MICHA STANRAW
Entscheidung am Boyacá
MILITÄRVERLAG DER DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK
Nach Tatsachen gestaltet F...
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MICHA STANRAW
Entscheidung am Boyacá
MILITÄRVERLAG DER DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK
Nach Tatsachen gestaltet Fotos und Karte: Archiv
1.—70. Tausend © Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik (VEB) — Berlin. 1975 Cheflektorat Militärliteratur Lizenz-Nr. 5 LSV: 7002 Lektor: Joachim Warnatzsch Umschlag: Erhard Schreier Vorauskorrektor: Johanna Pulpit Korrektor: Genraul Purfürst Hersteller: Ingeburg Zoschke
Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin
EVP 0,50 Mark
Der 7.August 1819 Pferdegetrappel zerreißt die Stille des Nachmittags. Eine Gruppe Reiter, voran ein prächtiger Schimmel, nähert sich in schnellem Galopp dem Fluß Boyacá. Simon Bolivar, der Oberbefehlshaber der Befreiungsarmee Venezuelas und Neu-Granadas, kommt mit seinem Stab aus Tunja, der Provinzhauptstadt Neu-Granadas. Hier, in dem idyllischen Tal des Flusses, beginnt die letzte entscheidende Schlacht für die Befreiung Neu-Granadas von der über 300 Jahre währenden spanischen Kolonialherrschaft. Sanft steigt im Norden das Land an und endet in einem 3000 Meter hohen Gebirge, den Anden. Von den schweigenden, hohen Zeugen sollen sich die Hoffnungen der Völker dieses Teils Südamerikas erfüllen. Das Fernglas in der Hand, leitet Bolivar den Kampf. Die Vorhut General Santanders hat den Kampf eröffnet. Die bei ihrer Rast an der Poststation überfallene Vorhut der feindlichen Armee unter Oberst Jimenez sieht sich überrascht der gesamten Befreiungsarmee gegenüber, die in Kolonnen Kampfaufstellung genommen hat. Die Truppen des Obersten marschieren wieder über die Brücke zurück und verschanzen sich am gegenseitigen Ufer. Dann entbrennt der Kampf um diese Boyacá-Brücke, die den Zugang nach Tunja darstellt.
Tunja — das ist das Ziel der königlichen spanischen Armee unter dem Kommando Generals Barreiro. Zwei Tage zuvor hatte sein Gegner Bolivar die Stadt durch ein geschicktes Manöver eingenommen und damit Barreiros wichtigste Operationsbasis besetzt. Der spanische General muß deshalb sofort die Verbindungswege zur Hauptstadt Bogota, die nur 120 Kilometer entfernt liegt und etwa 400 Soldaten zu ihrem Schutz hat, wieder herstellen. Er wollte den direkten Weg über diese Brücke nehmen. Doch da war er auf die Befreiungsarmee gestoßen. Er erkennt bald, daß es sich um eine Übermacht handelt. Deshalb fordert er Verstärkung an, die über Charalá schnell kommen könnte. Auf sich und die Umstände wütend, wartet er ungeduldig auf die Entsatztruppen. Barreiro hatte angenommen, die Truppen Bolivars feierten in Tunja ihren Einzug. Indessen! Die Befreiungsarmee läßt die spanischen Kolonialtruppen nicht mehr zur Besinnung kommen. Bolivar, der auskundschaften ließ, was der Gegner vorhat, befiehlt General Anzoátegui, die gegnerische Verstärkung weit vor der Brücke zu binden und sie mit den berittenen Einheiten zu vernichten. Seine Infanterie aber soll die gesamte Armee Barreiros einschließen. Dieses Manöver gelingt, der Gegner wird geschlagen. Bolivar läßt sofort einen günstigen Übergang über den Fluß suchen. Es dauert nicht lange, da prescht die Kavallerie durch das flache Wasser einer Furt. Die Befreiungsarmee kann von Glück reden, daß nicht der
Gegner diesen Übergang gefunden hat. Die Schlacht würde jetzt anders stehen. Bolivar fühlt Ketten auf seiner Brust zerspringen. Während seine Truppen dem Gegner nachsetzen, läßt er die Jahre des Kampfes vor seinen Augen vorbeiziehen... Nachdem am 5.Juli 1811 die erste Republik Venezuela ausgerufen worden war, hatte Bolivar, der Sohn einer kreolischen Adelsfamilie, als Oberst in den republikanischen Streitkräften gedient, die General Miranda unterstanden. Als dann ein Jahr später die Kolonialtruppen die Hauptstadt Caracas besetzten, nahmen sie Miranda gefangen und verschleppten ihn nach Spanien, wo er bald in einem Gefängnis starb. An die Spitze der republikanischen Truppen trat Simon Bolivar. Wie viele scheinbar unüberwindliche Hindernisse mußte er hinter sich bringen: Verrat, Verleumdungen, lächerliche Rivalitäten und Intrigen, Irrtümer, Fehler! Er hatte die Befreiungsarmee neu organisiert und im. Sommer 1813 Caracas wieder eingenommen. Die zweite Republik wurde proklamiert, und Bolivar erhielt den Ehrentitel „El Libertador". Doch dann mußte die republikanische Armee der Übermacht der Feinde weichen. Eine Niederlage nach der anderen steckte Bolivar ein, die aber auch auf Fehleinschätzungen durch die Führung der Befreiungsarmee zurückzuführen waren. Es kam zur Demoralisierung der Truppen: Desertationen und Übergriffe gegenüber der Bevölkerung häuften sich. Der Oberbefehlshaber aber stützte sich auf die
Aristokratie der Republik. Er erkannte noch nicht die große Rolle der Volksmassen als Träger des Freiheitskampfes, und dementsprechend verhielten sich auch die kreolischen Offiziere, die ihre Untergebenen als ihre Sklaven behandelten. Jahre mußten vergehen, ehe der ,,Libertador" die sozialen Bedingungen richtig für den Befreiungskampf auszunutzen verstand. Doch immer wieder stritten sich Erkenntnis, Adelsdünkel und die Erfordernisse des praktischen Kampfes in seiner Brust. „Aus jeder Niederlage lernen wir unseren künftigen Sieg." Unerschütterlich führt ihn diese Devise. Wie sollte auch ein Volk siegen lernen, das zum größten Teil aus Analphabeten besteht. Wie sollte auch eine Aristokratie plötzlich regieren können, wenn sie nie zuvor der Tyrann gewesen war, wenn sie nie wirklich die Macht ausgeübt hatte. Die Aristokraten waren Sklaven im eigenen Land, verurteilt zur bloßen Konsumtion. Sie müssen das Land von der spanischen Fremdherrschaft befreien, das Volk führen. Wenn wir unsere nationale Freiheit errungen haben, können wir auch die unterjochten Volksmassen befreien, die Sklaverei aufheben, die Millionen Ureinwohner, die Indios, von allen knechtenden Tributen befreien und ihnen ihren Boden zurückgeben. Indianerschutzkommissionen werden die Rückgabe des Bodens überwachen, Kommissionen des Bildungswesens werden in jedem Dorf eine Schule errichten, damit die Indios und Neger ihre Rechte und Pflichten kennenlernen und verteidigen können.
Bolivar stehen all die Vorhaben vor Augen, die für* eine gesunde Entwicklung der Republik unentbehrlich sind, wie die Organisierung von Kommissionen für die Förderung des Handels, der Industrie und der Landwirtschaft, für deren Realisierung hier am Boyacá die ersten wichtigen Voraussetzungen erkämpft werden. Auf seinen frühen Reisen durch einige Länder Europas hatte er gelernt, aus den bürgerlich-demokratischen Entwicklungen seine Ideen von einer gesunden Entwicklung Südamerikas zu stärken. Leise spricht er vor sich hin: „Amerikaner sind wir von Geburt und nicht Spanier. Wir werden uns selbst regieren, und dazu müssen wir Amerikaner in Venezuela, in NeuGranada, in Chile, in den La Plata-Staaten, in Mexiko, Peru und in Mittelamerika uns zu einer mächtigen und unverwundbaren Nation vereinigen." Während die Gedanken des Oberbefehlshabers der Befreiungsarmee der Zukunft entgegeneilen, wird in den ersten Reihen des Bataillons Cazadores an der Brücke ein schwarzer Kämpfer von einer Kugel getroffen. Aber schon stürmt das Bataillon an ihm vorbei über die nun preisgegebene Brücke, den Gegner zu verfolgen. Camejo, ein ehemaliger Negersklave vom Apure, nimmt den Sieg nicht mehr wahr. Er sackt lautlos in sich zusammen und fühlt das nahe Gebirge auf sich zukommen und um sich kreisen. Camejo will sich aufrichten, verliert den Halt und fällt vom Pferd. Der Kopf dröhnt und schmerzt. Plötzlich schwillt das
durchdringende Dröhnen ab, und er glaubt, ein fernes Trommeln zu vernehmen. San Benito, das Gelübde, durchzuckt es ihn, und die Landschaft öffnet sich, ist auf einmal ganz eben und von Sonne überflutet. Sein Mund ist trocken. „Wasser", flüstert er. Jemand beugt sich über ihn. Abáduca? „Wir müssen fort", glaubt er zu sagen, und die Tage, die ihn aus seinem gewohnten und geduckten Leben am Apure herausführten, drängen in sein Bewußtsein... Am Ampure, März 1819 Camejo schreckt aus dem Schlaf hoch, grelles Licht blendet ihn. Er muß den Hahn nicht gehört haben. Glücklicherweise ist Feiertag, und der Verwalter kann ihn nicht bestrafen. Abáduca, seine Frau, hört er draußen. Sie hat ihn nicht wachgerüttelt. Wovon hatte er nur geträumt? Der Gedanke, wieder das Hato, wie man hier die Farm des spanischen Besitzers nennt, verlassen und kämpfen zu müssen, hatte ihn die Nacht gequält. Vom Zirpen der Grasmücken war er aufgewacht. Camejo deutet daraus, daß Kampf und Tod in sein Dorf eindringen werden. Mit wirren Träumen war er wieder eingeschlafen. Er schüttelt die Traumschwere aus den Gliedern und begibt sich schnell aus der Hütte. Draußen kommen bereits die braunen Pferde, die Kühe und die Herden Matacamihirsche und streben dem Ufer des Apure zu. Wie jede Nacht haben sie unter den Murichi- und den Rhopalababüschen gelagert. Sie wirbeln viel Staub in
die trockene und heiße Luft. Der Boden ist völlig ausgedörrt und wartet dringend auf den Regen. Camejo sucht am Himmel nach einem Vorboten für die Regenzeit. Aber von dort strahlt die Sonne unbarmherzig, läßt das Gras zu Staub zerfallen. Noch zeigt sich keine Wolke, die baldigen Regen verspricht. Sorgenvoll denkt Camejo an die Überschwemmungen, die sich mit dem ersehnten Regen einstellen werden. In diesem Jahr dürfen nicht wieder so viele Pferde, Kühe und Maulesel ertrinken wie im vergangenen Jahr. Sie würden sie rechtzeitig in die Nähe der sicheren Hügel treiben, wohin das Wasser nicht steigen kann. Im letzten Jahr mußten die Hirten für den Verlust aufkommen und für jedes umgekommene Tier eins aus den wilden Herden einfangen. Völlig erschöpft war er damals bei Sonnenuntergang auf sein Lager gefallen, um am nächsten Tag noch vor Sonnenaufgang mit dem Lasso wildschweifende Pferde und Rinder zu fangen und den Stempel des spanischen Besitzers in ihre Haut einzubrennen. Camejo läuft zur Lagune, unweit der Hütte, und erfrischt sich. Gut gelaunt, singt er ein Lied, während er zurückläuft. Wenn die Wassermassen gefallen, die Flüsse wieder in ihre Ufer getreten sind und das trockene Erdreich sich voll Wasser gesogen hat, werden die Hirten für die Strapazen entschädigt. Überall wird es grünen und blühen. Die Seekühe, die aus dem Orinoko flußaufwärts gekommen sind, werden sich leichter jagen lassen, weil sie durch das
