Von John Farris sind als Heyne-Taschenbücher erschienen: Bruder des Satans • Band 01/6977 Blutsteine- Band 01/7728
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Von John Farris sind als Heyne-Taschenbücher erschienen: Bruder des Satans • Band 01/6977 Blutsteine- Band 01/7728
JOHN FARRIS
ENGEL DES GRAUENS
Roman
Deutsche Erstausgabe
Scanned by Doc Gonzo
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE ALLGEMEINE REIHE Nr. 01/8152
Für Peter John, den Drachentöter und guten Menschen schlechthin
Titel der Originalausgabe NIGHTFALL Aus dem Amerikanischen übersetzt von Walter Ahlers
Wir danken für die Abdruckgenehmigung der Gedichte aus »Wreck on the Highway«, Text und Musik von Dor sey Dixon. Copyright 1946, renewed 1973 by Acuff-Rose/ Opryland Music, Inc. International Copyright Secured. Made in U.S.A. All rights reserved. Copyright © 1987 by John Farris Copyright © der deutschen Ausgabe 1990 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, MUnchen Printed in Germany 1990 Umschlagfoto: Bildagentur Mauritius / H. Schwarz, Mittenwald Urnschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München
Gesamtherstellung: Ebner Ulm ISBN 3-453-04554-8
Keine Nacht ist so tief wie dieser Unentrinnbare Schlund der Seele, in dem ich nur noch unter Feinden bin. Aus einem unbetitelten Gedicht von Olive Fräser
1. Kapitel In der Nacht zum 22. Oktober erwachte Angel im Wach turm zurück zum Leben. Es war zufällig auch sein Ge burtstag. Vierunddreißig Jahre alt war er geworden. Es gab vielleicht noch eine Handvoll Leute, denen sein Ge burtstag wichtig genug schien, um sich daran zu erinnern, aber niemand rief an oder kam gar zu Besuch. Angel be fand sich in der dritten Woche eines Zustands der katato nischen Starre. Das war selbst für ihn eine lange Zeit. Das letzte Versuchsmedikament, das ihm vom Chef der Neu rologischen Klinik Silver Birches verabreicht worden war, hatte es nicht vermocht, ihn von jenseits der hermeti schen Grenze seiner Isolation zurückzuholen. Bevor überhaupt jemand so richtig Notiz von seiner Rückkehr nehmen konnte, hatte Angel wieder getötet. Sein Opfer war LaDonna Morales, eine New Yorkerin aus Long Island City, die in ihrer ersten Woche in Silver Birches war und deren Abschluß auf der Sch western schule noch nicht einmal ein ganzes Jahr zurücklag. Der Mangel an Erfahrung mit psychiatrischer Betreuungsar beit muß ohne Zweifel zu den Faktoren hinzugerechnet werden, die zu ihrem Tode führten. Weder war sie jemals zuvor wie Angel (oder auch Anchel, wie sie seinen Namen beharrlich auszusprechen pflegte) begegnet, noch hatte man ihr Einblick in seine Krankengeschichte im Instituts computer gewährt. Alles, was sie über ihn wußte, hatte ihr die scheidende Schwester der >Friedhofsschicht< im Wachturm erzählt, eine Frau namens Alma. Und Almas Geschichte war wahrlich zum Gruseln ge wesen. Sie war eine Veteranin auf dem Gebiet der psych iatrischen Krankenpflege, über dreißig Jahre lang hatte 7
sie diesen Beruf ausgeübt. Verglichen mit anderen staatli chen Institutionen, in denen Alma gearbeitet hatte, war Silver Birches so eine Art Garten Allahs. Sie war sechzig Jahre alt und immer noch rüstig mit ihrem drahtigen, trok kenen, künstlich blondierten Haar, aber ihr Lächeln wirkte so, als hätte sie ständig Ärger mit den Beinen, was auch stimmte. Das war der Hauptgrund für ihren Rück zug und die Entscheidung, in Zukunft als Aushilfs -Mis sionarin bei den Indianerstämmen im Südwesten tätig zu sein. Alma trug Narben von Zähnen und Fingernägeln auf beiden Händen und Unterarmen und an einer Seite ihres mit Sommersprossen übersäten Halses. Sie gehörte zu den Menschen, von denen man schon nach ein paar Mi nuten weiß, daß sie nicht zu Übertreibungen neigen. »Verscheißer mich nicht, Kleine«, pflegte sie zu sagen. »Ich verscheißere niemanden, und niemand verscheißert mich.« Sie hatte LaDonna ein wenig ins Herz gschlossen, deshalb tat das Mädchen ihr leid. Der Dienst im Wach turm konnte ganz schön ruppig werden, selbst während der Stunden von Mitternacht bis acht Uhr, wenn die vier bis sieben Insassen (die Belegung fluktuierte innerhalb dieser Grenzen) eigentlich schlafen sollten. Aber einige von ihnen hatten natürlich komplizierte Schlaf - und Wachzyklen. (Mr. Tashian, der ein kleines Baby in einem Supermarkt getötet hatte, indem er ihm einfach so den zerbrechlichen Schädel eingedrückt hatte, als prüfe er eine Honigmelone auf ihren Reifegrad, hatte aus thera peutischen Gründen einen Tag, der siebenundzwanzig Stunden dauerte.) Zumindest einer von ihnen, Angel, schien während der Episoden seiner Katatonie niemals die Augen zu schließen. Und so begegnete LaDonna ihm an ihrem ersten Ar beitstag: Er saß auf einer gepolsterten Bank in dem kah len, keilförmigen Raum, der seit achtzehn Monaten sein 8
Domizil war. Mit dem Rücken lehnte er gegen eine gepol sterte Wand. Er war völlig verkabelt mit Katheterschläu chen und EKG-Drähten, die mit einem Oszilloskopen au ßerhalb seines Zimmers verbunden waren. Das erste, was ihr auffiel und was sie einigermaßen verstörte, ware n seine großen, bernsteinfarbenen, leuchtenden Augen. Sie schienen Licht abzugeben und nicht welches in sich aufzu nehmen. Sie erinnerten LaDonna an die Augen eines Pi ranha, den sie einmal in einem Aquarium gesehen hatte. Das zweite, was sie wie ein Bli tzschlag traf, war Angels beinahe vollständige Nacktheit. Er trug lediglich eines die ser kurzen Krankenhausmäntelchen, das ihn ungefähr so ausreichend bedeckte, wie eine Babywindel es vermocht hätte. Man konnte gut erkennen, daß er, obwohl er seit einer ganzen Weile nur durch den Tropf ernährt worden war, einen festen, gutgebauten Körper besaß, der nicht durch Bodybuilding narzistisch zurechtgetrimmt, son dern natürlich gewachsen war. Seine Haut war olivfarben, seine sauber rasierten Wangen und das Kinn glänzten. Das dritte, was sie an ihm bemerkte, war sein Ständer. Sein Penis stand beinahe lotrecht aus seinem Schoß hervor und stemmte den Saum des kurzen Mäntelchens nach oben. LaDonna seufzte leise. Wie konnte das Ding so groß sein, wo doch ein Röhrchen mitten hindurch führte. Spürte er denn gar keinen Schmerz? Sie fragte sich, woran er wohl denken mochte, oder ob er überhaupt an etwas dachte, so weit hinten im Bewußtsein, wo Leben und Tod ganz zart miteinander verwoben sind. »Kümmere dich bloß nicht darum«, sagte Alma ganz bei läufig, nachdem sie bemerkt hatte, auf was LaDonna ihren Blick gerichtet hatte. »Das ist nur ein Nebeneffekt des Me dikaments, das ihm zugeführt wird.« »Priapismus«, sagte LaDonna. Ihre Zunge fühlte sich ganz trocken im Mund an. Sie wollte Alma nur demon 9
strieren, daß sie in letzter Zeit auch das eine oder andere dazugelernt hatte. Mit einer Hand massierte sie sich den schlanken Hals, eine unbewußte Handlung, deren Ur sprung weit zurück in ihrer Kindheit lag. Angel schien den Blick etwas gewandt zu haben. Er schaute jetzt auf das kleine Beobachtungsfenster neben der Tür, vor der die Krankenschwestern standen. Er blinzelte ein paarmal mit den Augen, schaute her - aber sah er LaDonna tatsächlich an? Hatte er ihre Gegenwart wirklich bemerkt? In diesem kalten Verwahrungsraum mit seinem ewigen Dämmer licht schien kein Platz für eine lebendige Seele zu sein. Furchen waren in Angels Stirn eingegraben. Wie die meisten Menschen, die in katatonischer Starre verharren, sabberte er. Der Speichel lief ihm aus dem linken Mund winkel und hatte auf dem Baumwollkissen unter seiner linken Schulter schon einen großen, runden Fleck ge macht. Sein schwarzes Haar, das von einigen silbrigen Strähnen durchzogen wurde, war kurz geschnitten, der Haaransatz hatte sich schon ein gutes Stückchen von den Schläfen zurückgezogen. Er hatte eine hohe, rechteckige Stirn und ein energisches Kinn. Ganz sicher konnte man diesen Mann nicht als schön bezeichnen, dachte La Donna, aber wenn sie ihm auf der Straße begegnet wäre, hätte sie sich nach ihm umgesehen, vielleicht hätte sie ihn sogar anstarren müssen. »Sie sagten, er sei bipolar«, bemerkte LaDonna in dem Bemühen, möglichst professionell zu klingen. Alma nickte und regulierte Angels Beleuchtung mit einem Regelwiderstand, der außerhalb des Zimmers an gebracht war. LaDonna fühlte einen Schauer der Erleich terung, daß sie nicht länger auf diese hellen, stechenden Augen, die qualvolle Erektion und die Versorgungs schläuche schauen mußte, welche seinen steifen Kör per tröpfchenweise mit Energie auffüllten. Irgendwie unter 10
schied er sich von zwei anderen Katatonikern, die sie zu sammen mit ihrer Klasse auf der Schwesternschule beob achtet hatte. Seine Starre schien ihr eher willentlich zu sein. Aber traf das nicht in einem gewissen Sinn auf alle Katatoniker zu? Genau konnte das niemand beantworten, und diejenigen, die unter dieser seltenen Anomalie litten, waren nun mal nicht in der Lage, Erklärungen abzugeben. Faszinierend. LaDonna spürte beinahe etwas Unbehagen, aber ihr ganzes Leben lang war von ihr verlangt worden, jegliche Art von Furcht abzuschütteln. Sie wußte, daß ihr die Arbeit hier gefallen würde, auch wenn Silver Birches eine Tagesreise von ihrem Wohnviertel, von Familie und Freunden entfernt lag. »Wie ist es, wenn er aufwacht?« fragte LaDonna mit einem Blick auf die dunkelblaue Tür, hinter der Angel lag. Alma seufzte. »Weiß man nie so genau. Vielleicht bleibt er diesmal für immer weg. Dr. Bushmill ist ziemlich frustriert, da gibt es keinen Zweifel.« LaDonna folgte ihr die wenigen Schritte bis in die Mitte des runden Wachturms, zur Schwesternstation, wo Alma sich ohne Probleme über den Tresen lehnte und den Schalter für die Doppelverriegelung von Angels spartani schem Zimmer umlegte, etwas, das die schmächtiger ge baute LaDonna nicht so ohne weiteres gekonnt hätte. »Es gibt eine Kardinalsregel: Du darfst niemals ohne Begleitung in das Zimmer eines Patienten gehen. Es muß immer ein männlicher Wärter dabeisein, selbst wenn du erst ein paar Minuten warten müßtest, bis einer aus dem Hauptgebäude herübergekommen ist. Und wenn Angel aufwachen sollte, dann darf er dieses Stockwerk auf kei nen Fall ohne Zwangsjacke verlassen.« »Ist Anchel ein Latino? Er könnte dem Aussehen nach einer sein.« Alma seufzte wieder, diesmal allerdings etwas unge 11
duldiger. »Kleines, er heißt >Angel<. Nicht Smith oder Jones oder Brown, einfach Angel, wie der Engel des Todes.« LaDonna kicherte unsicher. »Er scheint hier wie je mand Anonymer behandelt zu werden, oder? Was hat er denn für eine Geschichte?« »Ich habe das eine oder andere über ihn aufge schnappt«, sagte Alma unbestimmt. »Jedenfalls genug, um zu wissen, daß Angel kein sehr lustiger Zeitgenosse ist. Wenn du ihn im falschen Moment aus den Augen läßt, kann es sein, daß er dich tötet.« Jetzt kicherte LaDonna nicht mehr, statt dessen spannte sich ihr Körper etwas. Wieder dieses leichte Unbehagen. In der Nachbarschaft ihres Elternhauses hatte sie Banden kriege und Messerstechereien mit ansehen müssen, so mancher Drogenverrückte hatte gedroht, geliebte Men schen vom Dach zu stoßen. Ein Mann hatte versucht, sie auf einem leeren Bauplatz zu vergewaltigen, als sie ge rade vierzehn war, aber er war nicht mit ihr fertig gewor den, geistesgegenwärtig hatte sie ihm einen Backstein auf die Nase geschlagen. Sie wäre auch hier im Wachturm für alles und jeden bereit. In der Nacht, in der sie starb, hatte LaDonna ihr gemie tetes Apartment in der reinen Wohnstadt Kelmore im Staate New York um halb zwölf verlassen und war in ihrem nagelneuen Buick Skyhawk, der ihr ganzer Stolz war, nach Silver Birches gefahren. Das Luxussanatorium befand sich auf einer Insel im Lake George und war nur über einen privaten Damm quer durch eine kleine Bucht zu erreichen. Früher am Tage hatte es ein Gewitter gege ben. Am Nachmittag, als sie aufgewacht war, hatte es et was aufgeklart, aber jetzt regnete es wieder, es war ein heftiger Regen, begleitet von Blitz, Donner und Sturm, der die letzten, wundervoll bunten Blätter von den Bäu men zerrte. Der Winter stand vor der Tür. 12
Sie fuhr über den Damm. Bei jedem Blitz sah sie die weißen Schaumkronen, die aus dem Wasser leuchteten. Das Hauptgebäude bestand aus klotzigen Steinen, zwei Stockwerke war es hoch und hatte drei Flügel. Es war ein mal die Sommerresidenz eines Eisenbahnbarons der vik torianischen Zeit gewesen. Jetzt bezahlten Menschen, vielleicht waren es die Abkömmlinge seiner reichen Freunde, Monat für Monat mehrere tausend Dollar, um ihre verrückten oder drogenzerstörten Angehörigen an einem sicheren Ort untergebracht zu wissen, wo sie kein weiteres Unheil anrichten konnten. Nur wenige der Patienten in Silver Birches mußten wirklich als gefährlich angesehen werden, und das waren diejenigen, die man im Wachturm untergebracht hatte, einem separaten Gebäude, von dem aus man den größten Teil des Sees überschauen konnte und das etwa hundert Meter vom Hauptgebäude entfernt auf einen kleinen Hü gel erbaut worden war. Der Wachturm maß vom Boden bis zu dem Stockwerk, auf dem LaDonna arbeitete, etwa fünfzig Fuß, aber innerhalb des spiralenförmigen Trep penhauses hatte man einen Fahrstuhl eingebaut, ein Se gen, solange der Strom nicht ausfiel. Sie kam ohne Pro bleme nach oben, ein Stockwerk vor der Krankenstation stieg sie aus, weil der Fahrstuhl nicht ganz bis oben reichte. Als sie aber die restlichen Stufen hochstieg, konnte sie die Aufregung bereits durch die massiven Mauern und die stählerne Eingangstür hören. Der Voll mond und das krachende Donnern zerrten in dieser Nacht an jedermanns Nerven. Britta, das schwedische Mädchen, das in der Schicht von vier bis Mitternacht arbeitete, sah ziemlich fertig aus und war froh, ein paar Minuten früher abgelöst zu wer den. Ein ältlicher Schauspieler, der seinen Teil eines Selbstmordabkommens mit seiner unheilbar kranken 13
Frau verpfuscht hatte, rezitierte in seinem Zimmer in vol ler Lautstärke Goethe. Auf deutsch. Auch Mr. Tashian ließ sich vernehmen. Unter Tränen lamentierte er über die armen Tiere des Waldes, die bei diesem furchtbaren Re gen jämmerlich ertrinken müßten. Laut Alma, die über alle kleinen Geheimnisse der Menschen, mit denen sie zu tun hatte, informiert zu sein schien, hatte Britta ein paar Probleme mit dem Alkohol. Aber wenn sie während der Schicht heimlich getrunken haben sollte, so konnte es nicht viel gewesen sein, denn sie ging mit LaDonna die einzelnen Schaubilder ziemlich konzentriert durch, wies hier und dort auf eine Änderung der Medikation oder den Einsatz eines neuen Antibiotikums hin. »Heute abend ziehen sie hier eine Oper ab wie ein Chor von kleinen Teufelchen«, sagte Britta, während ihnen von draußen ein ohrenbetäubender Donner um die Köpfe rollte. Die Oberschwester im Hauptgebäude hatte LaDonna für die Nachtschicht einen Krankenpfleger zugeteilt. LaDonna war froh darüber, bis sie sah, wer da aus Lacey Steegmullers Zimmer kam. McSwain. Einer dieser Män ner, die ihr ganzes Leben damit verbringen, sich durch die Art Jobs zu schlagen, wo die größte körperliche Anstren gung in einem gelegentlichen Besenschwingen besteht. Er trug gewaltige, blaue Tätowierungen auf beiden Unter armen, und sein Mund steckte voller fauler Zähne. Die paar Male, die sie zusammen Dienst getan hatten, hatte er größtenteils damit verbracht, sich an den Eiern zu kratzen und dabei darauf zu achten, daß LaDonna es auch mitbe kam. »Das Mädchen hat ins Bett geschissen«, grummelte McSwain. Britta bedachte ihn mit einem strengen Blick. »Und du wirst dafür bezahlt, daß du es wieder saubermachst.« 14
McSwain sah hinüber zu LaDonna. »Soll sich das neue Schwesterchen doch die Pfoten dreckig machen. Sie muß noch Erfahrungen sammeln.« »Mein Name ist LaDonna. Das dürften Sie inzwischen wissen. Außerdem habe ich auch so genug Dreckarbeit.« Lacey Steegmuller schluchzte in ihrem Zimmer. »Okay, bleiben Sie nur von Lacey weg. Ich werde gleich selber nach ihr sehen.« McSwain rührte sich nicht von der Stelle. »Fünfzig Mil lionen Bucks«, sagte er und meinte Lacey Steegmuller. »Und alles, was sie sich dafür gekauft hat, waren Angel Dust und Crack. Und dann hat sie sich ein paar Finger ab gebissen. Die hat einen Schließmuskel wie ein Baby und den Verstand einer Kaulquappe.« Britta, die ihn immer noch anstarrte, sagte: »Magst du deinen Job?« McSwain zuckte mit den Achseln. Britta fuhr fort: »Vielleicht möchtest du jetzt gleich die Rück reise in die Gosse antreten, aus der man dich gezogen hat? Ja, ist das so?« McSwain grinste. »Also, geh jetzt endlich und zieh das verdammte Bett ab!« »Wohl etwas schlecht gelaunt, heute nacht, was, Britta? Wie war's später mit 'ner schönen, entspannenden Num mer? Für dich mache ich mir gerne die Pfoten dreckig. McSwain ist doch dein Kumpel.« Er pfiff leise vor sich hin, drehte sich um und ging zurück in das Zimmer des Mädchens. Britta sah LaDonna an, die eine anerkennende Handbe wegung machte. »Das war auch nötig.« Dann sah sie auf die Reihe von Fernsehmonitoren. Bei Nummer sechs ver harrte ihr Blick. »Wenigstens Angel ist ruhig. Keine Ver änderung?« »Nichts. Er ist sauber. Du wirst ihn nicht mal bewegen müssen. Es ist eine Schande, daß du die ganze Nacht hier mit diesem Schwanz McSwain zubringen mußt.« 15
»Der stört mich nicht so sehr. Nichts als ein Maul held.« »Stimmt. Also gut, ich gehe jetzt. Hoffentlich ist der Damm nicht wieder überflutet.« »Er war okay, als ich gekommen bin.« Britta sah unglüc klich auf die von Blitzen erleuchtete Kuppel des Nachthimmels über ihren Köpfen, dann holte sie ihren Trenchcoat und den Regenschirm aus dem Auf enthaltsraum für die Schwestern und wünschte LaDonna eine gute Nacht. LaDonna entließ sie durch einen Druck auf den Türöffner von der Patientenetage und ging in La cey Steegmullers Zimmer. Das Mädchen brauchte eine Dusche und ein paar tröstende Worte. Insgesamt dauerte das alles zwanzig Minuten, dann legte sie Lacey zurück in ihr Bett. McSwain lehnte gegen den Tresen der Schwe sternstation und schlürfte einen Becher Kaffee, als La Donna wieder aus Laceys Zimmer kam. Er beobachtete sie, während sie ihre langsame Runde der anderen Zim mer machte und dabei durch jedes der Guckfenster schaute. Vor Angels Zimmer blieb sie am längsten ste hen. »Kennen Sie sich in der Schädellehre aus?« fragte McSwain. »Sie etwa?« sagte LaDonna, ohne ihn anzusehen. Es kam ihr so vor, als hätte Angel seine Position verändert, seit sie zum letztenmal bei ihm hineingeschaut hatte. Er schien seinen Kopf etwas angehoben zu haben. Er schaute in LaDonnas Richtung und wirkte in den Licht schauern der Blitze, die ab und zu über ihn hinwegfuh ren, beunruhigend wach. »Ich weiß über 'ne ganze Menge Dinge Bescheid. Ich habe ein paar Hochschulabschlüsse, ob Sie es nun glau ben oder nicht.« »Glaub ich nicht.« 16
»Also, der da drinnen, Angel, der Mafioso, der hat all die klassischen Formen, die Schädelabmessungen des pathologischen Mörders.« LaDonna mußte sich einen eisigen Schauer von den Schultern schütteln. »Warum nennen Sie ihn einen Ma fioso?« »Ach, ich habe alles über ihn herausgefunden. Seine Mutter hat Bushmill eines Tages auf dem Lautsprecher telefon angerufen. Der Doc hatte seine Tür nicht ganz geschlossen, deshalb konnte ich mithören. Sie hörte sich sehr erregt an. Europa. Italienerin, vielleicht Sizilianerin. Jedenfalls ist sein Name Barzatti. Na, macht es klick?« »Nein, warum sollte es?« Die Unterhaltung mit McSwain machte sie ungeduldig, und außerdem strengte das Dämmerlicht in Angels Zimmer, das immer wieder von Blitzen aufgehellt wurde, ihre Augen an. Sie schloß sie kurz, und als sie sie wieder aufmachte, hätte sie schwören können, daß Angel sich auf seiner Bank be wegt und noch mehr dem Guckfenster zugewandt hatte. Sein Blick, der so direkt, so gelb und unheimlich war, jagte ihr einen Schauer über den Rücken, aber das Grauen stimulierte nur ihre Neugier. Vielleicht erwachte er tatsächlich aus seiner katatonischen Starre. Ihre Be fehle lauteten, daß sie in diesem Fall sofort Dr. Bus hmill anzurufen hätte, egal, zu welcher Nachtzeit es auch sein mochte .. . McSwain schlich sich auf leisen Sohlen von hinten an sie heran und berührte ihren Ellenbogen. LaDonna machte einen Satz nach vorne und schaute ihn böse an. »Keine Angst«, sagte er. »Also, wie gesagt, seine Mut ter lebt unten in Howard Beach. Haben Sie schon mal von Howard Beach gehört?« »Kann sein.« »Da wohnt jede Menge Mafia, in der Gegend. Bosse. 17
Vielleicht sogar so 'n großes Tier, so ein, na, wie nennen die Kerle sich gleich noch, so ein Don.« »Und bestimmt wohnen da auch völlig normale Leute. Ich bin sicher.« »Jesus!« rief McSwain und schaute LaDonna über die Schulter, wobei er ihr seinen ranzigen Atem ins Gesicht blies. »Ich glaube, er hat sich eben gerade bewegt. Hat er sic h nicht gerade bewegt?« »Ich weiß nicht.« LaDonna berührte den Regelwider stand an der Wand und drehte die Lampen heller, die in die Zimmerdecke eingelassen waren. Licht breitete sich über Angels dunklen Augenbrauen aus. Ein dünner Spei chelfaden, der von seinem Kinn herunterhing, begann zu glitzern. »Er beobachtet Sie«, sagte McSwain. »Schauen Sie sich diesen dicken Riemen an! Ich glaube, den hat er nur für Sie aufgestellt, Kindchen. Angel hat Gefallen an Ihnen ge funden. Angel will Sie haben.« »Na großartig! Plötzlich hat mein Leben einen Sinn.« »Meinen Sie nicht, daß Angel Ihnen gefallen könnte? Vielleicht ist er ein wirklich bedeutender Mann. Bei dem Zuhause. Ich meine, er ist bestimmt nicht nach Silver Bir ches gekommen, weil sein Alter mit Schnürsenkeln han delt.« »Bichote, warum machen wir uns jetzt nicht an die Ar beit? Wenn ich Mrs. Tashian jetzt nicht ihre Medika mente gebe, hält sie überhaupt nicht mehr die Klappe.« McSwain begleitete sie zum Medikamentenschrank und dann in das Zimmer der Tashian. »Ich habe hier ein paar süße Betthupferl für Sie, Mrs. Tashian. Sie brauchen jetzt ein bißchen Ruhe.« Mrs. Tashian erkundigte sich nach der Verlustziffer unter den Eichhörnchen da draußen in den überfluteten Wäldern. LaDonna versicherte ihr, der Forstbehörde sei 18
es gelungen, auch das letzte von ihnen vor dem Ertrin ken zu retten. Mrs. Tashian war erleichtert, dann aber fing sie an, von den Gimpeln zu reden und von den bö sen Sachen, die sie tun. So hätten sie zum Beispiel ein zweijähriges Kind mit eingeschlagenem Schädel in sei nem Kinderwagen liegenlassen, und ihr habe man die Schuld dafür gegeben. LaDonna ließ sie weiterspinnen, klopfte ihr das Kissen zurecht, schüttelte die Bettdecke auf, und ganz plötzlich ging Mrs. Tashians Blick ins Leere, und die runzeligen Augenlider schlössen sich wie von selbst. »Ich kannte mal eine alte puertoricanische Lady«, sagte McSwain, nachdem sie das Zimmer verlassen hatten. »Sie war höchstens einsfünfzig groß, aber sie hat ausge zeichnete Chimichangas gemacht. Wissen Sie, wie man Chimichangas macht?« »Das ist mexikanisch, nicht puertoricanisch.« »Und was können Sie kochen?«
»Empanadias. Alcapurias.« »Vielleicht sollten Sie mir mal was von dem Zeug zu sammenkochen. Ich stehe auf den Spic -Fraß.« »Oh, was für eine Ehre«, erwiderte LaDonna, aber sie war viel zu angeödet, um ihrem Sarkasmus großen Nach druck zu verleihen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie noch etwa achteinhalb Minuten zu leben. LaDonna beschäftigte sich hinter dem Tresen der Schwesternstation, und McS wain verzog sich, nach einem weiteren erfolglosen Versuch, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, in den Aufenthaltsraum, um fern zusehen. Er tat so, als habe er die Aufforderung, den Duschraum der Patienten zu schrubben, völlig überhört. Es hatte für eine Weile aufgehört zu regnen, aber immer noch zuckten Blitze über den Himmel, und in der Ferne grummelte der Donner. 19
Die Anzeige auf Angels Oszilloskop begann zu hüp fen, als sein Herzschlag sich beschleunigte. LaDonna starrte auf den Ausschlag und dann auf Angels schattiges Bild auf dem Monitor. Er bewegte sich. Sie ließ ihn nicht aus den Augen, während sie den Tele fonhörer nahm, dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit der Liste der Privatnummern des Klinikpersonals zu, die neben dem Telefon an der Wand hing. Bushmill, Asa D. Während der paar Sekunden, die sie abgelenkt war, hatten bei Angel heftige Krämpfe eingesetzt. Die Herzlinie auf dem Oszilloskop warf schnell aufein anderfolgende Spitzen auf, und der ganze Apparat be gann wie wild zu piepsen. LaDonna schaute auf den Mo nitor. Er lag auf dem Boden, seine nackten Beine zuckten hin und her. Sie fuhr herum und legte den Schalter am Schaltbrett um, der das Hauptschloß der Tür zu Angels Zimmer öffnete. »McSwain!« LaDonna hielt immer noch den Hörer in der Hand. An statt Dr. Bushmill anzurufen, wählte sie die Nummern 1-2-3, welche einen Alarm auf der Schwesternstation aus lösen und fachkundige Hilfe im Laufschritt heranbeor dern würden. In diesem Moment traf der heftigste Blitzschlag, den sie je erlebt hatte, den Wachturm wie eine Bombe und legte die Elektrizitätsversorgung lahm. LaDonna zuckte zusammen. In das verwirrende, bläuliche Nachglühen hinein sprangen die batteriebetriebenen Notlichter an, zwei i5o-Watt-Scheinwerfer über der Tür zum Treppen haus. Sie warfen harte Schatten auf den Fußboden des Wachturms. Lacey Steegmuller begann zu wimmern. Der alte Schauspieler auf Zimmer drei erwachte und begann, in dem Glauben, sein Auftritt sei an der Reihe, das Lied 20
>Some Enchanted Evening< aus dem Musical South Pacific zu singen. LaDonna öffnete die Tür eines Wandschranks und riß den Kasten mit den medizinischen Geräten heraus. »Was gibt's?« fragte McSwain und sah sie von der Tür zum Aufenthaltsraum her an. »Es ist Angel. Er hat einen Anfall.« Der TV-Monitor war dunkel, das Oszilloskop hatte seinen Geist aufgegeben. »Kommen Sie mit.« »Hey, Mädchen, vorsichtig . . .« Sie stand schon vor Angels Tür. Den passenden Schlüs sel hielt sie in der Hand. Sie steckte ihn in das zweite Schloß und drehte ihn herum. Die Tür sprang auf. Etwas Licht von den blendenden Scheinwerfern am anderen Ende des Turms verbreitete sich im Zimmer. Seine Fuß sohlen sahen sehr weiß aus. Blut floß in den Versor gungsschlauch, der immer noch an seinem Handrücken befestigt war. Alle Drähte des EKG waren losgerissen. Sie hörte das Knirschen seiner Zähne und sah sich nach McSwain um. »Er braucht Hilfe! Wahrscheinlich steckt ihm die Zunge im Hals. Ich weiß nicht, ob ich genug Kraft habe. Kommen Sie, McSwain!« McSwain rührte sich nicht von de r Stelle. »Sie sollten besser auf das Team warten, LaDonna. Der Kerl. . . Scheiße . . . er . . .« »Bichote«, sagte LaDonna voller Verachtung und betrat Angels gepolstertes Zimmer. Sie sah die leuchtenden Schlitze seiner Augen. Er zit terte heftig. Sie hatte keine Angst. Sie kniete neben ihm nieder und öffnete den Kasten mit den Geräten. Wenn sie doch mehr Licht hätte. Draußen begann es wieder zu reg nen. Sintflutartig. In Zimmer drei sang der alte Schauspieler begeistert 2l
von feuchtfröhlichen Nächten, gefüllten Sälen und inter essanten Fremdlingen. Draußen setzte sich McSwain in Bewegung. Er schlurfte zur Tür von Angels Zimmer, schaute herein und sah, wie LaDonna ein verchromtes Spreizgerät aus dem Kasten mit den medizinischen Geräten nahm. Er machte auf dem Absatz kehrt und lief zurück zur Schwesternsta tion. Er mußte mehrere Wandschränke durchwühlen. Er wußte nicht genau, wo es war, aber er hatte so eine Ah nung, daß er es würde gebrauchen können. Angels Mund war voller Blut und Speichel, aber trotz dem glaubte LaDonna nicht, daß er seine Zunge ver schluckt hatte. Sie dachte nicht mehr an McSwain und konzentrierte sich darauf, Angels Kiefer auseinanderzu bekommen. Sie führte das Spreizgerät ein, um ihn daran zu hindern, auf seiner Zunge herumzukauen. Plötzlich hörte Angel auf zu zittern. Sein Mund ließ sich ganz leicht öffnen. Blut und Erbrochenes spritzte auf ihr schweißnasses Gesicht. Mit einem Schrei des Entset zens sprang sie zurück auf die Füße. McSwain, der gerade in aller Eile das CCh-Gewehr lud, hörte den Schrei und dachte nur: O mein Gott. Während sie versuchte, sich den Dreck aus dem Ge sicht zu wischen, packte eine kräftige, überhaupt nicht mehr zittrige Hand ihren Hals. Bewegungsunfähig vor Entsetzen, sah sie in seine Augen, die jetzt weit geöffnet waren. Sie begriff, daß sie hereingelegt worden war. Mrs. Tashians Lieblingswort fiel ihr ein, bevor die große Finsternis über sie kam: Gim pel. Draußen ließ McSwain die Patrone fallen, die er gerade in die Betäubungspistole stecken wollte. Sie traf die Spitze seines weißen Reebok-Schuhs und blieb heil. »Hast du mich lieb?« 22
LaDonna konnte nirgendwo anders hinschauen als in seine Augen. Sein Blut und das Erbrochene klebten auf ihren Lippen. Seine kräftigen, großen Finger übten Druck auf ihr Zungenbein aus. Ihre Fingernägel hatte sie tief in das Fleisch seiner einen Schulter gegraben, aber langsam lockerte sich ihr Zugriff. Ihre linke Hand fiel, ins Leere greifend, langsam herunter und streifte leicht an seinem harten Penis entlang, während er ihren Kopf weit auf die eine Seite drückte. »Hast du mich lieb?« fragte er sie. Noch nie war sie solcher Kraft begegnet. Noch nie hatte sie sich so einsam gefühlt. Der U-förmige Knochen an der Wurzel ihrer Zunge knackte. Angel stand auf, und LaDonna erh ob sich mit ihm, mit glasigen Augen baumelte sie in seinem festen Zugriff, als sie starb. Angel warf ihren toten Körper durch seine Zimmertür. Während McSwain daraufstarrte, auf das weiße Kleid, dessen Saum sich bis über ihre Hüften geschoben hatte, auf das erstarrte Gesicht, das in einem gräßlichen Winkel über die eine Schulter zurückschaute, schwang Angel sich über den Tresen der Schwesternstation und schickte McSwain mit einem Schlag zu Boden. Die CCh-Pistole fiel ihm aus der Hand, sein Kopf schlug hart auf dem Fußbo den auf. Er sah das Leuchten der Blitze am Himmel durch die Kuppel direkt über seinem Kopf, und er sah sprü hende Funken. Die Verletzung ließ seine entsetzliche Angst nur noch anwachsen. McSwain rappelte sich hoch. Er war benommen, konnte n icht frei stehen, ohne ir gendwo Halt zu suchen. Als er versucht', einen Schritt vorwärts zu machen, verhedderten sich yeine Füße. Der freie Fall der sprühenden Funken vor seinen Augen setzte sich fort, der hart beleuchtete Fußboden begann zu kip pen und sich zu drehen. Zwischen sich und den Not 23
Scheinwerfern erkannte er etwas, das hochfuhr und die Lichter löschte. Er wollte schreien, aber er brachte nicht mehr als ein ersticktes Röcheln zustande. Die COz-Pistole, die Angel sich inzwischen geschnappt hatte, knallte, aber McSwain hörte sie nicht durch das oh renbetäubende Klingeln in seinem Kopf hindurch. Der stummelige, eisig kalte Betäubungspfeil traf ihn mitten in den rechten Augapfel. Die Hälfte aller Lichter in seinem Gehirn gingen aus, ließen ein tiefes Dunkel zurück, aber er fühlte keinen Schmerz, sondern nur den betäubenden Stoß. Er ließ den Tresen los, sackte auf die Knie, verharrte ein paar Sekunden in dieser Stellung, um schließlich mit einem klagenden Seufzer vornüber zu kippen. Angel stieg über ihn hinweg und stand vor den unzähli gen Schaltern, von denen einer ihm Zutritt zum Treppen haus verschaffen konnte. Er drückte einige von ihnen, ha stig, bis er das Summen der Eingangstür hörte. Er zog McSwain in eine aufrechte Position, setzte ihn auf einen Stuhl und bog ihn so zurecht, daß sein Kopf den Knopf für die Tür zum Treppenhaus runterdrückte. Es summte unaufhörlich, als Angel die Station verließ, und es würde noch eine weitere halbe Stunde summen, in Gang gehal ten von einem unabhängigen Stromkreis, der durch eine 9-Volt-Batterie gespeist wurde. Angel hörte, wie die Mitglieder des medizinischen Ret tungstearns die Treppen zum Patientenstockwerk hoch hasteten, laut fluchend, weil der Fahrstuhl nicht funktio nierte. Direkt über Angels Kopf brannte ein Notlicht. Er entdeckte einen Feuerlöscher an der Wand, riß ihn aus seiner Halterung und stieg eilig die Treppe hinunter, den beiden Männern entgegen. Die beiden sahen einen nack ten, muskulösen Mann mit erigiertem Penis plötzlich auf sich zukommen, und ihnen blieb kein Ausweg. Angel zer trümmerte beiden mit dem schweren Feuerlöscher den 24
Schädel und ließ sie liegen. Er humpelte die verbleiben den Stufen hinunter. In beiden Oberschenkeln hatte er Krämpfe und ein Stechen in der Seite. D ie Überreste des Mäntelchens flatterten ihm um die Schultern. Immer noch trug er seinen harten Penis wie eine Fahnenstange vor sich her. Er öffnete die untere Eingangstür. Eine Dusche kalten Regens empfing sein Gesicht. Im Haupthaus sah er Licht, aber auf der in Nebel eingehüllten Rasenfläche schien sich niemand zu nähern. Er brauchte nur ein paar Sekun den, um sich zu orientieren. Sein Körper, der keine An strengungen mehr gewöhnt war, quälte ihn. Aber er konnte Qualen ertragen, er glaubte sogar daran. E r zwang sich, loszurennen. Er war der Engel des Todes, und er war wieder auf freiem Fuß.
2. Kapitel Nach seiner achthundertneunundneunzigsten - und schlechtesten - Landung auf dem Deck eines Flugzeug trägers blieb Captain Clay Tomlin noch für ein paar Mo nate bei der Navy, aber nachdem immer offensichtlicher wurde, daß er seinem Land keinen guten Dienst mehr lei sten konnte, quittierte er denselben. Er war vierunddrei ßig Jahre alt, ledig und hatte keine Ahnung, was er jetzt mit sich anfangen sollte. An Land tat er die üblichen Dinge: Er traf alte Freunde, hatte Affären mit einer ganzen Reihe Frauen und trank zuviel. Wenn er betrunken war, verfiel er in dumpfes Brü ten und hatte nicht besonders viel Spaß. Er versuchte, ein sinnvolles Bild seiner Zukunft zusammenzusetzen, und er scheiterte immer wieder. Finanziell war er unabhängig. 25
Während der fünfziger Jahre hatte er Geld verdient, ohne nennenswerte Ausgaben zu haben. Ein ehemaliger Maat aus Annapolis, der heute Inhaber eines soliden Unterneh mens in der Wallstreet war, hatte ihm Pfandbriefe ange dreht, als niemand sie loswurde. Später hatten die Pfand briefe sich nach und nach prächtig entwickelt. Einen Teil seines Geldes hatte er an zivile Spezialisten verschwen det, die ihm aber auch nicht mehr sagen konnten, als die Ärzte der Navy in Bethesda ihm ohnehin schon klarge macht hatten. Er würde nie wieder fliegen können. Aber das Fliegen war das einzige, was wirklich Bedeutung für ihn hatte. Schließlich hatte er von seinem Katzenjammer die Nase voll und beschloß, da es sonst auf dieser Erde keinen Platz für ihn zu geben schien, nach Hause zu fahren. Außerdem würde es bald Winter werden, und der Winter behagte seinen Südstaatlerknochen überhaupt nicht. Gegen Mittag des 24. Oktober, einem kühlen und kla ren Tag, fuhr Tomlin nach Port Bayonne, Mississippi, hinein, einem Hafenstädtchen, das östlich von Biloxi an der Golfküste liegt. Er parkte seinen schneeweißen Cor vette vor dem Büro von Rechtsanwalt Mace Lefevre, das sich in einem kleinen, renovierten einstöckigen Gebäude an der Hauptstraße befand. In den Fensterkästen standen Orangenbäumchen. Er schlenderte durch die geöffnete Tür. Es tat sich nicht viel. Das Fräulein am Empfang tele fonierte gerade mit einer Freundin. Sie war ein vorlautes, kleines Kraftpaket, vielleicht eins fünfzig groß und etwa achtzehn Jahre alt, aber am entsprechenden Finger trug sie bereits den Verlobungsring mit einem stecknadel kopfgroßen Diamanten. In diesem Land reiften sie immer noch schneller und heirateten früher als anderswo. Ihre Ehemänner waren vielleicht ein, zwei Jahre älter und ar beiteten auf den Krabben- und Austernkuttern des nahe 26
gelegenen Fischereihafens von Pascagoula. Er fühlte eine leichte Sehnsucht, als sei ihm bei seinem Eintritt so etwas wie ein Schatten aus seiner eigenen Jugendzeit begegnet. Das Empfangsfräulein legte ihre Hand über das Mikro fon des Telefonhörers. »Bitte, Sir?« »Lungern hier bei Ihnen vielleicht ein paar heimweh kranke Waschbären herum?« »Clay Tomlin! Bist du das etwa?« »Komm nur raus, Mace.« Mace Lefevre füllte den gesamten Rahmen seiner Bü rotür aus. Er hatte Tomlins Alter und war etwa genauso groß, aber er befand sich in wesentlich schlechterem Zu stand. Mindestens 150 Pfund Übergewicht trug er mit sich herum. Tomlin hörte ein leichtes Pfeifen, wenn er at mete. Mace trug einen pulverblauen Leinenanzug und einen marineblauen Häkelschlips. Und Diamanten. Auch wenn er einen Juristenanwärter beschäftigte und ein Mädchen, das die Telefongespräche führte, stand er mehr oder weniger einem Ein-Mann-Betrieb vor. Aber es war Mace gelungen, entlang der Küste den einen oder ande ren sehr lukrativen Deal zu tätigen. »Also zum Teufel, da bist du! Was hast du vor, du ver rückter Kerl?« Tomlin antwortete mit dem Anflug von Grinsen, den er aufzubringen imstande war: »Hab' ein bißchen Freizeit. Da dachte ich, kommste halt nach Hause und gehst ein bißchen angeln.« »Also, komm rein. Mein lieber Mann, wir haben eini ges nachzuholen.« »Bist du sicher, daß du nicht zuviel zu tun hast?« »Ach, Quatsch! Wann hatte ich schon mal zuviel zu tun? Elizabeth, wenn Perrine das nächste Mal anruft, dann sagen Sie ihm, wir seien ins Gericht gefahren, um 27
die nötigen Dokumente zu beschaffen. Um vier heute nachmittag wird er das Nutzungsrecht haben.« Elizabeth nickte, steckte sich den Kaugummi zurück in den Mund und nahm den unterbrochenen Telefonklatsch mit ihrer Freundin wieder auf. Mace Lefevre folgte Tom lin in das geräumige hintere Büro, das immer noch so aus sah, wie Tomlin es in Erinnerung gehabt ha tte, mit den robusten, alten Eichenmöbeln, die Maces Vater seinem Sohn zusammen mit dem Geschäft hinterlassen hatte. Ein Paar tiefer Ledersessel, ein Schreibtisch mit eingelassener Schreibfläche aus Leder. Als Trophäen an den Wänden blaue, martialisch aussehende Schwertfische. Übersichts karten des gesamten County. Der gerahmte Entwurf eines Architekten für eine Feriensiedlung, die auf einem Stück chen Land erbaut worden war, das Mace gehörte und die er an einen Hotelkonzern verpachtet hatte. »Hübsches Mädchen da draußen«, meinte Tomlin. »O ja zum Teufel, ich hatte bestimmt schon ein Dut zend von der Art. Sie bleiben acht Monate, vielleicht ein Jahr, und dann gehen sie dahin und kriegen Kinder. Manchmal kriege ich schon ihre Namen durcheinander. Wenn man erst einmal unser fortgeschrittenes Alter er reicht hat, sehen sie alle gleich aus. Falls Elizabeth dir ge fällt, sie hat eine kleine Schwester, der könnte ich dich mal vorstellen. Sie hat zwar schon ein paar Jahre mehr auf dem Buckel, aber das sieht man ihr nicht an. Sieht wirklich Spitze aus. Letztes Jahr geschieden. Sie arbeitet im Sea Sprite als Hosteß. Ich nehme an, du hast nicht inzwischen geheiratet, ohne uns Daheimgebliebenen etwas davon mitzuteilen.« »Immer noch überzeugter Junggeselle, Mace.« »Ich weiß, wie das ist. Immer der Dienst auf See. Aber da gab es doch ein Mädchen, oder? Bob hat sie einmal er wähnt. Arbeitete in einem Lazarett in Vietnam. Ist ihr 28
nicht etwas zugestoßen?« Mace setzte sich an seinen Schreibtisch, die Finger verschränkte er vor seinem er normen Bauch, die Augen blickten jetzt ernst aus seinem sonnengebräunten Gesicht. »Eine Bombe in Cam Ranh Bay. Sie hat den größten Teil des Hecks einer 707 weggerissen, die Verwundete zurück in die Staaten bringen sollte. Sie hat nach der Ex plosion noch zwei Monate gelebt, aber frag mich nicht, wie.« »Tut mir wirklich leid, so etwas zu hören«, sagte Mace und hielt es nach einer kurzen Einschätzung von Tom lins ausdruckslosem Gesicht für angebracht, das Thema zu wechseln. »Also hast du dir etwas Zeit mitgebracht? Was bist du noch gleich? Geschwaderkommandeur auf der Saragotal« »War ich. Nachdem sie außer Dienst gestellt wurde, hat man mich auf die Vinsion versetzt. Aber seit einem Jahr bin ich nicht mehr bei der Navy.« »Großer Gott! Und wo haben Sie sich seitdem rumge trieben, Mr. Tomlin?« »Hier und dort.« »Hast dir Zeit genommen mit dem Nachhausekom men, was? Das letzte Mal haben wir uns gesehen, als wir den alten Bob zur letzten Ruhe betteten. Wie lange ist das jetzt her? Drei Jahre?« »So ungefähr.« Tomlin fühlte, daß er keine Lust hatte, darüber zu reden, keine Lust auf Erinnerungen dieser Art. Er trauerte seinem toten Bruder nicht nach, der älter gewesen war als er, alt genug, um während seines gan zen Lebens ein Fremder für Clay zu bleiben. Bob, der Marinehistoriker. Seine Frau war kinderlos gestorben, nach sechs Jahren Ehe. Die Familie hatte sich drastisch vermindert. Hier und da gab es noch ein paar Oldtimer Großonkel und Tanten -, aber in seiner Umgebung 29
hatte er zu niemandem mehr enge Beziehungen. Er be gann sich schon zu fragen, warum er eigentlich nach Port Bayonne gekommen war. Aber solange er . . . »Wer lebt in dem großen Haus, Mace?« »Ein Ehepaar aus der Gegend von New York. Sie leben jetzt seit beinahe elf Monaten hier unten. Zum Teufel, ich habe ihren Mietvertrag gerade erst für ein weiteres Jahr verlängert. Ich hatte ja keine Ahnung, daß du kommen würdest. Clay, du weißt, daß du Lorraine und mir immer willkommen bist. Solange du willst.« »Ist schon in Ordnung, Mace. Ich glaube, ich möchte für eine Weile mit mir allein bleiben. Werde schon was finden.« »Komm, machen wir eine kleine Ausfahrt zusammen. Seit deinem letzten Besuch hat sich einiges geändert. Wir werden irgendwo zu Mittag essen. Unten am Bluebell Jachthafen gibt es einen neuen Laden, die machen den be sten gegrillten Rotfisch, den ich je gegessen habe.« Sie fuhren in Maces Cadillac, der noch zwei Wochen zuvor im Schaufenster des Händlers gestanden hatte, zum Jachthafen hinunter und parkten auf dem geräu migen Parkplatz. Dann gingen sie im rechten Winkel an einer langen Reihe von Sportanglerbooten und Küsten seglern vorbei. Die meisten von ihnen gehörten Einhei mischen. Zu dieser Jahreszeit waren bis auf ein paar un entwegte fast alle Touristen verschwun den. Schließlich standen die ersten Herbststürme ins Haus. Viele der An legeplätze waren frei. Sie kamen zu einem Zweikabinen boot mit Dieselmotor, das beeindruckende vierzig Fuß lang war. Mace verlangsamte seinen Schritt, sein Gesicht verzog sich zu einem verzückten Lächeln. Die Shady Lady IV. Tomlin erinnerte sich an eine Reihe anderer Shady La dys, begonnen hatte sie mit einer gebrauchten, dreiund zwanzig Fuß langen O'Day, die Mace schweren Herzens 3°
zu einer Zeit erworben hatte, als sein knickerig er Vater ihn noch als Angestellten hielt. »Geschäfte scheinen gut zu gehen, Mace«, bemerkte Tomlin ganz beiläufig. »Zum Teufel, du kennst mich doch. Ich laufe lieber mit schiefen Absätzen herum und lasse meine Kinder hun gern, als daß ich auf meine Spielz euge verzichte. Komm, laß uns an Bord gehen. Ich organisier uns 'n paar Dosen Bier, bevor wir zum Landlubber rüberlatschen. Ach ja, und natürlich 'n Satz Zweitschlüssel.« Tomlin sah ihn fragend an. »Sie steht dir natürlich zur Verfügung. Wann immer du mit ihr rausfahren magst, Clay.« »Hört sich wie das große Los an«, meinte Tomlin. Irgend jemand spielte drei Anlegeplätze weiter auf einem der schnellen Flitzer Bob Seegers >Nine Tonighh. Tomlin sah einen stämmigen Mann mit dunkelroter Haut, der auf den Schult ern mehr Haare zu haben schien als auf dem Kopf. Er hatte sich auf ein Knie niedergebeugt, um sich an der Maschinenklappe eines achteinhalb Meter langen Fountain-Motorflitzers zu schaffen zu machen, der fest vertäut dalag. Jede Menge Pferdestärken aus zwei Innenbord-Mercurys hinter einer Hülle aus Kevlar und Fiberglas. Er wechselte offensichtlich die Zündkerzen aus, wobei er in der milden Oktobersonne leicht ins Schwitzen gekommen war. Gerade machte er eine Pause. Mit der rechten Hand schlug er sich im Rhyt hmus der Rockmusik mit der flachen Hand auf einen Oberschen kel. »Wo wir gerade von Spielzeugen reden«, meinte Tom lin. Mace zuckte mit den Achseln. »Von den Dingern sieht man inzwischen jede Menge an dieser Küste. Wirklich, Typen, von denen man nicht glauben sollte, daß sie sich 3i
auch nur zwei Zehncentstücke fürs Mittagessen zusam menkratzen können, kreuzen plötzlich mit so 'nem Fünfundsiebzigtausend-Dollar-Geschwindigkeitsungeheuer auf.« Der stämmige Mann veränderte seine Stellung auf der Bank im Cockpit nur ganz leicht, so daß er, immer noch kniend, wobei die karierten Bermudashorts sich über sei nen muskulösen Schenkeln spannten, zu ihnen herüber schauen konnte. Die Lautsprecher auf seinem silber grauen Flitzer dröhnten so laut, daß er ihre Un terhaltung auf keinen Fall mit angehört haben konnte. Er trug eine Sonnenbrille, deren Gläser so tiefschwarz waren wie po lierte Eierkohlen. Er grinste, als er seinen Jachtkameraden Mace Lefevre erkannte, und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Tomlin sagte: »Tanks voll, Arsch auf den Fahrersitz ge klemmt und dann ab, ohne Streß rüber nach Isla Mujeres oder Campeche.« »Nun, es wird inzwischen so einiges geredet«, sagte Mace. Er sah ein bißchen beunruhigt aus und hatte es auf einmal eilig, an Bord seiner Jacht zu kommen. »Krabben fischen ist ein harter Job, und außerdem ist er unsicher. Mit Stoff scheint das einfacher zu laufen, obwohl man hört, daß die Küstenwache inzwischen eins von drei Boo ten aufbringt, die durch den Kanal von Yucatän zu den Barrier-Inseln fahren.« Tomlin fügte hinzu: »Es gibt eine Aufklärungsstaffel der Navy, die mit Jägern außerhalb der Dreimeilenzone operiert. Ich glaube, sie haben sogar P-3-Jäger. Die kön nen sechzehn Stunden in der Luft bleiben und dabei pro Stunde 95000 Quadratmeilen absuchen.« Er sah immer noch zu dem stämmigen Mann hinüber, »Den kenne ich doch, oder? Entschuldige, Mace, bin gleich wieder da.« Er ging das Stückchen Kai entlang zu dem Motorboot. 32
Der Mann im Cockpit mußte jetzt beide Hände gebrau chen, um eine hartnäckige Kerze mit Hilfe seines Ker zenschlüssels loszubekommen. Es gelang ihm. Tomlin nahm seine Revo-Sonnenbrille ab. In der hellen Mittags sonne blinzelte er ein wenig mit den Augen. »Bist du nicht Wink Evergood?« Der stämmige Mann sah auf. Er schien überrascht zu sein. Er starrte Tomlin an, dann streckte er ihm eine Hand entgegen, an der ein Knöchel blutig abgeschürft war, und drehte die Lautstärke seines tragbaren Stereo gerätes leiser. Er sagte kein Wort. Tomlin stellte sich vor. Wink Evergood nickte langsam und erhob sich, dabei stieß er die Sonnenbrille bis hinter seinen zurückwei chenden Haaransatz die hohe Stirn hinauf. »Ja, gibt's denn das, Mann? Ist 'ne ganze Weile her.«
Tomlin nickte. »Das Meisterschaftsspiel während der Küstenkonferenz.« »Ja, ich erinnere mich. Wir beide und Farragut. Was für ein Spiel. Weißt du, daß du mir den Kiefer an drei Stellen gebrochen hast?« Jetzt grinste er. Er hätte einen Zahnarzt gebrauchen können. Seine Zähne waren zwar noch einigermaßen weiß, besonders im Kontrast zu dem schmutzigen Rotschimmer seiner Haut, aber sie hatten Risse und bröckelten. Und er hatte Narben um den Mund herum. Ein Raufbold, der einiges einstecken konnte, erinnerte Tomlin sich. Aber jetzt sanfter gewor den, beinahe liebenswürdig, wi e er dastand und Tomlin musterte. »Ging manchmal ganz schön rauh zu unter den Kör ben«, sagte Tomlin. »Der Teufel soll mich holen, wenn's nicht so war. Hast du deinen Weg auf der Militärakademie gemacht?« Tom lin nickte wieder. »Ich glaube, ich habe mal was über dich 33
in einer von diesen Zeitungen gelesen. Bist 'n paarmal in Vietnam gewesen. Flieger, stimmt's?« »Stimmt.« »Gut, dich wieder mal zu sehn, Kumpel. Bist du 'ne Weile in der Stadt?« Wink Evergood rieb sich das Kinn samt den blonden Bartstoppeln und sah an Tomlin vorbei zu Mace hinüber, der unter dem Bug seiner Jacht wartete. »Schon 'ne Weile«, antwortete Tomlin. Wink wandte Tomlin wieder seinen Blick zu. »Komm mal wieder vorbei, wenn ich mehr Zeit habe.« Er rieb sich jetzt den Kiefer und grinste dabei. »Ich glaube, ich bin dir noch was schuldig.« »Wenn du meinst.« Wink schüttelte leicht amüsiert den Kopf. »Nein, nein, ich meine einen Drink. Warst du das nicht, der mir 'n Liter Jack Daniels ins Krankenhaus geschickt hat? Dacht ich mir. Hab' ich damals sehr zu schätzen gewußt.« Er führte den aufgescheuerten Knöchel zum Mund und lutschte daran, glücklich wie ein Kind, obwohl in seinen grauen Augen etwas Unberechenbares, vielleicht sogar Gefährli ches lag. In einem von ihnen hatte er einen bösen Blu ter guß. Tomlin verabschiedete sich und ging zurück zu Mace, der auf ihn wartete. »Was hatte das zu bedeuten?« »Wir haben auf der High -School gegeneinander ge spielt. Er hatte nicht besonders viel Talent, er war nur kräftig, rauh und hinterhältig. Er hat mir '-n paar Dinger verpaßt, und einmal hab' ich's ihm heimgezahlt. Ich wollte nur mal sehen, ob ich ihn jetzt besser leiden kann als damals.« »Und? Kannst du?« »Nein.« Mace zeigte Tomlin jeden Winkel seiner Jacht und ver 34
suchte dabei, nicht zu sehr zu protzen. Sie tranken ein paar Dosen Bier. Dann gingen sie hinüber zum Landlub ber, der früher einmal den Namen Something Fishy ge führt hatte, aßen Rotfisch und Austern auf der halben Schale und spülten das Ganze mit einem Montrachet hin unter. Tomlin hörte meistens zu, während Mace von sei ner Frau, den Kindern, dem Geschäft mit Immobilien er zählte. Er erklärte seinen Wohlstand mit einer Kette von glücklichen Zufällen, Gelegenheiten, die ihm einfach so auf die Türschwelle gehüpft seien, und er sei einfach nur zu faul gewesen, sie wieder hinunterzustoßen. Tomlin kannte Mace seit der Zeit, als sie noch kleine Jungen ge wesen waren, deshalb wußte er ganz genau, was für ein Streber er war. Er mochte Mace sehr gern, deshalb wurde es ein guter Nachmittag, aber um drei Uhr mußte der An walt zurück in sein Büro. Tomlin sagte ihm, er würde die Zweitschlüssel für das Boot an einem der nächsten Tage abholen, dann dankte er Mace noch für seine Freundlich keit. Mace lud ihn für jeden Abend der Woche zu sich nach Hause zum Essen ein, aber Tomlin fand Ausflüchte. Auf dem Parkplatz teilte er Mace mit, daß er zu seinem Haus auf Lostman's Bayou hinausfahren wolle, wenn es für die jetzigen Mieter kein zu großes Problem wäre. »Um Gottes willen, nein, nein, überhaupt kein Pro blem. Sag mir nur wann, und ich arrangiere es für dich.« »Wie war's mit morgen abend?« »Das sollte zu machen sein. Ruf mich kurz an, wenn du losfahren willst.« Es war beinahe unvermeidlich, daß Tomlin auf der Rück fahrt von Port Bayonne zu seinem Zimmer im Ramada Inn plötzlich nach rechts abbog und die Landstraße weiter fuhr, die zum Bayou hinunterführte. Es schockierte ihn ein bißchen zu sehen, wie weit sich die Stadt in Richtung 35
der Meerenge ausgebreitet hatte, wie sie ihre schwarzen Greifarme aus Asphalt ausstreckte, an denen entlang Wohnanhängersiedlungen, Einkaufszentren und Einfa milienhäuser im rustikalen Stil aus dem Boden schössen, bis hinüber zur nördlichen Grenze des bundeseigenen Meeresufers. Dann lag auf einmal alle Zivilisation hinter ihm. Die Straße teilte sich, der eine Arm wand sich um die nordwestliche Ecke des bundeseigenen Landes herum, zunehmend schlechter werdend, voller Schlaglöcher, vor bei am verblichenen Hinweisschild >PRIVATSTRASSE/ PRIVATGRUNDSTÜCK/DURCHFAHRT VERBOTENE. Zu beiden Seiten der Straße jetzt flaches Land, dicht be standen mit einer hochgewachsenen Mischung aus südli chen Harthölzern und Lobolly-Kiefern, später waren es dann nur noch Kiefern. Bis jetzt war noch kein Wasser zu sehen, aber vor dem steile n Pfefferkuchendach des wei ßen Hauses, das direkt vor ihm in einer Lichtung zwi schen den dunklen Bäumen auftauchte, flatterten die er sten Möwen. Auf der einen Seite der schmalen Asphalt straße schlängelte sich ein sumpfiger Ausläufer des Brackwassers durch die Bäume, auf der anderen bot sich Tomlin ein derart verblüffender und unerwarteter An blick, daß er erst nach einer Art Schrecksekunde auf die Bremse trat. Er setzte die fünfzig Meter zurück bis zu der riesigen, einzeln dastehenden Steineiche. Auf dem graslosen, har ten Boden unter den weit ausladenden Ästen standen ein paar hölzerne Klappstühle, die sicher zu einem bestimm ten Zweck dort aufgebaut worden waren, aber jetzt leer waren. Er sah nach oben, mit den Blicken dem klapprigen Aufbau einer Wendeltreppe folgend, die sich um den schwarzen Stamm der Eiche herumwand, hinauf zu einer Plattform, die immerhin groß genug war, um einem aus gewachsenen Klavier Platz zu bieten, und einem Schup 36
pen, der vielleicht zweimal die Größe eines Aborts be saß. Auf dem Blechdach des Schuppens befand sich ein kleiner Glockenturm, in dem etwas hing, das wie ein Glöckchen einer vorsintflutlichen Lokomotive aussah. Von dem Glockenturm hing ein Seil herab. Mehrere Kat zen faulenzten auf der Plattform und um den Baum herum. Tomlin stieg aus seinem Corvette und zog ein paarmal an der Glockenstrippe. Sofort öffnete sich die Tür des Baumhauses, und ein Neger trat mit eingezogenem Kopf ins Freie. Ein eisgrauer Haarkranz umrahmte seinen kah len Schädel hinter den Ohren wie eine Krone aus schmutziger, alter Wolle. Er trug einen schwarzen Kittel, Khakihosen und an den Zehen ausgetretene Turnschuhe. In der Hand hielt er einen hohen schwarzen Hut, an dem viele kleine Spiegel angebracht waren. Tomlin erkannte den Hut, bevor ihm der Name des Mannes einfiel. Es war schon so lange her. »Was geht hier vor, Wolfdaddy?« Wolfdaddy setzte feierlich seinen Hut auf, wobei die Spiegelchen viele kleine Blitze des Sonnenlichts reflek tierten, das sich durch die braungefleckten abste rbenden Blätter der Steineiche stahl. »Alle Pilger und reuigen Sünder«, sagte er, »werden Aufnahme in der >Kirche zum Tor des Himmels< des >Evangeliums des Richtigen Weges< finden. Freiwillige Spenden sind willkommen. Jede zehn Verse, die ich Ih nen aus der Bibel vorlese, kosten einen Dollar. Ein Gebet gegen Ihre Betrübnis kostet zwei Dollar. Nennen Sie die Choräle Ihrer Wünsche, ich werde sie Ihnen spielen und singen. Drei Dollar. Gelobt sei Jesus Christus.« »Kein Blues mehr, Wolfdaddy? Ich werde die groß e Baritontrompete vermissen.« »Den Blues der Sünder spiele ich nicht mehr. Ich singe 37
nur noch zu seinem Lob, zum Lobpreis meines geliebten Herrn. Jawohl, Sir. Fühlen Sie sich wie zu Hause, Mist' Bob.« »Bob ist tot«, antwortete Tomlin. »Ich bin Clay.« Wolfdaddy angelte in einer der Taschen seiner ausge beulten Hosen herum. Schließlich brachte er eine Brille zutage und setzte sie sich auf die Nase. »Ja, ja. Etwas fülliger geworden, stimmt's. Willkom men, Mist' Clay. Wie lange mag's her sein, daß ich Sie zum letztenmal gesehen habe?« »Sehr, sehr lange her.« »Das ist wahr.« Eine Weile schaukelte Wolfdaddy nur immer wieder von den Absätzen auf die Fußspitzen und lächelte heiter dazu, während keiner der beiden Männer ein Wort sprach. Ein aufkommender Wind raschelte in den Blättern der alten, von Hurrikans gebeugten Steineiche. Zwei der schlanken Katzen hatten eine kurze Auseinandersetzung. Tomlin fühlte, wie hinter seinem Rücken die Sonne lang sam unterging. Ihn fror ein wenig. »Ich hätte Ihnen sagen müssen, daß der Erlösungsgot tesdienst jeden Donnerstagabend stattfindet. Wir haben hier schon die großartigsten Wunder geschehen sehn.« »Wie kommst du darauf, ich könnte ein Wunder ge brauchen ?< »Oh, ich habe da meine Informationsquellen, Mist' Clay«, antwortete Wolfdaddy ernst, aber nicht selbstge fällig. Er drehte den Kopf. Die Spiegel schleuderten kleine Blitze über die handtellergroßen Blätter der Eiche. »Kommen Sie. Wir werden für Sie beten.« Tomlin sagte kein Wort. Er schaute zurück über die Schulter, um zu sehen, wieviel Tageslicht ihm noch blieb. Gerade noch genug, dachte er, aber es war trotzdem ein Fehler, heute noch diese Straße entlangzufahren. Etwas 38
von der Bitterkeit, die er sich selbst zu fühlen verboten hatte, tropfte heraus aus seinem Herzen. Zum Teufel, vielleicht hatte Wolfdaddy sogar recht. Vielleicht war das wirklich der wahre Grund, weshalb er zum Bayou zurück gekehrt war, die kindliche Hoffnung, errettet zu werden, wenn schon nicht durch Jesus Christus, dann doch wenig stens durch irgend etwas. Irgend jemanden. Aber sie leb ten alle nicht mehr in dem Haus. Mutter. Sein alter Vater. Bruder Bob. »Bis bald, Wolfdaddy«, sagte er und ging zu seinem Wagen. Er versuchte sich den Gedanken aus dem Kopf zu schlagen, daß der Kreis seines Leben s sich geschlossen hatte, nur damit er hier in eine Falle ging.
