Thomas Jeier
Emmas Weg in die Freiheit
UEBERREUTER
ISBN 3-8000-5234-2 ISBN 978-3-8000-5234-9 Alle Urheberrechte, in...
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Thomas Jeier
Emmas Weg in die Freiheit
UEBERREUTER
ISBN 3-8000-5234-2 ISBN 978-3-8000-5234-9 Alle Urheberrechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung, Verbreitung und öffentlichen Wiedergabe in jeder Form, einschließlich einer Verwertung in elektronischen Medien, der reprografischen Vervielfältigung, einer digitalen Verbreitung und der Aufnahme in Datenbanken, ausdrücklich vorbehalten.
Umschlaggestaltung von Init, Büro für Gestaltung, Bielefeld, unter Verwendung von Fotos von Getty Images (Mädchen) und Corbis (Freiheitsstatue; Arbeitsraum). Copyright © 2006 by Verlag Carl Ueberreuter, Wien Druck: Friedrich Pustet, Regensburg Ueberreuter im Internet: www.ueberreuter.at
New York, 1909: Die 17-jährige Emma ist gerade aus Deutschland eingewandert, aber die verheißungsvolle Neue Welt erweist sich als hartes Pflaster. Der junge Mann, den sie auf dem Schiff kennen gelernt hat, ist spurlos verschwunden. Und erst nach langem Suchen gelingt es ihr, Arbeit in einer Nähfabrik zu finden. Dort werden die Mädchen erbarmungslos ausgebeutet. Doch gemeinsam mit den anderen Näherinnen wehrt Emma sich gegen die unmenschlichen Arbeitsbedingungen. Sie kann nicht ahnen, dass sie einer Katastrophe entgegensteuern. Vor dem Hintergrund des historischen Arbeitskampfes erzählt Thomas Jeier die Geschichte der jungen Emma, die in einer unruhigen Zeit um ihr Lebensglück und eine selbstbestimmte Zukunft kämpft.
Für meine Mutter
»Die Bosse in den Nähfabriken sehen die Mädchen als Teil ihrer Maschinerie an. Sie schreien sie an und stoßen sie schlimmer herum, als man es wohl mit den Negersklaven im Süden gemacht hat.« Clara Lemlich
1
Der Mond hatte sich hinter den Wolken verkrochen, als Emma aus dem Fenster kletterte und das Haus ihres Onkels für immer verließ. Sie rannte an der Scheune vorbei, kletterte über den Zaun und floh über den Kartoffelacker zum Waldrand. Im Schutz der Bäume blickte sie voller Angst zum Dorf zurück. Erleichtert stellte sie fest, dass in keinem der Häuser ein Licht aufgeflammt war. Es gab keine aufgeregten Stimmen und kein lautes Hundegebell. Anscheinend hatte niemand ihre Flucht bemerkt. Sie rannte weiter, floh über den schmalen Pfad, den sonst nur Holzfäller und Jäger benutzten, und hielt sich abseits der Landstraße, um keinen Reisenden zu begegnen. Dies war das Jahr 1909, und ein siebzehnjähriges Mädchen, das allein unterwegs war, hätte sogar tagsüber Verdacht erregt. Immer wieder drehte sie sich um. Wenn sie Glück hatte, würde man ihr Verschwinden erst am Morgen bemerken. Doch bis dahin wollte sie längst über alle Berge sein. Bis nach Hamburg waren es ungefähr dreißig Kilometer. Wenn sie sich anstrengte, konnte sie die Strecke in zwei Tagen schaffen. Letzten Sommer, als sie zu einer Kusine ihres Onkels in die Nordheide gefahren waren, hatte sie sich den Weg genau eingeprägt. Die Angst, von ihrem Onkel zurückgeholt zu werden, trieb sie vorwärts. Sie wollte nicht mehr zu ihm. Schon vor sieben Jahren, wenige Monate nachdem ihre Eltern in einem großen Feuer umgekommen waren und sie zu ihm gebracht worden war, hatte sie beschlossen, nur so lange wie unbedingt nötig bei ihm zu bleiben. Ihr Onkel hatte sie wie eine Sklavin
behandelt. Sie musste im Stall und auf dem Acker arbeiten, und abends verlangte ihre Tante, dass sie beim Aufräumen in der Küche half. Ihr Geburtstag wurde überhaupt nicht gefeiert und zu Weihnachten gab es lediglich etwas Stoff zum Nähen oder neue Sohlen für ihre Schuhe. Das Buch über den Ritter Ivanhoe hatte sie vom Pfarrer bekommen. Noch schlimmer war jedoch, was vor zwei Monaten passiert war. Ihr Onkel hatte sich von hinten an sie herangemacht und mit beiden Händen ihre Brüste umfasst. Sie war weinend davongelaufen, doch er hatte sie eingeholt und ihr gedroht sie so zu verprügeln, dass sie es niemals vergessen würde, wenn sie ihn verriete. Sie blieb auf einem Hügel stehen und ließ sich den kühlen Nachtwind ins Gesicht wehen. Das Frühjahr kam diesmal spät. Um sie herum herrschte tiefe Nacht. Es roch nach Regen, ein Segen für die vielen Bauern in dieser Gegend und gefährlich für sie, weil sie abseits der befestigten Straßen bleiben musste. Wenn sie bis zu den Knöcheln im Schlamm einsank und wie eine schmutzige Landstreicherin nach Hamburg kam, würde die Polizei sie anhalten und zu ihrem Onkel zurückschicken. Sie war noch nicht volljährig und hatte sich den preußischen Gesetzen zu beugen. Ihr Onkel besaß eine schriftliche Bestätigung über das Sorgerecht. Leicht geduckt hastete sie am Waldrand entlang. Ihr Plan bestand darin, nachts zu laufen und tagsüber in irgendeiner Scheune zu schlafen, um möglichst ungehindert nach Hamburg zu kommen. Seitdem sie beschlossen hatte, ihrem Onkel und ihrer Tante wegzulaufen, hatte sie jeden Pfennig, den sie verdient oder geschenkt bekommen hatte, zur Seite gelegt. Jetzt waren hundert Reichsmark in dem Lederbeutel, den sie aus dem Versteck im Stall geholt und zu den Vorräten in ihren Rucksack gepackt hatte. Genug für eine Fahrkarte nach Amerika. Das wusste sie aus einem Artikel im Lüneburger
Tageblatt, den sie in der Kirchenbibliothek gelesen hatte. Bis zum Tod ihrer Eltern war sie zwei Jahre auf der Schule gewesen und konnte gut lesen und schreiben. Sehr zum Leidwesen ihres Onkels, der sie sofort abgemeldet hatte, wegen des hohen Schulgeldes und weil es sich für ein Mädchen angeblich nicht lohnte, seine Energie für sinnlose Bildung zu verschwenden. Irgendwann würde sie heiraten, hatte er stets betont, und dann waren ganz andere Tugenden gefragt. Sie erreichte den Nachbarort und blickte enttäuscht auf die dunklen Häuser und den Kirchturm. Das Dorf lag nur vier Kilometer vom Bauernhof ihres Onkels entfernt und sie war bereits seit über einer Stunde unterwegs. Wenn sie nicht schneller lief, würde sie eine ganze Woche für den Marsch nach Hamburg brauchen. Sie beschleunigte ihre Schritte und lief in einem weiten Bogen um das Dorf herum. Ungefähr einen Kilometer weiter nördlich erreichte sie die Landstraße nach Hamburg. Zu beiden Seiten der Straße erstreckten sich Kartoffelfelder. Die Gefahr, auf dem flachen Land entdeckt zu werden, war groß, aber sie musste das Risiko eingehen, wenn sie nicht einen Umweg von mehreren Kilometern in Kauf nehmen wollte. Entschlossen lenkte sie ihre Schritte nach Norden. Tief geduckt und beide Daumen hinter die Riemen ihres Rucksacks geschoben, rannte sie durch die Nacht. Als ein kleiner Hase dicht vor ihr über eine Furche sprang, schrie sie vor Angst auf und blieb wie erstarrt stehen, darauf gefasst, im nächsten Augenblick die aufgeregten Stimmen einiger Dorfbewohner zu hören. Doch niemand hatte sie bemerkt. Sie blieb eine Weile auf der Landstraße, um schneller voranzukommen, und lief erst über die Felder nach Nordwesten, als sie eine Abkürzung durch einen Wald nehmen konnte. Obwohl es zwischen den Bäumen beinahe stockdunkel war, fühlte sie sich dort wohler. Im Wald
wurde sie bestimmt von niemandem entdeckt. Sie blieb einen Augenblick stehen, ließ die unheimliche Stille auf sich wirken und marschierte zielstrebig über einen Wildwechsel. Einmal hörte sie ein Geräusch. Sie blieb sofort stehen, aber es war nur ein Reh, das ihren Weg kreuzte und erschrocken im Unterholz verschwand. Ungehindert erreichte sie das andere Ende des Waldes. Gegen Morgen, als die ersten hellen Streifen am östlichen Himmel zu sehen waren, erreichte Emma das Ufer der Elbe. Der Fluss schimmerte silbern im Morgengrauen. Sie atmete die frische Luft ein, die über den Fluss kam und schon nach Meersalz roch, und lächelte zufrieden. Wenn sie in der nächsten Nacht genauso gut vorankam, würde sie am Vormittag Hamburg erreichen. Aus dem Artikel im Lüneburger Tageblatt wusste sie, dass sich alle Passagiere, die mit dem Schiff nach Amerika fahren wollten, in den Auswandererhallen auf der Veddel einzufinden hatten, einer Elbinsel abseits der Stadt. Dort musste man sich einer Gesundheitsuntersuchung unterziehen und einige Tage bleiben, bis man an Bord gelassen wurde. Die meisten Passagiere waren jüdische Auswanderer aus dem Osten, und die Behörden hatten Angst, dass sie Seuchen einschleppten oder auf die Schiffe brachten. Emma hatte ihre Papiere aus der Schublade genommen, in der ihr Onkel alle Dokumente aufbewahrte, und ihr Geld reichte für den Aufenthalt in den Auswandererhallen und die Fahrkarte für die Überfahrt. Die einzige Gefahr war, dass ihr Onkel die Polizei alarmierte und man sie verhaftete, bevor sie an Bord gehen konnte. Doch sie hatte niemandem verraten, dass sie nach Amerika gehen würde. Niemand wusste von ihrem Plan, den sie schon vor einigen Jahren gefasst hatte, als sie die Bildpostkarte beim Apotheker gesehen hatte. Auch er sprach ständig davon, nach Amerika zu gehen, obwohl er
wusste, dass er viel zu feige für ein solches Abenteuer war. Er hatte eine Frau und zwei Kinder und gehörte zu den angesehensten Bürgern des Dorfes. Warum sollte er auswandern? Amerika, das Land der Freiheit. Das Paradies auf Erden, in dem es keine Armut und keine Unterdrückung gab. So stand es auf den Plakaten der Gesellschaften, die für eine Auswanderung warben. Dort würde sie endlich auf eigenen Füßen stehen. Niemand würde sie wie eine Sklavin behandeln oder unsittlich berühren. In Amerika, so hieß es, hatte jeder Bürger die gleichen Chancen, wurde kein Unterschied zwischen einem armen Bauernmädchen und der Tochter eines Kontorvorstehers gemacht. Sie würde ihr eigenes Geld verdienen, in ihrem eigenen Zimmer wohnen, und wenn sie einmal heiratete, würde sie nicht so abhängig von ihrem Mann sein wie ihre Tante, die ihrem Gatten hilflos ausgeliefert war. Ihre Tante war nie zur Schule gegangen hatte nie einen Beruf erlernt und war gar nicht imstande sich selbst zu ernähren. Einmal hatte sie von einem Stiefbruder erzählt, einem gewissen Heinrich Rink, der schon im letzten Jahrhundert nach Amerika ausgewandert war und angeblich ein Eisenwarengeschäft in New York führte. Sie hatte nie mehr von ihm gehört, aber in ihren Augen war ein verräterisches Glitzern gewesen, als sie seinen Namen genannt hatte. Sie wäre wohl auch gerne nach Amerika gefahren. Noch bevor die Sterne vom Himmel verschwanden, versteckte Emma sich im Schuppen eines Bauern. Das baufällige Gebäude erhob sich am Rand einer großen Wiese, auf der im Herbst wohl Heu gemacht wurde. Bis auf ein paar Heuballen und einige Geräte, die an den Wänden lehnten, war der Schuppen leer. Eine morsche Leiter führte auf eine Plattform an der Stirnseite empor. Sie verkroch sich zwischen die Heuballen und setzte ihren Rucksack ab. Darin waren
etwas Käse und Speck, ein Stück Brot, ihr Sonntagskleid, frische Unterwäsche und das Buch über Ritter »Ivanhoe«, das sie mindestens zehn Mal gelesen hatte und unterwegs wieder lesen würde. Außerdem eine Flasche mit kaltem Tee und der Beutel mit dem Geld. Die Vorräte hatte sie heimlich aus der Küche gestohlen, während ihre Tante zu Bett gegangen war. Schließlich aß und trank sie etwas, legte sich zwischen die Heuballen und bettete ihren Kopf auf den fest verschnürten Rucksack. Sie schlief sofort ein und träumte von den Hochhäusern, die sie auf der Bildpostkarte des Apothekers gesehen hatte. Gegen Mittag, als die ersten Regentropfen auf das Holzdach trommelten, schreckte sie aus dem Schlaf. Sie brauchte einige Zeit, um sich zu orientieren. Die Tür war aufgegangen und klappte im böigen Wind auf und zu. Durch den Spalt sah sie die Bäume am Flussufer als dunkle Schatten in den Regen ragen. Zitternd hielt sie ihren wollenen Mantel am Kragen zusammen. Zum ersten Mal, seitdem sie geflohen war, beschlich sie die Angst vor einem Scheitern ihrer Flucht. Erst in diesem Augenblick schien ihr klar zu werden, welches große Wagnis sie eingegangen war. Ein siebzehnjähriges Mädchen, allein auf dem Weg in eine fremde Welt! Selbst mit einem Erlaubnisschreiben ihrer Pflegeeltern und einer Fahrkarte wäre sie nicht sicher gewesen. Frauen reisten nicht allein und Mädchen schon gar nicht. Sie fuhren nicht mal allein nach Hamburg. Würde sie es schaffen, eine Fahrkarte zu kaufen und in die Auswandererhallen zu kommen? Sie war hübsch. Wenn sie den Knoten löste, der ihre honigblonden Haare zusammenhielt, sogar sehr hübsch. Aber was spielten ihr Aussehen und ihre leuchtend blauen Augen für eine Rolle, wenn sie in einem Mantel, der an mehreren Stellen geflickt war, und abgelaufenen und dreckverschmierten Schuhen zum Schalter kam?
Ein Mann betrat den Schuppen. Emma blieb vor Schreck der Atem stehen und sie presste rasch eine Hand vor den Mund, um nicht laut loszuschreien. Er verschloss die Tür und blieb schnaufend stehen. Wie Espenlaub zitternd beobachtete sie, wie er sein Bündel von der Schulter nahm und auf den Boden fallen ließ. Er schlug fröstelnd die Hände gegeneinander. Er war jung, höchstens drei oder vier Jahre älter als sie. Sein Regenmantel, den er bis zum Hals geschlossen hatte, spannte sich über seinen Muskeln. Sein Gesicht war kantig, die Nase etwas zu gebogen und der Mund zu schmal, aber in seinen Augen war ein Funkeln, das sie sofort für ihn einnahm. Er nahm seine Schirmmütze von den blonden Haaren und schlug sie gegen sein rechtes Bein. Mit dem linken Ärmel wischte er sich den Regen vom Gesicht. Als er den Arm herunternahm, entdeckte er sie. In einem Reflex griff er nach einer Mistgabel und stürzte sich auf sie. Mit einem ängstlichen Aufschrei rollte sie sich zur Seite. Er rammte die Mistgabel in den Boden, zog sie heraus und holte erneut aus. Gerade noch rechtzeitig hielt er inne. Verstört ließ er die Mistgabel fallen. »Ein Weibsbild!«, stieß er hervor. Emma sprang auf und funkelte den Mann wütend an. Noch unter Schock und in einer Mischung aus Angst und Wut fuhr sie ihn an: »Was fällt Ihnen ein? Wie können Sie es wagen, so etwas zu sagen? Ich bin Fräulein Emma Mahler und lasse mir von keinem dahergelaufenen Landstreicher sagen, dass ich ein Weibsbild bin!« Der junge Mann musste unwillkürlich grinsen. Er hatte wohl erwartet, dass sie sich über seinen Angriff mit der Mistgabel beschwerte und sich nicht über ein belangloses Wort aufregte. Er warf die Mistgabel auf den Boden. »Tut mir Leid, mein Fräulein. Woher sollte ich denn wissen, dass sich junge Damen in Scheunen verstecken?« Er streckte eine Hand aus und wollte
ihr vom Boden aufhelfen, aber sie lehnte wütend ab und stand allein auf. »Wer sind Sie? Und was wollen Sie hier?«, fragte sie wütend. Er grinste immer noch. »Ich bin der August. August Lutz aus Nördlingen in Bayern. Ich bin seit einigen Wochen unterwegs, und Sie müssen mir schon verzeihen, wenn ich etwas aufbrausend bin. Wäre nicht das erste Mal, dass mir ein Schlawiner in einer Scheune auflauert.« Er deutete zur Tür. »Wenn’s recht ist, ich bin vor dem Regen hierher geflohen. Ich hab nur den einen Mantel.« Sie entspannte sich und wischte mit beiden Händen das Stroh von ihrer Kleidung. »Tut mir Leid«, sagte auch sie. »Ich hab mich versteckt. Ich dachte, Sie sind der Bauer oder… oder ein Polizist.« »Seh ich vielleicht so aus?« Er kramte sein Rauchzeug aus der Jackentasche unter seinem Mantel und rollte sich eine Zigarette. »Sie haben doch nichts dagegen?« Er zündete sie an und rauchte genüsslich. »Ich bin Schreiner. Das heißt, ich war Schreiner, bis mir der Sohn des Bürgermeisters einen Diebstahl in die Schuhe schob und ich ihm so die Hucke voll schlug, dass ich bei Nacht und Nebel verschwinden musste. Oder meinen Sie, mir hätte jemand geglaubt? Jetzt geh ich nach Australien. Kennen Sie Australien? Da soll es so heiß sein, dass man auf den Steinen Spiegeleier braten kann!« Er paffte fröhlich. »Wollen Sie nach Hamburg?« »Amerika«, verbesserte sie ihn. »Da beschimpfen sie ein Mädchen wie mich nicht als Weibsbild, und wenn ich mich anstrenge, kann ich ein Geschäft aufmachen. In Amerika ist alles möglich.« »Haben Sie denn was gelernt?« »Ich kann lesen und schreiben, wenn Sie das meinen«, antwortete sie schnippisch. »Und ich habe keine Angst vor harter Arbeit. Ich habe nur was dagegen, dass man mich
ausnützt und wie eine Sklavin behandelt.« Sie hatte seltsamerweise Vertrauen zu dem jungen Mann gefasst und scheute sich nicht, ihm die Wahrheit zu sagen. »So wie es mein Onkel und meine Tante getan haben!« Sie erzählte ihm ihr ganzes Leben, verschwieg nur, dass ihr Onkel sie unsittlich berührt hatte, und verriet ihm sogar das Geheimnis, wie sie ausgerechnet auf Amerika gekommen war. »Und Sie?«, fragte sie schließlich. »Warum wollen Sie nach Australien?« Er zuckte die Achseln. »Im Nachbardorf gab es einen Mann, der ist nach Australien gegangen. Ich hab ihn in einem Wirtshaus getroffen. Er war ziemlich betrunken und schwärmte den ganzen Abend von Australien. Wie schön es da wäre und dass man da sogar im Meer baden könnte. Ich hab gedacht, er schneidet auf, aber dann ist er wirklich gefahren, und als dann die Sache mit dem Alois, dem Sohn des Bürgermeisters, passierte… nun ja, da dachte ich mir, versuchst es eben mal mit Australien. Da bist du weit genug von diesen Hornochsen weg. Haben Sie was zu essen?« Sie öffnete ihren Rucksack und schnitt ihm etwas Speck und Käse ab. Er verschlang beides gierig. »Mir sind die Vorräte ausgegangen«, entschuldigte er sich mit einem Blick auf sein Bündel. »Da sind nur mein Sonntagsanzug und mein Tagebuch drin.« »Sie führen Tagebuch?«, wunderte sie sich. Die Frage behagte ihm nicht. »So ähnlich«, wich er aus. »Ich schreib halt auf, was so passiert und wen ich unterwegs treffe.« »Schreiben Sie auch über mich?« »Mal sehen.« August verbrannte sich die Finger an seiner aufgerauchten Zigarette und ließ sie zu Boden fallen. Er trat sie mit dem Stiefel aus. »Haben Sie schon eine Fahrkarte?«, fragte er. »Nein. Und Sie?«
»Auch nicht. Ich hab nur die zwanzig Mark von meinem Großvater. Aber ich kenn einige Tricks, wie man daraus ein paar hundert Mark machen kann. Ist gar nicht schwer. Kann etwas dauern, aber das macht nichts.« Er blickte sie fröhlich an. »Haben Sie Geld?« Sie zögerte lange genug mit der Antwort, um ihm zu zeigen, dass sie das Geld für die Überfahrt besaß, und nickte widerwillig. »Ich hab mein ganzes Leben gespart und den Rest hat der Herr Pfarrer mir gegeben. Ich hab ihm nicht gesagt, wofür ich es brauche, aber er hat es mir trotzdem gegeben. Wenn ich’s mir recht überlege, ahnte er vielleicht sogar, dass ich weglaufen will. Er ist ein guter Mensch, der Herr Pfarrer. Er hat immer zu mir gehalten. Einmal war er sogar bei meinem Onkel und bat ihn, mich nicht so hart arbeiten zu lassen. Mein Onkel hörte natürlich nicht auf ihn.« »Wie mein Vater, der war auch so einer«, erwiderte August. Obwohl er kaum Geld besaß und nicht einmal etwas zu essen in seinem Bündel hatte, schien er sich keine Sorgen zu machen. »Der kannte nur seine Arbeit. Ich musste den ganzen Tag in seiner Schreinerei schuften, von frühmorgens bis spätabends, und wenn ich nach dem Abendessen ein Licht anzünden und noch etwas lesen wollte, sagte er: ›Bücher sind was für die Großkopferten. Wir sind einfache Leute. Wir brauchen keine Bücher. Wenn ich dich noch einmal beim Lesen erwische, setzt es eine Watsch’n, da kannst du dich drauf verlassen.‹ Von da an hab ich dann heimlich gelesen.« »Watsch’n?«, fragte sie verwundet. »Backpfeife«, erklärte er. »Ohrfeige.« Emma lächelte über seinen komischen Dialekt und wollte gerade etwas sagen, als das Rattern eines Fuhrwerks durch den Regen drang. Sie erschrak. »Wer kann das sein?«, fragte sie entsetzt.
August blickte erschrocken zur Tür. »Schnell! Da hoch!«, zischte er. Er deutete auf die morsche Leiter. »Nehmen Sie alles mit!« Er hob sein Bündel auf, wartete ungeduldig, bis sie den Rucksack gepackt hatte, und zog sie zur Leiter. Einer hinter dem anderen kletterten sie auf die Plattform. Sie verzogen sich in die hinterste Ecke und legten sich auf den Boden. »Kein Wort!«, warnte August sie.
2
Das Rattern des Fuhrwerks verstummte. Ein Pferd schnaubte und man hörte, wie jemand vom Wagen stieg. Eine Männerstimme im Hamburger Dialekt erklang: »So ein Schmuddelwetter hatten wir schon lange nicht mehr.« Eine andere antwortete: »Vetter Knut kommt noch früh genug zu seinen Waren. Ich hab keine Lust, die ganze Zeit durch den Regen zu fahren. Lass uns lieber eine rauchen. Ich hab die guten Zigarren von Onkel Wilhelm dabei. Hab ich beim Kartenspiel von ihm gewonnen. Ich hab geschummelt.« Die beiden Männer betraten die Scheune. Mit ihnen wehten Regen und kühle Luft herein. Nachdem sie die Tür fest zugedrückt hatten, blieben sie fröstelnd stehen. Der eine war ungefähr dreißig, ein stämmiger Mann mit einem dichten Schnurrbart und einer Schirmmütze auf dem kantigen Schädel. Der andere war etwas jünger und sehr hager. Beide trugen lange Regenmäntel, wie Emma sie an der Küste gesehen hatte. Der Ältere zog zwei Zigarren unter seinem Mantel hervor, reichte seinem Begleiter eine und riss ein Streichholz an. Sein Gesicht leuchtete im Feuerschein. Emma wagte kaum zu atmen. Sie lag flach auf dem Boden und spürte das kalte Holz und den Schmutz auf ihrer Wange. August lag dicht neben ihr. Sie nahm seinen warmen Atem wahr und sah sein aufmunterndes Lächeln, als sich ihre Blicke trafen. Es hätte nicht viel gefehlt und sie hätte nach seiner Hand gegriffen. Sie lächelte zurück. Obwohl sie ihn kaum kannte, war seine Nähe beruhigend. Der ältere Mann paffte genüsslich an seiner Zigarre. »So lass ich mir’s gefallen«, meinte er. »Zu Vetter Knut kommen wir
noch früh genug. Der hat sowieso zu viel Geld.« Er setzte sich auf einen Heuballen und fuhr mit einem Aufschrei wieder hoch. »He, was ist denn das?« Er zog ein kleines Messer aus dem Heu und betrachtete es misstrauisch. »Muss ein Landstreicher vergessen haben.« Der jüngere Mann ließ sich das Messer geben. »Riecht nach Speck! Der Kerl kann noch nicht lange weg sein!« Er grinste verschlagen. »Weißt du noch, wie wir den Wanderburschen verprügelt haben, der uns das Huhn gestohlen hatte? Man muss diesen Burschen zeigen, wer hier das Sagen hat, sonst werden sie immer dreister! Wir arbeiten uns den Buckel krumm und die ziehen durch die Lande und stehlen und schnorren, was das Zeug hält!« »Ob der Kerl noch hier ist?«, fragte der Ältere. Er stand auf und blickte zu der Plattform empor. »Vielleicht hat er sich versteckt.« Emma gefror das Blut in den Adern, als sie beobachtete, wie der Mann zur Leiter ging und auf eine Sprosse stieg. Das Holz ächzte unter seinem Gewicht. Er stieg wieder herunter und winkte ab. »Ach, was soll’s! Wenn er da oben wäre, hätte er sich längst verraten! Lass uns lieber weiterfahren. Der Regen hat aufgehört.« Die Männer verließen rauchend die Scheune. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss. Wenig später hörte man, wie sie auf ihren Wagen stiegen und der Ältere die Pferde antrieb. »Hüah! Lauft!« Emma atmete erleichtert auf. Als sie daran dachte, was passiert wäre, wenn die Männer sie entdeckt hätten, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Allein die Vorstellung, auf einem Polizeirevier auf ihren Onkel warten zu müssen, ließ sie zittern. Sie hob den Kopf und blickte August ernst an. »Das war knapp!«, flüsterte sie.
August war weniger beeindruckt. Oder er verstand es, seine Angst besser zu verbergen. Er brachte sogar ein Lächeln zustande. »Das ist mir schon ein paarmal passiert«, sagte er. »Besonders in Bayern. Der Bürgermeister hätte am liebsten die Hunde auf mich gehetzt. Der hätte einen Unschuldigen eingesperrt, nur damit niemand seinen Sohn für den Täter hält! Ich hätte nicht mal eine Verhandlung bekommen. Aber jetzt kriegt er mich nicht mehr! Und bis er rausbekommt, dass ich mich in Preußen rumtreibe, bin ich in Australien und lasse mir die Sonne auf den Bauch scheinen!« »Aber Sie haben doch gar nichts getan!« Er lachte schadenfroh. »Ich hab ihn verprügelt! Ich hab den Alois so verprügelt, dass er nicht mehr gerade sitzen konnte!« Er sah ihren ungläubigen Blick und räusperte sich verlegen. »Außerdem war ich mal wegen einer kleinen Sache auf der Wache. Ich hatte fünf Pfennig gestohlen. Na ja, nicht wirklich gestohlen. Sie lagen beim Bäcker auf der Theke und ich hab sie eingesteckt. Ein Kunde hat mich verraten. Seitdem war ich immer verdächtig, wenn irgendwo was gestohlen wurde. Wenn ich im Dorf geblieben wäre, hätte man mich eingesperrt. Ganz sicher.« »Und Sie sind wirklich unschuldig?« »So wahr ich hier liege«, antwortete er aufrichtig. »Ich hab einiges getan, wofür ich mich schämen muss, aber das Geld aus dem Opferstock stehlen, so wie es der Sohn des Bürgermeisters getan hat, so etwas würde ich niemals tun! Ich beklaue keinen Pfarrer!« Emma glaubte ihm. Obwohl sie August erst seit ein paar Minuten kannte, vertraute sie dem ehrlichen Ausdruck in seinen Augen. Er war kein Heiliger, und sein überhasteter Angriff mit der Mistgabel bewies, wie gewalttätig er sein konnte, wenn er einem angeblichen Feind gegenüberstand, aber er besaß auch ein Herz und würde niemals gegen einen
Schwächeren vorgehen. Einen reichen Fabrikbesitzer, der täglich seine Angestellten knechtete, oder einen Bauer wie ihren Onkel würde er vielleicht bestehlen. Und er würde sich mit jedem Mann anlegen, der ihn herausforderte oder ungerecht behandelte. Doch einen Opferstock würde er nicht ausrauben und einem Mädchen gegenüber würde er immer höflich sein. Er würde sie niemals hintergehen, das glaubte sie schon jetzt zu wissen, und er würde sich immer anständig benehmen. Woher sie diese Zuversicht nahm, wusste sie nicht. Vielleicht lag es tatsächlich an seinen braunen Augen. Oder an dem sanften Lächeln, das manchmal sein Gesicht erhellte. So wie er hatte sie noch niemals ein junger Mann angesehen, beinahe bewundernd und voller Respekt und nicht mit dieser unverhohlenen Lust wie ihr Onkel oder der Sohn des Hufschmieds. Der Junge mit dem vorstehenden Kinn hatte sie letzte Woche bedrängt und zwingen wollen, sich mit ihm im Heu zu treffen. Sie hatte ihn einen Schmutzfink genannt und war weggelaufen. August war anders. Zumindest ihr gegenüber. Das spürte sie mit jeder Faser ihres Herzens. Am liebsten hätte sie ihn gefragt, ob er Australien vergessen und mit ihr nach Amerika fahren könne. Aber ein solches Anliegen gehörte sich nicht für eine junge Dame. Sie hätte sich eher die Zunge abgebissen als ihm ihre Sympathie auf diese Weise zu zeigen. Sie stemmte sich auf die Knie und klopfte sich den Schmutz vom Mantel. Die verlegene Stille, die zwischen ihnen eingetreten war, hinderte sie daran, ihn direkt anzusehen. »Was wollen Sie tun, wenn Sie in Australien sind? Wieder als Schreiner arbeiten?« August kroch etwas nach vorn, um nicht mit dem Kopf gegen das schräge Dach zu stoßen, und setzte sich ihr gegenüber. Auch er schien etwas verlegen zu sein und angestrengt darauf
zu achten, ihr nicht zu nahe zu kommen. Es war schon unschicklich genug, mit einem unverheirateten Mädchen ihres Alters in einer dunklen Scheune zu sitzen. »Keine Ahnung«, erwiderte er. »Wenn’s nach dem geht, was der Mann im Wirtshaus gesagt hat, gibt es da so viel Arbeit, dass sie für jeden Einwanderer dankbar sind. Handwerker, Bauern, Fischer… da gibt es sogar Leute, die den ganzen Tag am Strand auf und ab gehen und Muscheln sammeln, haben Sie das gewusst?« Er wusste eine Menge über Australien, viel mehr als sie über Amerika, und hörte gar nicht mehr auf, darüber zu erzählen. Sie hörte ihm gern zu. Seine Stimme klang warm und freundlich. Und jetzt fand sie auch wieder den Mut, ihm in die Augen zu blicken. Wenn er lächelte, hatte sie das Gefühl, sich darin zu verlieren. Er berichtete von endlosen Wüsten und weiten Stränden, dunkelhäutigen Eingeborenen mit hölzernen Wurfgeschossen, die zu dem zurückflogen, der sie geworfen hatte, von riesigen Bauernhöfen, größer als das Königreich Bayern. »Ich könnte Schafe scheren. Auf einer Schaffarm verdient man mehr Geld als in einer Schreinerei, sagt der Mann im Wirtshaus, da kann man reich werden!« Er erzählte so lebendig, dass sie beinahe ihren Plan geändert hätte. Wenn es sich nicht schickte, ihn zu bitten nach Amerika zu fahren, konnte sie den Spieß vielleicht umdrehen und nach Australien auswandern. Auch das wäre nicht schicklich gewesen, aber wenn sie ein späteres Schiff nahm und ihm »zufällig« in Australien über den Weg lief, konnte doch niemand etwas sagen. Die Vernunft hielt sie zurück. Sie kannte diesen jungen Mann viel zu wenig, um sich auf ein solches Abenteuer einzulassen. Und sie war noch viel zu jung, um sich schon einem Mann zu versprechen. »Es hat aufgehört zu regnen«, sagte sie nach einer Weile. »Wenn Sie sich jetzt auf den Weg machen, schaffen Sie es
vielleicht noch bis zum Stadtrand. Hier sucht Sie doch niemand.« Er blickte in das Halbdunkel der Scheune. »Ich warte lieber, bis es dunkel wird. Ich hab keine Lust, so kurz vor dem Ziel noch festgenommen zu werden. Wer weiß, wen der Bürgermeister alles informiert hat. Der Gauner schreckt nicht mal vor Grenzen zurück.« Sie ahnte, dass er bei ihr bleiben wollte, und hütete sich, ihn daran zu erinnern, dass er bei Tageslicht gekommen war. Nur mühsam unterdrückte sie ein zufriedenes Lächeln. Entweder war er ein vollendeter Kavalier, der eine junge Dame nicht allein den Gefahren der Nacht aussetzen wollte, oder er hatte etwas für sie übrig. »Ich gehe auch lieber nachts«, sagte sie so nüchtern wie möglich. »Ich traue mich nicht mal, den Zug oder den Autobus zu nehmen. Hier kennen mich zu viele Leute, und wenn mein Onkel schon die Polizei alarmiert hat, bin ich sowieso nicht mehr sicher.« Er wagte nicht, sie anzusehen. »Dann haben Sie doch sicher nichts dagegen, wenn ich Sie nach Hamburg begleite?« Seine Stimme klang plötzlich heiser. »Ich würde Ihnen gern meinen Schutz anbieten. Natürlich nur, wenn Sie nichts dagegen haben.« »Das würde mich sehr freuen«, antwortete sie vielleicht etwas zu förmlich. Sie hatte noch nie einen Freund gehabt, war von den meisten Jungen im Dorf nur geärgert worden und wusste nicht so recht, wie sie sich verhalten sollte. Die jungen Damen in dem Buch über Ivanhoe benahmen sich sehr seltsam, wenn ein Ritter ihnen den Hof machte. Sie waren beinahe abweisend und schnippisch, obwohl ihre Gedanken allein von dem Wunsch beherrscht wurden, seufzend in seine Arme zu sinken und ihn zu küssen. Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss, als sie daran dachte.
August überspielte die Verlegenheit, die sich zwischen ihnen ausbreitete, indem er sich eine Zigarette rollte und sie umständlich ansteckte. Er blickte in den Rauch, der sich unter der schrägen Decke verteilte, und schien ähnliche Gedanken wie sie zu haben, denn auch sein Gesicht lief plötzlich rot an. Er wischte einige Tabakkrümel von seinen Lippen und lächelte verlegen. »Sie waren sehr tapfer«, sagte er, »jedes andere Fräulein hätte vor Angst irgendeine Dummheit begangen, als die Männer hereinkamen.« »Ich habe keine Angst«, behauptete Emma, obwohl sie so nervös gewesen war, dass sie gezittert hatte. »Wer nach Amerika auswandern will, muss Gott vertrauen und stark sein!« Den Satz hatte der Pfarrer in einer Predigt gebraucht, allerdings in einem anderen Zusammenhang. Er hatte gesagt: »Wer es in diesem Leben zu etwas bringen will, muss Gott vertrauen und stark sein!« Der Nachmittag verging wie im Flug. Mit jedem Wort, das sie wechselten, wurde ihr Verhalten natürlicher, und von der Verlegenheit, die sie zu Beginn ihrer Unterhaltung gehemmt hatte, war bald nichts mehr zu spüren. Ohne es zu merken, gingen sie zum vertraulichen »Du« über. Emma kam es beinahe so vor, als würde sie sich mit einer guten Freundin unterhalten, so freimütig kamen ihr die Worte über die Lippen. Nur das Funkeln in seinen Augen irritierte sie, verursachte ein Kribbeln, wie sie es noch nie gespürt hatte. Als er beim Aufstehen zufällig ihre Hand berührte, fühlte sie sich beinahe so wie die Burgfräulein in ihrem Buch. Du darfst dich nicht in ihn verlieben, rief sie sich zur Vernunft, er wandert nach Australien aus und du siehst ihn nie wieder! Aber ihr Gefühl sagte etwas anderes und sie war dankbar, als sie mit Einbruch der Nacht die Scheune verließen und er dabei kurz ihre Hand berührte.
Sie liefen am Ufer der Elbe entlang, blieben aber hinter der Böschung, um nicht von einem Flussschiffer gesehen zu werden. Mit gedämpfter Stimme unterhielten sie sich über belanglose Dinge. August beschrieb ihr den ersten Tisch, den er nach seiner Ausbildung geschreinert hatte, und sie erzählte von Ivanhoe und seinen Abenteuern beim großen Turnier. Nur wenn am Flussufer ein Schuppen auftauchte oder sie einen Lastkahn liegen sahen, schwiegen sie. Sie wollten kein unnützes Risiko eingehen. Emma war noch nie so weit gelaufen und litt unter einem schmerzhaften Muskelkater, ließ sich aber nichts anmerken. Sie glaubte sowieso, dass August aus Rücksicht auf sie etwas langsamer als sonst lief. Die Nacht war kühl und im Schilf raschelte der Wind. Frösche quakten. Aus weiter Ferne drang das Tuten eines Lastkahns zu ihnen. Emma war froh, den jungen Mann getroffen zu haben, obwohl er sie bald wieder verlassen würde und sie vielleicht nie herausfinden könnte, wer er wirklich war. Sie glaubte nicht, dass er ein Dieb sei, auch wenn sie vielleicht die Einzige war, die ihm die Geschichte mit dem Bürgermeister abnahm. Aber was hatte er damit gemeint, dass ihm schon etwas einfallen würde, wie er die zwanzig Mark in seinem Bündel vermehren konnte? Ein Billett nach Australien kostete sicher über hundert Mark. Wie wollte er jemals an diese Summe herankommen? Sie wagte nicht, ihn zu fragen. Vielleicht war es besser, wenn sie die Antwort niemals erfuhr. Mit dem ersten Tageslicht erreichten sie Hamburg. Obwohl sie beide schon in großen Städten gewesen waren, August in Nürnberg und Emma in Hannover, waren sie doch erstaunt, welcher Trubel schon am frühen Morgen in den Vororten herrschte. Ungeduldige Kutscher trieben die Zugpferde ihrer Fuhrwerke an. Ein Autobus ratterte über eine Kreuzung. Das hektische Klingeln einer Straßenbahn hallte von einer Brücke herüber. Vor einem Laden ächzten zwei Männer unter einer
schweren Kiste. Männer und Frauen in langen Mänteln liefen zu den Kontoren und Fabriken. In dieser Stadt konnten sich Emma und August nur am Tag bewegen. Nachts wären sie mit Sicherheit von der Polizei aufgegriffen worden. In dem morgendlichen Trubel fielen sie jedoch nicht auf, und obwohl August ein paarmal nach dem Weg fragen musste, erreichten sie ungehindert ihr Ziel. Sie hätten auch die Linie 14 der Straßenbahn nehmen können, die direkt vor den Auswandererhallen auf der Veddel hielt, aber sie sparten das Geld lieber und gingen zu Fuß. Auf die paar Kilometer kam es auch nicht mehr an. An der Wilhelmsburger Brücke blieben sie stehen und blickten zur Insel hinüber. Ein junger Mann, der mit den Händen in den Manteltaschen am Brückengeländer lehnte und sich sehr lässig gab, schien ihre Gedanken zu erraten. »Sieh an«, sagte er zu ihnen, »die Herrschaften wollen wohl zu den Auswandererhallen?« »Ich wüsste nicht, was Sie das angeht«, erwiderte August. Der junge Mann ließ sich nicht beirren. Er kam lächelnd näher und blieb in gönnerhafter Pose vor ihnen stehen. »Ich kann Ihren Unmut verstehen, junger Mann! Man hat Ihnen sicher gesagt, dass sich hier allerhand Gesindel herumtreibt. Es ist wahr, es gibt tatsächlich Schurken, die den Zigeunern aus dem Osten falsche Ratschläge geben und minderwertige Waren andrehen. Aber Sie kommen nicht aus dem Osten. Sie kommen aus… lassen Sie mich raten… Sie kommen aus dem Königreich Bayern, nicht wahr?« »Und wenn?«, blieb August vorsichtig. Das Lächeln im Gesicht des Fremden blieb. »Ich mag die Bayern, mein Herr!« Er blickte Emma an. »Darf ich fragen, woher das werte Fräulein kommt? Ich nehme an, Sie beide sind ein Paar?«
»Das tut nichts zur Sache«, sagte August rasch, bevor Emma antworten konnte. »Was wollen Sie von uns? Wir kaufen nichts!« Der Fremde hob abwehrend die Hände. »Oh, ich habe nichts zu verkaufen!« Er legte bewusst eine kleine Pause ein. »Ich wollte Sie nur warnen. Viele Auswanderer kommen… nun, etwas blauäugig nach Hamburg. Selbst die Herrschaften, die schon ein Billett haben. Ein Billett ist nicht genug, wissen Sie? Sie brauchen Geld, wenn Sie sich unterwegs etwas an Bord kaufen wollen, und die Amerikaner verlangen, dass jeder Einwanderer fünfundzwanzig Dollar dabeihat, sonst verweigern sie demjenigen die Einreise.« »Fünfundzwanzig Dollar? Wie viel ist das?«, fragte Emma. »Ungefähr hundert Mark«, antwortete der Fremde. »Hundert Mark?«, rief Emma entsetzt. August brachte sie mit einem strengen Blick zum Schweigen. »Das wissen wir alles«, sagte er zu dem Mann. »Wir brauchen Ihre Hilfe nicht. Und wenn Sie uns jetzt bitte in Ruhe lassen wollen…« »Wie Sie wollen«, meinte der Fremde lächelnd, »wie Sie wollen. Aber denken Sie daran, dass Sie Ihr Einreisegeld in Dollar umtauschen sollten, bevor Sie an Bord gehen. Ich kenne da eine Umtauschstelle, die Ihnen die Dollar zu einem wesentlich besseren Kurs als die Hamburg-Amerika-Linie gibt. Wenn Sie also wollen… « »Nein danke!«, schnitt August ihm das Wort ab. Der Fremde verschwand und kehrte an seinen Stammplatz am Brückengeländer zurück. Emma und August gingen auf die andere Straßenseite, bis sie nicht mehr von ihm gesehen werden konnten.
3
»Hundert Mark!«, rief Emma entsetzt, als sie auf der anderen Straßenseite waren. »Mein Geld reicht gerade mal für das Billett! Woher soll ich bloß die anderen hundert Mark hernehmen?« In ihren Augen glänzten Tränen. »Wenn ich zurückgehe, schlägt mich mein Onkel! Oder er steckt mich in ein Erziehungsheim! Wer weiß, ob ich da jemals wieder rauskomme? Ich will nicht nach Hause!« August zog sie vor ein Schaufenster, damit sie nicht so auffielen, und sprach beruhigend auf sie ein: »Du musst nicht nach Hause, Emma! Ich besorge dir die hundert Mark! Lass mich nur machen!« Er wollte sie trösten, wagte es aber nicht, seinen Arm um ihre Schultern zu legen. »Es kann allerdings etwas dauern, bis ich das Geld aufgetrieben habe. Wartest du so lange auf mich?« »Mitten auf der Straße?«, fragte sie verwundert. August lächelte. »In einer Pension.« Er führte sie die Straße hinunter, bis sie eine einfache Herberge erreichten. Ohne sich um ihre furchtsamen Blicke zu kümmern, öffnete er die Tür. »Hab keine Angst!«, sagte er zu Emma. »Ich regle das schon.« Sie folgte ihm zögernd und blieb unschlüssig in dem kühlen Flur stehen. An der kahlen Wand stand ein kleiner Tisch, auf dem einige Ausgaben der Gartenlaube lagen. In ihrem Heimatort hatten einige Frauen die Fortsetzungsromane in dieser Zeitschrift gelesen, sogar die Ehefrau des Pfarrers. Die Polster der beiden Stühle, die neben dem Tisch an der Wand lehnten, sahen abgenutzt aus. Am Ende des Flurs, neben der Treppe, stand ein Sekretär mit geöffnetem Rollo. Auf der Schreibfläche lagen Papiere.
