REINMAR CUNIS
ENDE EINES ALLTAGS Science Fiction‐Erzählungen Originalausgabe eBook by ...
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REINMAR CUNIS
ENDE EINES ALLTAGS Science Fiction‐Erzählungen Originalausgabe eBook by Puckelz WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE‐BUCH Nr. 06/3937 im Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright © 1982 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1982 Umschlagbild: Karel Thole Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs & Schütz, München Gesamtherstellung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh ISBN 3‐453‐30.863‐8
SCIENCE FICTION – SOCIAL FICTION »Social Fiction« – damit meint Cunis einen Bereich der phantastischen Lite‐ ratur, in dem social sciences an die Stelle der Naturwissenschaften treten. Ein neuer Begriff für ein altes Genre, denn Orwells »1984« sind ebenso der »Social Fiction« zuzurechnen wie Aldous Huxleys »BRAVE NEW WORLD«. Cunis will mit diesem Wort den Anspruch der Sozialwissen‐ schaften unterstreichen, in der Science Fiction ebenbürtig neben andere Wissenschaften getreten zu sein. Technischer Fortschritt ist undenkbar ohne gesellschaftliche Veränderung; Ängste vorm physikalischen Aus für die Erde können nur begreiflich gemacht werden, wenn die Untergangsge‐ sellschaft schlüssig beschrieben wird. Die Menschen der Gegenwart auf dem SF‐Prüfstand des Zusammenlebens: das ist – so Cunis – »Social Ficti‐ on«. »ENDE EINES ALLTAGS« enthält fünf Erzählungen, in denen aus ge‐ wöhnlichem Heute phantastisches Morgen wird: fünf Erzählungen der »Social Fiction« zu den Themen Rechtsreform, Emanzipation, Generatio‐ nenkonflikt, Midlifecrisis und Erfolgssucht. Nicht wissenschaftlich‐trocken, sondern spannend realistisch, hintergründig und auch satirisch erzählt. Und den Freunden bunter Träume sei verraten: die letzte Story mit ihrer Erinnerung an die Methoden Henrik Ibsens, Gesellschaftskritik zu schrei‐ ben, gleitet schon hinüber in den Bereich der Fantasy. Reinmar Cunis, Jahrgang 1933, promovierter Soziologe, Fernsehjournalist und Schriftsteller, hat mit zahlreichen Kurzgeschichten und drei SF‐Romanen seinen Platz in der deutschsprachigen Science Fiction abgesteckt: die Grenz‐ bereiche des Lebens auszuloten und die phantastische Ge‐ genwart sichtbar zu machen. SF ist für ihn nicht Wissen‐ schaftsbericht und nicht Reisemärchen. Er will mit dieser Literaturgattung »in die Psyche des Menschen eindrin‐ gen«. Schon in seinem letzten Werk »Der Mols‐Zwischenfall« (HEYNE‐BUCH Nr. 06/3786) kritisierte er die ausgetretenen Pfade der etablierten Wissenschaften und stellte der positivistischen Methode eine transzendentale gegenüber: Nicht die Technik, der Mensch steht im Mittelpunkt.
INHALT
SOHN UM SOHN Seite 5
HANNI BOJENS Seite 79
PELARGONIUM MENTALE Seite 123
FREISCHICHT Seite 149
EIN FALL FÜR DEN KNOPFGIESSER Seite 209 Nachwort
SOCIAL FICTION Seite 239
Sohn um Sohn 1 Er zerstückelte das Kind, bis von ihm nichts mehr zu erkennen war, mühelos folgte das Strahlmesser seinen gierigen Bewegungen. Seine Augen, fast geschlossen, starrten leer, Schweiß und Speichel rannen ihm über die Haut, die Zunge stieß wie ein aufgequollener Schwanz hervor. Überall Blut: auf der Werkbank, dem Steinfußboden, dem rostigen Werkzeug, an den Wänden, den Ketten und Flaschenzügen, auf den Geleisen, die hinaus zum Ufer führten. Er stand steif, nackt vornübergebeugt, ruckartig führte er das Messer, stieß ruckartig den Atem aus. Als es getan war, löste sich die Anspannung, Befriedigung schüt‐ telte ihn. Erwachend sah er das Messer in seiner Hand und legte es weg, Kälte kroch ihm über Zehen und Beine, durchs glaslose Fenster fiel rhythmisch der Blitz des Leuchtfeuers, grell, schwarz, grell und fünfzig Sekunden Finsternis, und wieder das doppelte Aufblitzen im frostschwangeren Abendhimmel. Anno, spitzknochig, zart, mit ersten Härchen auf der Lippe, stand schnatternd im Schuppen vorm Boot, das auf dem Schienenwagen festgezurrt war, starrte auf die Jacken, Hemden und Hosen, die über der Bordwand hingen, und auf die rotbespritzten Holzpantinen, erinnerte sich nicht. Im jähen Licht des Leuchtturms sah er über der Werkbank eine Spinne, die sich aus ihrem Netz herabließ, in der Blutlache aufsetzte und ver‐ harrte, sah den fetten, zottligen Leib, Ekel würgte ihn, er wandte sich ab und erbrach auf den Boden. Rings um das Haus war es eisig und still, der purpurne Horizont ging unvermittelt in Nacht über, auf dem Wattenmeer kündigte sich die Flut an. Nordwind blies durch Schilf und ausgehängte Fischer‐ netze, in breiten Schwaden rann Sand am Fuß des Deichs entlang
und um den Schuppen, übersprang die Geleise und wehte hinaus. Niemand hatte am späten Nachmittag die beiden Kinder am Strand gesehen, als sie einträchtig das Fahrrad zum Bootshaus schoben, Muscheln und Steine sammelten, Möwen scheuchten. Ein Fischer, weit draußen vor der Küste, erinnerte sich später an die Silhouetten, die mannsgroße und die kurze, die kaum höher war als das Rad. Befragt, an welchem Tag? wiegte er bedächtig den Kopf, er sei im‐ mer draußen, nur bei Sturm nicht. Es war kein Sturm an diesem Abend. Anno stopfte gleichmütig die Leichenteile in einen alten Jutesack, nur einmal zuckte er zurück, als er der Spinne nahe kam. Steckte auch die Kleidungsstücke und die Pantinen des Kindes hinein, band die Zipfel zu fachmännischen Knoten und stellte den Sack neben dem Schuppentor ab, öffnete es einen Fußbreit und spähte hinaus, erst den Strand entlang, woher sie gekommen waren, dann in die andere, südliche Richtung, schließlich auf die weite Ebene des Watts. Schlüpfte in Hemd, Hose und Pullover und stutzte, als sein Blick auf die beiden sorgfältig abgelegten, codierten Armbanduhren fiel, die (wie heutzutage üblich) mit einer Empfangs‐ und Sendetaste ausgestattet waren. Nahm den schweren Bootshaken und zertrüm‐ merte sie und trat sie unter einen losen Stein, machte eine zweite, sorgfältige Runde um das Bootshaus, bevor er den Sack packte und durch den schweren, windgerippten Sand ins Watt hinausschleifte. Er folgte einem Priel, einem Süßwasserarm, der sich in engen Win‐ dungen vom Land zum Meer ergoß, an einigen Stellen hatte sich das Wasser in Mulden ins Watt gegraben, die Strömung spülte sie rasch aus und riß den Sand mit sich fort. Eine dieser Vertiefungen war groß genug, den Sack aufzunehmen, Anno hockte sich an ihren Rand und blockierte den Zufluß, sofort suchte sich das Wasser ein neues Bett, das Loch füllte sich mit Sand, kurz darauf war der Sack nicht mehr zu sehen. In zwei Stunden würde die Flut die letzten Spuren einebnen.
Er kehrte zum Schuppen zurück, ohne ihn noch einmal zu be‐ treten, bestieg das Rad und fuhr über den holprigen Deichweg nordwärts, dem Leuchtfeuer entgegen, die Nacht hatte den letzten Widerschein am Horizont gelöscht, Sterne zogen auf. Wir beobachten dich, sehen dich, einer von uns paßt immer auf, Jens oder Olaf, Karin, An‐ ker, Marlene, Siv oder der alte Lüssen, ja, auch Onkel Lüssen, wir wissen, was du tust. Kurz vor der Landzunge, auf der weit draußen im Westen der Leuchtturm aufragte, bog er vom Deichweg ab und durchquerte die kleenassen Wiesen, einzelne Häuser von Norden schimmerten ihm entgegen, aber er fuhr nicht in den Ort. Blieb auf der Landstraße und radelte weiter nach Norden, schaute nur einen Augenblick zu dem flachen, langgestreckten Haus mit dem schmalen Giebel hin‐ über, dann verschwand es in der Dunkelheit hinterm Deich, vor ihm stieg die Straße in einer weiten Kurve ins Heideland auf. Immer war einer dagewesen, der ihn packte und seine Späße mit ihm trieb, Jens oder Olaf oder Karin, manchmal auch andere, neue, wie Benne und Curd und Arte. Komm her, Anno! sagten sie, macht das Spaß, Anno? Komm! sagten sie. Und sie sagten: Geh! Geh weg! Tritt nicht auf die Beete! Pflück nicht die Bohnen ab! Hol Eier aus dem Stall! sagten sie. Sei brav, Anno! Brav! Einer von uns paßt immer auf. Er sagte wütend: Ich erinnere mich nicht an euch. Das Bootshaus roch damals nach frischem Lack, Onkel Lüssen gab ihm den Pinsel und zeigte ihm, wie Strich neben Strich gesetzt wird, und konnte noch viel mehr: Segel nähen und Schafe scheren und Hühner schlachten, er reparierte Schwebeboote und Wärmepumpen und tötete Kreuzottern ohne Strahler. Anno war vier und weinte, als Sybille ihn zu den Großeltern fortbrachte. Sie wohnten zwei Dörfer weiter, mitten in der Heide und wenige Kilometer vor der Kreisstadt, zu der Großvater zu Fuß zu gehen pflegte. Dann nahm er Anno mit, und das waren die einzigen Male, an denen der Junge das Haus verlassen durfte. Draußen ist es gefähr‐
lich. Es gibt viele böse Menschen, du bist klein, schwach, kannst dich nicht wehren. Die bösen Menschen werden dich ausrauben und töten, sie haben Strahlmesser und Pistolen, sei auf der Hut! Wenn du mit Großvater gehst, halte immer seine Hand fest. Ich erinnere mich nicht an euch, sagte er wütend. Großvater befahl, bei Anbruch des Abends die Türkontrolle auf SPERRE zu schalten, die Läden vor den Fenstern wurden verriegelt und die Lichtschranken aktiviert. Dann legte Ohme eine Kassette in den Medienterminal und ließ Anno alte Fischermärchen hören, trank dabei stinkenden Espresso mit Kognak und sagte, gib Ohme einen Gutenachtkuß, aber der Kleine rannte in sein Zimmer und schloß ab, heulte und urinierte ins Bett. Großvater meinte, das gibt sich, wenn er zur Schule kommt. Eines Morgens stand die Ohme nicht mehr auf, eine Frau vom Ju‐ gendamt kam und brachte einen Info‐Apparat mit, stellte ihn auf den Küchentisch und begann, Anno auszufragen. Bei jeder seiner Antworten tippte sie auf die Tasten, und der Apparat machte bunte Zeichen auf einer Scheibe, und sie nickte dazu. Eine kluge Maschine, sagte sie, sucht dir den besten Platz aus, den du dir wünschen kannst. Die Zeichen auf der Scheibe ergaben J 40 – 17, ja, sagte die Frau, da wird es dir gut gefallen. Er radelte an dem Haus vorbei, in dem längst andere Leute wohn‐ ten, umkurvte die Abtaster an der Kreuzung, wo die Straße gerade‐ aus in die Kreisstadt führt, und nahm die Abzweigung nach Gla‐ dernes. Zur Stadt ist es nicht weit, nicht wahr, Anno, du gehst gern mit mir in die Stadt, es ist ein guter Weg, es dauert nicht lange, dann sind wir da, lauf voran, lauf, Anno, lauf zu! Ich erinnere mich nicht, sagte er. Kurz vor Gladernes, gegen den Osthimmel waren die Kirche und die mächtigen Linden um den Dorfplatz kaum noch zu erkennen, radelte er auf einen schwach beleuchteten, übers Heideland ver‐ streuten Gebäudekomplex zu, stieg ab, schob das Rad auf einem
Seitenpfad bis zum abseits gelegenen Flachbau und brachte es in einen geräumigen Fahrradkeller. Stellte es neben fünfzig gleichfar‐ bige, unterschiedlich große, ging durch den anschließenden Hei‐ zungsraum zur Müllverwertungsanlage und stopfte seine Kleidung hinein, auch die Pantinen, betrat die gegenüberliegenden Dusch‐ räume und seifte sich gründlich ab, niemand hatte sein Kommen bemerkt. Eine halbe Stunde später passierte er die Zählschranke und schlief bereits, als die anderen Heimkinder in die Betten kamen. Am nächsten Morgen waren die Waschräume voll wie stets, er rempelte kräftig, ein großer Junge sagte: »Geh weg!« »Selber weg!« schrie er, die Schlägerei brachte mehrere Schürf‐ wunden, ein blaues Auge, einen ausgerenkten Arm und zwei blu‐ tende Nasen, plötzlich, schnaufend, hielt er inne. »Wisch das Blut weg!« sagte er, und noch einmal, drohend: »Wisch das Blut weg!« »Das wirst du büßen, du Zwerg«, sagte der andere. »Überflüssig!« zischte Anno. Sie standen sich keuchend gegenüber, der andere, größer als er, wich endlich zurück, berührte die Ruftaste am Armband und ver‐ langte Wundpuder. »Und du?« sagte der Mann im grauen Kittel zu Anno, aber der war schon verschwunden, zog gerade im Vorraum frische Wäsche aus dem Spender, schlüpfte in neue Pantinen und schlenderte zum Speisesaal. Auf dem Hemdkragen bildeten sich kleine rote Sprenkel. Stunden später, gerade hatte der Mathematikunterricht begonnen, den er besonders haßte, betraten zwei Männer den Schulraum. »Anno Ahls?« sagten sie. Als er den Arm hob, fiel sein Blick aufs Handgelenk, wo die Uhr fehlte. Er schrie: »Ich erinnere mich nicht«, aber schon blitzte grell‐ weißes Licht in seinem Kopf auf, er verlor das Bewußtsein.
2 Als Anno wieder zu sich kam, waren Kopf und Augen noch immer voll Licht, geblendet schloß er die Lider, aber die Helligkeit blieb. Sehr langsam begann schattiges Grau aufzusteigen, Anno blinzelte, jetzt schälten sich Konturen heraus: schmale, hohe Pfosten zwischen riesigen Fenstern, Regale, ein flacher Schreibtisch, ein Videotermi‐ nal, dahinter ein leerer Stuhl. Endlich bemerkte er den Mann, der, an eine Wand gelehnt, ihn beobachtete, ein schlanker Mann in einem weißen Kittel – nein, eine Frau, sie hatte langes, schneeblondes Haar, das wie eine Kapuze herabfiel, und darunter eine schwarzge‐ ränderte Brille. Endlich war das Licht soweit zurückgegangen, daß er hinter den Fenstern einen Garten erkennen konnte, eine große Wiese, busch‐ umstanden, junge Leute, die Fußball spielten, auf einer Bank saßen Mädchen und rauchten Zigaretten. Die Frau kam näher, ohne ihn aus den Augen zu lassen, langsam, fast umständlich nahm sie die Brille ab und ließ sie zwischen Daumen und Zeigefinger pendeln. »Anno«, sagte sie. »Warum bist du hier.« Er schwieg. »Warum, meinst du, haben wir dich geholt«, sagte sie gleich‐ bleibend freundlich. »Blöde Frage«, knurrte er. »Hören Sie auf zu fragen!« Er sagte: »Überflüssig.« »Ich möchte es von dir hören«, sagte sie, die Brille pendelte. »Warum bist du hier, Anno.« Er schwieg, starrte hinaus auf die Wiese und das Fußballspiel, hät‐ te viel drum gegeben, jetzt dabei zu sein. »Also gut«, sagte er. »Ich weiß es nicht. Genügt das?« Sie blickte ihn fest an. »Das genügt nicht«, sagte sie. Der Raum war achteckig und vollständig aus Glas, auch die De‐ cke, der Fußboden, der Schreibtisch, alles aus Glas. Einige Flächen waren stärker getönt als andere, wirkten grau und braun und grün,
auf dem Boden bildeten sich Karomuster. Keine Mauern, keine Git‐ ter, niemand, der ihn bewachte, der blanke Raum sah aus wie das Informationszentrum im Gladernes‐Heim. Aber er wußte, daß er nicht in Gladernes war. »Ja«, sagte er, »Polizei!« Er sagte: »Warum beschäftigt ihr euch mit mir?« »Erzähl mir von dir!« sagte die Frau. »Ich erinnere mich nicht.« »Es wird dir schon etwas einfallen«, sagte sie. »Polizei!« sagte er. »Ausgerechnet mich habt ihr euch heraus‐ geangelt.« Sie sagte: »Erzähl!« »Natürlich ist ein anderer derjenige, den ihr sucht«, sagte er. »A‐ ber ausgerechnet mich holt ihr euch heraus.« »Erzähl mir von dir, Anno!« Er sagte: »Überflüssig.« Sie fragte: »Wie lange bist du im Gladernes‐Heim.« »Lange.« »Wieviel Jahre?« sagte die Frau und pendelte mit der Brille, das lange Haar fiel ihr fast in die Augen. Anno sagte: »Weiß nicht.« »Aber Anno!« sagte sie, kam näher. »Erzähl mir, wo du vorher gewesen bist!« Als er nicht antwortete, ging sie um den Schreibtisch herum, setzte sich vor den Videoterminal und blickte in das Gerät. Jetzt bemerkte er den rot pulsierenden Lichtpunkt. »Wo bist du gewesen, bevor du ins Heim kamst?« Sein Kopf war leer und graugemustert wie der Boden unter ihm. Er schrie: »Sie wissen es doch. Sie wissen doch alles über mich. Wa‐ rum schauen Sie nicht in der Videokartei nach?« »Ich will es von dir hören«, sagte sie und spielte mit der Brille. Er starrte hinaus auf den Fußball.
»Du warst bei deinen Großeltern«, sagte sie, ohne ihn anzublicken, »du hast bei deinen Großeltern gewohnt, bis der Großvater starb. Du hast ihn sehr gemocht, Anno, nicht wahr?« Plötzlich lachte er. »Wie kommen Sie darauf? Diesen blöden Seni? Ich soll ihn gemocht haben? Sagt das die Kartei? Aha, Sie haben sich also geirrt, als Sie mich verhaftet haben.« Sie sagte: »Wir verhaften niemanden.« »Was soll ich hier?« sagte er. Sie schwieg lange, endlich, fast flüsternd, wiederholte sie: »Ich meine, ihr habt euch gut verstanden.« »Quatsch«, sagte er. »Nicht Großvater ist gestorben, sondern die Ohme. Die Ohme starb, so war das, dem Seni hat das Kinn gezittert, zum ersten Mal war er klein und krumm und hatte das Komman‐ dieren vergessen, so war’s!« »Wo ist er geblieben, nachdem deine Großmutter tot war?« fragte die Frau. Er starrte auf die Teppichkaros. »Warum soll ich mich mit diesem Festungskommandanten verstanden haben?« Er sagte: »Da gab es nichts zu verstehen.« »Wo ist er geblieben.« »Im Heim!« schrie er. »Überflüssig, so ein Seni. Was macht man? Steckt ihn ins Heim. Überflüssig. Ich bin auch im Heim. Nicht wahr? Das wollten Sie doch wissen. Ich bin im Gladernes‐Heim. So, nun hören Sie auf zu fragen, ich habe alles erzählt!« Er sagt es überzeugend, dachte sie und diktierte Schlüsseldaten in den Terminal. »Es gibt einen Seni, der dein Freund war«, hakte sie nach. »Vorher, bevor du zu deinen Großeltern kamst.« Anno folgte sehnsüchtig dem Fußballspiel auf der Wiese. Sie sagte: »Peer Lüssen.« Der Spieler gab nicht ab, dippte unablässig den Ball auf den Rasen und schrie etwas, hier oben in der gläsernen Kanzel war’s nicht zu hören.
»Peer Lüssen«, sagte sie. »Abgeben!« schrie Anno. »Abgeben! Da steht einer frei…« Sie sagte: »Peer Lüssen.« »Spiel endlich, du Zwerg!« schrie Anno. »Dein Freund Peer Lüssen.« Sie dachte: Wenn das tatsächlich seine Persönlichkeitsstruktur ist, müßten sich gute Heilerfolge erzielen lassen. »Also ja«, nickte sie und fuhr mit der Hand über eine Sensortaste. »Lassen wir das.« Die Fensterscheibe wurde matt und undurchsichtig. Anno blinzelte, beugte sich vor und blinzelte, und als er endlich begriff, sackte er zusammen. Die Brillenschlange sagte: »Wo wohnt Carl Gisevius.« »Wer soll das nun wieder sein?« »Der Landtagsabgeordnete«, sagte sie. »Willst du leugnen, daß du ihn kennst?« »Nie gesehen«, sagte er. »Und Finn Gisevius. Auch nie gesehen?« In seiner Erinnerung regte sich nichts. »Wo ist deine Armbanduhr, Anno.« Jetzt sah er den leeren, hochgereckten Arm, die beiden Männer im Klassenzimmer, sprang auf, die Fäuste geballt, und wieder explo‐ dierte ein Lichtblitz in seinem Kopf. Gestern hast du Finn Gisevius angesprochen. Du hast ihn aus dem el‐ terlichen Garten gelockt und mit an den Strand genommen. Ihr habt ge‐ meinsam das Fahrrad bis zum Bootshaus geschoben. Der Schuppen gehört deinem Freund Peer Lüssen. Es war derselbe Raum, in dem er erwachte. Hinter den Fenstern dehnte sich eine Kiefernschonung, der dunkle Wald milderte das Licht. Anno starrte hinaus und versuchte, sich zu erinnern. Er war allein. Du kennst Finn Gisevius schon lange. Du hast den Sohn des Landtags‐ abgeordneten monatelang beobachtet. Gestern hast du ihn angesprochen.
Du wußtest, daß seine Eltern nicht in der Nähe waren. Du hast ihn mit an den Strand genommen. Die Brillenschlange! Wo war sie – wieso sah er sie nicht – sie fragte unablässig – redete auf ihn ein – Gestern hast du plötzlich den Entschluß gefaßt, Finn mitzunehmen. Du hast ihn überredet, mit dir an den Strand zu gehen. Als du den Boots‐ schuppen sahst, hast du ihn hineingezogen. Du hast ihm die Armbanduhr abgenommen. Ich bin verhaftet, in der Abschirmung, die lassen mich nicht mehr weg, wen sie haben, kneten sie weich. Sie wollen was von mir, etwas Bestimmtes, was wollen sie von mir? Du wußtest, daß der Junge mit dir gehen würde. Erkannte dich, hatte mit dir schon gespielt. Du hast ihm ein tolles Abenteuer am Strand ver‐ sprochen. Du hast die Armbanduhren vernichtet, um ungestört zu sein. Eine Tonkapsel! Sie haben mir eine Kapsel ins Ohr gesteckt, aber ich erinnere mich nicht. Du kanntest den Platz, an dem Peer Lüssen das Strahlmesser aufbe‐ wahrt. Du hast es in die Hand genommen und eingeschaltet… Brüllend rannte er aus dem Raum auf den Gang hinaus, plötzlich stand er vor der weißen Frau. »Wir wollen die Sache beenden«, sagte sie freundlich und nahm den Knopf aus seinem Ohr. Er bat: »Laßt mich doch in Ruhe!« Sie legte ihren Arm um seine Schultern und führte ihn ins Zimmer zurück, sie war viel kleiner als er und jung, fast ein Mädchen. »Deine Schule hat angefragt«, sagte sie. »Ihr habt heute ein Spiel, du bist ein guter Stürmer, nicht wahr, Linksaußen, ist es so? Sie brauchen dich.« Er stand betäubt. »Brauchen mich? Mich? Heute brauchen sie mich?« »Ein Spiel gegen Brandrup‐Zentralschule?« fragte sie. »Ja«, sagte er. »Laß uns die Sache jetzt abschließen, was, Anno?«
»Kann ich dann gehen?« »Sie brauchen dich fürs Spiel. Also?« »Ja«, sagte er. »Ja. Natürlich, ich erinnere mich, heute ist das Po‐ kalspiel gegen Brandrup.« »Woran erinnerst du dich, Anno?« »Fehlt ihnen der Stürmer, was?« schrie er. »Ja«, sagte sie. »Gegen Brandrup‐Zentralschule?« Sie sagte: »Heute nachmittag.« »Lassen Sie mich gehen!« bettelte er. Sie lächelte. Und als er auf dem Gang war: »Übrigens hast du zwei Blutflecken auf deinem Hemd.« Er wandte sich um und grinste sie an, irgendwie mochte er sie, er wußte nicht warum, sie gefiel ihm. Sagte: »Aber die Wäsche ist frisch, es kann kein Blut drauf sein. Mein Zeug habe ich gestern in den Abfallverwerter geworfen.« Und während er das Untersuchungsgefängnis ungehindert ver‐ ließ, berührte die Ermittlungsbeamtin die Sendetaste an ihrem Handgelenk, der Videoterminal schaltete um und gab das aufge‐ zeichnete Gespräch zusammen mit ihren Empfehlungen an den Zentralspeicher weiter. 3 Der historische Bau aus der Wiederherstellungszeit war dem Land‐ tag längst zu klein geworden, im Saal IV hockten die Aus‐ schußmitglieder dicht gedrängt. Das Zimmer war als Büroraum geplant worden, später hatte man es an die Klimaanlage ange‐ schlossen, »Saal« genannt und mit sechzehn Leichtmetallsesseln und einem inzwischen veralteten Videoterminal bestückt. Der eineinhalb Meter hohe, (gegenüber den heutigen Modellen) vergleichsweise
unförmige Würfel mit acht Bildschirmen, Videotextausgaben und Aufzeichnungseinrichtungen stand mitten im Raum, von jedem Sessel lief ein offenes Kabel zu ihm, er sah aus wie ein elektronischer Krake, und einige der Anwesenden empfanden das auch so. »Pardon«, sagte eine rundliche Frau, die sich neben Gisevius in den Stuhl zwängte, »sind wir bei unserer Haushaltslage überhaupt imstande, weitere zwei Millionen auszugeben?« Ein Ausschußmitglied, das gegenüber Platz genommen hatte, schnaufte: »Bildungsideale der Arbeiterbewegung« und: »Befä‐ higung zum Erkennen der eigenen Lage.« »Der alte Bebel hat wahrhaftig nicht davon geträumt, lauter In‐ tellektuelle heranzuzüchten«, behauptete eine junge Vertreterin der Linkssozialisten, sie war Neuling in dieser Runde und aufsässig laut. »Wir ziehen Monster in unseren Schulen heran, Roboter, keine Menschen.« »Ein Schnipsel aus Ihrer Wahlrede, Frau Kollegin?« »Recht hat sie!« »Aufblähung des Staatsapparates führt zu nichts Gutem.« »Sollten die Steuergelder lieber für praktische Dinge als für ausge‐ dunsene Ideale ausgeben.« Das angeregte Stimmengewirr brach ab, als die Sitzung eröffnet wurde. Oben auf dem Videoterminal erschien Grünlicht, Bildschir‐ me flammten auf: SITZUNG NR. 18/07 10. LANDTAGSPERIODE, BILDUNGS‐ POLITISCHER AUSSCHUSS. BEGINNEN SIE. »Bitte die Haushaltsvorlagen!« sagte Gisevius und fuhr mit der Hand über eine Taste an seiner Stuhllehne. Die Abgeordneten warfen einen Blick auf die Zeilenkolonnen, die den meisten von ihnen schon bekannt waren, jemand hatte eine Rückfrage. Dann der Fraktionskollege Berteis: »Die Anträge der Regierungskoalition!« Weitere Bildschirme servierten Wörter, Zah‐ len, Symbole.
»Es gibt einen Minderheitenentwurf!« rief die junge Linkssozialis‐ tin. »Wir sollten ihn jetzt zur Kenntnis nehmen.« Weitere Zahlen wanderten über die Schirme. ERÖFFNUNG REDE DES ANTRAGSTELLERS. BITTE SPRE‐ CHEN SIE. Neben dem grünen erschienen ein rotes Lämpchen und das Wort AUFNAHME. Gisevius beugte sich vor, um besser ins Mikrofon sprechen zu können, und sagte geschäftig: »Wir haben bereits große Fortschritte erzielt, dies ist nur ein weite‐ res Teilstück in der langen Kette unserer sozialen Erfolge. Kollegin‐ nen und Kollegen, bitte bedenken Sie, daß wir als Regelschule das zentral gelenkte Ganztagssystem durchsetzen konnten. Das gleiche gilt für den Vorschulbereich. Eine umfassende Erziehung außerhalb des Elternhauses unter gleichen und pädagosich aufbereiteten Be‐ dingungen! In diesem System haben wir neben der speziellen Aus‐ bildung die weiterführende Bildung gleichwertig plazieren können. Das bedeutet Mehrbereichsbefähigung.« Er sprudelte stichwortartig Fachausdrücke hervor, Kauderwelsch der Experten: »Besinnungs‐ schulung«, »Umlernmobilität«, »Grundwertkreativität«. Die Zuhö‐ renden kannten sich aus, einige nickten, andere legten ihre Gegen‐ rede zurecht. Gisevius hatte sich inzwischen in Globalbetrachtungen verloren. »Unsere Schulpolitik hat es möglich gemacht«, schwärmte er, »auch andere wichtige Bereiche des menschlichen Zusammenlebens zu humanisieren. Denken Sie an die Reform der Rechtsfindung und Rechtsprechung, an die im vorigen Jahr verabschiedeten Gesetze zur Rehabilitierung und Resozialisierung. Jeder Mensch, auch ehe‐ malige Rechtsbrecher, die wir jetzt treffender Normverletzer nen‐ nen, auch Kinder und Frauen haben heute die gleiche Stellung in der Gesellschaft.« Die junge Abgeordnete stieß einen spitzen Schrei aus, ganz und gar unpassend in dieser Runde.
»Ohne unsere Zielsetzungen in der Schulpolitik hätten wir auch die anderen wichtigen Reformen nicht vorbereiten können«, fuhr Gisevius fort und behielt dabei stets das rote Lämpchen im Auge. »Früher haben wir die Kinder zu schnell spezialisiert. Keiner hatte mehr Verständnis für den anderen, es war ein Kampf aller gegen alle, ein bösartiger Überlebenskrieg, in dem die Schwächeren un‐ weigerlich unterlagen. Wir haben mit der gezielten Hebung des Bil‐ dungsniveaus dazu beigetragen, daß die Menschen solidarisch zu denken gelernt haben. Heute braucht niemand mehr abseits zu ste‐ hen, sich nicht mehr ausgestoßen zu fühlen. In all den Jahren, in denen meine Fraktion diese…« VORLAUFSPEICHER ERSCHÖPFT, unterbrach ihn die Maschine. BITTE DISKUSSION. Ein weißbärtiger Konservativer sagte: »Glaubst du das wirklich? Aber Carl! Auch heute hat doch jeder Existenznöte. Es gibt Neid und Haß. Die Aggressionen haben zugenommen. Meinst du wirk‐ lich, mit mehr Bildung würden die Menschen besser?« »Wir steuern auf eine Total‐Intellektualisierung zu!« rief die Neue. »Spezifisches Syndrom einer neurotischen Edukationsmaximie‐ rung.« Holte Luft für einen weiteren Zwischenruf, aber die rundli‐ che Frau neben Gisevius sagte: »Kannst du das mal verständlicher ausdrücken?« Er platzte dazwischen: »Ja! Edukationsmaximierung ist doch nichts Schlechtes! Wir wollen, daß die Menschen imstande sind, ihre eigene und die Lage der anderen zu erkennen. Dann können sie sich aus ihren Ängsten und Nöten befreien. Dann wird nicht mehr zu‐ rückgeschlagen, es wird überhaupt nicht mehr geschlagen, man reicht dem anderen…« Die Maschine blinkte. ABGEORD GISEVIUS. IHRE REDEZEIT IST BEREITS ABGELAUFEN. Er nickte ergeben; die Zurechtweisung ärgerte ihn. »Wir haben die Gesellschaft nicht menschlicher, sondern in‐ humaner gemacht!« setzte die Linkssozialistin ihre Gegenrede fort.
»Die Arbeiterbewegung, früher, hatte das Ziel, die Gesell‐ schaftsform dem Menschen und nicht den Menschen der Gesell‐ schaftsform anzupassen, Herr Doktor Gisevius.« Aus dem Halbdunkel der Runde kam eine Stimme: »Es gibt über‐ haupt keine Arbeiter mehr.« »Soll ich das nun beklagen?« rief die junge Abgeordnete. »Die Produktionsmittel produzieren selbst, sie haben den Menschen von Lohnarbeit befreit. Aber die Entfremdung ist für viele geblieben. Das Kapital…« Am unteren Rand des Terminals flammte ein roter Lichtstreifen auf, die Maschine sagte: ABGEORD GISEVIUS. SIE WERDEN DRINGEND IN DER LOBBY ERWARTET. Unmöglich, dachte er, kann die erste Lesung des Antrags nicht versäumen. WIR WERDEN EINE PAUSE ZWISCHENSCHALTEN. Gisevius nickte erleichtert und verließ den Raum. »Ekelhaft!« sag‐ te er, als er über den hellerleuchteten Flur ging. »Jedesmal muß man diese Bekenntnislitanei herunterbeten.« Vor der Lichtschranke zur Halle steckte er seine Identitätskarte in den Kontrollschlitz, die Maschine sagte: SITZUNG SAAL IV WIRD IN 5 MINUTEN FORTGESETZT. Die beiden peinlich grau gekleideten Herren auf der Lederbank wirkten unangenehm. »Sie wollen mich sprechen.« »Doktor Carl Gisevius?« sagte der größere und sprang auf. »Bitte kurz. Wir sind in einer wichtigen Sitzung.« »Entschuldigen Sie die Störung«, wand sich der Mann. »Wir sind vom Wohnbezirk 17 beauftragt, Ihnen zu sagen – Sie sind doch im Wohnbezirk 17 registriert?« »Allerdings.« Sarkastisch sagte er: »Sind Ihnen die Landtags‐ abgeordneten so völlig unbekannt?«
»Bitte, es ist Vorschrift!« bemerkte der kleinere, der nun ebenfalls aufstand. »Wir müssen es Ihnen persönlich sagen.« Gisevius fauchte: »Was denn?« und wollte wieder zurück. »Der Wohnbezirk 17 hat melden lassen, daß Ihr Sohn Finn gestern nachmittag entführt und getötet worden ist. Der Täter ist gestän‐ dig.« »Es tut uns aufrichtig leid«, sagte der größere, aber Carl Gisevius hörte ihn nicht. Er schwankte, griff in die Luft, die beiden Verwal‐ tungsbeauftragten setzten ihn behutsam auf die Bank. »Finn!« murmelte er wachsbleich. »Ja«, sagte der kleinere. »Allerdings wurde die Leiche des Jungen noch nicht gefunden.« Gisevius murmelte: »Finn? Meinen Sie meinen Sohn Finn?« »Finn Gisevius«, sagte der Mann. »Gestern?« Der nickte. Da war dieser nächtliche Anruf? Sie mache sich Sorgen wegen des Jungen, hatte Christine gesagt. Hatte sie? Sie habe die Polizei ein‐ geschaltet. Der Junge sei nicht nach Hause gekommen. Waren das ihre Worte gewesen – verdammt, warum erinnerte er sich nicht genau? Finn habe sich auf Funkruf nicht gemeldet, was sie tun solle, wie weit könne er gelaufen sein, die Geräte hätten ja nur eine Reichweite von wenigen Kilometern. Bitte kein unnötiges Aufsehen, hatte er gesagt. Polizei nur wenn unumgänglich. Keine Affäre daraus machen. »Christine!« sagte Gisevius. »Warum hat meine Frau mich nicht informiert. Weiß sie es nicht?« Die beiden Männer blickten sich an. »Herr Doktor Gisevius«, sagte der kleinere umständlich. »Ihre Frau hat einen Schock erlitten. Sie liegt im Zentralkrankenhaus.« FORTSETZUNG BILDUNGSPOLITISCHER AUSSCHUSS SAAL IV ERSTER AUFRUF, fiel aus den Hallenlautsprechern herab. Carl Gi‐ sevius schloß die Augen, seine dicken Finger wischten durchs Ge‐
sicht. Plötzlich straffte er sich, reichte den beiden die Hand und sag‐ te: »Danke.« Die begriffen nicht. »Danke«, sagte er, »für Ihre Diskretion.« Ging zur Pförtnerloge und orderte ein Dienstfahrzeug, berührte die Ruftaste zum Saal IV, bedauerte, nicht in die Sitzung zurückkehren zu können, und beauf‐ tragte seinen Fraktionskollegen Berteis, ihn zu vertreten. Informierte über eine codierte Schaltung seinen parlamentarischen Assistenten, »aus persönlichen Gründen dringend verhindert zu sein«, auf der Meldezeile flammte bereits die Taxibestätigung auf. Und als er dann in der Mietkabine saß, allein und unbeobachtet, füllten sich seine Augen mit Tränen. Das Zentralkrankenhaus lag außerhalb der Stadt zwischen Wiesen und Birkenwäldern. Regenwolken hingen bis auf die Fahrbahn her‐ ab, das Taxi stoppte vorm Haupteingang, Gisevius steckte seine Karte in den Zahlschlitz und sprang federnd die Treppen hinauf. »Sie dürfen Ihre Frau sehen«, sagte der Arzt, »aber nur zehn Minu‐ ten. Sie braucht Ruhe, wir haben ihr einen Tranquilizer gegeben.« »Kann ich mit ihr sprechen?« Der Arzt sagte: »Vermutlich wird sie Ihnen nicht antworten. Aber sie versteht, was Sie sagen.« Sie lag schmal und eingefallen zwischen kalkweißen Kissen. »Meine Liebe«, sagte Carl. »Meine Liebe.« Zehn Minuten lang saß er an ihrem Bett und schwieg, betrachtete unentwegt das Gesicht, das wie aus mehreren übereinanderliegen‐ den Folien zusammengesetzt schien: Zuunterst die kräftig gebräunte Haut der dreiundzwanzigjährigen Tennisspielerin Christine Tansany, die Augen wie ein Hochlandsee, dunkel die Haare, sie war einzige Tochter einer begüterten, konser‐ vativen Familie am Ostfjord. Carl Gisevius, damals frisch promo‐ vierter Studienrat und eifriger Marktschreier für die Bildungsre‐ form, schien den Schwiegereltern windig. Aber Christine hatte sich
eine Methode zärtlicher Distanz zu ihren Eltern angeeignet; zu ihrer Selbständigkeit gehörte es, revolutionäre Ideen wie ausgefallene Kleidungsstücke zu tragen und mit einer Lässigkeit, die atemberau‐ bend war. Und ebenso lässig servierte sie den liberalsozialen Politi‐ ker als Verlobten. Die Folie darüber zeigte die Braut in hochbürgerlichem Spit‐ zenkleid, ein Diadem in den künstlich gewellten Haaren. Sie lachte über dies »barocke Theater«, wie sie es nannte, beherrschte ihren Part aber wie eine Traumrolle. Die Kaufmannstochter und ausgebil‐ dete Sportlehrerin begann, sich an Carls politischer Arbeit zu betei‐ ligen, und in der Selbstverständlichkeit, mit der sie futuristische Gesellschaftsmuster pries und vorlebte, übertraf sie ihn bei weitem. Aber nicht sie, sondern er machte Karriere. Christine Gisevius, die ihrem Beruf nie nachging, wurde sein Men‐ tor. Sie entschied – die nächste Folie trat hervor – über seine politi‐ schen Ziele, sie arrangierte seine Wahlreden, seine Anträge, seine Interviews und seine »ganz privaten Auftritte«. Wenn sie selbst einmal eine Ansprache hielt, benutzte sie Schlagwörter wie: »Eigen‐ ständigkeit der Frau«, »überholte Form bürgerlicher Rollenteilung«, erfand neue wie: »Rückkehr der Männer in eine menschlichere Ge‐ sellschaft« und: »Interessenausgleich zwischen den Geschlechtern«, aber tatsächlich trat sie in seinen Schatten. Dann wollte sie ein Kind, empfing Finn und zog sich völlig ins Haus zurück, das sie von seinen Eltern geerbt hatten. Es lag fern der Stadt irgendwo zwischen Heide und Deich und oberhalb einer Chaussee, die in versteckte Marschendörfer hinausführte. Carl lä‐ chelte: Seine Frau wurde eine radikale Mutter, natürlich Stehgeburt, keine Medikamente, keine Hebamme, sie stillte das Baby fast zwölf Monate und erzog es nach einer frisch importierten und noch heiß umstrittenen Methode. Carl brauchte ein paar Jahre, bis er begriff, daß es eine besondere Form von Affenliebe war, die sie an das Kind band.
Über allen anderen die letzte, mikrodünne Folie der jetzt neun‐ unddreißigjährigen, einer Frau, die ihm nah und vertraut war und plötzlich seltsam unbekannt schien. Ihr fremder, ferner Blick, sehr tief unter den schwarzen Brauen versteckt, war bereits seit mehreren Minuten auf ihn gerichtet. »Meine Liebe«, nickte er. Sie sagte: »Das arme Kind.« 4 N 13.40778004.M ANNO AHLS. PROZESS 5.316. URSACHENFINDUNG. Der Abzuschirmende betrat den Findungs‐ saal. Er trug einen hellblauen Standardanzug, sein blasses Gesicht mit den vollen, eingeklemmten Lippen ließ ihn älter erscheinen, als er war. Anno wurde von einem Schirmungsbetreuer begleitet, der mit ihm zusammen am linken Ende des u‐förmig aufgebauten Ver‐ handlungstisches Platz nahm. Der Privatvertreter (früher sagte man Strafverteidiger) saß auf der anderen Seite von Anno, auf den nächs‐ ten Plätzen zwei Gutachter, dann vier Schöffen mit den beiden Rich‐ tern, ein Arzt und der Öffentlichkeitsvertreter (wie man jetzt den Staatsanwalt nennt). Die beiden letzten Plätze waren leer. »Aufzeichnung des Prozesses unter Geheimstufe 3«, sagte der Ers‐ te Richter und blickte den Privatvertreter an, der nickte. »Schutz der Persönlichkeit«, sagte er und hakte mehrere Paragrafen ab; der Öf‐ fentlichkeitsvertreter fügte hinzu: »Ich werde die Ursachenfindung entsprechend kennzeichnen lassen.« Ein alter Schöffe neben dem Richter sagte: »Wozu Ursachen‐ findung? Herr Ahls ist geständig.« »Wir wollen heute gemeinsam ermitteln, was Sie zur Tat veranlaßt hat«, sagte der Zweite Richter gestelzt und lächelte Anno freundlich zu. »Vorher möchten wir Sie etwas näher kennenlernen. Wollen Sie uns dabei helfen?«
Bevor Anno antworten konnte, sagte sein Privatvertreter: »Ja.« »Akte 5.316. Personalien Anno Ahls«, forderte der Erste Richter ab, der Videoschirm vor ihnen produzierte in rascher Folge grüne Buchstaben. N 13.40778004.M ANNO AHLS, GEB… IN NORDERUM, IN ABSCHIRMUNG SEIT… MUTTER N 13.40657324.F SYBILLE AHLS, VATER NICHT GEMELDET. LEBTE DIE ERSTEN VIER JAHRE SEINER KINDHEIT IN EINER KOMMUNE IN NORDE‐ RUM, ANGABEN UNTER 4.317 BEZIRK 14, MUTTER GAB IHN ANSCHLIESSEND ZU IHREN ELTERN NACH ALBY. Wieder folg‐ ten Registriernummern und Codes, die Maschine zählte Arztbesu‐ che, Einschulungstermin, Schulergebnisse, Impfungen, Auszeich‐ nungen auf, brachte Daten der laufenden Gesundheitsprüfungen, EKG‐ und EEG‐Analysen, stellte fest, daß bisher keine andere Normverletzung registriert worden sei. »Die Voruntersuchung!« sagte der Erste Richter. Das Licht auf dem Terminal wechselte auf Gelb, sprang auf Grün zurück, der Monitor zeigte Annos Gesicht. WARUM BESCHÄFTIGT IHR EUCH MIT MIR. Jetzt sah man auch die Ermittlungsbeamtin. ERZÄHL MIR VON DIR, ANNO ÜBERFLÜSSIG. WIE LANGE BIST DU IM GLADERNES‐HEIM. Auf einem zweiten Bildschirm erschienen wieder Buchstaben. GLADERNES‐HEIM. EINTRITT ANNO AHLS AM…, KLASSE 06, GEMEINSCHAFT 061, TUTOR K 34.10001277.M, Kolonnen von Codezahlen. Der Junge auf dem Bildschirm sagte: SIE HABEN SICH ALSO GEIRRT, ALS SIE MICH VERHAFTET HABEN. Einer der Gutachter berührte die Taste vor seinem Platz, die Moni‐ tore erloschen. »Bist du damit einverstanden gewesen, daß du ins Gladernes‐Heim kamst?« fragte er.
Anno, mechanisch: »Ja.« »Aber du hättest doch zu deiner Mutter zurückkehren können. Es ist mir nicht klar, warum du nicht zu deiner Mutter gegangen bist, als der Haushalt deiner Großeltern aufgelöst wurde.« »Mutter«, wiederholte Anno. »Sybille?« Er sagte: »Ohme wollte nicht, daß ich in Norderum blieb.« »Aber später?« Er sagte: »Sybille?« und schüttelte den Kopf. Der Privatvertreter gab in die Aufzeichnung ein: »Frau Ahls hat mich wissen lassen, daß sie mit der Sache nicht behelligt werden will. Sie wird auf keinen Fall an der Ursachenfindung teilnehmen.« Der Terminal blinkte. »Sie ist verantwortlich für ihr Kind!« rief der alte Schöffe. »Nein«, sagte der Zweite Richter und wies ihn geduldig zurecht, »elterliches Fehlverhalten – soweit es hier in die Akten auf‐ genommen werden soll – kann sich nur auf die festgelegte Er‐ mittlungszeit beziehen. Sie umfaßt nicht den Bereich der ersten vier Lebensjahre des Abzuschirmenden.« Der andere Gutachter sagte: »Im Sinne unserer Resozialisierungs‐ bemühungen sind seine jetzigen Lebensumstände maßgeblich, nicht die von vor zwölf Jahren.« »Ich bitte, die Äußerungen im Zusammenhang mit Frau Ahls zu löschen«, sagte der Privatvertreter und belehrte den Schöffen: »In Gerichtssälen werden nicht mehr Schuld und Verantwortlichkeit, – sondern Umstände ermittelt.« Der Zweite Richter lächelte nachsichtig, er dachte: Es heißt auch nicht mehr ›Gerichtssaal‹, sondern ›Findungssaal‹. Aber er kam nicht dazu, seine Bemerkung loszuwerden. UNTERBRECHUNG DER SITZUNG, signalisierte der Terminal, über der Saaltür leuchtete eine Kontrollampe, das Ehepaar Gisevius trat ein. Sie hätten sich leider verspätet, entschuldigte sich der Land‐ tagsabgeordnete, die Unbedenklichkeitsuntersuchung Christines –
er machte eine weit ausholende Geste. Der Öffentlichkeitsvertreter sagte: »Das Ehepaar Gisevius nimmt auf eigenen Wunsch als Beisit‐ zer der Öffentlichkeit teil.« »Fühlen Sie sich in der Lage?« sagte der Zweite Richter, Christine nickte. Nachdem sie dem Terminal ihre Daten eingegeben und neben dem Öffentlichkeitsvertreter Platz genommen hatte, sah sie zum ersten Mal in das kindliche Gesicht des Mörders. Wie jung er ist! dachte sie. Und: O Gott, wie muß es in ihm aussehen! »Die Mutter hat ihr Kind übel vernachlässigt!« beharrte der alte Schöffe. »Neues Recht hin, neues Recht her, das wäre einfach nicht passiert, wenn sie ihre Verantwortung nicht ständig auf andere ab‐ geschoben hätte.« Der Zweite Richter sagte gereizt: »Ich muß Sie bitten, dazu keine weiteren Bemerkungen zu machen. Seien Sie froh, daß wir Ihre Schuldbehauptung nicht protokolliert haben.« »Ich habe großes Verständnis für Ihre Gefühlsaufwallung, lieber Herr«, sagte Annos Privatvertreter und beugte sich vor, um den Schöffen besser sehen zu können. »Aber bedenken Sie, daß uns die Justizreform davon befreit hat, Schuld zuzuweisen, zu strafen und zu sühnen. Wir haben uns von diesem mittelalterlichen System end‐ lich getrennt. Hier wird niemand mehr angeklagt.« Gisevius nickte beifällig. Der Zweite Richter konnte es nicht lassen einzuwerfen: »Mittelalterlich, Herr Kollege? Es ist uraltes römisches Recht, wurzelt in antiker Vorzeit.« Der Erste Richter klopfte ungeduldig auf den Tisch. »Kommen wir zur Sache!« sagte er. »Sind die Fragen zum Lebenslauf abge‐ schlossen?« Eine aufgeregte Frau meldete sich. Sie war zum ersten Mal Schöf‐ fin, nächtelang hatte sie über Literatur des neuen Rechts gebrütet, all die ungeläufigen Ausdrücke verwirrten sie. »Ich möchte… bitte… ich meine…«, setzte sie an. »Wenn er doch einen so entsetzlichen Mord begangen hat – warum gibt es denn niemanden… er ist sech‐
zehn – voll verantwortlich…« Sie wußte in ihrem Eifer keine Sätze zu bilden, sagte etwas von »brutal«, »sadistisch«, »gefährlich« und brach ab, ihre Ohren waren puterrot. »Die Normverletzung, die Sie Mord zu nennen belieben«, sagte der Zweite Richter, »ist eine Tötung unter besonderen Umständen, Frau Schöffin. Ich deute Ihre Frage so, ob aus früherem Verhalten des Abzuschirmenden schon erkennbar gewesen sei, daß er zu Ver‐ letzungen der Sozialnorm tendiert?« »Ich meine, die Daten haben diese Frage ausreichend beant‐ wortet«, sagte der Privatvertreter schnell. »Hat sich denn irgend jemand aus der Familie um den Jungen ge‐ kümmert, als die Großeltern nicht mehr da waren?« rief der alte Schöffe, sagte noch: »Oder ist diese Frage auch nicht zulässig?« »Hier ist jede Frage zulässig«, erwiderte der Erste Richter. »Unser Ziel ist es, die Ursachen zu ermitteln und nach Möglichkeit zu besei‐ tigen, Schaden abzuwenden und den Abzuschirmenden wiederher‐ zustellen.« Der Öffentlichkeitsvertreter sagte mit erhobener Stimme: »Es ist unser Interesse, bei einer derartigen Normverletzung eine Wieder‐ holung mit hundertprozentiger Sicherheit ausschließen zu können.« »Ihre Frage, Herr Schöffe, kann ich nur mit Nein beantworten«, sagte der Privatvertreter. »Beachten Sie: Jedes dritte Wort, das der Junge spricht, heißt ›überflüssig‹. Überflüssig – so fühlt er sich. Man nahm eben nie Notiz von ihm.« »Niemand, der ihn besuchte? die Mutter nie? keiner aus der Wohngemeinschaft, in der er die erste Kindheit verbrachte?« Dem Privatvertreter war die Frage ungelegen. Knapp sagte er: »Nein.« »Aber andere Heimkinder haben deshalb noch lange nicht eine so bestialische Tat begangen!« entfuhr es der jungen Schöffin. Der Privatvertreter sprang auf. »Herr Richter, von Ihrer Seite des Tisches wird laufend die Verfahrensordnung verletzt! Ich muß dar‐ um bitten…« Zwei Minuten lang redeten alle durcheinander.
Christine saß unbeteiligt, ihr war, als sei sie jenseits einer endlosen Dämmerung. Das weiche, weiße Gesicht des Jungen schwebte auf sie zu. … BIN ICH DER MEINUNG, DASS ANNO AHL, UM SICH SELBST ZU SCHÜTZEN, IN EINE SCHIZOIDE HALTUNG GEFLOHEN IST, DIE IN MOMENTEN NERVÖSER ANSPAN‐ NUNG TATSÄCHLICHE PERSÖNLICHKEITSSPALTUNG HERVORRUFT. ER IST NICHT IN DER LAGE, SICH SPÄTER AN GESCHEHNISSE WÄHREND DIESES SCHUBS ZU ERINNERN. EINE AUSGLEICHENDE UMGEBUNG, IN DER SICH AUCH SEINE SENSIBEL‐EROTISCHE GRUNDHALTUNG ENTFALTEN KÖNNTE, WÜRDE… Die Bemerkungen der Ermittlungsbeamtin kleckerten aus dem Terminal. Christine schob Anno ihre Hände entgegen, aber er war weit weg, kaum daß sie ihn erkennen konnte. »… erfolgreiche Resozialisierung möglich«, redete inzwischen der erste Gutachter. »Wir meinen, daß alle Daten signifikant darauf hin‐ deuten, daß eine Fortsetzung der Abschirmung eher schädlich als nützlich sein dürfte. Isolation hat den Jungen überhaupt erst zu die‐ sem verzweifelten Schritt getrieben. Was er braucht, ist eine leitende Hand und eine sozial feste Umgebung, die…« Christine glitt tiefer und tiefer in die Dämmerung, ihr Mann sagte: »… unersetzlicher Verlust…« und: »… Antrag auf Wie‐ dergutmachung unmöglich…«, dann floß sie zu Boden. »Unterbrechung!« schrie der Arzt. In diesem Augenblick brach’s aus dem Jungen hervor, er sprang auf und sagte heftig: »Warum machen Sie das? Warum bin ich plötzlich so wichtig? Sehen Sie, was Sie angerichtet haben? Bitte, ich will zurück. Ich will zurück!« Der alte Schöffe fragte staunend: »Ins Heim?« »Hört doch auf!« rief der Junge weinend.
»Bitte erläutern Sie Ihrem Klienten die Prozedur«, sagte der Erste Richter zum Privatvertreter. »Ich verfüge eine Pause von zehn Mi‐ nuten.« Während alle hinausgingen, brabbelte der alte Schöffe: »Das ist zu viel für das Kind! Ein Wahnsinn, seine Seele vor uns allen zu zerle‐ gen und drin herumzustochern. Er hat es getan, hat’s gestanden, damit basta!« Die junge Frau fuhr ihn an: »Was sind Sie für ein Mensch! Tut Ihnen die arme Mutter nicht leid, die man hinaustragen mußte, was hat sie Schreckliches erdulden müssen! Was wird sie noch zu ertragen haben! Früher wurde ein Kindermörder aufge‐ hängt, und alle wußten, daß es Recht war. Ich würde mich nie damit abfinden, daß ein Kerl, der mein Kind zu Tode gequält hat, frei he‐ rumlaufen dürfte.« »Ja…«, machte der Alte bedächtig, »Recht und Recht ist nicht das‐ selbe. Man hat nicht einfach die Begriffe ausgetauscht, nein, man hat ein grundsätzlich anderes Rechtsdenken eingeführt. Uns beiden fällt’s schwer, sich daran zu gewöhnen, wir sagen immer noch ›Aug’ um Auge‹, nicht wahr, das ist Altes Testament, paßt nicht in unsere humane, freie Gesellschaft. Statt Häftling sagt man jetzt ›Abzu‐ schirmenden‹, der Knast heißt ›Abschirmung‹, und ›Restauration‹ gibt es anstelle der Sühne.« Er suchte nach einem Taschentuch und schneuzte umständlich die Nase. »Andere Wörter meinen auch et‐ was anderes, junge Frau«, plauderte er weiter. »Da wird nicht, wie früher, einer aus der Gesellschaft ausgeschlossen, sondern er soll nur so lange abgeschirmt werden, bis man eine Therapie gefunden hat, um ihn wieder einzupassen. So ist das.« »Sehr human!« bemerkte sie sarkastisch. »Und wann findet man eine Therapie für seine Umgebung? Werden nicht alle mit den Fin‐ gern auf ihn zeigen und rufen: Das ist der Mörder vom kleinen Finn?« Die beiden Richter kehrten in den Saal zurück, der Terminal summte. »Ich begreife nicht«, sagte sie. »Es ist kompliziert, schreck‐ lich kompliziert.«
»Jetzt werden wir die Plädoyers hören«, lächelte der alte Mann; sie nahmen wieder Platz. »Möchten Sie zuvor eine Erklärung abgeben?« fragte der Erste Richter den Privatvertreter. »Oder Ihr Klient?« Der Mann schüttelte den Kopf, Anno nickte. »Bitte«, sagte der Richter. Anno begann: »Ich habe nicht gewußt – ich wußte nicht, was hier geschieht – Sie reden über Finn, Sie sagen Finn Gisevius – aber was Sie erzählen, kann nicht stimmen, Finn war ein prächtiger Kumpel, ich mochte ihn gern – es war ganz anders – es war… bitte, Sie müs‐ sen wissen, wie gut wir uns verstanden haben…« Er sackte auf sei‐ nen Sitz, der Erste Richter sagte: »Die Plädoyers!« Anno murmelte: »Ich habe Finn getötet?« 5 Matt und undurchsichtig waren die Scheiben um ihn herum, Anno blinzelte, preßte die Hand auf die Sensortaste, da wurde es heller, hinter den Fenstern bildete sich das Panorama des Föhrenwaldes, Sonnenlicht sickerte durch die Baumspitzen, er atmete tief, mußte husten. Seine Schritte waren unsicher, er stützte sich auf eine Stuhl‐ lehne und meinte, den Wind zu spüren und das nahe, salzige Meer, inzwischen wußte er, daß die Welt dort draußen nicht wirklich war, ein Videobild, ganz nach Wunsch zu schalten, damit die Insassen das Gefühl von Freiheit nicht entbehrten. Die Richter hatten ihren Spruch gedrechselt, er versuchte, ihn ein‐ zudeutschen, und zählte das Prozeßergebnis an den Fingern auf: »Sofortige Rehabilitation!« sagte er. »Resozialisierung über fünf Jah‐ re mit Abschlußtest. Keine Restauration.« Die Fremdwörter kamen ihm schwer über die Lippen. »Das heißt«, hob er den ersten Finger hoch: »Sie müssen mich sofort rauslassen.« Er streckte den zweiten Finger aus: »Dann kriege ich Sorgeeltern, die müssen mich fünf Jah‐
re lang bemuttern.« Der dritte Finger kam zögernd: »Keine Restau‐ ration?« wiederholte er. »Das bedeutet, es muß nichts gezahlt wer‐ den?« Er schüttelte den Kopf. »Wofür bezahlen. Ich verstehe nicht, was mit diesem Begriff gemeint ist…« Wieder schienen sich die Scheiben zu verschleiern, er suchte die Sensortaste, ihm war schwindlig. Der Wald schwamm wie Aquariumpflanzen. »Ich will raus! Raus! Frei sein!« sagte er weinerlich. »Laßt mich endlich in Ruhe!« Er schien kurze Zeit geschlafen zu haben, jetzt weckte ihn helles Sonnenlicht. Sofort sagte er wieder: »Ich will raus!« WARTE BIS MORGEN. WIR HABEN DIR EINE PSYCHOSPRITZE GEGEBEN. EIN HARMLOSES MITTEL, ES WIRD DIR GUTTUN. DU MUSST DICH ENTSPANNEN, ANNO, ERST MUSST DU DICH ENTSPANNEN. Es war niemand im Zimmer, das wußte er genau, also war’s wie‐ der eine von den verdammten Roboterstimmen, eine Beru‐ higungsdusche, die auf seine Worte reagierte. »Wieso morgen?« quäkte er. »Der Prozeßbeschluß heißt: sofortige Rehabilitation.« DAS BEDEUTET INNERHALB VON ACHTUNDVIERZIG STUNDEN. ENTSPANNE DICH JETZT. SCHLAFE. Anno rief: »Ich will raus!« Träumte. Stunden später erwachte er wieder, war es Abend? Nacht? Mor‐ gen? Sein Kopf schien frei, aber Arme und Beine hingen schwer wie nach stundenlangem Balltraining. »He!« sagte er. »He, Robby, wie spät ist es?« Sofort meldete sich die Stimme. BIS ZUR ENTLASSUNG MORGEN FRÜH NEUN STUNDEN. FÜHLST DU DICH BESSER. »Beschissen«, sagte er. INFO ABWARTEN. »Ich bin hungrig.« INFO ABWARTEN.
Er beschloß, ins Erholungscenter zu gehen, verließ den Raum und folgte orangefarbenen Lichtsignalen in der Fußbodenrampe. Sie lei‐ teten ihn zu einer Tür, die auf leichten Druck hin aufschwang, ihn empfing der schweißwarme Holzgeruch einer Sauna. Duschen, Schwimmbecken, Solarien, Sportraum, Leseraum, Videoraum, Spei‐ seraum mit Bar. Man verpaßte ihm einen weißen Bademantel, Plas‐ tiktaschen und einen Lotionsbeutel, softe Musik plätscherte neben ihm her. Nachdem er sich an Steak und Salat gestärkt hatte, durch‐ streifte er die weitverzweigten Räume. Wenig Publikum zu dieser späten Abendzeit, so schien es ihm, er kannte niemanden. Eine wohlgeformte blonde Frau mit jungen, graziösen Bewegungen fiel ihm auf, sie erinnerte ihn an ein Covergirl auf einem Magazin, das er ausgeschnitten und über seine Schlafkoje gepinnt hatte. Er folgte ihr in die Saunakammer und ins Schwimmbecken, sie schien ihn nicht zu beachten. Plötzlich standen sie sich unmittelbar gegenüber: die Brillenschlange! »Hei, Anno!« sagte sie und zog sich langsam den Bademantel über die Schultern. »Sie? Haben Sie nie Feierabend?« »Nie«, lächelte sie. »Sie sind immer im Gefängnis – in der Abschirmung, meine ich?« Sie lächelte: »Immer.« »Brach!« Er schüttelte sich. »Hat es dir bei uns nicht gefallen?« Er sagte steif: »Überflüssig. Absolut überflüssig.« Ihre langen, glatten Haare machten ihr Gesicht noch schmaler, vom Mittelscheitel fielen die Strähnen bis zu den Brüsten herab, von den Spitzen tropfte das Badewasser auf ihre kleinen Füße. »Besuch mich mal, Anno«, sagte sie und lächelte noch immer. Er schrak zusammen. »Hier?« Sie sagte: »Warum nicht?«, und ließ ihn stehen. Er schlenderte in den Sportraum, bestieg ein Velomed, wählte die schwerste Stufe und trat mißmutig in die Pedale. Die Begegnung mit
der Ermittlungsbeamtin hatte ihm bestätigt, was er, das Heimkind, schneller begriff als andere Abzuschirmende: Sie wurden ständig von unsichtbaren Robotern überwacht. Es gab keine verschlossenen Türen und keine Wärter, nirgendwo sah er eine Waffe, und die An‐ gestellten benutzten dieselben Gänge, Räume, Kantinen, Freizeitein‐ richtungen und Versorgungsstationen wie die Gefangenen, ohne Gewalttätigkeiten befürchten zu müssen. Wieder dachte er an den ersten Vernehmungstag, als er mit geballten Fäusten auf die Brillen‐ schlange losgesprungen war und ein Lichtblitz sein Gehirn und sei‐ ne Glieder lähmte. »Irgendwie machen sie es«, keuchte er und drehte wütend die Pe‐ dale, »mit Strahlen oder Drogen, oder beidem, sie haben uns jede Sekunde im Griff.« Er stieg vom Velomed, nahm ein frisches Handtuch aus einem Spender und dachte darüber nach. »He, Robby!« rief er zur Decke. »Ich will raus. Wieviel Stunden sind es noch bis zur Entlassung?« Aber die Roboterstimme meldete sich nicht. Er setzte sich ins Kino, lehnte im Sessel zurück und versuchte nicht, einen Handlungsfaden zu finden. Es war ein zärtlicher Porno‐ film, wieder mußte er an die Brillenschlange denken. ANNO AHLS INFO SOFORT AUFENTHALTSRAUM AUF‐ SUCHEN. ANNO AHLS INFO. »O Robby!« stöhnte er. »Gerade jetzt!« Wollte sitzen bleiben, sich im halbdunklen Keuchen und Streicheln verstecken, aber aus Furcht vor einem neuen Blitzschlag erhob er sich und marschierte los. MITTEILUNG FÜR N 13.40778004.M ANNO AHLS, IDENTI‐ TÄTSKARTE EINGEBEN. Er steckte die Karte in den Schlitz neben der Tür, die unmodulierte Roboterstimme sagte: ENTLASSUNG SECHS UHR. ALLES PERSÖNLICHE EIGENTUM MITNEHMEN. STARTGELD AUF KREDITKARTE 5.000. BESONDERER HINWEIS: DU WIRST ABGEHOLT. ES HABEN
SICH SORGEELTERN GEMELDET, DIE VON DER FORENSIE ÜBERPRÜFT UND FÜR GEEIGNET ERKLÄRT WORDEN SIND. SIE WERDEN DICH ZU SICH NEHMEN. SELBSTVERSTÄNDLICH MUSST DU EINVERSTANDEN SEIN. ZUM KENNENLERNEN IST UM FÜNF UHR DREISSIG IN DEINEM AUFENTHALTSRAUM EIN VORGESPRÄCH VEREINBART. DANACH HAST DU VIER WOCHEN ZEIT, DAS ANGEBOT ANZUNEHMEN DIE… »Was für Sorgeeltern?« schrie Anno. »An wen werde ich ver‐ hökert?« Trommelte mit der Faust gegen die blinde Wand, weitere Informationen erhielt er nicht. »Sorgeeltern!« sagte er nervös. »Aufpasser. Lichtschläge. Drogen.« Durfte er die Leute ablehnen, andere suchen? Wünsche anmelden? Er mußte seinen Privatvertreter sehen, diese wichtigen Fragen hatte er nicht mit ihm besprochen. »Ich will raus!« rief er. ES STEHT DIR NICHTS IM WEGE. OFFIZIELLE ENTLASSUNG SECHS UHR. VORGESPRÄCH FÜNF UHR DREISSIG. Sie haben uns jede Sekunde im Griff, dachte er. ENDE DER MITTEILUNG. Er sagte ergeben: »Sorgeeltern.« Pünktlich um halb sechs meldete die Türkontrolle zwei Besucher. Vor ihm stand das Ehepaar Gisevius. Nach langem, starrendem Schweigen sagte die Frau: »Wir müssen alle drei einen neuen Anfang suchen. Gestern und heute passen nicht mehr zusammen, für dich nicht, und für uns nicht. Du solltest uns dabei helfen, und wir versuchen, dir behilflich zu sein.« Sie sah ihn an, dann glitt ihr Blick aus seinem Gesicht. »Ja, weißt du«, begann der Mann umständlich, »wir kennen uns schon ganz gut, nicht wahr? Wir kennen uns doch inzwischen. Du weißt, wer wir sind, und wir wissen… da, vielleicht wissen wir’s auch nicht, wir wollen uns nicht einbilden, es besser zu wissen als der Betroffene.«
»Sie?« sagte Anno. »Du hast unser Angebot«, sagte Carl Gisevius. »Wir nehmen dich bei uns auf, fünf Jahre lang hast du alle Möglichkeiten, aus dir selbst etwas Vernünftiges zu machen. Du kannst die Schule weiter besu‐ chen oder eine andere oder gleich einen Beruf lernen. Du kannst leben, wo und wie du willst, vorausgesetzt, du hältst in allen wich‐ tigen Fragen zu uns Verbindung. Du wirst frei sein – in welchem Umfang, bestimmst du selbst.« »Du verstehst es jetzt vielleicht noch nicht«, sagte Christine Gise‐ vius. »Du kannst sicher noch nicht begreifen, warum wir, die Eltern, es gut mit dir meinen. Wir meinen es gut, da kannst du sicher sein, wir bringen es nicht fertig, dir Böses zu wünschen, Böses hast du im Übermaß erlebt. Es wird dich viel mehr und viel länger quälen als uns, wir wollen es zusammen mit dir überwinden. Das ist eine Chance für uns alle.« »Es ist ein Probemonat vereinbart«, sagte der Mann. »Du kannst an jedem Tag dieses Monats von unserem Angebot zurücktreten. Es werden dir daraus keine Nachteile entstehen. Wenn der Monat vor‐ bei ist, gehen wir davon aus, daß unser Abkommen gilt: Wir fördern deinen Start, und du bemühst dich, unseren Vorstellungen entspre‐ chend zu leben.« Die Frau sagte: »Du brauchst dich nicht gleich zu entscheiden. Wir wollen dich nicht überrumpeln. Wir haben lange darüber nachge‐ dacht, und du mußt auch darüber lange nachdenken. Wir halten es für richtig, dir dieses Angebot zu machen. Wir müssen es einfach versuchen, wir beide – wir drei. Warum sollten wir das anderen, fremden Leuten überlassen?« Anno starrte in das eine, das andere Gesicht. Ihm war kalt. »Ja«, sagte er. Gisevius trat auf ihn zu, reichte ihm die Hand und sagte: »Carl. Für dich bin ich Carl, Junge.« »Ich heiße Christine«, sagte die Frau.