sinkende Wasser aus dem Fluß geraten und im Schlamm steckenbleiben. All das geht dem Neger durch den Kopf. Es ist viel Hoffnung in seinen Gedanken, viel Zuversicht. Auf dem Weg zur Hütte singt er das Lied von dem weißen und dem roten Huhn, die den Kometen in der Morgenfrühe sahen. Da stieben laut gackernd die Hühner durch die Türöffnung. Lachend läßt Camejo das Federvieh an sich vorbei. Dann tritt er ein. Ein friedliches Bild bietet sich ihm. Abáduca legt die Kuhhäute des Nachtlagers zusammen. Manuelote, sein Sohn, .zieht sich ein Hemd an. Er soll heute zum erstenmal ein wildes Pferd einreiten. Fünfzehn Jahre ist er alt, breitschultrig und kräftig gewachsen. Arbeit kann er leisten wie ein Erwachsener! Das zu zähmende Pferd muß sein Gefährte werden. Camejo lächelt. O, leicht wird es Manuelote nicht werden, das Wildpferd zu zähmen. Aber er wird ihm schon helfen, wenn es zu schwierig werden sollte. Während des Frühstücks, Abáduca hat gedörrtes Fleisch schmackhaft zurechtgemacht, berichtet Camejo von seinem Traum. Frau und Sohn sehen ihn an, hören ihm aufmerksam zu. Als Camejo mit dem Erzählen einhält, sagt Abáduca: „Du weißt, jeden Tag können Soldaten kommen. Vor ein paar Wochen war einer hier. Vom Pferd ist er gesprungen und hat sich vom Verwalter die Anzahl der Rinder, Pferde und Maulesel sagen lassen. Alles hat er aufgeschrieben, auch nach den Vorräten gefragt. Er mußte es sehr eilig haben, denn
General Simon Bolivar, der Befreier Südamerikas
seinem Pferd gönnte er nicht einmal eine Ruhepause. Fragen beantwortete er nicht. Niemand hat erfahren, für wen er sich erkundigt hat." Camejo war an jenem Tag weit draußen gewesen, um die Rinder zusammenzutreiben, denn die Tiere konnten frei weiden und wurden nicht durch Zäune in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Abáduca hatte ihm vorsorglich nichts von dem fremden Reiter erzählt. „Dann ist es also wahr? Wir müssen wieder in den Krieg?" Nachdenklich sagt es Camejo, und zu Manuelote gewandt: „Ich zeige dir heute, wie man mit der Lanze umgeht, denn diesmal mußt du mit in den Kampf." Er wechselt einen Blick mit der Mutter, ergreift seine Lanze und verläßt die Hütte. Manuelote nimmt noch einen Schluck Wasser und folgt ihm, wobei er der Mutter zuversichtlich zulächelt. Sie tritt hinter ihm hinaus und verfolgt die Vorbereitungen der beiden für den Ausritt. Camejo schnallt sich Sporen an die nackten Füße, schwingt sich behend auf sein Pferd und dreht sich nach Manuelote um. Sie setzen ihre Pferde in Trab. Abáduca wendet sich ihrer täglichen Arbeit zu. Sie reitet zum Fluß Wasser holen. Das Ufer steigt sie vorsichtig hinab und gibt acht, daß ihr kein Krokodil gefährlich werden kann. Als sie die Holzeimer vollgeschöpft hat, verhält sie ein Weilchen, bis sich die Wasserfläche glättet, und betrachtet ihr Spiegelbild. Sie verspürt unendliche Lust, sich wieder einmal ihr Gesicht mit roter Farbe zu bemalen. Und sie denkt zurück. Einem Stamm der Kariben hatte sie
angehört, den ursprünglichen Besitzern des Bodens. Ihr Stamm hatte vor den eindringenden Spaniern immer weiter von der Küste in das Innere des Landes flüchten müssen. Trotzdem ließen die Weißen sie nicht in Ruhe. Immer wieder drangen unverhofft Soldaten in ihr Dorf ein und nahmen aus ihrer Gemeinschaft Indianer mit, die nie zurückkehrten. So wurde auch sie eines Tages von Soldaten weggeschleppt. Zweimal versuchte sie zu fliehen. Die Peitschenhiebe, die sie auf der Mission im Beisein des Priesters erhalten hatte, brannten noch auf ihrer Haut. Camejo, der riesige Neger, nahm sie in seine Hütte, und als sie Manuelote zur Welt brachte, dachte sie nicht mehr an die Rückkehr zu ihrem Stamm. Doch immer dann, wenn sich Gefahr ankündigt, sehnt sie sich nach den Ihren. Existiert ihr Stamm eigentlich noch? Aus ihren Gedanken reißt sie eine Horde Wasserschweine, die durch das Ufergestrüpp bricht und sich in das Wasser stürzt. Abáducas Spiegelbild verzerrt sich allmählich im bewegten Wasser. Da bemerkt sie ein Krokodil, das sich ganz in ihrer Nähe befindet und zum Wasser lauft. Das also hat die Schweine aufgeschreckt! Flink packt die Frau ihre beiden Holzeimer und läuft zu ihrem Pferd. Dann hängt Abáduca die Eimer rechts und links an das Pferd und führt es die steile Uferböschung hinan. An ihrer Hütte angelangt, ruht sie sich erst einmal aus. Etwas später kontrolliert sie das ausgesäte Gemüse in einer alten Piroge, die einen halben Meter über dem Erdboden auf zwei Astgabeln liegt; das ist eine alte
General Francisco Santander Erfahrung, so können die großen Ameisen, die Würmer und auch das Unkraut die Keimlinge und jungen Pflanzen nicht zerstören. Die Frau freut sich, daß alles Gesäte schön aufgegangen ist, und spritzt etwas Wasser in das „Bootsbeet". Gut gelaunt bereitet sie dann die Fässer für die Käserei vor. Aber bei dieser einfachen Tätigkeit kommen ihr wieder die
Gedanken an den bevorstehenden Kriegszug. Wie werden sich ihr Mann und ihr Sohn dazu stellen? Sicher werden sie mitziehen; es geht ja um die Freiheit. Doch wie viele Männer und Söhne werden nicht zurückkehren! Am besten, denkt sie, ich gehe mit ihnen. Was soll ich allein zurückbleiben? Meine beiden Männer brauchen mich vielleicht manchmal in den Pausen zwischen den Kämpfen. Der Gedanke wird zum Entschluß. Leise singt sie das alte, fast vergessene Indianerlied: „Zwei, die sich lieben, trennen zu wollen, heißt Holz aufs Feuer werfen und zusehen, wie es verbrennt." Zur selben Zeit versucht Manuelote, ein wildes Pferd zu bezwingen. Mit aller Kraft krallt er sich in der Mähne des Tieres fest, das vorn und hinten hochgeht und in verzweifelter Abwehr den Reiter abwerfen will. Manuelote sieht und hört nichts. Ängstlich versucht er, oben zu bleiben. Das Pferd bäumt sich hoch auf, springt, rast über die Ebene, bäumt sich wieder auf... Der ungebetene Reiter aber sitzt fest auf seinem Rücken. Da schnappt das Fohlen nach den Beinen Manuelotes. Die zucken zurück. Wieder bäumt sich das Tier auf, springt, rast, schnappt nach den Beinen, galoppiert. Nach einem kurzen Trab wirft es sich wütend gegen seine Gefährten, als ob diese ihm helfen könnten. Aber sie weichen aus. Schweiß bricht ihm aus, es kann nicht mehr. Völlig erschöpft bleibt es zitternd stehen.
Manuelote möchte des Vaters Urteil hören, vor allem aber will er von ihm lernen, wie man die Lanze zu führen hat. In seinem Gesicht steht der Entschluß, kämpfen zu wollen. Wenn die Sklaven des Hatos und sie ein Stück Boden bekämen, hatte der Vater ihm gesagt, auf dem sie frei arbeiten könnten, dann lohne es sich, das Heimatdorf für die Zeit des Kampfes zu verlassen und das Leben zu wagen. Schluß dann mit dem Auspeitschen der Hato-Sklaven! Schluß dann mit der Demütigung durch die spanischen Grundherren! Kaum will ihm das in den Kopf. Seine Gedanken kreisen nur immer um den Wunsch, um das Ziel: Freiheit. Wird er sie jemals erleben? Endlich wendet sich der Vater ihm zu. Das Fest für San Benito in Betijoque Nach einer Fahrt den Apure aufwärts und nach langem Marsch durch die Ebene kommen Camejo und Manuelote gerade zur rechten Zeit, um noch an der Einzugsprozession San Benitos in Betijoque, einer kleinen Ortschaft in der Provinz Trujillo, teilzunehmen. Sie lassen den Zug erst an sich vorüberziehen, ganz gefangengenommen vom Rhythmus der Trommeln und der bewegten, farbenprächtigen Menge. Manuelote hat nie eine so unübersehbare Masse von Negern, Mulatten, Mestizen, Zambos und Weißen gesehen. Menschen aller Schattierungen von schwarz bis weiß tanzen ausgelassen in den Straßen. Die
Chimbángueleros schreiten mit ihren langen Trommeln langsam in der Mitte der Straße. Vor ihnen ein Zug Kinder. Manuelote folgt verwundert mit den Augen den prächtigen Kronen aus leuchtend blauem Papier, mit bunten Federbüschen geschmückt, die sich im Takt der Schritte vor- und zurückneigen, den Trommelwirbeln vorausgehend, als ob sie den Rhythmus bestimmten. Manuelotes Blick wird von dem Bild des schwarzen Gottes San Benito angezogen, das vier Neger auf ihren Schultern tragen. Ihnen folgt die große Prozession, tanzend, singend, fröhlich, mit den Angehörigen, Freunden und Bekannten schwatzend, die von weither gekommen sind, um hier zu feiern und den schwarzen Gott anzubeten. Auch Manuelote will sein Gelübde ablegen für das kommende Jahr und San Benito für seinen Beistand danken, den er ihm gewährt hatte, als ihn eine Boa angriff. Er glaubt, dieser Gott habe ihm auch geholfen, die vom Tropenregen eingestürzte Hütte wieder aufzubauen. Manuelote faßt den Vater am Arm. Er will sich in die Menge einreihen. Schon bewegt er sich im Rhythmus der Trommeln. Camejo bleibt ernst gestimmt. Er schaut nach Freunden aus, hält sich aber in Manuelotes Nähe, den Blick auf die bunte, tanzende Menge gerichtet, die gleich einem Meer zu wogen scheint. Es ist ihm seltsam, daß sie zum Trommelschlag die Tänze ihrer fernen Heimat Afrika tanzen und nur an ihre Götter denken und nicht an den spanischen Gott, den sie vor sich hertragen. San Benito ist schwarz wie sie und