Eine ältere Dame kam aus dem Nebenzimmer. »Schönen guten Tag! Womit kann ich dienen?«, fragte sie freundlich. Sie trug ein dunkles Kleid, das am Hals von einer Brosche zusammengehalten wurde, und Filzpantoffeln, die nicht dazu passten. Ihre weißen Haare waren zu einem kunstvollen Knoten gebunden. »Guten Tag, meine Dame!«, erwiderte August die Begrüßung. »Ich bin August Strehle, und das ist meine Verlobte Grete!« Er bat Emma durch einen raschen Blick, seine Notlüge nicht zu entlarven. »Wir wandern nach Amerika aus und wollen in die Auswandererhallen nach Veddel. Leider muss ich heute Nachmittag noch einem befreundeten Handwerker beim Hausbau helfen, deshalb möchte ich Sie bitten, meine Verlobte hier warten zu lassen. Ich weiß nicht, wie lange ich unterwegs sein werde. Es kann sein, dass wir bis spätabends arbeiten!« Als er die zögernde Miene der Dame bemerkte, zog er einige Münzen aus der Tasche. »Ich gebe Ihnen gern einige Münzen, falls meine Verlobte sich etwas hinlegen möchte. Wir haben eine anstrengende Reise hinter uns.« War ihr Blick eben noch misstrauisch über seine abgerissene Kleidung gewandert, hellte ihr Gesicht sich beim Anblick der Münzen schlagartig auf. »Natürlich, mein Herr«, stimmte sie zu. »Ihre Verlobte kann im Salon bei einer Tasse Tee warten, bis Sie zurückkommen. Es wird doch nicht zu lange dauern, mein Herr?« »Ich hoffe nicht«, antwortete August. »Wir wollen heute Abend noch zu den Hallen rüber.« Er verabschiedete sich von Emma und verließ das Hotel, bevor die Dame nach Gepäck fragen konnte. »Unsere Koffer sind schon drüben«, erriet Emma die Gedanken ihrer Gastgeberin. Ihr wurde erst jetzt bewusst, wie unvorbereitet sie auf ihre große Reise ging. Sie war bestimmt
das einzige Mädchen, das nur mit einem Rucksack nach Amerika fuhr. Ohne August wäre ihre Reise schon hier in Hamburg zu Ende gewesen. Die Besitzerin der Pension bat sie in den Salon und deutete auf einen Sessel, der ebenso abgenutzt wie die Möbel im Flur aussah. »Setzen Sie sich doch! Auf dem Tisch liegt die neueste Ausgabe der Gartenlaube. Eine wunderbare Zeitschrift, finden Sie nicht auch? Den neuen Roman kann ich sehr empfehlen.« Sie wartete, bis Emma sich gesetzt hatte. »Eine Tasse Tee, wertes Fräulein?« »Gern«, stimmte Emma zu. Sie fühlte sich ein wenig unbehaglich in Gegenwart der vornehmen Dame, auch wenn ihre Gastgeberin sicher nicht so wohlhabend war, wie es auf den ersten Blick aussah. Dazu waren die Möbel zu schäbig. Es hatte eher den Anschein, als hielte sie sich mit ihrer Pension mühsam über Wasser. »So, da wäre ich wieder«, meldete sich die Frau, als sie mit einem Tablett, auf dem eine Kanne Tee, zwei Tassen und etwas Gebäck standen, in den Salon zurückkehrte. Ein weiteres Indiz dafür, dass es ihr schlechter ging, als sie einen glauben machen wollte. In einem wohlhabenden Haushalt hätte es ein Dienstmädchen gegeben. »Und Sie wollen den Sprung nach Amerika wagen?«, fragte sie, nachdem sie den Tee eingeschenkt hatte. Emma zwang sich zu einem Lächeln. »August und ich haben etwas Geld gespart. Mein Onkel besitzt ein Eisenwarengeschäft in New York und möchte, dass wir den Laden weiterführen. Er ist über sechzig und möchte sich langsam zur Ruhe setzen.« Zu spät fiel ihr ein, dass ihre Gastgeberin genauso alt sein musste. »Darf ich fragen, wie alt Sie sind?«, fragte die Besitzerin. »Neunzehn«, log Emma. »Ich werde nächsten Monat zwanzig. Sobald wir in New York sind, wollen wir heiraten.«
Sie bemerkte den zweifelnden Blick ihrer Gastgeberin und fügte rasch hinzu: »Ich sehe jünger aus, nicht wahr? Ich glaube, das liegt in der Familie. Manche Leute hielten meine Mutter für meine Schwester.« »Kommen Ihre Eltern nicht mit?« Emma merkte, dass ihre Gastgeberin sie aushorchen wollte, und achtete darauf, ihr nicht zu viel zu verraten. Sie traute ihr zu, die Polizei zu benachrichtigen, falls sie Verdacht schöpfte. Vielleicht gab es sogar eine Belohnung, wenn man eine junge Ausreißerin zurückbrachte. »Meine Eltern sind tot«, sagte sie, »sie sind vor sieben Jahren bei einem Feuer umgekommen.« Wenigstens das stimmte. »Kommen viele Auswanderer zu Ihnen?«, fragte sie. »Alle paar Tage«, antwortete die Frau. »Die meisten Passagiere stammen aus Russland und haben kaum Geld. Juden, wissen Sie? Wenn ich ehrlich bin, möchte ich solche Leute auch gar nicht haben. Sie sind schmutzig und riechen nach Knoblauch.« In der Lüneburger Zeitung hatte Emma oft über die Flüchtlinge aus Osteuropa gelesen. Angeblich hatte man sie aus ihrer Heimat vertrieben. Sie glaubten an denselben Gott, beteten aber in Synagogen und befolgten strenge Gesetze. Es gab seltsame Rituale und für jeden Anlass ein besonderes Gebet. Am Samstag, dem Sabbat, ließen sie die Arbeit ruhen. Die meisten Leute mochten die Juden nicht, auch ihr Onkel hatte ständig auf sie geschimpft. »Sollen sie doch nach Amerika fahren«, sagte er, »dann müssen wir uns nicht mit diesem stinkenden Abschaum herumschlagen!« Emma war noch nie einem Juden begegnet und wollte sich kein Urteil erlauben. Sie verstand nichts von Politik. Geschickt lenkte sie das Gespräch auf harmlose Themen wie den riesigen Hamburger Hafen oder die neue Mode aus Paris. Nach einer Weile entschuldigte sich ihre Gastgeberin und ging. Emma
atmete erleichtert auf. Sie war viel zu nervös, um sich mit der Dame zu unterhalten, und versteckte sich lieber hinter einer aufgeschlagenen Ausgabe der Gartenlaube und tat so, als würde sie darin lesen. Doch ihr einziger Gedanke war: Würde August das fehlende Geld besorgen können und wann kehrte er zurück? Würde er überhaupt wieder zurückkommen? Was war, wenn er versuchte sich das Geld auf illegale Weise zu besorgen? Würde man ihn erwischen und ins Gefängnis sperren? Was sollte sie tun, wenn er bis zum Abend nicht zurück war? Sie besaß genug Geld, um sich für ein paar Tage in der Pension einzuquartieren, doch dann würde die Besitzerin sicher misstrauisch und alarmierte die Polizei! In Gedanken sah Emma bereits, wie man sie in Handschellen zu ihrem Onkel zurückbrachte, und hörte ihn sagen: »Vielen Dank, Herr Wachtmeister! Ich glaube, der Kleinen muss ich mal kräftig den Hintern versohlen!« Der Tag verging quälend langsam. Durch die Fenster beobachtete sie mit wachsender Unruhe, wie die Sonne nach Westen wanderte und bald nur noch als blutrote Scheibe jenseits des Hafens zu sehen war. Einige Lagerhallen und Kräne hoben sich wie Scherenschnitte gegen den abendlichen Himmel ab. »Wo bist du, August?«, flüsterte sie verzweifelt. »Lass mich bitte nicht allein! Komm zu mir zurück, auch wenn du das Geld nicht auftreiben kannst! Wir schlagen uns schon irgendwie durch!« Als es dunkel wurde, brachte die Besitzerin ihr einige Schnittchen mit Griebenschmalz und frischen Tee. »Ihr Verlobter lässt sich aber viel Zeit«, sagte sie mitleidig. Sie stellte den Teller hin, schenkte Tee ein und setzte sich zu Emma an den Tisch. »Warum muss er denn so wenige Tage vor Ihrer Abreise noch arbeiten?«
Ihren neuen Anlauf, sie auszuhorchen, beantwortete Emma mit einer Notlüge. »Die Arbeit wird gut bezahlt, und in Amerika können wir jede Mark… jeden Dollar gut gebrauchen.« Sie aß eines der Schnittchen und zwang sich, nicht gleich nach dem nächsten zu greifen. Sie hatte großen Hunger. »Er wird sicher gleich kommen!« Doch als sie das letzte Schnittchen gegessen hatte, war August noch immer nicht zurück und sie wurde langsam unruhig. Es gab keine anderen Gäste in der Pension, und die Besitzerin machte keine Anstalten, sie allein zu lassen. Sie stellte eine neugierige Frage nach der anderen, ob aus Neugier oder Misstrauen konnte Emma nicht sagen. »August… mein Verlobter ist sehr fleißig. Der hört erst auf, wenn er eine Arbeit beendet hat.« Die Minuten rannen dahin, und jede Viertelstunde erinnerte sie der Gong einer großen Standuhr daran, wie schnell die Zeit verging. Die Besitzerin las in der Gartenlaube, hob aber nach jedem Kapitel den Kopf und blickte ihren jungen Gast fragend an. Emma antwortete mit einem Schulterzucken und einem Lächeln. Was sollte sie bloß tun, wenn August nicht zurückkam? Wenn sein Plan, das Geld zu besorgen, nicht aufgegangen war oder er es einfach leid war, sich weiter mit ihr zu beschäftigen? Vielleicht hatte er nur das Geld für sein Billett bekommen und wartete längst auf die Abfahrt seines Dampfers nach Australien. Der Gedanke tat ihr weh und sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen traten. Der Tee in ihrer Tasse war längst kalt, als Schritte vor dem Haus erklangen und zweimal gegen die Tür geklopft wurde. Emma folgte der Besitzerin der Pension in den Flur und atmete erleichtert auf, als sie August sah. Er sah verändert aus. Sein Gesicht war frisch gewaschen und er trug seinen sauberen, aber etwas verknitterten Sonntagsanzug und eine Krawatte.
Auf seiner Stirn war eine blutige Schramme. »August! Du bist verletzt! Was ist denn passiert?« August winkte lächelnd ab. »Nichts Besonderes! Ich bin gegen einen Balken gelaufen, weiter nichts!« Zu der Besitzerin sagte er: »Vielen Dank, dass Sie meine Verlobte aufgenommen haben. Bin ich Ihnen noch etwas schuldig?« Er gab vor, nach Geld zu suchen. »Nein, nein, lassen Sie mal«, erwiderte die Dame. Obwohl sie das Geld sicher gut brauchen konnte, wäre es ihr wohl peinlich gewesen, noch mehr zu verlangen. »Ich wünsche Ihnen eine gute Reise! Ich wollte, mein Willi wäre noch am Leben und wir könnten ein solches Abenteuer wagen. Vergessen Sie Ihren Mantel nicht!« Emma nahm rasch ihren Mantel von der Garderobe und zog ihn an. Sie bedankte sich bei der Frau, schnallte ihren Rucksack um und folgte August in die kühle Frühlingsnacht. Sie gingen einige Schritte, bis sie außer Sichtweite der älteren Dame waren. Dann blieb Emma stehen. »Was ist wirklich passiert, August?«, fragte sie aufgeregt. »Du bist doch nicht gegen einen Balken gelaufen? Hast du dich geschlagen? Was ist geschehen, August?« Der junge Mann lächelte immer noch. »Karol war ein schlechter Verlierer. Der Pole, von dem ich die Billette gewonnen habe. Als ich ihn in drei Spielen besiegt hatte, wollte er die Billette nicht herausrücken und ich musste… etwas nachhelfen.« Er berührte vorsichtig die Wunde. »Leider hat er mich auch erwischt.« »Du hast dich geprügelt, August!« »Nur ein bisschen«, erklärte er grinsend. »Aber dafür hab ich die Billette!« Er griff in seine Jackentasche und zeigte ihr die kostbaren Fahrscheine. Sie waren beide auf eine Passage nach New York ausgestellt. »In zwei Wochen, auf der Kaiserin Auguste Victoria.«
Emma blickte ihn ungläubig an, betrachtete die Billette und strahlte schließlich. »Du fährst mit nach Amerika? Du fährst mit mir? Du fährst nicht nach Australien?« Sie konnte es nicht fassen. »Soll ich dich vielleicht allein nach Amerika fahren lassen?«, fragte er mit einem schlauen Grinsen. »Immerhin sind wir verlobt!« Sie umarmte ihn stürmisch und küsste ihn auf den Mund. »Oh, das ist wunderbar, August! Wir fahren nach Amerika!« Erst nach einer Weile merkte sie, wie wenig damenhaft sie sich benahm. Sie ließ von ihm ab und war froh, dass man im schwachen Laternenlicht nicht sehen konnte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. »Ich meine natürlich… äh, das hast du wirklich gut gemacht, August.« Sie gingen einige Minuten verlegen nebeneinanderher, dann blieb Emma plötzlich stehen und fragte besorgt: »Du hast doch ehrlich gespielt, August? Du hast doch nicht betrogen? Du hast ihm die Billette doch nicht weggenommen? Wenn der Mann dich anzeigt, lassen sie uns nicht aufs Schiff und du kommst ins Gefängnis und ich muss zu meinem Onkel zurück! Sag mir, dass es nicht so ist, August! Sag mir, dass du ehrlich gewonnen hast!« »Ich hab sie ehrlich gewonnen«, log August. »Und fünfzig Dollar dazu!« Er griff erneut in die Tasche und zeigte ihr eine amerikanische Banknote. »Jetzt kann uns nichts mehr passieren! Hab keine Angst, Emma! Du wirst deinen Onkel niemals wieder sehen!« Sie reagierte erleichtert und nickte zufrieden. »Das ist gut. Ich liebe meine Heimat, weißt du, aber seit meine Eltern tot sind, hält mich nichts mehr dort. Ich hab keine Verwandten außer meinem Onkel und meiner Tante. Ich vermisse nur den Herrn Pfarrer. Wenn wir in New York sind, schicke ich ihm eine Bildpostkarte.«
Der Mann, der sie auf der Wilhelmsburger Brücke belästigt hatte, lehnte nicht mehr am Geländer, und sie erreichten ungehindert die Auswandererhallen. Die flachen Gebäude lagen hinter einem hohen Zaun und waren nur schwach beleuchtet. Im trüben Schein einiger Laternen ragte der klobige Turm über dem Eingangsgebäude in den Abendhimmel. Es roch nach Knoblauch und Zwiebeln, ein strenger Duft, der alle osteuropäischen Auswanderer umwehte und sich zwischen den Gebäuden ausgebreitet hatte. Der Angestellte, der ihre Personalien aufnahm und ihre persönlichen Dokumente überprüfte, musterte sie eingehend, bevor er mit dem Schreiben begann. Erst als er merkte, dass Emma und August aus Deutschland kamen, wurde er freundlicher. Er schien die Juden genauso wenig zu mögen wie die Besitzerin der Pension. Außer dem strengen Geruch nach Knoblauch und Zwiebeln musste noch etwas anderes an diesen Juden sein, das andere Leute abschreckte. »Die Herrschaften gehören zusammen?«, fragte der Angestellte nach einer Weile. Er trug eine dunkle Uniform. »Wir sind verlobt«, antwortete August schnell. »Wir hatten leider noch keine Zeit zu heiraten. Sobald wir in New York sind, wollen wir das nachholen.« Die Lüge ging ihm locker über die Lippen. »Das stimmt«, bestätigte Emma. Der Angestellte warf einen Blick in ihre Dokumente und lächelte spöttisch, als er ihr Geburtsdatum sah. »Sind Sie nicht ein bisschen jung zum Heiraten? Die Eltern waren wohl dagegen, hm?« Sie ließ ihn in dem Glauben und war froh, als sie ihre Papiere zurückbekam. Die erste Hürde hatten sie genommen, doch nach einer Nacht in den behelfsmäßigen Unterkünften, die für Unverheiratete nach dem Geschlecht getrennt waren, stellten sie fest, dass die schwierigsten Hindernisse noch vor ihnen
lagen. Am nächsten Morgen mussten sie sich in der großen Empfangshalle an einem der Schalter anstellen und ihre Personalien noch einmal überprüfen lassen. »Mein Feld ist die Welt« stand in deutlich sichtbaren Lettern an der Wand. Emma schien erst beim Anblick dieses Satzes klar zu werden, dass sie im Begriff stand, ihr Heimatland zu verlassen, um in Amerika ihr Glück zu suchen. In der Neuen Welt, wie man das Land jenseits des Atlantiks auch nannte, in einer Stadt, die sie nur von den Bildpostkarten des Apothekers her kannte. Nachdem ihre Papiere abgestempelt waren, musste sie erneut warten. Zusammen mit jungen Frauen aus Russland und Polen, die sich angeregt auf Jiddisch unterhielten, stand sie vor dem Zimmer des Arztes. Sie musste sich bis auf ihre Unterwäsche ausziehen, wurde eingehend untersucht und geimpft und anschließend zum Desinfizieren geschickt. Nachdem sie aus dem Duschraum kam, erhielt sie die begehrte »Doktorkarte«, mit der sie sich auf der »reinen« Seite im Bereich der Auswandererhallen aufhalten durfte. Sie brachte ihren Rucksack in den Schlafsaal, kehrte in den Hof zurück und suchte nach August. Er war ebenfalls problemlos durch die Untersuchung gekommen und wartete bereits auf sie. »Gott sei Dank! Du bist hier!«, rief sie erleichtert. Die Zeit bis zur Abfahrt ihres Schiffes stellte sie auf eine harte Probe. Emma war noch nie mit so vielen Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht gewesen und fühlte sich unwohl inmitten der vielen Frauen und Mädchen, die sich fast alle in einer anderen Sprache unterhielten, sich anders anzogen und anders rochen. Besonders im Schlafsaal tat sie sich schwer. Die Betten waren nur durch einige Bretter voneinander getrennt und sie kam sich wie eine Henne im Hühnerstall vor. Ihre Nachbarin schnarchte, das Mädchen unter ihr sprach im Schlaf und vom anderen Ende des Saales drang Babygeschrei herüber. Nur beim Essen ging es nicht so gedrängt zu. Die
Juden bekamen ihre koscheren Mahlzeiten in einem Nachbarsaal, und sie war mit den wenigen Christen allein. Dort durfte sie auch mit August zusammen sein, der sich sonst im Quartier der unverheirateten Männer aufhielt. Sie waren froh, als endlich die Abfahrt bevorstand und sie mit den anderen Zwischendeckpassagieren zum Fährschiff gebeten wurden. Emma und August waren unter den ersten Passagieren. Sie griff nach seiner Hand und drückte sie fest, als sie an Bord gingen. Schaukelnd fuhr das Fährschiff los. Es tuckerte zum Kai der Hamburg-Amerika-Linie, wo die mächtige Kaiserin Auguste Victoria vor Anker lag. Wie ein stählerner Koloss ragte sie aus dem Wasser, unzerstörbar und stark genug, es mit jedem Seegang aufzunehmen. Aus den Schornsteinen stieg dünner weißer Rauch. Emma strahlte. »Wir haben es geschafft, August! Jetzt kann uns nichts mehr aufhalten!« Sie konnte nicht ahnen, dass ihr die wahren Herausforderungen der langen Reise erst bevorstanden.
4
Die Kaiserin Auguste Victoria war das größte Schiff der Hamburg-Amerika-Linie, ein über zweihundert Meter langer Ozeandampfer mit mehreren Decks und zwei Schloten. Ungefähr sechshundert Passagiere reisten in der komfortablen ersten, knapp dreihundert in der zweiten und zweihundert in der dritten Klasse. Emma und August waren bei den achtzehnhundert »Zwischendeckern«, die in den kargen Quartieren unterhalb der »Back« die Reise verbrachten. Die Back lag im vorderen Teil des Schiffes, ein tiefer gelegenes Deck, das bei stürmischem Seegang als erstes mit Wasser überspült wurde. Als sie an Bord gingen, spielte auf dem Kai eine Blaskapelle »Muss i denn zum Städtele hinaus«. Emma schwebte wie auf Wolken, fühlte sich beschwingt und frei und hätte vor Freude am liebsten gejauchzt. Vergessen waren die schweren Jahre nach dem Tod ihrer Eltern, die Demütigungen im Haus ihres Onkels, die Angst und die Nervosität auf der Flucht nach Hamburg. Ein neues Leben begann! Das Schiff brachte sie in die Neue Welt, in der es keine Armut und Unterdrückung gab, in der jeder Mensch frei war. Sie hängte sich bei August ein und lehnte ihren Kopf an seinen Arm. Ihr strahlender Blick gab ihm zu verstehen, wie sehr sie sich darüber freute, dass er mit ihr nach Amerika fuhr. »Endlich!«, seufzte sie. »Wie lange habe ich auf diesen Augenblick gewartet!« An Bord wurden sie von einem Matrosen in Empfang genommen, der ihnen ihre Quartiere zuwies. Da sie nicht verheiratet waren, schliefen sie auf verschiedenen Seiten des
Schiffes, Emma in der »Abteilung für ledige Frauen« und August in der »Abteilung für ledige Männer«. »Wir treffen uns auf der Back!«, flüsterte August ihr zu. »Nach dem Mittagessen!« Emma nickte tapfer und folgte den anderen Frauen und Mädchen durch einen langen, schwach beleuchteten Gang. Im Vorbeigehen erhaschte sie einen Blick in die Waschräume und die Küche. Über eine steile Treppe, die mit Tauen abgesichert war, stieg sie in einen der großen Schlafräume hinab und legte ihr Bündel auf eines der oberen Betten. Sie wollte möglichst nahe am Eingang schlafen, um weit genug von dem muffigen Gestank entfernt zu sein. Schon jetzt roch es überall nach Knoblauch. Sie war den strengen Duft nicht gewöhnt und litt sehr darunter. Sie fragte sich, ob auch den Deutschen ein bestimmter Geruch zu Eigen war. In ihrem Schlafsaal gab es sechsunddreißig Betten, schwere Eisengestelle, auf denen jeweils ein Strohsack und eine Wolldecke lagen. In den Falten hatte sich einiges Ungeziefer eingenistet, und Emma schüttelte die Decke angewidert, bis sie sauber war. Am Kopfende hing ein Blecheimer mit einem Blechlöffel und einer Blechgabel. Daneben war eine Schwimmweste befestigt. Noch bevor sie in See stachen, zeigte ihnen ein Matrose, wie man die Weste überzog. »Keine Angst«, versicherte er grinsend, »ich fahre schon zwei Jahre über den Nordatlantik und es ist noch nie etwas passiert!« Emma hängte ihren Rucksack an das Bettgestell und legte ihren Mantel auf das Bett. Noch waren die Bullaugen geöffnet und eine angenehme Brise wehte durch den Raum. Auf der Backbordseite zog sich ein schmaler Tisch an der Schiffswand entlang, auf dem zwei Kannen Kaffee und Blechbecher standen. »Fährst du zum ersten Mal nach New York?«, hörte sie eine Stimme sagen.
Sie gehörte zu dem Mädchen, das unter ihr schlief. Sie war ungefähr gleichaltrig, trug einen schlichten Rock und eine Bluse und einen dunklen Schal über ihrem Kopf. Ihre schwarzen Haare waren zu langen Zöpfen gebunden. Ihr Blick war schüchtern, beinahe ängstlich, und der kleine Koffer, den sie am Kopfende verstaut hatte, trug in sauberen Buchstaben ihren Namen: Rose Goldstein. Das Mädchen hatte Jiddisch gesprochen, aber die Sprache der Juden enthielt einige deutsche Wörter und sie erkannte den Sinn der Frage. »Ja, ich reise mit meinem Verlobten«, hielt sie die Lüge aufrecht, »wir wollen heiraten, sobald wir in New York sind!« Sie gab dem Mädchen die Hand. »Ich heiße Emma. Emma Mahler.« »Rose Goldstein«, erwiderte die Jüdin. Sie sprach etwas Deutsch und machte sich in einem Kauderwelsch aus Jiddisch und Deutsch verständlich. »Ich fahre zu meinem Onkel und meiner Tante. Sie haben einen Gemischtwarenladen. Ich bin die jüngste Tochter, und mein Tatteh… mein Vater hat mich ausgewählt, unsere Familie zu… Wie sagt man?… unterstützen.« Ihr trauriger Blick verriet, wie schwer es ihr gefallen sein musste, die Familie zu verlassen. »Ich komme aus Polen«, radebrechte sie weiter. »Aber die letzten sechs Monate habe ich in Deutschland gewohnt. Ich habe Geld bei einer reichen Familie verdient… als Hausmädchen.« Emma wusste wenig über die Verhältnisse in Polen, hatte nur gehört, dass ein großer Teil des Landes unter russischer Herrschaft stand. Von Rose erfuhr sie noch vor der Abfahrt, dass der Zar ein ungerechter Mann war und alle Juden von der Polizei und dem Militär verfolgen ließ. »Ich komme aus einem kleinen shtetl in der Nähe von Gomel«, berichtete sie traurig. »Vor einigen Jahren haben sie dort fast alle Juden umgebracht! Der Zar gibt uns die Schuld für alles… den Krieg gegen Japan, den Tod von Christenmenschen, den Aufstand der Männer, die
keinen Zar mehr wollen. Deshalb lässt er uns umbringen! Und niemand hilft uns! Die Polizei steht dabei, wenn sie uns die Köpfe einschlagen! Meine Familie hatte Glück. Wir leben auf dem Land. Wir konnten uns verstecken.« Die Worte der jungen Rose berührten Emma und ließen ihr die Juden in einem ganz anderen Licht erscheinen. Bisher hatte sie nur gehört, wie sie als »Schmarotzer« und »Störenfriede« beschimpft wurden, als »stinkender Abschaum«, dem man nicht über den Weg trauen dürfe. Niemand hatte ihr erzählt, wie sehr die Juden in Russland und Polen leiden mussten. Deshalb also strömten sie in Scharen nach Westen und wanderten nach Amerika aus! Sie setzte sich neben Rose und griff nach der Hand des Mädchens. Nicht einmal der strenge Knoblauchgeruch störte sie mehr. »Das wusste ich nicht«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Aber jetzt brauchst du keine Angst mehr zu haben. Du bist in Sicherheit! Und in Amerika verdienst du bestimmt genug, um Geld nach Hause schicken zu können. Vielleicht kommen deine Eltern und Geschwister nach, wenn sie das Geld für die Billette gespart haben.« »Nein«, erwiderte Rose, »sie würden lieber sterben als ihre Heimat zu verlassen. Selbst die Männer des Zaren können sie nicht vertreiben. Und meine Geschwister werden niemals so viel Geld haben, um sich ein Billett kaufen zu können. Das Geld, das ich ihnen schicke, brauchen sie zum Leben. Ich werde sie niemals wieder sehen!« Sie senkte den Kopf und begann leise zu weinen. »In Amerika wird alles besser!«, versprach Emma. Sie wusste nicht, wie sie ihr sonst Trost spenden sollte. »Komm, wir gehen nach oben und winken den Leuten am Kai zu, wenn wir ablegen!« Sie stiegen auf die Back hinauf und kamen vor lauter Menschen kaum vorwärts. Fast alle Zwischendecker drängten
sich im vorderen Teil des Schiffes um dabei zu sein, wenn die Kaiserin Auguste Victoria ablegte. Unter den Klängen der Blaskapelle rückte der Ozeandampfer vom Kai ab. Einige Passagiere klatschten. Sie waren wohl froh, die Alte Welt und ihre Probleme hinter sich lassen zu können. Von dem höher gelegenen Deck der ersten Klasse fielen bunte Luftschlangen herunter. Ein Mann rief: »Auf nach Amerika!« Emma entdeckte August in der Menge und zog ihn zu Rose. »Das ist Rose«, stellte sie ihre neue Freundin vor, »sie fährt zu ihrem Onkel. Er hat einen Gemischtwarenladen.« Sie blickte August an. »Das ist August… mein Verlobter.« Während das Schiff den Hafen verließ und mit halber Kraft über die Elbe zum Meer stampfte, stellte Emma sich vor, dass es wirklich so war. Dass sie verlobt waren und sich in einer New Yorker Kirche trauen lassen würden. Der Gedanke gefiel ihr. Sie würden eine Schreinerei eröffnen und sich eine kleine, aber gemütliche Wohnung teilen, und sie würde im Büro ihres Mannes arbeiten und sich um den Haushalt und die Kinder kümmern. »Bis dass der Tod uns scheidet!«, sagte sie so leise, dass niemand sie hören konnte. Als die Glocke zum Essen rief, stieg sie mit Rose zu den unteren Decks hinunter. Ein Matrose teilte ihnen mit, dass die koscheren Speisen für die Juden in einem gesonderten Speisesaal serviert wurden. Die Anordnung sorgte für einigen Unmut unter den Christen. »Das hab ich mir gedacht«, rief eine ältere Deutsche, »die Juden bekommen natürlich wieder eine Extrawurst gebraten!« Eine Italienerin zeigte mit dem Finger auf die jüdischen Frauen und Mädchen und sagte etwas, das Emma nicht verstand. »Lasst sie in Ruhe!«, schimpfte Emma. »Sie haben euch doch nichts getan!« Sie holte ihr Besteck und ging in den Speisesaal. Es gab Hering mit Pellkartoffeln, eine Delikatesse, die es nur noch ein Mal während der zwölftägigen Fahrt geben sollte. Emma ließ
sich zögernd auf eine Unterhaltung mit ihren Tischnachbarn ein, erfuhr von einer Wienerin, dass sie in einem Kaffeehaus auf der Kärntner Straße gearbeitet und sich erst nach der Trennung von ihrem Verlobten zur Auswanderung entschlossen hatte. Eine schlesische Bäuerin hatte ihren Mann verloren und floh vor ihren aufdringlichen Verwandten nach Amerika. Sie träumte vom Bundesstaat Wisconsin, dort sollte es Deutsche und gutes Ackerland geben. Weil der muffige Geruch im Schlafsaal beinahe unerträglich war und einige Russinnen zum lauten Klang einer Balalaika tanzten, kehrte Emma auf die Back zurück. Dort wimmelte es auch abends von Menschen. In dichten Trauben standen die Passagiere an der Reling und blickten auf das offene Meer hinaus. Die Küste war längst nicht mehr zu sehen. Scheinbar endlos dehnten sich die Wassermassen nach allen Seiten aus, überstrahlt vom abendlichen Himmel, der im Licht der untergehenden Sonne glühte. August hatte schon auf sie gewartet und legte einen Arm um ihre Schultern. Sie ließ sich die Zärtlichkeit nur zu gern gefallen. Seine Berührung war fest und doch zärtlich und gab ihr ein Gefühl der Geborgenheit, das sie lange nicht mehr gespürt hatte. Wie hatte sie jemals ohne August leben können? Sie lehnte ihren Kopf an seine Brust und lächelte zufrieden. Sie wollte gar nicht daran denken, dass die Verlobung eine Notlüge war und August mit keinem Wort versprochen hatte, nach ihrer Ankunft bei ihr zu bleiben. »Ich mag das Meer«, sagte sie. »Es ist so… friedlich.« »Ja«, erwiderte er nur. Die erste Nacht in der ungewohnten Umgebung wurde zu einer echten Herausforderung für Emma. Aus dem Nebenraum, in dem die galizischen Juden untergebracht waren, drang der süßliche Geruch des Knoblauchs in den Schlafsaal, und von einem anderen Deck tönte das Schreien
eines Babys herüber. Einige der Passagiere schnarchten laut. Die Luken waren bis zwanzig Uhr geöffnet, dann rief ein Offizier »Luken schließen! Schotten dichtmachen!«, und ein Matrose betrat den Schlafsaal und führte den Befehl aus. Der Luftstrom versiegte. Scheppernd fiel das Schott ins Schloss, eine Eisentür, die verhindern sollte, dass das ganze Schiff voll Wasser lief, wenn es auf einen Eisberg oder Felsen lief. Emma hatte sich bis auf die Unterwäsche ausgezogen, das Kleid übers Geländer gehängt und benutzte ihren Mantel als Kopfkissen. Der Strohsack, der eine Matratze ersetzte, stach sie wie mit tausend Nadeln. Ihr Nachtlager war schmal und hart und so unbequem, dass sie alle paar Minuten aufwachte und sich unruhig von einer Seite auf die andere wälzte. Eine Bettreihe weiter sprach eine ältere Ungarin so laut im Schlaf, dass die Passagiere in den Nachbarbetten aufwachten und sie wütend zur Ordnung riefen. Gegen Mitternacht begann das Schiff zu schaukeln. Sie öffnete ängstlich die Augen und sah, wie sich ihr Kleid über dem Geländer bewegte, zuerst langsam, dann immer stärker. Das Schiff legte sich auf die rechte Seite und kippte langsam nach links zurück. Die Bettgestelle quietschten und durch das Schiff liefen seltsame Geräusche. Ihr Magen zog sich zusammen. Sie sah, wie einige Frauen aus ihren Betten sprangen und sich in den Blecheimer übergaben, und drückte ihr Gesicht tief in den Strohsack. Mit beiden Händen hielt sie sich die Ohren zu. Allein von den würgenden Geräuschen wurde ihr so übel, dass sie beinahe die Kontrolle verlor. Später in dieser Nacht wurde es noch schlimmer. Jetzt stampfte das Schiff, es stemmte sich gegen Wind und Wellen, tauchte mit dem Bug tief in das rollende Meer, hob sich meterweit aus dem Wasser und schlug wieder zurück. Diesmal wurde auch Emma übel. Sie übergab sich mehrmals in ihren Blecheimer und musste sich mit beiden Händen am Geländer
festhalten, um nicht aus dem Bett zu fallen. Unter sich hörte sie Rose verzweifelt beten. Das aufgewühlte Meer gab keine Ruhe, ließ das schwere Dampfschiff stampfen und rollen und schien es darauf abgesehen zu haben, den Passagieren die übelste Nacht ihres Lebens zu bereiten. Beim Frühstück fehlte ein großer Teil der Passagiere, blieb lieber im Bett, um sich von der unruhigen Nacht zu erholen. Die beiden Matrosen, die den schmutzigen Boden mit Sand schrubbten und die Blecheimer leerten, machten sich über sie lustig, sprachen von »bewegter See« und dass ein Sturm ganz anders aussehe. Emma blieb einige Zeit bei Rose, der immer noch übel war, und tröstete sie. Die junge Polin lag leichenblass auf ihrem Strohsack, die Wolldecke bis zum Kinn gezogen, und betete verzweifelt. »Weißt du, was mein Tatteh gesagt hat?«, sagte sie mit dünner Stimme. »Sei fromm«, hat er gesagt. »Lebe so, wie die Gesetze der Torah, unseres heiligen Buches, es dich lehren, und vergiss niemals den Sabbat! Der Sabbat ist das größte Geschenk, das Gott den Juden gegeben hat! Der Sabbat ist so, wie die kommende Welt sein wird!« Sie atmete eine Weile unruhig. »Ich habe den Sabbat verletzt, Emma! Ich habe gearbeitet, um rechtzeitig am Hafen sein zu können. Und jetzt straft Gott mich für dieses Vergehen!« »So ungerecht ist Gott nicht«, erwiderte Emma. »Er hat euch vor den Männern des Zaren beschützt und er ist auch auf dieser Reise bei dir, um dir Kraft für dein neues Leben zu geben. Hab keine Angst, Rose! Ich bin evangelisch und gehe in eine andere Kirche, aber ich glaube, wir haben denselben Gott. Er beschützt uns!« Rose berührte ihre Hand und fuhr mit geschlossenen Augen fort: »Weißt du, was in der Bibel steht?« Sie überlegte eine Weile. »Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligst. Sechs Tage lang sollst du arbeiten und alle deine Geschäfte
verrichten. Doch der siebte Tag ist ein Ruhetag für den Herrn, deinen Gott. Du sollst dann keinerlei Arbeit tun, weder du selbst noch dein Sohn noch deine Tochter noch dein Knecht noch deine Magd. Denn in sechs Tagen hat der Herr den Himmel und die Erde und alles, was sich darauf befindet, erschaffen, doch am siebten Tag ruhte er. Darum segnete der Herr den Sabbat und erklärte ihn für heilig.« »Du wirst wieder gesund, Rose. Ganz bestimmt.« »Was ein glick, dass du bei mir bist«, sagte Rose dankbar. »Was für ein Glück! So nett war noch keine… keine Christenfrau zu mir!« Nach einiger Zeit schlief das Mädchen ein und Emma stieg zur Back hinauf. Vom Zwielicht des frühen Morgen geblendet blieb sie einen Augenblick stehen. Erleichtert atmete sie die frische Luft ein. Am Himmel hingen dunkle Wolken und es regnete leicht, aber das schlechte Wetter schien die Leute nicht davon abzuhalten, ihre Quartiere zu verlassen. Obwohl zahlreiche Passagiere so seekrank waren, dass sie in ihren Betten liegen blieben, waren immer noch so viele Leute an Deck, dass man kaum weiterkam. Ihre blassen Gesichter kündeten von einer unruhigen Nacht. Nur die Kinder waren so lebhaft wie zuvor am Abend. August hockte auf einer Taurolle auf dem Boden und schrieb in sein Tagebuch. Er war so vertieft in seine Arbeit, dass er nicht merkte, wie Emma sich ihm näherte. Sie wollte ihn überraschen und trat unbemerkt hinter ihn und erhaschte dabei einen flüchtigen Blick in sein Tagebuch. »…blickten sie zu den Sternen empor, die ihnen den Weg in eine neue Zukunft wiesen…«, las sie, bevor August sie entdeckte und das Buch schnell zuklappte. »Tu das nie wieder!«, brauste er auf. Sie erschrak. »Aber ich wollte doch nur… « Er hatte sich schon wieder in der Gewalt und lächelte schuldbewusst. »Tut mir Leid, Emma! Ich wollte dich nicht
anschreien. Es ist nur… Ich möchte nicht, dass irgendjemand in meinem Buch liest, bevor ich fertig bin. Es ist noch nicht gut genug, weißt du?« »Du schreibst ein Buch?«, fragte sie ungläubig. »Ein richtiges Buch? Einen Roman wie ›Ivanhoe‹? Das hast du mir gar nicht gesagt!« Sie blickte auf das schwarze Tagebuch und blickte ihn ungläubig an. »Das ist wundervoll, August! Einfach wundervoll!« »Es ist nur ein Versuch«, dämpfte er ihre Freude, »noch ist es nicht fertig. Ich weiß nicht mal, ob ich es jemals fertig schreibe. Manchmal, wenn ich nicht weiterweiß, würde ich es am liebsten wegwerfen! Ich glaube, ich bin nicht begabt genug für einen Roman. Ich bin Schreiner. Schreiner schreiben keine Bücher, oder?« »Du schon«, sagte Emma stolz, »du schreibst einen Roman und wirst weltberühmt!« Sie setzte sich neben ihn und lächelte ihn verliebt an. »Und ich werde jedem erzählen, dass ich den weltbekannten Autor kenne, der das beste Buch der Welt geschrieben hat.« Er grinste. »Du hast eine blühende Fantasie, Emma!«
5
Unbeeindruckt von Wind und Wetter stampfte die Kaiserin Auguste Victoria durch den Atlantik. Emma gewöhnte sich rasch an die Routine, die allmorgendliche Toilette im Waschraum, die festen Essenszeiten, die schaurigen Geräusche, wenn die Matrosen das Licht löschten und die Schotten verschlossen. Den Lärm und den Abfall in den Schlafräumen ließ sie schon am frühen Morgen hinter sich, wenn sie sich mit August auf der erhöhten Back traf. Sie sprachen viel miteinander, erzählten von der alten Heimat und den Erlebnissen in ihrer Jugend und träumten von einer gemeinsamen Zukunft, ohne feste Pläne zu machen. Denn immer wenn Emma konkreter werden wollte, blieb August seltsam verschlossen und flüchtete sich in Sätze wie: »In New York haben wir genug Zeit, um über alles nachzudenken.« Jeden Nachmittag besuchte Emma einen Englischkurs, den die Frau eines Handwerkers im Raucherzimmer des Schiffes anbot. Sie war in Deutschland gewesen, um ihre todkranke Mutter zu besuchen, und verdiente sich mit dem Unterricht ein Zubrot. Da sie schon seit zwanzig Jahren in Amerika lebte, sprach sie fließend Englisch. Wenigstens die Grundbegriffe der Sprache wollte Emma kennen, wenn sie in New York an Land ging. August sagte, er würde sich noch früh genug mit der fremden Sprache herumschlagen müssen, und nützte die Zeit, um in sein Tagebuch zu schreiben. Wenn er geschrieben hatte, wirkte er oft sehr nachdenklich, und Emma hätte gern gewusst, was ihn bedrückte, wagte aber nicht, ihn danach zu fragen. Sie genoss die Augenblicke, wenn sie zusammen an der Reling
standen, über den endlosen Ozean blickten und sich den Wind um die Nase wehen ließen. Jeden Abend vor dem Schlafengehen unterhielt sie sich mit Rose. Sie verstand sich immer besser mit der jungen Polin und gewöhnte sich so an ihren Kauderwelsch aus jiddischen, deutschen und auch russischen Ausdrücken, dass sie auch die anderen Jüdinnen einigermaßen verstand. Einige der Frauen und Mädchen waren zu Verwandten unterwegs so wie Rose, andere hatten ihr Fahrgeld von einem Agenten bekommen und sich verpflichtet, die Summe mit Zinsen zurückzuzahlen. Der Agent hatte Verträge mit den großen Fabriken und garantierte ihnen Arbeit, doch viele der Passagierinnen versäumten, das Kleingedruckte durchzulesen, und erlebten in New York ein böses Erwachen. Manche brauchten viele Jahre, um ihre Schulden abzubezahlen. Doch wer die Vernichtungsfeldzüge der Männer des Zaren miterlebt hatte, war nicht wählerisch und einfach froh, dem Inferno in Russland und Polen lebend entkommen zu sein. Emma fragte sich, warum alle Welt etwas gegen die Juden hatte, aber darauf wusste nicht mal Rose eine Antwort. »Wir sind anders«, vermutete sie. »Wir glauben an die Torah und ihre Regeln und studieren den Talmud um zu wissen, wie wir diese Regeln befolgen sollen. Das gefällt den Leuten nicht. Der Zar will, dass wir seine Gesetze befolgen. Aber für uns gilt nur, was Gott gesagt hat.« »Du bist die erste Jüdin, mit der ich spreche«, räumte Emma ein, »und ich finde dich nett. Ich glaube, manche Leute mögen die Juden nur nicht, weil sie so viele Geschäfte machen. Mein Onkel ist ein böser Mann. Er sagt, die Juden nehmen ihre Kunden aus.« »Unsere Leute können mit Geld umgehen«, erklärte Rose, »sie kennen sich mit Geschäften aus. Und es gibt sicher Juden,
die andere übers Ohr hauen. Solche Leute gibt es überall, farshtaist?« Am vierten Tag ihrer Reise geschah etwas, was die Passagiere auf dem Zwischendeck erheiterte und Emmas Leben eine entscheidende Wendung gab. Später würde sie noch oft an diesen eher unbedeutenden Vorfall zurückdenken und behaupten, dass ihr Protest gegen die herrschende Klasse schon damals begonnen hatte. Eine Passagierin der ersten Klasse, elegant gekleidet und einen federgeschmückten Hut auf den gelockten Haaren, ließ einen Handschuh auf die Back fallen. Emma hielt es für ein Versehen, aber als sie das arrogante Lächeln der Frau sah, erkannte sie, dass diese den Handschuh mit voller Absicht geworfen hatte. So wie man etwas in eine Löwengrube wirft, um aus sicherer Entfernung zu beobachten, wie die Raubtiere reagieren. Niemand außer Emma hatte bemerkt, wie der Handschuh gefallen war, und auch sie strafte die Passagierin der ersten Klasse mit Nichtachtung. Doch als die Dame einen alten Strumpf aus der Manteltasche zog und auf die Back warf, hielt sie sich nicht länger zurück. Sie hob den Strumpf und den Handschuh auf, schleuderte beides der Passagierin entgegen und schrie: »Was fällt Ihnen ein, Madame?« Sie betonte das französische Wort abfällig. »Laden Sie Ihren Abfall gefälligst woanders ab! Oder werfen Sie in Ihrer Villa auch mit alten Strümpfen um sich? Scheren Sie sich zum Teufel oder ich komme zu Ihnen hoch und werfe Ihnen den Schmutz vom Zwischendeck vor die Füße! Verschwinden Sie!« Die Passagiere des Zwischendecks belohnten ihren Ausbruch mit lautem Beifall, und sogar einige Erste-Klasse-Passagiere klatschten mit. Die Dame lief rot an und verdrückte sich. Sie ließ sich während der ganzen Reise nicht mehr an der vorderen Reling blicken. Die Matrosen, die in der Nähe standen,
unterdrückten mühsam ein Grinsen. »Dos gefeit mir!«, freute sich jemand. »Eine Revoluzzerin!« Am selben Tag ging ein leichter Nieselregen auf das Schiff nieder. Emma und August ließen sich nicht abschrecken und trafen sich im Schutz der Aufbauten, wo der Regen nicht so stark war. Den geheimnisvollen jungen Mann, der mit den Händen in den Manteltaschen auf der Back stand und zu ihnen herüberblickte, entdeckte sie mehr durch Zufall. Ein Taschentuch, das einer Passagierin vom Wind aus der Hand gerissen und über Deck gewirbelt wurde, lenkte ihren Blick in seine Richtung. »August!«, warnte sie mit gedämpfter Stimme. »Da beobachtet uns jemand! Ein junger Mann mit einer Wollmütze! Genau gegenüber!« August folgte ihrem Blick und erschrak. Gleich darauf lächelte er. »Das ist einer von den Polen. Die konnten uns noch nie leiden. Der Kerl denkt wahrscheinlich, ich hätte die Taschen voller Geld!« »Meinst du, er will dich bestehlen?« »Wär nicht das erste Mal, dass so was passiert!« Tatsächlich hatte es schon einige Diebstähle an Bord gegeben, auch in der »Abteilung für ledige Frauen«. Emma trug die Dollar, die sie in den Auswandererhallen eingetauscht hatte, in einem Beutel um den Hals und schlief nachts darauf. August hatte das Geld, das er beim Spiel gewonnen hatte, in eine Tasche gestopft. »Pass gut auf dein Geld auf!«, warnte Emma. Doch als es dunkel wurde und die meisten Passagiere unter Deck verschwanden, kam der Fremde auf August zu und sprach ihn wütend an. Emma war bereits auf dem Weg in ihr Quartier, als die aufgebrachte Stimme des Mannes über die Back tönte. Sie drehte sich verstört um. Der Fremde sprach so laut, dass jedes Wort zu verstehen war. Er sprach mit einem harten Akzent.
»Ich will das Geld, das du Karel gestohlen hast!«, forderte er. »Karel war mein Freund! Du hast ihn beim Spiel betrogen und zwei Billette und zweihundert Mark genommen! So muss es gewesen sein. Einen so hohen Betrag würde er niemals einsetzen! Wenn ich dabei gewesen wäre, hätte ich dich in den Fluss geworfen!« August lachte höhnisch. »Karel war ein schlechter Verlierer! Er dachte, er könnte mich übers Ohr hauen und ging baden. Ich habe gewonnen. Und du kannst gar nicht mitreden, wenn du nicht dabei warst! Du hast nichts gesehen! Wenn du ein Freund von Karel bist, warum hast du ihn nicht davon abgehalten, sich auf solche Spielchen einzulassen? Wer nicht mit den Karten umgehen kann, soll es bleiben lassen! Und jetzt geh mir aus dem Weg! Du störst!« Emma hatte schon Angst, der Pole würde zuschlagen, aber er beherrschte sich. Seine Stimme war sogar leiser geworden. »An deiner Stelle wäre ich in den nächsten Tagen sehr vorsichtig!«, warnte er. »Sonst könnte es sein, dass du bald im Meer schwimmst!« Der Pole verschwand und August wollte ihm wütend nachstürmen. »August!«, hielt Emma ihn mit scharfer Stimme zurück. »August! Bleib hier! Das bringt nichts!« Sie lief zu ihm und griff nach seinem rechten Arm. »Ich möchte nicht, dass du dich schlägst!« »Er hat mich beleidigt!« Und er hat Recht, hätte Emma am liebsten hinzugefügt. Ein Gefühl sagte ihr, dass August bei dem Spiel tatsächlich betrogen hatte. Nicht einmal ein verzweifelter Pole, der unbedingt Geld brauchte, setzte zwei Billette nach New York und fünfzig Dollar in einem Kartenspiel ein. August hatte ihn betrogen oder bestohlen und wäre im Gefängnis gelandet, wenn sein Opfer ein Deutscher oder Österreicher gewesen wäre. Einem Polen glaubte selbst die Polizei nicht.