Er folgte den beiden durch alle grünmarkierten Gänge, draußen war trüber Novembermorgen. 6 Das Haus des Landtagsabgeordneten Gisevius und seiner Frau im Wohnbezirk 17 war kleiner, als Anno es in Erinnerung hatte, die Fenster nicht so hoch, so grün der Rasen nicht. Ein Bungalow, wie sie vor etwa vierzig Jahren zu Dutzenden in diesem stillen Dünen‐ land entstanden, die Menschen zogen aus Städten in ihre parzellier‐ te Beschaulichkeit. Wohlstand machte Boden zur Wertanlage, ob‐ wohl er real keinen Wert besaß: war unfruchtbar, sandig, das Grundwasser mit Meersalzen gemischt. Man verzichtete auf nahe Schulen, Theater, Treffpunkte, auch die Versorgungskabel reichten nicht bis hier. Er habe das Haus von seinen Eltern geerbt, sagte Gisevius, ein Er‐ innerungsstück, nicht sehr bequem. Schön sei jedoch die weite Sicht aufs Meer, nur sei er leider selten da, sie zu genießen. Anno sagte: »O Mann, du brauchst dich für dein Haus nicht zu entschuldigen.« Bis in den nächsten Ort gehe man eine halbe Stunde oberhalb der Chaussee, am Wald, heutzutage könnten sie auch in dieser Einöde die Einkäufe per Sichtschirm bestellen, doch damals seien sie täglich mit dem Rad ins Dorf… »Ich fahre gern Rad!« unterbrach der Junge. »Man riecht und schmeckt und fühlt das Land.« Carl lachte. »Du bist ein Dichter«, sagte er. Anno wurde rot. »Es wird dir hoffentlich gefallen, wie wir wohnen.« Der Junge: »Du klopfst lauter Sprüche.« »Ja«, sagte der Mann verlegen. »Das ist mein Beruf.« Sie waren vor dem Haus; der Nebel löste sich in Regen auf.
»O Mann, das ist hier schön!« sagte der Junge. Ihm war, als sei er jetzt zum ersten Mal hier, als habe er noch nie an dieser stachligen Berberitzenhecke gestanden, das dürre, mit Disteln durchsetzte Gras betreten, zum ersten Mal sah er die lichtschrankengeschützte Ter‐ rasse neben dem Haus. »Wir wollen frühstücken«, sagte Christine. »Trinkst du Tee?« Das Zimmer, das sie Anno herrichteten, war übersichtlich klein, die Wände kahl noch, sollte er selbst mit Bildern, Fotos, Holopostern füllen. Er dachte an das Pinngirl über seinem Bett in Gladernes und verwarf es wieder. »Du wirst schon etwas finden, es hat keine Eile«, sagte Carl. Der Blick aus dem zimmerhohen Fenster fiel auf einen Föhren‐ wald, der zwischen Chaussee und Heide den Hang überzog, ein Bild wie auf dem Panorama in der Abschirmung, doch dieser Wald war wirklich. »Die Kiefern da…« »Ja?« sagte Christine. Anno schwieg, entschlossen, jede Kulisse seines sechzehnjährigen Lebens zu vergessen, den achteckigen Raum ebenso wie die Schlaf‐ kojen im Gladernesheim, das rote Backsteinhaus der Großeltern in Alby, den Bauernhof in Norderum und jenen Bootsschuppen, in dem ein alter Mann, an dessen Namen er sich nicht erinnerte, von unheimlichen Reisen erzählte. Er lief durchs Haus und durch den Garten, wieder durchs Haus, er sagte: »Mein Fahrrad! Es ist noch… ist noch in…« »In der Garage sind Räder«, sagte Christine. »Nimm dir eins!« Und Carl: »Ich sehe, du hast kein Armband. Ich möchte dir eins mitgeben. Bitte, nimm es an dich!« Anno wehrte ab. »Gut«, lenkte Christine ein. »Heute noch nicht.« Lange Stunden radelte er durch den Novembertag, Sprühregen wusch ihm das Gesicht, gegen Mittag quoll eine kalte Sonne aus dem Himmel. Er kam in das Dorf, in dem neben der Kirche der Au‐
tomat mit den prächtigsten, zartesten und heißesten Pommes frites aufgestellt war, nirgendwo sonst schmeckten sie ihm so ausgezeich‐ net, er hielt an, steckte seine Kreditkarte in den Zahlschlitz und or‐ derte eine doppelte Portion Ketchup. »Den Arsch kennen wir doch«, sagte jemand hinter ihm, schon drängten sich mehrere Jungen heran. »Wir sind zu fein für ihn, seit er im Knast gesessen hat«, meinte ein anderer. Ein dritter: »In der Abschirmung.« »He, Anno!« schrien sie. »Bist du gut beschirmt, du Schirm, du Abschirmer.« Der große Kerl, mit der er sich im Waschraum geprügelt hatte, baute sich vor ihm auf. »Redest nicht mehr mit uns, was, groß an‐ geben und verduften, das könnte dir so passen, daraus wird nichts, los sag schon, was war, warum, du Arsch! Und warum sitzt du jetzt hier, Feiertagssöhnchen, sie haben dich nicht behalten wollen?« Anno schob die Kartoffelchips einzeln in den Mund, langsam, ge‐ nießerisch, und erstarrte in dieser Bewegung, als ihm der Große den Plastikteller aus der Hand riß und auf den Boden warf. »Rede schon, rede!« Anno, stumm, bewegte sich nicht. Sie stießen ihn, drängten heran und prügelten los, er wehrte sich nicht. Schläge und Tritte trafen Schultern, Bauch und Rücken, ein Gürtelschloß die Stirn. Als ihm der Atem wegblieb, kam der Ruf: »Der Pfaffe!« Sie rannten fort, Ket‐ chup verklebte ihm die Augen. Der Mann in der langen Soutane half ihm auf. »Bin okay«, keuchte Anno. Er wurde aufmerksam betrachtet. »Wasch dir’s ab!« sagte der Pfarrer. »Werden sehn, ob du okay bist.« Anno folgte ihm, beugte sich gleichmütig übers Waschbecken, nahm die dargebotene Seife und fuhr mit beiden Händen durchs Gesicht, die Haut brannte. Dann sah er rotgefärbtes Wasser in den
Ausguß laufen, Schweiß brach ihm aus dem Schoß, er klammerte sich fest, biß die Zähne aufeinander, sein Blick wurde leer. »Das ist nicht nur Ketchup«, sagte der Pfarrer, packte ihn unter den Schultern und setzte ihn auf eine Couch. »Bin okay«, sagte Anno. Der Pfarrer: »Du bleibst hier sitzen, bis du Kräfte gesammelt hast«, und musterte aufmerksam das wachsbleiche Gesicht. »Wie heißt du?« »Anno.« »Wie weiter?« forschte der Pfarrer. »Woher kommst du?« Da purzelte es aus ihm heraus: »Wohnbezirk 17, Neue Landstraße 254, Gisevius.« Ja! dachte er. Ja. Ja. Ja! »Gisevius? Der Landtagsabgeordnete?« Ja. »Du bist ein Gisevius?« Ja. Der Pfarrer runzelte die Stirn. »Ich meine, ich hätte…«, doch er sprach nicht weiter. »Gisevius also«, sagte er schließlich. Ja. Ja. »Es ist weit dorthin«, sagte der Pfarrer. »Willst du dich nicht holen lassen?« Er stutzte. »Wo ist dein Armband?« »Fahr mit dem Rad.« »Meinst du’s zu schaffen?« Der Junge sagte: »Bin okay.« »Ja dann!« sagte der Pfarrer, und Anno nickte: »Danke.« »Wofür?« »Wäre bös für mich ausgegangen«, sagte Anno. »Wenn du willst, werde ich deinen Dank weitergeben«, meinte der Pfarrer und deutete mit dem Finger nach oben. Anno, schon vor der Tür, sah den rot zertrampelten Plastikteller, würgte, stieg aufs Rad und würgte und fuhr, ohne sich umzusehen. »Anno Ahls!« sagte der Pfarrer und schaute ihm nach. »Du bist das also.«
Es dämmerte bereits, als der Junge zurückkehrte, kurz zuvor hatte Carl besorgt gefragt: »Wir haben einen Fehler gemacht.« »In völliger Freiheit! hast du gesagt«, widersprach Christine. »Du hast von Anfang an darauf bestanden, ihn nicht einzusperren. Du sagtest, er müsse sich freiwillig hineingewöhnen.« Er hatte bereits die hellblaue Konfektion angezogen, den Ak‐ tenrecorder unterm Arm, um siebzehn Uhr begann in der Stadt eine Fraktionssitzung, anschließend würde er im Hotel übernachten. »Nun strampelt er durch den Novemberregen«, sagte sie. Und, heftiger: »Weißt du, weiß ich, was in ihm vorgeht? Was dieser Gar‐ ten, dieses Haus, Finns Zimmer in ihm auslösen? Wir müssen ihm jetzt voll vertrauen, auch wenn’s schwerfällt.« »Wir tragen die Verantwortung«, sagte er steif. Sie rief: »Mach’s mir nicht noch schwerer, Carl, ich bitte dich. Du hast schon so wahnsinnig viel verlangt.« Er nahm sie in den Arm, strich ihr mit eingeübter Bewegung übers Haar, murmelte: »Wir müssen dazu stehen. Jetzt müssen wir dazu stehen, so ist es doch.« Sie fühlte sich hohl. Als er die Fahrkabine bestieg, sagte er noch: »Hoffentlich kommt er bald«, und: »Wünschte, ich könnte heute hierbleiben.« »Werde dich anrufen«, erwiderte sie. »Ja«, rief er, »hinterlasse eine Nachricht, gut, sehr gut«, und glitt hinaus. Carl, sagts sie stumm. Ich schaff es nicht. Abendnebel kroch vom Meer herauf und in die Bäume, der Tag, kaum geworden, versickerte wieder. Sie hörte den Jungen das Rad in die Garage stellen. »Anno!« rief sie. Er fragte: »Bin ich zu spät?« »Wir hatten nichts vereinbart.« »Du meinst«, sagte er staunend, »ich durfte so lange unterwegs sein?«
»Hat es dir Spaß gemacht?« Auf diese Frage gab er keine Antwort, setzte sich auf den Tep‐ pichboden, Christine bemerkte die Wunde an seiner Stirn. »Bist du gestürzt?« Er schüttelte den Kopf. »Was war?« Er sagte: »Ich will nie mehr ins Heim. Nie!« Es drängte sie zu fragen, ob er in Gladernes gewesen, ob er ver‐ suchte…? Mich geht’s nichts an, dachte sie. Ich werde mich hüten, ihm nachzuspionieren. »Den meisten Menschen geht’s erbärmlich mies«, sagte er plötz‐ lich. »Den meisten.« Sie blickte ihn lange an. »Und dir, Anno? Wie geht es dir?« Sein Gesicht öffnete sich. »Christine!« strahlte er. 7 Die schmalbrüstige Provinzhauptstadt lag schon im Dämmerschlaf, als die Abgeordneten das Sitzungsgebäude verließen, über den un‐ ausgelüfteten Gassen glommen Laternen. Einige Schaufensterre‐ klamen spiegelten sich auf novembernassem Betonpflaster, die an‐ dern verbargen sich hinter unsichtbaren Gittern, ein vergessenes Fähnchen mit der Aufschrift EIS schaukelte im Nachtwind. »Vorlauf‐Speicher erschöpft!« äffte Gisevius die Sprache des Vi‐ deoterminals nach. »Und was speichern wir jetzt im Hauptlauf?« Lachte jovial, eine Kollegin sagte eilig: »Muß nach Hause, die Fami‐ lie wird ungeduldig, wenn ich so spät komme.« Gisevius hielt einen älteren, kurzatmigen Herrn am Schal fest. »Jens Pedersen! Noch auf ein Bier, oder ein Fläschchen Wein?« »Hab’s auf den Bronchien«, ächzte er. »Die Volksvertreter sind müde!« seufzte Gisevius. »Wer hat ein Herz für mich Strohwitwer?«
Berteis und ein jüngerer Kollege, dessen Namen er sich nie merken konnte, folgten ihm über den kahlen, düsteren Marktplatz, Nebel‐ nässe kroch ihnen unter die verschwitzten Hemden, sie übten mun‐ tere Sprüche. Das Bierlokal an der Marktgasse gefiel ihnen nicht, der Weinsepp gegenüber räumte bereits die Stühle auf die Tische, sie blieben vor schummrigvioletter Sexreklame stehen. LOLITA KENNT DIE GEHEIMSTEN WÜNSCHE – kam es aus ei‐ nem Werbeautomaten. Und: BUMS UND ERNA, DER HOCHSEILAKT. »Ja«, sagte Gisevius, »wenn’s so um uns steht!« und berührte die Sensortaste, eine Stimme sagte: EINTRITT FREI. MODERATE PREISE. Die vollbusige Tür schwang auf. Klebrigwarm die Luft, synthetische Musik quoll durch den bunt flackernden Raum. »Ob die Herren hier Platz nehmen möchten?« sagte eine nostalgische Kellnerin und räumte halbleere Sektgläser von einem Tisch, sie setzten sich, Tabaksqualm biß ihnen in die Au‐ gen. »Seit Jahren kämpfen wir dafür«, sagte Berteis geschäftig, »daß wir mit einem breiten Bildungsbürgertum schneller zu humaneren Le‐ bensformen kommen. Umfassendere Bildung – besseres Miteinan‐ der, so muß unsere Formel lauten.« Der junge Mann neben Carl rief: »Bei echter Chancengleichheit minimieren wir den egoistischen Daseinskampf«, und: »der soziale Druck hört auf«, es mochte auch etwas anders heißen, Gisevius gab sich keine Mühe zuzuhören. Er zündete genießerisch ein Zigarillo an, winkte der Kellnerin und sagte emphatisch: »Was hat das Haus zu bieten, meine Schöne?« »Wie meinen?« »Empfehlung des Kellermeisters. Also?« Sie nickte, blätterte blind in ihrem Bestellblock, sagte: »Wenn die Herren Sekt wünschen?« Gisevius schrie: »Sekt!«
Auf einer kleinen, schauerlich illuminierten Bühne bemühte sich eine zierliche Asiatin um Aufmerksamkeit ihrer Gäste, das Publi‐ kum schien abgeschlafft. »Könnt ihr denn auch mal Männer sein, oder seid ihr immer nur Politikmaschinen«, sagte Carl. »Ist sie nicht schnucklig‐zuckrig?« Jan Berteis sagte bewundernd: »Du hast ein eindrucksvolles Bei‐ spiel für Chancengleichheit in einer humaneren Gesellschaft gege‐ ben: die Sache mit dem Anno‐Ahls‐Prozeß, mein lieber Carl! Alle Welt hätte Verständnis gehabt, wenn der Kerl für dauernd abge‐ schirmt worden wäre. Du hattest den Mut, ihm zu verzeihen, ihm einen neuen Start zu geben. Respekt, Respekt.« Der andere fiel ein: »In langen Kommentaren haben die Fern‐ sehstationen deine Großzügigkeit herausgestellt, ›wahrer Huma‐ nismus‹ hieß es da und christliche Haltung gegenüber dem Gestrau‐ cheltem, die redeten davon, daß ›ein Abartiger eine einmalige Be‐ währungschance erhalten‹ hätte, überall gab’s viel Weihrauch für dich.« Und Berteis: »Warum bringt unsere Freizeitgesellschaft immer mehr Aussteiger, Aufsässige, Fehlerhafte hervor? Noch nie gab es so wenig Zwang und so viel Wohlstand, die Roboter arbeiten für uns, wir halten nur noch unsere Hände auf, und dennoch: immer mehr Unzufriedene?« »Und diese Unzufriedenen produzieren Unzufriedenheit«, krähte der junge Kollege, »und so bleibt alles wie seit grauer Vorzeit. Die Menschen hassen, schlagen, vernichten.« Die Asiatin hatte die Bühne geräumt, schrille elektronische Töne zerhackten das Geplauder an den Tischen, eine Halbkugel senkte sich aus dem Schnürboden und sensitivierte in den Zuschauern das Miterleben einer Orgie, verschmocktes Voyeurtheater: LOLITA. Carl beugte sich zu seinen Begleitern, damit sie ihn verstehen konnten, und flüsterte: »Der Junge ist erst sechzehn. Kein Richter hätte ihn auf Dauer in Abschirmung geschickt. Rehabilitation und Ende und den Fall in den Aktenspeicher!«
Sie kamen nicht dazu, sich über seinen starren Gesichtsausdruck zu wundern, zwei parfümierte Stimmen fielen zwischen sie. »Habt ihr Süßen denn einen Platz für die Sitty‐Sisters?« »Einen Drink für die Maitressen!« rief Gisevius. Die Sisters hock‐ ten sich auf die Schenkel der älteren Herren, der junge lachte me‐ ckernd. Der Abend wurde lang und alkoholschwer, die Animateusinnen kuschelten sich an die Brieftaschen, der junge Kollege, dessen Na‐ men Carl nie behielt, war gegangen. Man summte ein Seemannslied und versuchte sich in Herrenwitzen, irgendwann hatten die Sisters ihren Auftritt, und Jan Berteis meinte, nun sei es Zeit, sich finnisch zu verabschieden, aber Carl stierte auf die Bühne und lallte: »Edle lesbische Liebe«, dann fand er sich allein und von vier orchideen‐ duftenden Armen umschlungen. In dieser Nacht kehrte er nicht ins Hotel zurück, gegen Morgen befreite er sich in einer ihm unbekann‐ ten Absteige aus langen Sittysisterhaaren, duschte gründlich und sehr kalt und verließ das Haus durch einen Hinterausgang. Am Re‐ ceptionsterminal des Hotels forderte er über Sensortaste den Zim‐ meröffner, übersah die blinkende Lichtzeile EINE MITTEILUNG FÜR SIE und fiel, kaum daß er die zerknitterte Kleidung abgestreift hatte, schlafend aufs Bett. Der Summer des Terminals neben seinem Kopf riß ihn hoch. »Ja«, sagte er und berührte die Taste. »Ja, verdammt, ja. Es ist spät, ich weiß, daß es spät ist.« »Hörst du mich, Carl?« kam Christines Stimme herein. Jetzt blitzte auch ihr Videobild auf, sie sagte: »Habe ich dich ge‐ weckt, Carl. Ich habe lange drauf gewartet, mit dir sprechen zu können. Dein Rufer muß seit Stunden GRÜN sein.« »Ja«, sagte er. »Hast du die Mitteilung erhalten? Was sagst du dazu? Wie findest du das, Carl?« Er sagte: »Ja.«
»Wach auf!« sagte Christine. »Ich möchte wissen, wie du das fin‐ dest.« Er setzte sich, blinzelte in ihr frisches, ungeschminktes Gesicht, sagte: »Er ist nicht wiedergekommen, was, der Schuft ist ins Heim zurückgekrochen, nicht wahr, ich hab’s mir gleich gedacht.« »Aber Carl!« rief Christine. »Du hast meine Nachricht nicht er‐ halten! Nein«, sagte sie eifrig, »du irrst dich, er hat sich für uns ent‐ schieden, daran besteht kein Zweifel mehr. Du hättest ihn erleben sollen, als er kam! Er ist ein Kind, das viel Liebe braucht, ich werde ihm geben, was in meinen Kräften steht, so hast du dir’s doch vor‐ gestellt, Carl.« »Ich?« Sie fragte: »Wann kommst du nach Hause? Wir müssen sehr aus‐ führlich drüber reden. Heute beim Frühstück sagte Anno, er möchte die Schule wechseln, in eine ganz neue Schule möchte er gehen, was meinst du, Carl? Sag schon!« »Ja«, sagte er. »Nicht wahr? Es läßt sich gut an, Carl.« Er sagte: »Bin morgen abend zurück.« »Sag, daß du zufrieden bist«, bat sie. »Sag etwas! Ich fürchte mich.« »Küßchen«, rief er und unterbrach die Verbindung, der Bildschirm flammte wieder auf, eine Zeile erschien. RADIO N KANAL 4 BITTET UM INTERVIEW, 11 UHR. Er sagte zu und fiel ins Kissen zurück. Pünktlich um elf trat er in die Hotelhalle, gestärkt und rasur‐ duftend, seine spärlichen Haare schimmerten modisch. »Herr Abgeordneter, hier entlang bitte«, zeigte ein Fernsehtechni‐ ker, auf dem Overall trug er eine weiße 4. Im Nebenraum war eine Videokamera aufgebaut, davor ein transportabler Terminal. WIR DANKEN IHNEN FÜR IHRE BEREITSCHAFT, UNS EIN STATEMENT ZU GEBEN.
»Ihre Fragen!« sagte Gisevius und blickte dabei in die Kamera. »Die Bildungspolitik ist ein weites Feld. Was speziell wollen Sie wis‐ sen?« Die Zeile auf dem Terminal verschwand, der nächste Satz schnippte herein. STATEMENT LANDTAGSABGEOR DR GISEVIUS, EINS EINS. Über der Kamera leuchtete ein Signal auf, eine gesichtslose Stimme sagte: »Herr Abgeordneter, unsere Zuschauer interessiert es bren‐ nend zu erfahren, wie sich der Mörder bei Ihnen eingelebt hat.« Carl wandte sich unwillig ab, straffte sich aber und kehrte zur Kamera zurück. »Ich habe einem Kind eine Chance gegeben, die es bisher nicht gehabt hat.« »Schon, schon!« kam es ungeduldig aus dem Terminal. »Aber die‐ ses ›Kind‹ – wie Sie sagen –, dieser junge Mann hat Ihrer Familie unendliches Leid zugefügt.« Carl sagte mit unbewegtem Gesicht: »Es hätte jede andere Familie treffen können.« »Ganz ohne Zweifel, ohne Zweifel!« floß die Stimme in den Raum. »Aber hier haben wir eine außergewöhnliche Situation. Die geschä‐ digte Familie stellte sich selbst für die Resozialisierung des Täters zur Verfügung. Sagen Sie, was für Konflikte sich in Ihnen abspiel‐ ten, und auch: zwischen Ihnen und Ihrer Frau, Herr Doktor Gisevi‐ us. Hat Ihre Frau diesen außerordentlichen Entschluß nachvollzo‐ gen, schildern Sie! Erzählen Sie, welch ein Kampf des Gewissens in Ihnen tobte!« STATEMENT LANDTAGSABGEORD DR GISEVIUS, EINS ZWEI, blinkte die Zeile. »Ich sehe nicht, wen das etwas angehen könnte«, sagte Carl. Die Stimme schnarrte: »Wir wollen Ihnen jede Peinlichkeit er‐ sparen, selbstverständlich, halten Sie uns nicht für Unmenschen. Wenn Sie lieber schweigen möchten – wir haben Verständnis. Es wäre eine gute Sendezeit, in der Sie zu vielen Zuschauern sprechen könnten, Herr Abgeordneter.«
Carl, steif: »Ich habe mich zu meinem Entschluß bereits aus‐ führlich geäußert. Es war ein Gebot der Nächstenliebe. Ich habe den pädagogischen Auftrag akzeptiert.« »Sie haben Ihr Kind doch geliebt!« rief die Stimme hinter ihm her. »Ihr eigenes Kind, das man bisher nicht gefunden hat, das der Kerl irgendwo ins Meer warf. Damit wird kein Mensch so schnell fertig, wie Sie vorgeben!« Carl drängte sich jäh an dem erschrockenen Fernsehtechniker vor‐ bei, das Gerät notierte: RADIO N KANAL 4 STATEMENT GISEVIUS NICHT SENDBAR. 8 Über Nacht war Schnee gefallen, klebte auf Kiefernnadeln und Bir‐ kenzweigen und machte die Felder schweigsam. Auf der Fahrbahn, über die sie hinwegglitten, blieben spiralförmige Kristallfahnen zu‐ rück, die Abtaster neben der Straße trugen weiße Häubchen. Die räderlose Kabine (über Leitstrahl angetrieben und elektronisch überwacht), näherte sich einem leuchtenden Schild: AUTOBAHN CLS 500 m JETZT ZIELVORWAHL. Carl drückte die Zahlenkombination BASEL in das Commando‐ Leit‐System und nahm die Hand vom Lenkrad. Der Autopilot ord‐ nete die Kabine in die Vorspur, beschleunigte, klinkte sie in den unsichtbaren Fernstrecken‐Leitstrahl und informierte: BASEL MINUS FÜNF STUNDEN ZWANZIG MINUTEN. Die Reisenden lehnten sich behaglich zurück. »Musik?« fragte An‐ no, und Carl murmelte: »Wenn’s sein muß.« Das leere Land hinterm Seedeich wuchs mit steigender Sonne, die Sicht wurde klar, Ortschaften wie Reißbrettgrafiken hoben sich aus dem Schnee, Energiemühlen, dem Ostwind zugewandt, ein schla‐ fendes Ferienzentrum, ausgedünnte, krüpplige Wälder, jetzt schoß eine CLS‐Station über sie hinweg, durchs Heckfenster sahen sie wei‐
tere Kabinen über Vorlaufspuren hereinkommen, die Kette wurde dichter. Je weiter sie dem Süden zurasten, desto voller wurde das Band, Kabine um Kabine fügte sich ein, auch große ›Intercom‹‐ Transporter. Sie flogen alle mit gleich großer Geschwindigkeit über die Bahn, Personen und Lasten, große und kleine Kabinen, die Fern‐ energie verband sie zu Perlen auf einer Schnur. Anno war noch nie gereist, das schnelle, lautlose Spiel faszinierte ihn, immer wieder verglich er die vorbeiflitzenden Stationen und Spurkreuze mit den Angaben des Autopiloten: BASEL MINUS DREI STUNDEN ACHTUNDVIERZIG MI‐ NUTEN. Aus dem Land stiegen Hügel und sanken zurück, felsigkahle Ber‐ ge, eine ganze Staffel von Bergen, um die sich schwarze Flüsse wan‐ den. Einzelne Gebäude, Dörfer, Städte wischten vorbei, über ihnen änderten die Wolken ihre Farben, wie mit einem breiten Pinsel in den Himmel getupft; die Zeit verrann. BASEL MINUS ZWEI STUNDEN NEUNUNDFÜNFZIG MI‐ NUTEN. »Möchtest du eine Erfrischung, Anno? Vielleicht etwas zu essen?« Er schüttelte den Kopf, ergriff aber das Lunchpaket, das Christine ihm reichte. Carl, den Aktenrekorder auf den Knien und Kopfhörer übergestülpt, saß mit geschlossenen Augen in seinem Sessel und hörte Protokolle ab. Neben dem Autopiloten blinkte das Lämpchen MITTEILUNG auf, Christine nahm das Gespräch an. FRAKTIONSSITZUNG MORGEN BEREITS ACHT UHR DREISSIG. Sie gab den Text in den Memospeicher, Carl würde die Durch‐ sagen später abrufen, jetzt wollte sie ihn nicht stören. »Ihr müßt morgen zurück sein!« sagte Anno erschrocken. »Morgen«, nickte sie. »Aber ich…« Christine sagte: »Es bleibt genügend Zeit. Wir reisen in der Nacht zurück.«
»Aber schon morgen!« »Es wird dir gefallen, wird dir sehr gefallen«, sagte sie kurz, lä‐ chelte aber sofort und meinte: »Es ist ein wunderschön gelegenes, großzügig gestaltetes Internatsgebäude, und die jungen Leute, die dort zusammen leben, stammen aus vielen verschiedenen Ländern. Jedesmal, wenn ein Neuer kommt, wird eine folkloristische Feier veranstaltet.« Anno starrte in beginnendes Schneetreiben hinaus, sie sagte: »In drei Wochen hast du Heimatferien, dann nimmst du einen Intercom und fährst zu uns nach Hause.« Schneeflocken wie Schaumkronen verklebten die Aussicht, mit unvermindert hoher Geschwindigkeit stürmten die Kabinen durch den Tag. BASEL MINUS ZWEI STUNDEN ZWEI MINUTEN. Nun, wo es nichts mehr zu sehen gab, kehrte Annos Gesicht in die Kabine zurück, ihm war, als habe Christine das Panorama dort draußen mit einem Tastendruck abgestellt. Die Frau ihm gegenüber sah ihn aufmunternd an, er hielt ihrem Blick stand, langsam verzo‐ gen sich seine Lippen, er grinste. In den vergangenen Wochen war schüchternes Vertrauen gewachsen, er floh nicht mehr in den Tag hinaus, sondern suchte vorsichtig ihre Nähe und fand sich aufge‐ nommen. Christine beobachtete an sich selbst eine erstaunliche Verän‐ derung: Sie schaffte es, Gegenwart und Vergangenheit voneinander zu trennen. Dachte sie an Finn, war die Erinnerung eine Welt ohne Anno. Sah sie aber diesen Jungen vor sich, gab es kein Gestern mehr. Sie ahnte den Bruch, scheute sich aber, über ihn nachzuden‐ ken, manchmal, besonders nachts, machte er sie frösteln. Sie be‐ wunderte die kumpelhafte Offenheit ihres Mannes, Carl bot, so oft er zu Hause war, dem Jungen ein ganzes Sortiment von Anregun‐ gen und Abenteuern, aber tatsächlich war sie es, die Anno immer näher kam, und Carl sagte, wenn er es bemerkte: »Du bist unheim‐ lich engagiert.« Plötzlich beugte sich Anno vor und küßte ihre Wange.
BASEL MINUS EINE STUNDE SECHSUNDDREISSIG MI‐ NUTEN. Anno war aus dem Landstrich zwischen der Westküste und den Fjorden im Osten bisher nicht herausgekommen. Er kannte die Wie‐ sen vor und hinter den Deichen, das Watt bis zur südlichen Gemar‐ kung, die weite, leere Heide im Osten, die Forellenbäche, Priele und Moore, das enge Alby und die Provinzhauptstadt. So weit ihn ein Fahrrad an einem Tag brachte, hatte er verstreut liegende Höfe und Dörfer und Ferienzentren gesehen, auch an den Steildünen im Nor‐ den und nah unter der CLS‐Bahn, die das Land im Osten durch‐ schnitt. »Das ist etwas anderes als unser ödes Flachland, unsere Back‐ steinhäuschen am Deich!« sagte Carl und deutete hinaus, es hatte aufgeklart. Er nahm die Kopfhörer ab, legte den Rekorder beiseite und redete: »Hier läßt sich’s leichtfüßig leben, Anno, wirst sehen, daß dir bald der Wunsch kommt, für immer hier zu bleiben.« Und zu Christine: »Erinnere mich daran, daß wir dem Jungen Skier bestellen, er wird sie brauchen.« Zu Anno wieder: »Dies ist ein Land, glaub mir’s, das dir die Zukunft öffnet.« Er dachte an die vorwurfsvollen Töne seiner Mutter: »Wie konntet ihr Finn das an‐ tun?« Christines Cousine: »Was seid ihr nur für Eltern?« Des Man‐ nes dieser Cousine: »Ihr macht es so nur noch schlimmer.« Sein Bruder hatte aus Brüssel den Videotext geschickt: »Seid ihr von Sin‐ nen?« Und bis in die Nacht kamen Video‐Anrufe der Nachbarn. Carl sagte: »Wir müssen Anno von hier fortbringen«, und er begann, in wochenlangen abendlichen Gesprächen Christine den Internats‐ plan zu entwickeln, sie sträubte sich. Als sie schließlich einlenkte, hatte er den Vertrag bereits unterschrieben. BASEL MINUS VIERUNDFÜNFZIG MINUTEN. Je näher sie den Alpen kamen, desto heller wurde der Tag. Kurz vor dem Ziel löste sich die Kabine aus der CLS‐Kette, ein Leuchtzei‐ chen am Autopiloten mahnte Carl, das Lenkrad wieder in die Hand zu nehmen, er gab STADTGESCHWINDIGKEIT in den Roboter und
ordnete sich in die Strecke nach Allschwill ein. Trotz des automati‐ sierten Verkehrs (der jeder Stadt sein elektronisches Gepräge gibt) wirkte die heile Bürgermetropole antiquiert, Carl erinnerte sich sei‐ ner eigenen Schuljahre in dieser Stadt, als sei’s gestern gewesen. BASEL CLS ENDE, blinkte es ununterbrochen am Autopiloten. Carl löschte den Text, sagte: »Basel«, und: »Paß auf, Junge, hinter dem Kannenfeldpark, nächste Abbiegung rechts, ein prächtiger Tanzschuppen, Treffpunkt der Internatsschüler aus Allschwil! Gleich gegenüber der Friseur, möchte wetten, es ist noch immer der alte Derouge, und dann… ah… jetzt geht’s hier an den Golfplätzen und dem herrlichen Park entlang, das ist ein Grün, selbst im Winter eine Farbe wie aus der Teppichfabrik, der Park ist das Tabernakel der Verliebten. Nun paß auf, dahinter, der Weg durch die steile Gasse führt hinauf zur Tal‐ station, der Lift bringt dich… Also, wir müssen dir unbedingt sofort Skier bestellen, du kommst im richtigen Augenblick in Allschwil an.« Die Kabine hielt vor dem sonnenbestrahlten Internat, einem Schloß auf schwarzwaldigem Hügel hoch über der Stadt, vom Mit‐ telgiebel wehte eine fantastisch bestickte Fahne. »›Niemandes Diener, niemandes Herrn‹ heißt die Inschrift«, sagte Carl, »ein stolzes Wort, eine wahrhaft demokratische Haltung.« Christine murmelte: »Nur Mut.« Sie stiegen die abgewetzten Stufen der Freitreppe hinauf, durch‐ querten das Portal und standen in einer kühlen Halle, aus der Ge‐ wölbedecke hingen eiserne, schwach leuchtende Lichtschalen, eine kreidebeschriebene Schiefertafel gab hausinterne Hinweise. »Freut mich, Sie endlich wiederzusehen!« sagte die faltige Dame, ging auf Carl zu und schüttelte ihm kräftig die Hand. »Wann sahen wir uns zuletzt! War es nicht auf dem Erinnerungstreffen vor fünf Jahren?« »Vor sechs«, nickte er.
Ihr harter Händedruck nun für Christine: »Sehen Sie sich um, es wird dem jungen Mann an nichts mangeln. Bitte, inspizieren Sie das Haus.« Die Stimme war männlich‐tief, paßte nicht zu der zierlichen Frau. Carl sagte: »Wir sind sehr froh, daß Anno hier einen Platz ge‐ funden hat.« »Wie die Väter, so die Söhne!« kam es von der Internatsleiterin. Sie musterte den um einen Kopf längeren Jungen, setzte dabei die Brille auf und rückte sie umständlich zurecht. »Dieser junge Herr ist also Anno Gisevius, die Daten sind schon in unserem Speicher?« »Habe sie per Videotext übermittelt«, sagte Carl. Später, als er mit ihr allein war: »Ich ließ Sie wissen, daß er nicht unser leibliches Kind ist, nicht wahr, es geht aus den Unterlagen hervor. Anno wurde von uns adoptiert, oder, wie man heute sagt, ›akzeptiert‹. Sie wissen wohl, die Gesetze zur Namenscodierung haben in unserem Land die freie Wahl des Nachnamens möglich gemacht, wir wollten, daß der Junge so heißt wie wir, eine Formsache, sie erleichtert…« »Verstehe!« sagte die Frau. »Er heißt Gisevius, aber die Na‐ menscodezahl stimmt nicht mit Ihrer überein, verstehe. Ja, es ist besser so, wir leben hier in festgefügter Sozialordnung, gut, eine praktische Regelung.« Carl sagte: »Er hat’s bisher nicht leicht gehabt, eine schwierige Kindheit. Ein sensibler, fantasievoller Junge, wird sich in dieses Haus gut einpassen«, fügte er hinzu. Die Internatsleiterin war zufrieden. »Mir liegt daran, daß er zur Ruhe kommt. Er muß die Chance ha‐ ben, sich zu entfalten«, sagte Carl. »Machen Sie sich keine Sorgen«, erwiderte die Frau geübt. »Bei uns gibt es so gut wie keine Minusfälle.« 9
Das tropfnasse Mädchen saß mit gekreuzten Beinen auf der Kante des Schwimmbeckens und lachte: »Im Ausland studieren! Wie du das sagst, ›im Ausland‹?« Ihre Chansonstimme hatte einen unüber‐ hörbaren Akzent. »Ist das hier so ein entsetzliches Ausland, du ar‐ mer Anno‐vom‐grauen‐Meer, hindert es dich, Ausländer zu wer‐ den?« Er stand lang und sehnig vor ihr, seine Haut wirkte matt neben ih‐ rem tiefbraunen Teint, ernst sagte er: »Die Entscheidung kann ich nicht allein treffen.« Sie spritzte ihn an, plötzlich warf sie sich ins Wasser, er sah sie durchs klarblaue Becken tauchen, prustend kam sie hoch, ihr blon‐ des langes Haar hing wie eine Kapuze über ihre Schultern. »Kannst du überhaupt schwimmen?« neckte sie. Dann lagen sie im Gras unter der hohen Sonne, der Bart auf Annos Kinn glomm rötlich. »Janine!« sagte der Junge unbeholfen. Sie spielte. »In euren finsteren Norden folge ich dir nicht!« sagte sie. »Neblig. Windig. Gletscherkalt.« Holte tief Luft und zählte: »Tundra. Einöde. Regenwolken.« Und was ihr noch passend schien: »Keine Nachbarn. Keine Unterhaltung. Keine Vergnügungen.« Jetzt hakte er ein: »Schrei der Möwen überm Deich. Sturmschiefe Linden schützen die Dörfer. Schnurgerade Alleen quer durch die Heide. Zur Nacht lassen sich todmüde Marienkäfer in Sandmulden nieder.« »Falsch!« sagte sie. »Aufzählen, nur aufzählen! Wenn du lange Sätze machst, können wir die Eingabe nicht verschlüsseln.« »Welche Eingabe«, sagte er dumm, sie lachte: »Wir müssen deine Entscheidung ausrechnen lassen. Also, Anno, jetzt bist du an der Reihe. Was weißt du über Basel?« »Warm«, sagte er. »Eng. Lustig. Vertrottelt.« »Na, na!« warnte sie. »Heitere Leute. Viel Wein. Viel Musik.« Sie sagte: »Und was noch? Anno, was noch?« »Zum Verlieben«, sagte er.
Janine küßte ihn: »Wird auch Zeit.« Sie tippte den Finger in die Wiese und addierte: »Anno, neunzehn Jahre, bestes Abschlußer‐ gebnis des P.‐und‐P.‐Internats in Allschwil, und Janine, auch neun‐ zehn Jahre, mittelmäßige, aber verliebte Schülerin…« »Das fällt besonders ins Gewicht!« strahlte er. Sie rief: »Ja endlich! Du hast’s begriffen.« Er, wieder ernst: »Ich bin es meinen Eltern schuldig, daß ich sie frage. Ich will – kann diese Entscheidung nicht ohne sie treffen, wie soll ich’s dir erklären…« Sie fragte: »Ihr steht sehr gut miteinander.« »Ja«, sagte er. »Sehr gut.« Wunderte sich plötzlich, daß er Carl und Christine so viele Monate nicht gesehen hatte. »Sie möchten doch, daß du eine Universität besuchst?« »Ja.« »Aber würden es gern sehen, wenn du in ihrer Nähe wärst?« »Ja«, sagte er. »Weiß nicht. Vielleicht.« Er sagte: »Es ist so, ich muß mit ihnen darüber sprechen.« »Einverstanden«, sagte sie. Küßte ihn und rief: »Komm mir schnell zurück aus deinem unheimlichen Norden! Es ist hier ziemlich ein‐ sam ohne dich.« Er sagte: »Heitere Leute. Viel Wein. Viel Musik.« Am nächsten Tag nahm er den Intercom. Das Land im Norden zeigte sich in reifer Augustsonne und voll Honigduft, das schwere Korn auf den Feldern hatte Dünung aus Südwest. Wieder war es Zeit, die Gartenzäune zu weißen und das Vieh zu tränken und abends unter schattigen Birken zu sitzen. Wie immer, wenn man im Sommer die Chaussee heraufkam, war der langgestreckte Bungalow erst zu sehen, wenn man vor ihm stand, so sehr verbargen ihn die mächtigen Kronen der Bäume. Anno stürmte ins Haus, umarmte Christine, sie sagte: »Gratuliere zum Abschlußergebnis.« Er freute sich mit ihr. »Wo ist Carl?« sagte er. »In der Stadt, jetzt, zur Ferienzeit?«
Sie schüttelte den Kopf. »Stell dir vor, er sitzt an einem kleinen See und angelt, ja, Carl angelt, ich hätte nie geglaubt, daß er so lange so still sitzen könnte.« »Er angelt?« »Angelt!« sagte sie. »Vor einem Jahr bestellte er sich eine Rute, ein ungetümes Sportgerät, ich fragte ihn, woher diese skurrile Idee, aber er brummte, es hätte keinen Zweck, mir’s zu erklären, ich verstünde ihn nicht, und schließlich habe er sich nicht zu rechtfertigen.« »Habt ihr Probleme miteinander?« Sie musterte ihn, hielt seinem Blick stand, antwortete: »Nein.« Und als ob das Nein bekräftigt werden müßte: »Keine Krise. Zwischen uns hat sich nichts geändert.« Anno dachte: Lange habe ich sie nicht gesehen. Sie ist schön und anziehend, warum versteckt sie sich hier hinterm Deich? Christine sagte schnell: »Sicher möchtest du duschen, und nimm ein frisches Hemd, ich hab den Spender gestern aufgefüllt.« Sie sag‐ te: »In deinem Zimmer liegt Post für dich.« Der kleine Raum war staubig, seit über einem Jahr nicht mehr ge‐ nutzt, die Luft wie tot, er riß das hohe Fenster auf, vor ihm dehnte sich der Föhrenwald. Er nahm die Post zur Hand: EINLADUNG ZUM POKALSPIEL FC GLADERNES GEGEN BARNUMER SV, ERSTE JUGEND, Datum, Bestellcode, der Termin war längst verstrichen. Noch ein Zettel aus dem Videotextdrucker: Es war die Absage einer Buchbestellung, die er vor einem Jahr aufgegeben hatte, BEIM VERLAG VERGRIFFEN, achzelzuckend legte er den Zettel beiseite. Und dann der Brief, ein altmodischer Briefumschlag (also Privatzustellung), ein feiner schwarzer Rand vorn drauf, eine schwungvolle Handschrift adres‐ sierte ihn »Herrn Anno Ahls, bei Gisevius, Neue Landstraße 254, Wohnbezirk 17.« Anno zog eine weiße Karte heraus, starrte auf die Buchstaben und begriff nichts, was er las.
»Am 30. Juni starb Peer Lüssen. Er war unser Freund. Beerdigung am 3. Juli Norderum‐Kirche. Karin. Marlene. Britt. Sybille. Jens. Olaf. Anker.« Er stand blind, die Namen sagten ihm nichts, »Peer Lüssen«, buchstabierte er, legte die Karte aus der Hand, sie fiel zu Boden. Ohne sich umzuziehen, kehrte er in den Garten zurück, sie setzten sich auf die Terrasse. »Nun?« machte Christine. Erwachend sagte er: »Wie schön es hier ist! Von Basel aus sieht die Nordsee immer nur grau aus.« »Es gefällt dir dort?« Er begann zu schwärmen. Nach einiger Zeit unterbrach sie ihn: »Und wie heißt sie?« »Wie sie heißt? Wie kommst du darauf?« Er blickte sie an, sie lach‐ ten beide los, prustend rief er: »Du hast recht, immer hast du recht!« Und sie: »Das war nicht schwer zu erraten.« Anno erzählte: »Sie heißt Janine.« Chablis, den er mitgebracht hat‐ te, stand auf dem Tisch, und wenn er seinen Bericht unterbrach, um einen Schluck zu nehmen, sagte Christine ein freundliches »Präch‐ tig« und: »Du bist zu beneiden«, oder nur: »Aha?« Und hörte weiter zu. Carl stellte die Angel neben der Haustür ab, auch die hüfthohen Gummistiefel, und als er die Strickmütze vom Kopf nahm, erschrak Anno. Der strammrunde Mann war schlaff, das Haar dürrgrau und schütter, unter den Augen hingen Tränensäcke wie Fischernetze. Sein Gang war mühsam, als ob er das linke Bein nachziehen müßte, und schleppend war auch der Händedruck. »Gute Reise gehabt?« sagte er und blickte an dem Jungen vorbei. Anno rief: »Petri Heil!« und: »übst du, weitere Wählerstimmen zu angeln?« Der Mann stand kurzatmig, abgewandt, plötzlich ging er ins Haus. Es sei nicht so gemeint, rief ihm Christine nach, überhaupt, es
gäbe Grund genug, sich zu freuen, Anno habe mit Bravour bestan‐ den, sie sagte es stockend, Carl war bereits verschwunden. »Ist er krank?« fragte Anno. Sie sagte: »Keineswegs. Wirkt er verändert?« Ich habe ihn sehr anders in Erinnerung, dachte er. Sagte: »Nein. Carl war immer so, nicht wahr? Ich habe mich verändert.« »Ja«, sagte sie schlicht. Am Abend Kachelofenstille, blutiges Licht der Sonne auf den schweigenden Gesichtern, Dampf stieg aus Schüsseln und Tellern und hing in feinen Tropfen unter der Holzbalkendecke. Noch nie waren mir diese Menschen so fremd, dachte Anno, ich glaubte, ich sei hier zu Hause. Gleich nach dem Essen verließ er den Bungalow und wanderte mit kräftigen Schritten unter den Chausseebäumen entlang, Wind fiel vom Land zum Meer herab und ließ ihn frösteln, fernes Schwappen der Brandung, Möwenschrei, zuckendes Leucht‐ feuer von Norderum. Er kehrte um, warf sich in seinem Zimmer aufs Bett und starrte in die tiefen Schatten des Waldes hinaus. »Janine!« sagte er. Sah das schlanke Mädchen vor den dunklen Bäumen, von ihrer bronzenen Haut rann noch das Badewasser, sie lächelte wie das Covergirl auf einem Magazin, das er ausgeschnitten und über seine Schlafkoje gepinnt hatte, langsam zog sie sich den Bademantel über die Schultern. »Janine!« Aber die Frau dort vor dem Panorama des Waldes war die Brillenschlange. 10 Steifer Morgen, kaum daß die Dämmerung Vogelstimmen weckte, zwei Katzen jaulten unterm Schlafzimmerfenster. Carl schlug die Bettdecke zurück, verließ geräuschlos den Raum. Als er ins Freie trat, bepackt mit Stiefeln, Angelgerät und Rucksack, hatte der knap‐
pe Rand der Sonne den Horizont heidehell gefärbt, Tau hing wie Spinnennetz über den Gräsern und spiegelte das Licht, noch war der Tag dünn und schattenlos. Carl wandte sich dem Wald zu, verharrte unter den Föhren, als müsse er sich ausruhen, dann stapfte er durch weites, offenes Land. Eine Viertelstunde später erreichte er eine Senke, der Weg, bis hier sandig weich, wurde schwarz und fest, rötlichglatte Felssteine bu‐ ckelten heraus, Hagebuttensträucher ringsum, einige verkrüppelte Birken, dann nur noch Schilfrohr links und rechts. Auf einem Steg, der mitten in den flachen See hinausragte, baute er seinen Klappho‐ cker auf, setzte sich, starrte, das Kinn in die Hand gestützt, auf das metallne Wasser, saß und wartete. Hinter ihm stob eine Schar Krähen aus dem Schilf, er nickte: Der Junge kam. »Hab’ dich gehört, als du die Haustürjalousie geöffnet hast«, sagte Anno. »Sah dich am Wald, folgte deinen Sandspuren. Entschuldige, daß ich dich störe, Carl, muß mit dir sprechen.« Gisevius saß wie eine Statue. »Bitte!« rief Anno. »Ist jetzt die Zeit!« sagte Carl. Ungeduldig rief der Junge: »Ja! Es drängt, bitte, es ist wichtig. Ich möchte noch heute nach Allschwil zurück.« »Noch heute?« sagte Carl. Anno bat: »Ich brauche deine Zustimmung. Ohne deine Hilfe geht es nicht.« Carl sagte: »Also heute.« Als er, ohne die Hausverwaltung zu informieren, das Internat ver‐ ließ, war er sicher, tags darauf mit Carls Empfehlungsschreiben zu‐ rückzukehren, gestern im Intercom hatte er sich jeden Satz zurecht‐ gelegt, die Wörter abgewogen, den Wunsch in Examensfreude ver‐ packt. Jetzt war die Stunde frostig, er fühlte, daß die Wörter nicht mehr stimmten, sie waren nicht dieselben. Anno sagte: »Nicht wahr, ihr seid zufrieden mit meinem Abschlußergebnis.« Sagte: »Habe mir
Mühe gegeben, eure Erwartungen zu erfüllen.« Und: »Habe mich jeden Tag daran erinnert, was ich euch schuldig bin.« Carl sagte: »Heute.« »Ja?« rief Anno, »so war die Abmachung! Euren Vorstellungen entsprechend sollte ich mich verhalten, jeden wichtigen Schritt mit euch abstimmen. Ich habe es gern getan.« Carl sah ihn an, der Blick war messerscharf. Anno begann noch einmal. »Das blöde Wort ›Schirmungsbetreuer‹ paßt nicht auf euch, du und Christine, ihr seid für mich…« Brach ratlos ab. Carl sagte: »Was willst du?« »Ich brauche eure Einwilligung zum Studium.« »Was.« »Medizin.« »Wo.« »In der Schweiz.« »Wo.« »Basel.« Das Wort erschreckte Anno. Ringsum war es totenstill. Carl sagte plötzlich: »Weißt du, daß du ein polizeiliches Legat brauchst! Wie willst du an einer ausländischen Universität die An‐ erkennung erreichen.« Das Wort hatte getroffen, er sah den Jungen zucken. Da brachte er weitere Wörter hervor: »Antrag ans Amt für forensische Psychologie.« »Notwendige Schirmungsüberprüfung.« »Ohne Abschluß der Resozialisierung kein Studienbeginn.« Der Junge wich zurück. »Ich bitte um deine Hilfe, Carl.« Gisevius, feindlich: »Du verlangst Ungesetzliches von mir. Wie, meinst du, daß ich’s einrichten soll, du stellst dir vor, man könnte einfach auf Gesetze trampeln, ob Strafrecht, internationales Recht, ob Universitätsverfassung. Wenn’s dir nur nützt, wird’s Carl schon machen.«
Aufmerksam registrierte er die Wirkung seiner Sätze, absichtlich hatte er das alte Wort ›Strafrecht‹ gebraucht. Anno, sehr blaß, sagte noch einmal: »Bitte…« Er unterbrach ihn. »Woher immer noch diese Naivität, hast du sie dir in Allschwil nicht zurechtstutzen lassen.« Der Junge versuchte: »Ihr habt mir diese Chance in Allschwil ge‐ geben, o Mann, was für eine tolle Chance, ihr habt gesagt: ›Das ist dein Start‹ Bitte, wenn ich jetzt studieren kann, es wäre… wäre doch… eine Fortführung…« »Hast du vergessen, wer du bist!« rief Carl. »Daß wir dich nach Allschwil bringen mußten, weil dein Hiersein unerträglich war, weil es in diesem Haus und diesem Land keinen Platz mehr für dich gab. Was, meinst du, berechtigt dich, wieder herzukommen, Forderun‐ gen zu stellen? Warum wendest du dich nicht an all diese schlim‐ men Menschen, die dich geboren, gepäppelt und verbogen haben? Glaubst du wirklich, wir würden dich nun päppeln und verbiegen? Bist du so dumm zu hoffen, dein lächerliches Abschlußzeugnis würde das Gericht dazu bewegen, sich über die noch ausstehenden fünfzehn Monate Resozialisierung hinwegzusetzen, Aufsicht und Abschlußtest zu streichen, dich aus der Bindung an deine Schir‐ mungsbetreuer zu lösen und in Ehren in die Schweiz zu entlassen? Die Forensie würde Unbedenklichkeit attestieren und anordnen, die Eingaben auf deinem Personaliencode zu löschen? Meinst du im Ernst, ich würde mich dazu hergeben, bei den Verwaltungsstellen für dich zu betteln?« Carl sagte: »Warum, glaubst du, haben wir dir unseren Namen gegeben? Bist du damit etwa schon Teil unserer Familie? Du denkst, weil du Finns Zimmer bewohnst und in seinem Bett schläfst, wärest du schon wie er? Damit du es genau weißt: Niemals wirst du an seine Stelle treten, du kannst nie sein wie er, du bleibst verbogen, Anno. Finn war gerade, gutartig und voller Liebe zu Menschen und zu Tieren, intelligent und umsichtig, mit seinen zehn Jahren reifer
als du mit deinem Examen. Niemals wirst du so sein wie unser Sohn.« Carl sagte: »Du kommst hierher und wagst es, Christine die Hand zu geben, der Frau, der du unendliches Leid zugefügt hast. Sie hat den Schock seit jener Nacht nicht überwunden, wie könnte sie es je. Du bist schuld, daß sie welk geworden ist. Hast du gefragt, ob sie dich sehen will? Ist dir nie klar geworden, warum sie nicht mit mir nach Allschwil kam, warum wir keine Freude hatten, dich zu sehen? Hast du keine Skrupel, hier zu erscheinen und zu verlangen? Du schleichst dich bei uns ein, ohne zu fragen, ob wir dich empfangen wollen. Du gehst mir nach, baust dich hier auf und willst mich für dich springen lassen. Ist denn das einzige, das für dich wirklich gilt, dein Egoismus? Du kommst und forderst, beachte: Wir haben dich nicht herbeordert!« Carl sagte: »Ich will dir antworten: Daß ich nicht einen Finger für dich krümmen werde, ich müßte mich schämen vor unserem toten Kind, wenn ich dir helfen wollte. Hast du vergessen, wer du bist, ein Abzuschirmender! Weiß Gott, das Wort ist zutreffend, die Welt muß vor dir abgeschirmt werden, geh nach Allschwil zurück und lüge nicht länger! Erkläre den Menschen, die dir vertrauen! Sag ihnen, wer du bist, und protze nicht mit unserm guten Namen! Belüge das Mädchen nicht, das dir so arglos nachgelaufen ist! Ein Abzuschir‐ mender! Erkläre ihr, was du getan, sag ihr, daß du ein Kindermör‐ der bist, daß du das ekelhafteste, das schrecklichste Verbrechen be‐ gangen hast: Du hast ein Kind getäuscht, gequält, getötet, aus E‐ goismus!« Carl hatte sich erhoben, stand aufgereckt vor dem Jungen, sagte: »Du meinst, wir könnten das vergessen, daß du, ein Gladernes‐ Insasse, unsere Familie zerstört hast? Du bist kein Mensch. Hätte dich doch niemals jemand in diese Welt gesetzt! Ganz und gar über‐ flüssig bist du, Anno Ahls!«
Er sah den Jungen rennen, Schilfblätter beugten sich, Sand rieselte den schwarzen Weg herab. Über der Heide löste sich der Frühnebel, Krähen kehrten zurück und landeten am Steg. »Heute!« sagte Carl. 11 An Christines Armband summte die Ruftaste, sie legte den Un‐ krautjäter aus der Hand und ging ins Haus. Frischer Seewind blies ihr die langen dunklen Haare aus dem Nacken, sie nahm den Stroh‐ hut ab, ihre Haut schimmerte metallen in der rauhen Sonne. Betrat den Wohnraum und berührte die INFOtaste am Terminal, sofort füllte sich der Bildschirm, ein Uniformierter nickte freundlich. »Hier 17. Wohnbezirksverwaltung«, sagte er. »Frau Gisevius?« Und nannte ihre Codenummer. Hastig drückte sie die Bestätigung. »Was ist passiert?« schrie sie. »Um Gottes willen, wieder ist was passiert!« Der Mann gab sich Mühe, sein knittriges Gesicht zu glätten. »Bit‐ te!« sagte er. »Nicht erschrecken! Nichts, was Sie ängstigen müßte, seien Sie unbesorgt, Frau Gisevius, wir übermitteln Ihnen nur die Videotextanfrage der Kollegen aus Norderum.« Der Kopf ver‐ schwand, grüne Buchstaben hüpften über die Bildfläche. DR GISEVIUS, CARL / GISEVIUS, CHRISTINE. DRINGENDE ANFRAGE. BITTEN UMGEHEND UM IDENTIFIZIERUNG. VERMUTLICH F 14.00167833.M LEICHE KIND FINN GEFUNDEN. KONTAKTEN SIE WOHNBEZIRK 14 VERWALTUNG. »Ja«, sagte sie mit kalkweißem Mund, »ja.« Und schlug die Hände vors Gesicht. Der Mann tauchte wieder auf, sagte unnötig: »Haben Sie’s emp‐ fangen?« Und bot ihr eine Dienstkabine für die Fahrt nach Norde‐ rum an. »O Gott«, sagte sie zitternd.