3. Kapitel Am Morgen des 25. Oktober, der in der nördlichen Hälfte des Staates New York bedeckt war und einen beißenden Wind mitgebracht hatte, parkte Lieutenant Barney Green land von der State Police seinen Wagen am Rand der Straße, die etwas oberhalb neben der belebten Autobahn verlief, und ging auf das Waldstückchen zu, das bereits Schauplatz beträchtlicher Aktivitäten war. Staatspolizei. Zwei Krankenwagen, zivile Ermittler und eine Laborcrew seiner eigenen Dienststelle. Der medizinische Sachver ständige war ebenfalls dort. Greenland war wegen eines anderen Falls in Lake George gewesen und war die sech zig Meilen in einem Stück gefahren, um rechtzeitig her zukommen. Die erste Leiche, die er sich anschauen mußte, gehörte einem männlichen Kaukasier, etwa eins achtzig groß und älter als fünfzig, aber das war auch schon alles, was man 39
sagen konnte. Das Opfer war durch mehrere Schläge mit einem harten Gegenstand getötet worden und hatte schwerste Verletzungen am Kopf. Die klaffenden Schä delwunden hatten stark geblutet, und das herunterströ mende Blut hatte das Gesicht des toten Mannes in eine entsetzliche Maske verwandelt. Kein Mensch sagte auch nur ein Wort zu Greenland. Es gab Reifenspuren, aber kein Auto. Man nahm gerade Gipsabdrücke. Er ging hinüber zu der zweiten Leiche. Weiblich. Von der Hüfte abwärts unbekleidet, einmal ab gesehen von einem zierlichen, schwarzen Schnürstiefel. Sie war erwürgt worden. An Oberschenkeln und Unter leib fanden sich große Blutergüsse. Die Frau hatte locki ges, rauchblaues Haar, wie Greenlands Großmutter, aber die mehrfachen Vergewaltigungen hatten die meisten Locken aus der Dauerwelle gelöst. Sergeant Wilkowski sprach mit zwei Kindern in karier ten Jacken, die offensichtlich zusammen mit dem goldfar benen Jagdhund, den eines von ihnen an einer kurzen Leine hielt, auf die Leichen gestoßen waren. Staatspolizi sten hielten die kleine Meute von Fernsehteams auf Ab stand vom Tatort. Wilkowski kam gerade z u Greenland herüber, als der Lieutenant herschaute. »Identität?« fragte Greenland und lauschte einem Last wagen, der auf der nahen Autobahn vorüberheulte. Am seln sangen überall in den Bäumen um sie herum. Über einem Haus, dessen Dach man hinter dem Hügel, der sich gleich an das Wäldchen anschloß, eben noch erkennen konnte, stieg der Rauch eines Holzfeuers auf. Man sah eine Scheune. Kühe standen auf der bräunlichen Weide. Und hier vor ihnen lagen zwei Tote. Zwei Menschen, die brutal ermordet worden waren. »Richard und Martha Pell. Lebten an der Route 119. Er war Farmer im Ruhestand. Sie gehörten beide der Ge 40
meinde der katholischen St.-Stanislauskirche in Com stock an.« »Und?« »Möglicherweise haben sie ihn dort aufgelesen. Ge stern abend nach der Me sse. Sieh dir an, was er mit ihr gemacht hat.« Greenland beugte sich über den Körper der Frau. Auf ihrer Stirn war verschmiertes Blut. Offensichtlich, da es sonst keine offenen Wunden gab, kam das Blut aus ihrer Vulva. Er nahm eine seiner Visitenkarten aus der Briefta sche, um damit das silberne Kreuz anzuheben, das an einer Kette hing, die man nicht sehen konnte, weil sie sich tief in den blutunterlaufenen Hals eingegraben hatte. »Ein Rosenkranz?« Wilkowski nickte. »Ich verwette ein Steak im Claridge House darauf, daß es unser Junge aus Silver Birches war.« Greenland sagte nichts. Er sah sich die Blutspuren auf der Stirn genauer an. Sie schienen sich zu Worten zu for men. Er langte nach seiner Brille und sah gerade in dem Moment hoch, als der medizinische Sachverständige zu sammen mit zwei Krankenpflegern vorüberging, die eine Bahre trugen. »Barney.« »Mal. Was glaubst du? Wie lange?« »Mindestens zwölf Stunden. Wahrscheinlich länger. Ich kann natürlich nur vermuten, aber ich würde sagen, der Mann war sofort tot. Mit der Frau hat er sich Zeit gelassen.« Greenland erhob sich, der Saum seines Trenchcoats flatterte im Wind. »Was ist das da auf der Stirn? Sieht aus, als hätte er etwas schreiben wollen.« 4i
Der medizinische Sachverständige nickte. »Soweit ich das erkennen kann, soll es wohl heißen: >Hast du mich
In ihrem Zimmer in dem Haus an der 83sten Avenue in Howard Beach, Queens, war Antonia Barzatti bereits vor sechs Uhr früh aufgewacht. Sie fieberte, die Brust schmerzte noch immer, obwohl sie bei ihrer Bro nchitis das Schlimmste schon überstanden hatte. Draußen war es gerade hell geworden, aber der Himmel war grau, die alte Dame hörte den Regen. Und sie hörte das Telefon im Erd geschoß des Hauses. Sie hatte von Angel geträumt. Er hatte ihr einen Blu menstrauß gebracht, aber in den bunten Blüten hatten schwarze Spinnen gelauert. Ziemlich früh für Telefonanrufe. Zu früh. Irgend etwas stimmte da nicht. Sie war ganz sicher. Sie stieg aus dem Bett. Ihr war etwas schwindelig, und sie fror trotz des langen Flanellnachthemds. Ihr Schwie gersohn mußte sich noch vor dem Winter etwas mit dem Heizkessel einfallen lassen, sonst würden sie sich alle zu Tode frieren. Sie zog ihren Dior-Morgenrock an - die En kelkinder hatten ihn ihr zum letzten Muttertag geschenkt - und versuchte nicht zu husten, denn das Husten zerrte wie mit Widerhaken an den entzündeten Bronchien. Selbst ohne Schuhe war sie sehr groß. Außerdem trug An tonia ihr Haar hoch, voller Stolz, wie ein Bischof seine Mitra. Es sah aus, als sei es mit einem Teer pinsel frisiert worden, die Nacht im Bett hatte ihm kaum etwas anhaben können. In Antonias hartem Gesicht gab es kaum einen weiblichen Zug zu entdecken, nur die erstaunliche Wöl bung ihres Busens konnte als eindeutiger Hinweis auf ihr Geschlecht dienen. Antonia zog die Jalousie etwas auseinander und sah 42
hinab auf den kleinen, dunstigen Hinterhof, den Garten mit seinen verwelkten Blumen, die entlang des Zauns standen, den Turngeräten für die Kinder, und sie sah eine schlichte Limousine, die sie nicht kannte und die jemand in der hinteren Gasse, gleich neben der Garage der Sina gras, geparkt hatte. Im Laufe der Jahre hatte sie ein waches Auge für poli zeiliche Überwachungsteams entwickelt, und obwohl sie in der Limousine niemanden erkennen konnte, wußte sie, daß sie da waren. Also. Das Haus wurde überwacht. Aber warum? Ihr Schwiegersohn war ein einfacher Mann, der für die Stadt arbeitete, und ihre Tochter war eine angese hene Geschäftsfrau. Warum sollte man also ihr Haus überwachen? Sie hörte ein sanftes Klopfen an der Tür. Antonia Bar zatti drehte sich um, die Hand gleich unterhalb des Halses gegen die Brust gepreßt. »Mama?« sagte Carol ganz leise. »Bist du wach? Pater Tonelli ist gekommen.« In all den Jahren, die sie nun schon in Amerika war, hatte sie noch nicht ein einziges Mal die Morgenmesse versäumt, selbst als sie nach der Geburt ihres einzigen Sohnes krank in der Klinik gelegen hatte. Sie hatten ihn •Dominic genannt, nach seinem Vater, aber sie hatten ihn schon als Baby >Angel< gerufen. Als man ihn ihr gebracht hatte, hatte sie sofort diesen ausgeprägten, goldenen Schein um seinen schwarzgelockten Kopf herum gese hen, und sie war die einzige gewesen, die ihn gesehen hatte. Sie öffnete ihre Schlafzimmertür und sah Carol an. »Hier geht irgend etwas vor. Warum teilst du es mir nicht mit?« »Ach, Mama. Du hast dich nicht gut gefühlt, und des halb . . .« 43
»Ist Angel tot?« Für einen kurzen Moment drängte sich ein Blick in Ca rols Augen, den sie sogleich vor ihrer Mutter verstecken mußte. Wäre er doch nur tot. »Nein. Er ist ausgebrochen. Vorgestern nacht.« »Ah.« Antonia Barzatti entließ den schmerzhaften Atemzug, den sie zurückgehalten hatte. Sie war froh. Sie hatte Angel in Silver Birches besucht. Was für ein schrecklicher Ort. »Ist das alles? Ausgebrochen? Und sie wissen nicht, wo er ist?« »Mama . . . er hat eine Schwester getötet. Und mögli cherweise noch ein paar andere Menschen.« Carol sah niedergeschlagen aus und besorgt. Ihre Mutter nickte feierlich, aber die Nachricht bedeu tete ihr nichts. Nach allem, was sie wußte, mußte die tote Krankenschwester eine böse Frau gewesen sein, die ihren armen Jungen gequält hatte. Sie hatte Angel wegen seiner Gewalttätigkeiten niemals Vorhaltungen gemacht. Ei gentlich hatte sie den Geschichten, die ihr zu Ohren ge kommen waren, nie so rechten Glauben geschenkt. »Ich habe heute nacht von Angel geträumt. Er hat mir Blumen gebracht, wie er es früher immer zu tun pflegte. Neun Spinnen saßen in den Blüten, ich habe sie sorgfältig gezählt.« »Mein Gott«, sagte Carol. Es war noch so früh, und sie hatte schon wieder Kopfschmerzen. Unten schrie das Baby. Was wäre, wenn Angel hier auftauchen würde? »Neun Spinnen«, sagte ihre Mutter und unterstrich die Bedeutung dieser Zahl noch durch ein feierliches Kopf nicken. >Und? Was bedeutet das?« »Ich bin nicht ganz sicher. Ich sage dir ja nur, daß ich sie gezählt habe. Die Jungfrau wird mir die Bedeutung der Spinnen erklären.« 44
»Mama . . .« Aber sie wußte, daß es keinen Sinn hatte, einen Streit über die Visionen der Antonia Bar zatti anzu fangen oder auch nur die enge Freundschaft in Zweifel zu ziehen, die sie angeblich mit La Virgene verband. Das würde nur eine Krise auslösen und das Zusammenleben mit ihr noch schwieriger machen, als es ohnehin schon war. Carol liebte ihre Mutter, aber. . . »Mama, ich muß mich um Varonne kümmern. Außerdem haben wir heute sehr wichtige Aufnahmen. Ich muß um Viertel nach sechs aus dem Haus, um nach Brooklyn zu fahren. Geh jetzt runter. Pater Tonelli ist unten in der Kapelle.« »Wirst du heute mit mir in die Messe gehen, Carol? Bitte, nimm dir ein bißchen Zeit, carrissima.« »Das Baby schreit«, sagte Carol gereizt. Dann versuchte sie ein Lächeln. »Geh du schon voraus. Ich will versu chen, in ein paar Minuten nachzukommen.« »Du solltst dir auch ein paar Minuten für das Frühstück nehmen. Du bist viel zu dünn. Letzten Winter warst du so oft erkältet.« »In Ordnung, Mama, Frühstück.« Joe rief nach ihr, of fensichtlich verärgert. Antonia Barzattis schmale Ober lippe verzog sich zu der gewohnten Grimasse der Mißbil ligung. Sie hatte es Carol nie ganz verziehen, daß sie nicht standesgemäß geheiratet hatte. Ein Kostenanalytiker, der in der Stadtverwaltung arbeitete. Er brachte nicht viel Geld mit nach Hause, etwa die Hälfte von dem, was Carol als Autorin und Produzentin von Werbespots im Fernse hen verdiente. Aber wenigstens kam er nach Hause, je denfalls die meisten Nächte. Er hatte keine comares, keine kostspieligen Laster. Antonia Barzatti ging die drei Treppen ins holzgetäfelte Kellergeschoß hinunter, wo es nach dem Wettersturz be reits wieder feucht zu riechen begann. Pater Tonelli, ein junger Priester der katholischen Gemeinde der Himmel 45
fahrt Maria, wartete bereits in der Nische, in der Joe und Carol einen kleinen Reliquienschrein für die Jungf rau eingerichtet hatten, die ihnen mit glasigem Blick von ihrem Gipspodest herab entgegensah, ohne daß sie die Tischtennisplatte oder die Sammlung von Bierdosen aus aller Welt anschauen mußte. Erst nachdem ein angemes sener Platz für die Jungfrau gefunden war, hatte Antonia Barzatti sich bereit erklärt, aus ihrem Haus auszuziehen und bei ihren Kindern zu wohnen. Sie kniete schwerfällig nieder, um der Statue die rechte Hand zu küssen und danach die Hand des Priesters. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Pat er Tonelli«, sagte sie. Ein unangenehmes Kratzen reizte ihren Hals, das noch nicht dagewesen war, als sie mit ihrer Tochter gesprochen hatte. Sie wandte dem Priester einen jämmer lichen Blick zu. »Nemmeno. Es ist gut, Sie wieder auf den Beinen zu se hen.« Er blickte erwartungsvoll an ihr vorbei. Ganz heim lich schwärmte er ein bißchen für Carol. »Nein, nein«, sagte Antonia Barzatti und mühte sich mit seiner Unterstützung wieder auf die Beine. »Es hat keinen Sinn, auf meine Tochter zu warten. Die Kinder. Immer nur Arbeit, Arbeit, Arbeit, Für die geistige Seite des Lebens haben sie keinen Gedanken übrig.« Pater Tonelli brachte sie zu ihrer Bank und begann, die Messe zu zelebrieren. Sie antwortete, wenn es von ihr verlangt wurde, und hielt den Rosenkranz fes t umklam mert. Dabei sah sie auf das jugendliche Gesicht der Ma donna und fragte sich, ob sie nicht etwas frische Farbe ge brauchen könnte. Die Feuchtigkeit hier unten. Eine ihrer rosa Wangen sah fast ein bißchen schuppig aus. Weil sie durch ihren Traum vorgewarnt und gefestigt war, wunderte Antonia Barzatti sich nicht, daß die Ma donna auf einmal hell zu strahlen begann, während alles 46
andere in der Nische sich zu verfinstern und weit zu ent rücken schien. Aus der Stirn der Jungfrau kamen ihr Spi ralen himmlischen Lichts entgegen, genau von der Stelle, wo alle Hexen ein drittes, allwissendes, hinter dem Kno chen verborgenes Auge vermuteten. Pater Tonelli mußte sie mit einem kräftigen Stupser auf die Schulter darauf aufmerksam machen, daß es Zeit w ar, das heilige Abend mahl entgegenzunehmen. Er sah besorgt aus. Sie behielt die Oblate auf der Zunge, um sie dort zergehen zu lassen, bevor sie sie hinunterschluckte. Dann bekreuzigte sie sich und lehnte sich müde zurück. Das Erscheinen des himmlischen Lichts, ein Phänomen, das sie bereits seit ihrer frühesten Kindheit kannte, bedeutete, daß die Jung frau bald zu ihr kommen würde. Je leuchtender das Licht, desto bedeutender die Botschaft, die man ihr bringen würde. Als sie das letzte Mal Zeuge einer so wunderbaren Erscheinung geworden war, hatte die Jungfrau ihr an schließend mitgeteilt, daß ihr Gatte an Krebs sterben würde. >Big Marbles< hatte im Auburn State Prison gerade eine sechsjährige Strafe wegen Erpessung und Beste chung - den wesentlichsten Werkzeugen seines Hand werks - angetreten. Er hatte über die Offenbarung seiner Frau nur gelacht. Schließlich nahm er es mit seiner Ge sundheit sehr genau und konnte glatte dreihundert Pfund in die Luft stemmen. Und wo war er jetzt? Er lag schon lange in seinem Grab. »Ist mit Ihnen alles in Ordnung, Mrs. Barzatti?« fragte Pater Tonelli. »Lassen Sie mich Ihre Tochter holen.« »Nein, behelligen Sie sie nicht.« Sie starrte immer noch auf die kindliche Madonna, als wolle sie mehr und könne das, was da kommen sollte, kaum noch erwarten. »Ich werde für eine Weile hier sitzenbleiben und beten. Auf Wiedersehen.« Er schien sie nicht allein lassen zu wollen, aber sie kümmerte sich nicht mehr um ihn, und schließ 47
lich ging er hinaus. Sie wußte, daß es keinen Sinn ge habt hätte, ihm von dem himmlischen Licht zu erzählen. Nur der Monsignore hätte sich die Zeit genommen, ihr zuzu hören, nur er schien sie zu verstehen, aber der war in letz ter Zeit so beschäftigt, daß man ihn nicht einmal mehr ans Telefon bekam. Angel, ja, Angel hatte genau verstanden, was das himmlische Licht ihr bedeutete. Sie hatte es ihm zum er stenmal gezeigt, als er noch ganz klein war. Damals hatten sie stundenlang vor einer Madonna wie dieser hier geses sen, ganz still nebeneinander, vereinigt in derselben Stimmung, und sie hatten kein Wort wechseln müssen, während ihre Seelen miteinander flüsterten. Später, als er heranwuchs und unruhiger wurde wie jeder normale Junge, der hinauslaufen will, um mit seinen Freunden zu spielen, hatte sie im Kerzenschein des fensterlosen Zim mers nur die Arme um ihn legen müssen, hatte ihn fest an ihre Brust ziehen müssen, damit ihre Seelen miteinander sprechen konnten, und er war ruhig geworden. Einmal hatte Antonia ihn in ihrer Verzückung so fest an sich ge preßt, daß ihr Mann, der gerade nach Hause gekommen war, sie mit entrücktem Blick vorgefunden hatte und den Jungen bewußtlos, beinahe erstickt in ihrer Umarmung. Big Marbles hatte Antonia zu Ärzten geschickt, aber de nen hatte sie nichts von dem himmlischen Licht erzählt, von den Besuchen der Heiligen Jungfrau. Sie hatten ihr Medizin gegeben, die sie in die Toilette geschüttet hatte, wenn sie unbeobachtet gewesen war. Seitdem war sie zu keinem Arzt mehr gegangen.
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4. Kapitel Carl war schon wach und hatte bereits ein paar Aspirin ge nommen. Er hatte sie trocken hinuntergeschluckt. Das blonde Mädchen mit der langsam schwindenden Ganz körperbräune, das sich das Wort Brazo quer über eine Hinterbacke hatte tätowieren lassen, erwachte gerade. Er sah zu ihr hinüber und überlegte, ob er sie schnell noch einmal vögeln sollte, als ein Ortungsgerät für Eindring linge loslegte. Es gab dabei ein hohes Piepsen von sich wie das Bullenortungsgerät in seiner Bootskabine. »Was'n das?« fragte das Mädchen, wischte sich verwirrt eine Haarsträhne aus dem Gesicht und bedachte Carl mit einem Blick aus ihren grauen Augen, der ihm klarmachte, daß sie nicht genau wußte, wo sie sich befand. »Besuch«, sagte Carl, langte zum Bullauge auf der Steu erbordseite und zog den geflochtenen Vorhang zur Seite. Etwa zweihundert Meter entfernt sah er einen weißen Corvette mit einem Typen hinterm Steuer, der ein blaues Hemd und eine Windjacke trug. Der Corvette rollte ge rade durch das Tor und auf das Haus zu. Carl zog die Stirn in Falten. »Jemand, den ich kenne?« fragte das Mädchen. Sie be fühlte ihren ganzen Körper, vorsichtig, als habe sie Angst, er könnte ihr etwas Unersetzliches geklaut haben, wäh rend sie schlief, die linke Titte vielleicht, oder ein Ohr läppchen. »Wen kennst du denn schon?« erwiderte Carl ohne In teresse. »Mein Gott, brummt mir der Schädel! Was für 'ne Sorte Pantherpisse haben wir eigentlich getrunken?« »Black Velvets.« »O Gott, dann ist's ja kein Wunder. Wo kann man denn hier mal für kleine Mädchen, Seemann?« 49
»Carl.« »Carl. Sicher. Ich bin Evie.« »Ja, ich weiß.« Er war sich nicht sicher gewesen, wie sie sich genannt hatte. Er zeigte mit dem Finger. »Die Tür mit dem Spiegel.« »Danke. Bin gleich wieder da.« Sie setzte sich auf die Kante der schmalen Koje, mit eingezoge nen Schultern ließ sie den Kopf von einer Seite auf die andere rollen. »Ach, du brauchst dich nicht zu beeilen«, sagte Carl. »Kann sein, daß ich drüben im Haus was zu erledigen habe. Nachdem du dich erfrischt hast, könntest du doch deine Sachen anziehen und dich aus dem Staub machen. Wie war's, wenn du deine Telefonnummer dalassen wür dest? Ich verspreche dir, daß ich mich melden werde.« »Wie bin ich eigentlich hierher geraten?« fragte Evie, erhob sich, reckte sich auf den Zehenspitzen und preßte die Handflächen gegen das Kabinendach. Die Spitzen ihrer Brüste zeigten dabei schräg gen Himmel. Mein lie ber Mann. Die luden ganz schön zum Grabschen ein. Carl gab sich selbst den Befehl zur Zurückhaltung. Der Bur sche in dem Corvette machte ihm Sorgen. »Wir sind in deinem Chris-Craft gekommen. Es ist an der anderen Seite des Anlegers festgemacht.« »O ja, ich erinnere mich. Also, Carl, bye -bye.« Sie schenkte ihm noch ein betörendes Lächeln und ein Win ken über die Schulter, dann verschwand sie mit eingezo genem Kopf im Vorderteil des Bootes. »Bye, Honey«, sagte Carl, wobei er versuchte, ihren nicht unbeträchtlichen Akzent nachzuahmen. Er gönnte sich noch einen Blick auf ihre makellose Rückansicht und die langen Beine, bewunderte seinen guten Geschmack und fragte sich, wie alt die Kleine wohl sein mochte. Dann stand er auf, zog ein Paar ausgefranster Shorts an, dachte darüber nach, daß es draußen ziemlich frisch sein würde, 5°
und streifte daraufhin noch einen gestrickten Baumwoll pullover über. Das Haus, in dem Clay Tomlin aufgewachsen war, be stand zu zwei Stockwerken aus altem Backstein, während das obere Stockwerk mit verzierten, viktorianischen Schindeln verkleidet war. An mehreren Stellen ragten Blitzableiter aus dem Dach. Entlang der Westseite und an der Vorderfront gab es breite, überdachte Verandas, auf denen man den ganzen Tag über Schatten fand, einmal ab gesehen von den frühen Morgenstunden und dem Spät nachmittag. Sie hatten restauriert werden müssen, nach dem ein Hurrikan mit den Namen Camille im Jahre 69 einiges auf dem Grundstück verwüstet hatte. Eine Rasen fläche zähen, widerstandsfähigen Bermudagrases zog sich etwas siebzig Meter hinunter bis zum Sumpfgras, das Lostman's Bayou auf allen Seiten einrahmte, und dem U-förmigen Bootsanleger samt Plankensteg, der ebenfalls nach dem großen Orkan erneuert werden mußte. Tomlin, der auf der Veranda wartete, daß ihm jemand die Tür öffnen würde, sah eine sündhaft teure Motorjacht mit Flügelbrücke, die zusammen mit einem kleinen Mo torflitzer mit offenem Cockpit und ein paar alten, verbeul ten Blechbooten, mit denen sie früher durch die Sümpfe getuckert waren, am Anleger festgemacht hatte. Hinter dem Haus zog sich auf der Anhöhe, auf der das Haus stand, ein Dickicht in östlicher Richtung, Sumpfkiefer meist und Hartholz-Gebüsch, in dem umgewehte Baum stämme langsam vor sich hin moderten. Die alte, back steinerne Garage und ein kleines Pumpenhaus standen an der äußeren Kehre der gepflasterten Zufahrt. Vor der Ga rage, auf dem Beton eines kleinen Vorplatzes, stand das große, luxuriöse Wohnmobil, das sein Bruder Bob sich gekauft hatte, um noch etwas von der Welt zu sehen, be 51
vor sein chronisch schwaches Herz ihm endgültig den Dienst versagen würde. Soviel Tomlin wußte, war er nicht mehr dazu gekommen, s ich an dem Ding zu er freuen. Aber irgend jemand hielt den Bus instand, fuhr ihn vielleicht sogar von Zeit zu Zeit. Die braun und weiß lackierte Karosserie und alle Chromteile strahlten in flek kenlosem Glanz. Tomlin hatte ganz vergessen, daß der achtunddreißig Fuß lange Bus jetzt ihm gehörte. Zusam men mit all dem Inventar, das Bob dafür bestellt hatte, war das Ding sicher seine hunderttausend wert. Er hatte Mace nie irgendwelche Instruktionen gegeben, was sein Erbe betraf. Vielleicht, dachte Tomlin und fügte damit seinem kleinen Vorrat an Möglichkeiten für die Zukunft eine weitere hinzu, würde er sich mit dem Bus eines Tages auf die Reise machen ... Ja, er konnte es sich deutlich ausma len, wie er unter einem westlichen Technicolor -Himmel vor dem langen Sonnendach saß und zusammen mit an deren Pensionären gute Tips für die Instandhaltung sol cher Gefährte austauschte. Verwirrt und gleichzeitig fasziniert wurde er durch den Anblick einiger Einrichtungen, die die Mieter auf eigene Kosten hatten installieren lassen. Die riesige Schale einer Satelliten-Antenne für den Fernsehempfang stand auf einer eigens dafür aufgegossenen Plattform. Dann gab es eine ganze Reihe großer Flutlichtscheinwerfer, die den größten Teil des Grundstücks ausleuchten konnten. Vi deokameras zur Überwachung waren über der Eingangs tür und an allen Ecken der Veranda installiert. Was glaub ten die Leute bloß, wieviel Sicherheit man hier unten auf dem Bayou brauchte? Viele Leute kamen sicher nicht vor bei, und die Alligatoren zogen es vor, unter sich zu blei ben. Tomlin hörte das tiefe Bellen eines Hundes, und dann wurde die von einem schrägen Dach überbaute äußere 52
Tür von einem schlaksigen, schwarzen Mädchen geöff net, das aussah, als sei es gerade für eine Szene in >Vom Winde verwehtx kostümiert worden - ihr Kopf war in ein Kopftuch eingewickelt, und sie trug eine große Schürze. Sie hatte einen langen Körper mit lose baumelnden Ar men und einen wehmütigen Blick, als wartete sie, wie Bill Cosbys Tochter in einem seiner Sketche, auf das Erschei nen der guten Fee. Sie trat einen Schritt zurück, schließ lich löste sich sie Szene in einem schüchternen Lächeln auf. »Wie? Mist' Clay?« Tomlin kannte sie nicht. »Ich bin Opal, Mist' Clay, Chessies Nichte.« »Die mit dem wahnsinnigen lin kshändigen Bogen wurf?« »Genau! Kommen Sie rein. Werden Sie von Mrs. Jef fords erwartet?« »Mace Lefevre hat sie heute morgen angerufen«, sagte Tomlin und betrat das Haus. Wie vertraut war ihm die sonnendurchflutete Eingangshalle mit dem hohen Fen ster in der äußeren Kurve des Treppenhalbrunds. »Wie seid ihr Mädchen zurechtgekommen?« »Ach, wir sind zwei Jahre nacheinander ins Halbfinale der Staatsmeisterschaft gekommen, aber gewonnen ha ben wir nichts.« »Wie geht's Chessie? Mein Gott, sie war ja schon alt, als ich von hier fortging.« Er entdeckte unter der Treppe eine weitere Videokamera, die direkt auf ihn gerichtet war. Er zog seine blaue Windjacke aus. Im Haus war es wärmer als draußen auf der Veranda. »Chessie beklagt sich nicht, aber, Sie wissen ja, ihre Knochen. Sie kann keine Arbeit mehr tun. Ach, was wird sie sich freuen, daß Sie wieder zu Hause sind und nach ihr gefragt haben. Geben Sie mir Ihre Jacke, Mist' Clay.« 53
Tomlin schaute sich um nach den Spiegeln, den Gemäl den, den chinesischen Möbelstücken, die man in Hong kong und anderen exotischen Hafenstädten erworben hatte. »Sieht alles noch so aus wie früher.« »Mist' Bob hat niemals was verändert. Er liebte das alte Haus so sehr.« »Das tu' ich auch. Mir wird jetzt erst klar, wie sehr ich es vermißt habe.« »Sind Sie zurückgekommen, um zu bleiben?« fragte Opal, während sie die Windjacke in einen vergoldeten Wandschrank hängte, über dessen beide Türen ein blü hender Pflaumenbaum gemalt war. »Könnte schon sein.« Der Auftritt der Frau nahm seine Aufmerksamkeit in Anspruch. Sie blieb am anderen Ende des langen Mittel flurs einen Moment lang stehen und wandte den Kopf, um sich in einem der antiken Spiegel, die es überall im Hause gab, noch kurz von oben bis unten zu betrachten. Dann kam sie in die Eingangshalle, eine Frau, die es ge wöhnt zu sein schien, sich schnell und entschlossen zu bewegen. Die rechte Hand blieb in der Hosentasche der gebügel ten Shorts stecken, während sie ihm die Linke zur Begrü ßung entgegenstreckte. »Mr. Tomlin, guten Tag. Ich bin Anita Jeffords.« Auf der Rückseite ihres linken Arms zog sich eine lange Narbe entlang, ein Netz von kleineren Narben gruppierte sich strahlenförmig um den Handgelenkskno chen. Er fragte sich, ob an der Hand, die sie verbarg, wohl noch alles dran sein mochte. Sehr schnell war sie auf sein Interesse aufmerksam geworden und zog die rechte Hand etwas unbeholfen aus der Hosentasche, wobei sie die ganze Schulter zu Hilfe nehmen mußte. Offensichtlich 54
war das Ellenbogengelenk nicht beweglich genug. Die Hand hing schlaff herab. Zumindest alle Finger waren noch dran. Er war erleichtert. Sie war viel zu jung und zu hübsch, um schon verstümmelt zu sein. »Autounfall«, erklärte sie. Ostküstenakzent, dachte er. Big Apple, vielleicht sogar Brooklyn. Dann aber Brooklyn Heights. Außerdem hatte sie einen kleinen Sprachfehler, als sei die Zunge oder der Gaumen bei dem Unfall eben falls in Mitleidenschaft gezogen worden. Nicht direkt ein Lispeln, eher ein flüsterndes Geräusch, kaum zu hören und reizend. »Ich kann meine Hand ein wenig gebrau chen.« Wie zum Beweis machte sie eine Faust. »Aber ich habe noch keinen festen Griff. Wollen wir nicht ins Wohnzimmer gehen?« »Gern«, antwortete Tomlin. »Tee? Oder etwas Stärkeres?« Tomlin wandte sich zu Opal um. »Hat Chessie dir bei gebracht, wie sie ihre Limonade macht? Die mit dem Schuß Cherry Cordial?« Opal strahlte. »Klar! Hat sie!« »Limonade«, meinte Anita. »Das hört sich gut an.« Sie lächelte Tomlin an, aber ihre frechen, braunen Augen wa ren wachsamer, als nötig gewes en wäre. Der Hauswirt war zu Besuch. Es gefiel ihm, in ihre Augen zu gucken, zum Teil auch deshalb, weil neben jeder der beiden dunk len Pupillen ein winziges gelbes Etwas eingebettet lag wie ein Körnchen Blutenstaub. Sie war keine besonders große Frau, höchstens eins sechzig, sie trug kein Gramm Fett zu viel am Körper und hatte trotzdem eine wohlgeformte Fi gur mit einem schönen, hochangesetzten Busen. Ihm fiel ein kleiner, grauer Fleck auf einer Wange auf, der aussah wie etwas Schmutz, den sie übersehen hatte. Spuren von demselben grauen Zeug waren auch auf der ansonsten 55
blitzsauberen, kurzärmeligen Bluse zu sehen, als hätte sie im Garten gearbeitet, bevor sie hier erschien. Sie trug kein Make-up. Sie hatte natürliche, volle Augenbrauen und Wimpern. Das volle, dunkelbraune Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz hochgebunden, um es von Schul tern und Hals fernzuhalten. Das pflegten normalerweise die Mitglieder der Mädchengruppen zu tun, die bei Sportveranstaltungen die Stimmung anheizen, aber es stand ihr. Ihre Hautfarbe war etwas blaß, als sei sie den ganzen Sommer über im Haus geblieben. Bei seiner ober flächlichen Taxierung hatte er einiges an ihr entdeckt, aber er wußte, daß es noch viel mehr geben mußte, was ihm zunächst noch entgangen war, was er aber unbedingt kennenlernen wollte. Als ihre Blicke sich begegneten, fühlte Tomlin ein angenehmes Kribbeln im Nacken. Aber sie war eine Mrs. Jeffords. Zu schade. Er folgte ihr in das Wohnzimmer. »Fühlen Sie sich wie zu Hause . . . wie dumm von mir, es ist ja ihr Zuhause. Möchten Sie sich ein bißchen umse hen? Wir haben nichts verändert. Ich meine, es war alles perfekt, so, wie es war. Eine wunderschöne Einrichtung. Wir wohnen hier sehr gerne.« Sie fand in einer Schachtel auf einem der Tischchen vor den Fenstern, die den marmornen Kaminsims einrahm ten, eine Filterzigarette. »Rauchen Sie?« Tomlin schüttelte den Kopf. »Darf ich?« »Sicher.« Ihm fiel auf, daß Opal ein gutes Hausmäd chen zu sein schien. Kein Körnchen Staub. Die zarten, cremefarbigen Vorhänge an den Fenstern schimmerten im diffusen Licht des Morgens. Nachdem Anita die Zigarette angezündet hatte, bezog sie mit verschränkten Armen vor den zwei Porträts über dem Sims Stellung. Tomlin kam zu ihr herüber, um einen Blick auf die Bilder zu werfen. Se ine Mutter, die See 50
mannsfrau, trug einen Haarknoten im Stil der dreißiger Jahre. Der entrückte Blick ihrer dunklen Augen und die verlorene Art, wie sie sich auf ihre gefalteten Hände stützte, erweckten beim Betrachter den Eindruck, sie sei mit ihren Gedanken an einem fernen Strand. Seinem Va ter schien es gefallen zu haben, für das Gemälde zu posie ren, aber wie üblich geizte er mit seinem Lächeln. Tomlins Kindheit war eine bange Schatzsuche nach Hinweisen auf die Stimmung des alten Mannes gewesen. »Ihrer Mutter sehen Sie ähnlicher«, sagte Anita. »Ich weiß.« »War Ihr Vater Admiral?« »Konteradmiral, als er in den Ruhestand ging. Er kom mandierte Schlachtschiffe im Pazifik. Zwei von ihnen sind ihm unterm Hintern wegtorpediert worden. Trotz dem hat er ein hohes Alter erreicht.« »Und Sie sind Flieger? Ich glaube, Mace hat so etwas erwähnt.« Er sah sie an. Sie hatte etwas Italienisches, vielleicht auch Griechisches. Ihre Nase war ganz leicht gebogen, aber überhaupt nicht auffällig. Ihr Blick war manchmal verschwommen, als würde sie durch entfernte Punkte und unerwartete schwarze Löcher auf dem Kontinuum ihres Sichtfeldes abgelenkt. »Nicht mehr. Ich habe mich in einen frühen Ruhestand versetzen lassen.« »Oh, ich verstehe.« Sie schien über ein anderes Ge sprächsthema nachzudenken, aber offensichtlich fiel ihr nichts ein. Also sahen sie sich einfach nur an. Anita wandte sich höflicherweise ab, um den Rauch auszubla sen. Die Zigarette hielt sie in der rechten Hand, den rech ten Arm unterstützte sie dabei mit der linken Hand, die sie unter den Ellenbogen gelegt hatte. Tomlin spürte das Bedürfnis, sie zu berühren. Statt 57
dessen tätschelte er einen der beiden Porzellanhunde aus der Ming-Zeit, die mit gefletschten Zähnen zu beiden Sei ten des Kamins Wache hielten. Die Hunde waren Nach bildungen. Das wirklich wertvolle Zeug, das seine Mutter gesammelt hatte - japanische Holzmalereien aus der EdoPeriode, einige glasierte Tierstatuen aus der Liao -Dynastie und ein eleganter, aber leicht zerbrechlicher Lao Hua-Li-Anrichtetisch aus dem 18. Jahrhundert -, befan den sich in einem Lagerraum. Als er seinen Blick von Anita abwandte, entdeckte er, daß die Schiebetür zur Bibliothek um ein paar Zentimeter geöffnet worden war. Ein kleiner Junge - die unglaubli che Ähnlichkeit der Augen verriet, daß es sich nur um Anitas Sohn handeln konnte- sah sie durch den geöffne ten Türspalt hindurch an. »Hi«, sagte Tomlin und lächelte in den rissigen Spiegel hinein. Anita sah, wohin er schaute. Sie drehten sich beinahe gleichzeitig in Richtung Bibliothek um, und sie winkte ihrem Sohn. »Tony, komm her.« Der Junge rührte sich nicht von der Stelle. Sie sah Tomlin mit einem leichten, ratlosen Achsel zucken an. »Er ist schüchtern.« »Hast du heute keine Schule?« »Oh, er geht nicht zur Schule. Ich unterrichte ihn sel ber. Ich bin ausreichend qualifiziert für den Heimunter richt. Er hat gerade seine Mathematikstunde.« Sie ging mit ein paar flinken Schritten hinüber zur Bibliothek, da bei sagte sie mit etwas lauter Stimme: »Tony, das i st, hmm .. .« Jetzt wußte sie nicht weiter. Sie drehte sich um zu Tomlin. »Ich kenne Ihren militärischen Rang nicht.« »Nennen Sie mich einfach Clay.« »Komm rein, Tony. Das ist schon in Ordnung. Du kannst ruhig mal 'ne kleine Pause machen.« 58
»Wie alt ist er?« wollte Tomlin wissen. »Tony ist sieben. Es ist nur . . . nun . . . Tony ist nicht an Besuch gewöhnt. Wir haben hier nicht oft Gäste.« Warum eigentlich nicht, dachte Tomlin bei sich. Anita hatte inzwischen im Spiegel den Schmutzfleck auf ihrer Wange entdeckt. »Oh . . .« Die Zigarette zwi schen die Lippen geklemmt, bearbeitete sie den Fleck mit einem Papiertuch. »Ich bildhauere ein wenig«, sagte sie. »Sie kennen ja den Lagerraum hinter der Küche. Es stand kaum was drin, und außerdem hat er ein ausgezeichnetes Licht. Ich habe den Raum ausgeräumt und ihn zu meinem Atelier gemacht.« »Würde ich mir gerne mal anschauen.« Er hätte über haupt nichts dagegen gehabt, ihr ein paar Tage lang ein fach nur zu folgen, sie zu beobachten, ohne dabei viel re den zu müssen. »Woher stammen Sie, Mrs. Jeffords?« »Anita. Bitte. Aus einer kleinen Stadt in New Jersey. Der Name würde Ihnen wahrscheinlich überhaupt nichts sagen.« Ihre Antwort kam ihm einigermaßen ausweichend vor. Was spielte es für eine Rolle, ob er den Namen ihrer Hei matstadt schon mal gehört hatte oder nicht? »Ganz schöne Veränderung, hier unten auf dem Bayou«, sagte Tomlin. Er hätte gerne gewußt, warum sie hergekommen war, mit einem lahmen Arm und einem Kind, das nicht mit ande ren Kindern zusammen zur Schule ging. Sie antwortete auf die Frage, die hinter seiner Bemer kung unausgesprochen geblieben war. »Ich mag die Ein samkeit. Außerdem bin ich Künstlerin, und . . .« »'nita?« »Wir sind im Wohnzimmer, Carl.« Er kam mit energischen Schritten herein (noch so ein Yankee, der's eilig hat), mit nackten, braungebrannten Beinen, erblickte Tomlin und bedachte ihn mit einem 59
flüchtigen, oberflächlichen Lächeln des Willkommens,
obwohl er offensichtlich keine Ahnung hatte, wer Tomlin
war. Ein schneller Seitenblick zu Anita half ihm nicht wei
ter. Erstreckte seine Hand aus.
»Hi. Carl Jeffords.«
Anita holte schnell das Versäumte nach. »Carl, das ist Clay... Tomlin.« »Na klar!« Carl hatte einen kräftigen Händedruck. Er war kleiner als Tomlin, vielleicht dreißig Pfund schwerer und stämmig, aber nicht fett. Er schien in ausgezeichneter körperlicher Verfassung zu sein. Lebhafte blaue Augen, olivfarbener Teint, die Nasenlöcher eines jungen Stiers, Bartstoppeln, die etwa einen Tag alt waren, auf einem energischen Kinn. Ein ganz ordentliches Paket. Der Typ Mann, der von sich selbst überzeugt ist, der die Dinge so gut im Griff zu haben scheint, daß man ihm die Versiche rungspolice, die zusätzlichen Extras beim Auto oder den Viertelhektar Bauland nur ein paar Schritte vom Oz ean entfernt schon abgekauft hat, bevor man sich überhaupt die Zeit genommen hat, drüber nachzudenken. »Was für eine Freude, Captain Tomlin,« Tomlin hätte die Gelegenheit gehabt, die Begrüßung ebenso freundlich zu erwidern, aber er tat es nicht. Nach ein paar Augenblicken des Zögerns ließen sie voneinan der ab. Carl sah wieder zu Anita hinüber und schüttelte kaum merklich den Kopf. (Vielleicht mißbilligte er ein fach nur, daß sie rauchte.) Anita sagte gar nichts, spielte nur nervös mit der Zigarette herum. Carl schaute wieder zu Tomlin hinüber. Erwartungsvoll. Tomlin sagte: »Wie geht es Ihnen?« Zähne blitzten auf, so weiß wie Talkum. »Ging mir nie mals besser. Vor einem Jahr war ich ziemlich sicher, kurz vor einem Nervenzusammenbruch zu stehen. Ich arbei tete in der Wallstreet. Als Teilhaber meiner eigenen Han 60
delsgesellschaft für Vermögenswerte. Ich hab' 'ne Menge Geld gemacht, aber ich war alles andere als glücklich. Hier unten, zum Teufel, schließe ich meine Geschäfte via Com puter ab. Hier und dort mal 'n kleines Geschäft mit einem Entwicklungsprojekt und viel, viel Zeit zum Angeln.« »Kein schlechtes Leben«, meinte Tomlin anerkennend. Opal kam mit einem Krug Limonade und Gläsern auf einem Tablett herein. »Limonade!« rief Carl begeistert aus. Er s chien einen unbegrenzten Vorrat an Begeisterung zu haben. Außer dem redete er viel mit den Händen. »Ich möchte wetten, daß du noch nicht einmal gefrüh stückt hast«, sagte Anita zu ihm. »Ach, Opal. Würdest du mir bitte ein Pilzomelette und ein halbes Dutzend Wurstpasteten machen?« »Ja«, sagte Opal. Sie schenkte zwei Gläser mit Limo nade voll, brachte eines Anita und das andere Clay, wobei sie ihm zulächelte. »Ich glaube, ich hätte auch ganz gerne ein Glas Limo nade«, sagte Carl. »Dann muß ich noch ein Glas aus der Küche holen«, war Opals mehr als förmliche Antwort, und sie verließ das Wohnzimmer, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Carl sah ihr nach. Das Lächeln stand immer noch auf seinem Gesicht. Dann kratzte er sich die Bart stoppeln und wandte sich wieder Tomlin zu. »Das ist wirklich ein tolles altes Haus, Clay. Wir ha ben's einfach wahnsinnig genossen, hier unten zu sein. Übrigens haben wir gerade vorgestern den Mietvertrag für ein weiteres Jahr verlängert.« »Hab' ich schon gehört.« Nachdem er seinem legalen Anspruch auf ein weiters Jahr Wohnrecht in Tomlins Heim deutlich Ausdruck ver liehen hatte, hob Carl jetzt leutselig die Hände, als hoffe 61
er, das Haus bis in alle Ewigkeit in Besitz nehmen zu kön nen. Er rückte etwas näher an Tomlin heran, sein Lächeln wurde ernster. »Was meinen Sie, besteht überhaupt keine Aussicht, daß Sie sich zum Verkauf entschließen könn ten, Clay?« »Ich glaube kaum. Im Augenblick plane ich allerdings nicht, länger als eine Woche hierzubleiben, höchstens zwei.« Anita schlürfte von ihrer Limonade und beobachtete Carl über den Rand ihres Glases hinweg. Nach einer etwas zu langen Pause sagte Carl ein biß chen zu herzlich: »Hier im Haus?« Anita fügte schnell hinzu: »Hier gibt's sicher mehr als genug Platz . . .« »Ich will euch nicht auf den Wecker gehen. Ich habe draußen Bobs Wohnmobil entdeckt. Das wird für mich vollkommen ausreichen.« Carl hustete leise in die geschlossene Faust und sagte zu Anita: »Gibst du mir einen Schluck von deiner Limo nade? Bis Opal mit meinem Glas zurückkommt, was ja be stimmt irgendwann im Laufe des Tages noch passieren wird.« Anita reichte ihm schweigend das Glas hinüber und nahm die Zigarette, die sie auf dem Rand des Aschenbe chers abgelegt hatte. Carl nahm einen Schluck und sagte n achdenklich zu Tomlin: »Sie setzen sich also in den Campingbus und fah ren .. .« »Nein, ich lasse ihn dort, wo er ist. Ich will nirgendwo anders hin. Ich will einfach 'ne Weile hier zu Hause am Bayou bleiben.« Carl antwortete, mit dem Kopf nickend: »Aha, ich ver stehe. Nun . . . sicher. Es ist nicht Bestandteil des Miet vertrags, deshalb war ich noch nicht drin, aber ich nehme 62
an, er bietet alle Annehmlichkeiten. Sie müssen nur ein Elektrokabel anschließen und ein paar . . .« Tomlin sagte ohne besonderen Nachdruck: »Ich habe nicht vor, Ihnen zur Last zu fallen.« »Aber nein! Ich bin froh, für 'ne Weile Gesellschaft zu haben. Angeln Sie manchmal, Clay?« »Mit Begeisterung.« »Vielleicht haben Sie vorhin mein Boot gesehen.« Tomlin erwiderte: »Ich habe zwei Boote gesehen.« Anita sah Carl mit müdem Lächeln an, dann blickte sie weg und nahm einen Zug aus der Zigarette. »Ach, richtig, die kleine Chris mit dem Außenborder. Die gehört einem Freund. Die Davis gehört mir. Die ganze Elektronik ist von SatNav. Rupp Motor. Wir kön nen jederzeit rausfahren. Sie müssen nur ein Wort sagen. Nun . . .« Carl sah auf seine Rolex, das Modell für den professionellen Taucher, wasserdicht bis zu einer Tiefe von hundert Faden. »Ich hab' gestern nachmittag kurz vor Börsenschluß noch ein Angebot für ein paar Optionen ge macht. Ich glaube, ich sollte mich drum kümmern, daß man mich nicht ausschmiert. Honey, kannst du Clay da bei helfen, sich einzurichten?« »Okay.« Carl schüttelte Tomlin noch einmal die Hand. »Wenn sie was brauchen sollten, fragen Sie.« Er ging mit schnel len Schritten auf die Tür zur Bibliothek zu und zog sie auf. Opal, die gerade mit einem Glas in der Hand aus der Kü che kam, machte auf dem Absatz kehrt, als Carl die Tür zur Bibliothek hinter sich schloß. Nach etwa zehn Sekunden des Schweigens sagte Anita: »Ich könnte Ihnen jetzt mein Studio zeigen, falls es Sie in teressiert.« »Sicher«, antwortete Tomlin. Er hatte keine anderen Pläne. Er hatte jede Menge Zeit. 63
In der Bibliothek bückte sich Carl, um dem irisc hen Wolfshund, der auf einem Stückchen Plüschteppich auf dem dunklen Eichenparkett lag, den zottigen Kopf zu streicheln. Der Junge, Tony, saß vor dem Computer und spielte ein Spiel mit Zauberern, Ungeheuern und dunklen Burgverliesen. Als Monitor diente ein Fernsehgerät mit einem Vierzig-Zoll-Bildschirm. Es war dunkel in der Bi bliothek, die Läden der Fenster und Türen, die auf die Ve randa hinausgingen, waren geschlossen. Der Ventilator unter der Decke quietschte. An den Wänden hingen alte Ölgemälde von Segelschiffen und eingerahmte Kon struktionszeichnungen von anderen Schiffen. Die mei sten der Bücher auf den Regalen beschäftigten sich mit der Geschichte der Seefahrt oder Architektur. »Bist du fertig mit den Schularbeiten?« sagte Carl zu dem Jungen. Tony nickte nur, er war zu beschäftigt mit seinem Spiel. Carl schlenderte hinüber zum Schreibtisch und nahm den Zettel mit den Rechenaufgaben. »Soll ich sie mal durch schauen, ob du auch alles richtig gemacht hast?« »Das macht Mama schon.« Carl sah sich das Blatt Papier trotzdem an. »Hier, bei der vorletzten Aufgabe, neununddreißig minus sechzehn plus vier, müßte die Antwort siebenundzwanzig heißen.« Tony nahm keine Notiz von der Korrektur. Statt dessen machte er einen Fehler bei seinem Spiel und preßte unte r angehaltenem Atem heraus: »Scheiße!« »Ich muß den Computer jetzt benützen, Tony. Nimm dir solange ein Buch und lies oder geh hinaus zum Spie len.« Der junge antwortete nicht. Der Wolfshund begann zu hecheln. Die Zunge hing ihm aus dem Maul. Carl ging hinüber zu Tony und stellte sich hinter seinem Stuhl auf. Er beobachtete den Fortgang des Spiels. Carl hatte auch 64
ein paarmal gespielt. Aus Langeweile. Tony löste die ge stellten Aufgaben besser und schneller als er. »Ich hab' dir schon so oft gesagt«, sagte Carl und legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter, um seinen Vor haltungen etwas von ihrem Nachdruck zu nehmen, »daß du von dieser Art Spiele deine schlechten Träume be kommst. Wir können auf deine Anfälle und Schrei krämpfe mitten in der Nacht gut verzichten.« Tony ant wortete nicht. Carl kratzte sich an der Wange, wo eine Mücke ihn auf dem Weg von seinem Boot ins Haus gesto chen hatte. Er packte die Schulter des Jungen etwas fester und langte mit der anderen Hand um ihn herum, um den Computer auszuschalten und das Spiel aus dem Disket tenlaufwerk zu nehmen. Tonys Gesicht spiegelte sich in dem jetzt dunklen Schirm des großen Fernsehgerätes. Er sah Carl an. »Wer ist das, mit dem Mom da redet?« »Kein böser Mann.« Tony blieb noch einige Augenblicke lang dort sitzen, dann langte er mit der linken Hand hoch, stieß Carls Hand von seiner Schulter und schlüpfte vom Stuhl herunter. »Big Dog!« rief er. »Komm mit raus!« Der Wolfshund sprang auf die Füße und folgte Tony zu den Verandatüren. Der Junge war im Stehen nur wenig größer als der Hund. »Nicht alle Menschen sind böse, Tony«, sagte Carl zu ihm. »Du weißt doch, daß ich niemanden ins Haus lassen würde, der dir was antun will.« Der Junge zögerte auf der Schwelle zur Veranda. Die Vorhänge begannen sich unter einer Brise zu blähen, die vom Golf von Mexiko herüberwehte. Er schaute etwas verbittert. Vielleicht, dachte Carl, hatte er etwas Falsches gesagt. Aber, auf der anderen Seite, schien so ziemlich alles falsch zu sein, was er zu Tony sagte. Verdammt lau 65
nischer Bengel. .. Carl lächelte über das ganze Gesicht. Tiefe Fältchen gruben sich in die Ecken seiner Augen. Manche Tage waren halt nicht so gut wie andere. Er würde Tony schon auf seine Seite bekommen, wenn er sich rich tig hineinkniete. »Hast du was Bestimmtes vor?« fragte Carl. »Ich will nur nach draußen.« »Ich muß für eine Weile in die Stadt, Tony. Ich werde erst spät in der Nacht zurück sein. Wie war's, wenn ich dir ein paar neue Abfalltonnen-Kids mitbringen würde. Das war doch okay, oder?« »Ja«, sagte Tony. Über das Angebot mußte er nicht lange nachdenken. Er war immer noch verrückt auf seine Samm lung von Abfalltonnen-Kids, obwohl er den miesen Kau gummi nicht mochte, der immer dabei war. Man konnte gar nicht genug von diesen scheußlichen Karten erfinden, um Tonys Bedarf zu decken. Er hatte schon damit begon nen, sich seine eigenen Namen auszudenken: Spindel dürre Hedda, Strumpfloch-Hanna, Friedhofs-Sal. . . »Na, ist das nicht 'ne kleine Umarmung wert?« wollte Carl wissen, aber Tony war s chon durch die Tür ver schwunden, vielleicht, weil er mit so etwas gerechnet hatte. »Dann hol' ich mir meine Umarmung eben später«, sagte Carl zu seinem Spiegelbild auf dem dunklen Bild schirm. Wenn er ehrlich war, fühlte er sich ein wenig im Stich gelassen. Auf seinem Rückweg von Krogers Supermarkt in Port Bayonne begegnete Tomlin Carl, der hinterm Lenkrad eines Mercedes 450 SL Sportcoupe saß. Kleine Scheiben wischer für die Scheinwerfer. Die Art Auto fuhr der Typ also. Carl trug einen Mantel und eine Krawatte. Er hupte und lächelte, das Haar wehte von seinen Schläfen nach 66
hinten. Er wirkte wie ein Mann, der das Leben zu genie ßen wußte. Tomlin hatte die Fenster des Wohnmobils offengelas sen, um einmal kräftig durchzulüften. Es lief bereits ein 220-Volt-Kabel vom Generator-Schuppen hinter dem Haus zum Bus herüber. Er brauchte es nur noch einzu stecken. Der Campingbus war mit gutem Teppichboden ausgelegt, die Platten auf den Wandschränken waren ent weder aus Marmor oder aus massivem Holz, Eichen schränke, eingebaute Stereoanlage, Satellitenfernsehen, Kühlschrank mit Fassungsvermögen von einem Kubik meter. Im Badezimmer war Platz genug für eine Bade wanne, und der Bettrahmen im Schlafzimmer hatte wahr haft königliche Ausmaße. In die Bettkonstrukt ion war eine elektrische Fußleistenheizung integriert. Mehr konnte man wirklich nicht verlangen. Ein ganzes Stück mehr Lebensraum, als er selbst auf dem größten aller Flugzeugträger zur Verfügung hatte. Aber er war schlech ter Laune. Irgendwas machte ihn unzufrieden. Vielleicht war es einfach nur seine Entscheidung, für eine Weile hierherzukommen. Er trat wieder ins Freie, nachdem er die Lebensmittel abgestellt hatte, und sah den kleinen Tony, der ihn aus einer Entfernung von ungefähr zehn Metern beobachtete, während er träge mit einem Stock auf den Rasen ein schlug. Der riesige Wolfshund jagte am Waldrand hinter einem Eichhörnchen her. »Hi, Tony«, sagte Tomlin. Der Junge antwortete nicht, aber er fuhr damit fort, Tomlin zu beobachten, auch wenn seine Augen im Schat ten des Gegenlichts der Sonne blieben. Er schlug jetzt et was heftiger mit dem Stock zu. »Möchtest du mal einen Blick hineinwerfen?« Tony traute der Einladung nicht. Oder er traute Tomlin 67
nicht. Er schüttelte nur kurz den Kopf und trottete davon. Tomlin ging wieder hinein, riß sich eine Dose Bier auf, die noch kalt gewesen war, als er den Supermarkt verlassen hatte, machte es sich in dem mit einem Schafpelz bezoge nen Fahrersitz des Campingwagens bequem und schaute durch die große, aerodyn amisch gestylte PanoramaWindschutzscheibe hinaus, den Bayou entlang bis hinaus zum flimmernden Horizont, wo er mit der Meerenge eins wurde. An den Stellen, wo das Süßwasser in Salzwasser überging, waren viele Vögel in der Luft, einige der Fisch adler nahmen ihre Mahlzeit ein. Außerdem sah er ein paar herrliche blaue Reiher. Anita modellierte in ihrem Atelier solche Vögel. Meistens mit ihrer linken Hand. Die Kraft kehrte nur langsam in die verkrüppelte rechte Hand zu rück. Ihre Vögel hatten so ein starres, gestrecktes Ausse hen. Das hatte sich in sein Gedächtnis eingegraben, ebenso wie die Lady selber. »Mist' Clay?« Opal klopfte an die geöffnete Tür und unterbrach seine Tagträumerei. Sie hatte einen Stapel frischer Leintücher für ihn. »Ich werde Ihnen das Bett machen, Mist' Clay.« »Vielen Dank, Opal.« Sie entdeckte die Tragetüten auf dem Eßtisch und legte die Laken aus der Hand. »Lassen Sie mich erst diese Le bensmittel verstauen. Übrigens, Mrs. Jeffords bittet Sie, heute abend mit ihr und Tony zu essen.« »Um welche Uhrzeit?« »Oh, sie essen früh. Halb sechs, wenn es Ihnen recht ist.« »Das ist mir recht.« Tomlin wirbelte mit dem Fahrersitz herum, damit er Opal dabei zusehen konnte, wie sie seine Einkäufe sortierte. Einige der Sachen wanderten in den Kühlschrank, andere in eines der Wandregale. 68
»Seit wann arbeitest du schon hier, Opal?« »Seitdem die Jeffords hier runtergezogen sind und mich angestellt haben.« »Also seit etwa einem Jahr.« »Ja, Sir.« »Und wie lange hat's gedauert, bis der gute Carl ver sucht hat, dich ins Bett zu kriegen?« »Das hat er versucht, als wir das erste Mal miteinander allein waren. Ich hab' zu ihm gesagt, Mister, hab' ich ge sagt, es wird Ihnen leid tun, wenn Sie das noch einmal tun.« »Aber sie magst du doch ganz gerne, oder?« »Mrs. Jeffords ist eine gute Frau. Was sie auf sich ge nommen hat, mit. . . Opal, halt den Mund.« »Was ist mit Tony los?« Opal antwortete nur zögernd. »Ach, wissen Sie, er ist furchtbar schüchtern.« »Schüchternheit ist eine Sache. Mir kommt es aber vor, als hätte er richtig Angst vor etwas.« »Aber er kann so süß sein«, sagte Opal, und in ihrer Stimme lag die Entschlossenheit, ihn in Schutz zu neh men. »An seinen guten Tagen kommen wir prächtig mit einander aus.« Sie sah Tomlin an. »Mist' Clay, wissen Sie, ich klatsche nicht gerne über die Leute, für die ich arbeite. Wolfdaddy sagt, das sei der erste Schritt zur Verdamm nis.« »Tut mir leid, Opal, aber ich bin nun mal furchtbar neu gierig, was die Leute betrifft, die in meinem Haus woh nen.« »Das ist schon in Ordnung, Mist' Clay. Ich verstehe das. Ich weiß, daß in Ihrem Herzen keine Bosheit lauert. Nun, Sie werden ja einige Tage hierbleiben. Ich schätze, Sie werden Zeit finden, mit eigenen Augen zu sehen, was Sie wissen wollen.« 69
Tomlin trank sein Bier aus. »Was gibt es zum Abendes sen, Opal?« »Gebratene Hähnchen.« »Ich wette, das hat Chessie dir beigebracht.« »Ach, Chessie. Wenn's um gebratene Hähnchen geht, könnte ich ihr Nachhilfestunden geben.«
5. Kapitel Der fünf Hektar große Besitz in Alpine, New Jersey, war von einem Popsänger gemischter Hautfarbe bewohnt worden, der bei einer Plattenfirma unter Vertrag stand, an der die Barzatti-Familie beträchtliche Anteile besaß. Der Junge sah aus wie ein elfenhafter Waldgeist, der von Dis ney-Zeichnern erdacht und anschließend in Steinkohlen teer getaucht und trockengefönt worden war, aber er hatte es immerhin auf fünfmal Platin gebracht, bevor die Teenager ihm ihre Gunst entzogen und er Ärger mit dem Finanzamt bekam. Die Plattenfirma hatte das Haus über nommen, hatte den Besitztitel durch das verzweigte Laby rinth der Barzatti-Unternehmungen geschleust, und ir gendwann nach einigen Renovierungen und einer gründ lichen Ausmistung der Einrichtung war Aldo Barzatti von seinem Haus in Long Beach, wo die feuchten, kalten At lantikwinter seinen alten Knochen gar zu heftig zugesetzt hatten, nach Jersey gezogen. Don Aldo verließ das Grundstück nur noch selten, um die Clubs in der Mulberry Street in Manhattan zu besu chen oder im Ozone Park draußen beim Flughafen , der eine der Haupteinnahmequellen für das Einkommen sei ner blühenden Familie darstellte. Er liebte die Abgeschie denheit der Wälder von Alpine, und er liebte seinen ge 70
heizten, überdachten Swimmingpool. Der stellvertre tende Chef der Familie kam immer zu ihm, wenn es um Geschäfte ging, die seine persönliche Kenntnisnahme er forderten. Mit den Bossen der anderen Familien in den großstädtischen Zonen verkehrte er meistens über Boten, er sah sie nur bei den Sitzungen der Ausschüsse oder bei bedeutenden Hochzeiten und Begräbnissen. Der Don war achtundsiebzig Jahre alt, sein Bruder Johnny (>Rip-Dog<) Barzatti war sogar noch ein paar Jahre älter und wurde bereits etwas taub und vergeßlich. Johns Sohn Frank, der ein Diplom der Wharton-Universität be saß, und Mark Greganti, ein Neffe, der auf zehn Jahre Er fahrung in einer New Yorker Investmentfirma zurück greifen konnte, waren dynamische Mittvierziger, die Wunderkinder, die den meisten alltäglichen Geschäfts kram der Familie erledigten. Diese vier und Gabriel Sol varro, der Rechtsberater der Familie, trafen sich zweimal monatlich in Alpine zu einer geschäftlichen Sitzung mit anschließendem, im Hause gekochten Essen. Sie trafen im ehemaligen Aufnahmestudio des Popstars im Keller der herrschaftlichen Villa zusammen, einem Raum, der so schalldicht und schwer zugänglich war, daß es dem FBI noch nicht gelungen war, hier Wanzen anzubringen. Am Abend des 24. Oktober saßen sie alle zusammen an einem ovalen Mahagonitisch. Jeder hatte den gleichen Computerterminal vor sich an seinem Platz. Die Zentral einheit nahm den größten Teil dessen ein, was früher die Aufnahmekabine gewesen war. Sie war an den Platz des 24-Spur-Mischpults des Sängers gerückt. Frank Barzatti versuchte immer, die Sitzungen möglichst nicht länger als eine halbe Stunde werden zu lassen, mit Rücksicht auf die älteren Männer, deren Aufnahmefähigkeit nur noch be grenzt war, aber manchmal fing Rip -Dog an herumzuka spern, wahrscheinlich aus purer Langeweile, und wenn 7i
Don Aldo ihn dann nicht zur Ordnung rief, wozu er nur selten Lust hatte, konnte sich ein solches Treffen endlos in die Länge ziehen. »Ich kapiere von diesem gottverdammten Mist über haupt nichts«, beschwerte sich Rip-Dog über eine vierfar bige Graphik, die soeben auf den Bildschirmen erschie nen war und die Einkünfte aus den Spielcasinos dar stellte. »Ist das nun der pure Gewinn, auf den wir da glotzen?« »Das ist der legale Teil des Geschäfts, Onkel John«, er klärte Mark geduldig. Er wünschte, der Don könnte sich endlich entschließen, den Kerl aufs Altenteil zu setzen, wo er hingehörte. Obwohl er Augen wie Gallensteine und Narben wie ein Apachenhäuptling hatte, sah Rip -Dog im mer so heruntergekommen aus. Auf den Wangen schim merten die Bartstoppeln eines Penners, und er war schlechter angezogen als der verwahrloseste aller Land streicher in Castelvetrano, seinem Geburtsort in Sizilien. »Runter? Oder rauf? Oder was?« Frank sagte: »Die Einkünfte der Casinos sind im Sep tember um 2,6 Prozentpunkte zurückgegangen. Das lag am ungewöhnlich schlechten Wetter in Atlantic City, aber wir liegen immer noch einen Drei-Zehntel-Punkt über dem durchschnittlichen Septemberwert seit dem Beginn unserer Aktivitäten in Jersey. Die nächste Graphik zeigt, daß wir mit unseren Voraussagen für das ge samte Jahr immer noch goldrichtig liegen.« Rip-Dog zog eine Zigarre aus seiner Hemdtasche und sah sich vergeblich nach einem Aschenbecher auf dem Tisch um. Jedes verdammte Mal, dachte Mark. Er lächelte und sagte: »Onkel John, wenn du bitte mit dem Rauchen warten könntest. Es schadet den Computern.« »Schadet den Computern? Ich habe diese Dinger schon geraucht, bevor überhaupt jemand was von Computern 72
gehört hat, und sieh mich an. Ich bin immer noch bei be ster Gesundheit« Er sah stolz in die Runde, und alle zoll ten sie mit einem Kopfnicken seiner Unverwüstlichkeit Respekt. »Wie zum Teufel haben wir eigentlich früher un sere Geschäfte geführt? Ohne diese verflixten Bilder? Was ist denn das da? Eine Pizza? Ich möchte meine mit Anchovis.« Gelächter. Entweder man erwies seinen abgestandenen Witzen die Ehre, oder man würde die ganze Nacht noch hiersitzen. Aber Don Aldo sah nicht einmal auf, er schien seinen Bruder gar nicht zu hören. Don Aldo saß da, die Stirn in finstere Falten gezogen und das Kinn vorge streckt wie ein grübelnder Gott. Der Schleier des Alters verdunkelte seine Augen. Er leckte sich verträumt über die Lippen. »Wessen Teil des Kuchens ist das?« wollte Rip-Dog ge rade wissen. Frank antwortete: »Qualpezzo?« »Na, das große da.« »Das ist unser es«, sagte Mark. Kuchenstücke waren Eselsbrücken, die sie eingeführt hatten, um etwas von der ausgeklügelten Methode verständlich zu machen, die sie sich ausgedacht hatten, um die finanzielle Basis der Fami lie zu erweitern. Der Versuch, so knifflige Ding e wie LBO's, REIT-Sicherheitswechsel und Übernahmen von blinden Kassen verständlich zu machen, wäre ein beinahe aussichtsloses Unterfangen. Rip-Dog lehnte sich in seinen Ledersessel zurück. Er schien unzufrieden zu sein. »Das ist nicht so, als wenn man in einen Koffer voller Hundertdollarnoten guckt. Es verschafft einem einfach nicht diese innerliche Befriedi gung, versteht ihr?« »Überweisungen von Bank zu Bank sind wesentlich si cherer als Geldkoffer«, belehrte ihn Frank. Das war eines 73
seiner Lieblingsthemen bei diesen Sitzungen. Es war, als würde er einem übellaunigen Kind ein Wiegenlied sin gen. »Die magische Zahl lautet sieben.« »Sieben!« wiederholte Rip-Dog und zog zufrieden die Zellophanhülle von seiner Davidoff-Zigarre. »Zahlungen sind nicht mehr zurückzuverfolgen, wenn man das Geld erst mal durch Überweisung auf sieben ver schiedene Konten bei sieben verschiedenen, ausländi schen Banken gewaschen hat.« Mark sah seinen Cousin an. »Gibt's was Neues auf dem Sektor der Übernahmen?« Frank ließ ein paar Tabellen über die Bildschirme flim mern. »Wir haben durch unseren Arbitragehändler ein Angebot machen lassen, dreiundfünfzig Prozent der Stammaktien der Julep-Time-Abfüllbetriebe in Louisville zu übernehmen. Zwei Millionen und vierzigtausend An teile zu zwölf einhalb, die wir komplett durch hoch ver zinsliche Wertpapiere finanzieren werden.« »Und warum zahlen wir nicht bar?« wollte Rip -Dog wissen. »Wir haben doch jede Menge Bargeld, oder?« Frank belehrte ihn freundlich: »Bargeld ist altmodisch, Papa.« Gabriel Solvarro sah von seinem Bildschirm hoch. »Wer zum Teufel ist dieser D. Foster Doyle?« »Mr. Doyle ist Präsident der Kommission und Bevoll mächtigter von Julep Time. Den Posten von zwei Millio nen Dollar, auf den ihr gerade schaut, könnte man e inen >Goldenen Fallschirm< nennen. Es handelt sich um Doyles Abfindung für seinen Weggang nach der feindlichen Übernahme der Mehrheit, die er für uns in die Wege ge leitet hat. Zusätzlich kriegt er von uns noch anderthalb Millionen in Form von Schweizer Rentenpapieren.« Rip-Dog leckte die Spitze seiner teuren Zigarre feucht und sagte mit jenem Aufblitzen von Feindseligkeit, das 74
die jungen Hüpfer in der Familie immer noch in Angst und Schrecken zu versetzen wußte: »Mr. Doyle ist ein/zglio di puttanal« Mark erwiderte: »Heutzutage nennt man so jemanden einen Wirtschaftskapitän. Es könnte schlimmer sein. Doyle hat versprochen, nicht in die Politik zu gehen. Also, ich habe noch einen Punkt auf der Geschäftsord nung, für den noch kein Computerbild vorliegt. Carlo hat da unten in Mississippi kein Moos unter seinem Hintern wachsen lassen. Er hat ein hübsches Paket Grundbesitz an der Küste aufgetan, das man mit den richtigen Verbin dungen in Hotelbauland umbenennen lassen könnte. Dazu müßte man allerdings mit einem der ortsansässigen Bauern ein ernstes Wörtchen reden. Finanzieren könnten wir das Ganze über unsere neue St. -Maartens-Dachgesellschaft, durch eine Aufgabe bevorrechtigter Schuld verschreibungen. Natürlich nur, wenn ihr alle zustimmt.« Rip-Dog und Gabriel Solvarro nickten und versuchten dabei den Eindruck zu erwecken, sich mit bevorrechtigten Schuldverschreibungen bestens auszukennen. Der Don schien ebenfalls zu nicken, es war allerdings auch mög lich, daß er nur eingeschlafen war. »Das war's dann«, sagte Mark, und Frank schaltete die Zentraleinheit aus. Die beiden jüngeren Männer sammel ten ein paar Papiere zusammen und steckten sie in ihre poo-Dollar-Aktenkoffer. »Wer spielt mit mir 'ne Partie zecchinettal« wollte RipDog wissen. »Ich glaube, ich schaue mir das Footballspiel an«, sagte Gabriel. Er hatte bei der letzten Partie an die viertausend verloren. Rip-Dog schaute seinen Sohn herausfordernd an. Frank stöhnte. »Papa, du weißt doch, daß ich kein Karten spieler bin.« 75
Rip-Dog rieb sich fröhlich die Hände. »Ich weiß, ich weiß.« Der Don, der sich in seinem Sessel nicht gerührt hatte, sah auf und zeigte mit einer kaum wahrnehmbaren Bewe gung seines Kopfes an, daß die anderen gehen sollten. Zu Mark sagte er: »Du bleibst noch einen Moment.« »Jawohl, Sir.« Als sie allein waren, suchte der Don nach dem Knopf, mit dem er seinen Monitor ausschalten konnte. Mark mußte ihm helfen. »Ich sage ja gar nicht, daß es nicht eine wunderbare Er findung ist. Unsere Geschäfte lassen sich leichter abwik keln, seitdem Dominic die Computer installiert hat.« »Und auch sicherer. Niemand Unbefugter kommt hin ein.« Der Don betrachtete die Ringe an seinen riesigen Hän den. Selbst wenn die Finger sich auf dem Tisch abstützen konnten, zitterte die Hand etwas. »Also, nun sag mal, wie hat Dominic seinen Ausbruch nur so effektiv bewältigen können?« »Überraschung. Brutale Gewalt. Er war unbekleidet, als er in den strömenden Regen hinauslief. Er plünderte ein geparktes Auto, erbeutete die Uniform eines Wachbeam ten und mac hte sich auf den Weg nach Süden. Das alte Ehepaar gabelte er in einer Kirche auf. Ich nehme an, daß sie ihm vertrauten. Wer würde einem Wachbeamten auch nicht trauen?« »Das alte Ehepaar - das war also Dominics Werk?« »Ja. Sie haben über die Samen im Körper der Frau die Blutgruppe rausbekommen.« »Das ist ja erstaunlich. Wie funktioniert denn das?« »Lo so ehe e.« »Antonia hat mich heute mindestens zehnmal angeru fen. >Hast du was von Dominic gehört?< Wahrscheinlich 76
plant sie eine Willkommensparty. Die Liebe einer Mutter ist schon eine merkwürdige Sache.« »Er wird bald hier sein«, sagte Mark. Der Don zuckte mit den Achseln. »Das ist zu erwar ten.« »Nun, wir haben die Wachposten in der Gegend ver stärkt. Das Alarmsystem wurde erst letzte Woche über prüft, und diese neuen Sensoren sind wirklich . . .« Der Don erhob sich schwerfällig. »Alarmsystem. Sen soren.« Er mußte lächeln, obwohl er Angst hatte. »Das sind doch Spielsachen für jemanden wie Dominic. Er hat schließlich die Programme für die Computer ganz alleine ausgearbeitet. Sie werden tun, was er ihnen befielt. Er ist ein hochbegabter Junge. Er hat uns 'ne Menge Geld einge bracht. Und er hat mir soviel Kummer bereitet. Ich weiß nicht, warum er so ist, wie er ist. Ich glaubte immer, daß Antonia ein bißchen verrückt war. Zuviel Religion, ver stehst du? Für Frauen mag das in Ordnung sein, aber nicht für Männer. Diese Priester. Ich habe noch nie einem Mann getraut, der verleugnet, daß er Eier hat.« »Angel wird es nicht schaffen, hier einzudringen«, ver sprach Mark. »Was soll das? >Angel
»Hör zu, er ist mein Enkelsohn. Ich verstehe, glaube ich, ein bißchen, wie sein Verstand funktioniert. Für Do minie gibt es weder gut noch schlecht - es gibt nur das, was er braucht.« Mark sah die Augen des alten Mannes. Während der Sitzung hatten sie in ihrer Versunkenheit noch verschleiert gewirkt, aber jetzt war ihr Blick hart und klar. Die nervösen Gesichtzuckungen, die alte Menschen oft befallen, waren verschwunden. Er hob sein spitzes Kinn. »Sieh zu, daß er mein Haus in Frieden betreten kann«, ordnete Don Aldo an, »aber stell sicher, daß er es nie wieder verläßt.«
6. Kapitel Opals gebratene Hähnchen erwiesen sich der milden Prahlerei, mit der sie sie angekündigt hatte, durchaus als würdig. Sie hatte nichts anders als Salz, Pfeffer und Mehl genommen, um die einzelnen Teile damit zu panieren. Das Geheimnis, erklärte sie, bestünde darin, sie in fri schem Schweineschmalz zu braten, und nicht etwa in Erd nußöl oder irgendeinem anderen Fett. Un d man benötigte einen alten Eisentopf. Fünfzig Jahre Einsatz in der Küche dürfte er ruhig auf dem Buckel haben, meinte Opal. An die Butterbohnen hatte sie als Würze ein kleines Stück Rückenspeck getan, und die rote Bete waren in einer Soße aus Krautern eingelegt, die sie während des Sommers ne ben der Hintertreppe hochzog. Ihre Brötchen waren drei Zoll hoch und so leicht, daß sie glatt davongeschwebt wä ren, wenn man ihnen etwas Atem eingeblasen hätte. Tom lin, der seinen Magen während seines ganzen erwachse nen Lebens mit dem Fraß der Navy traktiert hatte, fraß wie ein Schwein. 78
Tony aß ein paar Bissen von seinem Hähnchenschlegel, eine Gabel voll Kartoffel mit Sahnesoße und trank ein hal bes Glas Milch, wobei seine Mutter bei der Milch mit einem strengen Blick hatte nachhelfen müssen. Er sprach auch nicht besonders viel. Er hatte ein feindseliges Schweigen mit an den Tisch gebracht. Als Antworten auf Tomlins Bemühungen, ein Gespräch mit ihm in Gang zu bringen, gab er kurz und knapp an, er könne Sport nicht ausstehen, möge höchstens Fischen und Jagen, Fischen vielleicht noch ein bißchen lieber. Er hatte ein paar seiner Milchzähne im Unterkiefer verloren, und die neuen Zähne schauten gerade zur Hälfte heraus. Die meiste Zeit über saß er da und wackelte mit dem kleinen Finger der linken Hand an einem weiteren losen Milchzahn herum, während er den Ventilator unter der Zimmerdecke beob achtete. Tomlin drängelte ihn nicht und spielte auch nicht den Kumpel. Anita aß ebenfalls nicht besonders viel, aber als O pal hereinkam um den Tisch abzuräumen, hatte sie fast drei Gläser von dem guten, roten Dago getrunken. Opal lä chelte zu Tomlin hinüber, der nicht einmal genug Krümel auf seinem Teller hinterlassen hatte, um das Interesse einer Fliege zu wecken. Sie hielt ihm den beinahe leeren Servierteller entgegen. »Diese Brust wollen Sie doch wohl nicht in den Abfall wandern lassen, Mist' Clay?« »Opal, du hast mich total geschafft.« »Ich könnte sie einwickeln, als kleinen Imbiß für die Footballpartie heute abend im Fer nsehen. Außerdem müssen Sie noch ein Stück von meinem Schokoladenku chen essen.« Tomlin stöhnte und hielt beide Hände zur Abwehr in die Höhe. Er konnte Opal nicht mehr besonders gut er kennen. Die rötlichen Strahlen der Sonne, die schon sehr 79
niedrig über dem westlichen Bayou stand, schienen ihm direkt ins Gesicht. Er hatte nicht genug auf die Zeit acht gegeben, und zu dieser Jahreszeit brach die Dunkelheit sehr schnell herein. »Ich werde mich später noch einmal in die Küche schleichen, Opal.« »Glauben Sie ja nicht, ich würde Sie nicht hören. Ich wäre mächtig böse, wenn Sie sich nicht ein Stück von mei nem Kuchen holen würden.« Anita langte nach ihren Zigaretten und studierte, abwe send lächelnd, Tomlins Gesicht, das in den Strahlen der Abendsonne rot leuchtete. Tony sagte leise: »Mom, darf ich jetzt gehen?« »Noch nicht sofort. Clay . . .« »Ja.« Tomlin sah Anita an, aber er konnte sie kaum noch erkennen. Einfach so entschwand sie seinem Blick. Mein Gott, dachte er, werde ich mich denn niemals daran ge wöhnen? »Ich habe nachgedacht. Wollten Sie eigentlich schon immer Pilot werden?« »Nein. Ich hatte Angst, daß ich mich nicht dazu eignen könnte. Ich gehörte zu der Sorte von kleinen Jungen, die sich beim Karussellfahren übergeben mußten. Aber meine Zimmergenossen auf der Militärakademie, die wa ren so begeistert von der Fliegerei, daß ich schließlich auch nicht widerstehen konnte und sagte, ja, auch ich gehe runter nach Pensacola. Manchmal tut man Dinge, vor denen man sich fürchtet, weil man sich noch mehr da vor fürchtet, etwas zu versäumen.« »Ich glaube, ich kenne dieses Gefühl.« »Als ich zum erstenmal den Steuerknüppel einer T-2 in der Hand hatte, wußte ich, daß das von da an mein Leben sein würde.« »Und wie ist es Ihren Zimmergenossen ergangen?« 80
»Ted mußte aufgeben. Irgendwelche Probleme mit dem inneren Ohr. Jeff mußte während eines Nachtangriffs ab springen. Die nordvietnamesische Armee hat ihn nicht wieder rausgerückt. Anita, ich möchte nicht unhöflich sein. Es war ein vorzügliches Essen, aber ich muß noch ein paar Dinge erledigen. Es liegen ein paar Briefe herum, die beantwortet werden müssen.« »Sie müssen sich nicht entschuldigen. Wir haben uns gefreut, Sie hier zu haben. Tony, wenn ich das Maulge sicht noch einmal sehe, dann kannst du es mit nach oben nehmen und dich damit auf dein Bett setzen.« Als Tomlin seinen Fuß unter dem Stuhl hervorzog, stieß er gegen das Paket, das er dort abgelegt hatte. »Oh, das hätte ich beinahe vergessen.« Er langte nach unten und legte das Päckchen auf den Tisch. Es war in weißes Papier eingewickelt, eine blaue Schleife war draufgeklebt. Nicht besonders ordentlich, aber besser hatte er es eben nicht gekonnt. »Ein Geschenk für dich, Tony.« Tony sah etwas verblüfft das Geschenk an, dann seine Mutter. »Aber ich habe doch gar nicht Geburtstag«, sagte er mit leiser Stimme. Tomlin lächelte. »Das hatte ich befürchtet. Aber ich ma che jede Wette, daß heute irgend jemand Geburtstag hat. Irgendwo findet jetzt gerade eine Party statt. Die habe ich verpaßt, das ist alles. Und wir können solch ein schönes Geburtstagsgeschenk doch nicht einfach ungeöffnet rum liegen lassen, oder?« Tomlin nahm den hellen Lichtfleck wahr, als Anita sich eine Zigarette anzündete. »Also was ist. . .?« sagte sie. Es hörte sich gut gelaunt an. Das Streichholz ging wieder aus. Er roch den Rauch der Zigarette, aber dort, wo ihr Gesicht sein sollte, war nichts. Er seufzte unhörbar. »Nun mach schon, Tony«, hörte er Anita sagen. 81
Der Junge stand von seinem Stuhl auf und ging um den Tisch herum zu dem Platz, an dem Tomlin saß. »Was ist es?« »Ich weiß es, aber ich verrate es nicht«, erwiderte Tom lin. Tony wickelte eine Schachtel aus und öffnete sie. Es kam das Modell eines Korsar -Düsenjägers zum Vor schein, naturgetreu nachgebildet bis ins kleinste Detail, sogar die Sidewinder-Raketen waren unter den Tragflä chen montiert. »Hey!« rief Tony aus, hielt das graue Flugzeug mit den gut erkennbaren Hoheitszeichen in Höhe seines Kopfes und drehte es etwas in seiner Hand. »Was für ein Typ ist das? Ein Jagdflugzeug?« »Nein. Die A-7 ist kein Mach-eins-Flugzeug, es verliert zu schnell an Geschwindigkeit, um ein effektiver Jäger sein zu können. Es ist ein Angriffsflugzeug. Es trägt mehr als fünfzehntausend Pfund Waffen an Bord, Zweitau send-Pfund-Bomben, ein Zwanzig -Millimeter-Geschütz und ein paar AAM-Raketen.« »Sind das diese Dinger?« Tomlin streckte seine Hand aus, und Tony hielt ihm das Flugzeug hin. »Ja, das sind die Sidewinder.« »Anthony, was sagst du?« »Danke. Es gefällt mir«, sagte Tony zu Tomlin. »Darf ich es wirklich behalten?« »Es gehört dir.« »Ich habe in meinem Zimmer einen GI -Joe-Flugzeugträger, aber ein Flugzeug wie das habe ich noch nicht. Sind Sie schon mal auf einem Flugzeugträger gelandet?« »Sehr oft.« »Und? Ist das schwer?« »Nicht schwerer, als unter der Dusche auf einem Fuß auf einem Stück Seife zu balancieren«, erwiderte Tomlin. 82
Sofort wünschte er, er hätte diesen Vergleich nicht ge braucht. Bei Kindern konnte man nicht vorsichtig genug sein. Tony könnte den Balanceakt versuchen und sich da bei weh tun. »Ich werde dir eines Tages ganz genau zei gen, wie wir das gemacht haben.« »Tony, Clay muß jetzt gehen.« »Ja, sicher. Was sagten Sie? Was ist das für ein Flug zeug?« »Eine A-7 Korsar, Tony.« Tomlin stieß den Stuhl zu rück und erhob sich. Das schwindende Tageslicht produ zierte nur noch einen rötlichen Schleier vor seinen Augen, die Rotoren des Ventilators warfen verschwom mene Schatten auf das weiße Tischtuch. Er war sich nicht sicher, wie er seinen Aufbruch bewerkstelligen sollte. Der Gedanke an seine Hilflosigkeit ließ seine Bewegun gen noch ungeschickter werden. Er stieß gegen den Jun gen und mußte nach der Tischkante greifen, um sich zu stützen. Dabei stieß er das Glas um, das vor ihm gestan den hatte. Der restliche Wein ergoß sich über das Tisch tuch. »Mein Gott, das tut mir leid! Ich benehme mich wie ein Tolpatsch.« »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte Anita, und mit lauterer Stimme rief sie: »Opal, bring bitte etwas Soda. Es wurde etwas verschüttet.« Tony zog sich, mit dem Flugzeug in der Hand, in eine Ecke des Eßzimmers zurück. Dort stand er und beobach tete Tomlin. Von seiner Begeisterung war nichts mehr übrig. »Vielen Dank für die Bewirtung«, sagte Tomlin. »Ich mach' mich jetzt besser auf den Weg.« Die Verandatüren waren ihm am nächsten. Es hatte kei nen Sinn mehr, es durch das ganze Haus bis zur Ein gangstür zu versuchen. Er hatte zu lange gewartet, das 83
war der Fehler. Aber es hatte auch so viel Spaß gemacht. Tomlin verließ zögernd das Eßzimmer, aber nachdem er erst mal draußen war, bewegte er sich sicherer. Opal war mit einer Flasche Seltzer und einem Wischtuch aus der Küche gekommen. Sie sah Tomlin davongehen und schaute Anita an. Tony legte das Flugzeug auf einem Serviertisch ab, als habe er das Interesse daran verlo ren. »Der scheint 'n biß chen betrunken zu sein, oder?« »Er hat nicht mal ein halbes Glas Dolcetto d'Alba ge trunken«, sagte Anita mit einem Blick auf die befleckte Tischdecke. »Vielleicht ist ihm nicht gut.« »Er ist betrunken«, sagte Tony mit herausford erndem Tonfall. »Genauso wie . . . du weißt schon wer.« »Ich will nicht, daß du so redest«, sagte Anita etwas zu scharf, gemessen am Vergehen des Jungen. Tony setzte sich zur Wehr: »Ich habe nichts Böses ge sagt. Ich habe nur gesagt, daß . . .« Anita machte einen Schritt auf ihn zu, Tony wich zu rück. »Schrei mich nicht an, Tony!« »Tut mir leid«, sagte Tony. Zumindest gehörte ihm jetzt ihre ungeteilte Aufmerksamkeit, auch wenn sie ein biß chen böse war. Aber Anita machte kehrt und ging mit ihrem Weinglas in der Hand hinaus auf die Veranda. Tony schmollte ein paar Augenblicke lang, dann fing er Opals Blick auf, die gerade damit beschäftigt war, den Wein aus der Damastdecke zu saugen, und zog sich aus dem Eßzimmer zurück. »Du hältst besser die Klappe«, sagte Opal zu sich selbst. Draußen auf der Veranda nippte Anita an ihrem Weinglas und sah erstaunt zu, wie Tomlin neben der Betonfläche 84
vor der Garage beinahe die Balance verlor. Dann tastete er suchend nach der Tür zu seinem Wohnmobil. Es war ihr etwas peinlich, ihm zuzusehen, aber sie tat es trotzdem. Der Himmel war voller Spinnweben, das Abendlicht In digo, die Oberfläche des Bayou ein stimmungsvolles Orange. Insekten starben zischend an der blaßblauen Lichtröhre, die vom Verandadach herunterhing. Sie hörte Tony an seinem Computer in der Bibliothek und schlen derte auf das Geräusch zu. Die Türen waren geschlossen, aber durch einen Spalt zwischen den Spitzengardinen konnte sie ihn sehen, wie er versuchte, einen Weg durch die Schrecken eines Labyrinths zu f inden, um zu einem bösen Zauberer zu gelangen. Der Zauberer hatte Feuer bälle an den Fingerspitzen und kommandierte geflügelte Ungeheuer, die aus dunklen Höhlen herausflatterten. Der Junge hatte nur ein Schwert, mit dem er sich verteidigen konnte. Das Spiel war bald zu Ende, und es endete böse. Tony hörte seine Mutter hereinkommen. Er drehte sich um, auf seinem Gesicht spiegelte sich mildes Entsetzen, als er zwischen blassen Lippen hindurch sagte: »Ich bin tot. Er hat mich getötet.« Sie nahm ihn in die Arme, legte ihre Wange auf seinen Kopf und beruhigte ihn. »Es ist doch nur ein Spiel.« Seine Hand, nur halb so groß wie die eines Mannes, umfaßte ihren vernarbten Arm. »Du bist verletzt!« rief er aus. Es machte ihr jedesmal wieder angst, wenn er sich un fähig zeigte, zwischen seinen Fantasien und der Wirklich keit, die ihn noch immer verfolgte, zu differenzieren. Sie überredete ihn, den Computer zu lassen und mit ihr nach oben zu gehen, um ein Bad zu nehmen. Big -Dog stand von seinem Teppich auf und folgte ih nen, so, wie er es jeden Abend tat. Es war schon über ein Jahr her, daß Tony seiner Mutter zuletzt gestattet hatte, ihn nackt zu sehen. 85
Seitdem badete er nur noch bei geschlossener Tür. Aber Big-Dog wollte er im Badezimmer bei sich haben. Big-Dog und Tony spielten zusammen Schiffchen. Der Wolfshund machte sich dabei Pfoten und Schnauze naß, Opal be schwerte sich am nächsten Tag über die Hundehaare im Abfluß. Anita setzte sich auf die Kante von Tonys Bett. Sie spürte einen dumpfen Kopfschmerz von dem We in. Als sie lustlos die neue Ausgabe des Time-Magazins durch blätterte, hörte sie, etwa eine halbe Meile entfernt, Wolf daddy, der auf seinem Klavier spielte. Mindestens drei an dere gute Musiker begleiteten ihn mit Trompete, Baß und Posaune. Sie spielten ein altes Spiritual, arrangiert als Di xie: >Lord, Lord, You Sure Been Good to Me.< Sie hatte schon immer vorgehabt, einmal die Straße entlangzuge hen und sich einen dieser Gottesdienste anzusehen, an de nen Opal so häufig teilnahm. Sie war sich sicher, daß man sie willkommen heißen würde, wahrscheinlich würde ihr der Gesang sogar Spaß machen, auch wenn sie die Lieder nicht alle kannte. Ein langer Weg von ihrer katholischen Kindheit bis dorthin, dachte sie. Aber ihre eigene Religion bedeutete Anita nichts mehr, nur manchmal setzte sie ihr noch zu, in Augenblicken, wenn Schmerz und Schuldge fühle mal wieder aus allen Richtungen auf sie einstürm ten. Nein, heutzutage hatte jeder das Recht, den Glauben zu verweigern. Und wie nannte man so etwas? Ihr nic ht unbeträchtlicher Wortschatz stellte ihr ein Wort zur Ver fügung. Zweiflerin. Der Klang des Wortes paßte genau zu ihrer augenblicklichen Stimmung. Ich bin eine Zweiflerin. Anita ging hinunter in ihr eigenes Zimmer. Früher war es das große Schlafzimmer gewesen. Sie nahm ein Buch von den vollgepackten Regalen. Oliver Twist. Sie nahm es mit in Tonys Zimmer. Er war schon aus der Badewanne und zog gerade seinen Pyjama an. Der Abend war kühl ge worden. Sie machte beide Fenster zu. 86
»Hey, warte mal«, sagte sie, als Tony in sein Bett klet tern wollte. Sein Haar war noch ganz naß. Sie rubbelte ihm mit einem Handtuch kräftig den Kopf. Er strampelte, stöhnte und lachte. Das war der Teil der täglichen Gute Nacht-Zeremonie, der ihr am meisten Spaß machte. Der andere Teil, der, den sie so sehr haßte, konnte manchmal umgangen werden, dann nämlich, wenn er während ihres Vorlesens einschlief. Tony hörte Dickens für sein Leben gern, vor allem des halb, weil sie mit vielen Stimmen vorlesen und den engli schen Akzent so gut nachmachen konnte. Sie hatte das Ohr einer Schauspielerin, auch wenn sie nicht oft auf der Bühne gestanden hatte. My Fair Lady und ein paar OscarWilde-Stücke auf dem College. Tony hörte immer noch aufmerksam zu und war hellwach, als sie das Kapite l zu Ende gelesen hatte. Sie wollte nicht mehr weiterlesen. Sie war unruhig an diesem Abend, verzweifelt. »Bitte.« »Tony. Es reicht für heute. Husch, husch! Zeit zum Schlafen.« »Eine gute Nacht der alten Dame, die ihm >husch, husch< zuflüsterte«, zitierte Tony aus einem anderen sei ner Lieblingsbücher. Anita beugte sich hinunter, um ihm einen Kuß zu ge ben. »Ich bin aber keine alte Dame.« Sie fühlte eine dunkle Furcht, als sei ihr das Schicksal gewiß, zwischen jetzt und Mitternacht dahinzuschwinden. Mein Gott, aber sie hatte einfach einen konfusen Tag hinter sich, und das nur, weil ein Mann gekommen war, der sie interes sierte. Sie sollte sich in die Badewanne legen und hinter her ihr Haar und die Fingernägel machen. Sie hatte sich viel zu lange vernachlässigt. »Wo ist Big-Dog?« fragte Tony, und damit begann der Teil der Zeremonie, der sie so sehr bedrückte. 87
»Am Fußende von deinem Bett, wo er immer ist.«
»Und der Zauberring?«
Anita sah in ihren Taschen nach und brachte einen
ererbten Serviettenring zum Vorschein, mit einem unech ten Saphir, der beinahe die Größe eines Taubeneis hatte. Sie legte ihn auf den Nachttisch neben Tonys Bett. »Den Zauberring vergesse ich schon nicht.« »Wird er heute nacht mächtig sein?«
Sie nickte.