vertritt hier für sie all ihre Götter Afrikas, den Gott des Regens, den Gott der Fruchtbarkeit, aber Camejo konnte nicht wissen, daß auf Anweisung des Indienrats von Spanien, der für die Regierungen der spanischen Kolonien zuständig war, Feste und Bruderschaften, die Cofradias hießen, für die Neger organisiert wurden. Sie sollten eine Art Ventil sein, durch das die während des Jahres angestaute Unzufriedenheit der Unterdrückten, besonders aber die der schwarzen Sklaven, abgelassen werden soll. Sie dienen aber auch der Verschmelzung der Kultur und der Religion der Neger mit der Kultur Spaniens und der katholischen Religion. Die Cofradias vermitteln auch tatsächlich die Illusion, der Farbige nehme die gleiche Stellung ein wie der Weiße. Camejo fühlt sich zum Nachdenken über sein Leben gedrängt. Vom ersten bis zum letzten Sonnenstrahl auf dem Pferd und die wenige verbliebene Zeit zur Erholung, zur Sicherung des Unterhalts der Familie nutzend, sind ihm diese Gedanken noch nie gekommen. Glauben sich die Sklaven in den Festen für San Benito, San Juan oder San Antonio genug verbunden? Zwei Tage wird das Fest dauern, dann wird jeder Sklave wieder allein der Willkür des Besitzers und dessen Verwalter ausgesetzt sein. Gleich einem Außenstehenden verfolgt Camejo die Prozession. Das Lied der Menge „San Benito ist schwarz, aber empfindlich, wer ihn verachtet, möge sich hüten", flößt ihm Zweifel an der Macht San Benitos ein. Unklar glaubt er einen Zusammenhang zu
entdecken. Hatte er nicht als Kind lange Jahre in einem unabhängigen Gemeinwesen ehemaliger Negersklaven gelebt? Dort existierten noch die Organisationsformen und Bräuche der Väter. Aber Soldaten hatten ihr kleines Dorf zerstört und alle Bewohner, noch einmal als Sklaven verkauft. Ihm war es mit Hilfe eines Freundes gelungen, die erforderliche Summe Geldes zu sparen und sich loszukaufen. Hipólito aber wollte nicht mehr unter der Aufsicht weißer Verwalter leben. Deshalb gab Camejo ihm sein letztes erspartes Geld und sagte, daß er bestimmt wieder ein unabhängiges freies Dorf, das nur von , Afrikanern bewohnt ist, finden werde. Camejo folgte ihm nicht, er hatte keine Hoffnung. Tatsächlich existierten solche unabhängigen afrikanischen Gemeinwesen, die sich oft über Jahre halten konnten. Venezuela wagte schon seit über einem Jahrhundert nicht mehr, Sklaven einzuführen, aus Furcht vor den ständigen Negeraufständen. Mehr als 60000 Neger, die über Cartagena, die Küstenstadt Neu-Granadas, nach Venezuela gelangt waren, lebten dort. Die Organisierung von Cofradias für die Neger war eine andere Maßnahme, Unruhen vorzubeugen sowie zu verhindern, daß die Neger flüchteten. Automatisch schreitet Camejo neben seinem Sohn. Mittlerweile ist der Nachmittag angebrochen, und der Zug nähert sich unter einförmigen Trommelklängen dem Bürgermeisteramt. Der „Präsident" der Cofradia San Benitos waltet seines Amtes. Für 24 Stunden dürfen die Neger Herren spielen. Sie betreten würde-
voll das Haus, nehmen die Beamten fest, legen ihnen Geldstrafen auf. Der Neger, der als „Präsident" fungiert, läßt sich die Schlüssel für die Gefängniszellen aushändigen, und seine Gehilfen schreiten jubelnd hinzu, die Türen zu öffnen. Der alte Neger-„Präsident" wird nun an Stelle des weißen kreolischen Richters kleine Streitfälle schlichten und Gefangene freilassen. Camejo will das genau verfolgen und drängelt sich durch die Menge in die Nähe der Gehilfen. Der „Präsident" beginnt die Gefangenen herauszusuchen, die Radau in den Straßen veranstaltet hatten oder die wegen übermäßigen Trinkens von Alkohol hierher gebracht worden waren. Plötzlich wird der „Präsident" in seiner Amtshandlung unterbrochen. Lärm dringt aus einer geöffneten Zelle. Er sieht die Umstehenden zwar auseinanderweichen, doch weiter nichts. Man sagt ihm, eine Indianerin sei, ohne sein „Urteil" abzuwarten, geflohen. Das zwingt den „Präsidenten", das Gebäude sofort zu verlassen. Eilig, ja, gehetzt stürmt er davon; er ängstigt sich, hart bestraft zu werden. Camejo hat aber den Vorfall genau verfolgen können. Die Indianerin, den Trubel ausnutzend, hatte sich schnell und gewaltsam einen Weg gebahnt. Nun folgt Camejo ihr, um ihr beizustehen. Vielleicht, so geht es ihm durch den Kopf, kann sie auf seiner Farm arbeiten. Der Verwalter wird gewiß nicht böse sein, wenn er, ohne nach der Herkunft fragen zu brauchen, noch ein Paar Hände für die Arbeit bekommt. Da sieht Camejo die Frau wieder vor sich. Mühsam drängt sie sich durch die dichte Menge. Eine Gruppe Trommler,
die kräftig auf ihre langen, dumpf klingenden Instrumente schlagen, versperren ihr den Weg. Da ist der Neger schon an ihrer Seite. Klein, lange schwarze Haare, offene Wunden am Armen und Beinen — das nimmt er zuerst wahr. Die Wunden können nur von Mißhandlungen herrühren. In einem ähnlichen Zustand war damals seine Frau in seine Hütte gekommen. Camejo will der Geflohenen zuerst Ruhe einflößen und sagt ihr: „Brauchst dich, bis die Sonne wieder aufgeht, nicht zu fürchten. San Benito regiert noch vierundzwanzig Stunden, und die Menge verbirgt dich. Ich bringe dich sicher aus dem Ort. Aber woher kommst du eigentlich? Was ist dir geschehen?" Die Indianerin wird ruhiger; allmählich atmet sie nicht mehr so heftig. Ein dankbarer Blick streift Camejo. „Von den Caronimissionen, oben am Orinoko, habe ich versucht, zu meinen Angehörigen zurückzukehren. Missionare haben mich Soldaten abgekauft; auf ihren Baumwollplantagen habe ich schuften müssen. Als sie meine Flucht bemerkt hatten, verfolgten sie mich." Camejo überlegt, wohin er mit der Frau gehen könnte. Doch da erblickt er einen großen stämmigen Neger. Den kenne ich doch? Aber der Mann dreht ihm den Rücken zu und legt dem weißhaarigen Verwalter der Cofradia etwas Gemüse in den Korb, kniet sich dann vor das Heiligenbild, das der Verwalter in dem Korb trägt, und küßt es. Als der Neger aufsteht, erkennt Camejo ihn. Kein Zweifel, das ist Hipólito, sein
Kampfgefährte aus der Armee unter Boves. Camejo bedeutet der Indianerin, auf ihn zu warten. Dann stürzt er los, seinen Freund zu begrüßen. Hipólito wehrt ihn befremdet ab. Doch schon zeigt sich Staunen auf seinem Gesicht, ein Lächeln. „Camejo!" Seine kräftigen Arme umfassen den Freund. „Wie kommst du hierher?" schreit Camejo Hipólito zu, denn die Trommeln dröhnen noch, obwohl der Lärm abklingt, weil man San Benito in die Kirche gebracht hat und die Trommler sich nach und nach zerstreuen. Camejo zieht den Freund bei diesen Worten mit sich, um die Indianerin nicht so lange allein zu lassen. „Ich bin beauftragt, Männer für General Páez auszuheben. Weißt du, wer dieser General ist? Aber was, Camejo, hast du nach unserer Trennung gemacht?" Bei diesen Fragen mustert er aufmerksam die Indianerin. Er errät sofort ihr Schicksal. Von Páez weiß er, daß die spanische Regierung zwar Indianerschutzgesetze erlassen hat, aber daß diese Gesetze noch niemals eingehalten worden sind. „Eine Schande ist das", stößt er hervor, „die Missionare stacheln durch dicke Prämien die Soldaten förmlich zur Jagd auf die Indianer an. Wann endlich wird dem Einhalt geboten? Kannst du ihr helfen, Camejo?" Hipólito weist auf die Indianerin. Camejo will gerade antworten, aber die Indianerin kommt ihm zuvor. Allein wird sie gehen, meint sie, zu
ihrem Stamm zurückfinden. Hartnäckig beharrt sie auf ihrem Vorhaben und schüttelt alle Warnungen und Hinweise auf Gefahren ab. Camejo gibt ihr seine noch nicht angebrochene Flasche mit Wasser, und Hipólito kauft ihr Fleisch und Brot. Der Abend naht, die Indianerin geht schnell davon. Camejo bittet den Freund, ihn in die Kirche zu begleiten. Er vermutet seinen Sohn dort. Nur noch vereinzelt hören sie die Trommeln. Camejo erzählt von dem Leben auf dem Hato und erkundigt sich, wie die Lage ist. Freunde sind beide schon seit 1814. In jenem Jahr waren häufig Truppen Bolivars durch die Siedlungen am Apure gezogen. Auch das Hato Camejos war nicht verschont geblieben. Ohne jede Ordnung marschierten die Soldaten ein und forderten von allen Einwohnern Lebensmittel und Kleidung für den Unterhalt der Armee. Sich nicht darum kümmernd, ob den Bewohnern genug zum Essen blieb, nahmen ihnen die Soldaten alles, was sie finden konnten. Camejo nahmen sie das Ferkel, das er für teures Geld gekauft hatte und fett füttern wollte. Dem Nachbarn rissen sie die Kleider vom Leibe. Die Offiziere aber nahmen keine Notiz von Übergriffen ihrer Soldaten. Und so war damals für lange Zeit die republikanische Armee bei den Armen verhaßt. Die Einwohner der Gegend am Apure waren aber viel mehr darüber verbittert, daß diese Armee, deren Soldaten ihnen nicht erklären konnten, warum sie Krieg führten, schonungslos Menschen umbrachte. Und es hatte sich
herumgesprochen, daß Bolivar den „Krieg ohne Gnade" gegen alle Spanier und Kanarier führte, die sich neutral verhielten und nicht für die Unabhängigkeit Venezuelas von Spanien kämpften. Deshalb nahmen die Bewohner der Ebenen am Apure freundlich Boves auf. Boves, der ehemalige spanische Kaufmann, erklärte alle Neger für frei und forderte sie auf, um ihre soeben erworbene Freiheit zu schützen, mit ihm gegen Bolivar zu ziehen. Aber sein Ziel war, Venezuela wieder unter die Herrschaft des Königs von Spanien zu führen. Camejo schloß sich Boves an, da sich seine Lage als freier Neger kaum von der eines Sklaven unterschied. Er wurde der Abteilung Hipólitos zugeteilt, Boves hatte ihn, den Zambo Hipólito, den Sohn eines Negersklaven und einer Indianerin, zum Leutnant befördert. In der Armee von Bolivar hatte Camejo damals keinen farbigen Offizier gesehen. Und so vertraute er Boves. Bei Aragua wurde 1814 die republikanische Armee von spanischen Truppen geschlagen und mußte auf die Antillen flüchten. In den darauf folgenden Auseinandersetzungen festigte sich die Freundschaft zwischen Camejo und Hipólito. Dann wurde Boves in einer Schlacht von einer Lanze durchbohrt und getötet. Auch Hipólito hatte es in dieser Schlacht erwischt, Camejo hatte den Freund auf sein Pferd gehoben und es zu seinem Hato geführt. In seiner Hütte erholte sich der Freund trotz aller Sorge der Familie nur langsam. Dann drangen Gerüchte in die Siedlung: Guerillaeinheiten würden gebildet.