Der Uniformierte bewältigte seine Aufgabe behutsam, hatte er es doch mit der Familie des wichtigsten Politikers seines Wohnbezirks zu tun. »Am besten, Sie sprechen zuerst mit Ihrem Mann«, empfahl er. »Wir haben ihn leider bisher nicht erreichen können, sprechen Sie mit ihm, Frau Gisevius, und anschließend lassen Sie uns wissen, ob wir Sie abholen sollen.« Sie rief ins Gerät: »Man kann ihn nicht erreichen, er legt seine Uhr ab, wenn er an den See geht, er will nicht, daß man ihn erreicht!« Sie stockte, überlegte, dann sagte sie: »Ich werde kommen, sofort. Ich komme sofort«, und schaltete die Verbindung ab. Lief aus dem Zimmer, Hemd und Shorts warf sie dabei von sich, schlüpfte in ei‐ nen durchgehenden, modisch hellblauen Anzug, murmelte: »O Gott, Finn ist endlich da.« Ihre Bewegungen waren puppenhaft. Bevor sie das Haus verließ, gab sie SICHERHEITSSCHALTUNG in den Terminal. Einen Augenblick später, ihre Kabine glitt bereits die Chaussee entlang, schlossen sich die Türjalousien, und die Ter‐ rassensicherung blitzte auf. Das Dienstgebäude der Polizei in Norderum war fast zweihundert Jahre alt, ein winziger Klinkerbau mit muffigen Zimmern; dicke schwarze Kabel hingen wie Ungeziefer vor den Wänden. Der Wachhabende empfing Christine an der Tür. »Wo?« fragte sie. »Wo?« »Bitte«, sagte der Polizist. »Beruhigen Sie sich!« Er sagte: »Es ist schwer für Sie, ich verstehe, aber nach all den Jahren, ich meine, Sie wußten doch, daß das Kind nicht mehr am Leben ist.« Sie sagte: »Wo«, und drängte sich an ihm vorbei. Der Dienstraum war leer; ein schmaler Tisch, Sichtschirme, elekt‐ ronisches Gerät, davor ein Holzschemel, eine Vase mit ver‐ trockneten Blumen. »Die Leiche wurde am Watt gefunden«, sagte der Mann, »ein Zu‐ fall, mit dem niemand gerechnet hatte, denn was im Schwemmsand verschwindet, taucht nicht wieder auf.« Zuckte die Achseln: »Ein Zufall, daß bei den Entwässerungsarbeiten der Priel aufgebaggert
werden mußte. Der Greifer hat den Sack… ich meine das Kind… ich meine die Überreste…« Er stotterte, die Frau verwirrte ihn. »Wo?« sagte sie, ihr Gesicht war leergrau wie die Zimmerwände. »Fast vier Jahre ist es her, nicht wahr, vier Jahre«, begann der Poli‐ zist noch einmal. »Niemand hatte mehr damit gerechnet. Damals wurden die Nachforschungen nach zwei Monaten eingestellt, die Suchakte wanderte in den Speicher. Das Tatwerkzeug war sicherge‐ stellt worden, der Täter hatte gestanden, weitere Ermittlungen erüb‐ rigten sich. Von dem Abzuschirmenden war über den Verbleib der Leiche nichts zu erfahren, die Forensie verbot eine Befragung, im‐ merhin hatten die Sorgeeltern… hatten Sie… waren Sie bereits mit ihm…« Und wieder brach er ab. Sie starrte ihn an, hörte nicht zu, ungeduldig wartete sie darauf, zu Finn gebracht zu werden. »Der Bootsschuppen wurde vorige Woche abgerissen«, nahm der Polizist einen dritten Anlauf. »Im Zuge der Entwässerungsarbeiten war es notwendig geworden, den Süßwasserabgang zu erweitern. Dabei… dabei…« Unvermittelt sagte er: »Wir haben uns erlaubt, bereits alle Formalitäten für eine Bestattung auf dem Kirchfriedhof von Alby zu erledigen«, und lächelte eifrig. Christine, mit letzter Kraft: »Wo ist er?« Der Mann deutete auf den schmalen Tisch, und endlich sah sie es: ein Stück Baumwollstoff, kariert, zerfasert, ein Hosenbein – oder war es ein Ärmel, der Griff eines Patentreißverschlusses, die Panti‐ nen, Holzpantinen, salzgrünverkrustet und voll toter Sprenkel. »Nun?« fragte der Polizist. Ihr war, als öffnete sich etwas in ihr, Jahre kehrten zurück, der An‐ sturm ließ sie schwanken. »Finn!« sagte sie. »Finn. Finn. Finn.« »Danke!« sagte der Polizist und drückte die Speichertaste, die Ak‐ te GISEVIUS spulte zurück. Christine war auf den Sessel gesackt, lehnte sich an einen Bild‐ schirm, eine Zeitlang war nichts zu hören außer ihrem wieder und wieder gemurmelten »Finn«. Dann sagte sie: »Wo ist er?«
»Der Sarg steht im Transportraum, gnädige Frau«, erklärte der Po‐ lizist. »Das Bestattungsunternehmen wird ihn nach Alby über‐ führen, es ist alles vorbereitet. Sie haben sicher noch Wünsche für die Ausgestaltung, bitte, der Auftrag ist geschaltet, Sie erhalten alle Daten über Terminal, wählen Sie das Bestattungsprogramm.« Er sagte: »Die Einäscherung ist bereits vornotiert.« »Finn?« sagte sie. Und nun begriff er die Frau, unbeholfen sagte er: »Salzwasser«, und: »Nach all den Jahren«, und: »Sie werden verstehen?« Sie saß und schwieg, nickte, biß in die weißen Lippen, sehr lang‐ sam erhob sie sich, trat an den Tisch und legte ihre Hand auf die Pantinen. So stand sie, starrte blind durch das Fenster in den grellen Tag, plötzlich wandte sie sich um, packte die Hand des Polizisten, schüttelte sie lange, ihre Augen blickten frei. Der nun völlig verwirr‐ te Mann hörte, es sei wirklich überaus freundlich, wie umsichtig die Verwaltung reagiert hätte, sie dankte ihm und den beteiligten Kol‐ legen, ihr Mann werde der Zentrale einen gebührenden Text über‐ mitteln. Sie sagte es mit warmer Stimme, und der Polizist, aufat‐ mend, daß sie den kritischen Augenblick so gut überstanden hatte, erwiderte: »Kann ich noch etwas für Sie tun? Möchten Sie eine Erfrischung? Wir sind hier leider äußerst bescheiden ausgestattet, aber für Sie…« Seine Geste führte den Satz zu Ende. Es hätte nicht besser arrangiert sein können, sagte sie, der Bürger habe oft den Eindruck, nur noch von Maschinen verwaltet und be‐ aufsichtigt zu werden, selbst hier auf den Dörfern fühle man sich in Kabel und seelenlose Elektronik verstrickt, es hätte ihr gut getan, auf so menschliche Weise informiert worden zu sein. Sie nahm das an‐ gebotene Glas, trank den Zitrussaft langsam und voll Genuß, dankte noch einmal und verließ mit leichten Schritten den Raum, ihr hell‐ blauer Anzug raschelte. Damals – wie viele Jahre war es her? – hatten Christine und Carl beschlossen, an diese flache, leere Westküste zu ziehen, es war so
etwas wie eine Laune, den ungenutzten Gisevius‐Bungalow zu res‐ taurieren und zum dauernden Wohnsitz zu machen. Jetzt, als sie auf dem Parkplatz neben dem Polizeihaus stand und in den satten Son‐ nentag blickte, das Meer draußen dunsten sah und Milliarden Was‐ sertropfen blinken, im Süden die kleevollen Weiden mit dösenden, wiederkäuenden Rindern, im Norden den Leuchtturm, unter dem Spiegellicht wie einen flatternden Strich, daneben, schattig am Deich, den kleinen Ort Norderum mit seinen tief herabgezogenen Reetdächern, als sie – wie damals zum erstenmal – auf das Watt hinaussah, meinte sie zu wissen, daß es mehr als eine Laune gewe‐ sen war, hierherzukommen. »Finn!« sagte sie. »Eine riesige, fantastische Abenteuerlandschaft für Finn!« Sie setzte sich in ihre Kabine, lehnte sich im Sessel zurück, ihre Bli‐ cke schweiften hinaus. Damals! sagte sie zu sich selbst, habe ich Tennisplätze und Wahlveranstaltungen gegen einen Garten am Meer eingetauscht und flinke Freunde gegen Menschen mit bedäch‐ tigen Gesichtern. Für dich, Finn. Sie beugte sich vor, gab dem Autopiloten die Zielprogrammierung ein und lenkte die Kabine aus dem Parkplatz. Das Fahrzeug glitt hinter den Deich und an Norderum vorbei, eine Zeitlang war es noch über den Wiesen zu erkennen, dann verschwand es unter den mächtigen Bäumen der Chaussee. Der Polizist blickte ihm nach, er‐ leichtert sammelte er die Erkennungsstücke ein und verschraubte sie in einer codierten Kunststoffröhre, auf der F 14.00167833.M stand wie auf dem Blechsarg unten im Transportraum. 12 Anno rannte, ohne auf den Weg zu achten, und als er endlich auf‐ sah, stand er am Deich, grelle Sonne blendete ihn, südwärts draußen im Watt waren Punkte wie Robben, watschelten hin und her, ver‐
harrten, richteten sich auf und kehrten um, er kniff die Augen zu‐ sammen, sie tränten. Das Watt ist leer und tot, es gibt schon lange keine Robben mehr, hör zu, Anno, damals, als ich klein war, gab’s hier viel Leben, jetzt ist alles tot. Das Watt ist leer. Wieder fiel er in Laufschritt, folgte dem Trampelpfad auf der See‐ seite des Deichs, rannte die Böschung hinauf und beobachtete die watschelnden Punkte. Geh weg, Anno, geh! Tritt nicht auf die Beete! Sei brav! Einer von uns paßt immer auf, auch Onkel Lüssen, der auch; wir wissen, was du tust. An der Absperrung um das Baugelände blieb er stehen, Spuren von Baggern führten aus den Weiden ins Watt, der Deich war auf‐ gerissen, schwarzes Wasser rann durch die Öffnung. Weiter drau‐ ßen, auf einer Stahlplattform, stand ein Mann, der die Maschinen überwachte, sie fraßen sich wie riesige Krebse in den meergetränk‐ ten Boden, schwenkten die Scheren und krochen heran und schütte‐ ten die Ladung hinter den Deich; unter dem Sandberg verschwand ein rostiger, einbetonierter Gleisstrang. Draußen ist es gefährlich. Es gibt viele böse Menschen, du bist klein und schwach, kannst dich nicht wehren. Sie werden dich töten, sie haben Strahlmesser, sei auf der Hut! Halte Großvaters Hand fest! Als er das hellrote Absperrungskabel überkletterte, schaltete sich die Sicherungsanlage ein. Annos Armbanduhr begann zu summen, eine Roboterstimme hinter ihm sagte: VERLASSEN SIE SOFORT DAS BAUGELÄNDE! Er wirbelte herum, aber da war nichts, die Stimme, drohend und messerscharf, kam aus der Tiefe. Anno stolperte, raffte sich auf und rannte ins Watt hinaus, ein Sandkrebs kam auf ihn zugeschwebt. WEISST DU, DASS DU EIN POLIZEILICHES LEGAT BRAUCHST, sagte die drohende Stimme, er stürmte auf den Bagger zu, die Fäus‐ te erhoben. VERLASSEN SIE SOFORT DAS BAUGELÄNDE! Lichtblitze explodierten in seinem Kopf, er verlor das Bewußtsein.
Warum bist du hier, Anno? Warum, meinst du, haben wir dich geholt? Erzähl! Er fühlte sich zerschunden wie nach einem Ringkampf, mehrere Anläufe, auf die Beine zu kommen, blieben im Mahlsand stecken, irgendwo tief in seinem geblendeten Hirn war die Stimme, er hatte sie sehr lange vergessen. VERSUCHEN SIE NICHT, DAS BAUGELÄNDE ZU BETRETEN! Sie kam fern und verweht, monoton wiederholte sie den Satz, er atmete wütend, sprang auf, da stand ein Bagger über ihm, Sand rauschte aus den Greifern und begrub ihn ein zweites Mal. WAS, MEINST DU, BERECHTIGT DICH HERZUKOMMEN! Die Stimme! Er riß sich die Armbanduhr vom Handgelenk, warf sie fort, grub im Ohr nach Schallknöpfen, suchte den Himmel nach versteckten Lautsprechern ab. Robbte aus der Halde und bekam festen Boden unter die Füße, die Bagger waren wieder hinausge‐ schwebt und holten neue Ladung, unaufhörlich wuchs der Berg, den Anno hinter sich sah. Möwen kreisten über der Baustelle und schrien und tobten auf, wenn die Stahlkrebse zurückkamen, und wieder prasselte Sand auf die Halde, Anno rannte ins Watt hinaus. VERSUCHEN SIE NICHT, DAS BAUGELÄNDE ZU BETRETEN! Unvermittelt schwenkte er um, raste zurück und auf den Deich. IN DIESEM LAND GIBT ES KEINEN PLATZ FÜR DICH! Jetzt sah er die Chaussee wie einen Streif am Horizont, die Bäume wie Perlen an einer Kette, rannte querfeldein auf sie zu, fiel in den Straßengraben und zog sich wieder heraus, neben ihm hielt ein alt‐ modischer Wagen (mit gummibereiften Rädern), der Fahrer öffnete die Tür, beugte sich heraus und winkte. »Wohin soll’s gehen? Kann ich dich ein Stück mitnehmen, wohin willst du?« Anno klopfte den trockenen Lehm aus seiner Kleidung, ließ sich auf die Kunststoffpolster fallen, das Auto stank nach Petroleum. »Wohin?« sagte der Fahrer, und Anno leierte:
»J 40‐17, eine kluge Maschine, sie sucht den besten Platz aus, den ich mir wünschen kann.« Der Mann kicherte. »Das ist mir zu schwierig«, sagte er, »wo soll das sein, J 40‐17, ich kenne mich mit diesen neumodischen Begriffen nicht aus.« »Ich bin ein Gladernes‐Insasse«, kam es aus dem Jungen. »Pech für dich«, sagte der Mann. »Ich fahr in genau die andere Richtung, zur Stadt.« »Zur Stadt ist es nicht weit, nicht wahr, es ist ein guter Weg zur Stadt«, sang der Junge. Der Mann, kichernd: »Eigentlich nicht, nein, es ist nicht weit, aber mit meinem asthmatischen Auto kann es schon recht lange dauern.« Er sagte: »Mag mich von meinem Auto nicht trennen, es trottet seit sechsundzwanzig Jahren mit mir herum, ein braver alter Ottomotor, solange er’s noch tut, soll er seinen Saft bekommen.« Die Augustsonne ließ das Blechdach glühen. »Na«, meinte der Mann, »wir werden uns die Zeit ein wenig ver‐ treiben, erzähl mir von dir!« »Überflüssig«, leierte der Junge. Der Mann fragte: »Wie lange bist du schon im Gladernes‐Heim?« »Sie wissen doch alles über mich.« »Nee, nee, junger Mann«, sagte der Fahrer und hakelte an einem Schaltknüppel herum, »hab’ dich hier nie gesehen, bist du über‐ haupt aus dieser Gegend?« »Ich bin noch mit keinem Intercom gefahren.« »Also!« nickte der Mann. »Du stammst nicht von hier, ich hab’s mir gleich gedacht. Zur Intercom‐Station? Warum hast du kein Ruf‐ taxi genommen?« »Ich erinnere mich nicht, habe keine Armbanduhr, heute noch nicht«, murmelte der Junge. Der Mann am Lenkrad fand die Unterhaltung kauzig, kicherte, er‐ zählte, nickte ernsthaft zu den Antworten seines Mitfahrers, es wur‐ de Nachmittag, bis das Auto schnaufend vor der Station hielt.
»Werde bald frei sein, wirklich frei«, sagte Anno und gab dem Mann artig die Hand. »Ja, mein Junge, wenn’s denn so ist!« sagte der. »Vielleicht kommst du mal zurück in unsere schöne Gegend, würde mich freu‐ en, wenn du mich besuchen kämst«, nannte seinen Namen und den Ort, winkte. Annos Lippen formten: »Wohnbezirk 17, Neue Landstraße 254«, aber der Mann hörte es nicht mehr. Die Zählschranke ließ ihn, nachdem er seine Kreditkarte ein‐ geworfen hatte, passieren, ein Infocenter suchte ihm die nächste Abfahrt eines Intercom nach Basel heraus, eine Viertelstunde später saß er in der geräumigen, mit zwanzig Liegesesseln ausgestatteten Kabine. Die Anzeige meldete: MINUS FÜNF STUNDEN ZWANZIG MINUTEN. »Möchtest du eine Erfrischung?« klickte es, ihre Stimme kam aus ei‐ nem Robotservierer. Die weichfedernden Sessel, das schnelle Gleiten ließen ihn ein‐ schlafen, mürbe streckte er sich, sah Christine über dem Wasser, sie winkte ihm, aber der Steg war endlos lang und schwankend, und je eifriger sie winkte, desto weiter glitt sie davon. Anno beugte sich vor, um ihre Wange zu küssen, verlor auf dem gekachelten Boden den Halt und stürzte, der Große sagte: »Wisch sofort das Blut weg!« Ein riesiger Krebs kroch auf ihn zu, schüttete seine Ladung aus, die Armbanduhr fiel hinein und verschwand im Sand, es war keine Uhr, es war das eingeschaltete Strahlmesser. In euren finsteren Norden folge ich dir nicht. Neunzehn Jahre, mittel‐ mäßige, aber verliebte Schülerin. Das Messer! Zur Nacht lassen sich todmüde Marienkäfer in Sandmulden nieder. Um zweiundzwanzig Uhr war der Platz vor dem Baseler Bahnhof noch hell erleuchtet, auf den Parkbänken saßen Leute in hochsom‐ merlicher Kleidung. (Vor einigen Jahren, als der Eisenbahnverkehr
in ganz Europa eingestellt wurde, hatte man das prunkvolle, über hundert Jahre alte Gebäude zur Intercomstation umgebaut. Eine unauffällige Leitspur verband den früheren Gleiskörper mit der heutzutage genutzten Autobahnstraße.) Die Kabine reflektierte das Licht, als sie wie auf einem Silberstrich hereinglitt und geräuschlos am Bahnsteig landete, die wenigen Reisenden, die den Intercom einem privaten Fahrzeug vorzogen, stiegen aus und traten in die warme Nacht. Einige lachten über den blassen, merkwürdig tor‐ kelnden jungen Mann, der an ihnen vorbeidrängte, über den Bahn‐ hofsplatz schlenkerte und den Supermarkt auf der gegenüberlie‐ genden Seite betrat. Anno setzte sich ungeduldig vor den Warenzähler, ließ den Kata‐ log über den Bildschirm flattern und stoppte, als die Abteilung SCHNEIDWERKZEUGE aufleuchtete. Er prüfte hastig das Angebot, steckte seine Kreditkarte in den Zahlschlitz, an der Warenausgabe flammte grünes Licht auf. Nahm den Karton in Empfang, öffnete ihn sofort und zog das Messer heraus, verbarg es im Hemd und ver‐ ließ den Supermarkt wieder, seine Bewegungen waren ruckartig. Ruckartig überquerte er die Straßen, stelzte eine schmale, steil an‐ steigende Gasse hinauf, seine fast geschlossenen Augen starrten leer, Schweiß und Speichel rannen ihm über die Haut. Er blieb vor ihrem Haus stehen, richtete den Blick auf die er‐ leuchteten Fenster, beugte sich vor, um die Sensortaste der Tür‐ kontrolle zu berühren. Janine. Er hörte ihre Stimme. SAG IHR, DASS DU EIN KINDERMÖRDER BIST, DU HAST DAS EKELHAFTESTE, DAS SCHRECKLICHSTE VERBRECHEN BEGANGEN: EIN KIND GETÄUSCHT, GEQUÄLT, GETÖTET. Er stand steif, vornübergebeugt, ruckartig stieß er den Atem aus, seine verkrampfte Hand hing über der Taste und berührte sie nicht. Und plötzlich löste sich die Anspannung, Kälte kroch ihm über Zehen und Knie, er schwankte, torkelte rückwärts und die Gasse
hinab und über die Straße, die nach Allschwil führte, schnurgerade Allee quer durch die Heide, zur Nacht lassen sich todmüde Käfer in Sand‐ mulden nieder. Erreichte den Park auf der anderen Seite, brach zwi‐ schen massigen Linden zusammen, aus seinem Hemd fiel das Strahlmesser heraus. Nahm es in die Hand und schaltete es ein und schaffte es noch einmal, auf die Beine zu kommen, dann verlor er den sandigen Waldweg unter den Füßen. 13 Carl Gisevius kehrte am frühen Nachmittag in den Bungalow zu‐ rück, öffnete die Jalousien mit einer Berührung der Türkontrolle und wartete, bis sie aufgerollt waren; seine Blicke wanderten über den Garten und die Auffahrt bis hinab zur Chaussee, niemand war zu sehen, und er hatte es nicht anders erwartet. Warf die Angelrute achtlos beiseite, marschierte in Gummistiefeln ins Haus, einen Au‐ genblick lang wunderte er sich, Christines Hemd und Shorts auf dem Boden liegen zu sehen. Stiefelte weiter, riß die Fenster auf, schließlich blieb er in Annos Zimmer stehen. Zielstrebig öffnete er den Kleiderschrank und räumte ihn aus und häufte alles auf das ungemachte Bett, auch Schuhe, Briefe, die Metallplatte mit dem ein‐ gestanzten Diplom, die Reisetasche, ein Poster, das er von der Wand riß. Knüpfte das Bettlaken zusammen, trug das Bündel in den klei‐ nen Raum hinter der Küche und schob es in den Abfallvernichter und wartete, bis die Maschine ihre Arbeit getan hatte. Endlich kehr‐ te er ins Wohnzimmer zurück, nahm ein Erfrischungsgetränk aus der Rollbar, er war zufrieden wie seit über drei Jahren nicht mehr und zum ersten Mal nach all dieser Zeit tief glücklich, er war am Ziel. Irgendwann in den nächsten Stunden würde sich der INFO‐Ruf am Terminal melden, spätestens morgen müßten sie den Jungen gefunden haben. Vermutlich würde ein Uniformierter aus der Ab‐
schirmungszentrale oder ein Betreuungsberater aus der Forensie ein bekümmertes Gesicht machen und ihm schonend beibringen, daß der Resozialisierungspflegling Ahls, Anno, Codenummer und so weiter und so weiter… Er nickte. Man würde konstatieren, daß »die Sorgeeltern alles Erdenkliche getan« hätten, um »den Abzuschir‐ menden in die Normalität« zurückzuführen. »Bedauerlich, daß eine freudige Verwirrung über das Examensergebnis zu einer leichtsin‐ nigen Handlung geführt« habe, »Menschen mit schizoiden Belas‐ tungen neigten ja zu Überreaktionen«. »Aug’ um Auge«, murmelte Carl. »Sohn um Sohn.« Nachdem er das Glas geleert hatte, erhob er sich und trat vor den Sicherheitsschrank, berührte die fingeradaptierte Taste des Schlosses und ließ die Tresortür aufschwingen. Hinter Magnetspulen, Akten‐ rekordern und handschriftlichen Notizen steckte ein breitgerahmtes, holografisches Foto: Das semmelblonde Kindergesicht, fast schatten‐ los aufgenommen, neigte sich lächelnd heraus. Carl trug das Bild in den ausgeleerten Raum und hängte es über Finns Bett auf. Es war bereits Abend, als sich der Videoterminal meldete. Doch anstelle des erwarteten Uniformierten erschien Christine auf dem Bildschirm und unter ihrem Gesicht der Text: DIES IST EINE AUFZEICHNUNG TERMINIERT 10 STUNDEN NACH MEINER ABREISE. »Christine!« sagte Carl, aber das Videoband, in irgendeiner Post‐ zentrale eingelegt, spulte ab, ohne auf Gegenrede zu reagieren. »Wenn dich diese Nachricht erreicht, bin ich bereits im Ausland, ich werde dir nicht sagen, wohin ich gegangen bin. Bitte habe Ver‐ ständnis für mich, daß ich in unserem Haus nicht mehr sein kann, die Aufgabe, mit dir und Anno zusammenzuleben, ist zu schwer geworden. Ich weiß, daß es feige ist, dir dies auf einem Videoband und nicht im direkten Gespräch zu sagen, aber ich habe nicht mehr viel Kraft, und das, was mir geblieben ist, muß ich bewahren, um den Weg zu mir selbst zu finden. Ob und wann ich zu euch zurück‐ kommen werde, weiß ich heute nicht. Damals, als wir beide uns
begegneten, waren wir in unseren Ansichten so gleich, daß es mir selbstverständlich war, mit dir zusammenzuleben. Wir haben die meisten unserer Ideen gemeinsam entwickelt und vor vielen Men‐ schen ausgebreitet. Ich bin dir in die politische Arbeit gefolgt und schließlich auch in das Haus an der Küste, und immer habe ich mich in deiner Gegenwart wohlgefühlt. Irgendwann in diesen Jahren ha‐ be ich mich selbst dabei verloren, ich habe mich aufgelöst, langsam und stetig, und als der Tag war, an dem mir auch Finn fortgenom‐ men wurde, blieb von mir nichts. In diesem leeren Augenblick kamst du und hast verlangt, Anno in unserer Mitte zu tolerieren, warst du dir darüber im klaren, was du fordertest? Und von wem? Seit dieser Zeit bist du mir fremd geworden, Wir stimmten nicht mehr überein, ich erkannte, daß du bereit warst, selbst unseren Schmerz noch in politische Propaganda umzusetzen. Ich fragte mich, ob dann nicht auch alles, was du früher vertreten hattest, nichts als Propaganda und nicht wahrhaftig gewesen sei? Über diese Frage muß ich nachdenken, ihre Beantwortung ist entscheidend für eine gemeinsame oder getrennte Zukunft. Wenn ich zum Ergebnis komme, mich geirrt zu haben, werde ich es dich wissen lassen, dann werde ich auch bereit sein, Anno wieder gegenüberzutreten. Aber um mir über uns klar zu werden, muß ich erst einmal mich selbst wiederfinden, und deshalb bin ich geflohen. Bitte versteh mich.« »Meine Liebe!« Er starrte auf den erloschenen Bildschirm, aber auf der grauen Fläche war nur sein eigenes graues Gesicht zu sehen. Der erwartete Anruf kam am nächsten Vormittag, und es war kein bekümmerter Uniformierter, sondern das faltige Bild der In‐ ternatsleiterin aus Allschwil. »In Basel!« sagte Carl. »In Basel haben sie ihn gefunden, verstehe ich recht?« Warum er sich wundere, kam die Rückfrage, immerhin sei Anno während der beiden letzten Semester ununterbrochen in Basel ge‐ wesen, er sei nicht ein einziges Mal nach Hause gefahren.
»Ja«, sagte Carl entschuldigend, »ich zog es vor, ihn dort zu be‐ suchen, was soll er hier in der Einöde, das ist keine Gegend für ei‐ nen lebenslustigen jungen Mann.« Er habe ihn besucht, nun verstehe sie! Die Frau sagte, sie hätte be‐ fürchtet, der Kontakt zum Elternhaus sei überaus schwach gewesen, aber er habe ihn besucht! Gekränkt fragte sie, warum er nicht ein einziges Mal zu ihr ins Direktorat gekommen sei. Carl sagte: »Sie wollten mich sprechen?« Nie wäre sie auf den Gedanken gekommen, es mit einem po‐ tentiellen Selbstmörder zu tun zu haben, rief sie. Der Junge hätte einen äußerst ausgeglichenen, sicheren und fröhlichen Eindruck gemacht, sei fleißig und pünktlich gewesen, nie hätte er Störungen des seelischen Gleichgewichts gezeigt. »Ich hätte Ihnen diese Feststellungen nur bestätigen können«, sag‐ te Carl. »O wie schrecklich für Sie!« sagte die Institutsleiterin. Und ausge‐ rechnet von ihr müsse er es erfahren, ob sich denn die zuständige Polizeidienststelle noch nicht gemeldet hätte, und sie sagte: »Ihre arme Frau – auch sie weiß noch nichts?« In ihrem unverwüstlichen Schweizerdeutsch begann sie, den Schüler Anno Gisevius zu loben, pries sein überragendes Abschlußdiplom und vergaß in ihrem gut‐ gemeinten Nachruf auch nicht zu erwähnen, wie beliebt der Junge gewesen und daß »in der letzten Zeit eine tiefgreifende, begrüßens‐ werte Freundschaft zu einem Mädchen aus gutem Baseler Hause« entstanden sei. Inzwischen flammten mehrere grüne Lämpchen auf dem Termi‐ nal, Carl brach mit einer lapidaren Entschuldigung das Gespräch ab. Atemlose Hoffnung befiel ihn, Christine könnte sich noch einmal melden, er habe die Chance, mit ihr zu sprechen, es ihr zu erklären. Aber es waren lauter Verwaltungstexte, die jetzt über den Bild‐ schirm ratterten.
POLIZEIDIENSTSTELLE WOHNBEZIRK 17 CODIERTE MITTEILUNG AN LANDTAGSABGEORD DR CARL GISEVIUS UND FRAU… INSTITUT FÜR FORENSISCHE PSYCHOLOGIE BEIRAT FÜR SORGEELTERN BETR N 13.40778004.M ANNO GISEVIUS‐AHLS SUIZIDFALL AUSLÄNDERVERTRETUNG BASEL REG CODE… MITTEILUNG MIT RÜCKRUF ABSCHIRMUNGSZENTRALE OST REG BEZ 1, DATUM… INFO VIA 26 003 10 BASEL… BEERDIGUNGSINSTITUT PETERSEN INFO TERMIN BEI‐ SETZUNGSFEIER ÜBERMORGEN… KRIMINALZENTRALE ALBY DEZERNAT 1 BETR… Carl las die Zeilen kaum, der Papierstreifen, der die Texte festhielt, fiel unbeachtet aus dem Gerät. Nur einmal stutzte er, wer denn ein »Beerdigungsinstitut Petersen« eingeschaltet habe, er hatte nieman‐ den beauftragt, es wäre dafür zu früh – diese seltsame Einmischung schien ihm überaus unpassend, aber er machte sich nicht die Mühe nachzulesen. Als sich zwischen den pausenlos eintreffenden Durchsagen RADIO N KANAL 4 meldete, drückte er die grüne Taste. WÄREN SIE BEREIT, UNS DIESMAL EIN INTERVIEW ZU GEBEN! Carl bestätigte und schaltete sein Gerät auf AUFNAHME. Der Redakteur, entzückt, in dieser Situation den Landtagsab‐ geordneten und Schirmungsbetreuer für seine Sendung gewonnen zu haben, erklärte »im Namen aller Zuschauer von Kanal 4« mit umflorter Miene »der schwergeprüften Familie Gisevius das tief‐ empfundene Beileid, einem Ehepaar, das unser aller Bewunderung verdient«. Fragte listig, ob Gisevius so kurz nach dieser Nachricht bereit sei, sich zu äußern, und schaltete auf EMPFANG. Carls fern‐ sehgewohntes Gesicht war maskenhaft. »Wir haben damals nach langer und ernster Überlegung die Ver‐ antwortung für den Resozialisierungspflegling Anno Ahls über‐ nommen«, begann er. »Wir haben alles Erdenkliche getan, um den
Abzuschirmenden nach dieser unfaßlichen Normverletzung in die Gesellschaft zurückzuführen. Kompetente Mitarbeiter der Forensie haben uns dabei beraten. Für mich war es ein pädagogischer Auf‐ trag ersten Ranges, beispielhaft für das Praktizieren des neuen Rechts.« Er sagte: »Vermutlich hat eine freudige Verwirrung über sein ausgezeichnetes Examensergebnis, das er am Ende seiner Schulzeit erzielen konnte, zu einer leichtsinnigen Handlung geführt. Menschen mit schizoiden Belastungen neigen ja zu Überreaktio‐ nen.« Er sagte: »Sicher war es ein Unfall, kein absichtlich herbeige‐ führter Suizid.« Und schloß: »Ich bedaure außerordentlich den Tod dieses begabten jungen Mannes, der es in seiner Jugend so schwer hatte. Seine seelischen Störungen hatten zu heilen begonnen, und er besaß alle Voraussetzungen, um die Resozialisierungszeit vorzeitig zu beenden. Ich bin sicher, daß er den Abschlußtest schon jetzt mit Bravour bestanden und bewiesen hätte, daß er imstande war, sich seinen Wunsch zu erfüllen: Arzt zu werden und vielen Menschen zu helfen.« »Sie meinen also«, sagte der Redakteur, »das Experiment, daß Sie vor dreieinhalb Jahren auf sich nahmen, ist zwar auf tragische Weise abgebrochen, aber nicht gescheitert?« Carl erwiderte: »Wir haben es in unserer politischen Arbeit er‐ reicht, viele Bereiche des menschlichen Zusammenlebens zu hu‐ manisieren. Mit unserer Bildungspolitik haben meine Freunde und ich dazu beigetragen, daß es heute mehr Verständnis für die Mit‐ menschen gibt, auch für die Gestrauchelten. Niemand muß mehr abseits stehen und sich ausgestoßen fühlen. Daß es so ist, hat die Geschichte dieses Resozialisierungspfleglings bewiesen, auch wenn er es uns nun selbst aus der Hand genommen hat, seinen Fall zu einem guten Ende zu führen. Wir werden weiter daran arbeiten, daß sich Menschen aus ihren Ängsten und Nöten befreien und ihren Platz in unserer Gesellschaft finden.« INTERVIEW ABGEORD DR GISEVIUS ENDE.
Hanni Bojens 1 Das Land üppig und klar, feuchtgrüne, aufgeblühte Wiesen, so weit man blicken konnte, mit schwarzgefleckten Rindern drauf, die Bäume links und rechts der engen Chaussee sturmverbogen, knubblig, einigen färbte sich bereits das Laub. Satt dehnte sich der milde Sonnenschein, ein frischer Meerwind fächelte den Nachmit‐ tag, schon tauchten Deiche auf, Ringdeiche eines Koogs, einzelne Höfe, dann weiter vorn der Seedeich, und wo die Straße endete, der Hafenort: ein gelbes Schild mit spitzig‐nordfriesischem Namen. Die Häuser klein und rot, viel weißer Stuck und grüne Türen und schweres Reetdach oder moosgefleckte Pfannen, ein eckig‐ schwarzer Kirchturm mittendrin. Der junge Mann hatte kaum einen Blick für diese Fernseh‐ spotbeschaulichkeit. Er saß am Steuer eines silberhellen Wagens, hastig und ungeduldig, sein Mund stand wie ein Schnitt im glatt‐ rasierten, eckigen Gesicht, die linke Wange zuckte vor Nervosität. Ausspannen hatte ihm der Arzt verordnet – für einen Mann wie ihn vertane Zeit. Er fühlte sich als Schwarzer‐Lederkoffer‐dunkler‐ Anzug‐Typ, präzis, unentbehrlich und computerpünktlich. Der Arzt (eine Ärztin war’s): Wenn Sie so weitermachen, Bahlstedt, sind Sie schnell am Ende… Er fuhr ans Meer. Zwischen den Häusern tauchte jetzt ein Schild ZUR FÄHRE auf, und gleich dahinter noch eins, sie schickten ihn durch Gassen voller Kinder, Hunde, Wagen, Frauen mit Einkaufstaschen, Busse bis an den Stehkragen gefüllt. Hinter der weit offenen Hecktür eines Lieferwagens flatterte plötz‐ lich eine Radlerin hervor, Bahlstedt trat jäh auf Gas und Bremse, für
einen Augenblick sah er noch ihr Gesicht vor seiner Windschutz‐ scheibe. Das Fahrrad klirrte auf die Straße, jemand schrie. Er springt aus seinem Auto, wütend und entsetzt, doch das Mäd‐ chen steht schon wieder, etwas kniesteif noch in ihren ein‐ geschmutzten Jeans, die Lippen bleich wie ihre dünne Bluse. »Verletzt? Sind Sie verletzt?« »Es ist nichts«, sagt sie. »Und das Rad?« Gemeinsam heben sie es auf; er schaut das Mädchen an. Schlank ist sie, kräftig in den Hüften, die Hose spannt über den langen Bei‐ nen. Die Hände breit und fest, fest auch der Blick aus ihren großen, braunen Augen, das blonde Haar fällt offen bis zum Hals, er schätzt sie auf achtzehn, neunzehn Jahre. »Heil geblieben«, sagt sie und biegt das Schutzblech vorn mit ei‐ nem Tritt zurecht. Drumherum sammeln sich Zuschauer, rotnasig, neugierig, verschwitzt. »Lassen Sie sehen!« Er wendet sich dem Fahrrad zu, es ist ein alt‐ gedientes Herrenrad, abgenutzt und zäh. Er klingelt. »Ja«, sagt sie, »es geht.« »Na, so ein Glück!« fistelt eine alte Frau, zwinkert ihr zu und ent‐ blößt dabei gelbverdorrte Zähne. Das Mädchen scheint sie nicht zu hören, streicht sich das Haar mit schneller Hand hinter die Ohren, »also – okay?« Und verschwindet mit ihrem Rad zwischen den Zuschauern. Ihm ist, als hätte sie sich aufgelöst. »He Sie…!« sagt er. »Wer… falls nun doch noch etwas ist…?« Die Alte sagt: »Lot man gaud sin, junger Mann«, und grinst und tätschelt ihm den Arm, sie riecht nach schweflig‐trockenem Meerestang. Bahlstedt wendet sich suchend um, die Leute gehen weiter, vom Mädchen mit dem Fahrrad keine Spur, und plötzlich ist auch die Frau wie vom Erdboden verschluckt. Er kletterte ins Auto, weiter hinten wurde forsch gehupt, schwer‐ fällig kam der Nachmittagsverkehr wieder in Gang. Hundert Meter
weiter, gleich hinter einer Biegung, öffneten sich die Häuserzeilen, ein großer runder Platz senkte sich zur Kaimauer hinab, dahinter grünes Hafenwasser, Möwen drauf, ein Kutter schaukelte eilig an verschlickten Spundwänden entlang zum Meer hinaus. Vorn am Kai erblickte Bahlstedt die ungetüme Fährbrücke, hochgezogen, daneben eine Wartespur für Fahrzeuge zu den Inseln. Ein weißge‐ kleckstes »P« gebot, den Wagen abzustellen. Nach all dem wühligen Gedränge in den Straßen kam es ihm hier ernüchternd still vor, kein Mensch, kein weiteres Auto, außer dem fernen Kutter auch nichts auf dem Wasser. Die ABFERTIGUNG FÜR INSELGÄSTE blieb bis zum nächsten Abgang der Fähre ge‐ schlossen, kein Fahrplan hing aus, eine Schiefertafel, auf der offen‐ bar die Zeiten notiert wurden, blickte ihn leer an. Der Schlagbaum vor der Brücke, weiß und rot wie sich’s gehört, war niedergelassen, ein Schild verfügte WEITERFAHRT NUR AUF HANDZEICHEN. Bahlstedt stand unschlüssig, der salzigfrische Wind kühlte ihm Stirn und Nacken, noch immer sah er die braunen Augen des Mädchens vor sich und das trockne Grinsen dieser alten Frau. Der ärgerliche Schreck war vorüber, er zog ein schwarzledernes Notizbuch aus der Tasche und begann, den Vorfall aktenmäßig abzulegen: Der Liefer‐ wagenfahrer stand in zweiter Spur: Verboten, doch geduldet. Das Kennzeichen: Er hatte es sich nicht gemerkt. Das Mädchen radelte quer über die Fahrbahn: Höchst leichtsinnig, aber ein Autofahrer muß in einer belebten Einkaufsstraße damit rechnen. Ort und Minu‐ te des Unfalls: Würde sich feststellen lassen. Namen der Beteiligten: Irgendwelche Zeugen:…? Verdammt. Er klappte das Notizbuch wieder zu. Ich hätte sie nach ihrem Namen fragen müssen, oder wenigstens die Frau… Sand rieselte in dünnen Bahnen übers Pflaster, sammelte sich vor seinen Schuhen. Am Rand des Platzes tanzten Strandgräser. Um eine wetterfeste, wohl hundert Jahre alte Hütte streunte ein Hund. Plötzlich erinnerte sich Bahlstedt. Laß gut sein, hatte er gehört, und: Das ist die Hanni Bojens, draußen vom Deich, vom Bopsluthof.
Ganz deutlich. Er schmeckte diesen fremdartigen Namen auf den Lippen, ›Bopslut‹, ein eigentümlich schwerfälliges Wort, wie Korn und sumpfiggrünes Land. Er sagte laut: »Werde dich finden, Hanni Bojens!« stieg wieder in den Wagen und rollte zurück ins Dorf, der Kirchturm lotste ihn. Tatsächlich, zwischen einer Pferdetränke und der Friedhofsmauer fand er das Gemeindeamt. Er parkte unter einem melancholisch herabblickenden Halteverbotsschild und las an der verschlossenen Amtstür: DIENSTSTUNDEN MONTAGS BIS FREITAGS 8 BIS 12 UHR. »Da ist jetzt niemand!« sagte ein Friedhofsbesucher. »Ach bitte«, fragte Bahlstedt schnell, »könnten Sie mir helfen, bin fremd hier. Suche Bopslut. Den Bopsluthof.« Der Mann neigte den Kopf zur Seite, blinzelte, die Falten auf sei‐ ner Stirn vertieften sich. »Wie soll das heißen?« sagte er. »Bopslut? Dat givt et nich.« »Ja«, sagte Bahlstedt fest. »Bopslut.« Der Mann musterte ihn streng, »Lieber Herr. Draußen auf den In‐ seln gab’s mal einen Ort, der Bopslut hieß. Den hat im Jahr 1634 die Sturmflut geholt.« Bahlstedt beharrte, was er zu wissen glaubte, »keinen Ort«, sagte er, »einen Hof. Den Bopslut‐Hof such ich, draußen am Deich. Da soll die Hanni Bojens wohnen.« Der Mann, noch abweisender: »Hanni Bojens? Soll das ein Scherz sein, junger Mann?« Und ging. Nun mochte Bahlstedt nicht mehr aufgeben, mußte der Sache auf den Grund gehen, ließ das Auto vor der Pferdetränke stehen und ging zu Fuß durchs Dorf. Fand bald eine Telefonzelle, das abgegrif‐ fene Verzeichnis voll ungeläufiger Ortsnamen schwieg sich über BOPSLUT aus, aber der Name Bojens tauchte gleich ein dutzendmal in den Listen auf. Entschlossen hakte er eine Rufnummer nach der anderen ab, das Ergebnis widersprach seinem zähen Erfolgssinn: Niemand wollte Hanni kennen.
Wütend schlug er die Glastür hinter sich zu, rannte kreuz und quer durch den Ort, fragte einen Tabakwarenhändler, einen Tank‐ wart, einen Polizisten und einen noch sehr jungen Angler, das Wort ›Bopslut‹ quoll ihm im Mund zu einem unverdaulichen Klumpen. Er wanderte hinaus über den Seedeich, vom Horizont her blinkte flach die Sonne übers Meer, er fand den Hof nicht. Hinter ihm, im Koog, begann der Feierabend. Später, der Himmel war nun schon nachtgrau, stand er unver‐ sehens wieder vor der Fährbrücke, der Schlagbaum sperrte noch immer die Zufahrt, noch immer war die Abfertigung geschlossen, die Schiefertafel ohne Abfahrtszeit. Er würde heute die Inseln nicht mehr erreichen. Nun gut. Er zuck‐ te die Achseln und wandte sich dem Stubenlicht des Ortes zu. Wind blies ihm Küchendunst und Fernsehflimmern entgegen, er dachte an Bier und unausgelüftete Kleider. Das Übersetzen zu den Inseln hatte Zeit – zuerst mußte er diese Hanni Bojens wiederfinden. Während er durch die Straßen wanderte und den Weg zum Ge‐ meindeamt verfehlte, wärmte er sich am Anblick der kunstvoll auf‐ gehängten Gardinen, der Blümchen an den Türen und der Nippes‐ figuren auf den Fensterborden, und lauschte dem emsigen Ge‐ schirrklappern hinter Küchenscheiben. Die Männer klebten zei‐ tunglesend in Sesseln, bläulich beleuchtet vom flackernden Abend‐ programm, und um sie herum beendeten Frauen die letzten Kapitel des täglichen Haushalts. Behaglich zuschauend, fielen ihm modi‐ sche Wörter ein, zum Beispiel männlicher Chauvinismus, lächelnd wiederholte er sie laut. Er dachte an Bettina, seine Freundin, sie war ungefähr dreizehn Stunden und endlose Kilometer entfernt, und für einen Augenblick vermißte er den sonst unausweichlichen Wort‐ wechsel mit ihr. Erschöpft und hungrig und mit brennenden Füßen stolperte er schließlich in ein Restaurant, ein großes altes Haus am Ende des Ortes, wo der Deichweg in die Nacht hinausführte. Eine hölzerne Veranda HOTEL und FREMDENZIMMER, gelb und grell beschie‐
nen von einer Laterne mit Faßbierreklame, den breiten, grünge‐ tünchten Eingang beschattete ein mächtiger Laubbaum, in der Diele empfing ihn ausgetretener Steinfußboden. Er setzte sich in den lee‐ ren Gastraum, das Essen war herzhaft und kräftig wie die Wirtin. Bahlstedt, wohlig müde, fragte nach einem Zimmer. Es sei was frei, nickte sie, wie lang er bleiben wolle? »Ich will nach Bopslut«, sagte er noch, aber er schlief schon. 2 Tief in der Nacht schrak er auf, ihm war, als ob ihn jemand berührt hätte, und wieder empfand er den schweflig‐trockenen Geruch von Tang. Er sprang aus dem Bett und tastete vergeblich nach dem Lichtschalter. Riß das Fenster auf, frischer Morgen klatschte ihm ins Gesicht, es war noch nicht fünf Uhr. Unter ihm, dicht am Haus, weideten Kühe. Sie hatten ihre Hälse erhoben und glotzten auf die Scheune. Jetzt kamen Leute, Knechte und Mägde mit Kannen, Eimern und Melkschemeln, riefen »ho!« und »holla!« und trieben die Tiere mit Schlägen auseinander, aus dem Kornfeld hinter der Koppel stieg laut schimpfend ein Vogel‐ schwarm. Ganz sicher gibt’s noch kein Frühstück, überlegte Bahlstedt, doch ins zerwühlte Bett mochte er auch nicht mehr zurück, jetzt bemerkte er, daß er in Hose, Hemd und Jacke eingeschlafen war, aus einer Socke bleckte der Zeh. Im Dämmerlicht fand er auf einem Tischchen einen weißen Wasserkrug, daneben eine Schüssel und ein Hand‐ tuch. Sehr stilvoll, grinste er, fehlt nur noch ein Töpfchen unter dem Bett. Der Nachttopf, auch weiß, war da. Er wusch und kämmte sich, fuhr mit der Hand übers Kinn und entsann sich, daß sein Koffer noch im Wagen war, neben dem Ge‐ meindeamt. »Na denn!« sagte er, »ich werde ihn holen, der Morgen‐ spaziergang wird mir guttun.« Er angelte nach seinen Schuhen,
konnte sie nicht finden, blickte auf den Flur, unter die Treppe, steck‐ te den Kopf vorsichtig in die Küche, öffnete eine Tür, von der er hoffte, sie würde ihn in den Gastraum führen. Stand in einer engen Kammer, ein unbenutztes Bett darin, nicht bezogen, Staub auf Tisch und Truhe. Ihm war, als ob er ganz allein im Hause wäre, rief nach der Wirtin und erhielt keine Antwort. Kehrte schließlich in die Diele zurück, auf dem Steinfußboden wurden ihm schnell die Füße kalt, jetzt sah er, daß die schwere Haustür nur angelehnt war. Seewind fuhr raschelnd herein. Der Weg draußen vorm Haus war aufgeweicht, voll großer Pfüt‐ zen der Hof, die Scheune eingefallen. Bahlstedt schüttelte den Kopf, war wohl schrecklich müde gestern, murmelte er, keine Ahnung, wie ich in dieses Gasthaus geraten bin. Wollte die Tür wieder schließen, als er Stimmen hörte. Die Leute kamen von der Weide herauf, zwei Knechte vorm Karren, die Mägde dahinter, Schemel und Krüge in den Händen. Vor Bahlstedt blieben sie stehen, muster‐ ten ihn neugierig, plötzlich erkannte er das Mädchen. »He…!« sagte er, zögerte noch, denn sie hat ihre blonden Zöpfe unter ein schwarzes Käppchen gestopft, das Wams, das Schulter‐ tuch, der wadenlange Rock wirken wie vom Kostümverleiher. »He! Hanni! Sie sind doch Hanni Bojens?« Ein Knecht lacht. »Bojens ist ihr Vater, der Kätner Bojens, Herr. Sie ist die Hanni.« Und zieht mit dem Karren weiter. »Ja«, sagt Bahlstedt, »ja. Ich hab Sie gestern gesucht.« Ihre großen braunen Augen blickten zaghaft, der Mund, noch im‐ mer blaß wie nach dem Unfall, steht leicht offen, schüchtern. »Mich?« Vergnügt betrachtet er sie, findet ihren Anblick noch viel reiz‐ voller als gestern in den knappen Jeans. »Ich war doch auf dem Hof!« sagt sie und blickt zu Boden. »Dem Bopsluthof.« Das ist das Wort. Bopslut! Es gibt ihn wirklich, diesen Hof, natürlich, er hat sich nicht geirrt, Bopsluthof steht auf dem Stein.
»Da drüben!« Sie deutet den Deich entlang, im Morgengrauen un‐ ter Wolkenbänken, von Weidenbäumen koboldhaft umstellt, mit tiefem Dach, tief in das Land geduckt, das Haus. »Sie wollen zum Bopslut‐Hufner?« sagt Hanni. »Kommen Sie, ich führ’ Sie hin!« Der Milchkarren ist schon weit voraus, sie stapfen hinterdrein. Sagt Bahlstedt: »Gestern, als Sie plötzlich vor meinem Wagen auf‐ tauchten, war ich so erschrocken, daß ich ganz vergaß… ich meine… ich hätte… Sie wußten nicht mal, wer…« Das stille Mädchen macht ihn stottern. »Sie kommen von weit her?« fragt sie. »Aus Frankfurt.« Sie hat noch nie davon gehört. »Will Ferien machen auf den Inseln«, sagt er, »mein Arzt hat mir frische Luft verordnet.« Seine linke Wange zuckt. Eifrig nickt sie. »Im nächsten Jahr wird ein neues Bäderschiff ver‐ kehren. Die vornehmen Gäste haben sich beschwert, und au‐ ßerdem…« Sie stellt sich auf die Zehenspitzen, flüstert: »Man sagt, der König selbst will kommen!« Und läuft den anderen nach, da vorn ist schon der Hof, das langgestreckte, wetterbraune Haus mit hohem, weißgekalktem Giebel an der Seite. Unter der Tür erscheint ein Mann mit Hut und langer Pfeife, das volle Gesicht von einem Bart umrundet, an seiner Jacke Sil‐ berknöpfe, die Hose steckt in Strümpfen und Stiefeln. Erblickt den Fremden, nickt, winkt ihn heran, bittet ihn auf eine weiße Bank vorm Haus, Bahlstedt versteckt die bloßen, lehmverschmierten Füße unter ihr. »Schlecht sind die Zeiten!« sagt der Bauer. »Schwer für uns! Der Staat bankrott, die Leute arm, der Grundbesitz wird hoch belastet.« Er sagt: »Seit wir den Krieg verloren und Norwegen eingebüßt ha‐ ben, sind die Staatskassen leer. Die Regierung treibt ohne jede Rück‐ sicht Steuern ein, viele Bauern haben hier in letzter Zeit den Hof aufgeben müssen.«
Und sagt: »Die Beamten vom Geestland sind die schlimmsten, hochmütig und ohne jeden Sachverstand. Wenn wir um Aufschub bitten, schicken sie sofort die Polizei.« Bahlstedt begreift nur bruchstückhaft, der Mann kaut auf der Pfei‐ fe, spuckt die Wörter wie Tabaksreste aus, die Sprache ist ihm fremd. Verstohlen blickt er sich um, das Mädchen ist im Haus ver‐ schwunden. »Die Hanni hat Sie hergebracht? Sehn Sie, ihr Vater, Bojens, war Bauer, wir konnten ihm nichts retten. Jetzt hat er eine Instenstelle hier auf meinem Land, ein Tagelöhner ohne Vieh.« Beugt sich zu ihm herüber: »Man sagt, er sei seitdem im Kopf nicht mehr ganz richtig…« Die Pfeife ist ihm ausgegangen, nun steht er auf, entschuldigt sich, der Großknecht warte. Wünscht dem Fremden einen guten Tag, die Morgensonne wärmt die vollen Felder. Bahlstedt wanderte langsam am Deich zurück, taufrisches Gras kitzelte seine Sohlen. »Der Bopsluthof!« sagte er, der Wind nahm ihm die Worte fort. So schlecht stand’s um die Landwirtschaft? So stark die britische Konkurrenz? So hoch die Steuern? Hofverkäufe aus purer Not? Bahlstedt verstand nichts vom Agrarmarkt, die Schwarzmalerei des Bauern schien ihm sehr absurd, und was er mit der Einbuße Nor‐ wegens gemeint haben mochte… Rechtschaffener Hunger trieb ihn zum Hotel zurück, und während er voranstapfte, den Blick nach vorn, kam ihm die Landschaft merkwürdig verändert vor. Und plötzlich wußte er’s: Gestern, als er in dieses Land kam, gab es hier kein Kornfeld, Weide war alles, fet‐ tes, nasses Gras mit fetten, runden Kühen. Verblüfft schaute er sich um, rannte weiter, blieb wieder stehen, schaute zurück – da war der Koog voll gelber Ähren, ein schmaler Weidestreifen nur am Deich, und auf der anderen Seite das Meer, flach, sanft und rosa bis zum Horizont. Wo war das Vorland? Wo die grüngeblümten Wiesen?
Er wanderte auf der schmalen, grasvernarbten Deichkrone, und fast wäre er an dem Gasthof vorbeigelaufen, das Haus war blind und leer und offenbar seit längerer Zeit schon aufgegeben. Die Holzveranda mit dem Gastraum, in dem er gestern abend noch ge‐ sessen hatte, fehlte, auch die Bierreklame, die große weiße Schrift HOTEL und FREMDENZIMMER, der Baum im Hof. Die Haustür stand weit offen, der Steinboden war voller Flugsand, Spinnweben hingen an den Deckenbalken, doch zweifellos hatte er vor ein, zwei Stunden hier das Mädchen getroffen. Er ging ums Haus, schaute in die verwaisten Stallungen, lachte unsicher – so war das also mit den Notverkäufen? Die Steuern, die der König – welcher König? Und welchen Krieg hatte man verloren, was hatte das mit Norwegen zu tun? Sein Blick fiel endlich auf den eckig‐schwarzen Kirchturm, der von nah herübergrüßte; erleichtert dachte er an sein Auto wie an ein vertrautes Stückchen seiner selbst. Die Straße dorthin war nicht as‐ phaltiert, die Häuser, klein und lehmig, schienen gestern komfortab‐ ler, er fand die Friedhofsmauer und die Pferdetränke, anstelle des Gemeindeamts stand eine reetgedeckte Kate, davor ein Hund, warm und verschlafen, vom Auto keine Spur. Nach dem ersten heißen Schreck versuchte er, wie’s seine Art war, sachlich zu bilanzieren: Offenbar war er am Abend so erschöpft und müde gewesen, daß er die Umgebung nicht mehr richtig wahrge‐ nommen hatte. Vielleicht stand sein Auto an einer anderen Kirche? Die Orte, die er passiert hatte, sahen sich alle gleich, offenbar war er vom Bopsluthof aus auf dem Deich in die falsche Richtung gegan‐ gen? Oder dies war ein anderer Ortsteil mit einer ähnlich schmuck‐ los‐kleinen Kirche? Er wanderte zum Hafen, den es nicht gab, such‐ te das Fährschiff zu den Inseln und wurde an einen schmalen Kahn mit schmutzig‐schwarzen Segeln verwiesen. Von einer Frau erhielt er Brot und Milch, sie redete und redete, es paßte nichts zusammen. Am Mittag erwog er dies: Der Ort, an dem er sich befand, sei rich‐ tig, dann stimme es nicht mit der Zeit. Nach allem, was er in‐
zwischen wußte, fehlten etwa 150 Jahre, um diese Daten mit seinen schwachen Geschichtskenntnissen in Einklang zu bringen. Erinnerte sich kruder Spekulationen über Reisen in die Vergangenheit, an skurrile Berichte über Menschen, die in andere Zeiten tauchten – Geschichten von Fantasten. Am Nachmittag, verwirrt im warmen Gras liegend, beruhigte er sich: Ein toller Traum! Ich schlafe immer noch, suche mein kleines Friesenmädchen Anno 1833, brav und in strenger Tracht, knickst artig und schlägt die Augen nieder. Männlicher Chauvinismus! würde Bettina spotten… Vor der Tenne des Bopsluthofs traf er sie wieder, sie stand an einem Trog und wusch, und neben ihr ein Trog mit einer Magd und noch einer, und alle scheuerten mit Seifenstücken auf gelbem Leinen, und ihre Arme waren rot und krumm. Als sie ihn sah, nickte sie, wusch weiter, und wieder kam ein lan‐ ger Blick, ein Nicken, er sagte strahlend: »He!« Und legte die Hand auf ihren Arm. »Jetzt nicht.« Sie hielt die Seife fest. »Wir haben noch viel zu tun.« »Muß mit dir reden«, sagte er rauh. »Jetzt nicht.« Und dann: »In einer halben Stunde, um sechs, am Stalltor.« Die anderen kicherten. Vorm Haus sah er den Bauern. »Noch da?« wunderte sich der. »Geht heut’ die Fähre nicht?« »Das hat bis morgen Zeit«, erklärte Bahlstedt. Der Bauer paffte stumm; Bahlstedt, barfuß und unrasiert, in lehm‐ bespritzter Sommerhose, durchgeschwitztem Hemd, war’s unbe‐ haglich. »Sie heißen Bopslut?« beendete er das Schweigen. Der Bauer, lachend: »Natürlich nicht. Ich bin Hinnerk Deeken.« »Weil’s doch der Bopsluthof ist, oder?« sagte Bahlstedt.
Der andere nahm die Pfeife aus dem Mund, erzählte, Bopslut sei früher mal ein Ort gewesen, ein Kirchspiel draußen auf den Inseln. Dann kam die große Menschentränke, fast zweihundert Jahre sei das her, danach habe man die Landkarten neu zeichnen müssen. Deekens Vorfahr überlebte, baute an der neuen Küste wieder auf, doch wieder trieb ihn eine Flut von seiner Warft. So kam er hierher, gründete den Hof, die Nachbarn nannten ihn den Bopslut‐Hufner. Bahlstedt hatte an der Zahl zu kauen: 200 Jahre? Denn an das Sturmflutjahr erinnerte er sich, der Mann am Friedhof hatte 1634 gesagt… Um sechs bringt ihm das Mädchen Holzpantinen. »Du bist kein Herr«, sagt sie vertraulich, »du wanderst barfuß wie ein Handwerksbursch. Ich hab’ es gleich bemerkt.« Er lacht. »Ich kann dir nicht erklären, wer ich bin. Und wer bist du?« »Wie heißt du?« fragt sie. »Kristof.« Sie fragt ihn nach dem Vaternamen. »Gestern, im Dorf, als du vor meinem Wagen standst – warst du das, Hanni?« »Vor deinem Wagen?« Sie nickt überrascht. »Du hast nicht wirk‐ lich einen Wagen. Ich hab’s geträumt.« »Nein«, sagt Bahlstedt, »es ist wahr.« Sie nimmt ihn bei der Hand, zieht ihn aufs Feld, das Korn reicht ihr bis zur Schulter. »Ich hab’s geträumt. Du kamst in einer Kutsche, die Pferde waren schwarz und schnell, silbern beschlagen das Zaumzeug, ich sprang zu spät zur Seite. Da warst du neben mir, du hast…« Die großen braunen Augen blickten ernst. Sie sagt: »Ich hab’ dich gleich erkannt, heute morgen, vor der ver‐ lassenen Hufe.« Und hockt sich am Feldrand nieder und öffnet die langen Zöpfe. Er streckt sich im Gras aus: »Gestern kam ich in einer Kutsche?«
»Ich hab’s geträumt.« Er lacht. »Jetzt träume ich von dir.« Und küßt sie. Hanni erschrickt. »Du machst dich lustig über mich.« Doch er, zärtlich verliebt, redet den Abendhimmel voll. Sie unterbricht ihn. »Wir beide, sagst du? Weißt du, was das heißt? Ich bin Magd bei Hinnerk Deeken, und du – ein Fremder, von frem‐ dem Stand.« Mit schneller Hand streicht sie das Haar hinter die Oh‐ ren. »Du kommst und gehst – so ist es doch?« Er werde sich hier niederlassen. Sie sagt: »Hier gibt es keine Bleibe.« Gut, lächelt er, dann solle sie doch bei ihren Arbeitgebern kün‐ digen und mit ihm gehen. Sie: »Mit dir gehen? Meinst du – heiraten?« Wenn sie darauf bestünde, sagt er fröhlich, wär’s ihm recht. »Damit darfst du keine Scherze treiben!« Röte steigt ihr bis ins Haar. »Der Ehestand ist heilig. Du kennst die Ordnung, weißt ge‐ nau, daß ein Geselle nicht heiraten kann.« Er findet’s lustig. »Auch eine Magd braucht Geld und die Genehmigung der Herr‐ schaft.« Kristof, entsetzt, fragt, ob sie leibeigen sei. »Das gibt es nicht«, sagt sie stolz. »Hier sind alle frei, der Knecht und der Herr.« Und die Mädchen? »Die Mädchen?« wiederholt sie verwirrt. »Der Bauer bestimmt den Mann, wenn es Zeit ist.« Er werde jetzt sofort zum Bauern gehen und ihn bitten, sie ihm zu bestimmen, amüsiert er sich. Sie springt auf und läuft davon, in den ungewohnten Pantinen hat er Mühe, ihr zu folgen, schließlich holt er sie ein, noch immer la‐ chend – da sieht er Tränen.
Später, über den Deich schlendernd, überkommt ihn Eifer: »Du kannst nicht heiraten, wann und wen du willst? Du bist frei, und mußt über dich bestimmen lassen? Du kannst dir nicht Arbeit und Beruf aussuchen?« Sie begreift nichts. Sie seien arm, sagt sie, ihr Vater Tagelöhner, der Hufner habe ihn aufgenommen, obwohl es für Arme keine Heimatrechte gebe – hier stockt sie, sagt dann schnell, sie hätten allen Grund, sich dem Bauern dankbar zu zeigen. »Arm?« sagt Kristof. »Wie hoch ist dein Lohn als Magd?« Sie hätten bleiben dürfen, hätten Arbeit auf dem Feld, ein Dach, ein Bett, Essen und Kleidung, alles dankten sie dem Bopslutbauern. »Ich meine Geld«, sagt er. »Was zahlt er dir?« Ja, sagt sie träumend, das wäre ein Anfang, eine kleine Spar‐ summe, beim Pastor zu hinterlegen, wie’s vorgeschrieben sei. Bahlstedt denkt: Nun ist es Abend, und ich träume immer noch. Es war einmal ein Hof am Meer, vielleicht vor hundertfünfzig Jahren, die Magd war schön und liebte mich, ich war ein Narr… Er legt den Arm um ihre Schultern, doch der rosastille Augenblick ist schon vorbei. Ob’s denn besser sei, dort, woher er komme? fragt Hanni. Der Bauer habe berichtet, die Städte seien noch verarmter als das Land, die Unterstützungskassen der Kirchen leer, schon kleine Kinder müßten in den Kalkbrennereien und den Segeltuchfabriken arbeiten, ob es denn anders sei, dort, in seinem Land? »Kinderarbeit ist bei uns verboten«, sagt er eilfertig und erzählt, die Rede franst ihm aus. »Ich muß ins Haus«, entschuldigt Hanni sich, die Großmagd er‐ warte, daß alle zum Abendbrot am Tisch säßen. »Und dann?« drängt er. Mit Sonnenuntergang sei Schlafenszeit, erst für das Vieh und dann für Menschen. »Aber…«, er meint Vergnügungen, Tanz, Spiel und Fernsehen, Dorftreff, »hast du keinen Freund?«
Der Bauer würde das nicht zulassen. Sie sagt es knapp und schweigt, und plötzlich dämmert es ihm, seit alters her hätte der Bauer unumschränkte Rechte beim Gesinde, die Hanni, jung und abhängig, lebt auf dem Hof… Eifersüchtig sagt er: »Komm mit mir!« Sie sieht ihn lange an. »Ich werde für dich beten, Kristof.« 3 Gepolter weckte ihn am nächsten Morgen, vor seiner Kammer wa‐ ren laute Stimmen. Er blinzelte ins Tageslicht, streckte sich zufrie‐ den und dachte an die Nacht zurück, den schönen Traum von Han‐ ni Bojens. Beschloß munter, gleich nach dem Frühstück den Bopsluthof am Deich zu suchen, und gähnte herzhaft. Der Lärm vor seinem Zimmer schien von Gepäck herzurühren, man schleppte Koffer zur Treppe, die Dielenbohlen ächzten, jemand rief von unten. Bahlstedt sprang aus dem Bett, stutzte, als er das Waschtischchen mit Schüssel und Krug sah und auch den Nacht‐ topf, nun gut, dachte er, es ist eben ein altmodisches Hotel, warum nicht, manche Leute lieben Nostalgie. Und warf einen Blick aus dem unverhangenen Fenster. Doch dann war er sich nicht mehr so sicher, wirklich aufgewacht zu sein: Die Äcker lagen frisch gepflügt, an Bäumen und Sträuchern erstes Laub, die Weiden ohne Vieh. Wieder hörte er Poltern, ein schwerer Gegenstand schien vorm Haus aufs Pflaster gekracht zu sein, Leute fluchten, ein Pferd schnaubte. Bahlstedt suchte vergeb‐ lich nach seiner Kleidung, rannte nackt durchs Zimmer, man hatte ihm offenbar auch Brieftasche, Wagenpapiere und Schlüssel gestoh‐ len. In einem Schrank neben der Tür hingen fremde Sachen, ein blaugestreifter Kittel, eine Weste, Kniebundhosen, wollene Strümp‐ fe. »Ich bin im falschen Raum!« sagte er wütend.