»Du mußt es sagen.«
Anita sagte: »Der Zauberring ist immer mächtig.« »Und was passiert, wenn er mich überfällt, während ich schlafe?« »Der Zauberring wird dich beschützen.« Es hämmerte in ihrem Kopf. Sie sah von Tony hoch, schaute sich im Zimmer um, sah seine Wandtafel, die überquel lenden Spielzeugregale und die Lego-Ausrüstung, die auf sei nem Kleiderschrank aufgestapelt war. »Was wird der Ring mit ihm machen? Sag es?«
»Er wird . . . Der Ring wird ihn in die Luft jagen.«
»In wie viele Stücke?«
»In eine Milliarde Stücke«, antwortete Anita und fragte
sich, ob es ihr wohl gelingen würde, das Zimmer zu ver lassen, ohne daß er ihre Tränen gesehen hätte. »Eine Milliarde Stücke, kleiner als unsichtbar?« »Kleiner als unsichtbar«, versicherte Anita ihm. Sie lä chelte sanft. Tony, der jetzt zufrieden zu sein schien, kuschelte sich tiefer in sein Federbett. Anita schaltete das Deckenlicht aus, aber die Nachttischlampe ließ sie brennen. Dann be gann sie zu weinen. Sie verfluchte die blödsinnigen Trä nen, aber sie konnte nichts dagegen machen. Tony hatte die Augen schon geschlossen. Nur Big -Dog sah ihr zu, wie sie das Zimmer verließ. Sein Schwanz klopfte einmal 88
auf den Fußboden, dann legte er seinen Kopf zwischen die langen Vorderpfoten.
7. Kapitel Carl betrat den Salon von Murray's Driftwood um Viertel nach acht. Er sah Wink Evergood in einer gepolsterten Sitzecke, allein, und setzte sich zu ihm, nachdem er sei nen großen Aktenkoffer auf den Sessel gegenüber gewor fen hatte. »Ich hatte schon nicht mehr mit dir gerechnet«, sagte Wink erleichtert. Er trug drei Goldketten unter seinem beinahe vollständig aufgeknöpften Hemd, das aus einem so dünnen Stoff war, daß man eine Narbe auf seinem rechten Bizeps hindurchschimmern sah. Carl nickte müde. Wink schaute auf den Aktenkoffer. »Was hast du da mitgebracht?« »Einen riesigen Haufen Papierkram. Optionen auf Landerwerb.« »Ich glaube langsam, daß du so eine Art Workoholic bist. Hat Mace Lefevre dir was besorgt?« »Er kennt die Rädchen, die das meiste Fett brauchen«, antwortete Carl und sah sich nach einer Bedienung um. Er brauchte einen Drink, und zwar schnell. Der Raum war beinahe voll besetzt. Hinter der Bar stand etwas erhöht ein Klavier; die Frau, die darauf spielte, trug ein langes, schwarzes Kleid und hatte sich einen bemerkenswerten, rosa leuchtenden Neonmund geschminkt. Das war so ziemlich alles, was man im Licht des kleinen Decken scheinwerfers von ihr erkennen konnte. Der Mund und die Wimpern, die aussahen wie Fliegenfallen. Beides, so wohl ihr Klavierspiel als auch den dazugehörigen Gesang 89
trug sie eher gedämpft vor. Das war einer der Gründe, weshalb es Carl so gut bei Murray's gefiel. »Du hast 'ne Menge Zeit auf das Geschäft verwandt, stimmt's?« sagte Wink. Carl grinste etwas säuerlich. »Ich hatte ja auch 'ne Menge Zeit zur Verfügung, hier unten im tiefen Süden.« Wink, der immer ziemlich von sich eingenommen war, antwortete mit einem Beweis seiner geistigen Tiefe: »Das ist sicher ein bequemerer Weg, um zu Geld zu kommen.« »Die Gesellschaft, für die ich arbeite, zieht Investitio nen mit geringem Risiko bei möglichst hoher Gewinnaus sicht vor.« Carl verrenkte sich etwas in seinem Sessel, um endlich die Aufmerksamkeit der Kellnerin mit der erd nußcremefarbenen Haut und den Augen wie Holzkoh lenglut auf sich zu lenken. Sie mußte noch war ten, bis ein alter Herr ihr ein Stapel Eindollarnoten auf den Tisch ge zählt hatte. Sie schaute in Carls Richtung und lächelte. Er ließ sich in den Sessel zurücksinken und wandte sich wie der Wink zu. »Grundbesitz wird immer eine solide Sache bleiben, man muß nur wissen, wo man ihn erwirbt.« »Bitte, Sir?« sagte die Kellnerin. Carl sah in gespielter Überraschung hoch. »Du hast mir also nicht geglaubt«, sagte er. »O doch, ich habe Ihnen geglaubt.« »Aber du bist immer noch hier. Du bist nicht in Atlantic City.« Sie hatte tiefe Grübchen. Ihre Haut war ein bißchen rauh, aber das wurde von ihrem Lächeln überdeckt. »At lantic City, da brauch ich noch etwas Zeit zum Nachden ken.« »Ist doch ein prima Tausch. Sechshundert die Woche, verglichen mit.. . was hast du gesagt, verdienst du hier?« »Zweihundertfünfzig, vielleicht dreihundert, aber das war während der Sommermonate. Ich weiß nicht, ich muß 90
drüber nachdenken. Vielleicht kann ich die Arbeit gar nicht machen.« »Black-Jack-Karten ausgeben? Honey, jedes Kind kann lernen, mit einem Haufen Karten umzugehen. Sie ver passen dir dort eine regelrechte Ausbildung. Du hast doch noch meine Karte?« »Sicher«, sagte das Mädchen. »Schau sie dir bitte noch mal genau an. Auf die Rück seite hab' ich nämlich einen Namen geschrieben, und da neben eine Telefonnummer. Vielleicht bedeutet dir das nicht viel, aber es gibt auf der ganzen Welt höchstens, na, sagen wir mal zehn Leute, die im Besitz dieser Geheim nummer sind. Du mußt nur aus dem Autobus aussteigen und diese Nummer anrufen. Dann sagst du zu dem Mann am Telefon: >Eddie, Carl hat mich gebeten, Sie an zurufen.< Das ist alles. Man wird dich mit all der Höflich keit empfangen, die in unseren großen Ferienhotels üb lich ist. Eddie wird sich persönlich um dich kümmern.« »Und was bekommt er dafür?« fragte sie, immer noch lächelnd, nur vielleicht eine Spur skeptischer. »Das Vergnügen, mir einen Gefallen getan zu haben«, antwortete Carl. »Ich werde ernsthaft drüber nachdenken«, versicherte sie ihm. »Gut. Und während du nachdenkst, könntest du mir eigentlich einen Seven-and-Seven bringen. Und, hör mal, äh . . .« »Rochelle.« »Rochelle, wenn du noch etwas mehr erfahren möch test, ich meine, wenn du etwas ausführlicher mit mir über die Sache reden möchtest, ich würde dir mit Ver gnügen die Zeit opfern. Ich weiß, ich habe für dich schon viel mehr getan, als ich normalerweise für Leute tue, aber ich möchte nicht, daß du über meine Absichten irgend 9i
welche Zweifel hegst. Ich will dir wirklich nur weiterhel fen.« »Ich weiß das zu schätzen.« »Carl.« »Carl.« Sie ging hinüber zur Bar, und Carl seufzte leise. »Mein Gott, was für ein Rohmaterial. Und was macht sie damit?« »Sie bumst diesen erstklassigen Flieger drüben in Kees ler, das macht sie damit. Und deshalb wird sie auch nicht aus Biloxi weggehen.« »Verfluchte Liebe«, meinte Carl verzagt. »Die ist völlig benebelt. Die hat nicht mal kapiert, was du meintest, als du gesagt hast, du würdest ihr deine Zeit opfern.« Carl sah auf seine Uhr mit den vielen Druckknöpfen und wechselte das Thema, um bessere Laune zu kriegen. »Wann treffen wir die Mädchen?« »Um neun. Ich hatte mir schon gedacht, daß du dich verspäten würdest. Ich habe Plätze im Swashbuckler re servieren lassen.« »Mein Gott, ich kann's kaum erwarten. Wen hast du heute abend für mich?« »Cindalou.« »Jesus, die Bissige«, sagte Carl, aber er schien nicht eben unglücklich über Winks Wahl zu sein. Wink trank sein Glas Bier aus und sah sich im Raum um. »Scheint so, als hätten wir mächtig Dusel mit Don nerstagnacht. Der tropische Or kan ist über die Keys in Florida gefegt und hat sich dem Landesinneren zuge wandt. Vielleicht etwas Regen und Wind, aber der Golf wird nicht übermäßig aufgewühlt sein.« Carl rieb sich über sein mitternachtsblaues Kinn und sagte mit einem Anflug von Gereiz theit: »Ich habe doch ein kleines Problem mit Donnerstagnacht.« 92
Wink starrte ihn ein paar Sekunden an, bevor er sagte: »Was für ein Problem?« »Der Typ, von dem wir das Haus gemietet haben, ist plötzlich aufgekreuzt. Er will 'n paar Tage bleiben. Ich konnte nichts dagegen machen.« »Wie heißt der Bursche?« »Clay Tomlin.« »Tomlin. Sieh an. Ich bin ihm begegnet, gestern, glaub' ich, drüben am Bluebelle Marina. Teufel auch. Weißt du, wir hatten mal miteinander zu tun, er und ich. Bei einem Basketballspiel. Ich hab' ihm all die Dinger verpaßt, mit denen ich durchkam, schließlich hat er mich mit dem El lenbogen unterm Kiefer erwischt. Mann, ich hab' drei Monate lang flachgelegen. Das hat uns damals wahr scheinlich die Meisterschaft gekostet. Ich hatte sieben von dreizehn reingelegt, bevor Feierabend war. Clay Tomlin.« Wink lehnte sich behaglich zurück und erin nerte sich lächelnd. Dann dachte er an das, was vor ihnen lag. Die möglichen Komplikationen gefielen ihm über haupt nicht. »Nun, wir haben unsere fest en Lieferfristen, so ist das nun mal. Unser Mann in Atlanta will das Zeug pünktlich haben, und ich möchte weiß Gott vermeiden, daß erstklassiger Koks im Wert von zwei Millionen und sechshunderttausend nach Mexiko zurückgeschifft wird.« Wink hatte den letzten Silben den Rhythmus eines Jive gegeben, indem er sie mit Fingerschnipsen begleitet hatte. Rochelle erschien mit Carls Seven-and-Seven. »Ich denke nach«, sagte sie. »Ist das ein Mädchen«, seufzte Carl. Wink bestellte noch ein Miller's vom Faß und warf sich ein paar von den spanischen Erdnüssen in den Mund. »Und was gedenkst du zu tun?« fragte er Carl. »Ihn von dort wegzubekommen.« 93
»Yeah«, sagte Wink kauend. »Nichts Gefährliches. Nichts, was Aufmerksamkeit er regen könnte.« »Okay.« Carl nahm einen kräftigen Schluck von seinem Sevenand-Seven, dann sah er Wink an. Wink sagte: »Nun, er ist gerade aus der Navy ausgetre ten, stimmt's?« Carl zuckte mit den Achseln. »Ich glaube, er hat so etwas zu mir gesagt. Vielleicht könnte er einen kleinen Check gebrauchen, drüben, in der Klinik für Kriegsveteranen.« Carl nickte. »Könnte sein. Drei oder vier Tage im Kran kenhaus. Nichts Ernstes.« »Was fährt er für ein Auto?« »Einen weißen Corvette.« Wink schnalzte mit der Zunge. »Diese verdammten Navypiloten. Ihre Flügel reichen ihnen nicht, nein, sie müssen auch noch einen Corvette fahren.« »Ja. Und er haust draußen in dem Wohnmobil, das sei nem Bruder gehörte.« »Okay«, sagte Wink, »mach dir keine Sorgen. Ich werde mit meinem Cajun-Cousm reden. Mir und Tom Paul wird schon was einfallen.« Rochelle stellte das Bier vor Wink auf den Tisch und beugte sich runter, um Carl etwas ins Ohr zu flüstern. »Um noch mal auf Ihr Angebot zurückzukommen, ich würde tatsächlich ganz gerne etwas ausführlicher mit Ih nen über die Sache reden. Wenn Sie Zeit haben.« »Ich habe Zeit, wann immer du Zeit hast«, antwortete Carl auf der Stelle. »Wann bist du hier fertig?« »Halb eins.« »Ich werde hier sein«, sagte Carl. Als Rochelle außer Hörweite war, sagte Wink: »Du solltest ihr etwas über die üblen Angewohnheiten erzäh 94
Jen, die ich in Spielcasinos beobachtet habe. Wenn man chen Typen die Karten nicht gefallen, werfen sie mit Aschenbechern nach den Ausgebern oder spucken ihnen ins Gesicht. Na, egal. Soll ich dich bei Cindalou entschul digen?« »Was redest du da? Es ist erst fünf nach halb neun. Wir werden was essen, ich werde sie ficken, und um Mitter nacht bin ich wieder hier.« »O Junge«, sagte Wink und grinste. »Nun sag mir mal, bist du schon auf schwarzes Fleisch gestanden, bevor du hier in den Süden kamst?« »Weißt du was, ich hatte noch nie welches. Aber ich bin nun mal einer, der hinter jedem Arsch her ist, der einiger maßen wohlgeformt ist.« Wink sah noch einmal hinüber zu der Kellnerin mit den Grübchen und der Haarfrisur im Tina-Turner-Stil. »Nun, könnte 'ne ganz amüsante Angelegenheit werden, wenn sie im Liegen genau so 'ne gute Figur macht wie aufrecht.«
8. Kapitel Gegen elf war die Temperatur unter 15 Grad gesunken, aber Anita ließ ihre Schlafzimmerfenster geöffnet. Sie mochte es kühl. Von der >Kirche zum Tor des Himmels< des >Evangeliums des Richtigen Weges< war keine Musik mehr zu hören, es erklang nur noch die Musik von Gottes niederen Kreaturen, den Kröten und Nachtvögeln. Offen sichtlich hatte Clay Tomlin ein Fenster seines Cam ping wagens offengelassen, denn sie konnte seinen Fernseher hören. Es lief ein Basketballspiel. In Carls Zimmer, gleich neben einem gemeinsamen Bad, das er nie benutzte, befanden sich sechs Kontrollmo 95
nitore hinter den Türen eines Wandschranks. Sie s elbst hatte einen kleinen Monitor in ihrem Zimmer, auf einem Bücherregal. Man konnte das Bild mit einer Fernbedie nung umschalten, die Kameras beobachteten alle Seiten des Hauses und das Gebiet bis hinunter zum Bootsanle ger. Die Bilder auf den Monitoren waren deutlich und klar, denn das Flutlicht blieb die ganze Nacht über in Be trieb. Sie fragte sich, ob die Scheinwerfer Tomlin wohl stören mochten. Und außerdem fragte sie sich, wann er ihretwegen wohl Fragen stellen würde, und wegen der Kameras, und was sie ihm dann wohl antworten sollte. Um Viertel nach elf ging sie den Flur entlang, um noch einmal nach Tony zu schauen. Er schlief ganz an der Bett kante. Der eine Fuß hing beinahe bis auf den Fußboden. Sie veränderte seine Lage und zog die Bettdecke zu recht, ohne ihn aufzuwecken. Big -Dog war aufgestanden und streckte sich. Er wollte nach draußen. Sie ging mit dem Wolfshund nach unten und hinaus auf die vordere Ve randa. Sie sah zu dem Campingbus hinüber und dachte über einen Grund nach, hinzugehen. Die Anziehungs kraft war beinahe unwiderstehlich, und sogar ein bißchen aufregend war es. Anita fröstelte im Nachtwind, sie schlang die Arme um ihren Oberkörper. Sie hatte zwar eine Strickweste angezogen, aber ihre Beine waren nackt. Die Tür des Wohnmobils w ar nur angelehnt, sie klap perte ein bißchen im Wind. Das wäre eine ausreichende Entschuldigung, dachte sie. Sie wollte schließlich nur kurz reinschauen, um zu sehen, ob mit ihm alles in Ord nung war. Sein Benehmen nach dem Abendessen war ihr immer noch rätselhaft. Anita überquerte die Rasenfläche und die Auffahrt. Ein paar Meter von der Seite des Busses entfernt blieb sie ste hen. Er hatte nur ein Licht an und den Fernseher. Sie war schon einige Male in dem Ding dringewesen, um sich 96
umzuschauen. Opals Bruder Roland, der den Garten und die Arbeiten um das Haus herum machte, wusch den Campingbus von Zeit zu Zeit und fuhr ein bißchen mit ihm herum, um zu überprüfen, ob noch alles funktio nierte. Trotzdem müßten die Reifen mal ausgewechselt werden, sie waren jedem Wetter ausgesetzt und rotteten vor sich hin. »Clay?« »Ja.« Er antwortete auf der Stelle, aber sie war sicher, daß er geschlafen hatte. Schnelles Reagieren nach dem Aufwachen war eine der Anforderungen, die sein Beruf an ihn gestellt hatte. Sie hatte ihn eigentlich nur auf die klappernde Tür auf merksam machen, sie zuschlagen und wieder ins Haus gehen wollen. Statt dessen fragte sie ihn: »Darf ich rein kommen?« »Sicher.« Anita öffnete die schmale Tür und betrat den Camping bus. Ein Nachtlicht unter dem Wandschrank über der Eßecke brannte. Tomlin hatte sich auf dem Sofa hinter dem Fahrersitz ausgestreckt, die Schuhe hatte er ausgezo gen und sich ein Kissen unter den Kopf geschoben. Er sah gar nicht auf den Fernseher, der über der Windschutz scheibe montiert war. Er hatte die Augen offen, machte ein freundliches Gesicht, aber er sah sie nicht an. »Die Tür war nicht richtig zu«, erklärte Anita. »Wenn nicht soviel Wind wäre, hätten die Mücken Sie schon bei lebendigem Leib gefressen.« »Ich muß eingenickt sein.« Er rührte sich nicht. »Wie war's mit einem Drink?« »Nein, danke, ich glaube nicht. Es ist schon spät. Ich kann nicht hierbleiben. Ich wollte nur Big -Dog noch ein bißchen rumlaufen lassen.« »Wie spät mag es sein?« Er hatte die Armbanduhr am 97
Handgelenk, nur ein paar Zentimeter von seinem Kopf entfernt, aber er sah nicht drauf. Er hörte dem Reporter des Basketballspiels zu. Die Hawks spielten im Golden State. »Zwei Minuten noch«, murmelte er. »Was mag wohl mit dem Sieben-Punkte-Vorsprung passiert sein?« Zu Anita sagte er: »Mögen Sie Basketball?« »Nein. Lieber Baseball. Als ich klein war, hat mein Va ter mich immer zu den Yankees mitgenommen.« Auf dem Tisch in der Eßecke lagen eine Ausgabe der Navy Times und ein abgestoßener Fliegerhelm. Über den Fliegerhelm lief von vorne nach hinten ein schwarz-weiß karierter Streifen, und auf der Seite war mittels einer Schablone der Name Rattler angebracht. »Rattler. Sind Sie das?« »Ja. Bei der Navy hat jeder einen Spitznamen.« Er setzte sich auf und reckte sich. Noch immer sah er sie nicht an. Trotzdem fühlte sie sich weder links liegengelassen noch unwillkommen. »Sind Sie sicher, daß Sie keinen Drink wollen?« »Nun . .. wenn Sie ein Bier hätten . . .« »Kühlschrank«, sagte Tomlin. »Gegenüber vom Mikro wellenherd. Ich hätte auch ganz gerne eins.« Ein ganzes Regal des Kühlschranks stand voller Dosen mit Miller's. Anita riß zwei von ihnen auf und brachte sie zum Sofa hinüber, wo Tomlin jetzt saß und ziemlich un bestimmt auf die geschlossenen Jalousien des Fens ters ihm gegenüber starrte. Anita sah ihn an, und ganz plötz lich und unerwartet lief ihr ein Schauer über den Rücken. Sie hätte nicht sagen können warum. Sie streckte ihm eine der Bierdosen entgegen. Er achtete gar nicht darauf. Nach ein paar Sekunden drehte sie sich um und stellte ihr Bier auf den Tisch mit der Lampe, dann wandte sie sich wieder Tomlin zu. Nach einem erneuten, schwächeren Schau dern nahm sie seine Hand und drückte ihm vorsichtig das Miller's hinein. Er berührte die Oberseite mit dem Zeige 98
finger, um zu fühlen, wo die Öffnung war, dann trank er, ohne seinen starren Blick auch nur ein wenig zu senken. »Danke«, sagte er. Anita setzte sich neben ihn. »Ich . . . verstehe nicht. . . was . . .« »Es ist eine extreme Form der Nachtblindheit. Es ist nicht erblich, und, Gott sei Dank, es ist keine Degenera tion. Soviel man weiß, handelt es sich um einen Mangel an bestimmten Enzymen, die verantwortlich für die Pro duktion des Sehpurpurs und das generelle Funktionieren der retinalen Zellmaschinerie sind. Oder, das ist auch möglich, die Enzyme sind zwar da, aber sie tun in künstli chem Licht ihren Job nicht richtig.« »Faule Enzyme?« Tomlin grinste etwas jämmerlich und nahm noch einen Schluck Bier. »Sie können jetzt überhaupt nichts sehen?« fragte sie. »Nein. Es ist genauso, als säße ich in einem Wand schrank, dessen Fugen man mit Teerpappe verklebt hat. Mein Sehvermögen hört auf oder fängt wieder an bei einer Helligkeit von etwa 2500 Lux. Das ist ein bißchen weniger, als die Sonne produziert, wenn sie an einem wolkenlosen Tag kurz über dem Horizont steht. Dann kann ich gerade noch Umrisse erkennen und Farben un terscheiden. Das Tageslicht am Mittag eines sonnigen Ta ges hat etwa 113000 Lux. In der Jules -Stein-Klinik der Universität Los Angeles hat man rausgefunden, daß ich bei 45000 Lux eine Sehschärfe von zwanzig -zwanzig zu rückgewinne.« »Gibt es nicht Leuchtstofflampen, die das Spektrum des Tageslichts reproduzieren? In Gärtnereien werden Pflanzen auf die Art herangezogen.« »Pflanzen kann man leichter stimulieren als meine Fo torezeptoren. Ich könnte mir Lampen besorgen, die 2500 99
Lux produzieren, aber die würden einen Quadratmeter Platz einnehmen, und ich brauchte fünfzehn oder zwan zig davon, um Zeitung lesen zu können.« »Das Spiel ist zu Ende«, sagte Anita mit einem Blick auf den Fernseher. »Ja, ich weiß. Die Hawks haben mit einem Punkt verlo ren. Was für ein Start in die neue Saison.« »Gott sei Dank«, sagte Anita. »Wieso? Mögen Sie die Hawks nicht?« »Ich spreche nicht von dem Spiel. Als Sie heute abend das Eßzimmer verlassen haben . . .« »O ja, das muß einen fantastischen Eindruck gemacht haben. Ist der Fleck wieder rausgegangen?« »Natürlich, machen Sie sich bloß deswegen keine Sor gen. Aber ich . . . ich habe an die fürchterlichsten Dinge gedacht. Es . . . es hätte ja auch ein Gehirntumor sein kön nen.« »Nein, so tragisch ist es nicht. Das Problem hat mich meine Karriere gekostet, und es erschwert mir das soziale Leben. Ich werde mich langsam dran gewöhnen müssen.« Er hatte seine Bierdose leergetrunken und faltete sie nun systematisch zusammen. Sie hatte das schon bei Carl ge sehen und sich über diese kindische Angeberei amüsiert. Jetzt bewunderte sie die Kraft in Tomlins Fingern und Handgelenken. »Soll ich Ihnen noch eins bringen? Sie können aber auch meins haben. Ich habe nur ein, zwei Schlucke ge trunken.« »Danke«, sagte er, und sie gab ihm ihre Dose. »Und da gibt es nichts . . .? Eine Operation oder . . .« »Nein. Den Spezialisten im Johns Hopkins und am Wills Augeninstitut in Phila delphia ist jedenfalls nichts eingefallen. Am Wills haben sie einiges ausprobiert, sie haben Calmodulin und PDE in die Glaskörperflüssigkeit 100
injiziert. Das sollte den retinalen Zellen helfen, sich an geringere Lichtintensität anzupassen. Das taten sie auch, aber dadurch stieg der Augendruck, und das hätte mein allgemeines Sehvermögen auf Dauer schädigen können. Also entschied ich, der Natur ihren Lauf zu lassen und meine Rolle als Versuchskaninchen an den Nagel zu hän gen.« »Kann ich Ihnen nicht verdenken. Wenn ich Ihnen ir gendwie eine Hilfe sein kann . . .« »Vielen Dank. Nun, solange ich einen Platz habe, wo ich mich in der Nacht verkriechen kann, ist alles in Ord nung. Die Winter sind kurz hier an der Küste, und von März bis November sind die Tage lang genug. Die Fern bedienung liegt da auf dem Tisch, falls Sie die Nachrich ten sehen wollen. Ob wir heute mal wieder mit jemandem einen Krieg angefangen haben.« »Die Fliegerei muß Ihnen mächtig fehlen.« »Ja. Ich vermisse sie sehr. Und dann fange ich an nach zudenken. Ich hatte mehr als zwanzig gute Jahre, habe Vietnam überlebt und ein paar von Ghaddafis lausigen Kampffliegern über dem Golf von Sidra. Also, worüber sollte ich jammern?« Big-Dog bellte draußen auf der Veranda. Anita sagte: »Er hat sein Geschäft erledigt und will rein. Ich glaube, ich sollte jetzt gehen. Es ist schon spät.« »So spät auch wieder nicht«, antwortete Tomlin und dann, nachdem er vergeblich auf ihre Erwiderung gewar tet hatte: »Ich habe Ihren Mann noch nicht nach Hause kommen hören.« Anita stand vom Sofa auf. Er wandte seinen Kopf und sah ihr gerade ins Gesicht. Einen Augenblick lang fragte sie sich, ob er ihr wohl die Wahrheit über den Zustand seiner Augen erzählt haben mochte. Dann merkte sie, daß er sie weder auf sie noch auf einen anderen Gegenstand 101
scharf eingestellt hatte und daß er nicht mit den Lidern zwinkerte. Sie hätte eigentlich nichts sagen müssen, aber sie sagte: »Das ist nicht ungewöhnlich.« Das klang trocken, aber ohne Bitterkeit. »Und Sie müssen jetzt gehen?« »Ja«, sagte sie, auf einmal verärgert, aber nicht über seine Frage. Anita war schon an der Schwelle, hatte eine Hand auf den Türknopf gelegt, als Tomlin sie noch einmal zurück hielt. »Es wäre mir lieber, wenn das, was Sie jetzt über mich wissen, nicht überall die Runde machen würde.« »Okay. Das verstehe ich.« Sie öffnete die Tür, trat aber nicht gleich hinaus in die Nacht. Sie spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoß, ihr Herz klopfte auf einmal schneller. Sie war im Begriff, etwas Lächerliches zu tun , und wahrscheinlich war sie verrückt. »Carl ist nicht mein Mann«, sagte sie. Das war alles. Sie sah Tomlin weder an, noch wartete sie auf irgendeine Reaktion von ihm, aber sie hatte sicher schon zwei Drittel des Wegs zur Veranda zurückgelegt, von der herunter Big-Dog ihr fröhlich ent gegengesprungen kam, bevor ihr Herzschlag sich einiger maßen normalisiert hatte. Oben schaute sie noch einmal nach Tony. Macht der Gewohnheit. Manchmal ging sie die ganze Nacht über den Flur rauf und runter, bis sie schließlich zu ihm unter die Decke kroch, um noch ein paar Stunden Schlaf zu fin den, der Verstand völlig erschöpft von den dauernden Zwangsvorstellungen. Heute nacht hatte er wieder die Decke weggestrampelt. Sie ging zum Bett und sah etwas, das vor einer Weile noch nicht dagewesen war: Das Mo dell des Korsar-Düsenflugzeugs, das Tomlin ihm nach dem Abendessen geschenkt hatte. Es lag auf seinem 102
Kopfkissen. Tony hatte es doch im Eßzimmer liegenlas sen, da war sie sich ganz sicher. Als sie ihm die leichte Zudecke zurechtzog und sein Gesicht ansah, kam ihr der Verdacht, er könnte wach sein, auch wenn er die Augen geschlossen hielt. »Er kann in der Nacht nichts sehen, das war es«, sagte sie leise und brach damit bereits das Versprechen, daß sie Tomlin gegeben hatte, aber sie wollte unbedingt, daß der Junge Bescheid wußte, und was konnte das schon scha den?
9. Kapitel In Alpine, New Jersey, klingelte um halb vier am frühen Morgen des 26. Oktober eines der beiden Telefone, die Aldo Barzatti neben seinem Bett stehen hatte. Der Don war wach, er hatte noch nicht geschlafen, ja er hatte noch nicht einmal die Augen zugemacht. Trotz der Änderung der medikamentösen Behandlung machte ihm seine Prostata noch Sorgen. Schon am Klang des Klingeins erkannte er, daß es sich um die interne Hausleitung handelte. Er wandte den Kopf und sah das Telefon an, dabei dachte er mit leichter Ge ringschätzung, aber ohne Furcht: Alarmanlagen. Sensoren. Kinderkram. Der Junge ist ein Genie, das habe ich ihnen doch gesagt. Er hatte außerhalb des großen Steinhauses mit seinen Zwischenstockwerken keinerlei Geräusche gehört. Die äthiopischen Jagdhunde in ihren Zwingern waren ruhig. Don Aldo ließ das Telefon klingeln, aber er sah es un verwandt an. Er dachte darüber nach, was er tun sollte. Ruhig, aber nicht friedvoll. Das Telefonklingeln war leise, 103
es ging nicht an die Nerven, es war nichts als eine beharr liche Bitte um Aufmerksamkeit. Natürlich gab es nur eine vernünftige Art des Vorgehens, auch wenn er das Haus voller picäotti hatte. Aber warum sollte er ein unnötiges Blutvergießen in seinem eigenen Haus riskieren? Jetzt war keine Ausdauer gefordert, sondern Entschlußkraft. Der Schlüssel lag in dem Willen, es endlich hinter sich zu bringen, und vor schwierigen Entscheidungen und ent schlossenen Handlungen war er noch nie zurückge schreckt. Don Aldo rollte sich auf die linke Seite des Betts, von wo aus er das Telefon bequem erreichen konnte. Es hatte zwölfmal geklingelt. Als mit dem sechzehnten Klingeln die zweite Achtergruppe vollständig war, nahm er den Hörer ab und hielt ihn sich ans Ohr, ohne etwas zu sagen. »Hast du mich lieb, Großvater?« fragte ihn der Engel des Todes. »Ja«, antwortete der Don, die Geschwindigkeit des Pulsschlags verursachte ihm Übelkeit, ihm wurde schwarz vor Augen. Er ließ sich in einen ganzen Stapel von Kopfkissen zurücksinken. Die Verbindung war un terbrochen. Als Don Aldo wieder Herr über seine Sinne war, nach etwa dreißig Sekunden, stellte er fest, daß er sich die Pyja mahose ein wenig naßgemacht hatte. Er weiger te sich, die Unterwäsche zu tragen, die den unangenehmen Folgen häufiger Inkontinenz zuvorkommen sollte. Man konnte die Dinger, verdammt noch mal, nennen, wie man wollte, sie waren und blieben nichts anders als Windeln. Don Aldo setzte sich auf die Bettkante und fühlte mit den Füßen nach seinen Pantoffeln. Als er hineinge schlüpft war, ging er ins Badezimmer, das ein großes, rundes Fenster besaß, durch welches hell die Sterne einer klaren Nacht schienen. Das Badezimmer war mit allem 104
ausgestattet, was man für die Bequemlichkeit und die Hy giene brauchte. Eine marmorne Badewanne mit einem Ge länder, an dem er jetzt entlangging, ein luxuriöser Barbier stuhl aus einem Laden, den er während der zwanziger und dreißiger Jahre in Little Italy geleitet hatte. Er liebte es, tag täglich auf die herkömmliche Art rasiert zu werden, mit kochendheißen Tüchern, zentimeterdicker Rasierseife und dem schlipp-schlapp des Messers auf einem langen, dicken Lederband. Und Pimentöl, jede Menge Pimentöl. Aber der Don hatte s ich trotzdem nie zu einem Sklaven seiner Gewohnheiten machen lassen, und wenn, dann höchstens in seinen eigenen vier Wänden. Das war einer der Gründe, warum er beinahe alle seiner gleichaltrigen Kollegen überlebt hatte. Der Don zog die Pyjamahose herunter und stand vor der Kloschüssel, sein Glied in der Hand haltend. »Wenn du pinkeln willst, dann pinkel jetzt«, brummte er mißmu tig. Aber es dauerte eine ganze Weile. Er zählte jeden ein zelnen Tropfen. Acht. Endlich. Acht war eine schicksal hafte Zahl, da war er sehr abergläubisch. Er war im achten Monat eines Jahres geboren worden, dessen Zahl auf acht endete, als achtes Kind der Familie, das die Geburt über lebt hatte, in einem sizilianischen Dorf, das genau acht Ki lometer vom Meer entfernt lag. Sein Nachname enthielt acht Buchstaben. Während seines Lebens hatte er acht Männer von eigener Hand getötet. Insgesamt hatte er acht Jahre in Gefängnissen abgesessen, und in Las Vegas hatte er einmal 300000 Dollar gewonnen, weil viermal hinter einander die Zahl acht gekommen war. Da es sich nicht um ein präpariertes Roulette gehandelt hatte, war die Wahr scheinlichkeit eines solchen Ereignisses geradezu astro nomisch gering gewesen. Schicksal. Und heute war der 26. Oktober. Zwei und sechs ergeben acht. Die Un er schütterlichkeit dieser Rechnung gab ihm Sicherheit. 105
An seiner Badezimmertür klopfte es. »Ist alles in Ordnung, Mr. Barzatti?« Seine männliche Krankenschwester. Sein Name war Curly. »Ja, ja. Ich versuche gerade zu pinkeln«, brummte der Don. »Wenn Sie etwas brauchen, sagen Sie mir Bescheid.« »Ich kann nicht schlafen«, sagte der Don. »Vielleicht sollte ich ein Dampfbad nehmen, mit anschließender Massage. Laß mir noch zehn Minuten Zeit.« »Jawohl, Sir«, sagte Curly und ging nach unten, um die Sauna einzuschalten. Der Don zog den Pyjama aus und spülte die Toilette. Dann ging er zurück in sein Zimmer. Beinahe erwartete er schon, Dominic dort auf seiner Bettkante sitzen und auf ihn warten zu sehen. Aber noch war er allein. Dominic würde Zeit und Ort gewissenhaft aussuchen, würde erst kommen, wenn er sich absolut sicher fühlen konnte. In der Zwischenzeit könnten die picdotti ruhig das Haus von oben nach unten kehren, sie würden ihn doch nicht fin den. Tausendneunhundert Quadratmeter auf drei Stock werken, genügend Platz, um sich zu verstecken, auch wenn er sich hier nicht auskannte. Dominics Genie be ruhte nicht zuletzt auf seiner Fähigkeit, sich an äußere Ge gebenheiten automatisch anzupassen, während er sich wie ein hungriges Raubtier auf seine unmittelbaren Be dürfnisse konzentrierte. Seine Stärke war seine Skrupel losigkeit, ein für die ganze Familie typischer Charakter zug, der bei ihm erschreckende Ausmaße angenommen hatte. Don Aldo zog einen schweren Frotteebademantel an und nahm eine Waffe aus der Schublade seines Nacht tischs, einen 3 8er Revolver mit umwickeltem Hammer. Die Waffe beulte die rechte Seitentasche seines Bademan tels nicht besonders stark aus, vor allem, weil er seine 106
Hand mit hineinsteckte und so die eventuell verräteri schen Umrisse verdeckte. Curly, der weiße Leinenhosen und ein T -Shirt unter dem offenen weißen Kittel trug, kam nach oben, um ihn abzuholen. Mit einem kleinen Fahrstuhl fuhren sie in den Erholungsflügel des Hauses hinunter, der, zusammen mit einem Partyraum, einem Spielzimmer und einer klei nen Turnhalle den großen Swimmingpool-Komplex ent hielt. Es gab dort eine große Sauna mit einem Abkühlbek ken gleich nebenan, eine Dusche und einen Massage raum mit Spinden entlang einer Wand. Die Temperatur in der Sauna betrug 90°, als Don Aldo sie betrat und seinen Bademantel aufhängte. Auf den Holzbänken, die sich auf zwei Ebenen verteilten, wäre ge nug Platz für ein Dutzend nackter Körper gewesen. Curly verzog sich pfeifend in den Massageraum, um die Hand tücher anzuwärmen und seine Utensilien bereitzulegen. Der Don spritzte eine Kelle Wasser auf die bleifarbenen Steinbrocken und setzte sich. Zwanzig Minuten konnte er die Hitze aushalten, länger nicht. Als er die Sauna verließ, den Bademantel über einen Arm gehängt, den Revolver in der Hand, sah er sich vor sichtig um, aber Dominic war nirgends zu sehen. Curly pfiff im Massageraum hinter den Duschen immer noch vor sich hin. Don Aldo sah einen Zipfel seines knielangen Kittels, bevor er seinen Bademantel auf dem langen Flie sensockel neben dem Abkühlbecken ausbreitete. Das trübe, grüne Wasser war zwei Meter tief, es reichte dem Don beinahe einen ganzen Fuß über den Kopf, das Tauch becken hatte einen Durchmesser von zweieinhalb Me tern. Das Wasser, es hatte eine Temperatur von etwa 17°, fühlte sich schockierend kalt an, als er mit zugehaltener Nase hineinsprang. 107
Er blieb lange genug unter Wasser, daß seine nackten Zehen die Leiche am Boden des Beckens fühlen konnten. Don Aldo schaute durch das von Mineralsalzen ge trübte Wasser hindurch nach unten und entdeckte Curly, nackt bis hinunter zur Hüfte. Ein Messer stak in einer im mer noch blutenden Wunde gleich neben dem rechten Schulterblatt. Eine zwanzig Pfund schwere Servierplatte aus dem Inventar des Partyzimmers hatte man ihm als Be schwerung unter den Bund seiner weißen Leinenhose ge steckt. Don Aldo tauchte hustend und prustend an die Ober fläche. Er versuchte zu schreien und seinen Bademantel zu erreichen, den er auf dem Fliesensockel zurückgelas sen hatte, aber er war nicht mehr da, statt dessen hatte der Engel des Todes dort Platz genommen. Er langte hinunter in das Becken, um den Kopf des Alten gleich wieder unter Wasser zu stoßen. Natürlich. Jeder kann vor sich hin pfeifen, dachte der Don, und versuchte sich auf die neue Lage ein zustellen, nicht zuviel Wasser zu schlucken und unnütz Energie zu verbrauchen. Er konnte sich nicht vorstellen, daß Dominic ihn hier in seinem Tauchbecken ersäufen wollte. Er hatte recht, nach ein paar Augenblicken ließ sein En kel seinen Kopf los, und der Don bekam seine Nase hoch genug über Wasser, um einen Atemzug nehmen zu kön nen. Doch er bekam keinen Halt auf den schlüpfrigen Fliesen. Die Leiter war viel zu weit weg. »Dominic . . . du ... was machst du mit mir . . .?« »Ich heiße nicht Dominic. Ich heiße Angel.« »Angel. . . Das war der . . . verrückte Name, den deine Mutter dir . . .« »Mir gefällt Angel.« »In Ordnung . . . ist ja schon gut, aber . . . warum jagst du mir einen solchen Schrecken ein?« 108
»Ich möchte mich an einem Platz mit dir unterhalten, wo uns niemand in die Quere kommen kann.« »Wir werden reden. Aber . . . hilf mir zuerst mal hier raus.« Angel schüttelte ruhig und entschieden den Kopf, er hockte auf einem Knie, den Unterarm auf das andere Knie gestützt. »Dom . . .«, wollte der Don gerade sagen, da mußte er wieder Wasser schlucken. Er tanzte einen Spitzentanz auf dem Rücken des toten Curly, versuchte, das muskulöse Fleisch des Masseurs als Sprungbrett zu benützen, aber seine Kräfte schwanden schnell dahin. »Also gut, Angel. Wir sind doch . . . deine Familie. Oder? Niemand will dir hier Böses. Wir wollen dir ... helfen.« »Ja, Großvater, genau das brauche ich. Hilfe.« »Angel. . . ich ertrinke.« Angel schüttelte wieder den Kopf. Er glaubte nicht daran. »Ich werde dich schon nicht ersäufen. Du sollst mir nur sagen, was ich wissen will.« »Wie könnte ich? Ich . . . muß dich doch schützen, An gel. Ich muß dich .. . vor dir selbst schützen.« Don Aldos Füße rutschten von Curlys Rücken ab, sein Kopf tauchte wieder unter Wasser und schlug hart gegen die Becken wand. Er verschluckte beinahe eine ganze Lunge voll. Als er wieder an die Oberfläche kam, hustete und keuchte er schrecklich, aber der Gesichtsausdruck des Todesengels veränderte sich nicht die Spur. »Ich will meine Frau. Ich will meinen Sohn. Sag mir, wo ich sie finde, Großvater.« »Hör zu. Du weißt doch, was du ihr . . . getan hast. Sie wäre beinahe . . . gestorben.« »Aber es tut mir doch leid, was ich ihr angetan habe. Ich werde ihr bestimmt nicht wieder weh tun.« 109
»Du hast. . . keine Kontrolle über dich«, sagte der Don. Er trampelte jetzt auf Curlys Kopf herum. Seine Lippen zitterten vor Abscheu. »Es ist das . . . Tier in dir. Ich . . . ich habe auch Menschen getötet. Aber doch niemals aus .. . Vergnügen.« »Hast du mich lieb, Großvater?« »Ich werde sie nicht. . . verraten. Ich werde das Unge heuer in dir nicht füttern.« Der Todesengel sah ihn feierlich an, nur die Andeu tung eines Stirnrunzeins verfinsterte sein Gesicht. End lich gelang es dem Don, mit den Fingern etwas Halt auf dem gefliesten Beckenrand zu finden. Er hielt sich jetzt im Wasser, so ruhig er konnte, den Kopf in den Nacken ge legt, sah er hinauf in die bernsteinfarbenen Augen. Ein Mann dürfte keine solchen Augen haben, dachte er. Er zitterte von der Anstrengung, sich über Wasser zu halten. Er wußte, daß er es nicht überleben würde, noch einmal unterzugehen. Schließlich sagte Angel: »Ich werde sie auch so finden. Auf Wiedersehen, Großvater.« Er streckte beide Hände aus. Der Don schloß die Augen, er resignierte, aber wenigstens war er überzeugt, sein Bestes gegeben zu haben. Angels starke Hände griffen ihn unter beiden Achsel höhlen, er wurde aus dem Becken herausgehoben. Seine Knie wollten ihn nicht tragen, Angel mußte ihn mit einem Arm auf den Beinen halten, während er seine Lippen auf die zitternden, eiskalten Wangen des Alten preßte. Don Aldo spürte ein plötzliches Reißen und einen schrecklichen Schmerz an den Geschlechtsteilen, dann sah er etwas aus den Augenwinkeln heraus, ein Aufsprit zen, und etwas von wohlvertrauten Umrissen, das wie ein Fisch im zwei Meter tiefen Wasser trieb und von dem aus ein dünner Faden Blut an die Oberfläche stieg. Eine be 110
täubende Flut von Wärme breitete sich zwischen seinen Schenkeln aus. Er starrte dem Tode sengel direkt in die Augen. »Hast. . . hast du mich getötet?« Er hatte das Messer noch nicht einmal zu Gesicht bekommen. Angel war ein fach viel zu schnell für ihn gewesen. Aber Angel schüttelte nur den Kopf, als hätte sein Großvater gerade eine Gotteslästerung ausgesprochen. »Du bist der Don der Dons«, sagte er. »Ich habe viel zu viel Respekt, um dich töten zu können. Ich habe dir dei nen Schwanz abgeschnitten.«
10. Kapitel Carls nächtliches Abenteuer war nicht ganz so erfolgreich verlaufen, wie er noch großartig verkündet hatte, als er Wink Evergood im Salon von Murray's Driftwood gegen übergesessen hatte. Sie hatten die Mädchen zum Abend essen getroffen, und Cindalou war auch sehr erfreut ge wesen, ihn zu sehen. Schon während des Essens hatten sie unter der schummrigen Beleuchtung miteinander ge schmust, sie hatte ihm feurige Blicke zugeworfen, ihn an allen möglichen Stellen geknufft und gekniffen, aus rau her Kehle über seine Witze gelacht und ihn aus den kunstledernen Speisekarten in Postergröße immer neuen Nachschub für ihren unersättlichen Appetit bestellen las sen. Sie war höchstens einundzwanzig und arbeitete in der First Federal, wo Carl sein örtliches Konto hatte. Sie hatte eine Semi-Punk-Frisur, einen reizenden Schmoll mund und extravagant geschminkte, sündige Augen, dazu trug sie billigen Modeschmuck, gemusterte, schwarze Strumpfhosen, einen hautengen Rock und eine 111
Weste über einer hauchzarten, lavendelfarbenen Bluse. Er hatte ihr ein gutes Parfüm gekauft, neun Dollar hatte die Unze von dem Zeug gekostet, und sie stank so schrill, als hätte sie sich alles auf einmal in den Kragen gekippt. Zwischen Newburg-Crepes und Filets im Speckmantel ging der Abend zum Teufel. Cindalou wurde ans Telefon gerufen, und als sie zurückkam, hielt sie sich den Bauch, hatte den Mund vor Entsetzen aufgerissen, und Hysterie blitzte aus ihren Augen. Kent, ihr Mann, von dem sie ge trennt lebte und der vom Gericht die Auflage hatte, sich von Cindalou und der vierjährigen Tochter Shanda fern zuhalten, war in dem Wohnanhänger-Park aufgetaucht, wo Cindalou mit dem Kind und einer jungfräulichen Tante lebte, hatte das Kind gepackt und war damit in sei nem Wohnmobil verschwunden. Noch bevor es Carl, Wink und Winks Freundin gelungen war, sie aus dem Re staurant zu bringen und ein bißchen zu beruhigen, hatte Cindalou zu schreien angefangen. Carl nahm die Sache in die Hand. Sie riefen die Cops und Cindalous Anwalt an, der in der Notaufnahme des Krankenhauses mit ihnen zu sammentraf, wo man dem Mädchen ein Beruhigungs mit tel gespritzt hatte. Der nächste Schauplatz war das Poli zeirevier, wo die Anzeige gemacht werden mußte, von einer inzwischen schwerfällig murmelnden, schwitzen den Cindalou. Und dann brachten sie Kent herein, in Handschellen, die kleine Shanda war in eine graue Wolldecke gewickelt und klammerte sich an einer Puppe fest, während sie mit wachem Blick alles beobachtete, was um sie herum vor ging. Ein uniformierter Cop der Staatspolizei hatte ihn bei einer Routinekontrolle aufgestöbert, er hatte mit ei ner Leuchtröhre unter seinem klapprigen VW -Bus gelegen, am Rand der Interstate, etwa zehn Meilen westlich von Gulfport, und hatte versucht, etwas am Lenkgestänge zu 112
reparieren. Nachdem der Cop sich Gewißheit verschafft hatte, daß es sich um den per Ha ftbefehl Gesuchten han delte, hatte er Verstärkung angefordert. Kent hatte diese Ablenkung zu einer Flucht ins Gebüsch neben der Straße genutzt, aber er war nicht sehr weit gekommen. Er war etwa eins fünfundsiebzig groß, untergewichtig, und machte in sein em ganzen Auftreten den Eindruck eines Mannes, der es nie schaffen würde, auf eigenen Füßen zu stehen. Als Cindalou ihn erblickte, erwachte sie wieder zum Leben und versuchte, ihm mit ihren zwei Zentimeter langen Fingernägeln die Augen auszukratzen. Es kam zu einem Handgemenge mit viel Geschrei, und Shanda, in ihrem verzweifelten Bemühen um Aufmerksamkeit, brüllte in den Armen einer weiblichen Polizeibeamtin von allen am lautesten. Dann brach Kent schluchzend zusam men, sagte, er kenne seine Rechte, weiß Gott, und wenn ihm in seinem Leben auch niemand eine faire Chance ge geben habe, so könne man ihn doch nicht von seiner klei nen Shanda fernhalten, denn sie sei schließlich alles, was er auf dieser beschissenen, verkommenen Welt noch be sitze. Was für ein großartiger Abend. Es war bereits Vier tel nach zwölf, als Carl das Polizeirevier endlich verließ, und das auch nur, um festzustellen, daß sein Glück sich nicht gewandelt hatte. Als er nämlich zu Murray's Drift wood zurückkehrte, teilte man ihm mit, daß Rochelle, das farbige Mädchen, bei dem er zum Schuß hatte kommen wollen, wegen einer Migräne früher nach Hause gegan gen war. Aber wo war ihr Zuhause? Das wußte in dem La den auch niemand so ganz genau. Also fuhr Carl zurück zum Haus auf dem Bayou, wo er um Viertel nach eins ankam. Im Wohnmobil war alles dunkel. In Anitas Zimmer war noch Licht. Warum zum Teufel denn nicht, dachte Carl. Sie könnten wenigstens noch ein wenig an ragusano und sizilianischer Wild 113
schweinsalami herumknabbern und zusammen eine Fla sche Roten vom Ätna aufmachen, und dann, vielleicht... ganz vielleicht. . . Aber als er an ihrer Tür klopfte, sagte Anita mit fester Stimme: »Ich lege mich gerade hin, Carl.« So standen die Dinge also. Schlecht gelaunt haute Carl sich allein aufs Ohr, ohne Liebe. Es war vielleicht erst die dritte Nacht seit dem Unabhängigkeitstag am vierten Juli, in der es ihm nicht gelungen war, seinem unersättlichen Appetit auf knackige Mädchenhintern die angemessene Befriedigung zu verschaffen. Er wachte etwa um sieben nach einer nicht besonders angenehmen Nachtruhe auf und fühlte sich gleich nicht so recht auf dem Damm. Ihn fror, weil das elektrische Heizgerät in seinem Schlafzimmer nicht eingeschaltet war. Er hörte draußen auf dem Bayou einen Motor und schlurfte in seinem Countess-Mara-Pyjama ans Fenster, um nachzusehen. Er sah, wie Clay Tomlin in einem der Blechboote, an dessen Heck ein alter, qualmender Evin rude befestigt war, hinaustuckerte. Die Sonne war gerade aufgegangen, aber es war schon reichlich s pät, um zwi schen den Baumstümpfen und in den tiefen Löchern am Rande des Sumpfgrases noch auf Süßwasserfische zu ge hen. Vielleicht fuhr er nur hinaus, um mal wieder einen Blick auf seinen ganzen Besitz werfen zu können. Carl fragte sich, ob sich der Ma nn eigentlich im klaren darüber war, was er hier unten besaß. Mit der Idee im Kopf, seinem abwesenden Vermieter ein Angebot zu ma chen, hatte Carl sich ein wenig in den Grundbüchern um gesehen und herausgefunden, daß der Besitz völlig unbe lastet war. Der Familienbesitz war in direkter Linie von Tomlins Urgroßvater mütterlicherseits, einem Tobias Park, weitergegeben worden. Ursprünglich war das Grundstück noch eindrucksvoller gewesen, insgesamt hatte es 1128 Morgen bewaldete Hügel, Feuchtland und 114
Uferstreifen umfaßt, aber das meiste, bis auf etwa 247 Morgen, hatte man an die Bundesregierung verschenkt oder verkauft, die dort einen nationalen Küstennaturpark eingerichtet hatte, der im Osten direkt an den Tomlin schen Besitz angrenzte. Das Land sollte für immer in sei nem ursprünglichen Zustand belassen werden. Carl war durchaus dafür, er verstand die ökologische Bedeutung des Projekts, und wer wollte schon an einer Küste leben, die von oben bis unten zubetoniert ist, und an einem Golf, der noch fünfzig Meilen weit draußen wie eine Hin terhoftoilette stinkt? Man brauchte sich doch bloß anzu sehen, was weniger als ein Jahrhundert ungehemmter Verschmutzung aus dem Mittelmeer gemacht hatte. Dort kann man inzwischen unterhalb einiger der reizvollsten Dörfer dieser Welt nicht mal mehr ins Wasser gehen, ohne befürchten zu müssen, sich einen bösen Hautaus schlag zu holen. Aber trotzdem, wenn man es richtig an packte, wäre auch hier unten am Bayou noch jede Menge Platz für Bauvorhaben. Viel von Tomlins Land wäre be baubar, und ein Teil des Bayou ließe sich mühelos auf schütten. Port Bayonne war eine schnellwachsende Stadt. Die milden, kurzen Winter zogen die Menschen an, vor allem jetzt, zu einer Zeit, da Florida bereits völlig überlau fen und viel zu gef ährlich geworden war. Viele von diesen Menschen waren bereit, eine Menge Geld für luxuriöse Heimstätten zu zahlen, aber Plätze mit leichtem Zugang und einem schönen Blick auf den Golf waren auch hier, an den immer noch sauberen Wassern des Mississippi Sound, inzwischen verdammt knapp geworden. Das Ge biet war zwar immer wieder Ziel heftiger Hurrikans, die vom Golf herüberkamen, aber die Barrier -Inseln gleich vor der Küste boten doch einigen Schutz. Carl hatte die Vision von einem Entwicklungsprojekt, das a us lauter kleinen, sündhaft teuren Schmuckkästchen bestand, und "5
dazu einen Jack-Nicklaus-Golfplatz. Er hatte bereits ei nige Annäherungsversuche bei Mace Lefevre unternom men, aber bis jetzt war er damit nicht weit gekommen. Mace hatte ihm immer nur kurz und knapp erklärt, Tom lin würde auf keinen Fall verkaufen. Aber Carl war äu ßerst mißtrauisch, was Maces strategische Rolle in die sem Spiel betraf. Einerseits war er ein Jugendfreund von Tomlin, andrerseits betrieb er hier seine höchsteigenen Machenschaften, trotz seines scheinbar anspruchslosen Stils. Er steckte mit den lokalen Drahtziehern unter einer Decke, einer Art Bauern-Mafia. Wahrscheinlich hatte er schon lange vor Carls Ankunft ein Auge auf das Land ge worfen. Er konnte sich jede Menge Zeit nehmen, konnte Tomlin nach und nach davon überzeugen, daß es besser sei, den Besitz abzustoßen. Mein Gott, der Kerl war An fang Vierzig, war jahrelang ein Düsenjägerpilot gewesen, diese Droge bekam man doch nicht von heute auf morgen aus seinem Blut. Carl war sich ziemlich sicher, daß Tomlin genau auf die Art von Action und Lebensstil stand, dem vier oder fünf Millionen Dollar Cash mächtig auf die Sprünge helfen könnten. Man sollte ihm ein paar Wochen Zeit lassen, zu angeln und seinen Erinnerungen nachzu hängen, dann würde er schon anbeißen. Im Moment war er allerdings ein bißchen im Wege, und das brachte Carl zurück zu den aktuellen Tagesge schäften. Der Gedanke machte ihn kribbelig. Morgen nacht würden sie eine neue Ladung einfahren. Der erste Trip war wie geschmiert verlaufen. Zweieinhalb Millio nen, aufgeteilt auf ein halbes Dutzend Paar Hände: Wink, dessen Cousin Tom Paul, dem Wink gesagt hatte, er könne sich eine goldene Nase verdienen, wenn er die Klappe halten würde, der Hubschrauberpilot und Carls Kontaktmänner in New Orleans, die den Deal vermittelt hatten. Die kombinierten Anstrengungen der Navy und 116
der Küstenwache erwiesen sich als immer effektiver. Ein Boot wie das von Wink konnte man leichter hindurchla vieren als ein kleines Flugzeug in der Nacht, aber das fort schrittliche Infrarot-Radar zog sich langsam wie eine Schlinge um den engen Hals des Kanals von Yucatan. Wenn man einmal zu oft auf das Glück vertraute, ein biß chen zu gierig wurde, konnte das den direkten Weg in den Knast bedeuten. Jedenfalls würde Wink sich des Fliegers annehmen, und vielleicht würde das sogar dessen Entschluß erleich tern, möglichst bald wieder von hier zu verschwinden, und da könnte es doch nichts schaden, wenn Carl schon einen kleinen Vorschlag für ih n bereithielte, über den er sich in der Zwischenzeit den Kopf zerbrechen könnte. Im Grunde ging es nur darum, herauszubekommen, was Tomlin eigentlich vorhatte, dann würde Carl schon ein Angebot einfallen, das der Kerl nicht so leicht in den Wind schlagen würde. Der Gedanke an einen erfolgrei chen Abschluß, dem auch die Familie die Anerkennung nicht würde verweigern können, der ihm Format geben und seinen Namen an die Spitze des förderungswürdigen Nachwuchses katapultieren würde, weckte Carls Lebens geister. Sein Magen knurrte, und er erinnerte sich an das Steak, das ihm letzte Nacht entgangen war. Er zog seinen gepunkteten Morgenmantel an und ging die hintere Treppe hinunter in die Küche, um nachzusehen, was Opal ihm außer einer kalten Dusche noch zu bieten hatte. Tomlin hatte das Wohnmobil etwas zu früh verlassen. Er schaffte es gerade eben bis zum Anleger, ohne hinzufal len, und auch als er das kleine Boot hinaussteuerte, hatte er seine volle Sehkraft noch nicht wieder erreicht. Der Außenbordmotor knatterte einigermaßen gleichmäßig, aber viel zu laut, als er den langsam enger werdenden 117
Bayou entlangfuhr, der sich unterwegs in unzählige, bronzefarbene Seitenkanäle aufteilte, von denen einige nur zwei Fuß tief waren, und die immer wieder durch baumbestandene Hügel geteilt wurden. Auf ihnen wohn ten Waschbären, Opossums und Gürteltiere, die scheuen, stoischen Alligatoren und so viele verschiedene Vogelarten, daß er sich nicht einmal mehr an die Hälfte der Namen erinnerte, selbst wenn er sie klar und deu tlich hinter niedrigem Sumpfgras oder in den Baumkronen hätte erkennen können. Die Sonne hinter seiner rechten Schulter war von einem vollen, aber ein wenig trüben Orange, als müsse sie durch einen dichten Schleier schauen. Der stumpfe Bug des Blechbootes, etwa drei Meter von ihm entfernt, verschwamm noch vor seinen Augen, obwohl die Sehkraft langsam zurückkehrte, als das Tageslicht jetzt immer heller wurde. Die kalte Mor genstille auf dem Bayou beruhigte ihn, befreite ihn von der Angst, mit der er jeden Morgen aufwachte, zu früh und wenn es noch dunkel war, der Angst, daß heute der Tag wäre, an dem seine Sehkraft überhaupt nicht mehr zurückkehren würde. Trotz aller Versicherungen, die ihm von den Augenspezialisten gegeben worden waren, er hatte es immer noch nicht gelernt, mit dieser Angst fertig zu werden, sie drehte ihm immer wieder aufs neue den Magen um. Jedesmal, wenn er in seinem Leben Angst ge habt hatte - und es hatte genug Anlässe gegeben, die erste Landung auf einem Flugzeugträger zum Beispiel, o der der erste Feindbeschluß in Vietnam -, war sie wieder ab geklungen, wenn die Feuerprobe ein Ende gehabt hatte. Aber für ein Leben ohne Sehkraft von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang war nun mal kein Ende abzusehen, und diese besondere Ungewißheit war es, die so schwer zu ertragen war und zerstörerisch wirkte. Er näherte sich einem Zustand der seelischen Erschöpfung, hatte das Ge 118
fühl, weder sich selbst noch jemand anderem zu etwas nütze zu sein. Es war ein heimtückischer Anteil von Selbstmitleid und morbider Verzweiflung dabei, den er oft nicht rechtzeitig genug erkannte, um sich dagegen wappnen zu können. Aber heute ist ein guter Tag, dachte er. Es wird hell und warm werden, und während dieser klaren Stunden werde ich beinahe vergessen können, was Dunkelheit bedeutet. Er fuhr um eine Biegung herum und kam in einen Ab schnitt des Kanals, der vielleicht zehn Meter breit war, als er sah, daß er nicht mehr allein war. In einem Boot, das kleiner war als das seine, saß ein Mann. Er fing die hellen Blitze von Sonnenlicht auf, das von kleinen Spiegelschei ben reflektiert wurde, als der einsame Angler seine Schnur leise und vorsichtig in dem schattigen Wasser auswarf. »Hallo, Mist' Clay.« Tomlin drosselte den Motor und trieb auf den Mann zu. »Was beißen die Fische denn heute, Wolfdaddy?« »Was sie am allerliebsten riechen. Lebende Köder. Ein paar frische kleine Krabben, mehr brauche ich nicht.« Wolfdaddy, der Hinterwäldler, für den der Fisch im Was ser soliden Wohlstand bedeutete, solider als Geld in der Tasche. »Hast du was dagegen, wenn ich hier ein bißchen mein Glück versuche?« »Nein, Sir! Noch zwanzig Minuten vielleicht, dann ist's aus mit dem Beißen. Aber, fängt man keine Forelle am Morgen, gibt's noch den Rotfisch am Abend. Wie Ihr Va ter immer gesagt hat, wenn wir nicht zuviel wollen oder nach zuviel verlangen, nun, dann werden wir immer ge nug haben.« »Ja, ich glaube, das hat er gesagt«, antwortete Tomlin. Er dachte an seinen alten Herrn, hätte ihn jetzt gerne hier 119
gehabt, um sich mit ihm unter halten zu können. Der alte Mann hätte all den so vertraut klingenden Vögeln die zu gehörigen Namen geben können. Er hätte einem sagen können, daß am nächsten Dienstag, wenn genau um sie benunddreißig Minuten nach fünf die Flut beim Gezei tenwechsel fünf Zoll höher stünde, am Ende der langen, grasbewachsenen Bank eine Rinne entstehen würde, in der sich in großer Menge die Rotfische sammeln würden. Fische sind Gewohnheitstiere, also ist der Fischfang eher eine Sache der genauen Beobachtung und des Wissens als der Intuition, genau das aber gehörte zu den Stärken des alten Mannes - er beobachtete ganz genau, bevor er han delte. Den größten Antrieb hatte er als kleiner Junge im mer erhalten, wenn sein Vater ihm in die Augen geschaut und zu ihm, nicht ohne Mitgefühl, gesagt hatte: Wenn das Leben hart ist, dann mußt du eben noch härter sein. Vielleicht hatte sein Vater etwas von ihm gewußt, dessen er selbst sich immer noch nicht ganz sicher war. Ein tröstlicher Ge danke. Tony saß in der Küche, knabberte geröst ete Corn-flakes und ging eine Liste mit Vokabeln durch, die er später ab gefragt werden würde. Er nahm Carls Gegenwart kaum zur Kenntnis, und als Carl ihn anlächelte und ihn fragte, ob er das Wort >soundsoviel< buchstabieren könne, be merkte er kurz angebunden, das Wort stünde nicht auf seiner Liste, also müsse er es auch nicht können. Carl hörte auf zu lächeln. Er bestellte bei Opal sein Frühstück, wobei er ihr in allen Einzelheiten erklärte, wie er sein Ei wünschte. Er wußte, daß sie sich darüber ärgert e, aber wer zum Teufel zahlte schließlich ihren Lohn? Zu Tony sagte er noch: »Ich habe deine Abfalltonnen -Kids nicht vergessen. Ich habe sie oben, und wenn du ein bißchen netter zu mir bist, gebe ich sie dir sogar.« Tony ignorierte 120
ihn, er bewegte die Lippen, als er gerade im Geiste eine seiner Vokabeln buchstabierte. Carl schenkte sich einen Becher Kaffee ein, nahm sich ein frisches Zimtbrötchen und trug beides hinüber ins Wohnzimmer, um das >Schwarze Brett< auf seinem Computer abzurufen, das, abgesehen von gelegentlichen Telefongesprächen über einen öffentlichen Fernsprecher, seine einzige Verbin dung zur Familie darstellte.