Kurze Zeit nach diesen aufregenden Nachrichten war Hipólito verschwunden. Später hatte Camejo erfahren, daß sein Freund zu den Guerillas gegangen war. Während des Gesprächs gelangen beide zur Kirche. Sie sehen Manuelote auf den Stufen des Portals sitzen und sich mit anderen unterhalten. Er beißt hin und wieder in ein Stück Maiskuchen. Einige der Jungen haben Trommeln neben sich stehen. Aber nur selten schlägt einer leise einen Rhythmus. Da sieht der Sohn seinen Vater und geht ihm ein paar Schritte entgegen. Staunend erkennt er in Hipólito den Verwundeten, den die Mutter vor Jahren gesund gepflegt hatte. Er erinnert sich daran, daß ihm Vaters Freund damals eine Flöte geschnitzt und daß Hipólito geschickt an einem Baumstamm gearbeitet hatte, der bald zu einem Boot geworden war. Freudig begrüßt er den Neger. Rasch beginnt es dunkel zu werden. Im nahen Wald verklingt das Pfeifen und Singen der Affen. Manuelote lauscht dem sich beruhigenden Urwald. Doch da dringt Hipólitos warme Stimme an sein Ohr, der dem Vater rät, nicht die Hütte zu verlassen, sondern die Werber Bolivars zu erwarten. Das erscheint dem Jungen ungeheuerlich, und er läßt sich nun kein Wort mehr entgehen, wobei er vom Gesicht des Vaters die Antwort abzulesen versucht. Er starrt ihn an, aber Camejo folgt unbeweglich den Erklärungen und Versicherungen Hipólitos. In der größten Gefahr konnte Camejo Hipólitos Hilfe gewiß sein, und in dieser verworrenen Zeit, in der sie von einem Tag zum anderen gezwungen wurden, die
Lanze zu nehmen und zu kämpfen für ein Ziel, das sie nicht kannten und das ihnen niemand erläuterte, für das ihnen Versprechungen gemacht, die aber nicht eingelöst wurden — in dieser Zeit durfte er nur dem vertrauen, der gleich ihm farbig war. Camejo dringt das instinktiv ins Bewußtsein. Hipólitos Blick zeigt ihm Schmerz, aber auch wissende Ruhe, die ihren Quell im unbeugsamen Willen nach Freiheit und Recht für die farbige Bevölkerung hat. In den vergangenen Monaten haben die Hirten, die Lianeros, unter General Páez das gesamte Gebiet der Ebenen von den Spaniern gesäubert. Erst vor einer Woche haben 150 Llaneros bei Queseras del Medio 1000 Kolonialsoldaten durch geschickte Partisanentaktik geschlagen. Nur die Hälfte der Spanier konnte entkommen. „Die Ebenen sind für die Expeditionsarmee Morillos uneinnehmbar." Hipólito hatte lange unter Páez gekämpft und bewundert ihn noch immer. Niemand schien geschickter im Reiten als der General, niemand verstand so gut mit der Lanze umzugehen wie er. Alle Strapazen teilte Páez mit den Lianeros, aß mit ihnen und schlief wie sie auf einer Rindshaut. Der General, selbst einmal ein Hirte der Ebenen, vermochte gleich nach der Niederlage der zweiten Republik, 1814 die enttäuschten Bewohner der Ebenen wieder auf die Seite der Republikaner zu führen. Der General kennt das Gelände, geschickt nutzte er es aus, den Feind immer wieder in Hinterhalte zu locken. Er fing dem
Gegner die zahmen Rinder weg, die die Ernährungsgrundlage seiner Truppen bildeten, zündete das Steppengras an, um sie aufzuhalten. So gelang es Páez, sich bis zur Ankunft Bolivars 1816 zu haken. Dann unterstellte er seine Guerillatruppen dem Kommando Bolivars. „Du darfst nicht verkennen", Hipólito sagt es mit Nachdruck, und teilt nun Camejo und dem mit großen Augen zuhörenden Manuelote überraschende Tatsachen mit, „daß sich unter der Herrschaft des spanischen Königs deine Lage nicht verbessern wird. Das wissen bald alle Lianeros. Bolivar kämpft für die Unabhängigkeit Venezuelas von Spanien. Achtzehnhundertsechszehn hat er die Befreiung der Sklaven proklamiert, den Krieg ohne Gnade für beendet erklärt, den Soldaten bei Strafe verboten, die Bevölkerung zu berauben oder zu belästigen." „Dann steht er also jetzt auf unserer Seite, und die Bevölkerung unterstützt ihn?'' „Uns bleibt kein anderer Weg, als mit Bolivar zu gehen. Zwar sei er einer der reichsten Grundbesitzer, sagt Páez, besitze Plantagen mit Sklaven, Bergwerke, Häuser und Landgüter. Aber er habe bereits seine tausend Sklaven freigelassen. Seine Schwester Antonia habe auf seinen Wunsch auch ihre Sklaven freigelassen. Sie kämpften mit in seiner Armee. Seinen gesamten Besitz verwendet er für den Unabhängigkeitskampf. Es war richtig von Páez, sich Bolivars Oberkommando zu unterstellen. Seit über zwei Jahren kämpfen nun alle bis dahin zerstreut
operierenden Einheiten unter seinem Befehl, und das Ergebnis ist bald greifbar." Hipólito vermeint noch Zweifel in Camejos Gesicht zu sehen und spricht von den bisher erfolglosen Versuchen der Neger, ihrem bedrückenden Leben zu entrinnen. „Alle Aufstände scheiterten. Die unabhängigen afrikanischen Gemeinwesen wurden alle früher oder später wieder aufgelöst und die Mitglieder als Sklaven verkauft. Aber das ist dir ja bekannt. Viele der Entlaufenen leben im Gebirge: Die Cimarrones schließen sich auch der Befreiungsarmee an. Páez hat mich überzeugt, daß wir nur durch unseren eigenen Kampf, mit unserem Freiheitswillen siegen und unser Leben verbessern können." Hipólito erhebt sich, schlägt Camejo auf die Schulter. Camejo erhebt sich ebenfalls, von des Freundes Worten ermutigt. „Eine neue Operation wird gegenwärtig vorbereitet. In der Nachbarprovinz Neu-Granadas, in Casanare, sammelt General Santander Soldaten für eine neue Operation. Bereite dich vor, auch du, Manuelote." Er verabschiedet sich und geht davon. Stabsbesprechung Anfang Februar des Jahres 1819 wird in der Stadt Angostura am Orinoko Simon Bolivar zum Präsidenten der Republik Venezuela gewählt und in seiner Funktion als Oberbefehlshaber der Befreiungsarmee Venezuelas und Neu-Granadas
bestätigt. Er erhält die Erlaubnis, den neuen Feldzug zu leiten. Während seiner Abwesenheit übernimmt der Vizepräsident Zea Bolivars Funktion. Die Republik besteht zu diesem Zeitpunkt nur auf dem Gebiet der Llanos und Guayanas. Die Hauptstadt Cororas befindet sich ebenfalls in den Händen der spanischen Truppen. 1800 Infanteristen und 600 Kavalleristen der Division von Anzoátegui und der englischen Legion unter dem Kommando von Oberst Rocke marschieren auf Mantecal zu. Am Morgen des 23. Mai 1819 führt Bolivar eine Stabsbesprechung durch. In dem verlassenen Dorf Setenta am Apure kommen die Kommandeure der einzelnen Abteilungen zusammen. Soublette, Anzoátegui, Mendez, Carillo, Iribarren, Rangel, Rooke und Manrique betreten eine niedrige Hütte. Da sie dort weder Stühle noch einen Tisch finden, nehmen sie Platz auf Totenschädeln von Rindern, die zur Versorgung der Armee geschlachtet worden waren. Es geht um den weiteren Verlauf der Kampfhandlungen. Bolivar will sie ausführlich mit der bevorstehenden Operation vertraut machen, um möglichst spätere Divergenzen und Ungehorsam, die ihrer Sache schon so viele Rückschläge verursacht hatten, zu vermeiden. General Páez, sein stärkster Verbündeter, hat ihm bereits sein Einverständnis gegeben. Ohne ihn könnte Bolivar überhaupt keine weiteren Schritte unternehmen. Bolivar kommt sofort zur Sache, denn sie müssen sich
nach der Besprechung wieder ihren Abteilungen, die keine Rast eingelegt haben, anschließen. Zunächst informiert er sie über die Lage der Armee. Die Infanterie sei des langen Wartens müde und wolle schnell die Offensive. General Anzoátegui müsse gegen starke Desertation ankämpfen. Über 400 Soldaten und sogar Offiziere seien bereits desertiert. Die Kavallerie habe durch Aushebungen am Apure Verstärkung erhalten. „Die Regenzeit kann jeden Tag beginnen. Nicht nur Hunger, sondern auch Krankheiten und der Mangel an Kleidung drohen unsere Armee zu dezimieren, wenn wir die Regenzeit und den Winter über in dieser Gegend verbringen müssen. Lagunen und Sümpfe sind bei Überschwemmung nur sehr schwer zu überwinden. Die feindliche Armee kann dagegen in ihren Winterquartieren ohne Verluste und gut verpflegt diese Zeiten abwarten und dann unsere geschwächten Truppen ohne Schwierigkeiten aufreiben. Das würde bedeuten, auf den Stand von achtzehnhundertsiebzehn zurückgeworfen zu werden. Die Befreiung Venezuelas muß sich erheblich verzögern, wenn die Armee die Regenzeit untätig verstreichen läßt!" Danach gibt Stabschef Soublette den Inhalt der Depeschen aus Casanare bekannt. General Santander teilt Bolivar mit, daß er im April den Angriff des Oberbefehlshabers der spanischen Armee in Neu-Granada, Barreiro, abwehren konnte. Mit 1800 Soldaten wollte dieser die Patrioten aus Casanares vertreiben. Santander hat die Provinzhauptstadt Pore erobert und dort sein Hauptquartier errichtet.
Bolivar ergreift wieder das Wort. Er schlägt vor, den Feind zu überraschen und Neu-Granada zu besetzen. Er will mit den Divisionen von Páez und Anzoátegui über Cúcuta in das benachbarte Vizekönigreich eindringen, während Santander in Casanare Ablenkungsmanöver unternehmen soll. Dieser kühne Plan überrascht und verwirrt die Offiziere. Keiner hat ein solches Unternehmen für möglich gehalten. Bisher wurde während der Regenzeit nicht gekämpft und die Zeit zur Reorganisation genutzt. Der Marsch durch das überflutete Land würde zusätzliche Opfer fordern. Andererseits kann man gegen die Argumente des Oberbefehlshabers nichts einwenden. Die Lage ist ernst, das weiß jeder. Die Befreiungsarmee hat weniger Soldaten als der Gegner. Dazu kommt noch die miserable Bewaffnung der Republikaner und die mangelhafte Disziplin. Die Verpflegung ist schlecht. Sold wird nur selten oder nie ausgezahlt. Und so ziehen es viele Soldaten vor, lieber davonzulaufen als sich ständig den Strapazen auszusetzen. Aber neue Kämpfer auszuheben und auszubilden ist überaus schwierig; das ist bedingt durch die verworrene Situation zu Beginn des Unabhängigkeitskampfes. Die meisten Leute begreifen weder Sinn noch Ziel des Krieges. Und so sträuben sie sich, ihre Dörfer zu verlassen. Bolivar fährt in seiner Rede fort und begründet seinen Plan: „Wenn diese Invasion glücklich gelingt, dann berauben wir die feindliche Armee der unerschöpfli-
chen Mittel, die der reiche Boden Neu-Granadas ihnen für ihren Unterdrückungskrieg zur Verfügung stellt. Wir ermutigen die verfolgten Einwohner und können Verbindungen mit den Befreiern von Buenos Aires und Chile herstellen. Die Regenzeit steht vor der Tür, die überschwemmten Ebenen fesseln Morillos Heer an das Winterquartier. Dort aber wird es von unserem Vorhaben erst erfahren, wenn es für den Gegner zu spät ist. Die Unterdrücker von NeuGranada wähnen sich sicher, und ihre Winterquartiere liegen weit auseinander. Wenn Morillo von uns hört, ist er nicht mehr in der Lage, Barreiro zu Hilfe zu eilen. Mit den Reserven von Neu-Granada werden wir sehr schnell Venezuela befreien können." Dem Plan wird zugestimmt. Mit etwas Glück wird er zu realisieren sein. Bolivar verpflichtet alle Offiziere zur strengsten Geheimhaltung. Dann teilt er ihnen noch den Inhalt eines vertraulichen Schreibens von Morillo an das Kriegsministerium von Spanien mit, das in seine Hände gelangt ist. Morillo sieht sich selbst auf verlorenem Posten und hält die Sache des spanischen Königs in Südamerika für gefährdet. So fordert er vom Kriegsministerium einen neuen Oberbefehlshaber für die Armee in Venezuela und Neu-Granada, weil das Vizekönigreich zum entscheidenden militärischen Raum Amerikas geworden ist. Er fordert einen Mann mit großen Fähigkeiten. An das Ende seines Schreibens setzte Morillo die schwerwiegenden Worte: „Der Mann bin nicht ich, in ganz Hispanoamerika gibt es ihn nicht."
Route des großen Marsches der Befreiungsarmee Venezuelas und Neu-Granadas unter General Bolivar über die Anden
l TS 169, Stanraw, Entscheidung
Diese geheime Mitteilung bestärkt alle in ihrem kühnen Unternehmen. Nachdem sich die Offiziere entfernt haben, diktiert Bolivar seinem Schreiber die Mitteilung über die Operation an Páez und an den Vizepräsidenten Zea, dem er die folgenden Anweisungen übermittelt: „Die Südarmee muß den Feind ständig in seinem Winterquartier in Calabozo bedrohen, aber immer mit der größten Vorsicht. Wenn der Feind in Richtung Westen marschiert, wie wir ihn zwingen wollen, uns zu suchen, muß General Bermádez schnell operieren und zum unteren Apure vorstoßen, um dort die Täler von Aragua und von Caracas zu besetzen. Die Division des Generals Urdaneta muß voll ausgerüstet zum unteren Apure kommen, da wir jetzt wie nie zuvor Waffen und Ausrüstungen brauchen, um neue Armeen auszuheben. Er muß uns sofort 1000 Gewehre und Blei für 300 bis 400 000 Patronen über den Fluß Meta nach Casanare senden. Wenn möglich, soll er mehr schicken, da wir alles dringlichst benötigen werden. Zea hat den Oberbefehl über die Kampagnen im Süden Venezuelas, auf der Insel Margarita sowie über die Marine beider Gewässer. Er wird sich bemühen, das freie Territorium nicht nur zu verteidigen, sondern auch zu vergrößern sowie unsere Außenbeziehungen zu pflegen und alle nur möglichen Vorteile aus diesen zu gewinnen, um uns vor allem mit Waffen und Munition zu versorgen, die für uns lebenswichtig sein werden, sobald wir die ersten Provinzen Neu-Granadas besetzt haben."
