Richtung führen die erkenntnistheoretischen Begründungsbemühungen, weil Dilthey »( ... ) das wahre Vorbild, das die methodische Rechtfertigung ( ... ) tragen könnte, nicht wahrhaft angenommen hat, die Tradition der >praktischen Philosophie< des Aristoteles (... )«.221 Gadamer ist der Ansicht, daß die Spannung zwischen Lebensphilosophie und Erkenntnistheorie, zwischen hermeneutischer Erfahrung und Verwissenschaftlichung bei Dilthey eindeutig zugunsten der Erkenntnistheorie und Verwissenschaftlic,hung entschieden sei. Zwar habe Dilthey erkannt, daß die Geisteswissenschaften in direktem Kontakt zu. der Lebenserfahrung der einzelnen stünden, aber seine Furcht vor dem Vorwurf des Relativismus habe ihn in die Arme des Methodendenkens getrieben. 222 Mit Recht hat G. Warnke auf die fortdauernde Aktualität des für Dilthey grundlegenden Konflikts hingewiesen und gleichzeitig Gadamers Stellungnahme kritisiert. 223 Diltheys Suche nach Möglichkeiten, geisteswissenschaftliche Interpretationen zu begründen und von Fehldeutungen zu unterscheiden,
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scheint nach wie vor eine Aufgabe für seil).e Nachfolger darzustellen. Gadamers Desinteresse an dieser Suche hat ihm den Vorwurf des Antimethodologismus und der Wissenschaftsfeindlichkeit eingebracht.
Il.1.3.4. Existenzialer Neubeginn
Heideggers Arbeit markiert für Gadamer einen radikalen Neubeginn, der seinen eigenen Ansatz wesentlich prägt. 224 Die Position Heideggers stellt somit nicht lediglich eine weitere Station der hermeneutikgeschichtlichen Ausführungen in WM dar, sondern sie bildet den eigentlichen Ausgangspunkt der Überlegungen Gadamers. Aus diesem Grund ist eine kurze Erläuterung von Heideggers »existenzialem« Verstehensbegriff unerläßlich. Die Schwierigkeit dieses Unternehmens besteht aber nicht nur darin, daß Heideggers Werk den Leser mit außerordentlichen Verstehensschwierigkeiten konfrontiert, sondern sie wird durch den Umstand vergrößert, daß Gadamer sich zwar explizit auf Heidegger beruft, ohne aber in eine detaillierte Auseinandersetzung mit seinem Lehrer einzutreten. Da im Rahmen der vorliegenden Arbeit keine extensive Analyse des Heideggersehen Werks möglich ist, beschränke ich mich darauf, das existenziale Verstehenskonzept von »Sein und Zeit« vorzustellen. Zwar räumt Gadamer diesem Text nicht die zentrale Stellung ein, die ihm im allgemeinen zugeschrieben wird225 , aber er scheint gerade in Hinblick auf den Verstehensbegriff unverzichtbar zu sein. 226 In »Sein und Zeit« entwickelt Heidegger im Rahmen einer »Fundamentalhermeneutik«, die die Frage nach dem »Sinn von Sein« formulieren soll, seinen neuartigen, »existenzialen« Verstehensbegriff. Der in diesem Werk auch erhobene Anspruch, ein Grundmodell des Verstehens auszuarbeiten, aus dem weitere Formen und Leistungen des Verstehens abgeleitet werden können227 , stellt eine zumindest indirekte Verbindung zwischen »Sein und Zeit« und den Theorien der Geisteswissenschaften und der Interpretation her. Heideggers »Sein und Zeit« negiert in mehrfacher Hinsicht die Tradition: gegen die Charakterisierung des Menschen als vernunftfähiges, autonomes Wesen wird eine Konzeption des Daseins gestellt, die die Endlichkeit und Geschichtlichkeit des menschlichen Lebens betont und den Umstand hervorhebt, daß der Mensch in wesentlichen Punkten über sein Leben und seine Welt nicht verfügen kann. An die Stelle der von der philosophischen Tradition hervorgehobenen Fähigkeit menschlicher Ver-
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nunft, durch begriffliches Denken Erkenntnis zu gewinnen, die Enge konkreter Lebenssituationen zu transzendieren oder Welt zuallererst zu konstituieren, tritt der Hinweis auf die für das Selbst- und Weltverständnis ausschlaggebende Bedeutung der alltäglichen Umwelt. Wahrheit - im Gegensatz zu wissenschaftlicher Erkenntnis - wird bei Heidegger als eine aller rationalen Erforschung vorgeordnete Erschlossenheit von Welt, als ein unverfügbares Faktum gekennzeichnet. Mit der Abwendung von der philosophischen Tradition, die sich großen Teils als Auseinandersetzung mit der Philosophie E. Husserls vollzieht, geht eine gewisse Wissenschaftsskepsis einher. Angesichts einer Besinnung auf elementare Fragen menschlichen Existierens erscheinen Probleme wissenschaftlicher Arbeit als peripher: Existentielle Wahrheit verdrängt wissenschaftliche Erkenntnis. 228 Man kann den im Rahmen dieses Ansatzes formulierten Verstehensbegriff durchaus zu einigen Momenten in Diltheys Werk in Verbindung bringen und ihn als eine Radikalisierung einer lebensphilosophischen Konzeption des Verstehens begreifen. Der lebensphilosophisch bestimmte Verstehensbegriff bei Dilthey betont die Angewiesenheit auch der geisteswissenschaftlichen Arbeit auf ein Erfassen des Lebens, das als unhintergehbare Bedingung für die Entstehung von geschichtlichen Zusammenhängen, Texten und Kunstwerken erscheint. 229 Er insistiert zudem auf der Bedeutung der Geisteswissenschaften selbst für das Weltverständnis. Der Verstehensbegriff, den Heidegger in »Sein und Zeit« entwirft, geht aber wesentlich über solche Überlegungen hinaus und identifiziert menschliches Leben (»Dasein«) mit Verstehen. Das Verstehen wird radikal universalisiert: Aus einer spezifischen Erkenntnisform wird eine jeder Erkenntnisleistung vorausgehende Vollzugsform des Daseins. Es sind die Paragraphen 31 und 32 in »Sein und Zeit«, die diese Konzeption entfalten. Heidegger beginnt mit der Feststellung, daß Verstehen »als fundamentales Existenzial ( ... ), als Grundmodus des Daseins« zu begreifen sei. 230 Dieser existenziale Verstehensbegriff erlaubt es nicht, ein konkretes Beispiel zur Veranschaulichung anzuführen, weil damit die Fundierungsebene der »Existenzialien« bereits verlassen wäre. Das »Existenzial« Verstehen bezieht sich nicht als Erkenntnisfunktion auf einzelne Gegenstände in der Welt, es erschließt vielmehr den Raum, in dem dann erst Gegenstände als Objekte abgeleiteter Formen des Verstehens auftreten können. Als nicht-willkürliche Vollzugsform des Daseins eröffnet das existenziale Verstehen einen Bereich von Möglichkeiten, es erschließt eine Welt:
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»Das Verstehen betrifft als Erschließen immer die ganze Grundverfassung des In-der-Welt-seins. Als Seinkönnen ist das In-Sein je Seinkönnen-in-der-Welt. «231 Durch die Beschreibung des Entwurfcharakters und der Vor-Struktur des Verstehens bemüht sich Heidegger um eine Präzisierung seiner Gedanken. Wie auch im Fall des Verstehens bezieht er sich mit seinen Ausführungen zum existenzialen Entwerfen auf keine willkürliche Tätigkeit. Das Dasein kann sich nicht dazu entschließen, nicht zu entwerfen. Mit der Rede vom Dasein bezieht sich Heidegger gerade auf ein Seiendes, das als verstehend und entwerfend definiert ist: »Dasein versteht sich immer schon und immer noch, solange es ist, aus Möglichkeiten. Der Entwurfcharakter des Verstehens besagt ( ... ), daß dieses das, woraufhin es entwirft, die Möglichkeiten, selbst nicht thematisch erfaßt. «232 Die Vor-Struktur des Verstehens soll den Rahmen aufzeigen, innerhalb dessen entwerfendes Verstehen sich vollzieht, wobei primär an das Verstehen der alltäglichen Umwelt, das Hantieren mit Gebrauchsgegenständen und ähnliches gedacht ist. 233 Existenziales Verstehen ist inhaltlich unbestimmt. Auffällig ist auch eine Vermischung verschiedener Existenzialien, die Heidegger vornimmt, wenn er beispielsweise von der »Seinsart des befindlichen Verstehens«234 spricht oder feststellt, daß )) Verstehen (...) immer gestimmtes ( ... )« ist. 23S Die Allgemeinheit des existenzialen Verstehensbegriffs erlaubt keine Frage nach Methoden, Verfahren oder Zielen des Verstehens, handelt es sich doch bei diesem Verstehen überhaupt nicht um Handlungen eines Subjekts, sondern um ein unverfügbares Faktum des Daseins. Die Heideggersche ))Hermeneutik der Faktizität« ist keine Kunstlehre des Verstehens; sie begreift sich als Aufweis von Grundstrukturen des Daseins. Diese knappen Hinweise auf Heideggers Verstehensbegriff machen deutlich, daß diese Reflexionen auf einer ganz anderen Ebene anzusiedeln sind als die der älteren Hermeneutik. Zwar ist offensichtlich, daß der universale existenzialontologische Verstehensbegriff nach Heideggers Auffassung auch die Arbeit innerhalb der Geisteswissenschaften fundiert. In welcher Weise dieses Fundierungsverhältnis allerdings zu denken wäre, geht aus den Ausführungen in ))Sein und Zeit« nicht hervor. 236
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II.l.4. Zusammenfassung Die henneneutikgeschichtlichen Erörterungen Gadamers entwerfen das Bild einer zu den Veränderungen der neuzeitlichen Ästhetik und Kunsttheorie parallel verlaufenden Entwicklung: Im Bereich der Ästhetik zeichnet Kant für eine problematische Subjektivierung verantwortlich, auf dem Feld der Henneneutik wird der Arbeit Schleiennachers eine verhängnisvolle Psychologisierung angelastet. Um eine sorgfältige Beurteilung dieser These Gadamers zu ennöglichen, ist ein Blick auf die »Vorgeschichte« der Henneneutik des 19. Jahrhunderts angezeigt. Die Interpretationstheorie G.F. Meiers dokumentiert den Stand der vor-romantischen Henneneutik. Sie zeichnet sich durch eine ausdrückliche Differenzierung unterschiedlicher Interpretationsweisen, die Einführung des Begriffs einer »aesthetischen Auslegung« sowie die Ausweitung des Gegenstandsbereichs der Henneneutik aus. Vor diesem Hintergrund wird der innovative Charakter der Schleiermacherschen Henneneutik greifbar. Anders als Gadamer behauptet, löst die Henneneutik Schleiennachers den Wahrheitsanspruch der Texte nicht auf. Der Sachbezug des Verstehens wird gewahrt. Von einer generellen Psychologisierung des Verstehens kann nicht die Rede sein. Für die Entwicklung der Henneneutik im 19. Jahrhundert sind wissenschaftsgeschichtliche Veränderungen von außerordentlicher Bedeutung: unter der Leitung der Geschichtswissenschaft bilden sich die Geisteswissenschaften als eigenständige Fonnation heraus, die in ein Konkurrenzverhältnis zu den naturwissenschaftlichen Fächern tritt. Im Zuge dieser Entwicklung gewinnen wissenschafts- und erkenntnistheoretische Grundlegungsbemühungen auch im Bereich der Geisteswissenschaften zunehmend an Bedeutung. Die Henneneutik wird in diesen Prozeß miteinbezogen. Ihr Schwerpunkt verlagert sich von einer Theorie der Textinterpretation zu einer allgemeinen Theorie der Geisteswissenschaften, die )das Verstehen< oft als spezifisch geisteswissenschaftliche Methode ausgibt. Droysen, von Heimholtz, Windelband und Dilthey bemühen sich auf unterschiedliche Weise um erkenntnistheoretische Klärung und Legitimation der Arbeit der Geisteswissenschaften. Gadamer vennag in der angesprochenen Entwicklung ausschließlich eine irreführende Verwissenschaftlichung des Umgangs mit der Überlieferung und eine mißlungene Orientierung der Geisteswissenschaften am Vorbild der exakten Wissenschaften und ihrer Methodologie zu erkennen.
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In Hinblick auf die von Windelband und von HeImholtz gemachten Vorschläge ist dieser Diagnose insoweit zuzustimmen, als beide Autoren nicht in der Lage sind, die Eigenart des in den Geisteswissenschaften gewonnenen und bewahrten Wissens befriedigend zu beschreiben. Für Droysen und Dilthey trifft Gadamers Befund allerdings nicht in gleicher Weise zu. Im Gegenteil, Diltheys Konzeption der Kunst als ein Organ des Lebensverständnisses und seine Auffassung der Geisteswissenschaften als ein Medium der Selbstbesinnung stehen in überraschender Nähe zu Gadamers eigener Arbeit. In der Geschichte der Hermeneutik stellt der von Heidegger formulierte Verstehensbegriff einen wichtigen Einschnitt dar, weil er das Verstehen nicht länger als geisteswissenschaftliches Gegenstück zum naturwissenschaftlichen Erklären begreift, sondern als eine fundamentale Vollzugsform menschlicher Existenz bestimmt. Gadamer hat die Bedeutung Heideggers emphatisch betont. Er erkennt in Heideggers Neubeginn eine verheißungsvolle Überwindung der wissenschaftstheoretischen Fragestellungen des 19. Jahrhunderts. Während in Gadamers Darstellung die Hermeneutikgeschichte linear auf ihre Vollendung in Heideggers Philosophie zuzulaufen scheint, stellt Heideggers Verstehensbegriff de facto eine radikale Abwendung von dem gesamten Problembereich der traditionellen Hermeneutik dar. Heideggers Anliegen ist es, eine hermeneutische Philosophie zu entwickeln, die in der Lage ist, ein neuartiges Seinsverständnis zu gewinnen. Gadamers Unterfangen steht demgegenüber der traditionellen Hermeneutik und Theorie der Geisteswissenschaften näher. Ihm geht es darum, vor dem Hintergrund der hermeneutischen Philosophie Heideggers eine philosophische Hermeneutik auszuarbeiten, in der die Erfahrung der Kunst und die Arbeit der Geisteswissenschaften angemessen bestimmt werden. Eine Analyse der von Gadamer formulierten »Grundzüge einer Theorie der hermeneutischen Erfahrung« wird zeigen, ob es sich bei der Anlehnung an die Ontologisierung durch Heidegger um eine fruchtbare Transformation oder um eine problematische Verdrängung der traditionellen Hermeneutik handelt.
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II.2. Grundelemente der Hermeneutik Gadamers Die bisher behandelten henneneutik- und kunstgeschichtlichen Überlegungen Gadamers waren bemüht zu zeigen, daß das Verstehen von tradierten Texten oder Kunstwerken durch zwei Gefahren bedroht ist. Einerseits wird im Rahmen eines ästhetischen Subjektivismus der Bedeutungsgehalt der Texte und Kunstwerke tendenziell aufgelöst, andererseits wird das Verstehen auf unzureichende Weise nach dem Schema einer bestimmte Instrumente zum Einsatz bringenden Technik gedacht. Beide Richtungen verstellen nach Gadamers Überzeugung den Blick auf die Eigenart des im Bereich der Geisteswissenschaften gewonnenen und vermittelten Wissens. Besonders die Tendenz, geisteswissenschaftliche Arbeit analog zu den exakten Wissenschaften zu bestimmen und nach methodologischen Verbesserungen Ausschau zu halten, wird in WM als ein grundlegendes szientistisches Selbstmißverständnis kritisiert. Aufgrund dieser Ausgangssituation ist es durchaus konsequent;,. daß Gadamer überhaupt keinen direkten Beitrag zur Methodologie der Geisteswissenschaften leisten will. An Methoden und methodologischen Überlegungen herrscht nach seiner Einschätzung der Lage kein Mangel. Was vielmehr notwendig zu sein scheint, ist eine Besinnung auf Ziele geisteswissenschaftlicher Arbeit, eine Verständigung über ihre Gegenstände und eine Verabschiedung eines oberflächlichen Szientismus, der die Eigentümlichkeiten des von den Geisteswissenschaften gewonnenen Wissens ignoriert. Im folgenden sollen die wesentlichen Bausteine der Gadamerschen Philosophie des Verstehens behandelt werden. Zunächst wird der Begriff des henneneutischen Zirkels erörtert, indem im Anschluß an eine kurze Darstellung der Geschichte der Zirkelproblematik die Frage beantwortet wird, welche spezielle Konzeption des henneneutischen Zirkels den Ausführungen in WM zugrunde liegt (11.2.1.). Der nächste Abschnitt untersucht die aus Gadamers Konzeption des Zirkels hervorgehende Positivierung von Vorurteilen. Dabei wird gefragt, welche Art von Vorurteilen Gadamer rehabilitieren möchte und ob dieses Projekt überhaupt anders denn als konservative oder restaurative Hybris der Henneneutik begriffen werden kann (11.2.2.). In unmittelbarer Verbindung mit dieser Problematik stehen auch die Überlegungen zum Autoritätsbegriff (11.2.3.) und zur Bedeutung von Tradition(en) (11.2.4.). Die Diskussion dieser drei Konzepte - Vorurteil, Autorität, Tradition - erläutert den Vergangenheitsbezug der Henneneutik und hebt diesen von einem rein kontemplativen Interesse an der Geschichte ab.
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Im Zusammenhang mit den Überlegungen Gadamers zur Bedeutung der Überlieferung wird eine Theorie vorgestellt, die in letzter Zeit verhältnismäßig großes Aufsehen erregt hat. Gemeint ist die sogenannte »Kompensationstheorie«, die die Funktion der Geisteswissenschaften als Ausgleich oder Sublimierung eines modernisierungsbedingten Vergangenheitsverlusts in den modemen Zivilisationen bestimmt. Dieser Ansatz wird kurz vorgestellt, weil er einerseits, was die Isolierung der Geisteswissenschaften von den Sozial- und Naturwissenschaften angeht, Gadamers Hermeneutik nahe steht, zugleich aber durch die massive Betonung der Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart eine Antithese zu Gadamers Traditionalismus und Kontinuitätsdenken formuliert (ll.2.5.). Gadamers Aufwertung des Vorurteils, die Rehabilitierung von Autorität und der Aufweis der fundamentalen Bedeutung von Tradition(en) bilden die Voraussetzungen für eine Darstellung des in seiner Bedeutung für Gadamers Hermeneutik schwerlich zu überschätzenden Prinzips der Wirkungs geschichte. Dieser Begriff stellt eine umfassende Basis für alle weiteren Kennzeichnungen der hermeneutischen Erfahrung in WM zur Verfügung. Zusammen mit der auf ihn gestützten These von der jedem Interpretationsakt vorgängigen Bestimmung der Gegenwart durch die Vergangenheit stellt er den Kern der in WM formulierten philosophischen Hermeneutik dar (11.2.6.). Die Implikationen des Prinzips der Wirkungsgeschichte für ein angemessenes Verständnis der Interpretationsarbeit werden durch die Horizontmetaphorik aufgewiesen. Sie soll das Wechselspiel zwischen dem Wissen des Interpreten (Gegenwartshorizont) und dem im Interpretandum niedergelegten Wissen (Vergangenheitshorizont) erläutern (11.2.7.). Daß die Sprache nicht nur ein Medium des Verstehens ist, sondern daß das Verstehen selbst eine sprachliche Struktur besitzt, will die ))ontologische Wendung der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache« herausarbeiten. Der hermeneutische Sprachbegriff formuliert den Gedanken, daß in der Sprache selbst eine bestimmte Weltansicht enthalten ist. Hierdurch werden die Konzepte der Sprache und des Verstehens einander angenähert (ll.2.8.). Den Begriff der hermeneutischen Erfahrung entwickelt Gadamer vor dem Hintergrund eines durch Rekurs auf Hegel bestimmten allgemeinen Erfahrungsbegriffs, der in Hinblick auf die Gegenstände der Überlieferung spezifiziert wird (11.2.9.). Die ))Logik von Frage und Antwort« entwirft schließlich ein Modell der Textinterpretation, in dem der Text als Partner eines Gesprächs dargestellt wird. Diese Konzeption ist kritisch gegen eine Vergegenständlichung des Texts und seine gewaltsame Ein-
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ordnung in die Perspektive des Interpreten gerichtet (11.2.10.). Daß der Interpret nicht Herr über das hermeneutische Gespräch ist, sondern in gewissem Sinn seine Identität erst als Teilnehmer eines ihn übergreifenden Gesprächs ausbildet, wird in der Erweiterung deutlich, die die »Logik von Frage und Antwort« durch Gadamers Überlegungen zum Dialog und Gespräch erfährt. Hier hat die Betonung eines das Verstehen prägenden Primats der Tradition ihren Ort. Gadamer will diesen Primat wiederholt dadurch zur Geltung bringen, daß er die Interpretationsbemühungen nicht ausgehend von der Aktivität des Interpreten beschreibt, sondern als Ausgangspunkt das Getroffenwerden von der Überlieferung, die Anrede des Texts an den Leser oder die Frage, die das Interpretandum dem Interpreten stellt, bezeichnet (11.2.11.). Auf diese Überlegenheit des Interpretandums gründet er seinen Begriff des Klassischen, der insbesondere von Seiten der Literaturwissenschaften stark kritisiert wurde, weil er angeblich das dialogische Verhältnis von Text und Leser zerstört (11.2.12.). Als letztes Element der Hermeneutik Gadamers wird die Interpretation der Aristotelischen Ethik und ihres Begriffs der >phronesis< behandelt. Gadamer rekurriert auf den antiken Begriff des praktischen Wissens, weil er seiner Auffassung nach als Modell für die Erfassung der hermeneutischen Erfahrung dienen kann. Dieser Rückgriff auf Aristoteles ist besonders im Hinblick auf eine Klärung des hermeneutischen Erkenntnisbegriffs von Bedeutung, da er eine Alternative zu einem szientistisch eingeengten Wahrheitsbegriff freilegen soll (11.2.13.).
II.2 .1. Der hermeneutische Zirkel
Um das Problem des hermeneutischen Zirkels zu behandeln, ist es sinnvoll, an die urspüngliche Bedeutung der Rede vom Zirkel zu erinnern. Beweisführungen oder Definitionen heißen dann zirkulär, wenn ein bestimmter Fehler festgestellt werden kann. Im Fall eines Beweises besteht dieser Fehler darin, daß der zu beweisende Satz aus einer Reihe von Voraussetzungen hergeleitet wird, zu denen er selbst - in offener oder versteckter Form - bereits gehört. Im Fall einer Definition spricht man analog hierzu dann von einem zirkulären Vorgehen, wenn der zu definierende Ausdruck ebenfalls in unzulässiger Weise in den definierenden Bestimmungen gebraucht wird. Aus der Fehlerhaftigkeit der beschriebenen Redeweisen leitet sich der Name »circulus vitiosus« her231 ,
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es handelt sich um eine zu vermeidende Fonn argumentierenden Sprachgebrauchs. Die Rede von einem hermeneutischen Zirkel bezieht sich im Gegensatz zu dem im Bereich logischer Untersuchungen beheimateten Terminus »circulus vitiosus« nicht auf fehlerhafte Beweisführungen und Argumentationen. Im folgenden soll dieses vom »circulus vitiosus« zu unterscheidende Konzept des hermeneutischen Zirkels behandelt werden. Erst seit Beginn des 19. Jahrhunderts ist von einem Zirkel des Verstehens explizit die Rede. Der offensichtlichste Unterschied zu der oben angeführten Redeweise von einem »circulus vitiosus« in Beweisen oder Definitionen besteht darin, daß nun kein Fehler des Interpretierens bezeichnet wird, sondern auf Eigentümlichkeiten der Textinterpretation hingewiesen werden soll, die einmal als gravierendes Problem, ein anderes Mal als eine Grundbedingung des Verstehens überhaupt ausgegeben werden. Seit F. Asts »Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik«238 zählt das Problem des sogenannten Zirkels des Verstehens zu den Standardthemen der Hermeneutik. Ast gilt als der erste, der den hermeneutischen Zirkel als grundlegend für die Textinterpretation darstellt. Der Zirkel ist bei ihm keine unauflösbare Beschränkung des Textverstehens, sondern erscheint als ein auflösbares Problem: »Das Grundgesetz alles Verstehens und Erkennens ist, aus dem Einzelnen den Geist des Ganzen zu finden, und durch das Ganze das Einzelne zu begreifen (... ) Also kann auch nicht der Geist des gesammten Alterthums wahrhaft erkannt werden, wenn wir ihn nicht in seinen einzelnen Offenbarungen, in den Werken der Schriftsteller des Alterthums, begreifen, und umgekehrt kann der Geist eines Schriftstellers nicht ohne den Geist des gesammten Alterthums aufgefaßt werden ( ... ) Der Zirkel, daß ich a,b,c u.s.w. nur durch A u.s.f. erkennen kann, aber dieses A selbst wieder nur durch a,b,c u.s.f. ist unauflöslich, wenn beide A und a,b,c als Gegensätze gedacht werden, die sich wechselseitig bedingen und voraussetzen, nicht aber ihre Einheit anerkannt wird, so daß A nicht erst aus a,b,c u.s.f. hervorgeht und durch sie gebildet wird, sondern ihnen selbst vorausgeht, sie alle auf gleiche Weise durchdringt, a,b,c also nichts anderes als individuelle Darstellungen des Einen A sind ( ... ) So allein ist es möglich, daß ich das Einzelne durch das Ganze und umgekehrt das Ganze durch das Einzelne erkenne; denn beide sind in jeder Einzelheit zugleich gegeben; mit a ist, weil es nur Offenbarung des A ist, zugleich das A gesetzt, mit dem Einzelnen also zugleich das Ganze ( ... )«239
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Die Rede von einem Zirkel des Textverstehens thematisiert hier das Verhältnis vom Ganzen und seinen Teilen als Verhältnis des »Geists des gesammten Alterthums« zu den Werken eines Autors. Zwar hat die ältere Hermeneutik das Verhältnis von Teil und Ganzem erörtert, aber sie hat dabei nicht an die externe Relation zwischen einem Text und dem Geist der Epoche gedacht, sondern auf das Verhältnis der Textsegmente zum Textganzen Bezug genommen und die Frage gestellt, wie aus den Teilen eines Texts die Bedeutung des Gesamttexts gewonnen werden kann, wenn die Gesamtbedeutung nicht einfach als Summe der Elemente zu bestimmen ist. Es ist eine die idealistischen Komponenten des aufkommenden Historismus charakterisierende Wendung, wenn bei Ast nicht allein die Bedeutung einzelner Texte Gegenstand des Verstehens ist, sondern der Geist einer ganzen Epoche erkannt werden soll. Der Schwerpunkt der Überlegungen wird verlagert: während die ältere Hermeneutik primär die Bedeutung einzelner Texte klären wollte, wird nun der umfassendere historische Kontext zu einer zentralen Bezugsebene der Interpretation. Der einzelne Text wird von Ast als »Offenbarung« des Geistes der Epoche aufgefaßt. Im Rahmen seines spekulativen, identitätsphilosophischen Ansatzes glaubt er, darauf verzichten zu können, eine detaillierte Erklärung dafür zu geben, wie durch einen einzelnen Text die Gesamtheit des epochenspezifischen Gedankenguts zugänglich werden soll. Ast formuliert zwar die Frage, wie eine angemessene Verortung einzelner Texte in einem umfassenden Kontext möglich ist, er verhindert gleichzeitig aber eine befriedigende Beantwortung, indem er vorschnell ein Wissen um diesen allgemeinen Kontext - den Geist der Epoche - als unproblematisch gegeben ansieht. Obwohl Schleiermacher an Asts Fassung des Zirkels deutlich Kritik übt'40, kehrt die Hermeneutik nicht mehr zu der Ausgangsversion des Zirkels als Beschreibung des Interpretationsvorgangs zurück. Bei Schleiermacher wird der Zirkel in zwei Versionen eingeführt. Zunächst wird in Anknüpfung an die Überlegungen Asts die Beziehung zwischen Texten und der Epoche, in der sie entstanden, thematisiert: »Der Sprachschatz und die Geschichte des Zeitalters eines Verfassers verhalten sich wie das Ganze, aus welchem seine Schriften als das Einzelne müssen verstanden werden, und jenes wieder aus ihm. (... ) Überall ist das vollkommene Wissen in diesem scheinbaren Kreise, daß jedes Besondere nur aus dem Allgemeinen, dessen Teil es ist, verstanden werden kann und umgekehrt.«241 Schleiermacher sieht in dem angesprochenen Sachverhalt keine Apo-
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rie des Textverstehens. Er vertritt nicht die Auffassung, daß das Ganze (die Epoche) bereits vollständig verstanden sein muß, damit eines seiner Elemente (der Text) verständlich zu werden vermag und daß gleichzeitig das Ganze nur aufgrund der Erkenntnis sämtlicher Elemente begriffen werden kann. Er diagnostiziert vielmehr eine wechselseitige und voranschreitende Ergänzung des Wissens. Dieser Erkenntniszuwachs erfolgt einerseits ausgehend vom Wissen über die Epoche und vertieft das Textverständnis, andererseits führt sie in umgekehrter Richtung vom einzelnen Text ausgehend zu einem besseren Verständnis des umfassenderen historischen Kontexts. Diese Interdependenz wird in keiner Weise als ausweglose Aporie begriffen, sondern schlicht als Möglichkeit der Vertiefung des Verständnisses gesehen: »( ... ) kein Auszulegendes (kann) auf einmal verstanden werden (... ) jedes Lesen setzt uns erst, indem es (... ) Vorkenntnisse bereichert, zum besseren Verstehen instand.«242 Die zweite Version des Zirkels bei Schleiermacher betrifft das intratextuelle Verhältnis von Teil und Ganzem: »Auch innerhalb einer einzelnen Schrift kann das Einzelne nur aus dem Ganzen verstanden werden, und es ( ... ) muß deshalb eine kursorische Lesung, um einen Überblick des Ganzen zu erhalten, der genaueren Auslegung vorangehen. Dies scheint ein Zirkel, allein zu diesem vorläufigen Verstehen reicht diejenige Kenntnis des Einzelnen hin, welche aus der allgemeinen Kenntnis der Sprache hervorgeht.«243 Schleiermacher sagt, daß eine vage Vorstellung von der Textbedeutung am Ausgangspunkt der Interpretationsbemühungen steht. Eine solche erste Vorstellung von der Bedeutung des Gesamttexts gewinnt der Leser beispielsweise durch eine kursorische Lektüre oder durch Vorworte, Übersichten, Inhaltsangaben. Im Lauf mehrerer Lektüredurchgänge wird diese antizipierende Bedeutungszuschreibung bestätigt oder widerlegt, präzisiert oder modifiziert. Der Umstand, daß die erste Lektüre mit einer vagen Vorstellung - sei es auch nur die grobe Zuordnung zu einer bestimmten Textsorte - ansetzt, ist kein Manko der Interpretation, weil diese erste Annahme korrigiert werden kann. Um einen Zirkel im eigentlichen Sinn würde es sich nur dann handeln, wenn die Interpretation zwangsläufig die antizipierte Textbedeutung bestätigen würde. Schleiermacher spricht daher nur von einem »scheinbaren Kreise«. Er stellt also nicht ein im strengen Sinn zirkuläres Vorgehen als Spezifikum der Interpretation heraus, sondern gebraucht das Bild vom Zirkel als Kennzeichnung des Verlaufs der Interpretation. 244 Schleiermachers Reflexionen über den Zirkel haben demnach keines-
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wegs die Aufgabe, ein grundlegendes Unterscheidungsmerkmal derlGeistes- von den Naturwissenschaften zu benennen. 245 Eine solche Funktion kann allerdings der Rede vom Zirkel des Verstehens bei W. Dilthey zugeschrieben werden. Dilthey spricht nicht allein von einem Zirkel der Textinterpretation, sondern setzt die Zirkel-Metapher in unterschiedlichen Zusammenhängen ein. Er thematisiert neben dem Zirkel der Textinterpretation266 einen Zirkel der Begriffsbildung241, einen Zirkel der Klassifikation248 , einen Zirkel historischer Wissensbildung249 und spricht schließlich von einer Zirkularität »allen menschlichen Denkens«.250 Gemeinsam ist diesen verschiedenen Konzepten die Auffassung, daß wissenschaftliche und philosophische Erkenntnis auf einem unhintergehbaren, nicht kritisch zu durchleuchtenden Fundament aufruhen. Vorleistungen und Strukturierungen, die von dieser Basis aus geleistet werden, sind nach Dilthey nicht durch den Erkenntnisprozeß einholbar und revidierbar. Damit wird aus dem bloßen Anschein eines Zirkels eine Aporie. An die Stelle heuristischer Antizipationen, die schrittweise korrigiert oder bestätigt werden, tritt ein unauflösbarer Zirkel als Grundfigur des Denkens. Dabei weiß Dilthey natürlich um die Korrekturfähigkeit einzelner Bedeutungshypothesen. Er sieht selbstverständlich, daß ein Interpret sich nicht in einem ausweglosen Kreis bewegt, sondern seine Interpretationen korrigieren und verbessern kann. Daß beispielsweise die Vermutung, es handle sich bei einem Text um einen philosophischen Traktat, im Prozeß der Lektüre enttäuscht und durch das Wissen ersetzt werden kann, daß es sich um eine Philosophensatire handelt, wird von Dilthey mit Sicherheit nicht in Zweifel gezogen. Diltheys Argument betrifft vielmehr den Sachverhalt, daß ein Interpret einem Text anscheinend nur solche Bedeutungen zuschreiben kann, die ihm von seinem eigenen historischen Kontext aus zugänglich sind. Nur wenn er über alternative Möglichkeiten verfügt, kann der Leser seine anfängliche Bedeutungszuschreibung korrigieren. Ein einfaches Gedankenexperiment kann das Gemeinte veranschaulichen: ein Interpret mit dem Wissen Schleiermachers müßte scheitern, wenn er die Bedeutung einiger Seiten des Telefonbuchs des Bezirks Konstanz herausfinden müßte. Aufgrund seiner Unwissenheit über die Möglichkeiten der Telekommunikation könnte er die Bedeutung dieses Texts nicht entdecken, seine Bedeutungszuschreibungen würden sukzessive falsifiziert, ohne daß er die richtige Alternative fände. 251 Das Gelingen der Interpretationen hängt also in entscheidender Weise
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von dem Vorwissen des Interpreten ab, und.Dilthey sieht in dieser Abhängigkeit eine schwerwiegende Belastung, weil sie auch die Möglichkeiten geisteswissenschaftlicher Interpretationsarbeit begrenzt. Diese Einschätzung verändert sich grundlegend bei Heidegger. Während Diltheys Ausführungen im wesentlichen durch das Streben nach einer erkenntnistheoretischen und methodologischen Legitimation des Verstehens geprägt sind und das Verstehen als charakteristische Erkenntnisweise der Geisteswissenschaften gegenüber der naturwissenschaftlichen Erklärung absetzen, bezieht sich Heideggers fundamentalontologischer Verstehensbegriff - wie bereits dargelegt - nicht mehr auf eine bestimmte Erkenntnisform, sondern auf ein sämtliche Erkenntnisleistungen begründendes, welterschließendes Faktum des Daseins. Während Dilthey die Abhängigkeit des Geisteswissenschaftlers von seinem historisch bedingten Vorverständnis und Vorwissen als Aporie begreift, erfaßt Heidegger dieses Vorverständnis und das auf ihm gründende Faktum des Verstehens als eine Bedingung der Möglichkeit auch geisteswissenschaftlicher Erkenntnis. Der Heideggersche Verstehensbegriff wehrt damit auch eine szientistische Selbstüberforderung der Geisteswissenschaften ab, die sich in Diltheys Gedanken bemerkbar macht. Heidegger verläßt mit seinem oben dargestellten Verstehensbegriff den Bereich der Epistemologie und etabliert die Hermeneutik programmatisch als Ontologie. Auf dieser neuen Ebene reformuliert er das Problem, das Dilthey in immer neuen Anläufen zu lösen versuchte. 252 Nachdem er die erkenntnistheoretischen Grundlegungsbemühungen nicht ohne Ironie als irreführend charakterisiert hat, formuliert Heidegger seine Gegenposition: »( ... ) in diesem Zirkel ein vitiosum sehen und nach Wegen Ausschau halten, ihn zu vermeiden, ja ihn auch nur als unvermeidliche Unvollkommenheit >empfinden<, heißt das Verstehen von Grund aus mißverstehen. Nicht darum geht es, Verstehen und Auslegung einem bestimmten Erkenntnisideal anzugleichen ( ... ) Die Erfüllung der Grundbedingungen möglichen Auslegens liegt vielmehr darin, dieses nicht zuvor hinsichtlich seiner wesenhaften Vollzugsbedingungen zu verkennen. Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen. Dieser Zirkel des Verstehens ist nicht ein Kreis, in dem sich eine beliebige Erkenntnisart bewegt, sondern er ist der Ausdruck der existenzialen Vor-Struktur des Daseins selbst.«253 Gadamer knüpft bei seiner Ausarbeitung zunächst an die von Heidegger formulierte» Vorstruktur des Verstehens« an. Er will damit hervorheben, daß wir uns niemals ohne ein Vorverständnis in Situationen orientie-
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ren und nur auf der Grundlage von Erfahrungen, Erwartungen und Vormeinungen fähig sind, die Bedeutung von Situationen, Ereignissen, Handlungen oder bestimmten Gegenständen zu erfassen. Man sieht, daß die Termini »circulus vitiosus« und »hermeneutischer Zirkel« auf verschiedenartige Probleme Bezug nehmen. Während die Rede vom »circulus vitiosus« einen Verstoß gegen Regeln argumentierender oder definierender Rede bezeichnet, soll die Rede vom »hermeneutischen Zirkel« auf eine Grundbedingung alltagsweltlicher Orientierung und sprachlicher Verständigung verweisen. Die Thematisierung der Relevanz von Vorwissen, Vorverständnis oder Erwartung ist aber nicht nur in Hinblick auf alltägliche Handlungssituationen von Interesse, sie ist ebenso für das spezielle Geschäft der historischen Geisteswissenschaften oder der Textinterpretation von Belang. Schon bei Heidegger hat die Rede vom Zirkel einen kritischen Akzent. Während in strengen Beweisführungen die Voraussetzung des zu Beweisenden unzulässig ist, ist im Bereich der Textinterpretation und historischer Arbeit einVorverständnis konstitutive Bedingung der hier zu gewinnenden Erkenntnis. Von Gadamers Ausführungen kann man Aufschluß darüber erwarten, was es heißen soll, den Zirkel nicht zu vermeiden, sondern in ihn in der rechten Weise einzutreten. Gadamer nennt als Bedingungen für ein gelingendes Verstehen die Vermeidung willkürlicher Einfälle und die Konzentration auf den thematischen Schwerpunkt eines Texts (»die Sachen selbst«). Eine genauere Unterscheidung zwischen einer gelungenen und einer mißlungenen Weise, den Zirkel zu vollziehen, unterbleibt. Diese Vernachlässigung eines nicht unwesentlichen Details entspricht der allgemeinen Skepsis Gadamers gegenüber erkenntnistheoretischen und methodologischen Überlegungen. Die Affirmation des Zirkels bei Gadamer ist ebenso wie bei Heidegger mit der Kritik an einer Verwissenschaftlichung der Textinterpretation verbunden, die von der Vorstellung geleitet ist, der Interpret habe >objektiv<, voraussetzungslos und ohne Miteinbeziehung seines persönlichen Vorverständnisses die Textbedeutung zu ermitteln. Wenn Gadamer die Auffassung vertritt, daß der Interpretationsprozeß ohne das Vorverständnis und die Erwartungen des Interpreten gar nicht in Gang käme, so ist damit jedoch nicht gesagt, daß dieses erste Verständnis nicht revidiert werden könne: »Wer einen Text verstehen will, vollzieht immer ein Entwerfen. Er wirft sich einen Sinn des Ganzen voraus, sobald sich ein erster Sinn im
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Text zeigt. Ein solcher zeigt sich wiederum Rur, weil man den Text schon mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin liest. Im Ausarbeiten eines solchen Vorentwurfs, der freilich beständig von dem her revidiert wird, was sich bei weiterem Eindringen in den Sinn ergibt, besteht das Verstehen dessen, was dasteht.«254 Das Vorverständnis ist demnach Ausgangspunkt jeder Interpretation, wobei erst im Verlauf der Interpretation selbst die Haltbarkeit oder Unhaltbarkeit dieses Vorverständnisses offensichtlich wird. Gadamer gibt keine Legitimation beliebiger Vormeinungen, er weist nur auf die wichtige Funktion für das Zustandekommen und den Ablauf des Interpretationsprozesses hin: »Wer zu verstehen sucht, ist der Beirrung durch Vor-Meinungen ausgesetzt, die sich nicht an den Sachen selbst bewähren. Die Ausarbeitung der rechten, sachangemessenen Entwürfe, die als Entwürfe Vorwegnahmen sind, die sich >an den Sachen< erst bestätigen sollen, ist die ständige Aufgabe des Verstehens. Es gibt hier keine andere >Objektivität< als die Bewährung, die eine Vormeinung durch ihre Ausarbeitung findet. Was kennzeichnet die Beliebigkeit sachunangemessener Vormeinungen anders, als daß sie in der Durchführung zunichte werden?«255 Als notwendige Bedingung für eine erfolgreiche Interpretation nennt Gadamer des weiteren die »Offenheit für die Meinung des anderen oder des Textes«.256 Die Bereitschaft, sich etwas sagen zu lassen, die Alterität einer Auffassung nicht nur zu akzeptieren, sondern zu integrieren, kennzeichnet die Einstellung des Interpreten zu seinem Text: »Es gilt, der eigenen Voreingenommenheit innezusein, damit sich der Text selbst in seiner Andersheit darstellt und damit in die Möglichkeit kommt, seine sachliche Wahrheit gegen die eigene Vormeinung auszuspielen. «257 Gadamers Analyse der Voraussetzungshaftigkeit des Verstehens konzentriert sich zunächst auf eine Auseinandersetzung mit dem Postulat der Vorurteilsfreiheit.