»Du hast es für mich getan, nicht wahr?«, fragte sie. August ging wortlos davon und ließ sie im Regen stehen. Mit Tränen in den Augen kehrte Emma in den Schlafsaal zurück. Sie wollte nicht, dass August etwas Ungesetzliches beging. Selbst dann nicht, wenn es ihnen zu einem Vorteil verhalf. Ihre Zukunft sollte auf ehrlicher Arbeit gründen, auf Arbeit und Gottvertrauen. Sie legte sich ins Bett und starrte zur Decke empor. Vom anderen Ende des Schlafsaals war das Knirschen des Sandes zu hören, als einer der Matrosen den Boden fegte. Wegen der nassen Kleider, die an fast jedem Bettpfosten hingen, stank es noch erbärmlicher als während der vorangegangenen Tage. Die Bullaugen blieben bei schlechtem Wetter geschlossen. Der Knoblauchgeruch vermischte sich mit dem Moder, der sich an vielen Stellen im Schlafsaal festgesetzt hatte, und vom Nachbargang drang der Gestank von Erbrochenem herüber. Eine Ungarin war seekrank und hatte sich schon mehrmals in ihren Blecheimer übergeben. Emma machte der Gestank nichts mehr aus. Sie lag leise weinend auf ihrem Strohsack und zweifelte zum ersten Mal an August. Hatte er das Verbrechen im Königreich Bayern doch begangen? War er ein Betrüger, ein schlechter Mensch? Sie glaubte es nicht, er war ein liebenswerter Mann, der nur Gutes wollte, aber die leisen Zweifel, die sich in ihr festgesetzt hatten, nagten an ihr. »Was ist passiert?«, fragte Rose im Bett unter ihr. »Nichts«, antwortete sie. »Es ist… wegen August, nicht wahr?« »Er ist ein guter Mensch«, sagte sie. »Sha!«, schimpfte eine Frau wütend. »Hört endlich auf zu quatschen! Ich will schlafen! Noch ein Wort und ihr bekommt Prügel!«
In dieser Nacht schlief Emma unruhig. Sie träumte schlecht und schreckte mehrmals aus dem Schlaf. Und beim Frühstück am nächsten Morgen saß sie unruhig und mit verweinten Augen am Tisch und bekam kaum einen Bissen hinunter. Sie ließ sogar die Hafersuppe stehen. Obwohl sie der festen Überzeugung war, dass sie sich unnötig Sorgen machte, wollte ihre Unruhe nicht weichen. Nur widerwillig nahm sie am Englischunterricht teil. Beim Mittagessen stocherte sie im Fleisch herum und überließ Rose die Reste ihrer Mahlzeit, und weil sie Angst hatte, August gegenüberzutreten, blieb sie den halben Nachmittag im Schlafsaal und ging erst eine halbe Stunde vor dem Abendessen auf die Back. Dichter Nebel hatte den Nieselregen abgelöst und klammerte sich wie zähe Watte an die Aufbauten des Schiffes. Es war unangenehm kalt. Emma schlug den Mantelkragen hoch und hielt sich an der Reling fest. Das Meer war etwas unruhiger geworden und das Schiff schaukelte leicht. Dennoch waren wieder mehrere hundert Menschen an Deck. Sie suchte nach August und sah ihn an seinem Lieblingsplatz auf der Taurolle sitzen. Diesmal hatte er sein Tagebuch nicht dabei. Er rauchte nervös und hielt den Kopf gesenkt, die Schirmmütze weit in die Stirn gezogen. Der Pole, der ihn am vergangenen Abend beschuldigt hatte, war nirgendwo zu sehen. Sie ging zu August und setzte sich wortlos neben ihn. Entsetzt bemerkte sie die blutigen Schrammen auf seiner rechten Wange und an seinem Kinn. Sein linkes Auge war geschwollen. »August!«, flüsterte sie besorgt. »Was ist passiert? Hast du dich geschlagen?« Er blickte sie schuldbewusst an und sagte: »Ich muss dir was sagen, Emma. Ich habe geschummelt. Nicht bei den Billetts, die habe ich ehrlich gewonnen. Aber bei den fünfzig Dollar.
Ich kann ein paar Kartentricks und hab Karel… den Polen reingelegt.« »Hat der Mann von gestern dich verprügelt?« August grinste schwach. »Aber er sieht noch schlimmer aus. Er ist ein fairer Bursche, Emma. Er wusste, dass er keinen Anspruch auf das Geld hat, und bot mir an, um die fünfzig Dollar zu kämpfen. Mir blieb nichts anderes übrig als mich darauf einzulassen. Es war ein heißer Kampf, und selbst die Polen in unserem Schlafsaal gaben danach zu, dass ich gewonnen hatte.« Er verzog das Gesicht und berührte eine schmerzende Stelle an seinem Kinn. »Ich hab ihm die Hälfte von dem Geld abgegeben, Emma.« »Das war richtig so«, erwiderte Emma erleichtert. »Fünfundzwanzig Dollar reichen für die Einreise nach Amerika.« Sie griff nach seiner Hand und drückte sie fest. In diesem Augenblick war ihre Zuneigung stärker als jemals zuvor. »Ich weiß, warum du bei dem Spiel betrogen hast, August. Auch ich würde alles für dich tun. Ich möchte nur wissen… bei der Sache mit dem Sohn des Bürgermeisters… haben sie dir die Tat wirklich in die Schuhe geschoben oder sucht die bayerische Polizei zu Recht nach dir? Sag mir die Wahrheit!« »Ich bin unschuldig, Emma!«, wehrte er sich. »Ich bin kein Engel. Ich hab die fünf Pfennig genommen, so wie ich’s dir erzählt habe, und beim Kartenspielen mit anderen Jungen hab ich öfter mal geschummelt, aber da ging es nie um Geld. Ich bin unschuldig!« »Ich wollte es nur wissen, August«, sagte Emma ernst. »Ich könnte nicht mehr ruhig schlafen, wenn ich wüsste, dass du mich belügst.« Sie senkte den Blick. »Ich hab dich sehr lieb, August!« »Ich dich auch, Emma!«
Sie küssten sich und hielten sich fest in den Armen, bis einige lachende Kinder sie daran erinnerten, dass sie nicht allein waren. »August und Emma lieben sich! August und Emma lieben sich!«, sangen ein paar freche Lausejungen, die ihre Namen kannten. In dieser Nacht nahm der Nebel zu. In immer dichteren Schwaden umlagerte er den Ozeandampfer. Als Emma am nächsten Morgen auf die Back kletterte, um vor dem Englischunterricht etwas Luft zu schnappen, konnte sie kaum die Aufbauten und die Schlote erkennen. Nasskalte Luft legte sich auf ihre Bronchien und machte das Atmen schwer. Mit ihr waren noch zahlreiche andere Passagiere nach oben gekommen und blickten ängstlich in den undurchdringlichen Nebel, der nass und schwer auf dem Wasser lag. Die Warnlampen leuchteten rot und grün in den Schwaden. Als das Nebelhorn, eigentlich eine Dampfpfeife, zum ersten Mal über die Decks dröhnte, hielt Emma sich vor Schreck die Ohren zu. Wie der Todesschrei eines riesigen Ungeheuers ließ der unmenschliche Laut das Deck erzittern. Einige Mädchen rannten schreiend davon, ein kleines Kind weinte vor Angst. Ein bulliger Russe schüttelte drohend seine Faust. Zwei Katholikinnen sanken vor der Reling zu Boden und beteten einen Rosenkranz. Auf dem Erste-Klasse-Deck schrie eine Dame um Hilfe. Doch eine Minute später brüllte das Nebelhorn erneut und nach einer weiteren Minute wieder. Das grelle Pfeifen wurde zur ständigen Begleitmusik und vertrieb einen Passagier nach dem anderen von den Decks. »A broch!«, schimpfte ein ganz in Schwarz gekleideter Jude. »Hat man denn nicht einmal auf einem Dampfschiff seine Ruhe?« Unter Deck war das Nebelhorn nur als dumpfes Dröhnen zu vernehmen, aber die Bedrohung blieb. Die meisten Passagiere klebten nervös an den Bullaugen und blickten auf das Meer
hinaus, in der ständigen Angst, ein anderes Schiff aus dem Nebel tauchen zu sehen. »Wenn uns ein Schiff rammt, gehen wir als Erste drauf!«, jammerte eine Passagierin. »Wir schlafen ganz vorn!« Die beiden Matrosen, die im Schlafsaal der ledigen Frauen und Mädchen für Ordnung sorgten, versuchten die Passagiere zu beruhigen. Sie erzählten von Zusammenstößen, die alle glimpflich ausgegangen seien und angeblich kein einziges Menschenleben gekostet hätten. Diese Geschichten trugen allerdings nur wenig zur Beruhigung bei. Niemand konnte sich vorstellen, wie man von einem Schiff in voller Fahrt gerammt werden und das auch noch überleben konnte. Danach gingen die Matrosen zur Tagesordnung über und reinigten den Boden, als wäre es ein Abend wie jeder andere. Den Schmutz trugen sie nach oben und warfen ihn ins Meer. »Keine Angst! Wir laufen euch nicht weg!«, rief einer der beiden Matrosen, als ihm eine besonders ängstliche Frau nachlief. Der Nebel blieb die ganze Nacht und das Nebelhorn gellte unaufhörlich. Das Schiff erzitterte unter dem nervtötenden Geräusch und ächzte in allen Fugen, als würde es jeden Augenblick auseinander brechen. Und doch war die Dampfpfeife das einzige Mittel, um andere Schiffe vor einer drohenden Kollision zu warnen. Auf ihren Betten sitzend, die Hände zum Gebet gefaltet, warteten viele Passagiere darauf, dass die Gefahr endlich vorüber war und das hässliche Heulen verstummte. Einige Kinder weinten die ganze Nacht und die meisten Erwachsenen rissen sich nur zusammen, weil sie Angst hatten, sich vor ihren Nachbarn zu blamieren. Am frühen Morgen war der Spuk vorüber. Der Nebel hatte sich gelichtet und das Nebelhorn verstummte. Emma und Rose blickten einander an und die Polin sagte: »Danken Got! Gott sei Dank!«
6
Am letzten Vormittag der langen Reise standen die Passagiere dicht gedrängt auf der Back und warteten ungeduldig darauf, die Küste zu erspähen. Emma und August lehnten vorn an der Reling und konnten es gar nicht erwarten, endlich an Land zu gehen. Auf dem Wasser waren die ersten Schmutzstreifen zu sehen, ein sicheres Zeichen dafür, dass sie sich in der Nähe von menschlichen Siedlungen befanden. Alle Passagiere hatten ihre besten Kleider angezogen, auch Emma und August, und waren bereit für einen der aufregendsten Augenblicke ihres Lebens. »Wo ist sie? Wo ist sie?«, rief jemand ungeduldig und alle wussten, wer gemeint war: die »Statue der Freiheit« vor der Einfahrt in den New Yorker Hafen. Als die über hundert Meter hohe Statue aus dem morgendlichen Dunst auftauchte, ging ein Raunen durch die Passagiere. Stolz und unbeirrt reckte »Lady Liberty« ihre rechte Hand mit der Fackel empor, ein Symbol für die Freiheit und die Hoffnung, die alle Neuankömmlinge in den Hafen begleitete. Einer der Passagiere vom Zwischendeck wusste sogar, was auf dem Sockel der Statue stand. »Schickt sie mir, die Heimatlosen, vom Sturme Getriebenen!«, rezitierte er eine Zeile des Gedichts. Die Morgensonne, die sich mit ihren ersten Strahlen durch die Wolken kämpfte, leuchtete auf dem langen Kupfermantel der Lady, die alle Einwanderer zu begrüßen schien. »Ist sie nicht wunderschön?«, fragte Emma ehrfürchtig. Sie konnte sich gar nicht vom Anblick der anmutigen Statue losreißen, als wäre dieses Symbol der Freiheit schon Versprechen genug für einen erfolgreichen Start in ein neues
Leben. »Ich habe sie auf einer Bildpostkarte des Apothekers gesehen, aber in Wirklichkeit ist sie noch schöner! Jetzt habe ich keine Angst mehr vor der Zukunft!« Das Gespräch über ihr gemeinsames Leben hatten sie bis zum vorletzten Tag hinausgeschoben. August hatte verlegen aufs Meer hinausgeblickt und nach einigem Zögern gesagt: »Ich liebe dich, Emma! Ich weiß, einige Leute sagen, dass wir zu jung für die Liebe sind, aber ich glaube fest daran, dass wir zusammengehören. Sobald ich Arbeit habe und genug verdiene, um eine Familie zu ernähren, werde ich deinen Onkel Heinrich um deine Hand bitten.« »Ich werde auf dich warten!«, versprach sie mit leuchtenden Augen, obwohl sie glücklicher gewesen wäre, wenn er sie gleich geheiratet hätte. Ihr Onkel hätte sicher nichts dagegen gehabt, wenn sie für eine Weile beide bei ihm untergekrochen wären. Sie unterdrückte ihren Wunsch, ihn danach zu fragen. Es wäre nicht schicklich gewesen und hätte vielleicht alles verdorben. »Wenn ich nicht mehr bei meinem Onkel wohne, lasse ich meine Adresse bei ihm.« »Es wird nicht lange dauern«, sagte er. »Ich bin fleißig und finde bestimmt bald Arbeit. Die Amerikaner suchen Schreiner, und wenn ich nicht in meinem Beruf arbeiten kann, finde ich was anderes.« »Ich werde warten«, wiederholte sie mit fester Stimme. Sie verstand August. Auch in der alten Heimat hielt ein Mann nur dann um die Hand eines Mädchens an, wenn er genug Geld verdiente, um eine Familie zu ernähren. Aber waren sie nicht nach New York ausgewandert, um auch solche Traditionen zu durchbrechen? War in Amerika nicht alles freier und ungezwungener? Anscheinend nicht, denn nachdem die Kaiserin Auguste Victoria an den Hudson River Piers angelegt hatte, durften nur die Passagiere der oberen Decks von Bord gehen. Die vom
Zwischendeck mussten so lange auf dem Schiff warten, bis die Beamten von Ellis Island entschieden hatten, ob noch Zeit genug war, um die Kontrollen durchzuführen. Nur weil am nächsten Morgen zwei weitere Ozeandampfer erwartet wurden, erklärte man sich dazu bereit. Mit den anderen Passagieren gingen Emma und August von Bord, um nach einer flüchtigen Zollkontrolle das Fährschiff nach Ellis Island zu besteigen. Die entwürdigende Untersuchung auf der »Insel des Schreckens«, wie man Ellis Island scherzhaft nannte, war ausschließlich den Passagieren vom Zwischendeck vorbehalten. »Das Land der Freiheit«, spottete August, »das Paradies auf Erden, in dem alle Menschen gleich geboren sind, ungeachtet ihrer Herkunft, ihres Vermögens, ihrer Überzeugung und ihrer Religion!« »Ruhe!«, rief ein Zollbeamter, der die deutschen Worte glücklicherweise nicht verstanden hatte. »In Zweierreihen weitergehen!« Auf dem Fährschiff blieben Emma und August im Freien und lehnten sich an die Reling. Nach der langen Schiffsreise und den Nächten in den stickigen Schlafsälen waren sie froh an der frischen Luft zu sein. Bis nach Ellis Island war es nur eine halbe Stunde, hörten sie die Frau sagen, die den Englischunterricht gegeben und die Überprüfung schon einmal erlebt hatte. Tatsächlich tauchte die Insel mit dem monumentalen Gebäude, das eher an ein europäisches Schloss erinnerte, schon nach wenigen Minuten in der Ferne auf. Mit wachsender Angst blickten die Passagiere auf den riesigen Komplex, in dem die Beamten über ihre Zukunft entscheiden würden. »Habt keine Angst, nur zwei Prozent werden abgelehnt!«, hatte ein Matrose sie getröstet. »Wenn ihr gesund seid und lesen und schreiben könnt, kann euch nichts passieren!«
Dennoch fürchtete sich Emma. An Bord des Ozeandampfers waren ihr so viele Schauergeschichten zu Ohren gekommen – über Menschen, die wegen einer einzigen falschen Antwort oder einer Erkältung abgewiesen worden waren, über Familien, die man getrennt hatte –, dass ihr beim Betreten der großen Eingangshalle ganz flau im Magen wurde. Sie standen in einer scheinbar endlosen Schlange mit Männern, Frauen und Kindern, beladen mit Koffern, Kisten, Körben und Kleidersäcken, und die Luft war von lautem Geplapper in unzähligen Sprachen erfüllt. In ihren Gesichtern mischten sich Hoffnung und Angst, aber auch die wilde Entschlossenheit, die letzte Hürde in die Freiheit erfolgreich zu nehmen. »Hut ab!«, rief ein steifer Mann am Eingang und August nahm widerwillig seine Schirmmütze vom Kopf. Wer die Anordnung nicht verstanden hatte, wurde durch eindeutige und barsch vorgetragene Gesten aufgefordert, es den anderen Männern gleichzutun. Der Mann am Eingang deutete auf die riesige amerikanische Fahne an der Wand und legte die flache Hand auf sein Herz, was wohl bedeutete, dass man der Flagge seine Ehrerbietung zeigen sollte. »Doktorkarte bereithalten!«, rief eine andere Stimme. Die Aufforderung wurde in zahlreichen anderen Sprachen wiederholt, auch auf Deutsch. »Frauen auf die linke, Männer auf die rechte Seite!« Von einer anderen Frau erfuhr Emma, dass nur die verheirateten Paare zusammenbleiben durften. »August!«, flüsterte sie ängstlich. »Sie dürfen uns nicht trennen!« Sie klammerte sich an ihn, wollte, dass er auf ihrer Seite blieb, aber die uniformierten Männer waren unerbittlich. Wer sich ihren Anordnungen widersetzte, musste damit rechnen, zurückgeschickt zu werden. »Wir sehen uns auf der anderen Seite«, versprach August. »Wir sind gesund und wir haben jeder fünfundzwanzig Dollar.
Uns kann nichts passieren.« Er löste sich sanft von ihr und lächelte sie an. Emma fügte sich und folgte den Frauen und Mädchen auf die steile Treppe, die zu den ersten Schaltern emporführte. Sie war jung und kräftig und hatte keine Mühe, die vielen Stufen zu erklimmen. Doch in der endlosen Schlange gab es auch ältere und erschöpfte Menschen, die sich schwerer taten, und eine ältere Ungarin musste sogar auf halber Höhe eine längere Pause einlegen und sich von einer anderen Frau stützen lassen. Die Einwanderer konnten nicht wissen, dass die Beamten sie genau beobachteten und sich die schwächeren Menschen merkten; sie würden von den Ärzten besonders eingehend untersucht werden. Am Ende der Treppe wartete ein schmaler Gang, der durch massive Geländer abgetrennt war und zu einem der vielen Untersuchungszimmer führte. Mit klopfendem Herzen wartete Emma darauf, dass der Arzt sie hereinwinkte. Obwohl sie kerngesund war, verspürte sie eine seltsame Unruhe und auch Angst, noch in letzter Minute abgewiesen zu werden. Die Vorstellung, wieder an Bord des Schiffes gehen und nach Deutschland zurückfahren zu müssen, war so unvorstellbar, dass sie nicht einmal daran denken wollte. Den anderen Frauen und Mädchen schien es genauso zu gehen. Ihre Augen waren voller Furcht und einige zitterten sogar. Endlich winkte sie der Arzt in den Untersuchungsraum. Er ließ sich ihre Doktorkarte geben, warf einen flüchtigen Blick darauf und legte sie zu den anderen in einen Kasten. Mit einem Kopfnicken forderte er sie auf, ihren Arm frei zu machen. Er prüfte, ob sie geimpft war, horchte ihr Herz und ihre Lunge ab und zog ihre Augenlider so weit auseinander, dass sie noch Stunden später tränten. »Allright«, brummte er und gab ihr einen Klaps auf den Rücken. Sie hatte die Untersuchung bestanden und durfte weitergehen. Erstaunt darüber, dass die
Überprüfung nur wenige Sekunden gedauert hatte, reihte sie sich erneut in die Warteschlange ein. Durch eiserne Geländer voneinander getrennt, führten mehrere Gänge zu den Pulten, hinter denen die größte Hürde auf dem Weg in die Vereinigten Staaten wartete: der Einwanderungsbeamte, der entschied, ob man amerikanischen Boden betreten durfte. Den verzweifelten Schreien nach, die in einer Ecke des Raumes erklangen, war gerade eine der Frauen abgewiesen worden. Der Beamte hatte ein großes »X« mit Kreide auf ihren Mantel gemalt. Das »X« stand für eine psychische Krankheit und bedeutete, dass sie geistig gestört war und deshalb nicht einreisen durfte. Ihr selbst war das egal. Die Schreie kamen von ihrer Tochter, die sich entscheiden musste, ob sie mit ihrer Mutter nach Europa zurückkehren oder sie einem ungewissen Schicksal in der Heimat überlassen sollte. Emma blickte zu den Pferchen mit den Männern hinüber, konnte August aber nicht entdecken. Enttäuscht rückte sie wieder einen Schritt nach vorn. Es dauerte über eine Stunde, bis sie endlich an die Reihe kam und von einem jungen Beamten mit dunklen Augen und einem schmalen Schnurrbart befragt wurde. Seine Miene blieb während der gesamten Befragung neutral, verzog sich weder zu einem Lächeln noch zu einem Ausdruck der Missbilligung. Beinahe gelangweilt prüfte er die Eintragungen in ihren Dokumenten. »Name?« »Emma Mahler.« Sie buchstabierte auf Englisch, wie sie es gelernt hatte, und glaubte fast so etwas wie Anerkennung in seinen Augen zu erkennen. »Emma Mahler aus Deutschland… Germany.« Diesmal gab sein strenger Blick ihr zu verstehen, nur auf seine Fragen zu antworten. Er blickte von seinem Eintrag auf. »Alter?«
»Siebzehn.« Er überprüfte das Geburtsdatum in ihren Dokumenten genau und gab sich zufrieden. Sechzehn war das Mindestalter. Wer jünger war, durfte nur in Begleitung eines Erwachsenen einreisen. »Profession? Haben Sie einen Beruf, Miss?« Eigentlich wäre »Magd« die richtige Antwort gewesen, aber dann hätte er ihr bestimmt nicht erlaubt in eine Großstadt wie New York einzuwandern. »Hausmädchen«, antwortete sie. »Housekeeper.« Er schien sie zu verstehen und schrieb den Beruf in die Zeile mit ihrem Namen und dem Alter. »Where to? Wohin wollen Sie?« »Neuyork… New York.« »Was wollen Sie dort?« »Arbeiten.« »Als Hausmädchen?« »Ich ziehe zu meinem Onkel«, erklärte Emma, obwohl ihr Onkel Heinrich gar nicht wusste, dass sie kam. »Er hat ein Eisenwarengeschäft… einen Hardware Store. Ich helfe ihm beim Verkaufen.« »Adresse?« Sie erinnerte sich an die Anschrift, die sie auf einer Bildpostkarte an den Herrn Pfarrer gelesen hatte. Weil sie damals schon von Amerika träumte, hatte sie sich tief in ihr Gedächtnis gebrannt. Sie wusste sogar noch, was er geschrieben hatte: »…habe ich meine Ersparnisse Gewinn bringend in einem so genannten Hardware Store in der Achten Straße angelegt. Ich bin hier von etlichen Deutschen umgeben.« Sie bemerkte, wie der Beamte allmählich ungeduldig wurde, und sagte schnell: »Achte Straße… Eighth Street.« »How much money? Wie viel Geld haben Sie dabei?«
»Fünfundzwanzig Dollar.« Er trug die Summe in sein Buch ein und deutete den Gang hinunter. »Allright. Hier entlang und durch den Ausgang nach New York. Wait for the ferry… Warten Sie auf die Fähre zur Battery.« Emma verstand nur die Hälfte, aber die Gesten des Beamten waren eindeutig und das Schild mit der Aufschrift »New York« so groß, dass man es nicht übersehen konnte. Vor dem Ausgang wartete noch ein Beamter und stellte ihr noch einmal ein paar belanglose Fragen, erst dann durfte sie zur Anlegestelle der Fähre gehen. Sie suchte nach August, konnte ihn aber nirgendwo entdecken. »August!«, rief sie ungeniert. »August! Wo bist du?« Als sie sich umdrehte und gegen den Strom der Einwanderer zum Haus zurücklaufen wollte, hielt sie ein Beamter auf. Er sah die Stempel auf ihren Dokumenten und sagte »Wrong way, Miss! Da geht es lang!« »Aber ich suche meinen… meinen Verlobten!«, flehte sie den Beamten an. Das englische Wort für »Verlobter« kannte sie nicht. »Gehen Sie bitte weiter, Miss! Please!« Sie wollte sich an ihm vorbeidrängen, aber er hielt sie fest und schob sie in die Richtung, in die alle Einwanderer liefen. »Zur Fähre! Nicht stehen bleiben, meine Herrschaften! Gehen Sie weiter!« Emma blieb nichts anderes übrig, als sich in die Schlange der langsam nach vorn drängenden Passagiere einzureihen und an Bord des Fährschiffes zu gehen. Auch dort suchte sie vergeblich nach August. Ein eiserner Ring schloss sich um ihre Brust. Was war, wenn August abgelehnt worden war und nach Europa zurückkehren musste? Wenn sie ihn niemals wiedersah? Der Gedanke, ihn auf diese Weise zu verlieren, war unerträglich und trieb ihr die Tränen in die Augen. Der
begeisterte Ruf eines älteren Juden, der sich im Fährschiff auf den Boden warf und rief: »Amerika, Amerika, ich kisse deinen Boden!«, wirkte wie blanker Hohn auf sie. »Emma! Da bist du ja!«, rief jemand neben ihr. Die Stimme gehörte zu Rose, die auf ihrem prall gefüllten Koffer saß und voller Vorfreude auf New York zu sein schien. »Ist alles gut gegangen!« Emma wandte den Kopf. »Rose! Hast du August gesehen?« »Deinen Verlobten? Nein, der kommt bestimmt mit der nächsten Fähre. Ich hab gehört, bei den Männern dauert es etwas länger.« »Bist du sicher?« »Das sagen alle, Emma. Warte, ich schreibe dir meine Adresse auf, dann kannst du mich mal besuchen!« Sie öffnete ihren Koffer, kramte einen Notizblock und einen Bleistift heraus und schrieb die Adresse hinein. Sie riss die Seite heraus und reichte sie Emma. »Wisst ihr schon, wo ihr wohnen werdet? Wann heiratet ihr denn?« Emma wusste keine Antwort auf diese Fragen, rang sich jedoch ein Lächeln ab und sagte: »Ich schreibe dir eine Postkarte, wenn wir heiraten. Wohnen werden wir erst mal bei meinem Onkel Heinrich in der Achten Straße… die genaue Adresse weiß ich nicht.« Rose war sehr aufgeregt und plapperte während der gesamten Fahrt. Sie war sehr erleichtert, unbeschadet durch die Kontrollen von Ellis Island gekommen zu sein, und freute sich auf ein neues Leben mit ihrem Onkel und ihrer Tante. »Ich werde so viel Geld nach Hause schicken, dass meine ganze Familie keine Not mehr zu leiden braucht! Danken Got!« Im Hafen von New York strömten die Einwanderer in alle Richtungen davon. Einige wurden von Verwandten oder Freunden abgeholt, andere meldeten sich bei den Abgesandten der Agenturen und bekamen eine Adresse, bei der sie sich
melden sollten. Die wenigen Alleinreisenden aus Deutschland gingen zum »Deutschen Emigrantenhaus«, wie sie von einem älteren Mann erfuhr, wo man ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen würde. Schon auf dem Schiff hatte man sie vor Mädchenhändlern und Schleppern gewarnt, die im Hafen auf unschuldige Mädchen warteten, sich als hilfreiche »Gentlemen« ausgaben und sie an Bordelle verkauften. Emma hielt die Berichte für übertrieben, machte aber dennoch einen großen Bogen um die zahlreichen Händler, Agenten und Bauernfänger, die am Kai auf die Einwanderer warteten. Sogar einige Missionare waren dabei. »Halleluja!«, rief einer der Kirchenmänner. »Dies ist Gottes eigenes Land und wir heißen euch in unserer Gemeinde willkommen! Kommt zu uns, dann ist euch das Himmelreich sicher!« Er verteilte Reklamezettel mit der Anschrift und murmelte ein dankbares »Amen!«, wenn jemand danach griff. In ihrer Sorge, August verloren zu haben, hatte Emma noch keinen Blick für die gewaltige Stadt, die vor ihren Augen mit riesigen Wohnhäusern und Wolkenkratzern aufragte, übrig gehabt. Ihre Gedanken waren bei dem geliebten Mann. Abseits von dem ganzen Trubel, an einem Lattenzaun, dessen Bretter fast alle gebrochen waren, blieb sie stehen. Sie winkte Rose zu, die ihren Onkel und ihre Tante getroffen hatte und auf die Elektrische wartete. »Viel Glück!«, rief sie ihr zu. »Viel glick, Emma«, erwiderte diese. Emma wartete, bis alle Passagiere verschwunden waren, und setzte sich auf eine niedrige Steinmauer. Mehrere Agenten, ein zwielichtig aussehender Mann mit einem dichten Schnurrbart und einer der Missionare versuchten sich ihr zu nähern, aber sie rief jedes Mal nach einem »Officer«, wie sie es im Englischunterricht gelernt hatte, und gab den Leuten schon durch ihre Haltung zu verstehen, dass sie nichts mit ihnen zu
tun haben wollte. Nach einer Weile verloren sie das Interesse an ihr und ließen sie in Ruhe. Geduldig wartete sie auf das nächste Fährschiff. Mit klopfendem Herzen beobachtete sie jeden Passagier, der von Bord ging, ohne August zu entdecken. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass die Fähre noch ein weiteres Mal anlegen würde, doch auch mit diesem Schiff kam er nicht an Land und sie ließ enttäuscht und leise weinend die Schultern hängen. »August!«, flüsterte sie. »August! Wo bist du?« Und dann schlug sie beide Hände vors Gesicht und schluchzte so bitterlich, dass nicht einmal die Missionare wagten, sie anzusprechen und ihr Trost zu spenden.
7
Die Sonne war längst hinter den Wolkenkratzern von New York verschwunden, als Emma sich auf den Weg machte. Ihr erstes Geld hatte sie für einen Correct Guide ausgegeben, der einen übersichtlichen Stadtplan enthielt und ihr zeigte, wo die Achte Straße war, in der ihr Onkel Heinrich wohnte. Noch etwas steif vom vielen Herumstehen auf Ellis Island lief sie durch ein Gewirr von Häuserschluchten und verwinkelten Straßen, vorbei an schmalen Häusern mit schmiedeeisernen Gittern und Zäunen, bis sie den Broadway erreichte, eine breite Hauptstraße, die selbst um diese späte Zeit noch im Licht von vielen hundert Lichtern glänzte. Das schrille Klingeln einer Elektrischen ließ sie zusammenzucken. Sie fuhr herum und sah eine Straßenbahn nach Norden rattern. Wie von Geisterhand gesteuert verschwand die Bahn in dem Häusermeer, das sich jenseits der nächsten Querstraße in den Himmel erhob. Eine Steinwüste von ungeahnten Ausmaßen, viel größer als Hannover oder Hamburg, und so energiegeladen, als wäre sie ein lebendiges Wesen. Selbst aus der Entfernung erkannte sie zwei Wolkenkratzer, die sie auf den Bildpostkarten des Apothekers gesehen hatte: das über hundert Meter hohe Flatiron Building, das wie ein riesiges Bügeleisen geformt war, und den über zweihundert Meter hohen Metropolitan Life Insurance Tower, das höchste Gebäude der Welt. Auf seiner Spitze leuchtete ein rotes Licht. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie Menschen in den obersten Stockwerken dieser gigantischen Bauwerke leben konnten, und musste für einen Moment die Augen schließen,
um nach diesem faszinierenden Anblick wieder gehen zu können. Der Schmerz, ihren geliebten August aus den Augen verloren zu haben, war inzwischen wieder schüchterner Hoffnung gewichen. Er würde herausfinden, wo der Eisenwarenladen ihres Onkel Heinrich war, und sie besuchen, sobald er eine Bleibe und Arbeit gefunden hatte. »Uns kann nichts mehr trennen«, flüsterte sie. Sie hatten ihn nicht zurückgeschickt. Starke und gesunde Männer wie er hatten von den Beamten auf Ellis Island am wenigsten zu befürchten. Er würde kommen, das war ganz sicher. Er liebte sie, das hatte er mehrmals beteuert. Er hatte sie sogar geküsst! Vor dem Schaufenster eines Kleidergeschäfts blieb Emma stehen. Im Schein der elektrischen Lampen erkannte sie einige Röcke und taillierte weiße Blusen, so genannte »Shirtwaists«, wie die Preisschilder verkündeten. Während der nächsten Tage würde sie feststellen, dass fast jede Frau in Amerika solche modischen Blusen trug. Auf der Lower East Side gab es riesige Fabriken, in denen sie hergestellt wurden. Verglichen mit ihrem Kleid und ihrem Mantel waren die Kleidungsstücke im Schaufenster hochmodern. Um keinen Straßenräubern oder Taugenichtsen zu begegnen, blieb Emma auf den breiteren und besser beleuchteten Straßen, bis sie die Bowery erreichte, wo es noch lebhafter zuging als auf dem Broadway. Unter den Gleisen der Hochbahn und im Schein der vielen Lampen und beleuchteten Reklametafeln von Theatern, Tanzhallen, Saloons und Lichtspieltheatern, in denen bewegte Bilder gezeigt wurden, wimmelte es geradezu von Automobilen und Menschen. Aus den Lokalen drang laute Musik, die nur vom rhythmischen Rattern der Hochbahn übertönt wurde. Ein Gemisch von unzähligen Sprachen drang an ihre Ohren, darunter Jiddisch, Russisch, Italienisch und Deutsch, und auf den Gehsteigen drängten sich Händler und
Zeitungsjungen und priesen lautstark ihre Waren an. »Wer saubere Schuhe will, kommt zu Mr Clean!«, rief ein langer Schwarzer und zeigte seine strahlend weißen Zähne. So ein lebhaftes Getümmel hatte Emma noch nicht gesehen und es fiel ihr schwer, sich von dem Anblick loszureißen. New York war wirklich eine faszinierende Stadt. Wild, bunt, großartig, aber irgendwie auch Furcht einflößend. Im Vergnügungszentrum der Bowery, so schien es, schlug das Herz dieser Stadt doppelt so schnell und es blieb einem kaum Zeit zum Luftholen. Eine Sensation jagte die andere, jedes Licht war heller und bunter, jedes Geräusch noch lauter. In das Lärmen der Orchestrions und elektrischen Klaviere mischten sich die Stimmen und das Lachen in den Saloons und Tanzhallen, auf den Bürgersteigen lärmte und schrie man um die Wette und fast jedes Fenster war erleuchtet. Staunend ging Emma weiter. Einige Passanten blickten sie neugierig an und ihr wurde auf einmal bewusst, wie sehr ein junges Mädchen mit einem Rucksack in diesem Trubel auffallen musste. Wenn sie sich zu nahe an eines der zweifelhaften Etablissements heranwagte, würde man sie bestimmt festnehmen. Als sie einen Polizisten auf der anderen Straßenseite sah, verspürte sie ein schlechtes Gewissen, obwohl sie sich keiner Schuld bewusst war. Sie beschleunigte ihre Schritte. Im Schatten eines Mietshauses lief sie weiter nach Norden. Jetzt waren die Querstraßen nummeriert und sie konnte mitzählen, bis sie das Schild mit der Aufschrift »8th Street« an einer Straßenkreuzung entdeckte. Sie bog nach rechts und lief zögernd die dunkle Straße hinunter. Bis zur First Avenue traf sie kaum einen Menschen, dann wurde es lebhafter und die Blicke zahlreicher Männer, Frauen und Kinder, die auf den Treppen der Mietskasernen saßen oder sich mitten auf der Straße unterhielten, als hätten sie kein Zuhause, folgten ihr. Das exotische Aussehen einiger
Menschen und das babylonische Sprachengewirr, das wie das ständige Summen über einem Bienenstock in der kühlen Frühlingsluft hing, begleitete sie bis zur Avenue B, einer breiten Einkaufsstraße, nicht so hell erleuchtet und eindrucksvoll wie der Broadway, aber mit zahlreichen deutschen Geschäften und einer großen bayerischen Bierhalle, die Emma beinahe das Gefühl gaben, in der alten Heimat zu sein. Sie überquerte den »German Broadway«, wie er von den Amerikanern genannt wurde, und folgte der Achten Straße bis zur nächsten Querstraße. Es gab Metzgereien, Bäckereien, Bekleidungsgeschäfte und sogar einen kleinen Laden mit Kinderkleidung und Spielzeug, aber den Eisenwarenladen ihres Onkels suchte sie vergeblich. Hatte er den Laden geschlossen? War er in eine andere Straße gezogen? Die Bildpostkarte, die sie beim Apotheker gesehen hatte, war einige Jahre alt gewesen. Verzweifelt blieb sie stehen. Es war leichtsinnig von ihr gewesen, auf einen Verwandten zu vertrauen, der sich so lange Zeit nicht gemeldet hatte. New York war anders als Hannover und Lüneburg, hier strömten jeden Tag neue Einwanderer herein und es blieb einem wahrscheinlich gar nichts anderes übrig, als öfter mal die Adresse zu wechseln. Sie ging zur Avenue B zurück und sprach einen der Passanten an, einen Vertrauen erweckenden Mann im dunklen Anzug. Er sah wie ein Deutscher aus. »Entschuldigen Sie, mein Herr! Können Sie mir sagen, wo ich den Eisenwarenladen von Heinrich Rink finde?« »What’s that? I don’t understand you.« Erst bei einem älteren Ehepaar, das aus einer Bierhalle kam, hatte sie Glück. Sie sprachen beide Deutsch, wenn auch etwas gebrochen, und der Mann kannte sogar ihren Onkel. »Heinrich Rink… ja, ich erinnere mich. Er hatte einen Eisenwarenladen,
gleich da drüben, neben der Metzgerei. Da, wo jetzt die Wäscherei drin ist.« »Ist er umgezogen?« »Ich weiß nicht«, antwortete der Mann, »ich hab ihn schon seit ein paar Jahren nicht mehr gesehen.« Er blickte seine Frau an, eine einfach, aber sehr sauber angezogene Frau mit einem breitkrempigen Hut auf den hochgesteckten Haaren. »Du, Sophie?« »Heinrich Rink? Ich weiß es nicht. Er hat Bariton in unserem Chor gesungen, aber nachdem seine Frau mit der General Slocum untergegangen war, kam er nie wieder auf die Beine. Er begann zu…« Sie unterbrach sich gerade noch rechtzeitig und blickte Emma verwirrt an. »Er ist dein Onkel, sagst du? Aber dann müsstest du doch von ihm gehört haben? Hat er nie geschrieben?« »Doch«, erwiderte Emma, »aber vom Tod seiner Frau hat er nichts erzählt. Auf der letzten Bildpostkarte, die wir bekommen haben, stand die Adresse seines Ladens… in der Achten Straße.« »Du bist noch nicht lange hier«, erkannte die Frau. »Ich bin heute gekommen«, antwortete Emma. »Mit der Kaiserin Auguste Victoria.« Sie wurde langsam nervös, sah sich bereits ziellos durch die nächtlichen Straßen wandern. »Und Sie wissen nicht, wohin mein Onkel gezogen ist? Hat er einen neuen Laden?« »Das glaube ich kaum, mein Kind«, sagte die Frau, ohne eine weitere Erklärung zu geben. »Aber wenn ich dir einen Rat geben darf… an deiner Stelle würde ich diesen… deinen Onkel vergessen und mir eine preiswerte Pension suchen. Die Frau Wildhuber in der Zehnten Straße führt ein anständiges Haus. Dein Onkel… nun, ich kenne ihn nur flüchtig aus dem Gesangverein… nun, nach dem tragischen Tod seiner Frau hatte er es sehr schwer und ich glaube nicht, dass er bereit ist
dich aufzunehmen…« Sie war immer noch verstört. »Und du bist nach Amerika gefahren, einfach so, ohne vorher mit ihm, wie sagt man, korrespondiert zu haben?« Emma dachte nicht daran, einer fremden Frau von ihrer Flucht zu erzählen. »Vielen Dank für Ihre Hilfe«, sagte sie. »Tut mir Leid, dass ich sie belästigt habe. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.« Sie überquerte rasch die Straße und blieb auf der anderen Seite für einen Augenblick stehen. »Bitte lass meinen Onkel noch in dem Haus wohnen!«, schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel, bevor sie an der Metzgerei vorbei zu der Mietskaserne mit der Wäscherei im Erdgeschoss ging. Über dem Eingang zur Wäscherei wölbte sich eine dunkelrote Markise. Obwohl sie schon geschlossen hatte, roch es nach frischer Seife und Bügelwäsche. Vor dem Haus zögerte sie. Es war aus roten Backsteinen erbaut und ragte sechs Stockwerke über der Straße empor. Mit den dunklen Fenstern und den eisernen Skeletten der Feuertreppen hob es sich unheimlich gegen den düsteren Himmel ab. Von den Geländern flatterte Wäsche. Es stank nach Abfall und Moder und dem Zigarrenrauch, der die Männer vor dem Eingang einhüllte. Sie lehnten an der Steintreppe, die bis in den ersten Stock führte, und musterten Emma misstrauisch. Zwischen den Steinmauern unterhalb der Treppen kämpfte ein Hund mit einer alten Zeitung. Die Männer unterhielten sich in einer Sprache, die Emma nicht kannte. Ihre strengen Gesichter mit den dunklen Bärten machten ihr Angst. Als sie an ihnen vorbeiging, stockte ihre Unterhaltung, dann verloren sie das Interesse an ihr und redeten weiter. Aus einem der Fenster schimpfte eine Frau. Sie hatte wohl etwas dagegen, dass ihr Mann so lange auf der Straße blieb, und schob das Fenster wütend wieder nach unten. Die Männer reagierten nicht.
Emma stieg die Stufen zum Eingang empor und betrat zögernd das düstere Treppenhaus. Sie hatte geheimnisvolle Stille erwartet und blieb erschrocken stehen, als ihr aufgebrachte Stimmen, vielstimmiges Kindergeschrei und das Weinen von Babys entgegenschallten. Die meisten Türen standen offen. Zwei Männer stritten lautstark und eine Frau weinte verzweifelt. In einem der oberen Stockwerke schlug jemand einen Nagel ein. Überall vor den Wohnungen standen Leute in Gruppen beisammen und unterhielten sich laut. Im trüben Licht der einzigen Lampe, die alle sechs Stockwerke erhellte, waren sie nur schattenhaft zu erkennen. Flackernde Schatten geisterten durch den Flur. In der alten Heimat war Emma nie in einem so großen Haus gewesen, sie glaubte aber nicht, dass es in einem deutschen Mietshaus so lebhaft zuging. Nachdem sie sich von ihrem ersten Schrecken erholt hatte, stieg sie langsam die Treppe empor. Auf den Stufen lagen Schmutz und Unrat, sogar ein Hund hatte sich dort verewigt. Aus den Wohnungen drang eine Vielzahl von Gerüchen, darunter auch der Duft von frisch gekochtem Kohl, der Emma daran erinnerte, dass sie schon lange nichts mehr gegessen hatte. Doch beim Anblick des schmutzigen Treppenhauses verging ihr der Appetit gleich wieder. Wohnte ihr Onkel Heinrich tatsächlich in einem solchen Haus? Warum wanderten so viele Menschen aus, wenn sie in einer solchen Mietskaserne endeten? War Amerika doch nicht das »Paradies auf Erden«, von dem sie so lange geträumt hatte? Im zweiten Stock hörte sie deutsche Stimmen. Sie blieb stehen und sah zwei Frauen vor einer offenen Tür stehen. Eine hielt ein ungefähr zweijähriges Kind auf dem Arm. Ihr Deutsch hatte einen seltsamen Akzent, als würden sie schon mehrere Jahre in Amerika wohnen. »Entschuldigen Sie«, unterbrach Emma. »Ich suche Heinrich Rink. Ihm gehörte der Eisenwarenladen im Erdgeschoss.«
Die Frauen blickten sie an. »Eisenwarenladen?«, wiederholte die eine verwundert. »Da unten ist die Wäscherei von Herrn Straub.« »Aber früher war da ein Eisenwarenladen. Er gehörte meinem Onkel Heinrich. Heinrich Rink. Wohnt er denn nicht mehr hier?« Die andere Frau schüttelte den Kopf. »Nie gehört. Vielleicht weiß die alte Henriette was.« Sie klopfte an die Tür gegenüber und rief: »Henriette! Kannst du mal kommen? Hier will jemand wissen, wo ein gewisser Heinrich Rink hinverschwunden ist! Kennst du den?« Die Tür ging auf und eine weißhaarige, aber noch sehr agile Frau streckte ihren Kopf aus der Wohnung: »Was will sie wissen?« Emma wiederholte ihre Frage. »Heinrich Rink. Ich habe gehört, es geht ihm nicht besonders gut, seit seine Frau gestorben ist.« »Ach, der alte Rink«, sagte sie und zog die Tür weiter auf, »ja, den hat es übel erwischt damals.« Sie sprach einen seltsamen Dialekt, den Emma noch nie gehört hatte. »Seine Frau ist mit der General Slocum untergegangen, nicht wahr? Eine furchtbare Katastrophe! Hätte am 15. Juni 1904 nicht meine Enkelin geheiratet, wäre ich wahrscheinlich auch auf dem Dampfer gewesen!« Sie sah, wie Emma sie verständnislos ansah, und erklärte: »Die General Slocum war ein Ausflugsdampfer. Damals brach ein Feuer an Bord aus und über tausend Menschen ertranken, viele Frauen und Kinder. Rinks Ehefrau war auch dabei. Er kam nie darüber weg und fing zu trinken an. Er verlor seinen Laden, und als er die Miete nicht mehr zahlen konnte, warfen sie ihn aus der Wohnung.« »Wissen Sie, wo er jetzt wohnt?«, fragte Emma. »In der Sechsten unten, wenn ich mich nicht irre. In der alten Mietskaserne neben der Druckerei. Ecke Sechste Straße und
First Avenue. Das älteste Haus der Straße, kannst du gar nicht verfehlen.« Emma bedankte sich und stieg ins Parterre hinunter. An den bärtigen Männern vorbei verließ sie das Haus. Sie dachte einen Augenblick daran, zu der Pension von Frau Wildhuber zu gehen, aber ihre Sorge um den Onkel, den sie gar nicht kannte, war größer, und sie entschloss sich, zumindest nach ihm zu sehen. In ihren Gesprächen mit dem Pfarrer hatte sie gelernt sich für bedürftige Menschen einzusetzen und ihr Onkel Heinrich gehörte sicher dazu. Wenn seine Frau auf so grausame Weise gestorben war, konnte er sicher nichts dafür, dass es ihm so schlecht ging. Entschlossen marschierte sie zur Sechsten Straße. Es war schon spät und sie war todmüde, und die Einsicht, das ganze Unternehmen falsch angegangen zu sein, stimmte sie nicht gerade fröhlicher. Wenn es ein Zurück gegeben hätte, wäre sie in diesem Augenblick vielleicht umgekehrt. Aber es gab keine Möglichkeit, nach Deutschland zurückzufahren, und so blieb ihr nichts anderes übrig, als ihr Schicksal tapfer auf sich zu nehmen. »Auf gute folgen schlechte Tage«, hatte der Herr Pfarrer in der Heimat gesagt und mit etwas salbungsvoller Stimme hinzugefügt: »Vertraue auf Gott, mein Kind, dann kann dir nichts passieren!« Die Sechste Straße unterschied sich kaum von der Achten, wirkte nur etwas düsterer und unheimlicher. Die Gesichter der Leute, die auf der Straße standen oder in den offenen Fenstern oder über die morschen Geländer ihrer Balkone lehnten, waren noch härter, die Blicke noch misstrauischer, und als sie vor der kleinen Druckerei stehen blieb und an der schmutzigen Fassade der Mietskaserne emporblickte, in der ihr Onkel wohnen sollte, rief ein halbwüchsiger Junge auf Deutsch: »Was willst du denn hier?«
Sie reagierte nicht und stieg die Treppe in den ersten Stock hinauf. »Entschuldigen Sie, mein Herr«, fragte sie einen der Männer, die rauchend auf den Stufen saßen. »Wissen Sie, wo Herr Rink wohnt? Heinrich Rink?« Als der Mann nicht antwortete oder nicht antworten wollte, richtete sie die Frage an einen anderen. »Heinrich Rink? Der alte Saufkopp?«, erwiderte er auf Hessisch. »Der ist um diese Zeit nie zu Hause. Entweder hängt er in der Blue Tavern oder in einer der Bierhallen rum. Aber wenn du unbedingt zu ihm willst… er wohnt im dritten Stock, fünfte Tür rechts.« Er nahm seine Zigarre aus dem Mund. »Bist du mit ihm verwandt?« »Ich bin seine Nichte.« Der Mann deutete auf ihren Rucksack. »Du bist gerade erst angekommen, was?« Er stippte die Asche auf den Boden. »Lass dir einen guten Rat geben, mein Kind! Kehr um und nimm das nächste Schiff nach Hause! Von deinem Onkel hast du nichts zu erwarten! Der landet über kurz oder lang im Armenhaus oder im Gefängnis!« »Das glaube ich nicht.« »Meinetwegen«, erwiderte der Mann. Er paffte gleichgültig an seiner Zigarre. »Aber sag nachher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt! Mit deinem Onkel Heinrich ist nicht mehr viel los, weißt du?« Sie bedankte sich und stieg in den dritten Stock hinauf. Dort bog sie in einen langen Flur. Hier gab es überhaupt keine Lampe und sie musste eine Weile warten, bis sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Dann tastete sie sich an der rechten Wand entlang. Die Tür zur fünften Wohnung stand halb offen. Sie klopfte dennoch und rief: »Onkel Heinrich? Bist du zu Hause? Ich bin’s, Emma! Emma Mahler aus Deutschland!« Als keine Antwort kam, betrat sie zögernd die Wohnung.