O'Leary, der junge schottische Adjutant Bolivars, kümmert sich um die sichere Weiterleitung beider Briefe. Dann reiten sie schnell, um sich wieder an die Spitze des Heeres zu begeben, das sich auf dem Marsch in Richtung Guasdualito befindet. Der Marsch nach Casanare Zur selben Zeit, Camejo und Manuelote befinden sich kurz vor dem Aufbruch zu Bolivar, kommt eine kleine Abteilung von Anzoáteguis Division in das Hato Camejos mit dem Befehl, Soldaten auszuheben. Der Anführer teilt mit, daß sich alle Männer zwischen dem 15. und 60. Lebensjahr binnen eines Tages in die Listen der Befreiungsarmee eintragen müssen. Wer aber diesen Rekrutierungsbefehl nicht befolgt, werde hart bestraft! Obwohl Camejo und sein Sohn gerade zu Bolivar gehen wollten, sind beide ziemlich überrascht. Sie verstehen die Aushebung von Rekruten in dieser Zeit nicht. Vor dem großen Regen? Wer zieht schon in diesen Monaten in den Krieg? Lange denkt Camejo über die sonderbare Order nach; es muß also eine außergewöhnliche Situation bestehen. Eine heraufziehende Gewitterfront kündigt bereits die langanhaltende Regenperiode an. Der Leutnant, der den Befehl verlesen hat, mustert skeptisch den Himmel, gibt seinem Pferd die Sporen und reitet zum Verwalter des Hato. Es dauert nicht lange, da werden die Hirten
Die Feldzüge der Armee Bolivars
beauftragt, alle Pferde und einen Teil der Rinderherden zusammenzutreiben. Andere Lianeros müssen auf die Jagd gehen. Auch Manuelote zieht mit einigen Jungen in die Ebene, um Wasserschweine, Gürteltiere und Matacamihirsche zu erlegen. All das hat Abáduca von der Hütte aus gesehen. Nun wartet sie, bis alle Männer des Hato den Anweisungen des Verwalters folgen. Dann macht sie sich daran, die schon seit langer Zeit vorbereiteten, unentbehrlichen Sachen zurechtzulegen. Morgen früh, sicher noch vor dem Sonnenaufgang, würde der Abmarsch erfolgen. Würden sie jemals wieder in ihre Hütte zurückkehren, fragt sie sich. Inzwischen hat die Befreiungsarmee den Ort Guasdualito passiert und marschiert nun in Richtung Casanare statt nach Cúcuta, wie in der Stabsbesprechung abgesprochen. Bolivar informiert Zea von dem veränderten Operationsplan und schickt Oberst Lara mit genauen Instruktionen zu General Santander. Er wird seine Armee an dem Punkt konzentrieren, von dem aus sich der Einfall in Neu-Granada über die Anden am günstigsten realisieren läßt. Páez wird in den Tälern von Cúcuta die Aufmerksamkeit Barreiros auf sich lenken. Zea soll General Mac Gregor auffordern, die an der Küste Neu-Granadas gelegene Stadt Santa-Marta anzugreifen. Der Feind würde bald nicht mehr wissen, wo er sie zuerst abwehren sollte. Der Erfolg ihres Unternehmens hing ganz von der Schnelligkeit, dem Stillschweigen und dem pünktlichen Operieren aller Befehlshaber zur selben
Zeit ab. Mit General Páez habe Bolivar diesen Plan bereits abgesprochen. „Oberst Iribarren ist mit seiner Schwadron Husaren desertiert. Vierzig Mann sind nicht mit ihm gegangen." Adjutant O'Leary erstattet Bolivar Meldung. Unbeweglich nimmt er sie entgegen, dankt und wendet sich seinen Truppen zu. Die bemühen sich unweit von ihm, den Fluß Arauca zu überqueren. Von General Anzoátegui läßt er sich über den Stand der Überwindung unterrichten. „Wir brauchen auf jeden Fall mehr Zeit, als ursprünglich geplant. Die englische Legion hat besondere Schwierigkeiten überzusetzen. Die meisten können nicht schwimmen und fürchten sich vor den Krokodilen. Alle müssen mit Booten hinübergebracht werden. Sie bauen schon welche aus Rindshäuten." Anzoátegui, einer der jüngsten Generale der Befreiungsarmee, hat sich bereits beim Aufstellen neuer Truppen und bei deren Waffentraining verdient gemacht. Seit 1817 ist er bei allen Kampagnen der erste Berater des Oberbefehlshabers. Zu Iribarrens Flucht meint er: ,,In der Stabsbesprechung hat er unserem Plan zugestimmt, Oberbefehlshaber, und keinerlei Bedenken geäußert. Das hier ist Verrat!" „General, vor etwa zehn Jahren traf ich in Paris den deutschen Baron Alexander von Humboldt, der einige Jahre hier in Südamerika gewesen ist. Er sagte mir damals, Südamerika sei reif, seine Unabhängigkeit von Spanien zu erringen. Ob er sich vorgestellt hat, wie schwer es sein wird, alle Interessen der
Einheimischen zu vereinen? Wenigstens erst einmal für den großen Freiheitskrieg? Dennoch, General, bin ich überzeugt davon, daß die Republik genug ihr treue Offiziere hat, die allen Widrigkeiten zum Trotz die Spanier vertreiben werden." Anzoátegui will seine Meinung dazu äußern, doch da kommt Oberst Rooke, der Kommandeur der englischen Legion, auf sie zu. Neben ihm läuft ein Neger. Sie begrüßen sich, Bolivar und Rooke verbindet eine alte Freundschaft. Der Oberst ist erst vor ein paar Stunden beim Gros eingetroffen. Mit ein paar hundert Freiwilligen war er aus Europa herübergekommen, Bolivar zu unterstützen. Der schnelle Aufbruch der Befreiungsarmee ließ aber keine Zeit für ein Gespräch zwischen den beiden Männern. „Nun, Oberst", meint Bolivar nach der herzlichen Begrüßung, „was denkt England über uns?" Rooke antwortet: „Auf meiner Insel wurde viel über Ihren Freiheitskampf geschrieben. Viele Freiwillige melden sich. López Méndez, Ihr Londoner Agent, bemüht sich erfolgreich um Kredite. Nun, die englischen Banken scheinen gut auf Sie zu sprechen zu sein. Méndez wird bald in Südamerika eintreffen. Dann werden Sie es selbst hören. Ja, und die Ausrüstung meiner Freiwilligen wurde auch von den Banken bezahlt. Des weiteren hörte ich in Brüssel, Oberst Streruwitz habe ein deutsches Freikorps aufgestellt, das bald in Angostura eintreffen soll." „Das sind gute Nachrichten, Oberst Rooke. Ich danke Ihnen. Und wie geht es Ihnen?"
„General, ich habe nie ein besseres Klima erlebt." Während er lächelt, schüttelt er sich. „Sehen Sie selbst, brrr!" Wassertropfen springen von der Uniform Rookes ab. Noch einmal schüttelt er sich und lacht. „Ein wundervolles Klima, General." Bolivar grinst vergnügt, und Anzoátegui schlägt sich vor Begeisterung auf die nassen Oberschenkel. Plötzlich streckt der Oberst seine Hand Bolivar entgegen, öffnet sie sacht; eine bunt schillernde Eidechse windet sich auf ihr. Der Oberbefehlshaber lacht herzlich. „Wo haben Sie denn dieses Prachtexemplar gefangen?" Camejo, der Neger neben Rooke, freut sich über den Humor der beiden großen militärischen Führer. „Die Eidechse hat mir der Neger geschenkt. Camejo ist unser bester Pfadfinder, ortskundig und auch in der Natur bewandert. Er vermag sachkundig Pflanzen und Tiere zu bestimmen. Ein kluger Mann, dieser Neger." Der Oberst lächelt Camejo zu. Seit Camejos Trupp zur Armee gestoßen war, führt der Neger die englische Legion durch das ihm vertraute Gelände. Manchmal kommt Rooke zu ihm und fragt nach Pflanzen und Tieren. Bolivar freut sich über das freundschaftliche Verhältnis zwischen diesen beiden Männern. In seiner Armee gibt es ein so gutes Verstehen zwischen Offizieren und Soldaten nicht oft. Der Oberbefehlshaber nimmt sich vor, dieses Verhältnis in seiner Armee schnell zu entwickeln. Camejo, der neben dem englischen Oberst durch das
Hochwasser watet, um zur Legion zu gelangen, die sich mühsam vorwärtsbewegt, sieht Manuelote. Sein Sohn bemüht sich, englischen Soldaten zu helfen, die diese Strapazen nicht gewohnt sind. Camejo schiebt sich ein Stück Tabak in den Mund und mustert skeptisch das von Sand und Schlamm getrübte Wasser. Krokodile sind immer gefährlich! Sorgfältig sucht er die Wasserfläche, soweit er blicken kann, nach diesen Reptilen ab. Erleichtert sieht er, wie die Krokodile vor den Soldatenmassen flüchten. In diesem Moment verfinstert sich der Himmel noch mehr, und der Regen wird stärker. Regen? Camejo ist es, als sei der Fluß über ihm, so peitschen die Wassermassen herab. Der Oberst neben ihm ist kaum zu sehen. Camejo konzentriert sich nun darauf, schnellstens an die Spitze des Zuges zu kommen, und orientiert sich an den Baumgruppen, die aus dem Wasser ragen. Die ersten Trupps haben am anderen Ufer schon festen Boden unter den Füßen. Aber das Wasser steigt schnell. Die Soldaten, die er überholt, mühen sich, ihre Gewehre trocken zu halten. Sie tragen sie mit einer Hand über dem Kopf, mit der anderen halten sie die Kuhhautbündel hoch, in denen sich die Munition, etwas Verpflegung und die Decke befinden. Das Wasser scheint einem Ozean zu gleichen. Camejo kann die anderen nur schemenhaft erkennen, derart strömt der Regen. Ein Gewitter nach dem anderen bricht auf sie herein. Vom Blitz geblendet, hält Camejo inne, will den Regen aus seinem Gesicht wischen, schöpft Atem.