II.2.2. Vorurteile Vor dem Hintergrund von Heideggers Ausführungen über die >VorStruktur< des Verstehens und der damit verknüpften Konzeption des hermeneutischen Zirkels formuliert Gadamer die These, daß die von der Aufklärung geforderte Überwindung von Vorurteilen eine unangemessene »Pauschalforderung«258 sei. Wiederum wird die Anerkennung der Re-
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levanz von Vorverständnissen gefordert und ein genereller Verzicht auf vorgängige Orientierungen als unsinnig abgelehnt. In einem Abschnitt, der den Titel »Die Diskreditierung des Vorurteils durch die Aufklärung«259 trägt, zeichnet Gadamer ein Bild der Aufklärung als einer durch einen verengten Vernunftbegriff geprägten Epoche. 260 Tatsächlich stellt die Thematik des Vorurteils ein wichtiges Problem in der Aufklärung dar. Über allgemeine, teilweise populärphilosophische Anschauungen hinausgehend entwickeln die Aufklärer im Rahmen der philosophischen Erkenntnistheorie eine Vielzahl von Theorien des Vorurteils, das in der Urteilstheorie als gnoseologisches Problem behandelt wird.261 Dabei wird das Vorurteil primär als ein potentielles Fehlurteil begriffen. Vor allem im Bereich der Philosophie, die in Anschluß an Descartes als methodisch aufgebaute Universalwissenschaft konzipiert wird, sollen solche Fehlurteile unbedingt vermieden werden. Gadamers Sichtweise der Aufklärung als eminent vorurteilskritischer Bewegung scheint also durchaus berechtigt zu sein. Allerdings gilt dies lediglich mit einer Einschränkung auf den Bereich der Philosophie und Wissenschaften. Zwar kommt der Kritik an überliefertem Wissen (Dogmen), an obsoleten Formen des Glaubens (Aberglaube) und an Vorurteilen als Manifestationen der Unvernunft in Erkenntnis- und Handlungszusammenhängen eine beachtliche Bedeutung zu, von einer generellen Diskreditierung der Vorurteile kann man aber nicht sprechen. Dies kann am Beispiel der Vorurteilstheorie des Baumgarten-Schülers G.F. Meier gezeigt werden. 262 In seiner »Vernunftlehre«263 und in den »Beyträgen zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen Geschlechts«264 behandelt er die Frage nach einer möglichen Berechtigung des Vorurteils. Meier geht von einer Definition des Vorurteils als eines voreiligen, unbegründeten oder ungeprüft angenommenen Urteils aus, dessen Status von dem Urteilenden verkannt wird. Der Urteilende ist sich nicht darüber im klaren, daß er mit der Äußerung eines Vorurteils überhaupt kein begründetes Urteil fallt. Inhaltlich ist Meiers Begriff des Vorurteils unbestimmt, es bleibt also offen, ob es sich in einem konkreten Fall um ein möglicherweise wahres Urteil oder um ein bloßes Fehlurteil handelt. Selbst wenn jemand ein Vorurteil artikuliert, das nachträglich als triftiges Urteil erwiesen werden kann, wird die Äußerung des Vorurteils selbst als eine unvernünftige Handlung kritisiert. Meier mildert die Kritik an den Vorurteilen aber dadurch, daß er die für den Bereich der Philosophie und Wissenschaften geltende strenge Forderung nach Vorurteilslosigkeit nicht ohne weiteres auf andere Bereiche ausdehnt:
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»Wir müssen uns ( ... ) in acht nehmen, daß wir nicht alles dasjenige verwerfen, was die Menschen durch ein Vorurtheil annehmen, und was wir vielleicht selbst bisher bloß um eines Vorurtheils willen angenommen haben; denn das hiesse in der That durch ein neues Vorurtheil die alten Vorurtheile vertreiben, und da würde man einen Teufel durch den andem. austreiben. «U5 Meier sieht im Postulat eines rigorosen und universalen Vorurteilsverzichts eine Gefahr. Er vertritt die Auffassung, daß Vorurteile prinzipiell zu meiden sind, weil es sich um fälschlicherweise für gewiß gehaltene Urteile handelt. Meier spricht sich aber gegen eine totale Ächtung des Vorurteils aus, weil die menschliche Vernunft überfordert wäre, wenn sie insbesondere in außerwissenschaftlichen Zusammenhängen jedes einzelne Urteil gründlich prüfen und begründen müßte. Meiers Konzeption der Vorurteilsfreiheit wäre demnach nicht als ein Imperativ zu begreifen, sondern als eine regulative Idee. Daß es sich bei diesen Überlegungen Meiers nicht um isolierte Gedanken eines Einzelgängers handelt, zeigt eine Bemerkung Kants aus den 1770er Jahren, die mit Meiers Auffassung in vollem Einklang steht: »Man hat sich dahero sehr wohl in Acht zu nehmen, nicht alle und jede Vorurtheile so gleich gerade zu verwerfen, sonderen man muß sie forderest prüfen, und wohl untersuchen, ob nicht etwa noch in ihnen etwas Gutes anzutreffen seyn möge. man kann wircklich wiederum eine Art von Vorurtheilen wieder die vorutheile antreffen, wenn man nemlich so gleich geradezu alles dasjenige verwirft, was durch Vorurtheile entstanden ist. /Auf diese Art kann man sehr öfters die allergrößten, und wichtigsten Wahrheiten verwerfen ( ... )«266 Durch die Thematisierung eines Vorurteils gegen die Vorurteile bremsen die Aufklärer eine Tendenz, strenge Rationalitätskonzeptionen in unangemessener Weise auf die Lebenspraxis anzuwenden. Gadamer erwähnt diese Abschwächungen der aufklärerischen Vorurteilsfeindschaftu 7, womit er größere historische Kenntnis und ein stärkeres Differenzierungsvermögen als die Mehrzahl seiner Anhänger und Kritiker beweist. Aber in seinen weiteren Ausführungen gibt er diese nuancierte Einschätzung der Aufklärung wieder auf. Er vertritt die Auffassung, daß die »Idee einer absoluten Selbstkonstruktion der Vernunft«268 das aufklärerische Denken weitaus stärker prägt als die Einsicht in die faktische Angewiesenheit auf Vorurteile in der Lebenspraxis. Dieser Idee und der mit ihr verbundenen Vorstellung eines voraussetzungslosen Anfangs der Vernunft gilt die Kritik Gadamers.
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Im Grunde gilt Gadamers Interesse aber überhaupt nicht in erster Linie den speziellen Problemen der Vorurteilstheorien der Aufklärung, er möchte vielmehr Heideggers Analyse der> Vor-Struktur< des Verstehens durch Kontrastierung mit einer Position, die als eine Verdeckung der grundlegenden Kontextabhängigkeit und Historizität menschlichen Erkennens charakterisiert wird, profilieren. Allerdings sind Gadamers Erörterungen nicht nur dadurch belastet, daß sein Bild der Aufklärung etwas einseitig wirkt. Sein Gebrauch des Ausdrucks >Vorurteil< blendet den Bedeutungswandel aus, den der Vorurteilsbegriff seit der Aufklärung durchgemacht hat. Gadamer beachtet den allgemeinen und sozialwissenschaftlichen Sprachgebrauch nicht, wenn er das Vorurteil als ein lediglich antizipierendes, inhaltlich unbestimmtes Urteil definiert: >>> Vorurteil< heißt also durchaus nicht: falsches Urteil, sondern in seinem Begriff liegt, daß es positiv und negativ gewertet werden kann.«269 Gebrauchte Gadamer in dem zitierten Satz den Imperfekt an Stelle des Präsens, so würden keine Schwierigkeiten auftreten. In ihrer von Gadamer vorgebrachten allgemeinen Fassung ist diese Aussage allerdings fragwürdig: Spätestens seitdem das Vorurteil in den 50er Jahren zu einem Forschungsgegenstand der Psychologie und Soziologie geworden ist, wird der Begriff des Vorurteils als eindeutig negativer Begriff verwendet. 270 Als Vorurteil wird kaum noch eine antizipierende Beurteilung bezeichnet, der Begriff bezieht sich primär auf Einstellungen, die der Diskriminierung gesellschaftlicher Minderheiten (Ausländer, Farbige, Homosexuelle, Juden) zugrunde liegen. Vereinfachend kann man sagen, daß der Vorurteilsbegriff der Aufklärung seinen Ort im Rahmen erkenntnistheoretischer Überlegungen hatte (Vorurteil als Problem der Urteilskraft), während gegenwärtig der Begriff des Vorurteils zu einem Bestandteil der politischen und sozialwissenschaftlichen Sprache geworden ist (Vorurteile als politische, soziologische und psychologische Probleme). In den Sozialwissenschaften, die die Vorurteilsforschung vor allem in den 1960er und 70er Jahren energisch vorangetrieben haben, herrscht ein breiter Konsens darüber, daß Vorurteile als FehleinsteIlungen anzusehen sind, die bekämpft werden sollen. Eine Rehabilitation von Vorurteilen wäre von diesem Standpunkt aus mit der Aufforderung zu vergleichen, das epidemische Auftreten von Krankheiten zu begrüßen. 271 Eine knappe Definition des sozialwissenschaftlichen Vorurteilsbegriffs, der in seinen Grundzügen bereits in einer 1950 publizierten Studie formuliert warn, gibt E.E. Davis:
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»Vorurteile sind negative oder ablehnende Einstellungen einem Menschen oder einer Menschengruppe gegenüber, wobei dieser Gruppe infolge stereotyper Vorstellungen bestimmte Eigenschaften von vornherein zugeschrieben werden, die sich auf Grund von Starrheit und gefühlsmäßiger Ladung, selbst bei widersprechender Erfahrung, schwer korrigieren lassen. «273 Wenn Gadamer das Vorurteil als inhaltlich unbestimmtes Urteil definiert, operiert er auf der Ebene der aufklärerischen Vorurteilsdiskussion, in der Meier und Kant auf die Möglichkeit hinweisen, daß Vorurteile unter Umständen inhaltlich wahr sein können. Daß Gadamer die jüngere Begriffsentwicklung nicht einmal erwähnt, erschwert ein Verständnis seiner Überlegungen. Er verstößt hier in eigenartiger Weise gegen das hermeneutische Grundprinzip, von den Vorleistungen der Sprache auszugehen und sich nicht willkürlich über die Semantik der historischen Sprachen hinwegzusetzen. Selbstverständlich ist die bloße Abweichung von einem herrschenden Sprachgebrauch noch kein Argument gegen Gadamer. Entscheidend ist vielmehr, daß durch den gegenwärtigen Sprachgebrauch ein Aspekt der Vorurteile hervorgehoben wird, der bei Gadamer in provozierender Weise vernachlässigt ist. Gadamers Rehabilitierung des Vorurteils vernachlässigt den Umstand, daß Vorurteile, im Gegensatz zu vorläufigen Vorverständnissen, nur in seltenen Fällen modifiziert und durch Erfahrung korrigiert werden. Die Abhängigkeit konkreter Verstehensleistungen von vorgängigen Orientierungen wird von Gadamer aber gerade nicht nur als Betonung der Relevanz von Vorverständnissen herausgestellt, sondern als Primat der Vorurteile gefaßt. Überblickt man die Diskussion, die über dieses Problem geführt wurde214 , so zeichnet sich das Ergebnis ab, daß Gadamers Überlegungen insoweit haltbar sind, als sie auf die Relevanz von Vorwissen, vorgängigen Orientierungen, ungepTÜften Annahmen und Einschätzungen verweisen und damit die Rede vom hermeneutischen Zirkel konkretisieren. Um eine Vermischung dieses Vorwissens mit diskriminierenden Vorurteilen zu vermeiden und die prinzipielle Revisionsfähigkeit des Vorverständnisses zu betonen, erscheint es sinnvoll, auf den Ausdruck >Vorurteil< zu verzichten und in weniger mißverständlicher Weise von Vorverständnissen zu sprechen.
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II.2.3. Autorität oder Autonomie Klarer als dies im Fall der Revision des Vorurteilsbegriffs gelingt, konkretisiert Gadamer den Begriff der> Vor-Struktur< des Verstehens anband einer Diskussion der Begriffe >Autorität< und >Tradition<. Mit seinen Bemerkungen zum Autoritätsbegriff bemüht er sich, einen weiteren angeblich zu Unrecht in Mißkredit geratenen Begriff zu rehabilitieren. Auch in diesem Fall wird die Aufklärung kritisiert, weil sie »( ... ) schlechthin alle Autorität diffamierte.«27S Im Gegenzug zu verbreiteten umgangssprachlichen Gebrauchsweisen des Ausdrucks >Autorität< wird Autorität nun nicht als ein auf Herrschaftsverhältnisse bezogener Terminus vorgestellt, sondern auf die freiwillige Anerkennung der Vorrangstellung einer Person oder Institution bezogen. Nach Gadamer wird einer Person oder Institution insofern Autorität zugebilligt, als sie ein spezielles Wissen oder Können besitzt und aufgrund ihrer Kompetenz Auskünfte geben, Entscheidungen treffen oder Direktiven formulieren kann, an denen sich die betroffenen Personen ausrichten. »Die Autorität von Personen hat ( ... ) ihren letzten Grund nicht in einem Akte der Unterwerfung und der Abdikation der Vernunft, sondern in einem Akt der Anerkennung und der Erkenntnis - der Erkenntnis nämlich, daß der andere einem an Urteil und Einsicht überlegen ist (... ) (Autorität) beruht auf Anerkennung und insofern auf einer Handlung der Vernunft selbst, die, ihrer Grenzen inne, anderen bessere Einsicht zutraut. Mit blindem Kommandogehorsam hat dieser richtig verstandene Sinn von Autorität nichts zu tun. Ja, unmittelbar hat Autorität überhaupt nichts mit Gehorsam, sondern mit Erkenntnis zu tun.«276 Daß Autorität mißbraucht werden kann und daß der Autoritätsbegriff gerade aufgrund seiner Verwendung als Instrument zur Apologie problematischer Herrschaftsstrukturen in Verruf geraten ist, erscheint Gadamer als ein sekundäres Problem.277 Er sieht die grundsätzliche Bedeutung einer auf Einsicht, Wissen und Können gegründeten Autorität grundsätzlich nicht durch die Möglichkeit des Mißbrauchs beeinträchtigt. An diesem Punkt ist es sinnvoll, eine ausführliche Analyse des Autoritätsbegriffs heranzuziehen, die ganz auf Gadamers Linie liegt. J.M. Bochenski'78 bestimmt Autorität als Relation zwischen einem Träger, einem Subjekt und einem Gebiet. 279 Die Beziehung zwischen den drei Elementen wird dadurch charakterisiert, daß der Träger genau dann als Autorität für das Subjekt in Hinblick auf ein Gebiet gilt, wenn das Subjekt die Behauptungen des Trägers in bezug auf das betreffende Gebiet anerkennt.
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Die Bindung der Autorität an ein Gebiet ist eine wichtige Bedingung. Kein Mensch wird vernünftigerweise als absolute Autorität Anerkennung finden, sondern nur als Autorität hinsichtlich begrenzter Gebiete angesehen. Bochenskis Analyse und Beispiele machen deutlich, daß Autorität ganz im Sinn Gadarners - nicht ausschließlich als Bezeichnung von Macht und in Zusammenhang mit Herrschaftsverhältnissen begriffen werden muß. Der Autoritätsbegriff hat seinen Ort keineswegs nur in den speziellen Bereichen militärischer Befehlsbefugnis, richterlicher Amtsgewalt oder päpstlicher Unfehlbarkeit, sondern er ist vor allem deshalb von Interesse, weil recht verstandene Autorität in alltäglichen Situationen eine bedeutende Rolle spielt. Unter den von Bochenski untersuchten Autoritätsbegriff fallen so unterschiedliche Fälle wie die Bitte eines Kindes um Unterstützung durch Erwachsene (»Bitte zeig mir, wie das geht!«), die Annahme der Zuverlässigkeit der Antworten eines Lehrers durch den Schüler, das Vertrauen in die Verbindlichkeit des Wissens von Spezialisten (Ärzten, Rechtsanwälten, Ökologen). Eine wesentliche Unterscheidung betrifft die Arten der Autorität. Bochenski spricht von der Autorität des Wissenden als epistemischer Autorität und von der Autorität des Vorgesetzten als deontischer Autorität. Wenn ich am Tag vor einer Wandertour in den Alpen bei einer Wetterwarte die Vorhersage für den nächsten Tag erfrage und mich auf die Prognose verlasse, so sind die Meteorologen epistemische Autoritäten für mich. Wenn ich vor Ort einen Einheimischen nach dem besten Weg nach x frage und als Antwort zu hören bekomme, ich solle mir ein anderes Ziel aussuchen, weil es noch zu früh im Jahr sei und derzeit die Wege nach x alle noch nicht sicher wären, so ist der Einheimische eine deontische Autorität für mich: ich folge seinen Weisungen. Wichtig ist der Zusammenhang beider Arten der Autorität: »Es ist wünschenswert, daß der Träger der deontischen Autorität gleichzeitig auch Träger der epistemischen Autorität in dem entsprechenden Gebiet ist. «280 Auf das Wanderer-Beispiel bezogen leuchtet dies unmittelbar ein. Ich werde nur dann dem Rat folgen, wenn ich annehme, daß der Einheimische Bescheid weiß. In vielen Fällen wird eine Person nur dann ihre deontische Autorität aufrecht erhalten können, wenn ihre epistemische Kompetenz anerkannt ist. So käme etwa ein Lehrer in größte Schwierigkeiten, wenn seine
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Schüler ihm fachlich überlegen wären und seine Position als Vorgesetzter nicht durch sein überlegenes Wissen motiviert wäre. Die Explikation des Begriffs der epistemischen Autorität macht deutlich, daß zwischen wissenschaftlicher Rationalität und Autorität kein Spannungsverhältnis bestehen muß. Epistemische Autorität ist nämlich begründbar, wobei die »Anerkennung der größeren Kompetenz und der Wahrhaftigkeit des Trägers ( ... ) eine notwendige Bedingung der Anerkennung ( ... )« ist. 28t Unfehlbar ist die Anerkennung epistemischer Autorität aufgrund direkter Einsicht oder durch Schlußfolgerung allerdings nicht. Es mag sein, daß die Auskunft des Einheimischen im Gebirge nicht zuverlässig ist. Die Vermeidung des Autoritätsbegriffs im gegenwärtigen Sprachgebrauch hat mit der weit verbreiteten Auffassung zu tun, daß jemand, dem Autorität zugeschrieben wird, diese wie ein unveräußerliches Gut besitzt. Dies ist aber, wie aus den Ausführungen Bochenskis hervorgeht, nicht der Fall. Autorität entsteht durch Anerkennung, sie geht vom Subjekt aus und wird dem Träger zugebilligt, und sie kann prinzipiell auch wieder entzogen werden. Bochenski geht ebensowenig wie Gadamer nicht auf das Skepsis gegenüber dem Autoritätsprinzip motivierende Problem ein, daß die Anerkennung von Autorität erzwungen werden kann oder im Rahmen systematisch verzerrter Kommunikationsstrukturen erfolgt. Ebenso wie die epistemische Autorität ist deontische Autorität prinzipiell auf die Anerkennung des Subjekts angewiesen. Dabei ist allerdings zu beachten, daß hier oft andere Verhältnisse vorliegen als im Fall der epistemischen Autorität. So besitzt ein Lehrer gegenüber einer Schulklasse von Amts wegen eine deontische Autorität, die ihm die Schüler nicht direkt aberkennen können. Die Schüler können zwar bestimmte Weisungen des Lehrers ignorieren, eine totale Verweigerung durch die Schüler würde aber zu scharfen Sanktionen führen. Um diesen zu entgehen, werden die Schüler in der Regel die Autorität des Lehrers akzeptieren. Grundsätzlich ist es aber möglich, daß dem Lehrer seine Autorität förmlich aberkannt wird, etwa dann, wenn er seine Stellung mißbraucht und die Fürsorgepflicht gegenüber den ihm anvertrauten Schülern verletzt. In Bochenskis Analyse erscheint der Träger der Autorität ebensowenig wie bei Gadamer als autoritärer Charakter. Im Gegenteil: die Beschränkung der Autorität auf begrenzte Bereiche macht deutlich, daß Autorität recht verstanden nichts mit willkürlicher Machtausübung zu tun hat. »Wahre Autorität braucht nicht autoritär aufzutreten.«282
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Die Ausführungen Gadamers unterstreichen die Bedeutung von Ansichten, Handlungsmaximen und Orientierungen, die übernommen werden, ohne daß sie zuvor einer kritischen Prüfung unterzogen oder in argumentativen Begründungen als gültig erwiesen wurden. Nach Gadamers Auffassung drückt sich in der Anerkennung der Bedeutung von Vorverständnissen und Autorität keine Verachtung der Rationalität und kein Verzicht auf Autonomie aus. Die Anerkennung von Autorität und das Streben nach Autonomie schließen sich gegenseitig nicht aus. Autorität und Vorverständnis sollen als Momente der Vernunft gegenüber ihren Kritikern verteidigt werden. Unabhängig von der »konservativen« oder »progressiven« Einstellung bestimmen stets vorgängige Einschätzungen und die Anerkennung von Autoritäten das Denken und Handeln der einzelnen. Da die Subjekte nicht die Gesamtheit ihrer Meinungen, Einstellungen und Handlungsmaximen außer Kraft setzen können, da sie nicht die eigene Lebenspraxis suspendieren können, um sie einer kritischen Prüfung zu unterziehen, und da sie sich in vielfältigen Situationen auf Gewährsleute verlassen müssen, gehört die Anerkennung von Autorität zu den unverzichtbaren Elementen menschlicher Weltorientierung. Um Mißverständnissen vorzubeugen, soll nochmals nachdrücklich festgestellt werden, daß der hier erläuterte Autoritätsbegriff von Formen autoritären Verhaltens und willkürlicher Machtausübung scharf zu trennen ist. Der philosophische Autoritätsbegriff beruht darauf, daß die Anerkennung der Autorität durch das Subjekt weder erzwungen noch korrumpiert ist. Gadamers Kritiker setzen genau an diesem Punkt ein. So gab Habermas beispielsweise zu bedenken, daß die Anerkennung von Autorität keine freie und vernünftige Erkenntnis der Vorrangstellung des anderen oder der Wahrheit einer vertretenen Auffassung implizieren muß. Sie kann vielmehr als Element einer systematisch verzerrten Kommunikation auf Zwänge zurückgehen, die den Beteiligten selbst nicht bewußt sind.283 Prinzipiell scheint der philosophische Autoritätsbegriff die Kritik von mißbrauchter Autorität nicht auszuschließen und es wäre unangebracht, Gadamer vorzuwerfen, er legitimiere mit seiner Rehabilitation von Autorität willkürliche Machtausübung und Gewalt. Allerdings wird in WM die Möglichkeit des Autoritätsmißbrauchs in schwer verständlicher Weise ausgeblendet. Aufgrund eines grundsätzlichen Vertrauens in die »vernünftige« Anerkennung von Autorität werden die vielfältigen Weisen des Autoritätsmißbrauchs in einem solchen Ausmaß bagatellisiert, daß Angriffe gegen Gadamers Rehabilitierung von Autorität keineswegs überraschen.
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11.2.4. Tradition( en) Der Traditionsbegriff steht in engem Zusammenhang mit den zuvor behandelten Konzepten des Vorverständnisses und der Autorität. Ebenso wie diese ist der Ausdruck >Tradition< ein problematischer Gegenstand: der Traditionsbegriff scheint oft semantisch ausgebrannt zu sein, tauglich nur noch als Leerformel der Wahlkampfsprache. Wiederum legt Gadamer keine von Unklarheiten und Doppeldeutigkeiten freie Version des Begriffs vor, aber es lassen sich signifikante Merkmale angeben, durch die sich das mehrschichtige Traditionskonzept der philosophischen Hermeneutik Gadamers auszeichnet. Gadamers Interesse gilt nicht den verschiedenartigen historischen Manifestationen des Traditionsprinzips, wie es sich etwa in der römischen Zivilisation oder in der katholischen Kirche ausgeprägt hat. Gadamer skizziert, ähnlich wie im Fall von Autorität, eine weite Version des Begriffs. Dabei ist es von großer Bedeutung zu erkennen, daß Tradition nicht als Gegenbegriff zu Konzepten wie Transformation, Innovation und Revolution verwendet wird, sondern als fundamentale Kategorie fungiert, die auf >traditionale<, statische Gesellschaften ebenso anzuwenden ist wie auf dynamische, innovations geprägte Zivilisationen. Auch für letztere gilt im Sinn des weiten Traditionsbegriffs der philosophischen Hermeneutik, daß sie auf die Überlieferung Bezug nehmen, wenn auch häufig in ablehnender Weise. 28< Gadamer vertritt die Ansicht, daß das Ausmaß der ablehnenden Stellungnahmen zur Überlieferung und die Bedeutung von Veränderungen im allgemeinen überschätzt wird. Er glaubt, daß der Anknüpfung an gegebene Strukturen und deren Bewahrung auch in modemen Gesellschaften eine große Bedeutung zukommt. Er betont das affirmative Verhalten zur Überlieferung und hebt die produktive und bereichernde Fülle dessen hervor, was vorangegangene Generationen geschaffen und in ihrer Praxis erprobt haben. Neben die weite Version des Traditionsbegriffs, die auch noch solche Kulturen als traditionsbestimmt erfaßt, die sich selbst nicht als solche begreifen28s , stellt Gadamer eine Fassung des Traditionsbegriffs, die die bewußte Anknüpfung an die Überlieferung und deren Pflege als bestimmendes Merkmal hervorhebt: »( ... ) Tradition vollzieht sich nicht naturhaft dank der Beharrungskraft dessen, was einmal da ist, sondern bedarf der Bejahung, der Ergreifung und der Pflege. Sie ist ihrem Wesen nach Bewahrung, wie solche in allem geschichtlichen Wandel mit tätig ist. Bewahrung aber ist eine Tat der Vernunft ( ... )«286
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Man muß beide Ebenen des Begriffs, diejenige einer sich ohne bewußte Affirmation durchhaltenden Tradition und diejenige der durch ausdrückliche Zuwendung und Pflege bewahrten Tradition, trennen und berücksichtigen, daß Gadamer mit beiden Versionen des Begriffs operiert. Er zeichnet die zweite Fassung dadurch aus, daß er die Anknüpfung an die Überlieferung als ein vernünftiges Verhalten darstellt: Die aktive Bewahrung des Überlieferten ist nicht das »Gegenteil der freien Selbstbestimmung«281, sie kann selbst ein Stück autonomen Handelns sein. Eine Parallele zwischen dem hermeneutischen Konzept des Vorverständnisses und der Tradition ist offensichtlich. Zwar stellt Gadamer die Möglichkeiten der Anerkennung oder Ablehnung der Überlieferung dar und berücksichtigt damit solche Fälle, in denen bestimmte Elemente der Überlieferung als obsolet erscheinen. Er suggeriert aber dennoch, daß ein grundsätzliches Vertrauen in die Überlieferung angebracht ist. Ebenso im Fall des Vorverständnisses: Auch hier unterscheidet Gadamer ein richtiges, bestätigungsfähiges von einem falschen, durch spätere Erfahrung widerlegtes Vorverständnis und plädiert gleichwohl für eine allgemeine Aufwertung des Vorverständnisses. Mit beiden Konzepten, dem des Vorverständnisses und dem der Tradition, führt Gadamer die Überlegungen Heideggers zur) Vor-Struktur< des Verstehens weiter und konkretisiert diese in Hinblick auf die Problematik der Hermeneutik, die auch die Arbeit der Geisteswissenschaften durchreflektiert. Gerade im Zusammenhang mit dem Traditionsbegriff geht Gadamer auf deren Selbstverständnis als Wissenschaften ein. »Geisteswissenschaftliche Forschung kann sich zu der Weise, wie wir als geschichtlich Lebende zur Vergangenheit uns verhalten, nicht in einem schlechthinnigen Gegensatz denken. In unserem Verhalten zur Vergangenheit, das wir ständig betätigen, ist jedenfalls nicht Abstandnahme und Freiheit vom Überlieferten das eigentliche Anliegen. Wir stehen vielmehr ständig in Überlieferungen, und dieses Darinstehen ist kein vergegenständlichendes Verhalten, so daß das, was die Überlieferung sagt, als ein anderes, Fremdes gedacht wäre - es ist immer schon Eigenes, Vorbild und Abschreckung, ein Sichwiedererkennen, in dem für unser späteres historisches Nachurteil kaum noch Erkennen, sondern unbefangenste Anverwandlung der Überlieferung zu gewahren ist.«288 Nach Gadamer sind die Geisteswissenschaften der Ort, an dem sich das Interesse an der Vergangenheit in privilegierter Weise Ausdruck verschafft und an dem auch in den modernen Gesellschaften die Überlieferung bewahrt wird. Aus seinem Traditionsbegriff folgert Gadamer, daß die Geisteswissenschaften die Überlieferung nicht nur als ein For-
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schungsgebiet analysieren, sondern sich selbst als in Traditionen stehend begreifen und der Geschichte zuwenden. Der Hinweis auf die Ambivalenz von Vorbildlichkeit und Abschrekkungscharakter der in der Überlieferung erinnerten Geschichte macht deutlich, daß Gadamer den Geisteswissenschaften nicht nur die Funktion einer affirmativen Traditionsbewahrung zuschreibt. Komplementär zu dem Hinweis auf die Ambivalenz von Vorbild und Abschreckung ist eine Bemerkung Gadamers, die den Vergangenheitsbezug der Geisteswissenschaften deutlich von einem szientistisch neutralen Verhältnis zu einem Forschungsobjekt abhebt. An einem Beispiel kann man Gadamers Position veranschaulichen: Für einen deutschen Historiker ist die deutsche Geschichte von 19331945 nicht ein beliebiger historischer Abschnitt, den er wie jede andere Epoche mit den Methoden seiner Disziplin analysiert. In Gadamers Modell ist vielmehr der für den Historiker wie für jeden anderen auch geltende Bezug zu dieser Vergangenheit der Ausgangspunkt eines intensiven geschichtswissenschaftlichen Interesses. Das Wissen, daß dieser Zeitraum deutscher Geschichte in unvergleichlicher Weise von Gewalt, Machtmißbrauch, Verbrechen gezeichnet ist, stellt sich nicht etwa als Ergebnis >objektiver< historischer Forschung ein, sondern es bildet als Vorwissen oder Vorverständnis die Basis einer eingehenden Auseinandersetzung. An dieser Stelle wird auch die Plausibilität des unter dem Stichwort des hermeneutischen Zirkels zur Bedeutung des Vorverständnisses Ausgeführten bestätigt. Offenbar wäre es eine völlig widersinnige Forderung an den Historiker, er solle voraussetzungslos an die Aufarbeitung dieser Periode herangehen. Die Aufgabe, ausgerechnet diesen Zeitraum genauer zu untersuchen, stellt sich ihm gerade dank seines Vorverständnisses, seiner Verbindung zu dieser Vergangenheit, die als Abschreckung in die Gegenwart hineinwirkt. Die beschriebene Auffassung provoziert ein szientistisches Methodendenken in außerordentlicher Weise: Verlieren die Geisteswissenschaften nicht ihren Status als Wissenschaften, wenn sie in der skizzierten Weise von externen Bedingungen bestimmt sind? Hat der Historiker nicht doch seine privaten Erfahrungen auszuklammern, sobald er als Wissenschaftler arbeitet? Werden die Geisteswissenschaften nicht in kaum erträglicher Weise abhängig von den Meinungen einzelner, wenn sie durch solche kontingenten Faktoren wie die Herkunft des Wissenschaftlers und seine Haltung zur Vergangenheit geprägt sind? Gadamer verneint solche Fragen und führt sie auf den verhäng-
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nisvollen Vorrang eines methodologischen Denkens zurück. Vor dem Hintergrund seiner Kritik am Historismus und dem Phantom einer standortunabhängigen historischen Betrachtungsweise erscheint der anerkennende oder ablehnende Bezug zur Vergangenheit als konstitutive Bedingung der Arbeit in den Geisteswissenschaften. Gadamers besonderes Interesse gilt allerdings nicht dem ablehnenden, kritischen Verhalten zur Überlieferung, sondern der Anerkennung der gültigen, von der Tradition übernommenen Einsichten, die in der Gegenwart Orientierungen zu geben vermögen. Mit diesem Traditionsbegriff, der die Auseinandersetzung mit der Überlieferung als wesentlich für die Praxis der Gegenwart und die Bestimmung künftiger Entwicklungen begreift, unterscheidet sich Gadamer in markanter Weise von der sogenannten Kompensationstheorie, die im folgenden kurz vorgestellt wird.
II.2.5. Kritik an der Kompensationstheorie Als Grundtext der Kompensationstheorie kann J. Ritters Aufsatz »Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modemen Gesellschaft« (1963)289 gelten. O. Marquard und H. Lübbe haben die Überlegungen Ritters aufgegriffen und weiterentwickelt. Eine vielbeachtete Rede Marquards »Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften« versammelt die wichtigsten Argumente dieser Position. 290 Marquard beginnt mit der Behauptung: »Je moderner die modeme Welt, desto unvermeidlicher die Geisteswissenschaften.«291 1.) Die Modeme ist geprägt durch eine zunehmende Liquidation der geschichtlichen Herkunftswelten: »( ... ) immer weniger von dem, was Herkunft war, scheint Zukunft bleiben zu können; die geschichtlichen Herkunftswelten geraten zunehmend in die Gefahr der Veraltung.«292 2.) Diese Ausschaltung des Überkommenen läßt eine zunehmend uniforme, nach technokratischen Prinzipien gestaltete Alltagswelt entstehen: »Modernisierungen bestehen in der - partialen - Ersetzung der Herkunftswelten durch experimentell geprüfte und technisch erzeugte Sachwelten, die ihrerseits ( ... ) den austauschbaren Menschen verlangen auf Kosten seiner traditionellen Verschiedenartigkeiten. «293 3.) Entscheidend für das von Marquard erstellte Szenario sind Ge-
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schwindigkeit und Umfang der genannten Vorgänge, wobei er sich bezüglich dieser Diagnose auf R. Koselleck und H. Lübbe beruft: »( ... ) die Gleichförmigkeiten siegen. Dieser Vorgang beschleunigt sich: in der modernen Welt wird immer schneller immer mehr zur Sache. «294 Ich möchte an dieser Stelle nicht die Beschreibung der Moderne prüfen, sondern konzentriere mich auf die Ausführungen Marquards, die vor dem Hintergrund der skizzierten Diagnose die Aufgabe der Geisteswissenschaften bestimmen. Diese Disziplinen sorgen angeblich dafür, daß die rasante Dynamik des Wandels in den modernen Gesellschaften von den betroffenen Menschen verkraftet werden kann: »Die - durch die experimentellen Wissenschaften vorangetrieb~ne Modernisierung verursacht lebensweltliche Verluste, zu deren Kompensation die Geisteswissenschaften beitragen.«295 Die Geisteswissenschaften werden bei Marquard primär dadurch ausgezeichnet, daß sie von negativen Erfahrungen entlasten. Auch die die wenig fruchtbare Opposition von Natur- und Geisteswissenschaften (v.Helmholtz, Windelband) fortführende Unterstellung Marquards, lebensweltliche Verluste wären den experimentellen Wissenschaften zuzuschreiben, soll hier nicht weiter erörtert werden. Es interessiert vielmehr, auf welche Weise, mittels welcher Verfahren die Geisteswissenschaften imstande sind, die ihnen von Marquard zugeschriebene Aufgabe der Kompensation zu erfüllen. Marquard weist in diesem Zusammenhang auf die narrative Kompetenz dieser Fächer hin: »( ... ) sie kompensieren Modernisierungsschäden, indem sie erzählen (... )«296 Eine Typologie der von den Geisteswissenschaften erzählten Geschichten (»Sensibilisierungsgeschichten«, »Bewahrungsgeschichten«, »Orientierungsgeschichten«) soll diesen Hinweis präzisieren. Marquards Begriff der Moderne impliziert, daß alle Gesellschaftsmitglieder unter der Liquidation der Traditionen und an der Uniformierung ihrer Umgebung leiden. Alle werden folglich nach Entschädigungen und Entlastungen verlangen. Dies ist allerdings eine sich aus der These Marquards ergebende Konsequenz, die die Geisteswissenschaften vor kaum zu bewältigende Aufgaben stellt. Falls die Geisteswissenschaften das wären, was Marquard behauptet - zentrale Kompensationsträger der modernen Gesellschaft - , dann müßten sie grundsätzlich die gesamte modernisierungsgeschädigte Bevölkerung mit ihren Kompensationen
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versorgen. Einige Tausend Geisteswissenschaftler, die in der Bundesrepublik ihre Forschungsarbeiten betreiben, müßten laut Marquard den Kompensationsbedarf von 60 Millionen Modernisierungsgeschädigten stillen. Angesichts der Verwissenschaftlichung und Spezialisierung in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen wirkt eine solche auf die Publikums wirksamkeit akademischer Arbeit spekulierende Überlegung äußerst befremdlich. Die Auflagen geisteswissenschaftlicher Publikationen oder die Krisen der Fachzeitschriften dementieren in eindrucksvoller Weise Gedankenspiele, die mit einer weit über den Kreis der Insider hinausreichenden Wirksamkeit dieser Fächer kokettieren. In bezug auf ein breiteres Publikum sind Romane, Filme, Dokumentationen weit eher geeignet, die Aufgabe der Vergangenheitsvergegenwärtigung zu erfüllen. Kompensation allein kann demnach nicht die einzig vernünftige Funktionsbestimmung der Geisteswissenschaften sein. Sieht man sich die Beispiele genauer an, die von den Kompensationstheoretikern angeführt werden, um die Kompensationsleistung der Geisteswissenschaften zu dokumentieren, macht man die Entdeckung, daß sie überhaupt nicht Leistungen der Geisteswissenschaften im eigentlichen Sinn anführen, sondern mit Vorliebe den Denkmalschutz und die Museumskultur erwähnen. 297 In beiden Fällen können die Kompensationstheoretiker auf ein faktisch vorhandenes, lebhaftes Interesse an der Vergegenwärtigung und Erhaltung überlieferter Gegenstände verweisen. Solche Beispiele erläutern aber nicht, worin die Kompensationsfunktionen geisteswissenschaftlicher Projekte wie etwa historisch-kritischer Ausgaben der Schriften Schleiermachers, Brentanos oder Hofmannsthals liegen könnten. Die Kompensationstheorie scheint eher Auskünfte über Motive eines allgemeinen Interesses an der Geschichte geben zu können als eine tragfähige Erläuterung zur Funktion der Geisteswissenschaften anzubieten. Mit diesem Befund stimmt der Umstand überein, daß Marquard den Wissenschaftscharakter der Geisteswissenschaften unterbestimmt läßt. Er schreibt diesen Fächern die Aufgabe zu, Vergangenheit zu beleben, aber er deutet nicht an, worin die Eigentümlichkeit dieser Wiederbelebungsversuche im Gegensatz zur Denkmalpflege, zur Museumskultur oder zum historischen Roman besteht. Seine Behauptung, die Geisteswissenschaften vergegenwärtigten Vergangenes, indem sie Sensibilisierungs-, Bewahrungs- und Orientierungs geschichten erzählten, scheint zwar eine Lösung des angesprochenen Problems zu bieten. Aber diese Lösung kann nicht recht befriedigen. Auf Probleme aufmerksam machen (sensibilisieren), an Ereignisse
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oder Personen erinnern (bewahren) oder vernünftige Einstellungen vermitteln (orientieren) können nicht nur Arbeiten der Geisteswissenschaften, sondern literarische Texte, Bilder, Filme, Dokumente, Gebäude und - insofern als es sich um gerade erlittene Verluste durch Modernisierungen handelt - Erzählungen von Augenzeugen. Der Marquardsche Vorschlag scheint also die Eigenart der Geisteswissenschaften zu wenig zu berücksichtigen. 298 Um die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften zur Geltung zu bringen, wäre es wünschenswert, die ihnen eigentümliche Form der Vergangenheitsvergegenwärtigung zu bestimmen. Dies tut Marquard nicht, sondern er begnügt sich damit, die Geisteswissenschaften als erzählende Wissenschaften zu apostrophieren. Tatsächlich scheint in Anbetracht der in den als Geisteswissenschaften bezeichneten Fächern geleisteten Arbeit die Annahme ein~s Primats des Erzählens kaum gerechtfertigt zu sein. Faktisch tun Geisteswissenschaftier wesentlich mehr und wesentlich anderes als erzählen. Sie sichern Spuren, rekonstruieren ihre Materialien, lösen Datierungsprobleme, erstellen Chronologien, bilden Hypothesen über den Ablauf bestimmter Prozesse, geben Handlungserklärungen, sammeln Material für Statistiken, arbeiten Klassifikationen aus. Die Geisteswissenschaften sind demnach in erheblichem Maß durch eine szientistische Rationalität geprägt und nicht nur mit einer narrativen Kompetenz begnadet. In Verbindung mit den genannten Tätigkeiten geben die Geisteswissenschaftier Beschreibungen und Darstellungen, in denen vergangene Handlungsmuster, Orientierungen und Zielsetzungen als fragwürdig oder vorbildlich erscheinen. Das heißt, sie interpretieren und stellen einen Bezug zur eigenen Gegenwart her. Angesichts der angedeuteten Komplexität und Verschiedenartigkeit geisteswissenschaftlicher Arbeit scheint eine Subsumierung unter das Schlagwort »Erzählen« nicht gut begründet. Die Replik eines Marquardianers auf diese Kritik würde vermutlich lauten: Selbstverständlich tun die Geisteswissenschaften all das, aber indem sie es tun, erzählen sie von der Vergangenheit und kompensieren auf diese Weise den Geschichtsverlust der Moderne. Diese Antwort kann aber nicht überzeugen, da der Kompensationsbeitrag der Lösung eines Datierungsproblems, der Entzifferung der Linear B - Schrift, der kritischen Ausgabe eines Texts oder ähnlicher Leistungen gar nicht ohne weiteres ersichtlich ist, obwohl diese Forschungen sicherlich zu den Standardaufgaben geisteswissenschaftlicher Forschung zählen. Wenn demnach die pauschale Subsumierung geisteswissenschaftli-
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cher Arbeit unter das Etikett »Erzählen« ni~ht befriedigen kann, bleibt die Möglichkeit, daß das Erzählen zwar nicht das einzige und auch nicht das primäre, aber doch ein wichtiges Mittel der GeisteswissenschaftIer ist, um Vergangenheit zu vergegenwärtigen. Dabei sollte aber zumindest der Versuch einer Unterscheidung von geisteswissenschaftlichem und literarisch-fiktionalem Erzählen gemacht werden. Als zentrales Merkmal geisteswissenschaftlicher Texte kann man ihren Behauptungscharakter anführen. Eine geisteswissenschaftliche Darstellung will nicht in erster Linie eine gute, spannende und gelungene Erzählung sein, sondern sie erhebt zunächst einen Anspruch auf Richtigkeit oder Angemessenheit. Der fiktionale Text unterscheidet sich von der wissenschaftlichen Abhandlung nicht dadurch, daß er keine Erkenntnis vermitteln kann, sondern dadurch, daß an ihn nicht die Begründungsforderungen gestellt werden, denen wissenschaftliches Reden gerecht werden sollte. 299 Der Autor eines historischen Romans kann zwar verbürgtes Material in seinen Text integrieren, insgesamt ist sein Roman aber nicht als behauptende Rede über vergangene Ereignisse zu verstehen. Ein Historiker muß im Gegensatz zum Romanschriftsteller Gründe anführen können, die zeigen, daß seine Darstellung richtig ist, und auch ein LiteraturwissenschaftIer wird eine Begründung dafür geben können, weshalb seine Interpretation zwar nicht die einzig richtige ist, aber doch einen Beitrag zur Erhellung der Textbedeutung darstellt. Gerade weil GeisteswissenschaftIer einer Begründungspflicht nachkommen müssen, bearbeiten sie meist eng begrenzte Probleme. Spezialisierung und Detailarbeit sind charakteristische Kennzeichen auch der geisteswissenschaftlichen Publikationen, die mit dem Marquardschen Stichwort des Erzählens nicht harmonieren. Anlaß zu diesem Exkurs über die Kompensationstheorie war die Feststellung, daß die Geisteswissenschaften auf der Basis von Gadamers Traditionsbegriff nicht so sehr als Wiederentdecker verlorener Traditionen, denn als in Traditionen stehende Fächer begriffen werden. Aufgrund ihrer Vermittlerrolle zwischen Vergangenheit und Gegenwart sollen sie fähig sein, Orientierungen in der Gegenwart zu geben.3°O Auch die Kompensationstheorie Marquards spricht von der Möglichkeit, daß durch die Geisteswissenschaften Orientierungen vermittelt werden können: »Die Modernisierung wirkt als Desorientierung; sie wird - modernkompensiert durch die Ermunterung von Traditionen, mit denen man sich identifizieren kann; also etwa der Tradition des Christentums, der Tradition des Humanismus, der Tradition der Aufklärung usf.«301
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Offen bleibt hier, ob Marquard den von den Geisteswissenschaftlern erzählten »Orientierungsgeschichten« tatsächlich zutraut, handlungsleitende, praxisrelevante Einstellungen vermitteln zu können. 302 Zu Marquards Skeptizismus und kompensations theoretischer Bescheidenheit passen solch substantielle Bestimmungen nicht. Die Orientierungsgeschichten Marquardscher Provenienz werden eher ein diffuses Sinnbedürfnis befriedigen. Da die lebensweltlich relevanten Prozesse aufgrund der Prämissen der Kompensationstheorie gegen Eingriffe geschützt sind, reicht die Kraft der Traditionen nur noch dazu aus, (unverbindliche) IdentifIkationsangebote zu liefern. Von einer solchen Auffassung unterscheidet sich die Position Gadamers trotz gewisser Ähnlichkeiten ganz erheblich. Sie vertraut darauf, daß aus der Überlieferung, den Künsten und der Arbeit der Geisteswissenschaften tragfähige, sich in der Lebenspraxis bewährende Einsichten und Orientierungen zu gewinnen sind. Vor allem aber sieht Gadamer trotz aller massiven Brüche geschichtlicher Kontinuität eine grundlegende Traditionsabhängigkeit auch der modernen Gesellschaften als gegeben an. Es ist das Prinzip der Wirkungsgeschichte, das diesen grundlegenden Vergangenheitsbezug aufdecken soll.