8
Das Zimmer spottete jeder Beschreibung. Eigentlich war es nur eine Kammer, kaum groß genug für das Bett mit der durchgelegenen Matratze, den gusseisernen Herd und den quadratischen Tisch mit den beiden Stühlen. Gleich neben der Tür fand sie einen eingebauten Schrank und ein schmutziges Fenster, das zum Flur zeigte und dessen unterste Scheiben zerbrochen waren. Das Fenster zur Straße war schmutzig. Neben dem Herd ragten ein Wasserhahn und ein verrostetes Waschbecken aus der Wand. Es gab kein elektrisches Licht, aber auf dem Tisch stand eine Öllampe mit zerbrochenem Zylinder und daneben lagen Streichhölzer. Emma zündete den Docht an und schraubte ihn langsam höher. Fassungslos starrte sie auf das Chaos, das sich ihren Augen bot. Auf dem Tisch standen ein Teller mit verkrusteten Essensresten und ein Becher mit einem Rest dünnen Kaffees. Der Topf auf dem Herd war schmutzig, der Wasserkessel verrostet. Die Wolldecke und die Matratze auf dem Bett stanken nach Erbrochenem. Der Boden war mit Abfall übersät. In den Regalen des Wandschranks lagen schmutzige Wäsche, leere Konservendosen, ein Handtuch, ein Putzlappen, der selten benutzt worden war, und eine Schachtel mit Fotografien und Dokumenten. Obenauf lag eine Fotografie ihrer Eltern, die Mutter in einem festlichen Kleid, der Vater in seinem Sonntagsanzug, wie sie in Hamburg an der Alster standen. Vor seiner Abreise hatte Heinrich Rink in Hamburg gewohnt. Emma betrachtete das Foto und strich liebevoll über das feste Papier. Auf der Rückseite stand »Familientreffen, Ostern 1892«. Das musste wenige Monate vor ihrer Geburt gewesen
sein. »Wenn ihr am Leben geblieben wärt, wäre alles ganz anders gekommen«, sagte sie leise, »dann wäre ich bestimmt nicht ausgewandert. Aber ihr konntet ja nicht wissen, was mein Onkel mir antun würde!« Sie legte die Fotografie zurück und setzte sich auf einen der Stühle. Komisch, dachte sie, und jetzt bin ich bei meinem Onkel in Amerika und der ist noch schlimmer! Sie schob den Teller mit den Essensresten und den Kaffeebecher zur Seite und legte ihren Kopf auf die verschränkten Arme. Sie spürte plötzlich die Anstrengung des vergangenen Tages und erlag der bleiernen Müdigkeit, die sich in ihrem ganzen Körper ausbreitete. Die Augen fielen ihr zu und sie schlief ein. Sie schlief so fest, dass sie weder den heftigen Streit der benachbarten irischen Familie noch das Geschrei der Kinder gegenüber hörte. Sie waren erkältet und hatten hohes Fieber, aber ihre Eltern hatten nicht genug Geld, um einen Arzt zu rufen, und hofften, die Krankheit mit kalten Wickeln und dünnem Tee wegzubringen. Gegen ein Uhr kam Heinrich Rink zurück. Er war so betrunken, dass er die falsche Wohnungstür öffnete und von der irischen Großmutter auf übelste Weise beschimpft wurde. Benommen torkelte er in seine eigene Kammer und sank auf das ungemachte Bett. Schon wenige Sekunden später erfüllte sein heiseres Röcheln die Kammer. Die schlafende Emma und die flackernde Öllampe bemerkte er nicht einmal am frühen Morgen, als er wie in Trance seinen Nachttopf unter dem Bett hervorzog und sich darauf setzte, weil ihm der Weg ins Etagenklo zu weit war und er unterwegs bestimmt gestolpert und im Flur liegen geblieben wäre. Emma schreckte aus einem fürchterlichen Albtraum hoch, in dem sie vor den Beamten auf Ellis Island davongelaufen und in eine Mietskaserne mit lauter bärtigen, in schwarze Anzüge gekleideten Männern geraten war. Die ersten Sekunden
verbrachte sie damit, in die zitternde Flamme der Öllampe zu starren, dann reckte sie ihren verkrampften Körper und richtete sich auf. Entsetzt blickte sie auf ihren schlafenden und leise röchelnden Onkel. Er lag in seinem Anzug auf dem Bett, die Hose nur halb heraufgezogen, die linke Hand noch am Nachttopf, der dicht neben seinem Bett stand und fürchterlich stank. Sein Gesicht war auffallend blass, die Wangen eingefallen, die Lippen schmal und ausgetrocknet. Er hatte sich seit mehreren Tagen nicht mehr rasiert und nur seine dünnen Haare waren sauber und einigermaßen sorgfältig gescheitelt. Auf seiner linken Seite fehlte das Ohrläppchen. Im Schlaf wirkte er wie ein Durchschnittsmann, der einige Tage durchgefeiert hatte, und erst als er für einen Moment erwachte und verständnislos zur Decke blickte, erkannte Emma an den blutunterlaufenen Augen, was für ein schwerer Trinker er war. Sie ließ ihn weiterschlafen und trat an das rostige Waschbecken. Der Wasserhahn ließ sich nur mit beiden Händen öffnen. Sie spritzte sich trübes Wasser ins Gesicht, putzte sich die Zähne mit den Fingern und trocknete sich mit einem einigermaßen sauberen Handtuch aus dem eingebauten Schrank ab. Obwohl ihr nach der ungemütlichen Nacht alle Knochen wehtaten, fühlte sie sich wesentlich besser als am vergangenen Abend. »Wir kriegen das wieder hin, Onkel Heinrich!«, sagte sie leise. »Lass mich nur machen!« Fest entschlossen, sich von dem schlechten Start in der Neuen Welt nicht unterkriegen zu lassen, verließ sie das Zimmer und ging nach unten. Es war bereits nach acht Uhr und auf der Straße herrschte reger Betrieb. Alle Läden hatten geöffnet, die Markisen waren heruntergeklappt und auf den Auslagen und den Handwagen der zahlreichen fliegenden Händler lagen frisches Brot, Gemüse, Obst, Gewürze, aber
auch Krawatten, Schnürsenkel, Töpfe und Pfannen, bunte Bänder, Bücher, Werkzeuge und Brillen. Die Preise waren höher als in Deutschland und sie kaufte nur das Nötigste. Etwas Brot, Wurst und Gemüse, einen Topf, zwei Teller und etwas Besteck, zwei Becher, einen Eimer, einen Schrubber und zwei Stück Kernseife. Aus einem Grund, den sie sich selber nicht erklären konnte, hatte sie sich entschlossen, das Zimmer ihres Onkels zu putzen und ihm zu helfen wieder ein geregeltes Leben zu führen. Sie lächelte zuversichtlich, als sie die Treppe in den dritten Stock hinaufstieg. Ihr Onkel Heinrich würde dem Alkohol abschwören und wieder zu arbeiten anfangen, dafür würde sie schon sorgen. Wenn August kam, sollte er bei einem anständigen und sauberen Menschen um ihre Hand bitten. Sie kehrte ins Zimmer zurück und stellte die Tüte auf einem der Stühle ab. Ihr Onkel schlief immer noch. Seine Alkoholfahne erfüllte den ganzen Raum. Naserümpfend schob sie das Fenster einen Spalt nach oben. Der Lärm, der von der Straße heraufdrang, war leichter zu ertragen als der unsägliche Gestank. Sie fachte Feuer in dem altmodischen Herd an, setzte Wasser auf und warf allen Abfall in eine große Tüte, bevor sie daranging, das Zimmer gründlich aufzuräumen und zu putzen. Sie schrubbte den Boden, den Tisch und die Regale im Schrank mit Kernseife, putzte die Fenster und nagelte Pappe vor die zerschlagenen Scheiben. Sie sammelte die schmutzige Wäsche, kochte sie auf dem Herd und wusch sie über dem Waschbecken. Unermüdlich rackerte sie Stunde um Stunde, bis sie mit dem Gröbsten fertig war, die nasse Wäsche an einer Leine zwischen den Feuerleitern aufgehängt hatte und endlich Zeit fand, sich um ihr leibliches Wohl zu kümmern. Mit einem Stück Brot und etwas Wurst setzte sie sich an den Tisch. Einigermaßen zufrieden betrachtete sie ihr Werk. Das Zimmer war kaum wiederzuerkennen. Es war immer noch
klein und schäbig, und in der alten Heimat hätte man die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, wenn man sie in dieser Umgebung gesehen hätte, aber es war sauber und aufgeräumt. Um die Bettwäsche würde sie sich kümmern, sobald ihr Onkel aufgewacht war. Er hatte die ganze Zeit wie ein Toter auf seinem Bett gelegen und nur einmal gestöhnt, als sie den Boden unter seinem Bett geschrubbt hatte und gegen das Kopfende gestoßen war. Der Alkohol hatte seine Sinne getrübt und ließ ihn erst mittags aufwachen, als sie am Herd stand und der Duft von frischem Kaffee durch das Zimmer zog. Ächzend richtete er sich auf. Er rieb sich den Schlaf aus den Augen, blickte sich verwundert um und sah Emma den Kaffee vom Herd nehmen. Im ersten Augenblick glaubte er an einen seltsamen Traum. Er schloss die Augen, öffnete sie wieder und schüttelte benommen den Kopf. »Wer bist du denn?«, fragte er heiser. Emma drehte sich lächelnd um. Obwohl sie sich bei der anstrengenden Arbeit beinahe verausgabt hatte, spürte sie neue Kraft und neuen Lebensmut. »Onkel Heinrich! Endlich wachst du auf! Ich bin Emma Mahler aus Deutschland. Meine Eltern sind vor sieben Jahren gestorben, in dem Feuer, weißt du noch? Ich bin bei meinem Onkel und meiner Tante aufgewachsen… deiner Stiefschwester.« Sie hatte nicht vor, ihm die Umstände ihrer Flucht zu verraten. »Ich bin mit der Kaiserin Auguste Victoria gekommen.« Heinrich Rink brauchte einige Zeit, um das Gesagte zu verarbeiten. Er blickte sie lange an, schüttelte ungläubig den Kopf und griff sich stöhnend an die Schläfen. »Kaffee… ich brauche Kaffee!« Sie brachte ihm einen vollen Becher. »Ich habe gehört, was mit deiner Frau passiert ist, Onkel Heinrich. Es tut mir furchtbar Leid.«
Er ging nicht auf ihre Worte ein. Vorsichtig, um sich nicht die Lippen zu verbrennen, schlürfte er den heißen Kaffee. Das Koffein weckte seine Lebensgeister. Er blickte sich staunend im Zimmer um, schien erst jetzt zu merken, wie sehr es sich verändert hatte. »Was soll das?«, fragte er unwirsch. »Warum hast du das getan?« Sie schenkte sich selbst einen Becher ein und trank im Stehen. Der frische Wind, der durch das offene Fenster hereinzog, fächerte ihr Gesicht. »Du brauchst Hilfe, Onkel Heinrich«, sagte sie. »Wir brauchen beide Hilfe. Ich bleibe bei dir und führe dir den Haushalt, bis du Arbeit gefunden hast und nicht mehr… und abends nicht mehr weggehst. Du schaffst das, Onkel Heinrich! Ich suche mir auch Arbeit.« Sie überlegte, ob sie ihm von August erzählen sollte, entschied sich aber dagegen. Das hatte noch Zeit. Sie durfte ihn nicht überfordern. Jetzt war erst mal wichtig, dass er Arbeit fand. Es klopfte heftig gegen die Tür. »Mister Rink«, erklang eine energische Stimme. »Are you at home? Sind Sie zu Hause? I’m here to collect your rent. Ich bin hier, um Ihre Miete zu kassieren!« »Damned!«, fluchte Heinrich Rink auf Englisch. Emma verstand nicht alles, was der Fremde sagte. Doch es war offensichtlich, dass er gekommen war, um die Miete zu kassieren. Sie öffnete die Tür und sah sich einem hageren Mann gegenüber. Er nahm überrascht seinen Bowlerhut vom Kopf, als er Emma sah. »Äh… guten Tag, Miss… Ma’am«, begrüßte er sie verwirrt. »Mister Rink ist mein Onkel… my uncle«, sagte sie. »Ah, Sie sind aus Germany gekommen«, erkannte er an ihrem Deutsch und ihrem harten Akzent. Ein falsches Lächeln kroch über sein Gesicht. »Ihr Onkel schuldet mir für zwei Monate die Miete, Miss! Entweder er zahlt oder ich muss ihm leider kündigen.« Als er sah, dass sie kaum etwas verstand,
rieb er den Zeigefinger und den Daumen seiner linken Hand gegeneinander. »Oder out!« Das Lächeln des Mannes täuschte nicht darüber hinweg, dass er ihren Onkel erbarmungslos vor die Tür setzen würde, wenn er nicht bezahlte. In seinem korrekten Anzug und mit der Aktentasche unter dem rechten Arm wirkte er auf sie wie ein Gerichtsvollzieher. »Wie viel?«, fragte sie besorgt. »How much?« »Eight Dollars… acht Dollar!« Sie ging zu ihrem Mantel, den sie an einen Haken im Schrank gehängt hatte, und kramte das Geld aus der Tasche. Sie zählte ihm die Scheine in die Hand. »Eine Quittung bitte!«, verlangte sie. »Eine…« Sie kannte das englische Wort für »Quittung« nicht und drehte sich zu ihrem Onkel um. »Receipt«, sagte der. Sie wiederholte das Wort und wartete geduldig, bis der erstaunte Vermieter den Erhalt der Miete bestätigt hatte. »Thank you very much, Sir!« Der Mann verschwand und Emma blickte ihren verdutzten Onkel an. Er saß auf dem Bettrand, den Kaffeebecher in beiden Händen und starrte sie immer noch ungläubig an. »Ich kann das nur einmal tun«, sagte sie ernst und dachte besorgt daran, dass sie nur noch ungefähr zehn Dollar besaß. »Ich habe nur wenig Geld mitgebracht. Beim nächsten Mal müssen wir beide bezahlen.« Sie wusch ihren Becher im Waschbecken und stellte ihn in den Schrank zurück. »Du findest doch Arbeit, Onkel Heinrich?« Zum ersten Mal, seit er aufgewacht war, schien ein Ruck durch ihn zu gehen. Er lächelte sogar. »Natürlich«, sagte er. »Ich habe immer gearbeitet. Mein Eisenwarenladen war eines der erfolgreichsten Geschäfte der Achten Straße. Bei mir gab es alles zu kaufen. ›Vom Nagel bis zum Amboss‹ stand über dem Eingang und auf meiner Visitenkarte. Sogar der Bürgermeister kaufte bei mir ein! Ich werde wieder einen
Laden eröffnen, noch größer und noch schöner, und dann werden alle Leute, die jetzt über mich die Nase rümpfen, den Hut vor mir ziehen! Jawohl, das werden sie!« Emma erschrak über die plötzliche Begeisterung ihres Onkels und war einen Augenblick sprachlos. »Ich will dir nicht den Mut nehmen, Onkel Heinrich«, sagte sie dann, »aber um einen Laden zu eröffnen, brauchst du viel Geld. Du könntest doch erst mal als Verkäufer arbeiten. Bewirb dich in einem der Geschäfte! Bis morgen früh hab ich deine Kleider gewaschen und gebügelt und den Kragen lasse ich in der Wäscherei gegenüber stärken. Du wirst sehen, einen erfahrenen Mann wie dich stellen sie bestimmt ein!« »Ich soll wieder als kleiner Verkäufer anfangen?«, brauste er auf. »Das habe ich nicht nötig! Als Anna noch lebte, gehörten wir zur besseren Gesellschaft! Noch ein, zwei Jahre und wir wären nach Yorkville hochgezogen, in die Vierundachtzigste Straße! Da hätten wir ein Kaufhaus eröffnet und…« Er stand auf und versuchte mit einer weit ausholenden Armbewegung seine Begeisterung zu zeigen, doch es war noch zu viel Alkohol in seinem Körper. Er verlor das Gleichgewicht und fiel stöhnend auf das Bett zurück. »Onkel Heinrich!«, erschrak Emma. »Was hast du denn?« Sein verzweifeltes Stöhnen und die Art, wie er sich an den schmerzenden Kopf griff, sagte ihr genug. Ihr Onkel war immer noch betrunken. Sie erinnerte sich daran, wie ihr anderer Onkel in der alten Heimat nach einer durchzechten Nacht gelitten hatte, und dämpfte ihre Stimme. »Schlaf ein bisschen, Onkel Heinrich! Die Kopfschmerzen gehen vorbei. Ich koche inzwischen was Gutes für dich. Gemüseeintopf mit Wurst, den magst du bestimmt!« Mehr als einen Seufzer brachte ihr Onkel nicht mehr zustande. Er war so erschöpft und immer noch so benommen, dass er sofort einschlief. Kopfschüttelnd beobachtete sie, wie
er den Kopf schräg legte und leise zu schnarchen begann. Wie kann man nur so betrunken sein, dachte sie betrübt. Sie mochte keine betrunkenen Männer, hatte sich vor ihrem Onkel in Deutschland immer gefürchtet, wenn er lange im Gasthaus geblieben war, und hatte nie verstanden, warum man sich freiwillig solche Schmerzen zufügte. Half das Bier ihrem Onkel Heinrich wirklich, den Verlust seiner Frau zu verarbeiten? Warum riss er sich nicht zusammen? Wie hatte es so weit kommen können, dass er seinen Eisenwarenladen verlor und sogar die Miete für eine Kammer schuldig blieb? Sie ließ ihren Onkel schlafen und verbrachte den Nachmittag damit, den Gemüseeintopf vorzubereiten und seine Wäsche zu bügeln. Sie streifte ihm die Jacke und das Hemd vom Körper, zog ihm die Wolldecke bis zum Hals und suchte im Schrank nach seinem Kragen. Während der Eintopf langsam vor sich hin köchelte, brachte sie die Sachen in die Wäscherei gegenüber. Der Besitzer versprach ihr, die Sachen bis zum nächsten Morgen fertig zu machen. Dafür musste sie noch einmal zwanzig Cent bezahlen. Auf dem Rückweg fiel ihr ein, dass ihr Onkel kein zweites Bett besaß. Sie beschloss, sich mit einer Matratze zufrieden zu geben, fand aber keine und begnügte sich mit drei dicken Wolldecken, die sie von einem fliegenden Händler mit einem Handkarren erstand. »Bist wohl bei dem alten Säufer eingezogen?«, zog sie ein deutscher Junge vor der Treppe auf. »Du wirst schon sehen, was dir das bringt! Irgendwann kommen die Cops und sperren ihn ein!« Sie wusste nicht, was »Cops« bedeutete, konnte sich aber denken, dass damit Polizisten gemeint waren. »Er ist mein Onkel«, erwiderte sie, als wäre das schon Erklärung genug. »Und wenn du ein echter Gentleman wärst…« Sie betonte das
englische Wort. »… dann würdest du mir helfen die Decken nach oben zu tragen!« Er ließ sich widerwillig darauf ein und ließ den Packen vor der Zimmertür auf den Boden fallen. »Dafür schuldest du mir was!« Sie bedankte sich und trug die Decken hinein. »Hallo, Onkel Heinrich!«, begrüßte sie ihren Onkel. »Geht es dir schon besser?« Heinrich Rink saß am Küchentisch, den Kopf in beide Hände gestützt und blickte sie wütend an. Er hatte sich einen alten Pullover angezogen. »Was fällt dir ein, mir die Jacke und das Hemd wegzunehmen?«, sagte er heiser. »Was hast du damit gemacht?« »Ich hab die Sachen zur Wäscherei gebracht, Onkel Heinrich! Du musst doch gut aussehen, wenn du dich morgen um eine Stellung bewirbst! Kleider machen Leute, sagen sie in Deutschland.« »Ach was! Und was soll ich heute Abend anziehen?« »Heute Abend?«, fragte sie erschrocken. Die Angst, er könnte wieder rückfällig werden und zu einer erneuten Sauftour aufbrechen, ließ sie erblassen. »Du wolltest doch mit dem Trinken aufhören! Hast du das schon vergessen? Wie willst du dich denn bewerben, wenn es dir so schlecht geht wie heute?« »Ich geh doch gar nichts trinken«, erwiderte er missmutig. »Es ist nur… nun, ich schulde dem Wirt in der Blue Tavern noch zwei Dollar und dachte… ich dachte, du könntest mir das Geld vielleicht auslegen? Wenn ich nicht bezahle, bekomme ich großen Ärger!« »Zwei Dollar?«, rief sie entsetzt. Sie überlegte angestrengt. Wenn sie ihm das Geld gab, blieben ihr keine zehn Dollar mehr. Doch wenn sie es nicht tat, ging der Wirt vielleicht zur
Polizei. »Also gut. Ich leihe dir das Geld. Aber ich bringe es in die Taverne.« »Das geht nicht«, erwiderte er. »Du bist zu jung für die Blue Tavern. Vertrau mir, Emma! Ich gebe dem Wirt das Geld und komme gleich wieder! In einer halben Stunde bin ich wieder hier und dann essen wir zusammen zu Abend! Der Eintopf duftet wirklich gut!« Emma wusste, welche Versuchung auf ihren Onkel in der Blue Tavern wartete, aber ein Blick in seine Augen überzeugte sie. Er würde sie nicht enttäuschen. »Und du kommst gleich wieder?« »Großes Ehrenwort«, versprach er. »Also gut«, sagte sie noch einmal. Sie ging zu ihrem Mantel und kramte zwei Dollar aus der Tasche. »Beeil dich, Onkel Heinrich!«
9
Nach einer Stunde war ihr Onkel noch immer nicht zurückgekehrt. Sie lief nervös in der kleinen Kammer auf und ab, blieb alle paar Minuten am Fenster stehen und blickte auf die Sechste Straße hinab. Ihr Onkel war in dem Getümmel nicht zu sehen. Wie konnte ich nur so dumm sein, dachte sie verzweifelt. Warum habe ich ihn nicht zurückgehalten? Ich hätte doch wissen müssen, dass er zu schwach ist, um sein Versprechen zu halten. Sie stützte sich mit beiden Händen auf die Fensterbank, beobachtete zwei Jungen, die einen Hund über die Straße jagten, und ein Mädchen in ihrem Alter, das sich mit gespreizten Fingern die Haare richtete, bevor es in dem Haus neben der Wäscherei verschwand. Selbst in ihrem geflickten Mantel bewegte sie sich wie eine vornehme Dame. »Eines Tages werde ich in einem großen Haus wohnen und vornehme Kleider tragen«, flüsterte sie, »und ich werde mit August in einer goldverzierten Kutsche sitzen und zu einem festlichen Ball oder ins Theater fahren!« Sie ging zum Herd, gab etwas Eintopf auf einen Teller und setzte sich an den Tisch. Zum Essen trank sie abgekochtes Wasser. Während sie aß, tröstete sie sich mit der Möglichkeit, dass ihr Onkel sich nur verspätet hatte. Wenn der Wirt ihm einen Kaffee spendiert hatte, war er vielleicht noch geblieben und hatte sich mit seinen Freunden unterhalten. Ein bisschen Abwechslung konnte man einem erwachsenen Mann nicht verbieten. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass er sich wieder dem Alkohol ergab, war um ein Vielfaches größer, und nachdem sie weitere zwei Stunden gewartet hatte, war sie ganz sicher. Onkel Heinrich war in der Taverne geblieben und trank
wieder. Ihr erster Impuls war, wegzulaufen und sich ein Zimmer in der Pension von Frau Wildhuber in der Zehnten Straße zu mieten. Ihre letzten Dollar reichten sicher für zwei oder drei Wochen, und bis dahin hatte sie bestimmt Arbeit gefunden. Doch ihr Mitleid war größer und sie brachte es einfach nicht übers Herz, ihren Onkel schon nach wenigen Stunden aufzugeben. Seine Frau war auf grausame Weise ums Leben gekommen. Ohne diesen tragischen Vorfall wäre er niemals zum Trinker geworden. Sie musste es noch mal versuchen. Sie spülte ihren Teller und trocknete ihn ab, dann zog sie ihren Mantel an und verließ das Zimmer. Vor der Tür zur Nachbarwohnung unterhielt sich die irische Großmutter lautstark mit einem ihrer Verwandten. Aus der Wohnung tönte der schräge Klang einer Geige. Ein Mann und eine Frau sangen dazu. »Was sollen wir nur tun?«, schimpfte der Mann im Zimmer gegenüber. »Wir brauchen einen Arzt, sonst sterben uns die Kinder unter den Händen weg! Warum krieg ich keine Arbeit in dieser verdammten Stadt? Wenn das so weitergeht, fahre ich nach Hamburg zurück, das sag ich dir! Von wegen freies Land, so schlecht ging es uns noch nie!« Emma stieg die Treppe hinunter und war froh, als sie die Mietskaserne hinter sich lassen konnte. Der Mann hat Recht, dachte sie betrübt, bisher hatte sich Amerika nicht als Gelobtes Land erwiesen. Der unwürdige Empfang auf Ellis Island, die riesigen Mietskasernen mit den schmutzigen Wohnungen und Zimmern, die vielen Menschen auf den Straßen und der Schmutz und der Lärm waren nicht dazu angetan, die Hoffnung einer jungen Einwanderin zu steigern. Sie sehnte sich nach dem anderen Amerika, dem »Goldenen Medina«, von dem Rose Goldstein geschwärmt hatte, dem New York, das sie auf dem Broadway gesehen hatte.
Sie brauchte nicht lange nach der Blue Tavern zu suchen. Die Bar lag in einem schmalen Haus an der Avenue B, eingekeilt zwischen einer Bank und einem Lebensmittelgeschäft, dessen Besitzer gerade das Gitter herunterließ. Der Name der Bar stand in blauen Lettern über der Tür. Die beiden Männer, die vor dem Haus standen und sich über das Fußballspiel der deutschen Einwanderer-Mannschaft aus Bayern und Hessen unterhielten, musterten sie neugierig, als sie die Tür öffnete. Es kam selten vor, dass ein junges Mädchen eine Bar betrat. Es schickte sich nicht. Emma war noch nie in einer Bar gewesen und staunte, wie dunkel es in diesem niedrigen Raum war. Eine kunstvoll verzierte Lampe über der Bar, die alle paar Sekunden nervös flackerte, und einige Kerzen auf den wenigen runden Tischen verbreiteten trübes Licht. Bis auf einen alten Mann, der vor einem Bier saß und ins Leere starrte, waren die Tische leer, aber an der Theke standen die Männer dicht gedrängt und unterhielten sich laut. Es roch nach Bier und Schnaps, und der Zigarettenqualm umgab sie wie dichter Nebel. Ein automatisches Klavier hämmerte eine alte Volksweise. Als der Wirt sie entdeckte und seinen Gästen durch seine erstaunte Miene zu verstehen gab, dass etwas Außergewöhnliches geschehen war, kehrte Stille ein. Alle Blicke wandten sich ihr zu und der Wirt sagte: »Sie haben sich wohl verirrt, mein Fräulein?« Emma erkannte, dass alle Männer in der Blue Tavern aus Deutschland kamen, und sah auch ihren Onkel, der zwischen ihnen an der Theke stand und ein Bierglas in der Hand hielt. Im Schein der flackernden Lampe wirkte sein Gesicht noch blasser, als es in Wirklichkeit schon war. »Ich bin nur gekommen, um meinen Onkel Heinrich abzuholen«, versuchte sie das automatische Klavier zu übertönen. »Es geht ihm nicht besonders gut und er wollte gleich wieder nach Hause
kommen, wenn er seine Schulden bezahlt hat. Onkel Heinrich, komm, wir gehen nach Hause!« Statt einer Antwort schallte ihr schadenfrohes Gelächter entgegen. »Nun schau sich einer die Kleine an!«, spottete jemand. »Die ist ja schlimmer als meine Frau!« Und ein anderer rief: »Mensch, Heinrich! Bist du schon so weit herabgesunken, dass du unter dem Pantoffel eines kleinen Mädchens stehst? Ich dachte, du hättest mehr Mumm in den Knochen!« Der Wirt rief: »Lass ihn in Ruhe, Karl!« »Mein Onkel darf heute Abend nichts trinken!«, versuchte sie es noch mal. »Er will morgen früh nach Arbeit suchen! Er muss Geld verdienen, sonst wirft ihn der Vermieter aus der Wohnung und…« Sie ging einen Schritt auf ihren Onkel zu. »Bitte, Onkel Heinrich!« »Bitte, Onkel Heinrich!«, wiederholte ein älterer Mann abfällig. »Was meinst du, was wir die letzten Monate getan haben? Wir suchen alle nach Arbeit! Aber wenn du über vierzig bist, kannst du lange suchen! Das Land, in dem Milch und Honig fließen, dass ich nicht lache! Seit zwei Jahren geht die Wirtschaft hier am Stock! Die Einzigen, die hier ordentlich Zaster machen, sind die reichen Pinkel aus Uptown und die jüdischen Bonzen mit ihren Fabriken!« »Willi hat Recht«, meinte ein anderer. »Hier darfst du malochen, solange du gesund und stark bist, und dann landest du beim alten Eisen! Ich hab drei Jahre lang Kisten und Säcke im Hafen geschleppt für einen Hungerlohn, und jetzt, wo ich mir fast ‘nen Bruch gehoben hab, darf ich sehen, wie ich über die Runden komm!« Er kramte fünf Cent hervor. »Gib mir noch ‘n Bier, Mann!« Emma ließ sich nicht beirren. »Komm mit, Onkel Heinrich!« »Ich denk ja nicht dran!«, erwiderte ihr Onkel trotzig. Er blickte seinen Nebenmann an. »He, was meinst du? Soll ich mir von dieser halben Portion sagen lassen, was ich zu tun und
zu lassen habe? Ich denke ja nicht dran! Ich hab dich nicht gerufen! Hau ab!« Das automatische Klavier verstummte und für eine Weile war nur das Klirren von Gläsern zu hören. Doch plötzlich schlug Heinrich Rink mit solcher Wut auf den Tresen, dass die Gläser hüpften und selbst die Männer ihn erschrocken anblickten. »Verschwinde!«, schrie er. »Nimm den nächsten Dampfer und fahr nach Hause zu deinem Onkel und deiner Tante! Ich brauch keine Aufpasserin!« Er schlug noch mal auf den Tresen. »Du sollst abhauen, verdammt!« Emma verließ wortlos die Blue Tavern und ging einige Schritte, bis sie den frischen Abendwind im Gesicht spürte. In ihren Augen standen Tränen. Am liebsten wäre sie davongelaufen, immer weiter und weiter, bis ihr die Luft ausginge, auch wenn ihr die Vernunft sagte, dass ihr Onkel zu viel getrunken und seine Worte sicher nicht so gemeint hatte. »August!«, rief sie verzweifelt. »August! Wo bist du? Warum kommst du nicht und holst mich hier raus?« Sie hatte so laut geschrien, dass ein Polizist auf der anderen Straßenseite auf sie aufmerksam wurde. Als sie merkte, dass er die Kreuzung überqueren würde und nur noch darauf wartete, dass einige Automobile an ihm vorbeifuhren, rannte sie schnell davon. Aus Angst, die unbequemen Fragen des Polizisten beantworten zu müssen, versteckte sie sich in einer schmalen Gasse zwischen zwei Mietskasernen. Hinter ihr raschelte es verdächtig. Sie dachte an Ratten, presste aber tapfer die Lippen zusammen und blieb stehen. Vorsichtig spähte sie auf die düstere Straße hinaus. Der Polizist hatte tatsächlich die Kreuzung überquert und kam langsam auf ihr Versteck zu. Er hielt einen Schlagstock in der rechten Hand. Obwohl Emma nichts verbrochen hatte, klopfte ihr Herz vor Angst. Sie war erst siebzehn. Wenn die Polizei herausfand, dass ihr Onkel ein mittelloser Säufer war
und sie noch keine Arbeit gefunden hatte, schickte man sie vielleicht in ein Waisenhaus. Die amerikanischen Gesetze waren streng und der Polizist machte nicht den Eindruck, als würde er mit sich spaßen lassen. Sie hatte Glück. Der Polizist wurde durch zwei streitende Männer vor einem Mietshaus abgelenkt und ging auf die andere Straßenseite. Während er die Männer zur Ordnung rief, verließ sie ihr Versteck und rannte schnell zur Hauptstraße zurück. Ohne nach links und rechts zu blicken, kehrte sie in das Zimmer ihres Onkels zurück. Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen und atmete tief durch. »August!«, flüsterte sie wieder. »August! Wann kommst du?« Sie zog ihren Mantel aus, trank einen Becher von dem lauwarmen Kaffee, der auf dem Herd stand, und trat ans Fenster. Obwohl sie es erst vor wenigen Stunden geputzt hatte, strotzte es schon wieder vor Schmutz. Ähnlich wie die Wäsche, die sie vom Geländer der Feuertreppe genommen hatte. Diese Stadt schien sich mit aller Macht gegen ihre neuen Bürger zu stemmen und verhindern zu wollen, dass sie sich wohl fühlten. Nur wer stark genug war, durfte bleiben. Die Schwachen blieben auf der Strecke, so wie ihr Onkel Heinrich, der nach dem Tod seiner Frau den Boden unter den Füßen verloren hatte und nicht vom Alkohol lassen konnte. Er würde es niemals schaffen, er war zu schwach und zu krank. Wenn er so weitermachte, würde er den Verstand verlieren oder sterben und in einem Heim oder auf dem Friedhof landen. Warum sie dennoch blieb, konnte sie auch später nicht erklären. War es die Sorge um ihren Onkel und die Hoffnung, ihn vielleicht doch vom Alkohol wegzubringen? Die Liebe zu August, der nur den Namen ihres Onkels hatte und sie vielleicht gar nicht finden würde, wenn sie woanders hinzog? War es die Entschlossenheit, es sich selbst zu beweisen, nicht vor dieser Stadt und ihren Herausforderungen zu kapitulieren?
In Uptown sah es anders aus, wusste sie inzwischen, nördlich der Vierzigsten Straße wartete das »Goldene Medina«, von dem Rose Goldstein geträumt hatte. Wie war es ihr wohl ergangen? Ihr fiel ein, dass sie die Adresse des Mädchens hatte und sie jederzeit besuchen konnte. Nachdem sie den restlichen Kaffee ausgegossen und den Becher gespült hatte, machte sich Emma ihr Nachtlager. Auf den Wolldecken lag sie einigermaßen bequem. Obwohl sich in ihrem Kopf die Gedanken jagten, schlief sie sofort ein und wachte auch nicht auf, als ihr Onkel Heinrich spätnachts nach Hause kam. Sie hörte nicht, wie er durch die Kammer stolperte und stöhnend auf sein Bett fiel. Am nächsten Morgen, gleich nach dem Frühstück, das aus aufgewärmtem Brot und einem Becher Kaffee bestand, zog sie die schmutzige Bettwäsche unter ihrem schlafenden Onkel weg und stopfte sie in einen Topf mit sprudelndem Wasser. Während die Wäsche kochte, holte sie die gereinigte Jacke und den Kragen von der Wäscherei ab. Sie hängte die Jacke in den Schrank und legte den Kragen so hin, dass ihr Onkel ihn nicht übersehen konnte. Sobald er nüchtern war, zog er ihn vielleicht doch an und suchte nach Arbeit. Die Lage war bestimmt nicht so schlecht, wie die Männer in der Bar behauptet hatten, besonders wenn man einen arbeitswilligen Eindruck machte und wie ein Gentleman aussah. Ihr Onkel Heinrich wachte am frühen Nachmittag auf, benahm sich ähnlich wie beim ersten Mal und rief lautstark nach Kaffee. Als Emma ihm den heißen Becher reichte, fragte er: »Du bist ja immer noch hier! Ich dachte, du wärst längst gegangen! Warum?« »Ich lasse dich nicht im Stich, Onkel Heinrich.« »Ich brauche keine Amme!«, wehrte er sich. »Ich kann allein auf mich aufpassen! Warum musst du mich dauernd
bemuttern? Ich hab es bis jetzt geschafft und werde es auch weiterhin schaffen!« »Und was wäre passiert, wenn ich gestern nicht deine Miete bezahlt hätte?«, gab Emma ärgerlich zurück. »Der Vermieter hätte dich rausgeworfen und du säßest heute auf der Straße! Du musst wieder arbeiten, Onkel Heinrich! Sonst landest du noch im Armenhaus!« Er starrte eine Weile in seinen Becher und zog eine Grimasse. »Ich weiß«, sagte er. Seine Stimme war leiser geworden. »Verdammt, ich weiß selber, was passieren kann! Ich hab immer gedacht, es macht mir nichts aus, wenn ich irgendwo verrotte, aber das ist nicht wahr.« Seine Wut schien erstaunlicher Einsicht gewichen zu sein. »Ich mache Schluss mit dem Alkohol! Diesmal meine ich es wirklich ernst. Gestern, das war… ich wollte mich nur von den Männern in der Blue Tavern verabschieden. Morgen früh suche ich mir eine Stelle! Ich werde schon irgendwas bekommen.« »Du schaffst es, Onkel Heinrich! Ganz bestimmt!« Am Nachmittag war Emma guter Dinge. Ihr Onkel beteuerte ständig, ein neues Leben zu beginnen, und sprach über seine ehrgeizigen Pläne, und sie hatte keinen Grund, misstrauisch zu sein. Doch als sie das Zimmer verließ und die Toilette am Ende des Ganges benutzte, geschah etwas, was ihr endgültig die Hoffnung nahm. Als sie zurückkehrte, war ihr Onkel verschwunden. Sie blieb wie versteinert stehen und starrte auf das leere Bett. Er hatte die ganze Zeit gelogen. Er hatte nur darauf gewartet, dass sie ihn für ein paar Minuten allein ließ, und sich aus dem Staub gemacht. Viel schlimmer war jedoch, dass ihr Mantel auf seinem Bett lag. Sie stürzte sich darauf und stülpte ihre Taschen nach außen, fand lediglich den Zettel mit Roses Adresse und den New Yorker Stadtführer. Ihr Onkel hatte ihr restliches Geld gestohlen. Er hatte sie auf gemeine Weise
bestohlen! Nicht ein einziger Dollar war ihr geblieben. »Onkel Heinrich!«, schrie sie. Sie schnappte sich ihren Mantel und rannte aus dem Zimmer. Während sie die Treppe hinunterstürmte, zog sie ihn an, stolperte dabei beinahe und rempelte einen älteren Mann an, der das Gleichgewicht verlor und gegen die Wand taumelte. Er schüttelte drohend eine Faust und fluchte ungeniert. »Tut mir Leid!«, rief sie nach oben. »Ich hab’s furchtbar eilig!« Ohne seine Reaktion abzuwarten, stürmte sie weiter nach unten und auf die Straße hinaus. Vor dem Hauseingang blieb sie zögernd stehen. »Hast du meinen Onkel Heinrich gesehen?«, fragte sie den Jungen, der ihr die Wolldecken nach oben getragen hatte. »Wohin ist er gelaufen?« »Der verrückte Säufer macht dir Ärger, was?« Der Junge lehnte am Geländer und rauchte lässig. Anscheinend wollte er Eindruck schinden. »Er ist da runtergelaufen!« Er deutete nach Osten. »Jede Wette, dass er sich in der Blue Tavern besäuft! Da ist er immer!« Aber ihr Onkel Heinrich war gewitzter, als sie vermutet hatte. In der Blue Tavern waren nur seine Saufkumpane vom vergangenen Abend. Einige Männer schienen gar nicht zu Hause gewesen zu sein, so elend sahen sie aus. Der alte Mann am Tisch schlief. »Wenn du deinen Onkel suchst, den hab ich gerade zum Teufel gejagt!«, empfing sie der Wirt. »Ich geb ihm keinen Kredit mehr! Das kannst du ihm ruhig sagen! Er schuldet mir noch drei Dollar!« »Ich dachte, zwei«, sagte sie. »Hat er sie nicht zurückgezahlt?« »Machst du Witze? Dein Onkel hat mir schon seit sechs Monaten nichts mehr zurückgezahlt! Aber damit ist jetzt Schluss!«
Emma ging niedergeschlagen davon. Ziellos lief sie über die Avenue B nach Norden. Sie hatte weder einen Blick für die vielen Automobile noch für die strahlenden Lichter über einem Theater. Die festlich gekleideten Menschen vor dem Eingang zeigten ihr, wie dicht Wohlstand und Armut in New York beisammen lagen. Die nächsten Mietskasernen lagen keine hundert Meter entfernt. Vor einer Bierhalle blieb sie stehen. Bayerische Blasmusik drang durch die geschlossene Tür nach draußen. Einer inneren Stimme folgend und weil sie sah, dass auch zahlreiche Ehepaare das Lokal betraten, ging sie hinein. Fröhliche Musik, lautes Stimmengewirr und strenger Biergeruch empfingen sie. Die Leute saßen dicht gedrängt an langen Holztischen, hatten bunte Bierkrüge und andere Getränke vor sich stehen und schunkelten zu den Klängen der Blaskapelle. Wie bei einem großen Bahnhof wölbte sich das Dach über dem riesigen Lokal. Helle Lampen brannten. Sie ging durch die Reihen, tat so, als würde sie zu ihrem Platz zurückkehren, und ließ ihren Blick über die Gäste schweifen. Ihr Onkel Heinrich saß an einem Ecktisch und ließ sich ein großes Bier schmecken. Neben dem Bierkrug stand ein leeres Schnapsglas. Sie blickte ihn überrascht an. Sie hatte nicht erwartet, ihn so schnell und so leicht zu finden. »Onkel Heinrich!«, sagte sie zu ihm. »Gib mir das Geld zurück, das du mir weggenommen hast! Wir brauchen die Dollars, bis wir Arbeit gefunden haben! Komm nach Hause!« Ihr Onkel blickte sich mit glasigen Augen nach einem Kellner um. »Bedienung!«, rief er aufgebracht. »Kann man hier denn nicht mal in Ruhe sein Bier trinken? Die freche Göre will Geld von mir!« »Aber das ist mein Geld, Onkel Heinrich!«, beteuerte sie. »Du hast es mir gestohlen! Du darfst es nicht ausgeben!« Sie wandte sich an den Kellner. »Das ist mein Onkel«, sagte sie zu
ihm. »Er hat mir mein Geld weggenommen! Sie dürfen ihm kein Bier geben!« Der Kellner reagierte anders, als sie es erhofft hatte. »Lassen Sie bitte meinen Gast in Ruhe, junges Fräulein! Verlassen Sie sofort das Lokal oder ich muss den Geschäftsführer holen! Nun?« »Aber…« »Sofort!« Sie erkannte, dass sie auf diese Weise nicht weiterkommen würde, und verließ wütend das Lokal.
10
Über der Lower East Side graute bereits der Morgen, als ihr Onkel Heinrich nach Hause kam. Nach seinem Besuch in der Bierhalle war er noch in zahlreichen Bars gewesen. Er war noch betrunkener als sonst und hielt sich mühsam aufrecht. In der Kammer blieb er schwankend stehen. »Was fällt dir ein?«, rief er lallend in die Dunkelheit. »Wie kannst du es wagen, mich mitten in einem anständigen Lokal zu beleidigen? Ich hab mir das Geld nur geliehen, verdammt! Und wenn du was anderes sagst, dann lügst du!« Emma stellte sich schlafend und reagierte nicht. Aber das machte ihren Onkel nur noch wütender. Der Schnaps hatte ihn aggressiv gemacht. Er torkelte zum Herd, nahm den leeren Wassertopf von der Platte und schleuderte ihn quer durch den Raum. Der Topf prallte gegen die Wand und polterte über den Boden. »Ruhe!«, schimpfte ein wütender Nachbar so laut, dass man es durch die Wände hörte. »Ruhe, verdammt, oder ich komm rüber!« Heinrich Rink warf einen der Stühle um. »Das geht dich gar nichts an!«, antwortete er dem Nachbarn. Er trat so fest gegen den Stuhl, dass dieser gegen den Wandschrank krachte und ein Bein abbrach. »Das wollen wir doch mal sehen, ob ich mir von einer verdammten Göre etwas sagen lasse!«, rief er aufgebracht. »Wo steckst du, du kleines Luder?« Emma wusste nicht, was sie tun sollte. Sie hatte furchtbare Angst vor ihrem Onkel, auch wenn sie wusste, dass der Alkohol an seinem Ausbruch schuld war. »Beruhige dich, Onkel Heinrich!«, flehte sie mit weinerlicher Stimme. »Bitte!