Drüben an der Palmengruppe müssen wir vorbei, sagt er sich, und bahnt sich, das Wasser zu beiden Seiten schaufelnd, einen Weg. Da rutscht er aus, kann sich aber fangen. Mit den Füßen stellt er fest, daß er in das Bett eines Baches geraten ist. Sofort brüllt er den Folgenden zu, daß sie vorsichtig sein sollen. Seitlich bemerkt Camejo ein totes Pferd, das Karibenfische umschwärmen. Hoffentlich stürzen sie sich nicht auf uns, denkt er. Er tastet nach dem Tabakbeutel auf seiner nackten Brust, der, an einer Schnur befestigt, um seinen Hals hängt, fingert sich ein Stück Tabak und kaut es. So fühlt er sich geschützt gegenüber diesen Karibenfischen. Froh ist er, daß da das Pferd liegt; so lassen die scharfzahnigen Fische wenigstens die Soldaten in Ruhe. Vor ihnen taucht eine Baumreihe auf, sie markiert das Ufer der Lipa, die nun überwunden werden muß. Den Lianeros ist sie kein Hindernis. Sie schwimmen, Gewehr und Bündel über Wasser haltend, hinüber. Die Legionäre aber werden auf Rindshäuten über den Fluß gezogen. Je zwei in einer Haut, so ziehen sie die Hirten mit langen Stricken über das Wasser. Manuelote hat den Auftrag bekommen, die Herde für die Verpflegung hinter der Armee herzutreiben. Durch die Anstrengungen des Marsches in der schwülen Hitze der Regenzeit ist er völlig erschöpft. Die Rinder und die Pferde wehren sich, und ständig muß er ausgebrochene Kühe in die Herde zurücktreiben. Die Pferde mit den wertvollen Lasten
— Gewehre, Munitionskisten — dürfen nicht verlorengehen. Wenn doch nur Wind aufkommen wollte; der Regen erfrischt nicht. Er fällt und verdunstet bald wieder. Manuelote taumelt. Ein Llanero von vorn kommt ihm zu Hilfe, stützt ihn und bringt ihn zu den Kranken, die auf Pferden transportiert werden. Er meint, wenn sich Manuelote wieder stark fühlt, dann soll er seinen Platz wieder einnehmen, bis dahin wird er die widerspenstige Herde zusammenhalten. Er hilft Manuelote noch auf ein Pferd. Am l1.Juni, einen Tag vor den Hauptkräften, erreicht der Stab der Befreiungsarmee Tame. Mit General Santander bereitet Bolivar die nächste Etappe vor. Seit einem Jahr schon weilt Santander in Casanares, so wie es ihm Bolivar befahl. Santander hat ein beträchtliches Waffenarsenal zur Verfügung, Zug- und Tragetiere sowie ausreichend Nahrung. Der Siebenundzwanzigjährige hat die Provinz sehr gut zur Verteidigung vorbereitet. Diese Provinz, durch die Kordillere von dem übrigen Vizekönigreich getrennt, hatte die spanische Armee nie ganz unterwerfen können. So stellten sich die Guerillaeinheiten sofort unter Santanders Kommando, da sie selbst merkten, daß sie ohne einheitliche Führung die Provinz nicht ständig schützen könnten. Santander berichtet Bolivar, daß die gesamte Provinz zur Offensive bereit ist. „Die Bewohner wollen sich für den Terror von Barreiro rächen und uns tatkräftig unterstützen. Auch auf der anderen Seite der
Kordillere erwartet uns jede Hilfe. Ihr Aufruf, General, vom August achtzehnhundertachtzehn, mit dem Volk Neu-Granada zu befreien, hat den Einwohnern der Provinz Sogamoso Mut und Kraft gegeben; starke Guerillaeinheiten operieren dort bereits, man wartet nur noch auf unseren Einmarsch. Für die Überquerung der Kordillere stehen meine Kavallerie in Pore bereit sowie genügend Transporttiere und Rinder." Bolivar ist nun die Sorge genommen, nicht genügend Tragtiere und Verpflegung zu haben. Ohne diese wichtigen Veraussetzungen hätte seine Befreiungsarmee auf Kosten der Bevölkerung versorgt werden müssen. Wären nicht große Teile des Volkes gegen die Armee aufgetreten? Und über das Gebirge müssen die Truppen eine riesige Menge an Nahrung mitführen. Den dort lebenden Indios kann man nichts wegnehmen, denn sie bauen gerade so viel an, wie sie verbrauchen können. Der Oberbefehlshaber macht dann den General mit der endgültigen Einteilung der Armee für die Operation vertraut. „Ihre Truppen, General, bilden die Vorhut. Die Parole heißt: ,Freiheit oder Tod', das Erkennungswort auf die Frage ,Wer da?' lautet für die gesamte Armee ,Das freie Amerika'." Anschließend verfaßt Bolivar eine Nachricht an General Páez, in der er ihn über seine Vereinigung mit Santander informiert und über den geplanten Weitermarsch am 15. Juni unterrichtet. Unter anderem schreibt er: „Die Praxis bestätigt, daß wir in
spätestens zwölf Tagen in Sogamoso sein werden, so langsam die Märsche auch vonstatten gehen mögen. Ich werde gewiß am 27. Juni in Sogamoso ankommen, und Sie müssen Cúcuta etwas früher besetzen, d. h. zwischen dem 25. und 27. Juni. Sie dürfen aber nicht länger als fünfzehn bis zwanzig Tage von den venezolanischen Ebenen abwesend sein..." Dann überprüfen Bolivar und Santander die Vorbereitungen für den Empfang der Armee Anzoáteguis. Einen Tag später trifft, nach langem Mühen und über viele Hindernisse hinweg, die Armee in Tame ein. Jubelnd umarmen sich die Soldaten beider Armeen. Santanders Leute zeigen den Eingetroffenen ihre Quartiere. Endlich Ruhe! Endlich Sauberkeit! Über 200 Kilometer sind sie durch Schlamm und Wasser, bei strömendem Regen marschiert. Todmüde fallen die Soldaten auf ihre Lager. Camejo faßt seine Ration Fleisch, Bananen und etwas Salz. Die anderen befinden sich bereits in Quartieren, er aber findet noch keine Ruhe. Wohin geht der Marsch, fragt er sich. Noch hat ihnen kein Offizier gesagt, wohin sie marschieren. Sein Blick fällt auf die nahe Südkordillere, die sich gewaltig hochreckt. Hier in Casanare fühlt er sich noch wie zu Hause. Es ist die gleiche Landschaft, es sind dieselben Schwierigkeiten, mit denen er fertig werden muß. Die Bewohner ähneln sehr den Hirten aus seiner Gegend. Ein Greis bittet ihn in seine Hütte. „Ich muß erst meinen Sohn und die Frau suchen, dann
bin ich dein Gast", sagt Camejo zu ihm und läuft durch die Siedlung. Endlich stößt er auf Manuelote, der ihm freudig entgegenläuft. Während beide zum Troß gehen, erzählen sie sich, wie sie die erste Etappe des Marsches überstanden haben. Abáduca treffen sie fröhlich, aber doch sehr müde an. Am nächsten Tag sollen die beiden wieder anderen Einheiten zugeteilt werden; bis dahin darf die Familie zusammenbleiben. Am 15. Juli verläßt das Heer Tame. An der Spitze des langen Zuges marschiert Santanders Division. Die Strapazen beginnen von neuem. Der Regen peitscht erbarmungslos auf die Soldaten hernieder. Camejo wurde den Truppen Santanders zugeteilt, und er kämpft im Jägerbataillon von Oberstleutnant Antonio Arredondo. Die Soldaten tragen ihre Gewehre und die Munition in einer Rindshaut. Camejo hat keine Hand frei, da er die Lanze statt eines Gewehrs mit sich schleppt; der Schußwaffe mißtraut Camejo, denn mit seiner Lanze ist er sicherer. Der schlammige Boden fordert seine ganze Aufmerksamkeit. Das Wasser reicht ihm schon bis zur Hüfte. Nur langsam kommt man voran, und dabei müssen alle auf die gefährlichen Karibenfische, auf Schlangen und Krokodile aufpassen. „Halt!" ruft einer vorn. „Halt! Hier ist der Fluß!" Der Casanare ist erreicht. Nun muß man übersetzen. Camejo hat den Befehl erhalten, einen sicheren Übergang zu finden. Bisher hat das Überwinden von
Wasserläufen keine sehr großen Schwierigkeiten gemacht. Aber schon beim Suchen nach einer zumutbaren Tiefe in dem reißenden, eigentlich sehr flachen Wasser, weiß der Neger, daß es hier nicht leicht sein wird. Santander ist in seiner Nähe und wartet ungeduldig darauf, daß seine Truppen endlich übersetzen können. Camejo markiert einen gefundenen Abschnitt, in dem man mit Pirogen und Flößen überzusetzen vermag. Immer schwieriger wird der Übergang. Viele Esel und Pferde mit Ausrüstung und Verpflegung ertrinken. Camejo hilft einem Reiter, sein Pferd, das an dem steilen Ufer ausgerutscht ist, aufzurichten. Da sieht er, wie ein Floß kentert. Sofort stürzt er sich noch einmal in den Casanare. Es dauert nicht lange, da faßt er einen Körper. Er versucht dem Mann zu helfen; Camejo stützt ihn, bis ein anderer Soldat ihn ans Ufer führt. Er selbst sucht nach anderen Gekenterten. Allen gelingt es bald, das Ufer zu erreichen. Santander, der Camejos Einsatz bemerkt hat, läßt ihn als Lotsen zurück. Die nachfolgenden Truppen dürfen nicht solche Verluste erleiden, deshalb läßt Santander dort, wo es möglich ist, starke Äste oder auch Lanzen in den Grund bohren, die die Übergangsstellen markieren und auch Halt geben sollen. Aber auch Stege läßt der General errichten, und zuverlässige Leute wählen jene Stellen aus, die bequem zu durchwaten sind. Neun Tage nach ihrem Abmarsch aus Tame kommen sie in Pore an. Sehr große Verluste hat die Armee, die 3200 Mann zählte; im Kampf mit der Natur, durch
Krankheit, Tod und Desertation ist sie auf 2560 Mann zusammengeschmolzen. In Pore gönnt Bolivar der Armee einige Stunden Ruhe. Der Oberst Ramón Nonato Pérez lädt ihn und seinen Stab zu einem Hirtenmahl. Oberst Rooke, der mit seiner Legion zuletzt eintrifft, läßt sofort seinen alten, zerrissenen Militärrock reinigen und „knöpft" ihn mit Hilfe von Dornen vom Hals bis nach unten über seinem nackten Körper zu. Als korrekter Engländer will er beim Essen mit dem Oberbefehlshaber ordentlich gekleidet sein. Während des Essens bemerkt Bolivar, daß Rooke keine Unterwäsche trägt. Streng fragt er: „Oberst, haben Sie kein Hemd?" „Ich glaube nicht", antwortet Rooke ihm vergnügt. Der Oberbefehlshaber ruft nach seinem Burschen. „Antonio, bringen Sie dem Oberst eines meiner Unterhemden!" „Welches denn, General? Sie haben ja nur zwei: das, was Sie heut angezogen haben, und das zerrissene, welches Sie gestern trugen. Ich wusch es vorhin." Die Offiziere lachen. Dann genießen sie das zart gebratene Kalbfleisch und den starken Branntwein aus Zuckerrohr. Der Übergang über die Anden 2500 Infanteristen und 500 Berittene ziehen mühsam die Cerros, die Vorgebirge, hinauf. Steil geht es in die kalte, furchtbare Wildnis der Anden. Die Pfade sind steinig, schlüpfrig. Camejo zerrt sein Pferd hinter sich her. Die Gipfel der Anden flößen ihm Furcht ein. Er
denkt an die Frau und an Manuelote. Wie wird es ihnen zumute sein? Werden sie dieses riesige Gebirge jemals bezwingen? Sorgenvoll beobachtet er sein Pferd. Es ist nur den weichen Boden der Ebene gewohnt und kletterte sonst nur die steilen Ufer des Apure hinauf, wenn es seinen Durst im Fluß gelöscht hatte. Hoffentlich beginnt es nicht zu lahmen. Was sollte er ohne das Pferd machen? Der Wind ist empfindlich kalt. Die Soldaten mühen sich, vorwärts zu kommen. Ständig rutschen die Pferde auf dem Boden aus. Seit der Überwindung des Casanares fühlt sich Camejo nicht mehr fremd in der Abteilung. Die Kameraden stützen sich gegenseitig und machen einander auf Gefahren aufmerksam, die sich oft unvermutet einstellen. Die Truppen haben den dichten Wald hinter sich gelassen und gelangen über die Pfade, die oft von steilen Abgründen begrenzt sind, zur Hochebene. Aufatmend hören die Soldaten das Signal zur Rast. Camejo starrt vor sich hin. Kein Zweifel: Sein Pferd wird den nächsten Marsch nicht überstehen; es lahmt. Camejo muß sich damit abfinden. Hätte er desertieren sollen? Hipólitos Worte fallen ihm ein: Nur mit Bolivar wird sich unser Leben menschlich gestalten. Dem Libertador will er vertrauen. Desertieren des Pferdes wegen bedeutet, Hipólito allein lassen und Manuelote und Abáduca enttäuschen. Ein Lied, von rauhen Stimmen gesungen, erklingt: „Stürme, Wind, Wasser ströme schnell, rolle, Stein,
der du vom Gebirge fällst. Lauft, Krieger, kehrt euch gegen den Feind, lauft schnell wie der Wind, wie das Wasser, wie der Stein vom Gebirg herunterbricht..." Da erscheint Oberstleutnant Antonio Arredondo und tritt in den Kreis der Singenden. Die Soldaten begrüßen ihn. Camejo sieht, daß der Offizier ihr Vertrauen besitzt. Arredondo sagt ihnen, daß der erste wichtige Kampf ihnen zufällt. „Einige Stunden von hier entfernt befindet sich die spanische Festung Paya. Wir müssen dort für die ganze Armee den Weg nach Neu-Granada freimachen." Der Sieg in Paya Um Mitternacht marschieren die Truppen los. An der Spitze General Santander, der den Kampf leiten wird. Gegen sechs Uhr kommen sie in die hoch im Gebirge liegende Ortschaft Paya. Arredondo hat bereits im April diese Gegend erkundet. So kann er nun den Soldaten das Gelände genau erklären und sie in ihre Aufgaben einweisen. Von Nord und Nordwest beginnt der Angriff auf die Festung. Oberst Obandos Abteilung wird die Zange um die Spanier von Südwest schließen, sobald er Schüsse hört. Camejo sieht über dem Dorf die Festung inmitten von Felsen und abschüssigem Gelände liegen. Er bemerkt auch die Festungsbatterien, deren Schlünde auf den Weg, der an der Festung vorbeiführt, gerichtet sind. Diese günstige, von der Natur gegebene Lage machte
die Festung seit Jahrzehnten uneinnehmbar. Arredondo erinnert sich an Bolivars Worte. „Hundert Mann reichen aus, um hier einer Armee von zehntausend Soldaten den Weg zu versperren.'' Er aber hat Bolivar überzeugt, daß man die Festung einnehmen könnte. Nun muß Arredondo es Bolivar beweisen. Schon gibt er das Zeichen zum Angriff, und seine 450 Männer stürmen vor. Camejo überklettert als einer der ersten die Mauern. Die Spanier sind überrascht, verwirrt. In dieser Jahreszeit vermuteten sie keinen Angriff. Camejo stürzt sich auf den Soldaten, der, noch die glimmende Lunte in der Hand, soeben einen Schuß aus der Kanone abgefeuert hat, und reißt ihn nieder. Neben ihm fällt ein Offizier, von einer Kugel getroffen. Da ertönt ein Signal aus dem Innenhof der Festung, und die Besatzung flieht in das Kastell. Später findet man einen unterirdischen Gang, durch den der Gegner Reißaus genommen hat. Wie sich einige Tage danach herausstellt, sind die Festungssoldaten über Labranzagránde nach Sogamoso geflüchtet, wo sie am 2. Juli den Vizekönig Samano und General Barreiro über den Verlust der Festung unterrichteten. Die Freude unter den Soldaten Bolivars ist groß; noch vor wenigen Tagen glaubten viele nicht daran, die Festung einnehmen zu können. Doch zu ausgelassenem Feiern läßt es der Oberbefehlshaber nicht kommen; die Befreiungsarmee muß Sieg und Erfolg festigen.