II.2.6. Wirkungsgeschichte Die Aufwertung des Vorverständnisses, die Rehabilitierung von Autorität und die Betonung der Bedeutung von Traditionen werden in den Begriff der Wirkungsgeschichte aufgenommen, der das Kernstück der Gadarnerschen Hermeneutik bildet. 303 Eine wichtige Voraussetzung des unter diesem Begriff gedachten Verhältnisses von Gegenwart und Vergangenheit ist die These vom Primat der Traditionen. Gadamer geht im Sinn des oben erläuterten weiten Traditionsbegriffs davon aus, daß historische Erkenntnis vom Modell der Zugehörigkeit zu Traditionen her zu denken sei. Der Begriff der Wirkungsgeschichte soll das Verständnis für diese Partizipation an der Überlieferung vertiefen. Die Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart wird von der Wirkungsgeschichte als Hineinwirken der Traditionen in die Gegenwart bestimmt. Diese Einwirkung muß nicht als offensichtliches Faktum greifbar sein, sie kann sich auch unmerklich in einer Tiefendimension historischer Kontinuität vollziehen. Nicht nur dort, wo bewußt an Traditionen angeknüpft wird, wirkt Vergangenheit auf die Gegenwart ein. In einem ganz umfassenden Sinn
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bedingt die Vergangenheit die jeweilige Gegenwart und bestimmt deren Handlungsspielraum. Bezüglich der historischen Wissenschaften impliziert das Konzept der Wirkungsgeschichte eine Gegenposition zu einem historischen Objektivismus, der vom Modell der Erforschung eines historischen Gegenstands ausgeht und damit nach Gadamer den Begriff der Geschichte selbst verzerrt. Der historische Objektivismus glaubt, den historischen Gegenstand als abtrennbares Objekt in wissenschaftlicher Neutralität erforschen zu können. Gadamer wirft einer solchen Auffassung vor, den vorgängigen Bezug von Vergangenheit und Gegenwart zu vergessen. 304 Gadamers Begriff der Wirkungs geschichte hat demnach kaum etwas mit dem Zweig der Literaturwissenschaft zu tun, der die Wirkung eines bestimmten Werks empirisch erforscht. Wirkungsgeschichte als Begriff der philosophischen Hermeneutik bezieht sich vielmehr zum einen auf die beständig wirksame Bestimmung der Gegenwart durch die Geschichte. Unabhängig davon, ob diese Einwirkung bewußt erfaßt wird oder nicht, erscheint jede Gegenwart als Produkt der Geschichte. Zum anderen ist Wirkungsgeschichte als wirkungsgeschichtliches Bewußtsein eine Bezeichnung für die Reflexion auf die Prägung der Gegenwart durch Geschichte. Wesentlich ist der Umstand, daß Gadamer die Erkenntnismöglichkeiten des wirkungs geschichtlichen Bewußtseins einschränkt. Die Unterscheidung zwischen Wirkungs geschichte und wirkungsgeschichtlichem Bewußtsein ist von großer Bedeutung: Wenn dieser Unterschied vernachlässigt wird, gerät Gadamers Hermeneutik in eine unangemessene Nachbarschaft zu HegeU05 Die Reflexion auf eine grundlegende Abhängigkeit menschlicher Existenz von den Vorgaben der Geschichte kulminiert nicht in einer vollständigen Erkenntnis des geschichtlichen Zusammenhangs: »Daß Wirkungsgeschichte je vollendet gewußt werde, ist eine ebenso hybride Behauptung wie Hegels Anspruch auf absolutes Wissen, in dem die Geschichte zur vollendeten Selbstdurchsichtigkeit gekommen und daher auf den Standpunkt des Begriffs erhoben sei.«306 Der im Begriff des wirkungs geschichtlichen Bewußtseins mitgedachten geschichtlichen Bedingtheit der Existenz widerspräche die Idee einer vollständigen Erkenntnis der eigenen Situation: Niemand kann sich aus den geschichtlichen Bezügen seines Lebens herausreflektieren und die eigene Situation gewissermaßen von außen betrachten: »Wirkungsgeschichtliches Bewußtsein ist zunächst Bewußtsein der hermeneutischen Situation. Die Gewinnung des Bewußtseins einer Situa-
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tion ist aber in jedem Falle eine Aufgabe von eigener Schwierigkeit. Der Begriff der Situation ist ja dadurch charakterisiert, daß man sich nicht ihr gegenüber befindet und daher kein gegenständliches Wissen von ihr haben kann. Man steht in ihr, findet sich immer schon in einer Situation vor, deren Erhellung die nie ganz zu vollendende Aufgabe ist. Das gilt auch für die hermeneutische Situation, d.h. die Situation, in der wir uns gegenüber der Überlieferung befinden, die wir zu verstehen haben. Auch die Erhellung dieser Situation, d.h. die wirkungs geschichtliche Reflexion ist nicht vollendbar, aber diese Unvollendbarkeit ist nicht ein Mangel an Reflexion, sondern liegt im Wesen des geschichtlichen Seins, das wir sind. Geschichtlichsein heißt, nie im Sichwissen aufgehen. Alles Sichwissen erhebt sich aus geschichtlichen Vorgegebenheiten (... )«307 An dieser Stelle wird ein Grundmotiv der philosophischen Hermeneutik Gadamers faßbar, das bereits in den kunsttheoretischen Überlegungen von WM eine wichtige Rolle spielte. Die Wendung gegen die Subjektphilosophie schlägt sich hier als Akzentuierung der Abhängigkeit der geschichtlichen Existenz des Menschen von unverfügbaren Voraussetzungen nieder. In bezug auf die Kunsterfahrung wollte Gadamer nicht davon sprechen, daß ein Subjekt (Künstler oder Betrachter) die Wahrheit des Werkes dank eigener Erkenntnisleistungen erkennt, sondern er bestimmte die Kunst als ein Spiel, das den Künstler und die Betrachter in ein Wahrheitsgeschehen miteinbezieht. Analog dazu wird nun eine ontologische Wendung des Geschichtsbegriffs vorgeschlagen: Die einzelnen Menschen sind weder als Handelnde noch als Erkennende Herren der Geschichte, sondern sie sind in ein Geschehen verwickelt, in das sie zwar punktuell eingreifen können, das aber auch die Möglichkeiten solcher Eingriffe auf entscheidende Weise begrenzt,J°8 Die im Begriff der Wirkungs geschichte vollzogene Ontologisierung der Geschichte impliziert ein Umdenken weg von der Spontaneität der Subjekte hin zu der fundamentalen Abhängigkeit des einzelnen von vorgegebenen Strukturen und läßt sich als hermeneutisches Pendant zu Heideggers Seins geschichte begreifen. Erkenntnis wird nicht mehr so sehr als eine Handlung des Subjekts, sondern als ein Geschehen gedacht, in das der einzelne involviert ist. Im Rahmen dieses Geschehens vollzieht der einzelne durchaus selbständige Erkenntnishandlungen, diese sind allerdings nur noch Elemente eines umfassenden >Wahrheitsgeschehens<, das insgesamt von keinem Subjekt mehr beherrscht wird.
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II.2.7. Horizonte des Verstehens Die wechselseitige Vermittlung von Vergangenheit und Gegenwart versucht Gadamer mit Hilfe der Horizontmetaphorik zu klären. Dabei argumentiert er nochmals gegen ein szientistisches Mißverständnis, indem er bestreitet, daß die Aufgabe des Historikers darin bestehe, sich in einen fremden Vergangenheitshorizont zurückzuversetzen: »Wenn sich unser historisches Bewußtsein in historische Horizonte versetzt, so bedeutet das nicht eine Entrückung in fremde Welten, die nichts mit unserer eigenen verbindet, sondern sie insgesamt bilden den einen großen, von innen her beweglichen Horizont ( ... ) In Wahrheit ist es also ein einziger Horizont, der all das umschließt, was das geschichtliche Bewußtsein in sich enthält. Die eigene und fremde Vergangenheit, der unser historisches Bewußtsein zugewendet ist, bildet mit an diesem beweglichen Horizont, aus dem menschliches Leben immer lebt und der es als Herkunft und Überlieferung bestimmt.«309 Man verstünde die Horizontmetaphorik der Hermeneutik falsch, würde man von jeweils abgeschlossenen Horizonten der Gegenwart und der Vergangenheit sprechen. Gegenwart und Vergangenheit werden im Prinzip der Wirkungsgeschichte als immer schon miteinander vermittelt gedacht, sie werden von einem übergreifenden Gesamthorizont umfaßt. Dennoch hat die Vorstellung eines relativ selbständigen Vergangenheitshorizonts innerhalb eines solchen Gesamthorizonts eine gewisse Berechtigung. Sie kann verständlich machen, daß die historische Arbeit den Kontext rekonstruieren kann und muß, in dem der Forschungsgegenstand des Historikers seinen Ort hatte. Der Historiker entwirft ein Bild der Vergangenheit und hebt darin das von seiner eigenen Gegenwart Abweichende - spezifische Handlungsnormen, Wissensbestände, Institutionen - heraus. Solche Rekonstruktionsarbeit darf sich selbst nicht mißverstehen und das rekonstruierte Bild der Vergangenheit für die Geschichte selbst halten. Sie muß bedenken, daß es sich um Rekonstruktion handelt, um eine methodisch kontrollierte Projektion des Vergangenheitshorizonts vom Standpunkt der Gegenwart aus. Die historische Arbeit erschließt also nicht eine von der Gegenwart völlig unabhängige Welt der Vergangenheit. Ein )unschuldiger< Blick in die Geschichte ist nach Gadamers Auffassung undenkbar. Implizit artikuliert jede historische Darstellung Spannungen innerhalb des Gegenwart und Vergangenheit vermittelnden Gesamthorizonts. Es handelt sich um Spannungen zwischen Identität und Differenz/Alterität, die sich dem Historiker auf der Ebene der Diachronie zeigen, die aber ebenso in syn-
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chronen Schnitten als Spannungen zwischen divergierenden Lebensformen manifest werden können. »Die henneneutische Aufgabe besteht darin, diese Spannung nicht in naiver Angleichung zuzudecken, sondern bewußt zu entfalten. Aus diesem Grunde gehört notwendig zum henneneutischen Verhalten der Entwurf eines historischen Horizonts, der sich von dem Gegenwartshorizont unterscheidet. «310 Im Bereich der Literaturwissenschaft wurde dieser Gedanke Gadamers von der Rezeptionstheorie aufgenommen. Die Forderung nach der Ausarbeitung des historischen Horizonts wurde als Postulat der Rekonstruktion des Erwartungshorizonts konkretisiert. Damit soll nicht das akzidentielle Umfeld beschrieben werden, in dem die Textproduktion stattfindet. Vielmehr wird eine Bezugsebene präzis bestimmt, die den Produktionsprozeß selbst implizit mitbestimmt und die Bedeutung des literarischen Werks in maßgeblicher Weise detenniniert. 311 Ungerechtfertigt ist es, dieser produktiven Fortführung der philosophischen Henneneutik Gadamers vorzuwerfen, sie falle in einen »naiven Historismus« zurück. 312 Um einen solchen Rückfall würde es sich nur dann handeln, wenn die Rezeptionsästhetiker glauben würden, die Rekonstruktion des Erwartungshorizonts ennögliche eine endgültige Festschreibung des Bedeutungsgehalts der Texte. Die Berücksichtigung der wissenschaftlichen Forschungspraxis wirft allerdings eine Frage auf, die die Vorstellung einer immer schon geleisteten Vennittlung von Vergangenheit und Gegenwart betrifft, eine Vermittlung, die auch im Bild der vorgängigen Verschmelzung des Vergangenheits- und Gegenwartshorizonts in einem Gesamthorizont gedacht werden soll. Ist es sinnvoll, von einer solchen immer schon geleisteten Vennittlung zu sprechen, wenn die Forschungsgegenstände häufig, anders als durch die optische Metaphorik nahe gelegt, keineswegs deutlich sichtbar sind? Oft ist der historische Gegenstand nur indirekt in Fonn vereinzelter Spuren greifbar, oder er bleibt, aufgrund einer allzu spärlichen Überlieferung, bis auf blasse Umrisse trotz aller Bemühungen der Wissenschaftler entzogen. Angesichts dieses Umstands wird deutlich, daß die von Gadamer geltend gemachte vorgängige Vennittlung inhaltlich unbestimmt bleibt und in erster Linie als Korrektiv einer starren Dichotomie von Einst und Jetzt im historischen Objektivismus fungiert. Die Verschmelzung des Vergangenheits- und Gegenwartshorizonts garantiert keine vollständige Überlieferung in dem Sinn, daß den Späteren ein lückenloses Wissen
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über die vergangenen Epochen vennittelt wird oder daß bestimmte Normen und Handlungsmuster in ungebrochener Form von den Vorfahren an die Nachkommen weitergegeben werden. Im Begriff der Wirkungsgeschichte und der komplementären Horizontmetaphorik denkt Gadamer die Vermittlung von Einst und Jetzt in dialektischer Weise nicht nur im Modus der manifesten Kontinuität, sondern ebenso im Modus der Abweichung/Ablehnung und des EntzugsNergessens. Der Begriff der Wirkungsgeschichte bestimmt die Gegenwart nicht nur insofern als Produkt der Geschichte, als sich Elemente des Vergangenheitshorizonts durchhalten und den Gegenwartshorizont positiv mitgestalten. Auch als verdrängte, bewußt ausgelöschte oder bloß vergessene wirkt Geschichte auf die Gegenwart ein: Dunkle Ränder und blinde Flecken bestimmen den Horizont der Gegenwart ebenso wie die Zonen, in denen die Gegenstände scharf und deutlich sichtbar sind. 313 Diese Struktur der Wirkungsgeschichte impliziert eine grundsätzliche Einschränkung des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins, das zwar auf die vielfältigen Voraussetzungen geschichtlicher Existenz reflektiert, diese aber insgesamt als uneinholbar erkennt. Das wirkungs geschichtliche Bewußtsein erstellt kein transparentes Bild der Geschichte, sondern es weiß sich selbst als beständig von der Arbeit der Geschichte abhängig. Es »( ... ) ist das geschichtlich erfahrene Bewußtsein, das, indem es dem Phantom einer völligen Aufklärung entsagt, eben damit für die Erfahrung der Geschichte offen ist.«3!' Die philosophische Hermeneutik begnügt sich als Ontologie mit dem Hinweis auf die gekennzeichnete Geschichtlichkeit menschlichen Lebens, ohne sich die Aufgabe zu stellen, eine Theorie bestimmter Formen der Überlieferung und Rezeption von Texten und Kunstwerken auszuarbeiten. Stattdessen erhebt sie einen Universalitätsanspruch und gibt das Prinzip der Wirkungsgeschichte als allgemeingültig aus. Gadamer will den umfassenden Rahmen abstecken, innerhalb dessen unterschiedliche Lebensformen ihre Geschichtlichkeit in vielfältiger Weise modellieren. Der Begriff der Wirkungs geschichte und der ihm korrespondierende Begriff des wirkungs geschichtlichen Bewußtseins bilden die Grundlage der hermeneutischen Philosophie Gadamers. Auf dieser Basis aufbauend werden mehrere Erfahrungsformen und Bewußtseinsarten unterschieden: hermeneutische Erfahrung/hermeneutisches Bewußtsein, ästhetische Erfahrung/ästhetisches Bewußtsein, historische Erfahrung/historisches Bewußtsein. Auch hier verzichtet Gadamer auf präzise Begriffsdefinitionen und vertraut darauf, daß durch die Konfiguration der komplementären
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oder oppositiven Konzepte die Bedeutung der einzelnen Begriffe einsichtig wird. Um die Position Gadamers weiter zu rekonstruieren, bietet es sich an, den Begriff der hermeneutischen Erfahrung, der in der Hierarchie der Konzepte in unmittelbarer Nähe zum Begriff der Wirkungs geschichte steht, zu untersuchen. Dabei gehe ich so vor, daß ich die ausführlichen sprachphilosophischen Erörterungen, die Gadamer im dritten Teil von WM entwickelt, mit einbeziehe und den Begriff der hermeneuti~chen Erfahrung von der These der Sprachlichkeit des Verstehens aus diskutiere.
1I.2.8. Sprache Der Sprachlichkeit des Verstehens widmet Gadamer große Aufmerksamkeit. Der gesamte dritte Teil seines Werks stellt eine »Ontologische Wendung der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache« in Aussicht. Gerade durch die verstärkte Aufmerksamkeit für den Zusammenhang von Sprache und Verstehen setzt sich WM von dem existenzialen Verstehensbegriff ab, den Heidegger in »Sein und Zeit« entwickelt. Auf die untergeordnete Bedeutung, die der Sprache in »Sein und Zeit« eingeräumt wird, haben K. Lorenz und J. Mittelstraß hingewiesen: »Daß ( ... ) Sprache in Sein und Zeit nicht als transzendentale Größe aufgefaßt wird, geht deutlich aus dem Zusammenhang hervor, in dem von ihr die Rede ist. Sprache dient nämlich dazu, Befindlichkeit (also Gestimmtheit) und Verstehen wiederzugeben, Heidegger sagt: zu artikulieren. Es ist also zunächst an etwas ganz Alltägliches gedacht, wenn er nach einer sehr ausführlichen Erörterung dessen, was Befindlichkeit und Verstehen im Rahmen seiner Analyse der menschlichen Situation bedeuten sollen, darauf aufmerksam macht, daß der Mensch kraft seines Sprechvermögens jederzeit in der Lage ist, seiner Gestimmtheit und seiner Deutung der Situation Ausdruck zu verleihen.«315 Wenn Gadamer in WM die Sprache als eine Bedingung der Möglichkeit von Verstehen überhaupt begreift, arbeitet er auf einem Feld, das der von Heidegger nach der sogenannten Kehre entwickelten Sprachphilosophie nicht fern liegt. Die Reflexion auf die Sprache schließt eng an die Ausführungen über die Wirkungs geschichte an. Das Erlernen einer Sprache ist in hermeneutischer Sicht grundverschieden von dem Erwerb einer bestimmten Technik. Der Mensch, der Sprechen lernt, eignet sich bestimmte Unterscheidungen an, mit deren Hilfe er seine Wahrnehmungen strukturiert und
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Erfahrungen machen kann. Er erschließt sich die Welt und versteht sie im Rahmen der in seiner Sprache sedimentierten Deutungsmuster. Der Vorgang des Primärspracherwerbs scheint gut geeignet zu sein, um die Relevanz von Vorverständnis und Zugehörigkeit zu Traditionen zu unterstreichen. Die Sprache, die nach Gadamers an Humboldt anknüpfender Auffassung eine bestimmte WeItsicht impliziert, ist identisch mit einer Lebensform, sie hält grundlegende Unterscheidungen und Orientierungen bereit. Indem ein Kind sprechen lernt, wächst es in diese Lebensform hinein und übernimmt die sprachgeprägte Weltansicht. Gadamers Sprachbegriff versteht sich als Korrektiv einseitiger Begriffsbildungen, die die Sprache als Kommunikationsinstrument darstellen. Sprache ist nach Gadamer weit mehr als ein Mittel der Verständigung zwischen Menschen, sie ist eine absolute Größe, die so etwas wie einen Raum der Verständigung überhaupt erst konstituiert. Die Schlüsselstellung der Sprache umschreibt Gadamer wie folgt: »( ... ) in der Sprache stellt sich die Welt selbst dar. Die sprachliche WeIterfahrung ist >absolut<. ( ... ) Die Sprachlichkeit unserer Welterfahrung ist vorgängig gegenüber allem, das als seiend erkannt und angesprochen wird. Der Grundbezug von Sprache und Welt bedeutet daher nicht, daß die Welt Gegenstand der Sprache werde. Was Gegenstand der Erkenntnis und der Aussage ist, ist vielmehr immer schon von dem Welthorizont der Sprache umschlossen.«316 Teilnehmer einer Sprachgemeinschaft zu sein, ist im Rahmen dieser Konzeption gleichbedeutend mit der Zugehörigkeit zu einer Tradition, die eine bestimmte Weltansicht vermittelt. Die Sprache selbst bietet ein bestimmtes Vorverständnis der WeIt an, ein Verständnis, das ständig weiter gebildet und modifiziert werden kann, das aber gegenüber einzelnen Akten der Distanzierung, Kritik oder Transformation einen absoluten Vorrang beansprucht. Der Begriff der Sprache ist ebensowenig wie derjenige der Geschichte, des Verstehens oder des Spiels einer Begründung im Sinn einer Ableitung aus fundamentaleren Begriffen fahig. Diese Begriffe werden als grundlegende Prinzipien einer Philosophie der Endlichkeit eingebracht, die einen nicht überschreitbaren Horizont markieren sollen. Sie fixieren diesen Horizont nicht, weil die Ziehung einer Grenzlinie einen wie auch immer gearteten Bereich jenseits der Grenze voraussetzen würde. Dies aber muß nach Gadamer eine sich selbst beim Wort nehmende Philosophie der Geschichtlichkeit und Endlichkeit vermeiden. Sie kann den Immanenzraum der menschlichen Erfahrung nur von innen her charakterisieren, auch wenn sie damit auf die Deutlichkeit wissenschaftlicher
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Erkenntnis verzichtet. Auffällig ist zudem, daß diese Begriffe, wie W. Schulz gezeigt hat, nicht mehr in einem Bedingungszusammenhang stehen. Es handelt sich vielmehr um »vertauschbare Größen«.317 Der hermeneutische Sprachbegriff steht in einem äußerst spannungsreichen Verhältnis zum Sprachbegriff der Linguistik und Semiotik, die die Sprache auf der Basis eines Code-Modells begreifen. 318 Vom h~rme neutischen Standpunkt aus erscheint ein solcher Zugang problematisch, weil die in den Code-Modellen unterstellte Systematik in bezug auf natürliche Sprachen häufig nicht zutrifft (Sprachwandel, Polysemie, Devianz), und weil die Code-Vorstellungen die Bedeutung der Sprache beim Aufbau des Wissens der Sprecher und bei der Ausbildung ihrer Identität zugunsten des Gebrauchs der Sprache als Kommunikationsinstrument vernachlässigen. 319 Wie immer es um die hermeneutische Kritik an der Linguistik und Semiotik bestellt sein mag, kann man als Fazit der sprachphilosophischen Erörterungen festhalten, daß die historischen Sprachen eine Vielzahl von Interpretationsschemata bereithalten, in deren Licht die Welt erfahrbar wird und durch die sich ein Selbstverständnis der Sprecher ausbildet. Die Sprache erscheint damit als Paradigma für ein umfassendes Vorverständnis und mehr noch als Medium des Verstehens schlechthin. Dementsprechend lautet der Hauptsatz der hermeneutischen Sprachontologie: »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.«320 Eine Doppeldeutigkeit der philosophischen Hermeneutik besteht darin, daß sie einerseits mit den bereits vorgestellten universalen Konzepten (Verstehen, Vorverständnis, Tradition, Wirkungs geschichte, Sprache) operiert, andererseits aber immer wieder die universale Breite dieser Konzepte unterläuft und bestimmte inhaltliche SpezifIkationen ansetzt: In Hinblick auf den Verstehensbegriff beispielsweise kann man eine systematische Nichtunterscheidung zweier Ebenen beobachten. Das universale Konzept des Verstehens wird als Teilnahme an einer Sprachgemeinschaft, als Partizipation an Traditionen und Vorverständnissen expliziert. Diesem fundamentalen Verstehen steht kein Oppositionsbegriff gegenüber, es weist vielmehr dieselbe Struktur auf wie Heideggers Existenzial >Verstehen<. Erst vor dem Hintergrund dieses universalen Verstehensbegriffs kann die Dichotomie von Verständnis und Unverständnis/Mißverständnis formuliert werden. Die Rede von einem universalen Verstehen läßt also noch völlig unbestimmt, ob einzelne Verstehensvollzüge als Verständnis oder Unverständnis/Mißverständnis zu bestimmen sind. Gadamer verwischt die Unterscheidung zwischen der Ebene des universalen, fundamentalhermeneutischen Verstehens und der Ebene der
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konkreten Verstehensvollzüge (Verständnis/Anerkennung, Unverständnis/Ablehnung, MißverständnisNerkennung). Er erweckt den Anschein, als ob das universale Verstehen per se ein Verständnis im Sinn etwa der Anerkennung überlieferter Orientierung impliziere. Diese Privilegierung einer bestimmten Weise der Konkretisation des Verstehens erweckt den Eindruck, Gadamer stilisiere die Überlieferung zu einer identitäts stiftenden, Sicherheit gewährenden Macht. Demgegenüber erscheint es aber eher angemessen, die nicht festgelegten Möglichkeiten der Konkretisation des Verstehens anzuerkennen. 321 Entsprechendes gilt für die anderen universalen Konzepte der philosophischen Hermeneutik. So impliziert der weite Traditionsbegriff der Hermeneutik recht verstanden gerade nicht notwendigerweise die Kontinuität des Tradierten, sondern läßt die Möglichkeiten des Traditionsbruchs und der Innovation offen.
II.2.9. Erfahrung
Auf der Basis des Begriffs der Wirkungsgeschichte, der Horizontmetaphorik und des hermeneutischen Sprachbegriffs erläutert Gadamer, was mit der Rede von hermeneutischer Erfahrung gemeint ist. Einleitend legt er eine begriffs geschichtlich abgesicherte Erörterung des Erfahrungsbegriffs vor, der er selbst eine »systematische Schlüsselstellung«322 innerhalb seiner philosophischen Hermeneutik zuschreibt. Nur am Rande geht diese begriffs geschichtliche Untersuchung auf die erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Tradition des Erfahrungsbegriffs (Aristoteles, Bacon) ein 323 , ihr Schwerpunkt besteht in einer Darlegung eines im Anschluß an Hegel formulierten Konzepts der Erfahrung.
II.2 .9.1. Dialektik der Erfahrung
Da nach Gadamer ein an den Aufgaben und Verfahren der Wissenschaften ausgerichteter Erfahrungsbegriff »( ... ) die innere Geschichtlichkeit der Erfahrung nicht beachtet ( ... )«324, greift er auf Hegels dialektischen Begriff der Erfahrung zurück und übernimmt ihn in modifizierter Form für seine Zwecke. Dialektisch ist der Hegelsehe Erfahrungsbegriff, weil er Erfahrung nicht nur als Erwerb von Wissen über einen Gegenstand bestimmt, sondern als einen kognitiven Prozeß spezifiziert, in dem sich sowohl das Wissen über einen Gegenstand verändert als auch Ein-
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stellungen und Situations definitionen des Subjekts selbst modifiziert werden. Solange das Subjekt lediglich neue Informationen über einen Gegenstand registriert und auf Grund dieser Information sein Wissen korrigiert, modifiziert und erweitert, kann man im Rahmen der Hermeneutik noch nicht von Erfahrung sprechen. Erst wenn der Wissenszuwachs das Subjekt selbst verändert und einen Einstellungswechsel, herbeiführt, ist es angebracht, davon zu sprechen, daß jemand eine Erfahrung gemacht hat. Die eigentümliche Verlaufsform dieses Prozesses wird dadurch etwas genauer beschrieben, daß die Erwartungen des Subjekts berücksichtigt werden. Nach Gadamer werden nämlich nur solche Lernprozesse als Erfahrungen ausgezeichnet, die den Erwartungen des Subjekts widersprechen. »Erfahrung ( ... ) setzt ( ... ) notwendig mannigfache Enttäuschung von Erwartungen voraus und nur dadurch wird Erfahrung erworben ( ... ) Jede Erfahrung, die diesen Namen verdient, durchkreuzt eine Erwartung.«'25 Vom Hegeischen Begriff der Erfahrung unterscheidet sich derjenige Gadamers allerdings dadurch, daß er keine Vollendung der Erfahrung in einem absoluten Wissen annimmt. 326 Gadamer will das Schema von Erwartung, Enttäuschung und neuer Einstellung nicht in einem abschließenden absoluten Wissen auflösen. Er will - gegen Hegel - den Begriff der Erfahrung vielmehr von einer solchen Überbietung seiner selbst befreien: »Die Dialektik der Erfahrung hat ihre eigene Vollendung nicht in einem abschließenden Wissen, sondern in jener Offenheit für Erfahrung, die durch die Erfahrung selbst freigespielt wird.«327 Über diese Explikation des Erfahrungsbegriffs hinausgehend wird das Wesen der Erfahrung als Gewinn von Einsicht bestimmt. Damit wird das Konzept der Erfahrung auf solche Fälle eingeschränkt, in denen der einzelne lernt, sein Leben insgesamt richtig zu sehen. »Erfahrung ist (... ) Erfahrung der menschlichen Endlichkeit. Erfahren im eigentlichen Sinne ist der, wer ihrer inne ist, wer weiß, daß er der Zeit und der Zukunft nicht Herr ist. Der Erfahrene nämlich kennt die Grenze alles Voraussehens und die Unsicherheit aller Pläne. In ihm vollendet sich der Wahrheitswert der Erfahrung ( ... ) Die eigentliche Erfahrung ist diejenige, in der sich der Mensch seiner Endlichkeit bewußt wird. An ihr findet das Machenkönnen und das Selbstbewußtsein seiner planenden Vernunft seine Grenze.«'28 Gadamers Ausführungen zum Begriff der Erfahrung gipfeln in einem essentialistischen Konzept, das Erfahrung als einen Prozeß charakterisiert, der durch Enttäuschung Einstellungsänderungen herbeiführt, die
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das Leben als Ganzes und das Selbstverst~dnis des Subjekts betreffen. Wesentlich ist auch hier, daß das Subjekt selbst nicht über seine Erfahrungen verfügt. Auch im Zusammenhang mit dem Erfahrungsbegriff akzentuiert Gadamer also die Unverfügbarkeit des Geschehens.
II.2.9.2. Hermeneutische Erfahrung
Von diesen Erläuterungen des allgemeinen Erfahrungsbegriffs aus kann man den Begriff der hermeneutischen Erfahrung am einfachsten dadurch bestimmen, daß man die Gegenstände benennt, mit denen sie es zu tun hat. Es handelt sich um tradierte Dokumente, Monumente, Kunstwerke: um den ganzen Bereich der Überlieferung. Es ist wichtig zu sehen, daß Gadamer im Rahmen seiner allgemeinen Überlegungen zum Erfahrungsbegriff bleibt und die hermeneutische Erfahrung gerade nicht vorrangig als einen methodisch disziplinierten, wissenschaftlichen Forschungsprozeß definiert. Die hermeneutische Erfahrung soll den skizzierten Erfahrungscharakter bewahren; es handelt sich um einen kognitiven Prozeß, dessen Gegenstand Elemente der Überlieferung sind, wobei die Erkenntnis dieser Gegenstände im Hinblick auf Einstellungen und Situationsverständnisse des Subjekts relevant ist. Vor dem Hintergrund der ausführlich behandelten Auseinandersetzung Gadamers mit der älteren Hermeneutik und den Geisteswissenschaften ist diese Konzeption hermeneutischer Erfahrung durchaus konsequent. Gadamer zieht an dieser Stelle Folgerungen aus seiner Kritik am szientistischen Selbstmißverständnis der Geisteswissenschaften, wenn er die hermeneutische Erfahrung gar nicht auf den Bereich der historischen Wissenschaften einschränkt, sondern diese lediglich als möglichen Ort hermeneutischer Erfahrung berücksichtigt. Um die allgemein gehaltenen Darlegungen zum Begriff der Erfahrung nun im Hinblick auf die mit der Überlieferung gemachte Erfahrung zu spezifizieren, kommt Gadamer nochmals auf die Sprachgebundenheit des Verstehens zurück: »Die hermeneutische Erfahrung hat es mit der Überlieferung zu tun. Sie ist es, die zur Erfahrung kommen soll. Überlieferung ist aber nicht einfach ein Geschehen, das man durch Erfahrung kennt und beherrschen lernt, sondern sie ist Sprache, d.h. sie spricht von sich aus so wie ein Du. Ein Du ist nicht Gegenstand, sondern es verhält sich zu einem.«l29 Versucht man diese Identifizierung der tradierten Gegenstände mit sprechenden Personen auf konkrete Fälle zu beziehen, fällt es schwer,
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Gadamer zuzustimmen. Mit plausiblen Gründen läßt sich die Vorstellung kritisieren, daß ein Text, ein Bild oder ein Musikstück uns so direkt anspricht wie eine andere Person: Texte sprechen nicht, sie werden gelesen, und in wesentlichem Maß entscheiden das Können, das Wissen und die Aufmerksamkeit des Lesers darüber, ob ein Text zu ihm »spricht'«.33o Dennoch enthält Gadamers zweifelsohne mißverständliche Redeweise auch ihr Wahrheitsmoment. Durch den Begriff der Wirkungsgeschichte sollte der Blick für eine den einzelnen Akten bewußter Aneignung von Elementen der Tradition vorgelagerte Teilhabe am Überlieferungsgeschehen geschärft werden. Dieses Prinzip kommt nun im Bereich der hermeneutischen Erfahrung auch dadurch zur Geltung, daß es einer Vergegenständlichung des Tradierten entgegenwirkt. Die Gegenstände hermeneutischer Erfahrung und die Gegenstände der Geisteswissenschaften, sofern diese an der hermeneutischen Erfahrung partizipieren und nicht vollständig im Zeichen eines rigiden Szientismus stehen, werden als Elemente des Überlieferungszusammenhangs begriffen, dem auch der Rezipient selbst angehört. Diese der bewußten wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Überlieferung vorgeordnete Beziehung zwischen Gegenstand und Rezipient hebt Gadamer mit der metaphorischen Wendung von der sprechenden Überlieferung hervor. Hermeneutische Erfahrung macht nur derjenige, der bereit ist, eigene Einstellungen zu modifizieren, seinen Horizont zu erweitern und sich fremde Vorstellungen anzueignen. Die grundsätzliche Offenheit ermöglicht eine Erfahrung der Überlieferung, in der diese so >zu Wort kommt< wie der Partner in einem guten Gespräch: »Ich muß die Überlieferung in ihrem Anspruch gelten lassen, nicht im Sinne einer bloßen Anerkennung der Andersheit der Vergangenheit, sondern in der Weise, daß sie mir etwas zu sagen hat. ( ... ) das verlangt eine grundSätzliche Art der Offenheit. Wer in dieser Weise für die Überlieferung offen ist, durchschaut, daß das historische Bewußtsein gar nicht wirklich offen ist, sondern vielmehr, wenn es seine Texte >historisch< liest, die Überlieferung immer schon vorgängig und grundsätzlich nivelliert hat, so daß die Maßstäbe des eigenen Wissens durch die Überlieferung niemals in Frage gestellt werden können.( ... ) Das hermeneutische Bewußtsein hat seine Vollendung nicht in seiner methodischen Selbstgewißheit, sondern in der gleichen Erfahrungsbereitschaft, die den Erfahrenen gegenüber dem dogmatisch Befangenen auszeichnet.«33l
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II.2.lO. Frage und Antwort Die Ausarbeitung eines Modells henneneutischer Erfahrung als Gespräch zwischen Interpret und Interpretandum wird durch die »Logik von Frage und Antwort« vorbereitet. Gadamer knüpft bei seinen Bemerkungen zur »Logik von Frage und Antwort« an Überlegungen an, die R.G. Collingwood in seiner Autobiographie ausgeführt hat. 332 Collingwood glaubte, mit seiner »Logik von Frage und Antwort« eine Alternative zur propositionalen Logik bieten zu können: »An die Stelle der Aussagelogik (sie!) wollte ich eine Frage-und-Antwort-Logik setzen, wie ich sie nannte. Es schien mir, daß Wahrheit (... ) etwas wäre, das nicht zu irgendeiner vereinzelten Aussage gehört oder etwa ( ... ) zu einem Komplex von zusammengefaßten Aussagen, sondern zu einem Komplex, der aus Fragen und Antworten besteht. Die Struktur dieses Komplexes war natürlich niemals von der Aussagelogik untersucht worden.«333 Die hier angedeutete Logik hat Collingwood in systematischer Fonn nicht ausgearbeitet. Dennoch geht bereits aus den kurzen Ausführungen in seiner Autobiographie hervor, daß sein Projekt - insofern es eine Logik im engeren Sinn des Wortes in Angriff nimmt - mit erheblichen Mängeln belastet ist. 334 Es ist daher sinnvoll, die Untersuchung der FrageAntwort-Struktur nicht als Suche nach einer Alternative zu traditionellen propositionalen Logiken aufzufassen, sondern sie als Versuch zu begreifen, ein Modell historischer Forschung zu bilden. Als ein solches erscheint das Frage-Antwort-Verhältnis zunächst ja auch in Collingwoods Erzählung. Er berichtet, daß er die Eigenart eines Gegenstands zu erfassen versuchte, indem er überlegte, auf welche Frage der Gegenstand antwortet. Im Hinblick auf philosophische und wissenschaftliche Texte leuchtet dies durchaus ein: Es scheint tatsächlich zum Verständnis solcher Texte zu gehören, daß man das Problem benennen kann, das sie behandeln, oder die Fragen fonnuliert, auf die sie antworten. In WM ist nun ebensowenig wie bei Collingwood in einem engeren Sinn von einer Logik zu sprechen, wenn das Schema von Frage und Antwort zm Explikation des Verstehens einzelner Gegenstände herangezogen wird. Gadamer analysiert weder verschiedene Fonnen der Beziehung von Frage- und Antwortsätzen335 , noch ist er an einer linguistischen Theorie von Frage und Antwort interessiert. 336 Er greift gerade deshalb auf Collingwood zurück, weil es ihm ebenfalls darum geht, die Bedeutung tradierter Objekte zu eruieren, beziehungsweise den Prozeß zu kennzeichnen, durch den diese Bedeutung zugänglich wird. Die »Logik von
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Frage und Antwort« soll den Begriff henneneutischer Erfahrung über die bisher gegebenen Bestimmungen hinausgehend erläutern. »Wir fragen (... ) nach der logischen Struktur der Offenheit, die das henneneutische Bewußtsein kennzeichnet, und erinnern uns, welche Bedeutung bei der Analyse der henneneutischen Situation dem B''egriff der Frage zukam. Daß in aller Erfahrung die Struktur der Frage vorausgesetzt ist, liegt auf der Hand. Man macht keine Erfahrung ohne die Aktivität des Fragens. Die Erkenntnis, daß die Sache anders ist und nicht so, wie man zuerst glaubte, setzt offenbar den Durchgang durch die Frage voraus, ob es so oder so ist. Die Offenheit, die im Wesen der Erfahrung liegt, ist logisch gesehen eben diese Offenheit des So oder So. Sie hat die Struktur der Frage.«337 Eigentümlich ist der Umstand, daß Gadamer einer bestimmten Einstellung, der Offenheit für neue Erfahrungen, eine sprachliche oder logische Struktur zuweist und dadurch die Ebenen der SprachelLogik und der Dispositionen des Subjekts amalgamiert. In Hinblick auf die vorangegangenen Erörterungen des Erfahrungsbegriffs ist bemerkenswert, daß nun im Gegensatz zu der vorherigen Akzentuierung der Unverfügbarkeit von Erfahrungen eine Aktivität des Subjekts (»die Aktivität des Fragens«) als entscheidendes Moment im Erfahrungsprozeß namhaft gemacht wird. In ähnlicher Weise steht auch der Hinweis auf die Offenheit des henneneutischen Bewußtseins in einem spannungsvollen Verhältnis zu der zuvor als entscheidend herausgehobenen Fixierung von Erwartungen und deren Durchkreuzung. Die Darstellung des Erfahrungsprozesses als eines wesentlich negativen, Erwartungen enttäuschenden Vorgangs wird nun durch eine Beschreibung modifiziert, in der nicht so sehr die Erwartungen des Subjekts relevant sind, sondern eine grundsätzliche Offenheit die Haltung dessen prägt, der fähig ist, Erfahrungen zu machen. Beide Aspekte - grundsätzliche Offenheit und eine gewisse Fixierung der Erwartung - müssen sich nicht unbedingt ausschließen, allerdings ist es nicht gerade ein Vorzug der Ausführungen Gadamers, daß sie die aufgezeigten Spannungen weder erwähnen noch lösen. Das Schema von Frage und Antwort ordnet den beiden Teilnehmern am henneneutischen Gespräch, dem Interpreten und dem Interpretandum, nicht ausschließlich eine der beiden Sprechweisen des Fragens und Antwortens zu. Im henneneutischen Gespräch realisiert sich vielmehr eine »Dialektik von Frage und Antwort«. Das dialektische Moment der Beziehung von Fragen und Antworten in der henneneutischen Erfahrung besteht darin, daß Text und Interpret gleichennaßen Fragen zu stellen und Antworten zu geben scheinen. Der dialektische Dialog der Henne-
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neutik unterscheidet sich dadurch, daß die Gesprächsteilnehmer abwechselnd die Rollen des Fragenden und Antwortenden einnehmen, von dem Kreuzverhör, in dem die exakten Wissenschaften ihre Gegenstände dazu zwingen, ihre Fragen zu beantworten. 338 Ausgangspunkt und notwendige Bedingung henneneutischer Erfahrung ist nach Gadamer, daß der Text »( ... ) eine Frage an den Interpreten stellt. (... ) Einen Text verstehen, heißt diese Frage verstehen.«339 Andererseits stellt der Text nicht nur eine Frage an den Leser, er gibt bereits schon seinerseits eine Antwort auf eine Frage: »Wer verstehen will, muß ( ... ) fragend hinter das Gesagte zurückgehen. Er muß es als Antwort von einer Frage her verstehen, auf die es Antwort ist. ( ... ) Man versteht den Text ja nur in seinem Sinn, indem man den Fragehorizont gewinnt, der als solcher notwendigerweise auch andere mögliche Antworten umfaßt. Insofern ist der Sinn eines Satzes relativ auf die Frage, für die er eine Antwort ist (... )«340 Die Rede von der Frage, die der Text dem Leser stellt und die den Ausgangspunkt des henneneutischen Gesprächs bildet, kann man schlicht durch den Hinweis darauf ersetzen, daß Verstehensbemühungen nur dann unternommen werden, wenn sich der Interpret für den Text interessiert und annimmt, daß der Text etwas Relevantes· zu sagen hat. Den Text dann als Antwort zu begreifen, bedeutet, ihn erstens in einen historischen Kontext einzubetten, der den thematischen Rahmen absteckt und die Probleme erkennen läßt, auf die der Text reagiert. Es handelt sich um eine Rekonstruktion des Vergangenheits- oder Erwartungshorizonts. Zweitens kann und soll über die historische Kontextualisierung hinausgehend der Text bewußt in den Gegenwartshorizont des Interpreten integriert werden. Dadurch kann das Interpretandum eine neue, von der historischen Bedeutung zu unterscheidende Bedeutung hinzugewinnen. Beide Schritte gehören zusammen und können als Kontextualitätsprinzip der Henneneutik bezeichnet werden. Das Wechselspiel von Frage und Antwort faßt Gadamer wie folgt zusammen: »Die Rekonstruktion der Frage, auf die der Text die Antwort sein soll, steht selbst innerhalb eines Fragens, durch das wir die Antwort auf die uns von der Überlieferung gestellte Frage suchen. Eine rekonstruierte Frage kann eben niemals in ihrem ursprünglichen Horizont stehen. Denn der in der Rekonstruktion beschriebene historische Horizont ist nicht wahrhaft umschließender Horizont. Er ist vielmehr selbst noch von dem Horizont umfaßt, der uns als die Fragenden und von dem Wort der Überlieferung Getroffenen umschließt.«341
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Gadamers »Logik von Frage und Antwort« will mehr leisten als die Abläufe des Interpretationsprozesses zu beschreiben. Im Hintergrund der Rede von Frage und Antwort stehen unterschiedliche Positionen: Erstens eine theologische Metaphysik des Fragens, die den Mepschen als das von Gott in Frage gestellte/angesprochene Wesen und als den nach Gott Fragenden bestimme42 ; zweitens die Auszeichnung des Fragens und der Ausarbeitung von Fragen als Vollzugsform der Philosophie und deren Distanzierung vom Modus der Aussage bei Heidegger343 ; drittens der Impetus des Sokratischen Fragens und einer dialogischen Dialektik, die in den Werken Platons ihren Niederschlag gefunden hat. 344 Dem zuletzt genannten Moment kommt besondere Bedeutung für Gadamers Hermeneutik zu. Gadamer selbst stellt seine »Logik von Frage und Antwort« ausdrücklich in Verbindung zu der Dialektik Platons und der in ihr bewahrten Insistenz des Sokratischen Fragens. Platons Dialektik ist ein Vorbild für die philosophische Hermeneutik, weil sie »( ... ) die Kunst des Fragens zu bewußter Handhabung erhoben (... )«345 hat. Damit ist nicht gemeint, daß diese Kunst wie eine Technik lehrbar ist: »Die Dialektik als die Kunst des Fragens bewährt sich nur darin, daß der, der zu fragen weiß, sein Fragen, und das heißt: die Richtung ins Offene, festzuhalten vermag. Die Kunst des Fragens ist die Kunst des Weiterfragens, d.h. aber sie ist die Kunst des Denkens.«346 Der fragende Sokrates personifiziert eine für die philosophische Hermeneutik wesentliche Idee der Vernunft. Sein Vorgehen unterscheidet sich von wissenschaftlicher Forschung, weil es nicht so sehr auf die Formulierung von Theorien und die Analyse gegebener Objekte gerichtet ist, sondern in undogmatischer Offenheit gemeinsam mit seinen Gesprächspartnern nach Antworten auf Fragen sucht, die sich in der Lebenspraxis stellen. Die Offenheit des Sokrates macht es möglich, scheinbar gesichertes Wissen immer wieder auf seine Begründung hin zu befragen und Scheinwissen zu entlarven. Durch diese grundsätzliche Offenheit, durch die Bereitschaft, mögliche Entgegnungen, Einwände und Alternativen ernsthaft zu bedenken, ist die Gestalt des Sokrates ein Vorbild für die hermeneutische Gesprächsbereitschaft. Wenn Gadamer das hermeneutische Gespräch mit Hilfe einer »Logik von Frage und Antwort« zu kennzeichnen versucht, so geht es ihm vorrangig darum, zu zeigen, daß das Verstehen der Überlieferung nicht ausschließlich als Analyse und Erforschung von Objekten zu beschreiben ist, sondern als ein Prozeß gekennzeichnet werden muß, in
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dem der Interpret selbst zu dem Geltungsanspruch des Texts Stellung bezieht und seine eigene Position verändern kann.