Doch um die Kammer zu verlassen, mußte er sich ankleiden. Es paßte leidlich, etwas ungewohnt und eng, er kam sich lächerlich vor. Seine Bestürzung wuchs, als er die anderen Kammern leer fand, auch die Küche, und noch immer fehlten dem Haus der Anbau mit dem Restaurant, der Baum vorm Stall, die Bierreklame. Eben verließ ein vollbepackter Leiterwagen, pferdebespannt, den Hof. Auf Sä‐ cken, Kisten, Koffern saßen Leute in blaugestreiften Kitteln und in Kniebundhosen. »He…!« sagte er, doch niemand hörte ihn, der Wagen holperte dem Ort zu, Bahlstedt starrte hinterher, folgte ihm schließlich, flu‐ chend, der Wind war saukalt, sehnsüchtig dachte er an eine Tasse Kaffee. Nach kurzem Trab erreicht er den Friedhof, doch auch das Auto war gestohlen, und noch immer stand anstelle des Gemeinde‐ amts die Pfarrkate neben der Pferdetränke. Verdammt – was jetzt? Er kniff sich in die steifgefrorenen Wangen, rieb sich die Hände, die Füße schmerzten in den harten, hohen Schuhen. Suchte mit beiden Händen die Taschen seiner Kleidung ab, als ob die Brieftasche drin stecken könnte. Er fand ein bißchen Hartgeld, Silber unbekannter Prägung, wandte es hin und her, sein Blick fiel auf den gegenüberliegenden Dorfkrug. Musterte noch einmal zweifelnd die Währung, ging dann entschlossen auf die Schänke zu, trat ein und bestellte einen Imbiß. »So früh schon hier?« sagte der Wirt. »Sie sind der erste Badegast in diesem Jahr.« »Wollte zu den Inseln übersetzen«, erwiderte Bahlstedt. Der Wirt schüttelte den Kopf. »Die Fähre geht noch nicht, nur zweimal in der Woche gibt’s ein Postschiff, doch Gäste werden dar‐ auf nicht befördert.« Er putzte emsig Gläser und Krüge, reihte sie dann sorgfältig hinter sich auf einem Bord auf, rückte sie zurecht, und erst, als Bahlstedt das Thema schon vergessen hatte, fuhr er fort: »Warum bleiben Sie nicht hier? Die Leute würden gern verdie‐ nen, am Deich gibt’s gute Privatquartiere, komfortable Fremden‐
zimmer, die Ihnen gefallen würden. Was sollen Ihnen die Inseln Besseres bieten?« Bahlstedt, nachdenklich: »Der Bopsluthof! Ob Deeken…?« Verdutzt blickte ihn der Wirt an, nein, wie Bahlstedt darauf kom‐ me? Der Bopsluthof sei schon vor zwanzig Jahren abgebrannt. »A‐ ber wenn Sie beim Bauern wohnen möchten…«, fuhr er eilfertig fort und nannte einige Adressen, Bahlstedt hörte ihm nicht zu. Vor zwanzig Jahren abgebrannt? Vor zwanzig Jahren? »Ja«, sagte der Wirt und fragte, wer ihm den Hof genannt habe. Erzählte: »Ich erinnere mich genau, war selbst als junger Kerl beim Löschen dabei, kurz nach der Schlacht von Sedan, wir hatten den Franzmann gründlich verhauen, feierten noch, da geschah das Un‐ glück.« Bahlstedt schwieg bestürzt, schlürfte den dünnen Kaffee, legte schließlich ein Geldstück auf die Theke und ging hastig. »Danke auch, der Herr!« rief ihm der Wirt nach. Und draußen erst, die Tür war längst wieder zu, wurde ihm klar, was er die ganze Zeit gesehen hatte: Zwischen Bierkrügen und Glä‐ sern zeigte ein Kalender den 15. März 1891. Es war merkwürdig still im Dorf, als ob die meisten schliefen, und doch war’s heller Morgen. Über den flachen Dächern sah Bahlstedt Rauch aufsteigen, vom Westwind weit ins Land gedrückt, Möwen zogen krächzend drüber hin. »1891«, murmelte er, »noch immer fehlen mir gut neunzig Jahre an der Gegenwart« – Und wußte, daß er nicht träumte. Neugierig schlenderte er zum Hafen hinunter, sah einen ro‐ stigschwarzen Dampfer, der den Rauch ausstieß, an drei Masten hingen von den Rahen schwarze Segel, und schwarzvermummte Menschen drängten sich an Deck. Er sah den Platz, auf dem er ges‐ tern (gestern?) angekommen war, und sah die Leiterwagen, Karren, Kutschen, auch das Gespann vom Gasthof. Sah den Steg, an dem das Schiff lag, und ihm fiel auf, daß die stählerne Fährbrücke und der Schlagbaum fehlten, auch gab es kein Abfertigungshäuschen
und keine Abfahrtstafel, und das Meer begann unmittelbar vorm Kai und glitzerte grün. Und er sah auf dem Vordersteven des Dampfers das blonde, schwarzgekleidete Mädchen, ihre Blicke tra‐ fen sich. »Hanni!« ruft er, winkt, drängt sich durch die Menge, sie steht und lacht und winkt zurück. Er läuft am Schiffsleib entlang, klettert über die Gangway und hangelt sich nach vorn, die Leute machen Platz, lachen, klopfen ihm auf die Schultern. »Wohin fährst du, Hanni?« Ein röhrender Ton aus dem Schiffshorn verschluckt ihre Antwort. »Zu den Inseln?« »Nach Amerika.« Er lacht. »Warum gleich Amerika?« sagt er und nimmt es als Scherz. Sie sagt: »Wir wandern aus. Die meisten jungen Leute wandern aus. Drüben ist Land, drüben können wir Bauern sein. Was erwartet uns hier?« Seit der großen Viehseuche sei für Knechte und Mägde nur noch Arbeit in den Fabriken geblieben und ödes Wohnen in Ar‐ mensiedlungen, mit den Marschenhöfen gehe es zu Ende. Sie sagt: »Nach Amerika.« Und der junge Mann neben ihr mit dem windzerzausten Vollbart: »Drüben sind wir wirklich frei.« Bahlstedt schaut ihn zweifelnd an. »Um euch neuen Zwängen zu unterwerfen? Was, meint ihr, erwartet euch denn?« »Freies Land und freier Handel.« »Das Gesetz der Waffe!« entgegnet er, seine Wildwestfilm‐Kenntnisse sind umfangreich. »Ihr müßt kämpfen und euch verteidigen, müßt schneller und härter und rücksichtsloser sein als die anderen. Drü‐ ben ist Kampf, alle gegen alle, dort gibt es keinen Staat, der euch schützt, kein Recht, das euch sicher ist, keine Gemeinschaft, die euch beisteht. Vogelfrei seid ihr dort.« Der Vollbärtige trotzig: »Wir wollen nicht länger Untertanen sein.« Hier sei es eng und unerträglich, rechtlos der Knecht, und der Bauer
schwach, politische Parteien zankten sich um Macht und um Einfluß beim Kaiser, noch immer bestimmten Adel und Militär, Grundbesitz und Industrieherren. »In Amerika…«, sagt er, und Hanni hängt an seinen Lippen »… hat jeder Mann eine Stimme. Alle sind gleich. Der Präsident wird von allen gewählt.« Kristof gefällt es nicht, daß Hanni den Kerl so anstrahlt. Bedächtig sagt er: »Von allen Männern. Und was ist mit den Frauen?« Ach, entrüstet sich der andere, er sei Sozialist? Ein Volksverräter und Suffragettenfreund? »Alle sind gleich!« stichelt Bahlstedt. »Nur die Frauen nicht?« In einem der neuen Staaten soll es schon so etwas geben, Frauen in der Politik – der Auswanderer ist verlegen. Kristof setzt nach: »Ah!« dehnte er. »Und dorthin wollt ihr?« Der junge Mann weicht aus, er wisse nicht einmal, ob’s wahr sei, kenne auch diesen Staat nicht. Strafft sich, denn vor Hanni will er sich keine Blöße geben, und meint bibelfest: »Die Frau sei dem Manne Untertan.« »Untertan!« äfft ihn Bahlstedt nach. Hanni sagt schnell: »Kommst du mit uns, Kristof?« »Mit dir, Hanni?« sagt er fröhlich. »Wohin du willst.« Der Vollbärtige schweigt. »Aber ich habe kein Geld!« lacht Kristof, »ich kann die Überfahrt nicht bezahlen!« Gestern habe er so getan, als sei ein Beutel Silberlinge kein Prob‐ lem für ihn, wundert sie sich. »Gestern?« sagt er überrascht. Vom Oberdeck schreit einer: »Die Gangway wird eingezogen. Wir machen los. Alle Besucher sofort das Schiff verlassen.« »Ich bringe dich in der Kombüse unter!« flüstert Hanni ihm zu, packt seine Hand und zieht ihn unter Deck, dorthin, wo es am sti‐ ckigsten ist. Nach kurzer Verhandlung und einigen derben Anzüg‐ lichkeiten sind sich Hanni und der Koch einig, Bahlstedt bleibt zwi‐
schen Pökelfleisch und Krautfässern zurück, angeheuert auf einem Auswandererschiff im Frühling dieses denkwürdigen Jahres… Am Nachmittag durfte er zum ersten Mal die Bordküche verlassen und Abfälle zur Reeling schleppen, längst hatten sie die Inseln pas‐ siert und stampften durch hohe See, ein flacher Horizont wippte gemächlich auf und ab. Einige Familien waren im Freien geblieben, im Windschatten der Aufbauten und unter wärmenden Wolltü‐ chern, die Männer plump dösend, geschäftig die Frauen, Babies in Windeln, Jungen, die rangelten, strickende Großmütter mit rotzna‐ sigen Mädchen an ihrer Seite, aber er fand Hanni nicht, und der Koch fluchte über sein langes Ausbleiben. Spät in der Nacht durfte er noch einmal an Deck, zwischen Auf‐ räumen und Schlafengehen atmete er hastig die beißendkalte Luft, ein steifgefrorener Mond klebte zwischen den Wolken, Wind riß in den Wanten, noch immer hoben und senkten sich ächzend die Plan‐ ken unter Kristofs Füßen. Er traf den Vollbärtigen. Ob er Hanni…? rief er. Der junge Mann, hinter Wollschal und Strickmütze, verstand nicht. »Hanni?« wiederholte Bahlstedt, aber die singenden Wanten wa‐ ren lauter. Ja, schrie der Vollbärtige, Amerika, dort sei noch Land für alle, gu‐ te Arbeit und ein gottgefälliges Leben, mit Hanni könnte er es schaf‐ fen. Bahlstedt zog ihn in den Windschatten. Gleich nach der Ankunft, bestätigte der junge Mann, wollten sie heiraten, man könnte doch ein junges Mädchen nicht schutzlos in die Prärie ziehen lassen. Sie sei ihm versprochen? fragte Kristof bleich. Was sonst aus ihr werden sollte? sagte der andere. Frau eines frei‐ en Mannes in einem freien Land, das würde nicht jeder Magd gebo‐ ten. Wo sie jetzt sei?
Der junge Mann erinnerte ihn an Hannis Vater. »Auf der Kranken‐ station natürlich!« sagte er, jeder im Dorf wisse doch, wie es um Bojens stünde. Bahlstedt ließ den Rivalen stehen und verschwand. Murmelte: »Dem Mann das Land und für die Frau den männlichen Schutz.« Aber fand das nicht witzig, und außerdem klang es so, als ob es Bet‐ tina gesagt hätte. Das Stampfen und Schlingern des Schiffes war unter Deck noch unerträglicher als draußen. Er torkelte durch die engen Gänge, wuß‐ te nicht, wo er die Krankenstation suchen sollte, und bis er sie ge‐ funden hatte, schrien Babys, und Mütter schimpften hinter ihm her. Er traf Hanni an der Seite eines Greises, der auf einem Strohsack lag und Blut hustete. »Warte!« flüsterte sie und tupfte dem Alten das Gesicht ab, be‐ hutsam und mit ergebener Geduld. »Ich muß bleiben, bis er schläft.« Kristof sagte drängend: »Ich gehe mit dir, wohin du willst. Ich werde auf Indianer schießen und Viehherden treiben, und ich werde dir helfen, die Windeln unserer Kinder zu waschen.« »Ich bin dem anderen versprochen«, sagte sie, »er hat Vaters Handschlag.« 4 Im stickig‐feuchten Dunst des Halblichtes wachte er auf und fürch‐ tete, wieder den Waschkrug, die Schüssel und den Nachttopf zu sehen, aber er lag unter Deck, und das Schiff rollte noch immer durch die Dünung. Dann hörte er trampelnde Stiefel über sich und barsches Kommandobrüllen, und als er sich aufrichten wollte, stieß sein Kopf heftig gegen die niedrigen Deckplanken. War er nicht auf der Krankenstation eingeschlafen, neben Hanni, verdammt, was schrie der Koch dort oben herum, suchte ihn, um ihn zu bestrafen?
Er kroch zu einer Luke, die an Deck führte, aber im selben Au‐ genblick brach Maschinengewehrfeuer los, dann hörte er einen dumpfen Schlag wie aus einer fernen Kanone, einzelne Schüsse antworteten, Bahlstedt klammerte sich am Lukengriff fest, hielt den Kopf eingezogen und die Augen geschlossen. Lange Zeit, nachdem es wieder still geworden war, wagte er, die Luke anzuheben und hinauszublinzeln: Im dünnen Morgenlicht sah er eine Bugspitze und eine Ankerwinde vor sich, noch immer trieb nordkalter Wind die Wolken übers Meer. Irgendwo im Regen voraus erkannte er die Umrisse eines Kanonenbootes, das quer vor der Bugspitze lag, ein Morselicht blitzte drüben an der Brücke auf, dann wieder, Bahlstedt stierte hinüber und versuchte, sich zu erinnern. Das Kriegsschiff vor ihm, antennenbestückt und vollbepackt mit ansehnlichen Schnell‐ feuerwaffen, gehörte offensichtlich nicht in das Jahr 1891. Er warf noch einen prüfenden Blick in den engen Raum, in dem er wach geworden war. Sah an sich selbst den blaugestreiften Kittel und die unbequemen Kniebundhosen, doch das verwirrte ihn nicht mehr. Nüchtern stellte er fest, daß er Hanni und ihren Vollbärtigen vor mindestens fünfzig Jahren zurückgelassen hatte, und diese Er‐ kenntnis tat weh. Neue Befehle an Deck. Rennen. Erwartungsvolle Stille: Das feind‐ liche Schiff schob sich längsseits, Tauwerk und Fender knarrten zwischen den Bordwänden. Und erst, als das Tuckern des Dieselmo‐ tors unter ihm anlief, fiel ihm auf, daß sein Boot bis jetzt ohne Fahrt in der unruhigen See gelegen hatte. Plötzlich wird die Luke aufgerissen, der Lauf einer Maschi‐ nenpistole erscheint, dann Schnürstiefel, eine olivgraue Uniform, ein Helm über einem Milchgesicht, »Come out here!« schreit der Sieger. Bahlstedt kriecht an Deck, jetzt erfaßt er mit einem Blick, auf was für einem armseligen Trawler er an diesem Morgen erwacht ist, ei‐ nem rostzerfressenen Fischkutter, kaum seetüchtig noch. Im Besan hängt eine weiße Fahne, vor dem Ruderhäuschen steht die Besat‐
zung, fünf Mann in Pudelmützen und Overalls, einer mit erhobenen Händen, die anderen reden auf das Prisenkommando ein. Das Milchgesicht reißt eine zweite Decksluke auf, wieder kriechen Zivilisten hervor, zerlumpte, zerhutzelte, angstvolle Gesichter, Frauen, Kinder. Sie sehen sich mißtrauisch um, starren das hoch aufragende Kriegsschiff, die fremden Soldaten an, und plötzlich bricht der Jubel aus. Sie umarmen sich, dann die Soldaten, küssen die olivgrauen Helme, lachen und reden durcheinander, und nun wird auch Bahlstedt umarmt und auf beide Wangen geküßt, und als er aufblickt, sieht er in Hannis Freudentränen. »Du auch – du bist an Bord, Hanni?« Sie nickte nur, lacht, küßt ihn wieder, vergräbt ihren Kopf an sei‐ ner Brust. Eine alte Frau sagt: »Gott sei Dank, wir haben’s geschafft, die Alliierten haben uns gefunden.« Ihre Kleidung riecht nach schwef‐ lig‐trockenem Meerestang. Hanni flüstert: »Es sind Pastor Beklunds Leute gewesen, weißt du’s nicht?« Und da er verwirrt schweigt: »Die uns zum Treffpunkt und dann weiter zum Fluchtschiff brachten! Seine Leute! Hast du sie nicht erkannt?« Ein Fluchtschiff also, versucht er die Erinnerung an den Aus‐ wandererdampfer loszuwerden, ich bin mit Hanni auf einem Fluchtschiff. Von wo und nach wo fliehen wir, und vor wem? »Wir hatten uns aus den Augen verloren, Kristof, aber ich habe dem langen Maat von Beklund gesagt, wo er nach dir suchen müßte, weißt du, der mit dem Vollbart.« »Camel?« hält ihnen der Marinesoldat ein Päckchen Zigaretten un‐ ter die Nase. »Thank you, no smoking«, stottert Bahlstedt, Hanni nimmt eine und zieht den Rauch tief ein, sagt: »Und wohin bringt ihr uns?« Der Soldat deutet mit dem Daumen nach Osten, »Danmark«. Und als Hanni erschrocken abwehrt, nickt er bekräftigend. »Danmark!« sagt er. »That’s okay!« Die deutschen Truppen in Skandinavien hät‐ ten an diesem Morgen kapituliert.
»Der Krieg ist aus?« murmelt sie, ihre dünnen, blassen Lippen fär‐ ben sich, die braunen Augen werden groß und rund. »Nazis kaputt«, sagt der Soldat. Zwar hätte das Reich noch nicht unterschrieben, nur die Heeresleitung in Skandinavien, noch drei, vier Tage vielleicht, aber Dänemark sei bereits befreit. »Die Nazis geschlagen!« sagt Hanni tonlos, starrt an Kristof vor‐ bei, ihr Kopf fällt nach vorn, sie sackt auf die Knie. »Good heavens!« sagt der Soldat erschrocken, ringsum ist es toten‐ still geworden. Irgend jemand stimmt heiser ein Lied an, andere fallen ein, schwermütige Töne wie Schatten aus Schatten, und rings‐ um nebliger Dunst und ein fremder Tag. Was geschieht mit mir? denkt Bahlstedt. Was erlebe ich, wenn es kein Traum ist? Was für Tage packen mich, und warum gerade diese? Erlebe ich Halluzinationen? Wird mein Bewußtsein manipuliert? Bin ich bereits so krank, daß mein Kontakt zur Realität gestört ist? Was hat die Zeit in Unordnung gebracht? Er blickt das zusammengekauerte Mädchen an. Wer ist sie? Warum treffe ich sie immer wieder, sie und niemanden sonst vom vorhergegangenen Tag? Ist es meine Liebe zu ihr? Welcher un‐ bekannten Kraft gelingt es, uns jedes Mal wieder zusammenzuführen? »Dein Vater!« erinnert er sich plötzlich. »Hanni, wo ist dein Va‐ ter?« Jetzt hebt sie langsam den Blick, streicht sich die Haare hinter die Ohren, ihr Kinn zittert. Sie schüttelt den Kopf, stumm und abwei‐ send, und wendet sich ab. Ein Marinesoldat brüllt: »Over there!« Und weist auf das Fallreep, das von dem Kriegsschiff auf das Deck des Trawlers herabhängt. Die Flüchtlinge steigen um und werden sofort in verschiedenen Kabinen unter Deck untergebracht, Bahlstedt sieht noch, daß Hanni in eine andere, weiter vorn liegende geführt wird. Eine Stunde später machten sie in Esbjerg fest. Der kleine dänische Hafen war vollgestopft mit Schiffen, kleinen und großen, halb zer‐ schossen und stolz beflaggten, kriegerisch bemalten und rostzerblät‐ terten. Zwei gut erhaltene Fischdampfer, die von der früheren deut‐
schen Besatzungsmacht requiriert und mit Treibstoff und Proviant ausgerüstet worden waren, dienten den Befreiern als Verwaltungs‐ station, ALLIED CONTROL hatte man mit weißer Farbe auf die Bordwände gepinselt. Die deutschen Offiziere, die mit den Schiffen nach Südamerika fliehen wollten, hatten in letzter Sekunde erkannt, wie sinnlos ein solcher Versuch sein mußte; jetzt hockten sie bereits in Internierungslagern. Die Opfer ihrer Besatzungspolitik kletterten müde und frierend über die Gangway und meldeten sich in der Schiffsmesse bei mür‐ risch‐hochmütigen, uniformierten Verwaltungsbeamten. In dieser Durchgangsstation für politisch und rassisch Verfolgte traf Kristof mit Hanni wieder zusammen. Sie wurden registriert, numeriert, erhielten Ausweise und Aufenthaltsgenehmigungen und Bezugs‐ scheine für Lebensmittel und warme Kleidung, und er suchte nach einer Gelegenheit, mit Hanni zu sprechen. Unwichtig jetzt, daß er noch immer diese lächerlichen Knie‐ bundhosen trug, diesen dünnen, gestreiften Kittel, die harten, hohen Schnallenschuhe, unwichtig auch, daß er seit gestern nachmittag nichts mehr gegessen hatte. Erst mußte er wissen, was zwischen ihnen beiden passiert war. »Ich habe dich verletzt…«, begann er vorsichtig, »verzeih…« Sie schaute leer und drängte an ihm vorbei. Er hielt sie fest. »Eine Gedankenlosigkeit…«, tastete er sich weiter, »ich begreife nicht, wie ich…«, ließ den Satz in der Schwebe, hoff‐ nungsvoll: »Hanni! Bitte!« Mitten im Gedränge standen sie angerempelt, weitergeschoben, er hatte nur Augen für das Mädchen. Sie sagte steif: »Du weißt genau, daß die Nazis Vater abgeholt und umgebracht haben. Warum fragst du nach ihm?« Und weinte. Er dachte an den alten Mann in der Krankenhausstation, der Blut spuckte und wahrscheinlich Amerika niemals erreichte. Dachte an den Tagelöhner auf Deekens Instenstelle, der vor lauter Not und Schulden verrückt geworden war.
Und dachte an einen vergifteten Chemiker auf dem Sterbebett… Sah Hanni an und sagte dünn: »Nun wird es gut werden. Der Krieg ist aus, die Nazis werden niemals mehr Menschen in Ver‐ nichtungslager deportieren.« Sie ließen sich vom Schiff hinunter auf die zerbombte Mole schie‐ ben, es regnete durchdringend, dicke Tropfen kleckerten ihnen von den Haarspitzen in ihre Kragen, sie spürten nur die Wärme des an‐ dern. Erst zögernd, dann immer eifriger redeten sie von ihrer Zukunft. Sollten sie in Dänemark bleiben? Nach Deutschland zurück‐ kehren? Auswandern? Wovon könnten sie leben? Was arbeiten? Bei wem? »Ich könnte…«, sagte Bahlstedt und biß sich auf die Lippen. Seine Berufskenntnisse halfen ihm in dieser Zeit nicht. »… beim Bauern?« überlegte Hanni. Aber die Landwirte wollten keine Flüchtlinge. Längeres, intensives Schweigen, dann begann Kristof wieder: »Wir haben eine Aufenthaltsgenehmigung.« »Aber noch keine Unterkunft«, stellte sie sachlich fest. »Vielleicht versuchen wir es bei den Alliierten?« sagte er voller Hoffnung. Sie fragten sich durch, vom Standortkommandeur zum Hafen‐ offizier, vom Transportleiter zum Divisionschef. Einen Fahrer brauchten sie nicht, erklärten sie Bahlstedt, einen Lagerverwalter nicht, auch keinen Nachtwächter. Für die Schreibstube dürften Aus‐ länder nicht verwendet werden, insbesondere keine Deutschen. Ob er gelernter Schlosser…? Oder Elektrotechniker…? Vielleicht Tisch‐ ler…? Nichts? Für einen Marketingmanager aus der Frankfurter Direktionsetage gab es keine Beschäftigung. »Aber das Mädchen!« sagte plötzlich der Hafenoffizier schmel‐ zend. »Vielleicht kann sie – abends hinter der Theke?« Bahlstedt hatte eine empörte Antwort parat, aber Hanni sagte schnell: »Okay.«
Es gab einen Vorschuß, für jeden eine warme Jacke und eine Un‐ terkunft neben dem Bootsschuppen, draußen, am Ende der Mole. Am Nachmittag schliefen sie erschöpft, und als die nasse, kalte Ap‐ rilnacht aus dem Hafenbecken stieg und in der Stadt vereinzelt Lampen aufblinkten, zupfte sich Hanni vor einem kleinen Taschen‐ spiegel zurecht und ging, und Bahlstedt kroch in seinen Verschlag, die dünnen Bretterwände hielten nicht einmal den Wind zurück. Von der Stadt scholl Singen und Johlen herüber, die Dänen feierten die Befreiung, irgendwo knallten Leuchtfeuer, ein Jeep röhrte am Bootshaus vorbei. Bahlstedt hockte auf einer Kiste, löffelte Armee‐ suppe aus einem Kochgeschirr, vor sich eine Packung Camel, die er nicht brauchte, und eine Flasche Whisky, die ihnen der Hafenoffi‐ zier zugesteckt hatte. »Meine Verlobte eine Bardame!« murmelte er. »Sie geht an‐ schaffen, und ich hocke hier herum und lasse mich aushalten.« Trotz der Suppe fror er, wickelte sich in ölstinkende Decken und zog die Knie bis unters Kinn. Immer bestimmen Männer die Spielregeln, und immer müssen es Frauen erdulden. Waren das Bettinas Worte? Er wollte nicht, daß Hanni etwas erduldete, fühlte sich Manns ge‐ nug, sie zu schützen, zu ernähren und glücklich zu machen, und schämte sich gleichzeitig seiner Nutzlosigkeit. Malte sich eine brave Hochzeit in einer braven Dorfkirche aus, schwärmte vom weißen Schleier auf ihren strohblonden Haaren, die rituellen Worte des Pfarrers rezitierte er wie ein Gedicht. Später, als der Regen wütend auf die Dachpappe prasselte und die farbenprächtige Hochzeit zerlaufen war, begriff er, daß Hanni in dieser schlimmen Nachkriegszeit viel eher als er imstande war, sich durchzuschlagen. Er würde ihre Schwierigkeiten verdoppeln, bliebe er bei ihr. Wenn er sie liebte, mußte er sie freigeben, ging es ihm im Kopf herum. Noch später, der Whisky wärmte ihm inzwischen den Bauch, summte er weinerliche Schlager vor sich hin, der nachtfeuchte Raum verschluckte sie. Das einzige, schiefe Fenster in der Bret‐
terwand war von Kristofs Atem beschlagen, auf dem Fußboden bil‐ deten sich Pfützen, er lag flach auf dem Rücken, ihm war elend. Die Nacht verrann im ersten Dämmern des Morgens. Endlich kam Hanni, stolperte müde in den Schuppen, aus ihren Armen polterten olivgrüne Büchsen mit englischem Aufdruck: Käse, Maisbrot, Milchpulver, Butter, Corned beef, slized chickens, THE BRITISH ROYAL ARMY. Mit durchnäßter Jacke und ohne die Schuhe abzustreifen, kroch sie zu Kristof unter die Decke. 5 »Wie ist’s mit frischem Kaffee, Langschläfer?« weckte sie ihn, er reckte sich auf dem harten Lager, schob die Decken zur Seite, mitten in der kleinen Hütte stand Hanni im knappen, zweiteiligen Badean‐ zug. Bahlstedt erschrak. War das ihre neue Arbeitskleidung? Würde sie in diesem Aufzug an der Bar stehen, beguckt und betatscht von den Soldaten…? »Langschläfer!« wiederholte sie neckend. Ihre blonden Haare fielen lang über die Schultern, fast bis zu den kleinen, weichen Brüsten. Zärtlich betrachtete er ihre kräftigen Hüf‐ ten, die langen, geraden Beine, die sonnengebräunte Haut, verliebt war sein Blick, doch noch immer saß ihm der Schreck in der Kehle. »So…« dehnte er das Wort, »… willst du nach draußen?« Er schluckte. »Es ist herrlich warm und windstill!« nickte sie. »Im Bikini?« Sie lächelte: »Das ist ein Tanga.« Verstört sagte er: »Meine kleine Hanni.« »Mein kleiner Kristof!« sagte sie schlagfertig.
Verwirrt hockte er auf der Schaumstoffmatratze, Whisky saß ihm noch unter der Schädeldecke, der Gedanke an die Soldatenbar ließ ihn nicht los. Zögernd fragte er: »Wie war’s?« Hanni stemmte die Hände in die Hüften, bog die Schultern nach hinten und lachte. »Mein Gott, seid ihr eitel! Das fragen wohl alle Männer am Mor‐ gen?« Er verstand nicht, was sie meinte, die Antwort ergab für ihn über‐ haupt keinen Sinn. Er schloß die Augen, spürte seufzend Hannis Wärme in der Wolldecke, schmeckte ihren Atem auf seiner Haut, vorsichtig öffnete er die Lider noch einmal: Die Hütte wirkte groß und freundlich, durch karoblaue Vorhänge platzte heller Sonnen‐ schein, Bahlstedt entdeckte nach und nach einen Kühlschrank, einen Herd mit Propangasflasche, eine Rüschenlampe an der Holzdecke und die Ausrüstung eines Sportanglers an der Wand, und dann kehrte sein Blick zu Hanni und dem dampfenden Kaffee zurück. »Du könntest dich mal rasieren, du Igel«, sagte sie und reichte ihm einen Bademantel, der ihm unbekannt war. Er stand auf, schaute aus dem Fenster, betrachtete lange den son‐ nenweißen Hafen, die vielen, still schaukelnden Segelyachten, da‐ hinter bunte Fischkutter, und am Ende der Mole, am Leuchtfeuer vorbei, ein glitzerndes Fährschiff. Es war der Hafen von Esbjerg, heil und freundlich und voller Betriebsamkeit, keine Nachkriegsschiffe mehr, keine Alliierten, keine Nazihinterlassenschaften, und der Ap‐ rilregen war vom blauen Himmel gewischt. Aus einem Kofferradio am Kai quollen Popsound und die haspligen Sätze eines dänischen Discjockeys. Er wendet sich um, »Hanni…«, beginnt er, stockt schon, ist diese selbstbewußte Strandnixe das schüchterne Mädchen vom Bopsluthof? die streng erzogene Auswanderin? die einsame Naziverfolgte? das Jeansmäd‐ chen auf dem Fahrrad? »– welcher Tag ist heute?«
»Mittwoch wohl«, strahlt sie, »oder Donnerstag, so genau behalte ich’s nicht.« Er fragt nach dem Datum. »Ist das so wichtig? Bis Sonntag ist Helga in der Boutique, so lange haben wir beide frei.« Er weiß nichts von Helga und nichts von der Boutique, doch in‐ zwischen hat er begriffen, daß kein Tag nahtlos auf den andern folgt. Nach der bösen Erfahrung gestern wägt er heute seine Fragen sorgfältig ab, und als Hanni meint, er sei wohl gänzlich verdreht, erwidert er fröhlich, ein Mädchen wie sie könne einem Mann schon gehörig den Kopf verwirren. Sie küßt ihn unbefangen. Nach drei Tassen Kaffee, einigen dänischen Rundstücken und ei‐ nem Glas Orangensaft weiß er: Hanni besitzt an der dänischen Fe‐ rienküste eine Boutique für touristische Andenken und einhei‐ misches Kunsthandwerk, sie betreibt den Laden zusammen mit ih‐ rer Freundin Helga. Jede von ihnen hat die Hälfte des Kapitals in‐ vestiert, Hanni hat ihre Summe von ihrem Vater geerbt, einem gut‐ bezahlten Chemie‐Forschungsangestellten der Großindustrie. Im Sommer kommen die Deutschen und kaufen fleißig; im Winter, wenn die Touristen ausbleiben, reisen Helga und Hanni umher und sorgen für neue Kommissionen. »Selbständig bist du?« sagt er. »Ein Kaufmann?« »Kauffrau«, ist die Antwort. »Einerlei«, meint er. »Du hast es, so jung du bist, schon zu etwas gebracht.« »Ihr seid wirklich sonderbare Käuze, ihr Männer!« platzt sie her‐ aus. »Das Berufsleben haltet ihr für eure Sache, und den Frauen wird nur ein hübsches kleines Reservat zugestanden, putzig und euch nicht gefährlich, da dürfen wir Sekretärin sein oder Fließband‐ arbeiterin, Lehrerin oder Verkäuferin, und damit ist eure Welt in Ordnung. Am liebsten ist euch natürlich die kostenlose Haushälte‐ rin, zart und anschmiegsam und auch sonst ohne Willen. Und doch
sagt ihr, man habe es zu etwas gebracht, wenn man aus diesem Re‐ servat ausbricht und das tut, was ihr selber tut.« Erschrocken murmelte er: »Mein Gott, du redest wie…« »Lieber Kristof, nein, ich bin keine von denen, die meinen, wenn sie sich nur eine Krawatte umbinden, seien sie den Männern nicht nur gleich, sondern schon überlegen. Ich weiß, daß ich als Frau ho‐ fiert und als Vertragspartner getäuscht werde.« »Ich will darüber nicht reden«, sagt er heftig. »Ich liebe dich, Han‐ ni.« Sie lacht. »Habe ich dich aus dem Takt gebracht? Ich liebe dich auch, Kristof, sonst säßest du nicht hier, nicht wahr? Als wir uns begegneten, wußte ich sofort, wir könnten uns lieben. Es wird ein schöner Sommer, dachte ich, als ich dich sah.« »Wann begegneten wir uns?« Sie drückt umständlich lange ihre Zigarette aus. »Jetzt erzählst du mal von dir, Kristof«, sagt sie. »Ich weiß über‐ haupt nichts über dich.« Es fällt ihm schwer, einen Anfang zu finden. Er sei Marketing‐ manager, beginnt er vorsichtig, schildert seine Berufslaufbahn und serviert ihr schließlich Kristof Bahlstedt auf dem Sprung in die Di‐ rektionsetage. »Und vorher schnell noch auf Urlaub?« »Zur Kur«, gesteht er. »Immer gehetzt? Immer Termine? Alles zum Wohl der lieben Fa‐ milie, die dich gar nicht zu sehen bekommt?« Er habe keine Familie. Sie summt, dann, wie hingetupft: »Siehst du, so einsam sind wir geworden. Jeder rennt seinem eigenen kleinen Glück nach. Aber was ist das schon?« Draußen zetern Möwen, vom England‐Kai schallt der tiefe Ruf ei‐ nes Fährschiffs herüber, zwei Phantom‐Jäger zerreißen mit einem Knall den Himmel. »Fahren wir heute zu dir?« sagt Hanni.
»Zu mir?« Er versteht nicht. »Ich möchte sehen, wo du wohnst.« Er sagt: »Ich wohne bei dir.« »Ja«, sagt sie, »seit drei Tagen. Und vorher?« In den nächsten Stunden rollen sie an Deichen und Weiden ent‐ lang, vorbei an weißen Gehöften mit blauen Fenstern und blauen Scheunentoren, an Traktoren und Reisebussen, durch Puppenstube‐ norte mit roten Häuschen und viel weißem Stuck und niedrig‐ grünen Türen. Hanni lenkt den Wagen mit leichter Hand, durchs offene Dach fällt schmeichelnder Seewind. Kristof sagt: »Ich möchte, daß du meine Frau wirst.« Sie tritt die Bremse, lehnte sich zurück, mit rascher Bewegung streicht sie sich das Haar hinter die Ohren. »Holla. Soll das ein Hei‐ ratsantrag sein?« »Willst du?« Sie schüttelt den Kopf. »Die Leute meinen, wenn ein Mädchen nur einen gut verdie‐ nenden Mann erhascht, dann habe sie schon alles erreicht. Aber von einem Mann, der so handeln würde, sagen sie, er sei ein Versager, denn er lasse sich von seiner Frau aushalten.« Wir kommen verdammt noch mal von diesem Thema nicht los, denkt er. »Ich sprach von Liebe!« sagt er beleidigt. »Aber Kristof!« lacht sie und küßt ihn. »Laß uns von Liebe spre‐ chen!« Während sie weiterfahren, immer nach Süden der Grenze zu, über schnurgerade, baumbestandene Chausseen, sagt sie noch: »Heirat ist ein Vertrag, den man nicht frei aushandeln kann.« Und ein ander‐ mal: »Bleib bei mir, so lange du magst. Eine ehrliche Abmachung, ohne Kleingedrucktes, ohne Verpflichtung, die man nicht überbli‐ cken kann.«
Die Straße mündet in ein Wäldchen, dahinter, im Mittagslicht der Sonne, das Zollhaus, Wappen, Landesfahnen. Der Grenzbeamte winkt sie freundlich weiter. »Liebe«, sagt sie. »Nicht Vertrag.« Wieder Deiche und Weiden und weißgeputzte Höfe, Traktoren und Reisebusse und schnurgerade Alleen, Kristof schweigt. Da sagt Hanni: »Ja, wußtest du nicht, daß immer die Frauen die Zeche zahlen?« In der Ferne erkannte er den eckig‐schwarzen Kirchturm, die Häu‐ ser mit den moosgefleckten Pfannen, Schilder ZUR FÄHRE, sie roll‐ ten durch die engen Straßen bis zum Hafen, auf dem großen, run‐ den Parkplatz stauten sich Inselgäste. Ein breites, schnaufendes Schiff hatte an der Brücke festgemacht, der Schlagbaum war hoch‐ geklappt, ein Mann mit blauem Overall und Armbinde winkte die Fahrzeuge einzeln auf die Schiffsplattform. Die Schiefertafel zeigte weithin 13.30 UHR, am Abfertigungshäuschen drängten sich die Urlauber in bunter Schlange. Kristof dirigierte Hanni in den kleinen Ort hinein, durch die schmale, ansteigende Gasse hinauf bis zu dem Platz zwischen Pfer‐ detränke und Friedhofsmauer, froh und erwartungsvoll wie einer, der nach langer Zeit wieder nach Hause kommt. Plötzlich schien ihm alles richtig, was Hanni gesagt hatte. »Abgemacht!« schrie er und küßte sie auf die Nase. Sie hielt vor dem Gemeindeamt. Die Stelle unter dem Parkverbotsschild war leer. Erregt ruderte Bahlstedt mit den Armen, spie dem Beamten im Gemeindebüro unzusammenhängende Wörter ins Gesicht und ver‐ stummte ebenso plötzlich, wie er hereingestürmt war. Der grauhaarige Mann in abgeschabter, grauer Joppe setzte um‐ ständlich die Dienstbrille auf. Das Auto? Hier abgestellt? Wann? Welcher Typ? Welches Kennzeichen? Notierte Bahlstedts Angaben und telefonierte mit der Polizei.
Nickte, wiederholte, nickte wieder, schrieb mit, warf einen langen Blick zu Bahlstedt, noch einen mit hochgezogenen Brauen, sagte: »Ja, ja« und: »Aha«, legte den Hörer auf und erhob sich aus dem grauen, abgeschabten Sessel. Dieses Auto, erklärte er und nahm die Brille wieder ab, sei nicht vor vier Tagen, sondern vor einem Jahr im Juni unzulässig im Park‐ verbotsbereich abgestellt worden. Der Halter des Fahrzeugs sei in dessen Heimatstadt als verschollen gemeldet, auch sei die Kfz‐ Steuer bisher nicht entrichtet worden. Das Fahrzeug, kostenpflichtig abgeschleppt und gegen Gebühr verwahrt, stünde auf dem Hof der zuständigen Revierwache. »Vor einem Jahr?« sagte Bahlstedt, blaß geworden. Der Beamte verlas die Notiz noch einmal. Vier Tage war es her, oder besser vier Nächte, überlegte Kristof, er war hierhergekommen und hatte den Unfall gehabt. Sein Blick fiel durchs Fenster auf die Straße, er sah das Mädchen draußen in ihrem of‐ fenen Auto, die blonde, selbstbewußte Hanni. War sie die Hanni Bo‐ jens mit dem Fahrrad? Der Beamte beruhigte ihn, nach Zahlung einer Strafgebühr und der Abschleppkosten würde ihm selbstverständlich das Fahrzeug von der Polizei wieder ausgehändigt, er brauchte sich nur auszu‐ weisen und die Kfz‐Papiere vorzulegen. Ja, lächelte er und zwinker‐ te mit den Augen, wo er denn bloß gewesen sei? Kristof verließ den Raum, so lange ihn noch seine Knie trugen. Er hatte weder Paß noch Führerschein noch Autoschlüssel. Schweigend klappte er neben Hanni auf den Beifahrersitz; sie fuhr los ohne zu fragen, hinter dem hohen Fenster des Dienstraums stand der Beamte und nickte verständnisvoll. »Vor vier Tagen!« murmelte Bahlstedt. Die asphaltierte Deichkuppe wurde am Ortsende breiter, Hanni steuerte einen Parkplatz an, auf dem bereits zwei Wagen in das wei‐ te, saftige Vorland hinausträumten, von der anderen Seite des Plat‐ zes grüßte sonnbeschienen das große, reetgedeckte Gasthaus her‐
über, an der rostrot getünchten Veranda HOTEL und im Fenster das Schild FREMDENZIMMER, den Hof beschattete ein breit ausladen‐ der Laubbaum, davor die Laterne mit der Bierreklame. Langsam kehrte das Blut in Kristofs Wangen zurück. Hanni stieg aus, streckte sich, warf einen kurzen Blick auf das wei‐ te, stille Panorama und sagte: »Was wollen wir hier? Laß uns nach Esbjerg zurückfahren.« »Du wolltest wissen, wo ich gewohnt habe.« Sie lachte. »Doch!« sagte er ernst. »Vor vier Tagen habe ich mich hier ein‐ quartiert.« »Okay«, lenkte sie ein und steuerte geradewegs die grüne Tür des Gasthofs an, »ich habe sowieso Hunger.« Kristof folgte ihr nicht gleich, er stand mitten auf der Straße, such‐ te den Koog und den Deich ab, das Land unter dem weiten Hori‐ zont, unschlüssig drehte er sich einmal um sich selbst. »Ist dir noch mehr abhanden gekommen?« rief sie. »Suchst du vielleicht dein Büro?« »Bopslut«, sagte er. »Ich suche den Bopsluthof.« »Was soll das sein?« Er starrte sie an. »Du kennst den Bopsluthof nicht? Hast du den Namen Hinnerk Deeken schon einmal gehört?« Sie sagte: »Ich war noch nie her.« Ihr dänischer Akzent klang deut‐ lich durch. Die rundliche Wirtin servierte schweigsam, nach dem Kaffee be‐ schlossen Hanni und Kristof, das Zimmer zu buchen. Am Nachmittag wanderten sie über Deich und Wiesen, turnten über Forellenbäche und träumten im Gras, rannten lachend und prustend über die Felder, aus einem knorrigen Gebüsch stoben Krä‐ hen auf. Am Abend sagte die Wirtin: »Die Rechnung vom vorigen Jahr darf ich Ihnen dazulegen?«
Es war dasselbe Zimmer, mit Blick über den Koog, mit elektri‐ schem Licht und Steckdose für den Rasierer, mit fließend warm und kalt Wasser und einem WC auf der anderen Seite des Gangs. Er be‐ stellte zwei Flaschen Sekt und ein Radio; in dieser Nacht wollte er mit Hanni feiern, die ganze Nacht hindurch und ohne Pause. Wenn ich nicht einschlafe, hoffte er, wird die Zeit nicht wieder zerreißen, ein Jahr kann ich verschmerzen, ein Auto auch, aber ich bleibe bei Hanni, Ehevertrag oder nicht, und sie bleibt bei mir. 6 Schrilles Läuten ließ ihn aufschrecken, und sofort wußte er, daß die Hoffnung getrogen hatte. Der Raum war wieder verändert, etwas größer und niedriger, dunkel, kahl und schmutzig, von der Decke flammte hartweißes Licht. An der gegenüberliegenden Wand stand ein zweites Doppelbett, eine bleiche junge Frau sprang heraus und stürzte zur Tür, aber Hanni kam ihr zuvor. Beide rannten nackt auf den Flur, der Mann in dem anderen Bett knurrte etwas, das Bahlstedt nicht verstand. Fünf Minuten später schrillte es zum zweiten Mal, man hörte die Frauen zurückkommen, es mochten vierzig oder fünfzig sein. Und kaum standen Hanni und die Bettnachbarin, noch tropfend, in der Tür, rief das Läuten die Männer unter die Duschen. Die Zeremonie wiederhole sich an jedem Morgen auf allen acht‐ undvierzig Fluren dieser Wohnanlage, erfuhr Kristof, nach Ende der Duschzeit werde die Wärmeenergieversorgung wieder abgeschaltet. Anschließend kleide man sich an und versuche, einen Platz in der Frühstückshalle zu erwischen. Es sei nicht ratsam, dabei zu trödeln, denn die Rationen seien knapp. Hanni schien sich hervorragend auszukennen, wußte Tricks, den rostigen Zapfhähnen trinkbare Limonade zu entlocken, angelte aus einem Berg trockener Brote frischen Frühstückstoast, mahnte ihn,
ausreichend zu essen, weil es in den nächsten Stunden nichts mehr geben würde. Sie trug einen plastikglatten Kittel wie alle anderen, ihre blonden Haare waren zentimeterkurz gestutzt, in ihrem schma‐ len Gesicht zeichneten Schatten Falten um Mund und Augen nach, und doch schien sie nicht älter als an dem Tag, an dem sie mit ihrem Fahrrad vor seinem Auto aufgetaucht war. Ihm war der Appetit vergangen, mißmutig schob er sich durch die Reihen der Frühstückenden, trat an die breite Fensterfront und starrte hinaus. Sah das langgestreckte Vorland, dahinter die offene See, regenverhangen und voll staubiggelben Gischts, ihm schien, als könnte er die flachen Inseln am Horizont sehen, den alten Mann in weißem Kittel, wie er vorm Haus stand und wartete. Bahlstedt rieb sich die Stirn, schluckte, es war ein merkwürdig raffender Blickwinkel, dann wurde ihm klar, daß er sich viele Stockwerke hoch befand. Er preßte den Kopf gegen das Glas, versuchte, die Ausmaße des Ge‐ bäudes abzuschätzen, und was er sah, erinnerte ihn an Feriensilos aus den siebziger Jahren, ein Hochhauskomplex unmittelbar am Deich, stupide Fensterreihen, Balkonstaffeln, Wände aus Sichtbeton. So weit er sehen konnte, waren die Gebäude außen ebenso verwahr‐ lost wie innen, Gestein bröckelte ab, viele Fenster waren leer oder notdürftig verklebt, Reste ausgeblichener Sonnendächer hingen, aus ihren Verankerungen gerissen, quer über die Fassaden, rings um die Häuser breitete sich Morast aus. Die Luft im Frühstücksraum, schweflig‐trocken, blieb ihm auf der Zunge kleben. Als Hanni neben ihn trat, sagte er schnell: »Laß uns hinausgehen.« Ihre Stimme war spröde. »Das ist nicht ratsam«, sagte sie. Er bat: »Ich brauche frische Luft.« »Komm mit!« Sie zog ihn auf den Flur. »Ich möchte dich mit unse‐ rem Zirkel bekannt machen.« »Es ist so stickig hier.«
»Du weißt es doch! Die Luft ist stets gefiltert und sterilisiert«, er‐ klärte sie geduldig. »Unsere Aktivgruppe für Gesundheitsschutz wacht ständig über die Meßergebnisse.« An den Wänden hängen große Anschlagtafeln: Vorschriften, An‐ ordnungen, Gruppenlisten für Freizeiteinteilung, Bekanntma‐ chungen des Verwaltungsbeirats, und rote Plakate mit merkwür‐ digen Parolen. GENÜGSAMKEIT HÄLT EUCH FIT DENKE DARAN, DASS JEDER ROHSTOFF WIEDER ZU VERWENDEN IST BEACHTE DIE HYGIENEVORSCHRIFTEN »Alles streng geregelt, was?« blubbert Bahlstedt. »Ein ausgetüfteltes Polizeisystem?« Sie sagt: »Da irrst du dich. Niemals ist der Mensch freier gewesen als heute.« Er lacht. »Ich kenne die Vergangenheit besser…«, will er sie beleh‐ ren, da schiebt sie ihn in einen kahlen Saal. Im Halbdunkel erkennt er einen Kreis von Leuten in grauen Plastikkitteln, sie hocken auf dem Boden und schweigen. Als Hanni und er näherkommen, erhebt sich eine knochige Gestalt, jäh erinnert sich Kristof, die Frau schon einmal gesehen zu haben. Sie sagt mit fisteliger Stimme: »So? Du meinst, du kennst die Ver‐ gangenheit? Willst uns erzählen, vor fünfzig Jahren sei es besser gewesen?« Kichert und zeigt dabei gelbverdorrte Zähne. Diese Frau! Dieses Gesicht! Die Stimme… »Meinst, damals waren die Menschen weniger eingesperrt und wurden weniger reglementiert? Hätten frei entscheiden können, was sie tun, wie und mit wem sie ihr Leben gestalten? Das kannst du doch im Ernst nicht behaupten, Kristof! Sein ganzes Leben lang
war damals der Mensch in einen vorgeschriebenen Ablauf einge‐ pfercht, schon den kleinen Jungen und Mädchen wurde eingetrich‐ tert, was sie zu denken und wie sie sich zu verhalten hätten. In pa‐ ramilitärischen Anstalten, die man Schulen nannte, wurden sie in Leistungs‐ und Erfüllungsvorschriften trainiert, und später regelte der Zwang, Geld zu verdienen, ihren Tag vom Wecken bis zum Schlafengehen. Frei entscheiden? Nicht einmal bei der Hautfarbe ihres Partners überließ man den Mädchen ihre Entscheidung.« Hanni hat sich mitten in den Kreis gesetzt, verwirrt blickt Bahlstedt von ihr zu der Alten und wieder zu ihr, unwillkürlich hockt er sich in die Runde der Schweigenden. »Hier ist kein Platz für dich!« faucht die Alte. »Eure Tage sind Gott sei Dank vorbei! Damals, in deiner gepriesenen Zeit, als nur Fäuste und Ellenbogen und Ruchlosigkeit zählten, da hättet ihr noch mit uns zusammen darüber nachdenken können, was ihr falsch gemacht habt. Jetzt ist eure Männergesellschaft passe, du hast in diesem Kreis nichts zu suchen.« Frauen, zwölf, vielleicht fünfzehn graue Gestalten unter‐ schiedlichen Alters, trockne Gesichter, geschlossene Augen, die Bei‐ ne untergeschlagen. Kristof findet Hannis Blick, drängend sagt er: »Wer ist diese Frau?« Damals, im Ort, die Unfallzeugin… oder… wer…? »Schau dich um!« ruft die Alte hart. »Was ihr Männer gemacht habt! Immer mehr Wachstum und Forschung und Kampf und Gier, und wir Frauen haben immer mehr Dreck zusammengekehrt und euch trotzdem geliebt und gepflegt und Kinder geboren und um‐ hegt. Eines Tages habt ihr gesagt, hier ist uns leider ein Fehler unter‐ laufen, nun stimmt’s mit der Wirtschaft nicht mehr. Und dort ist uns leider ein Werksunfall passiert, jetzt ist das Land verseucht. Und leider haben unsere Berechnungen nicht ganz gestimmt, nun wer‐ den wir die Energien nicht bändigen können, die wir nutzen woll‐ ten. Und wir haben euch geliebt und bewundert und haben darauf vertraut, daß ihr’s schon wieder in Ordnung bringt. Dann habt ihr
die meisten Städte zu A‐Zonen erklärt und viel schönes Land zu B‐ Zonen, und um die Reste habt ihr euch gerauft wie die Gassenjun‐ gen. Dabei ist noch mehr zu Bruch gegangen, und wir haben die Scherben fortgeräumt und um euch gejammert und, wenn ihr zer‐ stückelt nach Hause kamt, eure Wunden geküßt. Und als keiner von euch mehr die Kraft besaß zu befehlen, haben wir die Verwundeten und die Verzweifelten in eure tollen, gewinnträchtigen Ferien‐ zentren gebracht, denn das waren die letzten Gegenden, die noch nicht A‐ oder B‐ oder sonstwie verwüstete Zonen waren, und haben euch beweint.« Sie steht da und starrt an ihm vorbei, mitten in die Stille hinein sagt er: »Was für ein schreckliches, armseliges Leben! Und da meint ihr, die Menschen wären heute so frei wie nie zuvor?« Die Alte zerrt ihn hoch und sagt: »Natürlich sind wir frei! Nie‐ mand zwingt uns mehr ein System auf, in dem wir die Not und ei‐ nige wenige Herren den Überfluß haben. Niemand verlangt von uns Frauen mehr, täglich am Fließband die Arbeit von Robotern zu ver‐ richten und nächtens den Männern dienstbar zu sein. Niemand er‐ findet mehr Weltanschauungen, an die wir zu glauben haben, und verurteilt uns, wenn wir so denken und handeln, wie wir selbst gern möchten. Unsere tägliche Versorgung ist vielleicht nicht mehr so bombastisch wie damals, aber wir haben gelernt, sparsam zu leben.« »Und was tun die Männer?« Sie deutet über den Flur hinaus ans andere Ende des Blocks. »Sie sind dort, wo sie hingehören, im Spielzimmer. Audiovisuelle Unterhaltung, kreatives Planen, Basteln, Sport und Spiel.« Sie sagt: »Auch sie dürfen tun, was sie wollen, erinnerst du dich, Kristof? Du weißt doch: Hier in unserem Kreis habt ihr nichts zu suchen, euer Gefühlsleben ist nicht stark genug entwickelt, als daß ihr an unseren Meditationen teilnehmen könntet.« Er blickte auf den Kreis der Frauen, mitten drin Hanni, hell und fast durchsichtig. »Ihr meditiert?«
Die Alte klatscht in die Hände, alle schauen hoch, sie sagt: »Hört mal her! Ein großer Erfolg unseres T‐M‐Trainings!« Die Frauen springen auf, umringen die beiden, eine sagt ehrfürchtig: »Was hast du erlaubt?« »Mit ihm in fünf Tagen durch zwei Jahrhunderte!« sagt sie stolz. »Ich glaube, das hat auch Kristof gutgetan. Er hatte sich von seinem letzten Spaziergang nicht recht erholt, Ausspannen hatte ihm unsere Medizinerin diktiert. Ich also mit ihm los – diese unmittelbaren Er‐ fahrungen kann keine audiovisuelle Berieselung ersetzen.« »Und du hast nicht befürchtet, der Taschentransi könnte euch im Stich lassen?« sagte eine andere bewundernd. Und eine dritte: »Du hast vielleicht Mut!« Eine ihr fast Gleichaltrige nickt andächtig: »Ein bemerkenswertes Trance‐Meditations‐Ergebnis, Bettina.« Seine Augen weiten sich, er starrt die Frau an, seine Wangen zu‐ cken heftig. Plötzlich packt er Hanni und flieht zur Tür. »Das ist alles, was euer fabelhaftes Leben ausmacht?« schreit er in den Saal zurück. »Träume? Flucht aus eurer beschissenen Wirklichkeit? Und um euch herum laßt ihr alles verkommen? Die Wohnungen, die Ge‐ bäude, die herrliche Gegend am Meer? Ihr bereitet keine wohl‐ schmeckenden Speisen mehr, schmucklos ist eure Kleidung – und wann, wenn ich fragen darf, kümmert ihr euch um die Kinder?« Er hat die Türklinke bereits in der Hand, da sagte Bettina, seine al‐ te Freundin, hinter ihm: »Vielleicht gibt’s noch Kinder im australischen Busch, oder in den Urwäldern jenseits der Sahara. In unseren Regionen sind die Men‐ schen seit den letzten mißglückten genetischen Großversuchen ste‐ ril.« Die Tür fällt ins Schloß, die Luft ist stickig wie im Leichenkeller, Bahlstedts Lippen öffnen sich, roter Schaum tritt ihm vor den Mund. »Hanni!« schluckt er, »nur fort! Raus, weg von hier!« »Es wird kein Morgen mehr geben«, sagt sie ruhig.
Schwer atmend, die Erinnerung wie einen Kloß in der Kehle, zog er das Mädchen zur Treppe, stolperte über seinen eigenen Plastikkit‐ tel, kam wieder auf die Beine und sprang die Stufen hinunter, drei‐ hundert Stufen bis zum Eingangsschloß, und als sie unten anlang‐ ten, hing ihm der Kittel in Fetzen um die Beine. »Raus!« ächzte er wieder. »Ich brauche frische Luft!« Hanni sagte sanft: »Die Luft hier drinnen ist frisch.« Er stand mit rasselndem Atem vor einer glasgepanzerten Schleuse, die hinausführte. Draußen Regen und aufgeweichter Lehmboden, drinnen, im flimmernden Röhrenlicht, die automatische Datenan‐ zeige der Arbeitsgruppe Gesundheitsschutz: WARTE WETTERBESSERUNG AB DER AUFENTHALT AUSSERHALB DES GEBÄUDES IST GESUNDHEITSGEFÄHRDEND »Stufe 4«, sagte Hanni. »Höchstens also für zehn Minuten. Vielleicht ist es am Nachmittag freundlicher?« »Ich halt’s nicht aus.« Sie zog ein kleines Gerät aus der Tasche und sprach hinein, die Schleuse öffnete sich. In der Kammer zwischen den beiden Glas‐ türen sagte er: »Alles elektronisch und ferngesteuert? Woher habt ihr so viel Energie, wenn sie nicht einmal fürs heiße Wasser reicht?« Sie lächelte. »Hast du vergessen? Wir nennen es organische Ener‐ gie, unsere eigene Körperenergie, verstärkt und umgesetzt zur tech‐ nischen Hilfe. Sie treibt eure Videogeräte und Musikbänder, die Spieltische und die Sprechverbindungen, und wir Frauen haben noch viele weitere Anwendungsbereiche entdeckt. Ohne Ta‐ schentransi ginge eigentlich nichts mehr.« Neugierig wollte Bahlstedt das Gerät anfassen. »Nein!« sagte sie schnell. »Du weißt doch, daß du es nicht be‐ rühren darfst.«
Jetzt glitt die Außentür zur Seite, er stürzte hinaus in die re‐ genvolle Luft, sie war schwefliger, stinkender als alles, was er bisher geatmet hatte, wie Berge verwesenden Tangs. »Stufe 4«, hörte er Hanni sagen. Sie stand hinter ihm und preßte sich ein präpariertes Tuch auf Mund und Nase, in dem Regen wirk‐ te sie nebelhaft, durchsichtig wie ein Schemen. »Schütz dich!« rief sie mit ihrer dünnen Stimme, mechanisch zog er das Mundtuch aus der Brusttasche seines Kittels. Der Westwind drückte die Wolken tief in das Land, gelb färbten sie den Himmel bis zum Horizont, und gelb war die kahle Gegend ringsum. Die Betonburgen standen zu mehreren Gruppen am Rand des ehemaligen Koogs, zwölf unter‐ schiedlich hohe Appartmentblocks, hintereinander gestaffelt. Aus einem Flachbau, der früher einmal ein Hallenbad war, ragten dünne Schornsteine und Antennen, im Freibecken dahinter türmten sich leere Konservendosen, aus einem Vergnügungspark ragten Kinder‐ schaukeln wie Strümpfe. Kristof ließ Hannis Hand nicht los, stolperte vorwärts über die aufgeweichten Reste der Deichstraße, Tränen liefen ihm übers Ge‐ sicht und mischten sich mit den fettigen, übelschmeckenden Regen‐ tropfen. Es gab keine Weiden mehr, kein Vieh graste am Deich, kein Kornfeld wuchs mehr im Koog, er sah keine Katzen, keine Hunde, die Vorgärten waren verwüstet und leer, die roten, stuckverzierten Häuser zu Ruinen geworden, nicht einmal Möwen kreischten über der See. »Auf die Inseln, Hanni, wir müssen die Inseln erreichen!« keuchte er und rannte und zog sie mit sich, sie schien puppenleicht. Er fand die zerbröckelte Friedhofsmauer, den Platz, an dem ein‐ mal das Gemeindeamt gestanden hatte, von hier aus konnte er frei bis zum Hafenbecken hinunterblicken, die Seeseite des Dorfes war vollständig zerstört vom tödlichen Wind. Mit brennenden Augen starrte er auf die Fährbrücke, die wie ein ausgeglühtes Skelett in den Himmel stieß, früher einmal rot‐weiß bemalt, war sie, wie alles, phosphorgelb.
»Mein armer Kristof!« sagte Hanni leise. Er schrie: »Das Schiff? Wo ist das Schiff? Die Fähre zu den Inseln? Wir müssen uns endlich übersetzen lassen!« Sie seufzte, ihr Körper war nur noch ein Hauch, die zarten Schul‐ tern konturlos, die Hüften, die Beine zerflossen, nur ihre großen braunen Augen sah er noch deutlich. »Du weißt doch!« schrie er weiter. »Der Mann dort! Der alte Mann! Der Chemiker! Er ist der einzige, der uns retten kann.« Vater ist tot, hörte er Bettina hinter sich sagen. Der Regen ließ nach, über dem Meer klarte es auf. Ein schiefer Sonnenstrahl stahl sich aus den Wolken aufs ölgelbe Wasser herab, für einen Augenblick sah Kristof die Silhouetten der Inseln am Ho‐ rizont. Du mußt heim, Kristof, die zehn Minuten sind längst überschritten, du weißt doch, was Stufe 4 bedeutet. Warum rennst du immer wieder hinaus? Er konnte Hanni nirgendwo sehen, es war, als sei sie mit dem Regen ins Land zurückgekehrt, der Wind griff ihm unter den zerfetzten Kittel, er zit‐ terte. »Hanni!« brach es aus ihm heraus, Tränen liefen ihm über die zuckenden Wangen, die Beine knickten ihm ein. Er glitt an der Friedhofsmauer zu Boden, hustend, röchelnd, blind, sein Körper klatschte gegen die verwit‐ terten Steine, die herumlagen, Brocken aus der Mauer und alte, geborstene Grabsteine, Fieber schüttelte ihn. Es hat keinen Zweck, zur Insel hinüberzufahren, Vater ist tot. Begreif doch endlich, eure Zeit ist vorbei! Männer können nicht mehr helfen. Wie durch Nebelschleier sah er die Hochhäuser, Gefängnisse am Meer, er haßte dieses eintönige, sinnlose, entsetzliche Leben, die sterilen Flure, sterilen Betten, sterilen Gespräche, sterilen Spiele, die verfluchte sterile Luft. Tief sog er noch einmal den Wind ein, der von See herüberkam, sein Kopf fiel nach vorn und schlug auf der Kante des Granits auf. Er konnte die Inschrift nicht mehr entziffern, aber er kannte sie von seinen vielen früheren Ausflügen:
Hier ruht HANNI BOJENS geb. 15. 2. 1815 gest. 1. 9. 1835 Sie war Hinnerk Deeken stets eine gute Magd und diente treu bis zu ihrem plötzlichen Tod auf dem BOPSLUTHOF am Deich.
Pelargonium mentale Meine Geranie? Urkräftig und munter! Seit dem Vorfall vor vier‐ zehn Tagen – deshalb kommen Sie doch? – gedeiht sie besser als je zuvor. Wenn die Sonne durchs Fenster scheint, raschelt sie be‐ haglich, läßt sich von den warmen Strahlen die Blattspitzen kraulen, sehen Sie, wie sie blinzelt? Sie beobachtet uns, aufmerksam ist sie und klug, hört, bevor Sie ein Wort ausgesprochen haben, bemerkt Sie, auch wenn Sie sich versteckt halten, sie kann – he? Was ist mit dir? Warum wirst du unruhig, he…? Was sagten Sie? Entschuldigung, ja, bitte nehmen Sie Platz, dort im Sessel vielleicht – das ist Ihnen zu sonnig? Sie können ihn in den Schatten rücken, bitte, schieben Sie den Sessel in den Schatten, dort hinüber, da hat er früher immer gestanden. Ich bin lieber am Fens‐ ter, die Oktobersonne dringt gar nicht mehr so tief in die Poren, aber sie wärmt noch, eine still brütende Wärme, die bis in die feinsten Wurzelenden zieht. Möchten Sie Tee? Nicht? Umso besser, ich verlasse diesen Platz ungern, stundenlang kann ich hier stehen und hinausschauen, es macht Spaß, von dieser Höhe in die Häuser und Gärten zu blicken. Dort drüben zum Beispiel, im vierten Stock, hat eine Frau ein nack‐ tes Asterngewächs in die Vase gestellt, und dort, in der Wohnung nebenan, räkelt sich eine gut entwickelte Dieffenbachia. Besonders zur Südwestseite hin, an der Hafenstraße, gedeihen die Pflanzen, die Balkons liegen geschützt, dort unten, in der zweiten Etage, schaukeln Fuchsien über die Kästen, sehr freundliche Exemplare, selbst wenn es regnet, sagen sie Guten Morgen. Und dann, hinter der Mauer, schon auf dem Hafengelände, an der Rückwand des Lagerschuppens – nur von hier oben kann man sie sehen! – hat sich eine Primelclique angesiedelt, primula alata, Wildwuchs, jung und
geil. Sehen Sie, wie sie lachen und winken, jedesmal schießt mir die Hitze unter die Blätter, wenn sie mich grüßen… Wie? Also, wie lange wir hier wohnen? Warten Sie: Diese Geranie ist jetzt ein Jahr alt, ein Steckling, habe ich selbst gezogen, aus der Mutterpflanze geschnitten und immer warm und trocken gehalten, man muß sie mit sehr kleinen Portionen füttern, nicht zu viel Feuch‐ tigkeit, das verträgt sie nicht, nie darf es so weit kommen, daß die Wurzeln anfaulen. Vorher, die Mutterpflanze, stand drei Jahre, ob Sie’s glauben oder nicht, drei Jahre, und sie war auch nicht die erste. Die hab’ ich bekommen, als ich zwölf war, das heißt, ein langstieli‐ ger Kerl hat sie Mutter geschenkt, das war ein Mann ohne Haare auf dem Kopf, aber am ganzen Körper, wie Pelz bedeckten sie die Haut, so daß sie grün schimmerte, samtgrün, das konnte ich sehen, wenn er morgens aus Mutters Bett gekrochen kam. Damals waren wir hier gerade eingezogen, Mutter sagte, sie hätte jetzt feste Arbeit und könnte sich die Wohnung leisten, hat Möbel gekauft und Geschirr und eine Stereoanlage, auf der ich meine Dis‐ coplatten hören durfte. Aber nicht lange, Mutter vergaß wohl, die Raten zu zahlen, der Lieferant holte die Anlage wieder ab, und ei‐ nen Monat später war auch der Wohnzimmerschrank weg. Mutter bekam schlechte Laune und verprügelte mich, sie hatte ei‐ ne gemeine Art zu prügeln. Sie stieß und trat mich, bis ich stolperte, dann riß sie mir die Hose runter und klatschte mir auf den Arsch, und wenn ihr die Hände weh taten, schlug sie mit einem Küchen‐ brett weiter, sie hatte damals oft schlechte Laune. Das änderte sich, als dieser Kerl auftauchte, nie hat jemand so beruhigend auf sie ge‐ wirkt, sie war sehr fröhlich in dieser Zeit. Die halbe Nacht hindurch sang sie und kreischte, stöhnte und lachte wie die Möwen, manch‐ mal kam sie gegen Morgen noch einmal aus dem Schlafzimmer und plätscherte im Bad, und auf dem Rückweg beugte sie sich über mein Bett und küßte mir die Stirn, ihre langen, zärtlichen Haare fielen dabei auf mich herab.