Nach kurzer Rast geht es weiter. Nur eine relativ kleine Einheit bleibt als Besatzung in der Festung zurück. Immer unwirtlicher wird die Landschaft, immer unwegsamer das Gelände. Einen Pfad gibt es nicht. Aber die Freude über den Sieg läßt die Soldaten jedes Hindernis nehmen. Etwas anders sieht es beim Gros aus. Mutlosigkeit hat viele erfaßt. Die Bedingungen des Marsches, die schon in den Ebenen schwer zu ertragen waren, sind hier ungleich schwerer. Wenn Manuelote glaubt, jetzt sei der Gipfel erreicht, dann werden jedesmal noch höhere Gebirge sichtbar. Der Aufstieg scheint unendlich, und die Pferde sind völlig erschöpft und lahmen. Eine Holzbrücke über einen Wasserfall muß überquert werden. Die Baumstämme sind mit Moos bewachsen, glitschig. Manuelote muß achtgeben, daß er nicht ausrutscht. Baumstämme und verendete Tiere der Vorhut versperren oft den Weg. Die mangelhafte Ernährung, die nur aus Fleisch besteht, Luftknappheit, das ungewohnt kalte Klima, dem er ohne Kleidung schutzlos ausgesetzt ist, und der unaufhörliche Regen Tag und Nacht, der niemandem erlaubt, ein Feuer zum Aufwärmen anzufachen, haben seinen Willen zum Weitermarschieren fast völlig bezwungen. Jeden Tag sieht er Gruppen von Soldaten die Armee verlassen. Desertieren will er nicht. Sein Vater marschiert vorn an der Spitze, Mutter ist im Troß; vielleicht brauchen sie seine Hilfe. Und dann hält ihn auch Bolivar, den er manchmal sieht und hört, wie er den Soldaten Mut macht. Manuelote sah, wie sich der
Oberbefehlshaber das Gepäck eines vor Schwäche schwankenden Soldaten auf den Rücken lud und es so lange trug, bis der Soldat es ihm wieder abnahm. Seine bloße Gegenwart verdoppelt die Kräfte Manuelotes. Noch an den gestrigen Tag denkend, überrascht den Jungen wieder die Stimme Bolivars. „Männer! Die Vorhut hat den Weg nach Neu-Granada freigekämpft. Der Sieg ist unser!" Mehrmals ruft er diese Worte in die Gewalt der Berge. Manuelote merkt, daß sie den meisten wieder Mut geben. Ein paar Tage spater sieht sich Bolivar gezwungen, in der Hochebene von San Miguel eine Stabsbesprechung durchzufuhren; die Demoralisierung seiner Streitkräfte nimmt zu. Gerüchte sind im Umlauf, wonach die Armee der völligen Vernichtung entgegengeführt werde. Bolivars Männer brauchen einen Sieg! Aber noch stehen Tage voller Entbehrungen bevor. Mit dem Nachschub von Lebensmitteln und Kleidung rechnet Bolivar nicht mehr. Am 29. Juni gibt Bolivar den Offizieren einen Lagebericht. Aber sie wissen selbst, wie es um ihre Einheiten bestellt ist. Viele Männer marschieren fast nackt, der Schnee kann die ganze Armee vernichten. Es fehlt an Pferden und Nahrung, nur 90 Rinder zählt die Herde. Der Widerwille der Lianeros, durch gebirgiges Land zu marschieren, ist groß. Am Fuß der Kordillere braucht nur der Feind auf sie zu warten, und ihre vollständige Vernichtung wäre gewiß. Bolivar schlägt deshalb die Rückkehr in die Llanos von Cúcuta vor, wo sie der Nachschub aus Guayana
erwartet, dann wäre die Weiterführung der Kampagne, wenn auch mit Zeitverlust, möglich. Doch in den Gesichtern steht Ablehnung. General Santander macht einen Gegenvorschlag: „Haben wir die höchsten Gipfel erreicht, ruhen wir ein paar Tage. Ich werde mit ein paar meiner besten Männer über die Kordillere gehen und das zu besetzende Gebiet erkunden sowie Möglichkeiten wahrnehmen, die Armee zu unterhalten. Mit einigen werde ich versuchen, den Gegner von den Grenzen zur Provinz Tunja zu verjagen. Die Befreiungsarmee kann dann die Kampagne zu Ende führen." Die Offiziere unterstützen den Vorschlag Santanders und drohen, sollte die Operation jetzt abgebrochen werden, ihre Einheiten in Guerillagruppen umzuwandeln und den Kampf auf eigene Faust zu führen. Den Ausschlag gibt dann Oberst Marino. Er hatte als Missionar mit den Indianern seiner Gemeinde schon jahrelang gegen die Spanier in der Provinz Casanare gekämpft. Ihm danken Cananares Einwohner ihre Unabhängigkeit. Als Generalkaplan Bolivars gibt er zu bedenken, daß die Befreiungsarmee in Venezuela von der starken, ausgeruhten Armee Morillos vernichtet werden würde. „Damit aber verlischt die Hoffnung auf Befreiung Neu-Granadas und Venezuelas für immer!" Unter dem Beifall der Offiziere befiehlt Bolivar den Weitermarsch. Der allgemeinen Entschlossenheit gibt er mit den Worten Ausdruck:,, Wenn sich die Natur uns entgegenstellt, dann werden wir sie bekämpfen und siegen."
Am nächsten Tag schickt er einen Major mit einer Gruppe Soldaten vor, damit er in der Provinz die Botschaft von ihrer Ankunft verbreite und die Bevölkerung zur Hilfe aufrufe. Die Überquerung der Hochebene von Pisba Am zweiten Tag des Juli befindet sich die Vorhut auf der Hochebene. Nie zuvor hat Camejo eine solche trostlose Gegend gesehen. Der Wind pfeift eisig über sie hinweg. Nicht ein Strauch, nicht ein Baum bieten Schutz. Die Soldaten drängen sich wie Tiere aneinander, um ein wenig Wärme zu finden. Die Sonne scheint fahl, aber ihre wärmenden Strahlen zerteilt der Wind. Pfade gibt es hier nicht mehr. Als Wegweiser dienen Skelette von Mensch und Tier, die, wie sie, versucht hatten, bei schlechter Witterung die Hochebene zu überqueren. Vor Erschöpfung und Kälte taumelt Camejo. Aber niemand kann ihm helfen, ihn stützen. Nur nicht zurückbleiben! Er hat einige fallen sehen, die plötzlich blaß wurden und starben. Doch da schiebt sich ein Arm unter den seinen. Arredondo ist es, der gesehen hat, daß Camejo am Ende seiner Kräfte ist, und er zieht ihm seine Offiziersjacke über. Mechanisch setzen sie Fuß vor Fuß. Die Verpflegungsration für vier Tage wirft Camejo wie die anderen fort. Auch das Gewehr und die Munition kann er nicht mehr tragen. Hier kann man nur noch das bloße Leben retten.
Am nächsten Tag kommt die Vorhut in Socha an und wird von der Bevölkerung freudig aufgenommen und umsorgt. Bolivar verbringt die Nacht zum 6. Juli auf der Hochebene. Viele Soldaten sieht er entkräftet stürzen. Er kann ihnen nicht mehr helfen. Alle Pferde und Rinder, die bis hierher gekommen sind, sterben. Hoffnungslos erscheint ihm die Lage seiner Armee. Inmitten des durchdringenden Sturmes und der Hagelschauer spricht er zu Anzoátegui: „Auch wenn wir hier umkommen, Neu-Granada und Venezuela werden eines Tages frei sein. Schau nach Mexiko, Chile, in die La Plata-Staaten, Peru. Überall wird die gleiche Sache verteidigt. Sie werden uns rächen, Spanien ist sterbenskrank, es wehrt sich mit seinen letzten Kräften. Unsere Korsaren legen seinen Handel lahm, seine Felder sind verwüstet, weil der Tod seine Söhne geholt hat. Seine Schätze sind durch zwanzig Jahre Krieg erschöpft. Die Katastrophe kommt schnell über Spanien. Und alle werden erfahren: Die Unabhängigkeit Südamerikas wird in den Reichtümern der Menschen und in dem Leben der Menschheit eine größere Revolution herbeiführen als die Entdeckung und die Kolonialisierung Amerikas." Dann geht er zu den Gruppen aneinander gepreßter Soldaten, die versuchen, sich gegenseitig zu wärmen. Er spricht davon, was die Unabhängigkeitsrevolution ihnen bringen wird. Er bemerkt den aufmerksamen Blick eines etwa fünfzehnjährigen schwarzbraunen Jungen, der in der Kälte heftig zittert, und wendet sich
ihm zu. „Die Revolution wird alle Sklaven befreien, das habe ich dem Negerpräsidenten von Haiti bei meiner Abreise versprochen. Ihr wißt, sieben Schiffe und zweihundertfünfzig Freiwillige machten es mir möglich, wieder nach Venezuela zu kommen. Wir verdanken diesen Negern von Haiti unsere künftige Freiheit. Neger und Indianer werden die gleichen Rechte genießen wie ihre weißhäutigen Mitbürger. Niemand darf dann mehr einen Neger oder Indianer schlagen oder jenen drückende Abgaben und Pflichten auferlegen." Manuelote freut sich, er fühlt sich jetzt warm. Er schaut sich nach dem großen dicken Mulatten um, der ihm sein Pferd wegnehmen wollte, als seines unterwegs gestorben war. Er besitze eine Pflanzung und gehöre zu den Weißen, hatte er Manuelote gesagt, und das gebe ihm das Recht, Manuelotes Pferd zu fordern. Einen Tag nach diesem erbitterten Streit stürzte Manuelotes Pferd einen Abgrund hinab, und der Mulatte starrte ihn wütend an und wollte ihn schlagen. Aber ein Neger nahm ihn da in Schutz. Wenn erst die Spanier verjagt sind, dann darf mir niemand mehr mein Pferd wegnehmen, sagt sich Manuelote und vergißt die Kälte. Er schaut Bolivar nach, der bereits zu einer anderen Gruppe spricht. Der Abstieg werde bald beginnen, meint der Offizier soeben.