//.2 .11. Gesprächsmodell . 1/.2.11.1. Text und Leser Das Prinzip der Wirkungsgeschichte und die auf ihm aufbauenden Konzeptionen der Gadamerschen Hermeneutik weisen auf die Begrenztheit der Tragweite von Handlungen einzelner Menschen und deren Abhängigkeit von oftmals undurchschauten Voraussetzungen hin. Auch das hermeneutische Gesprächsmodell, das sich als eine Übertragung des im Bereich der Ästhetik angesiedelten Spielmodells auf das Feld der Textinterpretation verstehen läßt, geht ganz im Sinn dieser antisubjektivistischen, ontologischen Grundtendenz davon aus, daß der Interpret den Prozeß der Interpretation nicht souverän beherrscht. Wie auch im Fall der Erfahrung von Kunst versucht die philosophische Hermeneutik zu zeigen, daß Interpretationen komplexe Geschehnisse sind, innerhalb derer die Handlungen des Interpreten lediglich einen Faktor neben anderen wesentlichen Momenten bilden. Die Handlungs- und Erkenntnismöglichkeiten des Interpreten selbst erscheinen in starkem Ausmaß durch die Überlieferung und die Situation des Verstehenden determiniert zu sein. Der Interpret verfügt nur über einen eingeschränkten Spielraum und faßt seinen Gegenstand zunächst nach Maßgabe seines Vorverständnisses auf. Eine Perspektive, die die Interpretationsarbeit vorwiegend vom Standpunkt des Interpreten aus beschreibt, wird von Gadamer als oberflächlich kritisiert, weil sie lediglich einen »Außenaspekt« des hermeneutischen Prozesses erfaßt: »Weder ist das Bewußtsein des Interpreten dessen Herr, was als Wort der Überlieferung ihn erreicht, noch kann man, was da geschieht, angemessen beschreiben als die fortschreitende Erkenntnis dessen, was ist ( ... ) Vom Interpreten aus gesehen, bedeutet Geschehen, daß er nicht als Erkennender sich seinen Gegenstand sucht, mit methodischen Mitteln >herausbekommt<, was eigentlich gemeint ist und wie es eigentlich war, wenn auch leicht behindert und getrübt durch die eigenen Vorurteile. Das ist nur der Außenaspekt des eigentlichen hermeneutischen Geschehens. Er motiviert die unentbehrliche methodische Disziplin, mit der man sich gegen sich selbst verhält. Das eigentliche Geschehen ist dadurch aber nur ermöglicht, nämlich daß das Wort, das als Überlieferung auf uns gekom-
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men ist und auf das wir zu hören haben, uns wirklich trifft und so trifft, als rede es uns an und meine uns selbst.(. .. ) auf der anderen Seite, von seiten des >Gegenstandes<, bedeutet dieses Geschehen das Insspielkommen, das Sichausspielen des Überlieferungsgehaltes in seinen je neuen (... ) Sinn- und Resonanzmöglichkeiten.«347 Entscheidend für das »eigentliche« hermeneutische Geschehen ist demnach, daß der Leser von der Überlieferung »getroffen« wird. Analysen der Textarbeit, in denen das Instrumentarium des Interpreten beschrieben wird, und Versuche, die Frage zu beantworten, wie Interpretationen erfolgreich durchgeführt werden können, sind im Rahmen dieses Ansatzes nicht gegenstandslos. Aber sie stehen nicht im Zentrum. Nach Gadamers Überzeugung können sie erst in Anschluß an eine Ausarbeitung der hermeneutischen Situation erörtert werden. Eine durch das Prinzip der Wirkungs geschichte belehrte Hermeneutik erkennt, daß Texte nicht einfach als Gegenstände wissenschaftlicher Untersuchung gegeben sind und daß der Ursprung der Interpretation nicht mit dem Moment identisch ist, in dem ein Leser einen Text als interpretationsbedürftigen oder interpretationsfähigen Gegenstand mittels bestimmter exegetischer Werkzeuge zu behandeln beginnt. Diese Situation selbst ist auf vielfältige Weise durch die Form der Überlieferung und den situativen Kontext der Lektüre bedingt. Beide Momente determinieren, was einem Leser überhaupt als fragwürdig und relevant erscheint. Um die Abhängigkeit des Interpreten von vorgängigen Faktoren zu verdeutlichen, kehrt Gadamer die übliche und naheliegende Vorstellung vom Interpretationsprozeß um: Er wird nicht vom Interpreten initiiert, sondern dadurch ausgelöst, daß der Text den Leser anspricht und betroffen macht: »Nur weil der Text es fordert, kommt es also zur Auslegung und nur so, wie er es fordert. Der scheinbar thetische Beginn der Auslegung ist in Wahrheit Antwort, und wie jede Antwort bestimmt sich auch der Sinn einer Auslegung durch die Frage, die gestellt ist.«348 Die Rede vom fragenden oder den Leser ansprechenden Text bleibt vieldeutig, da offensichtlich wesentliche Unterschiede zwischen einem mündlichen Gespräch, bei dem sich die Beteiligten gegenüberstehen, und dem >Gespräch< des Interpreten mit dem Text bestehen. Der Vergleich der Interpretation mit einem Gespräch trifft eben nur gewisse Aspekte der Interpretation. Gadamer weist selbst auf Unterschiede zwischen dem mündlichen Gespräch und der Textauslegung hin: »( ... ) die hermeneutische Situation gegenüber Texten (ist zu unterscheiden von) der zwischen zwei Gesprächspersonen (... ) Handelt es sich
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doch bei Texten um >dauernd fixierte Lebensäußerungen<, die verstanden werden sollen, und das bedeutet, daß nur durch den einen der beiden Partner, den Interpreten, der andere Partner des hermeneutischen Gesprächs, der Text, überhaupt zu Wort kommt. Nur durch ihn verwandeln sich schriftliche Zeichen zurück in Sinn.«349 Nachdem das Gesprächsmodell zunächst den Geschehenscharakter des hermeneutischen Gesprächs in den Vordergrund stellte, wird nun aber doch eine Konzession an das übliche Verständnis der Interpretationsarbeit gemacht und zugestanden, daß das hermeneutische Gespräch überhaupt nur dank der Aktivität eines Interpreten in Gang kommen kann. »Der Text bringt eine Sache zur Sprache, aber daß er das tut, ist am Ende die Leistung des Interpreten.«350
1I.2 .11.2. Gespräch mit dem Autor?
Es ist auffällig, daß das hermeneutische Gesprächsmodell ausschließlich die zweigliedrige Text-Leser-Relation behandelt und die Position des Autors ausklammert. Damit steht die Hermeneutik in Widerspruch zu Theorien, die Lektüre und Interpretation innerhalb eines dreigliedrigen Kommunikationsmodells verorten und den Text als Träger einer Mitteilung des Autors an Leser bestimmen. Unter der Vielzahl möglicher Spezifikationen des dreigliedrigen Kommunikationsmodells für die Zwecke einer Theorie der Textinterpretation ist als Konkurrent und mögliche Alternative zum hermeneutischen Gesprächsmodell eine Position von besonderem Interesse. Es handelt sich um die von E.D. Hirsch vertretene Interpretationstheorie, die mit ihrer Fokussierung auf die Intention des Autors in polemischer Opposition zu Gadamers Gesprächsmodell steht. 351 Hirsch möchte das Ideal der einen richtigen Interpretation retten und damit eine wissenschaftlich disziplinierte Textarbeit von anderen Formen des Umgangs mit Texten abheben. Insbesondere will er vermeiden, daß willkürliche Projektionen der Leser als Interpretationen ausgegeben werden können. Gegen die Vielfalt solcher Pseudo-Interpretationen und gegen die Vorstellung einer historisch wandelbaren Textbedeutung - wie Gadamer sie ausdrücklich vertritt - bietet Hirsch das Ideal der einen richtigen Interpretation eines Texts auf. 352 Die Richtigkeit der Interpretation wird nach Hirsch allein dadurch garantiert, daß sie mit der Intention des Autors übereinstimmt: »Den ursprünglichen Autor als sinnbestimmendes Element zu elimi-
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nieren, bedeutete die Verneinung des einzigen zwingenden, normativen Prinzips, das einer Interpretation Gültigkeit verleihen konnte ( ... ) Wenn ein Theoretiker das Ideal der Richtigkeit retten will, dann muß er den Autor ebenfalls retten (... )«353 Dieser Rekurs auf den Autor und dessen Intentionen versteht sich nicht als psychologistischer Intentionalismus, wie er etwa Schleiermachers Hermeneutik fälschlicherweise zugeschrieben wird.'54 Es geht Hirsch nicht darum, das Innenleben eines Schreibers, seine tatsächlichen Motive, Absichten und Erlebnisse zu ergründen oder nachzuempfinden. Er möchte vielmehr die unkontrollierte Proliferation von Interpretationen, die sich auf der Grundlage der Vieldeutigkeit der sprachlichen Zeichen entwickelt, dadurch beenden, daß er die Vieldeutigkeit der Wörter radikal einschränkt: Als zulässig gelten nur noch diejenigen Wörtbedeutungen, die der Autor intendiert hat. Hirschs semantischer Intentionalismus verurteilt die Interpretation zur (antiquarischen) Rekonstruktion der Textbedeutung nach Maßgabe der Absichten des Autors und unter strikter Berücksichtigung des Sprachgebrauchs zum Zeitpunkt der Produktion: »( ... ) der Wortsinn besteht aus dem, was jemand durch eine bestimmte Folge sprachlicher Zeichen ausdrücken will, und das durch diese sprachlichen Zeichen mitgeteilt werden kann.«355 Hirsch geht somit auf Distanz zu einem psychologistischen Autorbegriff: Nicht die privaten Vorstellungen und Erfahrungen des Schreibers, sondern die von ihm intendierte Textbedeutung steht zur Debatte.'56 Auch wenn Hirsch den möglichen Einwänden gegen eine psychologistische Textinterpretation entgeht, bestehen gravierende Einwände gegen seine Position: Problematisch bleibt die Rede von der Autorintention, weil Hirsch letztlich keine Antwort auf die Frage gibt, wie der Interpret unter mehreren Textbedeutungen, die mit dem Sprachgebrauch zum Zeitpunkt der Textproduktion zu vereinbaren sind, diejenige identifizieren kann, die mit den Intentionen des Autors übereinstimmt. Die Intentionen eines Autors sind, im Gegensatz zu denen eines Gesprächspartners, in der Regel nicht durch Rückfragen zu ermitteln, sondern nur indirekt über das Interpretandum selbst oder andere Texte zugänglich. Damit scheint Hirschs Theorie im schlechten Sinn zirkulär zu sein: Die Bedeutung des Texts ist durch die Intention des Autors determiniert. Die Intention des Autors wird durch den Text zugänglich. Diese Einwände gegen Hirsch bestreiten in keiner Weise, daß für die Textinterpretation Informationen über den Autor nützlich sein können
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und daß die Beherrschung seiner Sprache ,eine notwendige Bedingung des Verstehens ist. Bestritten wird aber, daß das Geschäft der Textinterpretation durch den scheinbar einfachen, in Wirklichkeit jedoch höchst problematischen Rekurs auf die Autorintention diszipliniert und mit einem sinnvollen normativen Prinzip versehen werden kann. Anders als Hirsch suggeriert, wenn er davon spricht, daß er den Autor retten möchte, vertreibt die Hermeneutik den Autor nicht gänzlich aus der Interpretation. Allerdings billigt sie ihm nur eine untergeordnete Position zu, indem sie ihn nur im Rahmen der Rekonstruktion des Vergangenheitshorizonts eines Texts beachtet und keineswegs zur dominierenden Instanz und zum normativen Prinzip erhebt.
1/.2.11.3. Bedeutungsvielfalt
Die Modellierung des Lektüre- und Interpretationsvorgangs zu einem Gespräch zwischen Leser und Text will vor allem dem Erfahrungscharakter des Verstehens gerecht werden. Sie will die Möglichkeit hervortreten lassen, daß sich der Leser durch die Lektüre einen neuen Horizont erschließen kann, daß er einen im Text zur Darstellung kommenden WeItaus schnitt wahrnimmt und aufgrund dieser Wahrnehmung seine bisherigen Überzeugungen, Ansichten und Orientierungen verändert. Eine besondere Schwierigkeit des hermeneutischen Gesprächsmodells besteht darin, daß es einen Bedeutungspluralismus impliziert, demzufolge ein Text zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedliche Bedeutungen haben kann. Der Kern des von Gadamer vertretenen Bedeutungspluralismus besteht nicht etwa in einer Theorie unbeschränkter Polysemie der Texte, sondern in der Überzeugung, daß Texte als Elemente des Überlieferungszusammenhangs keine geschichtslosen Größen sind, sondern selbst einem mit dem historischen Wandel einhergehenden Bedeutungswandel unterworfen sind. Es wäre demnach unsinnig, einem Text eine eindeutige, zeitlos gültige Bedeutung zuzuschreiben. Gadamers Ausführungen über den Bedeutungspluralismus bleiben selbst auf irritierende Weise vieldeutig. 357 Offenbar gilt die These des Bedeutungspluralismus nicht ohne Einschränkung für alle Texte. So sind beispielsweise Texte, die in behauptender Rede Tatsachenfeststellungen treffen, nicht in der gleichen Weise einem Bedeutungswandel unterworfen, wie dies etwa bei fiktionalen Texten der Fall ist. 358 Eigentlich relevant ist die These des Bedeutungspluralismus im Fall von Texten, die in
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einem historisch detenninierten, durch spezielle Institutionen und spezifische kulturelle Handlungsfonnen geprägten Kontext ihren ursprünglichen Platz haben. Solche Texte beziehen sich auf Gegenstände, die selbst historischem Wandel unterworfen sind, wie dies etwa bei Texten der Fall ist, die den Bereichen von Religion, Wissenschaft, Kunst, Politik, Wirtschaft und Recht zuzuordnen sind. Hier unterscheidet sich der Produktionskontext oft in erheblicher Weise von dem Rezeptionskontext. Diese Differenz kann der Interpret nicht dadurch überbrücken, daß er lediglich den Produktionskontext rekonstruiert, sondern er überwindet sie eigentlich erst dann, wenn er den Text auf den Rezeptionskontext appliziert und in ihn integriert: Er muß letztlich zu einer Entscheidung darüber gelangen, was der Text in seiner Gegenwart bedeutet. Dieser Schritt der Applikation ist aber nicht mehr vom Text selbst gelenkt. Nur in der Auseinandersetzung mit der »Sache« des Texts, nur durch das Wechselspiel von Frage und Antwort sowie den Dialog von Text und Leser kann, nach Gadamers Vorstellung, eine Lösung der Frage nach der Bedeutung des Texts gefunden werden. Gerade die Sachbezogenheit der Interpretation begründet den Bedeu~ tungspluralismus: Es genügt nicht zu refonnulieren, wie beispielsweise Aristoteles in seiner Ethik die Bedeutung der praktischen Klugheit beschreibt. Der Interpret muß selbst klären, ob die Erörterungen des antiken Philosophen über alle Unterschiede der Lebensfonnen hinweg in die eigene Gegenwart einbezogen und veränderten Bedingungen angepaßt werden können. Den Text zu verstehen heißt nicht, ihn in seiner Bedeutung für eine weit entfernte Vergangenheit zu restituieren, sondern darüber hinaus über seine Gültigkeit für die eigene Gegenwart zu urteilen. »Eine jede Zeit wird einen überlieferten Text auf ihre Weise verstehen müssen, denn er gehört in das Ganze der Überlieferung, an der sie ein sachliches Interesse nimmt und in der sie sich selbst zu verstehen sucht. Der wirkliche Sinn eines Textes, wie er den Interpreten anspricht, hängt eben nicht von dem Okkasionellen ab, das der Verfasser und sein ursprüngliches Publikum darstellen. Er geht zum mindesten nicht darin auf. Denn er ist immer auch durch die geschichtliche Situation des Interpreten mitbestimmt und damit durch das Ganze des objektiven Geschichtsganges. ( ... ) Nicht nur gelegentlich, sondern immer übertrifft der Sinn eines Textes seinen Autor. Daher ist Verstehen kein nur reproduktives, sondern stets auch ein produktives Verhalten.«359 Verstehen ist generell kontextabhängig, die Frage nach der Bedeutung des Texts an sich - unter Eliminierung der Situation des Interpreten erscheint Gadamer als problematische Abstraktion, die allerhöchstens als
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Zwischenphase im Rahmen der Abhebung .des Vergangenheitshorizonts ein zeitweiliges Recht beanspruchen kann. Unklar bleibt Gadamers Bedeutungspluralismus allerdings, weil er einerseits eine Vielfalt der Bedeutungszuschreibungen ermöglicht und das Ideal der einen richtigen Interpretation strikt ablehne 60 , andererseits aber nicht einer schrankenlosen Vielfalt der Interpretationen Raum geben will und gegen ein Auseinanderfallen der Einheit des Texts in ein unüberschaubares Gewirr der Interpretationsperspektiven angeht. 361 Gadamers Argumentation unterwirft den Bedeutungsgehalt des Texts einem geschichtlichen Wandel und behauptet zugleich, daß sich in allem geschichtlichen Wandel eine Identität des Texts durchhält. »Einen Text verstehen, heißt immer schon: ihn auf uns selbst anwenden und wissen, daß ein Text auch wenn er immer anders verstanden werden muß, doch derselbe Text ist, der sich uns jeweils anders darstellt. «362 Wie Gadamer sich dieses Verhältnis von Identität und Differenz, von Konstanz und Variabilität im einzelnen denkt, wird nicht deutlich.363 Daher bleibt aber auch die Frage nach Kriterien für die Beurteilung von Interpretationen ungelöst. Gadamer wehrt sich gegen die Idee der einen richtigen Interpretation, spricht aber selbst ganz unbefangen von richtigen Interpretationen und setzt damit implizit voraus, daß klar ist, wann eine Interpretation angemessen ist. Die Darstellung des Interpretationsvorgangs als eines Gesprächs von Text und Leser trägt den vielfältigen Voraussetzungen der Aktivitäten des Interpreten ausführlich Rechnung, sie untersucht aber nicht eingehend die Verfahren, mit denen der Interpret das Gespräch führt. Der umfassende Rahmen des Gesprächsmodells würde eine solche auch methodologische Fragen beachtende Untersuchung prinzipiell zulassen, aber Gadamers Skepsis gegenüber methodologischer Reflexion unterbindet eine solche Öffnung der Hermeneutik zur Wissenschaftstheorie und Methodologie der Textwissenschaft. Die antisubjektivistische, ontologische Perspektive der Hermeneutik dominiert auf Kosten einer konkreten Darstellung der im Rahmen der hermeneutischen Situation möglichen Handlungen des Interpreten. 364 Verstehen ist nach Gadamer ein Geschehen und ein Ereignis, über das der Interpret nicht beliebig verfügt, das aber ohne seine disziplinierte Arbeit nicht zustandekommt. In Wider• Gadamers Ausführungen mitunter pruch zu dieser Vorstellung erwecken den Anschein, als ob das Verstehen über einen dem Schicksal der Wirkungsgeschichte ohnmächtig ausgelieferten Interpreten wie ein Gewitter hereinbrechen würde. In Korrektur zu der in WM vertretenen Ablehnung
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wissenschafts theoretischer Überlegungen wäre es sinnvoll, die Reflexion auf Voraussetzungen der Interpretationsarbeit, die die philosophische Henneneutik zu leisten fähig ist, mit einer wissenschaftstheoretischen Analyse zu vereinen, die keineswegs als Negation der henneneutischen Reflexion aufzufassen oder mit einem Rückfall in die erkenntnistheoreti':: schen Aporien des 19. Jahrhunderts gleichzusetzen ist.
Il.2.11.4. Gesprächskultur
Das Gesprächsmodellleistet nicht nur einen Beitrag zur Texthenneneutik. Die westliche Kultur als eine Lebensfonn, die sich durch die Überlieferung und Weiterbildung des künstlerischen, literarischen, wissenschaftlichen und philosophischen Wissens ihre Identität gibt, erscheint in wesentlichen Stücken als eine Gesprächskultur. Der Gebrauch des Ausdrucks >Gespräch< oder >Gesprächskultur< mag etwas befremdlich wirken. In der Regel bezeichnet man bestimmte Lebensfonnen als Schriftkulturen, um auf die Bedeutung der durch die Technik des Schreibens ennöglichten Fonnen der Wissensspeicherung, Überlieferung und Verständigung aufmerksam zu machen. Wenn im Zusammenhang mit dem henneneutischen Gesprächsmodell von einer Gesprächskultur die Rede ist, so wird dieser Ausdruck keinesfalls als oppositiver Begriff zu dem der Schriftkultur aufgefaßt. Im Gegenteil, das Gesprächsmodell versteht sich als Kennzeichnung einer Überlieferung, in der Texte nicht nur in ihrer ein für alle Male fixierten Materialität tradiert werden, sondern durch das Einrücken in unterschiedliche Kontexte jeweils neu und anders verstanden werden können. Die Rede vom Gespräch hebt also nicht auf das Medium der Verständigung (Mündlichkeit oder Schriftlichkeit) ab, sondern betont den dialogischen Charakter eines Überlieferungsprozesses, für den die Möglichkeiten der Verschriftlichung von konstitutiver Bedeutung sind. Das Gesprächsmodell zeichnet das Bild einer polyphonen Kultur, in der sich Rationalität nicht durch die Dominanz eines einzelnen Texts und seiner vorgeblich zeitlosen Bedeutung behauptet, sondern sich durch den Austausch konkurrierender Auffassungen und den argumentierenden Disput realisiert. • Diesen umfassenden Aspekt des Gesprächsmodells hat R. Rorty hervorgehoben. 365 Rorty interessiert sich nicht für die Henneneutik als Interpretationstheorie, als Theorie der Geisteswissenschaften oder Fundamentalontologie, sondern er gebraucht den Titel >Henneneutik< als Bezeich-
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nung für eine bestimmte intellektuelle Mef\talität, der insbesondere nach der Verabschiedung der traditionellen Erkenntnistheorie eine maßgebliche Bedeutung zuwächst. 366 Nach dem Abschied von rigiden Normierungsbestrebungen, nach dem angeblichen Scheitern der Suche nach einer einheitlichen Einheitswissenschaft, nach dem Verzicht auf systemfundierende Letztbegründungen schlägt die Stunde der Hermeneutik und einer >bildenden Philosophie<. Während die Erkenntnistheorie und systematische Philosophie nach Rorty einen monologischen Rationalitätsbegriff vertreten, steht die Hermeneutik für eine freie und offene Vermittlung heterogener Perspektiven: »Die Hermeneutik betrachtet die Beziehungen der unterschiedlichen Diskurse zueinander als Beziehungen zwischen den möglichen Strängen eines Gesprächs, das seinerseits keines die Sprecher verbindenden disziplinären Systems bedarf, das jedoch solange es währt, die Hoffnung auf Übereinstimmung nie aufgibt.«367 Wissenschaftliche Rationalität und die Arbeit der systematischen Philosophie werden damit keineswegs abgewertet. Sie stehen komplementär neben einer >bildenden Philosophie<, als deren Hauptvertreter Dewey, Wittgenstein und Heidegger genannt werden. 368 Diese Denker artikulieren sich in abweichenden Diskursen und attackieren die teilweise erstarrte Sprache, der sich die systematische Philosophie und Wissenschaft bedienen. 369 Gadamer und Rorty stimmen darin überein, daß die hermeneutische Erfahrung der Abkapselung monologischer Spezialistendiskurse gegensteuert und ein Gegengewicht zu einer Tendenz darstellt, durch die gesellschaftliche Praxis als bloßes Anwendungsfeld wissenschaftlich-technischer Rationalität erscheint. Hermeneutik, die ausdrücklich als nichtnormaler Diskurs bezeichnet wird, ist keineswegs die Vertreterin einer wilden Irrationalität. Sie wird von Rorty, der sich selbst auf den Boden der Aufklärung stellt, als ein unverzichtbarer Bestandteil eines Selbstverständigungsprozesses begriffen, der sich in der Form eines offenen Gesprächs vollzieht. 370 Trotz der Revalorisierung des Bildungsgedankens und der Anknüpfung an das Gesprächsmodell bestehen signifikante Unterschiede zwischen Rorty und Gadamer. Rorty scheint die universale Breite der von Gadamer formulierten Konzepte des Gesprächs sowie der hermeneutischen Erfahrung zu vernachlässigen und die zentrale Stellung des Begriffs der Wirkungsgeschichte bei Gadamer zu unterschätzen. Er spricht vom wirkungsgeschichtlichen Bewußtsein als einer Einstellung, der es darum geht, »( ... ) was wir aus Natur und Geschichte für unsere eigenen Zwecke >herausholen< können.«371
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Diese Charakterisierung ist nicht eigentlich falsch, aber sie verfehlt doch wesentliche Aspekte des wirkungs geschichtlichen Bewußtseins. In WM erscheint dieses Bewußtsein in erster Linie durch den Primat der Wirkungsgeschichte geprägt. Es steht also in einem Bezug zur Vergangenheit, der niemals vollständig erkannt, sondern nur partiell aufge-\ deckt werden kann. Nach Gadamer ist das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein in erster Linie als Bewußtsein einer vorgängigen Determinierung der Gegenwart durch Vergangenheit aufzufassen. Bevor sich die Frage nach einer möglichen Auswertung und bewußten Anknüpfung an die Überlieferung stellt, unterstreicht Gadamer den fundamentalen Aspekt einer stummen Tradition, die den Aktivitäten der Individuen vorausliegt. Von Rorty wird die Rolle der Überlieferung und die Bedeutung der Geschichtlichkeit offenbar anders eingeschätzt. Dies wird auch deutlich, wenn er die >bildende Philosophie< als ein reaktives Phänomen bestimmt, das sich auf die Arbeiten der Wissenschaften und der systematischen Philosophie bezieht. 372 Im Zusammenhang mit der Darstellung des Gadamerschen Gesprächsmodells sind die Ausführungen Rortys unbeschadet der angedeuteten Divergenzen fruchtbar, weil sie auf die Weite der Konzeption des hermeneutischen Gesprächs aufmerksam machen. Das Gesprächsmodell betrifft nicht nur den Umgang mit tradierten Texten, sondern es präsentiert die westliche Kultur als eine Lebensform, die immer wieder Raum bietet für das offene Gespräch, das Zur-Sprache-Kommen divergierender Ansichten, den polyphonen Diskurs, die argumentierende Debatte und einen Streit der Auffassungen, der ohne Verbitterung und im Hinblick auf einen möglichen Konsens geführt wird. Das hermeneutische Gespräch ist nicht etwa eine unverbindliche Form der Auseinandersetzung. Es erweist sich im Gegenteil, wie Gadamers Rekurs auf die Sokratische Dialektik zeigt, als ein Medium, in dem sich Vernunft realisiert.
1/.2.12. Klassisches
Das Spannungsverhältnis zwischen der Identität des Texts, dem Umstand, daß in ihm eine bestimmte Sache zur Sprache kommt, und der Vielfalt der Interpretationen, der Auffassungen der einen Sache durch die vielen Leser, ist gerade am Beispiel der Werke gut zu beobachten, die eine reiche und die Jahrhunderte umspannende Rezeptionsgeschichte aufweisen, wie dies bei sogenannten Klassikern der Fall ist.
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Der Begriff des Klassischen wird in WM nicht in bezug auf eine bestimmte Epoche, Stilrichtung oder Kunstgattung eingeführt. Stattdessen gibt Gadamer einen Überblick über wichtige Etappen der Geschichte des Begriffs. Er unterscheidet dabei einen normativen und einen historischdeskriptiven Gebrauch dieses Begriffs. Der normative Begriffdes Klassischen billigt dem als klassisch bezeichneten Gegenstand eine uneingeschränkte Geltung zu. Sowohl hinsichtlich seines Bedeutungsgehalts, seiner >Aussage<, als auch in bezug auf seine formale oder stilistische Beschaffenheit wird das Objekt als verbindlich angesehen. In seiner historisch-deskriptiven Bedeutung zeichnet der Begriff des Klassischen einzelne Gegenstände als musterhafte Produkte einer bestimmten Epoche oder Gattung aus. Die historische Einordnung impliziert, verglichen mit der normativen Begriffsversion, eine Distanzierung: Der Geltungsanspruch wird auf bestimmte Epochen oder Gattungen eingeschränkt und nicht generell erhoben. Gadamer wendet sich dagegen, den normativen Begriff des Klassischen aufzugeben, weil diesem nach seiner Überzeugung eine Priorität zukommt. Allerdings will er das klassische Werk nicht zum Träger einer zeitlosen, außer- oder übergeschichtlichen Bedeutung stilisieren, weil ein solcher Ausstieg aus der Geschichte nicht mit der konsequenten Historisierung und Kontextualisierung des Verstehens in WM zu vereinbaren wäre. »Das Klassische ist gerade dadurch eine wahrhaft geschichtliche Kategorie, daß es mehr ist als ein Epochenbegriff oder ein historischer Stilbegriff und daß es dennoch nicht ein übergeschichtlicher Wertgedanke sein will. Es bezeichnet nicht eine Qualität, die bestimmten geschichtlichen Erscheinungen zuzusprechen ist, sondern eine ausgezeichnete Weise des Geschichtlichseins selbst, den geschichtlichen Vollzug der Bewahrung ( ... )«373 Fragt man danach, welchen Werken aus welchen Gründen die Auszeichnung zuteil wird, vor dem Vergessen bewahrt und in den Rang eines Klassikers erhoben überliefert zu werden, so antwortet Gadamer mit dem Hinweis auf die Resistenz dieser Werke gegen Kritik, eine Resistenz, die auf Macht und Herrschaft beruht: »Klassisch ist, was der historischen Kritik gegenüber standhält, weil seine geschichtliche Herrschaft, die verpflichtende Macht seiner sich überliefernden und bewahrenden Geltung aller historischen Reflexion schon vorausliegt und sich in ihr durchhält.«374 Das klassische Werk ist eine Ausnahrneerscheinung. Es übertrifft andere Werke nicht nur dadurch, daß es ein Meisterwerk im Sinn eines
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durch und durch gelungenen Exemplars einer bestimmten Gattung ist. Dem klassischen Werk wird von Gadamer vielmehr eine Autonomie zugeschrieben, die es über die Wechselfälle der Überlieferungsgeschichte erhebt: »Klassisch ist, w~s sich bewahrt, weil es sich selbst bedeutet und sich selber deutet; (... ) Was >klassisch< heißt, ist nicht erst der Überwindung des historischen Abstandes bedürftig - denn es vollzieht selber in beständiger Vermittlung diese Überwindung.«37s Aufgrund dieser rätselhaften Fähigkeit des klassischen Werks, sich selbst zu deuten, selbsttätig den Zeitenabstand zum Rezipienten zu überwinden und somit seine unmittelbare »Sagkraft« zu bewahren, sieht sich die Gadamersche Hermeneutik von einer detaillierten Analyse der Handlungen des Interpreten entbunden: wenn ein Partner im hermeneutischen Gespräch - der Text - den überlegenen Status eines Klassikers einnimmt, so bleibt dem Gegenüber - dem Leser - nur Aufnahme und Unterordnung unter die Botschaft. Weil Gadamer das Verstehen des klassischen Werks zum Paradigma hermeneutischer Erfahrung schlechthin erhebt, sind seine Ausführungen über das Klassische besonders brisant. Selbst wohlmeinende Weggenossen verabschieden sich an dieser Stelle von Gadamers Hermeneutik und äußern Bedenken gegen die substanzialistische Traditionsvorstellung, die mit dem Begriff des Klassischen verbunden ist und das weite Traditionskonzept der Wirkungs geschichte so stark einschränkt, daß Distanzierung, Kritik oder Vergessen der Überlieferung zugunsten der Bewahrung des klassischen Werks und seiner »Sagkraft« unterdrückt werden. Drei kritische Stellungnahmen zum Begriff des Klassischen werden im folgenden kurz vorgestellt: 1.) D. Jähnig geht in seinen konzisen Ausführungen376 insbesondere auf die für den Altphilologen Gadamer wichtigen Auseinandersetzungen ein, die in den klassischen Philologien um den Begriff des Klassischen geführt wurden. Hinsichtlich des in WM formulierten Konzepts des Klassischen kommt Jähnig zu dem Resultat, daß »( ... ) Gadamer selbst nicht geschichtlich genug denkt.« Das Klassische »( ... ) fügt sich nämlich nicht in die Grundvorstellung, unter der Gadamer seine geschichtliche Seinsweise begreift: die Vorstellung von der Geltungsdauer.«377 Jähnig kritisiert Gadamer also nicht etwa, weil er der Ansicht ist, daß die Erhebung des klassischen Werks zum prototypischen Überlieferungsgegenstand den Geisteswissenschaften ein unangemessen konservatives Profil verleiht. Seine Kritik zielt vielmehr auf den Begriff des Klassi-
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schen selbst und meldet Zweifel an der von Gadamer präsentierten Version an. Jähnig führt aus, daß keineswegs unerschütterte Geltung und ungebrochene Kontinuität die Rezeptionsgeschichte klassischer Werke kennzeichnet, sondern daB im Gegenteil ein Grundzug der Diskontinuität vorherrscht, der geradezu dazu berechtigt, von einer »historischen Wirkungslosigkeit«378 der klassischen Werke zu sprechen. Dabei bezieht sich Jähnig auf den Umstand, daß die ausdrücklichen Zuwendungen zu Klassikern in der Renaissance, bei Goethe, J. Burckhardt, Poussin oder Cezanne gerade nur vor dem Hintergrund von Traditionsbrüchen zu begreifen sind. Die Rezeption klassischer Werke steht nicht so sehr im Zeichen kontinuierlicher Bewahrung, sie ist vielmehr als gegenwartskritische Neuorientierung zu bestimmen: »( ... ) eine angemessene >Bewahrung< des Klassischen (ist) stets verändernd (... )«.379 Damit verliert das klassische Werk aber die ihm von Gadamer zugeschriebene Fähigkeit, sich über den Abstand der Zeiten hinweg selbst verständlich zu machen. 2.) Vom Standpunkt des Literaturwissenschaftiers aus beurteilt auch H.R. JauB die Stellung des Klassischen bei Gadamer kritisch. 380 JauB steht ähnlich wie Habermas auf Seiten Gadamers, solange die Aporien eines historischen Objektivismus durch die hermeneutische Reflexion offengelegt werden. 381 Er kritisiert aber Gadamers Traditionalismus des Klassischen und betont, daß sich dem klassischen Text gegenüber die Aufgabe des Verstehens ebenso stellt wie angesichts anderer Gegenstände der Literaturwissenschaft. Ebenso wie Jähnig weist JauB den Vorschlag Gadamers zurück, die Stellung des klassischen Werks dadurch zu charakterisieren, daß ihm Zeitlosigkeit als Weise seines geschichtlichen Seins zugeschrieben wird. Mit Recht fordert er eine Einbeziehung der klassischen Werke in eine historische Betrachtungsweise, die die Spannung zwischen Gegenwartshorizont des Rezipienten und Vergangenheitshorizont des Produzenten382 artikuliert und sie nicht im Namen einer vorgeblich unmittelbar wirkenden »Sagkraft« des Klassischen ignoriert. Der Interpret hat sich nach JauB die Entfaltung des Bedeutungsgehalts des Texts in den unterschiedlichen Etappen seiner Rezeptionsgeschichte als Prämissen der eigenen Interpretationsarbeit zu vergegenwärtigen. An die Stelle einer unkontrollierten Horizontverschmelzung tritt die kontrollierte Rekonstruktion und Abhebung der divergierenden Horizonte, in die der Text im Lauf seiner Rezeptionsgeschichte einrückt. Bei seinem Veto gegen Gadamers substanzialistischen Traditionsbegriff beruft sich JauB auf Gadamer selbst, nämlich auf das Prinzip der Wirkungsgeschichte:
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»Der von Hegel übernommene Begriff des Klassischen, das sich selber deutet, ( ... ) widerspricht dem Prinzip der Wirkungsgeschichte, daß Verstehen >kein nur reproduktives, sondern auch ein produktives Verhalten ist<.«383 \ Während Jauß sich in seinen eigenen Arbeiten ausdrücklich auf Gadamer bezieht und feststellt, daß die von ihm entwickelte rezeptionsästhetlsche Literaturtheorie ohne Gadamers Werk nicht denkbar gewesen wäre, verschärft R. Waming die Kritik an Gadamers Begriff des Klassischen. 3.) Waming384 setzt mit der Diagnose eines eigentümlichen Spannungsverhältnisses ein, das zwischen dem dialogischen Charakter des Verstehens (Gesprächsmodell, Frage-Antwort-Schema) und der überwältigenden monologischen »Sagkraft« des klassischen Werks besteht. Es handelt sich hierbei nicht um eine unwesentliche Unklarheit innerhalb der Gadamerschen Hermeneutik. Waming will zeigen, daß das Konzept des klassischen Texts bei Gadamer eine wichtige Lücke füllt. Er sieht in WM einen Antimethodologismus am Werk, der es unmöglich macht, die Frage zu beantworten, worin der Maßstab der Angemessenheit einer Interpretation besteht. »Diese Absage an Methodik hat weitreichende Konsequenzen, z.B. die, daß nicht mehr zu trennen ist zwischen Verstehen und Mißverstehen. Eben daran möchte Gadamer gleichwohl festhalten (... ) wenn aber zwischen wahr und falsch geschieden werden soll bei gleichzeitiger Zurückweisung einer Methode, dann entsteht eine Leerstelle in der gesamten Konstruktion, und es wird absehbar, womit diese Leerstelle gefüllt wird: mit dem Klassischen. Das Klassische ist von sich aus Garant angemessenen Verstehens, es stiftet von sich aus Traditionen richtigen Verstehens, in die man >einrückt<, kurz: die >Sagkraft< des Klassischen kompensiert den Ausfall von Methode.«38s Damit gewinnt die Kritik am Klassikbegriff Gadamers eine neue Dimension. Waming kritisiert mit seiner Attacke auf das Konzept des Klassischen die Hermeneutik Gadamers in toto, denn nach Warning zahlt Gadamer für die Verdrängung des Methodenproblems einen zu hohen Preis: Das hermeneutische Verstehen verliert den ihm von Gadamer selbst zugewiesenen dialogischen Charakter: »Gadamer selbst würde kaum bestreiten können, daß das von ihm so genannte hermeneutische Gespräch allzeit beherrscht wird von einer fundamentalen Monologizität. Ausgangspunkt ist ihm die monologisch-autoritäre >Sagkraft< einer Wahrheit, die der Interpret mit seiner Gegenwart weniger zu vermitteln als vielmehr in seiner Gegenwart zur Geltung zu bringen hat. «386
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So treffend und scharfsichtig Warnings.Analyse des Klassikbegriffs auch ist, so ist nicht sicher, ob die starke Behauptung, daß das nonnative Klassische »( ... ) den Schlußstein des ganzen Theoriegebäudes darstellt (...)«387, zu halten ist. Zwar leuchtet Warnings Vennutung ein, derzufolge der substanzialistische Traditionalismus des Klassischen für das Ausbleiben methodischer Überlegungen in WM entschädigen soll. Allerdings kann man bezweifeln, daß Warning die Bedeutung des dialogischen Moments der henneneutischen Erfahrung bei Gadamer richtig einschätzt. Daß eine unausgetragene Spannung zwischen der Monologizität des Klassischen und der Dialogizität des henneneutischen Gesprächs besteht, ist Warning ohne Einschränkung zu konzedieren. Zu bestreiten ist aber eine Auffassung, derzufolge die Monologizität des Klassischen die dialogischen Momente henneneutischer Erfahrung vollständig annihiliert. 388 Ohne Zweifel ist in WM eine Tendenz zu verzeichnen, die im Rahmen einer Ontologisierung der Henneneutik den einzelnen Leser und Interpreten einer als übennächtig dargestellten Tradition unterwirft. Bei der Darstellung der Hauptelemente der philosophischen Henneneutik wurden diese Ansätze deutlich markiert und Vorschläge fonnuliert, wie der substanzialistische Traditionalismus abgebaut werden kann. Insbesondere der recht verstandene Begriff der Wirkungsgeschichte, der weite Traditionsbegriff und das Gesprächsmodell bieten die Möglichkeit, die Aktivität des Interpreten nicht durch einen Primat der Überlieferung einzuschränken. Voraussetzung solcher interner Korrekturen der Henneneutik ist allerdings die Preisgabe des Begriffs des klassischen Werks in seiner nonnativen Version, die einen massiven Traditionalismus impliziert. Ein Blick auf die Interpretationspraxis Gadamers im Umgang mit einem klassischen Text soll Unklarheiten b~seitigen, die die Erörterungen des Theoretikers Gadamer über den Begriff des Klassischen zurücklassen. Im nächsten Abschnitt wird als letztes Element der Henneneutik Gadamers der Rekurs auf einen philosophischen Klassiker, die »Nikomachische Ethik« des Aristoteles, behandelt. Dabei wird die Frage im Vordergrund stehen, inwieweit die Anknüpfung an die aristotelische Tradition einer praktischen Philosophie das Erscheinungsbild der philosophischen Henneneutik bestimmt. Gleichzeitig soll aber auch danach gefragt werden, ob sich der Interpret Gadamer der Autorität des klassischen Texts unterwirft oder ob er in eine produktive Auseinandersetzung mit ihm eintritt.