11. Kapitel Anita stand unter der Dusche und dachte über Tonys Schularbeiten nach. Das war jeden Morgen das erste. In Lesen und Rechnen war er seiner Altersklasse weit vor aus, wie die 98 Prozent bewiesen, die er im April beim California-Achievement-Test erreicht hatte. Seine Fort schritte bei dem Material für die vierte Klasse, das sie ihm kürzlich gegeben hatte, erstaunten sie trotz seines hohen Intelligenzquotienten. Aber er war eifrig und gründlich, vielleicht ein bißchen zu ungeduldig mit sich selbst, wenn er einen neuen Zusammenhang nicht gleich begriff, wie zum Beispiel die algebraischen Gleichungen, mit denen er sich zu beschäftigen begonnen hatte, oder französische Grammatik. Anita hatte ein gutes Gefühl, was Tonys Fort schritte betraf, und trotzdem war sie manchmal unglück lich, denn sie wußte genau, daß bei seinem Unterricht et was ganz Wichtiges fehlte, nämlich die soziale Interak tion mit gleichaltrigen Kindern, die gesunde Wettbe werbsatmosphäre des Klassenzimmers. Seine launischen Anfälle, die Episoden schmollenden Rückzugs, das waren Folgen des Mangels an Spielkameraden und der Isolation hier unten am Bayou. Sie hatte sich das Schulsystem von 121
Port Bayonne genau angesehen und es für minderwertig befunden. Dort bekäme er bestimmt nicht die intellektu elle Stimulanz, die er brauchte. Das war das eine. Aber ihre Entscheidung, den Jungen zu Hause zu lassen, h atte vor allem auch emotionale Gründe. Sie wußte genau, daß sie die Anspannung nicht aushallen würde, wenn Tony sieben Stunden am Tag außer Haus wäre. In der Nacht hatte sie von einer Heimkehr geträumt, von einer großen Wiedervereinigung der Familie. Ihr Va ter, ihre Brüder und Schwestern, alle Neffen und Nichten, von denen sie einige noch nie gesehen hatte, nicht einmal auf Fotos, alle waren sie versammelt gewesen in dem gro ßen Haus an der Sheepshead Bay. Dann hatte der Traum auf einmal eine böse Wendung genommen. Rauch füllte das Haus, aber niemand konnte das Feuer lokalisieren. Nur Anita wußte genau, wo das Feuer ausgebrochen war, wo es jetzt unkontrolliert wütete. In ihrem Schlafzimmer. Das Feuer verschlang alles, was ihr lieb und teuer gewe sen war, zerstörte jede Erinnerung an ihre Kindheit: ihre Sammlung von Madame-Alexander-Puppen, das Kleid, das sie bei ihrer ersten Kommunion getragen hatte, ihre Tagebücher, die sie als Teenager geführt hatte, die Fotos und Plakate von Fernseh-, Film- und Rockstars, persön lich unterschrieben, die ein Onkel ihr besorgt hatte, der bei der Agentur William Morris beschäftigt gewesen war. Herzzerreißend schluchzte sie in der rauchgeschwänger ten Eingangshalle des großen Hauses, aus der inzwischen alle anderen geflohen waren - für immer. Eher ein trauriger Traum als ein Angsttraum, die Me lancholie wirkte noch lange nach dem Aufstehen in ihr fort und verzögerte das Erwachen ihrer Lebensgeister, das normalerweise durch die morgendliche Dusche be sorgt wurde. Aber er war immer noch besser als einige ihrer anderen Träume, wie zum Beispiel jener, wo sie an 122
rief und das Kodewort sagte und eine vertraute und schrecklich ruhige Stimme am anderen Ende der Leitung zu ihr sagte, es täte ihr leid, aber sie könne keine Nac h richten mehr weitergeben, denn sie seien alle gestorben, jedes einzelne Mitglied ihrer Familie. Oder der andere Traum, der in der U-Bahn nach Brooklyn spielte, und in dem der Zug unter dem Hast River langsam zu fahren be gann. Sie war plötzlich ganz allein in dem mit Graffitis verschmierten Wagen, im ganzen Zug war niemand mehr außer ihr und . . . Anita drehte das Wasser aus, zog den doppelten Duschvorhang zur Seite und sah Carl, der in Pyjama und seinem todschicken Morgenmantel in ihrer Zimmertür stand und sie ansah, einen etwas hündischen Ausdruck auf dem Gesicht, als wüßte er genau, daß er etwas Uner laubtes tat und mit einem strafenden Fußtritt zu rechnen habe. Sie riß den Vorhang wieder zurück, um ihre Nackt heit zu verdecken, und sagte zitternd zu ihm: »Mein Ba dezimmer ist für dich tabu, Carl! Jetzt und für immer! Schreib dir das verdammt noch mal endlich hinter die Oh ren !« »Ich muß mit dir reden, Anita.« »Das kann warten.« »Hier ist dein Handtuch. Trockne dich ab, ja?« Er nahm das zusammengefaltete Handtuch, das sie auf dem Stuhl neben der Kommode bereitgelegt hatte, und reichte es ihr. Sie schnappte es wütend. »Wir sehen uns unten, wenn ich angezogen bin.« »Angel ist raus«, sagte Carl. Sie stand im Duschbecken, das Handtuch gegen die Stirn gepreßt, hielt es dort mit einer Hand fest und ver suchte tief durchzuatmen. Es gelang ihr nicht. Ihre erste Reaktion war nicht Angst, sondern tiefe Verbitterung. Warum konnten sie ihn dort nicht festhalten? Dann kam der 123
Schock, in ihrem Kopf begann sich etwas zu drehen, sie griff mit der freien Hand dorthin und versuchte sich ge gen den Vorhang zu lehnen, als handle es sich um eine solide Ziegelmauer. Sie verlor das Gleichgewicht, riß den Duschvorhang aus einigen seiner Plastikringe und tau melte aus dem Becken, direkt in Carls Arme. »Hey, hey.« »Ist schon in Ordnung«, keuchte sie. Er hatte ihr einen Arm um die Hüfte gelegt, nur noch ein Stückchen Hand tuch war zwischen ihnen. »Wo ist er?« Ihre Zunge fühlte sich dick und klumpig an, als sei sie an d er Wurzel ge lähmt. Carl versuchte, sie fester zu umfassen, aber sie war noch schlüpfrig von dem Duschgel, daß sie benutzte, um ihre Haut geschmeidig zu halten. Das Haar hatte sie sich oben auf dem Kopf zusammengeknotet, damit es unter der Dusche nicht naß wurde. Anita versuchte sich mit ihrer schwachen Hand von ihm wegzustoßen und aus ei gener Kraft zu stehen. »Wer weiß? Er ist aus der Klinik geflohen und hat ein paar Leute umgelegt.« »Oh .. . mein Gott.« »Letzte Nacht ist er beim Padrino gewesen.« Er wußte, daß der Aufschrei kommen würde, und preßte ihr eine Hand auf den Mund. Seine Finger rochen nach Zimtbrötchen. Anita krümmte sich zusammen, aus ihren dunklen Augen über seiner Hand blitzte das Entset zen. Den Arm immer noch um ihre Hüfte, hatte er sie an gehoben, so daß ihre Füße keinen Halt mehr auf dem Bo den hatten, mit den Zehen kratzte sie über seinen Spann und ein Schienbein. Sein Schwanz wurde hart, in solch einer Stellung hatte er sie noch nie gehabt, auch wenn er oft darüber nachgedacht hatte, wie er es wohl anstellen müßte. Ihr Entsetzen war für ihn Stimulanz und fegte den 124
letzten Rest der Hemmungen hinweg, die der Respekt vor dem Don und dessen Wünschen, betreffend die Ehefrau seines Enkels, ihm aufgenötigt hatte. »Nein, hör doch zu, der alte Mann ist noch am Leben. Er hat Angel kein Sterbenswörtchen verraten. Du bist si cher. Du und Tony. Non haipaura, 'Nita.« Sie wehrte sich jetzt gegen ihn, sie hatte seine Geilheit bemerkt, wußte genau um seine Absichten. Er begann ihre Brüste mit Küssen zu bedecken. Das Handtuch war nach unten gerutscht, es hatte sich an seinem steifen Schwanz verfangen. Er versuchte das Handtuch wegzu ziehen, sie fester an sie zu drücken. »Komm doch, komm«, sagte Carl. Seine Lippen hatte er gegen ihren Hals gepreßt. »Wir müssen es tun. Ich bin verrückt nach dir. Du brauchst es doch auch . ..« Er stieß sie hinunter auf die flauschige Badematte. Anita versuchte nach ihm zu treten, aber ihre Beine waren zu weit auseinander, und das Handtuch war nicht mehr da. Er war über ihr. Carl hätte nicht gedacht, daß sie in der Hand genug Kraft haben würde, auf die er gar nicht ach tete, in der rechten Hand, aber plötzlich fühlte er, wie ihre Fingernägel sich in das Fleisch direkt unter seinen Augen bohrten, die Haut durchschnitten. Er zog eine Grimasse des Schmerzes und lehnte sich so weit zurück, daß es ihr gelang, unter ihm herauszuschlüpfen und auf allen vieren schluchzend in ihr Schlafzimmer hinüberzukrabbeln. »Ich hab' dir gesagt, nie! Niemals! Verschwinde! Vat tene!« Carl stand auf, knirschte laut mit den Zähnen - eine An gewohnheit, die ihn schon so manche Krone gekostet hatte - und sah erst einmal in den Spiegel, um sich den Schaden zu betrachten. Etwas aufgerissene Haut, ein paar Tropfen Blut. Er wischte es mit einem Ko smetiktuch ab und folgte Anita ins Schlafzimmer, wobei er sich den 125
Morgenmantel fest um den Körper band. Er hatte seine Begierde wieder unter Kontrolle, auch wenn er noch hef tig zitterte. Er war gekränkt. Er mochte sie wirklich gerne, und es müßte ja schließlich nicht so sein, wenn sie nur etwas vernünftiger wäre . .. sich wie eine normale Frau verhalten würde. Anita hatte ebenfalls einen Morgenrock angezogen und stand seitlich vom Fenster, mit vorgestrecktem Kinn, und ließ ihn einen Blick auf den Ke rzenständer aus Zinn werfen, den sie in der linken Hand hielt, ganz Dago jetzt und bereit, ihn zu töten. »Um Gottes willen, Anita«, jammerte Carl und tupfte sich das Blut unterm Auge fort, »das hab' ich doch wohl nicht verdient.« Anita wischte sich mit dem rechten Handrücken die Nase. Ihr Busen hob und senkte sich noch immer schwer unter dem Morgenrock. »So etwas nennt man Vergewalti gung, Carl. Du miese Kröte. Ich könnte dich umlegen las sen für das, was du eben versucht hast.« Carl wischte ihre Drohung mit einer müden Handbe wegung zur Seite und setzte sich auf das Bett. »Ach, Scheiße, schließlich hat der Don mit mir gespro chen, bevor ich mitgekommen bin nach hier unten. Ich habe ihn gefragt, was wäre wenn, und er hat gesagt, ich solle dir nur nicht weh tun. Das ist alles. Er will nur nicht, daß es schlimm für dich ist, ansonsten ist er dafür, der Na tur ihren Lauf zu . . .« »Halts Maul, Carl. Er wird herkommen. Stimmt's nicht?« Carl antwortete in aller Naivität: »Der Don?« »Angel, lu säoaol« »Paß doch bitte ein bißchen auf deine Ausdrucksweise auf, Anita. Wir beiden müssen schließlich noch 'ne Weile miteinander auskommen, oder? Also, beruhige dich end 126
lieh. Es gibt für Angel beim besten Willen keine Möglich keit . . .« »Lüg mich nicht an. Mein Gott, Carl, lüg mich bloß nicht an!« Sie lief planlos im Zimmer umher und suchte nach ihren Zigaretten, fand sie und wich einen Schritt vor ihm zurück, um den Leuchter abzustellen und sich eine Filter zigarette anzuzünden. Carl sagte: »Bitte, verzeih mir, daß ich mich da drinnen so vergessen hab'.« Anita nickte beinahe teilnahmslos, Schweißperlen glit zerten noch immer auf ihrem Gesicht, sie atmete stoß weise aus, zusammen mit Wolken von Zigarettenqualm. An ihrem Hals konnte man einen schnellen Puls beob ach ten. »Anita. Honey. Selbst wenn Angel einen Weg finden würde, deinen Aufenthaltsort herauszufinden - und du kannst mir glauben, es wird ihm nicht gelingen -, selbst dann werde ich es nicht zulassen, daß er in deine Nähe kommt.« Anita preßte die Lippen aufeinander, und Tränen füll ten ihre Augen. »Du hast ja keine Ahnung, was . . . was Angel für ein Mensch ist.« »Er ist ein Mann, mehr nicht«, sagte Carl. Er ärgerte sich, daß ein paar Arschlöcher da oben in Jersey, die man für gute Leute gehalten hatte, es zugelassen hatten, daß Angel ein paar Minuten mit dem Don allein war, wo der doch ohnehin nicht bei bester Gesundheit war. »Ich habe noch keinen Mann getroffen, mit dem ich nicht auf die eine oder andere Art und Weise fertig geworden wäre. In meinem Viertel, später in der Army und dem Rest dieser gottverdammten Welt bin ich einigen begegnet. Deshalb hat der Don mich schließlich auch ausgesucht, um auf dich und Tony aufzupassen. Und für ein ganzes, beschis 127
senes Jahr habe ich mich hier mit dir in diesen beschisse nen Sumpf gehockt. Aber für mich ist es jetzt nicht mehr bloß ein Job.« Er erhob sich langsam vom Bett, ballte eine Faust und schlug damit auf den Bettpfosten aus Maha goni, ganz sanft und immer wieder. Er hatte die Augen brauen zusammengezogen und versuchte, so aufrichtig und ernsthaft zu wirken wie wohl noch nie zuvor in sei nem Leben. »Du bist nicht einfach irgend 'ne Braut für mich. Du solltest wissen, was ich für dich empfinde, für dich und den Jungen. Also, warum kannst du nicht. . .« Carl biß sich auf die Unterlippe, der Bettpfosten wackelte. »... ein bißchen lockerer werden? Anita, du mußt doch auch manchmal Lust haben . . . nach einem Jahr . . .« »Hast du dir schon mal genau meinen Rücken ange guckt?« Carl sah auf, überrascht. Worauf wollte sie jetzt hin aus? »Ja, ja. Ich hab' ihn gesehen.« Sie antwortete nicht gleich, sondern starrte ihn nur an. »Tut mir leid«, mur melte Carl, beschämt durch die Erinnerung an das, was er gesehen hatte. »Ich glaube, ich war eben wirklich ein biß chen grob . . .« »Und jetzt sperr mal deine Ohren auf, Carl! Kein Mann wird jemals mehr meinen Körper anrühren. Die Ärzte ha ben ihn zusammengeflickt, ich habe ihn wieder in Gang gebracht, und nun wird mich niemand mehr anrühren. Niemand! Hast du das kapiert?« Der frostige Klang ihrer Stimme hatte ihm jegliche Lust genommen, eine zunächst noch moderate Erektion war endgültiger Schlaffheit zwischen den Beinen gewichen. Er zuckte hilflos mit den Achseln. »Ich kann nicht verstehen, wie man so ein lausiger Liebhaber sein kann wie dieser Kerl«, sagte er und legte sich damit eine eigene Erklärung für ihre Frigidität zu recht. 128
»Angel? Das hatte nichts mit. . . Liebe zu tun. Und nach einiger Zeit kannte er nicht einmal mehr den Unterschied zwischen Sexualität und Folter. Würde es dir was ausma chen, mich jetzt allein zu lassen? Ich möchte mich anzie hen. Tony wartet auf mich.« »Fühlst du dich besser? Ich habe dich mit der Nachricht einfach so überfallen. Das hätte ich nicht tun sollen, aber . . . glaube mir, der Kerl ist zwar jetzt frei, aber sie werden ihn bald wieder geschnappt haben. Hat er nicht solche Anfälle, wo er sich nicht mehr bewegen kann?« »Das habe ich einmal gesehen«, sagte Anita ange spannt, als sei ihr etwas im Hals steckengeblieben. Sie drückte ihre Zigarette aus und lehnte sich gegen eine Wand, erschöpft und mit leerem Gesichtsausdruck. »Laß mich dir einen Kaffee bringen«, schlug Carl vor. Er wollte ihr jetzt wirklich etwas Gutes tun. »Vielleicht mit einem Schuß Grappa.Caffe corretto.« »Kaffee wäre nicht schlecht«, sagte Anita, ohne daß sich an ihrem Ausdruck etwas geändert hätte. Eine schwere Last drückte ihr auf die Stirn, zwischen die verängstigten Augen.
12. Kapitel Tony fuhr auf der Auffahrt zum Haus mit seinem Fahrrad herum, Big-Dog immer in seinem Schlepptau, als Tomlin vom Anleger heraufkam, mit Angelrute, aber ohne Fische. Er blieb neben dem Wohnmobil stehen, um auf den Sund hinauszusehen, wo ein Trio von Navy -Jägern in etwa zweitausend Fuß Höhe in Fingertip -Formation vorüber flog. Wahrscheinlich auf dem Weg nach Pensacola. Er sah ihnen nach, bis sie beinahe verschwunden waren. 129
»Was sind das für Flugzeuge?« fragte Tony hinter ihm. Tomlin drehte sich um. Der Junge hatte sein Fahrrad abgestellt. Das Modellflugzeug trug er bei sich. »F-i4. Tomcats.« »Sind die schnell?« wollte Tony wissen, während er mit seinem Flugzeug einen eleganten Sturzflug durch die Luft simulierte. »Sehr schnell, wenn sie die Nachbrenner einsetzen.« »Was ist das?« »Zusätzliche Kraftreserven. Es ist so, als würdest du dich dort drüben auf deiner Schaukel abrackern, um Schwung zu kriegen, und ich käme vorbei,und würde dir einen kräftigen Schubs von hinten geben.« Der Junge nickte. »Die Schule ist heute aber früh zu Ende«, stellte Tomlin fest. »Mom hat gesagt, ich könnte einen Tag frei machen. Ich werde ihn am Samstag nachholen. Sie fühlt sich nicht so gut.« »Tut mir leid, das zu hören«, sagte Tomlin und sah zum Haus hinüber. »Fliegst du nicht mehr?« fragte Tony. »Nein, ich kann nicht.« Tony dachte gründlich über diese Antwort nach, als enthalte sie irgendein Geheimnis. Er ließ Tomlin dieses Geheimnis. »Würdest du gerne wieder fliegen?« »Lieber als alles andere, Tony.« Der Junge setzte mit seinem Modellflugzeug zur Lan dung an, die Räder berührten den Betonfußbo den. »War das eine gute Landung?« »Du mußt die Nase deines Flugzeuges mehr nach oben halten, weil hinten ein großer Haken dranhängt und du mit sehr hoher Geschwindigkeit angeflogen kommst.« »Wofür ist der Haken?« fragte Tony, drehte sein Mo dellflugzeug um und suchte nach einem solchen. 130
»Also, da sind vier Fangseile auf dem Deck eines Flug zeugträgers. Du möchtest das dritte Seil mit deinem Ha ken erwischen, denn das ist der beste Punkt auf dem Deck. Du kommst mit etwa 150 Meilen pro Stunde, und das Seil muß dein Flugzeug auf einer Strecke von hundert Fuß oder sogar noch weniger zum Stehen bringen, ob wohl du im Moment des Aufsetzens noch einmal voll be schleunigst.« »Du bremst und beschleunigst gleichzeitig?« fragte Tony in dem Bemühen, diesen Wid erspruch zu verste hen. »Man muß Vollgas geben für den Fall, daß mit dem Seil etwas nicht stimmt oder der Haken es nicht greift, denn sonst hat man keine Chance, wieder in die Luft zu kom men. Die Maschine würde über die Seite oder den Bug schlittern, oder es würde einen bösen Zusammenstoß an Bord geben. Es stehen immer Flugzeuge herum, gleich hinter der Begrenzungslinie, und die sind mit hochexplo siven Sprengstoffen beladen.« »Was wür . . .«, wollte Tony fragen, aber Tomlin unter brach ihn mit einer Handbewegung. »Tony, ich kann dir mit Worten gar nicht beschreiben, wie das alles funktioniert. Du müßtest einmal dabeisein und sehen, wie ein Flugzeugträger Flugzeuge aufnimmt, dann würdest du das ganze System richtig kapieren. Viel leicht kann ich das mal arrangieren.« »Wie?« »Ich sagte >vielleicht<. Ich habe heute geschäftlich in Pensacola zu tun. Es könnte schwierig werden, jemanden in deinem Alter an Bord der Lexington zu lotsen, aber . .. hey . . . wo gehst du hin?« Tony war schon den halben Weg zum Haus zurückge laufen. »Ich muß es Mom erzählen.«
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Anita saß in Cordhosen und einem alten grünen Pullover auf dem Bett. Sie war barfuß. Auf dem drahtlosen Telefon wählte sie gerade die Nummer für ein Ferngespräch. Es handelte sich um ein doppelt gesichertes Relais, das über Wichita in Kansas lief, und die Verbindung dauerte nur ein paar Sekunden, war aber weder von Profis noch von den begabtesten Telefonfreaks nachzuverfolgen. Die Frau am anderen Ende der Verbindung, die sich nach vier Klingelzeichen meldete, sagte mit freundlicher Stimme: »Sieben, sechs, acht, zwei. Melden Sie sich bitte.« Ihr Akzent klang nach britischer Oberschicht, im mer wenn Anita sie sprechen hörte, dachte sie an stille, englische Gärten, dunkles Bier, Tee mit viel Milch und herrliche Marmeladen. »Waisenkind«, sagte sie. »Einen Moment, bitte.« Nach zehn Sekunden war die Frau wieder in der Leitung. »Roseanne hat am 21. Ok tober einen Jungen geboren. Man hat das Baby Michael Joseph genannt. Bei der Geburt wog es acht Pfund und zwei Unzen. Roseanne ist wohlauf. Sie hat das Baby vor gestern mit zu sich nach Hause genommen. Louis ist zum Direktor der Marketingabteilung bei Waring-Sloane be fördert worden. Die Resultate der dreitägigen physischen Untersuchung ihres Vaters zeigen, daß er in guter ge sundheitlicher Verfassung ist, sein Blutdruck hat sich um fünf Punkte gebessert. . .« »Scheiße«, sagte Anita und schniefte. Ihre Nase lief, und ein Auge tränte. Sie langte nach einem Papierta schentuch. »Wie bitte?« fragte die Dame, die sic h so englisch an hörte. »Lesen Sie mir nichts mehr davon vor. Ich will es heute nicht hören. Was ich will. . . Ich muß mit jemanden Ver bindung aufnehmen.« 132
»Ich bin nicht befugt. . .« »Hören Sie mal zu, ich muß mit Don Aldo sprechen. Oder. . . oder seinem Bruder John oder einem von Johns . . .« »Das kann ich nicht entscheiden«, erwiderte die Frau. Immer noch betonte sie die Worte äußerst gewählt und ohne den geringsten Hinweis auf eine Gefühlsbewe gung. »Es ist mir egal, was Sie . . . verstehen Sie nicht? Jetzt ist doch sowieso alles anders. Ich bin . . . ich muß wissen, was passiert, jemand muß mir mitteilen, was unternom men wird. Schließlich . . .« »Soll ich mit dem Rest der Nachricht fortfahren?« »Stecken Sie sich doch die verdammte Nachricht sonstwo . . . Verstehen Sie denn nicht? Ich habe Angst! Was ist, wenn er mich findet? Irgendwie. Ich brauche . . . Hilfe.« »Guten Tag«, sagte die anonyme Frau und unterbrach die Verbindung. Es hatte sich weder beleidigt noch be sonders freundlich angehört. Die Frau hatte nur ihren Job getan. Anita hielt das drahtlose Telefon noch immer in bei den Händen. Mit hängenden Schultern starrte sie aus dem Fenster, als Tony ins Zimmer geplatzt kam, wie ein Wasserfall redend, freudig erregt über irgend etwas. Sie schaute ihn an, lächelte automatisch, aber sie hatte erst einmal keine Ahnung, worauf er hinauswollte, bis sie in seinem Wortschwall die Worte >Flugzeugträger< und >Pensacola< ausmachen konnte und hinter Tony Clay Tomlin entdeckte, der schweigend und zurückha ltend außerhalb der Tür des Zimmers stand, das einmal das Schlafzimmer ihrer Eltern gewesen war. »O Tony. . . heute . . . ich glaube nicht. . .« »Mom! Warum nicht?« 133
Sie sah auf die Uhr, die auf der großen Regence-Kommode stand. »Es ist schon fast neun, und nach Pensacola sind es mindestens hundert Meilen.« »Clay hat gesagt, wir wären bestimmt vor Dunkelheit zurück.« Anita stellte das Telefon ab und barg das Gesicht kurz in den offenen Handflächen. »Tony, schrei bitte nicht so.« »Ich schreie nicht. Ich will dahin. Nie fahren wir ir gendwo hin.« Sie sah hoch zu Tomlin, der immer noch in der Tür stand. »Sie wären mit Ihrer Einladung besser erst zu mir gekommen.« »Ich weiß, das hätte ich tun sollen«, sagte er. »Und ich weiß auch, woran Sie eben gedacht haben. Warum kom men Sie nicht einfach mit? Sie können doch fahren.« »Fahren?« In letzter Zeit hatte sie sich nicht einmal mehr bis zum Supermarkt gewagt. Sie hatte Opal die Ein käufe besorgen lassen und ihr den Zweitwagen gegeben, einen Oldsmobile Firenza Kombi. Sie konnte sich kaum noch erinnern, wann sie das Haus zum letztenmal verlas sen hatte. Aber in ihrem Kopf pulsierte dunkles Blut. Sie wollte jetzt nicht darüber nachdenken oder über irgend etwas anderes. »Wir könnten im Offiziersclub zu Mittag es sen«, sagte Tomlin, »und wenn die Lerauf See sein sollte, werde ich mit Tony den Flughafen in Sherman Field besichtigen.« Als Anita nicht auf seinen Vorschlag reagierte, schaute er auf das Telefon in ihrem Schoß. »Sie sehen aus, als hätten Sie schlechte Neuigkeiten erfahren. Wenn es so sein sollte, entschuldigen Sie bitte, ich wollte mich nicht auf drängen.« Tony sah sich rasch nach ihm um, auf seinem Gesicht lag Bestürzung. Anita schüttelte ganz gegen ihren Willen den Kopf und sagte: »Nein, nein.« Sie wunderte sich 134
selbst darüber, daß sie so einfach lügen konnte, aber noch mehr wunderte sie sich darüber, wie sehr es sie erleich terte, daß Tomlin hier war. Auf keinen Fall wollte sie, daß er wieder ging. Und wenn, dann wollte sie verdammt noch mal mit ihm gehen. Die Alternative am heutigen Tag wäre Carl, und der war um so aggressiver, als er jetzt einen Grund hatte, auf der Hut zu sein. Carl würde um sie herumlungern, und vielleicht, wenn sie einen schwachen, verletzlichen Moment hätte, würde er das Spielchen von vorne beginnen, denn das war seine Antwort auf alle Pro bleme: Bist du einsam und allein, bringt deine Angst dich beinahe um den Verstand? Laß dich von mir ficken. »Nein . . . ich bin nur mit so furchtbaren Kopfschmer zen aufgewacht, aber . . . Pensacola .. . das hört sich gar nicht so schlecht an.« »Prima!« rief Tony, aber dann, als er den gequälten Ausdruck auf dem Gesicht seiner Mutter sah, trat er einen Schritt zurück. »Tut mir leid, Mom.« »Ist schon in Ordnung, Tony. In den ausgefransten Shorts kannst du nirgendwo hinfahren. Geh und zieh dich um. Die neuen Turnschuhe, Khakihose und Flanell hemd. Es ist nicht so besonders warm draußen.« Anita sah an ihrem eigenen, schäbigen Pullover herunter. »Und ich kann so auch nicht gehen, oder?« Sie sah Tomlins Blick und stellte fest, daß er offensichtlich überhaupt keine Ein wände gegen die nackten Füße und die zerzausten Haare hatte. »Lassen Sie uns zwanzig Minuten Zeit, Clay. Wir treffen uns dann unten.« »Hört sich an, als hätte ich das große Los gezo gen«, sagte Tomlin und trat zur Seite, als Tony auf dem Weg in sein Zimmer an ihm vorbeischoß. Carl war an Bord seiner Davis -Motorjacht, die auf den Namen Lollapalooza getauft war. Er hatte kleinere Arbeiten 135
im Maschinenraum zu tun - der automatische Feuerlö scher und die unzähligen Armaturen, Filter und Meß stäbe bedurften ständiger Überprüfung -, als Tonys Stimme gegen den Südostwind, der innerhalb der vergan genen Stunde stärker geworden war, zu ihm herüberge tragen wurde. Carl war sich nicht sicher, aber vielleicht hatte der Junge nach ihm gerufen. Er quetschte sich durch die enge Öffnung unter einer hochgeklappten Stufe der Treppe zum Cockpit und sah gerade noch, wie Anita sich hinter das Lenkrad des weißen Corvette setzte. Clay Tom lin saß auf dem Beifahrersitz und hatte den Jungen auf seinem Schoß, und bevor Carl über die Reling setzen konnte, um herauszufinden, wo sie alle hinwollten, wa ren sie schon verschwunden. Was war das jetzt wieder für ein Quatsch? Und kein Wort zu ihm. Nun, vielleicht hatte Anita ihm einen Zettel hingelegt. Am meisten ärgerte Carl sich darüber, daß sie mit Tomlin zusammen war. Jagdflieger. Er war nicht so ein Angeber wie so viele von den Typen, aber er hatte diese beneidenswerte Gelassenheit, die ein Mann wohl erst erwarb, wenn er seinen Arsch so oft aus der Scheiße hatte ziehen müssen, daß er das Mitzählen aufgegeben hatte. Carl glaubte eigentlich nicht, daß Anita weglaufen wollte. Er hatte sie noch mehr als eine halbe Stunde lang bearbeitet, heute morgen, und sie h atte nur schweigend dagesessen und ihren Frühstückskaffee geschlürft, asch fahl, mit finsterem Blick, wie eine zum Tode Verurteilte. Aber es war ihm gelungen, ihre Lebensgeister wenigstens etwas wiederzuerwecken. Er hatte sie überzeugt, daß An gel zwar gefährlich sein mochte, daß er aber letztlich nur ein Ausbrecher auf der Flucht war, ohne große Unterstüt zung, auf die er hätte zählen können, ohne Freunde, ver stoßen von der Familie. Und wenn ihn das nicht aufhalten würde, dann könnte es nur eine Frage der Zeit sein, bis 136
einer seiner katatonischen Anfälle ihn zu einem Denkmal erstarren ließe und er somit eine leichte Beute für die Cops wäre. Und in der Zwischenzeit wären Anita und Tony hier in ihrem Versteck sicherer als in Abrahams Schoß. Schließlich wüßte nicht einmal ihr eigener Vater etwas über ihren Aufenthaltsort. Carl war sich sicher, daß nicht einmal das FBI mit seinen professionellen Spürhun den sie hier aufstöbern würde. Da dürfte Angel nicht die kleinste Chance haben. Aber immerhin hatte er bewiesen, wie gut er verschlossene Türen zu öffnen wußte. Nach seiner ersten Flucht war er Anita sogar bedrohlich nahe gekommen, während sie noch hilflos im Krankenhaus ge legen hatte. Daraufhin hatte der Don sich für undurch dringliche Sicherheitsmaßnahmen entschieden. Für Anita und Tony wäre alles einfacher und sicherer gewesen, wenn er Angel ganz einfach zum Abschuß freigegeben hätte, aber immerhin war der Junge Fleisch von seinem Fleisch. Vielleicht hatte Don Aldo inzwischen Grund, seine Nachsicht zu bedauern. Etwas später am Vormittag fuhr Carl mit seinem Boot hinaus, aber nicht, um zu angeln. Auf dem seichten Sund herrschte eine leichte Brandung, aber er schnitt ohne gro ßes Schlingern hindurch. Das siebenundvierzig Fuß lange Boot, das der Familie gehörte und mit allen Schikanen, der starken Maschine und den elektronischen Einrichtun gen über eine halbe Million Dollar gekostet hatte, war nicht nur für die Bedürfnisse von Sportfischern gebaut worden. Die Lolly kam mit ihrem sechzehn Fuß breiten Vorschiff und dem Rumpf aus Fiberglas, der noch durch Divinycell und Kevlar verstärkt war, auch in rauher und schwerer See zurecht. Er war mit ihr schon bis Padre Is land hinausgefahren, und für das nächste Frühjahr erwog er sogar einen Trip in die erstkla ssigen Fischgründe vor Costa Rica. Zur Zeit aber durfte er sich natürlich nicht zu 137
weit von zu Hause entfernen, jedenfalls so lange nicht, bis Angel entweder tot oder sicher hinter Schloß und Rie gel wäre. Der Tag war immer noch sonnig, aber über dem südli chen Himmel hatten sich bereits dicke Kumuluswolken zusammengezogen. Die Wetterstation in Biloxi hatte für den Nachmittag Wind bis zu einer Geschwindigkeit von fünfundzwanzig Knoten vorhergesagt und Regen für den Abend. Carl hörte im Lauf der beiden Ö25er Dieselmoto ren keinerlei Störungen oder Unregelmäßigkeiten. Mit mäßiger Geschwindigkeit folgte er den Seezeichen zwi schen Hörn und den Petit -Bois-Inseln, dann drehte er nach Steuerbord ab, weg vom Wind. Im tieferen Wasser jagte er jetzt mit dreißig Knoten den Chandeleur-Inseln entgegen. Er ankerte leewärts, so blieb sein Horizont frei von Schiffen oder kleineren Booten. Er ging hinunter in den Salon und öffnete die hölzerne Tür zu einer Vorratskam mer neben der L-förmigen Couch. Seine Schießeisen hatte er in einem doppelten Boden eines dieser Vorrats schränke versteckt, sauber verpackt in flachen Alumi niumschachteln. Er trug sie, zusammen mit einem Beutel für Schrothülsen, der aus Fallschirmstoff genäht war, hin auf in das Cockpit. Dort stellte er die leeren Clorox-Flaschen auf, die er für seine Schießübungen gesammelt hatte, und legte zwei der Waffen neben sich, ein hochmo dernes, automatisches Schrotgewehr vom Kaliber 12, ge nannt >Jackhammer<, und ein konventionelleres, acht schüssiges Benelli-Sturmgewehr, das mit einem Rück stoßpolster ausgerüstet war. Er lud das austauschbare, zylinderförmige Plastikmagazin des Jackhammers mit grobem Schrot, warf zwei der Flaschen mit den rot-weißblauen Aufklebern über Bord und zertrümmerte sie, nachdem sie weit genug vom Boot weggetrieben waren, 138
mit zwei schnellen Schüssen aus dem Zwölf -Zoll-Lauf. Die groben Kugeln ließen viel Gischt aufspritzen. Die Möwen, die in diesen Gewässern um jedes auch noch so kleine Boot herumflatterten, waren auf de r Stelle ver schwunden. Ein ohrenbetäubender Knall echote über das Wasser. Carl war selber so verblüfft über die geballte Feu erkraft, die er da in seinen Händen hielt, daß das Blut ihm bis in die Haarspitzen schoß. Dieser grobe Schrot hatte zu große Durchschlagskraft für Auseinandersetzungen im Haus, die Kugeln würden getäfelte Wände auf kurze Ent fernung glatt durchdringen. Standardschrot von der Größe 4 oder 6 wäre völlig ausreichend, wenn man die Fä higkeit des Jackhammers zu Schnellfeuer in Betracht zog. Er würde die Benelli an Bord des Bootes lassen und den Hammer im Haus unter seinem Bett verstecken, mit der Detonics p-mm-Automatik als Unterstützung. Die alte Mac, eine von den guten, zuverlässigen Waffen, hatte er in einem Geheimfach in seinem Aut o versteckt. Du kannst also ruhig kommen, Angel, du verrückter Scheiß kerl. Ich bin bereit für dich, wenn du überhaupt das Zeug haben solltest, soweit zu kommen.
13. Kapitel Er ging von der Bergenline Avenue etwa eineinhalb Blocks in östlicher Richtung. Ein kalter, staubiger Wind blies ihm ins Gesicht, die Skyline von Manhattan auf der anderen Seite des Flusses spiegelte den herbstlichen Son nenuntergang in solch feurigen Farben, daß er an das Buch Jesaja erinnert wurde (30.27,30) und während er darüber nachdachte, fielen ihm auch noch der 9. Vers der Offenbarung und Zephanja ein. Er trug eine billige 139
schwarze Windjacke, die er vor einem Laden auf der Up per West Side von einem Ständer genommen hatte, als vor ein paar Stunden die Temperaturen zu sink en began nen. Neun Dollar hatte er dafür bezahlen müssen, das war der Großteil des restlichen Geldes, das ihm von den ein undfünfzig Dollar geblieben war, die er der Frau aus dem Portemonnaie gestohlen hatte, die er im Norden des Staa tes New York umgebracht hatte. Jetzt besaß er nur noch drei oder vier Dollar, aber um Geld machte er sich keine Sorgen und um etwas anderes auch nicht. Er war ein we nig müde. Den ganzen Tag hatte er damit verbracht, durch die Straßen zu laufen und den Mann zu finden, den er hier in Union City jetzt endlich aufgestöbert hatte. Aber wenn er sich erst einmal an die Arbeit gemacht hätte, wäre die Müdigkeit, die Abgespanntheit, die ihm gefährlich werden könnte, wenn er nicht aufpaßte, sicherlich bald wieder verflogen, Siebenundvierzigste Straße Nummer 216. Nicht gerade die schlimmste Straße in der Stadt und auch nicht das schlimmste Haus des gesamten Blocks. Nach allem, was er bis jetzt gesehen hatte, schien es sich zu großen Teilen um ein ethnisches Viertel zu handeln: Bodegas und Schweinemetzgereien, Frauen mit goldenem Haar und rubinroten Lippen, bleiche Männer, die kleine, goldene Ohrringe trugen und schmale Oberlippenbärtchen, und die ihre Umwelt mit flinken, mißtrauischen Blicken im Auge behielten. Er stieg die Eingangsstufen hinauf, vorbei an einer al ten Frau, die ein quengelndes Baby im Sportwagen spa zierenfahren wollte, fand den Namen auf dem Briefka sten, stellte fest, daß der Riegel der inneren Eingangstür zerbrochen war, hörte ein lautes Radio plärren und noch lautere Stimmen. Er stieß die Tür auf und trat in das Haus. Vier junge Leute lungerten auf den Stufen der Treppe 140
herum. Zwei Mädchen und zwei Jungen. Die tragbare Stereokiste stand wie eine Straßensperre quer auf der zweiten Treppenstufe. Er blieb stehen, die Hände tief in den Taschen seiner Windjacke vergraben. Darunter trug er ein ausgebleichtes Flanellhemd, ungebügelte, blaue Drillichhosen und abgenutzte, hohe Arbeitsstiefel. Er war kein großer Mann, aber er war stämmig. Sie hatten ihn beim Eintreten beobachtet, und da sie ihn nicht kannten, da sie ihn noch nie zuvor gesehen hatten, würde er für die Tatsache seiner bloßen Existenz um Entschuldigung bit ten müssen, wenn er vorbei wollte. Angel wartete und hörte der schwerverdaulichen RapMusik zu und dem dazugehörigen Sprechgesang, dessen Worte er nicht verstand. Die Mädchen, nicht älter als vier zehn oder fünfzehn, die eine sehr schlank und hübsch, die andere bereits mit Fettpolstern auf den Hüften, trugen beide ihr Haar in grob toupierten Strähnen, z urückgehal ten von Haarbändern, und bedachten ihn mit dunklen, schmollenden Blicken. Die Jungen waren schlaksige Kerle mit flaumig behaarten Oberlippen und feuchten, zynischen Augen. Ihr zur Schau getragenes Desinteresse an seinem Erscheinen wirkte immer mühevoller, das Ver gnügen an seiner vermeintlich mißlichen Lage fiel immer mehr in sich zusammen, je länger er einfach dastand und sie ansah, weder verängstigt und servil, eigentlich zeigte er überhaupt kein Gefühl, er stand einfach nur da und sah sie an, mit unerschütterlichem Blick und ohne mit der Wimper zu zucken, seine Augen hatten im schummrigen Licht des Treppenhauses und des untersten Flurs einen dunklen, bernsteinfarbenen Glanz, der ihnen in einem menschlichen Gesicht ganz und gar nicht geheuer v or kam. Eines der Mädchen drückte eine Zigarette aus und ver langte nach einer neuen, und, während man ihr Feuer gab, 141
bedachte sie Angel mit vier, immer wieder unterbroche nen Blicken. Der größere der beiden Burschen, der einen flotten Borsalino trug und eine nietenbeschlagene Leder jacke, veränderte seine Position auf der Treppe mehrere Male. Er blickte finster, als mache er sich innerlich auf et was gefaßt, aber er sah Angel nicht direkt an, der nur einen halben Meter entfernt stand. Das Gespräc h, das zwischenzeitlich verstummt war, gewann wieder an Schwung, aber die beiden Mädchen schienen sich nicht wohl in ihrer Haut zu fühlen. Sie lachten zu oft, die fülli gere von den beiden hatte die Arme locker um ihren Freund gelegt, den sie wohl als Sch utzschild benützen wollte, während sie versuchte, Angels Blick auszuhalten. Sie waren beleidigt. Er hatte nichts getan, hatte noch nicht einmal das Maul aufgemacht, versuchte nicht, sie anzu stänkern, und trotzdem hatte die Spannung sich hier, in der dichtbevölkerten Zone am Treppenabsatz, bis ins Un erträgliche gesteigert. Ihnen fielen keine Provokationen mehr ein, die Angel außerdem gar nicht zu kapieren schien, und er schien auch nicht gewillt zu sein, sich kleinlaut davonzuschleichen. Jetzt blieb ihnen nur noch die Möglichkeit, sich seiner durch die pure Kraft ihres bö sen Willens zu entledigen. Vier Augenpaare gegen eins. Die Andeutung eines höhnischen Grinsens spielte um die Lippen des großen, kubanischen Jungen. Dann sagte der Engel des Todes zu ih nen: »Habt ihr mich lieb?« Das Radio spielte weiter Rap ohne Ende. Der andere Junge versuchte zu lachen, aber es wurde nicht viel dar aus. Jetzt waren sie auch nicht mehr fähig, sich gegensei tig anzuspornen oder auch nur verächtliche Gesichter zu ziehen. Diese gefühllose, verrückte Frage hatte ihren na türlichen Trotz, ihre Verachtung für jeden, der nicht zu 142
ihrer festen, kleinen Gruppe gehörte, wie ein Kartenhaus zusammenfallen lassen. Das jüngere, hübschere Mädchen stand langsam auf, Angel dabei nicht aus den Augen lassend, und lehnte sich gegen das Treppengeländer. Der Typ mit dem Borsalino schob das Radio zur Seite. Er wirkte weder besorgt noch eingeschüchtert, höchstens überdrüssig des sinnlosen Spiels. Nur seine Augen waren etwas wacher, er beobach tete Angel aufmerksam, denn der hatte die Hände auf merkwürdige Weise in den Hosentaschen vergraben. Das Mädchen mit den fülligen Hüften gab ihrem Freund einen Stoß, und mit einem kaum hörbaren, gereiz ten Seufzen erhob sich auch er und ging hinüber auf eine Seite des Flurs. Angel ging an ihnen vorbei die Treppe hinauf, ganz ohne Eile. Obwohl er sie nicht berührte, fühlte sich das Mädchen am Treppengeländer wie elektrisiert, als Angel vorüberging, als habe die Hölle sich aufgetan. Es krib belte sie am ganzen Körper. Es gab keine vorlauten Be merkungen hinter seinem Rücken. Sie starrten ihm nur nach, bis er nicht mehr zu sehen war. (Eine Woche später, nachdem der penetrante Geruch aus dem Apartment 48 die Cops auf den Plan gerufen hatte, tat das hübsche, kubanische Mädchen ihr Bestes, um eine Beschreibung von Angel abzugeben, und der Wirkung, die seine Worte >Habt ihr mich lieb?< auf sie ge habt hatten. »Sie hätten ihn selber hören müssen, wie er es sagte, sonst können Sie es nicht verstehen. Aber wenn Sie ihn gehört hätten, Mann, dann wäre auch Ihnen nichts Besseres eingefallen, als ihm den Weg freizumachen. Mit so einem hätten Sie nicht einmal im selben Gebäude stek ken mögen. Er hat den Dandy in 46 umgebracht? Es war eigentlich nicht sein Aussehen, aber als er an mir vorbei ging, machte er mir so ein Gefühl, als könnte er unter 143
wegs sein, um jemandem den Garaus zu machen, und ich wollte bestimmt nicht sein Opfer sein.«) Im vierten Stock blieb Angel vor Apartment B stehen und drückte auf den Klingelknopf. Nach ungefähr einer Minute bemerkte er, daß ihn jemand durch das Guckloch beobachtete, dann wurden mehrere Riegel zurückgescho ben und die Tür geöffnet. »Dachte schon, du wärst verlorengegangen. Komm rein. Es hat lange gedauert. Wo hast du dich rumgetrie ben?« Er war eine traurige Gestalt mit herunterhängenden Schultern und dicken, schmutzigen Brillengläsern. Sein Name war Paul Baldric. Angel ging an ihm vorbei in den Vorraum und sagte: »Ich bin aufgehalten worden.« Bal dric kicherte, als fühle er sich dazu aufgefordert, aber er konnte den Doppelsinn der Bemerkung nicht verstanden haben. Er schloß die stahlverkleidete Tür wieder und spulte die tausendmal eingeübten Bewegungen des Zu sperrens ab, bevor er Angel in das Wohnzimmer führte, in dem es aussah wie auf einem Trümmerfeld: Die Möbel waren in einem heruntergekommenen Zustand, der Tisch war übersät mit dreckigem Geschirr, ein Fernseher stand herum, dessen Bild immer wieder durchfiel. Baldric be eilte sich, den Fernseher abzuschalten. »Wollte das Ding schon immer mal reparieren lassen. Kennst du dich aus mit Fernsehern?« »Nein.« Baldric wandte sich zu Angel um und rieb die Handflä chen gegeneinander wie jemand mit zu niedrigem Blut druck. Dabei konnte er kaum älter als fünfunddreißig Jahre sein, und es war auch nicht besonders kalt in seiner Wohnung. Er hatte eine rote, wundgeschnäuzte Nase, an sonsten besaß er die Blässe derjenigen, die selten an der frischen Luft sind. 144
»Du hast am Telefon etwas von einem Problem erwähnt. Wie kann ich dir helfen?« Eine leichte Betonung des Wor tes du mochte ein Hinweis auf Unterwürfigkeit sein. »Ich muß einen Computer ausfindig machen«, antwor tete Angel. »Bereich etwa North Jersey.« »Das engt den Kreis immerhin beträchtlich ein.« Bal dric nickte eifrig. »Sie müssen den Sicherheitscode geändert haben, aber das System ist von mir selbst entworfen. Wenn ich einmal am Log-On vorbei bin, kann ich ihn knacken.« Baldric ging einen Schritt zurück, aus dem Händerei ben wurde ein Händeringen. »Hört sich kompliziert an. Ist das vielleicht so wie bei AT&T? Da könnte ich Schwie rigkeiten bekommen. Das FBI ist mir wegen der Hackerei schon mal schwer aufs Dach gestiegen, und dabei hatte ich nicht einmal kommerziellen Profit daraus gezogen. Aber diese Systemanalytiker im Raketenzentrum hatten so gar keinen Sinn für Humor.« »Du wirst keine Schwierigkeiten bekommen.« Baldric schniefte. Ihm lief die Nase. In einer Tasche der Strickweste fummelte er nach einem durchgeweichten Kleenex. »Also gut. Komm mit.« Er führte Angel - vorbei am Schlafzimmer, das leer war bis auf eine dreckige Bettrolle am Boden - zu einer Tür, die ebenso hermetisch verriegelt war wie die Eingangstür. Er schloß die Tür zu seiner Hacker -Werkstatt auf und schaltete die Leuchtstoffröhren unter der Decke ein. Im Gegensatz zum Rest der Wohnung war der Raum säuber lich aufgeräumt. Er stand voll mit schimmernden und funkelnden Computer-Komponenten, Ausdrucke und Handbücher waren auf Stahlregalen gestapelt. »Ich habe alle peripheren Einheiten, die du brauchst«, sagte Baldric. »Fernschreiber und einen High -SpeedDigital-Analysator.« 145
»Sieht nicht schlecht aus«, meinte Angel anerkennend. »War wohl nicht billig.« »Weißt du, ich habe ein paar Monate bei Disney einge legt, im digitalen Rechenzentrum von ihrem neuen Park. Da hab' ich 'ne Menge auf die hohe Kante legen können. Es gibt keinen, der bessere Codes schreiben kann als ich, Anwesende mal ausgenommen, aber in einer kontrollier ten Arbeitsumgebung komme ich nun mal nicht so gut zurecht. Das ist das Problem mit uns alten Hackern, wie? Vielleicht könnte ich dir zur Hand gehen. Ich habe gehört, du sollst der Beste sein, wenn es um's Verstecken von Programmen geht.« »Sicher«, sagte Angel, und nach einem erneuten Blick in die Runde, »kann ich mal dein Bad benutzen?« »Da, über den Flur.« Baldric ging voran zum fensterlo sen Badezimmer und langte nach der Kette für das Dek kenlicht. Während er auf Zehenspitzen stand, machte An gel zwei schnelle Schritte, ließ die Klinge seines Klapp messers herausschnellen, verriegelte sie und stellte sich hinter Baldric. In ihm war nicht mehr Gefühl als in jeman dem, der vorhatte, eine Fliese einzuzementieren, Angel verpaßte Baldric einen tiefen Schnitt auf der Rückseite des Halses, und als Baldric stöhnend über dem hohen Ba dewannenrand zusammenbrach und versuchte, mit einer Hand, die unkontrolliert zitterte, die Wunde zu erreichen, stieß Angel ihm die Klinge bis zum Heft in den Rücken, gleich neben dem rechten Schulterblatt, genau im richti gen Winkel, um eine Herzkammer genau zu durchste chen. Er zog das Messer wieder heraus und legte es auf dem Waschbecken ab, dann packte er Baldric bei den Fuß gelenken und stieß ihn in die Badewanne. Während Angel Wasser in die schmierige Wanne lau fen ließ, säuberte er die Messerklinge. Baldric setzte sich noch einmal auf. Sein Kopf wackelte wie der eines Säug 146
lings. Als sein durchstochenes Herz zu flattern begann, wurde Baldric von schüttelfrostartigen Krämpfen ge schüttelt und starb, während Angel gerade ausgiebig i n die Kloschüssel urinierte. Nachdem er die Spülung betä tigt hatte, zog Angel den Duschvorhang um die ganze Ba dewanne herum und drehte das Wasser auf, damit das Blut abfließen konnte. Dann ging er hinüber in Baldrics Hacker-Werkstatt und setzte sich vo r den Computer, einen 4-Megabyte-IBM-Klonen. Er schaltete die Ma schine ein und saß eine Weile lang nur da, die Hände auf der Tastatur, schaute auf das Funktionslämpchen und lauschte dem Summen. Der Monitor war noch immer dunkel, konnte ihm noch keine Geh eimnisse verraten. Aber wenn man ihm genug Zeit ließ, dann würde er alles herausfinden, was andere Menschen ihren Maschinen anvertraut hatten. Er war jetzt zur Gottheit seiner wahren Leidenschaft vorgedrungen, zur Quelle seines Hungers. Aber da war noch etwas in seinen Nasenlöchern, ein Duft nach Parfüm, nach Mädchenfleisch, verbunden mit dem Bild der Kubanerin mit den dunklen Augen und den auf regend jungen Titten. Als er vorhin auf der Treppe an ihr vorbeigegangen war, hatte sein eigenes Fleisch einen un auslöschbaren Flecken abbekommen, einen kräftigen Spritzer ihrer sündigen Ausdünstungen. Die Gewalt sei ner Erektion verursachte ihm beinahe Übelkeit, und das gerade jetzt, wo er nichts dringender gebraucht hätte als einen klaren Kopf, um sich sicher auf dem unendlich wei ten Feld der elektronischen Datenverarbeitung bewegen zu können, dieser universellen Maschinerie, die in seinen Fingerspitzen begann. Er wußte schon seit Jahren, daß es bei seiner Intelligenz, bei seinem Wissen über Schalt kreise, über Algorithmen und zusammengesetzte Bau teile möglich sein müßte, seinen Verstand für immer mit dem Universum des Silicons zu verschmelzen und Ge 147
heimnisse zu entdecken, von denen ein einzelnes menschliches Gehirn sich gar keine Vorstellungen ma chen konnte. Er hatte wichtige Arbeit zu verrichten, aber hier gab es (wieder einmal) diese unwillkommene Ablen kung, die Begierden des Fleisches. Fleisch, von dem er wußte, wie billig es war, so billig wie Dreck auf der Straße, verderblich und letzten Endes immer mit Enttäu schungen verbunden. Das Geheimnis, das er noch nicht hatte enthüllen können, trotz zahlloser, orgiastischer Ausschweifungen, an denen er teilgenommen hatte, war das Mysterium der lähmenden Anziehungskraft des Flei sches. So viele Sünder gab es auf der Welt. Immer hatte er ihnen seine Frage gestellt, aber er hatte ihre Antwort gar nicht abwarten müssen, ihr Fleisch hatte für sie geantwor tet. Sie alle hatten ihn geliebt. Männer und Frauen waren verrückt nach ihm. Aber kein Mann hatte die Zeit, so viele Sünder, wie zum Beispiel diese kleine Kubanerin, auszu merzen, obwohl es ein befriedigendes Gefühl war, wenn die Flecken, die sie auf ihm zurückgelassen hatten, durch ihren sterbenden Atem fortgewaschen wurden. Sein Problem, das hatte er irgendwann einmal erkannt, bestand im Ursprung des allerersten Makels, desjenigen, der ihn vor allen anderen befleckt hatte und der deshalb so schwer zu entfernen war. Einige nannten es Sünde, aber er wußte einen besseren Namen. Die Antwort auf sein Problem, wie auch all die anderen Antworten auf Fra gen, die er jetzt noch nicht einmal zu stellen in der Lage war, lagen im unendlich weiten Herzen dieser Maschine. Jetzt schaltete er den Monitor ein und tippte ein einzi ges Wort in die Tastatur, den Namen der Frau, durch de ren Tod er für immer von den Sünden der Wollust gerei nigt werden würde: ANITA 148
14. Kapitel Die Lexington hatte seit ein paar Tagen im Hafen gelegen, weil dringende Reparaturen durchgeführt werden muß ten, deshalb bekamen Clay Tomlin und seine Gäste die Erlaubnis, für eine Besichtigungstour an Bord zu gehen. Er schien beinahe mit jedem einzelnen auf freundschaftli chem Fuß zu stehen, der in der Pensacola Naval Air Sta tion, wo die Piloten der Navy und der Marines trainiert wurden, was zu sagen hatte. Seit mehr als hundert Jahren gab es Tomlins bei der U.S. -Navy. Drei von ihnen hatten Annapolis absolviert. Aber es schien ihm vorherbe stimmt, der letzte in dieser Reihe zu sein. Er war jetzt drei undvierzig und hatte weder Frau noch Kind. Das Deck des Flugzeugträgers war kleiner, als Anita es sich vorgestellt hatte, und sie hatte kurz hinter der Flug feldbegrenzung schon eine der Maschinen entdeckt, die er einmal geflogen hatte, eine A-y. Sechzigtausend Pfund Flugzeug, und das alles mußte zu einem plötzlichen Halt gebracht werden, nachdem es mit einer Geschwindigkeit von zehn Fuß pro Sekunde aus dem Himmel gefallen war. Er hatte das immer und immer wieder durchexerziert, bei Tag und bei Nacht, so manches Mal unter furchtbaren Be dingungen, bei Regen, ohne Horizont, bei stürmischer See, die selbst den gewaltigsten Träger ins Schlingern und Rollen bringt. Alle Nachtlandungen hatten einen be sonders hohen Streßfaktor (er erklärte das nicht näher, aber sie konnte es sich auch so vorstelle n: Man sog den Pilotensitz durch das Arschloch hoch, bis er einem bei nahe quer im Hals steckte). Ein paar rote Lämpchen, an denen man sich orientieren konnte, ein Lichtkreuz, das sie die >Bulette< nannten, und das anzeigte, ob man noch auf Kurs war oder kurz davor, in die Aufbauten des ver dunkelten Flugzeugträgers abzusegeln. 149
Ängstlich? So etwas wie eine routinemäßige Landung auf dem Deck eines Flugzeugträgers gab es nicht, nicht einmal an einem strahlenden Sonnentag, einer >CaseOne<-Landung, bei welcher der Pilot vollständigen Sicht kontakt mit dem Deck hat. »Weil wir von den verschie densten Operationen kamen, manchmal mit gerade eben genug Treibstoff, um noch einen Durchstarter rauszu drücken, wenn etwas an Bord nicht in Ordnung war. Und die Crew an Deck hatte ständig irgendwelche Problem chen mit den Fangseilen, den Haken oder dem Flugzeug, das gerade vor dir gelandet war. Normalerweise wartete ich mit zig anderen Maschinen auf Abruf. Toms, Cor sairs, alle mußten sie landen und dann schnell und mit äußerster Präzision aus der Landebahn geschafft wer den.« Sie befanden sich auf dem Heck der Lexington. Tony hatte sein Corsair -Modell dabei. Tomlin zeigte nach Backbord hinaus. »Dort draußen, etwa eine dreiviertel Meile weit, setzt du zu diesem Abenteuer an, Tony. Die Anflugskontrolle des Flugzeugträgers übergibt dein Schicksal in die Hände des Signaloffiziers an Deck, der etwa dort steht, wo wir jetzt stehen. Er hat Verbindung mit dem Boß auf der Brücke und mit deinem Flugzeug. Er muß selber Pi lot sein, damit er alles erkennt, was zu einem falschen An flug führen könnte. Der LOS hat die Möglichkeit, dich landen zu lassen oder dich abzuwinken. Er sieht genau, ob du nach rechts oder links vom richtigen Kurs abge driftet oder auf dem Gleitweg bis t, und er weiß auch ge nau über deine Geschwindigkeit Bescheid, weil unter der Nase des Flugzeugs drei Lampen montiert sind. Die glei chen drei Anflugslichter befinden sich auch im Cockpit der Maschine.« »Du hast sie mir gezeigt.« 150
»Stimmt. Die rote Lampe bedeutet, daß du zu schnell reinkommst, grün heißt zu langsam. Wenn die bernstein farbene Lampe aufleuchtet, hast du die richtige Ge schwindigkeit. Dann arbeitest du dich an den Träger heran, der sich immer von dir wegbewegt. Meistens ist es ein Sichtanflug. Du flatterst im richtigen Trott herunter, fährst den Haken aus und bist unten. Zum Nachdenken hast du gar keine Zeit, so schnell geht das alles. Und trotz dem verfällst du nie in Routine. Ich habe Piloten gekannt, die hatten Hunderte von Starts und Landungen hinter sich, und trotzdem kam der Tag, an dem sie es nicht mehr machen konnten. Da gab es einen jungen Burschen in meiner Schwadron in Vietnam, der kam eines Morgens heraus zu seinem Dienst. Er ging einmal um das ganze Flugzeug herum, dann verließ er das Deck wieder, mit dem Helm in der Hand. Er sah 'n bißchen verwirrt und verloren aus, schüttelte einfach mit dem Kopf und sagte: >Das war's dann wohl.<« »Hatte er Angst?« »Ich glaube nicht, daß Angst das richtige Wort ist. Heutzutage nennt man so etwas ausgebrannt sein<. Er hatte einfach das Zutrauen zu sich verloren oder seinen Fluginstikt. Aber ich war froh, daß er nicht versucht hat, es zu erzwingen. Dann hätte er womöglich Mist gebaut und seinen Co-Piloten mit in den Tod gerissen. In eines dieser Flugzeuge zu steigen, und das Tag für Tag auf einer Kreuzfahrt von sechs bis neun Monaten, das muß für dich das Allergrößte sein, das Einzige, für das es sich zu leben lohnt. Du mußt ihn brauchen, diesen Rausch, sich vom Heck eines Flugzeugträgers in die Luft zu katapultie ren und mit fünfhundert Knoten flach über das Meer zu jagen.« Anita sah sein Gesicht und die Begeisterung in seinen Augen. Sie versuchte sich vorzustellen, wie er wohl in 151
zehn Jahren über das alles reden würde. Immer noch so? Sie glaubte es eigentlich nicht. Immerhin steckte doch mehr von einem Mann in ihm als von einem kleinen Jun gen, er würde eine andere Befriedigung finden. Für alles Schlechte, das einem im Leben widerfährt, gibt es irgendwann et was Gutes zum Ausgleich, dachte sie. Während der vergan genen drei Jahre hatte sie allerdings genau die entgegen gesetzte Philosophie vertreten. Vielleicht sollte man von >Anitas erstem (überarbeiteten) Lehrsatz< sprechen. Sie sah auf ihre Uhr. Es war genau einundzwanzig Minuten und siebzehn Sekunden nach drei, der Tag war irgendwie ziemlich trübe und der Wind zu kühl, als daß man es lange hier draußen auf Deck ausgehalten hätte. Es wäre mal interessant, sich des Augenblicks bewußt zu sein, in dem einem klar wird, ohne auch nur d en geringsten An flug eines Zweifels, daß man sich in einen Mann verliebt hat. Das Traurige an der Sache war, daß sie selbst keinen Einfluß darauf hatte. Anitas zweiter Lehrsatz: Alle guten Dinge kommen zu ihr, die darauf wartet, ein bißchen zu spät. Nicht nur Piloten können ausgebrannt sein. Als sie sah, daß Tony müde und nicht mehr sehr auf nahmefähig war, sagte sie mit ein wenig Bedauern: »Es war ein wunderschöner Ausflug, Clay, aber ich denke, wir sollten langsam an die Rückfahrt denken.« Tony protestierte, schließlich hatten sie noch nicht ein mal die Zwischendecks gesehen, wo sich die Hangars be fanden. Tomlin versprach ihm, noch einmal mit ihm her zukommen. Er trug Tony vom Schiff herunter, und als sie das Auto erreichten, war der Junge auf seinen Arm bereits eingeschlafen. Sie sprachen nicht viel auf der Heimfahrt, hörten Kasset ten an, während Tony schlief und Tomlin ihn in den Ar men hielt. 152
Die Musik, die er gerne hörte, war Country (aber nicht viel von dem, was nach 1970 aufgenommen worden war, als sie auf der Music Row in Nashville angefangen hatten, Freizeitanzüge aus Polyester zu tragen und nur noch an die Top Forty zu denken), Cajun und Gospel. Aber am al lerliebsten hatte er den Blues, den Down Home Blues, der seine Wurzeln in den Negersiedlungen, den Spielhöllen und auf den Sklavenplantagen des Mississippi -Deltas hatte. Anita lauschte der Musik von Robert Johnson, Blind Lemon Jefferson, Sid Hemphill, Sonny Terry. Sie hörte den selbstgebauten Instrumenten zu, teilweise mit nicht mehr als einer Saite, die geheimnisvoll schwirrten und näselten, beinahe wie eine indische Sitar, sie ver nahm den mitreißenden, abgehackten Klang der Mund harmonikas und heulende akustische Gitarren, deren Sound durch die abgebrochenen Hälse von Whiskyfla schen produziert wurde, mit denen man über die Saiten streichelte. Your daddy was a preacher, your mama was an alley cat. Die sentimentalen Texte waren von einem hinter gründigen, traurigen Humor und gingen unter die Haut. Leave so early in the mornin', your real man neuer know. Es machte Anita Spaß zu fahren. Der Corvette war ein Superauto. Am Ende der Fahrt war sie beinahe im Frieden mit der Welt. Carls Boot lag nicht am Anleger. Um so bes ser. Big-Dog saß auf der Veranda. Opal war beim Fenster putzen. Ich würde gerne flir immer hierbleiben, dachte sie. Sie sah Tomlin beinahe ein bißchen erschrocken an. Er lä chelte, als habe er ihre geheimen Gedanken lesen kön nen, dann stieg er aus dem Auto, Tony auf seiner Schul ter. Der Junge versuchte aufzuwachen. Big-Dog kam ihnen freudig entgegen und leckte Anita über ihre schwache Hand. »Ich weiß nicht, wann wir zuletzt soviel Spaß hatten«, sagte Anita leise. »Vielleicht interessiert er sich jetzt end 153
lieh auch für etwas anderes neben seinen Computerspie len.« Tomlin lehnte Tony gegen die Seite des Autos und langte hinein, um das Modell der Corsair und die dunkel blaue Mütze eines Brückenoffiziers herauszuholen, die er dem Jungen gekauft hatte. »Warum kommen Sie nicht mit hinein?« fragte Anita. Sie wünschte, er würde endlich etwas sagen und nicht nur immer lächeln, was ziemlich ungewöhnlich war, denn ei gentlich lächelte er gar nicht so oft. Tomlin setzte Tony die Mütze auf den Kopf und sah hinauf in den grauen Himmel. Heute würde der Sonnen untergang ausfallen. Der Wind brachte jetzt sogar etwas Sprühregen mit. »Die Geisterstunde ist schon zu nahe«, entschuldigte er sich. Anita gab ihrem Sohn, der gerade herzhaft gähnte, einen kleinen Stoß. »Und? Was sagst du, Anthony?« Tony sah zu Tomlin hoch. »Viele n Dank. Was ist die Geisterstunde?« »Die kommt gleich nach Einbruch der Dunkelheit.« Tony machte sich so gut es ging einen Reim darauf. »Hast du Angst vor der Dunkelheit?« »Nicht unbedingt. Ich bin nur nicht so besonders gut daran gewöhnt. Wir sehen uns morgen, Tony.« Er überquerte auf seinem Weg zum Wohnmobil gerade die Auffahrt, als Tony ihm nachrief: »Könnten wir nicht angeln gehen? Morgen nachmittag?« »Gute Idee«, sagte Tomlin. Als er die unverschlossene Tür zu seinem Campingwagen öffnete, pfiff er ein Lied chen vor sich hin: >When the Saints Go Marching In.< Tony versuchte ebenfalls zu pfeifen, als er mit seiner Mutter die Stufen zur Veranda hochstieg. Er traf den rich tigen Ton schon ganz gut für sein Alter. 154
Wink Evergoods Cousin Tom Paul war vor achtzehn Mo naten aus Morgan City herübergekommen, als es mit dem Ölgeschäft in Louisiana den Bach hinunterzugehen be gann. Drei Dollar hatte er in der Tasche gehabt. Seitdem hatte er es, mit Winks Unterstützung, zu einer professio nell eingerichteten Zwei-Zimmer-Wohnung in der Stella Maris-Wohnanlage, einem Nissan -30o-ZX-Sportwagen für 21 ooo $ und einem kleinen Boot gebracht. Er war glücklich über jeden Gefallen, den er Wink tun konnte. Heute nacht wollte Wink mit ihm auf Jagd gehen, aber sie luden nicht die Waschbärenhunde in die Hundeboxen auf der Ladefläche von Winks Silverado -Kleinlaster. In Sturm und Regenschauern fuhren sie eine holprige Ne benstraße südlich der Interstate entlang zu den Sümpfen von Tchoutacabouffa, wo sie das Auto stehenließen, hohe Wasserstiefel anzogen und Helme aufsetzten, an denen vorne Lampen angebracht waren. Tom Paul sagte: »Soll ich dir von der Kleinen erzählen, mit der ich zur Zeit gehe? Sie ist aus dem Norden, Indiana, glaub ich. Ihre Eltern waren 'n paar Tage zu Bes uch, und sie ha'm mich gefragt, wo man hier richtiges Cajun-Essen zu futtern kriegt, und ich hab' gesagt, nirgends hier, hier ist der Magnolien-Staat, nicht Louisiana, aber ich sage Ih nen was, hab' ich gesagt, ich werde für Sie was kochen, denn, um ehrlich zu sein, ich hab' unsere Hausmannskü che auch schon vermißt. Mit der Soße muß man ganz früh anfangen, weißt du, man muß sie den ganzen Tag vor sich hin kochen lassen. Es war in Dollys Küche, früh am Mor gen. Ihre Mama und ihr Papa, die haben am Abend vorher 'n bißchen zu tief ins Glas geguckt, weißt du, und da sind sie erst nach elf aufgewacht. Mama ist mit Säcken unter den Augen in die Küche gekommen, Mann, und dann hat sie meine Soße gerochen und die Krabben und die Langu sten, Mann, die haben vielleicht geduftet. Sie hat kurz 'n 155
Gesicht gezogen, und am liebsten hätte sie auf 'm Absatz kehrtgemacht, aber so 'n Abgang wäre ja nicht besonders höflich gewesen, oder? Also hat sie ihr allerliebstes Lä cheln aufgesetzt, und dann hat sie gesagt, Tom P aul, hat sie gesagt, kann ich Ihnen helfen? Nun, und du weißt ja, daß ich einem kleinen Witz nicht abgeneigt bin, also hab' ich die Kühlbox aufgemacht, die ich dabeihatte, hab' den neunzig Zentimeter langen Krokodilschwanz rausge nommen, den ich seit mein em letzten Besuch in Breux Bridge in der Tiefkühltruhe liegen hatte, hab' ihn auf den Tisch geknallt und zu der Alten gesagt: >Warum schnei den Sie mir das Ding nicht in Stücke, Gnädigste?< Sie und Dolly sind 'ne halbe Stunde auf den Knien rumgerutscht, um ihre Kotze wieder von Dollys Wohnzimmerteppich zu kratzen.« Wink kicherte, dann machten sie sich auf die Suche nach einer Schlange. Cottonmouths tendieren dazu, sich zu mehreren zu einem Knäuel zusammenzurollen, be sonders wenn kühles Wetter herrscht. Dann hängen sie in Klumpen von den Fächerpalmen und den unteren Ästen der Zypressen. Sie können aber auch an ihren Schwänzen von den Ästen hängen und auf Beute lauern, die auf dem langsam fließenden Wasser vorbeigetrieben kommt. Sie sind als Vielfresser bekannt, manchmal stopfen sie sich so voll, daß sie an den heftigen Bauchschmerzen sterben. Sie sind nicht besonders aggressiv, jedenfalls nicht für Gift schlangen, aber wenn sie sich einmal entschlossen haben, einen Menschen zu beißen, dann schlagen sie sch neller zu als jede Klapperschlange. Wink fand ein Exemplar, das ihm gefiel, in den vermo dernden Wurzeln einer umgestürzten Zypresse. Die Cot tonmouth ist eine schlammfarbene Schlange ohne beson ders auffällige Zeichnung. Nur das Innere des Mauls ist charakteristisch, es besteht aus weißem Fleisch, und auch 156
die vertikalen Pupillen unterscheiden sie von ähnlich aus sehenden Schlangen. »Riesending«, meinte Tom Paul. »Gute fünf Fuß, viel leicht sechs bis sieben Pfund.« »Laß sie nicht ins Wasser entwischen.« »Hab' sie gerade aus ihrem Nickerchen aufgestört. Mann, die ist viel zu durchgekühlt, um schnelle Bewe gungen zu machen.« Wink hielt den Sack auf, während Tom Paul den Schlangenhaken durch das Gewirr von Zweigen ma növrierte und die Cottonmouth in den Sack zog. Die Schlange zappelte noch ein bißchen in dem geschlosse nen Sack herum, bevor sie sich beruhigte, um abzuwar ten, was auch immer sie mit ihr vorhaben mochten. »Wir sollten sie nicht noch mehr aufregen«, sagte Tom Paul. »Sie ist so schon verrückt genug.« »Gut«, meinte Wink. In Wolfdaddys gemütlichen Quartier auf der Plattform seiner >Kirche zum Tor des Himmels< des >Evangeliums des richtigen Weges< hatte Wolfdaddy ein schmales Feld bett mit einer alten Armeewolldecke darauf, ein paar Re gale, eine Kerosinlampe, eine Truhe, die unter der Liege stand, und einen Holzkohlengrill, auf dem er den Fisch briet, den er aus dem Bayou angelte. Die Köpfe warf er seinen Kätzchen hin. Aus dem Maismehl, das er in einem Sack lagerte, machte er Hush Puppies, und außerdem wußte er eine ganz gute Soße für Löwenzahnsalat. In sei ner Hütte war gerade so viel Platz, daß er sich mit ausge streckten Armen einmal um sich selbst drehen konnte, wobei die Fingerspitzen die zugigen Wände, die er aus den Latten von Holzkisten zusammengezimmert hatte, gerade streiften. Ihm bot dieser Verschlag genug Schutz, und groß genug war er ihm auch. An den meist milden 157
Abenden auf Lostman's Bayou saß er draußen unter den Sternen, gerade hoch genug, um nicht von den Mücken besucht zu werden, wenn ein leichter Wind ging. Er rauchte eine alte Dr.-Grabow-Pfeife und freute sich sei ner eigenen Gesellschaft, während er ausgewählte Passa gen aus der Bibel vor sich hin murmelte, die er in seine nächste Predigt einbauen wollte. Weil es etwas regnete, war er in seiner Baumhütte, als er Wink Evergoods Silverado auf der Landstraße vorbei fahren hörte, wo wenig Verkehr war, vor allem nach zehn Uhr in der Nacht. Er kannte das Motorengeräusch dieses Lasters ganz genau. Er wußte, daß etwas im Busch war. Er öffnete die Tür seiner Hütte und sah den Kleinlaster auf das Haus zufahren. Der Fahrer hatte nur das Stand licht eingeschaltet. »Oh, oh«, sagte er zu einer Katze, die ihm gerade über einen Fuß gehuscht war, »da fahren sie wieder und holen noch mehr von dem bösen Zeug, das sie dann an kleine Kinder verkaufen.« Wolfdaddy drehte sich um und nahm das alte Fernglas aus der Pfandleihe von einem Haken, den er in die Vor derwand seiner Hütte geschlagen hatte. Er ging hinaus bis an den Rand der P lattform und hob das Fernglas. Die Nacht war kalt und feucht, aber am Ende von Winks La ster konnte er genug erkennen, um seinen Verdacht be stätigt zu sehen. Dann sah er plötzlich nur noch ein Rück licht, aber nicht mehr den ganzen Kleinlaster. Wink mußte angehalten haben und kurz vor der Einfahrt zum Haus von der Straße gefahren sein. Der rote Fleck blieb in den Linsen des Fernglases von unveränderter Größe. Nachdem er sich die Augen gerieben hatte, schaute er in eine andere Richtung, zu einem der Flutlichtschemwer fer an der Ecke des überdachten Anlegers am Rande des Bayous. Er sah Carl Jeffords Boot, das dort festgemacht hatte, und er sah jemanden - es hätte durchaus der Mann 158
selber sein können - auf dem Vordeck stehen, gegen eine Reling gelehnt. Aber alles spielte sich im Halbschat ten ab, war schwer zu erkennen und strengte Wolfdad dys alte Augen an. Er ließ das Fernglas sinken. Sein Mund arbeitete, die Stirn hatte er in tiefe Falten gelegt. Eine Katze miaute verärgert, weil sie endlich in Ruhe ge lassen werden wollte. Wolfdaddy beruhigte seine zit ternden Lippen mit dem Handrücken und hob das Fern glas zu einem weiteren Blick, diesmal zum Haus hinüber, das vom fahlen Schimmer der Scheinwerfer eingerahmt war. »Es ist nicht recht, was sie tu n«, sagte Wolfdaddy zu sich selbst. Er war bestürzt. Drogenhandel fand hier statt, direkt vor seiner Haustür sozusagen. Es hatte mal eine Zeit gegeben, da hatte der Koks ihn selbst auf 120 Pfund runtergebracht. Er hatte kaum noch die Kraft be sessen, sich das Röhrchen vor die Nase zu halten. Er wußte genau, was dieser Fluch des Teufels anrichten konnte. Gelobt sei Jesus, daß er inzwischen gerettet war. Aber da gab es noch all die anderen, die in tödlicher Ge fahr schwebten, weil sie nicht wußten, was ihnen gesche hen könnte, die noch nicht von seinem Blute gereinigt waren. Wolfdaddy ging zurück in seinen Verschlag und kam mit seiner Denkermütze wieder hervor, dem Hut mit den vielen Spiegeln. Er sank auf die schmerzenden Knie und blickte gen Himmel, wo nic hts als schwarze Finsternis zu sehen war, keine Spur jenes himmlischen Lichts, das ihn einst geführt hatte. Es regnete ihm auf das Gesicht. »Sag mir, o Herr, was ich tun kann?« fragte er, demütig in seiner Bitte um göttliche Führung. Wink und Tom Paul stie gen aus dem Kleinlaster aus. Tom Paul hob den Sack mit der Cottonmouth von der 159
Ladefläche. Sie gingen die Straße entlang, auf das Haus am Lostman's Bayou zu. Tom Paul hielt den Sack auf Ar meslänge von sich weg. Die Schlange war ruhig. Einer der Flutlichtscheinwerfer, der auf die Straße ge richtet war, ging ein paarmal aus und wieder an. Sein Licht schimmerte durch den Nieselregen. Sie trafen mit Carl zusammen, der sich auf seinem Boot mit Schlecht wetterkleidung ausgerüstet hatte. »Was hast du in dem Sack?« Tom Paul ließ ihn einen Blick hineinwerfen. »Jesus«, sagte Carl und wich einen Schritt zurück. »Wird ihn das nicht umbringen?« »Kaum jemand wird am Biß einer Cottonmouth ster ben«, erwiderte Tom Paul. »Bei einem Diamondback Ratt ler ist das was anderes. Die haben reichlich Gift. Aber wenn die hier ihn erwischt, wird er 'ne Weile flachliegen, mehr nicht.« Mit einem Blick auf das ausgeleuchtete Areal sagte Wink: »Ist er in seinem Wohnmobil? Was ist mit diesen verdammten Scheinwerfern?« Carl nahm eine Fernbedienung aus der Innentasche sei ner Regenjacke und schaltete das Licht mit einem Knopf druck aus. , »Kümmert sich das Ding auch um die Alarmanlage?« Carl nickte. »Um alles. Ich geh zurück ins Haus. Ihr braucht mich ja nicht. Tomlin steht gerade unter der Du sche. Zumindest tat er das noch vor einer Minute.« »Perfekt«, sagte Wink. Die Männer trennten sich, Wink und sein Cousin gingen im Dunkeln zum Wohnmobil hinüber, das neben dem alten Kutschenhaus geparkt war. In Tonys Zimmer hob Big -Dog plötzlich den Kopf und stand auf, nachdem er eine Weile gelauscht hatte. Für seine Größe legte er dabei eine erstaunliche Beweglich 160
keit an den Tag. Tony schlief friedlich in seinem Bett, auf der Seite; seitdem seine Mutter ihn richtig hingelegt hatte, hatte er sich nicht mehr von der Stelle gerührt. Der Zauberring und die Navy-Mütze, auf der in großen wei ßen Buchstaben das Wort Lexington stand, lagen auf sei nem Nachttisch. Big-Dog sah zu ihm herüber, aber er schien es für sinnlos zu halten, Tony wachjaulen zu wol len. Also ging er zur Tür und begann zu kratzen, auch wenn es diesmal nicht seine Blase war, die ihn geweckt hatte. Normalerweise pflegte Anita ihn zu hören und rauszulassen. Aber heute nacht war sie nicht in ihrem Zimmer. Sie hatte eine krea tive Inspiration gehabt und war in ihr Studio gegangen, um zu arbeiten. Wink Evergood ging um das Wohnmobil herum auf die andere Seite, um rauszukriegen, ob Tomlin immer noch unter der Dusche stand. Er stand. Singend. Es gelang ihm gar nicht so schlecht, s ich wie Waylon anzuhören. »Ma mas, don't let your babies grow up to be cowboys.« Wink rannte zurück zu Tom Paul, der inzwischen festgestellt hatte, daß die Tür unverschlossen war. »Okay«, flüsterte er. Tom Paul nahm den Sack auf, den er auf der Betonplatte abgelegt hatte, öffnete die Tür und schlich sich vorsichtig in das Wohnmobil, ängstlich darauf bedacht, das Fahr zeug nicht zum Schaukeln zu bringen und so seine Anwe senheit zu verraten. Er schüttelte die Cottonmouth aus ihrem Sack heraus. Die Schlange lag einfach da, zusam mengerollt und desorientiert, nicht viel dunkler als der Teppichboden. Von etwas weiter weg hätte sie ausgese hen wie ein großer Kuhfladen. Tom Paul machte sich we gen ihrer Trägheit keine Sorgen. Ihr würde gleich warm werden, dann würde sie sich schon einen schattigen Platz suchen, um sich zu verstecken. Tom Paul warf den leeren 161
Sack über eine Schulter. Er hörte Tomlin jetzt viel deutli cher, weil die Dusche inzwischen abgedreht war. Schnell schlich er sich wieder aus dem Wohnmobil und zog ganz leise die Tür hinter sich zu. Anita hatte schon etwa eine halbe Stunde lang an der Pla stik eines Fischreihers gearbeitet, nach einer Fotografie. Sie bekam den Kopf einfach nicht in die richtige Stellung und wurde langsam ungeduldig. Seit einer Weile schon hatte sie nicht mehr so häufig auf den Monitor geschaut. Als sie jetzt ziemlich frustriert einen Schritt von dem Drahtgestell zurücktrat, das sie für die Tonplastik des Vo gels angefertigt hatte, bemerkte sie, daß der Bildschirm dunkel war, der Monitor aber trotzdem in Betrieb zu sein schien. Während sie etwas besorgt auf das dunkle Viereck starrte, gingen um die Veranda herum die Lichter wieder an, und das Fernsehbild wurde besser, auch wenn es durch Dunst und Nieselregen etwas get rübt war. Anita seufzte erleichtert auf. Sie wandte den Blick weg von dem Monitor und wieder ihrem Fischreiher zu, dann beschloß sie, für heute Schluß zu machen, und begann, sich die Hände zu säubern. Die rechte Hand tat ihr weh. Die unge wohnte Fahrerei war zu anstrengend gewesen. Immerhin fehlten noch ganze vierzig Prozent an der vollen Funk tionsfähigkeit der Hand. Der kleine Finger würde für im mer schwach und beinahe gänzlich unbrauchbar bleiben. Insgesamt hatte sie vierzehn Silbernägel und Schraube n unterschiedlicher Größe in ihren Knochen stecken, die meisten davon in der rechten Körperhälfte. An feuchtkal ten Tagen fühlte sie sich manchmal, als habe sie bereits mindestens 104 Jahre auf dem Buckel und nicht erst 34. Eine Metallplatte von zwei Zoll im Quadrat hatte sie in der Schädeldecke, ganz in der Nähe des Haaransatzes, die leichte Ausbuchtung sah man allerdings nur, wenn sie die 162
Haare ganz straff nach hinten zog. Die Aktivität jener Re gion des Gehirns, die zerstört worden war, wurde von einem anderen Teil des Gehirns kopiert, wobei sämtliche Aushilfszellen angetreten sein mußten wie eine Armee winziger Soldaten. Immer noch hatte sie taube Stellen auf dem rechten Wangenknochen unter dem Auge und auf der Innenseite des rechten Unterarms. Zw ei Zehen fühlte sie nicht mehr. Wenn sie sehr erschöpft war, humpelte sie manchmal ein wenig. Ein heftiger Zusammenstoß mit einem Auto, hinter dessen Steuer ein Verrückter saß. Wenn er sie frontal erwischt hätte, dann . . . Wenn sie sich in einem großen Spiegel bei vorteilhaftem Licht in ganzer Länge anschaute, dann konnte sie sehen, daß sie immer noch einen sehr schönen Körper hatte. Aber ihre Gefühle verlangten von ihr, sich als Verkrüppelte zu sehen, als Unberührbare. Außerdem schaute sie nicht mehr sehr oft in den Spiegel. Anita steckte sich eine Zigarette an und drehte das Licht in ihrem Atelier aus. Sie wußte nicht so recht, was sie mit sich anfangen sollte. Mit Sicherheit würde sie heute nacht keinen Schlaf finden, es sei denn, sie würde die verbliebe nen Gehirnzellen mit einem Schlafmittel bombardieren. Nein, danke. Carl war zu Hause. Er hatte kurz zu ihr ins Atelier geschaut, das Gesicht gerötet vor guter Laune, auch wenn er nicht einmal den Versuch gemacht hatte, seine Zufriedenheit zu erklären. Er hatte nur gefragt, wie ihr Tag gewesen sei, und sie hatte geantwortet, es sei ein schöner Tag gewesen und Tony habe viel Spaß gehabt. Er hatte Anita noch mitgeteilt, er werde ausnahmsweise einmal zu Hause bleiben, und sie gefragt, wie es später mit einem kleinen Nachttrunk wäre. In der Zwischenzeit wollte er noch einmal den Computer befragen, ob es vielleicht irgend etwas Neues gäbe. Irgendetwas Neues. So konnte man es auch nennen. 163
Nachdem er geduscht hatte, zog Tomlin ein langärmeli ges, rehfarbenes Hemd, ein Paar Levi's und Turnschuhe an. Langsam und tastend arbeitete er sich bis in die mitt lere Kabine des Wohnmobils vor, öffnete den Kühl schrank und nahm sich eine Dose Miller's heraus. Die Fernbedienung für das TV-Gerät hatte er auf dem kleinen Serviertisch liegenlassen, aber auch sie mußte er sich erst ertasten. Als der Fernseher lief, setzte er sich auf die Couch, riß die Bierdose auf und nahm einen kräftigen Schluck. Er dachte über den vergangenen Tag nach, über seine Gefühle, nach einem Jahr wieder einmal an Bord eines Flugzeugträgers gewesen zu sein. Es war gar nicht so hart gewesen, wie er befürchtet hatte, weil Anita und Tony bei ihm gewesen waren. Er hatte Tony den ganzen Tag über anschauen müssen, und dabei war ihm klargeworden, warum so viele Piloten nach ein paar Jahren wieder ausstiegen. Sie konnten die Trennung von ihren Frauen und Kindern einfach nicht länger ertragen. Er schaltete die Superstation ein, auf der gerade ein Basketballspiel übertragen wurde. Celtics gegen Rockets. Er hörte dem Reporter zu, aber in der Finsternis waren seine Gedanken bei Anita. Sie hatte eine dieser zottigen Frisuren, die immer kleidsamer wurden, je mehr der Wind an ihnen zerrte. Wie lange es wohl dauern würde, bis man all die goldenen Flecken in ihren braunen Augen gezählt hätte? Er fragte sich, warum sie sich, nachdem sie eben noch gelacht hatte, so schnell wieder in Schweig samkeit und trübsinnige Gedanken zurückzog. Er wollte so viel über Anita wissen und wußte dabei so wenig. Aber er würde nicht mehr viel Zeit verstreichen lassen, ohne ernsthafte Anstrengungen zu unternehmen, wenig stens ein paar Antworten auf seine Fragen zu bekommen. In der Zwischenzeit mußte er sich wohl damit begnü 164
gen, sich ein frisches Bier aus dem Kühlschrank zu ho len. Anita war auf die Veranda herausgekommen und stand neben der Schaukel, die vom Dach herunterging, ganz in der Nähe des rechten Winkels, den die Veranda mit der Front und der Seite des Hauses bildete. Langsam rauchte sie ihre Zigarette zu Ende, Gesicht und Haare waren mit etwas oberflächlicher Feuchtigkeit benetzt. Der Regen war so schwach, daß man ihn nicht einmal fallen hörte. Sie sah hinüber zum Wohnmobil, zu dem Licht, das der TV-Bildschirm auf das schräggestellte Fenster warf, ein sprunghaftes Licht, wie ein kleiner Flaschengeist. Noch zwei Züge, dann würde sie gehen und mit Carl sprechen. Wahrscheinlich würden sie den Verdicchio di Villa Bucci aufmachen, die letzte Flasche, die sie nun schon so lange aufgespart hatten. Und dann hörte sie auf einmal Tomlins durchdringen den Schrei aus dem Campingwagen, ein Schrei, der ihr einen eisigen Speer vom Genick bis in die Gedärme jagte. Sie erschrak so sehr, daß sie sich den Handrücken mit der Zigarette ansengte, die sie in der anderen Hand hielt.