Ich schlafe hier unterm Fenster, Herr Kommissar, auf dieser Couch, die Wohnung hat nur zwei Zimmer, wie Sie wissen. Wäh‐ rend meiner Schulzeit mußte ich früh aufstehen, Mutter schlief noch, wenn ich aus dem Bett mußte, meist ging ich ohne Frühstück. Nur damals – dieser Kerl kümmerte sich um mich, kochte mir Ka‐ kao und gab mir Schulbrot mit. Nachmittags spielte und bastelte er mit mir, bis Mutter aus dem Geschäft kam, sie arbeitete drüben, bei Benders, hier gegenüber. Sie kam sehr pünktlich, und immer sang sie, man konnte sie durchs ganze Treppenhaus hören. Sonntags machten wir Ausflüge, Hafenrundfahrten oder Wattwanderungen, komisch, es zog ihn meistens zum Meer, obwohl er Wasser nicht leiden konnte. Er wurde traurig, wenn es regnete, und um Pfützen machte er große Bogen. Aber das Meer gefiel ihm, »eine zeitlose Weite«, sagte er, und seine Augenwimpern wurden schwer wie Staubgefäße. Manchmal sagte er auch: »Es kennt keine Jahre, hat keinen Anfang und kein Ende«, oder so ähnlich, es war eine un‐ heimlich schöne Zeit. Warum sie plötzlich zu Ende ging, weiß ich nicht. Eines Nachmittags, es war Oktober wie jetzt, sehr stürmisch, das Wetter krachte gegen die Fensterscheiben, hockte er wortlos im Ses‐ sel, dort, wo Sie jetzt sitzen, welk sah er aus. Stand auf und verließ die Wohnung, ich sagte noch: »Mutter wird gleich hier sein«, aber er tat, als hörte er mich nicht. Mutter kam an dem Tag später, sie hatte getrunken und brauchte etwas Zeit, das Schlüsselloch zu finden, und als ich ihr die Tür öffnete, hing sie am Arm ihres Kollegen. Sie rief »Geschäftsjubiläum« und »Sektpfropfen knallen lassen«, und der Friseur feierte mit uns bis zum nächsten Morgen. Es war ein Wochenende, und als wir aufwachten, hing die Sonne schon wieder tief zwischen den Verladekränen von Pier 3. Der Samtgrüne kam nicht zurück, wir schmorten den ganzen Sonntag über allein in der Wohnung und langweilten uns, alles war wie früher, nur in der Nacht stand Mutter neben meinem Bett und beugte sich herab, sie murmelte: »Begreifst du das, Junge, begreifst
du’s?« Was sollte ich begreifen, Herr Kommissar, immer waren Freier gekommen und gegangen, der Kerl war weg. Prostitution, sagen Sie? Also da kann ich Sie beruhigen, ich weiß, was eine Nutte ist. Das Mädchen dort drüben, parterre, in dem Zimmer, wo’s dunkel und kahl ist, steht Abend für Abend vorm Haupttor, Freihafen, Sie kennen den rotblauen Platz? Da steht sie mit Handtäschchen und Stöckelstiefeln, die ist registriert und muß regelmäßig zur Untersuchung. Früher saßen wir zusammen in einer Klasse, obwohl sie älter ist als ich, zu mir hat sie mal gesagt, ich könnte es bei ihr umsonst haben, und dabei wollte sie mir mit der Hand zwischen die Beine, aber sie hat so glatte, feuchte Haut, und blaß ist sie, sehr blaß, selbst im blauroten Licht. Ich hab’ nur geant‐ wortet: »Paß auf«, sagte ich, »daß dein Lui nichts davon erfährt«, da hat sie mich angespuckt, ich wäre wohl nicht ganz trocken, hat sie gesagt, seitdem läßt sie mich in Ruhe. Mutter war keine Prostituierte. Sie haben es doch in Ihren Akten, damals arbeitete sie als Friseuse bei Benders, in solch einem Salon lernt man schon mal einen Kerl kennen, der einem gefällt. Mir war’s recht, Mutter wurde friedlich, wenn sie einen Mann im Bett hatte, ließ mich in Ruhe, es kam sogar vor, daß sie mir am nächsten Tag meinen Lieblingspudding kochte. Manchmal kam der Friseur, manchmal waren es andere, niemand von den Kerlen mochte Watt‐ wanderungen oder Hafenrundfahrten, sie konnten auch nicht bas‐ teln, die Stinker waren hohl wie Binsenkraut. Es wurde ein Winter, der kein Ende nahm. Ich bin immer allein gewesen, aber in diesem Winter war mir zumute wie auf einer trei‐ benden Scholle. Ich bekam Schneeaugen, rot und klein und voll flimmernder Punkte, Mutter sagte, ich solle nicht immer draußen herumstrolchen, das bekäme mir nicht, aber hier drinnen war doch erst recht nichts los! Wenn ich von der Schule kam, marschierte ich durch den Botanischen Garten und dann zum Pier 1 und von dort hinaus bis zur Überseebrücke, sie ragt kantig und schaukelnd in die
Dämmerung hinaus, immer sah ich das Meer schwarz und tot und von vielen braunen Eisschollen zugedeckt, warum kennt es keine Jahre? Was meinte er damit, es habe keinen Anfang und kein Ende? Es war schwarz und tot! Mutter antwortete: »Schrecklich siehst du aus«, ihre Gespräche mit mir beschränkten sich schon immer auf Zurechtweisungen, »mach deine Schularbeiten«, »laß mich zufrie‐ den« und »red kein dummes Zeug«, ich wollte mit ihr über das Meer reden und ob es sterben könnte, sie sagte nur: »Du siehst wie‐ der schrecklich aus«. Ihre Unterhaltung hob sie sich für die Gäste im Schlafzimmer auf. Eines Tages, die Pfützen auf den Straßen waren zu Binnenseen geworden und das Eis an der Überseebrücke hatte den ersten Früh‐ lingssturm nicht überstanden, warf ich aus Wut alle Bastelarbeiten in den Müllschacht, alle Figuren, die mir der Samtgrüne zusam‐ mengeklebt hatte, auch den Spaten und die Hacke und den Gärtner, der aus Pappe war, den auch. Aber der Schnee blieb, ich hörte noch immer das tote Meer schwappen, nichts war geschehen, nichts wür‐ de geschehen, schließlich gab es auch keine Wut mehr. Es stellte sich heraus, daß es Mutter ernst meinte mit dem Friseur, sie redete plötzlich vom Heiraten und wollte Juniorchefin werden. Der Herr Bender holte sie abends zum Ausgehen ab, und ich schlich durch die böignassen Straßen zur Überseebrücke hinaus, doch ich kam und kam nicht drauf, was der Samtgrüne gemeint hatte, das Meer stank, so tot war es. An einem Nachmittag im April stand er in der Tür, die Sonne machte ihn blinzeln, stand da und blinzelte und trug einen Blu‐ mentopf im Arm, als ob er ein Baby hielte, die Geranie war in wei‐ ßes Seidenpapier gewickelt. Er kam herein und grinste, stellte sie vorsichtig auf den Tisch und nahm die Hülle ab, und als ich die bei‐ den knallroten Blüten sah, mußte ich lachen, ich lachte und lachte, stieg auf den Tisch und gab ihnen einen Kuß. Sie schmeckten pel‐ zigwarm, Mutter keifte, der Kerl zerknüllte das Seidenpapier zu
einer Kugel und grinste, schleuderte die Kugel in Mutters Kissen, und die Schlafzimmertür fiel zu. Ich habe den ganzen Abend lang den Blumentopf mit mir her‐ umgeschleppt, ließ ihn nicht aus den Augen, schließlich nahm ich ihn mit ins Bett. Beim Herumtragen kitzelten mir die Blüten die Na‐ se, das machte mich fröhlich, ich kitzelte zurück, wir haben uns gleich prächtig verstanden. Irgendwann in der Nacht verließ der Kerl Mutters Schlafzimmer, ich hob vorsichtig den Kopf und sah ihn gerade noch verschwinden, wie ein Schatten sickerte er durch die Wohnungstür, zuletzt sah ich nur noch einen Hauch von Grün, er hat sich nicht mehr nach mir umgeblickt. Mutter war am nächsten Tag seltsam bleich und zerknüllt, sprach nichts, machte nichts, saftlos, wie ausgelaugt, ich mußte sie an ihr Make‐up erinnern, sonst wäre sie so weiß und knittrig zur Arbeit gegangen. Von da an stand die Pflanze hier über meinem Bett auf der Fensterbank, im Herbst habe ich von ihr die ersten Stecklinge abgeschnitten, sehr kräftige Burschen, die gesunde Wurzeln krieg‐ ten. Ich hätte sie dem Kerl gern einmal gezeigt, aber er kam nie wie‐ der. Eigenartig, wie mich die Pflanze veränderte! Ich gewöhnte mir das Herumstrolchen ab, vergaß das Meer und die Überseebrücke und den Botanischen Garten und kam jeden Mittag auf dem schnellsten Weg von der Schule hierher, aufs Fensterbrett. Anfangs erklärte ich der Geranie, was von hier oben alles zu sehen war, bei gutem Wetter kann man sogar unterm Horizont die Küste erkennen. Wir machten Ratespiele, wer was wo am schnellsten entdeckte, meistens verlor ich. Sie werden’s nicht glauben, Herr Kommissar, die Geranie sieht Dinge, bevor sie im Blickfeld auftauchen, und wenn sie zu schnell wieder verschwinden, kann sie sie festhalten. Doch! Sie stoppt den Flug der Möwen und hindert die Menschen auf der Straße am Ge‐ hen, sie bringt noch feinere Kunststücke fertig. Ein Junge, so alt wie ich, kam zu Benders Salon auf einem neuen, silbergrünen Fahrrad. Wir glotzten es an, es stand dort drüben an
die Wand gelehnt, wir glotzten hinüber, und ich dachte immer nur an dieses prächtige Fahrrad. Als der Junge wieder aus dem Laden kam, blieb er ruckartig stehen, stand einfach dumm herum und rührte sich nicht. Plötzlich schickte ihn die Geranie zu Fuß weiter. Ich sag’s Ihnen! Er ließ sein Fahrrad stehen und verduftete. Es ist mir inzwischen ein bißchen klein geworden, aber ich fahre es noch. Etwas später wußte ich, daß sie viel mehr kann. Von Anfang an mochte sie den Friseur nicht, den Juniorchef, den Mutter heiraten wollte. Sie fand ihn dämlich, lästerte hinter ihm her, und jedesmal wurde er wütend. Mutter stand hilflos herum, ver‐ suchte, ihn zu besänftigen, holte Bier aus dem Kühlschrank und kraulte ihm den Nacken, sagte abwechselnd »Dicker« und »Herr Bender« zu ihm, aber er zankte und schrie, so habe ich noch keinen Kerl spucken gesehen. Nachts versuchte ich, der Geranie klar zu machen, ihn nicht zu viel zu ärgern, ich sagte: »Mutter wird ihn hei‐ raten« und »wir werden mit ihm auskommen müssen«. Doch sie konnte es nicht lassen, und das Ende vom Lied war, daß der Friseur an einem Sonntagmorgen seine Sachen packte und abmusterte, Mut‐ ter wechselte die Stellung, ich glaube, zu Kellys »Barbershop« am Bahnhof, und die Gäste wurden wieder gemischter. Doch! Die Geranie hat den Friseur vertrieben, sie hat ihn da ge‐ zwiebelt, wo er am empfindlichsten war, er war eitel und häßlich wie eine Schrumpftomate und ein ganzes Stück kleiner als Mutter. Ich hab’ ihr natürlich nie erzählt, daß es die Geranie war. Sie lachen? Warum lachen Sie, wissen Sie nicht, daß Pflanzen fühlen und den‐ ken können wie andere Lebewesen? Vorige Woche habe ich in der Klinik einen studierten Mann gesprochen, der mir’s klipp und klar bestätigte, er hat sich sehr ausführlich über meine Geranie berichten lassen. Sie sollten mit ihm reden, wenn Sie nichts darüber wissen. Es hatte der Geranie Spaß gemacht, sich den Friseur vorzu‐ knöpfen. Eines Abends, er hatte in einem Tobsuchtsanfall Mutter die Stehlampe an den Kopf geschlagen, sie heulte und hielt sich die blu‐
tende Stirn, sackte er mit einem gräßlichen Seufzer neben meiner Fensterbank zusammen. Plötzlich sagte er: »Junge«, sagte er, »ich kann mich nicht bremsen, etwas ist stärker als ich. Ich wollte deine Mutter nicht schlagen, wirklich nicht, dieser Raum macht mich ver‐ rückt, irgend etwas ist in diesem Zimmer, das mich wahnsinnig macht.« Ein anderes Mal sagte er: »Ich glaube, es ist die Blume«, und wollte, daß ich sie wegschaffe, aber ich schrie, sie sei das einzi‐ ge auf der Welt, das mir wirklich etwas bedeute, daß ich sie liebe, daß ich nur diese eine Blume liebe und sonst nichts, und Mutter hörte auf zu heulen, und der Friseur klappte erschrocken den Mund zu. »Ich bin wahnsinnig«, sagte er ganz lahm, »will sie nicht schlagen, will gut zu ihr sein, sie braucht ein ordentliches Zuhause«, und hatte noch mehr solcher Sprüche drauf, und Mutter saß da, und die Haare klebten ihr im Gesicht, und sie sagte immer nur »Dicker« und »Di‐ cker«. Als ich lachte, wurde er böse, ich sei ein blödes Kind und hät‐ te keine Ahnung von Liebe, meine Mutter liebe mich, aber ich hätte ihr das Leben zerschunden, was wüßte ich denn davon, was ihr alles meinetwegen entgangen sei, es kam das Patapata von der Undank‐ barkeit, und die ganze Zeit stierte er die Geranie an. Das war am Freitag, am nächsten Tag holte er Mutter zu einem Ausflug ab, ich hatte mächtig viel Zeit und bat die Geranie immer wieder, den Kerl in Ruhe zu lassen, aber wir kamen nicht überein, nichts zu machen, sie lief? sich nicht umstimmen. Es war das einzige Mal, daß wir uns stritten, die Geranie blieb stur. Als Mutter und der Friseur spät abends zurückkamen, merkte ich sofort, es war Ab und Ende, sie sahen beide aus wie Rittersporn mit geschlossenem Visier. Die Geranie begann zu feixen, Mutter trank den Weinbrand aus, und in der Nacht schrie der Friseur, sie sei schrecklich verdorben, er hielte es bei ihr nicht länger aus, aber er könnte sie nie vergessen. Ja, das schrie er, ich hab’s gut behalten, er heulte dabei entsetzlich, wie eine Töle im Frühling.
Von da an sah ich ihn nur noch drüben hinter dem Schaufenster, wie er herübergaffte, oder er stand abends unter der Tür und peilte zu uns herauf, aber er kam nicht mehr. Mutter sagte, sie fürchtete sich vor ihm, es sei ihr nicht recht, wenn er ihr nachstarrte, solche blindwütigen Menschen seien gefährlich, sagte sie, aber ich wußte, daß ihn die Geranie verdreht hatte. Mutter kümmerte sich nicht um die Pflanze, war offenbar ein‐ verstanden, daß ich sie pflegte, auch den Kerl, von dem sie stammte, hatte sie vergessen. Mal sagte ich: »Wie war’s mit einer Wattwande‐ rung«, aber sie tat als quatsche ich Chinesisch, ich sagte: »Wollen wir mal zusammen in den Botanischen Garten?« Und von ihr kam nur: »Laß mich zufrieden!« Viel später, es war inzwischen die dritte Pelargonium‐Generation, machte sie eine Bemerkung, die mir Schrecken einjagte. Sie saß dort am Tisch, das Kinn in die Hände gestützt, ihre Haare hingen wie feinster Blütenstaub, sie starrte zum Fenster hinaus, und erst als sie’s sagte, fiel mir auf, daß sie nicht hinausblickte, sondern die Geranie anstarrte. »Ich fühle, sie kann mich nicht leiden, ich fühl’s, sage ich dir, die Geranie ist mein Unglück.« Ich habe wohl die richtige Antwort parat gehabt, denn sie be‐ ruhigte sich wieder, schüttelte den Kopf und lachte, ich lachte mit, wir wurden sehr fröhlich. Am Mittag gab’s meinen Lieb‐ lingspudding, und dann strich sie mir über den Kopf und sagte, ich wäre inzwischen ein großer Junge geworden, fast schon ein Mann, richtig erwachsen sei ich und sehr verständnisvoll, und sah mich dabei so komisch an. Ich hatte gerade eine tiefe Stimmlage bekom‐ men, und mir wuchs der Bart, worauf ich sehr stolz war. Die Gera‐ nie liebt die weichen Haare an meinen Wangen, die kitzeln, wenn wir schmusen, die Haut bleibt pelzig und trocken bis unter den Blattansatz, die Sonne wärmt uns die Blüten, der Stengel wird dick…
Entschuldigung, wir sprachen über Mutter, damals hatte sie wirk‐ lich viel Pech. Kellys »Barbershop« mußte sparen und setzte sie als erste vor die Tür, weil sie als letzte gekommen war. Sie fand keinen neuen Job als Friseuse, meldete sich schließlich auf eine Anzeige, wo eine Hausangestellte in einer Vorstadtvilla gefragt war, es ließ sich gut an, aber der Oldie griff ihr unter den Rock. Eigentlich hatte sie nichts dagegen, wenn’s nur ordentlich honoriert worden wäre, aber da wurde der Alte plötzlich geizig, und Mutter sah sich genötigt, die gnädige Frau diskret einzuschalten. Kurz darauf hatte sich ein kapi‐ taler Jüngling an sie gehängt, ein feuchtschlaffes Gewächs mit hüp‐ fenden Bewegungen, war erst zwanzig, aber schon Abteilungsleiter in Papas Betrieb, fuhr einen sportspitzen Renner und zahlte aus‐ schließlich per Kreditkarte. Nach einem Rauschgelage in geschlos‐ sener Gesellschaft setzte er das Ding etwas plötzlich unter einen abgestellten Lastwagen, Mutter fiel vorher auf die Straße, er fand seinen Kopf auf dem Auspuff wieder, aber nur den Kopf. Es war bedauerlicherweise ein Fall für Ihre Kollegen, Herr Kommissar, Mutter wurde lange verhört, aber sie konnte nichts sagen, sie wußte nichts über die Leute, wirklich nicht. Die Sache zerrann zwischen den Monaten, längst hatte ich die Schule quittiert und pfiff genauso arbeitslos aus dem Fenster wie Mutter. Die Geranie freute sich, weil ich jetzt immer zu Hause war, ihr fehlt jedes Verständnis für Arbeit gegen Lohn, sie hält Nichtstun für das höchste Ziel auf Erden, von ihrem Standpunkt aus gesehen hat sie recht. Überhaupt, unsere Arbeitswut ist den Pflanzen ein Greuel, sie nennen uns unsolide, flatterhaft und zerstörerisch wie Blattläuse. Andererseits beneiden sie die Menschen um die Fähig‐ keit, über alles nachzudenken, auch über das, was in keiner Weise bedenkenswert ist. Haben Sie mal gezählt, wie viele Menschen sich ihr Leben lang mit Erfindung und Produktion von Sachen beschäfti‐ gen, die nutzlos oder schädlich sind? Wie viele Menschen Regeln und Verordnungen ersinnen, die nichts regeln und nichts ordnen, damit sie funktionieren? Und dann die vielen Leute mit Überzeu‐
gungen! Sie haben andere denken lassen und sind nun so davon eingenommen, daß sie sonst nichts gelten lassen. Sie können über‐ haupt nicht selbst denken, weil die Überzeugung sie voll in An‐ spruch nimmt, mir tun all diese Menschen leid. Die Auffassung der Pflanzen scheint mir vernünftiger, wir sollten mehr auf sie hören. Spiritismus? Was meinen Sie mit Spiritismus? Weiß nicht, was die‐ ses Wort bedeuten soll, habe es nie gehört, warum sagen Sie, die Pflanzen zu hören sei Spiritismus? Der Doktor in der Klinik sagte »telepathischer Kontakt« und fragte mich, wie lange ich schon mit der Geranie in Verbindung stünde, und als ich ihm die Geschichte von dem Samtgrünen erzählte, war er sehr überrascht. Er dachte, es hätte was mit Joint zu tun, aber den habe ich Mutters Erbonkel zu verdanken, und das ist erst ein paar Monate her. Natürlich hat das nichts mit dem Joint zu tun, die Geranie – wie bitte? Wer Mutters Erbonkel ist? Herr Kommissar, Sie selbst haben ihn verhaftet, hier in diesem Zimmer vor zwei Wochen verhaftet, er hätte – erinnern Sie sich? Er sagte: »Sie machen einen Fehler!« Und ließ sich abführen. Ich kann bestätigen, daß er’s nicht getan hat, deshalb sind Sie doch gekommen, oder? Der Kerl ist nicht wirklich Mutters Erbonkel, er hatte nichts zu ver‐ erben, im Gegenteil, er wollte sie anschaffen schicken und selber kassieren. Ich nannte ihn Erbonkel, weil er bei uns erben wollte, ausgerechnet bei uns! Mutter lachte und sagte zu ihm: »Habe ich dich nicht damals bei dem Dealer gesehen?« Und nannte den Na‐ men von dem Abteilungsleiterbubi, das genügte. Er wurde sanft wie ein Mooskissen, und ich war froh, daß sie wieder einen Kerl im Bett hatte, ich konnte damals nicht wissen, daß es sich ganz anders ver‐ hielt. Also passen Sie auf, wie das mit dem Joint war, das wollen Sie doch gern hören. In den Wochen, bevor der Erbonkel das erste Mal in diese Woh‐ nung kam, hockte Mutter hier mit gelbem Gesicht herum, sie wurde
ganz knittrig, sogar ihre Haare waren trocken. Nichts zu machen, selbst für ihre Launen war sie zu stumpf. Ich suchte ihr Stellenan‐ zeigen heraus, aber sie las sie nicht, und wenn ich nichts für den Kühlschrank getan hätte, wären wir verhungert. Ab und zu ver‐ schwand sie für mehrere Tage, kam ebenso stumm zurück, dann, plötzlich, ein Schwall von Zurechtweisungen, doch bevor sie sich richtig erholte, hockte sie schon wieder steif und trocken am Tisch und schlief mit offenen Augen. Solange sie die Geranie in Ruhe ließ, war’s mir egal, aber immer häufiger ertappte ich sie dabei, daß sie die Pflanze angiftete, und ich hatte gerade bei Schlöf angefangen und war tagsüber nicht hier. Eigentlich will ich Gärtner werden, aber ich kriege keine Stelle, Gärtnerlehrlinge stehen massenweise an und warten nur darauf, daß einer von den Oldies den Spaten aus der Hand legt. Schließlich habe ich mir die Stelle bei Malermeister Schlöf aufschwatzen lassen, »greif zu!« sagte der Knilch im Arbeitsamt, »der will dich nehmen, trotz deiner schlechten Zeugnisse, greif zu!« Die Zeit bei Schlöf war ein trauriges Kapitel. Von diesem Augenblick an wurde Mutter neidisch, offenbar ärger‐ te es sie, daß ich eine Stelle hatte. Sie ölte mich herunter, ob ich mor‐ gens pünktlich sei, abends diensteifrig und zu Überstunden bereit, bescheiden und klug sollte ich sein, dem Chef dienen und die an‐ dern treten. Je länger sie arbeitslos in der Wohnung herumnebelte, desto trüber und unberechenbarer wurde sie, eines Morgens hörte ich die Angst der Pflanze. »Rühr die Geranie nicht an!« sagte ich. Sie schrie: »Meine Blume ist das! Ich habe sie damals geschenkt bekommen, kann damit ma‐ chen, was ich will!« Mutter war mager geworden, ihr faltiger Leib zitterte. »Zieh dir was an und trink einen Schnaps!« sagte ich, und als sie im Schlafzimmer war, habe ich die Geranie versteckt. Es gibt da ei‐ nen Spezialplatz; haben Sie sich mal das Haus von außen genau angeschaut? Also, in jedem Stockwerk hat das Mittelfenster links
und rechts Säulen, Gipsgemüse hängt darüber und schwingt sich bis zu den nächsten Fensterreihen. Nur bei uns hier, im fünften Stock, scheint’s für die Säulen nicht gelangt zu haben, der Architekt hat eine schlichte Kante putzen lassen, und anstelle des Gemüses gibt’s zwei Nischen. In der Nische links vom Fenster, zur Nachbarwoh‐ nung hin, kann ich die Geranie verstauen, da steht sie sicher in einer Mulde. Wochenlang habe ich sie dort Tag für Tag versteckt, denn ich mußte fürchten, Mutter würde sie in den Müllschacht werfen. Daß sie durch den Erbonkel an Stoff geraten war, wußte ich noch nicht, hatte auch keinen Schimmer, woher sie das Geld nahm. Die Arbeitslosenunterstützung – wir brauchen uns nicht darüber zu unterhalten, was? Aber dann erfuhr ich vom Hauswirt, daß sie nun tagsüber Gelegenheitsbesuche hätte. Er verwarnte uns »letztmalig« und hechelte was von fristloser Kündigung durch die Zahnlücken, ich stopfte sie ihm mit einer Havanna, die ich gerade feierlich erhal‐ ten hatte. Das war so: Schlöfs Bankwechsel hatten zu schattig ge‐ standen, jetzt half auch kein Umpflanzen mehr, der ganze Betrieb landete auf dem Komposthaufen. Schlöf hielt vor der Mannschaft eine gewundene Rede, dabei zuckten ihm die Augenlider. Nachher betätschelte er jeden seiner Lehrlinge, und mir schob er die Havanna in die Kitteltasche und sagte: »Für Vater.« Der Huflattich! Er wußte genau, daß ich keinen habe. Mutter war genau an dem Tag lustig, amüsierte sich über den Hauswirt und umarmte mich. »Vergiß die Sache mit Schlöf!« sagte sie. »Ein tüchtiger Kerl wie du wird was Besseres finden.« Kicherte wie ein Schulmädchen, wollte mit mir feiern, sang herum und wehte durchs Zimmer, es war lange her, sie so in Fahrt gesehen zu haben. Es war Mittag, draußen stürmisch und kühl, ich kletterte hinaus, um die Geranie zu holen. »Brauchst sie nicht zu verstecken«, lachte Mutter und faßte meinen Arm, wirklich, sie brachte es fertig, mich zu beruhigen, ich kam mir mit meinem Getue ganz dämlich vor. Da nötigte sie mir den Joint auf.
Ehrenwort, Herr Kommissar, daß es der einzige in meinem Leben war, ein schwüler, dumpfer, lehmiger Qualm, der mich wirr und hohl machte. Dann knöpfte mir Mutter das Hemd auf und die Hose, erst glaubte ich, sie wollte mich prügeln, aber ich war schon zu lahm zum Wegrennen. Irgendwas Pelziges wärmte mir die Beine, ich stöhnte nach Sonne und klarer Luft, dann schwollen mir die Wurzelenden, die Stengel, die Blätter krausten sich, als ob Spinnfä‐ den an ihnen klebten. Ich tropfte aus jedem Kelch, das ist das einzi‐ ge, woran ich mich erinnern kann: Ich tropfte. Niemals werde ich mich wieder an einem Joint vergreifen, erst recht nicht, weil ich jetzt weiß, daß sie vom Erbonkel kommen. Gegen Morgen fand ich mich in ihrem Bett, brauchte lange Zeit, bis ich begriff, wo ich war. Jemand schrie wie ein gequältes Kind, schrill aus tiefstem Herzen, »Ja!« brüllte ich und versuchte, mich aus ihren Beinen zu befreien, diesen ekligen, glatten Beinen, und dann wußte ich, daß die Geranie schrie. Ich hatte sie nicht hereingeholt, irgendwie war es Mutter ge‐ lungen, mich ohne die Pflanze wieder ins Zimmer zu ziehen, der Topf hatte während der langen sturmkalten Nacht draußen in der Nische gestanden, ein Wunder, daß er nicht abgestürzt war. Ich stellte die zerzauste Geranie an ihren Fensterplatz und strich ihr behutsam über die Blätter, da fühlte ich ihren Haß! Jetzt verfolgte sie Mutter erst recht, wachte darüber, daß sie mich nicht noch einmal überrumpelte; die Geranie begann, mir zu sagen, was ich zu tun und wie ich mich zu verhalten hätte. Machte Mutter auf launisch, tat ich’s auch, ich hörte nicht hin, wenn sie anfing, trü‐ be zu quatschen. »Dies ist mein Zimmer«, sagte ich, »nebenan kannst du machen, was du willst. Und schließ gefälligst hinter dir ab«, sagte ich, sie gehorchte. Ich hab’ ihr verboten, sich in meinem Zimmer aufzuhalten, und sie hielt sich dran, manchmal stand sie dort in ihrer Tür, stundenlang, stumm und steif wie diese schwe‐ benden Typen über dem Portal von St. Annen, die mit den welligen Haaren und dem steinernen Blick, wie ein widerlich glatt polierter
Stein stand sie da. Wir haben so getan, als gäbe es sie nicht, so ein‐ fach war das, wir hatten keine Angst mehr vor ihr. St. Annen? Nein, nicht wegen des Grabes gehe ich über den Fried‐ hof, ach Gott, Herr Kommissar, das interessiert mich nicht, der Weg an St. Annen vorbei ist die kürzeste Strecke zur Kastanienallee. Ich hab’ vor ein paar Wochen bei Frau Direktor Petersen und ihrer Schwester einen Job angenommen – richtig, der Witwe vom Direk‐ tor Petersen von der West‐ und Schiffahrtsbank. Die beiden alten Damen suchten einen, der ihren Garten pflegt, verständlich, sie sind zu klapprig, sich zu bücken. Mir bringt’s unheimlich Spaß, und das Honorar ist fürstlich. Eigentlich brauche ich kein Geld, bekomme meine Mahlzeiten bei den beiden Damen, Kleidung und Stiefel kau‐ fen sie mir auch, und den ganzen Tag über bin ich zwischen meinen Freunden, wenn die anfangen zu erzählen, das ist spannender als jeder Krimi. Ich fragte Frau Petersen, ob sie die Geschichten kennt, aber sie schüttelt immer den Kopf, setzt sich in ihren Sessel und hört zu, sie hört gern zu. Der Garten ist alt, älter als die beiden Schwe‐ stern, und die haben dort schon ihr ganzes Leben zugebracht, acht‐ zig Jahre, wahnsinnig lange, nicht wahr, da wird die Rinde knorrig, und aus der Krone fällt Geäst. Ich brauche das Geld eigentlich nicht, aber es macht mich zu‐ frieden, daß ich’s verdiene. Zuerst habe ich’s in die Kaffeedose ge‐ stopft, oben auf dem Küchenschrank; eines Tages, ich kam gerade nach Hause und war stinkmüde, stand der Erbonkel in der Schlaf‐ zimmertür. Er sagte: »Du gehst also anschaffen, he, brav, Arbeit schändet nicht, he, was machst du mit all dem Kies«, und rammte mir mit jedem He die Faust unter den Stengel. Er sagte: »Deine Mut‐ ter hat ein Recht darauf, he«, sagte: »Zahl hier gefälligst deine Miete, und fürs Fressen kannst du auch einen Blauen hinblättern!« Ich hab’ dem Sack die ganze Kaffeedose gegeben, das war na‐ türlich falsch. »Geld muß man knapp halten«, sagt Frau Petersen, »sonst schießen die Menschen ins Kraut.« Sie glaubt, der Kerl habe das Geld für sich behalten; sie hat sicher recht.
Jetzt sah ich mein Zuhause in anderem Licht, es war ein elendes Zuhause. Ich wollte raus, und als ich dahinter kam, was für feine Geschäfte der Erbonkel betrieb, wurde mir klar, daß es sehr bald sein mußte. Ich sagte es der Geranie, aber sie war ganz und gar nicht damit einverstanden. »Wir bleiben!« befahl sie; ich habe ziemlich lange mit ihr darüber geredet, aber nichts zu machen, sie wollte auf keinen Fall weg. Ich fühlte wohl, daß sie was plante, doch so wahr ich hier stehe! Ich habe ihre Absichten nicht erkannt! Doch, Herr Kommissar, ich schon, ich wollte raus, und je häufiger der Erbonkel hier auftauchte, desto widerlicher war mir der Gedan‐ ke, hier zu wohnen. Immer später kam ich abends hierher, immer früher ging ich am Morgen, oft trieb ich mich stundenlang im Bota‐ nischen Garten herum oder zwischen den Hafenanlagen, nur um diesem Kerl aus dem Weg zu gehen. Ich begriff die Geranie nicht, »es ist unser Zuhause«, sagte sie. Ich drängte: »Wir können zu Frau Petersen ziehen. Frau Petersen hat Platz, ich werde sie fragen, wir können todsicher zu ihr.« Aber die Geranie wollte echt nicht. Warum haben Sie den Kerl laufen lassen, Herr Kommissar, haben Sie nun doch Zweifel an seiner Schuld? Oder – so macht man das wohl? – soll er Ihnen die Spur zeigen, beobachten Sie ihn, um zu erfahren, wer ihn beliefert? Kennen Sie Burlands »Paradise«? Nicht? Dann hören Sie zu! Im Obergeschoß dieses Flipperschuppens können Sie ihn antreffen, mit seinen Kumpanen, es war ein häßlicher Zufall, der mich dorthin brachte. Wieder mal war ich im Botanischen Garten gewesen, es war ein sonniger Abend und schon recht spät. Als ich den Park verließ – ich nehme meistens die lange Treppe am Ahornweg – war da eine Frau mit einem Kinderwagen, die Treppe ist lang und steil, die Frau stand unschlüssig. »Warten Sie«, sagte ich, »gemeinsam schaffen wir’s«, und packte die Karre an den Vorderrädern. »Danke!« flötete sie, ihr Gesicht war klein und rot, sie trug ein weißes Kleid, viel zu
dünn für die Jahreszeit, es flatterte um ihre dünnen Beine, sie fror. Mich interessieren junge Frauen nicht, sie sind eklig glatt, aber die‐ ses Luder ist mir gut in Erinnerung geblieben. Kaum hatte ich den Wagen am Ende der Treppe abgesetzt und mich zum Gehen ge‐ wandt, hörte ich sie kreischen: »Mein Geld ist weg! Er hat es aus der Tasche gestohlen!« Sie meinte mich, Herr Kommissar. Ich stand wie angewurzelt, sie fuhr ein mächtiges Spektakel ab, kreischte und hielt dabei die offene Handtasche hoch, die eben noch im Kinderwagen neben der Flauschdecke gesteckt hatte. Der Pförtner kam aus dem Kas‐ senhäuschen gestürzt, ein Ehepaar näherte sich, zögernd, von der anderen Seite. Das war meine Chance: Ich sprang an ihnen vorbei die Treppen hinauf, jagte durch den Rosengarten und hinter den Gewächshäusern entlang, dummerweise war aber der Ostausgang schon geschlossen. Ich habe mich bei den Drachenbäumen versteckt, bis es dunkel war, von St. Annen schlug’s neun, diesseits und jen‐ seits des Zauns war niemand zu sehen. Da bin ich hinübergeklettert und durch die Straßen am Industriehafen geschlichen, eine Gegend, in der ich mich nicht besonders gut auskenne, immer noch klopfte mir das Herz in der Kehle. Klar, Herr Kommissar, daß ich nichts genommen hatte, ich greife weder glatten jungen Frauen in die Taschen noch sonst jemandem, ich brauche kein Geld, wer weiß, auf welche Weise ihr die Kröten verloren gegangen waren. Warum fühle ich mich immer ertappt, können Sie mir das erklären? Ich schämte mich, war wütend, mir war schlecht vor Angst. Gerade, als ich am Lieferanteneingang von Burlands »Paradise« vorbeikam, bemerkte ich ein Polizeifahrzeug, es rollte sehr langsam hinter mir her, ich riß die Stahltür auf und sprang in den dunklen Flur, mitten zwischen abgestellte Bierkisten. Wartete, lauschte, niemand folgte mir, längst war die Streife weiter‐ gerollt, ich Idiot stand im Lieferanteneingang vom »Paradise«, und meine Knie waren weich wie welke Stengel.
Es dauerte eine Zeit, bis ich begriff, daß ich Stimmen hörte, und eine dieser Stimmen kannte ich. Tastete mich an den Bierkasten ent‐ lang durch den Flur, erwischte eine Treppe und stieg hinauf, oben fiel Licht aus einem Zimmer. Die Tür war nicht richtig geschlossen, die Lampe machte einen dünnen roten Strich auf den Flur, und aus dem Zimmer hörte ich den Erbonkel, ich brauchte nicht lange zu lauschen, um zu kapieren, was gespielt wurde. Seit diesem Augen‐ blick wußte ich, daß er nicht irgendein Strolch war, der sich an Mut‐ ter gehängt hatte wie die anderen, er war nur scheinbar zahm und wartete auf seine Gelegenheit. Sehen Sie, daß ich raus mußte. Es gab für mich kein Zuhause mehr, die beiden hatten das längst beschlossen. Ich habe Burlands Schuppen auf demselben Weg wieder verlassen, auf dem ich hin‐ eingestolpert war, die Bullen waren weg, der Erbonkel hat mich nicht gesehen, ich bin nach Hause gegangen und habe mich ins Bett fallen lassen. Übrigens stand der Friseur wieder in seinem Laden und gaffte herüber, er hatte wohl spitzgekriegt, daß an diesem A‐ bend der Erbonkel nicht hier war, er stand und machte, als sähe er mich nicht, der Kerl tat mir leid. Zwei Tage später, als die Geschich‐ te mit Mutter passierte, war er verschwunden, ich habe ihn seitdem nicht gesehen. Mutter hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen, ich nehme je‐ denfalls an, daß sie drin war, ich war so fertig, daß ich sofort ein‐ schlief, später in der Nacht habe ich die Geranie zu mir unter die Decke geholt. Den ganzen nächsten Tag hatte ich so eine Ahnung, Herr Kommissar, ich dachte, irgendwie haben sie’s her‐ ausbekommen, daß ich’s weiß, ich war ganz zittrig, Frau Petersen sagte: »Bist du krank, mein Junge?« Irgend jemand muß mich in dem Flipperschuppen gesehen haben. Als ich heimkam, schlug mir gleich diese giftige Stimmung entgegen, Mutter tänzelte durchs Zimmer, mitteilsam, machte auf zärtlich, hatte sogar Schokoladen‐ pudding gekocht. Die Geranie stand stramm und gelbgrün, wohl seit Stunden schon – verdammt, ich bin für solche Stimmungen
nicht gemacht, es sind Augenblicke wie kurz vorm Verprügeltwer‐ den, Herr Kommissar, ich bin ein friedlicher Mensch. Der Doktor in der Klinik meinte zwar, ich – heißt das so? – projiziere meine Ag‐ gressionen, aber ehrlich! Ich habe keine, wenn ich mich nur zurück‐ ziehen kann, bin ich glücklich und zufrieden wie ein Usambaraveil‐ chen. Mutter hatte schon ziemlich lange auf mich gewartet, sie saß hier am Tisch und strahlte infrarot, »mein lieber Junge«, sagte sie, ich dachte, paß auf, jetzt hat es gefunkt, er schickt sie vor, der Kerl läßt Mutter das allein erledigen. »Wir müssen über uns reden«, sagte sie, da sprang ich rückwärts und die Treppen hinunter. Es regnete, die Nacht und den ganzen nächsten Tag hat’s geregnet, der Herbstwind trieb eimerweise Schauer durch die Straßen, die Siele, vom Laub verstopft, faßten das Wasser nicht. Am liebsten wä‐ re ich nie mehr zurückgegangen, doch ich konnte auf keinen Fall Mutter mit der Geranie allein lassen. Die Geranie! Ich war ein Blöd‐ mann, ein Idiot, die ganze Zeit hatte ich gedacht, mich hätte jemand bei Burland gesehen und verpfiffen, dabei ging’s um die Geranie, Mutter hatte mit mir über die Pflanze reden wollen. Sie muß aus dem Haus, hatte sie sagen wollen, bring den Topf weg, das war’s, worüber sie mit mir reden wollte. Da merkte ich, daß ich auf der finstern Straße stand, das Regenwasser lief mir bis in die Schuhe, ich stand und glotzte zu unserer Wohnung hinauf wie der Friseur, und oben brannte kein Licht. Als ich in die Wohnung kam, war Mutter weg, aber die Geranie stand noch an ihrem Platz. Ich schloß die Tür zum Treppenhaus ab und ließ den Schlüssel stecken, am nächsten Morgen schlich ich mich so schnell wie möglich davon. Das war der Tag, über den Ihre Leute alles aufgeschrieben haben, Herr Kommissar, was soll ich Ih‐ nen noch viel erzählen? Es steht Wort für Wort im Protokoll. Daß ich aus dem Haus gegangen bin, ohne meine Mutter gesehen zu haben, steht im Protokoll, daß sonst niemand in der Wohnung war, sogar, daß es regnete, steht drin. Ich habe Ihren Leuten berichtet, wann ich
bei Frau Petersen angekommen bin, wie lange ich das Laub im Gar‐ ten zusammengekehrt habe, wann ich das Jucken in der Nase ver‐ spürte, ich habe wörtlich wiedergegeben, was Frau Petersen zu mir gesagt hat, jetzt weiß ich es nicht mehr so genau, jedenfalls, ihr sei doch schon gestern aufgefallen, daß ich erkältet sei, ein kranker Mann gehöre nicht in den Regen. Sie haben doch längst die Aussage bei Frau Petersen überprüft! Ich habe das alles schon drei‐ oder viermal erzählt, besser als jetzt, warum fragen Sie noch einmal da‐ nach? Nein, in der Nacht bin ich allein in der Wohnung gewesen, Mutter hätte nicht herein können, ohne daß ich’s merkte. Auch sonst war niemand gekommen, ich hatte doch den Schlüssel im Schloß stecken lassen. Ich habe nicht gelogen, hab’s Ihren Leuten so geschildert, wie ich’s wußte, es stimmt alles, warum sollte ich irgend etwas anders erzählen, als es sich zugetragen hat? Es stimmt, daß ich an diesem Tag früher nach Hause kam, frierend und fiebrig, mir war kotzelend; als ich die Wohnung betrat, waren Mutter und der Erbonkel da. Der Kerl stand gleich hinter der Tür, als ob er auf mich gewartet hätte, jetzt geht’s los, dachte ich, ich dachte, er wird mich fragen, was ich bei Burland gesucht hätte. Be‐ vor er mit seiner Rede anfangen konnte, sagte Mutter: »Wieso kommst du schon jetzt?« Das steht auch im Protokoll, nicht wahr, sie sagte: »Wieso kommst du schon jetzt?« Es stimmt, daß ich das Fenster geöffnet habe, ich war’s, ich wollte die Geranie in Sicherheit bringen, bevor die beiden mit mir ihren Film abzogen. Als ich sah, was hier los war, wollte ich die Pflanze in die Nische stellen, dabei kam mir eine Idee. Passen Sie auf! Der Kerl stand dort an der Wohnungstür, Mutter vorm Schlafzimmer, bis hier zum Fenster sind es mindestens fünf Schritte. Ihre Leute haben das nicht nachgerechnet, Herr Kommis‐ sar, aber es ist wichtig, jeder von den beiden hätte erst einmal fünf Schritte machen müssen. In dieser Zeit konnte ich den Topf greifen
und durchs Fenster, ich hätte die Geranie in der Nische abgesetzt und wäre weiter in die Nachbarwohnung geturnt, wetten, daß es geklappt hätte? Plötzlich verbaute mir Mutter den Rückzug. Sie rannte zum Fens‐ ter; hier, neben der Geranie, postierte sie sich, ich dachte, jetzt wirft sie den Topf hinaus, das habe ich alles schon dreimal erzählt. Ich machte die Augen zu, ganz fest, und wartete auf den Aufprall, da schrie Mutter: »Hilf mir!« schrie sie. »Schütz mich, mein Junge! Ich habe ein Recht darauf, daß du mir hilfst!« All dies Gejaule haben Ihre Leute aufgeschrieben, sie waren schwer begierig drauf. Ich riß die Augen wieder auf, es stimmt, daß die Geranie in diesem Moment alle Blätter reckte, sie reckte Mutter alle Blätter entgegen, die feinen, pelzigen Härchen standen steil, die Blütenränder gekraust, ich hatte das noch nie vorher gesehen. Mut‐ ter stockte, ganz starr wurde sie, schwankte, ihre Augen fielen ihr fast aus dem Kopf. Sie riß das Maul auf, als ob sie noch etwas sagen wollte, plötzlich kippte sie vornüber und stürzte über das Sims hin‐ aus, es stimmt. Genau so habe ich es Ihren Leuten erzählt, Herr Kommissar, und Sie können noch die Kreidekreuze hier auf dem Fußboden sehen, Ihre Leute haben angezeichnet, wo jeder von uns gestanden hat, als es passierte, wollen Sie sich mal die Mühe machen und die Schritte bis hier zum Fenster nachzählen? Als Mutter kippte, nahm ich die Pflanze, rannte an dem Erbonkel vorbei und die Treppen hinunter, er hielt uns nicht zurück, er stand noch immer direkt an der Tür und hat uns nicht festgehalten. Es stimmt, daß die Schlafzimmertür zu war, die ganze Zeit war sie zu gewesen, später, als wir alle in die Wohnung zurückkamen, war sie offen, Ihre Leute haben mich andauernd danach gefragt, warum interessiert Sie das so heiß? Nein, ich habe niemanden außer Mutter und dem Erbonkel in der Wohnung gesehen, wenn Sie nur das wissen wollten, hätten Sie sich
den Weg sparen können. Es ist so, wie’s im Protokoll steht, warum sollte ich lügen? Die Geranie… Herr Kommissar! Mutter ist ganz starr hinausgefallen, als ich unten ankam, sah ich sie auf dem Gehsteig liegen, in lauter kleine Stücke zersprungen, es war, als läge Mutter in Scherben, genau so, die Ge‐ ranie hatte sie steif wie eine Vase gemacht. Ich konnte sie gar nicht richtig wiedererkennen, nur die mattgrünen Haare waren weich und geschmeidig geblieben, es waren Mutters Haare. Ich drückte die Geranie fest an mich, »jetzt bleiben wir in dieser Wohnung«, sagte ich und blinzelte die mattgrünen Haare an, »niemand wird uns mehr vertreiben.« Jemand redete mit mir, aber ich verstand ihn nicht, er war weit weg und flüsterte, überhaupt war alles weit weg, die Häuser im Dunst, lautlos kreisten die Möwen über den Scherben. An vielen offenen Fenstern hingen Leute, lila sahen sie aus und ver‐ schwommen, da hängen sie, dachte ich, neugierig wie sie sind, und können gar nichts erkennen, weil es so dunstig ist. Ich lachte, hielt die Geranie in meinen Händen, die neugierigen Leute glotzten in den Dunst, und Mutter lag in lauter kleinen Stücken. Ich sei doch von oben gekommen? schrie mir der Beamte ins Ohr, jetzt stand er neben mir und schüttelte mich. »Vorsichtig«, sagte ich. »Passen Sie auf! Die Geranie!« Ob ich Zeuge des Unfalls gewesen, wer noch in der Wohnung sei, wie es dazu kommen konnte, wer überhaupt das Fenster geöffnet und warum niemand die Frau zu‐ rückgehalten hätte, er redete überlaut. »Passen Sie doch auf!« sagte ich. »Sie erdrücken die Pflanze!« Warum schrie der Polizist, es war sehr still ringsum, lila und still, selbst die Möwen stöhnten nicht, er brauchte nicht zu schreien. Eine Frau, fahldunstig und verschwommen, sagte: »Es ist seine Mutter.« Jetzt standen viele Leute auf der Straße, drängten sich heran, um besser sehen zu können, sie drängten sich immer näher an die Scherben, die auf dem Gehsteig lagen, jemand trat auf die Haare. Ich
muß Ihnen sagen, Herr Kommissar, meine Mutter war das nicht, ich hatte ganz andere Erinnerungen an sie, diese Bruchstücke vor mir auf dem Gehsteig hatten keine Ähnlichkeit mit ihr. Ich strengte mich an, mir meine Mutter vorzustellen, sie kreischte gern und lachte, wild war sie und manchmal sehr zärtlich, meine schöne, ferne Mut‐ ter mit wunderbaren Haaren. »Gehen Sie zurück!« sagte ich zu den Leuten. »Machen Sie Platz! Lassen Sie uns in Ruhe!« sagte ich. Sie standen und gafften. Ich sagte zu dem Bullen: »Wir sollten nach oben gehen, ich werde Ihnen alles beantworten.« Und er schrie: »Wir warten nur noch auf den Kom‐ missar.« Wir sind mit Ihnen in die Wohnung gestiefelt, Sie haben mir Lö‐ cher in die Blätter gefragt, und dann knöpften Sie sich den Erbonkel vor, verstehen Sie, warum der immer noch da war? Die ganze Nacht hindurch habe ich die Geranie nicht aus den Händen gelassen, auch im Auto, als wir ins Präsidium fuhren, sie war sehr matt und brauchte meine Nähe. Das ist alles aufge‐ schrieben worden, Herr Kommissar, ich habe nichts verschwiegen, warum auch? Es gibt kein Gesetz, nach dem eine Pflanze bestraft werden kann. Ich habe alles zu Protokoll gegeben, habe unterschrieben, dann durften wir nach Haus. Ich bin – wie Sie angeordnet haben – am nächsten Tag in die Psychiatrische Klinik gegangen, der Kerl hatte unheimlich viele Fragen an mich, aber für Mutter interessierte er sich überhaupt nicht. »Herr Doktor«, habe ich schließlich gesagt, »ich will Sie auch etwas fragen.« Er sagte: »Schieß los, mein Junge!« Ich hätte mit ihm über eine wichtige juristische Sache zu reden, sagte ich, und als ich fertig war, hat er genickt und bestätigt, daß es Notwehr war. Fragen Sie ihn selbst, Herr Kommissar, der Doktor sagte, es sei Notwehr gewesen, die Geranie hätte in Notwehr ge‐ handelt, ganz klar. »Also, dann können wir uns weiter unterhalten, worüber Sie wollen«, sagte ich zufrieden, »wenn es sich so verhält,
habe ich keine Sorgen.« Er sagte, für Pflanzen würden Gesetze gar nicht gelten. Inzwischen brauche ich ihn nicht mehr zu besuchen, er weiß jetzt alles, hat er gesagt, er wollte für Sie einen Bericht schreiben. Haben Sie ihn bekommen? Da müßte drinstehen, daß es Notwehr war, und daß die Gesetze für Pflanzen nicht zuständig sind. Ich arbeite jetzt wieder bei Frau Petersen, sie hat mir den ganzen Monatslohn gegeben, obwohl ich mehrere Tage hintereinander in die Klinik mußte und ihr den Garten nicht machen konnte, die Frau ist in Ordnung, was? Ich habe die Miete pünktlich bezahlt, der Hauswirt war sehr freundlich und hat gesagt, er will mir die Woh‐ nung überlassen. Wie Sie sehen, hat sich die Geranie prächtig erholt, irgendwie ist sie mächtiger geworden, eine Persönlichkeit, will ich meinen. Sie hat gelernt, ihre Kraft zu gebrauchen, ich werde sie nie mehr in der Ni‐ sche verstecken müssen. Hier am Fenster ist ihr Lieblingsplatz, sie läßt sich von der Abendsonne die Blattspitzen kraulen, sehen Sie, wie sie blinzelt? Möchten Sie jetzt vielleicht einen Tee? He, Herr Kommissar! Möch‐ ten Sie jetzt… Warum starren Sie die Geranie an? Was haben Sie vor, Herr Kommissar? Bleiben Sie, wo Sie sind! Sie haben kein Recht, sie zu verhaften und mitzunehmen, es gibt kein Gesetz, das für Pflanzen gilt, muß ich Sie daran erinnern? Sie dürfen sie auch nicht in Ihre Polizeilabors schleppen und dort auseinanderschneiden, der Doktor hat mir bestätigt, daß Sie das nicht dürfen, er hat gesagt, ohne rich‐ terliche Anordnung dürfen Sie überhaupt nichts, also wo ist Ihre Genehmigung? Bitte, Sie haben keine Genehmigung, also gehen Sie jetzt! Ich habe Ihnen alles erzählt. Es hat keinen Zweck, wenn Sie herumstehen und die Geranie anmisten, was Sie auch vorhaben, sie hat es längst erkannt, sie wird Ihnen zuvorkommen, Herr Kommis‐ sar, ich warne Sie! Die Geranie ist schnell und stark, sehen Sie, wie
sie sich streckt, wie ihre Blätter die Gefahr wittern, ihre Blüte schwillt, die Ränder sind gekraust, der Saft schießt aus den Wurzeln bis in den Kelch, Herr Kommissar, was ist mit Ihnen, ist Ihnen schlecht? He, warum sind Sie plötzlich so starr, Ihre Augen quellen wie Steinkugeln hervor, Sie schwanken, geben Sie’s auf! Geben Sie um Gottes willen auf, uns mitnehmen zu wollen, ehe es für Sie zu spät ist…! Herr Kommissar…?
Freischicht 1 Der Baßton der Dampfsirene stieg senkrecht in den blaßblauen Nachmittagshimmel, da erloschen die Schweißgeräte, die Nie‐ tenhämmer verstummten, jaulend kam die Laufkatze hoch auf den Stahlbrücken, die man Helligen nennt, zum Stehen. Von einer Minu‐ te zur anderen brachen alle Geräusche ab: das Krächzen, Schrillen, Schlagen, Kreischen, das Donnern, Fauchen, Fräsen und Dröhnen. Die Werftarbeiter schoben die Schutzbrillen hoch, nahmen die Hel‐ me ab, streiften die schweren Handschuhe von sich und reckten die Körper. Theodor Wischenköttel, vierunddreißig Jahre, Junggeselle, einsachtzig groß und zwei Zentner schwer, angelte eine angebro‐ chene Zigarettenschachtel aus seinem schmierfettigen Hemd, steckte sich das Stäbchen ins Gesicht und hieb nach kurzem, vergeblichen Suchen seinem italienischen Kollegen mit mächtiger Pranke auf die Schulter. »He?« Der Mann nickte, förderte aus der Hosentasche ein Feuerzeug zu‐ tage, aber bevor er den Docht entzünden konnte, hatte’s ihm der andere schon aus der Hand genommen. Sehnsüchtig sah er dem Päckchen nach, das wieder in Wischenköttels Hemd verschwand. »Tolles Wetter heute!« schrie der jovial, zeigte mit dem Daumen nach oben und wiederholte den Satz, obwohl der Italiener seit acht Jahren im Land war und hervorragend verstand. Sie trollten sich übers Werftgelände, Hunderte rußiger Kerle mit ihnen, die meisten redeten überlaut, weil es plötzlich so still gewor‐ den war. Irgendwo unten am Fluß nur eine Schiffstute, weiter oben, bei den Schuppen, lamentierte eine rostige Winde, alles so weit weg, daß man die Möwen vorbeirauschen hörte. Es war frühlingswarm
und windstill, die gelbe Sonne hing flach zwischen Masten und La‐ dekränen, neben den Pflastersteinen wucherte Unkraut. Die Männer kamen mit breitbeinigen Schritten in den rotsteinigen, roh betonier‐ ten Flachbau neben der Betriebsverwaltung, vorbei an den Spinden, in denen ihre Kleidung hing. Vor den Duschkammern pellten sie sich aus, der tonnenrunde Wischenköttel rempelte den hageren Pit Meermann an, Gelächter, Scherzworte, derb und unzweideutig, ir‐ gend jemand wärmte eine abgeleierte Stichelei auf. »Meermann, Karin geht vorbei!« Pflichtschuldiges Lachen klatsch‐ te durch die Duschräume. Wischenköttel grölte weiter: »Wahrschau, Meermann!« Und rammte dem Kollegen die Schulter in den Rücken, es kam zu einer seifignassen Rauferei, dem üblichen Freitagnachmittag‐Schichtende‐ Spaß, plötzlich lief das Auge des Italieners blau an. »Mußt noch viel lernen, Makkaroni!« schrie Wischenköttel ihm zu, der andere grinste gequält und betastete mit den Fingern die Schwellung. Als sie endlich, schnaufend noch, im Feierabendzivil vor der Halle standen, zog Meermann einen Sportkalender aus der Brusttasche, blickte kurz hinein und sagte: »Sonntag, zehn Uhr. Ich hol dich ab?« Theo hielt den Daumen der Linken nach oben und summte »Karin geht vorbei« und hatte vergessen, warum sich Pit Meermann einmal darüber aufgeregt hatte. Karin saß längst nicht mehr in einem Büro‐ haus hinter ihnen, und Pit war seit einem Jahr verheiratet. Summte, ging mit Pit über den Parkplatz und summte und dachte an seine Freundin Christa, und sie schlossen ihre Wagen auf und fielen hin‐ ter die Lenkräder. »Freischicht bis Sonntagabend!« brüllte Meermann noch aus dem heruntergekurbelten Seitenfenster, und Theo: »Also erst mal – schö‐ nes Wochenende!« Er fuhr Auto, wie er war, polternd, rechthaberisch und mit den Fäusten, und hielt auch dann mit Kraftausdrücken nicht zurück, wenn jemand neben ihm saß. Zum Beispiel Christa, die zuerst ge‐ gengehalten hatte, dann geschwiegen, sich geärgert und schließlich
damit abgefunden. Sie übte, sich zu beherrschen, dachte an Heirat, aber er zögerte, sagte »Scheiß‐Schichtarbeit« und, daß eine Ehe dar‐ unter leide, wenn die Frau tagsüber hinter einem Ladentisch und der Mann nachts auf der Werft sei. Wußte aber auch, daß dies nicht der Grund für sein Zögern war, denn Theodor Wischenköttel ließ am liebsten alles so, wie es war, hatte sich an sein behäbiges Leben und seine eigenen Bierlaunen gewöhnt, an den Job im Hafen und das hutzlige Häuschen hinterm Deich und an freie Wochenenden mit Hockey und Christa. Seit achtzehn Jahren ging er seinem Beruf nach, seit fünfzehn Jahren kannte er das stille, kräftige Mädchen, und wie im Betrieb verhielt es sich auch mit seiner Freundin: Mal ging’s rund, und mal war nichts los. War gerade ein großer Pott auf Kiel gelegt worden, gab’s Sonderschichten und dicke Zahlen auf dem Lohnstreifen, und waren die Helligen leer und nur ein paar Reparaturaufträge im Dock, wartete man geduldig auf ernste Ver‐ lautbarungen der Betriebsleitung. Christa war spröde wie der Stahl, mit dem er umging, manchmal heiß und öfter rostig, nach der Disko schon mal ins Gebüsch gegangen mit roten Köpfen und feuchten Schenkeln, aber dann hatte es wieder Jahre gegeben, in denen Theo üppigen Blondinen nachjagte und Christa mit einem feingebügelten Versicherungsvertreter aufkreuzte. »Der hat sie ganz schön sitzenlassen«, sagte Theo zum tausendsten Mal, quetschte sich in die linke Abbiegspur und fegte, kaum daß die Ampel auf Gelb sprang, in die Seitenstraße, die hinunter durchs Marschland zum Deich führte. In diesem Außenbezirk der großen Stadt gab’s katige Häuschen, schmal wie Schuppen und mit Gemüsegärtchen, in denen das Re‐ genwasser wochenlang stand, und anstelle des Fußwegs zog sich ein gelber Graben an der schnurgeraden Straße entlang. Was hier wuchs, wuchs spärlich, am besten gediehen Schilfgräser und Krüp‐ pelweiden und Löwenzahn, überhaupt Unkraut, und das war auch alles, was Wischenköttel vor und hinter dem Haus geblieben war. Vor vier Jahren, als sein Vater starb und seine Mutter ins Pflegeheim
kam und er plötzlich das Stückchen Land zwischen Deich und Stra‐ ße für sich allein hatte, blühten im Vorgarten noch die Rosen, da‐ nach waren sie eingegangen. Das war, als Christa wieder auftauchte, etwas blasser, hagerer noch und spröde wie immer, und nach einer Woche hatte sie gesagt, sie hätte jetzt ein Kind, und ihre Mutter kümmerte sich darum, weil sie doch wieder bei Korowski hinter dem Ladentisch stünde. Also von dem feinen Herrn eins machen lassen, aber heiraten…? Nein, sagte Christa, den hätte sie nicht haben wollen, von solch ei‐ nem Egoisten ließe sie sich das Leben nicht kaputt machen, dann lieber das Kind allein großziehen. Theo war gerade wieder solo und erinnerte sich gern an das atem‐ lose Mädchen im Gebüsch, und da er auf dem Lohnkonto einige fette Zahlen gesehen hatte, schenkte er ihr ohne weiteres Reden ei‐ nen halbedelsteinbesetzten Armreif und zog sie aufs Bett. Seitdem kam sie wie früher an seinen freien Wochenenden, aber sprach nie mehr von ihrer Tochter oder dem verschwundenen Versicherungs‐ vertreter. Die Straße folgte nun dem Lauf des Fluchdeichs in weiten Schwingungen, die wenigen Häuser, die sie hier säumten, erhoben sich auf Sandhügeln, Warften genannt, hatten keine Keller, so naß war das Land. Verwachsene Birken, halbhoch und vom Nordwest zerrupft, verkarstete Wiesen, von kilometerlangen Entwässerungs‐ gräben durchzogen, und kilometerweit wand sich der Deich bis fern unter den Horizont, und dahinter der Strom, grau und schwer von Industrieabwässern und Ölrückständen der Seeschiffe. Mitten im Fluß, just hinter Wischenköttels Haus, reckte sich ein rostiger Stahlsaurier aus den Wellen, ein Ungeheuer mit über drei‐ ßig Schaufelzähnen, mit kreischendem Maul und stampfendem Herzen, ein Bagger, unablässig bemüht, die versandende Fahrrinne freizuhalten. Wer hier wohnte, war diesen Urgeräuschen verfallen, das Scharren und Knirschen des Stahls auf Flußsand war ihm ver‐ traut wie Möwenschrei und Pfeifen des Winds, und hätte man Wi‐
schenköttel gefragt, an welchem Flußkilometer der Bagger gerade verankert sei, wäre seine Antwort Achselzucken gewesen. Als seine Eltern kurz vor dem Krieg das Haus erbten und heirateten, gab es den Bagger längst, und als sein Vater aus dem Rußlandfeldzug heimkehrte, förderten die Schaufeleimer noch immer Sand aus dem Flußbett, vielleicht war das Ungetüm irgendwann einmal ausge‐ wechselt worden, niemand hatte es bemerkt, es lebte mit ihnen und überlebte sie. Das Haus aus rotem Backstein, mit spitzem, steinrotem Dach, kaum fünfzig Jahre alt, vom Großvater mühsam zusammengespart und ebenso sparsam ausgestattet. Die Fenster klein, niedrig die Tür, zu der zehn ausgetretene Stufen hinaufführten, klein und niedrig die Zimmer, zwei unten und zwei unterm Giebel, und das Bad hat‐ ten Theos Eltern später ausbauen lassen. Hinter dem Haus der ver‐ wilderte Garten bis zur Deichkrone, vorn ein überdachter Stellplatz fürs Auto. Wie immer, wenn er nach Hause kam, rammte er mit der Stoßstange die Pforte zur Seite, rollte bis unter den Holzverschlag und sprang pfeifend aus dem Wagen. Kläffen empfing ihn; der lehmgelbe Hund der Nachbarin raste ü‐ ber das Grundstück, Wischenköttel griff eine leere Bierflasche und warf nach ihm. Das Tier zog sich winselnd zurück, Theo lachte, spurtete die Stufen zum Hauseingang hinauf, tänzelnd trotz seines Zweizentnergewichts, warf Jacke und Hemd in die Flurecke und genehmigte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Im Haus war es stickig, die Sonne hatte das Dach gewärmt und die Feuchtigkeit aus den Balken geschwitzt, er riß die Fenster auf und freute sich an dem milden Abendwind. Dann fiel ihm ein, Christa würde gleich kom‐ men, und so tanzte er ins Badezimmer und griff Becher und Rasier‐ schaum (er hatte sich nie an einen elektrischen Trockenrasierer ge‐ wöhnen mögen, und außerdem gab es hier keine Steckdose). Der kleine Anbau war noch muffiger als das Haus, Theo stieß das schmale Milchglasfenster auf und warf einen Blick in das Gärtchen. In diesem Augenblick geschieht es.