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Verstehen, Interpretieren, Erkennen /1.2.13. Urteilskraft und praktische Klugheit /1.2 .13 .1. Produktivität der Klassiker
Die von Gadamer in WM vorgelegte Interpretation des sechsten Buchs der »Nikomachischen Ethik« des Aristoteles steht im Zusammenhang mit der Frage nach der Eigenart des in der hermeneutischen Erfahrung gewonnenen Wissens und der Form der Erkenntnis der historischen Wissenschaften. 389 Auf den ersten Blick ist der Rekurs auf Aristoteles in diesem Zusammenhang verwunderlich, da in der Ethik des griechischen Philosophen bekanntlich nicht über historische Wissenschaften und auch nicht über die Bedeutung der Überlieferung gehandelt wird. Gadamers Erörterungen setzen sogar damit ein, ausdrücklich diese Divergenz der Fragestellung zu konstatieren. 39O Um zu erkennen, inwiefern die Ausführungen der Aristotelischen Ethik dennoch für eine Klärung der Problematik der Hermeneutik von Belang sein können, ist es notwendig, dem Gang der Interpretation Gadamers zu folgen. 1.) In einem ersten Schritt skizziert Gadamer kurz das Verhältnis der Aristotelischen Ethik zur Platonischen Philosophie. Die Kritik des Aristoteles an der Idee des Guten im Sinn der Philosophie Platons ist mit einer Differenzierung von Formen theoretischen Erkennens (>episteme<, >noüs<, >sophia<) und praktischen Wissens (>poiesis<, >praxis<) verbunden, die sich von der Erkenntnislehre Platons unterscheidet. Theoretische Erkenntnis bezieht sich auf den Bereich von Gegenständen, die sich in unveränderlicher Weise verhalten, wie dies nach antiker Überzeugung etwa bei den konstanten Bewegungen der Gestirne der Fall ist. Das hier gewonnene Wissen ist durch Exaktheit und Beweisbarkeit gekennzeichnet. 391 Gegenüber den Gegenständen theoretischen Erkennens zeichnen sich diejenigen der Politik, Ökonomie und Gesetzgebung durch eine gewisse Instabilität aus. Der Gegensatz der beiden Bereiche wird bei Aristoteles auch kosmologisch als Differenz der supralunaren von der sublunaren Sphäre gefaßt: Während in der supralunaren Sphäre unveränderliche Gesetze das Verhalten der unvergänglichen Gegenstände bestimmen, sind die Abläufe im Bereich der werdenden und vergehenden Dinge teilweise unvorhersehbar und kontigent. 392 Im Rahmen dieses Modells lehnt Aristoteles die Platonische Vorstellung ab, daß innerhalb des Bereichs menschlichen Verhaltens und Han-
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delns eine transzendente, ewige und unver~derliche Idee des Guten als feste Nonn für die Bestimmung guten Handeins dienen könne. Aristoteles zweifelt daran, daß eine allgemeine Vorstellung als Richtmaß in höchst unterschiedlichen Handlungszusammenhängen dienen kann, und er kritisiert eine Auffassung, derzufolge die Erkenntnis des Guten nicht grundsätzlich von der Fonn der theoretischen Erkenntnis und der ihr zukommenden Präzision unterschieden wird. In Reaktion ,auf die Platonische Ideenlehre führt Aristoteles aus, daß das praktische Wissen nicht mit der Exaktheit des theoretischen Wissens konkurrieren kann, die paradigmatisch in den mathematischen Wissenschaften verwirklicht ist. 2.) Nachdem Gadamer mit der Platon-Kritik des Aristoteles kurz den einschlägigen philosophiegeschichtlichen Kontext umschrieben hat, zieht er eine Parallele zwischen der Auseinandersetzung des Aristoteles mit Platon und dem Kampf der philosophischen Henneneutik gegen die einseitige Dominanz des historischen Objektivismus und der Verwissenschaftlichung der Beschäftigung mit der Überlieferung. »Wir sprachen von der Zugehörigkeit des Interpreten zu der Überlieferung, mit der er es zutun hat, und sahen in dem Verstehen selbst ein Moment des Geschehens. Die Überfremdung mit den objektivierenden Methoden der modernen Wissenschaft, die die Henneneutik und Historik des 19, Jahrhunderts charakterisiert, erschien uns als die Folge einer falschen Vergegenständlichung. Diese zu durchschauen und zu venneiden, ist das Beispiel der aristotelischen Ethik berufen. Denn das sittliche Wissen, wie es Aristoteles beschreibt, ist offenkundig kein gegenständliches Wissen, d.h. der Wissende steht nicht einem Sachverhalt gegenüber, den er nur feststellt, sondern er ist von dem, was er erkennt, unmittelbar betroffen. «393 Die Bestimmung der Eigenart des praktischen Wissens, die Aristoteles in der EN mit Hilfe der Konzeption der >phronesis< durchführt, soll für eine Abgrenzung der historischen von den exakten Wissenschaften fruchtbar gemacht werden. TatsäcQ1ich kann sich Gadamer hier auf die ausdrückliche Trennung praktischen Wissens und theoretischen Erkennens berufen, und er kann vpr allem auf eine Unterscheidung des Aristoteles zurückgreifen, die zwischen einem allgemeinen Begriff des Handelns (>praxis<) und einem Begriff des Herstellens (>poiesis<) unterscheidet. 394 Unter >Poiesis< ist das durch ein Fachwissen (>techne<) geleitete Produzieren eines Gegenstands zu verstehen, beispielsweise die handwerkliche Arbeit eines Schreiners oder Schusters. Während ein von dem Herstellungsvorgang selbst ablösbares Produkt als Zweck der >poiesis< erscheint, ist der allgemeine Begriff des Handelns nicht durch Verweis
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auf einen externen Zweck zu bestimmen. Gadamer erläutert diesen Praxisbegriff folgendennaßen: »Es liegt auf der Hand, daß der Mensch nicht dergestalt über sich ver~ fügt, wie der Handwerker über den Stoff verfügt, mit dem er arbeitet. 'Er kann sich offenbar selber nicht so herstellen, wie er etwas anderes herstellen kann. So wird es auch ein anderes Wissen sein müssen, das er von sich selbst in seinem sittlichen Sein hat, ein Wissen, das sich abheben läßt gegen solches Wissen, mit dem man ein Herstellen leitet.«395 3.) Mit dem Ausdruck >phronesis< bezeichnet Aristoteles die Fähigkeit, in praktischen Angelegenheiten das Rechte und Tunliche zu erkennen. Gadamer hebt drei Momente der >phronesis< hervor: a) Im Gegensatz zum theoretischen und >poietischen< Wissen ist das praktische Wissen nicht lehrbar. Praktische Klugheit zeigt sich als angemessenes und umsichtiges Verhalten in konkreten Situationen, die nicht allein durch Rekurs auf allgemeine Verhaltensregeln zu bewältigen sind. Ohne Berücksichtigung der jeweiligen konkreten Beschaffenheit der Situation, in der der Handelnde steht, bleibt eine Definition der >phronesis< unbefriedigend. Daher verweist Aristoteles auch auf beispielhafte Menschen, deren Verhalten das Wesen der >phronesis< veranschaulichen soll: »Was die Klugheit ist, können wir fassen, wenn wir betrachten, wen wir klug nennen. Der Kluge scheint das für ihn Gute und Zuträgliche recht überlegen zu können, nicht das Gute im einzelnen, etwa was für die Gesundheit oder die Kraft gut ist, sondern was das gute Leben im ganzen angeht.( ... ) So halten wir auch einen Perikles und ähnliche für klug, weil sie das, was für sie selbst und für die Menschen gut ist, zu erkennen vermögen. «396 Gadamer hebt in seinen Ausführungen auf die Situationsbezogenheit der praktischen Klugheit ab und unterstreicht damit die Eigentümlichkeit des praktischen Wissens, das nicht nach dem Schema von Wissen und Anwendung des Wissens zu begreifen ist: »Das sittliche Wissen ( ... ) besitzt man nicht so für sich, daß man es schon hat und dann auf die konkreten Situationen anwendet. Das Bild, das der Mensch von dem hat, was er sein soll, also etwa seine Begriffe von Recht und Unrecht, von Anstand, von Mut, von Würde, von Solidarität usw. (alles Begriffe, die im aristotelischen Tugendkatalog ihre Entsprechungen haben), sind zwar in gewissem Sinne Leitbilder, auf die er hinblickt. Aber es ist doch ein grundsätzlicher Unterschied zu dem Leitbild erkennbar, das etwa der Plan eines herzustellenden Gegenstandes für den Handwerker darstellt. Was recht ist z.B., ist nicht unabhängig von
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der Situation, die das Rechte von mir verlangt, voll bestimmbar (... )«397 b) Während das >poietische< Wissen weitgehend als Wissen um die Verfahren und Mittel zur Realisierung eines gegebenen Zwecks bestimmt werden kann, ist das praktische Wissen nicht ausschließlich als ein Wissen von Verfahren und Mitteln zu bestimmen. Häufig wird praktische Klugheit sichtbar, wenn jemand Zwecke und Ziele des Handeins auf überlegte Weise bestimmt und zeigt, daß er einen Blick für das Ganze hat: »Es ist also ganz gewiß nichtso, wie es manchmal bei Aristoteles den Anschein hat, als hätte es die Phronesis nur mit den rechten Mitteln zum vorgegebenen Zwecke zu tun. Sie bestimmt durch die Konkretion der sittlichen Überlegung den >Zweck< selbst erst in seiner Konkretion, nämlich als den >tunlichen< ( ... )«398 c) Neben der Charakterisierung praktischer Klugheit durch die Unterformen der Verständigkeit (>synesis<), des verständnisvollen Wesens (>gnome<) und der Nachsicht (>syggnome<), wird auch eine Erläuterung durch das Gegenbild eines Menschen gegeben, der Situationen geschickt ausnutzt und ausschließlich auf den eigenen Vorteil bedacht ist. 399 Aristoteles macht deutlich, daß praktische Klugheit Geschicklichkeit erfordert, sie aber gerade nicht bedenkenlos zum eigenen Vorteil einsetzt, sondern das Gemeinwohl im Auge hat. 4.) Gadamer beschließt seine Aristoteles-Interpretation, indem er die Analyse der >phronesis< auf den Bereich der Hermeneutik bezieht und sie als ein »Modell der in der hermeneutischen Aufgabe gelegenen Probleme«400 auswertet. Zwei Momente der Aristotelischen Ausführungen sind für Gadamer bedeutsam: Zum einen übernimmt er die Abgrenzung des praktischen Wissens gegenüber der theoretischen Erkenntnis und versucht, die Unabhängigkeit des praktischen Wissens für die hermeneutische Erfahrung zu beanspruchen. Zum anderen soll das Moment der Situationsbezogenheit praktischer Klugheit, die differenzierte Erfassung der Besonderheiten konkreter Problemlagen, von der Analyse der >phronesis< auf eine Beschreibung der Tätigkeit des Hermeneuten übertragen werden. Das Verhältnis der Allgemeinheit ethischer Leitvorstellungen und der Besonderheit einzelner Handlungssituationen sowie die nicht einfach als Subsumption beschreibbare Vermittlung beider durch die praktische Klugheit hat nach Gadamer ein Analogon in der Beziehung zwischen der allgemeinen Bedeutung eines Elements der Überlieferung in Absehung von seiner Relevanz für mögliche Rezipienten und der erst durch den Bezug auf den im Traditionszusarnmenhang stehenden Interpreten voll entfalte-
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ten Bedeutung des überlieferten Gegenstands. Gadamer betont den Umstand, daß das Verstehen des Texts ebenso wie die auf rechter Überlegung und Wohlberatenheit basierende >phronesis< als eine Ausgleichsbewegung zu begreifen ist, die zwischen Allgemeinem (ethische Leitvorstellung, Textbedeutung unter Absehung von der Rezeptionssituation) und Besonderem (Handlungs-, Rezeptionssituation) vermittelt.401 An dieser Stelle kann man nochmals die im vorausgegangenen Abschnitt behandelte Frage nach Gadamers Klassikerbegriff aufgreifen und auf der Basis der anhand von Gadamers Umgang mit einem klassischen Text der Philosophie gemachten Beobachtungen zusammenfassend formulieren, welche Konzeption des Klassischen Gadamers eigener Interpretationspraxis zugrunde liegt. Gadamer bezieht die Ausführungen des sechsten Buchs der EN auf gegenwärtige Probleme und verfährt damit ganz im Sinn seiner Kritik am historischen Objektivismus. Der klassische Text wird in eine Erörterung eingebracht, die seinen ursprünglichen Bedeutungshorizont überschreitet und ihn in produktiver Weise auf die Fragestellung der Hermeneutik appliziert. Man kann festhalten, daß in Gadamers eigener Interpretationspraxis der klassische Text nicht mit einer unüberwindlichen Übermacht spricht und die hermeneutische Erfahrung zum Monolog erstarren läßt. Im Gegenteil, in Gadamers Interpretation des klassischen Texts bleibt der Dialog die grundlegende Vollzugsform, die eine kreative Applikation erlaubt. Somit scheint Gadamers eigene Vorgehensweise von den Einwänden gegen sein Konzept des Klassischen nicht getroffen zu werden, und es bietet sich an, die Doppeldeutigkeiten dieses Begriffs zu korrigieren, indem in Übereinstimmung mit Gadamers eigenem Verfahren die Vorrangstellung des Klassischen zurückgenommen wird, so daß auch im Fall der Klassiker das Gesprächsmodell und die Wechselseitigkeit des Dialogs ihr Recht behaupten.
11.2.13.2. Hermeneutik als Praxis
Die Vermittlung des Interpretandums mit der Situation des Interpreten wird in Gadamers Ausführungen zum >phronesis<-Begriff mit der Bestimmung des Handelns durch praktische Klugheit analogisiert. Die Interpretation der der >phronesis< gewidmeten Abschnitte des sechsten Buchs der EN vergleicht aber nicht nur die situations angemessene Bestimmung des Tunlichen durch die praktische Klugheit mit der Applikationsleistung hermeneutischer Erfahrung, sie modifiziert den Begriff her-
Grundelemente der Hermeneutik Gadamers
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meneutischer Erfahrung selbst, indem sie. Hermeneutik als praktische Philosophie vorstellt. 402 Diese Konzeption der Hermeneutik als praktischer Philosophie ist ein durch Gadamers Werk eingeführtes Novum in der Geschichte dieser Disziplin. Hier wird eine Alternative zu den in WM kritisierten hermeneutischen Positionen, insbesondere zu den im 19. Jahrhundert entwickelten erkenntnistheoretischen Grundlegungsbemühungen, geboten. Letztere hatten die Geisteswissenschaften nach Gadamers Auffassung gerade durch die Diastase zwischen gegenwärtiger Praxis und wissenschaftlich aufbereiteter Vergangenheit gekennzeichnet.403 Wenn Gadamer die Hermeneutik in Verbindung zu der praktischen Philosophie des Aristoteles und zu deren Begriff praktischer Klugheit setzt, so wird damit die Erwartung verbunden, daß die hermeneutische Erfahrung als Beschäftigung mit der Überlieferung auch einen Beitrag zur gegenwärtigen gesellschaftli-" chen Praxis leisten kann. Diese Erwartung erscheint insofern, wenn auch in unscheinbarer Form, erfüllt zu sein, als die Aneignung oder Abstoßung von Tradiertem nicht nur das private Selbstverständnis der einzelnen und ihre Lebensgeschichte bestimmt, sondern in grundlegender Weise die gemeinsame Praxis der einzelnen und ihre kollektive Geschichte kennzeichnet. Deutlich wird dies etwa im Fall der Historiographie an der Weise, wie ein Kollektiv sich selbst in bezug auf seine Vergangenheit begreift, welche Aspekte es dabei heraushebt oder ausblendet, kurz, welchen Begriff seiner Geschichte und welches Selbstverständnis es sich erarbeitet. Die historische Arbeit ist ein wissenschaftlich diszipliniertes Element einer Praxis, das einzelne Handlungsformen, Institutionen und Zielsetzungen als bewahrenswerte, wieder anzueignende oder zu überwindende Bestandteile dieser Praxis kenntlich macht. Weniger offensichtlich als im Fall der historischen Forschung ist die praktische Dimension der Hermeneutik hinsichtlich ihrer Beschäftigung mit Kunstwerken. Gadamer geht in seinen Überlegungen zur Hermeneutik als praktischer Philosophie nicht explizit auf diese Frage ein, nichtsdestoweniger kann man vor dem Hintergrund der Rekonstruktion der Kunsttheorie und Hermeneutik von WM eine Antwort geben. Die energische Betonung einer Ambivalenz der Autonomie der Kunst und die Kritik an der Subjektivierung der Ästhetik sind Etappen einer Explikation des hermeneutischen Kunstbegriffs, der die Werke aus einem abgehobenen Reich des schönen Scheins befreien will und sie wieder im Zusammenhang mit der Praxis der Produzenten und Rezipienten sieht. Dadurch wird nicht etwa der Fiktionscharakter literarischer Texte geleug-
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Verstehen, Interpretieren, Erkennen
net. Vielmehr wird Fiktionalität nicht in vereinfachender Weise durch eine Dichotomie von Realität und Fiktion mißverstanden, sondern es wird eine Interdependenz erkennbar, derzufolge gerade im Modus der Fiktion Realität erkannt, Wirklichkeitserfahrung modelliert, präfiguriert und transformiert werden kann. Im Sinn dieser Überlegungen wurde am Beispiel der Ödipus-Tragödie gezeigt, daß das Kunstwerk Einsichten in Grundbedingungen menschlichen Handeins vermitteln kann. Damit gewinnt die Welt der Kunst Anschluß an den Bereich der Praxis, wobei dies nicht als vordergründiges politisches Engagement mißzuverstehen ist, sondern als Erkundung von Bedingungen, Möglichkeiten und Begrenzungen der Erfahrung. 404 Der Rekurs auf die Aristotelische >phronesis< scheint der philosophischen Hermeneutik also eine Möglichkeit zu bieten, die Erkenntnisbedeutung hermeneutischer Erfahrung ohne eine mißverständliche Annäherung an wissenschaftliche Erkenntnis zu artikulieren. Hermeneutische Erfahrung erscheint als Reflexion über Praxis, eine Reflexion, deren Ergebnisse selbst wieder in praktisches Verhalten eingehen. Allerdings wirft der Versuch einer Annäherung von hermeneutischer Erfahrung an Praxis und von Hermeneutik an praktische Philosophie auch neue Fragen auf. Es wäre ein Irrtum zu glauben, Gadamer propagiere eine Renaissance der Aristotelischen >phronesis< in naiver Verkennung der fundamentalen Unterschiede im Verhältnis von Praxis, Technik und Theorie/Wissenschaft innerhalb der griechischen Polis einerseits und in den modemen Industrie-, Dienstleistungs- und Verwaltungs gesellschaften andererseits. Gadamer selbst spricht davon, daß die Gegenwartssituation durch eine Verwissenschaftlichung und Technologieabhängigkeit der Praxis gekennzeichnet ist, wie sie in früheren Epochen nicht ihresgleichen hatte. 405 Die Aristotelische Auffassung, derzufolge Theorie als höchste Lebensform bezeichnet werden konnte, scheint in gewisser Hinsicht durch Verhältnisse ersetzt worden zu sein, in denen eine veränderte Theorie/Wissenschaft und die Technik in zunehmendem Maße die Praxis insgesamt bestimmen: Praxis droht zum bloßen Anwendungsgebiet theoretischen und technischen Wissens zu degenerieren. Eine Wiederanknüpfung an Aristoteles steht daher vor der Aufgabe, den historischen Wandel im Verhältnis von Praxis, Technik und Theorie/Wissenschaft zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, daß Gadamer in einer frühen Arbeit, aufgrund der skizzierten Unterschiede zwischen antiken und modemen Zuständen, die praktische Philosophie des Aristoteles gerade nicht mehr als einen noch maßgebenden Bezugspunkt, sondern als
Grundelemente der Hermeneutik Gadamers
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philosophische Besinnung über die für alle Zeiten vergangene Lebensfonn der antiken Polis begriffen hat. In einem 1930 verfaßten Text, »Praktisches Wissen«, der erstmals im fünften Band der Werkausgabe seiner Arbeiten veröffentlicht wurde, beschreibt Gadamer die Aristotelische Handlungstheorie und stellt dabei ganz .im Sinn seiner Erörterungen in WM die zentrale Bedeutung der >phronesis< heraus. Das Fazit seiner Überlegungen steht allerdings in denkbar krassem Widerspruch zu der Aristoteles-Interpretation in WM. Gadamer verabschiedet die Aristotelische philosophia practica und nennt stattdessen die Dialektik der Platonischen Dialoge als möglichen Anknüpfungspunkt gegenwärtigen Denkens: »Das Schicksal der Philosophie wird ( ... ) in seiner weltgeschichtlichen Gestalt erstmals an Aristoteles sichtbar: Die Gestalt des Lebens, die er mit dem Grau in Grau des Begriffes malte, war alt geworden und ließ sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen. Darin unterscheidet sich Aristoteles und der Anfang der Geschichte der Philosophie von der dialogischen Dialektik Platos.«406 Gadamer selbst gibt keine Auskunft darüber, welche Gründe ihn dazu bewogen haben, im Gegensatz zu dieser frühen Auffassung in WM nun doch an die Aristotelische Ethik anzuknüpfen. Die Schwierigkeit einer Aktualisierung der >phronesis< scheint unter anderem darin zu bestehen, daß Aristoteles im Rahmen seiner Güterethik von einem weitgehend unbestrittenen Konsens über Nonnen des Verhaltens ausgehen kann. Seine Ausführungen beweisen über weite Strecken eine unerschütterte Sicherheit in der Beurteilung dessen, was der freie Bürger der Polis zu tun, vorzuziehen oder zu venneiden hat. Ein vergleichbarer Konsens besteht aber Gadamers Diagnose zufolge in der gegenwärtigen Gesellschaft kaum noch. R.J. Bernstein kommt angesichts dieser Sachlage zu dem folgenden Ergebnis: »Indeed, there is a paradox that stands at the center of Gadamer's thinking about praxis. For on the one hand, he acutely analyzes the deformation of praxis in the contemporary world, and shows how the main problem facing our civilization is one in which the very possibility for the exercise of phronesis is underrnined, and yet on the other hand he seems to suggest that, regardless of the type of community in which we live, phronesis is always areal possibility.«407 Trotz der historischen Veränderungen und der durch sie bedingten Problematik eines Rückgriffs auf Aristoteles scheint mir, entgegen der starken Kritik Bernsteins, die praktische Klugheit und das Prinzip Urteilskraft auch unter Bedingungen der Moderne eine Berechtigung zu
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Verstehen, Interpretieren, Erkennen
haben, an die Gadamer mit guten Gründen erinnern kann. Die Revalorisierung der praktischen Klugheit und der Urteilskraft beansprucht nicht, Patentlösungen globaler praktisch-politischer Probleme der Gegenwart zu liefern. Vielmehr wird gerade im Gegenzug zu einer Vogelperspektive auf die großen Probleme daran erinnert, daß die Lösungen gesellschaftlicher Fragen und Konflikte nicht einer Logik der Sachzwänge überlassen werden müssen. Stattdessen können durch einen Austausch der Argumente, durch einen Dialog die partikularen Interessen und das Gemeinwohl im Sinn der >phronesis< miteinander vermittelt werden. Die Pointe des Rückgriffs auf die >phronesis< besteht in einer Erinnerung daran, daß die gesellschaftlich-politische Praxis nicht ohne gravierende Defizite auf den Dialog der Beteiligten verzichten und sich der monologischen Rationalität der Technik oder der Irrationalität von Gewalt unterwerfen kann.408 Man hat Gadamer oft vorgeworfen, das faktische Vorkommen von Konflikten, von Gewalt und Zwang zu verdrängen. Tatsächlich erweckt sein hermeneutischer Optimismus über weite Strecken diesen Anschein. Indes handelt es sich, wie jüngere Aufsätze erkennen lassen409 , eher darum, angesichts offensichtlicher Probleme auf einen vernünftigen Weg hinzuweisen, auf den Weg des offenen Dialogs und der Bereitschaft, das bessere Argument anzuerkennen, auch wenn es nicht das eigene ist. Die hermeneutische Erfahrung besitzt aus zwei Gründen eine praktische Bedeutung: Zum einen weist sie die Vollzugsform des Dialogs auf, setzt die Offenheit für die Ansichten des anderen voraus, ist auf die Auseinandersetzung mit fremden Perspektiven spezialisiert, bricht stereotype Wahrnehmungsmuster und schärft den Blick für den Facettenreichtum konkreter Situationen. Dadurch trainiert sie die Urteilskraft und stellt eine Vorbereitung auf den agonalen Dialog der gesellschaftlichen Praxis dar. Zum anderen ist die hermeneutische Erfahrung vor jeder bewußten und kunstmäßigen Ausbildung des Verstehens immer schon ein Element gesellschaftlicher Praxis. Diesen Aspekt der Vorgängigkeit des Verstehens betont Gadamer mit seinem Begriff der Wirkungs geschichte. Auf ihn gründet der Traditionalismus der Hermeneutik von WM, der Diskontinuität nicht vollständig ausblendet, aber doch die dauerhafte Bedeutung solcher Kunstwerke, Texte und Institutionen in den Vordergrund stellt, die über die Jahrhunderte hinweg eine nicht unbestrittene, aber praktisch wirksame Geltung behalten haben. Diesen Elementen der Überlieferung, die selbst keine invarianten Größen sind, sondern deren Bedeutung in der Rezeption je unterschiedlich konkretisiert wird, traut Gadamer zu, daß sie nach wie vor praktische Orientierungen zu geben vermögen. Sie tun dies
Grundelemente der Hermeneutik Gadamers
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allerdings nicht in Form von Direktiven, sondern im Rahmen eines ernsthaften und offenen hermeneutischen Gesprächs.
II.2.14. Zusammenfassung
Die Rekonstruktion der Grundelemente der Hermeneutik Gadamers zeichnet das Bild eines vielschichtigen, nicht in systematischer Form darstellbaren Reflexionszusammenhangs. An die Stelle einer schrittweise Argument auf Argument gründenden Darstellung tritt bei Gadamer ein labyrinthischer Gedankengang, der zwischen historischen Analysen und eigenständigen Ausführungen hin und her schwankt. Für Klarheit sorgt hier eine Untersuchung, die die Überlegungen in einem übergreifenden Zusammenhang darstellt, Vieldeutigkeiten und Unbestimmtheits zonen als solche markiert sowie die wesentlichen Implikationen der Leitmetaphern und Konzepte aufweist. An die Weite des existenzialen Verstehensbegriffs Heideggers knüpft Gadamer an, indem er mit dem Prinzip der Wirkungsgeschichte eine universale Form des Vergangenheitsbezugs menschlicher Erfahrung herausarbeitet. Die Dimension der Geschichtlichkeit wird durch Ausführungen zu den Begriffen des Vorurteils, der Autorität und der Tradition ausgelotet. Der Gadamerschen Darstellung dieser Begriffe ist entgegenzuhalten, daß sie verschiedentlich eine klare Trennung zwischen einer allgemeingültigen Bedeutung des Vergangenheitsbezugs im Sinn der Wirkungsgeschichte, speziellen Formen der bewahrenden Pflege und dumpfen Traditionalismen vermissen läßt. Hierdurch wird die Hermeneutik anfällig für die Vereinnahmung durch konservative Ideologie. Es sind hauptsächlich die Ausführungen zu den Begriffen des Vorurteils und der Autorität, die einer deutlichen Revision bedurften. Daß die Hermeneutik Gadamers in einer Weise rekonstruiert werden kann, in der sie frei von ideol~gischer Parteilichkeit ist, geht aus der Analyse des zentralen Konzepts der Wirkungsgeschichte hervor. Durch die Horizontmetaphorik, das Gesprächsmodell und die Formulierung eines Begriffs hermeneutischer Erfahrung wird die Bedeutung dieses hermeneutischen Grundprinzips entfaltet. Wesentliche Elemente von WM führen die Hermeneutik als Interpretationstheorie und Theorie der Geisteswissenschaften weiter: die »Logik von Frage und Antwort«, das Gesprächsmodell, die Diskussion des Zirkels und der Begriff des Klassischen lassen sich auf die Arbeit des
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Verstehen, Interpretieren, Erkennen
Textinterpreten und Geisteswissenschaftlers beziehen. Gadamer selbst ist es nicht darum zu tun, methodologische Empfehlungen zu formulieren, sondern das Selbstverständnis der Geisteswissenschaften zu korrigieren und ihre Orientierung an Verfahren und Methoden der exakten Wissenschaften als Fehler zu entlarven. Bei diesem Unternehmen verliert er sich allerdings wiederholt in ontologischen Spekulationen, die den Kontakt zu konkreten Verstehensvollzügen und zur geisteswissenschaftlichen Forschung aufgeben. Angesichts dieser Tendenz wurde nachdrücklich darauf hingewiesen, daß die Hermeneutik nur dann einen sinnvollen Beitrag zur gegenwärtigen Ästhetik und Theorie der Geisteswissenschaften leisten kann, wenn sie sich von einer borniert anti-subjektivistischen Ontologisierung frei macht und auf eine Praxis des Verstehens einläßt, die mehr ist als ein übermächtiges Sinngeschehen. Ontologie und Epistemologie sind daher als komplementäre Aspekte der Hermeneutik aufzufassen. Bei der Rekonstruktion der Elemente der in WM vorgetragenen Hermeneutik wurde aus diesem Grund der Rahmen von Gadamers Arbeit bewußt zugunsten einer verstärkten Berücksichtigung der Interpretationspraxis in den Geisteswissenschaften erweitert. Neben der Darstellung der Hermeneutik als Existenzialontologie und als Theorie der interpretierenden Wissenschaften steht eine weitere Konzeption: Hermeneutik als Praktische Philosophie. Dieses Modell der Hermeneutik entwirft eine Alternative zu der Verwissenschaftlichung der Geisteswissenschaften. Gadamer greift auf den Aristotelischen Begriff der >phronesis< zurück und zeigt, daß hermeneutische Erfahrung ihren Ursprung in der Lebenspraxis hat, sich als Reflexion über diese Praxis vollzieht und eine Lebensform in wesentlicher Hinsicht prägen kann. Hermeneutische Erfahrung lebt von einer Offenheit und Dialogbereitschaft, die geeignet ist, vernünftige Orientierungen zu ermöglichen. Eine methodologische Disziplinierung der Geisteswissenschaften hat darauf zu achten, daß hermeneutische Erfahrung in diesen Bereichen Entfaltungsmöglichkeiten findet. Eine fruchtbare Methodemeflexion muß vermeiden, daß eine wesentliche Dimension der Geisteswissenschaften, die Gadamer mit der Bestimmung der Hermeneutik als Praktischer Philosophie heraushebt, durch verengende Normierungen und Standardisierungen zerstört wird.
111.
ERKENNTNIS DER HERMENEUTIK
Die folgenden Überlegungen stellen abschließend wesentliche Implikationen der durch die Rekonstruktion der Hermeneutik Gadamers gewonnenen Komplementaritätsthese heraus. Diese These besagt, daß die in Anschluß an Heidegger vollzogene Ontologisierung der Hermeneutik nicht zu einer Ausblendung derjenigen Fragen führen kann, die sich auf die Probleme der interpretierenden Wissenschaften beziehen. Die Ontologisierung verdrängt den epistemologischen Aspekt der Hermeneutik nicht vollständig; sie ist nicht das Ende der Epistemologie auf dem Feld der Hermeneutik, sondern sie stellt epistemologische Fragen auf eine neue Grundlage. Allerdings beläßt Gadamer selbst die Konturen der Ontologisierung im Halbdunkel und gibt keine detaillierten Bestimmungen der Auswirkungen der ontologischen Wendung hinsichtlich erkenntnistheoretischer und methodologischer Probleme. Aus diesem Grund bietet er Anhaltspunkte für divergierende Lesarten. Neben der hier vertretenen Komplementarität von Ontologie und Epistemologie, neben einer Konzeption des Verstehens, die sowohl den Geschehenscharakter beachtet als auch die Aspekte thematisiert, in denen Verstehen als methodengestützte Leistung des einzelnen erscheint, stehen starke Versionen der Ontologisierung der Hermeneutik, in denen das Verstehen als ein Ereignis, als ein dem Zugriff des Subjekts entzogenes Sinngeschehen auftritt und die Leser und Interpreten auf die »Sagkraft« klassischer Texte der Überlieferung hören.41o Die Vieldeutigkeit der von Gadamer vorgestellten Konzepte, Modelle und Metaphern bietet beiden Lesarten Anhaltspunkte. Der Sache nach steht aber außer Frage, daß die Hermeneutik sowohl die unverfügbaren Voraussetzungen des Verstehens (Ontologie) als auch die Leistungen des Verstehenden (Epistemologie) beachten muß, will sie nicht in einen regressiven Fatalismus oder in besinnungslose Selbstüberschätzung verfallen. Die abschließenden Erörterungen sind nicht mehr primär als Rekonstruktionen der Position Gadamers zu verstehen, sie wollen resümierend fruchtbare Konzeptionen aufzeigen und einen Weg skizzieren, den die
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Erkenntnis der Hermeneutik
philosophische Henneneutik nach Gadamer gehen kann. Dabei wird in einem ersten Schritt nach dem Verhältnis der henneneutischen Wahrheit und der Erkenntnis der interpretierenden Wissenschaften gefragt (III.l.). Aus der Fülle der hier anstehenden Probleme werden zwei Fragen aufgegriffen, die insbesondere die literaturwissenschaftliche Interpretationsarbeit betreffen. Zunächst wird nochmals das Problem des henneneutischen Zirkels erörtert (III.1.l.). Danach wird nach dem Sinn und der Möglichkeit einer begründeten Unterscheidung von richtigen und falschen, angemessenen und unangemessenen, guten und schlechten Interpretationen sowie möglichen Kriterien, Standards und Nonnen literaturwissenschaftlichen Arbeitens gefragt (III.1.2.). In einem zweiten Schritt werden die drei wesentlichen Aspekte des henneneutischen Wahrheitsbegriffs bestimmt (III.2.).
111.1. Erkenntnis der Interpretation
/lU.i. Zirkel und Spirale Seitdem Heidegger in »Sein und Zeit« die Voraussetzungshaftigkeit des Verstehens aufgewiesen und eine spezifische Zirkelhaftigkeit des Verstehens thematisiert hat, erfreut sich die Fonnel vom henneneutischen Zirkel in den interpretierenden Wissenschaften uneingeschränkter Beliebtheit. Noch immer besteht in diesem Zusammenhang Anlaß, an eine kritische Bemerkung P. Szondis zu erinnern: »Aus dem Skandalon des Zirkels, in dem das Verstehen dennoch seine Bedingung erkennen muß, wurde ein Beruhigungsmittel. Daß das Entscheidende ( ... ) nicht (ist,) aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen - eine These, die zweifellos ihre Richtigkeit hat - , ließ man sich von Heidegger nicht zweimal sagen und beantwortete fortan Fragen und Zweifel methodologischer Art mit der Pauschalauskunft, man bewege sich eben im henneneutischen Zirkel.«4Jl Die Untersuchung der Ausführungen Gadamers über den hermeneutischen Zirkel haben gezeigt, daß der henneneutische Begriff des Zirkels im Grunde überhaupt nicht direkt auf Verfahren und Methoden der Interpretation Bezug nimmt. Insofern kann die Rede vom henneneutischen Zirkel methodologische Überlegungen nicht ersetzen. Als Hinweis auf Bedingungen und Voraussetzungen einzelner Verstehensleistun-
Erkenntnis der Interpretation
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gen kann sie allerdings einen indirekten ßeitrag zur Einordnung der Bedeutung von Methodenreflexionen liefern. Die Vorstellung, daß der Zirkel des Verstehens konkrete Schritte der Interpretation beschreiben würde, wird allerdings von Gadamer selbst dadurch erweckt, daß er wiederholt auf die Herkunft der Rede vom Zirkel des Verstehens aus der Erfassung der Interdependenz des Verständnisses von Textsegmenten und Textganzem hinweist. Gadamer verfolgt letztlich aber nicht ein auf die Beschreibung einzelner Etappen der Lektüre und Interpretation ausgerichtetes Interesse. Vor dem Hintergrund seiner Erläuterungen des Prinzips der Wirkungs geschichte und der Trias von Vorurteil, Autorität und Tradition wird klar erkennbar, daß Gadamers Rede vom Zirkel in erster Linie auf die im Begriff der Wirkungs geschichte gedachte fundamentale Bedeutung des durch die Tradition vermittelten kulturellen Wissens ausgerichtet ist. Die Rede vom Zirkel des Verstehens bezieht sich demnach auf den Sachverhalt, daß sich Leser und Interpreten immer schon im Rahmen eines tradierten Wissens bewegen, wenn sie einzelne Elemente des Überlieferungs zusammenhangs ausdrücklich zum Gegenstand ihrer Verstehensbemühungen machen. In hermeneutischer Sicht ist der Ausgangspunkt einer Interpretation eines Texts das traditionsbestimmte Wissen des Interpreten. Dabei ist nicht nur an eine linguistische oder philologische Kompetenz zu denken, sondern an ein breites lebensweltliches, kulturelles Wissen, das zumindest indirekt in die Lektüre oder Interpretation einfließt. Da die Überlieferung kein homogenes Kontinuum ist, sondern ein vielschichtiges Gebilde mit divergierenden Teilbereichen darstellt, trifft der Leser oder Interpret immer wieder auf einzelne Elemente des Überlieferungszusammenhangs, die ihm dunkel, unverständlich, nur teilweise sinnvoll oder gänzlich fremd erscheinen. Die Lektüre als Versuch des Lesers, sich den Bedeutungsgehalt eines Texts zu erschließen, führt im Extremfall zu einer Bestätigung des Vorverständnisses oder, auf dem Weg einer Veränderung oder Korrektur des Vorverständnisses, zu einem Verständnisgewinn. Falls die Lektüre das Vorverständnis des Lesers nur bestätigt, so enthält der Text entweder kein Wissen, das nicht schon zum kulturellen Wissen des Lesers gehört, oder die Alterität des Überlieferungsgegenstands ist für den Leser unüberwindlich, so daß keine Verbindung herzustellen ist. Wenn das Vorverständnis durch die Lektüre!Interpretation modifiziert oder grundlegend revidiert wird, dann geschieht dies auf der Grundlage
Erkenntnis der Hermeneutik
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einer Differenz zwischen dem Wissen des Rezipienten und dem im Interpretandum niedergelegten Wissen. Dabei kann die Überwindung der Kluft zwischen dem eigenen kulturellen Wissen und dem Interpretandum zu einer Veränderung von Einstellungen, Wahrnehmungsmustern, Verhaltensweisen und einem neuen Selbstverständnis des Interpreten führen. Schematisch läßt sich die Lektüre als Weg von A über die Stationen B, C und D zurück zu A darstellen. Um eine regelrechte Zirkel- oder Kreisbewegung handelt es sich genau dann, wenn die Lektüre zu keiner Änderung des Vorverständnisses und des kulturellen Wissens des Lesers führt (Ausgangspunkt Al ist identisch mit Endpunkt Al). In diesem Fall hat die Lektüre entweder alle Erwartungen des Lesers erfüllt oder die Verstehensbemühungen wurden ohne Resultat abgebrochen. Bruchlos gelingende Lektüre und erfolglos abgebrochene Verstehensbemühungen erscheinen im Hinblick auf den Verständnisgewinn und Wissenszuwachs des Lesers gleichwertig. Wenn die Leseerfahrung das Vorverständnis modifiziert oder revidiert, so kehrt der Leser nicht zu Al zurück: Durch den Lemprozeß des Lesens verändert sich sein kulturelles Wissen (vorläufiger Endpunkt: A2). Al
I
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Die Überlieferung liefert das kulturelle Wissen des Lesers und determiniert sein Selbstverständnis, seine Wahrnehmungsmuster, Einstellungen, Verhaltensweisen Al Durch die Aneignung fremder Elemente der Überlieferung verändert der Leser sein kulturelles Wissen, sein Selbstverständnis, seine Wahrnehmungsmuster, Einstellungen oder Verhaltensweisen
D Die Interpretation bestätigt, modifiziert, revidiert das Vorververständnis
"-...
B Das Interpretandum konfrontiert den Leser mit Verstehensschwierigkeiten
Der Interpret geht vonCdem aus A, gebildeten
~ Vorverständnis aus und sucht eine Lösung der Verständnisschwierigkeiten
/
Erkenntnis der Interpretation
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Wenn Ausgangs- und Endpunkt des Interpretationsprozesses nicht identisch sind, erscheint es sinnvoll, nicht von einer Kreisbewegung zu sprechen und das Bild vom Zirkel durch das Modell einer Spirale zu ersetzen. Auf diese Weise kann die Erweiterung des Verständnisses und der Wissensgewinn durch die Leseerfahrung deutlicher markiert werden. Der Vorschlag, von einer hermeneutischen Spirale zu sprechen, wurde von wissenschaftstheoretischer Seite gemacht.412 Die Figur der Spirale ist im Gegensatz zu der des Kreises geeignet, den Wissenszuwachs und die Erweiterung des Verständnisses durch die Lektüre und Interpretation bildhaft zu vergegenwärtigen. Die Erläuterungen des Spiralmodells der Interpretation durch die Wissenschaftstheoretiker zielen allerdings primär auf das Verstehen von Aussagen mit Behauptungscharakter und auf die Interpretation theoretischer Texte ab. P. Lorenzen beschreibt die kritische Auseinandersetzung mit einem tradierten Text wie folgt: »1. Feststellung des eigenen Begriffssystems. 2. Kritische Lektüre des Textes mit anschließender Änderung des bisherigen Begriffssystems. 3. Erneute Lektüre und eventuelle weitere Änderungen des Begriffssystems. 4. Weitere Runden, soweit erforderlich. Man hat also mehrfach vom eigenen Begriffssystem zum Text und dann wieder zum eigenen Begriffssystem zurückzugehen. Da sich hierbei das eigene Begriffssystem aber jedesmal ändert, handelt es sich nicht um einen Kreis, der durchlaufen wird, sondern - im Bilde gesprochen - um eine Spirale. In leichter Modifikation des Dilthey'schen Terminus >Hermeneutischer Zirkel< möchte ich daher lieber von einer hermeneutischen Spirale sprechen. Natürlich ist diese Spirale, wie jedes Stück menschlicher Arbeit, endlich.«413 Lorenzens Spiralmodell ist einer Hermeneutik argumentierenden Sprechens zuzuordnen. So einleuchtend sein Vorschlag im Hinblick auf theoretische Texte, die sich behauptender Rede bedienen, auch ist, er läßt offen, wie das Spiralmodell hinsichtlich nicht-apophantischer Texte, beispielsweise fiktionaler oder lyrischer Textgattungen, aufzufassen wäre. Im Hinblick auf solche Texte scheinen die eigentümlichen Verstehensschwierigkeiten nicht angemessen bestimmt, wenn man von einem Begriffssystem des Autors spricht, das es zu durchschauen und anzueignen gilt. Um den von der Analyse apophantischer Texte abweichenden Charakter der Lektüre und Interpretation von Werken der Dichtung oder fiktionaler Texte anzudeuten, ist das oben angeführte Schema weiter gefaßt als Lorenzens Spiralmodell.
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Erkenntnis der Hermeneutik
Konkrete Fragen des Vorgehens und der Methodik sind dabei allerdings überhaupt nicht berücksichtigt. Sie wären unter Punkt C zu erörtern, da sie die Mittel zur Lösung der Verständnisprobleme des Lesers betreffen. Die Gadamersche Hermeneutik selbst bietet kein Inventar solcher Strategien und Verfahren an, sondern sie begnügt sich mit den ausführlich untersuchten Konzeptionen des Gesprächsmodells, des FrageAntwort-Schemas und der Horizontmetaphorik. Diese methodologische Abstinenz der philosophischen Hermeneuük muß entgegen einer weitverbreiteten Tendenz nicht als Methodenfeindlichkeit begriffen werden. Im Gegenteil, der von der Hermeneutik abgesteckte Rahmen schränkt die Anwendung unterschiedlicher Interpretationsverfahren in keiner Weise ein.'I '
Hf.! .2. Kriterien
Das vorgestellte Schema des hermeneutischen Zirkels, der zu einer Spirale erweitert werden kann, läßt unbestimmt, unter welchen Bedingungen Modifikationen oder Revisionen des Vorverständnisses als Verständnisgewinn und Bereicherung des Wissens des Rezipienten gelten können und wann es sinnvoll ist, davon zu sprechen, daß ein Leser oder Interpret einen Text gut, angemessen oder richtig verstanden hat. Es ist das Bedürfnis nach einer Begründung der Gültigkeit von Interpretationen, das die Formulierung eines Richtigkeits- oder Angemessenheitskriteriums dringlich erscheinen läßt. Solche Kriterien würden es erlauben, Interpretationen daraufhin zu beurteilen, ob sie richtig oder angemessen sind oder nicht. An sich ist der Wunsch, grobe Mißverständnisse, willkürliche Auslegungen und Lesefehler als solche kenntlich zu machen, verständlich und plausibel. Gerade die Literaturwissenschaft als wissenschaftliche Disziplin und institutionell gefaßte Praxis des Lesens und Interpretierens hat ein vitales Interesse daran, bewährte Formen des Kommentierens und Interpretierens zu pflegen und bestimmte willkürliche Umgangsformen mit Texten auszuschließen. Allerdings ist die Erwartung vollkommen unangebracht, man könne aufgrund eines einheitlichen Kriteriums alle möglichen Fehlinterpretationen aussortieren. In den Fällen, auf die wir im Bereich der Literaturwissenschaft mit den Ausdrücken >verstehen<, >kommentieren<, >interpretieren< Bezug nehmen, handelt es sich um so verschiedenartige Handlungen, daß ein einheitliches Beurteilungsprinzip zum Scheitern verurteilt ist. Mit der Aufgabe eines globalen Kriteriums zur Beurteilung interpreta-
Erkenntnis der Interpretation
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tiver Äußerungen wird die Literaturwissenschaft aber keineswegs einem schrankenlosen Relativismus oder reiner Beliebigkeit ausgeliefert, wie manche Wissenschaftstheoretiker fürchten. Von Fall zu Fall ist es möglich zu zeigen, weshalb eine bestimmte Interpretation richtig, angemessen oder erhellend ist. Von der philosophischen Hermeneutik Gadamers her gesehen ist dies nur innerhalb eines gegebenen historischen Kontexts möglich. Gadamer diskutiert die Frage nach der Beurteilung von Interpretationen und nach der Angabe eines Angemessenheitskriteriums nicht ausführlich. Bei einer Untersuchung der einschlägigen Aussagen zeichnet sich das folgende widerspruchsvolle Bild ab. Einerseits scheint die Rede von einer richtigen oder angemessenen Interpretation bei Gadamer keinen Platz zu haben, da das Verstehen als Effekt der Wirkungs geschichte erfaßt wird. Im Zusammenhang mit der Diskussion der Position E.D. Hirschs wurde deutlich, daß die philosophische Hermeneutik das Konzept der einen richtigen Interpretation eines Texts verabschiedet und an die Stelle des ahistorischen Bedeutungsmonismus einen Pluralismus der Interpretationen setzt.41S Der Grundgedanke dieses Pluralismus besteht darin, daß das Verstehen einzelner Werke ein historisch bedingtes Geschehen ist und daß somit in verschiedenen historischen Situationen unterschiedliche Bedeutungen des Interpretandums aktualisiert werden. Dabei wird eine Bewertung dieser Interpretationen nicht immer als sinnvoll angesehen. Gadamer stellt fest, daß je nach Kontext dem Interpretandum unterschiedliche Bedeutungen zugeschrieben werden können. }>Verstehen ist in Wahrheit kein Besserverstehen, weder im Sinne des sachlichen Besserwissens durch deutlichere Begriffe, noch im Sinne der grundsätzlichen Überlegenheit, die das Bewußte über das Unbewußte der Produktion besitzt. Es genügt zu sagen, daß man anders versteht, wenn man überhaupt versteht.<(l16 Andererseits kann Gadamer gar nicht umhin, von der Richtigkeit einer Interpretation zu sprechen, wenn er konkrete Fragen der Textauslegung behandelt. Und selbstverständlich nimmt er für seine eigenen Interpretationen in Anspruch, daß sie angemessene Auslegungen sind oder die Fehler konkurrierender Kandidaten vermeiden. Schließlich gesteht er durchaus zu, daß es die }}methodischen Mittel der Wissenschaften« sind, }}mit denen man über falsch und richtig zu entscheiden, Irrtum auszuschalten und Erkenntnis zu gewinnen versucht.<(l17 Neben dem Geschehenscharakter und der Ereignishaftigkeit des Verstehens wird also doch auch das Verstehen als Leistung des Subjekts beachtet.418
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Freilich unternimmt Gadamer nicht den Versuch, ein Kriterium des rechten Verstehens im Bereich der Interpretation zu formulieren. Der Ertrag der philosophischen Hermeneutik für die literaturwissenschaftliche Arbeit und die Praxis der interpretierenden Wissenschaften scheint durch diese methodologische Abstinenz stark eingeschränkt zu werden. Wenn man genauer zusieht, ist die Zurückhaltung Gadamers in Anbetracht der komplexen Sachlage aber eher angemessen als simplifizierende Deklarationen methodologischer Standards und Kriterien zur Beurteilung von Interpretationen, die den tatsächlichen Aufgaben und Verfahren der Literaturwissenschaft nicht gerecht werden. Obwohl die Literaturwissenschaft in einzelnen Teilbereichen als eine Wissenschaft beschrieben werden kann, die Behauptungen aufstellt, und obwohl sie innerhalb dieser Bereiche den entsprechenden Begründungsanforderungen gerecht zu werden vermag, ist sie insgesamt nicht auf dieser Basis zu verstehen. Eine Interpretation ist in der Regel nicht als Summe von Behauptungssätzen über das Interpretandum zu begreifen, sondern als ein Versuch, dem Leser Vorschläge zu machen und Anregungen zu geben, wie ein Text verstanden werden kann. Die Interpretation weist auf relevante Details hin und kann durch die Einordnung des Texts in einen historischen, gattungs geschichtlichen oder problembezogenen Kontext das Verständnis des Lesers vertiefen oder ein solches zuallererst ermöglichen. 419 Die interpretativen Äußerungen können demnach nicht durchweg wie Behauptungssätze begründet werden. Zwar lassen sich auch einzelne Aussagen der Literaturwissenschaftier regelrecht bestätigen oder widerlegen, wenn sie sich auf deutlich bestimmbare Merkmale der Textstruktur (Syntax, Metrik, Texteinteilung, Sprecherinstanzen usw.) oder auf Daten der Produktions- und Rezeptionsgeschichte beziehen. Solche Behauptungen allein können aber meist noch nicht als Interpretation eines Texts gelten, sondern liefern das Material, das einer Interpretation zugrunde liegt. Ohne die interpretatorische Praxis der Literaturwissenschaft unangemessen zu schematisieren, kann man daher sagen, daß Interpretationen den Bedeutungsgehalt ihrer Gegenstände nicht allein durch Tatsachenbehauptungen und Beschreibungen erschließen, sondern daß es meist die Korrelationen zwischen einzelnen Beobachtungen zur Textstruktur und den Informationen über historische Kontexte der Produktion und Rezeption sind, durch die sich ein Verständnis des Textganzen ergibt oder vergrößert. Gerade diese Korrelationen lassen sich nicht mehr in einem engen Sinn ableiten und nach allgemeinen Kriterien beurteilen. Insofern scheint die Hermeneutik gut beraten, wenn sie auf die Formulierung eines allgemeinen Angemessenheitskriteriums verzichtet.