15. Kapitel »Clay? Clay!« Anita stieß die Tür des Wohnmobils auf, stürmte hin ein, klitschnaß, wie sie war, nachdem sie draußen auf der Rasenfläche ausgerutscht war. Sie konnte Tomlin nir gends entdecken. »Clay, was ist passiert?« 165
Die Toilettenspülung wurde betätigt, dann kam er aus dem Badezimmer heraus, mit ausgestreckter Hand, damit er sich nicht die Nase an etwas stieß, was ihm im Weg hätte stehen können. Er sah überrascht aus. »Anita? Was ist denn los?« »Wie meinen Sie, was ist . . .?« Sie verschluckte sich so, daß ihr die Luft wegblieb. Sie drehte sich zu einem der Sessel um und ließ sich hineinfallen. Sie starrte ihn an, während sie sich über das regennasse Gesicht wischte. »Ich habe Sie schreien gehört.« »Wirklich?« fragte er voller Verblüffung. »Ach ja, stimmt, ich habe geschrien. So ein Milchbubi von den Rockets hat den Celtics mit einem Drei-Punkte-Wurf den Garaus gemacht.« »Das war alles? Ich mach mir vor Angst beinahe . . .« ».. . in die Hose?« Er lehnte sich im Küchenabteil ge gen einen Wandschrank. Um seine Lippen spielte ein iro nisches Lächeln. Anita setzte sich auf, voller Wut, dann bemerkte sie auf einmal, wie albern sie sich benahm, und verschluckte sich wieder, diesmal vor Lachen. »Ich hab's noch mal vermei den können. Glaube ich jedenfalls.« Tomlin tastete sich zur Kühlschranktür und öffnete sie. »Wenn Sie schon mal hier sind, wie war's mit einem Bier?« »Okay.« Sie konnte nicht stillsitzen, also stand sie auf und ging zu ihm. »Ich würde gerne mal Ihr Bad benüt zen.« »Also doch?« »Nein! Hören Sie jetzt auf mit dem Quatsch. Ich bin vom Regen ein bißchen naß geworden und würde mir gerne ein Handtuch ausborgen.« »Sicher. Bedienen Sie sich.« Er richtete sich mit einem Bier in der Hand auf und schloß die Kühlschranktür. Sie 166
versuchte, sich auf dem engen Raum in der Küche an ihm vorbeizuquetschen, aber der Körperkontakt ließ sich nicht vermeiden. »Es regnet also immer noch, was?« sagte er, während ihm ihre feuchte Haartolle unter dem Kinn entlangstrich. »Ja.« Im Badezimmer nahm sie sich aus dem Regal ein Hand tuch und tupfte sich Haare und Gesicht ab. Da die hüb schen Wandschränke aus Eichenholz überall mit Spiegeln bestückt waren, konnte sie sich selbst aus allen nur er denklichen Winkeln zugleich sehen. Gott sei Dank konnte er nicht sehen, wie sie jetzt gerade aussah. Als sie wieder im Vorderteil des Wagens angekommen war, saß Tomlin auf der Couch neben dem Tisch mit der Lampe, auf dem er eine Dose Bier in einem Korkhalter abgestellt hatte. Sie nahm sie heraus und setzte sich ihm gegenüber auf einen der Ledersessel. Es war gemütlich hier. Außer der flackernden Bildröhre gab es kein Licht. Große Män ner in kurzen Hosen warfen sich aufeinander. Den Ton hatte er abgedreht. »Basketball ist also Ihr Lieblingssport?« fragte sie ihn, ungeschickt wie immer, wenn es darum ging, eine Unter haltung in Gang zu bringen. Vor allem jetzt, da sie sich sicher war, daß sie eigentlich alle beide etwas anderes im Sinn hatten, als sich zu unterhalten. Aber da waren noch immer diese Warnlichter der Angst, oder nein, eigentlich war es keine Angst mehr. Sie trank einen Schluck Bier und beobachtete ihn in dem fahlen Licht. »Ja, Basketball. Und ich mag Football, wenn es nach den australischen Regeln gespielt wird.« »Wirklich? Ich glaube, ich weiß gar nicht, was das ist.« Er erklärte es ihr nicht. Er sagte überhaupt nichts mehr während der Zeit, die er dafür brauchte, eine halbe Dose Bier auszutrinken. Anita streifte ihre flachen Schuhe ab 167
und klemmte die Füße unter sich in den Sessel, der die Tendenz hatte zu schaukeln. Sie nahm den Blick nicht von ihm. »Hi, Anita«, sagte er nach einer ganzen Weile. »Hi«, antwortete sie zaghaft. »Ist Anita Ihr wirklicher Name?« Die Frage verwirrte sie. Ein wenig von dem Bier, das sie gerade trank, geriet in die falsche Kehle, aber sie schaffte es, nicht zu husten. »Sicher. Warum?« »So sind Sie also Anita«, sagte Tomlin mit sanfter Stimme, »und der Junge ist Tony, und der Name von dem Mann ist Carl. Aber Carl ist nicht Ihr Ehemann, und er ist auch nicht Tonys Vater. Wer ist er eigentlich genau?« Heilige Maria, dachte sie, jetzt ist es soweit. Sie war ei gentlich dankbar, denn es hatte schon begonnen, sie zu belasten, wenn sie in seiner Nähe war. »Man könnte sagen, er ist jemand, der auf uns auf paßt.« »FBI-Maßnahme zum Schutz von Augenzeugen?« »Nein. Nichts in der Richtung.« »Und? Warum verstecken Sie sich hier unten an Lostman's Bayou?« Anita seufzte. Sie suchte nach einem Anfang. Und wäh rend sie darüber nachdachte, beobachtete sie etwas Merk würdiges, auch wenn das Licht vielleic ht nicht besonders gut war . . . Anita stand ganz langsam auf, die Bierdose in der Hand, der Sessel quietschte ein bißchen. »Wo wollen Sie hin?« Sie schaute immer noch auf das Sitzkissen neben ihm auf dem Sofa. Verdammt noch mal, bewegte sich das nicht? Aber wie konnte das angehen? Sie sagte: »Clay, seien Sie mal eine Sekunde lang ganz still.« 168
Er hob fragend den Kopf.
»Und bewegen Sie sich nicht«, fügte sie hinzu.
»Warum?«
»Seh!« Sie stand jetzt vor ihm und sah hinunter auf das
Sofa, das Kissen, das sich langsam hob. Tat er das? Nein, er hatte die Bierdose in der einen Hand, die andere ruhte auf seinem Knie. Anita stellte ihr Bier auf den Lampentisch, langte nach unten und zog das Sofakissen mit einem Ruck hoch. Sie wäre beinahe in Ohnmacht gefallen. »Mein . . . Gott!«
»Was ist los?« fragte Tomlin.
»Eine Schlange. Riesig. Gleich neben Ihnen.«
»Wie nah?« fragte er so ruhig, als hätte sie eben gerade
von einer Stubenfliege gesprochen und nicht von einem giftigen Reptil. »Sie ist . . . sehr nahe dran.« »Okay, okay, ich werde mich nicht bewegen. Tun Sie nichts, was die Schlange aufregen könnte.« »Sie auf regen . . .?« »Anita«, sagte Tomlin, »da liegt ein großes Messer in der Schublade des Wandschranks neben dem Herd. Ge hen Sie vorsichtig zurück, ziehen Sie die Schublade auf, und nehmen Sie das Messer heraus.« Auf seinem Gesicht ließ sich die Spannung ablesen, aber er behielt seine gelassene Haltung bei und bewegte sich nicht. Seine Haltung gab ihr den Mut zu tun, um was er sie gebeten hatte. Auf dem Weg zum Messer, das eher aussah wie eine Machete, legte sie das Sofakissen ab. Er hörte, wie sie die Schublade aufzog. »Sehen Sie es?«
»J-ja.«
»Wie sieht die Schlange aus?«
»Sie ist so . . . morastig braun. Das Licht ist nicht . . .«
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In ihrer Angst trat der Spr achfehler besonders deutlich hervor. »Was tut sie?« »Sie liegt neben Ihnen.« »Hat sie den Kopf angehoben oder liegt er?« »Angehoben.« Anita hielt das Messer in beiden Hän den. Sie zitterten. Vorsichtig bewegte sie sich wieder auf Tomlin zu. Sie merkte, daß die Schlange auf sie aufmerk sam geworden war. Die Knie wurden ihr weich. Schlan genaugen wie die Augen eines Engels. Ihr wurde eisig kalt. »Etwa im Winkel von 45°?« »Ungefähr.« »Wahrscheinlich eine Cottonmouth«, sagte er. »Wie viel Platz habe ich?« »Ihr Kopf befindet sich etwa . . . dreißig Zentimeter von Ihnen entfernt. Vielleicht etwas mehr.« »Kommen Sie hierher an meine Seite. Bleiben Sie nicht vor mir stehen.« »Okay.« »Sobald ich aus dem Weg bin, hauen Sie die Schlange mit dem Messer in zwei Hälften.« »Clay, Sie werden sich nicht schnell genug . . .« »Ich bin zu Reaktionen fähig, die hat selbst diese Schlange noch nie gesehen. Machen Sie sich bereit.« »Ich . . . ich kann nicht«, sagte sie. Aber sie wich nicht von ihrem Posten. Ihre zusammengeflickt en Knochen waren von den Lichtern der Schlangenaugen wie elektri siert, sie fühlten sich unter der Haut messerscharf an. Noch bevor Tomlin sie ermutigte, fühlte sie eine wilde Entschlossenheit in sich aufsteigen. »Doch, Sie können. Was macht sie gerade?« »Sie ... ist. . . ruhig.« »Nach dem Klang Ihrer Stimme sind Sie immer noch 170
ein wenig zu nah. Gehen Sie noch einen Schritt aus dem Weg. Okay?« »Ja.« Sie bewegte sich mit einer Leichtigkeit, von der sie selber überrascht war. »Auf geht's«, sagte Tomlin. Er schaute ganz ruhig, seine Stimme klang beiläufig und entspannt. Er lächelte sogar, als fände er das alles ziemlich spaßig. Dann, schneller als sie mit den Augen zwinkern konnte, saß er nicht mehr auf der Couch. Das Wohnmobil schaukelte auf seinen Federn, als er sich in den Sessel warf und mit einem schützenden Unterarm vorm Kopf gegen die Wand schlug. Die Cottonmouth hatte zustoßen wollen, ihr Kopf befand sich jetzt unter der Lampe, die auf dem Tischchen stand. Sie rollte sich wie eine Spirale zusammen, n achdem Anita einen schnellen Schritt nach vorne getan und sie ge köpft hatte. Die scharfe Klinge des großen Messers steckte in der Tischplatte. Sie ließ den Griff los und wandte sich ab, die Hände vor den Mund gepreßt. »Anita?« Sie tat einen tiefen Seufze r und griff mit beiden Hän den nach ihm, um die Balance zu halten. »Ich hab' ihr den Kopf abgeschlagen. Aber sie bewegt sich immer noch.« Fasziniert beobachtete sie den Todeskampf des kopflosen Körpers auf dem Sofa. Blut spritzte in alle Richtungen. »Kommen Sie ihr nicht zu nahe«, warnte er. »Und neh men Sie den Kopf nicht in die Hand. Er könnte Sie immer noch beißen.« Sie hatte gar nicht die Absicht, ihn loszulassen, obwohl sie ihm zwei Knöpfe vom Hemd gerissen hatte. Er hatte ihr Gesicht in den Händen, das feucht von kaltem Schweiß war. »Ich habe Sie nicht getroffen?« »Sie haben mich um Haaresbreite verpaßt. Noch knap per sogar.« 171
»Ich habe sie getötet«, sagte sie, immer noch verblüfft. Tränen hinterließen Spuren auf ihren Wangen. Zitternd und aufgeregt versuchte sie, ihn noch fester zu packen und schüttelte ihn hin und her. »Ich hätte nie geglaubt, daß ich es fertigbringen würde, aber ich habe es getan. Ich habe sie getötet.« »Hör auf zu zittern«, sagte er. »Ich halte dich doch fest.« »Ich weiß«, antwortete Anita. »Und? Was wirst du jetzt gleich tun?« Fünfzehn Minuten später lagen sie auf dem breiten Bett im hinteren Teil des Wohnmobils. Anita, halb im Sinnes taumel, aber auch verrückt vor Angst, sagte: »Ich kann nicht.« »Doch, du kannst«, entgegnete Tomlin, und fuhr mit dem fort, was er gerade tat. Er war ein Perfektionist, wenn es darum ging, Angst und Zweifel ein für allemal zu be seitigen.
16. Kapitel Nach ein paar Stunden in Baldrics Hackerwerkstatt hatte der Computer die Nummern gewählt, die Angel am viel versprechendsten erschienen waren, hatte fünfundsieb zig andere Computer angewählt und war gerade dabei, die Nummer 76 anzuwählen, einen Geldwechsel in North Bergen. Angel lehnte sich in den spartanischen Schaukel stuhl zurück und schlürfte etwas Tee, den er sich in der Küche gemacht hatte. Tee war das einzige gewesen, was Baldric auf Lager hatte, abgesehen von einer ungeöffne ten Schachtel Ritz Crackers. Angel hatte kurz in Erwä gung gezogen, sie aufzureißen, aber er war nicht beson 172
ders hungrig. Sein Magen hatte sich während der langen Zeit der intravenösen Ernährung in Silver Birches zusam mengezogen. Es war typisch für seine mentalen Prozesse, daß er sich durch Erinnerungen nicht so leicht ablenken ließ, er be saß beinahe überhaupt keine Fähigkeit zum Tagträumen. Und es war schwer für ihn, sich etwas ins Gedächtnis zu rufen, das nicht mit der Befriedigung seiner unmittelba ren Bedürfnisse zu tun hatte. Er war achtzehn Monate in Silver Birches eingesperrt gewesen, aber jetzt, wo er drau ßen war, hatte die Klinik für ihn zu existieren aufgehört. Er würde sich erst wieder an sie erinnern, wenn er vor ihr stünde. Er kannte weder Schuldgefühle noch Reue. Er wußte sich vorsichtig zu verhalten, aber nur sehr selten machte er die Erfahrung wirklicher Furcht. Wenn er tö tete, geschah das in Zuständen der Besessenheit, die eher Anfällen glichen, als daß sie Ausdruck von Wut gewesen wären, er tötete, um die Wahrscheinlichkeit seines Über lebens zu erhöhen. Er tötete, weil er den Zeitpunkt zum Töten für gekommen hielt. Die Impulse, die einen tödli chen Ausbruch zur Folge haben konnten, glichen zwei ab genutzten, hochgeladenen Stromkabeln, die in einer fin steren Ecke seiner begrenzten, primitiven Gefühlswelt hin und her schaukelten. Wenn die blanken Enden der Kabel sich einmal berührten, stand er unter Strom. Stieße man in der U-Bahn gegen ihn, würde Angel einen mögli cherweise nur mit leerem Blick anstarren, und gar nichts würde passieren. Oder aber die Kabelenden würden sich berühren, und der gefährliche Funke würde übersprin gen. Auf dem High-Resolution-Monitor vor ihm erschien eine Nachricht. Angel widmete ihr sofort seine ganze Aufmerksamkeit.
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WARNUNG! DIESES SYSTEM IST GESCHÜTZT DURCH ER MITTLUNGS- UND ZURÜCKVERFOLGUNGSEINRICHTUNGEN. WENN SIE NICHT INNERHALB VON DREISSIG SEKUNDEN DIE RICHTIGE BENÜTZERKEN NUNG EINGEBEN, KÖNNTE DAS ZU IHRER FEST NAHME UND ZU STRAFRECHTLICHER VER FOLGUNG FÜHREN. Angel lehnte sich auf seinem Stuhl vor und tippte in die Tastatur: TUT MIR LEID. GUTEN TAG. Der Monitor wurde dunkel. Er wartete, während der automatische Wähler Kontakt mit dem Computer aufnahm, der auf einer Liste von 229 Artgenossen, die Angel aus einer Zu sammenstellung von allen Computer-Telefonnummern in drei Regierungsbezirken ausgewählt hatte, die Num mer 77 trug. Im Badezimmer auf der anderen Seite des Flurs tröpfelte die Dusche, aber Angel hatte die Leiche in der Wanne längst vergessen. Solange der tote Körper nur ordentlich gewässert war, würde sich während der näch sten beiden Tage kein abstoßender Geruch bilden. Angel beobachtete den Monitor und aß einen Ritz Cracker. Dazu trank er einen Schluck Tee.
17. Kapitel Zwielicht. Eine hübsch große Vogelschar schien sich da draußen vorm Fenster zu amüsieren. Tomlin selbst fühlte sich auch nicht so schlecht, immer 174
hin lag Anita dicht neben ihm und atmete tief und ruhig im Schlaf. Er hatte in der Nacht die Heizung nicht angedreht, aber sie lagen ja auch unter seiner dicken Daunendecke und wärmten einander. Als seine Fingerspitzen ganz sanft die Linie der Narbe auf ihrem rechten Unterarm nachfuhren, schmiegte sie sich näher an ihn, ihr Gesicht lag jetzt ganz dicht an seinem Hals. Bezaubert von ihrem Körper, fuh ren seine Finger weiter, entlang an einem Ohr und der Li nie ihres Kinns bis hin zur Nasenwurzel. Die Linien ihres Gesichts - nichts Unklares, Weichliches, Schwaches konnte er dort entdecken. Nichts, was er hätte ändern mö gen. Weder die dichten Augenbrauen noch den reizenden Überbiß oder die kleinen Muskelwülste auf beiden Seiten des Mundes. Er hatte die Narben auf ihrem Rücken und den Hüften noch nicht gesehen, aber er hatte sie während der Nacht fühlen können. Hart und glatt hatten sie sich angefühlt, wie das getrocknete Harz junger Nadelbäume. Das würde er vielleic ht ändern wollen, dachte er, um ih retwillen. »Was tust du da?« fragte Anita mit sanfter Stimme. Es gefiel ihr, was er da tat. Sie knabberte an einem seiner Fin ger, und aus dem Knabbern wurde beinahe augenblick lich eine Liebkosung mit beiden Lippen. »Ich kann es kaum erwarten, dich zu sehen«, gestand Tomlin. »Ist es noch nicht hell genug?« »Es fehlt noch etwa eine halbe Stunde.« »Und dann wirst du mich anschauen können.« Schau der liefen ihr über den Rücken. Unter dem Federbett legte Tomlin einen Arm um ihre Hüfte und sie ließ ein Bein ge nüßlich über seinen Oberschenkel gleiten und schmiegte es an seinen erigierten Penis, der sich glitschig wie ein Köder anfühlte. »Bist du etwa so aufgewacht?« 175
»Bin ich«, antwortete er, zufrieden mit seiner Mannes kraft, ganz und gar eitler Gockel. Sie gab ihm einen Klaps, einen freundschaftlichen, denn sie fühlte sich noch nicht bereit für eine neue Runde. »Es ist tatsächlich passiert.« »Dreimal.« »Ich hoffe«, sagte sie, und dabei bekam ihre Stimme einen ernsthaften Unterton, »daß du nicht einer von die sen Typen bist, die Strichlisten führen.« »Nicht mal beim Golfspielen. Vor allem nicht beim Golfspielen.« Anita küßte nacheinander seine beiden Augen. »Das ist dafür, daß du dich nicht drum gekümmert hast, als ic h weglaufen wollte. Ich muß dich zur Verzweiflung ge bracht haben.« »Als ich dich erst einmal auf dem Rücken hatte, war doch alles in Ordnung.« Sie kniff ihm mit den Zähnen ins Ohrläppchen. »Ich hoffe, dir ist klar, daß wir eine Schlangengrube geöffnet haben?« »Ich würde es nicht so nennen. Was hat das alles zu be deuten, Anita? Wo ist Tonys Vater?« Sie verkrampfte sich, und er mußte sie hätscheln wie ein Baby, bis sie sich wieder entspannte, aber immer noch ging eine verstohlene Besorgnis von ihr aus. »Ich will dir das jetzt nicht erklären. Ich möchte einfach dieses . . . großartige Gefühl des Aufwachens noch ein bißchen genießen. Es ist etwas so Neues für mich. Ich habe beinahe Angst, es noch einmal mit dir zu tun, denn wie könnte es noch einmal genauso schön werden?« »Nun jammere bloß nicht schon im voraus«, sagte er und küßte sie, die Hände auf ihre Brüste gelegt. »Clay, ich glaube, ich bin ein wenig wund da unten. Es war eine verdammt lange Zeit bis heute nacht. Halt mich 176
doch einfach nur fest, ohne mich gleich wieder erregt zu machen.« »Klar.« »Hörst du mein Herz schlagen? Das ist es, was du mit mir machst. Letzte Nacht. . . nun ... ich bin sofort ge kommen, kaum daß du in mich eingedrungen warst. Ich war so schockiert, ich wollte nicht, daß du es merkst. Und noch etwas: Nie zuvor wollte ich mit einem Mann über Sex reden, es war mir unangenehm und peinlich. Ich habe noch nie zu jemandem gesagt: >Vögel mit mir.< Zu dir kann ich das alles sagen. So gut fühle ich mich mit dir, so sehr vertraue ich dir. Mein Gott, ich rede dummes Zeug. Seit wann kennen wir uns? Seit ein paar Tagen?« »Ich kenne dich, seitdem du neulich zur Tür herein kamst und mir die Hand gabst. Die linke. Ich fühlte . . .« »Mitleid?« »Ich fühlte mich gebraucht. War es tatsächlich ein Au tounfall?« >»ne Art Autounfall.« Tomlin fühlte, wie sie wieder vor ihm zurückscheute, wenn auch nicht körperlich. »Ich ver spreche dir, wir werden über alles reden. Später. Aber was können wir heute machen? Sollen wir irgendwohin fah ren?« »Mace Lefevre hat mir angeboten, sein Boot zu benüt zen. Wann immer ich mag.« »Toll.« »Das Licht wird 'n bißchen besser hier drin.« »Siehst du mich jetzt?« »Noch nicht. Noch nicht so deutlich, wie ich möchte.« »Gott sei Dank gibt's die Sonne«, sagte sie. »Es ist . . . wie ein böser Fluch, oder? Einbruch der Nacht, Geister stunde. >Wenn die Gräber sich auftun, und die Hölle selbst der Welt ihren siechen Atem entgegenhaucht.<« »Warst du mal Schauspielerin? Wo hast du das her?« 177
hatte, vielleicht hatte der Kerl sogar noch ein paar Pfünd chen mehr. Der Fisch gebrauchte sein ganzes Gewicht, um zu ziehen und zu versuchen, die Schnur über der rauhen Oberfläche einer Bojenvertäuung zum Reißen zu bringen. Aber Tomlin hatte die Rolle mit 5o-Pfund-Schnur geladen, und langsam zog er damit den Fisch von der Boje weg. Er erklärte dem aufgeregten Jungen genau, was er machte und was der Fisch noch alles unternehmen würde, um frei zukommen. »Wir müssen ihn von der Boje fernhalten und ihn her umspielen lassen, bis er müde wird. Laß uns jetzt ein biß chen mehr Schnur einholen, damit wir ihn in die südwest liche Strömung kriegen. Ich kann ihn nicht auf einmal ranholen. Dabei würde sogar solch eine starke Schnur rei ßen. Wirst du müde in den Armen?« »Ich bin okay!« »Gleich werden wir ihn sehen. Er wird nicht viel sprin gen, er wird versuchen, unten zu bleiben und seine ganze Kraft einzusetzen wie ein Armdrücker. Zieh jetzt etwas Leine ein, und stell die Rolle fest. Das ist ein Bursche. Soll ich dir was sagen, den werden wir uns an Land ziehen.« »Ja!« »Kann ich euch helfen«, sagte Anita, die, eine Hand leicht auf Tonys Schulter gelegt, sichtlich Spaß an der Sa che hatte. »Hol das Netz«, antwortete Tomlin, der den großen Fisch jetzt vorsichtig auf die Backbordseite des Hecks zog. »Hey, da ist er!« Auch Tomlin erhaschte jetzt einen kurzen Blick auf den Schwarzfisch, der einige Fuß unterhalb der Wasserober fläche die ganze Kraft seines Körpers einsetzte, um den Haken loszuwerden. Nach fünfzehn Minuten vorsichti gen Heranziehens an das Boot konnte Tomlin das Netz über den Fisch werfen. 180
Anita machte mit einer Polaroidkamera, die Mace Le fevre immer an Bord hatte, ein Bild von den beiden und ihrer Beute. Tomlin navigierte die Shady Lady IVnaher an Ship Island heran, warf den Anker über einer seichten Stelle, wo aller Wahrscheinlichkeit nach kleinere Fische stehen würden, und gab Tony, der inzwischen zum über zeugten Angler geworden war, eine kleinere Rute, mit welcher der Junge über die Reling angeln konnte, wäh rend er und Anita sich auf ein paar kühle Bierchen in den Salon zurückzogen. »Du kannst gut mit dem jungen umgehen.« »Ich versuche nur, mich daran zu erinnern, wie ich in dem Alter war.« »Die meisten Leute können das nicht. Oder sie wollen sich nicht mehr erinnern.« Sie versuchte von dem Thema abzulenken, das ihnen beiden Sorgen machte. Wie ein Schwarzfisch, der den Kö der riecht, steuerte sie darauf zu, drehte dann ab und schwamm weg, um sich wieder umzudrehen und den Kö der aus der Distanz zu studieren. Schließlich, nach dem sie umsonst versucht hatte, einen bequemen Stuhl zu fin den, und dann aufgestanden war, um nach ihrem Sohn zu sehen, fing Anita an zu reden. »Ich nehme an, daß Angel ein Genie ist. Man fragt sich wirklich, woher er das haben könnte. Vor hundert Jahren hütete man in unserer Familie noch Ziegen, hatte ein paar Olivenbäume oder eine Weinhandlung im Dorf und ver suchte mehr schlecht als recht, die Blutfehden zu überle ben. Natürlich gab es schon immer die Anlage zur Grau samkeit. Und der Hang zum Fatali smus mag daher kommen, daß man auf einem kleinen Felsen mitten im großen Meer hockte. Die Grausamkeit wurde weiterver erbt. Bis jetzt habe ich bei Tony noch nichts Derartiges entdecken können, aber das kann ja noch kommen.« 181
»Du stammst aus Sizilien?« fragte er. »Das tun wir alle. Angel wurde als Dominic Barzatti ge boren. Mein Familienname lautet Morecante, und Carl ist ein Buffano. Jeffords ist nichts als ein Deckname.« Tomlin nickte. Nach langem Schweigen kam Anita zu ihm herüber und setzte sich neben ihn. Er nahm ihre Hand. »Wo hast du deinen Mann kennengelernt?« »Ich kenne Angel beinahe mein ganzes Leben lang. Wir sind nicht nur durch Heirat miteinander verwandt. Cou sins dritten Grades. Wir liefen uns als Kinder immer auf den großen Hochzeiten über den Weg. Und den Begräb nissen. Hallo, wie geht's dir, was hast du in letzter Zeit ge trieben? Keine Rendezvous. Während der Zeit auf der High-School ging ich selten mit Jungen aus. Mein Vater war da sehr streng. Er hielt es auch nicht für nötig, mic h aufs College zu schicken. Er wollte seine Töchter im Haus haben. Sie sollten ihm zu Diensten sein und ihn glücklich machen. Meine anderen Schwestern haben jung geheira tet. Ich drohte meinem Vater, mir den Kopf kahlzuscheren, falls er mich das Stipendium für St. Johns nicht ausnutzen ließe. Mein Vater sprach zwei Jahre lang kaum noch ein Wort mit mir, weil ich damit gedroht hatte, ihn zu enteh ren. Ich glaube, er war stolz auf mich, als ich auf der Schule Erfolg hatte, aber er ließ es mich niemals merken. Sizilia ner sind kluge Menschen, aber sie sind keine großen Den ker und haben für Bildung nicht allzuviel übrig, weil sie das für Verschwendung von Intelligenz halten. Außerdem kann man als Lehrer nicht besonders viel Geld machen. Angel dagegen - der entwickelte ein Talent, das für seine Familie von großem Nutzen war. Computer. Ich nehme an, daß Angel ein Genie ist. Er muß einer der besten Program mierer auf der ganzen Welt sein.« »Und wie seid ihr zwei zusammengekommen?« »Ich büffelte für meinen Magister in Princeton. Angel -L&2
lebte ebenfalls da, in derselben Stadt. Er war bei einer die ser kleinen, aber renommierten Firmen angestellt, die mit Regierungsmitteln gegründet wurden und den Auftrag erhielten, die Grenzbereiche der Super -Computer-Technologie zu erforschen. Ich tat nicht einmal so, als würde ich verstehen, womit er sich beschäftigte. Wir liefen uns eines Abends im Houlihan's oder im Ruby Tuesday oder einem dieser Schuppen über den Weg. Ich hatte eine Ver abredung, er war mit ein paar Kollegen dort. Wir hatten uns seit etwa sechs oder sieben Jahren nicht mehr gese hen. Irgend etwas passierte zwischen uns, er war reifer geworden, wirkte ausgefüllter, ich weiß nicht genau. Ich fühlte mich von ihm angezogen, und ich glaube, ihm ging es ähnlich. Ein paar Abende später rief er mich an. Sechs Monate später heirateten wir. Mein Fehler war, daß ich vorher nicht mit ihm ins Bett gegangen war.« »Warum war das ein Fehler?« fragte Tomlin eigentlich nur, um sie zum Weiterreden zu animieren, denn er wußte, was sie antworten würde. »Weil - nach dem ersten Rausch auf der Hochzeits reise, die einer dieser protzigen, katholischen Trauungen folgte, für die mein Vater mit großem Vergnügen gezahlt hatte, wollte ich . . . wollte ich es einfach nicht mehr mit Angel machen. Ich war schon lange keine Jungfrau mehr, ich hatte mit Männern geschlafen, und es war gut gewe sen, oder es war schlimm gewesen, aber noch nie zuvor war es so gewesen, daß es mir völlig gleichgültig war. Verstehst du, was ich sagen will?« »Du hast ihn nicht geliebt.« »Ja«, sagte sie nachdenklich. »Mein erster vernünftiger Gedanke nach dieser extravaganten Hochzeit war: >Oh, Scheiße, was hast du gemacht?< Ich unterdrückte ihn, so lange es ging, bis nach Tonys Geburt.« »Warum hast du ihn eigentlich geheiratet?« 183
»Ich war damals wahnsinnig verliebt in einen klugen, aber vollkommen verrückten Burschen. Er hatte mir jede Menge Anträge gemacht auf die charmanteste Weise, aber er war völlig unzurechnungsfähig und verantwortungs los. Ich habe viel wegen des guten alten Bills geweint, aber schließlich brachte ich den Mut auf, mich von ihm zu tren nen, und ich glaube, ein gutes Stück meines Fleisches ging mit ihm. Eine Liebesaffäre der schmerzhaften Art. Und dann kam Angel, genau im richtigen Augenblick. Wieder ein intelligentes Kerlchen - das ist ein Muß bei mir, aber diesmal solide, verläßlich, ernsthaft. Und er gehörte zur Familie. Jemand, dem ich alles erzählen konnte. Das war genau das Problem. Er war ein fantastischer Zuhörer, das dachte ich zumindest, aber er hatte selber nichts zu erzäh len - außer über Computer. Er war nicht die Bohne daran interessiert, was in der Welt vor sich ging, oder auch nur an der nächsten Straßenecke. Er sah niemals fern. Er las nichts außer seinem technischen Zeug. Er spielte damals viel Handball, um sich in Form zu halten, und er arbeitete Schichten von achtundvierzig oder gar sechzig Stunden an einem Stück. Wenn wir zusammen waren, redete und re dete ich. Ich hielt unsere Beziehung für wundervoll, dabei unterhielt ich mich nur selbst.« »Hat er dich geliebt?« »Was bedeutete Angel die Liebe? Der Geschlechtsakt war ihm unangenehm. Hinterher wusch er sich immer stundenlang. Das war wie eine Art Buße. Und trotzdem verlangte er immer mehr Sex, und immer mehr geriet er außer Kontrolle, wie ein Auto, das ohne Fahrer mit zwei hundert Sachen dahinrast. Ergibt das einen Sinn für dich? Er arbeitete am Sex, wie er an seinem Computer arbeitete, so, als sei er da mit einem Problem konfrontiert, das es zu entschlüsseln galt, damit man es programmieren konnte. Bis ich ihm sagen mußte, nein, keinen Schritt weiter. Ich 184
bin schwanger, wir müssen damit aufhören, bis das Baby da ist.« »Hat er auf dich gehört?« »Damals fing er mit den Prostituierten an. Flittchen, jede Nacht, oder gar in der Mittagspause, mal zehn Minu ten hier, dann eine Stunde dort. Ich bin inzwischen sicher, daß Angel vor unserer Hochzeit niemals Sex gehabt hatte. Ich glaube sogar, er hatte noch nie . . . er wußte nicht ein mal, wie man abspritzt. Es stand wirklich so schlimm. Aber als er mich dann einmal besessen hatte, geriet der Drang, der Trieb ihm außer Kontrolle. Dann wurde Tony geboren. Ich glaube, Angel hatte ir gendwie Angst davor, Tony im Haus zu haben. Was tun Babys? Sie schreien nach Nahrung, sie sabbern und schei ßen ihre Windeln voll. Dieser . . . dieser absolut unkon trollierbare Ausstoß von Schmutz machte Angel wahn sinnig. Es gab eine Zeit, da kam er kaum noch nach Hause. Das war mir ganz recht. Damals schon hatte ich Angst vor ihm. Ich beobac htete ihn eines Tages dabei, wie er sich einen Hautausschlag an seinem Penis anschaute. Dieser Blick seiner Augen - voller Entsetzen und Abscheu. Mein Gott, wie falsch ich damit umging. Ich blies mich vor ihm auf. Wie könne er uns so etwas antun, nie wieder dürfe er mich anrühren und so fort, der typische Ausbruch einer Spaghettifresserin eben. Er brach weinend zusammen, die Tränen sprudelten nur so aus ihm heraus. Ich glaube, in dieser Nacht ist in ihm etwas zerbrochen, das sich nicht wieder reparieren ließ. Er war hinterher nicht mehr der selbe Mann. Vorher war es mir immer möglich gewesen, zu Angel durchzudringen, wenigstens einen Hinweis auf seine innersten Gefühle zu bekommen. Aber dieser wilde Weinkrampf schien ihn sterilisiert zu haben. Alle menschlichen Gefühle starben in ihm ab. Und dann be gann das Töten.« 185
»Mein Gott«, sagte Tomlin. Ihr Zugriff auf sein Handge lenk war so fest geworden, daß es zu schmerzen begann. Und dabei war sie eigentlich keine Linkshänderin. »Meine Schuld. Es war meine Schuld«, stöhnte Anita. »Wenn ich ihn doch nur in Ruhe gelassen hätte, wenn wir uns doch nie über den Weg gelaufen wären . . . Er hatte sein Leben doch im Griff, es ging ihm gut, und ich . . .« »Anita, hör sofort auf damit. Wen hat Angel getötet?« »Eine blutjunge Prostituierte. Vielleicht war es die, von der er sich den Tripper geholt hatte. Er hat's mir nicht er zählt.« »Aber er hat dir erzählt, was er getan hat?« »Jede Einzelheit. Ich habe ihm nicht geglaubt. Ich glaubte an eine Art Nervenzusammenbruch, Ha lluzinatio nen. Natürlich hatte ich furchtbare Angst. Aber das war noch gar nichts, verglichen mit der Angst, die ich bekam, als er wieder hinausging und es ein zweites Mal tat, und mir dann eine Videokassette davon mitbrachte - wie ein Straßenköter hing er da auf irgendeiner Nutte, während er ihr das Genick brach.« Diesmal sagte Tomlin kein Wort. Die Shady Lady IV schaukelte auf den Wellen, die von einem vorbeifahren den Boot ausgelöst worden waren. Tony saß noch immer geduldig im Cockpit und angelte. Anita kratzte sich von einem Daumennagel den brüchig gewordenen Nagellack ab. Ihre Lippen waren ganz weiß. »Und dann hast du die Polizei gerufen?« »Jetzt kommen wir zu dem Teil der Geschichte, für den du nicht allzuviel Verständnis haben wirst.« »Erzähl's mir trotzdem.« »Er war . . . ganz furchtbar krank. Das ist doch offen sichtlich, oder? Und . . . und in Angels Familie hat man nie die Cops gerufen, es sei denn, man wollte sie um einen Ge fallen bitten oder eine Schmiergeldzahlung leisten.« 186
»Mafia?« »So nennt es alle Welt, nur nicht die Fmtellanza.« »Mit Gangstern kenne ich mich nicht so gut aus.« »Im allgemeinen nennt man sie auch >Wise Guys<. Egal. Ich werde dir später mal ein wenig Unterricht erteilen. Falls es überhaupt ein Später gibt.« Tomlin sah sie einfach nur an. »Ich kann mir nicht vor stellen, daß du dazugehörst.« »Nein, gehöre ich auch nicht. Ich habe niemals dazuge hört. Jedenfalls, als ich über den ersten Schock hinwegge kommen war, nahm ich Verbindung zu Angels Großvater auf. Sein Vater ist tot, und seine Mutter . . . nun, sie ist nur eine Frau, und jetzt konnte sich niemand anders als der Don selber um Angel kümmern. Don Aldo Barzatti. Er ist das Oberhaupt der mächtigsten Familien in diesem Land, capo di tutti capi, überall in der Welt bekannt und ge achtet. Der Barzatti-Familie gehören vierundfünfzig Pro zent des Importgeschäfts meines Vaters, aber das erfuhr ich erst, nachdem ich mit Angel verheiratet war. Er hat es eines Abends mal in den Computer getippt. Ich nehme an, der Don war der einzige, der Papa Geld geliehen hat, wenn er Mühe hatte, seine große Familie mit den Ein künften aus einem kleinen Lebensmittelgeschäft zu er nähren.« »Du hast also den Don angerufen, und . . .« »Er sagte, es wäre ihm eine Freude, sich mit mir in dem kleinen Cafe in der Mulberry Street zu treffen, das sein Stammlokal war. Angel und ich lebten damals in der Nähe von New Brunswick in New Jersey. Ich lehrte an der Uni versität. Zu meiner Verabredung mit dem Don fuhr ich in die Stadt. Wir saßen an ein em kleinen Tisch in der Ecke, wo nicht so viele Fliegen waren, und ich erzählte ihm alles.« »Hattest du die Kassette dabei?« 187
»Angel hatte sie gleich nach der Vorführung gelöscht.« »Du konntest also nicht beweisen, daß er die Frauen ge tötet hatte. Hat der Don dir geglaubt. »Ich glaube nicht, aber er war schockiert. Ich denke, er hatte Mittel und Wege, um das über die Prostituierte auf dem Videoband herauszufinden. Er tätschelte meine Hand und streichelte mir über die Wangen. Er sagte, er würde mit Dominic reden müssen, und ich solle mir keine Sorgen machen. Keine Sorgen machen! Als wäre der Teu fel hinter mir her, packte ich zusammen und ging zurück mit Tony nach Brooklyn. Dort erwischte Angel uns vier Abende später, ich glaube, direkt nach seiner Unt erhal tung mit dem Don.« »Erwischte euch?« »Meine Schwester Roseanne und ich hatten die Kinder zum Einkaufen im King's Plaza mitgenommen. Außer Tony und mir waren ihre beiden Mädchen dabei. Rose anne fuhr. Es war im Juli. Ein Donnerstagabend. Das Ein kaufszentrum war voller Menschen. Nach dem Einkaufen wollten wir ein paar Blocks zu Fuß gehen, um Roseannes Schwiegervater in seinem Restaurant an der Avenue R guten Tag zu sagen und den Kindern ein Coke zu kaufen. Es war noch nicht dunkel. Viel Verkehr auf der Fiatbush Avenue, viele Menschen auf den Bürgersteigen. Angel muß wohl vor der Ausfahrt der Tiefgarage in zweiter Reihe geparkt haben, oder er war auf dem Weg zum Ein kaufszentrum und sah uns auf dem Bürgersteig gehen. Er fuhr unseren Zweitwagen, einen grauen Subaru. Ich ging am äußeren Rand des Bürgersteigs, hatte Tony an der Hand und unterhielt mich mit Roseanne. Sie blieb einen Moment stehen, um sich etwas in einem Schaufenster an zusehen. Umstandskleidung, glaube ich. Roseanne ist alle Augenblicke schwanger. Angel trat das Gaspedal des Subaru durch, schnitt ein anderes Auto auf der Innen 188
spur, und flog über den Randstein hinweg auf uns zu. Ich glaube, es war das Quietschen der Reifen, das uns rettete. Ich fuhr herum und erkannte unser Auto. Vi elleicht er haschte ich sogar einen flüchtigen Eindruck von seinem Gesicht hinter der Windschutzscheibe, ich weiß es nicht mehr. Was ich dir jetzt erzähle, ist mir immer noch sehr verschwommen im Gedächtnis, es dauerte immerhin sie ben Monate, bis ich überhaupt anfing, mich an irgend et was zu erinnern. Mein erster Gedanke muß Tony gegolten haben. Ich hielt ihn an der Hand, und ich schleuderte ihn mit all mei ner Kraft zu Roseanne hinüber. Es ist ein Wunder, daß ich ihm dabei nicht den Arm aus dem Gelen k riß. Angel streifte mit dem Subaru einen Laternenpfahl, dadurch wurde er ein bißchen von seinem Ziel abgelenkt, und ich konnte ein, zwei Schritte zur Seite machen, bevor das Auto mich erfaßte. Ich erinnere mich daran, Sekunden bruchteile vor dem Aufprall Roseannes Gesicht gesehen zu haben. Sie wollte gerade anfangen zu schreien. Dann flog ich durch die Luft. Alles, was ich dir jetzt erzähle, wurde mir später von anderen berichtet. Sie rollten ge rade die Markise des Obstladens neben dem Laden für Umstandskleidung zusammen. Sie war gefaltet wie eine Ziehharmonika, etwa zwei Meter über dem Bürgersteig. Ich flog dagegen, prallte ab, pflügte durch die Pfirsiche, Birnen und Zucchini hindurch, die in Körben vor dem La den gestapelt waren, und landete im Rinns tein. Wenn ich statt der Markise etwas anderes getroffen hätte - eine Glasscheibe oder eine Mauer -, dann hätte das mein Ende bedeutet. Aber auch so war es schlimm genug. Etwa ein Drittel meiner Kopfhaut war weggerissen. Ich hatte ein Loch im Gaumen und blutete so stark, daß man glauben mußte, mein Hirn läge über den Randstein verteilt. Tony hielt mich für tot. Er bekam einen Schock, einen von der 189
Art, die tödlich ausgehen können. Auch Angel muß mich wohl für tot gehalten haben. Er fuhr davon. Niemand no tierte sich das Kennzeichen. Roseanne hatte ihn erkannt, aber sie hielt den Mund.« »Was passierte mit Angel?« »Der Don schnappte sich ihn. Angel hatte keine befrie digende Erklärung. Er tat einfach so, als sei das alles nicht passiert. Vielleicht erinnerte er sich wirklich nicht. Wäh rend seines Gesprächs mit Don Aldo bekam er wieder einen seiner katatonischen Anfälle. Ich hatte ihn vorher schon mehrere Male so gesehen, wie er einfach dasaß, stundenlang, und ins Leere starrte, ohne sich zu bewegen oder zu sprechen. Damals wußte ich nicht, was das war, und er weigerte sich, einen Arzt aufzusuchen. Diesmal brachte man ihn in ein Haus draußen auf Long Island. Du kannst dir vorstellen, daß die Prognosen nicht allzu opti mistisch waren.« »Und was geschah mit dir?« »Ich wurde operiert, mehrere Male. Dann Physiothera pie. Sprachtherapie. Gespräche mit Psychologen. Es war eine lange Rekonvaleszenz. Hundertprozentig wird es nie wieder werden. Nun, und Angel ist aus dem Sanatorium ausgebrochen, die hielten dort nicht viel von Sicherheits maßnahmen. Er fand heraus, wo ich mich aufhielt, und stattete mir einen Besuch ab. Don Aldo hatte zwei seiner Leute zu Angels Empfang geschickt. Er hätte mindestens zehn Männer schicken sollen. Es bedurfte beider Gorillas, dreier Krankenwärter und zweier Streifenwagen voller Cops und beinahe einer halben Stunde, um ihn auf dem Parkplatz endlich zu überwältigen. Angel ist nicht so furchtbar groß, aber er ist eben auch nicht wirklich ein Mensch. Ich weiß nicht, was er eigentlich wirklich ist. Ich weiß nicht einmal genau, warum er entschlossen ist, mich zu töten. Weil ich ihn beim Don verpfiffen habe? Oder 190
weil ich sein Vergnügen beim Erwürgen von Prostituier ten nicht teilen wollte?« »Fühlst du dich immer noch verantwortlich für das, was Angel ist?« »Jetzt nicht mehr. Ich will nur noch mein eigenes Le ben! Ich will eine Entschädigung für das, was ich durch machen mußte.« »War es das, was du wolltest? Lostman's Bayou? Einen Full-Time-Bodyguard und einen angenommenen Na men?« »Der Don hielt es für eine gute Idee. Jedenfalls für eine Weile. Für den Fall, daß das Schlimmste noch einmal pas sieren würde.« Für ein paar Augenblicke sahen sie sich wortlos in die Augen. »Und?« fragte Tomlin dann. »Ist es passiert?« Anita nickte. »Wann?« »Vor drei Nächten.« »Und was wirst du tun?« »Gestern wollte ich noch weglaufen.« »Und heute?« »Ich will dich«, antwortete sie und schaute ihn ein biß chen vorsichtig an, nicht gerade flehend, aber auch nicht besonders optimistisch. »Clay, Clay!« hörten sie Tony draußen laut schreien. »Es hat gerade einer angebissen. Wieder so ein riesengro ßer.« »Klammere dich an der Rute fest!« Tomlin sprang aus seinem Sitz hoch, hielt dann inne und drehte sich noch einmal zu Anita um. Einen Moment lang sah sie düst er und verzweifelt aus, als ihre Blicke sich begegneten. Auch er lächelte nicht. Aber er sah besser aus. Er sah beinahe glücklich aus. Er beugte sich hinunter und gab ihr 191
einen Kuß, einen Kuß, der sich warm anfühlte, so flüchtig er auch gewesen sein mochte. »Wir kriegen das ganz bestimmt hin«, sagte er.
18. Kapitel Wolfdaddy verzehrte gerade ein verspätetes Mittagessen in der Küche des Hauses auf Lostman's Bayou, als Tony und Tomlin hereinkamen, einen Styroporkühler hinter sich her zerrend, in dem sie die gefangenen Fische auf Eis gelegt hatten. Tomlin hatte den ganzen großen schon aus genommen und zerlegt, weil er sonst gar nicht in den Kühler gepaßt hätte. »Opal, die habe ich ganz alleine gefangen! Clay hat mir dabei geholfen, die Angel festzuhalten. Können wir was davon zum Abendessen haben?« Opal war skeptisch. »Sonst rümpfst du bei Fisch doch immer die Nase und verlangst nach Erdnußbutter und Wackelpudding.« »Ich weiß. Aber die hier habe ich doch selbst gefangen. Clay sagt, er will sie auf dem Grill machen. Er weiß, wie das geht.« Er preßte dabei beide Hände zwischen die Beine und vollführte einen kleinen Tanz. »Du solltest lieber zusehen, daß du rechtzeitig aufs Klo kommst«, sagte Tomlin. »Ja, okay. Bis später. Mom hat gesagt, wenn ich meine Schularbeiten nicht machen würde, dann . . .« »Bis später, Tony.« Opal sortierte die Fischfilets. Wolfdaddy stand von sei nem Platz auf, um einen Blick darauf zu werfen. »Die mei sten werde ich einfrieren«, sagte Opal. »Der große hier, was ist das für einer?« 192
»Dreischwanz.« Tomlin schenkte sich aus einem Krug eiskalten Tee ein. »Wie geht's, Wolfdaddy?« »Bin immer froh und zufrieden am Herzen Jesu.« Er hatte zwei große Schalen Gemüsesuppe gegessen und war ge rade dabei, ein Sandwich mit Cornedbeef zu verdrücken. »Na, das sind ja gute Nachrichten.« Wolfdaddy schälte das italienische Weißbrot aus der Rinde, die für seine Zähne zu hart war. »Nicht alle Nach richten scheinen so gut zu sein. Opal hat erzählt, daß letzte Nacht eine Cottonmouth in Ihrem Anhänger her umkroch.« »Hat keinen Schaden angerichtet«, sagte Tomlin. Wolfdaddy nickte. »Hätte Sie aber böse beißen können, das Biest.« »Ohne Zweifel.« »Man fragt sich, wie eine Schlange von der Größe un bemerkt in den Anhänger kommen konnte.« »Da bin ich überfragt. Dabei halten Cottonmouths sich gar nicht gerne in Häusern auf.« »Weiß schon.« Wolfdaddy legte sein Sandwich hin und runzelte die Stirn. Er rülpste, stieß einen Seufzer aus und trank einen Schluck Tee. »Und wenn jemand sie mit Ab sicht in den Anhänger gesteckt hat?« Opal hielt mit dem Einwickeln des Fischs inne, warf Wolfdaddy einen Blick zu und verschwand in Richtung Waschküche. »Ich will davon nichts hören.« Tomlin wartete, bis Opal außer Hörweite war, dann setzte er sich an den Tisch, genau gegenübe r von Wolf daddy, der nach seinem spiegelbehängten Hut griff und ihn aufsetzte, um Würde und Redlichkeit zu demonstrieren. »Was meinst du damit, Wolfdaddy?« wollte Tomlin von ihm wissen. »Ich sag nur, was ich letzte Nacht gesehen habe, und in 193
ein paar anderen Nächten, bevor Sie auf den Bayou heim gekehrt sind. Dann können Sie Ihre eigenen Schlüsse zie hen.« Carl war ziemlich schlechter Laune, als er mit Wink Ever good an einem Ecktisch im Landlubber saß. Das lag zum Teil daran, daß Wink das Mittagessen schmeckte und er nicht die geringsten Probleme damit zu haben schien, daß ihr Vorhaben, Clay Tomlin vom Lostman's Bayou zu ver treiben, gescheitert war. Außerdem hatte Carl in der Nacht zuvor keine Ruhe gefunden, wußte er doch genau, daß Anita und Tomlin es miteinander trieben. Er war in den Regen hinausgegangen, schließlich hatte er wissen wollen, was aus der Sache geworden war. Dabei wäre er beinahe auf zwei blutige Stückchen Schlange getreten, di rekt vor der Tür des Wohnmobils. Er war um den Wage n herumgegangen, und dann hatte er die beiden gehört. Tomlin hatte sie gefickt, und Anita hatte sich dabei ange hört, als sei sie im Paradies. Dabei hatte das Dreckstück doch bis auf einen Tritt in die Eier so ziemlich alles getan, um ihm klarzumachen, daß sie sich nie wieder von einem Mann würde anrühren lassen. Ha, die ganze Zeit über hatte die Schlampe genau gewußt, was sie will. Carl rieb sich über die Stirn, als wolle er sich vergewissern, daß dort über Nacht keine Hörner gewachsen waren. Er würde Clay Tomlin umbringen, ihm einen Anker an den Arsch binden und ihn zehn Seemeilen weit draußen in den Golf kippen. »He«, sagte Carl, »ich will'n Bier.« Er wischte sich mit der Serviette Muschelsoße von der Unterlippe. »Pauli-Girl«, sagte er zu der fetten Kell nerin, die an ihren Tisch gekommen war, »sieh zu, daß es auch wirklich eiskalt ist.« Beinahe drei Uhr, sie hatten das Lokal fast für sich alleine. Draußen war es warm und ein bißchen dun 194
stig. Ein riesiger Standventilator lärmte in der Nähe ihres Tisches. Er verhinderte, daß jedes Wort ihrer Unterhal tung der Bedienung zugetragen wurde. »Und nun?« raunzte Carl. Wink zuckte mit den Achseln. »Wir haben doch noch jede Menge Zeit. Aber wir werden wohl etwas andere Sai ten aufziehen müssen, nachdem das D ing mit der Schlange in die Hose gegangen ist.« »Erzähl mir hier keine Opern, tu was«, sagte Carl. Wink nahm sich noch eine Scheibe von dem Knob lauchbrot. Die Kellnerin brachte Carl eine eiskalte Flasche Bier und ein Glas, das keinen besonders sauberen E in druck machte. Er trank das Bier aus der Flasche. »Das alte Sprichwort hat schon recht«, sagte Wink zu ihm. »Wer das Glück gepachtet hat, der kann ruhig Säge mehl im Hirn haben.« »Tomlin ist kein Dummkopf. Das macht mir ja gerade Sorgen.« Draußen auf dem Parkplatz bremste ein Auto mit quiet schenden Reifen. Wink lehnte sich auf seinem Stuhl ein wenig zurück und schaute durch das Vorderfenster hin aus, aber er sah nichts. Er wandte seine ganze Aufmerk samkeit wieder den letzten Stückchen Rinderzunge a uf seinem Teller zu. Carl brütete vor sich hin. Er hatte der Eingangstür des Landlubber den Rücken zugewandt, des halb konnte er Clay Tomlin nicht sehen, als dieser herein kam und sich umschaute. Sie waren nicht schwer zu fin den. Tomlin steuerte direkt auf ihren Tisch zu, in einer Hand trug er einen braunen Papiersack. Als er nur noch ein paar Schritte entfernt war, sah Wink kauend von seinem Teller auf. Er mußte erst einmal den Bissen und seine Überraschung hinunterschlucken, be vor er sich ein Lächeln abringen konnte. »He, Mann, was sagt man dazu?« 195
Tomlin sagte gar nichts. Carl schaute sich um und schob seinen Stuhl ein paar Zentimeter zurück. Der Luft zug des Ventilators wehte ihm die Krawatte beinahe quer über die Brust. Er starrte Tomlin an, aber der achtete gar nicht auf ihn. Tomlin zog eine Flasche Jack Daniels aus der Papiertüte und stellte sie neben Winks Teller auf den Tisch. Winks Lippen begannen zu zucken. Er verstand nicht. »Wofür ist die?« »Damit breche ich dir den Kiefer ein zweites Mal, du Arschloch«, antwortete Tomlin. Wink brauchte keine schriftliche Einladung. Blitz schnell war er aus seinem Stuhl hochgeschossen, aber Tomlin hatte damit gerechnet, und bevor Wink sich auf ihn stürzen konnte, trat er ihm hart gegen das Fußgelenk, einen zweiten Tritt versetzte er ihm gegen das Knie. Als Wink einknickte und die Arme fallen ließ, schoß Tomlin zunächst eine Gerade ab, und danach einen Haken gegen das Kinn, von dem er wußte, daß es aus Glas war, und tatsächlich knackte der Kieferknochen hörbar, als Wink sich auf den Hosenboden setzte, wobei er beinahe den Ventilator umgerissen hätte. Mit einem lahmen Knie und einem kaputten Kiefer kämpfte es sich nicht besonders gut. Schwer atmend saß Wink da und schaute zu, wie Carl versuchte, Tomlin vom Tisch wegzudrücken. Er hatte ihm beide Arme auf den Rücken gedreht. Zusammen krachten sie gegen einen anderen Tisch und stießen ihn um. »Als nächstes breche ich dir das Kreuz, mein Freund«, keuchte Tomlin. Er versuchte, sich zu befreien, aber Carl hatte ihn sicher, an einem Handgelenk hatte er einen mör derischen Polizeigriff angesetzt. »Immer mit der Ruhe. Sind Sie völlig verrückt gewor den?« Vorne im Restaurant griff die Besitzerin nach dem Hö 190
rer des Wandtelefons. Sie brüllte über die Schulter zurück: »Hört endlich mit der verdammten Balgerei auf! Ich rufe die Polizei!« Carl ließ Tomlin auf der Stelle los, schüttelte die Man schetten aus den Jackenärmeln, richtete seine Krawatte und ging mit freundlichem Lächeln hinüber zu der Frau. »Nicht nötig. Nur eine kleine Meinungsverschieden heit. Ist schon alles geregelt. Ich bringe die beiden hier raus.« Die Brieftasche hielt er schon in der Hand. »Meinen Sie, daß hundert Dollar Ihre Unkosten decken werden?« Wink erhob sich langsam, wobei er sich mit beiden Hän den an einer Stuhllehne festhalten mußte. Das rechte Bein setzte er nicht auf dem Boden auf. Er zog eine Grimasse, dann sah er Tomlin an, immer noch etwas erstaunt, und humpelte schließlich grunzend davon. Als er gegen einen Tisch stieß, fiel er beinahe zu Boden. Sein Kiefer begann anzuschwellen. Mit gesenktem Kopf ging er an Carl vor bei, das Bein, das Tomlin mit Tritten traktiert hatte, trug ihn immer noch nicht sehr gut. »Krankenhaus«, murmelte er. Carl drückte der Eigentümerin zwei Fünfzig -DollarNoten in die Hand und ging hinaus. Tomlin steckte die Whiskyflasche wieder in seine Papiertüte und folgte den beiden anderen. »Und daß mir keiner von euch wieder kommt!« schrie die Besitzerin ihnen nach. Carl verstaute Wink in seinem Mercedes. »Ich w ill mit Ihnen reden«, sagte Tomlin. Carl machte eine Geste, die wohl Gleichgültigkeit aus drücken sollte, dann hob er beide Hände vor das Gesicht für den Fall, daß Tomlin wieder loslegen würde. Tomlins Gesicht war rot vor Zorn. »Sie scheinen was gegen Win k zu haben. Hat das was mit mir zu tun?« 197
»Das hat was mit Schiffsladungen von Dope zu tun, die nachts an meinem Anleger entladen werden.« Carl legte den Kopf auf die Seite und lächelte ungläu big. »Wollen Sie es vielleicht abstreiten?« »Was abstreiten? Ich habe nichts gehört, was ich abzu streiten hätte.« »Versuchen wir's mal anders. Wie ist das mit diesem Don, für den Sie arbeiten? Was würde der dazu sagen, wenn ihm zu Ohren käme, daß Sie Koks aus Mexiko schmuggeln und die Profite für sich behalten?« Er hatte keine Ahnung, ob es tatsächlich der Wahrheit entsprach, der Teil mit den heimlichen Geschäften und dem Betrug an seinem Arbeitgeber, aber schon nach ein paar Augenblicken scheiterte Carls Versuch, seinem Blick standzuhalten, die Schultern sackten ihm herunter. »Anita hat ein loses Maul«, sagte Carl düster. »Aber das heißt noch lange nicht, daß ich über irgendwelches, gott verdammtes Dope Bescheid wüßte.« Tomlin war erregt. »Lassen Sie Anita aus dem Spiel. Ich kann Ihnen nur wünschen, daß Sie sie da nicht mit reinge zogen haben.« Carl zuckte mit den Achseln. »So steht's also um euch beide.« »So steht's um uns.« »Ich hätte das eigentlich wissen müssen. Aber man kann das natürlich auch anders sehen: Sie nutzen ihre ge genwärtige Situation aus, aber ich bin der Mann für sie, auf den es tatsächlich ankommt, ob sie das nun zugeben will, oder nicht.« Carl atmete ein wenig heftig. Er wurde langsam wütend. »Wenn Sie's unbedingt wissen wollen, Anita ist absolut sauber.« »Ihr Glück. Ich will, daß Sie bis heute abend noch aus meinem Haus verschwunden sind.« 198
»Quatsch«, erwiderte Carl angewidert. Aber irgendwie gefiel ihm der Ausdruck auf Tomlins Gesicht nicht, und außerdem mußte man bei einem Mann vorsichtig sein, der Wink Evergood so sauber ausgeknockt hatte. »Okay, ich könnte ja für eine Weile auf mein Boot ziehen, wenn Sie darauf bestehen.« »Ich meinte, Sie sollen aus Lostman's Bayou ver schwinden, und zwar so weit weg wie möglich.« »Sie sehen anscheinend den Punkt nicht. Ich kann nicht einfach verschwinden und Anita und Tony allein lassen. Hat sie Ihnen nicht erzählt. . .?« »Von ihrem bescheuerten Ehemann? Hat sie. Und? Nehmen Sie Ihr Boot, und verziehen Sie sich irgendwo hin, wo ich Ihre Visage nicht sehen muß.« »Ich habe einen ordentlichen Mietvert rag, mein Freund.« »Unterschrieben mit einem falschen Namen.« »Was Sie alles wissen. Aber ich werde Ihnen was sagen, Tomlin, Sie sind gerade dabei, sich hier die Art Ärger ein zufangen, die einen unter die Erde bringen kann.« Hinter ihnen öffnete Wink Evergood die Tür des Mer cedes, lehnte sich heraus und kotzte sein Mittagessen auf den Asphalt. Tomlin sagte gerade: »Was Sie nicht sagen, Carl. Hören Sie doch endlich auf, den starken Mann zu spielen. Das hier ist mein Geburtsort. Die High-School hat man nach meinem Großvater benannt. Wollen Sie wirklich heraus finden, wer hier wem Ärger machen kann?« »Ich sprach nicht von mir. Ich sprach von ihm. Von An gel. Sie sollten sich Anita im Bett mal etwas genauer anse hen. Werfen Sie mal einen Blick auf ihre Narben. Das hat Angel mit ihr gemacht. Und das war nur die General probe. Ich möchte nicht einmal über das nachdenken, was er mit Ihnen anstellt, wenn er Sie bei ihr findet.« 199
Wink stammelte: »Carl? Der Scheißkiefer muß ver drahtet werden, Mann.« Tomlin drückte Carl die Flasche Jack Daniels in die Hand und ging zu seinem Corvette. »Heute abend«, sagte er noch, ohne sich umzudrehen. Mace Lefevres Sekretärin Elizabeth zog die Kopie des Mietvertrags für das Haus auf Lostman's Bayou aus dem Aktenschrank und brachte sie Mace, zusammen mit einem schmalen Ordner mit Korrespondenz. Mace setzte die Lesebrille mit den halben Gläsern auf, über die man hinwegschauen konnte, dann händigte er Tomlin den Vertrag aus, aufgeschlagen auf der letzten Seite. »An den Verträgen ist nichts auszusetzen, Clay. Schau's dir an. Beide Verträge sind auf den Namen der Stan-Dak Corporation of Marmaroneck, New York, aus gestellt, und unterschrieben sind sie von einem Anwalt der Gesellschaft, Franklin E. Bookhultz. Die Jahresmiete wurde im voraus überwiesen, vom Zeichnungsberechtig ten.« »Ist dieser Bookhultz ein vertrauenswürdiger Anwalt?« Mace zog die Stirn in Falten, dann nahm er die Brille ab und klappte sie zusammen. »Natürlich habe ich im Hand buch der New Yorker Anwaltschaft nac hgesehen. Alte Fa milienkanzlei. Bookhultz, Rediger und Seaborn. Larch mont, New York. Warum willst du das wissen?« »Carl hat Verbindungen zum Mob. Barzatti-Familie, wer auch immer die sein mögen. Er hat meinen Besitz be nützt, um Drogenhandel zu betreiben. Und Jeffords ist gar nicht sein richtiger Name. Oder wußtest du das schon?« Mace richtete sich hinter seinem Schreibtisch auf. »Klar wußte ich das. Pseudonym Carl Jeffords. Richtiger Name Carlo Buffano.« 200
»Mace, was zum Teufel. . .?« »Clay, alle möglichen Leute benützen mehr als einen Namen, und daran ist doch so lange nichts auszusetzen, wie sie keinen Betrug im Schilde führen. Von seinen Ver bindungen zum Mob wußte ich allerdings nichts, und auch nichts über seine mögliche Verwicklung in Drogen geschäfte. Hast du eigentlich Beweise für diese Beschul digung?« »Mein Gott, Mace, wen vertrittst du hier eigentlich?« »Ich verwalte den Nachlaß deines Vaters und deines verstorbenen Bruders. Ich vertrete dich, und ich möchte verhindern, daß du dir Ärger einhandelst, weil du Dinge herausposaunst, für die du keine Beweise hast. Und au ßerdem, ja, ich habe auch etwas Honorararbeit für Carl gemacht, habe für ihn den Erwerb einer Baulandparzelle westlich der Stadt arrangiert. Wir sind gerade mit der Ausarbeitung der Verträge fertig geworden.« »Soll ich dir mal was über Drogen erzählen, Mace? In der Navy war das ein echtes Problem. Ich habe zugese hen, wie einem neunzehnjährigen Burschen auf dem Flugdeck der Kennedy beide Arme unterhalb des Ellenbo gens weggerissen wurden, als ein Katapult nicht richtig funktionierte. Ein anderer Junge ist bei lebendigem Leib gedünstet worden, weil er nur noch Scheiße im Kopf hatte. Beide hatten sie Koks geschnupft. Ich habe drei gute Piloten aus meinem Geschwader in Vietnam verlo ren, weil sie süchtig waren. Ich hasse Rauschgift, Mace. Ich will, daß dieser Carl aus meinem Haus verschwindet.« Mace schüttelte den Kopf. »Nicht ohne Kündigungs grund. Also mußt du beweisen, daß er getan hat, was du behauptest. . .« »Wolfdaddy hat das Boot eines Nachts ganz deutlich gesehen, als es von der Fahrt nach Mexiko zurückkehrte. Das Boot von Wink Evergood, wir haben es doch neulich 201
im Jachthafen gesehen. Wink, Carl und der Bootsführer haben das Zeug auf die Ladefläche von Winks Klein laster geladen und es mit einer Plane zugedeckt. Wink hat das Zeug zu einem Treffpunkt in der Nähe von Red Creek ge fahren, oben in der Wildnis bei DeSoto. Dort hat es ein Hubschrauber aufgenommen und weiß der Teufel wohin gebracht.« »Und woher will Wolfdaddy das alles wissen?« »Indem er seine Beobachtungen mit anderen Mosaik steinchen zusammensetzte. Einmal kam Wink auf der Rückfahrt von Red Creek in ein schweres Gewitter und blieb in einem dieser Schlammwege stecken. Am näch sten Morgen mußte er sich zu Fuß auf die Suche nach einem Abschleppwagen machen. Der Fahrer des Ab schleppwagens war Mr. Dawlie Simms, Schwager eines Mitglieds von Wolfdaddys Gemeinde. Auf diese Weise erfuhr Wolfdaddy, wo der Lastwagen hingefahren ist, nachdem er Lostman's Bayou verlassen hatte.« »Na und?« »Als sie in der Werkstatt, für die Simms arbeitet, Winks Wagen reinigten, entdeckte jemand Kokainstaub auf der Plane. Er wußte genau, worum es sich handelte, denn er hatte das Zeug selbst genommen, bevor er den Weg zu Jesus fand. Sie nahmen eine kleine Kostprobe des Pulvers mit zu Wolfdaddy. Daraufhin bat Wolfdaddy Dawlie Simms, sich doch in Red Creek, wo er an Wochenenden Angeln auslegte, einmal umzusehen. Dort oben gibt es keinen Platz, wo man ein Flugzeug landen könnte, aber für einen Hubschrauber reicht es allemal. Simms fand ab gebrannte Leuchtraketen und Reifenspuren um eine Stelle mit plattgetrampeltem Gras herum, die der Regen noch nicht weggewaschen hatte. Ende der Geschichte. Be kommen wir einen Haftbefehl für Carl?« »Nein, zum Teufel. Vielleicht würden die von der Dro 202
genfahndung sich dafür interessieren, aber man kann einen Mietvertrag nicht auf die Aussage von einem Mann hin kündigen, der auf einem verdammten Baum wohnt, und einer Handvoll anderer Nigger, die wah rscheinlich noch nicht einmal bereit wären, ihre Aussagen zu bezeu gen.« »Na großartig. Und du, wirst du weiterhin Geschäfte mit Carl machen?« Ohne Zögern antwortete Mace: »Nein, nicht nach dem, was du mir eben erzählt hast.« »Du hast noch nicht alles gehört«, sagte Tomlin, und dann berichtete er Mace von der Schlange und seinem Zusammentreffen mit Wink Evergood im Landlubber. »Mein Gott«, stöhnte Mace. »Wahrscheinlich machen sie jetzt gerade einen Haftbefehl für dich locker.« »Dazu haben die beiden zuviel zu verbergen. Aber die Tatsache, daß sie sich die Mühe mit der Cottonmouth ge macht haben, in der Hoffnung, ich würde drüber stol pern, beweist, daß Carl sich meiner entledigen will. Könnte sogar sein, daß es sich dabei nur um sexuelle Ei fersucht handelt« - Mace sah ihn fragend an, aber Tomlin ging nicht darauf ein -, »aber ich glaube nicht, daß es das allein ist. Sie erwarten demnächst eine neue Lieferung, und Carl hat Angst, ich könnte ihm dabei Ärger machen.« Mace dachte über das Gehörte nach. »Du machst ihm bereits Ärger, du hast dich sogar schon ganz schön weit vorgewagt, aber ich sage dir, wir haben nichts, mit dem wir zum Sheriff gehen könnten.« »Soll das heißen, ich habe Carl am Hals, ob ich will oder nicht?« »Genau das soll es heißen. Ich habe im Verlauf des letz ten Jahres ein bißchen über Carl erfahren, aber das bleibt alles an der Oberfläche: Er ist leutselig, kommt mit allen möglichen Leuten klar, fährt ein teures Boot und einen 203
Mercedes-Benz, schlägt einen soliden Golfball. Was Frauen angeht, neigt er eher zu der billigen Sorte. Niemals läßt er einen das schöne Gefühl genießen, es mit einem Menschen zu tun zu haben, auf den man sich verlassen kann. Wenn ihm die Tricks einmal ausgehen sollten, wenn er einmal nicht mehr mit seinem gewinn enden Lä cheln weiterkommen sollte, dann könnte es sein, daß er blitzschnell umschaltet und die bösen Geschütze auf fährt.« »Das ist genau der Carl, den ich kenne«, stimmte Tom lin zu. »Sei auf der Hut«, sagte Mace Lefevre.