Schlag nicht alles kaputt! Ich möchte doch nur nicht, dass du das ganze Geld für Alkohol ausgibst! Wir brauchen es für die Miete und für Lebensmittel!« »So, so, du willst mir also vorschreiben, wie ich mein Leben zu führen habe!« Für einen Betrunkenen drückte er sich erstaunlich präzise aus. Er schwankte auf sie zu. »Das könnte dir so passen!« Noch bevor sie zur Seite rutschen oder sich gegen seinen Angriff wehren konnte, war er über ihr und begann sie zu ohrfeigen und zu würgen. Bitte, lass mich los, wollte sie rufen, du bringst mich um, aber er hielt sie so fest umklammert, dass sie kein Wort hervorbrachte. Strampelnd machte sie sich frei. Sie rang verzweifelt nach Luft und schlug weinend mit beiden Fäusten nach ihm, als er weiter auf sie einschlagen wollte. Mit pfeifendem Atem rollte sie sich zur Seite, streifte die Decken ab, warf sie über ihn und sprang blitzschnell auf. Doch als sie zur Tür laufen wollte, hatte er sich bereits befreit, packte sie, vollkommen von Sinnen, am rechten Arm und schickte sich an, sie gegen die Wand zu schleudern. Doch jetzt machte sich der Alkohol bemerkbar. Seine Bewegungen verloren an Kraft. »Du kleines Miststück!«, fuhr er sie heiser an. Es gelang ihr erneut, sich zu befreien, aber ihre Freude währte nicht lange. Als sie zur Tür rannte, stolperte sie über den umgekippten Stuhl und stürzte zu Boden. Ihre Wangen brannten von den Ohrfeigen und ihr Hals war immer noch wie zugeschnürt. Benommen blieb sie liegen. Durch den Schleier vor ihren Augen beobachtete sie, wie ihr Onkel langsam näher kam, in den Augen pure Mordlust. Viel zu langsam stemmte sie sich vom Boden hoch. In ihrer Verzweiflung warf sich Emma mit voller Wucht gegen ihren Onkel und drängte ihn zurück. Er war viel zu betrunken, um das Gleichgewicht zu halten, und ging rückwärts zu Boden.
Dabei prallte er mit dem Hinterkopf so fest gegen den eisernen Herd, dass er augenblicklich tot war. Ihm blieb nicht einmal die Zeit, einen Schrei auszustoßen. Seinem Sturz folgte bleierne Stille. Nicht einmal der wütende Nachbar beschwerte sich mehr. Emma blieb benommen stehen, starrte auf die leblose Gestalt ihres Onkels und verstand minutenlang nicht, was geschehen war. Erst allmählich wurde ihr das ganze Ausmaß des Geschehens bewusst. »Onkel Heinrich!«, flüsterte sie. »Sag doch was! Dir ist doch nichts passiert, oder? Sag, dass dir nichts passiert ist!« Doch ihr Onkel konnte nicht mehr sprechen. Sie ging zum Tisch, zündete mit zitternden Händen die Öllampe an und beugte sich zu ihm hinunter. Entsetzt blickte sie auf die große Blutlache, die sich unter seinem Kopf ausgebreitet hatte. Sie stellte die Lampe auf den Boden und horchte an seinem Herz. Es schlug nicht mehr. »Onkel Heinrich! Das wollte ich nicht!«, flüsterte sie unter Tränen. »Warum hast du mich auch angegriffen? Ich hatte dir doch gar nichts getan! Ich wollte nur, dass du ein besseres Leben…« Ihre Worte versiegten in einem heftigen Tränenschwall, der sie wie ein Krampf schüttelte und erst Minuten später wieder zur Besinnung brachte. »Onkel Heinrich! Bitte sag, dass du nicht tot bist!« Es dauerte lange, bis sie das Unvermeidliche akzeptierte. Doch obwohl sie sicher war, in Notwehr gehandelt zu haben, und auch jeder andere einräumen musste, dass es sich bei seinem Tod um einen tragischen Unfall handelte, fühlte sie sich schuldig. Sie hätte nicht zu ihm ziehen dürfen. Einen Alkoholiker konnte man nicht zur Vernunft bringen, das hatte sie den Apotheker in der alten Heimat oft sagen hören, gegen die Trunksucht helfen keine Pillen. Der Herr Pfarrer war anderer Meinung gewesen, aber er war auch niemals in einer solchen Mietskaserne gewesen.
Sie wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser, stellte den umgekippten Stuhl wieder auf und den leeren Topf auf den Herd zurück. Die Wolldecken warf sie aufs Bett. Sie würde die Polizei rufen müssen, daran führte kein Weg vorbei. Ihr war auch klar, dass man sie eingehend verhören und vielleicht sogar für ein paar Nächte einsperren würde. Wenn sie Pech hatte, landete sie in einem Erziehungsheim oder man schickte sie nach Deutschland zurück. Allein der Gedanke, hinter den Mauern einer solchen Anstalt das halbe Leben zu verpassen, machte ihr Angst. Wenn man sie ins Gefängnis sperrte, würde August sie niemals finden. Sie trat einen Schritt von dem Toten zurück. Vielleicht sollte sie die Polizei doch nicht einschalten. Selbst wenn man ihr auf die Spur kam, konnte sie immer behaupten, das Zimmer schon früher verlassen zu haben. Der Wirt in der Blue Tavern und der Kellner in der Bierhalle konnten bezeugen, dass sie nachts unterwegs gewesen war. In ihrer Verwirrung dachte sie nicht daran, dass dieselben Männer auch von einem Streit zwischen ihr und ihrem Onkel berichten konnten. Und dass vielleicht jemand gesehen hatte, wie sie ins Mietshaus zurückgekehrt war. Ihre Angst, für etwas verurteilt zu werden, das sie nicht getan hatte, und ihren geliebten August vielleicht niemals wieder zu sehen, war zu groß. Ohne sich ganz bewusst zu sein, was sie da gerade tat, packte sie ihren Rucksack und legte etwas Brot und Käse obenauf. »Es tut mir so Leid, Onkel Heinrich!«, flüsterte sie. »Du weißt, dass ich dich… dass ich das nicht wollte!« Im Schein der Lampe sah sie zwei Dollarscheine neben ihm liegen. Anscheinend war ihm der Rest ihrer Barschaft bei dem Kampf aus der Tasche gerutscht. Sie hob das Geld auf und steckte es in ihre Manteltasche, dann verließ sie hastig das Haus.
Sie lief nach Norden, in das Viertel, in dem noch mehr Deutsche wohnten. Ihr Entschluss stand fest. Sie musste August finden und ihn um Hilfe bitten. Er wusste bestimmt, was zu tun war. Inzwischen hatte er sicher Arbeit gefunden und sie konnten heiraten und endlich das Leben führen, von dem sie während der Überfahrt geträumt hatten. Bei ihm würde sie sich geborgen fühlen. Selbst wenn die Polizei nach ihr fahndete und sie ins Verhör nahm, würde er ihr beistehen. Und wenn der Fall vor Gericht kam, was nicht sehr wahrscheinlich war, würde er Zeugen wie den Wirt und die anderen Männer in der Blue Tavern mobilisieren, die unter Eid aussagen konnten, dass Heinrich Rink ein notorischer Säufer und Taugenichts gewesen war. Auch am Abend seines Todes, so würden sie aussagen, war er so betrunken gewesen, dass er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. »Ist es nicht wahrscheinlich, dass er im Suff gestolpert und gegen den Herd gefallen ist?«, würde auch ein Pflichtanwalt alle Zweifel zerstreuen. Sie beruhigte sich langsam wieder. Die frische Morgenluft tat ein Übriges, um ihre Panik zu dämpfen. Es war bereits sieben Uhr und an den Straßenecken postierten sich bereits die ersten Händler mit ihren Brotkörben. Ein Verkäufer sortierte Hüte auf seinem Handwagen. Die ersten Automobile knatterten vorbei, ein altmodisches Fuhrwerk bog in den Hof einer Transportfirma ein und von der Second Avenue drang das Schnaufen der dampfbetriebenen Hochbahn herüber. Ein Zeitungsjunge schwenkte die neue New York Times und verkündete Sensationen, die keine waren. Als sie das Schild einer Schreinerei über einem Hauseingang bemerkte, beschleunigte sie ihre Schritte. Der Eingang lag im Keller und war über eine steile Treppe erreichbar. Sie öffnete die Tür, von der bereits die grüne Farbe abblätterte, und betrat einen kleinen Raum, der nur durch das Licht, das durch die
offene Tür aus der angrenzenden Werkstatt drang, erhellt war. Das schrille Kreischen einer Kreissäge tönte herüber. Es roch nach frisch geschnittenem Holz und Harz. Emma wartete, bis das Kreischen für einen Augenblick verstummte, und schlug auf die Klingel neben der Registrierkasse. Ein untersetzter Mann mit einer Schürze über seinem dicken Bauch und einem fröhlichen Lächeln auf dem runden Gesicht betrat den Raum. »Good morning, Madam!«, begann er mit einem starken Akzent, und als sie seinen Gruß erwiderte und er sie als Deutsche erkannte: »Guten Morgen, wertes Fräulein! Kann ich Ihnen helfen?« Sein Deutsch hatte einen amerikanischen Akzent. Emma grüßte freundlich zurück. »Ich suche einen Bekannten. August Lutz. Ein junger Schreiner, der gerade erst aus Deutschland gekommen ist und eine Stellung sucht. War er zufällig hier?« »Nein, hier war niemand, der Arbeit sucht«, antwortete der Besitzer der Werkstatt freundlich. »Und wenn jemand hier gewesen wäre, hätte er sich umsonst bemüht. Ich stelle keine Leute ein.« »Gibt es noch andere Schreinereien im deutschen Viertel?« Das Lächeln des Schreiners wurde stärker. »Sie sind wohl sehr daran interessiert, diesen jungen Mann zu finden! Lassen Sie mich nachdenken… da ist der alte Weber, Ecke Second Avenue und Zwölfte Straße, aber der hat erst vor zwei Wochen einen Gehilfen eingestellt. Die Kessler-Brüder in der Achten Straße, zwei oder drei Blocks hinter dem Tompkins Square. Ich würde es beim Stahlgruber versuchen, einem Bayern aus Rosenheim. Ecke Avenue A und Vierte Straße. Er war auf demselben Schiff wie ich, mit dem Unterschied, dass er einen Haufen Geld geerbt hatte und den besseren Start erwischte. Er
hat die größte Schreinerei auf der East Side. Bei ihm wird Ihr Bekannter bestimmt vorgesprochen haben.« Emma hatte fleißig mitgeschrieben und steckte ihr Notizbuch wieder ein. »Vielen Dank, mein Herr! Sie haben mir sehr geholfen.« »Ich hoffe, Sie finden ihn!«, rief er ihr nach. Sie wandte sich nach Süden, überzeugt davon, ihren geliebten August noch am selben Tag zu finden. New York war eine riesige Stadt, aber August sprach kein Englisch und war sicher im deutschen Viertel geblieben, das trotz der vielen Straßen, die dazugehörten, sehr übersichtlich war. Hier kannte einer den anderen. Die Zwölfte Straße lag nur zwei Blocks entfernt, deshalb versuchte sie es zuerst bei der Schreinerei Weber. Seine Werkstatt lag im Hinterhof eines schmalen Gebäudes, das von den umliegenden Mietskasernen beinahe erdrückt zu werden schien. Der alte Weber, wie ihn jeder nannte, war nicht zu Hause, und seine Frau benahm sich eher abweisend. »Nein, hier war niemand!«, antwortete sie. »Können Sie nicht lesen?« Sie deutete auf das Schild mit der Aufschrift »No help wanted« im Schaufenster. »Einen Gesellen können wir uns nicht leisten! Unseren einzigen Angestellten mussten wir vor einem Monat entlassen. Jetzt macht mein Mann alles allein und ich kümmere mich um die Buchhaltung. Wenn die wirtschaftliche Lage nicht besser wird, müssen wir ganz zumachen.« Sie wirkte verbittert. »Wie lange sind Sie schon hier?« »Zwei Tage«, antwortete Emma. »Dann machen Sie sich auf einiges gefasst, mein Fräulein! Amerika ist nicht so frei, wie Sie vielleicht denken. Das behaupten nur die Agenten und die Schlepper, die an den Einwanderern verdienen. Auch hier liegt die Arbeit nicht auf der Straße. Wenn ich mich noch mal entscheiden müsste,
würde ich in Deutschland bleiben!« Ihre Lippen wurden schmal. »Haben Sie schon eine Stelle?« »Noch nicht, Frau Weber. Aber ich finde eine!« »Viel Glück, mein Fräulein! Viel Glück!« Emma verließ die Schreinerei und ging weiter. Die Worte der Frau hatten sie nachdenklich gemacht. War die Lage wirklich so ernst, wie sie behauptete? War die Geschichte vom Tellerwäscher, der es in Amerika zum Millionär bringen konnte, nur ein Märchen? Sie glaubte es nicht. Man konnte es überall zu etwas bringen, wenn man nur Entschlossenheit und die nötige Energie mitbrachte. Sie würde niemals aufgeben! Zu lange hatte sie auf den Augenblick gewartet, ihren Onkel in Deutschland verlassen zu können, um jetzt beim ersten Gegenwind aufzugeben. Sie würde August finden und sie würde Arbeit bekommen, das war ganz sicher. Bei den Kessler-Brüdern in der Achten Straße hatte sie mehr Glück. Walter Kessler, der ältere der beiden, erinnerte sich an August. »Ja, der war hier«, sagte er zu Emmas großer Freude, denn jetzt konnte sie davon ausgehen, dass die Beamten auf Ellis Island ihn nicht abgewiesen hatten. »Ein junger Mann, ungefähr zwanzig, dunkle Augen, mit einer Schiebermütze, nicht wahr?« »Ja, das ist er!«, rief Emma erleichtert. »August Lutz«, erinnerte sich der Schreiner, »ja, ich erinnere mich sogar sehr gut an ihn. Ein höflicher Bursche und von seinem Beruf versteht er auch eine ganze Menge. Er hat mir bei dem Schrank geholfen.« Er deutete auf einen doppeltürigen Schrank mit einer kunstvoll gedrechselten Einfassung. »Aber mehr Arbeit hatte ich leider nicht für ihn. Die Zeiten sind nicht gerade rosig.« »Wissen Sie, wo er wohnt, Herr Kessler?« Der Schreiner schüttelte den Kopf. »Nein. Ich musste ihm leider sagen, dass wir in nächster Zeit keine Verwendung für
einen Schreiner haben. Außerdem hatte er noch keine Wohnung. Ich hab ihn zum Stahlgruber geschickt, unten an der Vierten Straße.« Voller Hoffnung marschierte Emma zur Vierten Straße. Unterwegs aß sie etwas Brot und Käse aus ihrem Rucksack. Sie blieb auf der Avenue B, um sich nicht durch die überfüllten Seitenstraßen kämpfen zu müssen, wo sich das ganze tägliche Leben nur auf dem Kopfsteinpflaster abzuspielen schien. In den Mietskasernen war es zu eng und zu dunkel. Auf den Gehsteigen der Avenues war mehr Platz und man brauchte sich nicht mit aufdringlichen Straßenhändlern und Taschendieben herumzuschlagen. Sie erreichte die Schreinerei Stahlgruber am frühen Nachmittag. Der Laden lag im Erdgeschoss eines dreistöckigen Backsteinhauses mit frisch gestrichenen Fensterläden. Über den vergitterten Baikonen trocknete Wäsche. Die beiden Schaufenster und der Eingang lagen unter zwei von Wind und Wetter gebleichten Markisen, die leise im Wind flatterten. »Furniture« stand auf dem linken, das deutsche Wort »Möbel« auf dem rechten Fenster. Eine Glocke klingelte, als sie die Tür öffnete und den Laden betrat. Im Gegensatz zu den Schreinereien, die sie am Morgen gesehen hatte, wirkte diese hier wie ein Kaufhaus. Ein Angestellter in sauberem Anzug kam auf sie zu. »Womit kann ich dienen, meine Dame?« Emma erklärte ihm, was sie wollte, und sah ihre Hoffnung schwinden, als der Mann den Kopf schüttelte und antwortete: »Nicht, dass ich wüsste, meine Dame, aber unsere Werkstatt liegt am East River unten, und es kann natürlich sein, dass heute Morgen jemand dort war. Warten Sie, unser Junior ist gerade hier.« Der Junior war der Sohn des Besitzers, hieß Alois Stahlgruber und sprach ein solches Bayrisch, dass Emma ihn
kaum verstand. »Der August, ja, der war heute Morgen bei mir«, sagte der Schreiner. Sein dichter Schnurrbart zitterte beim Sprechen. »Leider musste ich ihm absagen. Ich habe erst letzte Woche jemanden eingestellt und brauch keine Leute mehr. Im Gegenteil. Wenn die Bestellungen weiter zurückgehen, muss ich jemandem kündigen.« Er zuckte bedauernd die Achseln. »Tut mir Leid, aber so ist es nun mal.« »Wissen Sie, wo er noch gefragt haben könnte?« Der Schreiner ließ sich einige Bestellzettel von dem Angestellten geben und sah sie flüchtig durch. »Keine Ahnung«, erwiderte er, ohne den Blick von den Papieren zu nehmen. »Bei den Kessler-Brüdern vielleicht… oder bei Weber in der Zwölften… aber wenn ich’s mir recht überlege, können Sie sich den Weg sparen. Den Leuten geht’s nicht besonders, die stellen ganz bestimmt keinen neuen Mann ein… viel zu teuer.« Er steckte die Bestellscheine ein. »Wissen Sie, was ich dem August empfohlen hab?« Emma blickte ihn hoffnungsvoll an. »Er soll sich einen anderen Job suchen! Mit dem Schreinerhandwerk ist hier nicht viel los. Die meisten Leute sind doch froh, wenn sie eine Kammer haben, da reicht das Geld gerade mal für die Miete! Die meisten unserer Kunden kommen aus Uptown.« »Und was wäre das für ein Job?«, hakte sie nach. »Hafenarbeiter, Kellner, was weiß ich. Ich will Ihnen keine Angst machen, mein Fräulein, aber viele junge Männer, die keine Arbeit finden, landen auf der schiefen Bahn und schließen sich einer Straßenbande an. Den Butcher Boys, den Alley Cats… die stehlen mehr Geld zusammen, als wir in einem Jahr verdienen können!« »So etwas würde August niemals tun!« »Ich hoffe es für Sie, mein Fräulein. Ich hoffe es.«
Emma bedankte sich und verließ den Laden. Während sie über die Avenue A nach Süden ging, liefen ihr Tränen über die Wangen.
11
Emma suchte den ganzen Nachmittag nach August. Sie fragte in jedem Bierlokal und jedem Restaurant und sogar in der Blue Tavern nach ihm und bekam überall eine abschlägige Antwort. »Wissen Sie, wie viele Lokale es auf der East Side gibt?«, fragte ein Wirt. »So weit können Sie gar nicht zählen! Wenn Sie Ihren Bekannten finden wollen, müssen Sie viel Glück haben, und das ist in dieser Stadt dünn gesät!« Hätte er geahnt, dass nicht einmal feststand, ob er als Kellner arbeitete, hätte er sie wahrscheinlich ausgelacht und ihr empfohlen die Suche aufzugeben. Einen Menschen auf der überbevölkerten Lower East Side zu finden, war so gut wie ausgeschlossen, wenn es keine Spur gab. Mit jeder negativen Antwort, die sie in den Lokalen erhielt, sanken ihre Hoffnung und ihr Mut. Ihr Blick wurde mutlos und leer und ihre Tränen und ihre gebückte Haltung hätten auch einem Fremden signalisiert, wie niedergeschlagen sie war. Die Chance, ihren geliebten August wieder zu finden, wurde immer kleiner. August Lutz war verschwunden, hatte sich an irgendeinem Ort in dieser riesigen Stadt verkrochen und kämpfte um sein Glück. Sie hatte nicht den geringsten Anhaltspunkt, wo er sich aufhielt, und er würde vielleicht die falsche Antwort bekommen, wenn er nach ihr suchte: »Emma Mahler? Sie meinen die junge Deutsche, die mit dem Säufer zusammengelebt hat? Die ist nach seinem Tod getürmt, junger Mann! Die Polizei glaubt, dass sie ihn ermordet hat!« Doch Emma gab nicht auf. Sie suchte überall nach August, arbeitete sich bis zu den Kneipen am East River vor und fragte schließlich sogar in einer heruntergekommenen Kaschemme
nach ihm. Hinter der Theke stand eine resolute Frau in den Vierzigern, das Gesicht verlebt und viel zu stark gepudert, die Nägel knallrot lackiert. In ihrer dunklen Perücke steckte eine Papierrose und ihr Kleid war tief ausgeschnitten. »Da kannst du lange suchen, Schätzchen!«, erwiderte sie gönnerhaft. »Der ist doch längst über alle Berge! So sind die Männer nun mal. Kaum sehen sie einen anderen Rock, sind sie weg! Kein Grund, eine Träne zu vergießen, Schätzchen! Such dir einen anderen! Männer gibt’s in New York wie Sand am Meer!« Das Gelächter, das ihr bis auf die Straße folgte, trieb ihr die Tränen in die Augen. Niedergeschlagen floh sie über die Vierte Straße nach Westen. Hinter den Mietskasernen der West Side ging bereits die Sonne unter. Dunkle Schatten krochen durch die Häuserschluchten und ließen die Stadt noch düsterer und feindseliger erscheinen. Emma zog fröstelnd den Kragen ihres Mantels zusammen. In der hereinbrechenden Nacht wurde ihr schmerzhaft bewusst, dass sie noch keine Bleibe für die kommende Nacht hatte. Die zwei Dollar würden vielleicht für eine oder zwei Nächte in einer billigen Pension reichen, aber wovon sollte sie dann leben? Sie lehnte sich gegen einen Laternenpfahl und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Ihr war klar, dass sie zuerst einmal an sich selbst denken musste, bevor sie weiter nach August suchte. Sie brauchte Arbeit und sie brauchte eine Kammer. Und sie musste sicher sein, dass die Polizei nicht nach ihr suchte. Sie steckte beide Hände in die Taschen und bekam den Zettel mit Roses Adresse zu fassen. Sie zog ihn heraus und betrachtete ihn lange. Ihre jüdische Freundin würde ihr bestimmt helfen. Während der Überfahrt hatten sie sich gut verstanden und Rose würde bestimmt nichts dabei finden, wenn sie an ihre Tür klopfte und um Hilfe bat. Entschlossen lenkte sie ihre Schritte in den jüdischen Teil der Lower East Side. Die Gegend wirkte etwas älter, aber auch
gepflegter als das deutsche Viertel, und auf den Straßen wimmelte es auch um diese Zeit noch von Menschen. In dichten Trauben drängten sie sich vor den Läden und Handkarren und feilschten mit den Händlern, die sich gegenseitig mit ihren Angeboten übertrafen. Am lautesten pries ein schmalbrüstiger Mann, dessen dunkle Hose an viel zu langen Hosenträgern hing, die frischen Sabbatbrote und den Kiddusch-Wein auf seinem Handwagen an. Damit leiteten die Juden am Freitagabend den Sabbat ein. Ein Gewirr von jiddischen Worten hallte von den Häuserwänden wider. Vor dem sechsstöckigen Mietshaus, in dem Rose Goldstein mit ihrem Onkel und ihrer Tante wohnte, blieb sie stehen. In dem Getümmel, das auch in dieser Seitenstraße herrschte, fiel sie kaum auf. Sie blickte an dem Gebäude empor, stieg die Treppe zum Eingang hinauf, blickte in den düsteren Flur und kehrte langsam auf die Straße zurück. In ihrer Verwirrung lief sie beinahe in ein Automobil, das sich hupend einen Weg durch die Menge bahnte. Zwischen einigen Schaulustigen, die einem Straßenkünstler bei seinen Zaubertricks zusahen, blieb sie stehen. Sie hatte sich die Worte, die sie an den Onkel ihrer jüdischen Freundin richten würde, bereits zurechtgelegt: »Entschuldigen Sie vielmals die Störung, mein Herr!«, würde sie sagen. »Ich bin Emma Mahler aus Deutschland. Rose und ich haben uns auf der Überfahrt kennen gelernt. Mein Onkel kann mich nicht aufnehmen und ich kann mir keine Pension leisten. Ich wurde bestohlen und besitze nur zwei Dollar. Ich wollte sie höflichst bitten mir Quartier zu gewähren, bis ich Arbeit gefunden habe und mir eine eigene Bleibe leisten kann.« Doch schon während sie die Worte leise vor sich hin murmelte, erkannte sie, dass sie damit keinen Erfolg haben würde. Roses Onkel würde fragen, warum sie bei ihrem Onkel Heinrich ausgezogen war, und sie würde sich immer weiter in
Lügen verstricken. Wenn es ganz schlimm kam und er herausfand, was in der letzten Nacht geschehen war, würde er die Polizei rufen, schon in seinem eigenen Interesse, falls die Behörden ihre Spur bis zu seiner Wohnung verfolgten. »Es ist nur zu deinem Besten«, würde er sie trösten. »Es muss auch in deinem Interesse sein, die leidige Sache aufzuklären und einen Schlussstrich darunter zu ziehen.« Enttäuscht zog sie weiter. Sie wollte es aus eigener Kraft schaffen. Diese Haltung war vielleicht starrsinnig und auch ein wenig leichtsinnig, aber sie brachte es einfach nicht fertig, als Bittstellerin zu den Goldsteins zu gehen. Lieber verbrachte sie die Nacht in einer Pension oder auf der Straße. Mit gesenktem Kopf, beide Hände hinter die Gurte ihres Rucksacks gehakt, ließ sie den Trubel des jüdischen Viertels hinter sich und merkte gar nicht, wie ihre Umgebung dunkler und stiller wurde. Sie genoss die plötzliche Ruhe. Erschöpft lehnte sie sich gegen eine Wand und schloss die Augen. Die dunklen Gestalten, die sich plötzlich aus der Dunkelheit lösten und sie einkreisten, bemerkte sie viel zu spät. Kaum hatte sie die Augen geöffnet, bekam sie einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf und stürzte zu Boden. Sie versank in einem Meer lodernder Flammen und merkte nicht mehr, wie einer der Angreifer ihren Rucksack nahm und ein anderer ihre Manteltaschen durchwühlte, triumphierend die zwei Dollar hochhielt und in seine Hosentasche stopfte. Nur weil in diesem Augenblick der Pfiff eines Polizisten zu hören war und einer aus der Dunkelheit rief: »Die Cops sind in der Nähe!«, ließen die Burschen von ihr ab und rannten davon. Als sie aus ihrer Ohnmacht erwachte, war es stockdunkel. Ihr Kopf dröhnte, und als sie sich aufrichtete, fuhr ein stechender Schmerz durch ihren Körper. Sie ließ sich auf den Boden zurücksinken und schloss erneut die Augen. Verzweifelt bekämpfte sie ihre Panik. Es dauerte lange, bis sie wieder
einigermaßen klar denken konnte und die Erinnerung an den dumpfen Schlag zurückkehrte. Mit schmerzverzerrtem Gesicht betastete sie die blutige Stelle an ihrem Hinterkopf. Man hatte sie bewusstlos geschlagen! Sie tastete nach ihrem Rucksack und konnte ihn nicht finden. Ihre Kleider, das Ivanhoe-Buch und die letzten zwei Dollar waren weg! Sie stützte sich auf die Ellbogen und wartete, bis die Schleier vor ihren Augen verschwanden. In ihrem Kopf hämmerte der Schmerz und sie hätte am liebsten wieder die Augen geschlossen, aber es war dunkel und kühl und bei einer nahen Abfalltonne glaubte sie Ratten zu hören. Angewidert wischte sie ihre schmutzigen Hände an ihrem Mantel ab. Zwischen den hoch aufragenden Häusern und der aufgehängten Wäsche, die zwischen den Fenstern gespannt war, hing die Nachtluft wie schmutziger Nebel. Es stank nach Essensresten und vermodertem Abfall. »Hallo, Schwester!«, erklang eine weibliche Stimme hinter ihr. »Sieht ganz so aus, als hätten sie dir die Taschen geleert! Die Gasse gehört den Butcher Boys. Hast du das nicht gewusst?« Es folgte ein Kichern. »Du bist neu hier, was? Na klar bist du neu, sonst hättest du dich nicht in diese beschissene Gegend verirrt!« Emma drehte sich erschrocken um und sah sich einem dürren Mädchen gegenüber, ungefähr dreizehn oder vierzehn, vielleicht sogar jünger. So genau ließ sich das in dem Halbdunkel nicht bestimmen. Auffallend waren ihr großen runden Augen Sie trug eine Schiebermütze über ihren kurzen Haaren, und ihr abgerissener Mantel reichte bis auf den Boden. »Ich bin überfallen worden!«, sagte Emma, noch immer unter Schock. Sie begann zu weinen. »Sie haben meinen Rucksack und meine letzten Dollar gestohlen!«
»Das hab ich mir gedacht«, erwiderte das Mädchen grinsend. Sie ging in die Hocke und betrachtete Emma eingehend. »Du kommst von drüben, was? Was willst du hier? Hast wohl gedacht, in Amerika ging’s dir besser? Wenn du’s hier zu was bringen willst, musst du Geld haben, Schwester, und du hast keinen einzigen Penny! Hast du keine Verwandten, bei denen du wohnen kannst?« »Ich hab bei meinem Onkel gewohnt, aber… da kann ich nicht mehr hin. Er war… er war ständig betrunken.« Sie hielt sich den schmerzenden Kopf. »Die Butcher Boys… ist das eine Bande?« Das Mädchen nickte. »Denen gehört die ganze Ecke hier! Wenn du in der Bowery überleben willst, gehst du ihnen besser aus dem Weg. Auf der anderen Seite des Broadway hat der Kilkenny Clan das Sagen. Das sind Iren.« Sie zog ein einigermaßen sauberes Taschentuch aus ihrer Manteltasche und reichte es ihr. »Hier, drück das auf die Wunde! Du blutest! Wie heißt du eigentlich?« »Emma. Und du? Du hast einen komischen Dialekt.« »Charlie. Eigentlich heiß ich Charlotte, aber das ist den meisten Leuten zu lang. Ich komm aus der Nähe von Berlin. Wir kamen vor drei Jahren rüber, aber dann begann die Wirtschaftskrise und es ging uns ziemlich dreckig. Mein Vater ist bei einer Schlägerei im Hafen draufgegangen, vor ungefähr zwei Jahren, und meine Mutter hat sich zu Tode gesoffen. Seitdem treib ich mich auf der Straße rum.« »Das ist ja furchtbar«, erschrak Emma. »Bist du ganz allein?« Charlie half ihr vom Boden hoch. »Nee, ich hab jede Menge Ratten in der Nachbarschaft, aber die machen mir nichts mehr aus. So weiß ich wenigstens, dass es Lebewesen gibt, denen es noch dreckiger geht als mir!« Sie lachte trocken. »He, wenn du willst, kannst du heute Nacht bei mir pennen! Immer noch besser als darauf zu warten, dass sich einer dieser Dreckskerle
an dir vergreift!« Sie verriet nicht, wen sie damit meinte. »Komm mit!« Emma gab ihrer neuen Freundin das Taschentuch zurück. Ihr Kopf dröhnte. »Meinst du nicht, ich sollte zu einem Arzt gehen?« »Hier gibt’s keinen Arzt, jedenfalls nicht für Leute wie uns!« Charlie kramte eine Flasche hervor. »Hier! Gieß dir ein bisschen auf die Beule, dann heilt sie schneller. Ist bester irischer Rye!« Der Whiskey brannte höllisch, aber er desinfizierte die Wunde und stoppte die leichte Blutung. Emma schüttelte energisch den Kopf, als Charlie sie aufforderte von dem Whiskey zu trinken, und verzog erstaunt das Gesicht, als ihre neue Freundin einen tiefen Schluck nahm. »Du gewöhnst dich an das Zeug«, sagte Charlie. Sie ließ die verkorkte Flasche in ihren Mantel gleiten und forderte Emma auf, ihr zu folgen. Abseits der belebten Viertel war es beinahe so ruhig wie in der Straße, in der sie überfallen worden war. »Warum hilfst du mir eigentlich?«, fragte Emma neugierig. »Keine Ahnung. Vielleicht wollte ich nur nachsehen, ob die Butcher Boys ein paar Münzen vergessen haben.« Sie grinste. »Aber dann hab ich gemerkt, dass du neu in der Stadt bist. Eine wie du hat es nicht verdient, allein in der Gosse aufzuwachen!« Sie zögerte etwas. »Außerdem brauche ich jemanden, der mir zur Hand geht.« »Wobei denn?« »Na, bei der Arbeit«, erwiderte Charlie, als wäre es längst beschlossene Sache, dass sie zusammenblieben. »Erklär ich dir alles morgen früh.« Sie deutete über die Straße, auf einen zweistöckigen Ziegelbau, der von den umliegenden Mietskasernen erdrückt zu werden schien. »Da drüben wohne
ich! Ist nicht die Welt, aber immer noch besser als bei den Itakern oder im Hafen.« Emma verbarg mühsam ihr Entsetzen. Die Stirnwand des Hauses und ein Teil des Daches waren eingestürzt und der Rest der Ruine schien sich verzweifelt an die dunkle Wand einer Mietskaserne zu klammern. Der Schornstein ragte windschief aus dem hölzernen Giebel. Notdürftig verlegte Planken führten über eine Baugrube, die wie eine riesige Wunde zwischen den Häusern klaffte. Neben der verschlossenen Tür türmte sich ein Abfallhaufen. »Hier wohnst du?«, fragte Emma entsetzt. »In einer Ruine?« »Besser ein halbes Dach über dem Kopf, als irgendwo in der Gosse unter freiem Himmel zu pennen«, antwortete Charlie. Sie stieg geschickt über die schmalen Planken und blieb vor der eingestürzten Mauer stehen. »Und wenn du meinst, die Leute da oben haben es besser, hast du dich geschnitten!« Sie deutete auf die Mietskaserne, die hinter ihr bedrohlich in die Dunkelheit ragte. »Da hab ich mit meinen Eltern und ‘ner anderen Familie in einem Zimmer gewohnt. War ‘ne Scheißzeit, kannste mir glauben!« Sie spuckte in die Baugrube und wartete auf Emma. »Wo bleibst du denn? Oder hast du ‘n Zimmer in der Fifth Avenue gebucht?« Emma bewegte sich zögernd über die wippenden Planken. Sie fror plötzlich, trotz ihres dicken Mantels, und wäre am liebsten davongerannt. Irgendwohin, nur weg von New York, raus aus dieser furchtbaren Stadt, die zumindest hier im Süden nur aus Elendsquartieren zu bestehen schien. Sie wollte nicht zwischen Müllhalden und zerfallenen Gebäuden leben, in diesem furchtbaren Gestank, der sich zwischen den Häuserwänden zu stauen schien. »Mach schon!«, erriet Charlie ihre Gedanken. »Bis morgen hast du dich an den Schlamassel gewöhnt, dann kannst du dir gar nicht mehr vorstellen woanders zu wohnen!« Sie kicherte
unterdrückt. »Hast wohl gedacht, in New York liegen die Jobs auf der Straße und alle Leute wohnen in schmucken Häusern wie die feinen Herrschaften am Central Park? Das haben wir alle gedacht, Schwester! Aber hier gibt’s nur für reiche Bonzen und Gauner was zu holen. Mit anständiger Arbeit kommst du in New York nicht weit.« Emma hatte das Ende des Plankenweges erreicht und folgte Charlie über eine Geröllhalde in die Ruine. Die Beule schmerzte wieder und sie griff sich unwillkürlich an den Kopf und stöhnte. »Schlaf dich erst mal richtig aus!«, empfahl Charlie. »Und danke dem Herrgott, dass du mich getroffen hast! Ich weiß, wie man in New York über die Runden kommt. Morgen erzähl ich dir alles, was du wissen musst. Und Englisch bring ich dir auch bei. Zusammen sind wir unschlagbar, da bin ich ganz sicher. Auf dein unschuldiges Gesicht fallen die reichen Bonzen bestimmt herein.« Emma hatte keine Ahnung, was sie damit meinte, war aber viel zu müde und erschöpft um nachzufragen. Sie erschrak, als Charlie ein Streichholz anriss und eine Kerze entzündete, die sie in einer Lücke in der brüchigen Hauswand versteckt hatte. Einige Ratten ergriffen hastig die Flucht und ein schwarzer Nachtvogel stieg aus dem Gebälk und flatterte durch die Streben des offenen Daches davon. Emma stieß einen ängstlichen Schrei aus. »Mach dir nicht in die Hose!«, sagte Charlie. »Die Ratten und der verdammte Vogel tun dir nichts. Gefährlich würde es nur, wenn sich einer von den Butcher Boys in unserem Versteck breit gemacht hätte.« Sie blieb in einem Türrahmen stehen und deutete in ein leeres Zimmer. Die Tür war herausgebrochen und lag über einigen Brettern auf dem Boden, und durch ein Loch in der Decke konnte man in den zweiten Stock sehen. »Da drüben schlafen wir.«
Sie leuchtete auf eine zerschlissene Matratze und einige Decken. Auf einer umgedrehten Kiste am Kopfende des Nachtlagers stand eine leere Flasche. »Fast wie im Waldorf«, sagte Charlie grinsend. Sie verscheuchte einige Ratten und stellte die brennende Kerze auf die Kiste. Nachdem sie einen kräftigen Schluck aus ihrer Schnapsflasche genommen hatte, setzte sie sich auf die Matratze und kramte Zigarettenpapier und Tabak aus ihrer Manteltasche. »Auch eine?«, fragte sie, während sie sich mit geschickten Fingern eine Zigarette drehte. »Nee, du rauchst nicht. Du nicht.« Sie paffte ein paar Züge und fragte dann: »Willst du was zu essen?« Sie löste einen Backstein aus der Wand und legte ein geheimes Fach frei, in dem sie Brot, Wurst und eine Schnapsflasche verstaut hatte. Ohne auf eine Antwort zu warten, schnitt sie Emma ein Stück Brot und etwas Wurst ab. »Hab ich von einem deutschen Metzger, der macht die beste Wurst in ganz Manhattan. Probier mal!« Emma wunderte sich, woher ein armes Mädchen wie Charlie so kostbare Vorräte hatte, sagte aber nichts. Dankbar griff sie nach dem Brot und der Wurst. »Sobald ich etwas Geld verdient habe, revanchiere ich mich«, versprach sie. Als Charlie ihr aus einer Wasserflasche zu trinken gab, nickte sie dankbar. »Hast du nicht gesagt, ich soll dir bei der Arbeit helfen? Was für Arbeit denn?« »Erklär ich dir alles morgen früh«, wehrte Charlie ab. Sie zog ihren Mantel aus und faltete ihn zu einem Kissen zusammen. »Lass uns lieber ‘ne Runde schlafen, ich hab ‘nen harten Tag hinter mir.« Emma gehorchte wortlos, zog ebenfalls ihren Mantel aus und kroch unter eine der Decken. Sie war todmüde. »Danke, dass du mir geholfen hast«, sagte sie erschöpft. »Gute Nacht, Charlie.«
12
Emma erwachte stöhnend und starrte wie gebannt auf die schmutzige Ruinenwand, bevor sie sich an den letzten Abend erinnerte. Nur ihrer neuen Freundin war es zu verdanken, dass sie so glimpflich davongekommen war. Ohne Charlie hätte sie die halbe Nacht in der dunklen Gasse gelegen und es wäre vielleicht noch schlimmer gekommen. Sie berührte vorsichtig die Beule an ihrem Hinterkopf und drehte sich zu ihrer neuen Freundin um. »Hallo, Charlie! Vielen Dank, dass du mir das Leben gerettet hast!« »Nicht der Rede wert«, winkte Charlie ab. Sie reichte Emma ein Stück Käse. »Hier, dein Frühstück. Brot müssen wir erst besorgen. Vor dem Haus steht ein Fass mit Regenwasser, da kannst du dir das Gesicht waschen! Und kämm dir die Haare! Du musst wie die Unschuld vom Lande aussehen, wenn wir was erreichen wollen!« Emma blickte sie fragend an. »Wieso?« »Erklär ich dir unterwegs. Mach dich erst mal fertig!« Nachdem Emma sich gewaschen, ihre Haare gekämmt und ihr Kleid und ihren Mantel einigermaßen in Ordnung gebracht hatte, verließen sie die Ruine. Im blassen Licht des regnerischen Morgens wirkte die Gegend noch schmutziger und schäbiger. Auf dem unebenen Pflaster standen Pfützen und es stank erbärmlich. Nervöse Händler lenkten ihre Handkarren durch die Straße und verfluchten die Stadt, das Wetter und die Menschen, die ihnen im Weg standen. Zwei Männer schaufelten Abfall auf einen Wagen. In einem Hauseingang spielte ein Mädchen mit einer zerfledderten Stoffpuppe. Aus einem offenen Fenster drang Kindergeschrei.