Im Licht der tiefstehenden Sonne blitzt Silbriges auf und klatscht ins hüfthohe Gras, der untere Ast des Boskopbaumes bricht herun‐ ter, unwillkürlich blickt Wischenköttel in den Himmel, aber der ist still, graphitblau und makellos. »Also vom Fluß her…«, murmelt er, wischt sich den eben aufge‐ tragenen Schaum aus dem Gesicht, rennt durch die Seitentür hinaus in den Garten und auf den Deich, aber das Ufer ist ebenso still und leer wie der Himmel, der gelbe Fluß wälzt sich in gleichmäßigem Wellentakt dem Meer entgegen, auf ihm ist kein Schiff zu sehen au‐ ßer der Sandschute, die weit drüben neben dem Bagger liegt und beladen wird. Niemand, der Theo etwas in den Garten hätte werfen, Kinder, die er anschreien, Spaziergänger, mit denen er hätte pöbeln können. Kopfschüttelnd stapft er in den Garten zurück, bleibt unter dem Apfelbaum stehen. Vor ihm, von dem kaum abgeblühten Ast halb verdeckt, liegt ein froschgrünes Kerlchen, glitzernd in Metallic‐ Lackierung, hat schreibstiftdürre Arme und Beine, der kugelrunde Kopf sitzt nahtlos auf dem Anzug, zwei Fühler ragen aus ihm her‐ aus, darunter kleine, spitze Ohren, weit abstehend, die runden Au‐ gen geschlossen, aus der Knopfnase läuft farblose Flüssigkeit, das Gesicht ist unbeweglich glatt. Das Ding mißt ungefähr einsfünfzig und scheint wie aus einem Guß, nicht zu unterscheiden, was Anzug und was Haut ist. Da öffnet es den lippenlosen Mund und stöhnt jammervoll. »Haben Sie sich verletzt?« sagt Wischenköttel. Keine Antwort. Neugierig beugt er sich hinab, betastet den plastikkühlen Körper, die zerbrechlichen Arme und Beine, die Schuhe, die ebenso nahtlos im Anzug sitzen wie der Kopf. Packt es beim Handgelenk, jetzt sieht er, daß da nur vier Finger sind, mit kugelförmigen Verdickungen. »He!« sagt er. »Fehlt Ihnen was?« Und schüttelt das fremde Händ‐ chen. Der Kerl bleibt still.
»So ein fauler Zauber…«, sagt Wischenköttel und wendet sich wieder dem Haus zu, »laß mich doch nicht auf den Arm nehmen«, zieht sich achselzuckend zurück, zögernd, als ob er darauf warte, daß es ihm folgt. Im Badezimmer beginnt er noch einmal mit dem Schaumpinsel, versucht zu pfeifen und an Christa zu denken. Mich geht das da im Garten überhaupt nichts an, pfeift er, aber sein schiefes Gesicht wird zur Grimasse, und die Rasierklinge reißt ihm eine Schramme. Er flucht, schabt die Wange in langsameren Bewegungen und hofft, die Erscheinung würde sich inzwischen in Luft auflösen – oder wenigs‐ tens dorthin zurückkehren, woher sie gekommen ist. Doch nach der Rasur liegt das Ding immer noch im Garten. Wi‐ schenköttels Gesicht bekommt Falten, besonders die Stirn, er fährt sich mit der Hand über den spärlich bewachsenen Schädel und kratzt nachdenklich den Nackenspeck. Nicht gewohnt, nach Feier‐ abend Rätsel lösen zu müssen (und auf der Werft nimmt ihm das der Vorarbeiter ab), sagt er: »Konnten Sie sich keine andere Wiese aussuchen?« Das grüne Ding reagiert nicht. »Also…«, brummt Wischenköttel, immer beginnen seine Sätze mit »also«, wenn er nicht weiterweiß, »hier können Sie nicht liegen blei‐ ben. Stehen Sie auf!« Ungeduldig: »Dies ist privat. Mein Garten. Also trollen Sie sich!« Wirkungslos. Theo beugt sich hinab, legt dem Kerlchen seine Pranke auf die Brust, schüttelt es: »Hier können Sie nicht bleiben, verstehen Sie nicht?« Der zahnlose Mund im Kugelgesicht öffnet sich langsam, und noch einmal stöhnt es wie unter mächtigen Schmerzen. Er fährt zurück, sagt drohend: »He!« und stößt dem Ding den Zei‐ gefinger in den Bauch, und mit einem letzten Vermittlungsangebot versucht er es auf englisch: »Here you can not…« Nur das Wort »bleiben« kann er nicht übersetzen, gereizt sagt er: »Also ver‐ schwinde!« Und packt es bei den Schultern.
Da beginnt es zu wimmern wie ein kleines Kind, für einen kurzen Moment falten sich die großen Augenlider, und Wischenköttel glaubt, aus tiefschwarzen Pupillen angestarrt zu werden, aber schon sind die Augen wieder zu, und das Wimmern verstummt. Er läßt den federleichten Körper ins Gras zurückfallen und kniet hilflos, der fremde Blick hat ihn merkwürdig berührt. »Also was das hier auch immer ist«, bringt er schließlich heraus, »hier laß ich’s nicht liegen«, steht auf, umkreist das grüne Ding und denkt angestrengt nach. Irgend etwas hält ihn davon ab, es einfach über den Zaun zu werfen, und anfassen und wegtragen möchte er es nun auch nicht mehr. Ist es ein blöder Scherz? Dann muß er zei‐ gen, daß er damit fertig wird. Hat es jemand verloren? Dann kann er auf Finderlohn bestehen. So oder so – er muß es ins Haus schaffen, alles weitere wird sich finden. Steigt erst einmal in den Keller und sucht nach einem Karton oder einer großen Plastikwanne, kann aber in dem vollgestopften und völlig eingestaubten Raum nichts Brauchbares finden. Schließlich fällt ihm eine zerschlissene Wollde‐ cke in die Hände, kurz entschlossen klemmt er sie sich unter den Arm und rennt wieder in den Garten. Das Ding liegt schlaff und still. Nun scheint es ihm eher ein Gegenstand als etwas Lebendiges, ei‐ ne mechanische Puppe, sie hat ihn mit raffinierter Technik zum Bes‐ ten gehalten? Er breitet die Decke neben dem Ding aus und rollt es sachte drauf, um nichts daran zu zerbrechen, plötzlich stöhnt es noch einmal. »Ruhe!« verordnet er, packt die Zipfel der Decke und hebt das Ding ruckartig hoch, es fühlt sich an wie eine luftgefüllte Gum‐ miflasche, »Ruhe!« sagt er verwirrt, fühlt Schweiß aufsteigen, rennt ins Haus und wirft das Ding jäh aufs Bett. Hat nicht bemerkt, daß ihm die ganze Zeit über die Nachbarin zuschaute. 2
Stasia Schulze, kinderlos und schon lange verwitwet, war in frü‐ heren Jahren für Theo Ersatztante gewesen, jener Typ mütterlicher Frau, die Kinder kiloweise mit Süßigkeiten, unbrauchbarem Spiel‐ zeug und anderen Wohltaten überhäuft. Theos Mutter wußte diese gute Nachbarin zu schätzen, paßte sie doch auf den Jungen auf, wenn er aus der Schule kam, und auch am Wochenende, wenn der Vater Ruhe brauchte. Theo durfte bei Frau Schulze all das, was er zu Hause nicht durfte, deshalb liebte er sie, und sie schimpfte über das verzogene Kind und liebte es auch. Als der Junge größer wurde und selbstverständlich die Freundlichkeiten der Tante für sich in An‐ spruch nahm, wurde sie abweisender, nannte ihn maßlos und egois‐ tisch und verschloß sich. Sie trug ihm seine Unordentlichkeit, seinen Lärm und seine Faulheit nach, und mit den Jahren verwandelte sich das Verhältnis in Feindschaft. Zu dieser Zeit kaufte sie sich, um ihrer Einsamkeit zu entgehen, einen vierschrötigen Boxer, ein gutmütiges Tier mit traurigen Augen und hungriger Seele. An ihm ließ Theo seine wachsende Rauflust aus, neckte das Tier und jagte es, so daß es den Schwanz einzog und in die Küche kroch, und schrie ihm Häßliches nach; in Frau Schulze wucherte Empörung. Das änderte sich, als der Nachbar plötzlich starb und die Frau ins Pflegeheim zog, der junge Mann allein war und ihre ordnende Hand nötiger wurde als je zuvor, es gab ja so etwas wie nachbarliche Ver‐ pflichtung. »Ach Gott«, seufzte sie, »er hat sich äußerst selten um seine Mutter gekümmert, sie taugte nur, solange sie ihm das Bett machte und die Wäsche wusch.« Nun wusch sie. Und stand hinter der Küchengardine und starrte hinüber, sah ihn in den Garten rennen, blaß um den Mund wie immer, wenn er et‐ was ausgefressen hatte, sah, wie er das Kind unter dem Apfelbaum aufhob, in die Wolldecke wickelte und ins Haus trug. Vom langen Sehen schmerzten die Augen.
Seit wann war bei Wischenköttel ein Kind? Vorhin, als er von der Schicht zurückkam, hatte er’s nicht bei sich. Also: Es mußte schon im Haus gewesen, allein und unbeaufsichtigt geblieben sein, einge‐ sperrt, hatte die Tür geöffnet, war in den Garten gelaufen und auf den Baum geklettert, lag demnach schon seit Stunden im mannsho‐ hen Unkraut, hilflos und verletzt, und sie hatte es nicht bemerkt! Frau Schulze nahm die Brille ab, kraulte dem Hund den Nacken, ordnete ihren Verdacht: Wischenköttel verberge ein Kind, doch hat‐ te er überhaupt keine Verwandtschaft, niemanden, der ihm ein Kind anvertrauen würde, also habe er es entführt und erpresse dessen Eltern. Laut sagte sie: »Dem Theo Wischenköttel trau ich alles zu.« Der Hund schlief, sie stieg vorsichtig über ihn hinweg, band sich ein Kopftuch ums Haar, wickelte den Kuchen, den sie am Vormittag gebacken hatte, in Folie und machte sich auf, den Nachbarn zu be‐ suchen; ihre Neugier war größer als ihre Furcht. An der Gartenpfor‐ te erstarrte sie. Wischenköttels Haustür stand offen, auch die Windfangtür, so daß man bis in den schmalen Flur blicken konnte. Sie sah Theos Freun‐ din, diese großgewachsene, langhaarige Verkäuferin, und hörte sie schreien: »Kann mir schon denken, weshalb ich nicht ins Schlaf‐ zimmer darf!« Christa hatte Schimpfwörter für ihn parat, und Frau Schulze zuck‐ te unter ihnen zusammen. Dann hörte sie Theo, »versteh doch! Das ist ganz anders! Ich muß erklären! Du irrst, wenn du meinst…« Und beide brüllten sich an. Plötzlich rannte Christa aus dem Haus und an Frau Schulze vorbei, ohne sie wahrzunehmen, und verschwand in Richtung Bushaltestelle. Wütend knallte Wischenköttel die Tür zu. Stasia Schulze besaß die Tugend, sich selbst nicht zu überfordern; sie wartete geduldig fünf Minuten neben der Pforte, bis ihr Mut her‐ angereift war. »Tante Schulze?« wunderte sich der bleiche Wischenköttel; seine Stimme hatte die übliche Tonlage noch nicht wieder erreicht. Sie
drängte ihn ins Haus und präsentierte den Kuchen mit unnachgie‐ biger Freundlichkeit: »Wo du doch nun ein Kind bei dir wohnen hast.« »Ein Kind?« Sie, unbeirrt: »Ist es schon länger bei dir?« »Ein Kind?« Sie redete weiter: »Hat es sich weh getan? Vielleicht ist was ge‐ brochen?« »… Kind?« »Ich würde an deiner Stelle Doktor Bröller anrufen«, sagte sie mit verlangendem Blick zur Schlafzimmertür. Hastig wehrte er ab: »Glaub’ nicht, daß es so schlimm ist…« Und stockte und sah das jähe Verstehen in ihren Augen. »Oder soll ich…?« triumphierte sie. »Vielleicht schau ich mir den kleinen Patienten erst einmal an?« Seine Aggressivität kehrte zurück. »Nichts da!« sagte er. »Kein Pa‐ tient, kein Kind, überhaupt kein Kind. Nichts. Nichts! Nichts.« »Dachte nur…«, schnappte Frau Schulze ein. »Du jedenfalls bist nicht imstande, jemandem zu helfen.« Er sagte: »Nichts. Hier ist nichts«, und schob sie hinaus. Aus den Wiesen jenseits der Straße stieg Nebel, dünn und gefärbt vom Gold der sinkenden Sonne, ein paar Häuser weiter verbrannte jemand Gartenabfälle, es roch nach Pilzen und chemischem Dünger. Nachdem Wischenköttel so zwei Überfälle aufs Schlafzimmer er‐ folgreich abgewehrt hatte, wurde der Wunsch unabweichbar, das Ding endlich loszuwerden. Aber wohin? Und wenn es wieder stöhnte? Die Augen aufschlug und ihn anglotzte? Im Wohnzimmer ließ er sich in einen Sessel fallen, der üble Rauch zog herein und reizte ihn. Mitten im ewigen Knirschen und Rum‐ peln des Schaufelbaggers hörte er die Schläge von der Dorfkirchen‐ uhr auf der andern Seite des Flusses. Vorm Haus, auf der Straße, bellte der gelbe Hund. Theo griff zum Telefon.
»Fundbüro? Also – in meinem Garten hab’ ich ein großes, rundes, grünes Ding gefunden, das – nein, keinen Kürbis, hören Sie schon zu, das Ding ist mir völlig fremd, hab’ es noch nie gesehen, irgend jemand muß es verloren haben. – Nein, der Garten liegt hinter dem Haus, da geht gewöhnlich niemand entlang, höchstens Kinder, die am Deich spielen, ich glaube, die haben das Ding gefunden und es mir in den Garten geworfen. – Ja, es ist nicht groß, und sehr leicht. – Quatsch, nein, beschreiben kann ich das nicht, grün ist es und an‐ derthalb Meter lang, rund und mit Armen und Beinen und Augen. – Ja, Arme, Beine, Augen. Auch Fühler, Fühler auch.« Der Mann am andern Ende schien sich zu amüsieren. »Sag’s Ihnen doch die ganze Zeit!« schrie Wischenköttel. »Eine Puppe! Eine Puppe. Aus Kunststoff. Garantiert sehr wertvoll. Die schmeißt man doch nicht einfach in einen fremden Garten! Die muß irgendwo gestohlen sein. Die Kinder werden sie gestohlen haben.« Das Fundbüro verwies ihn fröhlich an die Polizei. Nun gehörte Theodor Wischenköttel zu den Menschen, die mit den staatlichen Ordnungshütern nichts im Sinn haben; erstens, weil er es mit der Ordnung nicht genau nahm, zweitens, weil ein Polizist stets der Anfang eines papierreichen und erdrückenden Prozesses war, an dessen Ende man selbst als der Dumme dastand, und drit‐ tens war Christas Bruder Wachtmeister und ein ekelhafter Mensch. Die Polizei anrufen, das ging ihm gegen den Strich, vom Gestank des Gartenfeuers und der vertrackten Situation in die Enge getrie‐ ben, stapfte er wütend durchs Haus. Blieb vorm Schlafzimmer ste‐ hen, schaute lange hinein, das Ding lag hellgrün auf dem Bett und rührte sich nicht. »Ba, bist du häßlich!« sagte er. Stand und starrte, laue Abendminuten verstrichen, voller wurden die Schatten, plötzlich war ihm, als zuckten die dürren Arme und Beine in unregelmäßigen Abständen, als schüttelte sich die grüne Haut wie im Anfall, aber im Halbdunkel des Zimmers mochte es nur ein Zucken des Lichts sein. Kam näher und beobachtete genau‐
er, jetzt fiel ihm das Spielzeug ein, diese Gummifigur in Christas Laden, sie kippte aus dem Regal, als Christa einem Kunden ein Würfelspiel zeigen wollte, er hatte sie aufgehoben und zurückgestellt, eine Pup‐ pe aus einer Fernsehserie. »Blödsinn«, hatte er geknurrt, und Christa meinte: »Verkauft sich kaum noch, jetzt spielen die Kinder lieber mit Raumkreuzern.« Das Ding in seinem Bett sah aus wie diese Spielzeugpuppe, größer zwar, aber offensichtlich vom gleichen Hersteller. »Also ein Werbe‐ trick!« sagte er laut, »vom Fernsehen«, und hatte wieder den Tele‐ fonhörer in der Hand. »Sie, Fräulein!« schrie er böse. »Belästigen Sie friedliche Bürger nicht mit diesen Werbefiguren, alles Blödsinn, was Sie uns da vom anderen Stern verkaufen wollen, Kindereien, das Zeug wird einem in den Garten geworfen und… also, ich werde wegen dieser Puppe nicht Ihre Serie einschalten, das Ding ist kaputt, es läuft Wasser her‐ aus, außerdem wimmert es, soll das etwa Werbung sein? Holen Sie’s ab, oder ich werde Sie anzeigen!« Die Dame in der Telefonzentrale der Fernsehstation versuchte nicht, ihn zu unterbrechen, sie hatte gelernt, Anrufer ausreden zu lassen. Als das Gespräch abrupt endete, blieb nicht einmal Zeit, nach dem Namen des empörten Teilnehmers zu fragen, ungerührt schal‐ tete sie aus. Doch Wischenköttel hatte seinen Zorn sehr plötzlich vergessen, während des Schimpfens war eine Idee aufgetaucht, nicht Werbefi‐ gur, nicht gestohlener Gegenstand: Ein Ding vom andern Stern. »Also«, sagte er laut und redete sich ermunternd zu wie alle, die viel allein sind, »warum bist du nicht gleich drauf gekommen, Theo? Da findest du Leute, die von Amts wegen damit zu tun ha‐ ben, die wissen, was es ist. Und außerdem werden sie dich für deine Aufmerksamkeit prima belohnen. Ein echter Gedankenblitz, Theo!« Und griff zum drittenmal zum Telefon, und als er im Verzeichnis weder RAUMFAHRTAMT noch RAUMFAHRTBEHÖRDE noch RAUMFAHRTINSTITUT fand, rief er die Universität an.
»Sie meinen das Institut für Astrophysik?« sagte der Pförtner, der Telefondienst machte, entgegenkommend. »Nicht wahr, Astrophy‐ sik?« Wischenköttel, der dieses Wort noch nie gehört hatte, nickte. »Aber da ist jetzt keiner mehr, es ist sechs Uhr durch, Feierabend. Wollen Sie eine Nachricht hinterlassen?« Theo sprudelte etwas von wichtigem Fund und anderem Stern, von Beweisstück hervor, das wertvoll sei, und er hätte auch Unkosten ge‐ habt. Da fragte der Kerl am Telefon, ob es gefährlich sei. »Gefährlich?« dehnte Wischenköttel das Wort, erinnerte sich an das seltsame Zucken. »Na: Strahlung. Bakterien. Giftgas. Versprüht es etwas Ätzendes?« »Meinen Sie?« So, wie er ihn geschildert habe, sei der Gegenstand fremdartig und unbekannt, sagte der Pförtner amtlich, da sei doch Vorsicht geboten. »Haben Sie etwas bemerkt, das darauf hinweisen könnte?« Wischenköttel schwieg verstört. »Wohnen Sie allein? Haben Sie Berührung gehabt? Wurde die Po‐ lizei unterrichtet? Welche Maßnahmen haben Sie ergriffen?« Theo konnte nicht mehr recht folgen. Erleichtert hörte er: Der Pförtner bot an, den Professor oder einen Assistenten des Instituts zu informieren, ließ sich Name, Adresse und Telefonnummer geben, mahnte Theo, nichts zu berühren und nichts zu verändern, und hängte ein. Wischenköttel murmelte: »Gefährlich?« Hob die Nase schnup‐ pernd in die Stubenluft, musterte den muffig‐plüschenen Raum, die verwitterten Tapeten, sah Spinnweb am Kronleuchter und ausge‐ dehnte Rotweinflecke auf dem Teppich, nichts schien verändert. Auch an sich selbst war nichts Außergewöhnliches zu entdecken, vorm Badezimmerspiegel, bei dem er (weil das Glas verzerrte) im‐ mer nur die rechte Seite benutzte, erschien seine Haut glatt und wie immer leicht gerötet, die wasserhellen Augen verschwommen, das wenige, struppig‐dürre Haar über den Ohren nicht ausgefallen. Eine schwärzliche Rißwunde auf der Wange erschreckte ihn, dann erin‐
nerte er sich, beim Rasieren in die Haut geraten zu sein, und tupfte mit einem Papiertaschentuch einen Blutstropfen ab. »Gefährlich?« murmelte er, trat vorsichtig an die Schlafzimmertür und blickte zum Bett. Der grüne Gegenstand lag unverändert, A‐ bendwind wehte vom Fluß herüber, ein Frachter stampfte dem offe‐ nen Meer entgegen. Wischenköttel sagte: »Also wenn das Ding…! Das müssen die mir ersetzen, alles müssen die mir ersetzen. Ätzung, Strahlung, Bakteri‐ en, so eine Gemeinheit«, und betrat das Zimmer nicht. Überlegte, daß er jetzt wohl ein neues Bett kaufen, das Zimmer desinfizieren, die Wäsche verbrennen müsse, wütend warf er die Kammertür zu. »Warum werden wir vor dieser gräßlichen Technik nicht ge‐ schützt?« schrie er. »Wofür zahlen wir Steuern? Ich will mit ge‐ fährlichen Sachen nichts zu tun haben. Es ist mein gutes Recht, ver‐ schont zu bleiben, Strahlung, Bakterien, Giftgas, was bilden die sich ein, was sie sich herausnehmen dürfen? Werfen einem ordentlichen Menschen dieses Ding in den Garten und haben nichts Besseres zu antworten als ›nichts berühren‹ und Professor informieren? Scha‐ densersatz will ich, und nicht zu knapp.« Setzte sich zwischen Bier und Fernsehgerät und mühte sich, bei bonbonbunten Bildern und röhrender Musik den Fall zu vergessen; es gelang nicht, und die Viertelstunden verrannen, in denen er auf den Anruf aus dem Institut wartete. Und als er endlich die Schlager mitpfiff, die vom Bildschirm riesel‐ ten, waren die Bemerkungen des Pförtners zu albernen Besserwisse‐ reien geworden. »Ich glaube nur, was ich sehe«, sagte er stark, »und ich sehe nichts.« Gas? Strahlung? Ding vom andern Stern? Bierfröhlich, wie er sich inzwischen fühlte, erzählte er die Geschichte bereits seinen Arbeits‐ kollegen, lachte mit ihnen über Beamte (»… ach was ist von denen schon zu erwarten?«) und Nachbarn (»… wenn die schon einmal einen Rat geben«). Der Fund war nun eine ganz gewöhnliche Appa‐ ratur, nur den Ausschalter hatte er finden müssen.
Aber was hast du dann gemacht, Theo? Was? – Nichts, war die Antwort, gar nichts, versteht ihr? Überhaupt nichts. Bin dafür gar nicht zuständig. Andere werden dafür bezahlt, sehr gut bezahlt, die mit den dicken Gehältern sollen sich darum kümmern, ich bin doch nicht deren Laufbursche. Geht mich nichts an, meine Herren, habe ich gesagt, und meinen Garten und mein Schlafzimmer richtet ihr so wieder her, wie sie vorher gewesen sind! In dieser Hochstimmung mußte er sich jemandem mitteilen, und da er schon alle, die seinen Launen zu Diensten waren, abgefertigt hatte, erinnerte er sich schließlich seiner Mutter. 3 Frau Wischenköttel trippelte, in einen abgetragenen Bademantel gehüllt, über den Flur des Pflegeheims zur Telefonzelle, hastig be‐ müht, den Anrufer nicht zu lange warten zu lassen, das Blinken des Lämpchens über der Sprechzellentür empfand sie als Vorwurf ihrer Unzulänglichkeit. Immer war sie sofort und pünktlich zur Stelle gewesen, doch jetzt versagten Hüften, Knie und Füße, die Gelenke trockneten aus, quälten sie bei jedem Schritt, sie fühlte sich un‐ brauchbar, und das plagte sie am meisten. Was war Außergewöhnliches geschehen, daß Theo sie am Freitag‐ abend anrief, mitten in seinem schönen Wochenende, in seiner Frei‐ schicht? Es behagte ihr nicht, daß ihr Theo, einziges Kind aus der langen, mühevollen Ehe mit dem Dreher Wilhelm Wischenköttel, allein lebte, daß sie ihn nach den vielen Jahren, in denen sie sich zwischen Fabrikarbeit und Haushalt zu wenig um ihn gekümmert hatte, mit all dem zurücklassen mußte, das nicht Sache eines Man‐ nes war: Waschen und Kochen und Flicken, Bügeln, Geschirrspülen, Fußbodenscheuern, Unkrautzupfen. Wer putzte jetzt die Fenster, brachte die Gardinen zum Spannen und sorgte für frische Bettwä‐ sche? Sie war voll Sorgen, seit sie hier im Hospital herumlag, und
die achtzehn Kilometer Entfernung und die ärztlichen Mahnungen, nicht zu laufen, ließen diese Sorgen unüberwindbar werden. Aufgeregt griff sie zum Hörer, preßte ihn ans Ohr und rief: »Theo, mein Junge, willst du heiraten?« Er verstand sie schlecht, stellte schließlich den Ton des Fernsehers ab und dröhnte los: »Also paß auf, Mutter, muß was Tolles erzäh‐ len.« »Mein Gott«, sagte sie, »ist Schlimmes geschehen?« »Quatsch«, schrie er, »bin durch Zufall auf ein tolles Ding ge‐ stoßen!« »Tu nichts Unrechtes«, sagte Frau Wischenköttel. Theo erzählte drauflos, jetzt hatte er wieder eine Zuhörerin und konnte sicher sein, daß sie ihm jedes Wort wie eine Kostbarkeit ab‐ nahm. Seit der Redeprobe für die Kollegen war die Schilderung far‐ biger, seine eigene Rolle aktiver geworden, garnierte auch die Ge‐ schichte mit Frau Schulzes Neugier und Christas Empfindlichkeiten. Meinte dann, an der dämlichen Mahnung des Universitätsbeamten sei schon deshalb nichts dran, weil keiner der gelehrten Herren sich wieder gemeldet hätte, und er, Theo, habe inzwischen alles geprüft und nichts feststellen können. Schließlich geriet ihm der Fall zum großen Los, das man nur bei den richtigen Leuten einwechseln müs‐ se, und seine Mutter dürfe stolz auf ihn sein. »Christa ist weggerannt?« fing Frau Wischenköttel an der Stelle an, die sie am meisten beschäftigte. »Die dachte, ich hätte ne Frau im Bett versteckt«, lachte er. »Gib dich nicht mit schlechten Mädchen ab«, sagte sie. Das sei für den grünen Zwerg in seinem Bett wohl nicht die pas‐ sende Bezeichnung, wieherte er weiter und merkte sich diesen Satz für den Bericht an seine Kollegen. Frau Wischenköttel fragte mißtrauisch: »Ein grüner Zwerg?« Er habe doch nun alles berichtet? »Was tut denn der Zwerg?« fragte seine Mutter. Theo begann das Gespräch zu langweilen.
»Meistens gar nichts«, sagte er lässig, »und manchmal wimmert er und stöhnt.« Frau Wischenköttel sagte eifrig: »Er hat Schmerzen! Braucht Hilfe! Wie gut, Junge, daß du ihn ins Bett gelegt hast, ach, du tust immer das Richtige.« Er war bis zu diesem Augenblick allerdings der Ansicht gewesen, mit der Lagerung der Fundsache in seinem Schlafzimmer einen gro‐ ßen Fehler begangen zu haben. »Meinst du?« sagte er unsicher. »Gib ihm zu trinken«, sagte sie. »Milch, am besten ist Milch. Be‐ wege ihn nicht unnötig, vielleicht ist innerlich etwas gebrochen. War der Arzt schon da?« Wischenköttel, nun völlig baff: »Der Arzt?« »Doktor Bröller«, sagte sie bestimmt. »Ruf den Doktor an, jetzt gleich! Und berichte mir, was er herausfindet, du weißt ja, ich schla‐ fe sowieso schlecht, du kannst mich mitten in der Nacht wieder an‐ rufen.« Er sagte: »Ja, Mutter«, hängte ein und starrte auf den Fernseh‐ schirm und bemerkte nicht, daß die Show ohne Ton lief. Doktor Bröller anrufen? Wieso den Arzt? Was hatte die Sache mit einem Arzt zu tun? Also Bröller? Was Mutter für seltsame Ideen hatte…! Und Frau Wischenköttel hinkte den langen Weg über desinfizierte Kacheln zu ihrem Bett zurück und murmelte: »Wird schon wieder‐ kommen, die Christa, ist ein gutes Mädchen, impulsiv, ja, das ist sie, vorschnell, sonst wäre ihr der Kummer mit dem Kind erspart geblieben. Wenn sie’s überschlafen hat, wird sie wiederkommen und Theo helfen.« Und fühlte sich glücklich wie schon lange nicht mehr, sie hatte Theo mit gutem Rat beistehen können. Dr. Karlheinz Bröller, Vorstadtarzt und erfolgloser Virenforscher, fand den Rat weniger gut. Weder paßte ihm die Stunde zwischen Abend und Nacht, in der er an seinem Elektronenmikroskop saß und die Patienten vergessen wollte, noch die Art dieses dummdreis‐ ten Wischenköttelsohnes, der stets andere für sich springen ließ. Unwirsch verließ er sein Labor und zog das schwarze Jackett an.
»Was ist denn dort los?« fragte Frau Bröller, die ihrem Mann den Instrumentenkoffer zum Wagen nachtrug. »Soll jemand aus dem Baum gefallen sein.« »Wischenköttel?« »Nein.« »Also ein Besucher?« redete sie weiter. Er startete bereits. »Scheint so. Du weißt ja, der Junge kann sich nicht einmal ordentlich artikulieren.« »Sollte man einen Krankenwagen bestellen?« Bröller rollte schon aus der Garage. »Wird nicht nötig sein.« »Dann hätte er doch mit dem Verletzten herkommen können.« »Ja«, sagte Bröller mißmutig, aber seine Frau hörte ihn nicht mehr, »ich fahre weiß Gott nicht gern zehn Kilometer, wenn’s unnötig ist, aber ich bin es der armen Frau Wischenköttel schuldig.« Eine gute halbe Stunde später war er zurück; die Fahrt hatte sei‐ nen Zorn nicht gekühlt. Er tobte: »Das ist mir in meiner ganzen Praxis noch nicht geboten worden, diese Unverfrorenheit, bodenlose Frechheit«, bellte: »Kann mir nicht vorstellen, daß Frau Wischenköttel dahinter steckt, wie der Schnösel behauptet. Sie ist immer eine zurückhaltende und höfliche Frau gewesen, tyrannisiert von zwei fast debilen, egoistischen Ber‐ serkern. Wenn sie zu Hause gewesen wäre, hätte sie es nicht dazu kommen lassen.« Frau Bröller schwieg klug. »Verhöhnt hat er mich!« schrie er. »Ein Possenspiel aufgeführt, un‐ terbricht mich in meiner Forschungsarbeit und bestellt mich in die‐ sen abgelegenen Zipfel hinterm Deich, nur um sich lustig zu ma‐ chen«, warf seinen Instrumentenkoffer vor die Flurgarderobe, das Jackett daneben, und knöpfte sich in den weißen Kittel. Frau Bröller wartete ab. »Ein Unfall! Daß ich nicht lache!« schimpfte er weiter. »Legt eine Gummipuppe in sein Bett und verlangt, ich solle sie untersuchen. Das wird ihn teuer zu stehen kommen.«
Nun war auch seine Frau irritiert. »Du meinst – ein junges Mädchen?« »Eine Gummipuppe! Gummipuppe. So wahr ich hier stehe, Gummipuppe!« »Spielzeug?« »Ja, Spielzeug, eine billige, luftgefüllte Micky Maus aus dem Kaufhaus, damit wollte er mich in den April schicken.« Sie sagte: »Unglaublich« und meinte es auch so, kannte ihren Mann und seine hurtigen Diagnosen gut genug, um nicht gleich seine Beurteilung zu teilen, aber sie hütete sich zu widersprechen, solange er wütend war. Erst weit nach Mitternacht, als er aus dem Labor zurückkam, ab‐ gespannt und voll verkrampfter Hoffnung, eines Tages ein be‐ kannter Virenforscher zu werden, die Praxis und das enge Labor aufgeben und in die Universität umziehen zu können… Als er müde ins Schlafzimmer kam, begann sie, behutsam zu fragen. Was denn Frau Wischenköttel…? Sie sei nicht dagewesen, nur der Sohn. Ob er den Patienten untersucht…? »Patient?« schnaufte er, »sagte dir doch: eine kostümierte Puppe.« Nach und nach entlockte sie ihm eine Beschreibung. »Merkwürdig!« überlegte sie laut. »Und in dieser Maskerade steckte niemand? Ich meine – vielleicht hatte er jemanden von einer Faschingsparty mitgebracht?« Er könne wohl ein Gummipuppe von einem lebenden Wesen un‐ terscheiden, sagte er barsch, aber nun ging ihm noch einmal diese unerhörte Szene durch den Kopf: Da war der fette, alkoholisierte Tölpel, der sich aufspielte, das dunkle Schlafzimmer mit der Figur im Bett, Wischenköttel knipste die Nachttischlampe an, und dann sah Bröller, daß man ihn hereingelegt hatte, daß man ihm dumm kam mit einem abgeschmackten Ulk, er fauchte den grinsenden Kerl an und verließ auf der Stelle das Haus.
»Faschingsparty?« sagte er. »Warum glaubt ihr Frauen immer, hinter jeder Gemeinheit, die sich ein Mann leiste, müsse ein junges Mädchen stecken?« Bröller wollte nicht mehr darüber sprechen. Doch kurz bevor er einschlief, erinnerte er sich an jenen Augenblick, als das Licht der Nachttischlampe auf das Ding aus dem Panoptikum fiel: Den glatten, mattgrünen Körper überzog für Sekunden wellenförmiges, epileptisches Zucken, die dürren Arme versteiften sich wie im Starrkrampf, ebenso die Beine, der strichartige Mund öffnete sich und gab Schleim frei. Vom Kirchturm jenseits des Flusses wehte Glockenschlag herüber, Theodor Wischenköttel war, zerknittert und biervoll, im Sessel ein‐ geschlafen, der Fernseher knisterte leer. Abgestandner Dunst des Tages kroch kalt die Beine herauf, doch die Gewißheit, nichts ande‐ res als einen drolligen, ungefährlichen, überall zu kaufenden Ge‐ genstand ins Haus geschleppt zu haben, ließ ihn sicher und zufrie‐ den schlafen, Doktor Bröller, ein studierter Mann, hatte es ihm bes‐ tätigt. Seine Mutter wartete in dieser Nacht vergeblich auf den zweiten Anruf, dachte in langen, dämmrigen Stunden an den guten Bröller und hoffte für den Zwerg. Sie lag unterhalb eines hohen, unverhan‐ genen Fensters und starrte mit ihren weitsichtigen, blassen Augen in den Himmel, der sich im Osten gemächlich färbte. Bröllers Vater hatte ihr damals in den mageren Nachkriegsjahren geholfen, Theo zur Welt zu bringen, an einem schneereichen, nordwindigen Tag, im kaum geheizten Haus hinterm Deich. Der Junge, zehn Pfund schwer und kompakt, hatte sie übel zerrissen, sie empfand tagelang nur Schmerz und Mattigkeit, brachte es nicht fertig, das Kind zu stillen. Schwiegermutter übernahm die Regie, kochte Babymilch nach her‐ gebrachter Art, Haferschleim und andere bewährte Futtermittel, der Junge wurde übergewichtig, doch wenn sie etwas einwendete, hieß es, er geriete nach dem Vater. Das Gesetz ließ ihr nur wenige Wochen, sich zu erholen, dann fuhr sie wieder jeden Tag mit dem Frühbus in die Fabrik, Schwiegermut‐
ter windelte und päppelte und strafte und schmeichelte, Theo lernte schnell die Schwächen der Erwachsenen. »Ganz der Vater«, sagten die Nachbarn, aber sie wußte es besser, sie – Luise Wischenköttel, damals achtunddreißig Jahre und schon zu alt für ein erstes Kind – erkannte die stille und empfindsame Art, die in dem dreisten Jun‐ gen verborgen war. Er rief auch am nächsten Tag nicht an. 4 Als ihn die hohe Sonne weckte, fühlte er sich unausgeruht, der Ses‐ sel war nicht annähernd so bequem wie das Bett. Reckte sich, blin‐ zelte, ging in die Küche und starrte in einen leeren Kühlschrank. Mißgelaunt rührte er strengen Kaffee zusammen und spülte ihn hinunter, schüttelte sich, schwitzte ihn dann wieder aus und inspi‐ zierte den Kühlschrank ein zweites Mal, das Ergebnis war nicht er‐ mutigender, wie so oft mußte ein Duschbad das Frühstück ersetzen. Am Abend hatte er das kleine Fenster zum Garten hin offengelas‐ sen, nun empfingen ihn Fliegen, Mücken, Wespen, Spinnen und Falter, ein Surren wie in einem Umspannwerk; nach altgewohnter Weise schlug er mit einem Handtuch so lange um sich, bis die letz‐ ten Insekten die Beinchen streckten, dann duschte er ausgiebig in moosduftendem Schaum, sang »Karin geht vorbei«, Meermann fiel ihm ein. Ja. Das Ding vom andern Stern war mindestens noch für diesen Scherz gut. Nach dem Veitstanz, den Bröller am Abend zuvor aufge‐ führt hatte, war die Wirkung auf Pit Meermann bereits abzuschät‐ zen, freute sich Theo. Ihn fröstelte, als er vors Haus trat (tief unter der Küste hat Mor‐ genluft herbbittere Beimischungen, moorfeuchte Nacht und Kutter‐ fisch, Teer und Tang und eine Prise klebrigen Salzes, das auf der Haut brennt). Früher, wenn er im Sieben‐Uhr‐Dämmerlicht den lan‐
gen Schulweg begann, leckte er sich diesen Abenteuergeschmack von den Lippen, sie wurden spröde und sprangen, aber er schmeck‐ te weiter und träumte vom Seefahrerleben. Onkel Ernst war See‐ mann auf einem Indienfrachter; wenn er nach vielen Monaten an Land kam, brachte er fantastische Schnitzereien mit, Tiere mit Men‐ schenköpfen, fratzenbemalte Schlangenhäute, Elefantenperlen mit Zwergengesichtern und viele spannende, unheimliche Geschichten. Theo wollte so werden wie er; in breit wiegenden Schritten trottete er der Schule entgegen, zwischen Deich und Wiesen entlang der Straße, auf der Kolonnen von Arbeitern auf Fahrrädern zum Hafen fuhren. Theo wollte mit großen schwarzen Frachtern nach Bombay fahren und Kalkutta und durch den Suezkanal und das Rote Meer, das in seiner Fantasie tuschkastenrot war, voll roter Fische und roter Kraken und roter Schlangen. Onkel Ernst wußte wunderbare Ge‐ schichten. In Joggingmanier hüpfte er die Treppe zum Vorgarten hinunter. Woher kommt das Ding, das ich gefunden habe, dachte er, ob sich einer meldet, dem es gehört? Was soll es eigentlich darstellen, wozu nützlich sein? Ringsum nickten ihm fleißige Wochenendgärtner zu, er hüpfte weiter. Ja, bis morgen früh, bis Pit kam, mußte er das Ding irgendwo aufbewahren. Wo? Auf dem Dachboden? Im Schrank? Im Garten? Hüpfte über einen schmalen Stichweg zur Deichkrone hin‐ auf, umrundete Gärten und Haus und kehrte zurück und entschied, das Fundstück da zu verstauen, wo all sein Gerümpel landete: Im Schuppen. Fand dort ein verbeultes, offenes Faß, das sein Vater frü‐ her als Regentonne verwendet hatte; in den letzten Jahren diente es als Behälter für Gartentorf, leerte es aus, reinigte es flüchtig und schleppte es ins Schlafzimmer. Doch kaum hatte er das grüne Ding gepackt, um es in die Tonne zu stecken, schlug’s die Lider auf, die Augen waren schreckensweiß und glänzend von Fieber. Es schlang ihm die Ärmchen um den Hals und schrie mit dünner Katzenstimme, dabei verfärbten sich die dunklen Pupillen chromgelb, der ganze Körper zitterte heftig, Flüs‐
sigkeit tropfte aus den Mundwinkeln. Und während Theo noch, erschrocken und ratlos, zwischen Bett und Blechfaß stand, glaubte er plötzlich einen rotglühenden Stab zu sehen, der sich aus der Schulter des Wesens schob, eine flimmernde, überaus feine Antenne, und in diesem Augenblick verdickte sich die Luft im Zimmer zu gallertartiger Masse. Doch so schnell die Erscheinung hervorgeschossen war, verschwand sie auch wieder, Theo, nach Atem ringend, suchte die Antenne ver‐ geblich, nicht einmal ein Punkt war auf der schmalen grünen Schul‐ ter zu entdecken. Das Ding in seinen Armen hörte auf zu zittern, die Lider klappten zu, der Mund schloß sich wieder zu einem Strich, nur die Arme blieben um seinen Hals, zutraulich und hilfesuchend. Erschrocken legte er es aufs Bett zurück und löste sich aus der Umklammerung, die kleinen Finger waren ohne Kraft. »Also, du hättest mich erstickt!« Das Ding reagierte nicht. »Wollte dir helfen!« redete er. »Kannst doch hier nicht eingehen wie eine lackierte Maus. Wir brauchen jemanden, der dich reparie‐ ren kann.« Es stöhnte. »Ja doch«, sagte er, »mir wird gleich was einfallen«, und gab der Regenwassertonne einen Tritt, sie rollte scheppernd in den Flur. »Also, was meinst du, was wir machen sollen?« Stand schnaufend neben dem Bett, stand und wartete, das Ding rührte sich nicht. »Also«, sagte Theo schließlich, »bleib hübsch liegen, bis ich zu‐ rückkomme«, und machte sich zum Milchmann auf den Weg. Der flache Backsteinbau an der nächsten Straßengabelung war kaum fünf Minuten entfernt, Theo kannte jeden Findling auf diesem Weg und die Weidenbäume mit ihren struppigen Köpfen und die be‐ moosten Telefonmasten, er war ihn Tag für Tag und Jahr für Jahr mit Mutters Einkaufszetteln getippelt. »Milch?« sagte der hagere Alte und blinzelte, seine Augen waren trüb und rotrandig. »Denke, ich habe Milch gesagt«, konterte Theo.
Der Mann schüttelte den Kopf. »Und Zigaretten«, ergänzte Wischenköttel. Der Alte sagte: »Ich habe dich seit zwanzig Jahren keine Milch ho‐ len sehen.« »Wenn Sie meinen, daß Sie das was angeht?« »Du kannst soviel Milch haben, wie du willst.« Der Alte tauchte hinter die Registrierkasse und kicherte, Theo schwieg. Stopfte den Einkauf in einen Beutel und wandte sich zum Gehen, in der Tür stieß er mit seiner Nachbarin zusammen, grunzte, rannte hinaus. »Milch«, sagte der Mann hinterm Ladentisch. Frau Schulze verstand nicht gleich, begriff aber schnell. »Theo?« sagte sie. Die Milch sei natürlich für das Kind. Nickte: Al‐ lerdings, ein Kind, Wischenköttel habe ein Kind bei sich, sonderbar, nicht wahr? Ob er sich vorstellen könne, Wischenköttel mit einem Kind? Der Milchmann starrte sie an. Und außerdem verberge er es vor allen Leuten, leugne, daß es da sei, sonderbar, nicht wahr? »Sie meinen…?« sagte der Milchmann. Daß es nicht mit rechten Dingen zugehe, nickte sie, ja, dies son‐ derbare Verhalten sei verdächtig, nicht wahr? »Aber…«, sagte der Milchmann und schluckte. Man müsse zwangsläufig so etwas vermuten, trumpfte sie auf, und dem Wischenköttel sei es zuzutrauen, diesem herzlosen Un‐ menschen, der nicht einmal ein armes Tier auf seinem Grundstück dulde, und nun – ein Kind? »Sonderbar«, sagte der Milchmann. Er teile also ihre Meinung, daß Wischenköttel die Milch nicht für sich selbst gekauft habe, das könne er doch bezeugen, nicht wahr? Der Milchmann sagte schnell: »Damit will ich nichts zu tun ha‐ ben.«
Theo marschierte inzwischen die staubige Landstraße zurück, miß‐ mutig und grußlos, beachtete nicht den gelben Hund, der, zuerst knurrend, dann aus sicherer Entfernung heiser bellte. Vorm Haus wartete Christa. Sie küßte ihn, bevor sie versuchte, ihre Entschuldigungsrede vor‐ zubringen: Da sei bei ihr eine Sicherung durchgebrannt, er müsse das verstehen, sie sei abgespannt gewesen, fertig nach einer harten Woche, das Geschäft jetzt vor Ostern sei besonders aufreibend, und ihre Chefin kaum noch fähig, die Kasse zu bedienen, und morgens und abends fordere Püppi den Rest ihrer Nerven, da sei gestern bei ihr eine Sicherung durchgebrannt. Trotzdem (nun wurde ihr Ton leiser und stockend) könne sie nicht begreifen, warum sie ihn ange‐ schrien hätte, schließlich sei es seine Sache, was und mit wem er… Er packte in der Küche seinen Einkauf aus, nahm den Milchbeutel in die Hand, wandte ihn hin und her. »Wie geht das?« fragte er. Christas Rede endete abrupt. »Du trinkst Milch?« Barsch sagte er: »Öffnen!« Etwas in seiner Stimme warnte sie, deshalb schwieg sie und tat, was er wollte und goß den Inhalt des Beutels in eine Kanne. Er schnupperte dran, verzog das Gesicht und sagte fest: »Ein Glas voll brauche ich«, und ging damit ins Schlafzimmer. Christa folgte ihm. »Milch, du Zwerg!« sagte er rauh und versuchte, dem Ding davon einzuflößen, aber sie lief über den geschlossenen Mund und durch‐ feuchtete das Bettlaken. »Also«, Theo fühlte sich hilflos, »Milch, verstehst du? Mußt schon mal die Schnauze aufmachen.« Beugte sich hinab, um seine Pranke unter den Kugelkopf zu schieben, jetzt konnte Christa sehen, mit wem er sprach. »Milch«, sagte Theo. »Das wird dir guttun.« Es reagierte nicht.
Christa sagte mit seltsam schriller Stimme: »Das da – Theo – war das gestern schon da?« Er knurrte. »Woher hast du es, Theo?« »Was glaubst du denn?« »Warum hast du es in dein Bett gelegt?« Wieder ging Milch daneben. »Du hast es gestern in dein Bett gelegt, Theo? Gestern?« Sein Tonfall wurde eine Spur grober als beabsichtigt. »Natürlich gestern, wann denn sonst? Meinst du, ich finde jeden Tag solche…« jetzt fehlte ihm die passende Bezeichnung – »Kürbisse im Garten und hätte nichts Besseres zu tun, als sie in mein Bett zu stopfen?« Sie war sehr bleich. »Könntest du mir nicht endlich mal helfen?« schrie er. »Du hast mir gestern nichts davon gesagt, Theo.« »Gestern! Gestern! Du hast mich gestern überhaupt nicht ausreden lassen!« Er stellte das Milchglas so heftig auf den Boden, daß es um‐ kippte, und betrachtete sie böse: Christa, heute im leichten, weißen Frühlingskleid, mit flachen Schuhen, die kräftigen, geraden Beine ohne Strümpfe, gebräunt wie ihre langen, ebenso kräftigen Arme, mit dem knochigen, sommersprossigen, bleichen Gesicht. Er dachte: Sie will mich nicht verstehen. »Das ist dir prächtig gelungen, wie du mich ausgetrickst hast«, sagte sie. »Du läßt dir den größten Quatsch einfallen, nur um mich loszuwerden, mein Bruder Georg hat recht gehabt, als er mich warn‐ te.« »Der Zwerg da…«, begann Theo, aber sie war noch nicht fertig. »Ich war gekommen, mich zu entschuldigen«, sagte sie. »Jetzt sehe ich, daß du es auf die Spitze treiben willst.« »… verletzt«, sagte er. »Braucht Hilfe.« »Was du hier an Kindereien veranstaltest, geht mich nichts an.« Sie wandte ihm den Rücken zu, ging in den Flur zurück und starrte
durch die offene Haustür auf die Straße, die Luft über dem Asphalt flimmerte. Theo sagte sehr laut: »Milch braucht der Zwerg, verdammt. Milch.« »Ich dachte, wir sind erwachsen genug, um unsere Dummheiten beiseite zu tun und über uns selbst nachzudenken«, redete Christa weiter. Er platzte heraus: »Deine Dummheit hast du dir wohl selbst ein‐ gebrockt, he? Wie war das mit dem Versicherungsvertreter? Hat dich dein lieber Bruder Georg auch vor dem gewarnt?« Sie machte ein paar Schritte auf die Haustür zu, als wollte sie wie‐ der wegrennen, aber nun mußte alles gesagt werden. »Hatten wir dieses Thema nicht hinter uns? Habe ich mich so ge‐ täuscht, Theo?« Redete, was sie damals empfunden hatte, als sie wieder zu ihm gegangen war, große Worte von Verzeihung und Freundschaft, aber auch, was ihr seit Monaten im Hals würgte und heraus mußte nach den Jahren des Wartens. Theo hatte nicht ein einziges Mal von Heirat gesprochen, sie drängte ihn nicht, aber hoff‐ te. Hoffte, endlich mit ihrer Tochter die Wohnung verlassen zu kön‐ nen, in der ihre Mutter regierte und ihr Bruder Vaters Rolle über‐ nommen hatte. Und als es gesagt war, schien sie klein und wie aus veneziani‐ schem Glas, aber Theo blinzelte nur, weil das Licht hinter ihr so grell flimmerte. »Muß dem Zwerg Milch geben«, sagte er und wandte sich ab. Da explodierte sie. Auf der Flurgarderobe stand eine schnörkelige, großväterliche Vase, staubklebrig und voll Zigarettenasche, sie krachte neben Theo gegen den Rahmen der Schlafzimmertür, und das Holz splitterte. Der geschäftige Samstagvormittag war lärmvoll, die Straße hin‐ term Deich pumpte Autos stadteinwärts, Autos mit Einkaufstaschen und mit jungen Leuten, für die gerade das Wochenende begann.
Junge Leute und Einkäufer auch an der Bushaltestelle, neben Christa eine Frau mit Kinderwagen, das Baby krähte. Christa Boll, neunundzwanzig Jahre alt und wieder von einem Mann enttäuscht, sah vom Heckfenster des Busses auf den Deich hinaus, auf das flachwehende Schilf und die Möwen, und für ein kurzes Stück Wegs war auch der hochgereckte Stahlhals des Schau‐ felbaggers zu sehen, wie er Eimer für Eimer aus dem gelben Wasser schluckte und den Kies auf eine bereitliegende Schute spie. Niemals werde ich hier wieder fahren, dachte Christa, niemals mehr hier meine Zeit verschwenden, niemals werde ich mehr meine Wochen‐ enden opfern. 5 Der Polizeibeamte blinzelte schläfrig in den Vormittag hinaus. Lä‐ cherlich, dachte er, was den Leuten alles einfällt, nur um den Nach‐ barn zu ärgern, wirklich lächerlich. Streckte sich, trat ans Fenster, gähnte, blickte auf den Parkplatz hinaus, links und rechts der Ein‐ fahrt wurden die Beete mit Stiefmütterchen geschmückt. Jetzt hielt ein Einsatzwagen vor der Revierwache, er sah seinen Kollegen Ge‐ org Boll aussteigen und einige Worte mit den Gärtnern wechseln. Er wird mich fragen, was inzwischen vorgefallen ist, dachte er, nichts, eigentlich nichts. »Nichts?« sagte Georg und hängte seine Uniformjacke neben die Tür. »Still wie im Karpfenteich«, beteuerte der Kollege, aber ein paar Minuten später berichtete er doch über den Anruf. Was die Frau gesagt habe? »Kindesentführung und Erpressung.« Der Polizist lachte. Georg setzte sich. »Nana«, machte er, »das muß sie doch be‐ gründet haben.«
Sie hätte lange und ausführlich beobachtet, ahmte der Kollege die Sprechweise der Anruferin nach, sie hätte auch genau das Kind ge‐ sehen, das der Nachbar in eine Wolldecke gewickelt und ins Haus getragen habe. Schließlich hätte er sogar Milch gekauft. »Milch?« Jetzt lachten beide. »Also Milch!« sagte Georg. »Das ist allerdings ein belastendes In‐ diz.« Die Heiterkeit reichte noch für weiteres Lachen, dann fragte er bei‐ läufig: »Hast du die Personalien aufgenommen?« Schulze, Stasia, Hinterm Deich 35. Blitzschnell begriff Georg den Zusammenhang. Der Nachbar heiße Theodor Wischenköttel? Noch während der andere nickte, sagte er »Sofortmaßnahme« und »Einsatzführer unterrichten«. Der Kollege meinte, nicht richtig ge‐ hört zu haben. Georg bestand darauf. »Es ist bereits der zweite Hinweis«, sagte er und dachte an seine Schwester Christa. Ob man den Fall nicht besser der Kripo überlasse, fragte der ande‐ re. Georg Boll war entschlossen zu handeln, jetzt war der Augenblick, Christa endgültig von diesem üblen Kerl zu trennen. Er zog die Uni‐ formjacke an. Stasia Schulze stand hinter den Gardinen, als das Polizeifahrzeug vorm Nachbargrundstück hielt, sie sah die beiden Beamten durch den Vorgarten und über die Stufen zum Eingang laufen und nickte befriedigt. Dem armen Wesen in Wischenköttels Haus war nun ge‐ holfen, wußte sie, jetzt sorgte die Staatsanwaltschaft dafür, daß es in Sicherheit gebracht und seinen Angehörigen zurückgegeben würde. Sie sah, wie andere Nachbarn aufmerksam wurden, und wie sich Kinder um den grünweißen Wagen scharten. »Still!« sagte sie zu dem Hund. »Wir müssen uns noch einen Au‐ genblick gedulden.«
Der eine der beiden Wachtmeister läutete, aber niemand zeigte sich, sie riefen »hallo!« und »bitte öffnen Sie!« und Georg drückte die Türklinke, das Haus war unverschlossen. Im engen Flur stolperten sie über Scherben und Zigarettenasche, stickig und unaufgeräumt war auch das Wohnzimmer, eine leere Bierflasche rollte über den Teppich. »Ist da jemand?« rief der Kolle‐ ge in regelmäßigen Abständen, und Georg: »Hier ist die Polizei. Bitte ein Zeichen geben!« Das Haus schluckte das Echo, nichts rühr‐ te sich. Georg stapfte grimmig durch alle Räume, Wohnzimmer, Küche, Bad, Schlafzimmer, zwei Kammern unterm Dach, der Spitzboden war mit einer Leiter zu erreichen. »Nichts!« sagte er enttäuscht. Der andere kam über die Kellertreppe herauf: »Nichts.« Er sagte: »Das Haus ist leer«, und hatte es von vornherein gewußt. Georg gab nicht auf. »In einer Truhe? Besenkammer?« Der andere sah ihn an. »Alles leer«, sagte er. Georg bestand auf einer zweiten Runde, nun durchstreiften sie gemeinsam die Zimmer, riefen, klopften Wände und Schränke ab, von Minute zu Minute wuchs seine Erbitterung. Nichts war ihm so zuwider wie ungespültes Geschirr, schimmelnde Speisereste, un‐ gemachte Betten, schmieriger Krempel überall, Dreck und Bierfla‐ schen, das Bad voll Ungeziefer: Dies unordentliche, feuchtschwitzi‐ ge Haus bestätigte ihm seine Meinung über den Mann, den er nicht zum Schwager haben wollte. Der Kollege blieb schließlich stehen und zuckte die Achseln. »Vielleicht im Garten? Im Schuppen?« war Georgs letzter Versuch. »Gib’s doch zu!« sagte der andere. »Wir haben einen Fehler ge‐ macht. Gib’s zu!« »Suchen Sie Herrn Wischenköttel?« sagte die Frau im Vorgarten, der sei nicht hier, vor einer Viertelstunde sei er aus dem Haus ge‐ rannt und mit dem Auto weggefahren, sehr eilig habe es der Herr
Wischenköttel gehabt, vermutlich sei er vor der Polizei gewarnt worden. »Allein?« fragte der Beamte. »Hat er das Haus allein verlassen?« Der andere sagte: »Sie sind Frau Stasia Schulze, wohnhaft ne‐ benan? Sie haben Ihre Beobachtung zur Anzeige gebracht, Frau Schulze, was haben Sie gesehen?« Sie habe doch alles berichtet, jawohl, jede Einzelheit, sagte sie verwirrt: Das Kind. Er habe es gestern ins Haus getragen. Unter ei‐ ner Wolldecke versteckt. Er habe sie am Eintritt gehindert. Aber sie wüßte, daß es da sei. Wo sie es gefunden hätten? Er habe ihm doch nichts zuleide getan? Georg sagte: »Das Haus ist leer.« Unmöglich, sagte sie, ob jeder Winkel durchsucht sei. Der Beamte betonte: »Eine falsche Aussage kann Folgen für Sie haben.« Frau Schulze fuhr mit der Hand über den Nacken des Hundes, ei‐ ne erschrockene, unsichere Bewegung, das Tier winselte. Als die beiden Polizisten wieder abgefahren waren, traute sie sich nicht, das Wischenköttelhaus selbst zu durchstöbern, spürte die drängende Neugier der Leute, die aus den Gärten und Fenstern zu ihr herüber‐ blickten, das schweigende, kontrollierende Interesse, »was wollten die hier, Frau Schulze?« sagte ein kleines Mädchen und rannte da‐ von und ahmte das Martinshorn nach, warum hatten die Beamten nichts gefunden? Kurz bevor der Einsatzwagen die Revierwache erreichte, passierte er die Apotheke und das Auto Wischenköttels, das davor parkte. Georg kannte den Wagen nicht, auch den Freund seiner Schwester hatte er nie gesehen, und so fuhr er weiter, angestrengt über der Einsatzmeldung brütend, die nun fällig war. Als sie ausstiegen, sagte der Kollege: »Stiefmütterchen.« Die Gärtner waren inzwischen gegangen. »Verdammt, ja«, schimpfte Georg. »Stiefmütterchen.«
Theodor Wischenköttel kehrte eine Viertelstunde später in sein Haus zurück, sah den gelben Hund vor der Pforte und die Nachba‐ rin hinterm Küchenfenster, knallte die Haustür zu und schloß die Vorhänge. »Also, du Zwerg, das hier ist gegen Schmerzen«, sagte er und hielt eine Packung hoch, »du mußt jetzt deine verdammte Schnauze öffnen, damit ich’s dir reinstopfen kann, und dann hört mir das Wimmern auf, verstanden?« Das Ding lag noch immer neben dem Kopfkissen, verborgen unter der staubigen Wolldecke, in der er’s hereingetragen hatte, reglos, die verschüttete Milch hatte Flecken auf dem Laken hinterlassen. Theo schloß das Fenster, zog auch hier die Vorhänge zu, die Geräusche des unablässig schaufelnden Baggers waren trotzdem zu hören, und das Dudeln der Vögel in den Gartenbäumen. »Ruhe«, sagte er, »und Aspirin. Du schläfst jetzt drei Stunden, dann sieht die Welt viel besser aus.« Der Zwerg rührte sich nicht. Theo holte einen Löffel und versuchte, ihm das Medikament in den Mund zu schieben, mühte sich schwitzend und fluchend, end‐ lich gaben die strichartigen Lippen nach, die Tabletten ver‐ schwanden. Eine Sekunde später spien sie sie wieder aus. »He«, sagte Theo, »drinlassen! Unzerkaut schlucken!« Und begann von vorn. Es war ein ungleicher Kampf, beharrlich und still der Zwerg, Theo wütend, aufbrausend, schnell erlahmend. Wertvolle Fundsache? Billige Mickymauspuppe? Scherzartikel? Gefährlicher Gegenstand? Er hatte es satt, darüber nachdenken zu müssen, die Sache mit dem Zwerg dauerte bereits zu lange. Warum kam niemand, ihn abzuholen? Warum rief der Professor nicht an? Warum soff das Ding die Milch nicht, nahm keine Tabletten? Er war ungeduldig wie immer, wenn ihn Unangenehmes bedrängte. Damals, er war gerade dreizehn Jahre alt, passierte die Sache mit dem Davonlaufen. Er wollte Matrose werden, der Wunsch machte ihn verbissen, stramm verließ er in einer hellen, windigen Sommer‐
nacht seine Dachkammer und marschierte den Deich entlang zum Freihafen, einen mit Wäsche vollgestopften Beutel als Seesack auf der Schulter, so wußte er’s von Onkel Ernst. Tags darauf lieferte ihn die Polizei zu Hause wieder ab, schon nicht mehr voll Lust und Fernweh, er zog nur den Kopf zwischen die Schultern, ließ Mutters Geschrei und Vaters Schläge über sich ergehen und war zufrieden. Nie mehr verschwendete er einen Gedanken daran, das Abenteuer zu wiederholen, und nach Ende der Schulzeit (Vater vermittelte) begann er eine Lehre auf der Werft. Damals in der Frühlingsnacht hatte die Geschichte des Matrosen Theo begonnen und geendet. »Was?« fuhr er den Zwerg an. »Du hast Schmerzen? Friß die Pil‐ len! Hast du keine? Hör auf zu jammern!« Ging ungeduldig im Zimmer auf und ab. »Woher kommst du? Geh wieder hin! Bei mir bist du an den Falschen geraten.« Schrie: »Bist du vielleicht atom‐ verseucht, ist es das? Deshalb rennen die anderen weg, wenn sie dich sehen? Du bist eine Zeitbombe, und ich Trottel trag dich in mein Haus, verdammt, hätte dich gleich auf die Müllkippe schaffen sollen…!« Starrte voll Ärger und Schrecken diesen absurden, störrischen, ge‐ heimnisvollen, jämmerlichen Störenfried an, sagte: »Zu wem ge‐ hörst du? Wer hat dich in meinen Garten fallen lassen? Was soll der Quatsch?« Zog sich bis zur Tür zurück und schrie: »Also, mach die Antenne los, ruf S.O.S. die werden dich hören! Verlaß dich drauf, die werden dich orten! So ein seltener Vogel wie du wird nicht ein‐ fach im Gelände vergessen. Also fahr das Ding aus, ich weiß, du hast den Apparat in der Schulter, mach schon, du wirst den Code doch kennen, du Giftzwerg, den Code! Die Parole, du Nase! Brüll sie in deinen Funkkasten, sag deiner Einheit, mit Theo Wischenköttel könnten sie’s nicht machen!« und schrie, was ihm aus seiner Wehr‐ pflichtzeit einfiel, schrie und schwitzte und blieb hinter dem Tür‐ rahmen in Deckung, immer die Schulter des Zwergs beobachtend, aus der jeden Augenblick der rotglimmende Stab erscheinen sollte.
Theo hatte Angst vor dem gallertartigen Erstarren der Luft, vorm Ersticken, vor der unheimlichen Waffe. »Ruf deine Leute!« schrie er. »Sie sollen am Deich landen, aber friedlich, verstehst du, ich bring’ dich raus, und dann zwitschert ihr ab, ohne Tricks, ohne Waffen! Ist das klar?« Das Wesen rührte sich nicht. Theo wartete, schließlich sprang er wieder ins Zimmer, riß die Vorhänge zur Seite, öffnete das Fenster, helles Mittagslicht schwappte herein. Warf einen Blick in den Garten und auf den Deich, noch immer pflanzten und hackten und gruben die Nach‐ barn, putzten die Autos blank, in den Gärten flatterte frischnasse Wäsche, ein Motorrad gab brünftige Akkorde von sich. Noch immer stand Stasia Schulze, kaum sichtbar, hinter der Küchengardine, der gelbe Hund lag ihr zu Füßen und wedelte hin und wieder mit dem Schwanz. Ein ganz gewöhnlicher sonniger Samstagnachmittag be‐ gann. 6 Sanftes Schwanken schien den Sessel wie ein Schiff zu bewegen, er hob und senkte sich, dimpelte wie auf öligem Wasser, glitt über den weiten, dunstigen Teppich, Theo blinzelte, schloß sofort wieder die Augen, das Zimmer wogte. Die Wände waren weit über den Hori‐ zont zurückgewichen, pastellfarbener, leerer Himmel drückte her‐ ein, still, wattig, wie aus Kunststoff, Theo würgte, pfeilrot stach es ihm durch die Augen, die Lungen blähten sich, in seinem Kopf barst Feuer, entsetzt schrie er los, aber nur Gurgeln quoll über seine Lip‐ pen. Er wollte aufspringen, doch da war nichts, wohin er springen konnte, er sank zurück in den Sessel, und nichts war mehr unter ihm. Die leere Luft zwängte ihn ein und hob ihn und drückte ihn zurück, schweben und kriechen, auf und nieder, auf – nieder in im‐ mer kürzeren, härteren Takten, auf – nieder wie der Puls.