19. Kapitel Seitdem er Don Al dos Haus verlassen hatte, war Angel ohne Schlaf ausgekommen, achtunddreißig Stunden lang hatte er nicht ein einziges Mal die Augen geschlossen, und jetzt kündigte sich das System, nach dem er gesucht hatte, auf dem Monitor in Baldrics Hackerwerkstatt an, in einem verschlüsselten Code, der ihm vertraut war, weil er ihn selbst erfunden hatte. Er trank noch einen Schluck von dem Tee, der in seiner Tasse längst kalt geworden war, bevor er sich über die Ta statur beugte, um eine Antwort einzutippen. Er zögerte noch einen Moment, wartete, bis der Code seinen Weg herausgefunden hatte aus den Abermillionen verschlun genen Windungen seines Gehirns. Angel hatte sein Ver gnügen an dieser Wiedergeburt, an diesem Akt des Erin nerns, ein Vergnügen, das andere Menschen empfinden mögen, wenn sie einen wunderschönen Sonnenaufgang beobachten oder vor einem großen Kunstwerk stehen. 204
Und dann tippte er seine Anweisungen in den Code. Sie hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihn zu än dern. Der Text auf dem Monitor verschwand und wurde durch ein einziges, blinkendes Wort ersetzt: GESCHLOSSEN Jetzt konnte er das System kontrollieren, das er selbst er schaffen hatte. Er mußte dazu nur einen alternativen Zu gang aktivieren, den er vor Jahren in das Basisprogramm eingebaut hatte, einen Befehl, den er so gut versteckt hatte, daß selbst die scharfsinnigsten Computerprofis keine Chance hatten, ihn zu finden, selbst dann nicht, wenn sie den Verdacht hätten, daß er existieren könnte. Er wartete sieben Sekunden lang. Ein neues Wort erschien: JACKPOT Angel tippte einen Gruß ein. ANGEL IST WIEDER ZU HAUSE Der Computer der Barzatti-Familie antwortete ihm. HALLO, ANGEL. WAS KANN ICH FÜR DICH TUN? Eine Minute und vierzig Sekunden später stieß Angel sei nen Stuhl weg vom Tisch. Er ließ den Monitor eingeschal tet, stand auf, streckte sich vorsichtig - Kniegelenke und Wirbelsäule knackten ein bißchen - und ging hinüber ins Badezimmer. Wassertropfen fielen in regelmäßigen Ab ständen auf den Kopf der Leiche, die er in der Badewanne 205
zurückgelassen hatte. Ganz leicht begann ein unangeneh mer Geruch sich bemerkbar zu machen. Angel pinkelte ausgiebig und in aller Ruhe, wobei er sich eines Großteils des Tees entledigte, den er getrunken hatte. Dann zog er sich aus und hängte die Kleid ungsstücke auf einen Haken an der Rückseite der Tür. Er kletterte in die Badewanne, stellte sich zwischen die gespreizten Beine des toten Paul Baldric und drehte die Dusche voll auf. Mit einer Miene finsterer Zufriedenheit seifte er sorgfältig seinen ganze n Körper ein, ohne dabei auch nur einmal nach unten zu schauen. Nachdem er sich abgetrocknet und seine Kleider wie der angezogen hatte, kehrte er über den Flur zurück in die Hackerwerkstatt. Er hatte jegliches Gefühl für die Zeit verloren. Dem Licht nach zu urteilen, das durch die Jalou sien fiel, hätte draußen entweder der Morgen oder der Abend dämmern können. Die Information, die er dem Fa miliencomputer der Barzattis entlockt hatte, leuchtete noch immer auf dem Monitor: BARZATTI, ANITA
(MORECANTE)
ALIAS :JEFFORDS
LOSTMAN'S BAYOU, MISSISSIPPI
(601)939-6757
Die Telefonnummer verband ihn gleichzeitig mit dem Computer in dem Haus auf dem Bayou. Angel hatte während des Duschens beschlossen, dort hin eine Nachricht zu schicken und hatte im Kopf schon eine passende Form entworfen, auch wenn es eine Menge Arbeit machen würde. Aber er hatte es ja nicht eilig. Er setzte sich in den einzigen Sessel im Zimmer, streckte die Beine aus und starrte auf den Monitor. Bald schlössen 206
sich seine Augen, und der Kopf sackte nach vorne. Er fiel in einen tiefen Schlaf, wobei er aussah, als hätte man ihn hypnotisiert.
20. Kapitel Carl stand auf der Brücke der Lollapalooza. und setzte das Boot gerade vom Anleger zurück, als Tomlin mit seinem Corvette zum Haus hochfuhr. Carl ließ das Hörn ertönen und winkte, freundlich und als ob nichts geschehen wäre. Tomlin winkte nicht zurück, er blieb nur neben seinem Wagen stehen, bis Carl auf dem Weg zum Sound war. Tony kam aus dem Haus gelaufen, weil er das Tönen des Horns gehört hatte. »Wo fährt er hin?« »Er geht auf die Reise«, sagte Tomlin und fragte sich dabei, ob es wohl so sei. »Du wirst wahrscheinlich nicht mehr viel von Carl zu sehen kriegen.« Tony legte die Hände in die Hüften, wobei er ganz un bewußt Tomlin imitierte, und schaute dem Boot nach. »Das ist schon okay«, sagte er. Dann sah er hoch zu Tom lin. »Und was ist mir dir?« »Das hier wird immer mein Zuhause sein, Tony. Wo ist deine Mutter?« »Sie arbeitet.« Tony gab seine Pose auf. Er kniete am Rand der Rasenfläche nieder, u m sich einen offenen Schnürsenkel zuzubinden. »Du hast gesagt, du würdest mir mal zeigen, wie man mit einer Wurfangel umgeht.« Tomlin blickte gegen eine Wolkenbank über dem Golf, unter der die Lolly wie ein Spielzeug wirkte. Aber die Sonne schien noch immer. »Natürlich. Ich habe ja Zeit ge nug.« 207
Er montierte einen Außenbordmotor an eines der klei nen Boote, dann fuhren sie langsam den Bayou hinauf. Tony durfte steuern. Die Fische könnten jetzt jederzeit beißen, meinte Tomlin, deshalb sei es nicht sin nvoll, zu erst eine Übungsstunde einzulegen. Er war mit seinen Gedanken immer noch bei Carl, bei dessen Abfahrt. Das war kein wirklicher Abschied, nur ein Leck -mich-amArsch-Tuten mit dem Hörn. Der würde wiederkommen. Vielleicht nachdem er sich an einem anderen Ort ir gendwo entlang der Küste ums Geschäft gekümmert hatte. Später könnte es dann zu einer ganz einfachen Auseinandersetzung kommen, mit Anita zwischen den Fronten. Vielleicht, dachte Tomlin, würde sie es nicht wagen, sich gegen Angels Familie aufzulehnen. Der Pate, oder wie auch immer der Typ sich nennen mochte, könnte entscheiden, daß sie und Tony wieder umzuzie hen hätten. Wie sollte er sonst entscheiden, wenn es um Tonys Wohlergehen ging? Tomlins Gegenangebot könnte sich als reichlich unsicher erweisen. Wenn die Sonne einmal untergegangen war, würde sie sich schließlich um ihn kümmern müssen. Der Gedanke, auch nur einen einzigen von beiden wieder zu verlieren, de primierte ihn sehr. »Carl war nicht mein Vater«, sagte Tony ganz unerwar tet. Weil Tomlin hinter ihm stand, konnte er das Gesicht des Jungen unter dem Schirm der Navy-Mütze nicht se hen. »Ja. Das weiß ich.« »Darf ich es jetzt mit einem Köder versuchen?« »Okay.« »Auf was gehen wir heute?« »Auf Specs. Das sind gefleckte Forellen.« «Wie groß sind die?« «Groß genug, um sich gegen dich zu wehren.« 208
Sie fingen gar nichts. Tony riß den Köder einige Male ab, weil er ihn zu nah an Baumstümpfe heranwarf, aber er verlor weder die Lust, noch wurde er ungeduldig, er drehte sich einfach nur um und schaute, was Tomlin dazu meinte. Tomlin hatte das Gefühl, dem Jungen ging es vor allem darum, hier neben ihm zu sitzen und etwas gezeigt zu bekommen, woran er später einmal großen Spaß haben würde. Bevor sie es bemerkt hatten, begann es dunkel zu werden und Tomlin konnte den Flug des Blinkers kaum noch verfolgen. »Ich hatte mal einen anderen Vater«, sagte Tony, nach dem er über vierzig Minuten lang nichts mehr zum Thema Väter gesagt worden war. »Hab' davon gehört. Erinnerst du dich an ihn?« »Nein«, antwortete Tony. Er öffnete die Kühltasche, die sie mitgenommen hatten, und nahm sich eine Dose Mountain Dew heraus. Tomlin half ihm beim Aufreißen der Dose, denn Tonys Hände waren kraftlos vom langen Halten der Angelrute. Beide nahmen sie einen Schluck. Tony lehnte sich zurück zwischen Tomlins Knie und legte den Kopf gegen Tomlins Brust. »Manchmal erinnere ich mich doch«, sagte er und schaute dabei in den Himmel. Dann fügte er mit derselben Gleichgültigkeit in der Stimme hinzu: »Ich bin müde.« »Ich auch. Wir haben ja auch lang genug geangelt. Au ßerdem wird's Zeit, daß ich nach Hause komme.« »Weil bald die Geisterstunde anfängt?« »Das habe ich nur so gesagt, weil. . . weil ich dir nicht erzählen wollte, daß ich ein Problem habe.« »Du kannst im Dunkeln nichts sehen.« »Stimmt. Wie hast du das herausbekommen?« »Ich weiß es von Mom. Sie hat mit sich selbst geredet. Sie dachte, ich würde schlafen und könnte es nicht hören. Kannst du gar nichts sehen?« 209
»Nein, nicht nachdem die Sonne untergegangen ist. Bis zum nächsten Morgen.« »Das muß furchtbar unheimlich sein. Hast du keine Angst?« »Ich habe schon mal Angst gehabt, Tony«, gab Tomlin zu. »Ich schlafe immer bei Licht. Niemand darf das Licht ausschalten. Huh.« Er wandte Tomlin sein Gesicht zu. Um den Mund herum war alles klebrig von der Limonade. Er entblößte ein paar Zahnlücken, als er lächelte. »Big -Dog könnte dein Blindenhund werden. Wetten, daß wir ihn trainieren könnten. Würde dir das gefallen?« »Die Frage ist, ob es Big-Dog gefallen würde.« »Nun, du schläf st doch sowieso den größten Teil der Nacht, oder? Ist also alles nicht so schlimm.« »So sehe ich das auch. Willst du den Rest Mountain Dew nicht mehr?« »Nein, danke, ich mag Sprite lieber. Wirst du den Fisch auf dem Grill braten, wie du es gesagt hast?« »Ich glaube, ich werde heute abend das Kochen lieber Opal überlassen. Fährst du uns beide jetzt nach Hause?« Carl saß unter der Markise seines Bootes, das er auf der Nordseite von Ship Island festgemacht hatte, abseits der Küstenwasserstraßen und des vom Golf hereinkommen den Bootsverkehrs, der hauptsächlich aus gecharterten Motorjachten und Fischkuttern bestand. Er genoß den herrlichen Sonnenuntergang und einen frisch einge schenkten Seven-and-Seven, während er über seine Pro bleme nachdachte. Mit der Kokainlieferung aus Cancün, die so gegen zwei Uhr nachts zu erwarten war, würden er und Tom Paul schon alleine fertig werden, ohne Wink, auch wenn dem Ausweichtreffpunkt, einem Bootshafen unter Konkurs 210
Verwaltung sieben Meilen östlich von Port Bayonne, die Abgeschlossenheit von Lostman's Bayou fehlte, an die er gewöhnt war. Wenn man ohne Lichter fahren mußte, konnten Treibholz und Schlammbänke zu einer großen Gefahr werden. Nun, von nichts kommt nichts. Eine Stunde kalter Schweiß bei dem Versuch, im Dunk eln zu sehen, und dem Risiko, daß die Küstenwacht sich ausge rechnet in dieser Nacht den verlassenen Bootshafen für eine Routinekontrolle gewählt haben könnte, das mußte man eben als angemessenen Preis in Kauf nehmen. Aber ganz sicher hatte er nicht die Absicht, das Glück über Ge bühr herauszufordern. Es war ohnehin gefährlich genug, sich noch immer im Zwielicht des Kokainhandels zu be wegen. Er war informiert, weil er mit seinem Computer Informationen von den >schwarzer Brettern< der Hacker abrufen konnte. Jeder halbwegs fähige Chemiker konnte inzwischen synthetische Drogen herstellen, deren Wir kung um einige Tausend Prozent über jener der Mor phine lag. Die meisten von ihnen waren noch nicht verbo ten, man konnte also Stoff im Wert von einer Milliar de Dollar in einem Schuhkarton unterbringen. Wenn man nun noch in Rechnung stellte, daß etwa 15 % der Bevölke rung mit einer genetisch bedingten Veranlagung zur Dro gensucht herumspazierte, dann konnte man nur zu dem Schluß kommen, daß synthetische Drogen für einen Un ternehmer wie ihn genau das Geschäft der Zukunft wä ren. Noch vor Sonnenaufgang würde er an Bord der Lolly eine Gesamtsumme von 1,6 Millionen Dollar versteckt haben, und man würde das verdammte Boot bis zur Was serlinie umkippen müssen, um etwas davon zu finden. Im nächsten Frühjahr würde er dann eine ausgedehnte Kreuzfahrt zu den Cayman-Inseln unternehmen und bei der Gelegenheit Einzahlungen auf die Bankkonten ma chen, die sein Cousin Rollie dort eröffnet hatte. Von dort 211
aus ließ sich das Geld dann vorsichtig verteilen, auf an dere Banken in Panama, Curacao, Hongkong. Unglücklicherweise hatte Carl keine Ahnung, wem ge genüber Tomlin gequatscht hatte, oder ob er überhaupt sein Maul aufgerissen hatte. Wenn er nur etwas Verstand besaß, dann müßte er sich abgekühlt haben, nachdem er Wink den Kiefer zertrümmert hatte, und müßte sich ge sagt haben, daß er ohnehin schon viel zu weit gegangen war. Vielleicht würde sein Verdacht sich auf Anita rich ten, aber damit wollte Carl schon fertig werden. Er fühlte sich noch immer von Anita betrogen. Wenn man ein Jahr lang zusammenlebt, dann ist das beinahe so wie eine Ehe. Aber er durfte sich jetzt nicht auf destruk tive Gefühle wie Eifersucht einlassen, denn er wußte ganz sicher, daß er in dieser Situation letztlich die Oberhand behalten würde. Es stand in seiner Macht, Anita und Tony vom Bayou wegzubringen, er mußte nur den Don von der Notwendigkeit eines solchen Unternehmens überzeu gen. Die Familie hatte ihn ohnehin schon alarmiert. Hört mal zu, würde er sagen, es ist nur eine Vorsichtsmaß nahme, bis wir sicher sein können, daß Angel wieder hin ter Schloß und Riegel sitzt. Ein weiterer Umzug würde zwar einiges Geld kosten, aber der Don war in diesen Dingen sehr gewissenhaft, außerdem schätzte er Anita wirklich. Und dann gab es ja auch noch den kleinen Tony, der war schließlich Blut von seinem Blut. So ungern Carl auch an Anitas Seitensprung von letzter Nacht dachte, in gewisser Hinsicht könnte ihm Tomlin sogar einen Gefal len erwiesen haben. Er hatte Anita wieder aufgelockert, hatte ihre Lebenslust wieder geweckt. Wenn er sie erst einmal vom Bayou weggebracht hätte, malte Carl sich aus, vielleicht nach Kalifornien - Santa Barbara sollte eine fan tastische Stadt sein -, dann würden sie alle in das Leben zurückkehren, an das sie gewöhnt waren, allerdings mit 212
einem entscheidenden Unterschied: Anita würde kapiert
haben, daß es die Familie war, die zählte, daß niemand,
und schon gar nicht dieser Flieger, so gut für ihr Wohler
gehen sorgen konnte wie die Familie. Sie würde auch end
lich begreifen, wie sehr Carl sich um sie kümmerte. Er
könnte es sich jetzt leisten, ihr ein paar wirklich hübsche
Dinge zu kaufen. Und was den Sex betrifft: Er hatte sich
gescheut, sie zu drängen, er hatte sie für wirklich frigide
gehalten. Und jetzt. Welche Überraschung. Beim näch
sten Mal würde er sie richtig zu behandeln wissen. Als er
gestern morgen in ihrem Badezimmer ein bißchen zu
dringlich wurde, hatte er mehr gesehen als nur eine herr
liche, brachliegende Fotze, er hatte in ihren Augen auch
das Verlangen entdeckt. Kein Wunder, daß Tomlin es so
leicht gehabt hatte. Carl steigerte sich in den Gedanken
hinein. Jesus, keine von den Bräuten, die zu ihm ins Bett
gestiegen waren, hatte ihn so angemacht wie Anita . Mit
nackten Beinen in einem engen, kurzen Höschen steckte
sie alle anderen in die Tasche. Und ihr Hintern. Angel
hatte ihr genau dort keinen Schaden zugefügt, wo es
wirklich zählte. Carl hatte den zweiten Drink ausgetrun
ken, ohne zu merken, wie schnell er weniger geworden
war. Ihn dürstete nach einem neuen. Sein Schwanz wollte
einfach keine Ruhe geben. Er schleuderte das Glas in ho
hem Bogen über Bord, öffnete den Hosenschlitz und flü
sterte ihren Namen in lüsternem Verlangen.
Anita ging hoch in Carls Schlafzimmer, um sich dort um
zusehen, dann kehrte sie zurück ins Wohnzimmer, wo
Tomlin auf sie wartete. Sie zündete sich eine Zigarette an,
bevor sie sprach.
»Er hat nicht viel gepackt, wenn überhaupt etwas.«
»Vielleicht hat er für einen schönen, langen Trip genug
Klamotten an Bord.«
213
Anita ging an ihm vorbei zu der Tür, die in die Bibliothek führte, und öffnete sie mit einem Ruck. Tony spielte drü ben ein Computerspiel, eines mit dem Namen Unheimli cher Korridor<. Die Überreste eines Sandwichs mit Erd nußbutter und Marmelade lagen neben ihm auf dem Teller. Big-Dog sah von seinem Lumpenteppich zu ihr hoch. Anita schloß die Tür wieder und ging zurück, um sich direkt vor Tomlin auf den Boden zu setzen. Ein Schmerz im rechten Hüftgelenk ließ sie zusam menzuk ken. Sie legte ihren Kopf auf sein Knie. Er streichelte ihren Nacken und eine Schulter. »Ich wünschte, du hättest mir etwas gesagt, bevor du hingingst, um Carl zu beschuldigen.« »Es handelt sich nicht nur um Beschuldigungen.« »Ich weiß, ich weiß. Du hast es mir ja erklärt. Ich kann einfach nicht glauben, daß er . . .« »Was weißt du eigentlich wirklich von Carl?« »Oh, nicht sehr viel.« Ihre Stimme klang ein bißchen müde an diesem Abend, sie artikulierte die Worte nicht so exakt, glitt in eine Art heiseren Flüsterns ab. »Er ist dir zugeteilt worden, ist es nicht so?« »Ja. Aber wenn er jetzt wirklich abgehauen ist. . .« »Vermißt du ihn?« »Das ist nicht fair! Was immer er ist oder sein mag, Carl hatte immer Mitgefühl für uns. Er hat bei Tony sein Bestes versucht, und ich habe mich hier mit ihm sicher gefühlt.« »Sicherer als mit einem blinden Piloten?« Sie sprang auf und stieß sich verärgert von ihm ab. Er hörte sie im Wohnzimmer herumgehen. Zu den Ming hunden am Kamin, zur Eingangstür. Es gelang ihm immer besser, jemandem mit den Ohren zu folgen. Es half ihm, daß der Fußboden ein bißchen knarrte. Oder war er auf Anitas Geräusche einfach besser eingestellt, als er es bei einem Fremden gewesen wäre? 214
Mit schnellen Schritten kam sie zu ihm zurück und packte ihn bei den Schultern. »Du bist nicht blind. Hör endlich damit auf, dir selbst leid zu tun.« Anita küßte ihn und zog seinen Kopf in ihren Schoß. Die Zigarette hatte sie in einem Aschenbecher abgelegt. Er glitt mit einer Hand unter ihre Bluse. Unter dem Bü stenhalter fand er eine Brustwarze. Aus der Bibliothek kam ein häßlicher, schriller Schrei, den der Computer ausstieß, als der Mann im Unheimli chen Korridor< sein Teil bekam. Ihre Lippen weiterhin ge gen seinen Mund pressend, schob Anita seine Hand von ihren Brüsten weg, hielt sie aber fest. Nach einem tiefen, zufriedenen Atemzug sagte sie: »Tony mag dich sehr, aber . . . du und ich, Clay, das wäre vielleicht ein bißchen zuviel auf einmal für ihn. Es wäre nicht gut, wenn er mitten in der Nacht in mein Schlafzim mer spaziert käme - was er manchmal tut - und dich dort vorfände. Verstehst du das?« »Ich sollte mir bei meiner Rückkehr in mein Haus viel leicht ein bißchen Zeit lassen.« »Laß ihn sich erst mal an die Tatsache gewöhnen, daß du hier bist.« Anita küßte ihn noch einmal, dann stand sie blitz schnell auf, als Tomlin hörte, wie die Tür zur Bibliothek aufgeschoben wurde. Aber hinter ihrem Rücken behielt sie Kontakt zu seinen Fingerspitzen. »He, Tony! Keine Lust mehr zum Spielen?« Tomlin konnte am Kl ang ihrer Stimme erkennen, daß Tony sie in ihrer Umarmung erwischt haben mußte. »Das ist langweilig«, antwortete Tony. »Machst du mir noch ein Sandwich mit Erdnußbutter und Marmelade?« »Du kannst dir dein Sandwich selber machen. Und dann ab ins Bett. Es ist schon Viertel nach neun.« 215
»Gute Nacht, Tony«, sagte Tomlin. »Gute Nacht«, antwortete der Junge nach ein paar Se kunden des Zögerns, während er an Tomlins Sessel vor beiging. Big-Dog folgte ihm hechelnd. »Wie wirst du rausfinden?« fragte Tony. »Deine Mutter wird mir helfen.« Zu Anita sagte Tony: »Und kommst du dann zu mir rauf? Sofort?« »Ja, das tu ich.« Tony rannte in die Küche. Sie hörten ihn pfeifen. »Du bist ganz rot geworden«, sagte Tomlin. »Woher willst du das wissen, du kannst doch . . . oh, du bist ein schlaues Kerlchen.« »Ja«, sagte Tomlin.
21. Kapitel Marilyn Anstedts Mann Jack, ein Marketinganalytiker, war auf Geschäftsreise nach Chicago. Marilyn war spät in ihr schindelgedecktes Haus im Kolonialstil zurückge kehrt, das an der Birchall Road in Cherry Hill, New Jersey, stand, deshalb nahm sie den 15 Monate alten Larry lange nach seiner Zubettgehzeit mit hinaus, um im nahe gelege nen Pathmark noch ein paar Lebensmittel einzukaufen. Der Junge bekam Zähne, deshalb war er in dem hellen Ge wölbe des Supermarkts etwas quengelig. Sie gab ihm einen Keks aus einem der Regale zum Kauen, während sie durch die Gänge eilte und den Wagen mit dem Nötigsten vollpackte. Das Gesicht mit Schokolade und Kekskrü meln vollgeschmiert, zeigte Larry auf Gegenstän de, die sein Interesse weckten, und gab in seiner unverständli chen Privatsprache Kommentare dazu ab. 216
Marilyn hätte es vorgezogen, keine berufstätige Mut ter zu sein, zumindest so lange nicht, bis Larry alt genug für den Kindergarten wäre, aber das neue Haus hatte et was mehr gekostet, als sie sich eigentlich leisten konnten. Alle Makler hatten ihnen geraten, lieber gleich zu kaufen, weil im nächsten Jahr die Hypothekenzinsen bis zum Mond klettern würden. Jack war einunddreißig. Es würde noch mindestens drei Jahre dauern, bevor er hoffen konnte, auf der Leiter über das mittlere Management hin auszuklettern und dann eventuell das Doppelte der acht unddreißigtausend Dollar zu verdienen, die er jetzt nach Hause brachte. Marilyn, die im Alter von sechzehn Jahren an den Ausscheidungen für die Olympischen Spiele teil genommen hatte, arbeitete als Turnlehrerin an der örtli chen Volksschule. Jetzt beim Einkaufen trug sie einen dicken Strickpullo ver, darunter ihren grünen Gymnastikanzug und Cape zios. Sorgfältig ging sie noch einmal jeden einzelnen Po sten auf der hastig zusammengekritzelten Einkaufsliste durch. Hatten die das Tierfutter schon wieder woanders gestapelt? Ständig wurde in diesem Laden umgeräumt. Sie fragte einen der Angestellten, und der deutete in Rich tung des rechten Gangs. Drei Dosen Tabby Treet. Dafür hatte sie einen Gutschein. Nun hatte sie alles beisammen. Die Kassiererin war kürzlich noch in einer ihrer Klas sen gewesen. Ganz gut am Boden, hoffnungslos am Schwebebalken. Larry wurde wieder unruhig, außerdem sabberte er. Was für eine Schweinerei. Marilyn nahm ihn hoch und klopfte ihm beruhigend auf den unförmigen Pampershintern, während das Mädchen ihre Sachen in Tüten verstaute. »Seid ihr knapp mit Personal heute abend, Barbie?« »'s ist wegen dem Bruce-Springsteen-Konzert. Ich wäre auch nicht hier, wenn ich mir nicht Extrageld verdienen 217
müßte, um ein Bußgeld wegen zu schnellen Fahrens be zahlen zu können. Wenn Sie eine Minute Zeit haben, werde ich Ihnen jemanden besorgen, der Ihnen hilft, Mrs. Anstedt.« »Kein Problem. Ich komme allein zurecht.« Sie trug ihren Sohn auf einem Arm, mit dem anderen schob sie den Einkaufswagen hinaus auf den gutbeleuch teten Parkplatz. Ein Platz fürs Auto war abends schwer zu finden. Auf der einen Seite des Supermarkts gab es ein Lichtspielcenter mit vier Kinos, auf der anderen ein Bowlingcenter. Marilyn blieb hinter ihrem Auto stehen, einem neuen Toyota mit Hecktür. Bevor sie die einge kauften Waren verstaute, setzte sie Larry in seinen Si cherheitskindersitz auf der Rückbank und gab ihm noch einen Kuchen. Um die Krümel kümmerte sie sich nicht, der Sitz war ohnehin schon schmutzig. Sie würde den Wagen am Samstag in die Waschstraße bringen, wenn es Zeit wäre zu tanken. Einmal Autowäsche und Staubsau gen gratis bei Abnahme einer ganzen Tankfüllung. Zur Zeit galt es, jeden Dollar auszuquetschen, bis er blau würde. Eines Tages würden sie sich keine Sorgen mehr machen müssen. Eine der Tüten riß, weil sie beim Raus heben aus dem Einkaufswagen nicht aufgepaßt hatte. In Plastik eingeschweißtes Gemüse und Konservendosen kullerten auf den Asphalt. »Scheiße!« sagte Marilyn. Sie sah ihren weißen Atem gegen die dunkle Hecktür des Autos, und ihr wurde klar, daß sie vor Müdigkeit den Tränen nahe war. Ruhig, Mari lyn, bleib ganz ruhig. Sie kniete sich runter, um die verstreu ten Sachen zusammenzusuchen, und als sie sich wieder erhob, stieß sie gegen jemanden, der sich hinter ihr aufge stellt hatte und einen Strunk Brokkoli in der Hand hielt. Flüchtige Wahrnehmung einer schwarzen Windjacke und eines Flanellhemds. Er hatte ein beinahe quadratisches 218
Gesicht, dunkles, kurzgeschnittenes Haar, und sein Blick, der völlig unbewegt auf ihr ruhte, gefiel ihr über haupt nicht. »Oh, vielen Dank . . . ich glaube, jetzt habe ich alles beisammen. Diese Tüten taugen überhaupt. . .« Er sagte kein Wort. Sie drehte sich schnell um und warf die Kon servendosen in ihren Wagen. Zum Teufel mit ihnen. Sie ließ die Dinger auf der Ladefläche herumrollen, sie wollte nur so schnell w ie möglich weg von hier. Als sie nach dem Brokkoli langte, den er ihr entgegenstreckte, fiel ihr Blick auch auf seine andere Hand. Er drückte ihr eine Messerklinge gegen den Unterleib, gleich unterhalb des Bündchens ihres langen Pullovers. Marilyn sog die kalte Abendluft tief in sich hinein, die beinahe ebenso schneidend war wie die aufdringliche Messerspitze. Ihr wurde schwach, und sie hatte ein Gefühl, als wollten ihre Knochen gegeneinanderschlagen. »Oh, Gott. Bitte. Ich habe ein Baby.« »Sie fahren«, sagte der Engel des Todes zu ihr. Alles wäre besser gewesen, als ihn in das Auto zu las sen, wo Larry saß, aber sie hatte schon immer wahnsin nige Angst vor Messern gehabt. Nicht einmal in der Kü che ging sie gerne mit ihnen um. Er mußte ja nur einmal hart zustoßen, und sie würde nie wieder ein Kind haben können. Sie würde hier auf diesem Parkplatz sterben, auf dem sie schon Hunderte von Malen gewesen war, der ihr so vertraut war wie ihr eigener Vorgarten. Ihre Unter lippe verformte sich zu einem zitternden Bogen. Sie wollte zurückweichen, aber der Toyota war ihr im Weg. »Nein«, sagte er und drückte ihr die Messerklinge noch etwas fester gegen die Lenden. »Drehen Sie sich um.« In der Nähe schlug eine Autotür, sie hörte Gelächter, einen kurzen Moment lang keimte Hoffnung in ihr auf. 219
Jemand würde gleich sehen, was hier vor sich ging, und ihr zu Hilfe kommen. Er schlug die Hecktür zu. »Los«, sagte er. Er packte ihren Arm, dann nahm er das Messer höher, setzte es in Höhe des Bauchnabels an, bevor er sie zur Fahrertür des Wagens hin umdrehte. Er öffnete die Tür und ließ sie ein steigen. Er hatte ihre Handtasche aus dem Einkaufswagen genommen. Jetzt suchte er sie in aller Ruhe durch, wäh rend sie steif und aufrecht hinter dem Lenkrad saß und auf die Halloween-Dekorationen in den Schaufenstern des Supermarkts starrte: Kürbisse, schwarze Katzen, He xen. Fantasie-Schrecken. Nur wenige Meter weiter: Bier bäuche und Bowlinghemden. Und niemand interessierte sich für das, was hier vor sich ging. Aber es ging ja gar nichts vor sich. Sie saß in ihrem Auto, und ein Mann, der ihr Ehemann hätte sein können, suchte in ihrer Handta sche nach den Schlüsseln. Sie sah ihr Gesicht im Glas der Windschutzscheibe und widerstand dem Bedürfnis, laut loszuschreien. Er würde sie töten, wenn sie es wagen würde zu schreien. Als er die Schlüssel gefunden hatte, stieß er ihr die Lehne des Fahrersitzes hart in den Rücken und setzte sich neben das Baby. Er reichte ihr die Schlüssel über die Schulter. »Okay«, sagte er. Sie sah ihn im Rückspiegel, sein dunkles Gesicht gleich neben Larrys blonden Locken. Irgend etwas in ihr schrumpfte zusammen, ihr Unterleib fühlte sich an der Stelle, wo er sie mit dem Messer bedroht hatte, wie abge storben an. »Ich glaube . . . ich kann nicht Auto fahren«, sagte sie. Ihre Stimme klang entschuldigend, aber sie be fand sich hart am Rande der Hysterie. »Ich werde Sie nach einer Weile laufenlassen. Alles, was ich will, ist das Auto.« 220
»Nehmen Sie es doch gleich, und lassen Sie uns in Ruhe.« »Wie heißt er?« »Larry.« »Wollen Sie, daß ich Larry die rechte Hand abschneide?« Marilyn steckte den Schlüssel in das Zündschloß und ließ den Toyota an, mit derselben feierlichen Präzision wie am ersten Tag in der Fahrschule. Vorsichtig setzte sie rück wärts aus der Parklücke und fuhr zu einer der Ausfahrten. »Was ist das für eine Straße?« fragte er sie. Er biß in einen der Äpfel, die Marilyn im Supermarkt gekauft hatte. »Haddonfield Berlin Road.« »Und wo ist die Schnellstraße?« »Rechts. Etwa zwei Meilen. Werfen Sie uns do rt raus . . .« »Ja«, antwortete er. Sie wußte, daß er ein Lügner war. Ein beschissener, dreckiger Lügner. Er würde sie nicht laufenlassen. Aber was konnte sie schon tun? Das Baby war übellaunig. Müde. Der Kerl saß da hinten und machte »Pssst. Pssst.« Und wenn er auf einmal die Geduld mit Larry verlor? Marilyn fühlte sich unglaublich erleichtert, als er den Rücksitz verließ und sich neben sie setzte. Er warf den Ap felbutzen aus dem Fenster und durchsuchte noch einmal ihre Handtasche, in einer Hand hielt er immer noch das Messer. »Ich habe nicht. . . viel Geld. Normalerweise schreibe ich Schecks aus.« Wenn sie ihn vorwarnte, würde er viel leicht nicht gar zu wütend werden. Es gelang ihr, die Trä nen zurückzuhalten, den Ansturm furchtbarer Angst. Es könnte fatale Folgen haben, zuviel Schwäche zu zeigen. Er schien sich nicht sehr für sie zu interessieren, nur selten schaute er in ihre Richtung. Aber sie spürte deutlich, daß er alles mitbekam, was sie tat, daß er selbst Gedanken an 221
eine mögliche Flucht, die ihr durch den Kopf gehen könn ten, erraten würde. In beiden Richtungen fuhren Autos an ihnen vorbei. Wenn sie einfach nach links rausziehen und jemanden seitlich abdrängen würde. Larrys Chancen wa ren nicht schlecht. Er war in seinem Kindersitz festge schnallt. Aber wäre der Toyota erst einmal außer Kon trolle geraten, könnte ein mehrfacher Zusammenstoß daraus resultieren. Vielleicht sogar ein Feuer. Und wie stünde es dann um seine Chancen? Der Engel des Todes nahm sich das Geld, das er in der Tasche gefunden hatte. Elf Dollar. Und eine Kreditkarte für Benzin, die auf Jack ausgestellt war. Dann öffnete er ein weiches Lederetui und nahm ihr Kruzifix heraus, das an einer starken Kette aus tonnenförmigen, vierzehnkarä tigen Goldkügelchen hing. Er hielt das Kruzifix hoch und studierte den winzigen, leidenden Schmerzensmann im Scheinwerferlicht der entgegenkommenden Autos. »Es war einmal ein perfekter Mann«, sagte er. Irgendet was im Tonfall seiner Stimme ließ vermuten, daß ihn diese Vorstellung glücklich machte. »Dort ist die Schnellstraße.« »Fahren Sie weiter.« »Wo hin?«
»Irgendwohin. In einen Park, auf einen Golfplatz. In den Wald.« Ihr Mund war wie ausgedörrt. Sie konnte nicht mehr sprechen. Sie und Jack lebten noch nicht lange in Jersey. Letzten Winter waren sie aus ihrer Wohnung in Phila delphia hierhergezogen. Sie kannte die Gegend noch nicht allzugut. Es war hauptsächlich eine Wohngegend. Die Grundstücke wurden immer größer, und die Häuser standen weiter auseinander. Es gab nicht mehr so viele ausgeleuchtete Kreuzungen, und nur wenige Autos fuh ren herum. 222
»Fahren Sie geradeaus.« Sie fuhren eine lange Überlandstraße entlang, die zu einem baulichen Erschließungsgebiet führte, das gerade mitten in Arbeit war. Torpfosten aus Backstein. Hedge moor. Eine asphaltierte Straße führte in einen dunklen Wald. Er ließ sie diese Straße entlangfahren, vorbei an Rohbauten wand sich die Straße hügelaufwärts, herum um Baugrundstücke, die bereits vermessen, aber noch nicht planiert waren. Auf der Spitze des sanf ten Hügels kamen sie an den Rand des Himmels mit seinem Meer von Sternen und an eine noch nicht asphaltierte Wende schleife, deren Randsteine bereits gelegt waren. In der Mitte stand ein riesiger Hydrant. »Hier.« Sie hielt den Wagen an. Die Bremsbacken waren vorne rechts abgenützt und quietschten. »Licht aus.« Marilyn befolgte den Befehl. Sie schaute sich um und sah, daß ihr Sohn eingeschlafen war, einen kleinen Dau men hatte er sich in den Mund gesteckt. Der Anblick ließ sie vor Liebe und Angst aufstöhnen. Der Engel des Todes schaute sie an. »Aussteigen.« Marilyn trat auf die Straße unter den hellen Sternen. Sie fühlte sich sehr schwach und preßte die Hände gegen die Schläfen. Mit Mühe hielt sie die Balance. Weit ent fernt auf einem Bauernhof bellte ein Hund. Eine Ver kehrsmaschine schwebte mit eingeschalteten Landelich tern in westlicher Richtung der Erde zu. Er kletterte wieder auf die Rückbank des Wagens. Ma rilyn sackte auf dem harten Kies der Straße auf die Knie. Immer noch hielt sie sich den Kopf. Sie hatte Angst, auf zuschauen. Kurze Zeit später hörte sie ihn aus dem Toyota ausstei 223
gen. Beim Klang seiner Schritte auf dem Kies wurde sie von einem Krampf geschüttelt. In einem heißen Strahl entleerte sich ihre Blase. Er hielt den Kindersitz in der Hand, den er von seinen Befestigungen losgeschnitten hatte. Larry schlief immer noch ganz friedlich. Der Verrückte hatte ihn noch nicht angerührt. Marilyn erhob sich stumm, um ihm den schweren Sitz abzunehmen. Sie mußte ihn gleich absetzen, sie hatte so wacklige Knie vor Angst, daß er zuviel für sie war. Der Engel des Todes glitt hinter das Steuerrad ihres Toyota, ließ den Motor an und wendete den Wagen. Die Lichtstrahlen der Scheinwerfer fuhren ihr über die Augen und blendeten sie. Dann war er an ihr vorbei, beschleu nigte auf mittlere Geschwindigkeit, fuhr den Hügel wie der hinunter, verschwand hinter einer Biegung und fuhr davon, bis sie das Geräusch des Motors nicht mehr hören konnte. Um sie herum nur frostige Dunkelheit. Und Stille. Marilyn hob den sperrigen Kindersitz wieder hoch. Sie nahm sich nicht die Zeit, Larry loszubinden. Der Sitz hatte viel Geld gekostet. Sie wollte nicht schon wieder einen neuen kaufen müssen. Das Auto war immerhin ver sichert. Sie machte sich Sorgen, denn Jack würde inzwi schen versucht haben, sie aus Chicago anzurufen, und sie war nicht zu Hause gewesen, um das Gespräch anzuneh men. Scharfe Steine, die vom Schild einer Planierraupe zerschnitten und in den Boden gepreßt worden waren, schnitten ihr durch die dünnen Sohlen ihrer Capezios, als sie versuchte zu rennen. Sie dachte an das Telefon und an Jack, nach dessen Stimme sie sich so sehr sehnte. Schon bald atmete sie keuchend durch den Mund und geriet ins Stolpern, weil sie kein gutes Gefühl für den unebenen Untergrund der halbfertigen Straße hatte. Sie mußte lang 224
samer laufen. Ihr Gymnastikanzug war naß und kalt. Mit acht Jahren hatte sie sich das letzte Mal die Hosen naßge macht. Die ersten einer Reihe von Rohbauten mit offenen Dachstühlen ragten zwischen den hohen, dunklen Bäu men empor. Ein Auto kam den Hügel hoch. Sie blieb ein paar Augenblicke lang stehen, keuchend spitzte sie die Ohren, dann begann sie wieder zu laufen, auf wackligen Beinen, mitten auf der Straße weiter den Hügel hinab. Das Auto fuhr langsam, zwanzig lange Se kunden vergingen, bevor es vor ihr auftauchte, sie mußte vor dem plötzlichen, grellen Lichtschein den Blick abwen den. Sie ging aus dem Weg, als das Auto jetzt noch lang samer auf sie zukam, und dann hörte sie das Quietschen der abgenützten Bremsbacken. In wahnsinnigem Schrek ken riß sie den Kopf herum, als ihr eigener Toyota nur einen Meter neben ihr hielt, die bösen, bernsteingelben Augen des Todesengels blickten ihr durch das Seitenfen ster hindurch entgegen. Die Tür öffnete sich, und der Ro senkranz in seiner Faust kam ihr auf einmal vor wie ein böser Fluch, der gekreuzigte Heiland baumelte von einem breiten Daumen herab. Sie wußte nur zu genau, daß er seine ursprüngliche Absicht, sie am Leben zu lassen, ge ändert hatte, und sie wußte auch, daß unsagbares Entset zen die dunkle Nacht erfüllen würde, bevor es ihr erlaubt sein würde, den letzten Atemzug zu tun. Marilyn schrie, und sie weckte damit ihren Jungen auf. Nur eine Sekunde später begann dann auch Larry zu schreien.
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22. Kapitel Tomlin erwachte im Dunkeln, als hätte er gar nicht ge schlafen, er war sofort bei klarem Bewußtsein, seine Sinne, bis auf das Sehen, waren auf der Stelle hellwach. Er hatte etwas gehört. Die Tür, die er doppelt verriegelt hatte, klapperte. Das war nicht nur der Wind, den er ebenfalls hörte und der das Wohnmobil sanft wiegte wie eine leichte Meeresdünung. Er langte nach dem Fischknüppel, einer Art Schläger mit Stahlnägeln an dem Ende, mit dem man zuschlug. Er hatte ihn neben seinem Bett auf de n Boden gelegt. Als er eine unterdrückte Stimme vernahm, ent spannte er sich. »Clay. Mach auf, Clay.« Er stand auf. Den Fischknüppel hielt er immer noch in der Hand. Er trug weiße Boxerhosen und ein T-Shirt. Er ta stete sich durch die Finsternis zur Tür und entriegelte sie. »Darf ich reinkommen?« »Was machst du hier draußen, Tony?« »Nichts. Ich konnte nicht schlafen. D-darf ich ein biß chen hier bei dir bleiben?« »Klar.« Es war zugig in der offenen Tür. Tomlin stieg wieder hinauf, aber Tony folgte ihm nicht. »Big-Dog ist bei mir. Darf er auch mit reinkommen?« »Warum nicht? Wie spät mag es wohl sein?« »Weiß nicht. Ich glaube, es wird bald hell.« Big-Dog war als erster drinnen. Als er die Stufe hinauf hopste, schaukelte das Wohnmobil unter seinem beträcht lichen Gewicht. Tony warf die Tür hinter sich zu. Dann verriegelte er sie. Tomlin tastete nach der Tischlampe ne ben dem Sofa. Als er sie gefunden hatte, drehte er sie an. »Willst du was trinken? Eine heiße Schokolade viel leicht?« »Okay.« 226
»Du wirst mir helfen müssen. Im Kühlschrank ist eine Packung Kakao, ich werde dir zeigen, wo die Töpfe sind.« »Trinkst du etwa Kakao?« »Immer. Ich liebe das Zeug.« Tony goß den Kakao in einen Topf und setzte ihn vor sichtig auf den Gasherd. Tomlin drehte das Gas auf und entzündete es. Als er den Jungen berührte, merkte er, daß Tony in seinem Flanellpyjama zitterte. Er trug die NavyMütze, die Tomlin ihm geschenkt hatte. Der Junge hielt sich nah an Tomlins Seite. »Würdest du gerne vorne auf dem Fahrerplatz sitzen?« »Nein. Da könnte doch jemand reinsehen, oder?« »Kann schon sein. Wen meinst du?« »Jemanden, der dir weh tun könnte.« »Wer will mir weh tun, Tony?« fragte Tomlin und dachte dabei an Carl. »Ich weiß nicht«, murmelte der Junge. »Dann frag ich mich, warum du davon angefangen hast.« Tony antwortete ihm nicht. Big-Dog kam zu ihnen her über. Er wedelte mit dem Schwanz, dann ging er in das Schlafzimmer. Überall schnüffelte er herum. »Der Kakao scheint heiß zu sein.« Tomlin stellte zwei Becher in die Spüle und nahm Tony hoch, um ihn neben sich an die längliche Theke zu setzen. Er drehte den vorderen Brenner des Gasherds ab und fand durch vorsichtiges Tasten den Griff des Topfes. Er stellte den Topf neben die Becher in die Spüle. »Schenkst du uns ein?« bat er Tony. »Ist nicht schlimm, wenn etwas danebengeht.« Während Tony die Becher bis zum Rand füllte, fragte er Tomlin: »Hast du vielleicht Hundeknochen?« »Nein. Was würde Big-Dog zu einem Oreo-Kuchen sa gen?« 227
»Er frißt alles.« Tony stellte den Topf ab. »Ich habe ganz viel verschüttet.« »Ich hätte wahrscheinlich alles verschüttet.« Er setzte Tony runter auf den Boden. »Die Kuchen sind in dem Wandschrank gegenüber.« Er nahm die Becher vom Stahlboden der Spüle hoch und schob einen von ihnen über die Theke an den Platz, vor dem Tony gesessen hatte. Als er das laute, krachende Geräusch hörte, mit dem Big-Dog die Kuchen zerknackte, die Tony ihm gegeben hatte, war Tomlin froh, daß es nicht sein Schienbein war, mit dem der Hund sich beschäftigte. Er ging mit Tony hin über zum Sofa. Tony fragte ihn, ob er nicht lieber die Kis sen umdrehen wolle, um nach Schlangen zu schauen. Tomlin drehte die Kissen um. Tony kuschelte sich unter eine Wolldecke, die über die Lehne des Sofas geworfen worden war. Seinen Kopf lehnte er gegen Tomlins Seite. Sie schlürften ihren heißen Kakao. »Wovon bist du mitten in der Nacht wach geworden?« Tony lehnte sich vor, um seinen leeren Becher auf den Boden zu stellen, dann zog der die Decke enger um sich herum. Ihn fror immer noch auf der Haut. »Ich hatte einen . . . bösen Traum. Ich habe geträumt, daß er im Computer sitzt.« »Von wem sprichst du?« Dann verstand Tomlin. »Von deinem richtigen Vater?«
»Ja. Von ihm. Von dem bösen Engel. Als ich ins Bett ging, war er noch nicht da. Aber ich habe nachgesehen. Jetzt. . . jetzt ist er da.« »Bist du sicher, daß du das nicht auch geträumt hast, Tony?« Tony saß schlaff und teilnahmslos da, fast so, als wäre er wieder eingeschlafen. Dann, ganz ohne Vorwarnung, platzte es aus ihm heraus wie eine Bombe. Er hämmerte Tomlin seine kleinen Fäuste gegen die Brust und schrie 228 j
und weinte, durchgeschüttelt von Anfällen schrecklicher Angst. Big-Dog röhrte aus tiefster Brust. Tomlin schlang beide Arme fest um Tony und zog ihn ganz fest an sich heran. Er hoffte, der Wolfshund würde das nicht falsch verstehen und zum Angriff übergehen. Es dauerte fünf Minuten, bis er den Jungen beruhigt hatte, bis die heftige Eruption in kleinen Zuckungen verebbte, und aus dem herzzerreißenden Schluchzen ein ruckartiges Atmen ge worden war. »Ist ja schon gut. Ganz ruhig.« Big -Dog stieß Tomlin mit der Schnauze gegen das Knie und winselte leise vor sich hin. »Okay, Tony, ich glaube dir ja. Er ist im Compu ter. Ich werde . . . nun, vor Sonnenaufgang kann ich gar nichts tun. Du mußt solange aushalten, Tony. Wenn es hell genug ist, werden wir sehen, was es damit auf sich hat.« Auf Tomlins Armbanduhr war es Viertel nach sieben. Nach einer langen, ruhelosen Stunde war Tony fest einge schlafen. Sein Kopf lag in Tomlins Schoß. Big -Dog lag quer über seine Füße ausgestreckt. Tomlin war das rechte Bein eingeschlafen, es fühlte sich an wie ein Fäßchen vol ler Kieselsteine, aber er hatte sich nicht bewegen wollen, um den Jungen nicht zu stören. Sein Sehvermögen - das Morgenlicht wurde durch das getönte Glas der Windschutzscheibe abgeschwächt - be trug jetzt etwa fünfzig Prozent. Wenn er drüben beim Haus angekomen wäre, müßte er eigentlich genug sehen, um nachprüfen zu können, was Tony versucht hatte, ihm zu beschreiben. Der Rhythmus von Tonys Atemzügen wurde unregel mäßiger, als Tomlin den Jungen an das andere Ende des Sofas legte, aber er öffnete nicht die Augen. Big -Dog stand schon an der Tür. Tomlin ließ ihn hinaus, bevor er 229
zurück in die Schlafkabine ging, um sich etwas anzuzie hen und in seine Stiefel zu steigen. Ein leichter Dunst schwebte über dem Bayou, über dem Rasen dagegen war es dichter Nebel. Von Carls Boot war an der Anlegestelle nichts zu sehen. Als Tomlin das Haus betrat, sah Opal ihm von der Küchentür aus entgegen. »Hab' Sie schon auf dem Fernsehschirm kommen se hen, Mist' Clay. Soll ich Ihnen was zum Frühstück ma chen?« »Danke, Opal. Tony hat einen Teil der Nacht bei mir verbracht. Er schläft noch.« Tomlin durchquerte das Wohnzimmer und schob die Tür zur Bibliothek ganz auf. Er starrte auf den großen Monitor, der eingeschaltet war. Dort war etwas, aber er konnte nicht genau sagen, was es war. Ein Gesicht? Er öff nete die Verandatüren, um das Tageslicht hereinzulassen. Jetzt konnte er das Computerbild auf dem Monitor er kennen. Und auch die Worte, die neben dem Gesicht standen, in einer Art Sprechblase, wie man sie in Comic strips findet. Das Gesicht schien sich auf dem Schirm leicht zu bewegen, der Mund öffnete und schloß sich. Tomlin konnte nicht beurteilen, wie groß die Ähnlichkeit war, aber aus Tonys Reaktion glaubte er schließen zu kön nen, daß das Abbild dem richtigen Angel beängstigend nahe kam. Hast du mich lieb?Hast du mich lieb? »Scheißkerl!« stieß Tomlin wütend aus. Er ging schnell hinüber zu dem Schreibtisch, auf dem Computer und Mo nitor standen. Das Modem-Lämpchen brannte, das be deutete, daß das Bild von einem anderen Computer über tragen worden war. Unter dem Schreibtisch fand er den Sicherungskasten und riß alle Anschlüsse raus. Der Bild schirm wurde dunkel, und Tomlins Nerven hörten auf, Funken zu sprühen. 230
Nur eine Frage ging ihm durch den Kopf: Wer hatte diesen grotesken Kartengruß auf dem Bildschirm erschei nen lassen, um Tony zu erschrecken? Er konnte sich nicht vorstellen, daß Carl genug von der Sa che verstand, um eine derartige Computergrafik aufzuziehen, und wenn es darauf ankäme, besäße er wohl auch nicht die Grausam keit. Also sprach vieles dafür, daß Angel es getan hatte, An gel das Hacker-Genie. Angel, der mordlüsterne Irre. Er mußte herausgefunden haben, wo seine Frau und sein Kind sich aufhielten, und offensichtlich wollte er, daß sie es wußten.
23. Kapitel Nach der Notoperation im Krankenhaus hatte man Don Aldo Barzatti nach Hause zurückgebracht. Er lag in sei nem Bett und hörte den Maschinen zu, die über den zer brechlichen Zustand seiner Gesundheit Rechenschaft ab legten, er war umgeben von Maschinen und komplizier ten Versorgungssystemen, außerdem stand er unter ständiger Beobachtung zweier Krankenschwestern, ab und zu schaute auch ein Priester nach ihm. Ein Rettungs wagen stand im Innenhof seines Hauses bereit. Aber Don Aldo hatte sich geschworen, sein Haus nicht wieder zu verlassen, es sei denn als Leiche. Manchmal fühlte er sich so losgelöst von seinem Körper, daß es ihm vorkam, a ls beobachte er sich aus einer dunklen Ecke des Zimmers und als zupften die kräftigen Finger seiner Mutter ihn von hinten an den Ärmeln, während er darauf wartete, daß seine sterbliche Hülle endlich zusammenfallen möge. Dann aber war es ihm wieder, als schwebte er langsam 231
heraus aus ihrer kalten Umarmung, durch einen silbrigen Nebel hindurch zurück in seinen Körper, wo ihn sogleich der Schmerz wieder in Empfang nahm und ihn peinigte, ohne daß er jedoch enttäuscht darüber gewesen wäre, daß seine Zeit noch nicht abgelaufen zu sein schien. Eine der Krankenschwestern wischte ihm mit einem Schwamm den Schweiß von der Stirn, und er lächelte sie an. Sie sagte ein paar Worte, die er nicht verstand, und dann wurde aus ihrem Gesicht das Gesicht seiner gelieb ten Frau, vom Haaransatz bis hinunter zur Kinnspitze ge formt wie ein Herz, die Lippen so voll und rot, daß jeder Hauch von künstlicher Farbe hier überflüssig gewesen wäre. Sie kam Don Aldo nicht wie ein Geist vor, auch wenn er sich wohl der Tatsache bewußt war, daß sie vor vielen Jahren in der muffigen Wärme ihrer Mietswoh nung am Kindbettfieber gestorben war. Sie hatte vierzehn Jahre lang in diesem Land gelebt und dabei die englische Sprache besser verstehen gelernt, als sie jemals zugege ben hätte, aber sie hatte sich beharrlich geweigert, auch nur ein Wort in dieser Sprache zu sprechen. Auch jetzt sprach sie im sizilianischen Dialekt zu ihm. »Du hast das letzte Wort, Aldo. Nur du kannst ihnen sagen, was getan werden muß. Also, sage es, damit wir bis in alle Ewigkeit friedlich nebeneinander ruhen können.« »Giuliana!« schrie Don Aldo. Er war außer sich, nach so langer Zeit wieder ihre Stimme zu hören. Niemand der im Schlafzimmer Anwesenden hatte ihn verstanden. Für sie hatte es sich wie ein heiseres Gurgeln angehört. Es könnte aber auch Greganti geheißen haben. Also wurde Mark Greganti hereingeführt, und er kniete neben dem Bett seines Paten nieder. Mark küßte die dünne, trockene Haut von Don Aldos rechter Hand, die nicht an irgendwelche Schläuche angeschlos sen war, und wartete dann aufmerksam auf Anordnungen. Don Aldo 232
hatte die Augen geöffnet, aber er sagte so lange nichts, bis Mark es an der Zeit fand, ihn zu fragen. Er hatte das Glück, Don Aldo in einem lichten Augenblick anzutref fen. »Hast du Neuigkeiten für mich?« fragte der Alte und schloß die Finger fest um Marks Handgelenk. »Ja, Don Aldo. Eine junge Frau wurde gestern nacht in South Jersey getötet. Sie wurde erdrosselt. Mit . . . ich glaube, es war ein Rosenkranz. Oder ihr Kruzifix.« »Dominics Methode«, seufzte der alte Mann. »Die Frau hatte ein Baby dabei. Ihm wurde kein Haar gekrümmt. Man fand es neben der Leiche, festgeschnallt in einen Kindersitz.« »Und wo ist Dominic jetzt?« Mark mußte sich über das Bett beugen, das Ohr nur ein paar Zentimeter von Don Aldos Mund entfernt, um ihn zu verstehen. »Wir wissen es nicht. Das Auto der Frau wurde vor zwei Stunden gefunden, an einer Raststätte für Fernfahrer in der Nähe von Augusta in Georgia.« »Georgia. Er fährt nach Süden. Das bedeutet, daß er es weiß. Er weiß, wo er sie finden kann.« »Was sollen wir tun, Don Aldo?« »Es gibt keine Hoffnung mehr. Dominic wird nie ein normales menschliches Wesen sein können. Sag Carlo, er möge Anita und den Jungen sofort dort wegbringen. Und dann schicke ein paar gute Männer zum Bayou, damit sie Dominic dort erwarten. Wenn er dort auftaucht, sollen sie keine Gnade kennen.« »In Ordnung. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Don Aldo?« »Schick mir den Priester.« Der Priester war ein Bischof, ein alter Freund der Fami lie. Seit kurz nach Mitternacht hielt er bereits die Wache 233
bei dem Sterbenden. Die Sakramente hatte er ihm bereits vor zwei Stunden verabreicht. Aber offensichtlich erin nerte Don Aldo sich nicht mehr daran. Die beiden Män ner gaben sich die Hand. »Casco.« »Aldo, mein teurer Freund.« »Ich trete furchtsam vor meinen Schöpfer.« »Gott hat dir deine Sünden vergeben. Du brauchst nichts zu fürchten.« »Habe ich auch nicht vergessen zu erwähnen, wie ich es Toffo Magliotti besorgte?« »Ich glaube, du hast es nicht vergessen.« »Toffo war ein schlechter Kerl. Er hatte Sex mit kleinen Mädchen. Und seinem Vater, einem Mann, der sein gan zes Leben lang schwer arbeiten mußte, hat er Geld ge stohlen.« »Toffo Magliotti wird für seine Sünden bis in alle Ewig keit in der Hölle schmoren.« Don Aldos Augen waren auf etwas fixiert, das sich hin ter dem ergrauten Haarschopf des Bischofs zu befinden schien. »Ich sehe ... ist das Gott? Nein, ich glaube nicht. Es muß jemand anders sein.< Sein Atem setzte aus, der Körper spannte sic h. Das Ge räusch der piepsenden Maschinen veränderte sich, und eine der Schwestern legte dem Bischof eine warnende Hand auf die Schulter. »Ich habe der Kirche . . . vier Millionen gespendet. Vielleicht war das nicht genug.« »Sei gesegnet für deine Wohltätigkeit. Aber wenn du willst. . . Soll ich jemand holen?« »Man kann nicht vorsichtig genug sein«, murmelte Don Aldo.