»Du spielst den Lockvogel«, sagte Charlie, als sie sich der Second Avenue näherten. Sie musste laut sprechen, um das marktschreierische Werben eines Ladenbesitzers zu übertönen. »Wenn du einen Mann anquatschst und ihm das Märchen von der armen Unschuld vom Lande vorheulst, schöpft er bestimmt keinen Verdacht! Ich kenn die Männer, die mögen so Mädchen wie dich. Jammere dem Kerl was vor, sag ihm, dass du beraubt worden bist und nicht weißt, wo du hingehen sollst. Sobald er Feuer gefangen hat und dir anbietet, dich in eine gemütliche Pension zu bringen… na, du weißt schon warum… dann komm ich und schnapp mir seine Brieftasche!« Sie lachte. »Wenn der in deine schönen blauen Augen sieht, merkt er gar nicht, wie ich ihm in die Tasche greife!« Emma blieb stehen und blickte ihre neue Freundin entsetzt an. »Aber das ist Diebstahl! Wenn die Polizei uns erwischt, kommen wir ins Gefängnis! Ich dachte, du hättest richtige Arbeit, in einem Laden oder einer Wäscherei… ich spreche doch keinen wildfremden Mann an und du… nein, auf keinen Fall! Das kann ich nicht! Eher geh ich ins Armenhaus oder fahr nach Deutschland zurück!« »Unsinn! Jetzt hast du’s so weit geschafft, jetzt bleibst du hier! Oder meinst du, ich hätte dich umsonst aus der Gosse gefischt? Du schuldest mir was, Schwester! Mit anständiger Arbeit kommst du in dieser Stadt nicht weit. Du siehst doch, wie viele Leute sich hier rumtreiben! Die wollen alle einen Job, aber die wenigsten kriegen einen, und die wenigen, die einen bekommen, werden von den reichen Bonzen ausgenützt! Die behandeln die Armen wie den letzten Dreck! Was meinst du, warum mein Vater erschlagen wurde? Weil er einen Job hatte, den alle haben wollten! Nee, ich lass mich von den Pfeffersäcken nicht unterkriegen, und wenn du schlau bist, tust du genau das, was ich dir sage. Wenn sie dich das nächste Mal überfallen, hast du vielleicht weniger Glück, und so ‘n Kerl
reißt dir die Kleider vom Leib! Also, was ist? Willst du was Ordentliches zwischen die Zähne kriegen oder verhungern?« Das war eine ziemlich lange Rede für Charlie und sie verfehlte ihre Wirkung nicht. Aber nur, weil Emma glaubte, auch eine versteckte Drohung in den Worten zu hören. »Ich weiß nicht, Charlie«, zögerte sie, »ich hab noch nie was gestohlen! Ich kann das nicht!« »Keine Bange! Erstens klau ich die Brieftasche und zweitens nehmen wir nur Leuten was weg, die andere reinlegen. So wie dieser Jesse James, der Eisenbahnräuber. Der hat nur reiche Leute bestohlen, die Dreck am Stecken hatten. Hab ich in ‘ner Zeitung gelesen. Wir machen genau das Gleiche, beklauen nur Leute, die andere ausbeuten. Und ich sage dir, es gibt in ganz New York keinen Bonzen, der seine Millionen nicht auf Kosten der armen Leute gemacht hat! Die haben es nicht anders verdient!« Sie zog Emma zur Bowery, dem belebten Vergnügungsviertel, das seit dem frühen Morgen wieder den Geschäftsleuten gehörte. Selbst vor den Theatern und Bierhallen boten Händler ihre Waren an, hatten ihr Gemüse, Obst und Brot in Kisten und Körben liegen, damit jeder Passant einen Blick darauf werfen konnte. Fahrende Händler schoben ihre zweirädrigen Wagen über das Pflaster, schwenkten Glocken und überboten sich gegenseitig mit ihrem Marktgeschrei. Schwer beladene Lastwagen ratterten vorbei und unter den Markisen der Läden drängten sich Männer, Frauen und Kinder, weil sie es in ihren engen Wohnungen nicht aushielten. »Siehst du den Mann an der Ecke?«, fragte Charlie. »Den mit dem zerbeulten Hut? Das ist Harry W. Seinen Nachnamen hab ich vergessen. Der haut seine Kunden regelmäßig übers Ohr. Sein schäbiger Anzug ist nur Tarnung. Er wohnt in einer Villa am Central Park. Ihm gehören fünf Bäckereien, und wenn nur
die Hälfte von dem stimmt, was man sich über ihn erzählt, hat er seine Finger noch in anderen Sachen drin. Kann nicht genug kriegen, der Mistkerl, muss auch noch die Ärmsten der Armen ausnehmen!« Auch auf Emma machte der Mann keinen guten Eindruck. Er saß mit verkniffenem Gesicht hinter seinem Brotkorb, beide Hände auf die unterste Stufe eines Hauseingangs gestützt, und als eine Kundin mit ihm sprach, wirkte sein Lächeln wie eine schlechte Maske. Kaum war die Frau mit dem Brot verschwunden, kam seine schlechte Laune wieder zum Vorschein. »Und wie willst du an sein Geld herankommen?«, fragte Emma neugierig. »Hast du nicht gesehen? Er sitzt auf seinem Geldbeutel. Das schaffen wir doch nie!« »Das weiß ich auch«, antwortete Charlie, ohne den Brotverkäufer aus den Augen zu lassen. »Den Zaster holen wir uns woanders, bei den Männern in den sauberen Anzügen auf der Fifth Avenue, die passen nicht so gut auf ihre Brieftaschen auf. Bei dem Alten holen wir uns Brot. Einen Laib für uns und zwei oder drei zum Tauschen. Unter der Hochbahn in der Second Avenue kenn ich ‘nen Juden, der gibt mir alles Mögliche dafür. Sogar guten irischen Whiskey.« Der Anblick der Brotlaibe machte Emma schwach. »Und was soll ich tun?«, fragte sie. »Ich… ich hab so was noch nie gemacht.« »Du spielst den sterbenden Schwan«, antwortete Charlie. »Tust so, als würdest du stolpern, und brichst vor ihm zusammen. Wie ich den Alten kenne, bleibt er auf seinem Zaster sitzen, aber du lenkst ihn bestimmt ab. Jammere ihm was vor oder beschimpf ihn meinetwegen… zwei Sekunden reichen mir. Ich schnapp mir die Brote und renn davon. Sobald ich weg bin, stehst du auf. Humple ein bisschen, damit es echt aussieht. Wir treffen uns bei mir.« »Aber… das kann ich nicht! Er merkt bestimmt was und…«
»Ach was, du schaffst das!«, schnitt Charlie ihr das Wort ab. »Geh jetzt! Er darf uns nicht zusammen sehen.« Sie lächelte aufmunternd. »Beweg dich ganz natürlich! Tu so, als wär ich nicht in der Nähe!« Sie rannte davon und wartete in einer Seitengasse. Emma blieb eine Weile stehen und blickte ihr nach, zögerte immer noch, sich auf das Abenteuer einzulassen. Erst als ein junger Mann versuchte sie in ein Gespräch zu verwickeln, überquerte sie die Straße. Auf der anderen Seite blieb sie vor einem Gemüsegeschäft stehen. Sie blickte sich vorsichtig um und überzeugte sich davon, dass der junge Mann verschwunden war, dann lief sie los. Mit beinahe mechanischen Schritten näherte sie sich dem Brotverkäufer. Sie war nervös, blickte bewusst in eine andere Richtung, um nicht in seine dunklen Augen sehen zu müssen. Je näher sie ihm kam, desto lauter schien ihr Herz zu klopfen. Als sie nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war, verließ sie der Mut und sie entschloss sich, die Sache abzublasen und an ihm vorbeizulaufen. Doch dann stolperte sie tatsächlich und stürzte neben dem Brotkorb auf den Gehsteig. Ihr Schrei war echt, und als sie sich mit beiden Händen an den linken Knöchel griff und vor Schmerz ihr Gesicht verzog, brauchte sie sich ebenfalls nicht zu verstellen. Sie merkte nicht, wie der Brotverkäufer schadenfroh in ihre Richtung blickte, und noch weniger, wie Charlie um die Ecke huschte, blitzschnell nach drei Brotlaiben griff, sie in den Innentaschen ihres Mantels versteckte und verschwand. Emma stemmte sich vom Boden hoch und lehnte sich gegen die Hauswand. Ihr linker Knöchel schmerzte. »Ich will doch gleich verdammt sein…«, hörte sie den Brotverkäufer fluchen. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie er mehrmals die Brote durchzählte und anklagend in die Runde blickte. »Wer war das? Wer hat die Brote gestohlen?«, rief er, aber niemand
beachtete ihn. Er sprang auf und wollte den Schuldigen suchen, dann fiel ihm ein, dass er den Brotkorb nicht allein lassen konnte, und setzte sich rasch auf seinen Geldbeutel. »Verdammt! Wenn man die Polizei braucht, ist sie nicht da!« Er blickte die Passanten, die neugierig stehen geblieben waren, wütend an. »Aber das wird ein Nachspiel haben! Ich werde Anzeige erstatten, und wenn die Polizei den Schuldigen nicht findet, werde ich die Preise erhöhen, jawohl!« Er bemerkte Emma, die erleichtert feststellte, dass ihr Knöchel nicht schlimm verletzt war, und gerade die Straße überqueren wollte. »Haben Sie gesehen, wer meine Brote gestohlen hat?« Er sprach Englisch, aber Emma erriet die Bedeutung seiner Worte. »Nein… nein«, erwiderte sie auf Deutsch. Ungewollt reagierte sie genau so, wie Charlie es sich gewünscht hatte. »Sie sehen doch, dass ich hingefallen bin. Ich habe nichts gesehen…« Ihr wurde bewusst, dass der Diebstahl geklappt hatte, und sie errötete vor Scham. »Ich habe wirklich nichts gesehen«, wiederholte sie. Sie wischte ihre schmutzigen Hände am Mantel ab und vermied es, den Brotverkäufer anzublicken. »Wenden Sie sich an die Polizei!« Sie lief davon und war froh aus dem Blickfeld des Mannes zu kommen. Erleichtert lehnte sie sich gegen einen Laternenpfahl. Sie hatte Glück gehabt, großes Glück. Nur einem Zufall hatte sie es zu verdanken, dass der Brotverkäufer nichts gemerkt hatte. Hätte sie den Sturz nur vorgetäuscht, wäre sie jetzt schon auf dem Weg ins Gefängnis, da war sie sich ganz sicher. Sie drehte sich um, glaubte immer noch nicht, die heikle Situation heil überstanden zu haben, und lief hastig davon. Schwer atmend erreichte sie das eingestürzte Haus. »Charlie!«, rief sie schon von weitem. »Bist du zu Hause?« Ihre Freundin saß auf der Matratze und biss herzhaft in ein Stück Brot. »Wo soll ich denn sonst sein?«, fragte sie mit
vollem Mund. Sie empfing Emma mit einem zufriedenen Grinsen. »He, das hast du toll gemacht! Du bist ein Naturtalent! Die Butcher Boys würden dich glatt in ihre Bande aufnehmen, wenn sie wüssten, wie gut du bist! Ich wär beinahe selber auf dich reingefallen. Das sah richtig echt aus!« Sie reichte der Freundin ein Stück von dem Brot und strahlte sie an. »Der Kerl hat doch nichts gemerkt?« »Nach einer Weile schon«, erwiderte Emma. Sie wagte nicht, Charlie die Wahrheit zu erzählen. »Aber da war ich schon auf der anderen Seite.« Sie biss in das Brot und merkte erst jetzt, wie sehr ihr die Sache auf den Magen geschlagen hatte. Das freche Grinsen ihrer Freundin erwiderte sie mit einem Achselzucken. Sie wollte fragen, ob es denn wirklich nötig sei, einem reichen Mann auf der Fifth Avenue die Brieftasche zu stehlen, kam aber nicht dazu. »So«, nahm Charlie ihr jeden Mut, »und jetzt geht es einem der reichen Bonzen an den Kragen! Du wirst sehen, das ist noch einfacher als die Sache mit dem Brot! Bis heute Mittag haben wir so viel Geld zusammen, dass wir drei Tage auf der faulen Haut liegen können!« Sie verstaute die Brote in ihrem Geheimfach und schob den Backstein so davor, dass man nichts merkte. »Zu dem Juden gehen wir heute Abend, der wagt sich nur nachts aus dem Haus.« Emma wagte nicht zu widersprechen. Mit einem mulmigen Gefühl, das sich seit dem frühen Morgen in ihrer Magengrube eingenistet hatte, folgte sie Charlie nach draußen und über die Zehnte Straße nach Westen. Zum Schutz gegen den Nieselregen, der inzwischen auf die Stadt fiel, schlug sie ihren Mantelkragen nach oben. Ihre Hände steckten tief in den Taschen. Sie sah wie eine Bettlerin aus, ihr Mantel und ihre Schuhe waren schmutzig und einige Haarsträhnen hatten sich aus dem Knoten gelöst, aber einige der Gestalten, denen sie begegneten, sahen noch armseliger aus. Sie hatte keinen
Grund, sich zu schämen. Charlie wäre in ihrem zerschlissenen Mantel und den abgelaufenen Stiefeln selbst von einer Farm als Landstreicherin und Bettlerin verjagt worden. Emma machte sich nichts vor. Sie merkte genau, dass sie dabei war, den Boden unter den Füßen zu verlieren und im Sumpf der Großstadt zu versinken. Sie verdrängte die quälenden Gedanken und redete sich ein, nur für ein paar Tage wie Charlie leben zu wollen. Sobald sie festen Boden unter den Füßen hatte, würde sie sich anständige Arbeit suchen und ihr Geld auf ehrliche Weise verdienen. Sie würde in einem richtigen Zimmer wohnen und zu einer respektablen Dame werden. »Hast du’s nie mit ehrlicher Arbeit versucht?«, fragte sie, während sie einem parkenden Automobil auswichen. In ihrer Stimme war kein Vorwurf, eher Neugier. »Ehrliche Arbeit?« Charlie blickte sie ungläubig an. »Ehrliche Arbeit gibt’s in ganz New York nicht! Ausgenommen wirst du überall, und ich hab keine Lust, mir für ein paar Cent den Arsch aufzureißen! Nee, ich lass mich nicht für dumm verkaufen! Meine Mutter hat’s versucht. Als mein Vater starb, sollte ich die ganze Arbeit für sie machen. Von morgens bis abends als Näherin schuften und dann noch den Haushalt… ohne mich! Als sie tot war, hab ich schnell die Fliege gemacht! Auf der Straße geht’s mir dreimal besser, und was in ein paar Jahren ist, lass ich auf mich zukommen.« Vor ihnen tauchte die Fifth Avenue auf und sie drängten sich kurz vor der Kreuzung in einen Hauseingang. Emma blickte staunend auf die breite Straße. Selbst im Nieselregen machten die wuchtigen Häuser zu beiden Seiten der Allee einen vornehmen Eindruck. Wie herrschaftliche Paläste ragten sie empor. Vor den Eingängen standen uniformierte Diener, hielten den Bewohnern die Türen auf oder riefen Taxis herbei. Eine Elektrische hielt klingelnd an einer Haltestelle. Die
wenigen Menschen, die bei dem Nieselregen unterwegs waren, versteckten sich unter Schirmen. »An die Leute willst du rankommen?«, fragte Emma ungläubig. »Die rufen doch sofort die Polizei, wenn sie uns sehen! So wie wir aussehen, merken die sofort, dass wir was im Schilde führen!« »Mich bekommen die gar nicht zu sehen«, erwiderte Charlie. »Und du spielst das unschuldige Bauernmädchen. Du brauchst nicht mal zu lügen. Sag dem Kerl die Wahrheit und lenk ihn mit deinen unschuldigen Augen ab, bis ich ihm die Brieftasche geklaut hab! Dann mach dich schleunigst aus dem Staub!« Sie gab Emma einen freundschaftlichen Klaps, schlich bis zur Straßenecke vor und ging hinter einer Aschentonne in Deckung. Mit einer Handbewegung forderte sie Emma auf nachzukommen. »Wie wär’s mit dem Kerl, der gerade über die Straße kommt? Der sieht alt genug aus, um auf dich reinzufallen! Jede Wette, dass er ‘ne Menge Zaster in seiner Brieftasche hat. Fang ihn ab, Emma, mach schon!« Emma blieb keine Zeit, über ihr Vorgehen nachzudenken. Charlie vergeudete keine Zeit, wenn es darum ging, einen Coup zu landen. So nannte sie ihre Überfälle, als wäre sie eine Bankräuberin im Wilden Westen. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, ging sie direkt auf ihr Ziel los. »Beeil dich!«, forderte sie Emma leise auf. »Dir kann gar nichts passieren! Wenn es schief geht, tust du einfach so, als hättest du mich nie gesehen. Ich komm schon klar. Länger als eine Nacht behalten die mich nicht im Bau.« Der Mann hatte gerade die Straße überquert, als Emma ihr Versteck verließ und zögernd auf ihn zuging. Ihre ängstliche Miene ließ sie noch unschuldiger aussehen als sonst und weckte die Neugier des Fremden. Mit unverhohlener Neugier musterte er ihre schmutzige Kleidung. »Sie haben sich wohl
verirrt, mein Fräulein!«, meinte er arrogant. »Sie befinden sich auf der Fifth Avenue.« »Ich kenne mich in New York nicht aus«, erwiderte Emma zaghaft. »Ich bin erst gestern gekommen. Der Onkel, bei dem ich gewohnt habe, liegt im Krankenhaus, und der Vermieter hat uns die Wohnung gekündigt. Jetzt stehe ich ohne einen Penny da.« Sie veränderte die Wahrheit nur unwesentlich. »Ich brauche dringend Geld! Zehn Cent würden mir reichen. Könnten Sie mir vielleicht… « Der Fremde verstand sie nicht. »Was willst du?«, versuchte er sie abzuschütteln. »Ist das Deutsch, was du da sprichst? Kommst du aus Germany? Wenn du betteln willst, muss ich dich leider enttäuschen! Ich gebe grundsätzlich nichts her, und wenn du nicht gleich verschwindest, bin ich leider gezwungen die Polizei zu rufen.« Im selben Augenblick tauchte Charlie hinter dem Mann auf und zog ihm mit einer kaum sichtbaren Bewegung die Geldbörse aus der Tasche. Emma erschrak so sehr, dass sie zu keiner Bewegung fähig war. Sie blieb wie angewurzelt stehen, blickte Charlie nach, die mit ihrer Beute um die nächste Ecke verschwand, und starrte den vornehmen Fremden an, der erkennen musste, dass man ihn reingelegt hatte, und mit ärgerlicher Miene nach ihr griff. »So ist das also!«, schimpfte er wütend. »Du bist eine gemeine Diebin! Na warte!« Er hielt sie mit beiden Händen fest und rief: »Polizei! Polizei! Man hat mich beraubt«, doch Emma schaffte es, sich loszureißen, und rannte in panischer Angst davon.
13
Emma rannte ziellos durch die Straßen, kümmerte sich nicht um die neugierigen Blicke der Menschen, die selbst an einem regnerischen Tag wie diesem auf der Straße lebten, weil ihre Wohnungen zu klein waren. Sie rempelte einen jungen Zeitungsverkäufer an, ohne sich bei ihm zu entschuldigen, trat in Pfützen und verstreuten Abfall und blieb erst stehen, als sie keine Luft mehr bekam. Ihr Gesicht brannte vor Anstrengung und ihre Augen waren voller Tränen. Sie weinte heftig, aus Wut über ihren gemeinen Diebstahl und aus Selbstmitleid. Am liebsten wäre sie so lange gerannt, bis die Ereignisse dieses Morgens zu einem bloßen Albtraum wurden. Erschöpft blieb sie vor einem Gemüseladen stehen. Als der Besitzer zur Tür kam und sie ausfragen wollte, lief sie wortlos weiter. An der nächsten Ecke hielt sie erneut inne und wischte sich mit dem Ärmel den Rotz und die Tränen vom Gesicht. Sie wollte nicht zurück zu Charlie. Nie wieder würde sie ihr dabei helfen, einen Menschen zu bestehlen, und wenn er noch so reich war und noch so viele Arme ausbeutete. Sie war nicht geschaffen für das Leben auf der Straße. Sie war nicht skrupellos genug, um an der Seite von Charlie zu bestehen, und hatte keine Lust, in einem eingestürzten Haus zu leben und ihr armseliges Nachtlager mit Ratten und schwarzen Vögeln zu teilen. Deshalb war sie nicht nach New York gekommen. Sie würde sich eine anständige Arbeit suchen, auch wenn Charlie behauptet hatte, es gäbe keine Jobs. Irgendwo musste es etwas geben. Es musste doch möglich sein, in dieser riesigen Stadt ein menschenwürdiges Leben zu führen!
Gleich jetzt würde sie damit anfangen. Ihre Gestalt straffte sich und sie trat vor eine Regentonne, schaufelte sich mit beiden Händen das Wasser ins Gesicht. Sie blickte in die Spiegelscherbe, die zwischen Abfall auf dem Boden lag, und erschrak. Sie sah furchtbar aus, genauso schmutzig und ungepflegt wie die meisten anderen Frauen und Mädchen, die in diesem Stadtteil unterwegs waren. In den vornehmen Stadtteilen hätte man sie für eine Bettlerin gehalten, aber hier drehte sich kaum jemand nach ihr um. Sie fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die zerzausten Haare. Mit der flachen Hand klopfte sie den Staub aus ihrem Mantel. So muss es gehen, dachte sie und vermied es, noch einmal in die Spiegelscherbe zu blicken. Entschlossen ging sie weiter, auf der Suche nach Arbeit, einer Unterkunft und einem neuen Leben. Ihre überstürzte Flucht hatte sie zur First Avenue gebracht. Sie wusste inzwischen, dass alle Avenues von Norden nach Süden und alle nummerierten Straßen von Westen nach Osten führten. Sie brauchte nur der First Avenue zu folgen und weiter nördlich nach Osten abzubiegen. Im deutschen Viertel würde sie am ehesten Arbeit finden, dort verstand man ihre Sprache. Mit festen Schritten machte sie sich auf den Weg. Ihre Tränen waren versiegt. Sie war fest entschlossen, es in New York zu schaffen. Noch einmal würde sie nicht den Fehler machen und sich abends in dunklen Gassen herumtreiben. Zur Landstreicherin und Diebin taugte sie nicht. Sie mochte Charlie, hätte sie gern zur Freundin gehabt, aber das Mädchen war nicht mehr in der Lage, ein normales Leben zu führen. Charlie lebte schon zu lange auf der Straße. In einem Drugstore an der Elften Straße machte Emma den Anfang. Sie wartete geduldig, bis der Besitzer eine ältere Dame bedient hatte, und kümmerte sich nicht um den abfälligen Blick, den ihr die Kundin beim Verlassen des
Ladens zuwarf. »Guten Tag«, grüßte Emma höflich, »ich bin Emma Mahler und möchte mich gerne um eine Stellung bewerben. Ich komme von einem Bauernhof bei Lüneburg und bin es gewohnt, hart zu arbeiten.« Als sie den misstrauischen Blick des Ladenbesitzers bemerkte, fügte sie rasch hinzu: »Man hat mich niedergeschlagen und beraubt, deshalb konnte ich mir noch kein Zimmer suchen. Ich hatte auch keine Möglichkeit, meine Kleider zu waschen, aber sobald ich etwas Geld verdient habe, werde ich das nachholen…« Sie blickte den Mann flehend an. »Ich brauche Arbeit, mein Herr! Ganz dringend!« Der Ladenbesitzer, ein älterer Mann mit einem Schnurrbart und einer Nickelbrille über der breiten Nase, schien Mitleid mit ihr zu haben, sagte aber: »Ich habe keine Arbeit, mein Fräulein. Es reicht kaum für meine Frau und mich. Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf: Verlassen Sie diese Stadt und kehren Sie nach Deutschland zurück! Hier kommen Sie nur unter die Räder! Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede. Gehen Sie, solange Sie noch die Möglichkeit dazu haben! Diese Stadt ist ein Moloch. Sie verschlingt jeden, der nicht stark genug ist!« Er erklärte nicht, was er damit meinte, und fügte bedauernd hinzu: »Tut mir Leid, Miss!« Emma verabschiedete sich und verließ den Laden. Ohne sich von der Absage entmutigen zu lassen, ging sie weiter. Sie war stark genug. Auch wenn man ihr tausendmal empfahl nach Deutschland zurückzufahren, würde sie bleiben. In einem großen Eisenwarenladen mit mehreren Angestellten bewarb sie sich erneut. Diesmal kam sie nicht einmal zum Besitzer durch. Ein junger Ladengehilfe unterbrach sie und erwiderte scharf: »Hier gibt es keine Arbeit! In der ganzen Straße gibt es keine Arbeit! Und wenn mein Chef sieht, dass ich mit Ihnen rede, bin ich meine Stellung ebenfalls los! Also gehen Sie, bevor
jemand die Polizei ruft und Sie als Bettlerin und Hausiererin verhaften lässt! Leben Sie wohl!« Enttäuscht ging Emma nach draußen. Als sie an dem Schaufenster vorbeiging und ihr Spiegelbild in der Glasscheibe sah, seufzte sie verzweifelt. Sie sah tatsächlich wie eine Landstreicherin aus. Ihre Augen hatten schon nach einer Nacht in dem eingestürzten Haus jeglichen Glanz verloren. Kein Wunder, dass der Angestellte in dem Eisenwarenladen sie wie eine lästige Bettlerin behandelt hatte. Sie brauchte ein heißes Bad und neue Kleider, wenn sie bei ihrer Stellensuche erfolgreich sein wollte, und für beides fehlte ihr das Geld. Sie klopfte den Staub von ihrem Kragen und ordnete ihre Haare. Sie waren feucht und strähnig und ihr Knoten wurde nur noch von einer einzigen Nadel zusammengehalten. Die anderen hatte sie verloren. So schmutzig und ungepflegt wäre sie in der alten Heimat nie aus dem Haus gegangen. Bei einem Klavierbauer, der im Untergeschoss eines mehrstöckigen Mietshauses wohnte, bekam sie wenigstens einen heißen Kaffee serviert. Die Frau des Deutschen hatte Mitleid mit ihr und sagte: »Ich weiß, wie Ihnen zumute ist, mein Kind. Uns erging es auch nicht anders, als wir mit dem Schiff hier ankamen. Zehn Jahre ist das nun her. Wir kommen aus Ulm in Deutschland, hatten in der alten Heimat unsere Existenz verloren, weil ich…« Sie fing einen warnenden Blick ihres Mannes auf. »Nun, das tut hier nichts zur Sache. Wir hatten nur den Schmuck meiner Mutter und ein paar Werkzeuge dabei und lebten die ersten sechs Jahre in einer dieser fürchterlichen Mietskasernen. Erst seit vier Jahren haben wir unseren eigenen Betrieb. Sie können mir glauben, wir würden Ihnen wirklich gern helfen, aber wir verdienen kaum genug, um unsere Miete zu bezahlen.« Sie ging zum Wandschrank und nahm eine Schale mit Keksen heraus. »Nehmen Sie sich ein paar, Fräulein!« Sie wechselte einen
raschen Blick mit ihrem Mann. »Es geht wirklich nicht… leider. Ich befürchte, in den anderen Läden im deutschen Viertel werden Sie genauso wenig Glück haben.« Emma wollte sich schon verabschieden und aufstehen, als der Frau noch etwas einfiel: »Warum versuchen Sie es nicht in einem Sweatshop? In einer dieser großen Nähfabriken, die Shirtwaists herstellen?« Sie berührte ihre eigene Bluse, ein Shirtwaist mit einer bestickten Knopfleiste, das sie zu einem langen Rock trug. »Dort werden immer Arbeiterinnen gesucht. Die Bezahlung soll nicht besonders gut sein und die Fabriken sind fest in jüdischer Hand, aber ich würde es auf jeden Fall versuchen. Shirtwaist Factories… es gibt unzählige dieser Nähereien im jüdischen Viertel.« »Vielen Dank«, sagte Emma, »Sie haben mir sehr geholfen.« Die Frau erhob sich. »Warten Sie, ich packe Ihnen was zu essen ein«, sagte sie mitleidig. Sie verschwand in der Küche und kehrte mit einem gefüllten Vorratsbeutel zurück. »Viel Glück!«, sagte sie. »Ich wollte, wir könnten mehr für Sie tun… tut mir Leid!« Emma kehrte auf die Straße zurück. Der Regen war stärker geworden und ein böiger Wind trieb durch die Häuserschluchten und wirbelte einige Wäschestücke, die von den Leinen gefallen waren, über das Pflaster. Sie lief im Schutz der Markisen zu einem alten Holzhaus, das wie ein Fremdkörper zwischen den mehrstöckigen Mietshäusern eingeklemmt war. Unter dem Vorbaudach, das über den gesamten Bürgersteig reichte, fand sie Schutz vor dem Regen. Sie setzte sich auf die Holzbank unter dem Fenster und teilte ihr Sandwich mit einem Mädchen, das im Regen stehen geblieben war und ihr minutenlang beim Essen zugesehen hatte. Emma hörte etwas rascheln und sah, dass eine Zeitung unter der Bank lag und sich zwischen einigen Holzstreben verfangen
hatte. Sie zog sie hervor und blätterte gelangweilt darin. Mit dem bisschen Englisch, das sie während der Überfahrt gelernt hatte, konnte sie nur wenig davon verstehen. Bis ihr auf einer der letzten Seiten der Name ihres toten Onkels in die Augen sprang. Aufgeregt versuchte sie, wenigstens einen Teil des Artikels zu entziffern. Einzelne Wörter konnte sie übersetzen. »German« bedeutete »Deutsch« oder »Deutscher«. »Murder« hieß »Mord«. Zum Glück stand ein Fragezeichen dahinter. »Accident« war das englische Wort für »Unfall«. Auch »Police« und »tenement« waren ihr bekannt. Mit »tenement« bezeichneten die Amerikaner eine Mietskaserne. Am Schluss des Artikels stand »seventeen year old German« mit einem Fragezeichen, was nur bedeuten konnte, dass die Polizei nach einem siebzehnjährigen Mädchen suchte. Damit konnte nur sie gemeint sein! »Wusste ich doch, dass du dich hier rumtreibst«, meldete sich eine bekannte Stimme. Charlie setzte sich neben sie, wischte sich den Regen vom Gesicht und deutete auf die Zeitung. »Kummer?« Emma reichte ihr die Zeitung und deutete auf den Artikel. »Jetzt brauche ich überhaupt nicht mehr nach Arbeit zu suchen«, erklärte sie traurig. »Sobald sie mich erwischen, lande ich in einer Erziehungsanstalt oder im Gefängnis. Was soll ich nur tun, Charlie?« Charlie las den Bericht und grinste verhalten. »War mir klar, dass irgendwas mit deinem Onkel passiert sein muss. So ‘n Mädchen wie du haut nicht einfach ab. Ist aber noch lange kein Grund, sich ins Hemd zu machen. Bleib ganz ruhig! Hier steht nur, dass sie nach einer siebzehnjährigen Deutschen fahnden. Solange die deinen Namen nicht rauskriegen, kann dir gar nichts passieren!« »Den kriegen sie schnell raus«, erwiderte Emma besorgt. »Sie brauchen nur in den Büchern von Ellis Island
nachzusehen. Da steht mein Name drin, und den Namen meines Onkels hab ich auch angegeben. Wenn dann noch jemand gesehen hat, wie ich nachts aus dem Haus gerannt bin… Was soll ich nur tun, Charlie?« »Hast du ihn umgebracht?« »Es war ein Unfall!« Sie berichtete in allen Einzelheiten, wie es zum tragischen Tod ihres Onkels gekommen war. »Das hätte mir doch niemand geglaubt! Mir blieb gar nichts anderes übrig als wegzulaufen! Ich dachte, sie lassen die Sache auf sich beruhen.« »Die Nachbarn haben geplappert, das ist immer so«, meinte Charlie abfällig. »Bei uns war’s damals genauso. Die warten doch nur darauf, einen anderen bei den Cops hinzuhängen. Keine Ahnung, warum die Menschen so sind.« Sie warf die Zeitung auf den nassen Boden und grinste wieder. »Sei froh, dass du mich hast!« Emma blickte sie hoffnungsvoll an. »Eine Hand wäscht die andere«, fuhr Charlie fort. »Du hast mir geholfen den reichen Schnösel auszunehmen, der hatte nämlich ordentlich Zaster in seiner Geldbörse, und ich helfe dir die Sache mit deinem Onkel geradezubiegen. Ich kenn ein leichtes Mädchen, das weiß, wie man die Polizei auf seine Seite bringt. Wenn wir Glück haben, ist sie schon auf. Komm mit, ich bring dich hin!« »Ein leichtes Mädchen? Du kennst ein leichtes Mädchen?« »Die sind mir lieber als die aufgetakelten Damen aus der Fifth Avenue«, sagte Charlie. »Komm schon! Kitty ist schwer in Ordnung. Die hat mir schon ein paarmal aus der Patsche geholfen.« Emma blieb nichts anderes übrig als Charlie zu folgen. Ihr Weg führte ins Hafenviertel, das tagsüber und im Regen noch schäbiger als nachts aussah. Die Frau, von der Charlie gesprochen hatte, lebte im zweiten Stock eines
heruntergekommenen Mietshauses. Im Flur stank es nach Abfall und Urin. »Keine Bange!«, betonte Charlie, als sie den ängstlichen Ausdruck in Emmas Augen bemerkte. Sie klopfte an eine Tür und öffnete sie unaufgefordert. »Hi, Kitty! Wie geht’s dir immer so? Hast du noch genügend Stoff? Ich besorg dir wieder was, allright? Aber heute brauch ich deine Hilfe!« Das Zimmer, in dem Kitty wohnte, war ungefähr so groß wie der Raum, in dem Emma mit ihrem Onkel gelebt hatte, und ähnlich eingerichtet. Nur das Bett war größer. Kitty saß am Tisch und polierte ihre Fingernägel. Sie war groß und schlank und hatte flammend rotes Haar. Ihr Gesicht war stark gepudert. Das Glänzen in ihren Augen verriet, dass sie gerade etwas genommen hatte. »Was gibt’s, Charlie? Ich hab nicht viel Zeit. Der Captain muss jeden Augenblick hier sein.« »Das trifft sich gut«, sagte Charlie. »Das ist Emma, ‘ne gute Freundin von mir. Sie steckt in Schwierigkeiten.« Sie berichtete der jungen Frau, was geschehen war. »Kannst du dafür sorgen, dass der Captain den Fall zu den Akten legt?« Als sie sah, dass Kitty länger überlegte, fügte sie hinzu: »In zwei Tagen krieg ich wieder was rein, Kitty! Erste Ware! Ich mach dir einen guten Preis, einverstanden?« Kitty blies ihre Fingernägel trocken. »Also gut, weil du es bist. Aber lass mich nicht hängen, hörst du? Ich brauche das verdammte Zeug. Und jetzt macht, dass ihr wegkommt!« Charlie und Emma machten sich aus dem Staub, und als sie wieder auf der Straße waren, lächelte Charlie stolz. »Wie wär’s mit ‘nem Festessen?… Ich hab frisches Brot und Schinken zu Hause. Hab ich mit dem Geld von dem reichen Schnösel gekauft.« Sie grinste breit. »Und guten irischen Whiskey.« Emma griff nach der Hand des Mädchens. »Danke, Charlie. Ich wär schon mit einem Nachtlager zufrieden. Heute finde ich
sowieso keine Arbeit mehr. Darf ich noch mal in der Ruine schlafen?« »Jederzeit, Emma! Du hast mir Glück gebracht!« »Du mir auch, Charlie! Du mir auch!«
14
Emma verbrachte eine unruhige Nacht. Mehr noch als die Aufregung um ihren toten Onkel und ihren Besuch bei dem leichten Mädchen im Hafenviertel bedrückte sie die Erkenntnis, August aus den Augen verloren zu haben. In ihrem Traum war er ständig in ihrer Nähe, doch immer wenn sie ihn berühren wollte, wurde er unsichtbar und verschwand wie ein Geist. Sie weinte im Schlaf, schreckte mehrmals hoch und war froh, dass Charlie nichts davon merkte und zufrieden schnarchte. Nur einmal wachte sie auf und sagte müde: »Mach dir nicht ins Hemd! Wenn dich dieser August wirklich liebt, findet er dich auch! Verlass dich drauf!« Nachdem sie aufgestanden war und sich mit dem kalten Wasser aus der Regentonne gewaschen hatte, ging es ihr besser. Charlie hatte Recht. Wenn er sie liebte, würde er sie aufspüren, egal in welcher Straße sie Unterschlupf fand. Der tapfere Ritter aus dem Buch, das man ihr gestohlen hatte, hatte seine geliebte Lady Rowena nach einem monatelangen Kreuzzug ins Heilige Land wieder gefunden! Er hielt erst um ihre Hand an, als er alle Feinde besiegt hatte und ihrer Ehe nichts mehr im Wege stand. Sie würde sich ein Beispiel an der Lady nehmen, die tapfer durchgehalten und jahrelang auf Ivanhoe gewartet hatte. Emma durfte nicht aufgeben. Wenn August sie fand, wollte sie es geschafft haben. Eine junge Frau, die auf der Straße lebte und sich von Diebstählen ernährte, war nichts für einen edlen Ritter. »Ich hab gehört, in den Nähfabriken im jüdischen Viertel stellen sie Leute ein«, sagte sie, als sie auf einer abgebrochenen Mauer beim Frühstück saßen. Sie hatten Kaffee
über einem offenen Feuer gekocht und teilten sich ein trockenes Brötchen und ein Stück Käse. »Vergiss es«, erwiderte Charlie, »da quetschen sie dich aus wie eine Zitrone! Du darfst von frühmorgens bis spätabends schuften und die Bonzen speisen dich mit vier Dollar die Woche ab! Damit kommst du nicht weit! Und wenn du zu spät kommst oder während der Arbeit hustest, ziehen sie dir die Hälfte vom Lohn ab. Nee, da fährst du bei mir besser. Mit dem Zaster, der in der Brieftasche des reichen Schnösels war, komm ich zwei Wochen über die Runden! Und wenn sie mich mal erwischen, verbring ich ‘ne Nacht im Knast oder muss ‘ne Woche im Workhouse schuften. So was sitz ich auf der linken Backe ab! Ich lass mich nicht ausbeuten!« »Und wenn sie dich wegen was Schlimmerem drankriegen?«, fragte Emma. »Ich hab mitbekommen, was du dem leichten Mädchen verkaufst. Rauschgift! Dafür sperren sie dich jahrelang ein!« »Wenn sie mich kriegen!« Charlie biss lachend in ihr Brötchen. »Und selbst wenn… was meinst du, was der Captain sagt, wenn ich an die große Glocke hänge, wen er jeden Nachmittag besucht?« Emma dachte an die Männer, die sie bewusstlos geschlagen hatten. »Du lebst gefährlich, Charlie! Eines Tages liegst du genauso in der Gosse wie ich, und wer weiß, ob dir auch jemand hilft. Warum stellen wir uns nicht beide in der Nähfabrik vor? Wenn es klappt, könnten wir uns zusammen ein billiges Zimmer suchen. Dann bräuchten wir keine Angst mehr zu haben. Was meinst du?« »Jetzt redest du schon wie diese verdammte Nonne, die mir neulich über den Weg lief«, meinte Charlie. »Willst du mich bekehren? Ich tauge nicht für die Fabrik. Beim ersten falschen Wort wär ich auf hundert und sie würden mich feuern! Das überlass ich braven Mädchen wie dir!« Sie trank einen Schluck
Kaffee und schüttelte ungläubig den Kopf. »Du meinst es wirklich ernst, was?« »Ich kann nicht so leben wie du, Charlie!« »Ich weiß«, antwortete Charlie, »aber in den schmutzigen Klamotten brauchst du erst gar nicht in der Fabrik zu erscheinen. Wenn sie dich in dem Aufzug sehen, bist du gleich wieder draußen!« Emma blickte an sich herunter und erinnerte sich daran, dass sie wie eine Landstreicherin aussah. Wahrscheinlich würde sie schon der Pförtner am Eingang aufhalten. »Wir dulden keine Bettlerinnen in unserem Fabrikgebäude«, würde er sagen. Sie spürte, wie ihre Hoffnung sank und sich ihre Augen mit Tränen füllten. »Kein Grund, schon wieder die Heulsuse zu spielen«, sagte Charlie. »Hältst du’s ein paar Stunden allein aus? Gegen Mittag bin ich wieder hier, dann sehen wir weiter. Essen liegt im Fach.« Sie verschwand ohne ein weiteres Wort und Emma blieb allein in der Ruine zurück. Um sich die Zeit zu vertreiben, warf sie kleine Steine gegen die Wand. Das Wetter hatte sich gebessert. Ihr einziger Besucher war eine streunende Katze, die eine Maus verfolgte und nach erfolgreicher Jagd wieder verschwand. Am frühen Nachmittag kehrte Charlie von ihrem Ausflug zurück. Sie zog einen Mantel, einen Rock und eine Bluse aus einem Leinensack und reichte ihr einen breitkrempigen Hut mit einem roten Band. »Alles nicht mehr ganz neu, aber damit müsste es gehen.« Emma starrte die Kleidungsstücke an. »Wo hast du die Sachen her?«, fragte sie entsetzt. »Ich zieh keine gestohlenen Sachen an. Wenn das rauskommt, krieg ich erst recht keinen Job!«
»Der Käse heute Morgen war auch gestohlen«, erwiderte Charlie grinsend. »Außerdem hab ich das Zeug nicht geklaut! Ich hab’s gekauft, bei dem Juden in der Bowery. Er hat mir einen Sonderpreis gemacht.« Sie hielt ihr die Sachen hin. »Was ist? Ziehst du das Zeug jetzt an oder willst du wie ‘ne Vogelscheuche rumlaufen?« Emma griff zögernd nach den Kleidungsstücken und zog sich um. Der Rock und die Bluse waren etwas zu groß und an dem Mantel fehlte ein Knopf, aber das fiel kaum auf. Sie setzte den Hut auf und blickte in die Spiegelscherbe, die Charlie ihr hinhielt. Beim Anblick ihres Spiegelbildes lächelte sie. »Einfach hinreißend«, imitierte sie die vornehme Sprache einer Lady. »Was meinen Sie?« »Entzückend«, ging Charlie auf ihr Spiel ein. »Ich hätte da noch einen reizenden Hut mit einer Pfauenfeder auf Lager, aber wenn Sie meine ehrliche Meinung hören wollen: Dieser steht Ihnen wirklich hervorragend! Die Herren werden Ihnen zu Füßen liegen!« »Sie Schmeichlerin!« Sie lachten beide und tanzten ein paarmal im Kreis herum, bevor sie sich lange umarmten und voneinander verabschiedeten. Sogar Charlie vergoss einige Tränen. Emma rückte ihren Hut zurecht. »Vielen Dank, Charlie«, sagte sie. »Mach keine große Sache draus!«, winkte Charlie ab. »Wenn ich reich bin, hol ich dich hier raus«, versprach Emma. Sie wollte Charlie noch einmal umarmen, aber das Mädchen wich ihr aus und sagte: »Nun geh schon, sonst kommst du zu spät!« Emma verließ die Ruine und ging zur Hauptstraße. In ihrer neuen Kleidung zog sie keine neugierigen Blicke mehr auf sich und bekam eine freundliche Antwort, als sie das jüdische
Viertel erreicht hatte und eine junge Frau nach den Nähfabriken fragte. »Ich würde es bei der Triangle Shirtwaist Company versuchen, da arbeitet meine Schwester. Unten am Washington Square.« Sie studierte den Stadtplan in ihrem Correct Guide und fand heraus, dass der Washington Square im Süden lag, in einem Viertel, das »Greenwich Village« überschrieben war. Sie brauchte eine Dreiviertelstunde für den Fußmarsch. Nach der Fabrik brauchte sie nicht lange zu suchen. Der Firmenname stand auf einem riesigen Schild an der Stirnseite eines zehnstöckigen Gebäudes an der Ecke Washington Place und Greene Street. Darüber war das Markenzeichen der Firma abgebildet: ein Triangel in einem Kreis. Vor dem Hochhaus blieb sie stehen. Sie blickte beeindruckt an der verwitterten Fassade mit den vielen Schiebefenstern empor und schloss rasch die Augen, als die Mittagssonne über das flache Dach kroch und die ersten Strahlen in die Häuserschlucht schickte. Sie holte tief Luft und ging auf den überdachten Eingang zu. Es lag wohl an ihrem neuen Hut, dass ein Gentleman, der gerade das Gebäude verließ, ihr die verglaste Tür aufhielt. Sie blickte sich in der Eingangshalle um und fand den Personenaufzug. »Ich möchte zur Triangle Shirtwaist Company«, sagte Emma zum Fahrstuhlführer, »ich möchte mich um eine Stellung bewerben.« Der Mann war Jude und verstand etwas Deutsch. »Zum Greene-Street-Eingang mit dem Frachtaufzug in den zehnten Stock«, erklärte er teilnahmslos, »aber ich bezweifle sehr, dass Mr Bernstein Sie um diese Zeit zu einem Bewerbungsgespräch empfängt.« Emma verstand nur »Greene Street« und »Entrance«, das englische Wort für »Eingang«, und kehrte auf die Straße zurück. Der Eingang und die Halle auf der anderen Seite sahen
ähnlich aus, nur der Fahrstuhlführer war jünger. »Auf Stellensuche?«, fragte er. »Ja«, sagte sie schüchtern. Das spöttische Lächeln des jungen Mannes ignorierte sie. »In den zehnten Stock zu Mr Bernstein.« Der Frachtaufzug führte direkt in die Büroräume. Kaum hatte sie den Fahrstuhl verlassen, war sie von hektischer Betriebsamkeit umgeben. Direkt vor ihr waren zahlreiche Frauen damit beschäftigt, wahre Berge von Shirtwaists zu bügeln. Rechts davon machten Frauen und Männer die Sendungen für den Transport fertig. Keiner der Angestellten hob auch nur den Kopf, als sie den riesigen Raum betrat. Zu hören waren nur das Dampfen der erhitzten Bügeleisen und das Rascheln des Papiers, das die Mitarbeiter im Shipping Department benutzten. Von der Decke hingen Lampen und durch ein Dachfenster strömte Sonnenlicht herein. Emma steuerte die Büros auf der anderen Seite an, sah einen Mann in Anzug und Krawatte am Schreibtisch sitzen und klopfte. »Ja?«, hörte sie eine kräftige Stimme. Sie öffnete und blickte durch den Spalt. »Mr Bernstein?« »Was wollen Sie?«, fragte Samuel Bernstein unwirsch. Der Production Manager der Firma war ein untersetzter Mann mit einem breiten Gesicht und dem hektischen Blick eines Mannes, der ständig überfordert ist. Wie alle jüdischen Männer trug er eine Kopfbedeckung. »Warum sitzen Sie nicht an Ihrer Maschine?« »Entschuldigen Sie bitte die Störung, Mr Bernstein«, sagte sie leise. »Ich bin Emma Mahler. Ich bin vor zwei Tagen aus Deutschland gekommen. Ich möchte mich um eine Stelle bewerben.« Samuel Bernstein arbeitete schon seit ein paar Jahren für die Triangle Shirtwaist Company, war der Schwager eines der
beiden Besitzer und sprach Englisch, Jiddisch und leidlich Deutsch. »Und Sie platzen hier einfach so rein?«, fragte er vorwurfsvoll auf Jiddisch, um sie dann auf Deutsch aufzufordern: »Setzen Sie sich, Fräulein!« Emma zwängte sich in das Büro, schloss die Tür und setzte sich auf den Besucherstuhl. Ihr Herz klopfte laut und in ihrem Magen rumorte es. Sie war nervöser als in der Schule, wenn eine wichtige Prüfung angestanden hatte, und faltete ihre Hände, um ihr leichtes Zittern zu unterdrücken. Lieber Gott, lass ihn ja sagen, flehte sie in Gedanken. Sie blickte Mr Bernstein abwartend an. Er blätterte in einem Ordner, unterschrieb einen Brief und schenkte ihr endlich seine Aufmerksamkeit. »Sie wollen hier arbeiten, Fräulein… Mahler? Kennen Sie sich mit Nähmaschinen aus?« »Ich habe meiner Mutter… meiner Tante oft geholfen.« »Wem denn nun? Ihrer Mutter oder Ihrer Tante?« »Beiden«, erwiderte Emma. »Meine Mutter ist vor sieben Jahren gestorben. Ich bin bei meiner Tante in Deutschland aufgewachsen. Bei meiner Tante und meinem Onkel.« Sie verzog unmerklich das Gesicht, als sie Ihren Onkel erwähnte. »Ich kann gut nähen.« »Das werden wir ja sehen. Wie alt sind Sie?« »Siebzehn.« Sie nannte ihr Geburtsdatum. Er notierte ihre Angaben auf einem Zettel und trank zwischendurch aus einem Kaffeebecher. Ihr bot er nichts an. »Sie sind vor zwei Tagen aus Deutschland gekommen? Wo wohnen Sie jetzt?« Sie erblasste und begann zu stottern, dann fiel ihr die Adresse ihrer jüdischen Freundin ein. »Bei einer Bekannten in der Delancey Street. Die Hausnummer fällt mir im Augenblick nicht ein. Sobald ich etwas Geld gespart habe, suche ich mir ein eigenes Zimmer.«
Sein Federhalter kratzte über das weiße Papier. »Antworten Sie nur auf meine Fragen, Fräulein! Ihr Onkel und Ihre Tante sind nicht mitgekommen?« »Nein, mein Herr«, sagte Emma. »Warum nicht?« Wieder flüchtete sie sich in eine Notlüge. »Meinem Onkel geht es nicht besonders gut. Er war ein halbes Jahr im Krankenhaus. Ich soll einen Teil meines Verdienstes nach Hause schicken.« »Das tun viele Mädchen. Sie sind allein ausgewandert?« »Mit meinem Verlobten«, antwortete Emma stolz. Erst später fiel ihr ein, dass man ihr die Antwort auch negativ hätte auslegen können. Wer verlobt war, wollte heiraten, und wer verheiratet war, bekam Kinder und kündigte, wenn das Geld des Mannes ausreichte. Doch so weit dachte der Production Manager nicht. Seine Angestellten waren für ihn bloß Rädchen in einem großen Getriebe, die nach Belieben ausgewechselt werden konnten. »Ich nehme an, Sie sind gesund?«, sagte er, obwohl er doch wissen musste, dass sie auf Ellis Island untersucht worden war. »Ja, mein Herr.« »In Ordnung«, sagte Samuel Bernstein, während er seine Notizen noch einmal überflog. »Sie können morgen früh anfangen?« »Natürlich, mein Herr.« »Allright. Sie arbeiten im neunten Stock. Ich gehe das Risiko ein und setze Sie gleich an eine Maschine. Wenn Sie gelogen haben und sie nicht bedienen können, sind Sie sofort wieder draußen.« »Ich habe nicht gelogen, mein Herr!« »Wenn Sie sich dumm anstellen und zu langsam sind, ziehe ich Ihnen die Hälfte vom Lohn ab. Sie bekommen vier Dollar pro Woche. Davon gehen die Miete für Ihr Schließfach und die
Maschine und die Kosten für den Strom und die Nadeln und das Garn ab. Im Gegensatz zu einigen anderen Firmen, deren Namen ich nicht nennen will, stellen wir das Maschinenöl kostenlos zur Verfügung.« Emma war schockiert, hatte nicht gedacht, dass ihr so viele Kosten entstehen würden, sagte aber nichts. Sie fragte nicht einmal, wie hoch diese Kosten waren. »Natürlich«, wiederholte sie. »Wir fangen um sieben Uhr an«, betonte Samuel Bernstein geschäftsmäßig. »Sie bekommen eine Stechkarte und stempeln sie jeden Morgen und jeden Abend ab. Um zwölf Uhr machen wir eine halbe Stunde Mittagspause. Wenn Sie mehr als einmal pro Tag und länger als fünf Minuten auf die Toilette gehen, müssen wir Ihnen einen halben Tageslohn abziehen. Der Feierabend richtet sich nach unserer Auftragslage. Wenn wir Überstunden einlegen, spendiert ihnen die Firma einen kleinen Imbiss. Während der Arbeit sind Unterhaltungen untersagt, und nur damit wir uns verstehen: Darunter verstehen wir auch Gelächter und alles andere, was einen geregelten Arbeitsablauf stören könnte. Ich gebe Ihnen einen Zettel mit unserer Hausordnung mit. Lesen Sie ihn genau durch und kommen Sie morgen ausgeruht zur Arbeit. Es muss Sie mit Stolz erfüllen, für eine der angesehensten Firmen in New York arbeiten zu dürfen. Haben wir uns verstanden, Fräulein Mahler?« »Ja, mein Herr«, sagte Emma. »Gut«, erwiderte Samuel Bernstein zufrieden. Er schob ihr einen vorgefertigten Vertrag hin, ließ ihr lediglich genug Zeit, um ihre Unterschrift in die betreffende Zeile zu setzen, und trug ihren Namen in Druckschrift ein. Er reichte ihr den Merkzettel mit der Hausordnung. »Melden Sie sich morgen früh um sieben Uhr im neunten Stock!«, erinnerte er sie. »Ihre Vorarbeiterin heißt Miss Anna Gullo. Sie wird Ihnen Ihren Platz zuweisen. Haben wir uns verstanden?«
»Jawohl, mein Herr.« Emma erkannte, dass sie entlassen war, und verließ eingeschüchtert das Büro. Sie war froh, als sie im Aufzug nach unten war. Jetzt verstand sie auch das spöttische Lächeln des jungen Fahrstuhlführers. »Haben Sie die Stelle?«, hörte sie ihn fragen. »Ja«, antwortete sie knapp. Auf der Straße atmete Emma befreit durch. Sie ging die paar Schritte zum Washington Square, setzte sich im Schatten der alten Bäume auf eine Parkbank und schaute den Kindern, die aus den Mietskasernen im Süden gekommen waren, beim Spielen zu. Zwei Mütter standen mit ihren Kinderwagen auf dem Parkweg und unterhielten sich angeregt. Ein Gentleman las in einer Zeitung. Emma wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Sie hatte tatsächlich eine Stellung gefunden, in einer der größten Firmen von New York, aber der Zettel mit der Hausordnung wog schwer und die Abgaben würden sicher ein Drittel des Lohns ausmachen. Charlie hatte Recht, die Besitzer der Nähfabriken beuteten ihre Angestellten aus, aber es war besser, einen schlecht bezahlten als gar keinen Job zu haben. Ihre einzige Sorge war, dass sie noch nicht wusste, wo sie die Nacht verbringen würde. Sollte sie über ihren Schatten springen und bei den Goldsteins fragen? Hatte sie die Adresse ihrer jüdischen Freundin nicht angegeben, weil sie ohnehin vorgehabt hatte sie nach einer Unterkunft zu fragen? Jetzt standen die Vorzeichen anders, tröstete sie sich. Sie hatte Arbeit und konnte einen Teil ihres Verdienstes als Miete abgeben. Dennoch zögerte sie. Unschlüssig blieb sie auf der Parkbank sitzen, verbrachte den restlichen Nachmittag damit, die Artikel im Jewish Daily Forward zu entziffern, der ihr vom Wind vor
die Füße geweht worden war, und blickte immer wieder auf das Merkblatt mit der strengen Hausordnung. Nicht einmal unterhalten durfte man sich! Gerade als sie sich entschlossen hatte zur Delancey Street zu gehen, sah sie eine Gruppe von Mädchen und jungen Frauen in den Park kommen. Sie waren genauso angezogen wie sie, trugen lange Röcke, weiße oder dunkle Blusen und breitrandige Hüte und schwenkten Handtaschen und Notizbücher. Sie unterhielten sich angeregt und lachten. Eines der Mädchen war Rose Goldstein. »Rose!«, rief Emma überrascht. »Emma!«, erkannte das jüdische Mädchen sie sofort. Sie fielen einander um den Hals, und als sie herausfanden, dass sie gemeinsam im neunten Stock der Triangle Shirtwaist Company arbeiten würden, war die Freude riesig. »Dos gefeit mir!«, rief Rose begeistert. »Das ist ja großartig!«, freute sich Emma. Sie setzten sich gemeinsam auf die Bank, tauschten Neuigkeiten aus und berieten über die Zukunft. Als deutlich wurde, dass Emma keine Bleibe hatte, lachte Rose: »Dann wohnst du bei mir! Wir teilen uns das Zimmer. Jeder zwei Dollar. Einverstanden?« »Einverstanden!«, rief Emma begeistert.