Plötzlich war der Sessel wieder da, auch der Teppich, die Wand mit der abgestandenen Blümchentapete, die Decke über ihm, Fern‐ seher, Tisch und Schrank, das Pochen kam von draußen. »Ja«, brachte er mühsam heraus, »ja!« Kroch auf den Flur, jemand hämmerte an die Haustür. »Es ist offen!« krächzte Theo. »Ihre Frau Mutter schickt mich«, sagte der hagere, schwarze Mann gestelzt. Theo hustete. »Gott sei dank, daß Sie kommen. Es will mich um‐ bringen.« Der Mann blickte in den Flur, sah aber nichts, worauf sich Wi‐ schenköttels Mitteilung beziehen könnte, trat vorsichtig ins Haus, blickte sich noch einmal um und fragte: »Wer will Sie umbringen?« »Das Ding«, sagte Theo. Der Mann musterte die leeren Räume, sein Blick kehrte zu Wi‐ schenköttel zurück. »Ist Ihnen nicht gut?« Theo schwankte, sein Atem ging heftig, im kalkweißen Gesicht stand der Mund offen. »Strahlung«, sagte er. »Etwas Ätzendes. Gas.« Der Mann zuckte die Achseln, »hier scheint alles in Ordnung«, ging in die Küche, inspizierte den Herd, auch den Boiler im Bad. Das Haus war vollelektrifiziert. »Gas?« sagte er. Theos Gesicht zeigte allmählich wieder natürliche Farbe. »Das Ding«, wiederholte er. »Nehmen Sie’s am besten gleich mit! Sie kommen doch von dem Universitätsinstitut?« »Mein Name ist Sörmann«, sagte der Hagere. »Ich bin Ihr Pastor.« Theo, verstört: »An eine Beerdigung hatte ich nicht gedacht.« Der Mann legte den schwarzen Mantel ab. »Erlauben Sie, daß ich einen Augenblick hereinkomme?« Theo nickte. Der Pfarrer? Frau Wischenköttel habe ihn angerufen, sagte der Besucher und setzte sich in den Sessel, der nun still und fest auf dem Boden stand,
sie hätte sich Sorgen gemacht, sagte er. Ob er denn krank sei, Hilfe brauche? Theo hatte den Mann nie gesehen, versuchte krampfhaft, sich an seine Konfirmation zu erinnern, dieser Pfarrer war viel zu jung, um ihn vor fast zwanzig Jahren eingesegnet zu haben. Damals, ging es ihm durch den Kopf, war der Pfarrer klein und grauhaarig, glattra‐ siert. Der Vers eines Kirchenliedes fiel ihm bruchstückhaft ein. Der Besucher redete über eine einsame Frau im Pflegeheim, es klang vorwurfsvoll. »Möchten Sie einen Kaffee?« fragte Theo, verschwand in der Kü‐ che, schaltete die Maschine ein und erschien gleich darauf mit dem dampfenden Getränk. »Schade«, sagte er, »daß Sie nicht von diesem Physikinstitut kommen, Astrophysik oder wie es heißt.« Ob er jemanden von dort erwarte. »Ja«, sagte Theo eifrig. »Sehen Sie, das Ding – irgend etwas stimmt da nicht.« Der Pfarrer wartete auf weitere Erläuterungen, und als die aus‐ blieben, begann er eine zweite lange Rede, die von »der Bindungslo‐ sigkeit der heutigen Menschen« handelte und davon, sie »durch Mitmachen in der Gemeinde« zu überwinden. »Strahlung«, sagte Theo. »Vermutlich sendet es Strahlen aus, mir ist ganz wirr im Kopf.« Die leeren Bierflaschen waren dem Pfarrer gleich beim Eintreten aufgefallen, auch die Dunstfahne, die Wischenköttel voranschwebte, er sagte: »Vielleicht sollten Sie den Alkoholismus etwas einschrän‐ ken?« »Das Ding sendet Strahlen aus«, sagte Theo. »Die Gefahren des Alkohols«, begann der Besucher eine dritte lan‐ ge Rede, und dann mühte er sich, den schrulligen Junggesellen für die Kirchenarbeit zu gewinnen. »Kommen Sie!« unterbrach Theo ihn. »Ich zeig’s Ihnen.« Nahm seine Hand und zog ihn aus dem Sessel. »Ich weiß nicht, was ich damit machen soll. Wissen Sie’s?«
Der Pfarrer sah zunächst einen überquellenden, halboffenen Klei‐ derschrank, dann ein ungemachtes Bett, verschüttete Milch auf dem Fußboden, ein zerbrochenes Glas, Porzellansplitter, eine leere Ziga‐ rettenschachtel. »Wissen Sie, was ich damit machen soll?« drängte Theo und zeigte aufs Bett. Nun erblickte der Pfarrer das grüne Ding und lachte, »witzig«, sagte er, »ein hübsches Geschenk. Skurril, nicht wahr?« Wischenköttel stand verwirrt. Ob die Puppe ein Geschenk seiner Verlobten sei, wollte der Pfarrer wissen, ein aparter Geschmack, eins von diesen neuartigen zärtli‐ chen Spielzeugen, er fragte, wie es denn mit dem Heiraten wäre, ob nicht bald Hochzeit…? Theo sagte: »Das Ding da…« »Sehr hübsch«, fiel ihm der Pfarrer ins Wort, »wirklich sehr hübsch. Ein großzügiges, passendes, reizendes Geschenk, wun‐ dervoll.« Griff seinen Mantel, mahnte, unbedingt die Mutter an‐ zurufen, am besten sofort, rief noch: »Sehen uns dann bald – spätes‐ tens beim Aufgebot!« Lachte und wehte davon. »Das Ding da…«, sagte Theo und stand zwischen dem Schlafzim‐ merfenster und der offenen Haustür im warmen Nachmittagswind, ein fröhlicher Ausflugsdampfer zog hinter dem Deich vorbei. Das Wesen stöhnte. »Herr Pastor!« schrie Theo. Der Besucher war fort. Aus einem Nachbargarten klirrte überlaut Fußballreportage. »Will dir was sagen«, wandte er sich an den Zwerg. »Von dir laß ich mir nicht Angst machen, von dir nicht! So ein Wicht wie du ist für Theodor Wischenköttel kein Problem! Wenn du Ärger machst, setz’ ich dich vor die Tür!« Es stöhnte. »Der Pastor hat dich ausgelacht, hast du das gehört? Der hält nichts von Hokuspokus und Strahlung und diesen Scherzen, das ist ein gelehrter Mann, bei dem bist du machtlos mit deinen Tricks.«
Theo grinste, stapfte durchs Schlafzimmer und begann, die heraus‐ gefallene Wäsche in den Schrank zu stopfen. »Der hat dich für ein Geschenk von Christa gehalten, ein Verlobungsgeschenk, zärtliche Puppe hat er zu dir gesagt, also, mir kannst du nicht Angst ma‐ chen.« Und während er räumte, erzählte er dem Wesen von der Ver‐ lobungsfeier, damals, bevor Christa mit dem Versicherungsvertreter verschwand, von einem herrlichlauten Saufabend in der Sabrina‐ Diskothek, und sang »Mein Herz für Dich« in schmelzenden Tönen. Das Stöhnen wurde leiser. Erzählte von der Hockey‐Ausrüstung, die ihm die Freunde zur Verlobung geschenkt hatten, und von der Runde fürs Lokal, die er nicht mehr bezahlen konnte. Von einem blonden Mädchen, mit dem er tanzte, er sagte »Christa« zu ihr, aber ihr Name war Karin, sie war Stenotypistin im Betriebsbüro, und Pit Meermann war hinter ihr her. Wegen Karin gab’s zu später Stunde fast eine Prügelei, dann brachte ihn jemand nach Haus, nie hat er erfahren, wie das Fest zu Ende ging, aber Pit sagte später »danke, mein Junge« und »das ver‐ geß’ ich dir nicht«, und Theo wußte nicht, warum sich Pit Meer‐ mann so fröhlich zeigte. »Den mußt du kennenlernen«, wandte er sich wieder dem Zwerg zu, »der Pit ist ein unheimlich prächtiger Typ, verstehst du, ein Kumpel.« Und sang »Karin geht vorbei«. Lauter als die wimmernde Katzenstimme des Wesens wurde das Keifen der Vögel im Garten, irgendwo kläffte ein heiserer Hund, die Fußballübertragung trieb ihrem Höhepunkt entgegen. »Das mit der Verlobung ist längst vorbei«, redete Theo, »das war so ein Einfall, damals, so war das eben, plötzlich dachten alle, heira‐ ten zu müssen, besonders die Mädchen dachten das. Siehst du, der Pit hat Karin nicht geheiratet, und das war gut so, die war geil, hin‐ ter jedem war sie her, auch hinter mir.« Theo grinste. »Mich wollte sie auch haben, klar. Also, so sind die Mädchen.«
Verschloß die Schranktür, froh, daß ihm die Wäsche nicht wieder herausgefallen war. Das Wimmern schien abzuklingen. »Also«, sagte Theo, »mit den Frauen kann man sich nicht aus‐ kennen, Frauen, das ist ein besonderes Kapitel. Die Christa war schon ganz in Ordnung, vielleicht wäre heute alles anders, wenn wir damals…« Aber der Gedanke gefiel ihm nicht. Unbehaglich sagte er: »Also, willst du einen Whisky?« Plötzlich stöhnte es wieder laut. Er schrie: »Hör auf! Hör endlich damit auf!« Und rannte in die Kü‐ che. »Willst du nun einen Whisky?« schrie er und füllte zwei Gläser. »Mit Eis?« und das schrillpfeifende Keuchen und Wimmern und Stöhnen entsetzte ihn, er schluckte beide Drinks, galoppierte ins Wohnzimmer und griff zum Telefon. Frau Bröller meldete sich. »Sagen Sie dem Doktor«, schrie Wischenköttel, »es stöhnt immer noch, sagen Sie’s dem Doktor! Es wimmert und stöhnt, eine Quäle‐ rei ist das, wie es keucht. Quälerei, also, da muß Ihr Mann doch hel‐ fen können!« Sie fertigte ihn kurz und eisig ab, seine Scherze seien übel und kriminell, ob er daran gedacht hätte, daß ein Arzt, wenn er falschem Alarm nachginge, an anderer Stelle nicht Hilfe leisten könnte? Sie sagte, Wischenköttel könne froh sein, denn bisher habe ihr Mann von einer Anzeige abgesehen, sagte, sie verbäte sich weitere Anrufe, und wiederholte das Wort »kriminell«. »Also der Zwerg stöhnt wirklich«, sagte Theo bekümmert, »sagen Sie dem Doktor…« Frau Bröller hatte eingehängt. Er goß noch ein Glas randvoll, starrte hinein, plötzlich ließ er’s stehen und rannte aus dem Haus, von der Treppe her rief er zurück: »Bin gleich wieder da«, und sprang ins Auto. Um diese Tageszeit war die Straße leer, die Leute saßen in Ausflugslokalen oder Holly‐ woodschaukeln, folgten dem Fußball und Nachbarsgeschwätz, und
einige betrieben mit wütender Liebe Dinge, die sie Hobby nannten. Theo sagte laut: »Bei mir im Bett liegt ein grünes Monster.« Aber das hörte niemand, und es war für niemanden bestimmt. Er fuhr schnell und mit jener Lässigkeit, die Autofahrer auf ihrer täglichen Route auszeichnet, summte verbissen »Mein Herz für Dich«, eine Zigarette zwischen den Lippen kauend. »Also die Christa war schon in Ordnung«, erläuterte er dem frem‐ den Wesen, das er zu Hause zurückgelassen hatte, »ihr wäre was Besseres eingefallen als Milch. Und von dem Doktor hätte sie sich nicht anbrüllen lassen, und von der Frau Bröller erst recht nicht.« Er fuhr stadteinwärts, bog auf die Hauptstraße, verließ die Chaus‐ see wieder, bevor er den Hafenzubringer erreichte, hier standen die Wohnhäuser hoch und dicht, mit Balkonreihen in ödem Pepitamus‐ ter, vor jedem der identischen Eingänge sechs betongraue Müllbo‐ xen. Aus dem spärlichen Gras zwischen Weg und Haus sprießten Schilder mit KINDERSPIELEN VERBOTEN, einige verhärmte Koni‐ feren, eine Katze an der sonnenwarmen, gelbgetünchten Wand. Theo stürmte durchs Treppenhaus. »Wer bist du?« sagte das Kind, das ihm die Wohnungstür öffnete. Er beugte sich herab, um der Kleinen übers Haar zu streichen, da erschien Christa, und hinter ihr Georg, noch in Uniform. 7 Schneller Regen hatte die Fahrbahn schlüpfrig gemacht, als Wi‐ schenköttel zurückfuhr. Tausende von Tropfen wischten vor seinem Gesicht zu schlierigen Streifen, bildeten sich neu, klebten Häuser und Bäume und Wege und Spaziergänger und Fahrzeuge zusam‐ men. Sie wollte ihn nie wiedersehen, hatte Christa gesagt, sei nicht be‐ reit, noch mehr Zeit an ihn zu verschwenden. Sie sagte, sie hätte damals Mitleid mit ihm gehabt, als er allein im Haus zurückgeblie‐
ben sei, Mitleid, sagte sie, nur deshalb habe sie sich um ihn geküm‐ mert. Noch hing die Regenwolke, leer, als Folie unter dem blauen Him‐ mel, schon brach melonengelbes Licht zwischen ihren Falten hervor und fiel auf die nasse Chaussee, die Tropfen blitzten wie Glühlam‐ pen und zwickten Theo, da war die Abzweigung, frei die Kreuzung, nur ein schmaler Wagen, der hilflos mitten auf der Straße ruderte. Christa habe genug Mühe mit der Tochter, hatte Georg geklotzt, einem faulen, gefräßigen Junggesellen müsse sie nicht auch noch den Haushalt führen, solle er sehen, wie er allein zurechtkomme. Sie sei mit ihrer Arbeit und dem Kind voll ausgelastet, sagte Christas Bruder haßerfüllt, Theo solle selbst bei sich Ordnung schaffen. Die Tropfen vor ihm glühten jetzt rot, und obwohl er im letzten Augenblick versuchte auszuweichen, gab es einen leichten Stoß, bevor sein Wagen stand, aus dem schmalen Auto vor ihm faltete sich eine ebenso schmale Frau. »Wie fahren Sie überhaupt?« schrie Theo und spuckte aus seinem reichen Vorrat Autofahrersprüche hervor, die Frau, hilflos flatternd, brachte nur einen unzusammen‐ hängenden Satz zustande. »Half endlich die Schnauze, verstanden?« hatte ihn Georg an‐ gepöbelt, obwohl er so gut wie nichts gesagt hatte. »Siehst du nicht, daß du hier unerwünscht bist, scher’ dich in deine verwahrlosten vier Wände. Meine Schwester ist zu schade für dich.« Und das Töch‐ terchen machte große Augen, rund und erstaunt in dem aufmerk‐ samen Gesicht. Plötzlich verschluckte Theo den Rest seiner Sprüche, sah die blasse Frau an, die beiden Wagen, wieder die Frau, es sei leider glatt bei der Nässe, entschuldigte er sich, man könne nicht rechtzeitig brem‐ sen bei diesem Straßenzustand. Die Frau sagte: »Polizei«, zwei Spa‐ ziergänger, die stehengeblieben waren, gingen weiter, Theo begut‐ achtete die kleine Delle im Blech. »Ich bin mit dir fertig, Theo«, hatte Christa gesagt. »Es gibt Gren‐ zen. Was du mit mir getrieben hast, war zu viel, so lasse ich mich
nicht behandeln«, und dann maßen ihn ihre Augen Zentimeter für Zentimeter. Er sagte: »Schadensregulierung«, und bot der Frau Geld an, seine Stimme war sanft, ein Hauch von Whisky wehte ihm über die Lip‐ pen. Jede Werkstatt beule das rasch wieder aus, nichts bliebe davon zurück, es sei wirklich eine Lappalie. Theo sagte: »Bitte.« Die Frau nahm das Geld, Lächeln wischte über ihr Gesicht, sie zwängte sich zwischen ihr Lenkrad und fuhr weiter. »Danke«, erwiderte sie höf‐ lich. Die Kleine hatte noch in der Wohnungstür gestanden, als er schon wieder hinunterrannte, Christas Tochter mit den kreisrunden Augen und dem verwirrten Blick. Als er die Straße hinterm Deich erreichte, war das Land trocken, klar der Himmel, vor einer Imbißstube standen zwei Mädchen im Strandbikini. Theo spürte Hunger, doch seltsamerweise zog es ihn nach Haus. Er fuhr an dem einladenden Bikini vorbei, ohne noch einmal in den Rückspiegel zu schauen, bog in seine Auffahrt, stieß die Gartenpforte mit dem Wagen auf und rollte bis unter den Holz‐ verschlag. Das Wesen lag still in seinem Bett. »Fehlanzeige!« rief Theo, und: »Da kann man nichts machen!« Blickte ins Schlafzimmer, sagte: »Schläfst du?« Das Wesen reagierte nicht. »Also das ist gut, wenn du schläfst«, sagte er. »Prächtig, wirst se‐ hen, das hilft.« Das Wesen lag unbeweglich, wie entspannt, den Mund ge‐ schlossen. Theo deckte es vorsichtig zu, nur noch der Kopf schaute heraus, rund wie eine Billardkugel, Augen, Nase und Mund kaum ausgeprägt, die Fühler wie Pflanzenstiele auf der Stirn. Er stand und betrachtete diesen stillen Kopf, die kunststoffglatte Haut, auf der weder Haare noch Poren zu sehen waren, den dünnen, zerbrechli‐ chen Hals, stand und starrte und begann zu grinsen. Damals, beim Militärdienst, als er mit Olivhelm und Knobelbechern am Tor stand,
Stunden allein und weitere vor sich, war der Himmel ebenso leer gewesen wie am Freitag, Stille in den Kasernen, still die Höfe, die Straße vor ihm, still und leer wie der Himmel, leer die Zeit, als ob ein mächtiger Divisionskommandeur sie angehalten hätte. Der wehrpflichtige Theodor Wischenköttel war ans Tor befohlen wor‐ den, und nur dieses Tor war noch real, nicht die Gebäude, und der Zaun, nicht die Straße, der Himmel, die Dunkelheit nicht, auch nicht der Befehl und nicht die Stunde, zu der er angetreten war. »Ganz allein«, sagte er zu dem schlafenden Kugelkopf, »du bist ganz allein, mitten im Nichts, im fremden unwirklichen Nichts.« Hockte sich neben dem Bett auf den Fußboden. »Irgendwann hast du den Befehl bekommen, aber die haben dich längst vergessen, es ist niemand mehr da, überhaupt nichts, du bist mit dir und diesem verdammten Tor allein.« Das Wesen schlief. Der Rekrut stand steif, die Augen geradeaus, das Gewehr schnitt ihm in die Schulter, tiefgefroren waren die Zehen, alle sind tot, dach‐ te er, nur ich lebe noch, auf dieser riesigen Welt lebe nur noch ich. Stand starren Blicks, die Augen tränten ihm; endlich, selbstverständlich zu spät, trabte die Ablösung heran, Gegenwart kehrte zurück, er krächzte ein paar Schimpfworte, jetzt Helm runter und Stiefel aus… »Während du schläfst, werde ich uns was Eßbares besorgen«, sagte Theo. Vorm Haus empfing ihn der sanfte, geschäftige Samstagnach‐ mittag, Vogelzirpen und Gartengelächter, er marschierte auf die Imbißstube zu, als ob er noch immer in strammen Stiefeln steckte, Helm und Gewehr drückten ihn, es war heiß geworden. »Schönes Wochenende«, sagte der Mann hinter dem Tresen. Bedauernd stellte Theo fest, daß die Bikinimädchen nicht mehr da waren. Der Mann sagte: »Hast du frei?« »Bis morgen abend.« Theo begann zu kauen.
»Das ist lange hin«, plauderte der Mann und wischte mit einem ketchupgetränkten Lappen die Tischplatte ab, Theo schwieg. »Die Puppen vorhin«, sagte er endlich, »kenn ich die?« »Was für Puppen?« Theo sah ihn schräg an. »Als ob du’s nicht wüßtest!« Er pfiff. Der Wurstmax zwinkerte. »Zu Besuch, drüben am Deich«, sagte er, »sind zu Besuch dieses Wochenende.« Theo schnalzte die Zunge. »Zwei«, sagte der Mann. »Zwei Puppen. Stanken wie ‘ne ganze Parfümerie.« Theo lachte. »Bist du wieder solo?« »Ja«, sagte Theo. »Nein.« Ihm fiel ein, daß er ein Würstchen mit‐ nehmen wollte. Der Wurstmax sagte: »Waidmannsheil, und einen fröhlichen A‐ bend!« Auf dem Rückweg fiel Theo in Laufschritt. Vielleicht war der Zwerg jetzt wach? Lag mit offenen Augen und suchte ihn? Ging es ihm besser? Würde er kräftig genug sein, sich selbst zu helfen? Wo‐ möglich hatte er das Bett schon verlassen, stand im Garten, bereit, dorthin zurückzukehren, woher er gekommen war? Theo sprang die Stufen zur Haustür hinauf, stürmte durch den Flur und blieb jäh im Schlafzimmer stehen. Das Wesen lag unverändert. »Da bist du ja noch«, sagte er, trug die eingepackte Bratwurst in die Küche. Genehmigte sich einen weiteren Whisky, kehrte ins Wohnzimmer zurück, stellte den Fernseher ein und räkelte sich im Sessel, ihm fiel plötzlich der kleine Unfall ein, die Frau, ihre verwirr‐ ten, kreisrunden Augen, lachte. »Hoppla«, sagte er und lachte, »das wird schnell wieder ausgebeult, bitte keine Polizei, was ist denn schon passiert, nur eine kleine Delle, nicht wahr?« Lachte und rutschte mit dem Sessel über den nassen Asphalt, der Wagen vor ihm bremste, rosa Regen sprühte ihm entgegen, es gab einen kleinen
Stoß, bevor er anhielt. Die schmale Frau war aus Millionen rosa Tropfen zusammengesetzt. »Hoppla«, sagte er, konnte sie nicht richtig erkennen, so fließend waren ihre Umrisse, nur den verwirrten Blick sah er und die sprü‐ henden rosa Punkte. Pfiff durch die Zähne, tatsächlich, jetzt lösten sich die Tropfen auf, auch die fließende Frau, die Straße löste sich auf und der Sessel, aber das Pfeifen blieb. »He!« sagte Theo und blinzelte. »Aufhören! Wer pfeift? Auf‐ hören!« Der dünne, extrem hohe Ton kam aus dem Schlafzimmer. Theo sprang auf und beugte sich über das Wesen, es lag immer noch un‐ verändert und bewegte sich nicht; der Pfeifton schien irgendwo aus dem Kugelkopf zu dringen. Theo untersuchte den Zwerg, wandte ihn hin und her, legte das Ohr auf die grüne Haut, konnte aber die Ursache für den Ton nicht herausfinden. Das Geräusch schien nur dann von dem Kopf auszugehen, wenn sich Theo in einer bestimm‐ ten Entfernung befand. Näherte er sich aber dem Zwerg, kam der Ton eindeutig von außerhalb des Raums. »He!« sagte Theo. »Was ist los?« Das Geräusch, hart am oberen Rand der Hörbarkeit, drang in ihn ein, unangenehm, schneidend, ratlos schüttelte Theo den Kopf. »Was willst du?« sagte er. »Ich bin hier. Sag schon, was du willst!« Zum ersten Mal fiel ihm auf, daß das Wesen zu atmen schien. Die halbkugelförmigen Nasenflügel vibrierten, als ob der Zwerg hechel‐ te, im gleichen Rhythmus pulsierte der dünne Hals. »Also raus mit der Sprache!« sagte Theo. »Wo juckt’s?« Der Ton wurde weicher, flacher, die Atmung heftiger, Theo spürte stechende Kopfschmerzen. »Mach’s nicht so umständlich!« schrie er. »Also, was brauchst du?« Ihm fiel die Nachtwache ein, der endlose, dunkle Himmel, endlos der Tag, die fremde Welt um ihn herum, die ferne Zeit. »Hör auf!« sagte er heftig, »ich versteh dein Piepsen nicht, sag, was ich tun soll!« Und plötzlich stand er auf, bewegte sich aufs Bad
zu, griff ein Handtuch, tränkte es mit eiskaltem Wasser, trug es ins Schlafzimmer und legte es dem Wesen auf die Brust. Schloß das Fenster und verdunkelte es, schloß auch die Tür, das Pfeifen verebb‐ te. Ihm war, als blickten ihn die matten, fiebrigen Augen an, ein Ge‐ fühl von Heimweh sprang auf ihn über, er stöhnte. »Ich bin bei dir, Kamerad«, sagte er mit schwerer Zunge, »keine Sorge, wir werden’s schaffen«, legte ihm die große Pranke auf die Schulter, »also, wir werden schon klarkommen, he?« murmelte er. »Brauchst nur zu sagen, was ich tun soll. Wir werden’s schon schaf‐ fen.« Nach einer Weile wechselte er das Handtuch gegen ein frisches aus, der Atem des Wesens ging flach, es lag still, aber Theo meinte zu spüren, wie es sich spannte. Die dünnen Arme dehnten sich ruckwei‐ se, die Finger ballten sich zur Faust, im Halbdunkel sah Theo die rötlich pulsierende Antenne aus dem Körper steigen, halb ausgefahren blieb sie zuckend stehen, das Licht verglomm, schlaff kehrte sie in die Schulter zu‐ rück. »Gib dir keine Mühe«, sagte Theo. »Die hören dich nicht. Keiner kümmert sich um dich, niemanden interessiert es, was mit dir los ist, ob du lebst oder krepierst, danach kräht keiner. Ich glaube, die haben dich längst abgeschrieben.« Er schüttelte das Handtuch auf und legte es auf die grüne Brust zurück. »So ist das, glaub’s einem Fahrensmann wie mir: Solange du die Segel setzen kannst, kriegst du Heuer, aber liegst du erst unter Deck, bist du nur noch für die Haie gut.« Nickte bekräftigend, betrachtete lange den schmächtigen Körper des Wesens, besonders die Stelle, an der die Antenne wieder verschwunden war, schließlich schob er seiner handgestrickten Le‐ bensphilosophie noch einen Satz nach: »Hilf dir selbst und traue niemand!« Und saß noch lange Zeit mitten in der Zimmerdunkelheit, schnau‐ fend und nickend, von draußen tropfte Schlagermusik herein, Mäd‐ chenlachen und Türenklappen, Theo saß und nickte, der Abend be‐ gann.
Später meldete sich das Telefon. »He!« sagte er überrascht, »wieso rufst du an, Mutter?« Wie es dem Zwerg ginge? Er gähnte, schüttelte sich wach, Whisky klebte ihm auf den Lip‐ pen. »Also dem geht’s danke, ja, bestens, der schläft sich gesund, morgen steht der wieder an Deck.« Keine ernsten Verletzungen? »Kalte Umschläge hat er gebraucht, und zu hell war’s ihm im Zimmer.« Sagte er das? »Gepfiffen hat er«, gluckste Theo. »Er hat so lange gepfiffen, bis ich’s kapierte.« Sie wollte mehr wissen. »Da ist nichts weiter zu berichten«, sagte er mit schwerer Zunge. »Meist liegt er da, still und ohne jeden Mucks. Ißt nicht, trinkt nicht, geht nicht aufs Töpfchen.« Eine kräftigende Suppe, empfahl sie. »Der wird schon bestellen, was er braucht«, wehrte Theo ab. »Ein cleveres Bürschchen, verstehst du, wird schon durchkom‐ men.« Der Arzt? Theo sagte wütend: »Alle haben Angst vor dem Zwerg. Rennen weg, wenn sie ihn sehen. Machen dumme Sprüche und verziehen sich wieder, alle haben Angst vor dem kleinen, hilflosen Kerl.« Sie fragte nach dem Pfarrer. »Was für ein Pastor?« sagte Theo und erinnerte sich nicht. Sie habe den Gemeindepfarrer… sagte sie zögernd und fürchtete, ihn verstimmt zu haben. Theo leckte sich die spröden Lippen. »Schon gut, Mutter«, sagte er, »der Zwerg ist gut bei mir aufgeho‐ ben.« Und da sie nicht antwortete, meinte er, es erklären zu müssen, fing mit seinem Bericht von vorn an. Frau Wischenköttel lauschte.
»Kann den Knirps doch nicht allein lassen«, beendete Theo seine Mitteilungen, »der braucht mich doch.« Sie nickte eifrig, ließ sich ein drittes Mal berichten, dann sagte sie: »Gute Nacht euch beiden«, und trippelte zurück in ihr hohes, stilles Stahlrohrbett und schlief zufrieden ein. Theo schlich ins Schlafzimmer, frischte das feuchte Tuch auf und tätschelte dem Wesen den fiebrigen Arm. »Wir beide werden’s schaffen, wir beide zusammen, Kamerad, du und ich.« Sank vorn‐ über aufs Fußende des Bettes, sein Atem ging schwer. Er schnarchte. 8 Von der anderen Seite des Flusses kam Kirchenläuten, dringlich und messinggelb, Wischenköttel zuckte zusammen, ächzte, in die abge‐ standene Nacht brach der Glockenton übermäßig laut. Sie bimmeln wieder, dachte er, immer bimmeln sie, wenn man ausschlafen will. Beeil dich, hörte er seine Mutter, du kommst zu spät zur Beer‐ digung. Er lag im Bett und genoß es, im Bett zu liegen, seit vier Tagen hatte er den Wecker abgestellt, sich nicht rasiert, das Haus nicht verlas‐ sen, vier freie Tage, weil sein Vater gestorben war. Steh endlich auf, Theo! sagte seine Mutter vor der Kammertür, der Pastor kommt gleich, er will uns zum Friedhof mitnehmen. Er lag im Bett und spürte, wie der Druck wich. Die Leere, die Wil‐ helm Wischenköttel in seinem Haus hinterließ, war für Theo aufre‐ gend. Zu keiner Zeit hätte man das Verhältnis zwischen Vater und Sohn herzlich nennen können, doch in den letzten Jahren war es zu Unausstehlichkeiten geronnen. Theos Mutter wußte es und schwieg und verlor auch kein Wort darüber, als ihr Sohn ihr nichts von den Vorbereitungen auf die Beerdigung abnahm. Vater Wischenköttel
war für den Jungen weder Freund noch Autorität gewesen; man lebte in dem engen Haus nebeneinander wie Fahrgäste in einem vollen U‐Bahn‐Zug. Sie bimmeln immer noch, dachte er. Warum fiel ihm gerade heute sein Vater ein, warum an diesem quergestanzten Morgen, an dem der Wind das Läuten so kräftig vom anderen Flußufer herübertrug. Jetzt erinnerte er sich auch an den Pfarrer, den kleinen, grauhaari‐ gen, glattrasierten Mann mit der brüchigen Stimme, »sehrliebe Lui‐ se« pflegte er zu sagen, das reizte Theo jedesmal zum Lachen. Den »sehrlieben« Pfarrer gab es nicht mehr, einem eiligen jungen Dachs hatte er Platz gemacht, einem, der redete und redete und redete. »Quatsch!« sagte Theo. »Alles Unsinn. Zärtliches Spielzeug. Un‐ sinn. Werbepuppe vom Fernsehen. Quatsch. Ding vom anderen Stern. Daß ich nicht lache.« Er streckte sich, noch immer läuteten die Sonntagsglocken. »Ein kleiner Kerl in mißlicher Lage.« Drehte sich auf den Rücken und starrte die Decke an; sie war fern und neblig‐ trüb wie damals der Himmel über der Friedhofskapelle. »Ein hilflo‐ ses Lebewesen, ja.« Das Läuten verebbte. »Ja!« sagte er heftig und erschrak. War es noch da? Theo hob vorsichtig den Blick und suchte das Bett ab, in der dämmrigen Stille fehlten ihm Oben und Unten, endlich sah er die blaßgrünen Umrisse neben dem Kopfkissen. Er schläft, dachte er, gut, daß du schläfst, ruf mich, wenn du wach bist! Behutsam verließ er Bett und Zimmer, schloß behutsam die Tür. Er wird mir pfeifen, freute er sich, ging in die Küche und spülte die Nacht mit einem Glas Wasser hinunter. Wechselte Hemd, Hose und Schuhe, in denen er geschlafen hatte, klingelte Frau Schulze heraus und bat um Toastbrot und Butter. Sie überstürzte sich, sagte: »Schönes Wetter« und: »Herrlicher Tag«, und wünschte guten Appetit, Theo kehrte hüpfend zurück. Dann, als der Kaffeeduft durch die Küche zog, schlich er auf Zehenspitzen zum Schlafzimmer. Hinter ihm klopfte es an der Haustür. Wieder
der Pfarrer? knurrte er, oder wen hatte Mutter heute in Marsch ge‐ setzt…? »Beeil dich!« schrie Meermann, »bin ziemlich spät dran.« »Pit?« »Wer sonst?« sagte er. »Meinst du, ich schick dir den Vereins‐ präsidenten persönlich?« Das Spiel. »Also, ich kann nicht. Heute morgen kann ich einfach nicht«, sagte Theo. Pit schüttelte den Kopf. »Du bist eine Träne. Träne! Hast du ver‐ gessen…?« »Komm rein!« sagte Theo. »Trink mit uns einen Kaffee.« Pit blieb vor der Tür. »So ist das?« Sein Gesicht fror ein. »Keine Zeit«, sagte er. »Möchte nichts versäumen.« »Nur auf eine Tasse!« Sie standen sich gegenüber, Theo mit einla‐ dender Geste, der Freund schon im Gehen. »Trink deinen Kaffee mit Christa allein.« Er mochte es nicht, wenn er zwischen das Mädchen und Theo geriet, besonders nicht mor‐ gens, wenn die Freundin, unausgelüftet und in einen Herrenbade‐ mantel geschnürt, spitze Bemerkungen servierte. Theo verschanzte sich dann hinter ihm, sagte: »So sind sie, die Frauen, nicht wahr, Pit, sie sind so«, und nutzte frühzeitig die Flucht zum Hockeyplatz, und Pit sah sich genötigt, zwei rohe Eier mit einer Hand aufzufangen. »Laß mich da heraus!« »Christa?« polterte Theo. »Was quatschst du von Christa?« Pit riß die Augen auf. »Eine Neuerwerbung?« Theo sagte: »Ein prächtiger Kumpel.« »Viel Spaß!« sagte Pit noch immer frostig. »Ich geh.« »Mann, du mußt ihn kennenlernen, du mußt!« rief Theo. »Klein, zart und rund, also… also…« Die Beschreibung gelang nicht. Pit sagte noch: »Später mal«, und stieg bereits in seinen Wagen, Theo dachte, warum rennt er zu diesem albernen Spiel, warum, er hakt seine Freizeit wie einen Schichtplan ab. Theo begriff nicht Pits
schlechte Laune und die Hast, mit der er verschwand, und lehnte am Gartenzaun und blinzelte durch die Lider. In diesem Augenblick hielt wieder ein Auto vor der Pforte, es war rund und dunkel wie ein unausgeschlafener Frühaufsteher am Sonntagmorgen. »Doktor?« sagte Theo abwehrend. Karlheinz Bröller machte viele freundliche Worte. Sie paßten zwar kaum zu dem, woran sich Wischenköttel erinnerte, waren jedoch einleuchtend deutlich: Er habe die Patientin nur kurz untersuchen können, der heftige Anfall hätte ihm zu denken gegeben. »Zuckun‐ gen«, wiederholte der Arzt, »wie sie selten in dieser Intensität auf‐ treten«, und beschrieb sie mit zierlichen Fremdwörtern. Bröller hatte vierundzwanzig Stunden gebraucht, um zu begreifen, was er gese‐ hen hatte. Stunden, in denen er die Auseinandersetzung mit Wi‐ schenköttel fürchtete, und in denen langsam der simple Plan reifte, das Ding durch einen Überraschungscoup in seinen Besitz zu brin‐ gen. Ein Teil dieses Plans war bereits mißglückt: Er traf Wischenköt‐ tel vorm Haus. Jetzt mußte ihm ärztliche Autorität den Weg bahnen. Ob diese Krämpfe immer noch aufträten? »Ja«, sagte Theo, »eigentlich nicht. Wovon sprechen Sie?« Bröller redete weiter, behauptete, er habe einen Fachkollegen zu Rate gezogen und sei zu dem Ergebnis gekommen, die Patientin müsse sofort in ein Krankenhausbett verlegt werden. Theo nickte steinern. Welche Temperatur man gemessen habe? fragte Bröller und starte‐ te einen plötzlichen Versuch, das Haus zu betreten. Ob die junge Dame transportfähig sei? »Ich werde den Blutdruck prüfen müs‐ sen«, redete er an Theo vorbei. Der hielt ihn fest. »Was wollen Sie? Ich lasse Sie nicht ins Haus.« Bröller stutzte, wehrte sich, sagte eine Frequenz schärfer: »Haben Sie mich nicht gestern telefonisch um Hilfe gebeten? Mei‐ ne Frau hat notiert, Sie hätten angerufen?« Theo sagte: »Wen suchen Sie?« Und ließ ihn nicht los.
Der Arzt sah wieder die seltsame Haut vor sich und das Vibrieren, das wellenförmig verlief und sie gelblich färbte, das krampfartige Zusammenziehen einer unbekannten Epidermis. Ich muß heraus‐ finden, was es wirklich ist, dachte er verbissen, muß es genau unter‐ suchen, bevor ich meinen Gedanken gestatte, diesen ungeheuerli‐ chen Fund der Wissenschaft… »Das junge Mädchen«, sagte er tapfer. Wischenköttel schrie: »Das ist gut, Doktor!« Er schrie: »Sehr ko‐ misch, Doktor, hier ist kein Mädchen, ich bin solide, jawohl, alle können’s bestätigen, Nachbarn, Freunde, ich bin solide.« Brach plötzlich ab, streckte dem Arzt die Hand hin und sagte friedlich: »Nehmen Sie’s mir nicht übel, Doktor, hier ist niemand, entschuldi‐ gen Sie.« Bröller wußte, dies war die Unwahrheit, zögerte einzuschlagen, und schwankte zwischen dem Wunsch zu gehen und der fast schon geschwundenen Hoffnung, das Objekt doch noch präparieren und der Fachwelt vorführen zu können. Und während er auf Wischen‐ köttels Pranke starrte, überlegte der: Will der Arzt dem Zwerg hel‐ fen? Oder schaden? Bröller begann: »Für die Wissenschaft…« Da zog Theo die Hand zurück. »Kann Ihnen leider nicht helfen«, sagte er. »Hier ist niemand.« Bröller sah ihn an, murmelte: »Werde mich geirrt haben«, und stieg Stufe für Stufe die Treppe wieder hinab, an der Pforte wandte er sich um und sagte blaß: »Auf Wiedersehen.« 9 Das verhangene, muffigkalte Schlafzimmer wirkte wie herausge‐ schnitten, ein Reststück Nacht mitten im Sonntagvormittag. Theo lehnte im Türrahmen, spähte vorsichtig hinein, rief leise: »Bist du wach?«
Nichts regte sich. »Sag schon! Bist du wach? Pfeif mal!« Trat ans Fenster, öffnete den Vorhang einen Spalt, jäh fiel der Tag ins Zimmer. »He«, sagte er. »Wie geht’s, Kamerad?« Das Licht blendete, ließ den Raum in undurchdringliches Schwarz sinken; er zottelte lange am Vorhang, bis endlich der Morgen in je‐ der Ecke zwitscherte. Am Kopfende des Bettes, sehr klein, der kuge‐ lige Körper, Theo bemerkte zuerst nur die hellgraue Tönung der Haut, nicht grün und glatt, sie war krötig, beide Fühler hingen von der Stirn, kraftlos auch die Ärmchen, und aus der Schulter ragte die Antenne wie eine mürbe Schnur. »Kamerad…!« erschrak er. »He, sag was! Sag was! Mach die Au‐ gen auf!« Die Lider waren halb geöffnet, darunter blicklose Pupillen, und jetzt begriff er’s. Kniete neben das Bett, sehr langsam legte er dem Wesen seine mächtige Hand auf die Stirn und drückte ihm zärtlich die Augen zu. Stieg irgendwann später in den Keller, holte einen Spaten, ging in den Garten, begann, unter dem Boskopbaum ein Loch auszuheben, einen Meter tief und einsfünfzig lang. Grub pau‐ senlos und verbissen, die schwerbraune Erde türmte sich hinter ihm auf und roch moorig und sehr alt, und als er fertig war, stand die Sonne hoch über den Apfelblüten. Ging ins Haus zurück, breitete neben dem Bett die Wolldecke aus und legte unendlich behutsam den schlaffen Körper drauf und wi‐ ckelte ihn ein, bis nichts mehr von ihm zu sehen war, trug ihn in den Garten hinaus, bettete ihn in die Grube. Und mit der Wut, mit der er die Erde ausgehoben hatte, stieß er sie wieder ins Loch zurück, schaufelte und schüttete und trampelte sie fest, und zuletzt deckte er den abgebrochenen, noch blühenden Zweig über das Viereck. Drüben, hinter ihren Küchenfenstern, stand Stasia Schulze und beobachtete ihn und verstand nicht, warum ihr Nachbar am späten Sonntagvormittag so emsig mit der Gartenarbeit begann, sie nickte beifällig und fürchtete sich gleichzeitig vor seinem kalkig‐
verkniffenen Gesicht, und dann sagte sie: »Ich habe ihm Unrecht getan.« Und sie sagte: »Das mit der Polizei, das tut mir leid.« Sie sah ihn graben und laufen und wieder graben, und sagte: »Er kann sehr nett sein, der Theo«, und erinnerte sich an einige Sonntage, vor ein paar Jahren war es, als der alte Wischenköttel gerade gestorben war, da grub, pflanzte und schnitt der Junge stundenlang, und seine Mutter stand zufrieden neben ihm. Frau Schulze sagte: »Die Sache mit der Polizei tut mir leid.« Sie sagte: »Warum misch ich mich in Theos Angelegenheiten? Das geht mich gar nichts an. Es geht mich überhaupt nichts an. Jeder hat sich nur um sich selbst zu kümmern. Jeder für sich. Punktum.« Theo lehnte am Baumstamm, Schweiß, klamm und salzig, auf der Stirn, auf Brust und Schultern, wischte sich mit lehmigbraunen Händen das Gesicht, die Augen feucht von Tränen. Er fummelte in seiner Hemdentasche, zog endlich eine zerknitterte Packung heraus, klemmte die Zigarette, auch durchnäßt, zwischen die Lippen, suchte ein Feuerzeug. Suchte, sah sich um, ein leerer, unkrautgrüner Gar‐ ten, ein leeres Haus, ein leerer, weißer Himmel drüber, er spuckte die Zigarette aus und zertrat sie. »Sind Sie Herr Wischenköttel?« rief der Mann im Rosenbeet. Theo beschattete die Augen, der Mann kam näher, er war breit und unter‐ setzt, kleiner als Theo, aber ebenso massig, mit struppigem, wildro‐ tem Bart und flinken Augen unter den zerzausten Brauen. Ein abge‐ tragener, hellbraunkarierter Anzug spannte ihm überm Bauch, in seiner Linken trug er eine Aktentasche. »Lassen Sie mich in Ruhe!« sagte Theo. Der andere: »Herr Wischenköttel?« Blieb kurzatmig vor ihm ste‐ hen, räusperte sich, »schwer, Sie zu finden«, sagte er, »›Hinterm Deich‹, das klingt so wie am Ende der Welt.« »Ja«, sagte Theo. Der Mann musterte ihn, als ob er gerade auf einer Auktion ein wertvolles Stück entdeckt hätte, hob die Aktentasche auf den Bauch und klemmte sich ihren Deckel unters Kinn, suchte kurzsichtig drin
herum, zog einen Zettel heraus und las, obwohl er längst wußte, was darauf stand. »Wischenköttel, Theodor, Hinterm Deich 37. Sie haben dem Institut für Astrophysik einen wichtigen Fund gemeldet, ein wertvolles Beweisstück. Hat mir der Pförtner aufgeschrieben.« Theo sagte: »Ach. Der Professor sind Se?« Der Mann klappte die Tasche wieder zu und stellte sie um‐ ständlich zwischen den Füßen ab. »Sein Assistent«, sagte er mit schiefem Mund, »mein Name ist Zimmermann, Ulrich Zimmer‐ mann«, fuhr sich mit der Hand durchs dünne, sehr lange Haar, »entschuldigen Sie, daß ich mich jetzt erst melde. Bin gerade von einer Konferenz aus London zurückgekommen.« Die flinken Blicke ließen Wischenköttel nicht los. »Assistent?« sagte er, »na, schadet nichts«, verschluckte sich, und plötzlich schoß ihm Lachen in den Hals, platzte ihm über seine sal‐ zigtrockenen Lippen, er lachte laut heraus, meckernd, schartig. Der andere strich sich noch einmal übers Haar, sein Bart verzog sich, zuckte, dann stimmte er mit ein, kicherte: »Nein, wem könnte’s schaden?« Und lachte fröhlich mit. Theo: »Also…« – lachte – »einen wichtigen Fund suchen Sie«, lach‐ te stoßweise, »Beweisstücke suchen Sie…« – meckerte – »deshalb kommen Sie aus London? Ganz aus London?« Brauchte eine Minu‐ te, um wieder Luft zu schöpfen. »Vom Institut für Astrophysik?« Der Mann lachte schwitzend. »Sie können mir glauben«, sagte er, »bin sofort gekommen, als ich den Zettel gefunden hatte, sofort«, das Lachen gurgelte ihm aus dem Bart, »sofort, weil Sie’s so dring‐ lich gemacht hatten.« Sie standen unterm Apfelbaum, das erdbraune Viereck zwischen den Füßen, ihre Fröhlichkeit leerte sich aus. Schließlich sagte Theo, noch immer glucksend: »Gehen wir ins Haus. Wie wär’s mit einem Kaffee?« Der andere, heiter: »Das erste angenehme Wort seit achtund‐ vierzig Stunden.«
Zimmermann, seit seinem Abflug Freitag früh im selben Anzug, Taxi, Airport, Konferenzsaal, Hotelfoyer und wieder Konferenz, zerknautscht ins Flugzeug, ins Institut, noch einmal Taxi, genoß den herben, transchweren Wind, und während Wischenköttel schon ins Haus ging, atmete er tief. Saß dann im plumpen Fernsehsessel, streckte die Beine von sich, sagte: »Schön haben Sie’s hier, ja, beneidenswert.« Und Theo nahm es auf: »Am Ende der Welt?« Noch einmal holte sie das Lachen ein. »Entschuldigen Sie!« rief der Besucher. »Habe ich Sie verletzt? Ich wollte Sie nicht verletzen, das wollte ich nicht, Sie haben’s wirklich prächtig hier in dieser Abgeschiedenheit«, und ihre Blicke trafen sich. Später, das Lachen wetterleuchtete noch durch ihre Unterhaltung, sagte Theo: »Etwas fehlt am Kaffee, meinen Sie nicht auch? Da fehlt was. Ein Schuß Whisky?« Zimmermann hielt die Tasse hin. »Nehmen Sie mir meine Be‐ merkung von vorhin nicht übel, bitte«, sagte er. Theo sah ihn freundlich an. »Ich wohn’ schon immer hier, habe noch nie drüber nachgedacht, so ist das eben, man wohnt weit außerhalb der Stadt…« Zuckte die Achseln, als ob er sagen wollte, für ihn sei dies der Mit‐ telpunkt. Zimmermann nickte. »Wo haben Sie’s denn?« sagte er und beugte sich aus dem Sessel vor. »Ich meine, wo bewahren Sie es auf?« »Ja«, sagte Theo, »also, wie soll ich’s Ihnen nun erklären?« »Strahlt es? Sie haben es hoffentlich nicht angefaßt?« Theo, sehr still: »Sie meinen, daß es gefährlich war?« »Wo haben Sie’s gefunden?« sagte Zimmermann und rührte sei‐ nen Kaffee. »Ich habe in meiner Aktentasche einen Spezialbehälter, steril und luftdicht.« »Ja«, sagte Theo. »Luftdicht.«
Zimmermann stellte die Tasse ab. »Wenn Sie es mir freund‐ licherweise zeigen könnten?« »Also«, kaute Wischenköttel bedächtig seine Wörter, »es ist so, daß gar nichts da ist. Wirklich. Wie soll ich’s Ihnen sagen? Es ist nichts da. Nichts.« Die hellen Augen blitzten auf, Zimmermann lehnte sich zurück. Gleichmütig sagte er: »So ist das.« »So ist das«, sagte Theo. Er sagte: »Was für ein Fund hätte es auch sein können?« Der Besucher saß, betrachtete die ausgeblichene Tapete, die niko‐ tingelbe Decke, den Teppich mit dem großen Rotweinfleck, den klotzigschweren, erdverschmierten Mann. »Ist mir schon klar«, sagte er. »Nichts. Nun gut. Selten, daß wir wirklich etwas finden, wenn wir einen Hinweis erhalten haben, se‐ hen Sie, meist ist’s belangloser Krempel.« Theo zuckte die Achseln. »Ich habe nichts für Sie. Leider. Sie ha‐ ben Ihren Spezialbehälter vergeblich mitgebracht.« Er sagte: »Erhal‐ ten Sie oft Hinweise?« »Ja, ja.« Zimmermann blickte tief in seine leere Kaffeetasse. »Das kommt recht häufig vor, die Leute rufen an, manchmal schreiben sie, einige sind schon Stammkunden bei uns.« »Das hätte ich nicht gedacht.« »Ganz emsige Amateurforscher entdecken wöchentlich ein Ufo, verstehen Sie?« Zimmermanns Mund grinste wieder schief. »Ufos – Raumschiffe aus einer unirdischen Substanz, manchmal sagen sie ›aus Kristall‹.« Seine Hand fuhr übers Haar, blieb im Nacken, er reckte sich. »Wer weiß schon im voraus, ob es eine wirkliche Spur ist?« »Ufos?« sagte Theo. »Fliegende Untertassen? Glauben Sie daran?« Zimmermann sah müde in den späten Mittag hinaus. »Ach wissen Sie«, sagte er gelangweilt, »es wäre Blödsinn zu behaupten, wir wä‐ ren die einzigen im Universum. Es ist so riesig, hat so ungeheuer viele Welten – am unwahrscheinlichsten wäre es, würde tatsächlich
nur diese Erde bewohnt sein, ausgerechnet dieser kleine, isolierte, abgelegene Klumpen im Universum.« »Sie suchen Ufos?« sagte Theo. Der Assistent lächelte. »Nicht. Nein.« »Aber – Sie sammeln – Außerirdisches?« »Nein«, sagte Zimmermann, »das ist nicht unsere Aufgabe.« Theo saß still und wartete, doch als der andere nicht weitersprach, wiederholte er: »Hier ist kein Fundstück.« Der Besucher blinzelte, angenehm schien ihm die Stunde. »Haben Sie noch einen Schluck Kaffee für mich?« sagte er. »Mit Whisky?« »Gern«, sagte Theo, schenkte nach, »also – Ufos«, versuchte er’s neu. »Lassen wir das«, sagte Zimmermann. »Sehen Sie, es ist bei mir rein wissenschaftliches Interesse, Forscherneugier. Ich stehle Ihnen Ihren Sonntag, mach Ihnen Umstände, nur weil ich neugierig bin. Ich habe mir längst ausgerechnet, daß zu über neunundneunzig‐ kommaneun Prozent die Spuren ins Nichts führen.« Theo sagte: »Haben Sie heute schon was Warmes gegessen? Hier in der Nähe ist ein Schnellimbiß. Kommen Sie, ich lade Sie ein!« »Also – für die Wissenschaft?« sagte Theo, während sie zusammen die Straße entlanggingen. »Schade, daß ich Ihnen nicht helfen kann.« Würzig fiel der Wind über den Deich herab, mischte sich unters Sonnenlicht, ein Dampfer tutete vorbei, über den Wiesen schrien Möwen. Zimmermann genoß diesen fremden Tag. Blickte Theo an, sagte: »Sie sind nicht verheiratet.« »Nein.« »Ich auch nicht«, sagte Zimmermann. »Bei meinem Beruf – einfach unmöglich. Viel auf Reisen, nächtelange Sitzungen, und dann die Arbeit im Institut, oft wochenlange Programme, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Theo hatte überhaupt keine Vorstellung davon. »Tut mir leid«, sagte er.
Der andere stieß ihm freundschaftlich in die Seite. »Ganz und gar nicht!« rief er. »Ich bin leidenschaftlich gern Junggeselle.« Theo nickte kräftig. »Doch«, sagte er, »das kann ich verstehen. Mir geht es ebenso.« Er tänzelte in Joggingmanier, wie er es oft tat, wenn er zu Fuß unterwegs war. »Ich meine, es tut mir leid, daß Sie extra zu mir herausgekommen sind.« Das Urgeräusch des Schaufelbaggers begleitete sie auf ihrem Weg. »Ich bedaure nicht, zu Ihnen gefahren zu sein«, sagte Zimmermann. Jetzt erreichten sie die Straßenbiegung, hinter der die Würstchenbu‐ de stand, der Besitzer hatte ringsum Gartenstühle und Tische aufge‐ stellt und Sonnenschirme, die rot und blau und grün zur Deichkro‐ ne hinaufflatterten. Die beiden Männer nahmen einen Tisch am äußersten Ende, der Wind blies Zimmermann Haarsträhnen ins Gesicht, er wandte den Kopf und blickte auf den Fluß hinaus. »Mir gefällt’s hier gut.« »Wissen Sie«, sagte Theo plötzlich, »ich bin froh, daß Sie ge‐ kommen sind. Richtig froh. Dachte nicht, daß Sie kommen würden, wirklich, ich habe keinen Augenblick damit gerechnet. Gott sei Dank, daß Sie gekommen sind.« Zog die Zigaretten aus seiner Hemdentasche, Zimmermann hatte ein Feuerzeug. »Rauchst du?« sagte er und bot ihm die Packung hin. Der andere nahm, sie pafften schweigend. »Ich glaube, du solltest heiraten«, sagte Zimmermann. Theo lehnte sich auf dem harten Stuhl zurück und schloß die Au‐ gen. »Ich lebe lieber allein«, sagte er. »Ja«, sagte der Besucher. »So ist das mit uns.« Sie tranken und aßen, der Nachmittag zog in feinen Dunst‐ schwaden von der Flußmündung herein, es wurde kühler. »Es ist Zeit«, sagte Wischenköttel. »Hab’ heute eine Sonntags‐ schicht.« Zimmermann bat, mit ihm in die Stadt zurückfahren zu dürfen, und Theo nickte und sagte, er brächte ihn bis vor die Haustür, und
sie verließen den Tisch, zahlten und schlenderten am Flußufer bis zu Theos Grundstück zurück. Später, sie saßen schon im Auto und erreichten gerade die Ab‐ zweigung, wo die Deichstraße in die Hauptchaussee einmündet, lachten sie noch einmal in behaglicher Erinnerung, jeder für sich und schon fast voneinander verabschiedet. Weit hinter ihnen knirschte und kreischte und stampfte der Bagger, zog Eimer für Ei‐ mer herauf und kippte ihren Inhalt über ein mächtiges Förderrohr in die bereitliegende Transportschute. Alle paar Stunden kam ein Schiff, das eine neue Schute heranbrachte und die randvolle ins Meer hinausschleppte, irgendwo draußen auf der hohen See wur‐ den ihre Klappluken geöffnet, und die Ladung verschwand in der Tiefe. An diesem Abend, als Theodor Wischenköttel seinen Besucher vor dem Institut abgesetzt, auf dem Hafengelände den Wagen geparkt, seine Kleidung in den Spind gehängt und das Schweißgerät einge‐ schaltet hatte, förderten die Eimer hellsilbrige Metallteile herauf, seltsam schimmernde Formen aus einer unirdischen Substanz, Teile wie von zer‐ schelltem Kristall. Im flachen Licht des Sonntagabend blitzten sie auf, kippten in das Förderrohr und glitten auf die Schute, noch einmal spiegelten sie sich in der gelben Sonne, dann fiel Sand drauf und Kies und Sand.
Ein Fall für den Knopfgießer PEER: Nicht dorthin schaun! Dort ist Nacht und Verderben! Ich fürcht, ich war tot lange vor meinem Sterben. DES KNOPFGIESSERS STIMME: Wir sehn uns am letzten Kreuzweg, Peer, und dann wird sich zeigen – ich sage nicht mehr. Henrik Ibsen: »Peer Gynt« Fünfter Akt 1 »Wer?« sagte Labutzke. Emilios Stimme kam aus dem Omnifon. »Der Senhor behauptet, man erwarte ihn.« »Sicherheitstest?« »Aber Patrao! Selbstverständlich sind alle Kontrollen positiv«, kam es beleidigt aus der Sprechanlage. Labutzkes diamantschwere Finger berührten eine Taste, aus dem Bildschirm vor ihm hob sich ein schattenloses Gesicht: Der Fremde trug einen Bowler tief in die Stirn gezogen, die Augen darunter wirkten leer, ein knapper, lebloser Mund, unterm nackten Kinn schnürte eine Krawatte den Kragen zu. Labutzke ließ die Taste los und fiel in seinen mächtigen Sessel zurück. »Schick ihn herauf!« sagte er. »Geht in Ordnung, Patrao«, bestätigte der Privatsekretär. Varus Labutzke blickte sich zufrieden um, der Besucher würde beeindruckt sein. Der sanftschimmernde Saal, indirekt beleuchtet,
war nicht nur Chefzimmer, sondern Kommandobrücke, wie er sich gern ausdrückte. Alle Kontroll‐ und Schaltpulte der Fabrika‐ tionsanlagen waren in einem palisandergerahmten, dreieinhalb Me‐ ter breiten Block zusammengefaßt, der die Mitte des Raums wie ein Konferenztisch einnahm. Farbenfroh gewebte Lampenschirme hin‐ gen über ihm herab, ihr Licht paßte sich der Raumhelligkeit an, ihre folkloristischen Muster prangten als Heerzeichen stolzer Azteken‐ imperien, und aztekisch waren auch die Wandbehänge und Throne. Alte Vasen mit gierigen Pflanzen, ein schnitzereienverzierter Bü‐ cherturm voll staubiger Folianten, eine Hollywood‐Hammondorgel, aus der Labutzke berauschende Kaffeemusik dampfen ließ, für sich allein und manchmal auch für Emilio, der zuhören durfte, wenn sich sein Patrao entspannte. Wenige, die von sich sagen konnten, diese Kommandobrücke des COOL‐Konzerns je betreten zu haben, Labutzke pflegte seine Ge‐ schäfte vom Schreibtisch aus über Bildschirm und Omnifon abzuwi‐ ckeln, und bei sehr wichtigen Verhandlungen ließ er sich von Emilio zu den Geschäftspartnern chauffieren. »Muß sehen, wie sie leben«, sagte er dann und war stolz auf seine Menschenkenntnis, er besaß wie Tiere der Wildnis einen Instinkt, Gefahr zu wittern und falscher Beute aus dem Weg zu gehen. Nach solchen Besuchen sagte Emilio: »Einer von den Typen für Ihre Brieftasche, Patrao? Oder taugt er nur für den Müllverwerter?« Und Labutzkes Augen wurden schmal wie ein Strich. Der erste Eindruck war entscheidend wichtig, wußte er, und die‐ ser Saal würde dem Besucher imponieren, ein einmaliges Szenarium in der Handschrift des Konzernchefs, freute er sich und wippte im Sessel. Sein Schreibtisch erhob sich auf einer Empore wie eine Schloßpyra‐ mide über dem Tal, war hochglanzleer bis auf ein Kommunikati‐ onszentrum, das aus Bildschirm, Videotextschreiber und Omnifon bestand, einer Rundsprechanlage, mit der Labutzke nicht nur jeden Telefonteilnehmer, sondern auch jeden Winkel seines verzweigten Werkes erreichte, allein oder in Konferenzschaltung, und er war der
einzige, der sich aus diesem System beliebig auskoppeln konnte. Von hier aus überwachte er die Konzerngruppen im Inland und im Ausland, Planung, Forschung und Marketing, hier empfing er Bör‐ senkurse und Weltnachrichten, Berichte seines Geheimdienstes und Vorschläge der täglichen Produktanalyse. Diktierte Geschäftsbriefe, Abschlüsse und Vertragsbestandteile, beriet sich mit seinem Vor‐ stand und seinen Banken und den Politikern, auch dem Wirt‐ schaftsminister, und obwohl er Emilio als Privatsekretär engagiert hatte, tat er dies alles allein. Vor ein paar Jahren, gerade hatte er dreißig Kilometer hinter Sao Paulo ein Zweigwerk eröffnet, sah er den Jungen in der Bar des RIO HILTON. Zuerst die schmalschultrige, zierliche Gestalt, Muskeln unterm strammen Seidenhemd, Urwaldhaar bis zum paillettenbe‐ stickten Gürtel, dann, als sich Emilio umwandte, das hengstbraune Gesicht und den Blick, der herüberwirbelte. Unwillkürlich hatte er die Hand gehoben, und der Junge sprang vom Hocker und kletterte an Labutzkes Tisch: »Was brauchen Sie, Patrao?« Und mit päpstli‐ cher Geste: »Emilio Martens erfüllt alle Wünsche, es gibt an der ganzen Ostküste keinen, der mehr Verbindungen hat als ich.« Die Verbindungen waren kaum von Labutzkes Kaliber, aber der Junge lernte unheimlich schnell. Binnen einer Woche servierte er ihm zwischen Schickeriacafes und Surfbrettverleihern, auf Tennis‐ plätzen und Downtownpartys hochinteressante Kontaktpersonen. Am Sonntag hatte er Varus so weit, ihm blind zu folgen, mit ihm im Getümmel unterzutauchen, ein Strandlokal in Bermudashorts zu be‐ treten und am glutheißen Abend auf einem Stehpiano, weil sich’s Emilio wünschte, einen Wienerwalzer zu spielen. Der Beifall schwellte ihm die Ohren, schwitzend und glucksend verbeugte er sich, die Zugabe floß ihm aus den Fingern, später sagte der Junge: »Du warst wunderbar, Patrao,« und: »Hättest du gesehen, wie sie mit offenen Mäulern saßen, bevor sie losjohlten, wie’s ihnen in die Därme kroch – das war Musik, die sie juckte, du hast das Pack am kleinen Finger gehabt!«
Tief in der Nacht, als es lau in die Hotelsuite wehte, sagte Varus: »Ich war gut, was?« Aber Emilio schlief fest. Er nahm ihn mit nach Europa, nannte ihn Butler und Cheffahrer, kaufte ein ungetümes Fahrzeug längst verblichenen britischen Au‐ tomobilglanzes, in das er ein Duplikat seiner Kommunika‐ tionszentrale einbauen ließ, und trat fortan mit dem dezent liv‐ rierten Schatten auf. Emilio entwickelte viel Sinn für dies kapita‐ listische Feudalgehabe, schlüpfte in jede Rolle und beherrschte sie schon beim ersten Mal. »Du bist ein Naturtalent!« sagte Varus, aber Emilio lachte: »Über‐ lebenstraining«, und zuckte die Achseln. Labutzke fragte ihn, woher er stamme, sein deutscher Name ver‐ riete den Einwanderer, Emilio sagte: »Weiß nicht. Wo ich lebe, ha‐ ben die Menschen keine Namen.« »Warum steht Martens auf dem Taufschein«, sagte Labutzke. Emi‐ lio antwortete: »Weiß nicht. Vielleicht gekauft?« »Du meinst, deine Mutter hat irgendeinen Namen angegeben?« »Überlebenstraining«, lachte Emilio und zuckte die Achseln. »Wovon hast du gelebt? Die Jobs, die du gemacht hast, brachten sie euch was ein?« Er habe sich ganz allein durchgeschlagen. »Hast du gearbeitet oder gestohlen?« Emilio sagte: »Mal dies, dann das, es war nicht sehr viel anders als bei dir, man muß die Gelegenheit nutzen, Patrao, wenn man das Glück kitzelt, ist es willig.« »Deine Eltern waren Deutsche«, beharrte Varus, »denn du sprichst unsere Sprache akzentfrei und fließend.« »Und Englisch und Spanisch und Japanisch.« Emilio lachte. »Überlebenstraining?« sagte Labutzke. Der Junge zuckte die Achseln. Labutzke ernannte ihn zum Privatsekretär, ließ ihm ein elegantes Büro mit vollem Kommunikationsanschluß im BAU I herrichten, so blieb er auch tagsüber in seiner Nähe. Emilios Anhänglichkeit nann‐
te er Dankbarkeit und merkte erst, als der Junge ein paar Tage Ur‐ laub erbat, wie sehr er ihn vermissen würde. »Wozu Urlaub?« sagte er und meinte, sofort zu verstehen: »Dir fehlt das Getümmel am Strand von Rio.« Sagte: »Wir fliegen hin, wenn du willst. Ich kaufe uns eine Hazienda, du sollst nicht bereu‐ en, mir gefolgt zu sein.« »Machst du nie Ferien?« Labutzke sagte: »Nie. Ich bin der Konzern.« »Top, Patrao, und ich dein Mann.« Labutzke saß zurückgelehnt im Sessel, wippte, einen unbe‐ greiflichen Augenblick lang blähte sich vor ihm der Raum, quoll aus den Konturen, schillerte aus Licht im Licht, und mittendrin Millio‐ nen Funken. Erschrocken preßte er die Lider zusammen, riß sie wieder auf, drückte die Handflächen gegen die Stirn, sie war kalt und fremd. An der Wand ihm gegenüber flammte ein Signal, die Tür des Aufzugs glitt zur Seite, im grellen Schein die Silhouette des Besuchers. Der Mann, von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet, trug über dem Arm einen bizarren Regenschirm, ein Aktenköfferchen in der Hand, das er neben sich abstellte, verbeugte sich knapp, lüftete den Bowler und räusperte sich. »Treten Sie näher!« sagte Labutzke eilig, sprang auf und hofierte den Gast mit Redensarten. Der Fremde, eindrucksvoll seriös, er‐ zeugte in ihm die beruhigende Gewißheit, sich an die richtige Ad‐ resse gewandt zu haben: MANAGEMENT & CONSULTING INC. war der bedeutendste Unternehmensberater und Firmenmakler der Welt. Er dachte zufrieden. Sie schweißen Produktionsgiganten zusam‐ men und atomisieren Konkurrenten, lassen Börsenbarometer wie Hubkol‐ ben tanzen, füllen Staatskassen und machen Regierungen purzeln. MANAGEMENT & CONSULTIG INC. sollte den COOL‐Konzern mit maximalem Gewinn in die USA transferieren. »Sie geben auf?« sagte der Fremde, beachtete den angebotenen Stuhl nicht.