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Man sollte allerdings nicht vergessen, daß zumindest bei einer Teilmenge der Aussagen, die im Feld der Interpretation gemacht werden, über Gültigkeit und Ungültigkeit unzweideutig entschieden werden kann. 420 Gegenüber einer mitunter zu beobachtenden verächtlichen Geringschätzung des philologischen Faktenwissens scheint es angebracht, darauf hinzuweisen, daß Interpretation und hermeneutische Reflexion ohne die Grundlage philologischer Textarbeit und historischen Wissens in Gefahr geraten, zu phantasievollen Rhapsodien zu verkommen. Sicher entspricht es nicht Gadamers Absicht, die Bedeutung des philologischen Handwerkszeugs eines Interpreten zu bagatellisieren. Aber der Duktus seiner Überlegungen übergeht - ganz im Bann des ontologischen Geschehenscharakters des Verstehens stehend - die elementaren Leistungen der Arbeit am Text. Es ist deutlich geworden, daß sich auf der Basis der Gadamerschen Hermeneutik keine Standardmodelle der Interpretation konstruieren lassen. Vielmehr ist mit Hilfe des Gesprächsmodells, des Schemas von Frage und Antwort sowie der Horizontmetaphorik deutlich zu machen, daß das Gelingen von Interpretationen in maßgeblicher Weise von der Offenheit für die Alterität des Interpretandums, von der Bereitschaft, den eigenen Horizont zu erweitern, und von einer Einsicht in die geschichtliche Bedingtheit des eigenen Wissens abhängt. Mit Recht weist D.C. Hoy darauf hin, daß die hermeneutische Akzentuierung der historischen Bedingtheit des Wissens keinen uneingeschränkten Relativismus propagiert. Die Hermeneutik legitimiert keine subjektivistischen, auf idiosynkratische Präferenzen gegründeten Lektüren. Sie weiß, daß das Verständnis für einzelne Texte sich nur innerhalb eines durch die Überlieferung mitgeprägten Kontexts bildet und daß es keine wissenschaftliche Methodik gibt, die es möglich macht, die Bedeutung des Interpretandums unter Absehung von dem Horizont der Interpretation zu erfassen.421
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111.2. Hermeneutische Wahrheit: Kunst, Erfahrung, Erinnerung Verschiedentlich haben Leser von·WM ihre Verwunderung darüber zum Ausdruck gebracht, daß der hermeneutische Wahrheitsbegriff in Gadamers Hauptwerk eher beiläufig behandelt wird. 422 Tatsächlich ist diese Enttäuschung nicht unberechtigt. Insbesondere wenn man bedenkt, daß der Einleitungsteil von WM eine Klärung dieses Begriffs und seiner Bedeutung für die Erfahrung der Künste in Angriff nimmt. Zwar konnte durch die Untersuchung der Ausführungen Gadamers ein Vorschlag formuliert werden, wie die Rede von der Wahrheit der Kunst im Fall der Tragödie zu präzisieren ist, und es konnte beobachtet werden, daß Gadamer mit dem Begriff der ästhetischen Nichtunterscheidung eine Überwindung der Vorstellung einer Abbildungsbeziehung zwischen Kunstwerk und vorgegebener Wirklichkeit möglich macht. Dennoch blieben zahlreiche Fragen offen: Wenn die Wahrheit des tragischen Schauspiels als Einsicht in Grundbedingungen menschlichen Lebens bestimmt wird, kann diese Bestimmung dann auch auf andere literarische Gattungen (Komödie, Epos, Roman, Lyrik) ausgedehnt werden, ohne inhaltsleer zu werden? Wie bestimmt die hermeneutische Kunsttheorie die Erkenntnisbedeutung der abstrakten Malerei, der absoluten Musik oder des modemen Tanzes? Gadamers Rede von der Wahrheit der Kunst suggeriert uneingeschränkte Allgemeingültigkeit. Diese droht entweder durch den Ausschluß unpassender Gattungen und Stilrichtungen erkauft zu werden, so daß der hermeneutische Kunstbegriff in Widerspruch zu seinem Anspruch lediglich einen Ausschnitt des Universums der Künste erfassen würde. Oder es besteht die Gefahr, daß der hermeneutische Wahrheitsbegriff zwar universal anwendbar, aber unklar und vage bleibt: Falls er irgendwie auf alle Gegenstände zu beziehen ist, bleibt er in einem schlechten Sinn abstrakt und ist nicht mehr mit der Beschaffenheit einzelner Werke vermittelt. Gadamer legt keinen Wert auf eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen dem Wissen, das Gegenstände der Überlieferung (historische Relikte, Monumente, Dokumente) vermitteln können und der Erkenntnis, die im Umgang mit Kunstwerken erworben wird. Es ist das Ergebnis seiner Kritik des neuzeitlichen Kunstbegriffs, daß die Werke der Kunst in Verbindung mit der Lebensform zu sehen sind, in der sie ihren ursprünglichen Platz hatten. Das Kunstwerk ist für Gadamer nicht als ein vereinzelter, ungeschichtlicher Gegenstand anzusehen, der sich den
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jeweiligen Betrachtern je nach deren mome,ntanem Standpunkt und Wissen auf höchst unterschiedliche Weise erschließt. Es ist vielmehr stets im Kontext der Geschichte der Zivilisation und der Kunstgattung zu sehen, der es angehört. Und auch der Akt der Betrachtung selbst ist in die Lebenspraxis des Betrachters eingebettet und bedeut)Jngsvoll durch seine Stellung innerhalb dieser. Die Pointe der Aufhebung des ästhetischen Bewußtseins in das hermeneutische Bewußtsein bestand genau darin, die Geschichtlichkeit und Kontextgebundenheit von Produktion und Rezeption herauszustellen und gegen die falschen Konsequenzen einer Befreiung der Kunst von ihren Bindungen an Religion, Staat und Gesellschaft zu verteidigen. Durch ihr Kontextualitätsprinzip und ihren Begriff des Kunstwerks als Bestandteil und Reflex einer Lebensform nähert sich die Hermeneutik Gadamers der Kunstphilosophie Hegels an, in der die Kunst zu einer »Geschichte der Weltanschauungen« geworden ist.423 In den Werken der Kunst erscheint nach Hegel die Idee noch nicht zu begrifflicher Klarheit kristallisiert, sondern im Medium des sinnlichen Scheins. Als solche ist sie selbst ein Gegenstand der begrifflichen Arbeit und des heITIleneutischen Verstehens. Gadamers Anlehnung an Hegel hat ihre Grenze allerdings dort, wo eine zwingende Abfolge der Weltanschauungen und der entsprechenden Epochen der Kunstgeschichte hypostasiert oder durch den Gang des Geistes zur Erfassung seiner selbst begründet wird. Gadamer übernimmt zwar den Gedanken, daß die Menschen sich im Medium der Kunst ihr Weltverständnis zur Anschauung bringen, er übernimmt aber nicht die rigorose, systematische Architektur der Hegeischen Kunstgeschichte, und er ist nicht der Ansicht, daß die in der Überlieferung zugänglichen Weltanschauungen schlechthin überwundene Formen der Weltaneignung sind. Die Tradition erscheint vielmehr als ein Schatzhaus der Erinnerung, als Bereich, in dem durch die hermeneutische Erfahrung immer wieder vernünftige Orientierungen und wegweisende Einsichten freigelegt werden. Mehrmals wurde bereits darauf aufmerksam gemacht, daß Gadamers Überlegungen zur Kunst ihren Schwerpunkt eindeutig auf die Literatur und die darstellende Malerei legen. In ähnlicher Weise stehen diese Kunstgattungen auch im Mittelpunkt der Ästhetik-Vorlesungen Hegels. Tatsächlich ist es mit Blick auf diese Sektoren künstlerischer Produktion sinnvoll, von der Möglichkeit der Darstellung von Weltanschauungen und Vorstellungs welten oder der VeITIlittlung von Einsichten zu sprechen. Diese beiden Momente - Darstellung von Weltanschauungen und
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Vorstellungs welten sowie Vennittlung von Einsichten - bilden den Kern der in WM vorgetragenen Konzeption der Wahrheit der Kunst. Aber der Kosmos der Künste ist weiter als das Feld der darstellenden Kunst. Ein abstraktes monochromes Gemälde R. Geigers, ein Bild J. Mir6s, das mit zu Chiffren reduzierten Restbeständen der Darstellung spielt, oder ein Quartettsatz A. Weberns, dem keinerlei Darstellungsfunktion zuzuschreiben ist und dessen komplexe Struktur dem bloßen Zuhören ohne Studium der Partitur verschlossen bleibt, widersetzen sich einer solchen Zugangs weise oder sind nur um den Preis einer Nichtachtung werkspezifischer Weisen der Bedeutungskonstitution und durch einen waghalsigen Sprung in allegorisierende, mit der Struktur kaum noch vennittelte Deutungskunst erkauft. Anläßlich der Auseinandersetzung mit Gadamers Kant-Interpretation wurde auf die Bedeutung des in der KU ausgearbeiteten Begriffs der ästhetischen Idee und auf die Rolle der reflektierenden Urteilskraft bei der Wertschätzung ästhetischer Gegenstände hingewiesen. Vor allem der Begriff der ästhetischen Idee bot sich als Anknüpfungspunkt bei dem Versuch an, auch die nicht-darstellenden Künste in ihrer Erkenntnisbedeutung zu berücksichtigen. In WM steht Kant allerdings ganz und gar für die von Gadamer kritisierte Subjektivierung der Kunst und Ästhetik ein. Daß diese Sichtweise der KU nicht gerecht wird, hat Gadamer später offenbar gesehen. In einem Aufsatz über »Die Aktualität des Schönen«424 korrigiert Gadamer die Kant-Interpretation von WM, freilich ohne diese Korrektur als solche kenntlich zu machen. Es ist gerade die Möglichkeit der Kantisehen Kunsttheorie, nicht-darstellende Werke zu berücksichtigen, die Gadamer in dieser Abhandlung dazu bewegt, zustimmend auf die KU zurückzugreifen. In Widerspruch zu seinen Auslassungen in WM bestätigt Gadamer hier, daß Kant die Erkenntnisbedeutung der Kunst nicht schlechterdings negiert, daß er aber in Gegensatz zu Hegel von einer Bedeutsamkeit der Werke sprechen kann, die nicht als Reflex einer historischen Weltanschauung begriffen wird und sich auch nicht aufphilos0phische Begriffe bringen läßt. ))( ... ) hinter den Schöpfungen der Einbildungskraft (artikulieren sich) bedeutsame Inhalte (... ), die dem Verstehen aufgehen oder, wie Kant es ausdrückt, die )unnennbar Vieles hinzuzudenken< gestatten. Selbstverständlich soll das nicht heißen, daß es vorgefaßte Begriffe sind, die wir einfach nur an die Darstellung der Kunst anlegen. Das würde ja heißen, daß wir das anschaulich Gegebene als einen Fall des Allgemeinen unter das Allgemeine subsumieren. Das aber ist nicht die ästhetische Erfahrung. Es ist vielmehr so, daß die Begriffe überhaupt erst im Anblick des
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besonderen, des individuellen Werkes, wie ~ant sich ausdrückt, >in Anschlag gebracht werden< ( ... )«425 Mit dieser Revision der Ausführungen von WM berücksichtigt Gadamer nun auch künstlerische Produkte, die sich durch Prägnanz, Intensität, Vieldeutigkeit, metaphorische Bedeutungsübertragungen auszeichnen und deren Bedeutung nicht durch den Begriff erfaßt wird, sondern die unsere Begriffe, wie Kant sagt, »auf unbegrenzte Art« erweitern. Hermeneutische Wahrheit ist nicht als eine Eigenschaft von Sätzen oder als fixierbare Relation von Zeichen und Bezeichnetem zu begreifen. Hermeneutische Wahrheit kann zwar sprachlich vermittelt werden, sie ist aber gerade nicht ausschließlich und eindeutig als propositionale Wahrheit bestimmt. Am Paradigma der Tragödie wurde deutlich, daß die Wahrheit des Kunstwerks weder auf ein Stück behauptender Rede im Text reduziert werden kann, noch als Exemplifizierung einer vorgegebenen Erkenntnis anzusehen ist, und schon gar nicht als Wahrhaftigkeit oder Authentizität der Äußerung eines Autors zu verstehen ist. Wenn die Wahrheit des tragischen Schauspiels als Vermittlung von Einsichten in Grundbedingungen des Lebens gefaßt wurde, so ist vor allem auf die eigentümliche Weise der Vermittlung zu achten. Einsichten werden hier nicht so sehr dadurch vermittelt, daß sie explizit formuliert und direkt mitgeteilt würden. Vielmehr wird der ZuschauerILeser veranIaßt, den Erfahrungsprozeß der Protagonisten mitzuvollziehen und somit selbst zu erkennen, was es bedeutet, eine bestimmte Erfahrung zu machen. Gadamer akzentuiert durch seine Rede von der »Kommunion des Dabeiseins«426 die Leistung der Einbildungskraft des ZuschauersILesers. Durch sie ist es möglich, eine durch den Fiktionscharakter des Werks bedingte ästhetische Distanz zu überwinden und im Spiel der Kunst die Wahrheit einer Erfahrung zu erkennen. Der Rezipient erweitert seinen eigenen Horizont durch die Partizipation an einem Geschehen, das im Modus des ästhetischen Scheins eine Welt erschließt, die Erfahrung von Alterität ermöglicht und gleichzeitig auf die Einstellung zur eigenen Lebenssituation zurückwirkt. Die ästhetische Erfahrung läßt sich also als eine spezifische Weise der Erfahrung begreifen, durch die der Rezipient unter partieller Suspendierung der lebensweltlichen Orientierungen einen sekundären Kontext aufbaut. Innerhalb dieser Welt des Kunstwerks kann er sich entlastet von Erwartungen und Zwängen der Lebenswelt Perspektiven und Erfahrungsformen, deren Matrix ihm das Kunstwerk vorgibt, experimentierend zu eigen machen.
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Tatsächlich weist Gadamers Position eine gewisse Zweideutigkeit auf, was die Position des Subjekts der Erkenntnis betrifft. Getreu seiner Kritik an der Subjektphilosophie venneidet er jede Überbewertung der Bedeutung von Erkenntnishandlungen des einzelnen und stellt die unverfügbaren Voraussetzungen der Erkenntnis in den Vordergrund. Dabei kann man eine starke und eine schwache Version der Ontologisierung unterscheiden: entweder erscheinen die Aktivitäten des einzelnen eingebettet in einen Komplex von Voraussetzungen und Vorgaben, den die henneneutische Reflexion offenlegt, oder der einzelne scheint einem .nicht beeinflußbaren Geschehen, in dem ihm etwas verständlich wird, )wehrlos< ausgesetzt zu sein. Diese zweite, stärkere Version der Ontologisierung aktiviert die Instanz des Interpretandums und versetzt den Rezipienten in eine passive Haltung. Sprachlich schlägt sich dies dadurch nieder, daß Gadamer von der Frage des Werks an den Zuschauer/ Leser427 oder von dem Wahrheitsgeschehen spricht, in das der Rezipient involviert wird.428 Die Vorgeschichte dieser Ontologisierung, die Auseinandersetzung der Henneneutik mit der subjektivistischen Ästhetik seit Kant, wurde ausführlich behandelt, und auch die Alternativen, das Spiel- und das Gesprächsmodell, wurden vorgestellt. An der sachlichen Berechtigung der schwächeren Version der Ontologisierung und der in ihr gedachten Komplementarität von Werk, Wirkungsgeschichte und Betrachter kann kein Zweifel bestehen. Problematisch erscheint allerdings die stärkere Version, die eine asymmetrische Beziehung herstellt, derzufolge allein das Werk oder die Wirkungsgeschichte )das Spiel macht<. Durch den asymmetrischen Einschlag der ontologischen Wendung kann der Eindruck entstehen, ästhetische und henneneutische Erfahrung entzögen sich einer rationalen Annäherung. Die Kunstphilosophie und Henneneutik Gadamers lassen sich aber mit Hilfe der schwachen Version der Ontologisierung in einer Weise begreifen, die die aktiven Verstehensleistungen des Rezipienten nicht ignoriert. Dies ist notwendig, um zu venneiden, daß die ästhetische Erfahrung zu einem übennächtigen, ominösen Sinngeschehen stilisiert wird. 429 Durch eine Wiederherstellung der Komplementarität von Vorgabe des Bedeutungspotentials durch das Werk und kontextabhängiger Konkretisierung der Werkbedeutung durch den Rezipienten wird eine sinnvolle Funktion der ontologischen Wende der Kunsttheorie bei Gadamer erkennbar: Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf notwendige Bedingungen ästhetischer Erfahrung, wobei es sich sowohl um Bedingungen im Einflußbereich des Rezipienten handelt (Offenheit für die Alterität des
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Werks, Bereitschaft zur Übernahme der Apssage des Werks), als auch um Bedingungen, die sich seiner Verfügung entziehen (Überlieferung des Werks, Abschattung einzelner Aspekte durch den Kontext der Rezeption). Nur im Zusammenspiel von Werk und Re,zipient konstituiert sich hermeneutische Wahrheit. Ohne Bezugnahme auf den Prozeß der Konkretisierurig des Bedeutungsgehalts eines Werks in der Rezeption erscheint es überhaupt nicht angebracht, von der Wahrheit des Werks zu sprechen. 430 Die Wahrheit der Hermeneutik verdankt sich der Realisierung einer Bedeutung des überlieferten Gegenstands durch den Betrachter. Sie ist somit keine außergeschichtliche Größe, sondern Resultat des historischen Prozesses der Überlieferung des Werks und seiner Interpretationen. Die hermeneutische Wahrheit ist eine Wahrheit der Erfahrung, sie wird durch einen Verständigungsprozeß gewonnen, der das Wissen und den Horizont des einzelnen verändert und bereichert. Der hermeneutische Wahrheitsbegriff erscheint damit weitgehend kongruent mit dem Begriff des Verstehens. Hermeneutische Wahrheit »ereignet sich« nicht nur in ausgezeichneten Fällen des Verstehens. Gadamer vermeidet mitunter eine Unterscheidung von mehr oder weniger gelingenden Weisen des Verstehens ebenso wie eine Korrelation von Wahrheit und gelungenem Verstehen. Demzufolge entfällt eine mögliche Opposition von hermeneutischer Wahrheit und hertneneutischer Falschheit. Wenn ein Werk überhaupt verstanden wird, wenn es als Bedeutungsträger erkannt wird, wenn sein Bedeutungspotential im Rezeptionskontext aktualisiert wird, spricht Gadamer vom »Ereignis« der Wahrheit. Diese Weite des hermeneutischen Wahrheitsbegriffs kann Gadamer aber nur hinnehmen, weil er das Verstehen immer innerhalb des Bezugsrahmens eines Überlieferungsgeschehens sieht. Dieser Rahmen schließt durch seine Vorgaben verzerrendes Mißverstehen der Werke aus. Zudem schafft die stärkere Version der ontologischen Wende der Hermeneutik ein zusätzliches Gegengewicht gegen ein Mißverstehen der Werke: Indem sich deren »Sagkraft« auch gegen Widerstände behauptet, bringen sie ihre Wahrheit in einer Weise zur Geltung, die dem Betroffenen kaum eine Möglichkeit läßt, nicht zu verstehen. Damit blendet die Ontologisierung des Verstehens in ihrer starken Version den Beitrag des Rezipienten zugunsten eines Wahrheitsgeschehens aus und stellt Wahrheit als Effekt einer übermächtigen Sinngeschichte dar. In dieser Perspektive dominiert nicht die Selbständigkeit des einzelnen, der durch einen Erfahrungsprozeß eine Erkenntnis gewinnt (Wahrheit der Erfahrung), sondern eine seiner Verfügung entzogene
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Wahrheit, die sich in seiner Erfahrung Geltung verschafft und der er als :ein seinem Wollen und seiner Planung entzogenes Faktum ausgesetzt ist (Erfahrung der Wahrheit). Die zuletzt genannte Auffassung führt zu einer autonomen Sinngeschichte, deren Verlauf sich letztlich menschlicher Vernunft entzieht und als hermeneutisches Analogon zu Heideggers Seins geschichte erscheint. Für eine die Arbeit der Wissenschaften berücksichtigende Hermeneutik stellt diese starke Fassung der ontologischen Wendung mit ihrem Ausschluß der Epistemologie keine befriedigende Lösung dar, weil sie elementare Fragen der Interpretation nicht behandeln kann. Aus diesem Grund wird hier mit Blick auf die Arbeit der Geisteswissenschaften eine Fassung des hermeneutischen Wahrheitsbegriffs vorgeschlagen, die auf die zweite Perspektive (Erfahrung der Wahrheit) verzichtet. Hermeneutische Wahrheit läßt sich als Erkenntnis auffassen, die der Rezipient aufgrund der Erfahrung gewinnt, die er im Umgang mit einern Gegenstand der Überlieferung oder einern Kunstwerk macht, einer Erfahrung, deren Zustandekommen in entscheidender Weise von seiner Aufmerksamkeit, seinem Vorwissen und seiner Offenheit abhängt. Durch die bewußte Integration der Überlieferung in die eigene Praxis vollendet sich hermeneutische Erfahrung. Der in ihr vollzogene Vergangenheitsbezug ist nicht als objektive Erkenntnis, als Informationsspeicherung oder Datenwissen zu bestimmen, sondern als Erinnerung, in der das Gewesene auf der Grundlage einer Verbindung zur Gegenwart überhaupt erst seine eigentliche Bedeutung gewinnt. Gadamer verwahrt sich dagegen, daß solches Eingedenken als Anhäufung von Bildungsballast abgetan wird. Er hält es für einen verhängnisvollen Irrtum zu glauben, daß das Wissen der Überlieferung insgesamt einern raschen Alterungsprozeß unterworfen sei, durch den es unbrauchbar wird. Eine solche Meinung wäre fixiert auf einen zu engen Begriff des Wissens als Information. Gadarner hält einer Skepsis an der Bedeutung der Überlieferung den umfassenden Wahrheitsbegriff der Hermeneutik entgegen, der sich auf die »Wahrheit des Erinnerns«431 stützt. Unter Erinnerung ist, im Gegensatz zum Gedächtnis, nicht ein ausschließlich reproduktives, psychisches Vermögen zu verstehen. Die Unterscheidung von Erinnerung und Gedächtnis wiederholt unter veränderten Bedingungen diejenige zwischen der Platonischen >anarnnesis< und der Aristotelischen >rnneme<.432 Erinnerung als Anknüpfung an die Überlieferung verfährt selektiv und kombinatorisch, es handelt sich um eine Leistung, die über eine bloß akkumulierende Speicherung von Wissen hinausgeht. Erinnerung greift die Elemente des individuellen oder kollek-
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tiven Gedächtnisses auf, faßt sie zu Komplexen zusammen und kann durch Neukombination einen Bedeutungsgehalt des Vergangenen erschließen, der auf der Stufe des Gedächtnisses noch nicht zugänglich ist. 433 Erinnerung erfaßt die Vergangenheit in ihrer Bedeutung hinsichtlich des Lebens der Gegenwart und künftiger Entwicklungen, sie verdichtet das Wissen über das Gewesene zu einem auf das Wesentliche konzentrierten Andenken. Während der Vergangenheitsbezug des Gedächtnisses auf die Identifikation einzelner Gegenstände als Gegenstände einer bestimmten Vergangenheit gerichtet ist, zielt die Erinnerung auf eine umfassende Erkenntnis von Situationen, Ereignissen, Handlungen oder Personen und bewahrt Gewesenes für Gegenwart und Zukunft. Im Gegensatz zu dem erinnernden Vergangenheitsbezug der Hermeneutik steht die Akkumulation des Wissens im historistischen Gedächtnis. In seiner Auseinandersetzung mit dem Historismus geht Gadamer gegen eine Verflachung des Bezugs zur Überlieferung, zu den durch die Kunstwerke, die historischen Relikte, Spuren und Texte präsentierten Weltanschauungen und Vorstellungswelten an. Gadamer läßt keinen Zweifel daran, daß es nicht nur darum gehen kann, ein Panorama vergangener Zeiten zu genießen, sondern daß es auf eine »denkende Vermittlung«434 der Vergangenheit mit der Gegenwart ankommt. Die Abgrenzung gegen das historistische Gedächtnis gilt auch für die kompensationstheoretische Vergegenwärtigung der Vergangenheit. Beide - historistisches Gedächtnis und kompensatorische Vergegenwärtigung laufen Gefahr, Vergangenes als Vergangenes zu fixieren. Vom reproduktiven Gedächtnis des Historismus unterscheidet sich die produktive hermeneutische Erinnerung gerade dadurch, daß sie eine solche Vermittlung von Vergangenheit und Gegenwart ermöglicht. Gadamer denkt diese Vermittlung mit dem dargestellten Modell des Gesprächs, dem Schema von Frage und Antwort sowie der Horizontmetaphorik. Historische Gegenstände und Kunstwerke bieten gleichermaßen die Möglichkeit einer Auseinandersetzung und Aneignung vergangener Weltansichten und Vorstellungswelten. Allerdings kann diese Aneignung nicht umstandslos auf die praktische Dimension des Handeins reduziert werden. Ohne Zweifel kann sich durch die Erweiterung des Horizonts im Zuge der Begegnung mit einem historischen Text oder Kunstwerk das Verständnis für eigene Handlungsformen und indirekt das eigene Repertoire an Handlungsmustern verändern. Der Beitrag der Tradition und insbesondere der Künste betrifft aber nicht vorrangig einen pragmatischen Aspekt des Handelns, sondern eine kommunikative und reflexive Dimension des Verhaltens und der Ver-
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ständigung. Wie oben gezeigt wurde, kritisiert Gadamer, daß diese zweite Dimension der Praxis durch zeitgenössische Entwicklungen zunehmend eingeengt wird. Er setzt sich dafür ein, daß der Begriff der Praxis nicht eindimensional auf die Anwendung technischen Wissens und die Realisierung definierter Zwecke reduziert wird. Wenn Praxis die Erörterungen der Beteiligten über Zwecke und Zielsetzungen einschließt, wenn Debatten über Orientierungen, Präferenzen, Nonnen und Fragen der Lebensführung als konstitutive Elemente der Praxis gesehen werden, dann bereitet es auch keine Schwierigkeiten, den Beitrag der Künste, der Literaturen und der sie erforschenden Wissenschaften zur Praxis wahrzunehmen und anzuerkennen. Die Erfahrung der Überlieferung und des in ihr sedimentierten Wissens ist von grundlegender Bedeutung: Sie tangiert die Situationsdefinitionen sowie das Selbstverständnis der Handelnden, sie bereichert deren Welt durch die Konfrontation mit nonnativen Orientierungen, Vorstellungswelten, Handlungsweisen und stellt einen wesentlichen Beitrag zur Standortbestimmung und Erkenntnis der Gegenwartssituation dar.
ANMERKUNGEN
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Gadamer, H.-G.: Wahrheit und Methode. Tübingen, 1975. Im folgenden gebrauche ich die Abkürzung »WM«. Die Anknüpfung an den Heidegger von »Sein und Zeit« hat Gadamer wiederholt betont: »Verstehen ist ( ... ) die ursprüngliche Vollzugs/orm des Daseins ( ... ) Vor aller Differenzierung des Verstehens in die verschiedenen Richtungen des pragmatischen oder theoretischen Interesses ist Verstehen die Seinsart des Daseins, sofern es Seinkönnen und »Möglichkeit« ist. Vor dem Hintergrund einer solchen existenzialen Analytik des Daseins (... ) nimmt sich der Problemkreis der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik plötzlich sehr anders aus. Der Herausarbeitung dieses neuen Aspekts des hermeneutischen Problems ist die vorliegende Arbeit gewidmet.« WM,245. Eine Ausnahme stellt die kritische Stellungnahme O. Beckers dar. Vgl. Becker, 0.: Die Fragwürdigkeit der Transzendierung der ästhetischen Dimension der Kunst. In: Philosophische Rundschau 10 (1962), 224-238. WM,XXill. WM,XVI. Turk, H.: Wahrheit oder Methode? H.-G. Gadamers >Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik<. In: H.Birus (Hg.): Hermeneutische Positionen: Schleiermacher, Dilthey, Heidegger, Gadamer. Göttingen, 1982, 120-150; hier: 120. Vgl. in diesem Sinn auch W. Kamlah: Plädoyer für einen wieder eingeschränkten Gebrauch des Terminus >Hermeneutik<. In: ders.: Von der Sprache zur Vernunft. Mannheim - Wien - Zürich, 1975, 164-172; hier: 169. Warning, R.: Zur Hermeneutik des Klassischen. In: R. Bockholdt (Hg.): Über das Klassische. Frankfurt/Main, 1978,77-100; hier: 84. Vgl. hierzu den Artikel »Bildung« in: HWbPh 1,921-937. WM,lO. WM,15. Vgl. die Einführung von Burke, P: Vico. Oxford, 1985. Vico, G.: De nostri temporis studiorum ratione - Vom Wesen und Weg der geistigen Bildung. Lat.- dt. Übersetzt von W.F. Otto. Godesberg, 1947. Vgl. Burke, P. (1985), 52. Der Begriff wird in der von Gadamer herangezogenen Abhandlung selten gebraucht. Ich habe nur zwei Passagen gefunden, in denen Vico den »sensus communis« erwähnt. Vgl. S. 34 und S. 62 der angegebenen Ausgabe. WM, 19. Die Verbindung von »sensus communis« und dem Wohl der
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Anmerkungen Allgemeinheit wird in Vicos Abhandlung nicht hergestellt. Descartes, R.: Discours de la Methode. Frz.- dt. Übersetzt von L. Gäbe. Hamburg, 1960, 7ff. Vgl. hierzu den ausgezeichneten Kommentar der von E. Gilson besorgten Ausgabe: R. Descartes: Discours de la Methode - Texte et commentaire. Herausgegeben von E. Gilson. Paris, 1962, 100-142. Descartes, R. (1960),9 und 17. Gadamer faßt das Argument folgendennaßen zusammen: »Die Weisheit der Alten, ihre Pflege der prudentia und eloquentiasei auch jetzt, angesichts dieser neuen Wissenschaft und ihrer mathematischen Methodik, nicht zu entbehren. Auch jetzt noch sei das, worauf es für die Erziehung ankomme, etwas anderes: die Bildung des sensus communis ( ... ) Die Erziehung könne nicht den Weg der kritischen Forschung gehen.« WM,18. WM,20f. Vgl. unten 1.1.3. Arendt, H.: Das Urteilen - Texte zu Kants Politischer Philosophie. München - Zürich, 1985. WM,3lf. Kant, 1.: Kritik der Urteilskraft. Frankfurt/Main, 1974. Im folgenden gebrauche ich bei Hinweisen auf diese Ausgabe die Abkürzung »KU«. KU, B XXVI. WM,40. WM,41. WM,42. WM,46. KU § 33, B 141. KU § 45, B 181. Der von Kant erwähnte französische Kunsttheoretiker Batteux hatte die Gemeinsamkeit aller Künste als Nachahmung der schönen Natur bestimmt und damit ein das 18.Jahrhundert prägendes Prinzip fonnuliert. Vgl. Preisendanz, W.: Mimesis und Poiesis in der deutschen Dichtungstheorie des 18.Jahrhunderts. In: W. Rasch (Hg.): Rezeption und Produktion zwischen 1570 und 1730 (Festschrift G. Weydt). Bern - München, 1972,537-552. Der Begriff des Wahrscheinlichen ist in der poetologischen Diskussion des 18. Jahrhunderts von außerordentlich großer Bedeutung und fungiert als Gegenbegriff zum Begriff des Wunderbaren, über den eine Lösung künstlerischer Imagination von den Nonnen des Verstandes angestrebt wird. KU § 49, B 193f. Kant erläutert seinen Begriff der ästhetischen Idee in Anschluß an den zitierten Passus genauer: »( ... ) die ästhetische Idee ist eine einern gegebenen Begriffe beigesellte Vorstellung der Einbildungskraft, welche mit einer solchen Mannigfaltigkeit der Teilvorstellungen in dem freien Gebrauche derselben verbunden ist, daß für sie kein Ausdruck, der einen bestimmten Begriff bezeichnet, gefunden werden kann, der also zu einern Begriffe viel Unnennbares hinzu denken läßt, dessen Gefühl die Erkenptnisvennögen belebt und mit der Sprache, als bloßem Buchstaben, Geist verbindet.«
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§ 49, B 197. Kant, 1.: Kritik der reinen Vernunft. 2 Bde. Frankfurt/ Main, 1977, A 51, B 76f. KU,B 194. WM,49. KU 49, B 194. Vgl. zur Bedeutung der Konzeption der ästhetischen Idee: Scheer, B.: Zur Begründung von Kants Ästhetik und ihrem Korrektiv in der ästhetischen Idee. Frankfurt/Main, 1971 und Lüthe, R.: Kants Lehre von den ästhetischen Ideen. In: Kant-Studien 75 (1984), 65-74. Kleist, H.v.: Michael Kohlhaas. In: ders.: Werke in einem Band. München, 1978,587 - 657. Vgl. auch die Kritik G. Kohlers in: Kohler, G.: Geschmacksurteil und ästhetische Erfahrung. Berlin - New York, 1980,369-372. Hierauf weist B. Scheer am Ende ihres Aufsatzes nachdrücklich hin. Vgl. Scheer, B. (1971), 25. In diesem Sinn meldet auch Grondin, J.: Hermeneutische Wahrheit? Königstein, 1982, 110 Zweifel an der Stichhaltigkeit der Gadamerschen These an. Tatsächlich wird das Wohlgefallen wohl eher selten ausgesprochen werden; an die Stelle von Worten treten Taten: ich ziehe den Pullover häufig an. Schiller, F.: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Schillers Werke - Nationalausgabe Bd. XXII. Weimar, 1962,309-412. Als Kontrastfolie zu Schillers utopischem Entwurf ist die Erfahrung der Französischen Revolution zu beachten, die den Ausgangspunkt der Briefe bildet. Vgl. Bolten, J. (Hg.): Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung. Frankfurt/Main, 1984. Schiller, F.: a.a.O., 312. »Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwicklung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, ist der Antagonismus derselben in der Gesellschaft, so fern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung derselben wird (...)« Kant, 1.: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. In: ders.: Schriften zur Anthropologie, Geschichte, Politik und Pädagogik I. Frankfurt! Main, 1977,37. WM,81. Institutionen, die kulturell wertvolle Objekte aufbewahren und ausstellen, gab es natürlich bereits lange vor dem Ende des 18. Jahrhunderts. Aber das Museum erlebt nun einen ungeheuren Boom. Es werden nicht nur die wichtigsten europäischen Museen gegründet oder der Allgemeinheit zugänglich gemacht (British Museum, Musee du Louvre), sondern eine Vielzahl kleinerer Museen nimmt den Betrieb auf. Vgl. hierzu; Plagemann, V.: Das deutsche Kunstmuseum 1790-1870. München, 1967. Für diesen Vorgang ist die Säkularisierung des Kirchenbesitzes durch den Reichsdeputationshauptschluß von 1803 von entscheidender Bedeutung. Vgl. Bracken, C.P.: Antikenjagd in Griechenland. 1800-1830. München, 1977. WM,83.
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Anmerkungen Die Verbürgerlichung des Kunstbetriebs und die ökonomischen Produktionsbedingungen eines Komponisten am Ende des 18. Jahrhunderts werden am Beispiel Mozarts ausführlich dargestellt in: Braunbehrens, V.: Mozart in Wien. München-Zürich, 1986. Braunbehrens widerlegt eine ganze Reihe von Legenden über Arbeits-und Einkommensverhältnisse Mozarts. Bezüglich der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konstatiert R.Wittmann, daß der »hohe Grad von Kommerzialisierung des literarischen Lebens der Gründerjahre (... ) von der Wissenschaft bislang unterschätzt worden (... )« ist. Wittmann, R.: Buchmarkt und Lektüre im 18. und 19. Jahrhundert. Tübingen, 1982, 161. Es ist bemerkenswert, daß viele Autoren überhaupt nur dank ihrer Einkünfte aus anderen Berufen (Beamter, Journalist) überleben konnten. Vgl. Faulstich, W.: Literatur als Ware. In: Propyläen Geschichte der Literatur. Bd.V. Berlin, 1984, 582-603 und Werner, M.: Genius und GeldsackZum Problem des Schriftstellerberufs bei Heinrich Heine. Hamburg, 1978. »Die Musen bekamen strenge Weisung, sich hinfüro nicht mehr müßig und leichtfertig umherzutreiben, sondern in vaterländischen Dienst zu treten, etwa als Marketenderinnen der Freiheit oder als Wäscherinnen der christlich-germanischen Nationalität« H. Heine zitiert nach Preisendanz, W.: Heine, Saint-Simonismus und Kunstautonomie. In: H. Pfeiffer (Hg.): Art social und art industrie!. München, 1987, 153-169; hier: 166. Zu dem vielschichtigen und in sich widersprucl1svollen Phänomen des Ästhetizismus vg!.: Wuthenow, R.-R.: Muse, Maske, Meduse - Europäischer Ästhetizismus. Frankfurt! Main, 1978. Huysmans, J.-K.: A rebours. Paris, 1884. Hofmannsthal, H.v.: Der Thor und der Tod. München, 1894. »L'heure qui sonne est serieuse: l'education se fait dans le peuple ( ...) Que les masses lisent la morale, mais de gräce ne leur donnez pas notre poesie a gäter. 0 poetes, vous avez toujours ete orgueilleux; soyez plus, devenez dedaigneux.« Mallarme, S.: Heresies artistiques - L'art pour tous. In: Oeuvres completes. Paris, 1974,260. Vg!. die differenzierenden Ausführungen von W. Preisendanz (1987), die auch auf die Entstehung der Formel »l'art pour l'art« verweisen. Deutlich wird die mögliche Rückwirkung autonomer Kunst unter anderem an den zahlreichen Prozessen und Skandalen der Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts, die keineswegs nur von >engagierten< Künstlern ausgelöst wurden. WM, 84-96: »Kritik der Abstraktion des ästhetischen Bewußtseins«. WM, 56-66. Vg!. auch den Artikel »Erleben, Erlebnis« in: HWbPh 11, 707-711. Goethe hat selbst von der Verflechtung seiner literarischen Produktion mit seiner Lebenserfahrung gesprochen, eine Auffassung seiner Werke als symbolischer Darstellung von Erlebnissen unterstützt und einprägsame Topoi geliefert, mit denen seine Texte scheinbar angemessen interpretiert werden können: »Auch wegen anderer dunkler Stellen in früheren und späteren Gedichten möchte ich folgendes zu bedenken geben: Da sich gar manches unserer Erfahrungen nicht rund aussprechen und direkt
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mitteilen läßt, so habe ich seit langem das Mittel gewählt, durch einander gegenübergestellte und sich gleichsam ineinander abspiegelnde Gebilde den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren. Da alles, was von mir mitgeteilt worden, auf Lebenserfahrung beruht, so darf ich wohl andeuten und hoffen, daß man meine Dichtungen auch wieder erleben wolle und werde.« Goethe, J.W.: Brief an Karl J.L. Iken vom 23. September 1827. In: Goethe, J.W.: Gedenkausgabe Bd. 21. Zürich-Stuttgart, 1965,762. V gl. auch die bekannte Äußerung, die· die publizierten Schriften als »Bruchstücke einer großen Konfession« bezeichnet. Goethe, J.W.: Dichtung und Wahrheit. Gedenkausgabe Bd. 10. ZürichStuttgart, 1962, 312. Diltheys Aufsatzsammlung »Das Erlebnis und die Dichtung« stand am Anfang dieser Richtung und wurde wegweisend. Vgl. WM, 54. Die Erlebnisästhetik hat seit der ersten Auflage von WM viel von ihrem Einfluß eingebüßt. In den gegenwärtigen Literaturwissenschaften haben Auffassungen, die der Erlebnisästhetik zuzurechnen sind, Seltenheitswert. Im Hinblick auf die Kunst der Modeme fallen die Schwächen dieses Zugangs, der die Gegenstände als Ausdruck von Erfahrungen des Künstlers begreift, sofort auf: angesichts eines abstrakten Gemäldes (B. Newman), einer seriellen Komposition (A. Berg) oder eines modemen Romans (C. Simon) versagen diese Kategorien. Das Verdienst von Gadamers Überlegungen liegt darin, die Begrenztheit der Erlebnisästhetik zu einer Zeit betont zu haben, in der diese noch einflußreich war. WM,72. Brief an F. Schiller vom 16. August 1797. In: Goethe, J.W.: Gedenkausgabe Bd. 20. Zürich-Stuttgart, 1964, 395. A.a.O., 396. Vgl. hierzu die eingehende Interpretation in Schlaffer, H.: Faust Zweiter Teil- Die Allegorie des 19. Jahrhunderts. Stuttgart, 1981, 13-28. Brief an F. Schiller vom 24. August 1797. In: Goethe, J.W.: Gedenkausgabe Bd. 20. Zürich-Stuttgart, 1964,405. Vgl. Soerensen, B.A.: Symbol und Symbolismus in den ästhetischen Theorien des 18.Jahrhunderts und der deutschen Romantik. Kopenhagen, 1963,86-132. WM,75. Vgl. Henkel, A. und Schöne, A.: Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des 16. und 17. Jahrhunderts. Stuttgart, 1976. WM,73. Auf den ersten Blick mag es abwegig erscheinen zu behaupten, ein kulturspezifisches Wissen sei erforderlich, um einen Gegenstand als schöne Frau oder Darstellung einer schönen Frau zu klassifizieren. Die Konfrontation mit fremden Kulturen oder bestimmten vergangenen Schönheitsidealen beweist, daß der erste Blick hier irrt. V gl. in diesem Zusammenhang die Widerlegung des Dogmas von der reinen Wahrnehmung bei Gombrich, E.H.: Art and lliusion. Oxford, 1983. In anderem Zusammenhang gebraucht H. Schlaffer tatsächlich das Oxymoron »symbolische Allegorie«. Mir scheint ein solcher Sprachgebrauch nicht sinnvoll, da er bestehende Begriffsverwirrungen kaum abbaut. V gl.