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24. Kapitel Tomlin stieg mit einem Becher Kaffee in der Hand nach oben und klopfte an Anitas Tür. Sie bat ihn, ihr noch ein paar Minuten Zeit zu lassen, sie sei gerade aus der Du sche gekommen. Als sie ihn einließ, war sie bereits fertig angezogen. Sie trug dunkelgraue Wollhosen und einen flauschigen, ärmellosen Pullover über einer Bluse mit Na delstreifen. Anita schloß die Tür, und sie hielten einander für ein paar Sekunden in den Armen, bevor sie ihm direkt ins Gesicht sah und fragte: »Was gibt es für schlechte Nachrichten?« Er teilte sie ihr mit. Sie hörte ihm zu, und dabei veränderte sich ihr Aus druck nur ganz wenig, aber die leichte Müdigkeit, die sich auf ihren Zügen widerspiegelte, war beinahe schlimmer als Tonys hysterischer Ausbruch. Anita wandte sich von ihm ab und ging zum Fenster hinüber. Deprimiert rieb sie sich mit einer Hand über den Nacken. »Das muß Angel gewesen sein. Das sind genau die Dinge, die er sich ausdenkt.« »Ich frage mich, wie sein Gehirn arbeitet. Wenn er so wieso herkommt, um dich zu treffen, warum warnt er dich dann vorher?« Anita sah sich im Zimmer nach ihren Zigaretten um, nahm sie auf, ließ sie aber gleich wieder fallen. »Es muß nicht unbedingt eine Warnung gewesen sein. Vielleicht wollte er mir einfach nur >Hallo< sagen. Ich bin schließlich in seinem Denken keine Fremde. Ich habe fünf Jahre mit ihm zusammengelebt. Es ist gut möglich, daß er sich dar auf freut, mich wiederzusehen.« Sie wurde von einem Schaudern ergriffen und verschränkte beide Arme fest vor der Brust, um über das Zittern Herr zu werden. »Viel leicht wäre er sogar glücklich, mich zu sehen. Fünf Minu 235
ten lang. Und dann würde irgendeine Kleinigkeit passie ren, eine Ladung in seinem Kopf würde sich etwas verla gern, und schon im nächsten Augenblick könnte er mich beim Kragen packen und aus dem Fenster werfen. Nein. Mir reicht's.« »Nehmen wir mal an, er wollte dir nur Angst einjagen. Er muß doch schließlich wissen, daß du unter dem Schutz des Dons stehst. Das könnte ihn davon abhalten, sich hier blicken zu lassen.« »Du kannst mir glauben, um solche Kleinigkeiten würde Angel sich nicht kümmern. Er ist unterwegs. Und er wird hier ankommen. Es ist nur eine Frage der Zeit, und eine Frage unserer Gegenmaßnahmen. Aber wo ist denn jetzt mein Schutz?« »Wenn du hierbleibst, werden wir uns was überlegen.« »Wenn ich hierbleibe . . .? Soll das etwa eine höfliche Aufforderung sein, meine Sachen zu packen?« »Hätte ja sein können, daß du zu deiner Familie zurück kehren möchtest. Oder . . . oder was weiß ich?« »Mein Vater hatte letztes Jahr zwei Herzattacken. Die Aufregung würde ihn umbringen, falls Angel den Job nicht schon vorher erledigt hätte. Ich w eiß nicht, wie ich mit dem Don Kontakt aufnehmen könnte, ich habe es schon mal versucht. Um die Geschäfte mit der Familie hat Carl sich bisher immer gekümmert. Ich könnte natürlich ein Hotelzimmer mieten. In Argentinien wird es jetzt bald Sommer, oder? Oder was zum Teufel?« »In Argentinien würde es dir nicht gefallen. Du bist bei mir, Anita. Also, laß uns damit beginnen, unsere Wagen burg zu bauen.« »John Wayne ist nicht tot«, sagte sie mit einem Lächeln, das sogar ein bißchen Bewunderung ausdrückte, bevor es düster und unheilvoll wurde. »Wir sind tapfer, aber nicht verrückt. Tony sitzt unten 236
beim Frühstück. Iß etwas mit ihm, und dann fahren wir in die Stadt. Ich werde versuchen, noch etwas zusätzliche Hilfe zu organisieren. Hast du ein Foto von Angel?« »Ich habe sie alle weggeworfen. Nein, warte, vielleicht ist er auf einem oder zwei alten Schnappschüssen von mei ner Familie drauf. Ich werde nachsehen.« Die beiden Deputysheriffs, die in Mace Lefevres Büro in Port Bayonne kamen, waren sich vom Körperbau her so ähnlich, daß man sie für Zwillinge hätte halten können: Hemdkragen Größe 38, Taille 58. Beide Männer dürften etwa dreißig Pfund über ihrem früheren Idealgewicht als Spieler der Mannschaften ihrer höheren Lehranstalten ge legen haben. Deejay Voisin hatte letztes Jahr in Bear Bryant's in Alabama noch an der Grundlinie gespielt, und Shelby Burleson hatte als Abwehrspieler für Mississippi State seine Knochen hingehalten. Deejay hatte stechende blaue Augen, ein Babygesicht und einen Unterkiefer wie ein Schaufelbagger, den er mit einem Kaugummi ständig in Betrieb hielt. Shelbys Ge sichtszüge drängten sich alle in der Mitte des Gesichts, als sei ihm irgendwann einmal ein Elefant direkt auf den Kopf getrampelt. Er hatte eine winzige Nase, einen ebenso w in zigen Mund, dafür aber riesige Wangenknochen und Se gelohren. Er stand im Rang etwas höher als Deejay, des halb führte er das Wort, nachdem sie sich Tomlins und Anitas Bericht angehört hatten. In einer seiner beiden Rie senpranken hielt er einen Schnappschuß, der Dominic >Angel< Barzatti am äußersten Rand einer Familie zeigte, die sich zu diesem Gruppenbild zusammengestellt hatte. Deejay studierte unterdessen die Karte des County, die an der Wand hing, und ließ dazu seinen Kaugummi knallen. »Wenn's Ihnen recht ist, Ma'am, dann werde ich den Schnappschuß mitnehmen und ihren Ehemann heraus 237
vergrößern lassen. Wir werden uns einen Haftbefehl ho len und das Foto zusammen mit seiner Beschreibung an alle Polizeireviere entlang der Golfküste verteilen.« »Wird das was nützen?« »O ja, Ma'am, Sie werden sich wundern. Nach dem, was ich hier sehe und was Sie mir erzählt haben, kann es ja nicht so furchtbar schwer sein, ihn zu identifizieren, es sei denn, er würde den Versuch machen, sich zu verklei den. Halten Sie das für möglich?« »Ich weiß es nicht.« Deejay legte den Zeigefinger auf die Landkarte und sagte: »Es gibt hier nur eine einzige Straße, die zu Lost man's Bayou führt. Eine andere Straße biegt ab zu den bundeseigenen Feuchtgebieten, aber von dort k äme er nicht zum westlichen Ende des Bayou, ohne sich in den Sümpfen gehörig nasse Füße zu holen. Ich würde sagen, es ist völlig unmöglich. Er brauchte zumindest eine Art Boot.« »Zwischen dem Sound und meinem Haus ist alles offe nes Wasser«, sagte Tomlin. »Etwa eine halbe Meile und keine Möglichkeit, sich ungesehen zu nähern. Das Gebiet um den Anleger ist gut ausgeleuchtet. Er könnte schwim men, aber ich würde das nicht versuchen.« »Mein Gott, nein«, sagte Shelby. »Bei den vielen Kro kodilen, der Mann müßte ja verrückt sein . . .« Er sah Anita an, die kein Wort sagte. »Aber wir werden diese Möglichkeit trotzdem im Auge behalten, auch wenn sie weit hergeholt ist. Also, weiter. Habt ihr da draußen einen Hund?« »Ja«, antwortete Anita. »Einen großen?« »Einen irischen Wolfshund.« »Das sind anderthalb Hunde. Der wird einiges an Ge bell veranstalten, oder? Um so besser.« 238
Mace Lefevre sagte: »Und ihr Jungs meint, ihr könntet den Leuten nach Dienstschluß zur Seite stehen?« »Klar können wir das. Kein Problem. Ich muß nur einen Blick auf den Dienstplan werfen und ein paar Telefonge spräche führen. Drüben bei Keesler gibt's außerdem noch 'n Sicherheitsdienst mit Hubschrauber. Die Jungs wären für ein paar Dollar extra auch bereit zu helfen. Ich und Deejay haben um vier Dienstschluß. Also, ich werde Ih nen was sagen, wir werden so ab acht Uhr das Haus selber übernehmen.« »Was ich ganz gerne tun würde«, sagte Deejay, wäh rend er immer noch die Karte studierte, »ist, meinen Wohnwagen hier runterzufahren, um die Straße zu blok kieren. Auf die Weise kommt da niemand rein oder raus, von dem wir nichts wissen, und mit deinem Wagen, Shelby, könnten wir über das Grundstück patrouillieren.« »Ja, mit dem Wohnwagen hätten wir's 'ne Menge einfa cher«, stimmte Shelby ihm zu. Als er Anita zulächelte, bil deten sich kleine Falten um seine Augen. »Und Sie kön nen ruhig schlafen und brauchen sich um gar nichts zu kümmern.« »Ich glaube . ..«, sagte Antia, brach mitten im Satz ab und sah Tomlin hilflos an. Tomlin erklärte den beiden Deputies: »Nachdem ihr Mann sie überfahren hatte, versuchte er noch in das Kran kenhaus zu kommen, um den Job zu beenden. Er hat ein paar private Wachmänner aufgemischt und ein paar Cops auf dem Parkplatz, einen von ihnen, so böse, daß der mit achtzig Prozent Erwerbsunfähigkeit in Rente gehen mußte.« »Bestimmt 'n ganz wilder Bursche, unser Angel«, meinte Deejay, ohne jedoch besonders beeindruckt aus zusehen. »Nun, wir haben genug Erfahrung, um ihm keine 239
Chance zu lassen, wenn er uns über den Weg läuft«, fügte Shelby beruhigend hinzu. »Oh, und noch etwas. Drüben im Eisenwarenladen kann man so eine Sirene kaufen, die mit Batterie funktioniert. Wenn man bei der auf'n Knopf drückt, dann tutet die 'ne halbe Stunde lang wie ein Oze anriese. Man hört sie meilenweit. Wenn Sie das Ding aus irgendeinem Grund in Gang setzen sollten, kämen wir an gelaufen wie die Feuerwehr.« »Jungs, habt vielen Dank, daß ihr vorbeigekommen seid«, sagte Mace Lefevre und brachte die beiden zur Tür. Als er zurückkam, versuchte Anita eine Zigarette zu rau chen, aber sie sah nicht gerade erleichtert aus. Ihre Seele schien in einem tiefen Sumpf gefangen zu sein. Mace strahlte über das ganze Gesicht. »Wenn man zwei solche Burschen im Team hat, dann hilft es einem, seine Pro bleme wieder in die richtige Perspektive zu rücken«, sagte er. »Möglich. Ich fürchte nur, was auch immer wir ma chen, Angel wird ... es ist unmöglich, den Leuten zu er klären, wie er wirklich ist. Ich finde keinen Weg, ihn zu beschreiben.« »Mrs. Jeffords . . .« »Anita. Ich habe nie gewußt, wo ich hinsehen soll, wenn mich jemand mit Mrs. Jeffords anredete.« »Anita, ist es nicht möglich, daß Sie wegen der schreck lichen Erfahrungen, die Sie machen mußten, jetzt auf die Bedrohung etwas übermäßige Reaktionen zeige n? Aber was ich eigentlich sagen wollte: Warum kommen Sie und Ihr Junge nicht so lange zu mir, bis man uns gemeldet hat, daß die Luft da unten auf dem Bayou wieder rein ist? Rai nie wäre begeistert von etwas Gesellschaft, sie ist eine ebenso begeisterte Leserin wie Sie, und außerdem habe ich drei Töchter, die würden Ihren Tony fürs Leben gern verderben.« 240
Anita lächelte dankbar, aber gleichzeitig schüttelte sie den Kopf. »Vielen Dank, aber das könnte ich nicht tun. So lange, bis Angel wieder hinter Schloß und Riegel sitzt oder tot ist -, würde ich nicht das geringste Risiko einge hen, um noch jemanden in Gefahr zu bringen.« Tony kam gerade zur Tür herein. Er war mit Maces Empfangsfräulein unten gewesen, um sich ein Eis spen dieren zu lassen. Anita umarmte ihn so heftig, daß er zu nächst protestierte, aber dann küßte er sie in plötzlicher Erwiderung ihrer Gefühle und hinterließ eine rosa Erd beerschmiere auf ihrem Mund. »Mir ist langweilig«, sagte er. »Können wir nicht nach Hause gehen?« Zuerst machten sie ihre Einkäufe. Tony war fasziniert von der neuen, batteriebetriebenen Alarmsirene, die man ih nen in dem Eisenwarenladen vorführte. Anita kaufte noch ein Geschenk für Opals Eltern, die kurz vor ihrer golde nen Hochzeit standen, und anschließend gingen sie noch im Supermarkt einkaufen, weil Opal wegen der Feierlich keiten zwei Tage in Meridian bleiben würde. »Was würdest du heute abend gerne essen?« fragte sie Tomlin. »Ein Bruststück von einem Elfenbaby.« Tony starrte ihn entgeistert an, bevor er den Witz er kannte und laut loslachte. »Du bist nicht sehr hilfreich«, sagte Anita mißbilligend. »Du bist an der Reihe, Anthony.« »Cannelloni.« »O ja, Cannelloni. Auf sizilianische Art. Und wie war's mit ein paar Artischockenherzen? Cardofini sott'olio. Und dann vielleicht noch eine schöne, hausgemachte cassata zum Nachtisch, mit ganz viel Pistazien und kandierten Früchten.« 241
»Hört sich fantastisch an«, sagte Tomlin, eine Hand auf ihrem Ellenbogen, dann zwischen ihren Schulterblättern, nur um mit ihr in Berührung zu bleiben. Sie lehnte sich un auffällig gegen seine Berührung, erwiderte sie. Natürlich entging Tony nichts von alledem. Aber er machte keinen Versuch, sich einzumischen, die Aufmerksamkeit seiner Mutter auf sich zu ziehen, wie es eifersüchtige Kinder zu tun pflegen. Er bat um die Erlaubnis, in die Spielzeugabtei lung verschwinden zu dürfen, die sich im selben Teil des Supermarkts befand, wo auch Zimmerpflanzen, Motoren öl, Katzenstreu und Romane von Danielle Steel verkauft wurden. »Du denkst also, es wird uns nichts passieren?« fragte sie ihn, ohne die Nerven zu verlieren, aber auch unfähig, die Situation mal für eine Weile zu vergessen. Sie verließ sich auf ihn, sie wollte sicher sein, daß er auf ihre Fragen die richtigen Antworten wußte. »Mir gefällt der Blick von Burleson und Voisin, und ich wünsche mir, daß sie noch zehn Freunde vom selben Kali ber haben. Und Big-Dog möchte ich wirklich nicht zum Feind haben, auch wenn er kein ausgebildeter Kämpfer ist. Der Alarm macht 'ne ganze Menge Lärm, und den wirst du immer bei dir haben, wohin du auch gehst. Wenn ich glau ben würde, daß wir uns in wirklicher Gefahr befänden, dann würde ich mich auf der Stelle nach einem anderen Ort umsehen, an dem wir uns verstecken könnten.« In seiner Stimme hatte etwas von Endgültigkeit mitge schwungen, er betrachtete die Diskussion als beendet. Er war daran gewöhnt, daß man seine Entscheidungen akzep tierte. Sie beschloß, sich nicht an seinem selbstbewußten und autoritären Auftreten zu stören. Solange er sich nicht aufblies und anfing, ihr Vorschriften zu machen. »Ich werde in den Schuldienst zurückgehen«, sagte sie. »Sobald es sich irgendwie machen läßt.« 242
»Sehr gut.« Sie hatte schon befürchtet, er würde fragen: »Warum denn das?« Dann hätte sie nämlich ant worten müssen: »Weil ich verdammt noch mal keine Lust habe, das Haus frauchen zu spielen. Darum.« Und dann wäre in ihrer Be ziehung vielleicht etwas abgestorben, hätte sich etwas ab gekühlt. Und was noch? War er eitel? Konnte sie ihn ärgern? »Hast du jemals einen Schnurrbart getragen?« »Schnurrbärte sind nicht meine Sache. Ich sehe damit älter und unglücklicher aus. Ich sehe aus wie jemand, der Modeschmuck aus einem Koffer verkauft.« Anita lachte. Nein, er war nicht eitel. Er hatte ein gutes Gefühl für das, was für ihn gut war, und eine humorvolle Art, diesem Gefühl Ausdruck zu verleihen. »Wann ist dein Geburtstag?« »Du stellst mir 'ne Menge Fragen.« »Ich will dir gerne 'ne Menge Fragen stellen.« »Am 5. August.« »Am 5. August!« Beinahe hätte sie mit dem Wagen eine Auslage mit Rosinen umgerannt, die mitten im Gang stand. »Aber das ist mein Geburtstag!« »Wie gibt's denn das? Findest du nicht, daß das beinahe inzestuös ist?« Anita fiel gerade noch ein, daß sie ja Rosinen für die cannelloni alla siciliana brauchte, und sie warf eines der Päckchen in ihren Einkaufswagen. »Hmmm. Ich glaube, es ist zu spät, sich jetzt noch den Kopf darüber zu zerbrechen. Findest du nicht?«
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25. Kapitel Am Nachmittag zerlegte Tomlin den Außenbordmotor, um ihn zu reinigen und zu schmieren. Opals Bruder Ro land und ihr Halbbruder Akeem arbeiteten im Garten und polierten das Wohnmobil, bevor sie alle zu ihrem großen Familienfest in Meridian aufbrechen würden. Um drei Uhr war Tony mit seinen Schulaufgaben fertig und kam herunter zum Anleger, um nachzusehen, was Tomlin dort trieb. Der Wind wehte in solch heftigen Böen vom Golf herüber, daß das Dach des Bootsschuppens klapperte und der Anleger in allen Fugen ächzte. Ein paar dicke, schwarze Wolken türmten sich am Himmel auf wie der Rauch eines Feuers auf einer Müllhalde. In ein paar Stun den könnte das Wetter ganz schön rauh werden, dachte Tomlin. »Gehen wir angeln?« »Ich weiß nicht, Tony. Das Wasser ist sehr bewegt.« »Bitte.« Er entschied, daß es vielleicht besser wäre, als tatenlos herumzusitzen. Roland und Akeem würden noch eine Weile auf dem Gelände zu tun haben. Und tief drinnen im Bayou gab es kleine Buchten, wo die Fische sich versam meln würden, um sich gegen den aufkommenden Sturm zu schützen. Er verband den Außenborder wieder mit der Autobat terie im Boot, und er sprang auf den ersten Knopfdruck an. Er ließ Tony das Boot durch den Hauptkanal zu einem Punkt steuern, der etwa eine dreiviertel Seemeile vom Anleger entfernt lag und von wo aus man vom Haus nichts mehr sehen konnte außer einer Spitze des Dachs und ein paar Blitzableitern. Dann folgten sie einem ande ren Arm des kaffeefarbenen Wassers, wobei sie einen Schwärm Wildenten aufstöberten, die wohl gerade erst an 244
diesem Ende der Mississippi-Flugschneise angekommen und dabeigewesen waren, sich auf dem Bayou zu akkli matisieren. Tony fragte ihn, ob er gerne auf die Entenjagd gehe. Tomlin antwortete dem Jungen, daß er sich für die Jagd nicht mehr interessiere, nachdem ein guter Freund von ihm bei einem Jagdunfall im Hom ochitto National Forest ums Leben gekommen sei. »Jeder Idiot kann mit einem hochkalibrigen Gewehr in der Luft herumknallen und sich Jäger nennen«, sagte Tomlin. »Hast du irgendwelche Schußwaffen?« »Ich besitze eine .357 Magnum, die ich in Vietnam bei mir trug, nur für den Fall, daß mein Flugzeug über feindli chem Gebiet abgeschossen würde. Ich glaube, das Ding liegt noch immer in einer Truhe, die ich bei einem Freund in Oceana untergestellt habe. Jedenfalls hab' ich die Waffe schon seit 'ner ganzen Weile nicht mehr gesehen.« »Was ist Vietnam?« »Das ist ein Land, ganz weit weg von hier, wo ich ein mal einen Krieg geführt habe.« »Oh. Bist du schon mal niedergeschossen worden?« »Nein.« »Und was hast du in diesem Krieg gemacht?« »Ich habe Brücken zerstört, die beinahe über Nacht wieder aus dem Boden zu wachsen schienen. Es war eine große Lektion in Sinnlosigkeit.« »Was ist.. .« Tony wurde von einem knopfäugigen Krokodil abgelenkt, das nur wenige Meter von ihnen ent fernt auf einer sonnenbeschienenen Insel lag. »Schau mal, wie groß der ist.« Tomlin nickte. Er sah dem Tier ohne große Aufmerk samkeit zu. Ein Krokodil. Nichts weiter. Die Viecher wa ren ihm hier genauso vertraut wie sein eigenes Rückgrat. »Ein Mordsbruder, was?« 245
»Hast du schon mal ein Krokodil getötet?« »Eins von denen ist mal auf unsere Veranda gekommen und hat mein kleines Hündchen verspeist. Da bin ich so böse geworden, daß ich ihm auf den Rücken gesprungen bin und ihm die Kiefer zusammengebunden habe.« »Du bist einem Krokodil auf den Rücken gesprungen?« »Außerhalb des Wassers sind sie nicht sehr gefährlich. Und wenn ihre Kiefer mal geschlossen sind, haben sie auch nicht mehr so besonders viel Kraft. Man kann sie mit einer Hand zusammenpressen. Nur auf den Schwanz muß man dabei aufpassen.« Sie schwammen in Wasser, das weniger als sechs Fuß tief war, der Kanal war an dieser Stelle sehr breit, wurde aber immer wieder von kleinen Inselchen unterbrochen, von denen einige kaum über die Wasseroberfläche reich ten und die meist mit Gras bedeckt war en. Einige von ih nen waren dagegen so stabil, daß sie sogar große, ausge wachsene Zypressen tragen konnten. An vielen Stellen ragten Baumstümpfe aus dem Wasser. Der Wind blies ih nen in den Rücken, und Tony hielt seine Mütze am Schirm fest, damit sie ihm nicht weggeblasen wurde. Tomlin schraubte die Angelrute zusammen und öffnete den Ka sten mit der Ausrüstung. Es war zwar nicht gerade die op timale Tageszeit, aber manchmal konnte auch ein plötzli cher Wetterumschwung die Fische zum Beißen animieren. Innerhalb weniger Minuten fingen sie gleich neben einer Reihe von Baumstümpfen drei ordentliche Bur schen, jeder von ihnen so ungefähr zwei Pfund schwer. Tomlin warf sie alle zurück ins Wasser. Sie hatten das Tief kühlfach schon voll mit Fischfilets. Ohne große Umschweife, so, wie er es oft tat, fragte Tony ihn: »Magst du Mom sehr gerne?« »Nun, du hast mich doch dabei erwischt, wie ich sie ge küßt habe. Was denkst du darüber?« 246
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»Ich glaube, es ist ganz okay. Ich bin froh, daß du es bist.« An der Stelle, wo sie sich befanden, tat sich nichts mehr. Die Sonne verschwand, der Wind wurde noch stär ker. Tomlin machte sich gerade daran weiterzufahren, als er sich noch einmal umdrehte und Carls Sportboot in den Kanal einfahren sah. Das riesige Boot wirkt e hier völlig fehl am Platze, wie es so auf sie zugefahren kam. Wegen des starken Windes hatte er das Motorengeräusch nicht schon früher gehört. Carl befand sich auf der Brücke an seinen Instrumenten, und er blies ihnen einen kräftigen Stoß aus seiner Bootssirene entgegen. Etwas Dümmeres hätte er kaum tun können. Tony, der das Auftauchen der Lolly nicht bemerkt hatte, erschrak so sehr, daß er die An gelrute beinahe losgelassen hätte und vornüber ins Was ser gekippt wäre. Tomlin bekam ihn gerade noch zu fas sen, das Boot schaukelte hin und her, und Wasser schwappte über die Bordkante. Die Wurzeln seiner Haare knisterten, wie sie es immer taten, wenn er über etwas in plötzliche Wut geriet. »Zurück!« Carl hatte den Motor gedrosselt, aber er lief mit der Lolly m solch flachem Wasser immer noch ein gro ßes Risiko. Es gab unsichtbare Knorren unter der Wasser oberfläche, die einer Schiffsschraube schon ganz schön zusetzen konnten. Er kam mit gedrosseltem Motor immer näher längsseits, dabei Wellen produzierend, die das kleine Boot umzukippen drohten. »Was wollen Sie, Carl?« rief Tomlin zu ihm hinauf. »Ich will längsseits gehen und Tony an Bord nehmen.« »Warum?« Carl hob vom Deck der Brücke etwas auf. Nach der Größe der Mündung zu urteilen, mußte es sich um eine Schrotflinte handeln, aber Tomlin hatte so ein Ding noch nie zuvor gesehen. 247
»Einfach so.« »Nein«, sagte Tony und schmiegte sich enger an Tomlin heran. »Keine Angst, Tony. Carl wird dir nichts tun.« Er hatte keine Ahnung, was Carl tatsächlich im Schilde führte. Das Schrotgewehr war eine lächerliche Drohung. Was konnte er damit schon machen? Sie beide aus dem Boot schießen? Dabei das Risiko eingehen, den Jungen zu verletzen? Carls Gesichtsausdruck schien darauf hinzudeuten, daß er es ernst meinte, und sow eit Tomlin das beurteilen konnte, war er nicht betrunken. »Warum machen Sie dem Jungen solche Angst?« fragte er Carl. »Er hat keine Angst. Tony weiß, daß er mir vertrauen kann. Ich bringe ihn zu seiner Mutter, und dann machen wir alle zusammen eine kleine Reise.« Das kleine Boot war jetzt kaum noch weiter als einen Meter von der Lolly entfernt und trieb noch näher heran. Tomlin überdachte blitzschnell seine Möglichkeiten. Es gibt Situationen, da kann man nein sagen zu jemandem, der ein Gewehr in der Hand hä lt, und trotzdem hoffen, damit durchzukommen. Also, auf den Starterknopf des Motors gedrückt und langsam weggefahren, hinein in einen Seitenarm mit nur anderthalb Metern Wassertiefe, wohin Carl ihnen nicht würde folgen können. Mit etwas Distanz zwischen ihnen ließe sich dann ein Waffenstill stand aushandeln. Man könnte versuchen, mit Carl zu re den, ihm erklären, daß man Vorsichtsmaßnahmen getrof fen hatte und daß Anita und Tony zu Hause in Sicherheit wären. Du machst eine kleine Reise, Carl. Zu dieser J ah reszeit wäre es in Bimini ganz schön. Aber ein Problem gab es bei seinem Plan, erst einmal auf Distanz zu gehen. Der Himmel war inzwischen we sentlich dunkler geworden, und sein Sehvermögen 248
wurde merklich schwächer. Carls Gesicht da oben auf der Brücke konnte er schon kaum noch ausmachen. Er wollte nicht noch in einer Stunde auf Lostman's treiben, ohne Sehvermögen, und versuchen, Carl zu überreden, sich wie ein vernünftiges menschliches Wesen zu verhalten. Aber wenn er erst einmal an Bord der Lolly wäre, stünden seine Chancen besser, denn Carl konnte ihn nicht mit einem Gewehr in Schach halten und gleichzeitig sein Boot unbeschadet durch die gefährlichen Untiefen steuern. Mit leiser Stimme und in einem Tonfall, der beiläufig, ja beinahe ein bißchen gelangweilt klang, sagte Tomlin zu Tony: »Ich sage dir was, wir lassen ihn sein Spielchen ein fach eine Weile weiterspielen. Okay?« Tony klapperten die Zähne. »Aber er hat ein Gewehr.« »Und was für ein Ding. Vielleicht läßt er uns damit 'n paar Baumstümpfe aus dem Weg schießen.« Tony sah hoch zu seinem Gesicht, und Tomlin lächelte, um zu demonstrieren, daß er sich durch Carl nicht im ge ringsten einschüchtern ließ. Dann nahm er eines der Ru der hoch und tauchte es ins Wasser, um das Boot so zu drehen, daß es mit dem Heck gegen den Rumpf der Lolly bumperte. Mit einer Hand hielt er sie in dieser Position, während Tony über die Sitzbank kletterte und ihm ein Tau reichte. Tomlin verknotete das Tau mit einer Strebe der Steuerbordreling der Lolly. »Und nun heben Sie ihn hoch und helfen ihm an Bord«, sagte Carl. Mit weit aufgerissenen Augen sah der Junge Tomlin an, der Wind blähte seine Jacke und fuhr ihm durch das dunkle Haar. Tomlin hob ihn aus dem Boot und schwang ihn über die Reling in das Cockpit der Lolly. Er machte sich gerade daran, hinterherzuklettern, als er den Schlit ten des Gewehrs hörte und erstarrte, den Blick zur Brücke hoch gewandt. 249
»Sie nicht, Tomlin. Zurück. Suchen Sie sich einen Baum, auf dem Sie die Nacht verbringen können und die Krokodile Ihnen nicht auf die Pelle rücken.« Tomlin glaubte ihm nicht, aber er zögerte angesichts der Mündung des Gewehrs einen Moment zu lange. Carl veränderte sein Ziel ganz leicht und feuerte drei kra chende Schüsse in so kurzen Abständen ab, daß sie bei nahe wie ein einziger Schuß über den Bayou hallten. Er hatte auf einen Baumstumpf hinterm Heck gefeuert, aber mindestens eine Handvoll des Schrots flog Tomlin so dicht um die Ohren, daß er die Hitze der kleinen Kügel chen zu spüren glaubte. Mit der anderen Hand gab Carl Gas, und die Lolly schob sich vorwärts, zog dabei die Leine straff und zwang Tom lin, in einem seitlichen Überschlag in den Schraubenstru del der Motorjacht zu tauchen. Seine linke Schulter stieß gegen etwas Hartes und Zak kiges gleich unterhalb der Wasseroberfläche, und als er prustend auftauchte, zog die Lolly gerade eine langsame Schleife, sein kleines Boot im Schlepptau. Er hätte es noch erreichen können, wenn es ihm möglich gewesen wäre zu schwimmen, aber seine Schulter schmerzte zu s ehr, er konnte den Arm nicht heben und war kaum noch fähig, sich mit Beinbewegungen über Wasser zu halten. Tony schaute zu ihm zurück, schrie irgend etwas, aber Tomlin konnte die Worte über dem Dröhnen des Dieselmotors nicht verstehen. Mein Gott, wie die S chulter schmerzte. Tomlin hatte Angst, sie könnte gebrochen sein. Carl war gerade dabei, seine Umkehrschleife zu vervollständigen, er würde gleich sehr dicht an Tomlin vorbeikommen, um aus dem Kanal herauszufahren, aber diese Aussicht machte Tomlin angesic hts seines einen gebrochenen Flü gels wenig Freude. Jetzt konnte er Carl wieder sehen, oben auf der Brücke, in schmuckem Weiß, wie ein Ge 250
spenst, eine Hand am Steuer, ein böses Grinsen auf dem Gesicht. Er zielte immer noch mit dem Gewehr in seine Richtung, ob er damit nur Eindruck machen wollte, konnte Tomlin nicht beurteilen, aber er erinnerte sich noch gut des heißen Luftzugs der Bleikügelchen, deshalb nahm er einen tiefen Atemzug und tauchte unter, dem schlammigen Grund entgegen, wo er die mächtig en Schraubengeräusche der Lolly hörte und die Turbulenzen des Wassers spüren konnte, als das Boot an ihm vorüber dröhnte. Als er wieder auftauchte, den linken Arm hinter sich herziehend, machte er noch einen verzweifelten Versuch, mit der rechten Hand das Dollbord seines Ruderboots zu packen, aber er verfehlte es beinahe um einen halben Me ter. Dann spülte ihm noch ein kräftiger Strudel um den Kopf, und sie waren vorbei. Tony schrie immer noch. Jetzt, wo ihm der Wind ins Gesicht blies, konnte er verste hen, wie der Junge Carl anflehte. »Nein! Laß ihn nicht hier zurück! Es wird dunkel! Er kann doch nichts mehr sehen!« Traurig, aber wahr, dachte Tomlin, aber er hatte in dem Moment dringendere Probleme als seine langsam nach lassende Sehkraft: Er mußte raus aus dem Wasser, und zwar so schnell wie möglich. Die Alternative wäre gewe sen, zum Haus zurückzuschwimmen, vielleicht einein viertel Meilen, und sein linker Arm war so gut wie un brauchbar. Wütend und frustriert versuchte er, sich zu orientieren, während der Wind immer heftiger blies und das Schmutzwasser des Bayou nach und nach vor seinen Augen verschwand. Anita brachte Opal das Geschenk hinaus, als die Haushäl terin gerade in Rolands Buick klettern wollte, mit dem sie sich auf die Fahrt nach Meridian machen wollten. Opal 251
war sichtlich gerührt und schalt Anita, weil sie sich so viel Mühe gemacht hätte. »Eine goldene Hochzeit ist nichts Alltägliches. Bitte sage Ihnen, daß ich ihnen alles, alles Gute wünsche.« Sie fuhren davon. Anita sah zum Himmel, der immer be drohlicher aussah, und dann hinüber zum Anleger, zu dem das kleine Boot noch immer nicht zurückgekehrt war. Der Bayou war grau wie Stahl, nur hier und da blitzten ein paar weiße Schaumkronen auf. Sie sah Big-Dog drüben am Rand des Sumpfes entlangtrotten - er verfolgte wohl ge rade einen Waschbären oder eine Bisamratte -, aber als sie ihn rief, ignorierte er sie. Sie war ganz alleine, und das ge fiel ihr überhaupt nicht. Der Wind heulte um das Haus, das Tageslicht wurde rasch schwächer. Sie dachte noch an et was anderes, um das sie sich Sorgen machen mußte, und bei diesem Gedanken war sie auf Tomlin gar nicht gut zu sprechen. Warum hatte er da hinausfahren müssen, jetzt, wo ein Unwetter aufkam, und dann auch noch mit einem Boot, das einen so niedrigen Freibord hatte. Tony konnte noch nicht richtig schwimmen, vor allem nicht, wenn er in Panik geriet. Sie starrte auf den Bayou, als wolle sie das Boot mit ihren Blicken herbeiholen. Es gab keinen Grund für ihn, mit Tony hinauszufahren. Das war n ichts als Leichtsinn, und es zeugte nicht von besonders viel Verant wortungsbewußtsein. Wenn er nicht innerhalb der näch sten fünf Minuten auftaucht, dachte sie, dann wird er eine Anita kennenlernen, von der er sich noch keine blasse Vorstellung gemacht hat: voll erhabenen Zorns, um sich einmal Dickens' herrliche Beschreibung von Sir Leicester Dedlock auszuborgen. Das Auftauchen der Lollapalooza war für sie keine ange nehme Überraschung. Und noch viel weniger war es die Tatsache, daß Carl ein leeres Rude rboot im Schlepptau hatte. Oh, mein Gott!Sie rannte kopflos zum Anleger hin 252
unter, aber dann blieb sie plötzlich wie angewurzelt ste hen. Sie hatte Tony unversehrt an Bord der Motorjacht entdeckt. Aber er sah aus, als würde er weinen. Anita wartete, während Carl den Motor drosselte und die Lolly gegen die Schutzbleche des Anlegers rumpeln ließ. Sie langte unter dem Handlauf hindurch und nahm das Ende eines Seils vom Vordeck, um das Boot am Anle ger festmachen zu können. »Er hat Clay zurückgelassen! Er hat Clay einfach auf dem Bayou gelassen! Wir müssen ihn holen, Mom!« Sie nahm Tony, der auf sie zugelaufen war, in die Arme und sah Carl entgegen, der gerade von der Brücke der Lol ly herunterkletterte. »Was ist mit Clay?« »Tomlin übernachtet heute mal im Freien. Was soll's? Ich werde dich und Tony von hier fortbringen.« »Nein, das wirst du nicht.« Tony schluchzte. »Er hat mit seinem Gewehr auf Clay geschossen!« Anita war fassungslos. »Carl, sag mal, hast du den Ver stand . . .?« »Anita, Angel ist unterwegs hierher. Ich habe meine Befehle. Der Don will dich und Tony von hier weghaben, und zwar sofort.« »Wo ist Clay? Ist er verletzt?« »Nein. Und nun pack ein, was du für heute abend brauchst, und dann laß uns um Gottes willen machen, daß wir wegkommen.« Carl fielen vor der Feindseligkeit in ihrem Blick für einen Augenblick lang die Schultern zu sammen, dann verließ er den Anleger. »Du sollst mir sagen, wo Clay ist!« Carl schüttelte nur den Kopf und ging weiter, den Abhang hinauf zum Haus. Anita nahm Tony bei der Hand und folgte ihm. »Carl, du mieser Typ . . .« 253
Er fuhr herum und hielt ihr einen ausgestreckten Finger entgegen. »He, nenn mich nie wieder so! Kein Wunder, daß der Junge keinen Respekt vor mir hat. Was ist mit dir? Machst du dir Sorgen um ih n? Tomlin ist in diesem ver dammten Sumpf aufgewachsen. Angel! Du tätest besser daran, dir wegen Angel Sorgen zu machen!« Tonys Kopf fuhr mit einem Ruck hoch. Anita sagte: »Clay hat ein paar Wachmänner angeheu ert. Dienstfreie Deputies.« »Ach ja? Hat er das?« Carl blickte in die Runde. Der hef tige Wind peitschte einen leichten Sprühregen vom Him mel. »Und? Wo sind sie?« »Sie kommen später.« »Ja, ja. Später, Wieviel später? Nachdem Angel hier war und wieder über alle Berge ist und du mit aufgeschnitte ner Kehle herumliegst?« Tony riß sich von seiner Mutter los und stürzte sich auf Carl, schubste ihn wütend und schwang seine kleinen Fäuste. Carl konnte ihn .nicht richtig packen. Er trat einen Schritt zurück und gab dem Jungen eine schallende Ohr feige. Tony stand auf der Stelle still, den Mund weit auf gerissen, verständnislos dreinblickend. Sein Gesicht wurde kalkweiß, bis auf die Stelle, wo Carls Hand einen Abdruck auf der Wange hinterlassen hatte. »Du Dreckskerl!« schrie Anita. »Jetzt hör mal zu, ich hab' keine Zeit für solchen Quatsch! Beim besten Willen nicht.« Er beugte sich vor dem verdutzten Jungen auf ein Knie, nahm ihn sanft bei den Schultern und sah die Wange an. »Ich hab' dir doch nicht sehr weh getan, oder? Du mußt versuchen, dich ein bißchen besser in der Gewalt zu haben, du darfst nicht so jähzornig sein . . .« »Carl, wir gehen jetzt wieder an Bord, wir alle drei, und dann fahren wir zu der Stelle, wo du Clay zurückgelassen 254
hast. Er ist nachtblind. Er kann sich da draußen nicht ver teidigen.« Carl sah hoch zu Anita, während er Tony immer noch an den Schultern hielt. »Du bist diejenige, die blind ist. Und taub scheinst du auch noch zu sein. Du tust gerade so, als würdest du dich an deine letzte Begegnung mit An gel gar nicht mehr erinnern.« Tony rieb sich über die schmerzende Wange. Er gab einen unverständlichen, würgenden Laut von sich, der sich dann in zwei Worte auflöste. »Böser Engel. . .« Carl nickte und sah ihm in die Augen. »Ja, das stimmt. Der böse Engel, Tony. Er hat deiner Mutter sehr weh getan. Und er wird es wieder tun, wenn er sie hier findet. Also, was meinst du? Wir sollten jetzt unsere Sachen holen und machen . ..« »Der Zauberring.« Tony wand sich verzweifelt in Carls Griff, wollte zu seiner Mutter. Seine Stimme klang schrill: »Der Zauberring!« Carl schüttelte ihn zustimmend, und Tony wandte seine Aufmerksamkeit wieder ihm zu. »Du solltest lieber gleich loslaufen und den Ring ho len«, sagte Carl. Verwirrt und erschrocken sah Tony zu seiner Mutter hinüber, dann riß er sich mit einem Ruck von Carl los und rannte aufs Haus zu. Big-Dog, der gerade von irgendwo her gemütlich auf sie zugetrottet kam, sah Tony loslaufen und änderte seine Richtung, um ihm übermütig bellend zu folgen. »Jetzt sieh nur, was du mit ihm gemacht hast.« Carl erhob sich mit finsterer Miene. »Ich wünschte, es gäbe hier jemanden, der etwas Ver trauen zu mir hätte«, beschwerte er sich. »Immerhin ver suche ich gerade, dir das Leben zu retten.« 255
26. Kapitel Wolfdaddy kam so gegen halb sieben auf seinem F ahrrad aus der Stadt zurückgeradelt, die Lampe vorne am Lenker warf ein schwaches Licht auf den fleckigen Asphalt der Straße, die zu seinem Baumhaus führte. Es war beinahe vollständig dunkel, und das Strampeln gegen den Wind hatte seine Knie schlottrig wer den lassen. Wenigstens hatte der Regen fast ganz aufgehört. Es fiel gerade noch genug, um die Straße schlüpfrig zu machen. Wolfdaddy trug den Hut mit den Spiegeln und einen Pfadfindertorni ster auf dem Rücken, der seine Bibel enthielt und zwei Big Macs in Styroporbehältern, die ihm die Familie der Frau, bei der er einen Krankenbesuch gemacht hatte, freundli cherweise als Abendessen mitgegeben hatte. Festgebun den an den Tornister war eine lederne Scheide, in der ein feststehendes Messer steckte, dessen Griff er dick mit Klebeband umwickelt hatte und dessen Klinge von der jahrelangen Benutzung schmal und scharf geworden war. Zu Hause angekommen, wehten ihm ein paar Blätter der großen Eiche entgegen. Er kettete sein Fahrrad an einen eisernen Ring, den er fest in den Baumstamm ge schraubt hatte, damit es nicht ins Wasser des Bayous rol len konnte. Oben, auf der Plattform über seinem Kopf, schlug ein niedrighängender Ast, der vom Wind geschau kelt wurde, ab und zu eine Taste auf dem alten Klavier an. Es würde noch ein heftiger Sturm werden, bevor die Nacht vorüber wäre, und er würde das alte Ding besser mit der Plastikplane abdecken, die er hinter Krögers aus dem Abfall gezogen und aus der er mit Hilfe von Klebe band ein wasserdichtes Zelt gemacht hatte. Er würde es mit ein paar Backsteinen beschweren. Irgendwo zwischen den Sumpfgräsern leuchtete ein Augenpaar, und er hörte auch ein verlorenes Miauen, aber die Abwesenheit der 256
vielen Katzen, die sonst auf den altersschwachen Stufen herumzulungern pflegten, war doch mehr als auffallend. »Kätzchen«, rief Wolfdaddy. »Kätzchen? Wo sind denn alle meine Kätzchen?« Nun gut. Wolfdaddy mühte sich hoch zu seiner Platt form, wo er erst einmal eine Pause einlegte, um den Tor nister abzustreifen. Mit den Händen ging er über die Ta sten des Klaviers, er versuchte, sich einer alten Hymne zu erinnern, die ihm vorhin undeutlich durch den Kopf ge gangen war. Aber er war doch zu hungrig, um jetzt groß über Musik nachzudenken. Er hatte den ganzen Tag noch nichts Ordentlic hes gegessen. Erst einmal mußte er die Plastikplane holen, und dann . . . Wolfdaddy öffnete die Tür zu seinem Verschlag und wich erschrocken zurück, als der Mann, der gleich hinter der Tür gestanden und gewartet hatte, jetzt wie ein wildes Tier auf ihn los ging, sein Fernglas in den erhobenen Hän den. Er versetzte Wolfdaddy mit dem Fernglas einen harten Rückhandschlag. Es schmerzte wie die Sünde. Wolfdaddys Hut fiel runter. Der alte Mann torkelte hilflos umher und versuchte vergeblich, irgendwo Halt zu finden. Seine Finger rutschten ab von dem Nylonstoff der schwarzen Windjacke vor ihm, und sein linker Fuß er tastete nichts anderes mehr als die kalte Herbstluft. Er fiel auf eine etwas verdrehte Weise und landete hart auf dem vollgepackten Boden, inmitten eines Durcheinanders von Klappstühlen. Bei dem Sturz brach er sich die Hüfte und verrenkte sich den Rücken. Beinahe wäre er in Ohnmacht gefallen. Wolfdaddy versuchte schwach, sich zu bewegen, aber es war ihm unmöglich aufzustehen. Er sah die Äste der Bäume, die vom Wind hin und her gepeitscht wurden, und er sah über sich die bösen Augen des Todesengels, 257
die über sein Schicksal nachzusinnen schienen. Dann tra ten Tränen in seine eigenen Augen, er versuchte verzwei felt, Luft zu bekommen und verlor für e inige Sekunden das Bewußtsein. Als er wieder zu sich kam, mit etwas Luft in den Lun gen und Schmerzen am ganzen Körper, erkannte er wie durch einen Schleier, daß sich über seinem Kopf auf der Plattform etwas bewegte. Zuerst konnte er nicht erken nen, worum es sich handelte. Dann hörte er ein Durchein ander von Tönen und zusammen mit einem Aufblitzen schrecklicher Todesangst erkannte er, daß jemand das Klavier über den Rand der Plattform schob, wo es jetzt di rekt über ihm im heulenden Wind schaukelte. Ein Stöh nen entrang sich seiner Kehle . . . Nein, Mann!Es tut doch schon so weh! Bitte nicht das Klavier auf mich kippen! Nachdem er sich aus dem modrigen Wasser des Bayous gezogen hatte, nützte Tomlin die Zeit, um sich auf eine unbequeme Nacht einzurichten, obwohl er immer noch hoffte, daß jemand nach ihm schauen würde. Er fragte sich, ob Anita mit Carl zusammengearbeitet haben mochte; oder stellte sich überhaupt noch die Frage nach Zusammenarbeit, wenn der Cosa-Nostra-Pistolero seinen schwarzen Hut aufsetzt und das überzeugendste Argu ment in der rechten Faust hält? Vielleicht waren sie längst weg, und er würde sie niemals wiederfinden können. Das Gefühl des Verlusts wurde noch gesteigert durch seine Wut auf sich selbst. Wie konnte er es dazu kommen las sen? Einmal abgesehen davon, daß ihm letztlich gar keine Alternativen geblieben waren. Carl hatte die Partie jeder zeit in der Hand gehabt. Anita hätte ihm Hilfe geschickt, dachte er, wenn sie auch nur die geringste Möglichkeit dazu erhalten hätte. 258
Als es zu dunkel geworden war, um die Uhr noch ablesen zu können, hatte Tomlin mit der Spitze seines Fischmes sers das Abdeckglas entfernt. Jetzt konnte er die Uhrzeit ertasten. Es war jetzt zwanzig vor sieben. Burleson und Voisin würden noch nicht angekommen sein. Es befand sich kein Mensch in Rufweite, einmal abgesehen von Wolfdaddy, aber Tomlin wußte nur zu gut, daß man ihn gegen den heulenden Wind nicht würde hören können. Sein Vater hatte ihn einmal gelehrt, immer ein paar wasserfeste Streichhölzer dabeizuhaben, wenn er mit einem Boot hinausfuhr, auch wenn er sich nicht weiter als fünfzig Meter von der Anlegestelle entfernen wollte. Diese Lektion zahlte sich nun, nach so vielen Jahren, end lich aus. Er hatte auf seiner kleinen Insel ein schönes Feu erchen brennen. Aber der Haufen Holz, den er sich beim restlichen Tageslicht noch hastig zusammengesammelt hatte, wurde schnell kleiner. Bald schon wäre nur noch et was Grünzeug übrig, das wohl rauchen und qualmen würde, dem aber keine Flamme mehr zu entlo cken wäre. Höchstens noch eine Stunde, dann würde er ganz im Dunkeln sitzen. Wenigstens waren seine Kleider wieder völlig getrock net, vom Wind und von der Wärme des Feuers. Und es gab noch einen Punkt auf der Habenseite: Seine Schulter war weder gebrochen noch ausgekugelt, obwohl sie im mer noch schmerzte. Seine vorläufige Diagnose: eine hef tige Prellung, vielleicht auch ein leichter Riß im Muskel. Er konnte die Finger bewegen, aber er konnte den Arm nicht sehr hoch heben. Ganz in der Nähe hatte er Ges ellschaft, ein Krokodil pärchen, das sich gegenseitig anschnaubte, aber die Vie cher beunruhigten ihn nicht. Er war angespannt, nicht ängstlich, und wenn er nicht gerade wütend war, lang weilte er sich. Es blieb ihm nichts zu tun, als ab und zu ein 259
Stückchen Holz nachzulegen, die Tageszeit auf seinem Zifferblatt zu ertasten und zu hoffen, daß der heftige Süd wind noch eine Weile weiterblasen würde. Denn wenn er schwächer würde oder gar ganz aufhören würde zu blasen, dann würde es regnen. Und wie.
27. Kapitel Anita hatte eine ganze Weile mit Tony verbracht, hatte ihn in den Armen gehalten und ihm gut zugeredet. Länger als eine Stunde hatte der Junge einfach nur auf seinem Bett ge sessen und den Zauberring mit seiner Faust umklammert, bevor er bereit war, den Mund zu öffnen und etwas zu sa gen. Wenigstens hatte Carl noch soviel Takt besessen, sie alleine zu lassen, nachdem er den Jungen so verängstigt hatte. Tony war lethargisch und kaum anzusprechen, aber als Anita einmal aufgestanden war, um sich von unten et was gegen ihre Kopfschmerzen zu holen, hatte er auf herz zerreißende Weise losgeschrien und sie angefleht, ihn nicht zu verlassen. Er schien in sein viertes Lebensjahr zu rückversetzt zu sein, in jenen Sommer, in dem Angel sie auf der Fiatbush Avenue über den Haufen gefahren hatte. Aber nach und nach, indem sie ihm ihre ganze Liebe gab, ihn in ihren Armen wiegte und beruhigte, begann Tony ihr mit normaler Stimme zu antworten, auch wenn er den Ring mit dem blauen Stein nicht loslassen und nicht von seinem Bett aufstehen wollte. »Tony, ich muß deine Sachen packen«, sagte Anita schließlich. »Okay.« Er sah ihr zu, wie sie seinen Koffer vom ober sten Regal des Wandschranks nahm und damit begann, die Schubladen aufzuziehen. 260
»Ich will meine Ascheneimer-Kids mitnehmen.« »Ich weiß schon.« »Kann ich auch den Flugzeugträger mitnehmen?« »Alles, was du willst, mein Liebling.« Beim Blick auf den Flugzeugträger fiel ihm wieder ein, wie ungemütlich es jetzt draußen auf dem Bayou sein mußte. Er dachte an Tomlin im kalten Wasser und daran, wie Carl sein Schrotgewehr auf ihn abfeuerte. Ein kalter Schauer durchlief ihn. »Werden wir Clay zurücklassen?« »Tony, du weißt, daß ich das nicht tun werde.« Sie er hob sich von einer der Schubladen und hielt sich den Kopf. Sie fühlte sich schwindelig und benommen. »Und was wirst du tun?« wollte er wissen. Er schien ihr nicht zu glauben. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Sobald wir alles ge packt haben und an Bord der Lolly sind, werden wir hin fahren und ihn holen.« »Carl wird das niemals tun!« sagte Tony. Er war böse auf sie. »Doch, er wird es tun. Ich kann mit Carl ein Geschäft machen.« Gott steh mir bei, dachte sie. Aber um sie ging es jetzt nicht. Es ging darum, Clay zu retten, und dann konnte Carl sie und Tony hin bringen, wo immer der Don meinte, daß sie in Sicherheit wären. Und wenn Carl dar auf bestehen sollte, mit ihr ins Bett zu gehen, sozusagen als sexuelle Belohnung für ein Jahr treuer Dienste, dann wäre es ihr auch egal, denn früher oder später würden sie und Tony den Weg zum Lostman's Bayou und zu Clay schon zurückfinden, falls der sie dann überhaupt noch wollte. Es gelang ihr ganz gut, das zuversichtliche Lächeln auf ihrem Gesicht festzuhalten, auch wenn sie den Druck der Tränen hinter den Augen spürte, bis plötzlich die Lichter 261
anfingen zu flackern, dunkler wurden, einen kurzen Au genblick noch vor sich hinglimmten und dann ganz aus gingen, während der Wind gerade einen wahren Großan griff auf das Haus startete. Die einzige Beleuchtung in Tonys Zimmer war jetzt das sanfte Leuchten von Donald Ducks Gesicht auf dem riesigen Wecker auf Tonys Nacht schrank. »Mommm!« »Es ist. . . keine Angst. Es ist nur der Generator.« Das Blut gefror ihr in den Adern. Sie wußte, daß der Kraftstoff nicht aufgebraucht war, Roland hatte den Tank noch heute nachmittag überprüft. Sie bemühte sich um einen beiläufigen Tonfall. »Carl wird sich um die Störung küm mern. Ich zünde gleich die Sturmlampe an.« »Wo willst du hin ?« »Runter in die Küche. Ich weiß nicht, wo ich meine Zi garetten gelassen habe, und Streichhölzer habe ich auch nicht dabei. Schau nur, Donald ist noch immer beleuchtet. Außerdem haben wir noch die Alarmsirene, die wir heute vormittag gekauft haben.« Sie nahm die Sirene vom Tisch und legte sie neben ihm aufs Bett. »Weißt du noch, wie sie funktioniert?« »Ja.« »Sie ist sehr laut.« »Wird sie den bösen Engel vertreiben?« »Der böse Engel ist nicht hier, Tony. Wenn er hier wäre, dann wäre Big-Dog schon auf ihn losgegangen, und Carl hätte ihn gefesselt. Du mußt wirklich keine Angst ha ben.« Tony dachte nicht daran zu fragen, warum sie so hastig abreisen müßten, wenn alles so einfach wäre. »Ich möchte Big-Dog hier bei mir haben. Wo ist er?« »Oh, er läuft draußen herum. Vielleicht ist er mit Carl unten am Anleger.« 202
»Komm ganz schnell zurück«, sagte Tony zu seiner Mutter. »Ganz bestimmt«, antwortete sie und küßte ihm das Gesicht ab. Carl steckte ganz hinten im Motorenraum der Lollapalooza und versuchte herauszufinden, warum der Backborddie sel ihn vorhin beim Startversuch nur einmal kurz angehu stet hatte, als an Land der Strom ausfiel und seine Arbeits lampe nach einem kurzen Aufflackern verlosch. Mehrere Sekunden lang verhielt er sich absolut still im Dunkel. Er wollte sich erst orientieren, wo er die Taschen lampe für Notfälle deponiert hatte, wollte nicht zu viele Bewegungen ohne sie machen, denn er war sicher, daß er sich in diesem engen Verschlag unter Deck den Kopf an stoßen würde. Nachdem seine tastende Hand die MagLite aufgespürt und eingeschaltet hatte, zwängte er sich hinaus in das Cockpit und richtete den Lichtstrahl auf das im Wind schaukelnde 220-Volt-Kabel, das vom Bootsdeck direkt in den Generatorschuppen hinterm Haus führte, der etwa 70 Meter entfernt war. Das Kabel war immer noch mit dem Boot verbunden. Die Flutlichter um die Veranda herum brannten auch nicht mehr, das bedeutete, der Generator mußte ausgefallen sein. Das machte ihm etwas Unbeha gen, und der Wind, der das Boot an den Anleger drückte und den hölzernen Laufsteg mit jedem Heben und Sen ken des Wassers in seinen Gelenken knarren und ächzen ließ, begann ihm auf die Nerven zu gehen. Er ging nach vorne in die Kabine, um ein Hilfsaggregat einzuschalten, dann entschied er sich dafür, die Batterien doch nicht zu sehr zu belasten. Er würde erst den anderen Diesel anwerfen und sich dann um den Generator küm mern. Ob Roland sich wohl um die Instandhaltung ge 263
kümmert hatte, wie es sein Auftrag gewesen wäre? Diesem Nigger mußte man immer alles dreimal sagen, bevor er sich in Bewegung setzte. Der Schlüsselbund lag nicht auf der Konsole auf dem Hauptdeck, obwohl er ganz sicher war, ihn dort gelassen zu haben. Nun, er mußte soviel im Kopf haben, vielleicht hatte er . . . Carl fingerte sich durch die vielen Taschen sei ner Safarijacke, und er fand nur die Bestätigung dessen, was er sich ohnehin schon gedacht hatte: Mit Sicherheit hatte er den Schlüssel für die Maschine im Zündschloß steckenlassen. Lichter aus, kein Schlüssel. Diese merkwürdigen Zu sammentreffen gefielen ihm ganz und gar nicht. W ar Freund Tomlin etwa zurückgekehrt, von wo auch immer Carl ihn abgeladen hatte? Carl hatte keine Ahnung, wie er das hätte bewerkstelligen können, aber wenn er es tatsäch lich geschafft hätte, den ganzen Weg zu schwimmen, dann wäre er jetzt bestimmt in keiner besonders guten Laune. Carl ging direkt zur Brücke, eiligen Schritts, nervös, nachdenklich. Wenigstens die verdammte Knarre sollte jetzt an ihrem Platz sein. Sie war an ihrem Platz. Als er den Jackhammer in der Hand hielt, fühlte Carl sich augenblicklich ruhiger. Er hatte nach den Schüssen in Tomlins Richtung noch nicht wieder nachgeladen, aber er hatte noch ein paar Pa tronen in einer großen Tasche seiner Jacke. Standard schrot Nr. 4. Er beschloß, daß es nichts schaden könne, heute nacht einmal auf Größe oo umzusteigen. Gestei gerte Feuerkraft, für alle Fälle. Er kehrte in die Kabine zu rück und fand die Patronen im doppelten Boden des Schließfachs unter der Couch. Nachdem er die Patronen leichteren Kalibers entfernt hatte, füllte er den Plastikzy linder des Gewehrs mit derjenigen aller Ladungen für Handfeuerwaffen, die Dynamit am nächsten kam. 264
Mit dem Gewehr fest in der Hand und beträchtlich ver besserter Moral beschloß Carl, zuerst einmal zum Haus hochzugehen, einen Blick auf den Generator zu werfen und dann Anita Beine zu machen, falls der Lichtausfall sie nicht ohnehin schon in die Gänge gebracht hatte. Als er auf den Anleger trat, legte der heulende Wind gerade eine Pause ein. Er hörte ein klingelndes Geräusch, das von nichts anderem als einem Schlüsselbund stam men konnte. Vielleicht hatte er sie vorhin auf dem Steg verloren und jetzt eben ins Wasser geschubst. Ver dammte Scheiße. Er richtete den mächtigen Lichtstrahl seiner MagLite - zu mächtig beinahe; wenn er von dem Licht wegsah, war er so geblendet, daß er kaum noch et was erkennen konnte - auf den hölzernen Steg, aber er konnte dort nichts Metallisches entdecken. Der Wind heulte wieder auf, und das Ruderboot, das er vorher von der Lolly losgebunden und auf der anderen Seite der Mole, wo er jetzt stand, vertäut hatte, schlug hart gegen die Öltonnen, auf denen der Holzsteg schwamm. Da war wieder dieses Klingeln. Hörte sich fast so an, als würde jemand ein wenig ab seits in der Dunkelheit stehen und die Schlüssel gegen einander klimpern lassen. Da wollen wir doch mal nachsehen, dachte er. Carl bewegte die riesige Taschenlampe in sanften Bö gen durch die Luft und leuchtete dabei nacheinander den gesamten Bereich des Anlegers, den Bootsschuppen und den Teil der Rasenfläche aus, der sich bis hinunter an das Uferschilf zog. Er konnte niemanden sehen, aber das Klingeln hörte nicht auf. Der heftige Wind, der ihm um die Ohren blies, erschwerte die Bestimmung der Rich tung, aus der das Geräusch kam. Dann schaute er hoch und entdeckte nur et wa andert halb Meter von sich entfernt den Schlüsselring, der an 265
einem Nagel in einem der Flutlichtmasten hing, gleich ne ben dem Kabel, das den elektrischen Strom zu seinem Boot transportierte. Die Schlüssel waren gar nicht leicht zu erreichen. Während er unten im Maschinenraum gesteckt und die Bedienungsanleitung für die Maschine durchgeblättert hatte, mußte jemand an Bord der Lolly gekommen sein, den Schlüssel von der Konsole in der Kabine genommen und ihn an den Flutlichtmasten gehängt haben und an schließend zum Haus hochgegangen sein, wahrschein lich, um dem Generator den Garaus zu machen. Carl konnte sich keinen rechten Reim auf das alles ma chen. Nach dem, was er von Clay Tomlin wußte, war der kein Mann großer Umwege. Aber wer wußte schon, was im Kopf eines Angel Bar zatti so vor sich ging? Carl grinste, aber seine Kehle war so trocken, daß das Schlucken schmerzte. Er hielt das Gewehr so, daß er im Notfall aus der Hüfte hätte schießen können. Mit der MagLite machte er einen schnellen Schwenk über das Boot hin ter ihm, aber auf den Decks schien die Luft rein zu sein. Was zum Teufel hatte das zu bedeuten? Wenn Angel sich tatsächlich an Bord der Lolly versteckt hielt, dann hätte er doch schon viel günstigere Gelegenheiten gehabt, über Carl herzufallen, als jene, die sich ihm jetzt bot. Mal angenommen, der verrückte Dreckskerl war wirk lich hier, was wollte er dann von ihm? Carl wollte die Schlüssel wiederhaben. Koste es, was es wolle. Ihm fiel kein vernünftiger Grund ein, warum er sie sich nicht hätte holen sollen. Hätten die Dinger nur nicht wie eine Art Köder da oben gehangen. Carl sah sich noch einmal vorsichtig um, dann war er überzeugt davon, auf dem Anleger ganz allein zu sein. In der rechten Hand das Gewehr, der Finger am Abzug. 266
In der linken Hand die Taschenlampe. Er würde hinauf langen, den Ring mit dem kleinen Finger vom Nagel he ben und abnehmen müssen. Zwei Sekunden. Kein Pro blem. Worüber machte er sich Sorgen? Das helle Geklingel der Schlüssel waren zum Mittel punkt seines Universums geworden. Es waren die Schlüs sel zu seinem Boot, auf dem er sein gesamtes Barvermö gen versteckt hatte, und es waren auch die Schlüssel zu seinem protzigen Mercedes. Nahm man ihm diese Schlüssel, dann war es so, als hätte man ihm die Männ lichkeit genommen. Die Schlüssel da oben an den Masten zu hängen, das war nichts anderes als eine finstere Geste der Verachtung. Das alles könnte eine komplexe Bedeu tung haben - zumindest im Kopf eines Wahnsinnigen. Carl tat zwei Schritte nach vorn, den Lichtstrahl der Ta schenlampe nach oben gerichtet, und langte nach dem Schlüsselbund, das ganze Gewicht seines Körpers auf die Zehen seines rechten Fußes verlagert. Die rasiermesserscharfe Klinge von Wolfdaddys Jagd messer fuhr senkrecht hoch durch eine n kleinen Spalt zwischen den Holzbohlen des Laufstegs, schnitt durch die Gummisohle von Carls Segeltuchschuhen und trennte ihm bis auf den großen Zeh alle Zehen des rech ten Fußes ab. Ohne vier seiner Zehen verlor Carl augen blicklich die Balance und kippte nach vorne, seine Schul ter streifte den Lichtmasten, und er stürzte hinunter in das Ruderboot. Er fiel hart auf seine Gewehr und zog da bei den Abzug durch. Der Knall wurde durch seinen schweren Körper ge dämpft. Die Gewalt der Explosion und der Sc haden, der durch sie angerichtet wurde, dürften der Wirkung einer großen Sprengmine nicht unähnlich gewesen sein. Der helle Lichtstrahl der MagLite, die über den Bug des Ru derbootes hinweg ins Wasser plumpste, beleuchtete vor 267
dem Verlöschen noch kurz das Gesicht des Todesengels, der zwischen den Blechtonnen hervorgeschwommen kam, die den Holzsteg nicht nur trugen, sondern auch für etwas Hohlraum darunter sorgten. »Mommmmmmm!« Anita zündete in der Küche gerade die zweite der bei den Sturmlampen an, ging zurück zur Treppe und rief zu Tony hinauf. »Okay! Ich komme sofort!« Der Wind war zwischen Fliegengitter und Hintertür eingedrungen und produzierte dort ein schrilles Ge räusch, indem er ein dünnes Stück der metallenen Dich tungsleiste zum Vibrieren brachte. Es jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Sie wollte mit einer der Lam pen die Küche verlassen, da stieg ihr der Geruch der reichhaltigen Cannellonisauce in die Nase, die auf einer kleinen Flamme des Herdes vor sich hinköchelte und die sie vollkommen vergessen hatte. Sie ging noch einmal zu rück zum Herd und drehte das Gas aus. An Essen war im Moment nicht zu denken, aber sie wußte, daß sie Tony etwas mit nach oben nehmen sollte. Ein Glas Milch viel leicht. Sie setzte die Lampe ab und öffnete den Kühl schrank. Draußen jaulte Big-Dog auf, und sie hörte, wie etwas Schweres auf dem Verandaboden aufschlug. Anita wäre beinahe die Wände hochgegangen. Sie ließ die Kühl schranktür offenstehen und drehte sich leise um. Ihr Herz schlug wie wild. Aber s ie hörte nur das quälende Wim mern der losen Dichtungsleiste an der Hintertür. Sie schenkte für Tony ein Glas voll Milch und nahm die Lampe in der festen Absicht wieder zur Hand, auf schnell stem Wege nach oben zu gehen. Aber dann konnte sie es doch nicht ertragen, nicht zu wissen, was draußen auf der 268
Veranda passiert war. War von einem der großen Bäume ein Ast abgerissen worden und hatte Big -Dog getroffen? Der Hund hätte jetzt eigentlich an der Hintertür kratzen sollen, um eingelassen zu werden. Sie ließ die Milch auf der Arbeitsplatte zwischen Kühlschrank und Herd stehen und ging quer hinüber zur Tür. Geraffte Gardinen verdeckten das Glas und alles, was sich in der Dunkelheit dahinter befand. Anita schob die Gardine beiseite, aber sie konnte draußen nichts erken nen. Sie zögerte, dann griff sie nach dem Griff des Türrie gels und schob ihn zurück. Sie ließ die Hand auf den Tür knopf sinken, um die Tür ganz vorsichtig zu öffnen, nur einen Spalt weit, aber der Druck des Windes riß ihr den Türknopf aus der Hand und fegte den Zylinder von der Sturmlampe. Das dünne Glas zersprang auf dem Fliesen boden, und die ungeschützte Flamme wehte rasch aus. »Carl!« schrie Anita. »Carl, wo bist du?« Der Wind trug ihr keine menschliche Stimme zurück, aber irgendwo auf der langen Veranda hörte sie Big -Dog winseln. Anita ging zurück zum Küchentisch, um die andere Sturmlampe zu holen. Hinter ihrem Rücken öffnete sich die Tür mit dem Fliegengitter und schloß sich sofort wie der mit einem scharfen Knall. Sie fuhr herum, hielt den Atem an, aber es war niemand da: das mußte dieser teufli sche Wind gewesen sein. Die Fliegentür stand wieder gähnend weit offen, als sie zu ihr hinkam. Big-Dog tauchte aus der Dunkelheit auf, sein Anblick verwandelte ihre Haut in Schuppen von Eis. Der Hund torkelte, als müßte er auf einer spiegelglatten Fläche laufen, und zwängte seinen Körper durch die Öff nung. Sie hätte beinahe die Ersatzlampe fallen lassen. »Oh, mein Gott!« Big-Dog war dreckverschmiert und verfilzt, als habe 269
man ihn durch einen Sumpf gejagt. Er trottete erschöpft an ihr vorbei, brach auf dem kleinen Vorleger vor der Spüle zusammen und legte sich auf die Seite. Er hatte einen schaumigen, roten Schnitt von etwa drei Zentime ter Länge in der Brust. Er mühte sich ab, um Luf t durch die tiefe Wunde einzusaugen. Als sie sich mit Tränen in den Augen neben ihn kniete und die Seite seines Kopfes berührte, zog sie die blutver schmierten Finger erschrocken zurück; am Ohr hatte er ebenfalls eine tiefe Schnittwunde. Anita ließ die Lampe auf dem Boden stehen, sprang hinüber zur Tür, warf sich mit ihrem ganzen Gewicht da gegen und schlug den Riegel wieder zu. Big-Dog atmete rasend schnell, Speichel tropfte ihm von den verzerrten Lefzen. Jetzt hätte sie Carl gebraucht. Dringend. Aber si e würde die Tür nicht noch einmal öffnen. Der Wind machte sein langgezogenes, metallisch sum mendes Geräusch. Der Schock hatte ihre Bewegungen langsamer ge macht, ihre Wahrnehmung abgestumpft. Sie betrachtete das Blut an ihrer Hand. Wenn Big -Dog das passiert war, dann würde es vielleicht auch Carl erwischen. Ihr wurde auf einmal klar, daß sie seit drei oder vier Mi nuten nichts mehr von Tony gehört hatte. Anita packte die Lampe und ging zum unteren Trep penabsatz. Die Dunkelheit des ersten Stocks schien her unterzureichen und das Licht ihrer Lampe zu ersticken. »Tony!« Das Ausbleiben einer Antwort kam ihr vor wie eine Wand der Einschüchterung. Sie durchbrach diese Wand, hastete die Stufen hinauf. Schatten hüpften und stürzten den Flur entlang, als würden dort halbwilde Kin der spielen. Sie blieb in der Tür zu seinem Zimmer stehen, die heiß 270
glühende Lampe weit von sich gestreckt, und beleuchtete die zerwühlten Bettlaken, auf denen er vorhin noch ge sessen hatte. Jetzt war das Bett leer. Der Junge war nicht da. Der Donald-Duck-Wecker grinste ihr entgegen, wäh rend es ihr war, als fülle ihre Angst den Raum wie ein Ne bel, während ihre Kopfhaut zu kribbeln begann und ein Schwall von Blut ihr rückwärts die Kehle hochzuschießen schien. Ihr wurde schwac h. Der Zylinder der Lampe schlug klappernd gegen den Türrahmen. Tick-tock-tick-tock machte Donald. »Mom?« Anitas Kopf fuhr herum in Richtung Badezimmertür, die geschlossen war. »Tony? Bist du in Ordnung?« Mit leiser Stimme antwortete er: »Ich mußte gehen. Ich habe Krämpfe.« Das Mitgefühl zog auch ihr sofort den Magen zusam men. Doch der Klang seiner Stimme hatte sie auf wunder same Weise wiederbelebt. Ihr Herz begann wieder zu schlagen. »Tony, hör mir zu. Wir werden den Wagen nehmen und in die Stadt fahren. Auf der Stelle.« »Und was ist mit Clay?« fragte Tony und hörte sich da bei an, als würde er gleich losweinen. »Ist er dir ganz gleichgültig?« Sie preßte eine Hand, die noch immer ganz klebrig von Big-Dogs Blut war, gegen ihre Wange, in dem Versuch, ihre Sinne wenigstens noch während der nächsten, ent scheidenden Minuten zusammenzuhalten. »Nein . . . das weißt du doch. Ich werde Mr. Lefevre oder jemand anderen bitten, nach ihm zu suchen, aber . .. wir . .. du, ich will, daß du jetzt hier bleibst und auf mich wartest. Ich muß meine Handtasche und die Schlüssel ho len. Tony? Schließ die Tür zu.« 271
»Hab' ich schon.« Anita verließ Tonys Zimmer und rannte hinüber zu ihrem eigenen. Vor Carls Tür blieb sie stehen. Sie ver suchte sich jetzt nur auf diese eine Sache zu konzentrie ren: Sie mußte Tony und sich selber sicher aus dem Haus bringen. Vielleicht würde sie dafür Unterstützung brau chen. Sie öffnete die Tür zu Carls Zimmer. Drinnen war es warm, beinahe stickig. Eine Fenster scheibe klapperte. Anita roch sein starkes Eau de Co logne, aber Carl selbst war nicht da. Sein Gepäck, halb fer tiggepackt, lag über das Bett verstreut. Die Türen des Kleiderschranks standen offen. Anita stellte die Lampe auf eine Marmorplatte gleich neben der Tür, ging hinüber zu dem Bett mit dem hohen, dunklen Kopfbrett und be gann Carls Sachen zu durchwühlen, wobei sie Unterwä sche, Hemden und schwarze Socken zur Seite warf. In keiner der beiden Schweinsledertaschen fand sie, wonach sie suchte. Sein Aktenkoffer stand auf dem Boden neben dem Schreibtisch. Sie packte ihn als nächstes und kippte ihn aus. Als letztes fiel die 38er Detonics-Automatik her aus, die in einem Wildlederhalfter steckte. Hinter ihr schlug die Schlafzimmertür zu, und als sie sich umdrehte und die Pistole aus dem Etui riß, zerschlug jemand den Zylinder der Lampe. Die Flamme züngelte noch einmal kurz in die Höhe, bevor sie verlosch. Anita preßte sich gegen die Wand neben dem Schreib tisch und bedauerte einen Augenblick lang, daß sie so un aufmerksam gewesen war, als Carl ihr den sachgerechten Umgang mit Handfeuerwaffen erklärt hatte. Aber sie hatte trotzdem schon etwa ein Dutzend Schüsse abgefeu ert. Mit eben dieser Pistole. Sie wußte, wie das Ding funk tionierte, und sie machte es schußbereit, ohne gro ß dar über nachdenken zu müssen. Entsicherungshebel mit 272
dem Daumen runterdrücken, langsam den Schlitten zu rückziehen, wieder loslassen - ein beruhigendes Ge räusch in der dunklen Falle von Carls Schlafzimmer. Der Wind toste um das Haus herum, aber ihr Atem übertönte den Wind beinahe noch. Sie fing einen entweichenden Atemzug und hielt ihn fest. Die Automatik hochgehoben und mit beiden Händen fixiert. Finger auf den Abzug, bis zum Druckpunkt durchziehen. Aber wo steckte er? Sie lauschte in die Dunkelheit. Blut schoß ihr in die Oh ren, die unheimlichen Windgeräusche lenkten sie ab. Sie lauschte auf das Knarren eines der Bodenbretter unter einer schweren Last. Stattdessen roch sie ihn. Es war ein neuer Geruch im Zimmer, stärker als Carls Roman Cologne. Ein morbider, schauerlicher Geruch, der sich wie ein dichtes Spinnennetz über sie legte. Bist du endlich gekommen, Engel des Todes. Sein Name auf ihren Lippen befreite sie aus der eisigen Gruft des Hasses, in die er sie eingesperrt hatte. »Angel?« »Dieses Mal nicht, Angel!« Ganz systematisch begann Anita die Automatik abzu feuern, sie leerte das Magazin in die Dunkelheit um sich herum. Nach den ersten Schüssen war sie glücklicher weise schon taub, und als das Magazin leer war, kippte sie vornüber in ein e kühle Ohnmacht, der Hammer schlug vergeblich ein letztes Mal auf die leere Kammer, nachdem sie den Abzug noch einmal durchgerissen hatte.