15
Das sechsstöckige Wohnhaus, in dem Rose mit ihrem Onkel und ihrer Tante wohnte, war wesentlich sauberer als die Mietskasernen, in denen sie bisher gewesen war. Auf den Treppen und in den Fluren lag wenig Abfall und die Wände waren kaum verschmiert. Nur an den Lärm musste Emma sich gewöhnen, weil die meisten Bewohner ihre Türen offen stehen hatten und sich laut unterhielten, musizierten und auf manchen Fluren auch stritten. Überall spielten Kinder, ohne dass sich jemand darüber beschwerte, und ein weißhaariger Ungar im vierten Stock unterhielt das ganze Haus, indem er auf seiner Geige die Lieder seiner Heimat spielte. Doch Emma hätte es kaum besser treffen können. Die Goldsteins waren freundliche Leute und hatten sofort zugestimmt, als Rose sie gebeten hatte, ihre christliche Freundin in die Wohngemeinschaft aufzunehmen. Für einen geringen Beitrag durfte sie auch an den Mahlzeiten teilnehmen. Die Wohnung bestand aus zwei Zimmern, einem Gemeinschaftsraum mit der abgetrennten Schlafstelle der Erwachsenen und einer Kammer, in der sich Emma und Rose ein Bett teilten. Es gab einen eisernen Herd, einen Tisch mit vier Stühlen, einen Wandschrank mit dem Geschirr und religiösen Gegenständen, ein Regal mit Büchern und einen Schrank, in dem die Kleider hingen. Das Waschbecken lag neben dem Fenster. Die Kammer der Mädchen wurde lediglich von einer einfachen Deckenlampe erleuchtet. Die Toilette lag am Ende des langen Flurs auf demselben Stockwerk. Nachdem sie gegessen und abgewaschen hatten, kletterten die Mädchen aufs Dach und machten es sich neben dem Kamin
bequem. Der Boden war mit Holzplanken belegt und ein windschiefes Geländer zog sich um das ganze Dach. Obwohl es schon Mai war, wehte frischer Wind vom Meer herein. Es roch nach Kohl und fremdländischen Gewürzen und der getrockneten Wäsche, die an einer langen Leine zwischen den morschen Aufbauten hing. »Mein Lieblingsplatz«, verriet Rose. »Hier bin ich fast jeden Abend und lese oder schreibe in mein Tagebuch. Oder ich tue gar nichts und sehe zu, wie die Sonne allmählich hinter den Häusern verschwindet. Von hier kannst du über die ganze Stadt sehen.« Die Aussicht war wundervoll, zumindest an einem schönen Tag, wenn man in der Lage war, über die Mietskasernen der Lower East Side hinwegzublicken und bis zum Hudson River auf der anderen Seite von Manhattan zu sehen. In dem milchigen Dunst, der in allen Rottönen über der Stadt hing, wirkten die Hochhäuser wie fantasievolle Türme auf einem fremden Planeten. Fast hatte es den Anschein, als gäbe es in New York nur diesen einen Fluchtweg, nach oben, nur weg von den überfüllten Mietskasernen und düsteren Häuserschluchten. Selbst die Luft war hier oben besser. Als sie am Kamin lehnten und ihre Gesichter in den frischen Abendwind hielten, überwog die Neugier bei Rose und sie brachte es endlich fertig, die Fragen zu stellen, die ihr seit dem Wiedersehen auf der Seele brannten: »Warum bist du nicht bei deinem Onkel geblieben? Und wo ist dein Verlobter? Ich dachte, ihr zieht zu deinem Onkel, bis ihr eine eigene Wohnung gefunden habt.« Emma war auf die Fragen vorbereitet und erzählte ihr die halbe Wahrheit über ihren Onkel – dass er ein haltloser Säufer gewesen und bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen war. Sie berichtete sogar, dass man ihr den größten Teil ihres Geldes gestohlen hatte. Nur ihre Erlebnisse mit
Charlie und den Besuch bei der Prostituierten verschwieg sie. Rose hätte es nicht verstanden, und die Gefahr, dass ihr Onkel davon erfuhr, war zu groß. Er war ein ehrenwerter Mann und wäre bestimmt zur Polizei gegangen. »Das tut mir Leid«, sagte Rose. »Du hättest gleich zu uns kommen sollen.« Sie blickte eine Weile zu Boden und zögerte, bevor sie noch einmal nach August fragte: »Und dein Verlobter? War er nicht auf der Fähre? Sie haben ihn doch nicht zurückgeschickt?« »Nein«, antwortete Emma. Sie überlegte, wie viel sie ihrer Freundin sagen sollte, und entschied sich, ihr die kleine Notlüge zu beichten. »Eigentlich ist er gar nicht mein Verlobter. Wir haben uns nur dafür ausgegeben, damit man uns auf dem Schiff nicht trennt. Das hat leider nicht geklappt. Aber er liebt mich und ich liebe ihn, und wenn ich ihn nicht aus den Augen verloren hätte…« Sie unterdrückte mühsam die Tränen. »Wenn ich nur wüsste, wo er wohnt oder arbeitet. Ich hab in allen Schreinereien und sogar in einigen Lokalen nach ihm gefragt. Irgendwo muss er doch sein, Rose!« Rose versuchte ihr Mut zu machen. »Wenn er dich wirklich liebt, findet er dich auch. In unserem shtetl gab es eine junge Frau, deren Mann wurde von den Soldaten des Zaren verschleppt. Jeder nahm an, dass sie ihn erschossen hätten, aber sie gab ihn niemals auf. Nach einem Jahr kam er wieder und sie flüchteten zusammen nach Deutschland. Vielleicht sind sie inzwischen auch in Amerika.« Sie lächelte zuversichtlich. »Ihr habt doch ausgemacht, dass er erst kommt, wenn er Arbeit gefunden hat. Ihr findet euch!« Emma genoss es, wieder in einem richtigen Bett zu schlafen, obwohl sie sich das Nachtlager teilen mussten und sie beim Aufwachen beinahe von der Matratze rutschte. Sie hatte keinen Grund zu klagen und musste Rose und ihrem Onkel und ihrer Tante dankbar sein. Ohne die Goldsteins wäre sie vielleicht bei
Charlie geblieben und auf die schiefe Bahn geraten. Sie hatte den ersten Schritt getan. Sie hatte ein neues Zuhause, war gesund und verdiente ihr eigenes Geld. Mehr konnte man drei Tage nach der Einwanderung in ein fremdes Land nicht verlangen. Amerika war nicht das »Paradies auf Erden«, wie es in den Broschüren der Hamburg-Amerika-Linie angekündigt wurde. Die Träume vom »Goldenen Medina« erfüllten sich nur, wenn man hart arbeitete, das hatten schon andere Einwanderer erfahren müssen. Wer es nach Uptown schaffen wollte, musste bis an die Grenzen gehen. Gleich der erste Arbeitstag zeigte Emma, wie beschwerlich der Weg zum Glück war. Sie war harte Arbeit gewöhnt, hatte auf dem heimatlichen Bauernhof wie eine Magd schuften müssen und war von ihrem Onkel nicht gerade herzlich behandelt worden, aber die Arbeit in der Shirtwaist Factory würde noch viel härter werden. Das erkannte sie bereits, als sie mit den anderen Mädchen aus dem Frachtaufzug stieg. Schuld daran war vor allem Anna Gullo. Die Italienerin, die schon seit einigen Jahren für Triangle arbeitete, war von der Firmenleitung als Vorarbeiterin eingesetzt worden und benahm sich wie eine Aufseherin in einem Gefängnis, obwohl sie nicht viel älter als die meisten Mädchen war und auch selbst an einer Maschine arbeitete. Sie lebte seit zwölf Jahren in New York. Sie sprach in einem Kauderwelsch aus Englisch, Italienisch und Deutsch und unterstrich jeden Satz mit einer Geste. »Ich hoffe, du hast unsere Hausordnung gründlich gelesen, sonst kannst du gleich wieder umkehren!«, empfing sie Emma. »In einer Fabrik wie dieser können wir uns kein Fehlverhalten leisten!« Sie zeigte ihr den Platz, an dem sie arbeiten würde. »Wie ich höre, kennst du dich mit Nähmaschinen aus. Ich brauche dir also nicht zu erklären, wie man einen Faden einspannt. Denk immer daran, dass es in New York noch
tausend andere Mädchen gibt, die deinen Job gerne haben würden. Haben wir uns verstanden, Emma?« »Ja, Miss Gullo.« Die Vorarbeiterin deutete auf eine junge Frau mit hochgesteckten blonden Haaren. »Das ist Mary Leventhal, unsere Buchhalterin. Sie achtet darauf, dass jede unserer Arbeiterinnen ihr Soll erfüllt. Wenn du zu langsam bist, müssen wir uns von dir trennen.« »Natürlich, Miss Gullo.« »Dann verstehen wir uns also. Wir sind eine der führenden Fabriken dieses Landes und haben einen guten Ruf zu verlieren!« »Ja, Miss Gullo. Miss Leventhal.« Emma kehrte in die lange Reihe der Mädchen zurück, die vor der Stechuhr anstanden, und schluckte ihren Ärger herunter. »Denk dir nichts dabei!«, flüsterte Rose, als sie ihre Karten abstempelten. »Miss Gullo…«, sie betonte das »Miss«, »… denkt, sie wäre die Größte, dabei war sie vor einem Jahr noch selber eine kleine Angestellte. Aber sie kann gut mit Mr Bernstein, das hilft.« Sie schlossen ihre Hüte in die Spinde in der Garderobe und gingen an ihre Arbeitsplätze. Zweihundertvierzig Näherinnen arbeiteten im neunten Stock, saßen zu beiden Seiten von acht langen Tischen mit jeweils fünfzehn Nähmaschinen. Anna Gullo und Mary Leventhal arbeiteten am äußersten Ende des Raumes, nur wenige Schritte von den Frachtaufzügen und dem Treppenhaus zur Greene Street entfernt. Auf der anderen Seite lagen die Garderobe und die Toiletten und die Personenaufzüge und das Treppenhaus zum Washington Place, dem Eingang, von dem Emma bei ihrem ersten Besuch weitergeschickt worden war. Der Personenaufzug blieb den leitenden Angestellten im achten und zehnten Stock vorbehalten. Über allen Tischen hingen Lampen.
Von Rose hatte Emma erfahren, wie die Arbeit in der Triangle Shirtwaist Factory eingeteilt war: An den Schneidetischen im achten Stock schnitten besser bezahlte Angestellte den Stoff mit rasiermesserscharfen Messern in identische Teile. Alle Einzelteile landeten bei den Näherinnen im achten und neunten Stock. An jedem Tisch nähten die Mädchen etwas anderes, Ärmel, Kragen, Knopflöcher, und die jüngsten Mädchen, manche nicht älter als zwölf, schnitten die überhängenden Fäden ab. Wenn ein Inspektor der Stadt die Fabrik besichtigte, versteckten sich alle Mädchen unter sechzehn Jahren in großen Kartons. Kinderarbeit war in New York verboten. Im zehnten Stock wurden die fertigen Shirtwaists gebügelt und zum Versand gebracht. Hier waren auch Max Blanck und Isaac Harris, die Besitzer der Triangle Shirtwaist Factory zu finden, wenn sie ihre herrschaftlichen Villen verließen und in ihrer Fabrik nach dem Rechten sahen. Keine Näherin durfte die großen Bosse ansprechen, auch das stand in der Hausordnung. Pünktlich um sieben Uhr dreißig verkündete eine schrille Glocke den Arbeitsbeginn. Anna Gullo legte den Hebel um, der Strom begann zu summen und die Maschinen ratterten los. Emma saß am äußersten Platz in der dritten Reihe, neben einer Italienerin, die erst seit drei Wochen in Amerika war und weder Deutsch noch Englisch verstand. Die Vorarbeiter hatten die Anweisung, die Mädchen möglichst so zu setzen, dass sie sich nicht mit ihrer Nachbarin unterhalten konnten. Doch noch vor dem Schrillen der Glocke erfuhr Emma, dass ihre Nachbarin Sophia hieß und so alt wie sie war. Emma nähte Ärmel und war froh, die gleiche Arbeit schon in der alten Heimat verrichtet zu haben. Ihre Tante hatte ihr gezeigt, wie man die Teile eines Kleidungsstückes mit der Maschine zusammennähte. Mit dem Unterschied, dass die Maschine in der Fabrik elektrisch angetrieben wurde und
wesentlich schneller war. Kaum drückte Emma die Fußtaste, begann die Nadel zu wirbeln, und gleich bei den ersten Stichen verhedderte sich der Faden. Mit hochrotem Gesicht korrigierte Emma den Fehler. Sophia ermunterte sie mit einem raschen Blick, aber ohne ein Lächeln, das sofort die Aufmerksamkeit der Vorarbeiterin auf sich gezogen hätte. Nach ein paar Minuten hatte Emma sich an die Maschine und den schnellen Rhythmus der Nadel gewöhnt. Mit den flachen Händen schob sie die Stoffteile über die Arbeitsfläche, immer darauf achtend, dass der Faden locker lief und der Stoff keine Falten warf. Es fiel ihr nicht schwer, zu schweigen, weil die Arbeit ihre ganze Aufmerksamkeit erforderte und sie sich mehr als jemals zuvor konzentrieren musste. Sie merkte gar nicht, wie die Zeit verging, während sie einen Ärmel nach dem anderen nähte und über den Tisch schob. Die Mädchen gegenüber nähten die fertigen Ärmel an die Bluse. In regelmäßigen Abständen kamen Angestellte aus dem zehnten Stock und holten die Shirtwaists zum Bügeln und Verpacken ab. Anna Gullo nähte selbst, unterbrach ihre Arbeit aber alle paar Minuten und sorgte für die Einhaltung der Disziplin. Wenn sie nicht aufpasste, fiel Mary Leventhal diese Aufgabe zu. Die hübsche Jüdin machte eher den Eindruck eines schüchternen Mädchens, dem kein strenges Wort über die Lippen kam, aber es war äußerst gewissenhaft und notierte in eine große Kladde, wie viele Stoffteile über die Nähtische gingen. Sie führte so exakt Buch, dass sie am Ende eines Tages genau sagen konnte, wie gewissenhaft jedes Mädchen gearbeitet und ob eine Angestellte das geforderte Soll erfüllt hatte. Sie würde es weit bringen, glaubten alle, entweder als Buchhalterin oder Gattin eines reichen Gentleman. Sie war der Idealtyp des schutzbedürftigen Mädchens, für den gerade erfolgreiche Männer so schwärmten.
Bis zur Mittagspause hatte Emma sich eingelebt und war stolz darauf, ihre Maschine so gut zu beherrschen. Doch ausgerechnet als Samuel Bernstein aus dem zehnten Stock herunterkam und für eine Weile neben ihrem Platz stehen blieb, passierte ihr das erste Missgeschick. Sie brachte ihren rechten Zeigefinger unter die Nadel und schrie laut auf, als sie den Schmerz spürte und Blut aus ihrem Finger auf das Stoffteil floss. Sie nahm rasch ihren Fuß vom Pedal und zog die Hand zurück. Weinend rannte sie zur Toilette. Sie lutschte das Blut aus der Wunde, hielt den verletzten Finger unter das kalte Wasser und drückte so lange darauf, bis kein Blut mehr kam. Mit schmerzverzerrtem Gesicht kehrte sie in den Fabrikraum zurück. Keines der anderen Mädchen wagte auch nur den Kopf zu heben. Sie griff dankbar nach dem Stofffetzen, den Mary Leventhal ihr reichte, band ihn um den Finger und setzte sich wieder an ihre Maschine. »Tut mir Leid, Mr Bernstein«, sagte sie schuldbewusst, »ich habe eine Augenblick nicht aufgepasst. Es passiert mir nicht wieder!« »Das will ich hoffen, Emma! Sonst müssen wir Sie nämlich leider entlassen!« Seitdem sie den Vertrag unterschrieben hatte, sprach er sie wie alle Arbeiterinnen mit dem Vornamen an. »Und den Preis für den beschmutzten Ärmel muss ich Ihnen leider vom Lohn abziehen! Ich erwarte äußerste Konzentration und Disziplin!« »Natürlich, Mr Bernstein.« Sie arbeitete ruhig weiter, schaffte es unter größter Anstrengung, gleich wieder den Rhythmus zu finden, und war froh, als der Production Manager weiterging und seine Aufmerksamkeit einem anderen Mädchen schenkte. Mit der Präzision, die sie schon die letzten beiden Stunden ausgezeichnet hatte, nähte sie einen Ärmel nach dem anderen
zusammen, obwohl der Verband um ihren Finger sie dabei behinderte. Nach einer Weile streifte sie den blutigen Stofffetzen von ihrem Finger. Die Wunde blutete nicht mehr. Das Schrillen der Mittagsglocke bedeutete eine Erlösung. Sie dehnte und streckte ihre angespannten Muskeln und lächelte ihrer italienischen Nachbarin zu. Von ihrem Platz, zwei Reihen vor ihr, kam Rose und umarmte sie kurz. »Als du geschrien hast, dachte ich schon, es wäre vorbei«, sagte sie mitleidig. »Du hast Glück gehabt, dass es am ersten Tag passiert ist, da sind sie noch nicht so streng. Neulich haben sie ein Mädchen wegen so was entlassen!« Sie gingen in die Garderobe und aßen die Sandwiches, die sie am Morgen geschmiert und eingepackt hatten. Dazu gab es heißen Tee. Die Arbeit hatte sie hungrig und durstig gemacht. Nach dem Essen kehrten sie in den Fabrikraum zurück und stellten sich ans leicht geöffnete Fenster. Draußen war ein schöner Frühlingstag und sie genossen die frische Luft. Was hätten sie dafür gegeben, jetzt auf einer Bank am Washington Square sitzen zu dürfen. Während der Mittagspause herrschte eine ausgelassene Stimmung. Das nervtötende Schnarren der Nähmaschinen war verstummt und wurde durch das Geplapper und Gelächter der Mädchen abgelöst. Zumindest für eine halbe Stunde durften sie sich so benehmen, wie es der Normalität entsprach. Die meisten Mädchen unterhielten sich nur, tauschten Neuigkeiten aus, sprachen über das neue Theaterstück im Grand Theater, den neuen Film im Lichtspieltheater oder die neue Mode aus Europa. Emmas italienische Nachbarin und einige ihrer Freundinnen fassten sich an den Händen und zogen singend durch die Tischreihen, sehr zur Freude der anderen Italienerinnen, die sofort mitklatschten und wohl am liebsten auf die Tische gesprungen wären. Nur Anna Gullo und Mary Leventhal versuchten sich so würdevoll zu benehmen, wie es
ihre gehobene Stellung verlangte. Sie standen am Fenster und blickten grimmig und scheinbar teilnahmslos auf die Straße hinab. »Hast du schon gehört?«, fragte Rose. »Im Grand spielen sie ›The Yiddish King Lear‹. Das müssen wir uns unbedingt ansehen.« »Aber nur, wenn du mal mit mir in ein deutsches Theater gehst«, erwiderte Emma lachend. »Und sobald wir genug Englisch können, gehen wir in ein amerikanisches Theater. Worum geht’s in dem Stück? ›König Lear‹… das ist von einem englischen Dichter, oder?« »Ja, aber damit hat es nur am Rande zu tun. Es geht um einen reichen Juden, der seiner Tochter verbietet in St. Petersburg zu studieren. Sie reißt von zu Hause aus und am Ende des Stücks muss der Vater klein beigeben.« Sie lachte. »Beinahe wie bei uns zu Hause. Ich hätte auch nicht studieren dürfen, selbst wenn wir das Geld dafür gehabt hätten. In einem frommen Haushalt darf die Frau arbeiten, um Geld zu verdienen, aber das religiöse Studium bleibt den Männern vorbehalten.« Sie seufzte. »Ich bin schon froh, wenn ich irgendwann mal so viel verdiene, dass ich meiner Familie zu einem anständigen Leben verhelfen kann. Vielleicht mache ich mal eine eigene Näherei auf. In Amerika ist alles möglich.« »Und ich werde deine Vorarbeiterin«, erwiderte Emma. Sie blickte auf die Uhr und erschrak. »Das ging aber schnell! Gleich ist die Mittagspause um! Als wär die Uhr schneller als sonst gelaufen!« Rose senkte ihre Stimme zu einem Flüstern: »Vielleicht ist es auch so. Manche Mädchen behaupten, dass die Uhren in den Pausen schneller laufen, damit wir nicht so lange faulenzen!« »Das ist nicht dein Ernst!« »Wenn ich’s dir sage!« »Das dürfen sie nicht tun, Rose! Das ist Betrug!«
»Die großen Bosse dürfen alles«, sagte Rose. Die Glocke rief sie an die Arbeit zurück. Der Strom begann wieder zu fließen, und von einer Sekunde auf die andere waren nur noch das Rattern der Nähmaschinen, das Summen des Stroms und das leichte Vibrieren der Tische und des Bodens zu hören.
16
Emma gewöhnte sich an die harte Arbeit. Schon nach wenigen Tagen bediente sie die Maschine, als hätte sie jahrelang nichts anderes getan. Die Nadel hämmerte so flink dahin, dass man sie kaum sah, und ihre Hände schoben geschickt den Stoff über die Arbeitsfläche. Schlimm waren nur die unmenschlichen Bedingungen, unter denen sie arbeiten mussten. Sie erkannte, dass die Triangle Shirtwaist Company nur so erfolgreich war, weil sie ihre Angestellten gnadenlos ausbeutete. Die Manager und Vorarbeiter gingen rücksichtslos gegen die Arbeiterinnen vor und bestraften sie beim geringsten Anlass. Als eine der Italienerinnen zu kichern anfing und Sophia neben ihr den Mund lediglich zu einem leichten Lächeln verzog, holte Anna Gullo den Production Manager. Samuel Bernstein schimpfte laut und zog allen Italienerinnen einen Teil von ihrem Lohn ab. »Mamma mia«, konnte sich eines der Mädchen nicht beherrschen. Sie musste noch am selben Tag die Fabrik verlassen und erhielt nur einen Bruchteil des verdienten Lohns. Niemand ergriff Partei für das gefeuerte Mädchen, auch Emma nicht, obwohl es in ihr loderte und sie am liebsten aufgesprungen wäre. Es war einfach nicht gerecht, wie man mit ihnen umging. Die Bezahlung war schlechter als bei der niedrigsten Arbeit in der alten Heimat, und man behandelte sie wie die armen Tagelöhner und Bettler, über die sie in ihrem Ritterbuch gelesen hatte. Waren sie vom Regen in die Traufe geraten? Die meisten Mädchen und jungen Frauen hatten Europa verlassen, weil sie dort verfolgt und geknechtet worden waren oder einfach auf der Suche nach einem besseren Leben waren. Ging es ihnen in Amerika genauso?
Wenn man danach ging, wie sich die meisten Mädchen in der Mittagspause und nach Dienstschluss benahmen, schien es ihnen wenig auszumachen. Für sie war Amerika das »Goldene Medina«, auch wenn sie von den Fabrikbesitzern ausgebeutet wurden. »Hier gibt es keinen Zaren«, antwortete ihr Rose, »und du wirst nicht verfolgt, nur weil du an etwas anderes glaubst. In der alten Heimat musst du ständig Angst um dein Leben haben! Hier lernen wir neue Menschen kennen, wir können ins Theater gehen und schöne Hüte tragen, und etwas Geld verdienen wir auch. Ich weiß, die Fabrikbesitzer behandeln uns ungerecht, aber sie sind nicht so böse wie die Männer des Zaren, und uns bleibt genug zum Leben.« Emma war nicht verfolgt worden und sie wusste nicht, was Todesangst bedeutete. Sie war von zu Hause weggelaufen, um nicht mehr wie eine Sklavin schuften zu müssen und von ihrem Onkel wie eine billige Magd behandelt zu werden. Sie wollte endlich so frei und unabhängig sein, wie es die Menschen in Amerika angeblich sind, und jetzt war sie in New York, und vieles war wie in der alten Heimat. Warum ließ sie sich das gefallen? War sie weniger wert als Anna Gullo oder Mary Leventhal oder Samuel Bernstein? Besonders wütend wurde sie am Samstagabend, als sie ihren ersten Lohn erhielt und feststellen musste, dass man ihr beinahe einen Dollar für Nadeln, Garn, den beschmutzten Stoff und die Miete für den Spind abgezogen hatte. Beinahe hätte sie sich bei der Vorarbeiterin beschwert. Sie zählte das Geld im Umschlag, lief aufgebracht zu ihr zurück und hielt nur den Mund, weil ihr eines der anderen Mädchen rechtzeitig gegen das Schienbein trat. »Willst du was sagen?«, fuhr Anna Gullo sie an. »Nein, Miss Gullo. Natürlich nicht.« Doch auf dem Nachhauseweg, als sie mit Rose durch den Washington Square Park ging, brach es aus ihr heraus:
»Warum lassen wir uns das gefallen? Warum kuschen wir vor Anna Gullo und Mary Leventhal? Die sind genauso alt wie wir! Wie kommen sie dazu, uns Vorschriften zu machen? Sie behandeln uns ungerecht, Rose! Mr Bernstein benimmt sich wie ein Gefängnisdirektor. Hast du gesehen, was er mit Sarah gemacht hat? Er hat ihr den halben Lohn abgezogen, nur weil sie zu spät gekommen ist!« »Ich weiß«, erwiderte Rose, »aber wir können nichts dagegen tun. Wenn wir uns beschweren, fliegen wir raus. Bei Leiserson’s haben einige Mädchen vor dem Fabriktor gegen die schlechte Behandlung protestiert. Weißt du, was passiert ist? Die Besitzer heuerten Schläger an, und die machten den Mädchen solche Angst, dass sie freiwillig an ihre Plätze zurückkehrten! Der Production Manager zog ihnen die Hälfte vom Lohn ab und stellte sie nur wieder ein, weil sie sich mit weniger Geld abfanden. Die Fabrikbesitzer lassen sich nichts gefallen, die sind stärker als wir.« »Hast du sie schon mal gesehen?« »Wen? Die Besitzer?« Emma nickte. »Max Blanck und Isaac Harris.« »Ein Mal«, antwortete Rose. »Normalerweise fahren sie mit dem Personenaufzug direkt in ihr Büro im zehnten Stock und lassen sich bei uns nicht blicken, aber vor drei Wochen waren sie mal hier. Du hättest Anna Gullo sehen sollen, die fiel beinahe auf die Knie, als Mr Blanck sie ansprach. Ein unangenehmer Mann. Weißt du, wie ihn manche Mädchen nennen? Schweinsgesicht!« Sie kicherte leise. »Er ist ziemlich fett, farshtaist? Ein Chauffeur kutschiert ihn in einer großen Limousine herum. Er wohnt mit seiner Frau und seinen sechs Kindern in einer großen Villa am Hudson River und soll fünf Diener haben! Fünf! Mr Harris hat nur zwei Kinder und vier Diener. Das hat mir eine Frau aus dem zehnten Stock erzählt. Möchtest du auch mal so viele Diener haben?«
Emma lachte. »Mir reicht einer. Er soll mir die Sachen tragen, wenn ich auf der Fifth Avenue einkaufe, und mit der Limousine warten, wenn ich beim Hairdresser bin und mir die Haare richten lasse.« Sie hatte das englische Wort in der Zeitung gelesen. »Und wenn ich abends nach Hause komme, soll er mir ein Festessen zubereiten und abwaschen und putzen und mir die Pantoffel bringen, damit ich noch in einem meiner vielen Bücher lesen kann.« »Und wo willst du das viele Geld herhaben?« »Ich werde reich, hab ich dir das nicht verraten? Sobald ich genug Geld gespart habe, eröffne ich eine Fabrik und stelle die schönsten Shirtwaists von Amerika her! Ich zahle allen Angestellten den doppelten Lohn, und bei der Arbeit darf gelacht und gesprochen werden, und wenn ein Manager oder eine Vorarbeiterin ein Mädchen ungerecht behandelt, fliegen sie raus! Ich verlängere die Mittagspause auf eine Stunde und zahle doppelten Lohn für die Überstunden, die wir während der Hochsaison machen müssen. Und statt Apfeltaschen gibt es ein warmes Abendessen!« »Und August?«, rutschte es Rose heraus. »August?«, überlegte Emma. »August besitzt eine riesige Möbelfabrik und behandelt seine Angestellten genauso gerecht wie ich. Aber irgendwann verkauft er seine Fabrik, und meine Shirtwaist Factory bekommst du, und wir ziehen nach Westen und bauen uns eine Blockhütte in den Bergen. Hast du mal von Montana gehört? Das deutsche Mädchen aus dem achten Stock hat mir davon erzählt. Sie war selber nie da, aber sie hat Verwandte dort. Sie haben ihr einen Brief geschrieben und wollen, dass sie nach Helena kommt… so heißt die Hauptstadt. In Montana gebe es riesige Berge und fruchtbare Täler, in denen kaum Menschen wohnen, aber auch weite Ebenen, so weit, dass man von einem Horizont zum anderen sehen kann. Da ziehe ich irgendwann hin.«
»Und wovon wollt ihr leben?«, fragte Rose. »Willst du wieder auf einem Bauernhof arbeiten wie in der alten Heimat? Wer weiß, vielleicht gibt es da sogar noch Indianer! Nein, ich bliebe lieber hier. In New York weiß ich, was ich habe. Es ist nicht viel, aber genug, um davon etwas nach Hause zu schicken. Ich muss an meine Eltern und an meine Geschwister denken. Sie haben mich nach Amerika geschickt, damit ich für die ganze Familie sorge. Ich darf sie nicht enttäuschen… nicht mehr, als ich es sowieso schon tue.« Emma blickte sie verständnislos an. »Du enttäuschst deine Familie? Warum? Du schickst die Hälfte deines Lohns nach Hause!« »Weißt du, was für ein Tag heute ist?«, fragte Rose. »Samstag. Was sonst?« »Heute ist Sabbat. Der heilige Tag, an dem alle gläubigen Juden ruhen sollen.« Sie zitierte aus der Bibel: »Sechs Tage lang sollst du arbeiten und alle deine Geschäfte verrichten. Doch der siebte Tag ist ein Ruhetag für den Herrn, deinen Gott. Du sollst dann keinerlei Arbeit tun, denn in sechs Tagen hat der Herr den Himmel und die Erde, das Meer und alles, was sich darauf befindet, erschaffen, doch am siebten Tage ruhte er. Darum segnete der Herr den Sabbat und erklärte ihn für heilig.« In ihren Augen war Wehmut. »Mein Onkel sagt, dass wir den Sabbat in Amerika nicht mehr so ernst nehmen dürfen wie in der alten Heimat. Wir dürfen die Arbeit nicht ruhen lassen, sonst werden wir gekündigt. Wir dürfen nicht mal einen Laden schließen, sonst laufen uns die Kunden weg. Amerika ist anders, hier dreht sich alles ums Geld.« Sie blieb stehen und seufzte leise. »Ich denke oft daran, was mein Vater wohl sagen würde, wenn er davon wüsste. Ich glaube, er würde mich in die alte Heimat zurückholen. Ich enttäusche ihn. Jedesmal, wenn ich den Sabbat missachte, enttäusche ich ihn. ›Vergiss niemals den Sabbat‹, sagte er vor
der Abreise zu mir. ›Der Sabbat ist das größte Geschenk, das Gott uns Juden gegeben hat.‹ Und ich befolge seine Gesetze nicht. Mein Onkel behauptet, Gott habe Verständnis für seine Kinder in Amerika, hier würden eben andere Gesetze herrschen, aber das glaube ich nicht.« »Du darfst dich nicht verrückt machen«, tröstete Emma ihre Freundin. »Ihr feiert doch den Sabbat. Hat dein Onkel nicht gestern Abend den Kiddusch-Wein gesegnet? Und hat er nicht den Segen gesprochen? Wenn ich mich recht erinnere, hat er gesagt, dass ihr heute Abend in die Synagoge gehen und die Sabbatgebete sprechen werdet. Ich weiß nicht, wie streng Gott zu den Juden ist, aber ich glaube fest daran, dass er nichts dagegen hat, wenn du am Sabbat arbeitest. Alle Jüdinnen in New York arbeiten am Sabbat.« Rose ging langsam weiter. »Vielleicht hast du Recht, Emma. In Amerika ist wirklich alles anders. Aber ich mache mir manchmal Sorgen, ob es Gott auch so gefällt. ›Gottes eigenes Land‹ haben manche Leute auf dem Schiff die Neue Welt genannt, aber was ist, wenn das gar nicht stimmt? Gott wohnt doch ganz woanders.« An diesem Abend blieb Rose länger als gewöhnlich auf. Sie war bei ihrem Onkel und ihrer Tante im Wohnzimmer und hielt die gelbe Kerze mit den zwei Dochten, als der Onkel mit einem übervollen Glas Wein den Sabbat beschloss und die Bessonimbüchse mit den exotischen Gewürzen hielt. Und sie ging mit ihnen in den Gottesdienst, der zu später Stunde in der Synagoge stattfand. Emma lag bereits im Bett, blickte zur Decke empor und ermahnte sich, am Sonntagmorgen ins deutsche Viertel zu wandern und dort einen evangelischen Gottesdienst zu besuchen. In ihrer Lage war es bestimmt nicht verkehrt, um etwas göttlichen Beistand zu bitten. Am nächsten Morgen ging sie tatsächlich in die Kirche, sehr zur Freude von Roses Onkel, der sehr liberal eingestellt war
und für ein freundliches Miteinander der Religionen eintrat, ganz im Gegensatz zu den russischen Juden im sechsten Stock, die sie meist mit abfälligen Blicken bedachten. Sie erfreute sich an der friedlichen Stimmung in der Kirche und den deutschen Worten des Pfarrers, der davon sprach, dass man sich auch in der Fremde die Liebe zur alten Heimat bewahren solle. »In der alten Heimat habt ihr die Wurzel gepflanzt, die hier in Amerika neue Blüten treiben soll. Denkt immer daran und seid stark, denn nur der Starke überlebt in diesem Land, das allen Menschen eine neue Chance bietet, aber auch den größten Einsatz von ihnen verlangt. Vertraut auf Gott, unserem Herrn, denn er wird euch das Paradies öffnen, das ihr in der Neuen Welt sucht. Und nun geht hin in Frieden! Amen.« Während der Pastor den Segen sprach, ließ Emma ihren Blick über die Gemeinde schweifen. Die Mitglieder kamen aus allen Schichten, da waren reiche Herrschaften in teuren Anzügen und Kleidern und arme Männer und Frauen, die so hungrig und ausgezehrt aussahen, dass man Mitleid mit ihnen bekommen musste. Nur August war nicht zu sehen. Ihre Hoffnung, den geliebten Mann zu entdecken, war nur gering gewesen, aber sie war doch enttäuscht und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, bat Gott mit fest verschränkten Händen, ihr August zu schicken. »Sag ihm, dass es mir gut geht und dass ich auf ihn warten werde, wann immer er den Weg zu mir findet. Sag ihm, dass ich jeden Sonntag in dieser Kirche sein und für ihn beten werde! Amen!« Am Montag fiel es ihr schwer, um halb sechs aufzustehen und in die Fabrik zu gehen, den »Shop«, wie die meisten Mädchen ihre Arbeitsstätte nannten. Nach der friedlichen Stimmung bei den Sabbatfeiern der Goldsteins und dem Gottesdienst in der evangelischen Kirche schreckten die Demütigungen und die Strenge in der Triangle Shirtwaist Company sie noch stärker ab. Doch als sie sich die Worte des
Pastors ins Gedächtnis rief und daran dachte, dass sich das Paradies nur dem Starken öffnete, ging ihr die Arbeit wieder leicht von der Hand und sie nähte schneller als in der Woche zuvor. Sie musste sich sogar etwas bremsen, um nicht als Streberin dazustehen und das geforderte Limit hochzutreiben. Kurz nach der Mittagspause musste sie dringend auf die Toilette, und wie bei jedem Mädchen blieb die Vorarbeiterin vor der Tür stehen und wartete ungeduldig darauf, dass sie wieder herauskam. Wer länger als fünf Minuten in der übel riechenden Kammer blieb, musste mit einem Lohnabzug rechnen. Emma griff nach dem Zeitungspapier, das neben der Toilette an einem Nagel hing, und stutzte. Die Seite war aus der New Yorker Staatszeitung gerissen, der angesehensten deutschen Zeitung in Amerika. Und obwohl Anna Gullo bereits ungeduldig gegen die Tür klopfte, überflog sie einige der Berichte. Eine Zeile in einem Bericht über die wachsende Kriminalität auf der Lower East Side stach ihr sofort ins Auge: »… werden mehrere Überfälle einer neuen Straßenbande zugesprochen, die sich ›Bowery Boys‹ nennt und von einem Jugendlichen mit dem seltsamen Spitznamen ›August der Starke‹ angeführt wird. Wer sich dahinter verbirgt, weiß die Polizei nicht.« Emma faltete das Papier und versteckte es in ihrer Tasche. In Windeseile wusch sie ihre Hände. Unter dem strafenden Blick der Vorarbeiterin kehrte sie an ihren Platz zurück. Anna Gullo beobachtete sie besonders genau und schien nur auf einen weiteren Fehler zu warten, aber Emma arbeitete in den nächsten Stunden so schnell und gründlich, dass sie keinen Grund zur Klage hatte. Innerlich saß sie auf Kohlen. Der Gedanke, bei dem jungen Mann, der sich »August der Starke« nannte, könnte es sich um ihren August handeln, verursachte ihr beinahe Übelkeit. Das Verbrechen, das er im Königreich Bayern begangen haben
sollte, kam ihr in den Sinn, und das Kartenspiel in Hamburg, bei dem er ihre Billette für die Überfahrt gewonnen hatte. War August doch ein Taugenichts? Hatte er sich an Bord des Schiffes nur verstellt? War er nur nach New York ausgewandert, um der Verfolgung durch die Polizei zu entgehen, und war er in Amerika erneut auf die schiefe Bahn geraten? Sie wollte es nicht glauben. Es durfte einfach nicht sein! So sehr konnte sie sich in ihm doch nicht getäuscht haben. Er hatte ihr glaubwürdig versichert, die Tat in der bayerischen Heimat nicht begangen zu haben, und er hatte ihr seine Liebe gestanden. Sie erinnerte sich an seinen ehrlichen Blick und schüttelte den Kopf. Nein, er war kein Verbrecher. Er hatte sie nicht belogen. Auf dem Heimweg zeigte Emma ihrer Freundin den Zeitungsausschnitt. Gemeinsam lasen sie den ganzen Artikel. Der Verfasser sprach davon, dass die Verbrechensrate auf der Lower East Side rapide angestiegen und man auch im deutschen Viertel nicht mehr sicher vor einem Überfall sei. Über »August den Starken« und seine »Bowery Boys« stand nur das drin, was sie bereits auf der Toilette gelesen hatte. »Ich habe Angst«, gestand Emma. »Ich habe Angst, dass mein August auf die schiefe Bahn geraten ist!« »Du glaubst, dass dein August…«, begann sie ungläubig, »nein, das kann nicht sein! Dein August ist doch kein Verbrecher! Das ist bestimmt ein anderer. Du machst dich verrückt, Emma! August hat bestimmt nichts damit zu tun. Wie kommst du überhaupt darauf?« Emma beichtete ihr, was sie von August wusste, und blieb mit Tränen in den Augen stehen. »Verstehst du jetzt, warum ich solche Angst habe? Vielleicht hat er mich die ganze Zeit belogen, Rose!« »Du musst ihm vertrauen, Emma!« »Das tue ich ja. Ich habe nur… Angst!«
An diesem Abend saßen die beiden Mädchen wieder auf dem Dach und bewunderten den Sonnenuntergang über dem Hudson River. In einem Nebel aus tiefroten Schatten versank die Sonne im Fluss. Als sie versunken war, leuchteten immer mehr Lichter in den Häusern auf. Das rote Warnlicht auf der Spitze des »Metropolitan Life Insurance Company Towers« leuchtete in luftiger Höhe. »Abends gefällt mir New York am besten«, sagte Emma. »Die Stadt ist dann so still und friedlich. Oder bilde ich mir das nur ein?« »Das bildest du dir ein«, erwiderte Rose wehmütig. »Auf manchen Straßen geht es nachts noch hektischer zu als tagsüber.« Emma lächelte. »Hier oben nicht. Ich glaube, in New York musst du nach oben klettern, wenn du Ruhe haben willst. Du wirst sehen, irgendwann ist die ganze Stadt voller Wolkenkratzer, weil alle Menschen vor dem Trubel auf den Straßen weglaufen wollen.« »Ich weiß nicht, Emma. Meinst du, sie können noch höhere Wolkenkratzer als den Metropolitan Life Insurance Tower bauen?« »Sie haben die Brooklyn Bridge gebaut.« »Das ist wahr, Emma. Komm, lass uns schlafen gehen.«
17
Obwohl Emma gezwungen war mit ihrem Geld streng hauszuhalten, kaufte sie sich regelmäßig die New Yorker Staatszeitung. In jeder Ausgabe der Staats, wie das deutsche Blatt bei den New Yorkern hieß, suchte sie nach neuen Artikeln über die gefürchteten Bowery Boys und ihren Anführer, den jungen Mann, der »August der Starke« genannt wurde. Niemand wusste, wer sich hinter dem Namen verbarg. Es wurde aber vermutet, dass es sich um einen erfahrenen »Spitzbuben« handelte, der bereits in der alten Heimat straffällig geworden war und seine dunklen Geschäfte in Amerika fortsetzte. Fast jeden Diebstahl, der im deutschen Viertel begangen wurde, schob man ihm in die Schuhe. Die Neugier, den wahren Namen des Schurken zu erfahren, und die Erleichterung, nur Vermutungen und Gerüchte über die berüchtigten Bowery Boys zu lesen, hielten sich bei Emma die Waage. Ihre Angst, bei der Lektüre der Staats auf den Namen ihres geliebten August zu stoßen, war so groß, dass sie jedes Mal zitterte, wenn sie die neue Zeitung aufschlug. Erst wenn sie erfolglos nach seinem Namen gesucht hatte, fiel die Anspannung von ihr ab und sie konnte sich auf die anderen Artikel konzentrieren. In einem Bericht ging die Zeitung gar auf das schwere Los der Sweatshop Girls ein, wie der Reporter die Näherinnen in den Shirtwaist Factories nannte. Hier stand: »Schon wenn man aus dem Fahrstuhl steigt, spürt man die heftige Vibration des Bodens, hervorgerufen durch das Rattern der Nähmaschinen, die fest auf den langen Tischen verschraubt sind und durch elektrischen Strom angetrieben werden. Die Mädchen sitzen gebeugt über den Maschinen, eine neben der
anderen und so vertieft in ihre Arbeit, als gäbe es nichts anderes auf der Welt. Kein Klagelaut kommt über ihre Lippen. Sie ertragen die Willkür der Fabrikbesitzer mit einer erstaunlichen Geduld und großer Disziplin, und obwohl es in einzelnen Sweatshops zu Streiks gekommen ist, muss nicht mit einem Aufstand der Arbeiterinnen gerechnet werden.« »Wir haben keine andere Wahl«, sagte Emma, nachdem sie den Artikel gelesen hatte, »wir brauchen das Geld, um in Amerika sesshaft zu werden.« Ihr Traum von Montana war nur eine »verrückte Idee«, wie sie es später einmal nannte, ein »Hirngespinst«, denn die Zukunft dieses Landes lag in Städten wie New York und Chicago, und nur wer sich dort durchsetzte, konnte darauf hoffen, in Amerika voranzukommen. »Hier in Amerika musst du härter arbeiten als irgendwo sonst«, sagte eine russische Jüdin zu ihr, »aber du kannst auch mehr erreichen! Du darfst niemals mit dem zufrieden sein, was du geschafft hast. Wer sich ausruht, hat schon verloren.« Die russischen Jüdinnen stellten die Mehrzahl der Arbeiterinnen in der Triangle Shirtwaist Factory und waren bekannt dafür, einen Teil ihres Geldes in die Fortbildung zu stecken. Auch Emma und Rose meldeten sich bei einem Englischkurs an und gingen jede Woche einmal zur Bibliothek und liehen sich interessante Bücher aus. Schon nach wenigen Wochen sprachen sie so gut Englisch, dass sie sich mit Amerikanern unterhalten konnten. Nur die Erfolge im Unterricht und die wenigen Vergnügen, die sie sich von ihrem Verdienst leisten konnte, ließen Emma die Demütigungen in der Fabrik ertragen. Zu einem besonders schönen Erlebnis sollte der Besuch des Grand Theater an der Bowery werden. Die Vorstellung von »The Yiddish King Lear« fand an einem Sonntag statt, und Rose und Emma begannen schon nach dem Mittagessen sich für den Abend herauszuputzen. In ihren neuen Röcken und Blusen, die sie bei
einem Händler in der Hester Street gekauft hatten, sahen sie beinahe so vornehm wie die Damen in der Fifth Avenue aus, und der duftende Puder, mit dem sie ihre Gesichter bestäubt hatten, verlieh ihnen die vornehme Blässe, die bei der besseren Gesellschaft so gefragt war. Ihre Handtaschen enthielten ein Taschentuch, etwas Geld und die Eintrittskarten. Der Abend begann so, wie ihn sich die beiden Mädchen erträumt hatten. Über dem Eingang des Theaters mit seiner kunstvollen Fassade funkelten bunte Lichter und es machte ihnen Spaß, sich unter die festlich gekleideten Besucher zu mischen. Die Vorfreude war deutlich zu spüren. Aufgeregte Stimmen mischten sich mit verhaltenem Gelächter, und in der Eingangshalle waren das Klingen von Gläsern und der Klang eines Akkordeons zu hören. Mit dem ersten Klingeln strömten die Leute auf ihre Plätze. Emma verstand nur die Hälfte des jiddischen Textes, vergnügte sich aber dennoch. Es bereitete ihr große Freude, mit den freundlich gestimmten Besuchern in dem prunkvollen Zuschauerraum zu sitzen und das gefühlvolle Stück zu erleben. Die Handlung war nicht schwer zu erraten und die Schauspieler halfen mit ihrem abwechslungsreichen Mienenspiel und ausholenden Gesten dabei, auch Gedanken und Gefühle zu verstehen. Sie war noch niemals im Theater gewesen und genoss das Gefühl, in eine andere Welt gezogen zu werden, erfreute sich auch an Details wie der liebevoll aufgebauten Kulisse, der schwärmerischen Musik und dem dunkelroten Vorhang, der sich nach jedem Akt schloss und schwungvoll wieder öffnete, sobald die Schauspieler für die nächste Szene bereit waren. »Es ist wundervoll!«, flüsterte sie Rose zu. Nach der Vorstellung verließen die Mädchen nur widerwillig das Theater. Mit den anderen Zuschauern strömten sie auf die Bowery hinaus, aus dem prunkvollen Saal auf die von vielen
Lichtern überstrahlte Hauptstraße, die auch am Sonntagabend ganz im Zeichen des Vergnügens stand und mit unzähligen Versuchungen lockte. Zu gern wären Emma und Rose in einem der Restaurants oder in einer Musikhalle eingekehrt, um dort den Abend ausklingen zu lassen, aber ihre Barschaft war knapp bemessen und sie waren gezwungen gleich nach Hause zurückzukehren. »Sonst macht sich mein Onkel noch Sorgen«, fügte Rose ängstlich hinzu. Bis zur Delancey Street waren es nur fünf Querstraßen und sie blieben auf der belebten Bowery, um möglichst unbehelligt nach Hause zu kommen. In ihrer hübschen Sonntagskleidung hätten sie die heimatlosen Jugendlichen und die Betrunkenen, die aus den Bierhallen kamen, nur in Versuchung geführt. Doch als sie von der Broome zur Delancey Street durch eine scheinbar leere Gasse abkürzten und an einem Hinterhof vorbeikamen, hörten sie bedrohliche Geräusche und sahen, wie vier junge Männer mit ihren Fäusten auf einen am Boden liegenden Mann einschlugen. »Wo hast du dein verdammtes Geld versteckt?«, fuhr einer der Jugendlichen sein Opfer an. »Gib’s her oder ich schlag dir den Schädel ein!« Jedes andere Mädchen hätte sich hastig aus dem Staub gemacht und den armen Mann seinem Schicksal überlassen. Die Gefahr, von den Schlägern gefangen und selbst zum Opfer zu werden, war zu groß. Doch Emma sah nur die schattenhafte Gestalt des Mannes und hörte seine verzweifelten Schreie, als ihn die Fäuste des Angreifers mitten im Gesicht trafen. »Hört auf!«, schrie sie. »Lasst den armen Mann in Ruhe! Er hat euch nichts getan!« »Bist du verrückt?«, flüsterte Rose entsetzt. »Das sind Verbrecher! Die schlagen uns tot, wenn sie uns erwischen! Schnell weg hier!« Sie machte Anstalten wegzulaufen, aber da waren zwei der Jugendlichen schon heran und bedrohten sie mit ihren Messern.