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Anmerkungen H. Schlaffer (1981),169. Mit Hilfe der Terminologie N. Goodmans kann man das Symbol versuchsweise dadurch von der Allegorie unterscheiden, daß man auf die dominante Funktion der Exemplifikation bei symbolisierenden Darstellungen hinweist. Vgl. Goodman, N.: Languages of Art. Indianapolis, 1976,52-67. WM,67. WM, 73 und 146. Vgl. H. Schlaffer (1981). Goethe, I.W.: Gespräch mit Eckermann (20.12.1829). Zitiert nach Gedenkausgabe Bd. 5, Zürich-Stuttgart, 1962,657. A.a.O., 645. WM,97-161. Vgl. beispielsweise Bodammer, T.: Philosophie der Geisteswissenschaften. Freiburg - München, 1987, 11. WM,100. Vgl. I. Grondin (1982), 103ff. Grondin hebt hervor, daß Gadamer nicht nur den Subjektivismus in der Ästhetik, sondern generell die »Herrschaft der Subjektivität« durchbrechen will. Warnke, G.: Gadamer: Hermeneutics, Tradition and Reason. Cambridge, 1987,48. WM,98. WM,98. WM, 99. (Zusatz in Klammern von mir) WM, 105-115. WM, 106. (Zusatz in Klammern von mir) Die Berechtigung produktionsästhetischer Überlegungen macht auch Wittgenstein in seiner Vorlesung und den Bemerkungen zur Ästhetik deutlich. Vgl. Wittgenstein, L.: Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychologie und Religion. Göttingen, 1968. WM, 108. Bei der herangezogenen Arbeit handelt es sich um Koller, H.: Die Mimesis in der Antike. Nachahmung, Darstellung, Ausdruck. Bern, 1954. Platon selbst ist diese Verbindung der Darstellungsleistung des Kunstwerks und der Anamnesis fremd. Gadamer modifiziert in einer eleganten Wendung die Struktur der platonischen Anamnesis. Die Wiedererinnerung ist nicht auf transzendente Ideen gerichtet, die als Urbilder der vergänglichen Dinge verstanden werden können. An die Stelle der Ideen tritt das Kunstwerk. Durch die Betrachtung des Kunstwerks erkennt der Betrachter die Wirklichkeit: »( ... ) die sogenannte Wirklichkeit (bestimmt sich) als das Unverwandelte und die Kunst als die Aufhebung dieser Wirklichkeit in ihre Wahrheit (... )« - »Das >Bekannte< kommt erst in sein wahres Sein und zeigt sich als das, was es ist, durch seine Wiedererkennung. Als Wiedererkanntes ist es das in seinem Wesen Festgehaltene, aus der Zufälligkeit seiner Aspekte Gelöste.« WM, 108 und 109 (Zusatz in Klammern von mir) WM,109. WM,lllf. WM,112. Zu den reproduzierenden Künsten zählen Theater, Musik, Ballett und
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zum öffentlichen Vortrag bestimmte Dichtung. Die auf Aufführungen angewiesenen Künste haben eine komplexere Struktur als nicht-reproduktive Künste (Literatur, Malerei, Skulptur, Architektur). Schematisch kann man dies leicht veranschaulichen: Nicht-reproduktive Künste (Beispiel Literatur): 1. Produzent: Autor 2. Produkt: Text 3. Rezipient: Leser Reproduktive Künste (Beispiel Drama): 1. Produzent 1: Autor + Produzent 2: Schauspieler 2. Produkt 1: Dramentext + Produkt 2: Aufführung 3. Rezipient 1: Leser + Rezipient 2: Zuschauer WM,105. WM,114. WM,113. Weinsheimer verkürzt an diesem Punkt die Ausführungen von WM entscheidend. Er versucht, die Frage nach der Angemessenheit von Interpretationen und Aufführungen durch den Verweis auf den Geschmack als relevantes Beurteilungskriterium zu beantworten: »Whether an interpretation is true is a matter of taste.« (Weinsheimer, J.C.: Gadamer's Hermeneutics. New Haven - London, 1985, 111). Diese Antwort ist mit Gadamers Konzeption nicht zu vereinbaren. Durch die Herrschaft des ästhetischen Bewußtseins wird aus dem Geschmack als allgemein verbindlichem Beurteilungsvermögen ein Aggregat idiosynkratischer Präferenzen. Als solches kann der Geschmack in Gadamers Augen aber keinesfalls über die Angemessenheit von Interpretationen und Aufführungen urteilen. WM,122. Die Schwierigkeiten einer klaren Bestimmung des Tragischen und der Tragödie führt K.L. Pfeiffer ausführlich vor. Vgl. Pfeiffer, K.L.: Tragik und Tragödie: Zur Tragikomödie eines Begriffsschicksals. In: C. Wagenknecht (Hg.): Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Stuttgart, 1989, 363-372. Die Unmöglichkeit einer allgemeingültigen und gehaltvollen Ganungsdefinition der Tragödie verdeutlicht eine Arbeit, die den verschlungenen Wegen der Rezeption und Transformation des antiken Tragödienkonzepts am Beispiel eines zeitgenössischen Aktionskünstlers nachgeht: Stärk, E.: Hermann Nitschs >Orgien Mysterien Theater< und die »Hysterie der Griechen«. München, 1987. WM,123. Ich sehe von einer Diskussion dieser Behauptung ab. Angesichts einzelner Schauspiele - beispielsweise der von Stärk untersuchten - scheint diese These durchaus fragwürdig zu sein. Aristoteles: Poetik. Übersetzt von M. Fuhrmann. München, 1976,50. »Nun kann das Schauderhafte (... ) und das Jammervolle (... ) durch die Inszenierung, es kann aber auch durch die Zusammenfügung der Geschehnisse (...) selbst bedingt sein, was das Bessere ist und den besseren Dichter zeigt. Denn die Handlung (... ) muß so zusammengefügt sein, daß jemand, der nur hört und nicht auch sieht, wie die Geschehnisse sich vollziehen, bei den Vorfällen Schaudern und Jammer empfindet. So ergeht es jemandem, der die Geschichte (... ) von Ödipus hört. Diese Wirkung durch die Inszenierung herbeizuführen, liegt eher außerhalb der
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Kunst und ist eine Frage des Aufwandes.« Aristoteles (1976), 69. Weinsheirner (1985) übersieht in seiner paraphrasierenden Darlegung diese Differenz zwischen Aristoteles und Gadamer. Vgl. a.a.O., 116. Schadewaldt, W.: Furcht und Mitleid? Zur Deutung des Aristotelischen Tragödiensatzes. In: ders.: Hellas und Hesperien. Bd. I, Zürich - Stuttgart, 1970, 194-236.Gadamer erwähnt Schadewaldt lediglich in einer Anmerkung (WM, 124). In Anbetracht der Deutlichkeit und Schlüssigkeit der Ausführungen Schadewaldts berücksichtige ich seine Studie ausführlicher. »Was Aristoteles im Auge hat, wenn er in seiner Deutung der Wirkung der Tragödie das Wort cp6ßo~ (... ) gebraucht, ist (...) ein aufrührender Elementaraffekt (... ) von unmittelbarer Gewalt, hervorgerufen durch die Vorstellung der unmittelbar bevorstehenden Bedrohung durch ein schweres Leid oder die Vernichtung.« - »(... ) unser >Mitleid< (hat) mit dem 'EA.eo~ des Aristoteles (... ) weder in bezug auf die Wortstruktur (... ), noch viel weniger aber in bezug auf den Bedeutungsgehalt (... ) das Geringste zu tun (... ) >Mitleid< als Übersetzung des aristotelischen 'tA.eo~ ist deswegen im höchsten Grade irreführend, und es wäre wohl an der Zeit, dieses Wort aus unseren Wiedergaben des aristotelischen Tragödiensatzes ebenso wie aus unsern darauf gerichteten Gedanken verschwinden zu lassen.« Schadewaldt, W.: a.a.O., 197 und 200. A.a.O., 223f. WM,124. WM, 125. Bedauerlicherweise nimmt Gadamer nicht ausdrücklich zu der Hegeischen Tragödienkonzeption Stellung. Insbesondere seine Rede von einer Affirmation bei der näheren Charakterisierung der Katharsis drängt einen Vergleich mit der Deutung Hegels auf, in dessen Ästhetik-Vorlesungen der Ausgang der Tragödie wie folgt kommentiert wird: »Über der bloßen Furcht und tragischen Sympathie steht (.. ) das Gefühl der Versöhnung, das die Tragödie durch den Anblick der ewigen Gerechtigkeit gewährt, welche in ihrem absoluten Walten durch die relative Berechtigung einseitiger Zwecke und Leidenschaften hindurchgreift, weil sie nicht dulden kann, daß der Konflikt und Widerspruch der ihrem Begriffe nach einigen sittlichen Mächte in der wahrhaften Wirklichkeit sich siegreich durchsetze und Bestand erhalte.« Hegel, G.W.F.: Vorlesungen über die Ästhetik. Bd. III. Frankfurt/Main, 1970,526. Hegel hat als Paradigma der Tragödie die »Antigone« des Sophokles vor Augen. Im Hinblick auf die in diesem Drama als Aufhebung einseitiger Ansprüche vollzogene Versöhnung sagt Hegel: »Von allem Herrlichen der alten und modemen Welt - ich kenne so ziemlich alles, und man soll es und kann es kennen - erscheint mir (... ) die Antigone als das vortrefflichste, befriedigendste Kunstwerk.« A.a.O., 550. Die spekulative Interpretation der Tragödie durch Hegel bildet einen Gegenpol zu der Deutung der Katharsis, die Schadewaldt vorschlägt. Gadamer scheint auch hier eine Zwischenstellung einzunehmen: Er depotenziert die Hegelsche Versöhnung durch Verzicht auf eine sich in der Tragödie manifestierende »ewige Gerechtigkeit« zu einer Affirmation, hält aber gegenüber Schadewaldts Ansatz an einer ideellen Bestimmung
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der Katharsis fest. . Die Ausführungen in WM geben keinen Aufschluß darüber, wieviel Hegel in Gadamers Affirmation steckt und in welchem Ausmaß Gadamer sich etwa an die mit Hegels Philosophie der Tragödie nicht zu vereinbarenden Positionen Hölderlins oder Goethes anschließt. Vgl. die Darstellung der maßgeblichen Theorien des Tragischen in: Szondi, P.: Versuch über das Tragische. Frankfurt!Main, 1961,7-62. WM,126. WM,126. Vgl. Szondi, P. (1964), 65-70 und Schadewaldt, W.: Der »König Ödipus« des Sophokles in neuer Deutung. In: ders.: Hellas und Hesperien. Bd. I, Zürich - Stuttgart, 1970,466-476. WM,126. Identifikationsvenneidung muß nicht auf eine bewußte Einstellung des Zuschauers zurückzuführen sein, sie kann durch die Inszenierung angestrebt oder ungewollt vorbereitet werden. WM,126. WM,127. Vgl. Burke, P.: Städtische Kultur in Italien zwischen Hochrenaissance und Barock. Berlin, 1987, 133. Vgl. Trexler, R.C.: The Sacred Image. In: Studies in the Renaissance 19 (1972),7 - 41; Edgerton, S.Y.: Pictures and Punishment. Ithaca, 1985, 47 - 58; Brückner, W.: Das Bildnis in rechtlichen Zwangsmitteln - Zum Magieproblem der Schandgemälde. In: Festschrift H. Keller. Hg.v. H.M.v. Effra. Darmstadt, 1963, 111-129. WM,143. WM,129. WM,135. WM,136. »( ... ) ein Zeichen ist nichts anderes, als was seine Funktion fordert; und die ist, von sich wegzuverweisen.« WM, 145. WM, 145f. WM,146f. Symbole »( ...) sind bloße Stellvertreter (... ) Sie sind Repräsentanten und empfangen ihre repräsentative Seinsfunktion von dem her, was sie repräsentieren sollen.« WM, 147. An dieser Stelle ist Gadamers Desinteresse an einer einigennaßen kohärenten Tenninologie verblüffend. Die hier gegebenen Bestimmungen des Symbolbegriffs lassen sich mit der oben behandelten Auseinandersetzung mit den Begriffen der Allegorie und des Symbols nicht in Einklang bringen. Die von Gadamer vorgeschlagenen Unterscheidungen sind undeutlich. Ob eine Götterstatue, ein Altarbild oder ein Gegenstand wie das Kreuz in Gadamers Sinn als Bild, Symbol, bildhaftes Symbol oder symbolhaftes Bild zu gelten hat, geht aus seinen Ausführungen nicht hervor. WM, 147. (Zusatz in Klammem von mir) WM, 137-152: »Der ontologische Grund des Okkasionellen und des Dekorativen« WM,152. Unter dem Stichwort »Henneneutik« geben die folgenden Nachschlage-
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Anmerkungen werke instruktive Überblicke: EPhW II, 85-90; HWbPh III, 1061-1073; RGG III, 242-262; TRE XV, 108-156. Vgl. Dilthey, W.: Die Entstehung der Hermeneutik. In: ders.: Gesammelte Schriften V. Stuttgart-Göttingen, 1968,317-331. Auf Seite 326 spricht Dilthey von den »Fortschritten« der grammatisch historischen Hermeneutik und der »Befreiung der Auslegung vom Dogma«. Im folgenden verwende ich bei Hinweisen auf die Edition der Gesammelten Schriften Diltheys die Abkürzung »GS«. WM,166. WM,168. WM, 165. (Zusatz in Klammem von mir) Vgl. die Artikel »Allegorese« in: EPhW I, 86f. und Lexikon des Mittelalters I, 420-427. Ausführlichere Darstellungen der mittelalterlichen Allegorese bei Brinkmann, H.: Mittelalterliche Hermeneutik. Tübingen, 1980 und Lubac, H. de: Exegese medievale. Les quatre sens de l'ecriture. 4 Bde. Paris, 1959-1964. Flacius IDyricus, M.: De ratione cognoscendi Sacras Literas. ( Teil 1-4 des >Clavis Scripturae Sacrae Tractatus<) Herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von L. Geldsetzer. Düsseldorf, 1968,35 und 39. Meier, G.F.: Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst. Nachdruck herausgegeben und eingeleitet von L. Geldsetzer. Düsseldorf, 1965,58. A.a.O., 58. »Die Ästhetik (... ) ist die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis.« »AESTHETICA (...) est scientia cognitionis sensitivae.« Baumgarten, A.G.: Theoretische Ästhetik. Hamburg, 1983, 2f. Vgl. zu Baumgartens Theorie: Franke,V.: Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des A.G.Baumgarten. Wiesbaden, 1972. Die Baumgartensehe »cognitio sensitiva« und Kants Bestimmungen erkenntnis vermittelnder ästhetischer Erfahrung weisen in zentralen Punkten Übereinstimmungen auf. Meier unterscheidet im einzelnen buchstäbliche, eigentliche und uneigentliehe sowie mittelbare und unmittelbare Bedeutung eines Texts. Vgl. Meier (1965), 63ff. Schleiermacher, F.D.E.: Hermeneutik und Kritik. Herausgegeben von M. Frank. Frankfurt/Main, 1977, 75. Im folgenden gebrauche ich bei Hinweisen auf diese Ausgabe die Abkürzung »HuK«. Vgl. in diesem Zusammenhang den Versuch M. Franks, die Sprachauffassung Schleiermachers gegen den Vorwurf des Subjektivismus zu verteidigen: Frank, M.: Schleiermachers hermeneutische Sprachtheorie und das Problem der Divination. In: R. Brinkmann (Hg.): Romantik in Deutschland. Stuttgart, 1978, 550-562. HuK, 79. (Gesamtes Zitat im Original kursiv) WM,184. WM,175. WM,184. GS XIV/2, 779. Vgl. auch die Charakterisierung Schleiermachers in »Die Entstehung der Hermeneutik« (GS V, 317-331). Vgl. Bormann, C.v.: Die Zweideutigkeit der hermeneutischen Erfahrung. In: K.-O. Apel u.a.: Hermeneutik und Ideologiekritik. FrankfurtlMain,
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1973,83-119 und Frank, M.: Einleitung zu HuK, 7-67. HuK,60. . A.a.O., 60. Aa.O., 61. (Zusätze in runden Klammem von mir) Aa.O., 78. (Zusatz in Klammem von mir) Nach Dilthey wurde durch Schleiermachers Platon-Ausgabe »( ... ) erst die Kenntnis der griechischen Philosophie möglich. Denn deren Mittelpunkt bildet Platon; dieser ist aber erst durch die Einsicht in die innere Form seiner Dialoge und ihren Zusammenhang untereinander zum Wiederverständnis gebracht worden (... )«. GS XIII/2, 37. Tennemann, W.G.: Grundriss der Geschichte der Philosophie für den akademischen Unterricht. Leipzig, 1829, 134. Ein hervorragendes Beispiel für den von Schleiermacher kritisierten Umgang mit Platon bietet der Artikel »Platonische Philosophie« in Zedlers Universal-Lexikon. Hier wird Platons Lehre in 134 Sätzen referiert. Vgl.: Zedler, J.H.: Grosses Vollständiges Universal-Lexikon. Leipzig Halle, 1732-1754 (Reprint: Graz, 1961), Bd. 28, 727-741. Schleiermacher, F.: Platons Werke 1.1. Berlin, 1804, 16. (Zusatz in Klammem von mir) Aa.O., 19f. Aa.O., 16. »Was aber die Begebenheiten seines Lebens betrifft, so scheinen gerade diejenigen genaueren Verhältnisse, aus deren Kenntnis sich noch vielleicht ein gründlicheres Verstehen manches Einzelnen in seinen Schriften entwickeln liesse, unserer Nachforschung für immer so weit entrükt zu sein, dass jede Vermuthung, die jemand darüber beibringen wollte, ein Wagestück wäre (...)« A.a.O., 4. Vgl. etwa die Rede von Platon als »philosophischem Künstler«. A.a.O., 6. Einen instruktiven Überblick über die Geschichte des Terminus >Geisteswissenschaft<, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allgemein gebräuchlich wurde, gibt E. Rothacker: Logik und Systematik der Geisteswissenschaften. München, 1965, 4ff. Vgl. auch den Artikel »Geisteswissenschaften« in: EPhW I, 724-728. Für eine Orientierung über den Begriff der Geschichte und der Geschichtswissenschaft ist der Artikel »Geschichte, Historie« in: O. Brunner u.a. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 2. Stuttgart, 1975, 593-717 grundlegend. Einen gerafften Überblick gibt der Artikel »Geschichte« in: EPhW I, 750-752. Für die Beschäftigung mit dem Historismus und der »historischen Schule« ist eine Arbeit J.Rüsens hilfreich: Rüsen, J.: Von der Aufklärung zum Historismus - Idealtypische Perspektiven eines Strukturwandels. In: H.W. Blanke (Hg.): Von der Aufklärung zum Historismus. PaderbomMünchen- Wien-Zürich, 1984, 15-57. Droysen, J.G.: Historik. Herausgegeben von R. Hübner. Darmstadt, 1960, 17f. Exemplarisch hierfür ist die berühmte Aussage Rankes: »Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen: so hoher Ämter unterwendet
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sich gegenwärtiger Versuch nicht: Er will bloß zeigen, wie es eigentlich gewesen.« Ranke, L.v.: Geschichten der romanischen und germanischen Völker 1494 bis 1515. Sämtliche Werke Bd. 33. Leipzig, 1874, VII. Als Beispiele seien lediglich die Aristoteles-Ausgabe Bekkers, das »Corpus Inscriptorum Graecorum« und die »Monumenta Germaniae Historica« genannt. »In the study of the dead languages in general, but more particularly of the Greek and Latin, the Germans have taken the lead, not only of us, but of all the rest of Europe, and have gained such a decided ascendancy, that their neighbours appear to have given up all hope of rivalling them, and are satisfied to follow as mere servile imitators of their triumphant career.« Rezension altphilologischer Handbücher in: The Quarterly Review 51 (1834), 144-177. Zitiert nach: Petitmengin, P.: Deux tetes de pont de la philologie allemande en France: le Thesaurus Linguae Graecae et la >Bibliotheque des auteurs grecs<(1830-1867). In: M. Bollack u.a.(Hg.): Philologie und Hermeneutik im 19. Iahrhundert. Bd. 11. Göttingen, 1983, 76-98; hier: 76. Eine Äußerung Droysens dokumentiert das Bewußtsein dieses Zustands eindringlich: »Es ist uns Deutschen nicht zu helfen, so lange wir nicht wissen, was wir haben und verloren haben; (... ) wir leben als gäbe es keine Vergangenheit, (... ) als fingen wir jeden Augenblick von neuem und von vom an, als wären alle Wurzelfasern unseres geschichtlichen Daseins durchschnitten ( ...)«
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Droysen, I.G.: Briefwechsel Bd. 1. Herausgegeben von R. Hübner. Osnabrück, 1967,278. Schnädelbach, H.: Philosophie in Deutschland 1831- 1933. Frankfurt! Main, 1983,49. Vgl. Mac1ean, I.M.: Iohann Gustav Droysen and the Development of Historical Hermeneutics. In: History and Theory 21 (1982),347-365. Mac1ean stellt die Heterogenität der Positionen heraus, die durch dem Historismus zugeordnete Historiker vertreten werden. Dabei wird insbesondere der Gegensatz von ästhetizistisch-kontemplativer Historie bei Ranke und >engagierter< Geschichtsbetrachtung bei Droysen deutlich bestimmt: »( ... ) what has not been sufficiently explored by previous scholars is the depth of the methodological antagonism between the two historians (generated ultimately by their political differences) and the role of that antagonism in the formulation of Droysen's hermeneutics (... )« A.a.O., 351. I.G. Droysen (1960). Artikel »Historik« in: EPhW 11, 112f. WM,205. Divergenzen werden allgemein erkannt und anerkannt. Vgl. Mac1ean (1982) sowie: Rüsen, I.: Iohann Gustav Droysen. In: H.-U. Wehler (Hg.): Deutsche Historiker 11 Göttingen, 1971,7-23 und Berding, H.: Leopold von Ranke. In: H.-U. Wehler (Hg.): Deutsche Historiker 1 Göttingen 1971,7-24. I.G. Droysen (1960), 174.
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Aa.O.,185. Aa.O., 338. WM,205. I.G. Droysen (1960),180-187 und 202-264. Ein prägnantes Beispiel solcher Interpretation gibt Droysen a.a.O., 183. Die Analyse und Legitimierung der perspektivischen Brechung historischer Darstellungen geht zurück auf I.M. Chladenius: Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und SchrifteIl. Leipzig, 1742 (Reprint: Düsseldorf, 1969). Vgl. hierzu den Artikel »Geschichte, Historie« in: O. Brunner (1975), 696-698. I.G. Droysen (1960), 287. Aa.O., 275. A.a.O., 328. Vgl. I. Rüsen: Begriffene Geschichte - Genesis und Begründung der Geschichtstheorie I.G. Droysens. Paderborn, 1969, 110. I. Rüsen (1969), 149. HeImholtz, H.v.: Ueber das Verhältniss der Naturwissenschaften zur Gesammtheit der Wissenschaft. In: ders.: Abhandlungen zu Philosophie und Naturwissenschaft. Darmstadt, 1966,7-35. »Wer soll noch das Ganze übersehen, wer die Fäden des Zusammenhanges in der Hand behalten und sich zurecht fmden?« A.a.O., 12. A.a.O.,21. A.a.O., 22. Windelband, W.: Geschichte und Naturwissenschaft. In: ders.: Präludien 11. Tübingen, 1919, 136-160. Aa.O., 145. Aa.O., 151. Aa.O., 150. Aa.O., 146. A.a.O., 150. Vgl. den allgemeinen Überblick über Diltheys Werk in: RiedeI, M: Einleitung zu W. Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt/Main, 1970, 9-80 und Ermarth, M.: Wilhelm Dilthey: The Critique of Historical Reason. Chicago - London, 1978. GS V, 256ff. A.a.O., 260f. »Hier erst erreichen wir ein ganz klares Merkmal, durch welches die Abgrenzung der Geisteswissenschaften definitiv vollzogen werden kann. Eine Wissenschaft gehört nur dann den Geisteswissenschaften an, wenn ihr Gegenstand uns durch das Verhalten zugänglich wird, das im Zusammenhang von Leben, Ausdruck und Verstehen fundiert ist (...) Alle leitenden Begriffe, mit welchen diese Gruppe von Wissenschaften operiert, sind von den entsprechenden im Gebiete des Naturwissens verschieden. « Aa.O., 87. (Unwesentliche Veränderung der Schreibweise durch mich) WM,21O. Aa.O., 210. GS V, 277f.
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Anmerkungen GS VII, 85. (Zusatz in Klammem von mir). »Erfassen wir die Summe aller Leistungen des Verstehens, so tut sich in ihm gegenüber der Subjektivität des Erlebnisses die Objektivierung des Lebens auf... « GS VII, 146. Vgl. Schnädelbach, H. (1983), 157ff. und Riedei, M.: Diltheys Kritik der begründenden Vernunft. In: W.Orth (Hg.): Dilthey und die Philosophie der Gegenwart. Freiburg, 1985, 185-210. Wenn von einer »hermeneutischen Wende« Diltheys gesprochen wird, so sollte diese Formel lediglich als Hinweis auf eine Akzentverschiebung im Denken Diltheys aufgefaßt werden. Die Vorstellung, daß beim späten Dilthey psychologische Überlegungen keine Rolle mehr spielten, wäre unangemessen. GS VII, 199ff. A.a.O., 246ff. GS V, 317-331. A.a.O., 317. A.a.O., 318. »Will ich (...) Lionardo verstehen, so wirkt hierbei die Interpretation von Handlungen, Gemälden, Bildern und Schriftwerken zusammen (...)« A.a.O., 319. Vgl. hierzu: GS VII, 205-220. A.a.O., 276. Vgl. hierzu unten 11.2.5. GS V, 274f. WM,217. WM,217. Gadamer, H.-G.: Wilhelrn Dilthey nach 150 Jahren (Zwischen Romantik und Positivismus. Ein Diskussionsbeitrag). In: W. Orth (1985), 157-182. A.a.O., 174. »Zwar verkannte Dilthey die Bedeutung nicht, die die individuelle und allgemeine Lebenserfahrung für die geisteswissenschaftliche Erkenntnis besitzen - aber beides wird bei ihm lediglich privativ bestimmt. Es ist unmethodische und der Verifizierbarkeit ermangelnde Induktion, die auf die methodische Induktion der Wissenschaft schon hinweist. (... ) Der Zwiespalt, an dem er sich abmüht, macht uns deutlich, welcher Zwang von dem Methodendenken der modemen Wissenschaft ausgeht und daß es darauf ankommen muß, die in den Geisteswissenschaften getätigte Erfahrung und die in ihnen erreichbare Objektivität angemessener zu beschreiben.« WM, 228. »His (i.e. Dilthey's) problem is that viewing the human sciences as a continuation or refmement of the self-understanding developed in experience leaves them prey to the same self-deceptions to which ordinary life is subject. Gadamer does not seem to think this situation is as problematic as Dilthey does, but the question is why not?« Warnke, G.: Gadamer - Hermeneutics, Tradition and Reason. Cambridge, 1987,34. (Zusatz in Klammem von mir) »Vor dem Hintergrund einer solchen existenzialen Analyse des Daseins mit all ihren weitreichenden und unausgemessenen Konsequenzen für das Anliegen der allgemeinen Metaphysik nimmt sich der Problemkreis
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der geisteswissenschaftlichen Hermeneu.tik plötzlich sehr anders aus. Der Herausarbeitung dieses neuen Aspekts des hermeneutischen Problems ist die vorliegende Arbeit gewidmet.« WM,245. »Sein und Zeit müssen wir anders, als es im allgemeinen geschieht als eine sehr schnell zusammenmontierte Publikation ansehen, in der HEIDEGGER gegen seine tiefsten Intentionen sich noch einmal der transzendentalen Selbstauffassung HUSSERLS angepaßt hat. Nicht aus äußerlicher Berechnung, um mit dem »Alten« (so pflegte er von ihm zu reden) nicht in Konflikt zu geraten. Vielmehr war anderes in HEIDEGGER noch nicht gereift (...)« Gadamer, H.-G.: Erinnerungen an Heideggers Anfange. In: Dilthey-Jahrbuch 4 (1986/87), 13-26; hier: 16. Gadamer betont immer wieder die Faszination, die vom mündlichen Unterricht Heideggers ausging, und stellt nicht einzelne Texte Heideggers als Bezugspunkte heraus, sondern die Studienzeit und spätere Begegnungen. Da uns diese Bezugspunkte fehlen, scheint es am sinnvollsten zu sein, auf den Text Heideggers zu rekurrieren, der der Sache nach die Probleme der Hermeneutik weiterentwickelt. Dieser Befund wird auch durch die gerade publizierten frühen Freiburger Vorlesungen Heideggers über die »Hermeneutik der Faktizität« gestützt. In diesen Vorlesungen, die im Sommersemester 1923 gehalten wurden, präsentiert Heidegger eine Daseinsanalyse, die wesentliche Elemente von »Sein und Zeit« enthält und die den Verstehensbegriff des drei Jahre später veröffentlichten Buchs vorbereitet hat. Der Text der Vorlesungen wurde als Band 63 der zweiten Abteilung der Heidegger-Gesamtausgabe herausgebracht: Heidegger, M.: Ontologie - (Hermeneutik der Faktizität). Frankfurt/ Main, 1988. Vgl. Jamme, C.: Heideggers frühe Begründung der Hermeneutik. In: Dilthey-Jahrbuch 4 (1986/87), 72-90. »In dieser Hermeneutik ist dann (... ) das verwurzelt, was nur abgeleiteterweise >Hermeneutik< genannt werden kann: die Methodologie der historischen Geisteswissenschaften.« Heidegger, M.: Sein und Zeit. Tübingen, 1972. § 7, 38. Heideggers Wissenschaftsskepsis drückt sich in dem bekannten Diktum aus »Die Wissenschaft denkt nicht«. Vgl.: Heidegger, M.: Was heißt denken? Tübingen, 1971,434. Für eine differenzierte Auseinandersetzung mit diesem Thema vgl.: Bast, R.A.: Der Wissenschaftsbegriff Martin Heideggers. Stuttgart - Bad Canstatt, 1986. »Hinter das Leben kann das Erkennen nicht zurückgehen.« GS vm, 180. Heidegger, M. (1972) § 31, 143. A.a.O., § 31, 144. A.a.O., § 31,145. Vgl. die Erklärung der Vor-Struktur durch die Einführung der Konzepte >Vorhabe<, >Vorsicht<, >Vorgriff< a.a.O., § 32, 150. A.a.O., § 31, 148. A.a.O., § 31, 142. In diesem Sinn stellt P. Ricoeur fest, daß Heidegger »( ... ) unserem Den-
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Anmerkungen ken eine neue Orientierung geben (wollte); er wollte uns dazu anleiten, die historische Erkenntnis dem ontologischen Verstehen unterzuordnen wie eine abgeleitete Form einer ursprünglichen. Aber er gibt uns nicht den geringsten konkreten Hinweis, in welchem Sinne das reine historische Verstehen von diesem ursprünglichen abgeleitet wird (...)« Ricoeur, P.: Hermeneutik und Strukturalismus. München, 1973, 19. (Zusatz in Klammem von mir) Vgl. den Artikel »Circulus vitiosus« in: HWbPh I, 1018f. Ast, F.: Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik. Landshut, 1808. A.a.O., 178ff. »(... ) so wird wohl niemand leugnen, daß wenn dergleichen Formeln nicht ein bloßes Spiel sind (... ) sie eben nur der verderblichen Nebelei und Schwebelei angehören können.« HuK,342. HuK,95. HuK, 95. (Zusatz in Klammem von mir) HuK,97. Vgl. Birus, H. (1982), 34f. Diesen irreführenden Eindruck erweckt W. Stegmüller in zwei Aufsätzen. Vgl. Stegmüller, W.: Der sogenannte Zirkel des Verstehens. In: K. Hübner (Hg.): Natur und Geschichte. Hamburg, 1973,21-46 und Stegmüller, W.: Walther von der Vogelweides Lied von der Traurnliebe und Quasar 3 C 273. In: ders.: Rationale Rekonstruktion von Wissenschaft und ihrem Wandel. Stuttgart, 1979,27-86. GS V, 330 und 334. A.a.O., 343f. und GS XI, 258. GS vm, 16Of. GS Vll, 152 und 262. GS vm, 179. Einen interessanten Fall des Scheiterns von Interpretationsbemühungen aufgrund divergierender historischer und kultureller Kontexte behandelt eine Erzählung von J.L. Borges. Vgl. Borges, J.L.: Averroes auf der Suche. In: ders.: Blaue Tiger und andere Geschichten. München, 1988, 174-183. »Alle Auslegung, die Verständnis beistellen soll, muß schon das Auszulegende verstanden haben (... ) Wenn aber Auslegung sich je schon im Verstandenen bewegen und aus ihm her sich nähren muß, wie soll sie dann wissenschaftliche Resultate zeitigen, ohne sich in einem Zirkel zu bewegen, zumal wenn das vorausgesetzte Verständnis überdies noch in der gemeinen Menschen- und Weltkenntnis sich bewegt? Der Zirkel aber ist nach den elementarsten Regeln der Logik circulus vitiosus. Damit aber bleibt das Geschäft der historischen Auslegung apriori aus dem Bezirk strenger Erkenntnis verbannt. Sofern man dieses Faktum des Zirkels im Verstehen nicht wegbringt, muß sich die Historie mit weniger strengen Erkenntnismöglichkeiten abfmden. Man erlaubt ihr, diesen Mangel durch die >geistige Bedeutung< ihrer >Gegenstände< einigermaßen zu ersetzen. Idealer wäie es freilich auch nach Meinung der Historiker selbst, wenn der Zirkel vermieden werden könnte und Hoffnung bestünde, einmal eine Historie zu schaffen, die vom Standort des Betrachters so unabhän-
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gig wäre wie venneintlich die Naturerke1lIltnis.« Heidegger, M. (1972), 152. A.a.O., 153. WM,251. WM,252. WM,253. WM, 253f. WM,260. WM,256-261. Der materialreiche Artikel »Aufklärung« in O.Brunner (1972), 243-342 führt zahlreiche Äußerungen an, die die Geschichte dieses Topos dokumentieren. Die generelle Abwertung der Aufklärung bei Gadarner hat C.v. Bonnann überzeugend kritisiert. Vgl. C.v. Bonnann (1973),83-119; hier: 88f. Einen philosophischen Begriff der Aufklärung, der sich als Alternative zu der aufklärungskritischen Position Gadarners empfiehlt, fonnuliert Mittelstraß, J.: Neuzeit und Aufklärung. Berlin/New York, 1970. Für eine knappe philosophiegeschichtliche Orientierung sind die Artikel »Aufklärung« in: EWPh I, 213-218 und HWbPh I, 620-635 nützlich. Bei den folgenden Ausführungen stütze ich mich auf die gründliche Arbeit von Schneiders, W.: Aufklärung und Vorurteilskritik - Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie. Stuttgart - Bad Cannstatt, 1983. Vgl. W. Schneiders (1983),208-231. Halle, 1752. Halle, 1766. Meier (1752), 274. (Unwesentliche Veränderung der Orthographie durch mich) Kant, I: Akademie-Ausgabe Bd. XXIV, 169. WM,257. WM,261. WM,255. Vgl. Davis, E.E.: Zum gegenwärtigen Stand der Vorurteilsforschung. In: W.v. Baeyer-Katte (Hg.): Politische Psychologie III - Vorurteile. Ihre Erforschung und Bekämpfung. Frankfurt, 1964; Karsten, A. (Hg.): Das Vorurteil. Ergebnisse psychologischer und sozialpsychologischer Forschung. Darmstadt, 1978; Horkheimer, M.: Über das Vorurteil. Köln/Opladen,1963; Allport, G.W.: Die Natur des Vorurteils. Köln, 1971. Tatsächlich bedienen sich Soziologen und Psychologen oft einer epidemiologischen Metaphorik zur Beschreibung der Wirkungsweise von Vorurteilen. Es ist die Rede von der» Vorurteilskrankheit«, in bezug auf den Antisemitismus wird vor einem erneuten »Auftreten einer Volksseuche« gewarnt. Die Aufgabe der Forschung wird häufig als Prophylaxe und Therapie bestimmt. Bereits die Aufklärung kennt diese Metaphorik: in dem Artikel >Prejuge< der >Encyclopedie< wird das Vorurteil als »maladie de l'entendement« (Krankheit des Verstandes) bezeichnet. Vgl.: Diderot, D. und d' Alembert, 1. (Hgs.): Encyclopedie, ou Dictionnaire raisonne des sciences, des arts et des metiers I-XXXV. Reprint: Stuttgart - Bad Cannstatt, 1966-1967, Bd. XXIII, S. 284f. Adorno, T.W.: The Authoritarian Personality. New York, 1950. Davis, E.E. (1964), 51-71; hier: 53.
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Anmerkungen Die Rehabilitierung des Vorurteils wurde scharf angegriffen. Insbesondere Habennas konnte als Vertreter der Kritischen Theorie zwar an die hermeneutische Kritik des szientistischen Objektivismus anknüpfen, die aufklärungskritische Wendung von der Epistemologie zur Ontologie konnte er aber nicht hinnehmen, Vgl. Habennas, J.: Ein Literaturbericht (1967): Zur Logik der Sozialwissenschaften. In: ders.: Zur Logik der Sozialwissenschaften. Frankfurt/ Main, 1982,89-330. Habennas, J.: Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik. In: R. Bubner (Hg.): Henneneutik und Dialektik I. Tübingen, 1970,73-103. Gute Darstellungen der Debatte zwischen Gadamer und Habennas geben P. Ricoeur und D. Misgeld. Vgl. Ricoeur, P.: Henneneutique et critique des ideologies. In: ders.: Du texte a I'action - Essais d'henneneutique 11. Paris, 1986,333-377. Misgeld, D.: Critical Theory and Henneneutics: The Debate between Habennas and Gadamer. In: J. O'Neill (Hg.): On Critical Theory. London, 1977, 164-183. Ein detailliertes Referat der verschiedenen Runden dieser Auseinandersetzung gibt Mendelson, J.: The Habennas-Gadamer Debate. In: New Gennan Critique 6 (1979), 44-73. Die Vernachlässigung des negativen Aspekts der Vorurteile ist die Schwäche einer Arbeit, die der Vorurteilsproblematik bei Gadamer nachgeht: Schmidt, L.K.: The Epistemology of Hans-Georg Gadamer - An Analysis of the Legitimazation of Vorurteile. Frankfurt- Bern - New York, 1985. Schmidts Versuch, das von Gadamer nicht gelöste Problem einer Unterscheidung legitimer und illegitimer Vorurteile zu ennöglichen, ist nicht überzeugend: »( ... ) the cognizer-interpreter legitimizes a Vorurteil when he experiences the einleuchtende Ansicht der Sache selbst. A Vorurteil, since expressing this Ansicht, is founded on the Sache selbst and thereby legitimized.« (A.a.O., 235). Da jeder Sprecher, der ein diskriminierendes Vorurteil äußert, sich auf seine Erfahrung der einleuchtenden Ansicht der Sache berufen kann, wird durch Schmidts Hinweis das Problem keineswegs gelöst. WM, 263. Auch an diesem Punkt scheint Gadamers Aufklärungskritik etwas zu stark fonnuliert zu sein. Vgl. Rabe, H.: Autorität - Elemente einer Begriffsgeschichte. Konstanz, 1972,22: Das Vertrauen »( ... ) gerade der deutschen Aufklärung auf die Kräfte der autonomen Vernunft (war) nicht so unbegrenzt, als daß sie Sinn und Notwendigkeit der Autorität schlechterdings in Abrede gestellt hätte (...) Die Breite der deutschen Aufklärung (... ) hielt vielmehr - bei aller Kritik an den überliefert!:n Autoritäten - das Vorhandensein von Autorität überhaupt für ein Grundelement des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens.« (Zusätze in Klammem von mir) Rabe stimmt insofern mit Gadamer überein, als er auf die einschneidende Bedeutung der Aufklärung für die Begriffsgeschichte von Autorität aufmerksam macht. Er stellt fest, daß der Autoritätsbegriff in der Aufklärung zum ersten Mal mit pejorativer Bedeutung gebraucht wird. WM, 263f. (Zusatz in Klammem von mir) Im Gegensatz hierzu sieht H. Arendt in der Pervertierung des politischen Autoritätsprinzips durch die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts das
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Symptom einer schweren und nicht zu. überwindenden Krise der Trias von Autorität, Tradition und Religion als Fundament der politischen Organisation der westlichen Gesellschaften. Vgl. Arendt, H.: Was ist Autorität? In: H. Arendt: Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart. FrankfurtJMain, 1957,117-168. Vgl. auch den Artikel >Autorität< in: HWbPh 1,724-733, der auf die Bedeutung des Autoritätsbegriffs für den Faschismus aufmerksam macht. Bochenski, J.M.: Autorität, Freiheit, Glaube. München/Wien, 1988. Aa.O., 20. A.a.0.,46. (Im Original kursiv) Aa.O., 50. (Im Original kursiv) WM,264. Vgl. Habermas,J.: Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik. In: R.Bubner u.a.(Hg.): Hermeneutik und Dialektik I. Tübingen, 1970, 73103 sowie Derksen, L.D.: On Universal Hermeneutics - A Study of the Philosophy of Hans-Georg Gadamer. Amsterdam, 1983,211-222 und G. Warnke (1987), 107-l38. »Veränderung von Bestehendem ist nicht minder eine Form des Anschlusses an die Tradition wie die Verteidigung von Bestehendem.« Gadamer, H.-G.: Replik. In: K.-O. Apel (1973), 203-317; hier: 307. »Selbst wo das Leben sich sturmgleich verändert, wie in revolutionären Zeiten, bewahrt sich im vermeintlichen Wandel aller Dinge weit mehr vom Alten, als irgendeiner weiß (... )« WM, 266. WM, 265f. WM,265. WM, 266. (Hervorhebung von mir) Ritter, J.: Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft. In: ders.: Subjektivität. Frankfurt/Main, 104 -140. Marquard, 0.: Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften. In: ders.: Apologie des Zufilligen. Stuttgart, 1986, 98-116. H. Lübbe verteidigt in verschiedenen Aufsätzen die gleiche Position. Vgl. Lübbe, H.: Geschichtsinteresse und Nationalkultur - Kulturelle und politische Funktionen der historischen Geisteswissenschaften. In: ders.: Wissenschaftspolitik: Planung, Politisierung, Relevanz. Zürich, 1977, 30-53; ders.: Erfahrungsverluste und Kompensationen. Zum philosophischen Problem der Erfahrung in der gegenwärtigen Welt. In: ders. (Hg.): Der Mensch als Orientierungswaise? Freiburg, 1982, 145-168; ders.: Der Fortschritt und das Museum - Über den Grund unseres Vergnügens an historischen Gegenständen. London, 1982; ders.: Die Wissenschaften und ihre kulturellen Folgen. Opladen, 1987. Marquard (1986),98. Aa.O., 104. Aa.O., 104. Aa.O., 104. Aa.O., 102f. Aa.O., 105. Vor allem H. Lübbe widmet diesen beiden Bereichen seine Aufmerksamkeit. Vgl. H. Lübbe: Der Fortschritt und das Museum. London, 1982. In diese Richtung zielt die Kritik von J. Mittelstraß, der der Kompensati-
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onstheorie vorhält, sie verdränge das Argumentative aus dem Bereich der Geisteswissenschaften. Vgl. Mittelstraß, J.: Wissenschaft als Kultur. In: Heidelberger Jahrbücher 30 (1986), 51-71; hier: 64f. und ders.: Geistes- und Sozialwissenschaften im System der Wissenschaft. In: Mitteilungen der TU Braunschweig, Jahrgang XXIII, Heft II/1988, 20-29. Vgl. Gabriel, G.: Fiktion und Wahrheit. Eine semantische Theorie der Literatur. Stuttgart - Bad Cannstatt, 1975. Diesen Punkt betont J. Mittelstraß in einer kritischen Anmerkung zur Kompensationstheorie, wenn er feststellt, daß es »( ... ) um mehr als um bloße geschichtliche Vergegenwärtigung gehen (... )« muß: »Die geisteswissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Vernunft sagt nicht nur, wie die Gesellschaft war, sondern auch, wie die modeme Gesellschaft ist - im Unterschied zur technischen Vernunft, die sagt, was eine modeme Gesellschaft kann. Ohne ein Bewußtsein davon, was sie sind, können modeme Gesellschaften gerade in ihrem eigentümlichen (technischen) Können orientierungslos werden.« Mittelstraß (1988), 28. Marquard (1986), 106. H. Lübbe wehrt die Vorstellung ab, das historische Interesse könne dadurch charakterisiert werden, daß wir für die eigene Praxis durch die Kenntnis der Vergangenheit etwas lernen: »Es ist also unangemessen, unser Interesse an historischen Gegenständen und damit die historischen Disziplinen, über die wir dieses Interesse kultivieren, als ein praktisches Erkenntnisinteresse interpretieren zu wollen.« H. Lübbe (1977), 51. Vgl. Grondin (1982), 143-149. WM, 284f.:«Wenn wir aus der (... ) historischen Distanz eine historische Erscheinung zu verstehen suchen, unterliegen wir immer bereits den Wirkungen der Wirkungsgeschichte. Sie bestimmt im voraus, was sich uns als fragwürdig und als Gegenstand der Erforschung zeigt, und wir vergessen gleichsam die Hälfte dessen, was wirklich ist, ja mehr noch: wir vergessen die ganze Wahrheit dieser Erscheinung, wenn wir die unmittelbare Erscheinung selber als die ganze Wahrheit nehmen. (... ) Der historische Objektivismus, indem er sich auf seine kritische Methodik beruft, verdeckt die wirkungsgeschichtliche Verflechtung, in der das historische Bewußtsein selber steht. Er entzieht zwar der Willkür (... ) durch die Methode seiner Kritik den Boden, aber er schafft sich selbst damit das gute Gewissen, die unwillkürlichen und nicht beliebigen, sondern alles tragenden Voraussetzungen, die sein eigenes Verstehen leiten, zu verleugnen und damit die Wahrheit zu verfehlen, die bei aller Endlichkeit unseres Verstehens erreichbar wäre.« Vgl. WM, 324-329 und die konzisen Ausführungen über das Verhältnis der philosophischen Henneneutik zu Hegel bei Schulz, W.: Anmerkungen zur Henneneutik Gadamers. In: Bubner (1970),305-316. WM,285. WM, 285f. WM, 261: »In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr.« WM,288.