»Ich will verkaufen, das ist mein Auftrag an Sie.« »Muß prüfen, wie es um Sie steht.« »Darum sind wir zusammengekommen«, nickte Labutzke. »Ma‐ nagement and Consulting hat bereits…« Der Besucher, noch immer starr mitten im Raum: »Fangen wir an!« Labutzke lächelte, schwieg, verließ sich auf die Wirkung dieser unvergleichlichen Kommandozentrale, sagte nach einer an‐ gemessenen Zeit wie beiläufig: »Nicht hier, mein Herr, bitte, nicht hier. Dies nüchterne Arbeitsklima eignet sich nicht für derartige Verträge. Erlauben Sie, daß ich Sie in ein nostalgisches Lokal am Rande der Stadt einlade, machen Sie mir die Freude und schlagen Sie dies Horsd’oeuvre nicht aus.« »Die Daten…«, sagte der andere. Varus, zögernd: »Ich denke, wir sollten uns erst einmal beriechen. Warum so eilig? Ihr Haus kennt mein Angebot. Entspannen Sie sich, morgen werden wir bilanzie‐ ren!« Der Besucher sagte: »Der Termin steht fest.« »Es geht um mein Lebenswerk!« schnappte Labutzke, ihm dräng‐ ten sich großartige Worte auf die Lippen, er schluckte, sagte weiner‐ lich: »Eine gute Mahlzeit und einen alten Tropfen werden Sie doch nicht verschmähen.« »Sie denken…?« »Ich sehe«, setzte Labutzke nach, »Sie sind nicht abgeneigt.« Der andere griff das Köfferchen. »Sie möchten reden?« Emilio fuhr den Wagen vor. 2 Durch einen nebelwarmleuchtenden Villenvorort rollten sie am Fjord entlang, Gärten hinter Stachelhecken, zwischen Stegen dim‐ pelten Hochseeyachten, trächtige Bäume neigten sich ins Wasser,
mondglatt war die See, rings um das reetgedeckte Landhaus rot und silbriggrün gefärbt. Gästemurmeln, klappernde Tischbestecke, Glä‐ serklirren, ein Kellner kam heran, komplimentierte die beiden Her‐ ren in eine Ecke, eine Nische wie eine Krypta, kerzenerhellt, plötz‐ lich stockte Labutzke. Drüben, vor den unverhangenen Fenstern, hinter denen sich der Meeresarm öffnete, saßen ein Mann und eine Frau, im weißen Kerzenlicht waren ihre Gesichter glatt und frisch, wie von einem Maskenbildner präpariert. »Sie kennen sie?« bemerkte der Besucher. »Nein«, flüsterte Labutzke, »doch, selbstverständlich kenne ich die beiden«, schüttelte den Kopf, sagte: »Unmöglich« und: »So ein Zu‐ fall.« »Sie wollen’s mir erklären.« Labutzke schob seinen schweren Leib hinter den Tisch, so, daß er die beiden Gäste am Fenster nicht sehen mußte, doch sein Kopf drehte sich unwillkürlich. Der Fremde, den Bowler ablegend: »Sie kannten die beiden vor vielen Jahren.« Varus verbarg sein schwitzendes Gesicht hinter der Speisekarte, plapperte Menüvorschläge und Jahrgangsweine hervor, dann, der Kellner hatte bereits notiert, sagte er plötzlich: »Es ist Fred, zweifel‐ los, Fred Gernoleit, wir fingen gemeinsam als Lehrling bei Schickner an.« Ein weiterer, langer Blick hinüber zu dem Tisch am Fenster, dann reckte Labutzke das Kinn, lehnte sich zurück, wie er es oft an sei‐ nem Schreibtisch tat, stolz sagte er: »Mir ist nichts in den Schoß ge‐ fallen, wenn Sie das meinen, irren Sie, ich stamme aus kleinsten Verhältnissen, mein Vater betrieb hier eine bescheidene Schlosserei, die Erbschaft reichte nicht einmal für eine ordentliche Devisenspe‐ kulation.« Wörter wie abgegriffene Buchseiten, speckig und fahl, er blätterte. »Fred Gernoleit und ich verließen gemeinsam das Real‐ gymnasium, der einzige größere Betrieb hier am Ort war die KÄLTETECHNIK GmbH von Carl Gustav Schickner, wir begannen
dort unsere kaufmännische Lehre, ich hab’ von der Pike auf ge‐ lernt.« Der Fremde: »Na schön. Das ist doch keine Schande?« »Unsinn!« rief Varus. »Wieso Schande? Ich war der schnellere, hab’ aufgepaßt, Ohren gespitzt. Drei Jahre Lehrzeit, da wurde ich Direktionsassistent.« Man servierte die Flaschen, Labutzke schnalzte, die Gläser füllten sich, er sagte: »Schickner erkannte mein Talent. Bei ihm lernte ich mehr als auf einem Dutzend Fachschulen, dann sagte er: Das wich‐ tigste ist der Verkauf, du mußt in vorderster Linie stehen, dort, wo der Markt noch unerschlossen ist. Und schickte mich ins Ausland.« Prostete dem andern zu, der nippte nur. »Hab’ mich stets an dieses Wort gehalten«, sagte Varus Labutzke. »Der Export! Damit steht und fällt ein Unternehmen. Ich habe uns erst Indien, dann Südame‐ rika erschlossen, Gegenden, wo die Menschen neben faulenden Le‐ bensmitteln verhungerten, weil’s keine Kühltechnik gab. Wir haben den Provinzfürsten geholfen, mit dieser Verschwendung aufzuräu‐ men, natürlich auf Staatskredit verkauft, mit Bundesbürgschaft, es lief glänzend.« »Die Schmiergelder nicht zu vergessen«, sagte der Fremde. »Was tut man nicht für seinen Lehrherrn!« Labutzke grinste. »Wohl oder übel mußte ich repräsentieren, wenn ich um Vertrauen werben wollte, in diesen zurückgebliebenen Ländern zählt noch Operettenglanz.« Beugte sich vor und sagte: »In Bombay, damals, als wir einen Teil der Slums räumen ließen für das neue Kühlwerk, hab’ ich für Schickner ein Grundstück reservieren lassen, dort steht noch heute unser Hauptkontor.« »Eine Immobilie von Wert«, sagte der Fremde. Labutzke rief: »Das will ich meinen! In jenem Haus empfangen wir jedes Jahr den Provinzgouverneur, den Bürgermeister und unseren Botschafter standesgemäß.« »Wo war Gernoleit.«
»Ja«, sagte Varus. »Auch Fred machte die Auslandstour, das war Pflicht bei Schickner. In Rio trafen wir uns wieder, er hatte sich or‐ dentlich eingearbeitet, sprach gute Brocken Portugiesisch, das war nützlich.« Starrte hinüber zu dem Tisch, schwieg und starrte, sonder‐ bar, dachte er, da sitzen die beiden einträchtig, aufdringlich jung, Fred mit Silvia Jessel. »Die Frau!« sagte der Fremde. »Nein«, antwortete Varus. »Das war anders. Sie stammt von hier, damals wußte ich noch nicht, daß es sie gab, als ich von Rio aus be‐ gann, die Wechsel vom alten Jessel zu kaufen.« »Er war der Konkurrent, saß euch im Genick.« »Ach was, so dramatisch nicht«, lachte Labutzke. »Ich wußte schon, bevor ich nach Rio flog, wie’s weitergehen mußte. Jessels Finanzierungsdecke war dünn, hatte ich erst einmal die Finger drin, würde er mich nicht mehr loswerden können. Aber er sträubte sich, der Stockfisch. Er sagte: Jeden Morgen, wenn er aus dem Fenster schaute, hatte er Schickner vor Augen, und ich war Schickners Mann.« »Täglicher Kleinkram«, sagte der Fremde. »Jessel ist längst aus der Kartei.« »Vergeben und vergessen«, sagte Varus meckernd. Der Besucher: »Dann kam die Frau.« »Silvia?« Er sagte es so laut, daß sie herüberschaute, doch im fla‐ ckernden Schatten der Nische blieb Varus versteckt, gedämpft rede‐ te er weiter. »Das wurde von mir todsicher eingefädelt! Auf einem Festbankett begegneten wir uns, sie rosigfrisch im Ballkleid, reim‐ portiert aus einem Internat, ich auf Zwischenlandung, hatte nicht allzuviel Zeit, ihr den Hof zu machen. Sagte: Erfolgreich, versteht sich, niemals gab’s bei mir ein Zurück, wenn ich eine Sache ange‐ fangen hatte.« Der Fremde: »So schlägt’s zu Buch.« »Beim nächsten Heimflug heiratete ich Silvia, und plötzlich war der alte Jessel froh, mich als Schwiegersohn ins Geschäft holen zu
können.« Nahm einen Schluck und sagte schmatzend: »Zierte mich noch ein wenig und ganz öffentlich, da wurde Schickner wütend und feuerte mich, ich erhielt eine großzügige Abfindung.« »Die Sie in Jessels Laden steckten.« Varus lachte den Besucher aus. »letzt waren die Weichen für mei‐ nen Aufstieg gestellt!« sagte er. »Ich kehrte, als Jessels Hauptge‐ schäftsträger, nach Rio zurück, feierte mit Fred ein großes Wieder‐ sehen, der Gute berichtete mir von seinem bisher größten Exportauf‐ trag, den er tags darauf hereinholen wollte.« Er kicherte. »Freds Pech ist, daß er nicht trinkfest ist, verstehen Sie? Varus Labutzke war wieder einmal schneller, und, wie erwartet, zeigte sich der Plott zu groß für Jessel, seine Kapazitäten langten nicht.« Zog die Augen‐ brauen hoch: »Was tun?« Der andere nickte. »Na also!« sagte Varus. »Das ist das Gesetz des freien Markts, nicht wahr, Sie hätten ebenso gehandelt. Ich kaufte mit meinem Geld einen Teil auf eigene Rechnung, dann bot ich Schickner Ko‐ operation an, natürlich über einen Mittelsmann, hakte mir nur eine schmale Provision als Makler ab, es lief. Erst ein Jahr später, beim Anschlußvertrag, erfuhr Schwiegervater den ganzen satten Umfang des Geschäfts.« »War nicht erbaut davon«, sagte der Fremde. »Ach je, ich war nicht untätig gewesen in der Zwischenzeit. Unse‐ re Hausbank wußte längst, daß nur dieser Serienauftrag Jessel am Leben hielt, und ich war derjenige, der pünktliche Zinsen garantier‐ te – nicht der alte Herr. Ich drängte Silvia, ihm nahezulegen, die Unternehmensleitung an mich abzugeben, ein werbewirksamer, mit Glanz gefeierter Generationswechsel.« »Sie liebte Sie.« »…mich?« Er schüttelte sich. »Das eigne, luxuriöse Leben! Ach, wissen Sie, Silvia liebte immer nur sich selbst. Als wir uns scheiden ließen, war ihr die Höhe der Apanage wichtiger als mein Wohlerge‐ hen, trotzdem, ich habe sie fürstlich belohnt, die Exfrau von Varus
Labutzke sollte nicht in Armut leben.« Und sagte ruhig: »Was hätte das für einen Eindruck gemacht?« Der Besucher notierte: »Der alte Herr – wie Sie sich ausdrücken – war damals vierundfünfzig.« Labutzke nickte anerkennend. »Ein Gehirn wie ein Detektei‐ Computer, was? Respekt! Ich weiß zu schätzen, wenn ein Ge‐ schäftsmann Zahlen stets parat hat.« Dachte zurück, sah Jessels blei‐ che, holzschnittstarren Züge, hörte das heisere Mir aus den Augen! und Du wirst nie ein ehrbarer Kaufmann sein, und kicherte wieder, was wußte der penible Herr schon von den Schlammschlachten vorn an der Exportfirma, seit fünfzehn Jahren hatte Jessel die Direktionsetage nicht mehr verlassen. Vierundfünfzig, nun gut, aber ein Greis. »Ein Greis!« sagte Labutzke. »Sie übernahmen demnach Jessels Aggregatenfabrik, als Sie sechsundzwanzig waren.« »Die bunte Presse hängte mir Girlanden!« meckerte Varus. »Mann des Jahres. Erfolgreichster Jungunternehmer. Was sie alles draufhatten – keiner der Journalisten wußte, wie marode die Firma war. Ich kehrte sofort nach Rio zurück, um für mich und Schickner mehr aus dem Staatsauftrag herauszuholen, inzwischen war Fred Gernoleit in aller Stille heimgerufen und in die Lohnbuchhaltung versenkt worden. Ich hatte freie Bahn.« »Sie haben nachgeholfen«, sagte der Fremde. Labutzke, das Glas an den Lippen, zwinkert, wärmende Rot‐ weinbeschaulichkeit, Dunst aus Eichenbalken und sturmgeschröte‐ ten Backsteinen, Atem, Dämmern, Stunde nach den Stunden. Die junge Frau steht plötzlich mit ihrem Begleiter am Tisch, zuerst sieht er den Widerschein ihres Gesichts in seinem Glas, und als er, tief erschrocken, zu ihr aufschaut: »Grüß dich!« sagt sie lächelnd. »Ha‐ ben uns lange nicht gesehen, Varus, ein schöner Zufall, dich zu tref‐ fen«, und setzt sich. Schwach wiederholt er: »Lange nicht.«
»Willst du mich nicht bekannt machen?« sagt sie, und, weil er schweigt, zu dem Besucher: »Verstehen Sie, er ist immer ein spröder Mensch gewesen, scheu wie ein echter Draufgänger, verzeihen Sie ihm. Wenn Sie ihn gut kennen, werden Sie zustimmen, daß man ihm einfach nichts nachtragen kann, er ist ein Rauhbein, liebenswert frech.« »Grad schmückte er sich mit sündhaften Erfolgen«, sagt der Fremde. Silvia meint: »Doch nicht bei Frauen?« »Wie geht es, altes Haus?« macht Gernoleit Konversation. Der Mann vor ihm sieht übel aus, fettig, gedunsen. »Noch am Schalt‐ pult?« Pause. Mit schwerer Hand stellt Varus das Glas zurück, Wein schwappt über, er starrt den superblonden Schulfreund an. »Sag es doch endlich, sag es!« blubbert’s hervor. »Ich habe dir deinen Start verpfuscht! Habe dich hintergangen! Dir den Weg nach oben abge‐ schnitten! Sag jetzt, wie oft du über mich geflucht hast, sag endlich, was du von mir denkst, daß ich ein Schwein bin, ein Verbrecher, Egoist!« Der andere grinst. »Warum so theatralisch, Varus? Also: Du hast die Gelegenheit ergriffen, warum nicht. Daß ich damals in Rio sauer war – ich geb es gerne zu. Doch später stellte sich heraus, daß nichts für mich besser war als diese Rückversetzung ins Stammhaus. Ich bin ein Puschentyp, brauch’s warm und gemütlich, will es friedlich haben, der Streß der Auftragsjagden liegt mir nicht. Eigentlich kann ich dir nur dankbar sein – und das gleich doppelt«, und lächelt Sili‐ va an, sie strahlt zurück. Labutzke schwankt, die beiden lächelnden Gesichter schwimmen ineinander, werden eins, groß, zart wie roter Nebel über der Nacht‐ see. Er strafft sich, sagt: »Ihr beide…?« Und sucht die Taste, um die Situationsanalyse abzufragen, doch dieser Tisch bleibt stumm. »Ihr beide…?«
»Behaupte nicht, du hättest’s nicht gewußt!« sagt Silvias Gesicht, nun wieder dort, wo’s hingehört. Und Fred, zum Gast gewandt: »Seit Jahren leben wir zusammen.« Varus will rufen: Von meinem Geld! Und unterläßt es, zuckt zu‐ sammen, als er den steifen Blick des Fremden sieht, der Kerl scheint amüsiert. Labutzke leert die zweite Flasche. 3 »Ich hoffe, Sie hatten eine gute Nacht?« Der Fremde, wie gestern in schwarzem Anzug und mit Bowler, betrat die Kommandobrücke, Varus kam mit ausgestreckten Armen auf ihn zu. »Sie wohnen selbstverständlich im EUROPÄISCHEN HOF?« Geschmeichelt: »Erstes Haus am Platz, nicht wahr, übrigens gehört es mir, eine gute Immobilie, und einem tüchtigen Pächter hab’ ich’s überlassen.« Der Besucher verzog keine Miene. »Wie steht es heute mit den Da‐ ten? Meine Zeit ist knapp.« Varus plauderte: »Gefiel Ihnen der Auftakt? Ich hoffe, mein Chauffeur hat Sie bestens abgeliefert, er ist zuverlässig, Emilio kann ich vertrauen, sogar im Schlaf. Sehen Sie, als gestern Silvia an un‐ sern Tisch kam, war sie nicht liebenswert, die Heuchlerin? Sie war der letzte Feind, den ich in meiner Nähe duldete. Erst als es fast zu spät war, hatte ich begriffen, wie zersetzend Einflüsterungen sein können, sie quälte mich mit Vorwürfen, die ebenso absurd wie un‐ gerechtfertigt waren. Mitten in einer schweren Absatzkrise behaup‐ tete sie, ich hätte ihren Vater auf dem Gewissen, ich hätte ihm mit der Schließung der Aggregatefirma einen letzten Tritt versetzt.« Kopfschüttelnd sagte er: »Der Laden war nicht wieder flott zu ma‐ chen, so war es! Die bittere Wahrheit hieß Auflösung oder Konkurs. Es war mein Geld, es war auch Silvias Geld, um das es ging, aber sie wollte nicht begreifen.«
»Sie muteten der Stadt siebenhundert Arbeitslose zu und brachten das Grund‐ und Anlagevermögen bei Schickner ein.« »Das lag noch nahe, oder? Was anderes wäre kaufmännisch gebo‐ ten gewesen, von Kältetechnik konnte in dieser Region nur einer leben. Die Landesregierung machte viel Geschrei, doch Schickner sagte richtig, ihn gingen die Arbeitslosen nichts an, die Leute seien vor dem Kauf der Anlagen entlassen worden.« Zufrieden fügte er hinzu: »Da kam Hilfe von der Oppositionspartei, sie verlangte, orts‐ ansässige Firmen nicht mit sinnlosen Abgaben zu schädigen, wegen dieser Fürsprache wurde ich ihr Mitglied.« Gelangweilt sagte der Besucher: »Sie spendeten zum Einstand eine hübsche Summe.« »Sie kennen sich in unseren Büchern aus, alle Achtung! Haben die Firmengeschichte gut studiert, was? Aber Ihre Mikrofilmkartei ist offenbar nicht vollständig: Das Geld ging an einen gemeinnützigen Verein.« »Steuerfrei«, sagte der Fremde. »Und der Verein gehörte der Par‐ tei.« Labutzke kicherte. »Ich habe stets die Maschen des Gesetzes ge‐ nutzt, wer diese Klaviatur beherrscht, ist im Vorteil, wozu hart er‐ worbnes Geld verschenken?« Das Wort Klaviatur beflügelte seine Erinnerung, er summte, machte ein paar kindische Bemerkungen, plötzlich: »Es war der Augenblick, als ich meine Firma bei Schickner einbrachte, wir wurden Teilhaber, leider mußte ich feststellen, daß der alte Carl Gustav die Noten fürs Klavier nicht mehr beherrschte. Er scheute sich sogar, den Wirtschaftsminister zu sich einzuladen, tatsächlich glaubte er, als parteiloser Unternehmer freier in der Nut‐ zung seiner Möglichkeiten zu sein, der arme Narr.« Varus schritt lebhaft auf und ab, die mächtige Kommandobrücke war nicht groß genug für seinen Eifer. »Schickner schien krank«, erzählte er. »Ich sprach mit seinem Arzt, übrigens einem Partei‐ freund, dessen Vertrauen ich sicher sein konnte.« Erzählte: »Tat‐ sächlich, ich hatte recht, der Mann war arbeitsunfähig, wir hatten
große Mühe, ihn von seinem ernsten Zustand zu überzeugen, schließlich trat er ab.« Blieb hinterm Schreibtisch stehen, plötzlich fiel er in den Sessel, wippte, sein Kinn ruhte auf den Spitzen seiner Finger, er musterte den Gast, der artig auf der Kante eines Sessels hockte. »Warum soll ich Ihnen nicht die Wahrheit sagen?« brummte La‐ butzke. »Sobald wir den Vertrag unterzeichnet haben, fliege ich nach Brasilien, auf meiner Hazienda will ich meinen Lebensabend verbringen, ich werde weit weg von hier sein, sehr weit weg.« Schnaufte: »Niemals wird hier ein Mensch erfahren, daß ich den Arzt um diesen Gefallen gebeten hatte.« Der Besucher sagte: »Als kleine Gegenleistung schenkten Sie ihm ein Haus.« »Villa in bester Lage, voll abschreibungsfähig, der Gute wohnt noch heute drin, seine Praxis geht glänzend! Ich sehe, Sie hätten nicht anders gehandelt, ob an der Exportfront oder in der Heimat, wer schneller ist, gewinnt, so ist das.« Der Besucher sagte: »Wenn Sie meinen?« Labutzke, erinnerungsvoll vom Schreibtisch aus dozierend: »Ich freue mich, daß ich Ihnen so freimütig die Vorgeschichte von COOL INTERNATIONAL erläutern konnte, Sie sehen, ich habe hart gear‐ beitet, und das Ergebnis kann sich blicken lassen. COOL INTERNATIONAL entstand aus der Fusion der Aggregatebetriebe mit Schickners GmbH, selbstverständlich mußte ich den Laden so‐ fort auf gesunde Füße stellen. Ich zahlte die Gesellschafter aus – für sie war’s leider ein mageres Ertragsjahr, aber da kurz darauf die Opposition die Wahlen gewann, ging es dann aufwärts. Man erließ mir großzügig Steuernachzahlungen aus Schickners Zeiten, ich stockte das Kapital auf und ließ das Unternehmen als Aktiengesell‐ schaft registrieren, natürlich behielt ich das Mehrheitspaket in der Hand. Den Aufsichtsrat bestückte ich mit verdienten Herren aus Politik und Finanzwelt.«
Der Fremde zählte auf: »Ihren Parteifreunden und dem Chef der Hausbank.« »Jetzt zu den Daten!« rief Labutzke und sprang vom Sessel hoch. »Ich zeige Ihnen, was Sie unmöglich kennen können.« Er nötigte den Gast an den Konferenztisch, die Platte begann zu leuchten, Zei‐ len aus dem geheimen Zentralspeicher erschienen, Kurven, Ver‐ gleichsrechnungen. »Sehen Sie, hier, das war das erste Jahr, gleich nach der Neu‐ gründung, beachten Sie die Entwicklung durch die Folgejahre, steil nach oben, was?« Gab murmelnd Kommentare ab, schrie plötzlich: »Sie staunen, geben Sie zu, daß Ihnen diese Fakten unbekannt wa‐ ren, vermutlich haben Sie derartige Zuwachsraten bisher nie gese‐ hen.« Der Besucher meinte: »Diese oder andere, was besagt das schon?« Labutzke, irritiert, sagte vorsichtig: »Die Binnenkonjunktur ließ damals sehr zu wünschen, nur der Export brachte uns voran. Nach meiner Scheidung von Silvia war ich ständig auf Reisen, oft zusätz‐ lich mit politischer Mission betraut, ich habe den westlichen Macht‐ bereich tief in die Dritte Welt hinein vergrößert.« »Die jungen Länder abhängig gemacht«, erwiderte der Fremde. Mißmutig sagte Labutzke: »Das sollte Sie am wenigsten be‐ kümmern.« Murrte: »Ist doch wohl klar, daß diese Länder selb‐ ständig nicht lebensfähig sind, ihre Führer sind Dilettanten auf dem Weltmarkt, in ihrer Dummheit verursachen sie eine hausgemachte Krise nach der anderen.« Mit erhobener Stimme: »Erst die engen Wirtschaftsbeziehungen zu uns machen Industrialisierung möglich, wir zeigen ihnen, wie man’s macht, bringen ihnen bei, fleißig zu sein.« Stieß seine dicken Finger auf eine Zahlengruppe: »Außerdem war hier eine neue Finanzierungsquelle zu erschließen, haben Sie’s bemerkt?« Und sagte stolz: »Entwicklungsgelder.« »So fließt das Kapital stets zum Kapital zurück«, sagte der Gast. Varus rief: »Ich wußte! Sie sind ein Mann vom Fach. Eben schien’s mir noch – verzeihen Sie! – als ob Gefühlsduselei Ihnen den Blick
fürs Realistische trüben könnte, ich werde alt, Sie sehen, es wird für mich Zeit, sich aus dem großen Spiel zurückzuziehen.« Nun verfolgte er schweigend die historischen Bilanzen, die wie Kompanien über die Bildschirmplatte zogen mit einem Troß hausin‐ terner Erläuterungen, aus denen Eingeweihten sichtbar wurde, was diese Zahlen leisten konnten. Hüpfte um den Tisch herum, unge‐ wöhnlich wortkarg stieß er nur ab und zu Stichwörter hervor wie »Dollarschwäche«, »Senkung des Zinsniveaus«, »Golfzwischenfall«, »Viermonatsstreik«, unmerklich war das Licht auf dem Tisch schwächer, die Zeilen auf dem Schirm intensiver geworden, fla‐ ckernd sprang grüner Widerschein auf das Gesicht des Gastes. Der spielte mit den Sensortasten, wischte den Tanz der Zahlen weg, auf der Platte breitete sich das Foto eines vergrämten Mannes aus. »Sie haben die Personalkartei erwischt«, sagte Labutzke zuge‐ knöpft. »Scholz war der Betriebsratsboß, ein bulliger, ein kranker Mann.« Drängte den Gast beiseite und hantierte an den Einstell‐ hebeln, jetzt purzelten Lebensdaten über den Schirm. »Die Un‐ terlagen der Hausdetektei!« erklärte er. »Wir führen über jeden Buch, mit dem wir jemals in Berührung kamen.« Er sagte: »Ich ken‐ ne das erste Schulzeugnis von diesen Menschen genauso wie die erste pubertäre Beziehung, ihre Krankheiten und ihre Schulden, der Zentralcomputer ist so programmiert, daß das Verhalten von Ange‐ stellten, Vertragspartnern oder Gegnern bei jeder Planung kalkuliert werden kann.« »Wir gehen ähnlich vor«, lächelte der Fremde. »Nicht wahr?« freute sich Varus. »Exakte Analyse ist der Schlüssel zum Erfolg. Jeder denkt, er wäre einmalig und unberechenbar, und doch ist’s immer nur der gleiche Mummenschanz.« Er spielte mit den Tasten, Gesichter flackerten in grotesker Prozession über den Tisch. »Im Lauf der Jahre nahm die Betriebsstärke ab?« bemerkte der Be‐ sucher. Labutzke strich sich übers Kinn. »Rationalisierung, mein
Lieber, Abbau von Lohnkosten.« Er seufzte. »Und hin und wieder gab’s auch – wie soll ich sagen – Fälle von Hausmachtpolitik.« »Wie bei Frau Blandenheim?« sagt der Fremde, das Bild einer un‐ gewöhnlich schönen Frau wächst aus dem Tisch, ein römisch‐ marmornes Gesicht, die Augen klar und braun das lange, gezopfte Haar. »Sie war die Leiterin der Buchhaltung«, sagt Varus. »Erstaunlich, daß von der Natur so reich bedachte Damen noch Sinn für die Fi‐ nanzkunst mitbringen.« »Sie heirateten sie.« Varus flegelt sich auf den Tisch, das Bild umgibt ihn ganz. »Ach, bester Mann, ich mach mir nichts aus Frauen. Julia Blandenheim war eine Mitgift, als ich die Mailänder Elektronikwerke übernahm. Sie hatte sich die Ehe ausbedungen, das war Bestandteil des Trans‐ aktionsvertrages.« Das Foto dehnt sich, scheint zu leben. Der Gast sagt: »Sie wußte nichts von Ihrer Neigung.« Labutzke, ungehalten: »Die Ehe war nicht von Bestand. Wir trenn‐ ten uns einvernehmlich, schon bevor der Augenblick kam, wo diese Frau… also… dem Firmeninteresse geopfert werden mußte.« »Ich weiß«, sagt der andere. »Sie hatten sich übernommen.« »Falsch!« ruft Labutzke, das unheimliche Lächeln des Fotos klebt ihm auf Stirn und Brust. »Die Vorfinanzierung wurde durch unver‐ antwortliche Diskontpolitik ins Wanken gebracht. Die Bank – bis dahin willig – hatte Bedenken…« – er wehrt sich, schwitzt hem‐ mungslos – »Julia hatte die Zahlungsschwierigkeit zu verantworten – sie mußte gehen – mußte! Ihren Job erhielt – der stellvertretende – Kreditabteilungsleiter der Bank…« Das Bild erlischt, die Tischplatte wird grau und stumm, mitten in die Stille sagt der Besucher: »Und das sind alle Daten?« Labutzke wischt mit einem Tuch über den kahlen Schädel, schneuzt sich, sagt ergeben: »Bestimmen Sie! Was möchten Sie noch sehen? Ihnen steht alles offen. Bevor wir morgen handelseinig wer‐ den, soll jede Ihrer Fragen abgehakt sein. Bei mir wird niemand ge‐
prellt, ein so mächtiges Unternehmen wie COOL IN‐ TERNATIONAL kann nur bestehen, wenn Macht und Moral iden‐ tisch sind.« Der Fremde, säuerlich: »Was für Sprüche!« 4 Der Aufzug brachte sie in eine Tiefgarage, an einem Gehsteig warte‐ ten Wagen wie Rikschas, aus hellem Stahl, gummibereift, mit Leder‐ sitzen. Auf Zuruf glitten sie geräuschlos in einen Tunnel, nach kur‐ zer Fahrt mündete die Spur in einer Anlieferungshalle, das Gefährt blieb stehen. Um sie herum Summen und Klicken, Rauschen von Förderbändern und Transportketten, durch Schleusen rollte unauf‐ hörlich Rohmaterial herein, wurde abgetastet, umgeladen, geschüt‐ telt und gewendet, in Kisten abgepackt und durch Stockwerke ge‐ hoben, ein gigantisches Uhrwerk. Varus sagte: »Bereiche A«, erläu‐ terte: »Der Zentralcomputer prüft die Eingänge. Was nicht brauch‐ bar ist, wird zurückgeschickt, direktes Recycling.« Lächelte breit: »Wir sind Hauptabnehmer auf dem Weltmarkt. Selbstverständlich bestimmen wir Mengen und Preise.« Ein Meßton, ultrahoch und kaum vernehmbar, Prozessoren steuer‐ ten die Abläufe, Elektronengehirne korrigierten, eins griff ins ande‐ re: »Bereiche B«, Schmelzhallen. Das Fahrzeug glitt gehorsam wei‐ ter, passierte die Öfen, auf einer temperaturkonstanten Beobach‐ tungsbühne blieb es stehen. Labutzke bat den Gast an ein Schutzfenster, deutete in das Schwe‐ felgelb und Grün, die Dämpfe schwappten im Takt der Saugrotoren. »Im Inland beliefern wir hundert Prozent, in Europa beträgt unser Marktanteil fünfundachtzig«, schrie er, aber es war erstaunlich still auf dieser Kanzel, als ob sie in einer Taucherglocke einen Methan‐ ozean passierten. »Unnötig, zu sagen, daß wir weltweit führend
sind!« Orderte »Bereich C«, das Fahrzeug machte kehrt und brachte sie in einen stillen, weißen Saal. »Es gab nur einen Konkurrenten, den wir jahrelang zu fürchten hatten«, plauderte Varus, fröhlich nach überstandenen Schwierig‐ keiten, »die Japaner! Sie sind unheimlich gut, Menschen von Ma‐ schinenart, programmierbar und flink, so flink, daß sie den anderen, die sie kopieren, stets voraus sind.« Er zeigte mit ausgestrecktem Arm in die Runde, über Schränke mit Magnetbändern, über Skalen, sprühende Lichtpunkte, Oszillografen, sagte stolz: »Alles japanisch! Durch und durch japanisch, ich hab’s in aller Welt studiert, bevor ich es in Nippon kaufte. Die unheimlich flinken Männchen selbst haben den Betrieb hier eingerichtet und programmiert, seit acht Jah‐ ren ist alles automatisiert, von Bestellung und Anlieferung bis zu Verbuchung und Versand, keine Arbeiter, keine Angestellten, keine Beförderungsintrigen, keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, keine Pensionsrückstellungen.« »Klick, klick«, sagte der Besucher. »Früher arbeiteten allein hier im Hauptwerk dreitausend Leute, mehr, als ich in den Zweigbetrieben in Übersee beschäftige. Dreitau‐ send, und das bei unseren exorbitanten Löhnen!« Sie glitten an Rechen‐ und Schreibautomaten entlang, neben einer Steuerungszentrale hielt ein Wagen gleich dem, in dem sie saßen, ein Inspizient kniete vor einer Skala. »Fünf Mann benötigen wir noch zur Kontrolle und Wartung der Anlagen«, berichtete Labutzke und fügte genießerisch hinzu: »Selbstverständlich keine Angestell‐ ten dieses Hauses. Sie sind bei der Automatenfirma unter Vertrag, wir haben sie gemietet.« »Keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, keine Pensions‐ rückstellungen«, sagte der Gast. »So einfach war das nicht!« Labutzke hob den Zeigefinger. »Unse‐ re dreitausend ließen in dieser Gegend die Arbeitslosenzahlen auf vierzig Prozent klettern, meinen Sie, das schlucken die Politiker, das ist ein herber Trank für sie.«
»Sie haben’s ihnen, wie üblich, spendenhoch versüßt.« Varus spitzte die Lippen. »Da reicht ein noch so runder Betrag nicht mehr. Es mußte für den Kreisvorsitzenden schon ein Platz im Europaparlament draufgelegt werden.« Sie verließen den sterilen Saal, ihr Fahrzeug durchquerte eine Thermoschranke, dann waren sie im Freien, kahles Werksgelände, Mauern, Stacheldrahtzaun, die Spur führte zu einer Pforte. Der Tag nebligdünn und ohne Hintergrund, die nackten Häuser auf der an‐ deren Straßenseite, frierend, rückten zusammen, Industrierauch schwärzte ihnen Dächer und Simse, als ob schwere Schatten unter ihren Augen lägen. »Ehemals Werkwohnungen«, erklärte Varus. »Schickners Großva‐ ter ließ sie bauen, morsche Substanz, nicht mehr renovierbar, hab’ sie vor Jahren bei Gelegenheit an einen Makler verkauft, die meisten stehen leer.« »Die Leute?« sagte der Besucher. »Ich kaufte dafür zwischen Straße und Bahngeleisen ein paar tau‐ send Quadratmeter, um einen Verladebahnhof aufstellen zu lassen, vollautomatisch und ans Hauptwerk unterirdisch angeschlossen, und drüben, sehen Sie, jenseits der Bahn, entsteht der Airport.« Nebel verhängt die Sicht, sie rollen wie über einen fremden Hori‐ zont, nichts ist vor ihnen und nichts um sie herum, Bewegung, Still‐ stand. »Die Leute?« »Wir müßten längst an der Containerrampe sein – die Karre steht – keine Energiezufuhr, verdammt, der Hauptschaltknopf – wo ist der Knopf…?« Ein Mann blockiert die Fahrspur, bullig, krank, lehnt sich gegen die Windschutzscheibe, ringsum ist nichts. »Einige sind weggezogen«, beantwortet er die Frage des Besu‐ chers. »Sie fanden Arbeit im Süden. Viele blieben hier, wer geht schon gern, der zwischen Meer und Marsch groß geworden ist, ver‐ läßt schon gern das Land. Männer sind nun wieder Schüler, versu‐
chen, eine neue Existenz und hocken voll Panik zwischen klammen Wänden, sie sind fünfundvierzig und resignieren.« »Hör auf zu jammern, Scholz!« Labutzke sitzt zurückgelehnt, wippt wie in seinem Sessel auf der Kommandobrücke. »Du hast die Automatisierung selbst gebilligt, hast als Vertreter der Ar‐ beitnehmer im Aufsichtsrat dafür gestimmt, und als die Umstellung beschlossene Sache war, hast du die Leute aufgewiegelt, ihnen Transparente in die Hand gedrückt, da standen sie vorm Tor und lamentierten. Du bist nicht ehrlich, Scholz, willst meinen Gast falsch…« »Das war die Art von Partnerschaft, wie du sie dir zurechtgedacht hast!« hebt der Mann vor ihnen seine Stimme. »Das Gesetz schrieb Mitbestimmung vor, aber praktisch hast du uns davon ausgeschlos‐ sen, wie sollten wir beraten, wenn du uns nicht informiertest, du hast unsere Zustimmung mit fingierten Unterlagen und falschen Versprechungen erschlichen. ›Verluste‹ sagtest du, aber wir sahen keine Zahlen, du sagtest ›zwingend notwendige Rationalisierungen‹ und endlich ›großzügiger Sozialplan‹, von dem nichts blieb als ein paar vor Gerichten eingeklagte Fransen, denn inzwischen hattest du jeden Gewinn ins Anlagevermögen gesteckt, und wir, die wir diesen Gewinn erschuftet hatten, gingen leer aus, Partner du!« »Das ist doch Quark von gestern«, sagt Varus. »Immer hast du nur Phrasen drauf, man hätte dir bei der Gewerkschaft etwas mehr Be‐ triebswirtschaftslehre beibringen sollen.« Die Worte sind alle schon gesagt, damals, in der Werkskantine, und auf der Kundgebung vorm Haupttor, zerknitterte Transparente, abgebröckelte Farbe. Da sagt der Gast: »Hatten Sie Rechte aufs In‐ vestitionsvermögen?« »Was Rechte denn, was!« mischt sich Labutzke ein. »Die Fabrik gehört mir, ich habe sie gekauft, und alles, was hinzukommt, gehört mir. Das ist das Recht.« »Und wer hat Tag für Tag und Jahr für Jahr die Arbeit getan…?« kommt die Stimme von der Windschutzscheibe.
»Ach geh!« wehrt ihn Labutzke ab. »Du siehst doch, daß es ohne euch geht, der Fortschritt hat euch nicht zu Partnern des Kapitals gemacht, sondern überflüssig.« Er sieht den Mann nicht mehr, aber die Stimme kriecht ihm durch Ohren, Nase, Augen bis ins Hirn. Bist du selbst Roboter geworden, La‐ butzke, oder noch ein Mensch wie wir, bestehst du nur aus Schaltelementen und Modulen, und deine Rede ist wie von einer Tonbandschleife: Fort‐ schritt. Fortschritt? Hast du nie über dich selbst nachgedacht, gab es denn keinen Augenblick, in dem dich deine Dreistigkeit anwiderte, in dem du zweifeltest an diesem blinden Weg nach oben? Kam dir nie in den Sinn, Oben könnte nicht Oben, Unten nicht Unten sein? Gab es denn kein ande‐ res Maß für dich als nur die Zahlen auf einem Konto? Varus sagt trotzig: »Brauche euch nicht, brauche niemanden, Ein‐ samkeit macht mich stark. Menschen haben mir immer nur im Weg gestanden.« Labutzke, denk nach! »Was soll der Quatsch? Du wirst die Welt nicht ändern, Scholz. Selbstverständlich hat sie ein Oben und ein Unten, und ich bin hier, du dort, mach endlich Platz!« Der Besucher beugt sich vor und schnarrt: »Sie meinen, Herr La‐ butzke hat sich einer Verletzung seiner Fürsorgepflicht schuldig gemacht?« Und plötzlich ist er wieder da, der Scholz, klein, grau und krumm, da sind die Fahrspur, der Verladebahnhof, die krummen Häuser. Der Mann sagt: »Was bedeutet Schuld? Wenn er so leer ist und ganz ohne Maß, der Arme, dann bleibt mir nur, ihn zu bedauern.« »Keine Klage?« beharrt der Fremde. Scholz sagt im Weggehen: »Fürsorge kommt auf den Mag‐ netbändern nicht vor, das Wort ist gar nicht eingespeichert. Ver‐ gessen Sie’s! Ich habe großes Mitleid mit dem Alten.« »Solch ein Gezeter!« atmet Labutzke auf. »Wozu die Predigt? Der Scholz blieb auf der Strecke, während ich alles erreichte, was einem
Menschen zu erreichen möglich ist. Ich habe das Leben voll genutzt, jetzt endlich werde ich mir die Beschaulichkeit des Abends gönnen.« Das Fahrzeug summt, die Armaturen leuchten auf, Labutzke drückt den Zielcode ein, er grinst. »Der Scholz ist einer von den vie‐ len Zukurzgekommenen. Diese Sorte Mensch ist Ihnen sicher nicht unbekannt, was? Sie verlangen immer das Reich Gottes auf Erden, und die Teufel sollen es ihnen finanzieren. Ein bißchen Ehrlichkeit sich selbst gegenüber wäre mir da lieber.« Der Besucher: »Wie man’s nimmt.« Sie gleiten voran, die Fahrt wird rascher, talwärts, Varus sagt fröh‐ lich: »Wenn man nicht zupackt, wird man nichts bekommen, es wird uns nichts geschenkt.« Der Nebel weicht, fällt sanftes Sternenlicht herab, vor ihnen, wo eben noch Betonmischer auf planierter Erde standen, dehnt sich moosdunkler Park, rote Blätter hängen wie Leder von den Ästen, buchsbaumgesäumt die Spur, und links und rechts Duft wie von Moschus und Hyazinthen. »Eine Wolfsphilosophie!« bemerkt der Gast. »Sie sind nur aus Ver‐ sehen Mensch geworden.« Labutzke nimmt’s als Witz. »So viel Redereien um gar nichts!« lacht er. »Da haben wir tatsächlich den ganzen Nachmittag ver‐ trödelt, Sie müssen müde sein. Entschuldigen Sie, daß dieser Mann uns viel zulange aufhielt.« Lehnt sich behaglich in die Polster, wippt. »Emilio wird Sie in Ihr Hotel bringen.« Das Fahrzeug hält, der Fremde steigt ab. »Bis morgen!« sagt Labutzke. Der andere: »Wir sind am Ziel.« 5 »Noch nicht ganz«, sagt Varus. »Da wäre noch etwas?«
Die hohen Bäume füllen sich mit Licht wie bunte Kirchenfenster, die Sonne, knapp über dem Nebelstreif des Horizonts, macht Nel‐ ken und Astern lange Schatten, und auch den Steinen am Weg. La‐ butzke kennt den Park, erstaunt darüber, wie er hierherkommt, blickt er sich um, unmittelbar hinter ihm endet die Spur der Rikscha, vom Fahrzeug nichts zu sehen und auch der Gast verschwunden, er ist allein. Auf der Hügelkuppe vor ihm eine Kapelle aus Felsstein, mit rotem Holzturm, das Glöckchen schwingt, und doch nichts zu hören, keine Geräusche, Leute kommen aus der Kirche und gehen durch den Park, sich tonlos unterhaltend, stumm steigen Krähen auf. Varus folgt neugierig der seltsamen Prozession. Die kleine Versammlung bleibt an einer offenen Grube stehen, Weißbestrumpfte tragen einen Sarg heran, setzen ihn ab, da hört er das Holz auf nasser Erde knirschen, ein berstender Laut. Hinter ihm sagt eine Frau: »Haben Sie ihn gut gekannt?« Er schluckt: »Wen?« »Den Toten.« »Den Toten?« sagt er flatternd, wendet sich um, sie erschrickt. »O Gott – wie ist das möglich – Sie?« Fängt sich und sagt: »Frappierend, diese Ähnlichkeit! Sind Sie verwandt?« Er ist nicht weniger überrascht, vor ihm steht Julia, der schwarze Hut beschattet ihr frisches, leuchtendes Gesicht, er stottert: »Ver‐ wandt mit wem?« Sie lächelt breit. »Seltsam, wie Sie ihm ähneln, aber das wird man Ihnen wohl schon oft gesagt haben. Verzeihen Sie, ich war so froh, daß dieser schlimme Mensch nun endlich von uns genommen wur‐ de – da stehe ich vor seinem Doppelgänger!« Sie betrachtet ihn ein‐ gehend wie eine Puppe aus einem Wachsfigurenkabinett. »Es ist ihm zuzutrauen, daß er Sie engagiert hatte, um seine finsteren Ge‐ schäfte in aller Heimlichkeit abwickeln zu können. Hat er Sie gut bezahlt fürs Schweigen?« Tritt einen Schritt zurück. »Oder am Ende auch betrogen wie uns alle?« Und heftig sagt sie: »Varus Labutzke, COOL INTERNATIONAL, ich dachte, du stirbst nie! Wie eine Pest
saß er an dieser Küste, sein Pesthauch reichte bis in fernste Länder, wer einmal von ihm gezeichnet war, erholte sich nicht mehr.« Vorsichtig antwortete er: »Sie hassen ihn.« »Und ob ich ihn hasse!« Sie sagt: »Er war wie eine Heimsuchung.« Und dann: »Ich muß es wissen, denn ich war seine Frau.« Gemurmel hinter ihnen, rings um die Grube nehmen die Männer ihre Hüte ab, verschränken die Hände, verspätet überquert ein Teil‐ nehmer den Friedhof. »Ich bin die zweite Frau Labutzke«, erzählt sie weiter. »Weiß Gott! Man hatte mich vor diesem Kerl gewarnt. Er sei ein Egoist, gefühls‐ kalt, menschenverachtend. Das einzige, was er verehrt, sei der Pro‐ fit, ich hörte nicht auf diese Vorhaltungen. Liebte ihn von ersten Augenblick an, ich war halsstarrig jung.« »Sie waren die Erbin des Mailänder Familienbetriebes«, sagt er. »Ich wußte, daß Sie mich kennen! Wo hat der Schuft Sie so lange vor uns versteckt? Wär’s möglich, daß es Sie die ganze Zeit über gab, auch damals, als wir heirateten? Vielleicht sind Sie… bin ich… wir beide…«, blaß wird sie, preßt die Finger auf den Mund, dann lacht sie mächtig. Er starrt sie an, plötzlich lacht er mit, da stehen sie und schütteln sich, »ein Meistercoup!« ruft er, und sie: »Ich traue es ihm zu, der Teufel war zu allem fähig!« Der Mann, der als letzter kam, bleibt neben ihnen stehen: Es ist Labutzkes Besucher. Lüftet den Bowler, sagt: »Guten Morgen!« Julia, noch fröhlich atemlos: »Ich war entsetzlich dumm, aber meinte, es besonders klug zu machen. Labutzke hatte uns ruiniert und stürmte nun die Burg. Dieser Mann, der wie ein Eroberer in unsere Familie platzte, beeindruckte mich gewaltig. Um scheinbar auf die Warnungen einzugehen, ließ ich von unserem Notar in den Vertrag schreiben, daß der Kauf nur gültig sei, wenn ich Labutzkes Frau würde.« »Ein solcher Vertrag wäre nichtig«, sagt der Besucher. »Aber Varus unterschrieb!« gibt sie zurück. »Und hielt sich dran!« Sie sagt: »Ich dachte, ich hätte ihn besiegt, zu spät erkannte ich, daß
er sich mit mir eine hörige Angestellte in die Konzernleitung geholt hatte.« Labutzke reckt sich: »Er verband stets das Angenehme mit dem Praktischen. Das gelingt ihm wie keinem anderen. Er ist ein ganzer Kerl.« Julia, Wuttränen in den Augen: »Ein Scheusal!« Der Besucher beugt sich vor. »Sie sagten, Sie liebten ihn. Wie soll ich die Beschimpfungen verstehen?« »Er hat den fatalen Vertrag nur akzeptiert, um ihn geheimzu‐ halten. Er wollte sich in der Öffentlichkeit nicht dem Gerede ausset‐ zen, es sollte wie ein makelloses Geschäft aussehen. Und als die Ge‐ legenheit günstig war, schob er mich wieder ab, er hat sich meiner bedient wie eines kurzfristig notwendigen, aber überflüssigen Bankwechsels.« Sie zögert, blickt hinab zum Meer, zwischen Birken hängt das Morgenlicht. »Ich war bereit, ihm alles zu verzeihen, so‐ gar die Eigenart, daß er mir junge Männer vorzog. Ich hielt ihm vor, daß ich ihn überrumpelt hätte, und trieb mich an, ihn und mich zu bessern.« Schrill sagt sie: »Ihn bessern! Einen lächerlicheren Entschluß konnte es nicht geben!« Der Besucher, sehr interessiert: »Sie meinen, seine Un‐ menschlichkeit war übergroß?« »Schluß jetzt!« sagt Varus. »Können Sie – außer vagen Vorwürfen – die Beschwerde for‐ mulieren?« fragt der Besucher auffallend gestelzt. Varus, heftiger: »Schluß mit dem Getue!« »Eine Beschwerde?« sagt Julia. Der Fremde: »Etwas von Gewicht.« Über ihr gerötetes Gesicht senkt sich Stille. »Jetzt, wo Labutzke tot ist? Ich möchte ihm nichts nachtragen.« »Wirklich!« sagt Varus, »ein makabres Spiel! Beschäftigen Sie bei MANAGEMENT & CONSULTING noch mehr Spötter Ihrer Art?« »Sie irren«, sagt der Fremde. »Ich bin nicht der, für den Sie mich halten.«
»Nicht? Aber…« »Obwohl – geben Sie’s zu – Sie mich erwartet hatten.« »Wie war es möglich, daß Sie…? Wie konnten Sie die Werks‐ kontrollen überlisten? Das System ist garantiert geheim – ist un‐ bestechlich…« Der Fremde sagt: »Ich komme überall.« Labutzke, stockend: »Wer sind Sie?« »Der zu jedem kommt.« »Wer?« »Der Knopfgießer.« Jetzt erinnert er sich: Dieses Wort gebrauchte Emilio, als er ihn mel‐ dete. »Pfui Teufel!« »Ach Unsinn!« erwidert der Besucher. »Den brauchen wir höchst selten zu bemühen, die Hölle ist nur für die wirklich großen Täter. Die meisten Menschen haben ihr Leben lang von kleineren und grö‐ ßeren Gelegenheiten gelebt, sie nahmen, weil sich’s bot, und taten, weil’s nun mal grade üblich war. Wo gab es denn die wahrhaft böse Absicht?« »Sie meinen: Sie prüfen, was gut und böse war in einem Leben?« »Haben wir das in den vergangenen beiden Tagen nicht getan?« »Wir?« sagt Labutzke. »Sie prüften mich?« Der Besucher seufzt. »Fast immer treffe ich Fälle für meinen Löffel. Menschen, nicht richtig Mensch geworden, werden aussortiert und umgeschmolzen, fehlerhaftes Material – nicht wahr, Sie nannten diesen Vorgang recycling, Mr. Bigboss.« »Löffel?« sagt Varus. »Umgeschmolzen? Nichts würde von mir bleiben?« »Wozu? Keiner verflucht Sie, keiner weint Ihnen nach.« Labutzke starrt auf die Versammlung, auf den Sarg. »Emilio!« schreit er. »Was würde aus ihm werden, er kann nicht leben ohne mich.«
»Ach je!« sagt der Besucher. »Immer die gleiche Leier. Begreifen Sie denn überhaupt nichts?« Nimmt seinen Arm und zieht ihn mit‐ ten in die Trauergemeinde, am Kopf des hochgeschmückten Grabes steht Emilio, in feinenglischem Anzug, herrisch. »… verabschieden wir uns von einem wahren Menschenfreund«, sagt er gerade, »einer bedeutenden Persönlichkeit des Wirtschaftsle‐ bens, ohne den diese Region weit hinter dem industriellen Fort‐ schritt zurückgeblieben wäre. Seine Exportwunder trugen zur Ge‐ sundung unserer Zahlungsbilanz bei. Die Steuern, die aus seinen Unternehmen flossen, machten die Gemeinden reich. Seine mutige Expansion in die ärmsten Länder dieser Welt half mit, den Hunger in Asien, in Afrika und Südamerika zu bekämpfen.« Emilio Martens, nicht Butler, nicht Privatsekretär: Um die Rolle zu studieren, die er jetzt spielt, hatte er wohl Gelegenheit. Kannte jede Planung, alle Gespräche, jeden Abschluß, ihm waren Bankiers, Poli‐ tiker und Geschäftspartner vertraut, lange vor Labutzkes Stunde ging bei COOL INTERNATIONAL nichts mehr ohne ihn, die Sekre‐ tariatskanzlei war zum Hauptkontor geworden. »Er wirkt so fremd!« stutzt Varus. Der Besucher sagt: »Hören Sie ihm zu!« »Aber…«, flüstert Labutzke, »er hält eine Grabrede!« »Selbstverständlich.« »Auf wen? Wer ist dort in dem Sarg?« »Sie!« sagt der Gast. Emilio redet: »Varus Labutzke hat sein Haus bestellt. Er hat sich in keine Wirtschaftsabenteuer eingelassen, die nach seinem Tod zu ruinösem Abbau hätten führen müssen. Die Auftragsbücher stehen voll, die Bilanzen des Konzerns können sich sehen lassen.« Er wen‐ det sich an die Versammelten. »Ich habe, als ich vorgestern vom Aufsichtsrat zum Nachfolger bestimmt wurde, den Aktionären eine Ausschüttung von zwölf Prozent in Aussicht stellen können. Und auch für die, die Jahrzehnte mit diesem Haus als Arbeiter und An‐ gestellte verbunden waren und heute mit uns trauern, gibt’s eine
gute Mitteilung: Ich ließ außertariflich vereinbaren, daß ab sofort die Löhne in Übersee um ein Prozent erhöht werden. Daß wir das kön‐ nen, verdanken wir dem Dahingeschiedenen, unserm bisherigen Patrao. Ein ehrendes Andenken gebührt ihm, dem großen Sohn die‐ ser Stadt.« Einige gehen bereits, die weißbestrumpften Träger greifen die Sei‐ le, heben den Sarg in die Gruft, der Besucher rückt am Bowler, packt Labutzkes Ärmel, sagt: »Wird Zeit für uns!« Varus reißt sich los. »Emilio!« ruft er bebend. »Unser Flug! Du hast doch nicht vergessen, daß wir – Emilio! Die Hazienda wartet. Wir wollen in deine Heimat, zurück nach Rio, komm endlich, Junge, komm!« Doch der sieht ihn nicht, bückt sich, nimmt eine Handvoll Erde, wirft sie ins Grab und geht, am Friedhofsausgang steht ein Livrier‐ ter und hält ihm den Schlag der Cheflimousine. »Hier entlang!« sagt der Besucher. Und noch: »Einen Augenblick lang glaubte ich, Sie wären ne Nummer zu groß für mich.« Lacht, öffnet den Koffer und zieht den Schmelzlöffel heraus.
Nachwort
Social fiction »Unmöglich!« sagte der kaiserliche Reichsverweser. Der Direktor der Hof‐ akademie leckte den verehrungswürdigen Boden. »Aber die Ergebnisse der Allgemeinen Verhaltenstheorie sind in jedem Punkt bestätigt!« flüsterte er. »Der Allwissende Computer sagt: Wenn Sie die Untertanen Bücher lesen lassen, werden sie friedlich. Sie ziehen sich in eine Traumwelt zurück.« – »Wenn sie erst lesen können, werden sie nachdenken. Wer denkt, zettelt Rebellionen an«, polterte der Mächtige. Der Direktor legte den mathema‐ tisch geordneten Bericht vor. »Zehn Jahre Experimentalforschung mit Tief‐ seekraken«, hauchte er. – »Und keine Abweichungen? Was Sie berichten, ist pure science fiction!« – »Es ist wissenschaftlich erwiesen«, sagte der Di‐ rektor stolz und strich sich mit seinen Tentakeln über den schwabbligen Kopf... Eine Anekdote, die nichts besagt? Jedenfalls, das Wort Science Fic‐ tion wurde schon immer und überall mißverstanden. Noch heute gilt es als Eintrittskarte zum Panoptikum schleimiger Monster und Denkmaschinen, galaktischer Imperatoren und teuflischer Wissen‐ schaftler. Und: Der Science Fiction wird vorgeworfen, den techni‐ schen Fortschritt zu verherrlichen und feudalistische und militaristi‐ sche Gesellschaftsformen zu idealisieren. Aber die Pforte zu diesem Panoptikum ist längst von Spinnweben überzogen, Staub bedeckt Dr. Frankensteins Kinderschrecken und die Mondraketen Jules Vernes. In einer Zeit, der die atomare Ver‐ nichtung droht, ist technischer Fortschritt kein Ausstellungsstück mehr, und es hat keinen Sinn, Haudegen und Laborverbrecher be‐ staunen zu lassen, während viele Völker dieser Erde von Militärs unterdrückt werden und aufgeklärte Regierungen sich teuflischer Wissenschaftler bedienen. Die Gegenwart hat Gruselmärchen und Raketenträume überholt, noch während sie aufgeschrieben wurden.
So wie der Tag kam, als das Maschinenzeitalter die romantischen Dichtungen E.T.A. Hoffmanns und Edgar Allan Poes aus der fantas‐ tischen Literatur verscheuchte, ging eines schlimmen anderen Tags der Glaube an den Fortschritt im Entsetzen von Hiroshima und Auschwitz verloren. An der Gegenwart zündet jede Literatur, aber immer meint man, in der Science Fiction, nur weil sie die Zukunft beschriebe, wär’s nicht so. Sie beschreibt die Zukunft nicht, ebensowenig wie ein his‐ torischer Roman die Vergangenheit; Gegenwart hospitiert am Hof Ludwigs XIV. so wie in Planetopolis im Sternbild Alpha Centauri. Könnten wir sie abstreifen wie ein vernutztes Nachthemd? Ge‐ genwart ist das einzige, das um uns und mit uns wirklich existiert, so eine Art realer Moment im Zeitfeld, das wir, je nach Blickrichtung, mal Vergangenheit, mal Zukunft nennen. Beides gibt’s nur in unserer Erinnerung – soll ich sagen: in unserer Fantasie –, denn bei jedem JETZT haben wir Vergangenheit gerade verlassen, nie werden wir Zukunft erreichen. (Allerdings hat uns die Gier nach mathemati‐ scher Ordnung verleitet, das Zeitfeld in willkürlich gesetzte Takte zu zerstückeln, die wir als Sekunden, Minuten bezeichnen und die sich bestenfalls zum Eierkochen eignen, nicht, um Zeit zu erfor‐ schen. Da haben wir aus metrischer Wut irgendwo in diesem Zeit‐ feld den Beginn der Zeitrechnung plaziert, schon sagt die Zahl »1900« Vergangenheit, die Zahl »2100« Zukunft, hoppla, so praktisch ist das. Wenn sich nicht Herr Einstein geräuspert hätte, Zeit sei doch wohl nicht so absolut, wie wir’s auf unseren Forschungsplänen gern hät‐ ten, würden wir – seit unserer Kindheit an Explosionen gewöhnt – immer noch meinen, wir seien die Nachfahren eines mystischen Urknalls, an dem alle Zeit begann und mit dem der Einfachheit hal‐ ber auch alle Zeit endet.) Science Fiction hat mit Zukunft so wenig zu tun wie der Kra‐ kendirektor mit Planetopolis, sie ist eine Methode, Gegenwärtiges zu verdauen. Als man noch an den Triumph technischer Machbar‐ keit glaubte, produzierte Science Fiction bestaunenswerte Atom‐U‐
Boote und Killersatelliten und Polizeicomputer. Als sich abzeichne‐ te, dies könne direktenwegs in den totalen Staat führen, präsentierte Science Fiction eine »brave new world«, die Unterdrückung von »1984« und die Zerstörung des Individuums durch das »Wir«. Heu‐ te, aufgeschreckt von A‐B‐C‐Waffen, ahnt man die Vernichtung des Globus, und Science Fiction malt die Apokalypse. Science Fiction ist eine Was‐wäre‐wenn‐Methode, wobei das Wenn auf analytische (scientific) Weise bestimmt wird. (Ich habe damit den vielen SF‐Definitionen noch eine beschert, ärgerlich, da müssen manche Aufsätze umgeschrieben werden, besonders, weil ich mit scientific nicht nur naturwissenschaftliche Analyse meine. Bei Tho‐ mas Morus, der für lange Zeit einem Teil der fantastischen Literatur die Kennmarke utopisch verpaßte, war’s die Philosophie. Clive Staples Lewis hatte theologischen Spaß am engelvollen Weltraum »jenseits des schweigenden Sterns«. Und marxistische Gesell‐ schaftswissenschaft brachte H.G. Wells dazu, seinem Reisenden der »Zeitmaschine« die krassen Folgen der Verelendung der arbeiten‐ den Klasse zu zeigen.) Was‐wäre‐wenn ist eine Spekulation über die Gegenwart, Beschreibung der Menschen von heute in einer Fanta‐ siewelt von morgen. Könnten JETZT Menschen mit Überlichtge‐ schwindigkeit die Galaxien durchstreifen, was wäre? Würde JETZT eine Diktatur die Gehirne der Menschen mit PSI‐Kräften gefügig machen? Könnte man JETZT dem fast schon verwüsteten Planeten entfliehen und eine Oase hinter der Sonne finden – was wäre wenn? Das ist Erschrecken, weil man ohnmächtig ist. Das ist Furcht vorm Ich‐Verlust. Das ist Wunsch nach exotischen Abenteuern. Nichts davon hat mit Zukunft zu tun, über die wir eher was beim Kartenlegen erfahren würden. Warum ich der Science Fiction‐Methode anhänge? Weil die fantas‐ tische Literatur wie keine andere die Kanten und Schnörkel der menschlichen Seele beleuchten kann. Plötzlich, wie in der Geister‐ bahn, blitzen skurrile Lichtschatten vor uns auf, das, was wir schon
immer über die anderen wissen wollten. Und wir selber kuscheln uns ins Wagenpolster und bleiben im Dunkeln… Da muß sich Kriminalliteratur mit ihren schönsten Thrillern auf das Gebiet des positivistischen Rechts beschränken, Norm‐ verletzung als Konfliktstoff; mir würden da ganz wesentliche Schat‐ tierungen fehlen. Oder das große historische Epos, die Space Opera in Shakespearekostümen: Trotz allen Wunschkolorits, trotz immer neuer Deutungen der Taten unserer Vorfahren und trotz manch braver Geschichtsklitterung hat es weit weniger Möglichkeiten, da wird Fantasie schnell durch vorhandene Kulissen eingeengt. Weil der Mensch und weil die Gegenwart so fantastisch sind, ist die fantastische Literatur ihr bester Spiegel. Zwischen Alpha Cen‐ tauri und Psionen begegnet der Leser seinen eigenen Hoffnungen, Sehnsüchten, Ängsten und Unzulänglichkeiten, bunt verpackt und mit dem freundlichen Schwindeletikett beklebt, das sei erst morgen. (Mit dieser Bemerkung will ich schleunigst die Tür zur Werkstatt eines SF‐Schreibers wieder schließen, immerhin möchte ich noch viele und hoffentlich bunte Geschichten schreiben und nicht mit dem langweiligen und verwirrenden Arsenal tingeln gehen, das zur Herstellung nötig ist.) Warum ich es social fiction nenne? Eigentlich ist dazu alles gesagt. Oder? Haben sich die social sciences nicht im Chor der Wis‐ senschaften gemausert: Soziologie, Psychologie, Politologie, zuletzt die Parapsychologe, alle anfangs belächelt, oft absichtlich vergessen, beschimpft und doch immer wieder benutzt? Inzwischen sind viele ihrer Erkenntnisse so verbreitet wie das Prinzip des Otto‐Motors. Mensch und Gesellschaft wurden Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, was lag näher, als die analytische Weise der Sozialwis‐ senschaften zu nutzen, wenn ich frage: Was wäre wenn? Was wäre, wenn eine Rechtsform, von heutigen Idealen geprägt, Wirklichkeit würde, hätten wir deshalb ein anderes Rechtsverhält‐ nis? Was wäre, wenn sich unsere Wut und Wünsche in den Kräften
einer Pflanze… halt! Die Geschichten stehen in diesem Buch, in jeder geht ein fantastischer Alltag zu Ende: Morgen. Jetzt. JETZT.