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28. Kapitel Als Tony die Pistolenschüsse hörte, sprang er von der Toilette herunter, verschloß seine Faust fest um den Zau berring, riß die Tür zum Wäscheschrank auf und rollte sich zitternd im untersten Regal zusammen. Er wartete auf seine Mutter, aber er fürchtete, sie würde nicht kommen. Er rieb den Stein auf dem magi schen Ring, bis seine Finger heiß wurden. Nach und nach ebbte das heftige Zittern ab, und vor seinen Augen nahm der Stein in der Dunkelheit ein bleiches, ätherisches Leuchten an. Dann hörte er irgendwo im Haus Big-Dog leise bellen. Tony war außer sich vor Erleichterung. Jetzt brauchte er sich nicht mehr zu verstecken. Er knöpfte seine Jeans zu und stieß die Tür des Wä scheschranks auf. Er hörte das Klappern der Fensterläden und ein anschwellendes, vibrierendes Stöhnen, von dem er wußte, daß es der Wind war, denn er hatte diesem Ge räusch oft genug zugehört, wenn er in den stürmischen Nächten am Bayou wach in seinem Bett gelegen hatte. Vor dem Wind hatte er keine Angst. Aber seine Mutter hatte die Lampe aus seinem Zimmer mitgenommen, und das fand er jetzt eher bedrohlich als beruhigend. Mit der ein en Hand bedeckte er den Stein des Zauberrings, denn er wollte dessen Kraft aufsparen bis zu dem Moment, wo er den Ring brauchte, um den bösen Engel in eine Milliarde Stücke zu sprengen. Seine Mutter hatte ihm versprochen, daß das passieren würde. »Mom?« sagte er leise. Er erkannte nur wenig in seinem Zimmer, eigentlich nur das Gesicht von Donald Duck auf dem laut tickenden Wecker, und das von einer Zehn Watt-Batterie gespeiste Nachtlicht, das in der Dunkelheit den Platz von Donalds Schnabel einnahm. 274
Er steckte die Hand mit dem Zauberring in eine Seiten tasche seiner Jeans, dann nahm er die Uhr und trug sie wie eine Laterne vor sich her auf dem Weg zur Treppe. Er hörte den Wolfshund wieder, diesmal war es kein Bellen, sondern eher ein Winseln. Woher? »Big-Dog?« rief Tony ängstlich. Dann rief er nach sei ner Mutter, jetzt klang seine Stimme schon etwas lauter. Der Wind war im Haus, feucht und zugig, aber das beun ruhigte den Jungen nicht so sehr wie die Tatsache, daß ge schossen worden war und daß seine Mutter ihm nicht antwortete. Er fing wieder an zu zittern. Gleich würde er weinen müssen. »Carl! Hast du auf etwas geschossen? Wo seid ihr denn alle?« Schwer, die Tränen zurückzuhalten, wenn einem nie mand antwortet. Schließlich liefen sie ihm die Wang en herunter. Jetzt war er mehr als verängstigt, er befürchtete, sie könnten gerade alle weggefahren sein und ihn hier vergessen haben, weil er ihnen gleichgültig geworden war. Er versuchte nicht daran zu denken, daß etwas un vorstellbar Schreckliches passiert sein könnte. Tony stieg die verbliebenen Stufen schneller hinab, seine Augen hatten sich jetzt besser an das schwache Licht des Gesichts auf dem Wecker gewöhnt. Das laute Ticken hatte eine leicht beruhigende Wirkung auf ihn. Er war in diesem Haus schon so oft eingeschlafen, und hatte dabei seiner lustigen Uhr zugehört, und am Morgen war er vom Frühstücksgeruch aus der Küche wieder erwacht, und manchmal hatte seine Mutter dann schon neben ihm auf seinem Bett gesessen. Raus aus den Federn, Schlafmütze. Schule heute. Wasch dir dein Gesicht. Und nun beweg dich. 275
Beweg dich. Aus irgendeinem Grund fiel ihm immer das Bild von Humpty-Dumpty in einem seiner Bücher ein, wenn sie das sagte. Er erreichte das Foyer und blieb stehen, um sich umzu sehen. Ein kräftiger Zug blies ihm ins Gesicht. Die Türen zur Bibliothek auf der anderen Seite des Wohnzimmers waren geschlossen, aber sie klapperten, als sei Big-Dog dahinter damit beschäftigt, immer wieder sein ganzes Gewicht gegen die Türen zu werfen, um her auszukommen. Tony war schon entschlossen gewesen, den Flur entlang in die Küche zu gehen, statt dessen durchquerte er jetzt das Wohnzimmer. Das schwache Licht der Lampe in seiner Hand ließ die hervortretenden Augen der Ming-Hunde auf dem Kaminsims schwach er glühen, so daß es gar nicht schwer war, sich vorzustellen, die beiden könnten im nächsten Moment zum Leben er wachen und sich auf ihn stürzen. Er beeilte sich. »Big-Dog! Mom! Seid ihr da drin?« Niemand öffnete ihm die Tür zur Bibliothek. Tony mußte den Zauberring tief in seiner Hosentasche stek kenlassen, den Wecker auf dem Boden abstellen und die Tür eigenhändig öffnen. Ein heftiger Windzug stellte ihm die Haare auf dem Kopf senkrecht. Die Türen zur Veranda waren weit geöff net, die geisterhaften Vorhänge flatterten unter der Kas settendecke. Irgend jemand hatte die Sturmlampe einge schaltet, die immer auf dem einen Ende des brückenför migen Kartentisches stand. Tony sah sich hastig im Raum um, aber außer dem finsteren Portrait eines hakennäsigen britischen Admirals an der Wand konnte er nichts Men schenähnliches im Zimmer entdecken. Sein eigenes Ge sicht verzog sich zu einer Maske der Enttäuschung und der Angst. Die Lampe warf etwas Licht nach draußen auf die Ve 276
randa. Hinter ihm war nichts als da s dunkle Wohnzim mer mit den Porzellanhunden, die ihn mit seinen Augen verfolgt hatten. Er konnte sich nicht dazu zwingen, durch die leeren Zimmer zurückzugehen und nach seiner Mut ter zu suchen, oder nach Big-Dog. Wenn sie die Lampe hier zurückgelassen hatte, dachte er, dann wäre sie vielleicht gleich da draußen und hatte ihn nur wegen des Winds nicht gehört. Tony ging langsam bis zur Schwelle der Verandatür, der Schatten, den er durch die Öffnung nach draußen warf, war dreimal so groß wie er selbst. Der Zauberring war ein großer, sperriger Brocken in der Tasche seiner engen Jeans. Als der Wind eine kurze Pause einlegte, schwebten die Vorhänge von der Decke und legten sich ihm sanft um den Kopf. Er geriet in Panik und stolperte hinaus auf die Veranda. Plötzlich hörte er ein ungewöhnliches Ge räusch, das sich wie eine Fahrradklingel anhörte. »Wer ist da?« Aber draußen war so gut wie nichts zu erkennen. Vielleicht bildete er sich die Geräusche auch nur ein. Er wollte weglaufen, zum Wohnmobil hinüber, aber Clay könnte ja gar nicht dort sein. Die Kehle zog sich ihm fest zusammen, als er an Clay dachte, der da draußen ganz allein war, unfähig, etwas zu sehen. Viel leicht wurde er gerade in diesem Augenblick von einem Alligator verspeist. Tony konnte seine Füße nicht bewe gen. Er litt, und der Alptraum, der jetzt schon zu lange andauerte, machte ihn unfähig, sich zu entscheiden oder sonst in irgendeiner Weise auf die bedrohliche Situation zu reagieren. Dann hörte er das muntere Glöckchen wieder, und plötzlich sah er den Engel des Todes um die Hausecke biegen, angetan mit Wolfdaddys Hut und Gehrock saß er unbeholfen auf Wolfdaddys rostigem, altem Schwinn 277
Fahrrad mit den dicken Reifen. Die Lampe an der Lenk stange warf ein zerrissenes, gelbliches Licht in d ie Runde. Ganz langsam kam er in Tonys Alptraum geradelt. Tony stand einfach nur da und starrte mit offenem Mund der vorübergebeugten Erscheinung entgegen. Der Engel des Todes hatte bei dem mordsmäßigen Wind etwas Pro bleme, die Balance zu halten, aber er näherte sich dem fassungslosen Jungen unaufhaltsam. Er mußte mit nur einer Hand lenken, denn mit der anderen Hand langte er über die Schulter nach dem Jagdmesser in der Scheide, die an Wolfdaddys Tornister befestigt war. Im reflektierten Licht der Vorderlampe des Fahrrads und dem Schein der Lampe in der Bibliothek funkelten die vielen Spiegel am Hut wie ein Sternenhimmel, aber Angels Gesicht war voller Finsternis, so finster wie der Tod, den er an den Bayou gebracht hatte. Tony riß seine Füße los aus der E rstarrung des Alp traums und wich zurück; beinahe zu spät erinnerte er sich des Zauberrings in seiner Hosentasche. Verzweifelt grub er danach und umschloß den Ring mit seiner Hand, während er noch etwas weiter zurück wich. Er senkte den Kopf und hielt de n Ring, der sich jetzt von einem seiner Finger abhob, am ausgestreckten Arm von sich weg. Das Messer funkelte jetzt befreit von der Scheide auf, als der Engel des Todes in den Lichtschein radelte, der über die Türschwelle fiel. Das Fahrrad war nicht einmal mehr einen Meter von dem zusammengekrümmten Jungen entfernt, als Big Dog durch das Gewirr der windgeblähten Vorhänge hin durchsprang und den Engel des Todes voll auf der Breit seite erwischte. Das Fahrrad krachte gegen das Geländer der Veranda, und beide, sowohl der Mann als auch der 278
Hund purzelten hinunter in den Hof, während das Mes ser in hohem Bogen durch die Luft flog. Tony sah hoch, als er das Geräusch des Aufpralls hörte und beinahe gleichzeitig Big-Dogs kehliges Knurren. Er sah, wie die beiden im Hof miteinander kämpften. Big Dog war beinahe dreißig Pfund schwerer als der Todesen gel, aber er war durch den Blutverlust empfindlich ge schwächt; er war schon am Sterben gewesen, bevor er sich noch einmal hochgerappelt hatte, um dem Jungen zu Hilfe zu kommen. Der Engel des Todes schlug dem Hund mitten ins Ge sicht, trat ihm in die Seite und robbte auf allen Vieren hin ter dem Messer her. Tony sah, wie sich Big-Dog auf wack ligen Beinen erhob, aber als er wieder zum Angriff überging, hatte der Engel des Todes das lange Messer be reits vom Boden aufgehoben. Jetzt mußte Tony wieder wegsehen, denn er wußte ge nau, was passieren würde. Er hörte das zischende Ein dringen des Messers und Big -Dogs mitleiderregendes Aufjaulen. Tony dachte nicht über das nach, was er als nächstes tat, er tat es einfach. Er rannte zum Ende der Ve randa und schwang sich über das Geländer. Bei der Lan dung im Hinterhof verletzte er sich ein Fußgelenk, die Verletzung behinderte ihn, aber sie konnte ihn nicht auf halten. Er ließ den sterbenden Big-Dog zurück und rannte zum Anleger hinunter. Der Engel des Todes hörte Tonys Aufschrei bei der ver unglückten Landung und hielt mit erhobenem Messer über dem ausgestreckten Wolfshund inne. Als er einen flüchtigen Blick von dem Jungen erhaschte, der vor der alles verschlingenden Finsternis über dem Bayou kaum zu erkennen gewesen war, sprang er auf und setzte hinter ihm her. Tony fand die Leine des Ruderboots und band sie los. 279
Er wußte ganz genau, daß der Engel des Todes hinter ihm her war, denn er hörte dessen keuchenden Atem lauter als den Wind. Als er die Leine losgebunden hatte, sprang er hinunter ins Boot und stieß einen Schrei des Entsetzens aus. Er war genau auf Carls Rücken gelandet, und davon war kaum mehr als ein blutiger Brei und eine zerfetzte Safarijacke übriggeblieben. Das Ruderboot, vom Aufprall des Körpers des Jungen in Schwung geraten, trieb vom Anleger fort. Der Engel des Todes brachte den Laufsteg zum Schau keln, die Öltonnen hoben und senkten sich schmatz end im Wasser. Er legte sich flach auf den Bauch, erreichte mit einem Finger noch das Dollbord und begann, das Boot langsam zum Anleger zurückzuziehen. Tony nahm die einzige Waffe zur Hand, die er finden konnte: ein splitteriges, altes Ruder. Er stieß es A ngel mitten ins Gesicht, traf ihn genau auf die Augen und die Nasenwurzel. Angel ließ das Ruderboot los und rollte sich zurück. Mit einer Hand griff er nach seiner Nase und einem teil weise erblindeten Auge, das voller Holzsplitter steckte. Tony krabbelte über den bäuchlings daliegenden Kör per von Carlo Buffani und schlug auf den Starterknopf des Motors, der auf der Stelle ansprang. Das Boot trieb jetzt, unterstützt vom Wind, etwa drei Meter vom Anle ger entfernt, mit der Breitseite gegen den Laufsteg. Als Tony sich umschaute, konnte er vom Engel des Todes nichts entdecken, aber er befürchtete, der böse Engel könnte im Wasser sein und sich unsichtbar auf ihn zube wegen. Tony schwitzte vor Angst eisigkalten Schweiß. Er wen dete das Boot und entfernte sich vom Anleger, bevor der hilfsbereite Wind sich drehen und ihn zurückstoßen 280
könnte. Der schwache Motor lief so leise, daß er ihn nicht hören konnte, aber nachdem er ihn angefaßt hatte, wußte er, daß er lief. Ein bißchen Wasser spritzte über das Doll bord hinweg und machte ihn naß. Er hatte die Orientie rung verloren. Er glaubte zwar, in Richtung der Stelle des Bayou unterwegs zu sein, wo sie Clay am Nachmittag zu rückgelassen hatten, aber genausogut konnte er auch di rekt auf das offene Meer hinau streiben. Zusammenge kauert saß er im Heck des kleinen Bootes, eine Hand an der Ruderpinne. Einer von Carls Segeltuchschuhen drückte ihm gegen den Oberschenkel. Er war sich nicht einmal ganz sicher, daß tatsächlich Carl vor ihm im Boot lag, aber er wußte nicht, wie er sich hätte vergewissern sollen. Er wurde wieder von einem heftigen Zittern er griffen, gefolgt von einer Art Kiefersperre. Zittern, Sperre, Zittern, Sperre: er hätte gerne aus vollem Hals los geschrien, und vielleicht hätte Clay ihn sogar hören kön nen, aber er brachte einfach keinen Ton heraus. Noch mehr Wasser spritzte über den Bootsrand, jetzt wurde sein Gesicht naßgespritzt. Er hatte nun wirklich große Angst: Big-Dog war tot, und er war allein mit einem toten Mann. Der Zauberring hatte Big-Dog doch herbei geholt, damit er ihm beistehen konnte. Warum mußte Big-Dog dann sterben? fragte er sich, überwältigt von Jammer und Verbitterung. So sollte es doch nicht sein. Seine Mutter war eine Lügnerin. Dann bemerkte er, daß er bei seinen kopflos en Bemü hungen, das Boot zu erreichen, den Zauberring verloren hatte. Was hätte ihn jetzt noch retten können?
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29. Kapitel Shelby Burleson folgte Deejay Voisin hinunter zu Lost man's Bayou, die Weggabelung erreichten sie ein paar Mi nuten nach acht. Deejay parkte den Wohnwagen, den er hinter die Ladefläche seines Bronco gespannt hatte, quer über die Zufahrt zum Haus. Shelby fuhr den Wagen seiner Frau, einen blauen Cougar. Er hatte seine Smith & Wessen .44 Magnum dabei, die er kopfüber in einem Schult erhalf ter unter der roten Nylonjacke trug, auf die er sämtliche, bei Angelwettbewerben gewonnenen Abzeichen genäht hatte. Jetzt, nach Dienstschluß, war Deejay von Kaugummi auf Red-Man-Kautabak umgestiegen. Er kletterte aus dem Wohnanhänger, entledigte sich mit dem Wind im Rücken eines kräfigen Strahls von braunem Tabaksaft und sagte zu Shelby: »Ich denke, wir sollten uns erst mal ein bißchen umsehen und sie wissen lassen, daß wir hier sind.« »Okay.« Deejay nahm sein halbautomatisches Gewehr vom Re gal im Führerhaus des Kleinlasters. Es handelte sich um eine Polizeiwaffe mit der Bezeichnung >Roadblocker<. Au ßerdem hatte er noch einen 38er Revolver, der nicht zu sei ner Dienstausrüstung gehörte, in einem Halfter am Gürtel stecken. Er trug ein Sweatshirt mit Kapuze. Beide Männer hatten Taschenlampen und Handschellen dabei. Sie stie gen in den Cougar, an den Suchscheinwerfer montiert wa ren, und fuhren langsam die Straße zum Haus hinauf. »Verdammter Wind heute nacht«, meinte Deejay. »Ja.« »Hat dir >Bama and Six< am Samstag gefallen?« »Nicht besser als beim letztenmal, wo du mich danach gefragt hast.« »Und wie steht's mit >Dogs and Eight< auf LSU?« 282
»Ich werde drüber nachdenken«, gestand Shelby zu. Deejay grinste, lehnte sich auf seinem Sitz ein wenig nach vorne und sagte: »Halt an.« Aber Shelby war bereits vom Gas gegangen. »Was ist das da vorne unter der Stein eiche? Ist das nicht Wolf daddys Baum ? Na klar ist er das.« »Sieht aus, als wäre das Klavier runtergefallen.« »'s ist ja 'n ganz ordentlicher Wind heute abend, aber so wild nun doch wieder nicht.« Deejay richtete einen der Suchscheinwerfer auf das Kla vier und die beiden sahen den Körper darunter. Katzenau gen leuchteten von überall am Rande des Lichtscheins, und der dicke, gestreifte Kater sprang gerade von der Spitze des Klaviers herunter, das sich wie ein sinkendes Schiff in die Erde gebohrt hatte. »Ach du Scheiße«, flüsterte Deejay. »Vielleicht wird die Nacht doch nicht so ruhig, wie wir uns das vorgestellt hat ten.« Sie stiegen vorsichtig aus dem Wagen. Shelby ließ den Motor laufen. Deejay trug den Roadblocker schußbereit vor der Brust und Shelby hielt den langen Lauf der 44er vor seiner rechten Schulter senkrecht in die Luft. Sie näherten sich dem zertrümmerten Klavier einzeln, in gehörig em Abstand voneinander; Deejay drehte sich nach jedem Schritt um und versuchte es zu vermeiden, in den Schein werfer zu schauen, der auf den Boden und auf Wolfdaddys glänzende Glatze gerichtet war. »Ja, es ist Wolfdaddy«, sagte Shelby und kniete neben dem Kopf der Leiche nieder. Deejay ging weiter herum, sah hoch, sah in die Runde, umkreiste das Klavier, Shelby den Rücken zugewandt. Der Wind schmerzte ihn ein bißchen an den Ohren. Er zog die Kapuze seines Sweatshirts über den Kopf. Shelby legte zwei Finger gegen Wolfdaddys Kehle. Er fühlte weder einen Puls noch einen Rest Körperwärme. 283
»Der ist schon lange tot, Deejay.« »Wie lange?« Deejay spuckte etwas Tabaksaft aus, aber er hatte den Einfallswinkel des Windes dabei falsch ein geschätzt und bekam den Großteil davon zurück ins Ge sicht geweht. Er zog eine Grimasse und wischte sich eine Wange mit dem Ärmel seines Sweatshirts ab. Shelby besah sich das Blut, das Wolfdaddy aus dem of fenen Mund gelaufen und inzwischen längst geronnen war. »Vielleicht seit einer Stunde.« Er stand auf und sah hinauf auf die Plattform, die nicht eingestürzt zu sein schien. Die leichte Tür zu Wolfdaddys Verschlag schlug ständig auf und zu. »Ich glaube nicht, daß das Klavier da einfach von selbst runtergepurzelt ist. Es sei denn, Wolfdaddy wollte seine Möbel umstellen, um einen Platz für das große Bett zu finden.« »Die Erklärung überzeugt mich überhaupt nicht«, erwi derte Deejay, der immer noch in Bewegung war und ver suchte, in die Finsternis um ihn herum zu schauen. Er fühlte sich unbehaglich und kam sich vor wie auf dem Präsentierteller. »Wir sollten es besser melden.« »Laß uns erst zum Haus rüberfahren, Partner. Für Wolfdaddy macht das keinen Unterschied mehr. Wir wer den das Telefon dort benützen.« »So hatte ich mir das auch gedacht«, sagte Shelby. Deejay ging rückwärts hinüber zu dem Cougar und wartete darauf, daß Shelby zu ihm stoßen würde. Shelby zwängte sich in höchster Eile hinter das Lenkrad, dann stieg auch Deejay ein. Shelby löste die Handbremse und schaltete bis auf die Parkleuchte alle Lichter am Wagen aus, als sie auf den Bayou zufuhren. »Aber wer hätte ein Interesse daran, Wolfdaddy umzu 284
bringen?« sinnierte Deejay, während er versuchte, sich den Rest Red-Man mit einem angefeuchteten Taschen tuch von der Backe zu reiben. »Jemand, der keine Zeugen hinterlassen will. Und zwar keinen einzigen. Jemand, der auf diese Weise vorzugehen pflegt.« »Ich hoffe, wir müssen nicht noch bedauern, daß wir nicht ein bißchen früher gekommen sind.« »Kannst du das Haus schon sehen? Ich kann das ver dammte Ding nirgends erkennen.« »Da ist kein Licht«, sagte Deejay. »Scheiße! Wie ma chen wir das jetzt?« »Leise und in aller Ruhe.« »Wenn ich mich richtig erinnere, fällt das Gelände vom Tor bis zum Haus etwas ab. Am besten stellst du den Mo tor ab und läßt den Wagen runterrollen.« »So hatte ich mir das auch gedacht«, antwortete Shelby. »Irgendwo muß er doch einen Wagen versteckt haben. Vielleicht hat er ihn von der Straße irgendwo zwischen die Kiefern gefahren.« Sie waren beinahe auf der Höhe des Hauses am Bayou angekommen, als sie seine Umrisse erkannten. Der Wind fegte von vorne gegen den Cougar und brachte ihn trotz des Gewichts der beiden Männer auf den Vordersitzen zum Schaukeln. Sie fuhren durch das Tor und ließen den Wagen dann mit ausgeschaltetem Motor den ganzen Weg hinunter bis zum Kutschenhaus rollen. Es stand ein Mercedes Sportcoupe in der Auffahrt, und Shelby hielt ein paar Meter dahinter an. Jetzt drehte er auch noch das Parklicht aus. Sie stiegen aus, wobei sie die Türen gegen den Sturm pressen mußten, um sie aufzube kommen. Leise ließen sie sie wieder zufallen. Shelby rich tete den Lichtstrahl seiner Taschenlampe seitwärts und ließ ihn über den gewaltigen Klotz des Wohnmobils wan 285
dern, der auf der Asphaltfläche abgestellt war. Deejay leuchtete vielleicht zwei Sekunden lang in den Mercedes hinein, um sicherzugehen, daß niemand sich darin be fand, dann schaltete er seine Lampe wieder aus. Sie standen ein paar Fuß voneinander entfernt und stu dierten das Haus. »Da ist ein Licht«, sagte Deejay zu Shelby, gerade so laut, daß sein Partner es verstehen konnte. »Dort drüben an der Seite? Könnte eine Sturmlampe sein. Der Strom ist sicher ausgefallen.« »Vielleicht ist dort drinnen alles in Ordnung.« »Laß uns dort hinübergehen.« »Du machst einen Bogen über den Rasen«, schlug Dee jay vor, »und ich komme über die Veranda.« »Deejay?« »Ja?« »Meinst du, daß Eastwood es auch so machen würde?« »Der sollte jetzt hier sein und rausfinden, was Sache ist«, grinste Deejay. »Genug gequatscht«, meinte Shelby, und sie trennten sich. Deejay rannte in seinen Nike-Turnschuhen auf die Ve randa. Er versuchte sich ein Gefühl dafür zu erhalten, wo sich Shelby zu seiner Linken befand, während er langsam um die Ecke des großen Hauses schlich. De ejay prüfte den Boden der Veranda, aber die Holzbohlen waren rela tiv fest. Irgend etwas war im Wege. Oh, eine Veranda schaukel. Er zwängte sich geräuschlos daran vorbei. Er wollte seine Taschenlampe nicht einschalten. Bei so vie len Verandatüren und Fenstern, wie leicht hätte er da von jemandem beobachtet werden können, und womöglich hätte ein solcher Jemand dieses Mal kein Klavier genom men, sondern mit heißem Blei um sich geschossen. Er wollte lieber lauschen als was sehen, auch wenn der Wind 286
es einem sehr schwer machte, Geräusche zu unterschei den, so zum Beispiel das Quietschen der Schaukel hinter ihm, die an einer rostigen Kette hing. Die Türen, die von der Bibliothek auf die Veranda führ ten, standen offen, die Vorhänge hatten sich zu dicke n Tauen verdreht, der Wind hatte sie über die Oberkanten der Türflügel geworfen. Drinnen, auf einer Ecke eines rie sigen Tischs, sah er die Lampe stehen. Als er in den Garten hinunterschaute, sah er Shelby, der sich auf leisen Sohlen heranschlich. Am anderen Ende der Veranda lag ein Fahr rad, eines der Laufräder klemmte unter dem Geländer. Deejay ging im Kopf noch einmal die Regeln beim Be treten eines fremden Zimmers durch, bei dem man damit rechnen mußte, daß dort jemand wartete, um einen über den Haufen zu schießen, aber als er erst einmal drin war, mit dem Rücken gegen eine Außenwand gelehnt, konnte er keinen Menschen entdecken, nichts, außer einem wei teren, noch dunkleren Zimmer hinter der Bibliothek. »Deejay?« rief Shelby vom Garten her. Deejay tauchte zusammengekauert durch die offene Verandatür, machte einen Schwenk mit dem schußberei ten Gewehr, dann setzte er über das Verandageländer und näherte sich Shelby, das Haus und Grundstück dabei nicht aus den Augen lassend. »Was gibt's?« fragte er Shelby. Er wandte seinem Part ner immer noch den Rücken zu. »'nen toten Köter. Mein Gott, das arme Vieh ist so in Stücke gehackt worden, ich weiß nicht, vielleicht ist es der Wolfshund, von dem die beiden gesprochen haben.« Deejay sah selber nach, aber er konnte auch nicht mehr sagen. »In Stücke gehackt?« »Ja.« »Wird ja immer besser«, sagte Deejay und hustete etwas Schleim aus. 287
»Hast du wenigstens 'n verdammtes Telefon da drin nen entdeckt?« »Klar, hab' ich.« »Geh'n wir doch rein.« »Du auch?« »Nein, ich werde hier unter freiem Himmel mein Lager aufschlagen und den toten Hund bewachen.« Sie kletterten über das Geländer auf die Veranda und betraten die Bibliothek mit derselben Vorsicht, die Dee Jay schon vorher an den Tag gelegt hatte. »Da drüben«, sagte Deejay und deutete auf das Tele fon, er selbst hatte beschlossen, einen Blick in das Wohn zimmer zu werfen. Er näherte sich der Tür von einer Seite, dann huschte er mit einem schnellen Schritt in das Zim mer hinein. Er zog weder eine Salve von Revolvers chüs sen auf sich, noch fand er irgendwelche weiteren Leichen. Hinter dem Wohnzimmer sah er eine Eingangshalle, eine Treppe - er beschloß, die gründliche Besichtigungstour erst einmal aufzuschieben und wieder zu Shelby zurück zugehen. Er behielt dabei im mer beide Türen im Auge und sein Gewehr im Anschlag. Shelby hielt sich mit gequältem Gesichtsausdruck den Hörer ans Ohr. »Tot?« fragte ihn Deejay. »Du hast es erfaßt.« »Und was sollen wir jetzt tun?« »Uns das Haus noch einmal von außen ansehen, und es dann durchkämmen, von vorne bis hinten und den ersten Stock. Ich mache den Treiber, und du bildest das Emp fangskomitee.« »Okay, Partner.« Deejay und Shelby verließen die Bibliothek durch die Verandatür. Deejay ging schnell hinüber zu dem Cougar in der Auffahrt, den Roadblocker hielt er in den Armen. 288
Er leuchtete mit der Taschenlampe in den Wagen, dann öffnete er die Tür auf der Fahrerseite, kurbelte das Fenster runter und verschanzte sich hinter der Tür. Das Gewehr legte er auf dem unteren Rand des Fenst ers auf, mit der rechten Hand blieb er in Reichweite des Lichtschalters, falls sich auf einmal die Notwendigkeit ergeben sollte, die Vorderseite des Hauses in Helligkeit zu tauchen. Nun mußte er nur daran denken, daß er vom Rücken her noch immer verwundbar war und versuchen, sich vom Heulen des Windes nicht verrückt machen zu lassen, während er wartete. Aber es war mehr als wahrscheinlich, daß der Verbrecher, den sie hier zu jagen glaubten, längst über alle Berge war, und daß er Gott weiß was für einen Hau fen Leichen dort irgendwo im dunklen Haus zurückgelas sen hatte. Er mußte nicht lange warten, dann hörte er Shelby sei nen Namen rufen. Deejay erhob sich und rannte zur Rückseite des Hau ses. Er sah Shelby an der Ecke der Veranda stehen, in der einen Hand seine 44er, in der anderen die Taschenlampe, mit der er irgend etwas beleuchtete, was er entdeckt hatte. »Leiche?« »Ich glaube es nicht. Verdammte Scheiße, ich glaube das einfach nichtl« Deejay sah selber einmal nach. Auf der hinteren Veranda war ein Mann, er saß auf recht auf der obersten Stufe, ganz in der Nähe der Kü chentür. Im mächtigen Schein der Taschenlampe leuch tete sein nicht zugeschwollenes Auge klar und glasig, in dem rötlichen Gelb eines klassischen Halloween-Kürbis. Der Mann kümmerte sich nicht um das Licht, er hatte sein Gesicht auf etwas gerichtet, das sich abseits davon be fand, er starrte hinunter auf den dunklen Bayou. Er war 289
vollkommen nackt, sein Körper war ganz starr, die ge schlossenen Fäuste streckte er nach unten, tief er noch als seine muskulösen, alabasternen Oberschenkel. Sein Kör per hatte die Farbe ausgeblichener Knochen, einmal ab gesehen von dem dunklen Schöpf seines Haars und den tintenschwarzen Augenbrauen, den Blutflecken auf Ge sicht und Unterarmen und der rosafarbenen Eichel sei nes steif in die Höhe stehenden Schwanzes. »Was meinst du, wer das ist?« fragte Deejay mit Ehr furcht in der Stimme. »Er muß es sein. Ich habe das Licht auf ihn gerichtet, und er hat überhaupt nicht reagiert, aber mir ist vor Schreck beinahe einer abgegangen. Hast du so etwas schon mal gesehen?« »So sah ich nach meiner Heirat sechs Monate lang je den Abend aus, wenn ich darauf wartete, daß Myrna endlich aus dem >/-Eleven< heimkehrte.« »Er muß ein . . . wie nennt man das noch? Ein Kat. . . hmm, irgendwas mit Kat. . .« »Kataplektiker? Ich weiß nicht. Hast du mit ihm ge sprochen?« »Ja, und ihm hat >Bama and Six< auch nicht gefallen.« »Also, legen wir ihm die Manschetten an und sehen wir nach, ob da drinnen noch irgend jemand am Leben ist.« »Paß auf. Jetzt mag er ja so dasitzen, aber . . .« »Du gehst mit den Handschellen hinter ihn, und wenn er auch nur mit der Wimper zuckt, dann schieße ich ihm den rechten Fuß vom Bein.« »Weißt du was, Deejay, es gibt Augenblicke, da glaube ich, daß du in diesem Job nochmal 'ne ganz große Num mer wirst. Aber vielleicht könntest du dir statt des Fußes seine Eier vornehmen.« Deejay knipste seine Taschenlampe an, während 290
Shelby über das Verandageländer kletterte und dabei vor Anstrengung stöhnte. Der Engel des Todes schien nicht auf ihn aufmerksam zu werden, als er sich ganz langsam auf die Treppe zubewegte. Den Revolver hatte er in das Halfter gesteckt, weil er mit der freien Hand in die Hüftta sche langen mußte, wo die Handschellen steckten. Unter halb der Veranda folgte ihm sein Kollege Schritt für Schritt. Deejay richtete den hellen Lichtstrahl seiner Lampe auf das Subjekt. Der Mann sabberte wie ein klei nes Baby. Er war blutverschmierter, als es aus der Entfer nung den Anschein gehabt hatte. Der Wind, der Deejay genau ins Gesicht blies, trug ihm einen fauligen, blutigen, ekelerregenden Gestank zu. Deejays mächtiger Unterkie fer arbeitete, dann spuckte er einen Schwall von Tabaks saft auf den Boden. Als er vor dem Engel des Todes auftauchte - die Mün dung seines Gewehrs zielte dabei auf den Unterleib des nackten Mannes -, achtete er mehr auf das, was Shelby da oben auf der Veranda machte, und das sollte sich als ver hängnisvoll für Deejay erweisen. Es reichte nur noch zu einem kurzen Blick auf das auto matische Schrotgewehr, das hinter dem zerrissenen Drahtgeflecht unter der Stufe klemmte, auf welcher der Engel des Todes saß. Zu spät erkannte Deejay, daß der Draht, der um einen Finger von Angels rechter Faust ge wickelt war, die Verbindung zum gespannten Abzug des versteckten Schrotgewehrs darstellte. Scheiße! Das war Deejays letzter Gedanke auf dieser Erde, noch bevor er eine Bewegung machen konnte, um sich aus der Schußli nie zu hechten, stand der Engel des Todes auf, riß hart an dem Abzugsdraht und der Jackhammer ging los wie eine Kette von detonierenden Dynamitladungen. Die Mün dungsblitze beleuchteten einen Schwall von Blut und den nun kopflosen Körper Deejays, der rückwärts jenen Ab 291
hang hinuntertorkelte, der in sanftem Schwung zum Ufer des Bayou führte. Shelby Burleson wurde durch Angels überraschende Aktion aus dem Gleichgewicht gebracht, und Deejays gleichzeitiges Ableben versetzte ihm einen Schock. Er machte deshalb nur einen unbeholfenen Versuch, seinen Revolver zu ziehen, bevor der Engel des Todes, der die Drahtschlinge von seinem Finger abgeschüttelt hatte, ihm die gesenkte Schulter in den Magen rammte und ihn etwa zweieinhalb Meter rückwärts durch das geschlossene Kü chenfenster stieß. Atemlos versuchte Shelby sich aus den Glasscherben im Fensterrahmen zu befreien, die ihn wie Zangen festhielten. Der Engel des Todes nahm den Re volver auf, der zu Boden gefallen war und trat ganz ruhig ein, zwei Schritte zurück. Shelby, für den inzwischen alles zu spät war und de r das auch genau wußte, richtete sich auf und stolperte auf Angel zu, die Hände nach seinem Peiniger ausgestreckt. Mehrere Kugeln schlugen durch die Flächen seiner Hand, und er war schon tot, bevor die unkontrollierte Wucht seines Körpers einen Abschnitt des Geländers um die Ve randa aus seinen Halterungen riß und er seinem Partner Deejay unten auf dem Rasen Gesellschaft leistete.
30. Kapitel Tomlins Lagerfeuer schwand trotz äußerster Anstrengun gen immer mehr dahin. Er hatte nachgeworfen, was er fin den konnte, war auf allen Vieren herumgekrochen, in einem Umkreis von drei, vier Metern, aber jetzt gab es nichts mehr, was er hätte verbrennen können. Er hatte Gesellschaft auf seiner winzigen Insel, ein Alli 292
gatorenpärchen - zumindest wußte er von die sen beiden -, das sich langsam und schwerfällig der Wärme des Feuers genähert hatte. Sie hatten ihn bis jetzt noch nicht belästigt, und sie würden es wahrscheinlich auch nicht tun. Alligatoren gehen nur sehr selten auf Menschen los, besonders an Land, und jetzt, da die Nächte schon emp findlich kalt wurden, war ohnehin nicht die Jahreszeit, zu der sie besonders angriffslustig waren. Bald würden die Alligatoren ganze Tage auf dem Grund des Bayou ver bringen, wo das Wasser das ganze Jahr über warm war. Sie konnten Monate lang ohne Nahrung auskommen. Er war also in keiner völlig verzweifelten Lage, aber ihm war kalt, und er war immer noch wütend. Er mußte an Anita und Tony denken. Tony würde ihr wohl von seiner mißlichen Lage berichtet haben. Ganz sicher hatte er das getan, und das bedeutete, daß Anita nicht die Möglichkeit hatte, etwas für ihn zu tun. Es war langweilig, immer nur Selbstgespräche zu hal ten, und seine körperlichen Fitneßübungen konnte er hier auch nicht machen. Womöglich wäre er noch über ein en der Alligatoren gestolpert und kopfüber in sein eigenes Feuer gefallen. Wirklich ein Niedergang für einen Mann mit seinem Stolz. Er mußte einfach etwas gegen die in nere Anspannung und die Langeweile tun, etwas, das sein Blut wieder in Bewegung bringen würde. Er stellte sich vor, wie gut er sich fühlen würde, wenn er endlich wieder unter einer heißen Dusche stünde, und bei dem Gedan ken an dieses Glück fing er an zu singen: »When I heard the crash
on the highway
I knew what it was
from the start.
I went to the scene
293
of destruction
a picture was stamped
on my heart.«
Nicht schlecht, dachte Tomlin. Natürlich fehlte ihm das unwiderstehliche Pathos, das Roy Acuff in diesen Song, der zu seinen Markenzeichen gehörte, legen würde, und Tomlin hatte auch Wilma Lee und Maybelle Carter nicht an seiner Seite, die ihn mit Gitarre oder elektrischer Zi ther begleiten konnten. Aber die Alligatoren dürfte er ei nigermaßen unterhalten haben. Hat's euch gefallen, Jungs? Der Refrain packte mich immer wieder auf's neue: »I heard the groans of the dying, but I didn't hear nobody pray.« An einem sonnigen Nachmittag über dem Pazifik, zu einer Zeit, die ihm jetzt schon wie ein anderes Leben vor kam, war zum Schluß eines Routineflugs bei seiner A-/ plötzlich der Öldruck gefallen, und damit einhergegan gen war ein rapider Leistungsverlust, noch bevor der Flugzeugträger in Sichtweite gekommen war. Die Kom mandozentrale hatte ihm empfohlen zu wassern, aber er hatte entschieden, die Deckslandung doch noch zu versu chen, auch wenn er ohne Motorenleistung runtergehen mußte, was bei einem Verfehlen der Fangdrähte unwei gerlich bedeutet hätte, daß seine Maschine auf den tief blauen Grund des Ozeans gesunken wäre. Aber er hatte sich zuversichtlich, ja beinahe glücklich gefühlt, als er die Sache in Angriff nahm, und die Jungs auf der Brücke hatte er damals mit ein paar Strophen aus >Wreck on the Highway< unterhalten, bevor er sicher auf dem Deck ge 294
landet war. Der Admiral hatte ihn sich wegen seines ma kabren Sinns für Humor noch einmal privat zur Brust ge nommen, aber wenn man einmal Geschwaderkomman deur war, dann konnte man mit solch einer Demonstra tion von Draufgängertum schon mal durchkommen, solange man die jungen Heißsporne nicht dazu ermu tigte, sich bei der näc hstbesten, prekären Situation leicht sinnig zu verhalten. Also, Tomlin, noch eine Strophe: »Who did you say it was,
brother?
Who was it feil by
the way?
When whiskey and blood
ran together
Did you hear anyone
pray?«
Wirklich nicht schlecht, befand er, und fragte sich, ob er wohl alle Strophen von >Gathering Flowers from the Hill side< noch zusammenbekommen würde. Das war ein Lied, in das man wirklich seine ganze Seele legen konnte. So wie Wilma Lee und Stoney Cooper das Ding brachten, mit der Dobro, die s ich immer wieder ein- und ausblen dete, konnte es einem wirklich eine Gänsehaut über den Rücken jagen. Extraklasse. Tomlin versuchte es noch mal: »I know that you have seen
troubles
But never hang down your
head
Your love for me is like
the flowers
Your love for me is dead.«
295
Na, ihr Punk-Rocker, was haltet ihr von solchen Versen? Tomlin stand auf, damit er die letzten Zeilen aus voller Brust herausschmettern konnte: »I shot and killed my
darling;
And what will be my doom?«
»Clay! Clay!« Tomlin schwieg sofort still und lauschte. Es hatte ganz schwach und von weit her geklungen. Hatte er es sich bloß eingebildet? Oder war das wirklich Tonys Stimme gewesen? »Clay, wo bist du?« »Tony?« Ein breites Grinsen legte sich auf sein Gesicht. »Hey, du Teufelskerl! Wo bist du?« Tonys dünne Stimme wurde ihm vom Wind herüberge tragen. »Hier! Aber wo bist dul« Tomlin sah sich um, ohne etwas sehen zu können. Er mußte lachen. »Ich habe keine Ahnung! Wer ist bei dir?« Er hatte erwartet, jetzt Anita antworten zu hören, abe r Tony rief zu ihm herüber: »Niemand! Carl ist bei mir, aber er ist tot!« Mein Goft/Tomlin formte mit den Händen einen Trich ter um den Mund und rief: »Tony, ich habe ein Feuer ge macht! Halte nach meinem Feuer Ausschau! Hast du das kleine Boot? Halte auf den Klang meiner Stimme zu!« »Sing doch weiter! Aber bitte nicht von Leuten, die sterben müssen!« Tomlin schüttelte nur den Kopf. Für einen Moment fehlte ihm jede Inspiration. Dann erinnerte er sich an ein Spiritual, das Wolfdaddy vor gar nicht so vielen Tagen in 296
seiner >Kirche zum Tor des Himmels< mit seiner Gemeinde gesungen hatte. »Lord, Lord, you sure
beengood to me
Lord, Lord, Lord, you sure
been good to me
>Cause I'm a soldier, a
soldier of the cross!«
Er war Wolfdaddys rauhem, bluesigem Stil einigermaßen nahegekommen. Tomlin fragte sich, ob das Feuer noch brannte. Er konnte es immer noch riechen, und es war auch noch etwas Wärme zu spüren. Daß du mir jetzt bloß nicht ausgehst! Erfragte sich, ob erden Klang einer gedämpften Trompete wohl noch hinkriegen würde. Man mußte dazu den Mund gegen die hohlen Hände pressen. Es ging jetzt darum, soviel Lärm wie möglich zu machen. Vielleicht konnte der Junge ihn auf seiner kleinen Insel finden. »Tony! Tony! Tony!« »Clay!« Es hörte sich schon viel hoffnungsvoller, kräfti ger und vor allem näher an. »Ich glaube, ich sehe das Feuer! Ich komme!« »Nur weiter, Tonyyyy!« Tomlin feuerte den Jungen an. »Fantastisch, wie du das machst! Du bist genau auf dem richtigen Kurs!« »Sing weiter!« Tomlin sang, er versuchte la uter zu singen als der heu lende Wind. Langsam schwand ihm der Atem, er fühlte sich erschöpft. »Ich kann dich sehen!« Die Stimme des Jungen über schlug sich beinahe. »Clay!« »Was ist?« »Du darfst dich nicht bewegen! Da sind Alligatoren!« 297
»Ach, die. Wie viele sind es?«
»Eins, zwei drei - hmm, vier. Nein, ßinß«
Tomlin drehte sich um und lächelte den Alligatoren zu,
die er nicht sehen konnte. »Ich danke euch, Jungs. Ihr wart ein wunderbares Pu blikum. Ich meine das ganz ehrlich. Nächste Woche kommt Liza Minnelli.« Er atmete tief durch. Genug her umgealbert. »Tony, bist du schon hier?« »Ja.« Das kam jetzt schon von ganz nah.
»Du mußt mich hier abholen.«
»Werden die mich auch nicht beißen?«
»Nein.«
»Ich habe Angst.«
»Okay, ich komme dir auf halbem Wege entgegen.«
»Da liegt einer genau vor dir.«
Tony gab dem Krokodil einen Stoß mit dem Fuß. »War
das der Kopf oder der Schwanz?« »Schwanz.« Tomlin stieg über das träge Tier hinweg und ging vor sichtig in die Richtung, aus der die Stimme des Jungen kam. »Ist jetzt alles in Ordnung?« »Ich komme.« Er hörte, wie das seichte Wasser spritzte. »Laß das Boot nicht abtreiben.« »Ich hab' die Leine in der Hand.« »Wie weit bin ich?« »Geh' nur weiter.« »Tony, bist du okay?« »J-ja, aber mir ist etwas kalt.« »Mir auch.« »Hier ist meine Hand.« Tomlin langte nach vorne, Tony ergriff seine Finger und hielt sie fest. Tomlin nahm ihm die Leine aus der 298
Hand und folgte ihr bis zum Boot. Sein Fuß versank im Wasser, Gasblasen stiegen aus dem Morast auf. Er tastete sich mit einer Hand ins Boot und fühlte die ausgestreckte Leiche. »Ist das Carl?« fragte er Tony. Tony begann zu schluchzen. »Okay, okay, du hast deine Sache großartig gemacht, Tony. Bitte . . . ehrlich, du bist der größte Teufelskerl von einem Jungen, den ich in meinem Leben jemals kennen gelernt habe. Jetzt müssen wir .. . wir wollen jetzt dar über nachdenken, was wir als nächstes tun werden. Kannst du das Boot steuern? Dumme Frage, du hast es ja auch hergesteuert.« Er wartete darauf, daß Tony etwas sa gen würde. Womöglich würde der Junge nicht wieder ins Boot klettern, solange darin die Leiche lag. Er hatte keine Ahnung, wie Carl ums Leben gekommen war, aber nach allem, was er fühlen konnte, war von Carl nicht viel mehr als ein Klumpen blutigen Fleisches und Knochen übrigge blieben. »Du . . . du mußt mit mir sprechen, Tony. Ich kann dich doch nicht sehen. Sag mir, wie du dich fühlst.« »Mom, . .« Tomlin erzitterte unter einem Ansturm von Angst. Er klammerte sich mit beiden Händen am Dollbord des Boo tes fest. »Wo ist deine Mutter?« Tony schluchzte. Er konnte oder wollte die Frage nicht beantworten. »Tony, bitte erzähl es mir.« »Ich . . . ich weiß nicht, wo sie ist. Ich glaube, der böse Engel hat sie sich geschnappt.«
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31. Kapitel Noch bevor sie wußte, wo sie sich befand oder was über haupt passiert war, sah Anita das Gesicht des Todesen gels. Sie hatte keine Angst, sie fühlte sich nur irgendwie betrogen. Sie war sich ganz sicher, daß sie ihn erschossen haben mußte, dort, in Carls dunklem Zimmer. Sie konnte ihn gar nicht verfehlt haben. Und trotzdem saß er ihr ge genüber, keine zwei Meter entfernt, beinahe ganz im Schatten, das Gesicht so ausdruckslos wie auf einem gro ben Holzschnitt. Ihre Augen fühlten sich geschwollen an, und ihr Blick war getrübt. Sie blinzelte eine Weile ver ständnislos, bevor sein Gesicht einigermaßen scharf vor ihren Augen erschien. Sein Mund bewegte sich. Wollte er etwas zu ihr sagen? Nein, er kaute. Er aß etwas. Es war nicht besonders hell im Zimmer, wo immer sie auch sein mochten. Anita fühlte einen starken kalten Zug, als stünde ein Fenster offen. Sie sah den Gaslichtschim mer auf seiner Stirn, die typisch italienische Nasenwur zel, eine nackte Schulter. Er aß in aller Ruhe, kratzte regel mäßig mit dem Löffel über seinen Teller. Sie ro ch die Cannellonisauce, die sie gekocht hatte, und auf der Stelle wurde ihr schlecht, die übelschmeckende Flüssigkeit, die ihr aus dem Magen hochgeschossen kam, schluckte sie mit einem würgenden Geräusch wieder runter. Er hörte das Geräusch und sah sie an. Sein rechtes Auge war ein dickes Veilchen, als habe er eine wilde Schlägerei hinter sich. Auf der Nase hatte er einen Schnitt, überall waren Krusten getrockneten Bluts. Überhaupt sah er sehr schmutzig aus, als hätte er sich erst kürzlich aus einem undichten Grab herausgebuddelt. Ihr fiel auf, daß sein Haaransatz drastisch zurückgewichen war. Ansonsten saß vor ihr der alte, ihr wohlbekannte Angel. Langsam dämmerte es Anita, daß sie sich in der Küche 300
befinden mußten, zwischen ihnen der Küchentisch. Glän zende Dinge lagen neben Angels Teller: ein Messer mit einer langen Klinge, ein Wetzstahl. Als sie den Kopf zu heben versuchte, wurde ihr klar, daß das Gefühl der Enge um ihren Hals von einem Seil her rührte. Ihre Knie waren fest zusammengepreßt. Sie konnte ihre Zehen bewegen, aber die Beine konnte sie nicht aus einanderspreizen. Alles war irgendwie mit ihren Händen hinter ihrem Rücken zusammengeschnürt. Sie war völlig hilflos, und dabei sollte Angel eigentlich tot in Carls Zim mer liegen. »Ich hab' dic h erschossen«, krächzte sie. Er studierte sie aufmerksam, während er einen halben Laib italienischen Weißbrots aufbrach. Die Krümel fielen ihm wie Schnee über die unbehaarte Brust. Er schüttelte den Kopf, sagte jedoch nichts. Er mußte nichts dazu sagen. Sie hatte danebengeschossen, das war alles. Sechs Schüsse ins Dunkel - nein, sieben sogar. Daneben. Und dann war sie ohnmächtig geworden, sozusagen als Höhe punkt ihrer Hilflosigkeit, hatte Tony schutzlos diesem ... »Hast du Tony was getan ?« Schneeweiße Zähne, die auf einer Brotrinde herum kauen. Er hatte schon immer wunderschöne Zähne ge habt. Er schüttelte wieder seinen Kopf, die geizigste aller Gesten. Gottseidank. . .! Aber konnte sie ihm Glauben schenken? »Warum bist du gekommen, Angel? Warum willst du mir noch einmal wehtun? Weil ich dich im Stich gelassen habe?« Er zeigte keine Reaktion, schien sie nicht einmal ge hört zu haben. »Okay, vielleicht habe ich das. Aber ich . . . laß es mich noch einmal versuchen, Angel. Wenn es das ist, was du willst. Ist es das?« Sein Stuhl rutschte kratzend nach hinten. Er stand auf, nackt. Schlimmer noch, er hatte eine Erektion. Die Anstö 301
ßigkeit seines Schwanzes erschreckte sie. Hatte er ihn etwa schon an ihr ausprobiert? Sie war immer noch be kleidet. Sie fühlte sich nicht so, als wäre sie vergewaltigt worden. Aber das stünde ihr noch bevor. Ganz ohne Zweifel. Anita erstickte beinahe an ihrem Ekel. Der Engel des Todes verschwand für einen kurzen Au genblick aus ihrem Blickfeld, dann kehrte er mit einer ge öffneten Flasche Valpolicella zurück. Er trank aus der Fla sche, die er am Hals festhielt; dabei ließ er sie nicht aus den Augen. Sie war so durstig. Aber lieber wollte sie ster ben, als ihn um irgend etwas bitten. Lieber wollte sie sterben. »Was . . . was wirst du mit mir machen?« Er stellte die Weinflasche ab und kam um den Tisch herum. Sie fühlte seinen schmutzigen, profanen Körper dicht hinter dem Stuhl, an den sie gefesselt war, und mußte würgen. Er hob sie ohne Mühe hoch, drehte den Stuhl um und setzte sie mit dem Gesicht gegen den Herd wieder auf den Boden. Anita sah, daß alle Gasflammen brannten. Sie starrte einige Sekunden lang in die Roset ten, die von den kleinen, bräunlichen Flämmchen gebildet wurden. Ihr Verstand arbeitete noch zu langsam, um gleich zu begreifen, was er sich ausgedacht hatte. Dann hatte sie kapiert. Sie versuchte, ohne Erfolg, los zuschreien. Der Stuhl geriet ins Schaukeln, dann kippte er nach hinten. Anitas Kopf schlug hart auf den Küchenboden. Das Seil um ihren Hals zog sich z usammen, würgte ihr auf grausame Weise die Luft ab. Bevor sie wieder in Ohn macht fiel, wehte ihr noch ein Geruch in die Nase, der töd liche Duft brennenden Gases. Das letzte, was sie sah, war Angel, der mit gespreizten Beinen über ihr stand, Wolf daddys exzentrischen Hut mit den vielen Spiegeln auf dem Kopf. Das frisch geschliffene Messer schwang wie ein Pendel in seiner Hand. 302
32. Kapitel »Wo sind wir, Tony?« »Wir sind gleich beim Anleger.« »Siehst du ihn irgendwo?« »Nein.« »Das ist gut. Ist Carls Boot da?« »Ja.« »Irgendwelche Lichter?« »Nein. In der Bibliothek stand eine Sturmlampe, aber ich kann sie jetzt nicht sehen. Warte!« Tomlin fühlte, wie der Junge sich vorbeugte, als be mühe er sich, in der Dunkelheit vor ihm etwas zu erken nen. Er hatte eine Hand auf Tonys Schulter liegen. Der Junge zitterte immer noch. Er wurde von heftigen Krämp fen geschüttelt, aber er hatte nicht aufgegeben, wie viele Jungen an seiner Stelle es sicher getan hätten, er war nicht davongeschwebt ins Niemandsland der Trä ume, mit einem Daumen im Mund. Tomlin dachte daran, wie sehr sein Vater Tony bewundert hätte. Wenn das Leben hart zu dir ist, mußt du eben noch härter sein. »Was ist, Tony?« »Ich glaube, ich sehe ein Licht in der Küche.« »Okay, Tony, wir werden jetzt an Bo rd von Carls Boot gehen und das Funkgerät benutzen. Weißt du, wo es ist?« »Ja.« »Ich möchte keines von den Lichtern auf dem Boot ein schalten. Wie weit sind wir vom Anleger entfernt?« »Beinahe da.« Ein paar Sekunden später schlug das Boot gegen eins der Ölfässer. Ohne daß man es ihm hätte sagen müssen, kletterte Tony hinauf, die Leine in der Hand. Tomlin schaltete den Motor aus, ergriff die Kante des Laufstegs und ertastete sich im vorhinein den Weg, auf dem er gleich das Boot verlassen würde. Nachdem er 3°3
solange in der Hocke gewesen war, fiel es ihm schwer, die Balance zu halten. »Tony?« Er fühlte, wie ihn jemand von hinten am Ärmel zupfte. »Da bist du. Liegt Carls Boot an der Schlippe?« »Ja.« »Hilf mir an Bord.« »Was willst du tun?« »Einen Mayday-Ruf loslassen. Um den Hubschrauber und das Patrouillenboot der Küstenwache zu alarmieren. Und den Sheriff.« »Gib mir deine Hand«, sagte Tony und führte ihn ein paar Schritte den Laufsteg entlang. Tomlin fand tastend den Handlauf der Steuerbordreling der Lolly. Er sprang an Bord und drehte sich um, beide Hände nach Tony aus streckend. Dann hob er den Jungen über die Reling auf das Deck des Cockpits. »Hey, wir schaffen das alles ganz prima.« »Mom geht es nicht so prima«, erinnerte Tony ihn. »Los, schnell zum Funkgerät.« Tony führte ihn vorsichtig durch den Salon zum Steu erpult in der Hauptkabine. Tomlin setzte sich auf den Sitz des Bootsführers und fuhr mit den Fingern über das Ar maturenbrett, bis er das Mikrofon gefunden hatte. »Weißt du, wie man das Funkger ät einschaltet?« fragte er Tony. »Carl hat es mir mal gezeigt. Was ist, wenn es nicht funktioniert?« »Wenn die Batterien aufgeladen sind, wird es funktio nieren«, versicherte ihm Tomlin. »Ich glaube, das ist der richtige Schalter . . .« »Nur zu. Jetzt müßte ein rotes Licht aufleuchten . . .« »Es leuchtet!« Tomlin schob den Knopf am Mikro auf Senden. Es war 304
ihm egal, auf welchen Kanal sie geschaltet waren, auch wenn man auf 16 natürlich die schnellste Reaktion ausge löst hätte. »Mayday! Mayday! Mayday! Hier spricht die Lollapa looza auf Lostman's Bayou. Ich wiederhole. Die Lollapa looza auf Lostman's Bayou. An Bord ist geschossen wor den. Wir werden von einem Mann angegriffen, der bewaffnet und sehr gefährlich ist. Wir brauchen sofort ärztliche Hilfe. Ich bitte jeden, der auf diesem Kanal mit hört, mit der Polizei in Port Bayonne und dem Sheriff des Jackson County Verbindung aufzunehmen. Ich wieder hole . . .« »Clay!« »Mayday! Mayday! Mayday!« »Nein! Hör auf! Sie können dich nicht hören!« Tomlin ließ das Mikrofon sinken. Mit der anderen Hand berührte er das Ende des Kabels, das etwa zehn Zentimeter unterhalb des Mikros abgeschnitten worden war. » Was machen wir jetzt?« Tony hatte es herausgeschrien, und beinahe gleichzei tig hörte man Anitas weit entfernten Aufschrei, als hätte sie auf die Angst des Jungen mit noch größerem Entset zen geantwortet. Tony klammerte sich an Tomlin fest, das Gesicht gegen die Brust des Mannes gepreßt. »Er tut ihr weh!« »Im Wohnmobil habe ich CB-Funk, aber wahrschein lich wird er sich auch darum gekümmert haben. Carl war doch verrückt nach Waffen. Er muß irgendwo an Bord Schußwaffen haben. Tony, wo hat Carl seine Schußwaf fen versteckt?« »Ich weiß nicht. So tu'doch endlich was!« »Tony, ich versuche ja . . . Ich brauche . . . Ich muß . . .« 305
Er stieß den Jungen von sich. Seine Hände tasteten nach dem Schließfach im Steuerpult. Er fand es. Gottsei dank! Nicht verschlossen. Er machte eine hastige Be standsaufnahme des Inhalts. Taschenlampe. Konnte er nicht gebrauchen. Eine Art Werkzeug. Vielleicht. Ihm Schossen ein paar Einfälle durch den Kopf. Einige von ih nen waren völlig verrückt, andere konnte man dagegen tollkühn nennen. Ein riesiger Steckschlüssel. Einstecken. Er füllte seinen Hosenbund mit Werkzeugen. Es hing so furchtbar viel von Tony ab. Wenn der Junge nicht die Ner ven behielte und täte, was man ihm sagt, könnte das für sie alle das Todesurteil bedeuten. Er hatte sich beinahe bis zum Boden des Schließfachs durchgetastet. Wo zum Teufel steckte das Ding? »Wonach suchst du?« fragte Tony. Seine Stimme klang ängstlich, aber nicht mehr so nahe der Panik wie vorher. »Wir müssen ihn an der Nase herumführen, Tony, du und ich. Aber das funktioniert nicht, ohne eine Art von .. .« Tomlin hielt den Atem an und verhielt sic h für ein paar Sekunden ganz still. Tony berührte mit eisigen Fingern seinen Nacken. Ganz langsam zog Tomlin seine Hand aus dem Schließfach. »Was ist das?« »Ein Schuß, Tony. Ein verdammter Schuß. Aber das ist besser als nichts.« Tomlin öffnete den Verschlu ß der Signalpistole, die er gerade aus dem Schließfach gezogen hatte, um sich noch einmal zu versichern, daß sie geladen war. Schweiß tropfte ihm vom Kinn. Er ließ die Pistole wieder zu schnappen und steckte sie zu den anderen Werkzeugen in seinen Hosenbund. Dann drehte er sich um und nahm den Jungen in die Arme. 306
»Tony, hast du doch 'ne Menge Zeit mit deinen Compu terspielen verbracht, stimmt's? Weißt du, wir werden jetzt solch ein Spiel spielen, nur das es wirklich ist. Angel...« »Der böse Engel?« »Der böse Engel - er ist der Drache. Das Ungeheuer am Ende des Korridors. Verstehst du?« Er legte Tony eine Hand auf den Kopf, und der Junge nickte feierlich. »Und wie geht das Spiel?« »Ich werde es dir gleich hier beibringen. Es ist ganz ein fach. Es gibt nur ein paar Dinge, die du tun mußt. Aber laß mich dir noch was anderes erklären. Weißt du, welches deine rechte und welches deine linke Hand ist?« »Ja.« Tomlin streckte ihm die offene Handfläche seiner rech ten Hand entgegen. »Lege deine linke Hand gegen meine.« Tony machte es ohne zu zögern richtig. Gut. Jedes Zö gern könnte nachher fatale Folgen haben. Tomlin schöpfte neuen Mut. »Ich glaube, es wird klappen«, sagte er. »Mach dir keine Sorgen, wir werden deine Mutter da rausholen.« In der Küche war Angel damit fertiggeworden, eine Dacron-Wäscheleine am Türgriff des Kühlschranks zu befe stigen. Er überprüfte den festen Sitz der Leine, die er um Anitas Oberkörper gewickelt hatte, wo sie quer über die Brüste und durch die Achselhöhlen verlief. Er hatte die Gasflammen ausgedreht, nachdem er aus der Bibliothek die Sturmlampe geholt hatte. Anita lag ausgestreckt oben auf der Herdplatte, die Arme hatte er ihr hinter den Kopf gezogen und mit dem Ventilator unter der Decke verbunden. Ihre Füße waren gefesselt und am Wasserhahn über der Spüle festgezurrt. Sie konnte ihren Kopf bewegen, aber das war auch schon 307
alles. Schon die Hitze des Kontrollflämmchens war schmerzhaft und brannte ihr am Ansatz des Hinterteils. Aber das war gar nichts, verglichen mit dem, was sie er wartete, wenn Angel die vier Gasflammen wieder andre hen würde. »Angel, bitte tu' das nicht! Bitte!« Sie hatte geschrien und gefleht, bis sie heiser war und sie das Blut ihrer zerbissenen Zunge im Mund schmeckte. Er hatte kein Wort gesagt, war schweigend seinen Tätig keiten nachgegangen. Nun stand er einfach da, irgendwo in der Mitte der Küche, finster, nachdenklich, aber nicht statisch - die kreisenden Bewegungen seines Kopfes, an getrieben von nichts anderem als der reinen Kraft seiner Irrationalität, erinnerten an die Gefährlichkeit einer Kreissäge. Er sah ihr zu, wie sie den Kopf verzweifelt von einer Seite auf die andere warf (war die Angst nichts ande res als eine Art der Ekstase?); kein anderes Mittel war ihr mehr geblieben als die Überzeugungskraft ihrer Sprache, das verzweifelte Verlangen, zu beschwichtigen und zu überzeugen. »Du hast nichts davon, Angel. Warum willst du mich töten? Laß uns doch miteinander reden. Ich will noch nicht sterben. Ist es das, was du von mir hören wolltest? Ich ... wir . .. haben einen Sohn. Denk doch an Tony. Du mußt doch wenigstens manchmal auch an ihn denken.« Der Engel des Todes langte hinter sich und nahm das große Jagdmesser vom Küchentisch. Er ging hinüber zum Herd und blieb dort stehen, die scharfe Klinge des Mes sers nur ein paar Zentimeter von ihrer Stirn entfernt. Seine Hand bewegte sich ganz ruhig und langsam. Anita starrte ihr entgegen, unfähig, den Kopf zu bewegen. Als die Klinge ihre empfindliche Schläfe berührte, schnaubte sie, außer sich vor Angst, blutiger Schaum bildete sich in ihren Mundwinkeln. 308
Ganz sorgfältig rasierte er ihr eine Locke vom Kopf her unter und trug sie auf der offenen Handfläche zurück zum Tisch, wobei er sie nachdenklich betrachtete. Als der Ansturm des Bluts von ih rem rasenden Herzen etwas abebbte, waren die Ohren wieder so frei, daß sie den Wind hören konnte, der ihren Grabgesang um das Haus heulte. »Ich hoffe, es hat dir Spaß gemacht, du Drecksack«, sagte sie, gerade noch fähig, es herauszubringen. Aber ihr Wille war noch nicht gebrochen. Er drehte sich wieder herum, um sie anzusehen, und während er das tat, klirrte irgendwo im Hause eine Glas scheibe und lenkte ihn ab. Zuerst dachte Anita, es sei nur der Wind gewesen, aber dann konnte man etwas Rhyth misches, beinahe Zielstrebiges im fortgesetzten Zerbre chen von Scheiben ausmachen. Und dann hörte sie Clay Tomlins Stimme. »Angel! Komm her, Angel! Oder sollen wir dich ho len?« Danach Tonys hohe Kinderstimme: »Angel! Angel! Angel! Angel!« Anita schluchzte, erregt und erschrocken. So tapfer. Und doch würde Angel sie alle beide töten. Mit dem Messer in der Hand, nackt, mit erigiertem Glied, nahm der Engel des Todes die Sturmlampe und be wegte sich langsam von ihr weg, hinüber zur Eßzimmer tür, die in einem starken Zug hin und her pendelte. Das trockene Zersplittern von Glas ging weiter. »Paßt auf!« schrie Anita. »Paßt auf! Er kommt!« »Komm nur raus, Angel! Wir erwarten dich!« »Wir erwarten dich! Wir erwarten dich!« echote Tonys helle Kinderstimme. Nein, dachte sie, lauft weg, aber sie war zu schwach und zu sehr außer Atem, um noch mal rufen zu können. 309
Sie sah, daß Angel in der Tür zum Speisezimmer zögerte und dem Zersplittern der Glasfenster in der Verandatür lauschte. Dann war es auf einmal wieder ganz still. Angel stieß die pendelnde Tür ein Stückchen auf und schaute in das Speisezimmer, dabei hielt er die Lampe über seinen Kopf. Das Jagdmesser zuckte wie der Schwanz einer Raubkatze. Mit ein paar schnellen Schritten trat er ins Speisezimmer, die Tür schlug hin ter ihm zu, und Anita stöhnte auf. Er wollte sich die beiden holen. Sie saßen nebeneinander auf der Verandaschaukel, etwa zwanzig Meter von der Doppeltür entfernt, die ins Spei sezimmer führte und offen stand. Die Glasscherben am Boden glitzerten im Licht der Sturmlampe, als Angel sich der Veranda näherte. Tomlin hatte die rechte Hand wie beiläufig auf die Rückenlehne der Schaukel gelegt. Der linke Arm umschloß Tonys Schultern. Der Junge kniete zitternd auf dem Schaukelsitz, das Gesicht gegen Tomlins Oberkörper gepreßt. Je mehr Entsetzen diese schreckli che Nacht auf seine empfindliche Kinderseele lud, desto mehr schien Tony der Mut zu verlassen. Beide atmeten sie schwer. Schließlich hatten sie viele Fensterscheiben zerbrechen müssen. Aus Tonys linkem Ohr, das von einem fliegenden Glassplitter getroffen worden war, tropfte etwas Blut. »Kommt er?« fragte Tomlin. Tony sah kurz hin. »Er ist im Eßzimmer. Ich kann seine Lampe sehen.« Und dann sah er den Engel des Todes, des sen bedrohliches Gesicht in einer hal bzerbrochenen Scheibe reflektiert wurde, als der Wind eine der Veranda türen in das Speisezimmer hineindrückte. »Da ist er.« »Draußen?« »Noch nicht.« 310
»Hey, Angel!« rief Tomlin, und seine Stimme war da bei voll Hohn und Spott. »Was ist los mit dir? D u hast doch nicht etwa Angst? Vor einem blinden Mann und einem Kind? Komm raus, ich will mit dir reden. Beweg dich ein bißchen, du Memme!« »Er hat überhaupt nichts an«, sagte Tony, offensicht lich fasziniert. »Ist er schon auf der Veranda?« »Nein, ich kann sein Spiegelbild sehen.« »Angel, mein Name ist Tomlin. Das hier ist mein Haus, und ich kann mich nicht erinnern, dich eingeladen zu haben. Also sieh zu, daß du so schnell wie möglich verschwindest!« Tony, der immer noch über die Schulter nach hinten schaute, sagte voller Besorgnis: »Er kommt nicht raus.« »Anita will dich hier auch nicht haben. Sie macht sich einen Scheißdreck aus dir, Angel, du verplemperst also nur deine Zeit. Willst du wissen, was Anita mir erzählt hat? Daß ich im Bett zehnmal mehr ein Mann bin, als du es jemals warst!« »Was soll das heißen?« flüsterte Tony. »Erklär ich dir später, Tony. Was macht er?« »Nichts. Er steht einfach nur da und . . . nein ... er hat hergeschaut. Jetzt ist er . . .« »Jetzt heißt's aufpassen.« Tomlin erhob volle r Spott wieder seine Stimme: »Spielst du Verstecken mit uns, Angel? Du bist richtig süß, Kleiner! Aber keine Sorge, ich werde dir nicht wehtun, Schätzchen, solange du nur tust, was ich dir sage. Aber wenn du das nicht tust, dann trete ich dir die Eier ab u nd werfe sie den Krokodilen vor.« Der Engel des Todes trat vorsichtig über die Schwelle der Verandatür, er mußte einen großen Schritt tun, um mit seinen nackten Füßen den Scherben auszuweichen. 311
»Jetzt kommt er«, flüsterte Tony und vergrub sein Ge sic ht wieder in Tomlins Seite. »Wie schnell?« »Er ist barfuß, und dort liegen viele Scherben.« »Lassen wir ihn einfach näher kommen.« »Er sieht so komisch aus. Sein Piepmatz ist riesig groß.« »Hey, Angel, Tony hat behauptet, du hättest 'nen Stän der! Ich möc hte wetten, daß ich schon 'nen größeren hatte, als ich zwölf war!« Er gab Tony einen kleinen Stoß. »Fang an, mir deine Beobachtungen durchzugeben. Und denke an das, was ich dir erklärt habe.« Tony warf einen kurzen Blick nach hinten. »Auf dem Gleitweg. Auf Kurs.« »Angel, ich hab' keine Lust, die ganze Nacht auf dich zu warten . . .« »Er hat ein Messer!« »Auf Frauen losgehen und kleine Jungen erschrecken, das kannst du, was? Aber vor einem richtigen Mann kneifst du. Selbst vor einem, der nicht sehen kann.« Angel bewegte sich jetzt näher zum äußeren Rand der Veranda, ganz langsam setzte er einen Fuß vor den ande ren. »Etwas vom Kurs!« flüsterte Tony aufgeregt. »Er geht zum Geländer hinüber.« »Denk daran, was ich dir gesagt habe. Wenn ich sage >Los<, dann läufst du, dann läufst du so schnell wie du kannst und drehst dich nicht um, bevor du in Sicherheit bist.« Der Engel des Todes zögerte, den rechten Fuß auf einem Bodenbrett, das Tomlin mit einem Stemmeisen gelockert hatte. Er trat zurück, weg vom Geländer und bewegte sich wieder auf die Mitte der Veranda zu. Er hielt die Lampe hoch, das Messer hielt er in der rechten 312
Faust vor sich. Während er die Lampe hin - und her schwenkte, beobachtete er Tomlins Augen. »Er kommt näher!'Auf dem Gleitweg.« »Ich möchte wetten, du bist noch häßlicher, als Anita dich beschrieben hat, Angel! Ja, sie hat mir alles über dich erzählt. Du stehst auf Nutten, stimmt's? Du besteigst sie gerne von hinten. Sie würden dich wahrscheinlich auch gar nicht ranlassen, wenn sie deine häßlic he Visage dabei sehen müßten.« »Auf dem Gleitweg!« » Wo ?«
»Bibliothek . . .« »Anita ist glücklich mit mir, Angel, also werde ich sie dir wegnehmen. Meinst du etwa, du könntest was dage gen machen? Nun, warum probierst du es dann nicht, du Dreckskerrrrrrl?« Mit einem lauten Brüllen stürzte Angel auf Tomlin und Tony zu, das Jagdmesser hoch erhoben. »Jetzt! Jetzt!« schrie Tony. Tomlin stellte sich Angel in den Weg, nachdem er Tony beinahe zu Boden geschleudert hatte. Er brachte die Leuchtpistole in Anschlag, die er hinter der Rückenlehne der Schaukel verborgen gehalten hatte. Angel warf sich auf die Hauswand zu, Tomlin zielte auf nichts als leeren Raum. Im Rollen noch hatte Tony Angels Bewegung mitbe kommen und schrie nun: »Nein! Nach links zielen!« Tomlin änderte seine Zielrichtung um vielleicht fünf zehn Zentimeter. Jetzt oder nie. Er riß den Abzug der Si gnalpistole durch. Das Magnesiumsignal, ein weißer Feuerschweif, der hell genug war, um Tomlins für einen Augenblick lang sein kostbares Sehvermögen zurückzugeben, schoß ne ben das Ziel, als Angel ein paar schnelle Schritte auf Tom 313
lin zumachte, das erhobene Messer bereit, ihm den Bauch aufzuschlitzen. Die Laterne befand sich in Angels linker Hand, weit von seinem Körper weggestreckt. Tomlin sah die schauerlichen Augen und die auf ihn zukommende Messerspitze in dem Moment, als das Ma gnesiumgeschoß die Lampe traf und zum Explodieren brachte. Sofort war die obere Hälfte von Angels Körper eine brennende Fackel. Ein Fuß brach durch ein anderes, von Tomlin präpariertes Bodenbrett, und er war hilflos eingeklemmt. Nur noch wenige Zentimeter trennten sein Messer von Tomlins Eingeweiden. Tomlin wich vor der brennenden Hitze zurück. Tony war in hysterische Schreie ausgebrochen. Der Wind fächelte die Flammen über den Engel des To des hinweg. Angel ließ das Messer fallen - der umwik kelte Griff brannte - und umschloß sein eingeklemmtes Fußgelenk mit zwei verkohlten Händen. Es gelang ihm, den Fuß freizubekommen, und er schaute Tomlin an, völ lig gleichgültig jetzt, er hatte genug mit den Flammen zu tun. Sein Kopf verkohlte gerade in einer bläulich leuch tenden Flamme, die beinahe bis zum Verandadach hinauf züngelte, zu einem schwarzen Klumpen. Der Engel des Todes tanzte drei schnelle Schritte auf das Gelände r zu, vielleicht dachte er noch an das kühlende, schwarze Was ser des Bayou. Er stürzte über das Geländer, kleine, flak kernde Klümpchen brennender Haut zurücklassend, und es gelang ihm noch einmal, auf die Füße zu kommen. Dann, als Tony schon wieder hin schaute, die Hände ge gen die Ohren gepreßt, um seine eigenen Schreie auszu sperren, lief der Engel des Todes die Rasenfläche hinun ter, einen Drachenschwanz von loderndem Feuer hinter sich herziehend. Er schaffte es nicht einmal mehr annä hernd, das kühlende Wasser zu erreichen.
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33. Kapitel Beim ersten Licht des anbrechenden Morgens kamen sie am Bayou an, vier Männer in einer Chevrolet -Limousine neuester Bauart. Sie hielten an der >Kirche zum Tor des Himmels<, um nachzusehen, nur einer der Männer s tieg aus, um sich zu vergewissern, daß der Mann, der unter dem Klavier steckte, auch wirklich tot war, dann fuhren sie weiter zum Haus und parkten hinter dem blauen Cou gar. Mit Revolvern im Anschlag stiegen sie aus dem Wa gen aus und sahen sich um, versuchten durch den Boden nebel hindurch etwas zu erkennen. Der Dreck auf der Veranda und die Leichen im Garten hatten bereits ganze Schwärme von Fliegen angezogen. Im Wohnzimmer erwachte Clay Tomlin von dem Ge räusch der unterdrückten Stimmen und der Schritte auf der Veranda. Er saß aufrecht auf dem Sofa, Anita zu seiner einen Seite, Tony zur anderen. Beide schliefen noch. Tony hatte die Fäuste geballt. Niemand von ihnen hatte ein Bad genommen oder auch nur die Kleider gewechselt. Sie hatten einander nur festgehalten, die ganze restliche Nacht hindurch. »Was ist los?« fragte Anita, nachdem ein kurzer Blick des Erwachens durch sie gegangen war. Sie ließ die Augen geschlossen. Sie wollte die Augen geschlossen lassen. »Da ist jemand.« Er küßte ihr die blutleere Wange, um ihr zu zeigen, daß er sich keine Sorgen wegen der An kömmlinge machte. »Ich werde mal nachsehen.« Er ging hinaus durch die Bibliothek und die zertrüm merte Verandatür, und sah sich plötzlich ein paar Uzis und anderen wirkungsvollen Schußwaffen gegenüber. Er warf einen Blick auf die dazugehörigen Männer, aber au ßer den hellen Farbtönen der Gesichter konnte er noch 315
nicht viel von ihnen erkennen, trotz des hellen Streifens Sonnenlicht über den Baumkronen. »Wer sind Sie?« fragte einer der Männer. »Tomlin. Dies Haus gehört mir.« Es roch verbrannt, und die Veranda hatte an einigen Stellen häßliche, ver kohlte Streifen, aber auch der saubere Geruch des Ozeans wehte schon wieder herüber zu seiner Tür. Hier war im mer noch ein angenehmer Platz, um sein Leben zu ver bringen. »Und wie ist Ihr Name?« fragte er den Sprecher der Ankömmlinge. »Vic.« »Polizei?« »Nein. War Angel hier?« Tomlin lachte rauh. »Er ist immer noch hier. Wenn Sie etwas gefunden haben, das aussieht wie die Überreste einer Grillparty - das ist Angel.« Sie ließen die Schußwaffen sinken. Vic sagte: »Der Bur sche hat Ihnen ein bißchen Ärger gemacht, was?« Tomlin lehnte sich gegen die Hauswand zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Angel interessierte ihn nicht mehr. Jetzt mußte er sich um Anita kümmern. Und um Tony. »Ich glaube, Sie brauchen uns nicht mehr«, sagte Vic. »Wenn Sie die Leute sind, für die ich Sie halte - Carl liegt da unten in dem Ruderboot am Anleger. Ich glaube, er ist tot.« Vic zuckte mit den Achseln. »Ist nicht unser Bier. Rufen Sie die Cops an.« »Das Telefon funktioniert nicht.« »Dann werden wir sie eben rufen, von der Hauptstraße aus.« Dann gingen sie davon, auf den gemieteten Chevy zu. Vic zögerte und kam noch einmal zurück zu Tomlin. »Der Don wird wissen wollen, wie es Anita geht.« 316
»Ich muß hier noch ein bißchen saubermachen, danach werden wir heiraten.« Vic legte den Kopf auf die Seite, dann grinste er. »Werde ich dem Alten ausrichten.« Tomlin sah hinterher, bis der Chevy gewendet hatte und auf das Tor zufuhr. Hinter sich hörte er das Knir schen von Glasscherben und drehte sich um. Anita stand da, die Schultern in der Kühle des Morgens fröstelnd zu sammengezogen, das Gesicht weiß wie Wachs. Dann drehte sie ihr Gesicht so, daß es einen Strahl des er sten Sonnenlichts auffing und sich auf wundersame Weise be lebte. Ihre Wangen füllten sich mit Farbe, und sie fragte ihn, verbunden mit der Aufforderung, es ihr zu bestäti gen: »Wer heiratet wen?« Tomlin mußte lachen, als er ihren Gesichtsausdruck sah. Dann legte er ihr einen Arm um die Schultern und führte sie zurück ins Haus.
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