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WM, 290. Vgl. hierzu Bubner (1972), 1~8 und Hogan, J.: Gadarner and the Hermeneutical Experience. In: Philosophy Today 20 (1976), 3-12; hier: 7. Die theoretische Formulierung des Konzepts >Erwartungshorizont< findet sich bei Jauß, H.R.: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. In: ders.: Literaturgeschichte als Provokation. FrankfurtlMain, 1970, 144-207. Grondin (1982), 146. Vgl. KS I, 160. WM,359. Lorenz, K. und Mittelstraß, J.: Die Hintergehbarkeit der Sprache. In: Kant Studien 58 (1967), 187-208; hier: 197. WM,426. W. Schulz in: Bubner (1970),311. (hn Original kursiv) Die Kritik der Hermeneutik arn Code-Modell der Sprache behandelt Frank, M.: Die Grenzen der Beherrschbarkeit der Sprache. In: P. Forget (Hg.): Text und Interpretation. München, 1984, 181-213. Auf die Triftigkeit dieser Vorwürfe gehe ich im einzelnen nicht ein. Zweifellos lassen sich in den Arbeiten kluger Linguisten Gegenargumente finden. So thematisiert beispielsweise die strukturelle Semantik E. Coserius ausdrücklich ihr Verhältnis zu den natürlichen Sprachen. Vgl. Coseriu, E.: Probleme der strukturellen Semantik. Tübingen, 1973, 38-41. WM, 450. (hn Original kursiv) Sicher spricht Gadamer auch von der Möglichkeit des Mißverständnisses und des Scheitems der Verständigung, aber dies scheinen doch eher Ausnahmeerscheinungen zu sein. hn folgenden Zitat kommt die kritisierte Ausblendung des Scheitems von Verständigungsbemühungen exemplarisch zum Ausdruck: »Die Sprache ist die Mitte, in der sich die Verständigung der Partner und das Einverständnis über die Sache vollzieht.« (WM, 361) Hinzuzufügen wäre, daß die Sprache der Ort ist, an dem gegenseitiges Unverständnis und Uneinigkeit über die Sache aufbrechen. WM, XXIII. Vgl. hierzu die Artikel »Erfahrung« in: EPhW I, 568-571 und HWbPh 11, 609-617. WM,329. WM,338. Bormann geht auf die Problematik des Rekurses auf den Hegeischen Erfahrungsbegriff in WM näher ein. Vgl. Bormann in Apel u.a. (1973), 99-101. Gadamer räumt angesichts dieser Kritik ein, daß seine »( ... ) Auseinandersetzung mit Hegel in >Wahrheit und Methode< sicherlich recht unbefriedigend ist.« Vgl. H.-G. Gadamer: Replik. In: K.-O. Apel u.a. (1973),311. WM,338. WM, 339f. Die Übereinstimmung dieser Ausführungen und der Bestimmung des Wesens der Tragödie ist offensichtlich: Die Tragödie zeigt nach Gadarner, was es heißt, Erfahrungen zu machen. Vgl. oben 1.2.3. WM,340. »Nur für den fragenden Menschen wird der Text zur Frage; er ist das nicht von sich aus.« Pannenberg, W.: Hermeneutik und Universalge-
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Anmerkungen schichte. In: ders.: Grundfragen systematischer Theologie. Göttingen, 1971,91-122; hier: 111. WM,343f. Collingwood, R.G.: An Autobiography. London, 1939. Collingwood, R.G.: Denken. Stuttgart, 1955, 37f. Gute Analysen des Collingwoodschen Ansatzes, die auch seine grundlegenden Schwächen untersuchen, geben Donagan, A.: The Later Philosophy of R.G. Collingwood. Oxford, 1962, 56-63 und Mink, L.O.: Mind, History and Dialectic - The Philosophy of R.G. Collingwood. Bloomington - London, 1969, 123-139. Als Entwürfe einer Logik von Frage und Antwort im eigentlichen Sinn können Arbeiten angeführt werden, die der Interrogativlogik zuzurechnen sind. Vgl. etwa Belnap, N.D. und Steel, T.B.: The Logic ofQuestions and Answers. New Haven - London, 1976 und Walther, J.: Logik der Fragen. Berlin-NewYork,1985. Vgl. hierzu den mit einer nützlichen Bibliographie versehenen Sammelband: Meyer, M. (Hg.): Questions and Questioning. Berlin - New York, 1988. WM,344. Nach Kants bekannter Formulierung hat die Vernunft erkannt, daß sie »( ... ) die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse; (... ) Die Vernunft muß (... ) an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt.« Kant, I: Kritik der reinen Vernunft. B XIII WM,351. WM,352. WM,356. Vgl. hierzu Pannenberg (1971), 100-105 und den Artikel »Dialog, dialogisch« in: HWbPh 11,226-229. Vgl. Palmer, R.E.: Hermeneutics. Evanston, 1969, 148-156. Vgl. hierzu insbesondere Gadamers frühe Arbeit »Platos dialektische Ethik« (1931) jetzt in: Gadamer, H.-G.: Griechische Philosophie. Gesammelte Werke Bd. V, Tübingen, 1985,3-163. WM,348. WM,349. WM,437. WM,447. WM, 365. (Ergänzung in Klammem von mir) WM,365. Vgl. die Auseinandersetzung Hirschs mit Gadamer in: Hirsch, E.D.: Prinzipien der Interpretation. München, 1972,301-320. Seinen Bedeutungsmonismus mildert Hirsch durch die Einführung der Unterscheidungen von >Sinn< vs. >Bedeutung< und >Interpretation< vs. >Kritik<. Im Rahmen meiner Argumentation verzichte ich auf eine Berücksichtigung dieser nicht unproblematischen Dichotomien Hirschs und konzentriere mich auf das Problem der Autorintention, ohne Hirschs Terminologie zu übernehmen. Für eine ausführlichere Diskussion Hirschs
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vgJ.: Arthur, C.E.: Gadamer and Hirsc.h: The canonical work and the interpreter's intention. In: Cultural Hermeneutics 4 (1967/1977), 183197; Hoy, D.C.: The Critical Circ1e. Berkeley - Los Angeles - London, 1978, 11-40; Madison, G.B.: Eine Kritik an Hirschs Begriff der >Richtigkeit<. In: H.-G. Gadamer, G. Boehrn (Hgs.): Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften. FrankfurtlMain, 1978,393-425; Meiland, I.W.: Interpretation as a cognitive discipline. In: Philosophy and Literature 2 (1978),23-45; Palmer (1969), 60-65; G. Warnke (1987), 43-48. Hirsch (1972), 20f. G. Warnke schreibt in der Tradition der bereits kritisierten Schleiermacher-Deutung von WM: »In equating textual meaning with an author's intention, Hirsch does not follow Schleiermacher in identifying that meaning with the mental acts and experiences that occurred in the author's mind at the time the text was written.« Warnke (1987), 43. Hirsch (1972), 51. Hoy (1978), 29. VgJ. Graeser, A.: Über »Sinn« und »Bedeutung« bei Gadamer. In: Zeitschrift für philosophischen Forschung 38 (1984), 436-445. »Sinn ist ein vieldeutiger Ausdruck. H.-G. Gadamers Erörterungen leben von dieser Vieldeutigkeit. Sie scheinen die verschiedenen, ja radikal verschiedenen Bedeutungen auszuspielen und sie andererseits wieder brennpunktartig einzufangen. Dieses intuitive Fluktuieren macht die rationale Beurteilung seiner Position schwierig.« A.a.O., 442. Zur Abgrenzung fIktionaler Texte vgl. Gabriel (1975). WM,280. »Eine richtige Auslegung an sich wäre ein gedankenloses Ideal, das das Wesen der Überlieferung verkennte.« WM,375. »Situationsgebundenheit bedeutet keineswegs, daß sich der Anspruch auf Richtigkeit, den jede Interpretation erheben muß, ins Subjektive oder Okkasionelle auflöste.« WM, 375. WM,375. Auch die Rede von »der Sache« des Texts als identischem Wesen, das in verschiedenen historischen Horizonten unterschiedlich erscheint, hilft nicht weiter, da ja das Wesen unabhängig von seinen Erscheinungen nie greifbar ist. »The >ontological turn< of hermeneutics is a bias because it makes it appear as if there were no continuurn between hermeneutical reflection and other forms of epistemological, logical or methodological reflection, as if in fact, hermeneutical reflection might not frequently be developed in the context of the latter.« Misgeld, D.: On Gadarner's hermeneutics. In: R. Hollinger (Hg.): Hermeneutics and praxis. Notre Dame, 1985, 143-170; hier: 156. Rorty, R.: Der Spiegel der Natur. Frankfurt/Main, 1984,343-427. »Bei mir steht >Hermeneutik< weder für eine Disziplin noch für eine Methode (...) noch für ein Forschungsprograrnrn. Im Gegenteil, Hermeneutik ist Ausdruck der Hoffnung, die kulturelle Leerstelle werde nach dem Abgang der Erkenntnistheorie gerade nicht neubesetzt - unsere Kultur werde zu einer Kultur, in der das Bedürfnis nach Einschränkung und Konfrontation nicht mehr verspürt wird.«
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Anmerkungen A.a.O., 343. A.a.O., 346. A.a.O., 398f. »Große systematische Philosophen bauen wie große Wissenschaftler für die Ewigkeit. Große bildende Philosophien zertrümmern um ihrer eige- . nen Generation willen. Systematische Philosophen möchten ihr Fach auf den sicheren Pfad einer Wissenschaft führen. Bildende Philosophen wollen dem Staunen seinen Platz erhalten wissen, das die Dichter manchmal hervorrufen können (...)« A.a.O., 400. »( ... ) die kulturelle Rolle des bildenden Philosophen (besteht) darin ( ... ), uns zu helfen, die Selbsttäuschung zu vermeiden, der wir verfallen, wenn wir unsere Selbsterkenntnis durch die Erkennmis objektiver Tatsachen zu erzielen glauben.« A.a.O., 404. A.a.O., 389. Rorty spricht davon, »( ...) daß nichmormale und >existenzielle< Diskurse immer parasitär gegenüber normalen Diskursen sind (...), daß sich also die Möglichkeit einer Hermeneutik immer auf der Möglichkeit einer Erkennmistheorie gründet (...)« A.a.O., 396. WM,271. WM,271. WM,274. Jähnig, D.: Klassik und Historie. In: M. Gosebruch, L. Dittmann (Hgs.): Argo - Festschrift für Kurt Badt. Köln, 1970,35-45. A.a.O., 40. A.a.O., 118. A.a.O., 120. (Zusatz in Klammern von mir) JauB, H.R.: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. In: Jauß (1970),144-207. Seine Zustimmung zu Gadamers Unternehmen formuliert JauB allerdings auf eine merkwürdige Weise, wenn er sagt, Gadamer habe »( ...) das Prinzip der Wirkungsgeschichte (...) als eine Anwendung der Logik von Frage und Antwort auf die geschichtliche Überlieferung beschrieben.« A.a.O., 185. Jauß scheint die Stellung und Bedeutung des Prinzips der Wirkungsgeschichte zu verkennen. Bei Gadamer ist Wirkungsgeschichte das hermeneutische Grundprinzip schlechthin, das nicht etwa durch eine Anwendung der »Logik von Frage und Antwort« auf die Überlieferung gewonnen wird, sondern den Begriff der Überlieferung und die »Logik von Frage und Antwort« begründet. Vgl. in diesem Zusammenhang die Einführung des Ausdrucks >Erwartungshorizont< a.a.O., 173f. A.a.O., 187. Warning (1987). Mit dieser Arbeit führt Warning eine Argumentation aus, deren Grundzüge bereits in der Einleitung zu einem Sammelband über die Rezeptionsästhetik enthalten waren. Vgl. Warning, R.:Rezeptionstheorie als literaturwissenschaftliche Pragmatik. In: ders. (Hg.): Rezeptionsästhetik. München, 1975,9-41. A.a.O., 85f.
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Aa.O., 87. Aa.O., 85. Vor einer Überbewertung des Klassikbegriffs warnt Grondin mit guten Gründen. Er gibt den Kritikern Gadamers insofern Recht, als er ebenfalls Unklarheiten moniert, weist aber darauf hin, daß die Kategorie des Klassischen nicht die zentrale Stellung einnimmt, die ihr insbesondere die Literaturwissenschaftler einräumen. Vgl. Grondin (1982), 183. hn folgenden verwende ich bei Verweisen auf die »Nikomachische Ethik« die Abkürzung »EN«. Zitiert wird die deutsche Übersetzung von O. Gigon: Aristoteles: Nikomachische Ethik. München, 1975. Die Einzelprobleme des Aristotelischen Texts und des der >phronesis< gewidmeten Abschnitts, der nach von Wright einer der schwierigsten und vielleicht einer der bedeutendsten Teile der Aristotelischen Ethik ist, können an dieser Stelle nicht behandelt werden. Die folgende Darlegung beschränkt sich auf eine Darstellung der Interpretation Gadamers und ihrer Bedeutung für die philosophische Hermeneutik. Auf die folgenden Beiträge zu der breiten und kontrovers geführten Diskussion über die Aristotelische Ethik sei aber zumindest hingewiesen: Aubenque, P.: La Prudence chez Aristote. Paris, 1963; Monan, J.D.: Moral Knowledge and its Methodology in Aristotle. Oxford, 1968; Höffe, 0.: Praktische Philosophie - Das Modell des Aristoteles. München, 1971; Gigon, 0.: Phronesis und Sophia in der Nicomach. Ethik des Aristoteles. In: J. Mansfeld, L.M. de Rijk (Hgs.): Kephalaion. Assen, 1975,91-104; Kenny, A.: The Aristotelian Ethics. Oxford, 1978; Hardie, W.F.: Aristotle's Ethical Theory. Oxford, 1980; Sorabji, R.: Aristotle on the Role of Intellect in Virtue. In: AO. Rorty (Hg.): Essays on Aristotle's Ethics. Berkeley - Los AngelesLondon, 1980, 201-219; Wright, G.H. von: The Varieties of Goodness. London - New York, 1963; Wiggins, D.: Deliberation and Practical Reason. In: Rorty (1980), 221-240. Der Vollständigkeit halber sei auch auf einen Text hingewiesen, dessen Titel eine Erörterung der Aktualisierung der Aristotelischen Phronesis bei Gadamer in Aussicht stellt, der aber über eine Inhaltsangabe der entsprechenden Abschnitte in WM kaum hinauskommt: Schuchman, P.: Aristotle's Phronesis and Gadamer's Hermeneutics. In: Philosophy Today 23 (1979),41-50. »Gewiß geht es bei Aristoteles nicht um das hermeneutische Problem oder gar um dessen geschichtliche Dimension, sondern um die richtige Bemessung der Rolle, die die Vernunft im sittlichen Handeln zu spielen hat.« WM,295. EN VI 1139b 18-24: »Was nun die Wissenschaft sei, wird aus folgendem klar, wenn wir die Sache genau nehmen und uns nicht durch Ähnlichkeiten verführen lassen. Wir nehmen alle an, daß das, was wir wissen, sich nicht anders verhalten kann, als es tut. ( ...) Der Gegenstand des Wissens besteht also auf Grund von Notwendigkeit. Er ist also ewig. Denn alles, was schlechthin aus Notwendigkeit ist, ist ewig, und was ewig ist, ist unentstanden und unvergänglich.« Auf diesen Zusammenhang von Kosmologie, Epistemologie und Ethik geht P. Aubenque ausführlich ein. Vgl. Aubenque (1963). WM,297.
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Anmerkungen EN VI 1140a H., 1140a 11-14: »Was sich so und anders verhalten kann, ist teils Gegenstand des Hervorbringens, teils Gegenstand des Handeins. ( ...) Jede Kunst (techne) betrifft ein Entstehen und ist das Erproben und Betrachten, wie etwas Bestimmtes im Bereich dessen, was sein oder nicht sein kann, zu entstehen vermag; und zwar ist der Ursprung im Hervorbringenden und nicht im Hervorgebrachten.« (Zusatz in Klammem von mir) WM,299. EN VI 1140a 24-28, 1140b 8-10. WM,300. Gadamer, H.-G.: Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik. In: ders.: Neuere Philosophie II - Gesammelte Werke IV. Tübingen, 1987, 175-188; hier: 184. EN VI 1144a 23-30. WM,307. Gadamers Aristoteles-Interpretation stellt einen eigenständigen Beitrag dar, der sich von Heideggers Integration des Phronesis-Begriffs in die >monologische< Fundamentalontologie deutlich unterscheidet. Vgl. zu diesem Zusammenhang die ausgezeichneten Ausführungen von Taminiaux, J.: La re appropriation de I'Ethique cl Nicomaque. In: ders.: Lectures de l'ontologie fondamentale. Grenoble, 1989, 147-189. (Unterstrichenes im Original kursiv) Vgl. auch Gadamer, H.-G.: Hermeneutik als praktische Philosophie. In: Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft. Frankfurt/Main, 1976,78-109. Daß entgegen Gadamers Auffassung auch die Hermeneutik des 19. Jahrhunderts einen Gegenwartsbezug der geisteswissenschaftlichen Arbeit sah und forderte, konnte bei den Ausführungen über Droysen und Dilthey gezeigt werden. Selbstverständlich kann keine Rede davon sein, daß jedes Kunstwerk in der skizzierten Weise in direkte Verbindung zur Praxis gebracht werden kann. Denkt man an Werke der Architektur, absoluter Musik oder abstrakter Malerei, so fällt auf, daß hier die von Gadamers Kunsttheorie gegebenen Bestimmungen wenig hilfreich sind. »Man nennt unser gegenwärtiges Zeitalter (...) nicht umsonst ein Zeitalter der Wissenschaften. Es sind vor allem zwei Gründe, die diese Aussage rechtfertigen. Einmal hat die wissenschaftlich-technische Beherrschung der Natur erst jetzt Ausmaße angenommen, die unser Jahrhundert qualitativ von früheren Jahrhunderten unterscheiden. (...) Heute (...) ist (...) die künstliche Umgestaltung unserer Umwelt so planvoll und umfassend geworden, daß ihre Folgen den natürlichen Kreislauf der Dinge gefahrden und irreversible Entwicklungen im großen einleiten. Das Problem des Umweltschutzes ist der sichtbare Ausdruck der Totalisierung der technischen Zivilisation.( ... ) Heute sind die Sozialwissenschaften im Begriff, die durch Traditionen und Institutionen geprägte Praxis des menschlichen Zusammenlebens grundlegend zu verändern. Die Wissenschaft erhebt den Anspruch, und sie tut das auf der Grundlage des technischen Zivilisationsstandes von heute, auch das gesellschaftliche Leben auf rationale Grundlagen zu stellen und die fraglose Autorität des Althergebrachten zu enttabuieren.« Gadamer, H.-G.: Theorie, Technik, Praxis. In: GW IV. Tübingen, 1987,
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243-266; hier: 247ff. Gadamer, H.-G.: Praktisches Wissen. In: Gesammelte Werke V,. Tübingen, 1985,230-248; hier: 248. Bernstein, R.J.: From Hermeneutics to Praxis. In: Review ofMetaphysics 35 (1982), 823-845; hier: 841. »( ... ) practical and political reason can only be realized and transmitted dialogically. I think, then, that the chief task of philosophy is to justify this way of reason and to defend practical and political reason against the domination of technology based on science. That is the point of philosophical hermeneutic. It corrects the peculiar falsehood of modem consciousness: the idolatry of scientific method and of the anonymous authority of the sciences and it vindicates again the noblest task of the citizen decision- making according to one's own responsibility - instead of conceding that task to the expert. In this respect, hermeneutic philosophy is the heir of the older tradition of practical philosophy.« Gadamer, H.-G.: Hermeneutics and Social Science. In: Cultural Hermeneutics 2 (1974),307-316; hier: 316. Vgl. Gadamer, H.-G.: Was ist Praxis? In: ders.: Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft. Frankfurt/Main, 1976,54-77 und ders.: Theorie, Technik, Praxis. In: GW IV, 243-266. Solche starken Versionen der Ontologisierung werden in der Regel von den Kritikern Gadamers diagnostiziert, die eine Methodenfeindlichkeit der Hermeneutik beklagen. Vgl. beispielsweise Schlaffer, H.: Die Entstehung des hermeneutischen Bewußtseins. In: LiLi 17 (1975), 62-73; Stierle, K.: Für eine Öffnung des hermeneutischen Zirkels. In: Poetica 17 (1985),340-354: »Die Methode wird sogleich als der illegitime Zugang zur Wahrheit abgedrängt, dem damit auch keine hermeneutische Dignität mehr zukommt. So wird die Hermeneutik zu einem Verstehen aus der Evidenz, das des Umwegs der Methode nicht mehr bedarf.« (A.a.O., 340). Auch bei Seel, M: Die Kunst der Entzweiung. Frankfurt/Main, 1985 wird Gadamer als Vertreter einer radikalen Onto10gisierung, als »Überbietungsästhetiker« präsentiert, der eine »unqualifizierte Gleichsetzung von Kunst und Erkenntnis« vornimmt und dessen Arbeit durch einen »hermeneutischen Imperialismus (bestimmt ist), der die Frage nach den Prinzipien der ästhetischen Wahrnehmung überführt in eine Theorie vom allumfassenden Geschehen des Verstehens.« A.a.O., 49f. (Zusatz in Klammem von mir) Szondi, P.: Einführung in die literarische Hermeneutik. Frankfurt/Main, 1975,12f. Stegmüller (1973) und Lorenzen, P.: Logik und Hermeneutik. In: ders.: Konstruktive Wissenschaftstheorie. Frankfurt/Main, 1974, 11-22. Lorenzen (1974), 20. Die Hermeneutik Gadamers lehnt systematische Entwürfe einer Methodologie der Interpretation ab, weil diese anscheinend der Vielfalt von Auslegungsproblemen, den je nach Textgattung, Entstehungszeit, Interessen und Ausgangssituationen des Rezipienten differierenden Schwierigkeiten nicht gerecht zu werden vermögen. Der Versuch, das Spiralmodell auf die Probleme des Literaturwissenschaftlers zu beziehen, entgeht nicht immer der Gefahr einer unangemessenen Vereinfachung der vielfältigen Interpretationsprobleme
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Anmerkungen und -verfahren. Vgl. Bolten, J.: Die henneneutische Spirale. In: Poetica 17 (1985), 355-371. Vgl. oben 11.2.11.2. und 11.2.11.3. WM,280. WM,515. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die folgende Äußerung: »Wie jeder andere zu verstehende Text muß ein jegliches Kunstwerk - nicht nur das literarische - verstanden werden, und solches Verstehen will gekonnt sein.« WM,157. In diesem Sinn weist G. Gabriel darauf hin, daß literaturwissenschaftlichen Aussagen häufig nicht der Status von Behauptungen zugeschrieben werden kann, sondern daß sie als Hinweise aufzufassen sind. Vgl. Gabriel, G.: Wie klar und deutlich soll eine literaturwissenschaftliche Tenninologie sein? In: C. Wagenknecht (Hg.): Zur Tenninologie der Literaturwissenschaft. Stuttgart, 1989,24-34. Diesen Umstand scheint J. Grondin aus den Augen zu verlieren, wenn er ohne Rücksicht auf die Praxis der philologischen Interpretationsarbeit darzulegen versucht, »( ... ) weshalb auf ein Wahrheitskriterium Verzicht geleistet werden muß.« Grondin (1982),176. (According to contextualism) »( ... ) the interpretation is dependent upon, or >relative to<, the circumstances in which it occurs - that is, to its context (particular frameworks or sets of interpretative concepts, including methods). For contextualism, rational reflection and dispute do not stop with the interpreter's personal preferences.« D.C. Hoy (1978), 69. »Truth is not only basic for the entire project of philosophical henneneutics, but it turns out to be one of the most elusive concepts in Gadamer. (...) It might seem curious (although I do not think it is accidental) that in a work entitled Truth anti Method, the topic of truth never becomes fully thematic and is discussed only briefly toward the very end of the book. (... ) What is (...) problematic and revealing is that if we closely examine the way in which Gadamer appeals to >truth<, he is employing a concept of truth that he never fully makes explicit.« Bernstein (1982), 834ff. »Der Titel Wahrheit und Methode erweckt die Erwartung, daß in diesem Buch ausführlich über Wahrheit diskutiert wird. Diese Hoffnung bleibt aber unerfüllt.« Grondin, J.: Zur Entfaltung eines henneneutischen Wahrheitsbegriffs. In: Philosophisches Jahrbuch 90 (1983),145-153; hier: 146. »Gadamer's work (... ) is inconclusive when one considers the state of social science. Partially this is due to his undifferentiated concept of scientific method, his analytically inadequate notion of truth and to similar deficiencies in his account of tradition. (...) He does not clearly distinguish theoretical from >practical< truths, that is, he does not examine the logic of different types of discourse in which these claims might occur.« Misgeld (1985), 161. WM,93. Gadamer, H.-G.: Die Aktualität des Schönen. Stuttgart, 1977. Auf ähnli-
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che Weise revidiert Gadamer die Kant-Kritik: von WM in einer weiteren Arbeit: ders.: Anschauung und Anschaulichkeit. In: Neue Hefte für Philosophie 18/19 (1980),1-13. A.a.O., 28. (Zusatz in Klammem von mir) WM,126. »Daß ein überlieferter Text Gegenstand der Auslegung wird, heißt bereits, daß er eine Frage an den Interpreten stellt.« »Am Anfang steht (...) die Frage, die uns der Text stellt, das Betroffensein von dem Wort der Überlieferung.« WM, 351 und 355. »Vom Interpreten aus gesehen, bedeutet Geschehen, daß er nicht als Erkennender sich seinen Gegenstand sucht, mit methodischen Mitteln >herausbekommt<, was eigentlich gemeint ist und wie es eigentlich war, wenn auch leicht behindert und getrübt durch die eigenen Vorurteile. Das ist nur ein Außenaspekt des eigentlichen hermeneutischen Geschehens. Er motiviert die unentbehrliche methodische Disziplin, mit der man sich gegen sich selbst verhält. Das eigentliche Geschehen ist dadurch aber nur ermöglicht, nämlich daß das Wort, das als Überlieferung auf uns gekommen ist und auf das wir zu hören haben, uns wirklich trifft und so trifft, als rede es uns an und meine uns selbst.« WM,437. Anknüpfungspunkte für eine solche mystifizierende Lesart, die Gadamers Auffassung sicherlich nicht gerecht wird, bieten beispielsweise die Bemerkungen zum auratischen Charakter des Kunstwerks oder der Hinweis auf ein nicht näher bestimmtes religiöses Empfinden: »Ein Kunstwerk hat immer etwas Sakrales an sich.« WM, 143 »(...) die Rede von einem Werk an sich, abgelöst von seiner immer erneuerten Wirklichkeit des Erfahrenwerdens, behält etwas Abstraktes.« WM,XIX. WM, XXVI. Vgl. für eine allgemeine Orientierung den Artikel »Erinnerung« in: HWbPh 11, 636-643. In diesem Zusammenhang ist die Thematisierung der Erinnerung in der Dichtung und deren erinnerungsstiftende Leistung von Bedeutung. Überlegungen zu einer Geschichte der Poetik und Poesie der Erinnerung finden sich bei Jauß, H.R.: Ästhetische Erfahrung und literatische Hermeneutik:. Frankfurt/Main, 1984 und ders.: Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts >A la recherche du temps perdu<. Frankfurt! Main, 1986. Eine ausgezeichnete Interpretation D. Henrichs behandelt den flir die Texte Hölderlins und die Philosophie des Deutschen Idealismus zentralen Begriff der Erinnerung, wobei Henrich seine Erläuterungen als Alternative zu der Weise begreift, in der Heidegger die Gedichte Hölderlins als Aufhänger für sein tiefsinniges Philosophieren verwendet hat. Vgl. Henrich, D.: Der Gang des Andenkens. Stuttgart, 1986. WM,161.
LITERATURVERZEICHNIS
I. Nachschlagewerke: Brunner, O. u.a. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Stuttgart, 1972ff. Diderot, D. und d' Alembert, I. (Hgs.): Encyc1opedie, ou Dictionnaire raisonne des sciences, des arts et des metiers I-XXXV. Paris, 1751 - 1780 (Reprint: Stuttgart - Bad Cannstatt, 1966-1967) Gal1ing, K.(Hg.): Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Tübingen, 19571962 (Abgekürzt: RGG) Krause, G. und Müller, G.(Hgs.): Theologische Realenzyklopädie. Berlin, 1977ff. (Abgekürzt: TRE) Mittelstraß, I.(Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Mannheim- Wien-Zürich, 1980ff. (Abgekürzt: EPhW) Ritter, I.(Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel, 1971ff. (Abgekürzt: HWbPh) Lexikon des Mittelalters. München, 1980ff. Zedler, I.H.: Grosses Vollständiges Universal-Lexikon. Leipzig-Halle, 1732-1754 (Reprint: Graz, 1961)
11. Abhandlungen, Aufsätze, Bücher, Werkausgaben: Adomo, T.W.: The Authoritarian Personality. New York, 1950 Allport, G.W.: Die Natur des Vorurteils. Köln, 1971 Apel, K.-O. u.a.: Hermeneutik und Ideologiekritik. Frankfurt, 1973 Arendt, H.: Was ist Autorität? In: H. Arendt: Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart. Frankfurt/Main, 1957, 117-168 Arendt, H.: Das Urteilen - Texte zu Kants Politischer Philosophie. München Zürich, 1985 Aristoteles: Aristotelis Opera I-V. Herausgegeben von I. Bekker. Berlin, 18311870 Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übersetzt von O. Gigon. München, 1975 Aristoteles: Poetik. Übersetzt von M. Fuhrmann. München, 1976 Arthur, C.E.: Gadamer and Hirsch: The canonical work and the interpreter's intention. In: Cultural Hermeneutics 4 (1967/1977), 183-197 Ast, F.: Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik. Landshut, 1808 Aubenque, P.: La Prudence chez Aristote. Paris, 1963 Bast, R.A.: Der Wissenschaftsbegriff Martin Heideggers. Stuttgart - Bad Cannstatt, 1986 Baumgarten, A.G.: Theoretische Ästhetik. Hamburg, 1983
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Collingwood, R.G. 123, 192 Coseriu, E. 191 Davis, E.E. 96, 187 Derksen, L.D. 189 Descartes, R. 4,5,94,172 Dewey, J. 135 Dilthey, W. XI, XV, 54, 58, 62, 7078,80, 82f., 90f., 175, 180f., 183f., 186, 196 Donagan, A. 19 Droysen, J.G. XIV, 62-67, 72, 82f., 181ff.,196 Edgerton, S.Y. 179 Ennarth, M. 183 Euripides 41, 44 Faulstich, W. 174 Flacius lllyricus, M. 54, 180 Frank, M. 59, 180f., 191 Franke, U. 180 Gabriel, G. 190, 193, 198 Gadamer, H.-G. XI-XIX, 1-8, 10-13, 16f., 19-27, 29-56, 58f., 62-67, 71ff., 76-79, 82-86, 91-99, 101105, 109-129, 131ff., 135-155, 159-180, 182-185, 187-199 Geiger, R. 164 Gigon, O. 195 Goethe, J.W. 25ff., 29, 139, 174ff., 179 Gombrich, E.H. 175 Goodman, N. 176 Gracüin, B. 7 Graeser, A. 193 Grondin, J. 173,176, 190f., 195, 198 Habennas, J. 101,139, 188f.
Namenregister
Hardie, W.F. 195 Hegel, G.W.F. XVIII, 2, 62f., 67, 85, 111, 119f., 140, 163f., 178f., 190f. Heidegger, M. XIf., XV, 79ff., 83, 91ff.,96, 103, 112, 116, 118, 126, 135, 151, 153f., 168, 171, 185, 187, 196, 199 Heine, H. 174 Heimholtz, H.v. 2, 68f., 82f., 106, 183 Henkel, A. 175 Henrich, D. 199 Herder, J.G. 1 Hirsch, E.D. 129ff., 159, 192f. Höffe, O. 195 Hofmannsthal, H.v. 107,174 Hogan, J. 191 Hölderlin, F. 179, 199 Horkheimer, M. 187 Hoy, D.C. 161, 193, 198 Humboldt, W.v. 117 Husserl, E. 80,185 Huysmans, J.-K. 174 Jähnig, D. Jamme, C. Jauß,H.R. Jean Paul
138, 194 185 139,191,194,199 29
Kamlah, W. 171 Kant, I. XIIIf., 6-17,19-22,25,31, 33,51, 67, 77, 82, 95, 97, 164ff., 172f., 180, 187, 192 Karsten, A. 187 Kenny, A. 195 Kleist, H.v. 18f.,173 Kohler, G. 173 Koller, H. 38, 176 Koselleck, R. 106 Lessing, G.E. 14,42 Lorenz, K. 116, 191 Lorenzen, P. 157, 197 Lubac, H. de 180 Lübbe, H. 105f., 189f. Lüthe, R. 173 Maclean, J.M. 182 Madison, G.B. 193
209
Mallarme, S. 174 Marquard, 0 .. 105-110, 189f. Meier, G.F. 55ff., 82, 94f., 97, 180, 187 Meiland, J.W. 193 Mendelson, J. 188 Meyer, M. 192 Mink, L.O. 192 Mir6, J. 164 Misgeld, D. 188, 193, 198 Mittelstraß, J. 116, 187, 190f. Monan, J.D. 195 Mozart, W.A. 23 Newman, B. 175 Nietzsche, F. 41 Palmer, R.E. 192f. Pannenberg, W. 191 Perikles 144 Pfeiffer, K.L. 177 Plagemann, V. 173 Platon 37, 60f., 74, 126, 142f., 149, 168, 176, 181 Preisendanz, W. 172, 174 Rabe, H. 188 Racine, J. 41 Ranke, L.v. 62ff., 181f. Ricoeur, P. 185f., 188 Riedel, M. 183f. Ritter, J. 105, 189 Rorty, R. 134ff., 193f. Rothacker, E. 181 Rüsen, J. 67,181ff. Schadewaldt, W. 42f., 178f. Scheer, B. 173 Schiller, F. 6, 21f., 26f., 173 Schlaffer, H. 175f., 197 Schleiermacher, F. XI, XIV, 55-61, 74f., 82, 88ff., 107, 130, 180f., 186 Schmidt, L.K. 188 Schnädelbach, H. 182, 184 Schneiders, W. 187 Schöne, A. 175 Schuchman, P. 195 Schulz, W. 118,190f. Seel, M. 197 Shaftesbury, A.A. 6
210 Shakespeare, W. 41 Simon, C. 175 Soerensen, B.A. 175 Sokrates 126 Sophokles XIV, 41, 44, 52,178 Sorabij, R. 195 Stärk, E. 177 Steel, T.B. 192 Stegmüller, W. 186,197 Stierle, K. 197 Sirawinsky, I. 23 Szondi,P. 154,179,197 Taminiaux, J. 196 Tennemann, W.G. 181 Trexler, R.C. 179 Turk, H. 171
Namenregister Vico, G. 3,5, 171 Warning,R. 140f., 171, 194 Walther, J. 192 Wamke, G. 33, 78, 176, 184, 189, 193 Webern, A.v. 164 Weinsheimer, J.C. 177f. Wemer, M. 174 Wiggins, D. 195 Windelband, W. 69ff., 82f., 106, 183 Wittgenstein, L. 135, 176 Wittmann, R. 174 Wright, G.H.v. 195 Wuthenow, R.-R. 174 Zedler, J.H. 181
Sachregister:
Allegorese 54 Allegorie 25-30 Antwort s. Frage und Antwort Ästhetik XIII, 8-52, 147, 164f. Ästhetische Auslegung 56 Ästhetische UnterscheidunglNichtunterscheidung 2lf., 24, 38, 77, 162 Ästhetizismus 24 Aufklärung 94ff., 109, 135 Autor 59,74, 129-132 Autorität XVI, 98-101,110,141 Begriff 15ff. Bewußtsein, ästhetisches 20, 22, 24, 46,115,163 Bewußtsein, hermeneutisches 115, 122, 124, 163 Bewußtsein, historisches 113, 115, 122 Bewußtsein, wirkungs geschichtliches 115,135f. Bild 47-50 Bildung lf., 135f. Code
27ff., 57,118
Darstellung 34,37-39, 47f., 50f. Deutungsmuster 117f. Dialektik, dialektisch 124, 126, 149 Dialog 60f., 124, 132, 146, 149f. Einbildungskraft 9, 12f., 15f. Endlichkeit 79,117, 120 Einsicht 46,110, 120, 148, 162f., 165 Einstellung 10, 20ff., 93, 96f., 101, 108,110,119-122,124,156,165 Epistemologie, Epistemologisierung XII, 91, 153 Erfahrung XVIII, 44ff., 117, 119121,162-170
Erfahrung, ästhetische XIIf., 2lf., 115,166 Erfahrung, hermeneutische 40, 78, 115,121-127,135,146,150,166 Erinnerung 162-170 Erkenntnis 7, lOf., 15, 20, 43, 45f., 80, 90, 112, 142ff., 148, 153-163, 166-170 Erkenntnis, ästhetische 16, 45f., 56, 162-167 Erkenntnistheorie 78,94, 135 Erklären, Erklärung 9, 64, 83, 91, 108 Erlebnisästhetik 24-30 Erzählen 106-109 Fiktion, fIktional 109, 131, 147f., 157, 165 Forschung 65f., 103f., 121, 123, 126, 147 Frage und Antwort 123-127,132 Ganze, das (und die Teile) 72, 88f. Geisteswissenschaften 1-7, 31, 6264, 67-73, 76-78, 84f., 103-110, 12lf., 134, 138 Geschehen 40, 42f., 112, 121, 127, 133, 153, 159ff., 165f. Geschichte 104,107,111,117 Geschichtswissenschaft 62-70, 147 Geschichtlichkeit (Historizität) 40, 79,96,115 Geschmack, Geschmacksurteil 8-13, 19,21 Gespräch, Gesprächsmodell123, 127136, 138, 146, Hermeneutik XI-XIX, 82f., 111, 115, 119, 126f., 134, 143, 145151, 153-161, 165-170
212
Sachregister
Historismus 62f., 65, 88, 105 Historizität s. Geschichtlichkeit Horizont, Horizontmetaphorik 113117, 125, 131, 165 Humanismus 1-7, 30f., 109
Offenheit 122, 124, 126, 150 Ontologie, Ontologisierung XII, 91, 112,115,141,153,166 Ontologie des Kunstwerks XIII, 3251
Idee 13, 15f., 61, 65, 67, 95, 163 Idee, ästhetische 15-20, 164 idiographisch 69f. Individuum 58, 64 Intentionalismus 130 Interpretieren, Interpretation XI, XIV, XIX, 39f., 53--61, 72, 74, 87- 93, 108,127-136, 145f., 154-161 Interpretationsschema s. Deutungsmuster
Philosophie, praktische XIX, 31,142151 Pluralismus 159 Polysemie 19,78,118,131-134 Psychologisierung, Psychologismus 56--61,77,82
Klassik, Klassiker, das Klassische 27, 29f., 136-146 Klugheit, praktische (phronesis) 142150 Kompensation, Kompensationstheorie 76,105-110 Kontext 51, 59, 74, 78, 88ff., 113, 125, 128, 132, 159ff., 165 Kriterium 158-161 Kunst XII, 12-20, 22f., 32f., 36f., 76f., 147f., 162-167 Kunstwerk 13-20, 22-25, 32-40, 46, 48, 50f., 75, 147, 150, 165
sensus communis 3-7, 11,30 Situation 45, II1f., 120f., 127f., 144, 159 Spiel XIII, 22, 33-37, 40, 51 Spirale, henneneutische 154-158 Sprache XVIII, 57, 116-119, 121 Subjekt 9f., 34, 36, 112, 124, 159, 166 Subjektivierung, Subjektivismus XIIIf., 8-12, 17,25,38,84,164 Symbol 25-30, 50
Lesen, Leser, Lektüre 18, 42, 54, 61, 89, 93, 129, 131, 138, 155-158, 166 Literaturwissenschaft 111, 114, 154161 Logik von Frage und Antwort s. Frage und Antwort Malerei 20,46-51 Methode, Methodik, Methodologie 1-7, 62, 66ff., 71, 84, 133, 140, 158-161 Nachahmung 34,37f. Naturwissenschaft XV, 62, 64, 67-72 nomothetisch 69f. Objektivismus, historischer 143, 146
114, 139,
Rationalität 108, 134 Reflexion 112, 148 Relativismus 159, 161
Technik 116. 14H Teil s. Ganze. da,.( und die Teile) Text 72,86-93. 125.127-138,146, 150,154-161 Tradition XVI, \02- \06, 109f., 117f., 122,136,141,163 Tragödie, das Tragische 34, 40-46, 165 Überlieferung 67, 102-105, 11Off, 121f., 127f., 131, 134, 141 Unverfügbarkeit 45, 80f., 121, 124 Urteilskraft 6ff., lOf., 18, 68, 142146, 150 Vermittlung 113, 165, 169 Vernunft 14-17, 95, 101, 126, 136, 168 Verstand 8f., 12-15 Verstehen XIf., XV, XVIII, 56f., 65f., 70-81, 84, 91, 103, 116-119,
Sachregister
213
123, 125f., 132f., 138, 140, 146, 153f., 160, 163 Verwissenschaftlichung XII, XIVf., 65-69,78, 82, 107, 143, 148 Vonn1eil 93-97, 127 Vorverständnis 92ff., 97, 101-104, 110, 117f., 127, 155-158
Wahrnehmung 9,116,150,156 Wirkungsgeschichte XVII, 110-113, 115f., 118f., 122, 127f., 133, 135f., 139, 141, 150, 166 Wissen 3,6, 120, 142-146 Wissenschaft 3ff., 57, 62, 108, 132, 135, 148, 168
Wahrheit 44ff., 51, 67, 77, 80, 112, 162-170 Wahrheit der Kunst XIIff., 12f., 20, 37,46, 162ff., 166
Zeichen 17, 28ff., 47-50, 55, 74, 129f., 165 Zirkel, hemeneutischer 86-93, 97, 104, 154-158