Ankunft in Socha Etwa 2000 Mann erreichen das Ziel, die Provinz Sogamoso auf der westlichen Seite der Kordillere im Vizekönigreich Neu-Granada. Der Abstieg geht schnell vonstatten, denn das Land auf dieser Seite liegt in einer Höhe von 2800 Metern, und die Hoffnung auf Ruhe und Stärkung in den vor ihnen liegenden blühenden Ortschaften beschleunigt die Schritte der Soldaten. Die indianischen Bewohner von Socha, dem ersten Ort, den sie betreten, jubeln ihnen zu. Camejo wird in eine Hütte geführt, wo ihm Brot und Kartoffeln gereicht werden. Wunderbar schmeckt ihm die Chicha; Camejo spürt die belebende Wirkung dieses Getränkes aus Mais und Bienenhonig. Sobald er gegessen und getrunken hat, fragt ihn die Familie nach der Überquerung der Kordillere, die ihnen unglaublich erscheint. Sie selbst steigen, wenn es sein muß, nur im Sommer hinauf. Am 6. Juli kommt Bolivar mit dem Gros in Socha an. Jetzt gilt es, sofort zu handeln. Viele Soldaten sind gestorben, noch mehr sind in dem Behelfskrankenhaus, und der Rest der Armee kann vor Erschöpfung nicht den kleinsten Marsch tun. Die Kavallerie ist ohne Pferde angekommen und die gesamte Armee fast ohne Waffen; die Munition liegt auf der Hochebene; den meisten Soldaten blieb nur der Gürtel. Die Armee ist nackt. Bolivar setzt sich darüber hinweg. Er muß die Armee schnellstens kampffähig machen. Er läßt Pferde und
Herden aus der Umgebung organisieren, tut alles für die Kranken, schickt Kundschafter in alle Richtungen, um den Feind auszumachen und irreführende Nachrichten, die die Stärke der patriotischen Armee sowie deren Ausrüstung und Disziplin gewaltig übertreiben, zu verbreiten. Oberst Lara sendet er zu Soublette, der mit der englischen Legion noch vor den Hochebenen steht. Er soll erfahren, wie man am besten über die Kordillere gelangt. Soublette soll die Hochebene in einem Gewaltmarsch überqueren lassen und nicht auf den Waffentransport warten. Lara wird Indianer heranführen, die die Waffen nachbringen werden. Die restlichen Pferde sollen auf einem anderen Weg nach Socha gebracht werden, um sie zu erhalten. Oberst Lara ist ein guter Organisator. Mit allen verfügbaren Mauleseln holt er die zurückgelassenen Waffen und Munition und vor allem die Kranken und Versprengten, die allein auf der Hochebene geblieben waren. Nach Angostura berichtet Bolivar der Regierung, daß faßt die gesamte Ausrüstung durch den Transport über die Kordillere unbrauchbar geworden und der Nachschub aus Guayana nicht gekommen ist, da Lasttiere fehlten. Aber, so schreibt Bolivar: „Nichts wird uns zurückhalten, wenn das Volk uns liebt." Und die Unterstützung, die Bolivar zuteil wird, entscheidet über seinen späteren Triumph über Barreiro. Neu-Granada empfängt die Armee mit Enthusiasmus und Jubel. Wohin die Nachricht von Bolivars Ankunft auch dringt, von dort strömen
Freiwillige herbei, die Lebensmittel, Waffen, Geld und Kleidung mit sich führen. Innerhalb von drei Tagen ist die Armee wieder kampfbereit. Tunja, Hauptquartier der spanischen Armee Am 7. Juli erstatten zwei Soldaten Barreiro Meldung, ihre Abteilung sei soeben von einem Erkundungstrupp von Bolivars Armee überrascht und die meisten der Einheit gefangengenommen worden. Barreiro zuckt zusammen. Den Gerüchten hatte er nicht glauben wollen. Bolivar war also mit seiner Armee von Bettlern und Zerlumpten quer über die Anden in das Vizekönigreich eingedrungen. Prüfend mustert er die beiden Soldaten. Es sind Veteranen, sie haben den Krieg in Spanien gegen Napoleon mitgemacht. Er muß ihrer Meldung vertrauen. Gut, dann wird er jetzt dem Vizekönig Samano, der ihn vor einigen Tagen als Oberbefehlshaber der Armee des Königs absetzen wollte, beweisen, daß er das Vertrauen, das Morillo in ihn gesetzt hat, um die Kette der Niederlagen zu stoppen, zu rechtfertigen weiß. Binnen kurzem wird er Bolivar vernichten. Barreiro ist jung, sechsundzwanzig Jahre. Schon hat er bei diesem Schwur die Lehre vergessen, die ihm die Bewohner von Casanare im April dieses Jahres erteilt hatten, und er übersieht, daß er trotz aller Maßnahmen zur Abschreckung keinerlei Unterstützung von der Bevölkerung für die Vernichtung der Befreiungsarmee zu erhoffen hat.
Tod in Charalá Am Vormittag des 28. Juli, 10.30 Uhr, drängen sich Einwohner der nahen Stadt Socorro um den Marktplatz. Dort bindet sich eine junge Frau das lange dunkelblaue Kleid mit dem weißen Kragen um die Knöchel zusammen. Trommelwirbel ertönen, und die Soldaten, die ihr gegenüber Aufstellung genommen haben, feuern ihre Gewehre ab. Das Todesurteil ist vollstreckt worden. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht in der Stadt und Umgebung von dem Mord an Antonia Santos. Sie hatte ihren gesamten Besitz und ihre ganze Kraft dem Freiheitskampf gewidmet. Ihre Hazienda war die Zentrale des Guerillakampfes, den sie alle mit versteckten Hoffnungen verfolgt hatten. Dort gingen alle Informationen ein und dort fanden auch alle Guerilleros Unterschlupf. Von dort nahmen alle Operationen ihren Anfang. Zorn ergreift die Einwohner. Mit allen verfügbaren Waffen jagen sie die spanische Armee aus ihrer Stadt. Oberst Gonzalez erreicht auf der Flucht der Befehl, sofort mit seinen 800 Mann nach Tunja zu kommen. Sein Weg führt über Charalá. In der Dunkelheit der Nacht vom 3. August will Gonzalez die Brücke über die Pienta, die zur Ortschaft Cnaralá führt, überqueren. Aber mehr als 2000 entschlossene Bauern, die Rache für Antonia nehmen wollen, erwarten ihn dort unter dem Kommando des Abgesandten Bolivars, Morales. Mit Stöcken, Lanzen, Messern und Arbeitsgeräten halten sie den
gutbewaffneten und kriegserfahrenen spanischen Soldaten nicht stand. Der Fluß färbt sich rot. Die Bauern ziehen sich in den Ort zurück. Sie verteidigen Haus für Haus. In den engen Straßen türmen sich Möbel zu Barrikaden. Dachziegel landen auf den Köpfen der Eindringlinge. Drei Tage halten die Bauern Gonzalez auf. Als er die verwüstete Ortschaft hinter sich läßt, erreicht ihn auf halbem Wege die Nachricht von Bolivars Sieg. Tunja Zwei Schlachten hat die Befreiungsarmee dem spanischen Kolonialheer geliefert, ohne daß die letzte Entscheidung gefallen ist. Dabei hat Bolivar zwei seiner besten Offiziere verloren: Oberst Arredondo, den Spanier, und den englischen Oberst Rooke, der an den Folgen einer Armamputation gestorben ist. Am 3. August simuliert Bolivar einen Rückzug. Barreiros Söldner folgen der Befreiungsarmee; gleichzeitig zieht der Gegner alle Einheiten aus Tunja ab. In der Nacht zum 5. August marschiert die Armee Bolivars im Schütze der Finsternis in Schußweite unbemerkt an der spanischen Armee vorbei und nimmt unter dem Jubel der Einwohner Tunja ein. Die Nachricht schlägt gleich einer Kanonenkugel im Hauptquartier des Gegners ein. Barreiro versucht zu retten, was noch zu retten ist. Doch Bolivar befindet sich bereits in der Offensive. Sorgfältig läßt er die Bewegungen des Gegners beobachten. Er erhält
Meldung vom Abmarsch der Armee Barreiros aus dem Lager bei Motavita, das nicht weit von Tunja entfernt liegt. Er befiehlt Santander und Anzoátegui, mit ihren Truppen loszumarschieren und den Gegner, dort wo sie auf ihn treffen, zu bekämpfen. Der 7. August 1819 Mit gewohnter Kühnheit greift Bolivars Kavallerie von den oberen Ebenen die gegnerische Infanterie an. Drei Kolonnen der republikanischen Infanterie stürmen auf sie zu. Ein Rückzug ist für den Gegner nicht mehr möglich. Barreiro ergibt sich. Bolivar jagt auf seinem Schimmel zu Anzoátegui. Glücklich und begeistert umarmen sich die beiden Männer. 1600 Soldaten und Offiziere des Gegners sind in die Hand der Befreiungsarmee gefallen, 2000 Gewehre wurden erbeutet, die vielen Lanzen brauchte man gar nicht zu zählen. „Die werden wir bald in Venezuela brauchen", meinte Bolivar lachenden Gesichts. „Da wird uns noch etwas bevorstehen, General. Aber wir werden es schaffen!" Zur selben Zeit stürmen Santanders Truppen über die Brücke. Jiménez versucht, sich zurückzuziehen, da die Nachhut des Heeres nicht zu ihm aufschließen kann. Verfolgt und in der linken Flanke angegriffen, wird auch er zur Kapitulation gezwungen. 13 Tote und 53 Verwundete nur verzeichnet die Befreiungsarmee, die mit 2000 Mann das 3000 Mann starke Heer des spanischen Königs geschlagen hat.
In der Nähe der Poststation bemüht sich ein Ordensbruder mit hochgekrempelter Soutane und umgebundenem Schwert um die Verwundeten. Generalkaplan Oberst Marino spricht ihnen Mut zu, dann geht er, die vorbereiteten Gräber für die Gefallenen zu segnen. Bei Camejo ist seine Frau, die eigentlich für die Verletzten kocht. Später wird er in das Krankenhaus nach Tunja gebracht werden. Allmählich kommt Camejo zur Besinnung. Er kann sich aber nicht aufrichten. In seinem Schmerz vermeint er einen anerkennenden Schlag auf die Schulter zu verspüren, Hipólito glaubt er zu sehen. Dann verlassen ihn wieder die Sinne. Im Dahindämmern sieht er Infanteristen vorüberziehen. Neben ihm scheint eine Gestalt niederzuknien, die ihr Steinschloßgewehr reinigt. Dann sieht er ganz deutlich Männer inneuen Uniformen auf sich zu kommen. Ja, ja, diese Uniformen haben sie ja erbeutet, als ihnen ein großes Arsenal Barreiros in die Hände gefallen war. Zum erstenmal, so glaubt er sich zu erinnern, war danach die Befreiungsarmee einheitlich gekleidet in den Kampf gezogen. Manuelote merkt, daß der Vater etwas sagen möchte, und beugt sich über sein Gesicht. Nur ganz leise murmelt Camejo etwas. Manuelote aber möchte dem Vater erzählen, wie er mit seinem neuen Gewehr gekämpft hat, doch da fragt Vater etwas. Manuelote muß sein Ohr ganz nahe an den Mund Camejos legen. Aber er versteht nichts.
Trotzdem ruft er: „Ja, Vater, wir haben gesiegt!" Dann umarmt er ihn. Der Junge ist glücklich im Schmerz. Er freut sich auf das kommende Fest in Betijoque für San Benito. Alle Neger und Indios haben nun die gleichen Rechte wie all die anderen — so hat es der Oberbefehlshaber ihnen versprochen... Epilog Drei Tage nach dem Sieg in Boyacá besetzt die Befreiungsarmee Bogota. Jubelnd begrüßen die Einwohner ihren Libertador und seine Armee. Die Flucht des verhaßten Vizekönigs Samano wird gründlich gefeiert. Bald stellt es sich heraus, daß Samano die . Staatskasse während der überstürzten Flucht vergessen hatte mitzunehmen. Bolivar kann das Geld zum Neuaufbau des Landes gut gebrauchen. In kurzer Zeit gelingt es ihm, eine neue Verwaltung in Gang zu bringen sowie die Befreiung Venezuelas vorzubereiten. Am 19. Dezember 1819 wird vom Kongreß zu Angostura die Republik Großkolumbien ausgerufen, der auch Venezuela und Ekuador nach ihrer Befreiung zugehören sollen. Simon Bolivar wird Präsident der Republik. Fünf Tage darauf erhält die Republik zu Ehren ihres Befreiers den Namen Bolivien, und der General wird zum Protektor auf Lebenszeit gewählt. 1821 und 1822 werden Venezuela und Ekuador befreit und Bolivien angeschlossen.
1826 endet das Kapitel der Kolonialzeit Spaniens in Lateinamerika mit der Befreiung Perus. Bolivar hat die nationale Unabhängigkeit von Spanien erkämpft, aber soziale Reformen vermag er nicht durchzusetzen. Die Neger und die Indios müssen enttäuscht erfahren, daß der Kongreß von Angostura Bolivars Antrag, die Sklaven zu befreien, abgelehnt hat. Später dann erhalten die Eingeborenen von Bolivar Gutscheine auf Boden. Doch die Latifundistas kaufen den unwissenden Indios diese Scheine ab und nehmen deren Land in Besitz. So verschlechtert sich die Lage der Indianer und der farbigen Bevölkerung wieder. Noch heut gehört die Bodenreform zu den dringendsten Aufgaben der lateinamerikanischen Staaten. Das fordern immer wieder die kommunistischen Parteien dieses Kontinents. Die heutige Befreiung Lateinamerikas vom USAImperialismus, der praktisch an die Stelle Spaniens getreten ist, sowie die von den einheimischen Latifundistas und Monopolisten steht nach wie vor auf der Tagesordnung der Völker Südamerikas. Große Traditionen im Kampf um die nationale Befreiung, große Männer wie Bolivar, Hidalgo, Morelos, San Martin, Rodriguez, Artigas und Allende haben die Völker Lateinamerikas hervorgebracht. Die Zeit ist da, in der die Träume und Sehnsüchte Camejos, Abáducas und Manuelotes Wirklichkeit werden.