»A broch!«, fluchte Rose leise. Die beiden Jugendlichen waren höchstens achtzehn, vielleicht sogar jünger, doch selbst im Halbdunkel der Gasse, die nur von einer einsamen Laterne erleuchtet wurde, erkannte Emma das heimtückische Blitzen in ihren Augen. Diese Jungen waren böse, das waren keine harmlosen Diebe wie Charlie, sondern gefährliche Straßenräuber, die auch vor einem Mord nicht zurückschreckten. »He, wen haben wir denn da?«, fragte der eine, ein verschlagen grinsender Jüngling mit einem schmutzigen Halstuch am Handgelenk. »Wenn das nicht die leckersten Mädchen sind, die mir in den letzten paar Monaten über den Weg gelaufen sind!« Er fuchtelte mit dem Messer vor Roses Nase herum und amüsierte sich über ihren entsetzten Gesichtsausdruck. »Was meinst du? Sollen wir mit der hier anfangen? Oder kümmern wir uns erst um die da?« Der Junge sprach deutsch, und Emma kam ein fürchterlicher Verdacht, der sogar ihre Angst verdrängte. »Gehört ihr zu den Bowery Boys?«, fragte sie. »Wer ist euer Anführer? Wo ist August?« »He, die kennt August!«, wunderte sich der Junge. »Sag bloß, das ist die Kleine, von der er uns die ganze Zeit vorjammert? Na, wie heißt du denn, meine Liebe? Kommst auch aus Deutschland, was? Du solltest etwas freundlicher zu deinen Landsleuten sein!« »Wie heißt August mit Nachnamen?«, rief sie. Der Junge grinst breit. »Nein, das ist sie nicht! Sonst würde sie seinen Namen doch kennen! Was meinst du, Mädchen? Wollen wir uns ein wenig auf dem alten Sofa vergnügen?« Er deutete auf ein zerbrochenes Sofa, das zwischen dem anderen Abfall im Hinterhof stand. »Mein Bruder kümmert sich inzwischen um deine Freundin. Was hältst du davon?« Er griff
nach ihr, bekam sie aber nicht zu fassen. »Nun stell dich nicht so an! Ich tu dir doch nichts!« Emma deutete auf die Jungen im Hinterhof, die immer noch über dem Mann knieten. »Lasst den Mann los! Lasst ihn gehen!« »Nur wenn ihr lieb zu uns seid«, erwiderte der Junge schadenfroh. »Na, was ist? Du schämst dich doch nicht etwa? Wenn du willst, drehen sich die anderen so lange um. Na, einverstanden?« »Fass mich nicht an!«, rief Emma wütend. Sie nahm eine drohende Haltung an, erhob die Fäuste, als wollte sie ihn schlagen. Rose wimmerte ängstlich, war unfähig, etwas zu sagen oder sich zu bewegen. Vor lauter Entsetzen weinte sie nicht einmal. Der Junge trat mit einem raschen Schritt auf Emma zu, nahm sie mit dem linken Arm in den Schwitzkasten und setzte ihr mit der rechten die Messerspitze an den Hals. Sein Tonfall veränderte sich. »Ich kann auch anders, du kleines Miststück! Komm endlich mit oder ich ramm dir das Messer in den Hals, hast du verstanden?« Er schleuderte sie in den Hinterhof und lachte schadenfroh, als sie stolperte und zwischen dem Abfall zu Boden ging. »Lass sie in Ruhe!«, kam ein Befehl aus dem Dunkel. Emma erstarrte und blickte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Im Schatten eines Mietshauses war die schattenhafte Gestalt eines großen jungen Mannes zu erkennen. »August!«, erschrak der Junge, der Emma belästigt hatte. »Was soll das? Ich will doch nur meinen Spaß mit der Kleinen haben.« »Lass sie in Ruhe!« »Aber…«
»Du sollst sie in Ruhe lassen! Beide! Den Mädchen wird kein Haar gekrümmt! Und den Mann lasst auch zufrieden! Hört ihr nicht? Ihr sollt den armen Teufel laufen lassen! Na, wird’s bald?« »Ich versteh dich nicht, August!«, begann einer der Jungen. »Das brauchst du auch nicht!«, kam die barsche Antwort. »Ich hab meine Gründe! Lasst sie laufen oder ich knall euch alle ab!« Emma lag auf dem Boden, beide Hände im Schmutz, und versuchte angestrengt die schattenhafte Gestalt zu erkennen. Doch die Schatten waren zu dunkel, schienen sich auch auf seine Stimme zu legen. Sie klang etwas rauer und ungeschliffener als die von ihrem August, und auch der Dialekt war anders. »August?«, fragte sie dennoch. »Bist du das, August? Warum zeigst du dich nicht?« »Verschwindet!«, forderte die Stimme sie auf. Der Mann blieb unsichtbar »Haut endlich ab, bevor ich’s mir anders überlege!« Zuerst verschwand der Mann. Mit blutigen Schrammen im Gesicht und geschwollenen Augen stolperte er davon. Dann erwachte Rose aus ihrer Benommenheit und zog Emma aus der Gasse. Widerstrebend ließ sie sich auf die belebte Bowery zerren. Sie hielten sich gegenseitig fest wie zwei Liebende, die nicht voneinander lassen wollten, und schienen erst jetzt zu erkennen, wie knapp sie ihrem Schicksal entronnen waren. Sie weinten beide. Nach einigen Minuten ging es beiden besser. Sie gingen langsam weiter, blieben auf der Hauptstraße, um nicht noch einmal Verbrechern in die Arme zu laufen. Nicht immer würden sie solches Glück wie eben haben. Erst letzten Montag hatte Emma von einer jungen Frau gelesen, die am Fluss vergewaltigt worden war. »August?«, flüsterte Rose. »Meinst du… das war… «
Emma schüttelte heftig den Kopf. »Nein«, erwiderte sie fest, »das war nicht mein August! Er ist kein Verbrecher! Er würde niemals mit einer Bande durch die Straßen ziehen und hilflose Menschen zusammenschlagen! So was tut er nicht!« Sie schien sich selbst überzeugen zu müssen. »Außerdem klingt seine Stimme ganz anders! Viel sanfter und freundlicher… und sein Dialekt ist auch anders. Nein… das war ein anderer August! August der Starke.« »Aber… warum hat er uns laufen lassen?«, wunderte sich Rose. »Er kennt uns doch gar nicht. Warum hat er uns nichts getan?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Emma. Tief in ihrem Inneren hegte natürlich auch sie den Verdacht, der Fremde könnte ihr geliebter August gewesen sein. Seine Stimme konnte man verstellen und einen anderen Dialekt konnte man vortäuschen. Warum sonst wäre er im Schatten geblieben? Und hatte der Junge, der sie angegriffen hatte, nicht behauptet, ihr Anführer »jammere« ihnen etwas über ein Mädchen vor? Das würde doch bedeuten, dass er sie immer noch liebte. Dass er auf die schiefe Bahn geraten war und sich nur schämte ihr gegenüberzutreten. »Du glaubst es auch, nicht wahr?«, fragte Rose. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie ehrlich. »Ich habe so oft mit Gott gesprochen und ihn gebeten mir August zurückzuschicken, dass ich einfach nicht glauben kann, was mir eine innere Stimme sagen will. Gott würde nicht zulassen, dass August mich so enttäuscht! Er ist kein Verbrecher, er schlägt keine Unschuldigen zusammen und er würde niemals ein Mädchen…« Sie wagte nicht, die unheilvollen Worte auszusprechen. »Ich weiß, wie schnell man in New York zum Dieb werden kann. Ich habe selber einen Tag und eine Nacht auf der Straße gelebt. Ohne Arbeit ist man schlimm dran und ich würde es ihm nicht übel nehmen, wenn er etwas Brot oder
einen Apfel stehlen würde…« Sie dachte daran, wie Charlie und sie den Gentleman auf der Fifth Avenue überfallen hatten, und war froh, dass Rose nicht sah, wie sie rot wurde. »Aber so etwas Schlimmes würde er niemals tun. So gemein kann mein August nicht sein. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer!« Wenn Rose ahnte, dass Emma selbst etwas Ungesetzliches getan hatte, ließ sie es sich nicht anmerken. »Wir müssen nach Hause«, sagte sie. »Mein Onkel macht sich bestimmt schon Sorgen.« »Ich weiß«, stimmte Emma ihr zu. Doch als sie vor dem Haus der Goldsteins in der Delancey Street standen und Rose gerade die Tür öffnete, überlegte Emma es sich anders: »Sei mir nicht böse, Rose«, entschuldigte sie sich, »aber ich muss noch mal weg. Ich muss wissen, wer August ist.« »Du willst in die Gasse zurück?«, erwiderte Rose entsetzt. »Nein, ich bin ja nicht lebensmüde. Aber ich kenne jemanden im deutschen Viertel, der bestimmt weiß, ob August… ob mein August der Anführer der Bowery Boys ist. Eher hab ich keine Ruhe!« »Hat das nicht bis morgen Zeit?« »Es muss jetzt sofort sein, Rose. Ich brauche nicht lange.« »Na schön«, ließ Rose sich widerwillig darauf ein. »Aber wenn du in zwei Stunden nicht zu Hause bist, rufe ich die Polizei!« Sie legte eine Hand auf Emmas Schulter. »Willst du’s dir nicht doch noch mal überlegen? Du weißt doch, wie gefährlich es nachts auf der Lower East Side ist! Was ist, wenn du überfallen wirst? Ein zweites Mal geht es bestimmt nicht so glimpflich ab. Bleib hier!« »Ich kann nicht, Rose.« Sie lief davon, bevor ihre Freundin weiter auf sie einreden konnte, bog in die Avenue A und rannte nach Norden. Auf dem »German Broadway« war auch um diese späte Zeit noch
viel Verkehr, sodass sie keine Angst vor einem Überfall zu haben brauchte. Mit ihren Gedanken war sie immer noch in der Gasse. Die Schatten waren so dunkel gewesen und die Stimme des mysteriösen August hatte in dem Hinterhof so gehallt, dass sie nicht sagen konnte, ob sie den Bandenführer kannte. »Bitte, lieber Gott, lass es nicht meinen August sein!«, flüsterte sie immer wieder. »Ich liebe ihn doch! Schick ihn zu mir, wenn er Hilfe braucht, aber lass ihn bitte nicht diese schrecklichen Dinge tun! Ich überlebe das nicht!« Sie bog in die dunkle Seitenstraße, in der Charlies Ruine lag. Wo sie vor kurzer Zeit noch zu Hause gewesen war, kam sie sich diesmal wie eine Fremde vor. In ihrem gebügelten Mantel und mit dem breitkrempigen Hut auf den sorgfältig frisierten und hochgesteckten Haaren fühlte sie sich wie eine Dame, die sich in die Slums verirrt hatte. Der Tag, an dem sie beinahe auf die schiefe Bahn geraten wäre, schien monatelang zurückzuliegen. Doch als sie über die losen Planken in das verfallene Haus kletterte und die vertraute Stimme ihrer jüngeren Freundin hörte, freute sie sich. »Sag bloß, das bist du, Emma!«, begrüßte Charlie sie überrascht. »Du siehst ja wie ‘ne verdammte Dame aus! Wo brennt’s?« Emma erzählte es ihr. »Weißt du, wer der Anführer der Bowery Boys ist? Ich hab Angst, dass August… der junge Mann, mit dem ich rübergekommen bin… dass mein August… na, du weißt schon… « »Dass er sich mit der Bande rumtreibt?« Sie zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Die Bowery Boys gibt’s noch nicht lange. Soweit ich weiß, ist dieser August der Starke erst mit einem der letzten Schiffe rübergekommen, aber wie er aussieht, weiß niemand.« »Weißt du, wie er mit Nachnamen heißt?«
»Nein, damit kann ich nicht dienen. Ich weiß nur, dass der Kerl aus derselben Gegend wie ich kommen soll. In Berlin soll er eine große Nummer gewesen sein. Raubüberfälle, Schmuggel und solche Sachen. Und dass er’s mit den Mädchen hat. Für ein hübsches Mädchen würde er alles tun.« Sie kicherte heiser. »Na, dann lege ich mich besser nicht mit ihm an. Du hast den Kerl gesehen?« »Nur seinen Schatten. Und er kommt wirklich aus Berlin?« »Hat man mir gesagt.« Sie atmete erleichtert auf. »Dann kann es nicht mein August sein. Vielen Dank, Charlie! Vielen Dank! Ich wusste doch, dass er nichts mit dieser schlimmen Bande zu tun hat!« Sie blieb eine Weile unschlüssig stehen und sagte dann: »Ich würde gern noch bleiben, Charlie, aber die Leute, bei denen ich wohne, machen sich bestimmt schon Sorgen! Ich komm dich wieder mal besuchen.« »Jederzeit, Emma! Jederzeit!«
18
Während der Hochsaison im Herbst, als besonders viele Bestellungen bei der Triangle Shirtwaist Company eingingen, blieb Emma kaum Zeit an August zu denken. Statt der üblichen sechzig mussten sie plötzlich siebzig bis achtzig Stunden in jeder Woche arbeiten, ohne einen Cent mehr zu bekommen. Als einzigen Zusatzlohn erhielt jede Näherin ein Abendessen, das aus einer Apfeltasche und einem Becher Kaffee bestand. Beides lieferte eine benachbarte Bäckerei zu einem Spottpreis. Der Production Manager und die Vorarbeiterin trieben die Arbeiterinnen im neunten Stock noch unbarmherziger an und waren noch weniger geneigt, ein Vergehen wie Sprechen oder Lachen durchgehen zu lassen. Mit den höheren Anforderungen wuchs auch die Unruhe unter den Mädchen. Hatten sie während der Mittagspause und nach dem Ertönen der Schlussglocke früher kaum über die Arbeit gesprochen und sich lieber über die schönen Dinge des Lebens wie Theater und Mode unterhalten, rückten jetzt wieder die unmenschlichen Arbeitsbedingungen in den Mittelpunkt. In kleinen Gruppen standen sie abends im Washington Square Park und schimpften auf die Fabrik. Sogar die Mädchen, die früher still geduldet und nie den Mund aufgemacht hatten, meldeten sich aufgebracht zu Wort. »Heute Morgen war ich höchstens zwei Minuten zu spät«, ereiferte sich eine junge Russin, die seit sechs Monaten in Amerika lebte und schon fließend Englisch sprach, »und sie haben mir einen Dollar vom Lohn abgezogen! Das lasse ich mir nicht gefallen!«
»Und ich muss zahlen, weil ich meiner Nachbarin ein Taschentuch gegeben habe!«, schimpfte eine Polin, die sehr stolz darauf war, kaum noch einen europäischen Akzent zu haben. »Stellt euch das vor! Wegen eines Taschentuchs! Hätte ich’s ihr nicht gegeben, und sie hätte niesen müssen, wäre sie auch bestraft worden!« »Mich hat Miss Gullo an Mr Bernstein verpetzt, weil ich zu lange auf der Toilette war!«, beschwerte sich eine Arbeiterin, die über die Hälfte ihres Verdienstes nach Hause schickte und sich so schlecht ernährte, dass sie öfter Durchfall bekam. »Sollen sie uns doch besser bezahlen, dann können wir besser essen und werden nicht mehr krank. Wir müssen endlich was unternehmen, Leute!« »Das stimmt«, sagte die Russin. »Wenn wir uns nicht wehren, passiert gar nichts! Bei Leiserson’s sind sie auf die Straße gegangen, habt ihr das gehört? Sie haben gestreikt, vor der Fabrik!« »Und was haben sie davon gehabt?«, erwiderte ein anderes Mädchen. »Die Besitzer haben ihnen Schläger auf den Hals gehetzt und sie vom Hof gejagt! Die kriegen nie mehr eine Stelle!« Emma hatte bisher wortlos zugehört. »Sag das nicht«, mischte sie sich ein. »Die Russin, die den Streik angeführt hat, ist im Vorstand von Local 25.« So nannte sich die Niederlassung der »International Ladies’ Garment Workers’ Union« auf der East Side. »Ich dachte immer, in die Gewerkschaft dürfen nur Männer rein. Local 25 würde sich um uns kümmern, sagt sie, und die Öffentlichkeit würde nicht zulassen, dass man uns wie Sklavinnen abschiebt. Ich hab den Artikel in der New York Post gelesen, da stand alles drin!« »Ich hab auch von dieser Russin gehört«, sagte ein Mädchen. »Sie heißt Clara Lemlich. Eine Freundin hat sie reden gehört und sagt, dass sie sich kein Blatt vor den Mund nimmt. Sie
fordert sogar, dass wir denselben Lohn wie die Männer bekommen! Und die Überstunden sollen auch bezahlt werden! Stellt euch das mal vor!« »Und was ist mit den Kranken?«, fragte eine Polin. »Wollt ihr tatenlos zusehen, wie ein Mädchen nach dem anderen die Judenkrankheit bekommt?« Mit »Judenkrankheit« meinte sie die gefährliche Tuberkulose oder Schwindsucht, die bei den Näherinnen in den Fabriken besonders häufig auftrat, weil die Mädchen in schlecht gelüfteten Räumen arbeiteten und sich, wenn ihr Lohn zu niedrig war, auch schlecht ernährten. »Wir dürfen nicht zulassen, dass sie die kranken Mädchen bestrafen und rauswerfen!« Darauf wusste niemand eine Antwort, auch Emma nicht, die während der nächsten Woche am eigenen Leib verspüren sollte, welche Auswirkungen eine Krankheit auf das Leben einer Näherin haben konnte. Es begann damit, dass Sophia, ihre italienische Nachbarin, eine Erkältung bekam. Eigentlich war es nur ein leichtes Hüsteln und niemand dachte sich etwas dabei, aber die Vorarbeiterin bemerkte die Unruhe und blieb drohend vor Sophia stehen. »Wenn du weiter die Arbeit störst, muss ich dir die Hälfte von deinem Lohn abziehen!«, sagte sie. »Haben wir uns verstanden?« »Ja, Miss Gullo.« »Noch ein Laut und du zahlst!« Während die Vorarbeiterin an ihren Platz zurückkehrte, beobachtete Emma besorgt, wie Sophia sich über ihre Arbeit beugte und ein neues Stoffteil unter die Nadel schob. Die Italienerin konzentrierte sich auf ihre Arbeit und presste verzweifelt die Lippen aufeinander, als ihr der Hustenreiz erneut zu schaffen machte. Sie kämpfte dagegen an, blies ihre Backen auf, bis Tränen in ihre Augen traten und sie kaum noch das Stoffteil sah. Dann brach ein neues Hüsteln aus ihr heraus,
sie rutschte mit dem Stoff ab und schrie laut auf, als sie mit einem Finger unter die Nadel kam. »Jetzt reicht’s mir aber!«, explodierte die Vorarbeiterin. Sie sprang wütend von ihrem Stuhl auf, kümmerte sich nicht darum, dass einige Mädchen vor Schreck ihre Arbeit unterbrachen, und trat vor die verzweifelte Sophia. »Das kostet dich einen Dollar! Und wenn du noch mal auffällst, behalte ich den gesamten Wochenlohn ein!« Zum Glück schrillte eine halbe Stunde später die Glocke und die Mädchen durften nach Hause gehen. Sophia schleppte sich vor Emma und Rose in den Aufzug und hustete den ganzen Weg nach unten. Sie hielt sich Emmas Taschentuch vor den Mund. »Leg dich gleich ins Bett!«, empfahl Emma, als sie sich verabschiedeten. Sie musste langsam sprechen, damit die Italienerin sie verstand. Ihr Vater hatte ihr verboten einen Englischkurs zu besuchen. »Bleib lieber zu Hause, wenn du ernsthaft krank bist!« »Ich kann nicht. Ich brauche die Arbeit«, sagte Sophia. »Wenn du einen Tag fehlst, werfen sie dich nicht raus«, erwiderte Emma, obwohl man erst vor zwei Tagen einer Arbeiterin gekündigt hatte, weil sie sich den Fuß verstaucht hatte und ein halbe Stunde zu spät gekommen war. »Ich setze mich für dich ein.« Sophia lächelte dankbar. »Das ist lieb von dir, aber ich arbeite morgen. Ich trinke heißen Tee, der macht mich wieder gesund. Ich darf die Stelle nicht verlieren! Ich bin die Einzige in der Familie, die Arbeit hat. Mein Vater hat sich ein Bein gebrochen und meine Mutter kümmert sich um die Kinder. Ich habe sieben Geschwister.« »Sag Bescheid, wenn du was brauchst.« »Danke, Emma.«
Am nächsten Morgen hatte sich Sophias Zustand verschlimmert. Zu dem leichten Husten, der sie immer noch plagte, war Fieber gekommen. Ihre Augen glänzten und ihre Haut war unnatürlich gerötet. Im Fahrstuhl gähnte sie unentwegt und gab zu, nur wenige Stunden geschlafen zu haben. Emma, die mit ihr nach oben fuhr, konnte sich nicht vorstellen, wie man in diesem Zustand einen harten Arbeitstag mit drei Überstunden durchhalten konnte. Sophia schaffte es nicht einmal bis zur Mittagspause. Nach zwei Stunden wurde ihr so schlecht, dass sie erblasste und sich mit beiden Händen an der Nähmaschine festhalten musste. Sie hüstelte ein paarmal und stöhnte leise: »Mir ist so übel, Emma!« Emma vergaß alle Vorsicht. Sie hielt in der Arbeit inne, legte einen Arm um ihre Nachbarin und sagte: »Komm, wir gehen ein paar Minuten nach draußen, dann wird dir besser!« Sie stand auf, half der kranken Italienerin vom Stuhl und führte sie zum Fahrstuhl. »Entschuldigen Sie, Miss Gullo«, sagte sie zu der entsetzten Vorarbeiterin. »Sophia ist übel und sie muss dringend mal an die frische Luft! Ziehen Sie mir meinetwegen einen Dollar von meinem Lohn ab, aber bitte verschonen Sie Sophia. Sie kann nichts dafür!« »Was fällt dir ein!«, stieß Anna Gullo mit hochrotem Gesicht hervor. »Wie kannst du es wagen, so mit mir zu sprechen? Weißt du, was Mr Bernstein mit euch macht, wenn ich euch melde? Er wirft euch hochkantig hinaus!« Sie warf einen Blick auf Sophia und erinnerte sich wohl daran, dass sie ebenfalls aus Italien kam und vielleicht sogar aus derselben Stadt wie Sophia stammte. »Zehn Minuten«, sagte sie. »Wenn ihr in zehn Minuten nicht zurück seid, könnt ihr gleich draußen bleiben! Und du…« Sie deutete mit dem Zeigefinger auf Emma. »Du zahlst zwei Dollar von deinem Lohn!«
Emma nickte dankbar und führte Sophia in den Fahrstuhl. Auf der Greene Street gingen sie ein paar Schritte. Die Sonne schien und ein lauer Herbstwind strich über ihre Gesichter. Sophia gewann wieder etwas Farbe und fühlte sich sichtlich besser. Nur das leichte Hüsteln war geblieben. Sie lehnte sich gegen eine Hauswand. »Grazie«, sagte sie auf Italienisch. »Ohne dich wäre ich meine Arbeit los. Ich darf sie auf keinen Fall verlieren, auf keinen Fall!« Doch am nächsten Tag kam Sophia überhaupt nicht und am übernächsten Tag auch nicht und drei Tage später saß ein neues Mädchen neben Emma, eine russische Jüdin, die gerade erst vom Schiff gekommen war und kein Wort Deutsch oder Englisch sprach. »Katinka«, stellte sie sich lächelnd vor, »ich bin Katinka.« »Wo ist Sophia?«, frage Emma die Vorarbeiterin, als sie um neun Uhr abends zum Fahrstuhl gingen. »Kommt sie wieder?« »Wir haben ihr gekündigt«, antwortete Anna Gullo. Emma blieb entsetzt stehen. »Aber sie braucht die Arbeit! Sie können sie doch nicht rauswerfen, nur weil sie krank ist! In ein paar Tagen ist sie wieder gesund! Sie arbeitet doch gut, oder?« »Ich mache die Vorschriften nicht«, sagte die Vorarbeiterin. »Ich bin angestellt und habe das zu tun, was Mr Bernstein mir aufträgt. Und Mr Bernstein richtet sich nach den Anweisungen der Besitzer. Geht das endlich in deinen Kopf hinein?« Sie packte unwillig ihre Sachen. »Und jetzt lass mich in Ruhe, bevor ich dein rüdes Verhalten an Mr Bernstein melden muss und du auch rausfliegst!« »Ja, Miss. Natürlich, Miss«, erwiderte Emma spitz. Einige Tage später erfuhr Emma von einer anderen Italienerin, dass Sophia an Tuberkulose erkrankt war und von einer Nonne gepflegt wurde. Als sie nach ihrer Adresse fragte, winkte das Mädchen ab. »Du darfst nicht zu ihr. Niemand darf
zu ihr. Sie liegt vielleicht im Sterben, und ihr Vater will nicht, dass irgendjemand aus der Fabrik in ihre Nähe kommt! Nicht mal ihre besten Freundinnen! Wenn du was für sie tun willst, dann bete für sie. Obwohl ich glaube, dass Gott sie längst vergessen hat.« Am Sonntag in der Kirche betete Emma tatsächlich für Sophia, doch gleichzeitig schimpfte sie auf die Fabrikbesitzer, den Manager und die Vorarbeiterin und schwor, sich das unmenschliche Verhalten ihrer Vorgesetzten nicht länger gefallen zu lassen. Amerika würde nie zu einem Paradies werden, solange junge Mädchen in den Fabriken wie Sklavinnen gehalten wurden. »Wir müssen mit dieser Russin sprechen«, sagte sie zu Rose. »Wie heißt sie noch? Clara Lemlich, nicht wahr? Lass uns bei Leiserson’s vorbeigehen.« Doch das war gar nicht nötig. Als sie am Montagabend das Triangle-Gebäude verließen, warteten Clara Lemlich und einige ihrer Helferinnen auf dem Bürgersteig. Die Russin stand auf einer kleinen Plattform. Sie war kleiner, als die meisten Mädchen sie sich vorgestellt hatten, trug einen dunklen Mantel, der über ihrem Kragen mit der strengen Krawatte offen stand, und keinen Hut. Ihr dunkles Haar war sorgfältig gescheitelt und im Nacken zu einem Knoten gebunden. Das Bemerkenswerteste an ihr waren ihre glühenden Augen und ihre energische, aber wohlklingende Stimme. »Mädchen und Frauen der Triangle Shirtwaist Company!«, rief sie den Arbeiterinnen zu. »Ich bin Clara Lemlich, eine Näherin wie ihr, und möchte euch bitten mir einen Augenblick zuzuhören!« Sie sprach Jiddisch und wiederholte jeden Satz auf Englisch. »Wenn die Uhr in eurer Fabrik richtig gehen und niemand an ihr drehen würde, um eure Arbeitszeit zu verlängern, wüsstet ihr, dass es schon nach neun Uhr abends ist. Neun Uhr abends! Ihr habt über zwölf Stunden in einer schlecht gelüfteten Fabrik geschuftet, wie Sklaven auf einer
Galeere, ihr durftet nicht sprechen, nicht lachen, ihr durftet nicht einmal husten oder eure Nachbarin ansehen! Man hat euch um einen Teil eurer Mittagspause betrogen. Ihr seid beschimpft und erniedrigt worden, und ich bin sicher, einige von euch mussten eine Strafe bezahlen, weil sie zu lange auf der Toilette oder in der Garderobe waren. Ist es nicht so, Kolleginnen?« Zustimmendes Gemurmel antwortete der Russin. Fast alle Arbeiterinnen der Triangle Shirtwaist Factory waren stehen geblieben und hörten interessiert zu, als wüsste die Rednerin einen Ausweg aus dem jammervollen Leben, das die meisten von ihnen führten. »Was sollen wir tun, Clara? Willst du, dass wir streiken?« »Ich will, dass ihr aufsteht und für eure Rechte kämpft!«, antwortete Clara Lemlich. Sie unterstrich ihre Worte mit sparsamen, aber wirkungsvollen Gesten. »Die großen Bosse und ihre Handlanger haben lange genug auf uns herumgetrampelt! Sie haben uns ausgepresst wie Zitronen und ihre Konten mit dem Geld gefüttert, das wir für sie erwirtschaftet haben! Wisst ihr denn nicht, was für ein Leben diese Kapitalisten führen? Sie leben in herrschaftlichen Villen, während die meisten von uns in schmutzigen Löchern hausen! Sie essen teures Fleisch und exotisches Gemüse, während wir von Kartoffeln und Maissuppe leben! Sie sind bei ihren Ehefrauen und Kindern, während wir an den Nähmaschinen sitzen und bis spät in die Nacht arbeiten! Bezahlt uns jemand diese Überstunden? Natürlich nicht! Man speist uns mit dem Gebäck ab, das niemand mehr kaufen will, und gibt uns dünnen Kaffee. Ist das vielleicht gerecht? Ist es gerecht, dass wir weniger Geld als die Männer verdienen? Ist es gerecht, dass wir länger als die Bosse arbeiten? Ist es gerecht, dass wir für jedes falsche Wort einen Dollar bezahlen?« Sie wartete einen Augenblick, bis sich ihre Worte in das Bewusstsein ihrer
Zuhörer gegraben hatten. »Nein, sage ich. Es ist in höchstem Maße ungerecht! Die Bosse haben kein Recht, uns so zu behandeln! So wenig, wie die Männer des Zaren unsere Brüder und Schwestern in Russland ermorden durften, darf sich das Kapital über die leidende Arbeiterklasse erheben. Es wird Zeit, dass wir auf die Straße gehen, Schwestern! Lasst uns gemeinsam für eine neue Zukunft kämpfen! Lasst uns der Hölle entfliehen, die Bosse wie Max Blanck und Isaac Harris in ihren Sweatshops für uns bereithalten! Schließt euch den Mädchen und Frauen an, die gemeinsam mit Local 25 gegen die Willkür der Bosse kämpfen!« Einige der Mädchen klatschten Beifall. »Azoy gait es!«, rief eine Russin. »So ist es richtig! Aber wie sollen wir das anstellen? Wenn wir auf die Straße gehen, kündigen uns die Bosse. Wie soll das gehen? Es gibt Mädchen, die für noch weniger Lohn arbeiten!« »Wenn wir zusammenhalten, sind wir stark genug«, erwiderte Clara Lemlich. Ihre Augen blitzten vor Entschlossenheit. »Was können die Bosse schon tun, wenn wir alle auf die Straße gehen? So schnell finden sie keinen Ersatz. Und wenn es Mädchen gibt, die für weniger Geld arbeiten wollen, werden wir sie zu überzeugen wissen. Local 25 wird euch dabei helfen! Wir haben Zeitungen und Handzettel. Und wir haben die besseren Argumente. Was können wir schon groß verlieren, Schwestern? Nichts außer den Ketten, mit denen uns die großen Bosse gefesselt haben. Die Zeit ist reif für Rebellion! Unterschreibt bei Local 25! Geht auf die Straße und kämpft für ein besseres Leben! Werft endlich die Fesseln der Unterdrückung ab! Zahlt es den Kapitalisten heim!« Während Clara für ihre Gewerkschaft und den Aufstand warb, verteilten ihre Helferinnen die Handzettel. In wenigen Schlagwörtern waren die Forderungen der Gewerkschaft formuliert: »Einführung der 52-Stunden-Woche! Überstunden
nur dreimal pro Woche! Kein Lohnabzug für Miete, Nadeln und Garn! Die Fabrikbesitzer sollen die Gewerkschaft und ihre Einheitsverträge anerkennen! Nur die Höhe des Lohns soll in jeder Fabrik gesondert verhandelt werden!« Unter den Forderungen standen die Adresse der Local 25 und mehrere Namen. »Heute sind wir schwach, weil wir unorganisiert sind!«, rief Clara Lemlich, die spürte, dass sie die Mehrheit der Arbeiterinnen auf ihrer Seite hatte. »Aber morgen sind wir stark! Schließt euch der Bewegung an, die euch von den Ketten der Herrschenden befreit!« Wieder brandete Beifall auf, doch in die Begeisterung platzten ängstliche Schreie, und wie aus dem Nichts tauchten zwei bullige Schläger auf. Die Männer stießen die Mädchen rücksichtslos und rüde zur Seite, bahnten sich einen Weg zu Clara Lemlich und rissen sie von dem Podium. Mit beiden Fäusten schlugen sie auf die Russin ein. Clara Lemlich wehrte sich verzweifelt, doch schon der zweite Fausthieb traf sie an der Schläfe und schickte sie bewusstlos auf das Kopfsteinpflaster. Nur noch ein dumpfes Stöhnen kam über ihre Lippen, als die Schläger auf ihr herumtrampelten. Erst als drei Rippen unter ihren schweren Stiefeln brachen, ließen sie von ihr ab und verschwanden grinsend in einer dunklen Gasse. Die meisten Mädchen waren so entsetzt, dass sie keinen Laut von sich gaben und nicht einmal den Versuch machten, der Russin zu helfen. Und als die Schläger davonrannten und die Pfiffe einiger Polizisten ertönten, rannten sie in panischer Angst davon. »Ruf einen Krankenwagen! Schnell!«, rief Emma. Rose machte sich auf den Weg. Emma beugte sich über die bewusstlose Russin und zog den Mantel über ihre eingerissene Bluse. »Clara! Es tut mir so
Leid«, flüsterte sie mit Tränen in den Augen. »Das hast du nicht verdient.« Wenige Minuten später waren die Polizisten da und blickten mitleidlos auf die verletzte Clara Lemlich hinab. Einige lachten sogar. »Das hat sie nun davon, dass sie sich wie ein leichtes Mädchen auf der Straße herumtreibt. Wir sollten sie liegen lassen!« Emma sprang auf. »Wie können Sie so reden?«, fuhr sie die Polizisten an. »Sehen Sie denn nicht, dass sie schwer verletzt ist? Zwei Männer haben sie zusammengeschlagen! Gemeine Kerle!« Sie konnte von Glück sagen, dass die Polizisten sie nicht festnahmen. »Wenn sie sich wie ein leichtes Mädchen benimmt, braucht sie sich nicht zu wundern, wenn man sie so behandelt!«, lästerte einer der Beamten. Er blickte Emma streng an. »Und dir würde ich empfehlen, so schnell wie möglich zu verschwinden, sonst könnte es passieren, dass dir was ganz Ähnliches passiert!« Seine letzten Worte wurden von der Sirene des Krankenwagens übertönt, der mit quietschenden Reifen um die Ecke kam.
19
Einen Tag nach dem Überfall besuchten Emma und Rose die verletzte Russin im jüdischen Krankenhaus. Sie stahlen sich an der Empfangsdame vorbei, die bereits einen Reporter des Jewish Daily Forward abgewimmelt hatte, und fragten sich zu ihrem Zimmer durch. Sie lag mit sieben anderen Frauen und Mädchen in einem ungemütlichen Raum mit kahlen Wänden und las in einem Buch. Als sie ihre Besucherinnen erkannte, strahlten ihre Augen. Die Blutergüsse in ihrem Gesicht und der Verband um ihren Oberkörper schienen ihr kaum etwas auszumachen. »O!«, rief sie erfreut, »und ich dachte, ihr hättet mich aufgegeben. Ihr seid von Triangle, nicht wahr? Ihr wart dabei, als mich die Schläger überfielen.« Emma blickte die Russin ungläubig an. Sie konnte nicht fassen, wie schnell Clara Lemlich sich von dem Überfall erholt hatte. »Clara!«, erwiderte sie verwundert. »Wie geht es dir? Hast du denn gar keine Schmerzen? Ich dachte, deine Rippen wären gebrochen!« »Nicht der Rede wert«, winkte die Russin ab. »In ein paar Tagen bin ich wieder auf dem Damm! Vor sieben Jahren in Kishinev ist mir das schon mal passiert. Ein Verehrer des Zaren stieß mich die Treppe runter, als ich aus der Bibliothek kam. Geh nach Hause zu deinem Judenpack, sagte er. Ich brach mir zwei Rippen, und wenn mir mein Vater nicht das Lesen verboten hätte, wäre ich drei Tage später wieder in der Bibliothek gewesen. Er hasst alle Russen und wollte nicht, dass ich Tolstoi und Dostojewski lese.« Sie legte ihr Buch auf die Bettdecke, presste für einen Moment die Lippen
aufeinander und lächelte gleich wieder. »Aber ich will euch nicht mit meiner Familiengeschichte langweilen. Habt ihr unterschrieben?« »Unterschrieben? Was?«, fragte Emma. »Bei Local 25«, erklärte Clara Lemlich. »Wir brauchen Mitglieder wie euch. Nur mit einer starken Gewerkschaft haben wir eine Chance gegen die Bosse.« Sie lächelte zuversichtlich. »Ihr seht nicht so aus, als würdet ihr euch alles gefallen lassen.« Sie forderte Emma und Rose mit einer Handbewegung auf, sich auf den Bettrand zu setzen. »Wie viel verdient ihr? Fünf Dollar die Woche?« »Vier«, antwortete Emma. »Die Männer in den Fabriken verdienen mehr als das Doppelte! Und wenn sie was taugen, werden sie befördert. Habt ihr jemals eine Frau gesehen, die befördert wird?« Sie lachte spöttisch. »Frauen sind minderwertige Wesen. Wir sind Sklaven in einer Galeere, die man über Bord wirft, wenn sie zu schwach zum Rudern sind! Kleine Rädchen im großen Getriebe, die man austauscht, wenn sie nicht mehr greifen. Wir sind weniger wert als Nähmaschinen, Nadeln und Nähgarn! Shoyn genug, es wird Zeit, dass wir endlich auf die Straße gehen! Wir brauchen einen Streik!« Allein an ihrem Tonfall merkte man, wie sehr Clara Lemlich von ihrer Mission durchdrungen war. Sie war eine Gewerkschafterin, wie man sie sich vorstellte: selbstbewusst, kämpferisch und von ihrem Anliegen überzeugt. Selbst im Krankenbett, mit drei gebrochenen Rippen und etlichen Blutergüssen, ließ sie sich nicht von ihrer Aufgabe abbringen. Am liebsten wäre sie wohl gleich aus dem Bett gesprungen und auf die Straße gegangen, um ihren Kreuzzug gegen die Fabrikbosse fortzusetzen. Sie gab sich entschlossener und selbstsicherer als jeder Mann.
Emma blickte in die feurigen Augen der Russin und kam sich beinahe ein wenig schuldbewusst vor. »Die Mädchen bei Triangle haben Angst, etwas zu unternehmen«, sagte sie und meinte auch Rose und sich damit. »Wir dachten, du bist schwer verletzt und würdest erst in ein paar Wochen wiederkommen. Ohne dich fängt niemand einen Streik an.« Sie ließ ihren Blick über die anderen Kranken schweifen und sah, dass die meisten schliefen. Unwillkürlich senkte sie ihre Stimme: »Du bist eine mutige Frau, Clara. Und alles, was du sagst, spricht uns aus dem Herzen. Aber wie willst du gegen die Bosse ankommen? Wenn du auf die Straße gehst, schicken sie die nächsten Schläger, bis sie dich so weit haben, dass du aufgeben musst. Wie willst du das bloß schaffen, Clara?« »Darüber macht euch keine Sorgen«, winkte Clara ab. »Wir haben mächtige Freundinnen. Die Women’s Trade Union League hat versprochen uns zu helfen. Die WTUL! Das sind reiche Frauen aus der Fifth Avenue, die ihr Herz für uns entdeckt haben. Die wissen, wie man die Öffentlichkeit um den Finger wickelt. Wenn wir einen Generalstreik durchsetzen, wollen sie eine große Automobilparade über die Fifth Avenue veranstalten. Was sagt ihr dazu?« »Eine Automobilparade?«, fragte Rose erstaunt. Sie war nie besonders kämpferisch gewesen und bezweifelte, dass ein Generalstreik die Situation in den Fabriken verändern würde. »Damit willst du die Bosse rumkriegen? Wie willst du das anstellen, Clara?« »Wartet es ab«, antwortete die Russin. »In Amerika brauchst du die Presse, wenn du was erreichen willst. Und ich meine nicht den Forward und die anderen Blätter, die sowieso auf unserer Seite sind. Ich meine die Times und die Post. Das war eines der ersten Dinge, die ich nach meiner Ankunft gelernt habe. Du musst die Öffentlichkeit für dich einnehmen, wenn du Druck auf jemanden ausüben willst! Und die Öffentlichkeit
erreichst du am besten mit spektakulären Aktionen. Wisst ihr, dass die Post was über den Überfall gebracht hat? Gleich auf der ersten Seite! ›Fabrikbesitzer hetzen Schläger auf arme Näherin!‹ Solche Schlagzeilen brauchen wir!« Die Tür ging auf und eine der Schwestern kam herein. Sie stemmte die Hände in die Hüften und schüttelte den Kopf. »Miss Lemlich! Sie sind noch viel zu krank, um schon Besuch zu empfangen! Haben Sie denn die Schlaftabletten nicht genommen?« Clara Lemlich blickte auf den Mülleimer und ließ die Schwester nicht im Zweifel darüber, was sie mit den Tabletten gemacht hatte. »Ich brauch keine Tabletten, Schwester! Ich brauche noch einen Tag Ruhe und dann gehe ich. Nichts gegen den wässrigen Eintopf, den es zum Mittagessen gab, aber wenn ich den will, kann ich auch zur Heilsarmee in die Vierte Straße gehen. Farshtaist?« »Sie sind unverbesserlich, Miss Lemlich«, erwiderte die Schwester. »Sie wissen doch, dass wir Sie erst gehen lassen, wenn der Arzt sein Einverständnis gegeben hat. Ohne seine Unterschrift dürfen Sie nicht raus! Sieben, acht Tage wird es schon dauern.« »Das werden wir ja sehen, Schwester!«, reagierte die Russin aufsässig. »Wir sind in Amerika, schon vergessen? Dies ist ein freies Land und niemand kann einen anderen gegen seinen Willen festhalten. Wenn ich mich gesund fühle, gehe ich, ob der allmächtige Arzt nun sein Einverständnis gegeben hat oder nicht!« Die Schwester überprüfte den Verband der Russin und seufzte leise. »Und ich dachte, der Überfall hätte Sie endlich zur Vernunft gebracht. Es bringt nichts, gegen den Strom zu schwimmen! Gegen mächtige Männer wie die Fabrikbesitzer werden Sie immer den Kürzeren ziehen. Meinen Sie, mir geht es anders? Wenn ich dem Oberarzt widerspreche, muss ich
meine Sachen packen. Die Männer haben das Sagen, Miss Lemlich, in Russland und hier!« »Nicht mehr lange, Schwester. Wenn alle Frauen auf die Straße gehen, können sie gar nichts machen.« Sie wartete, bis die Schwester sie vorsichtig nach vorn gebeugt und ihr Kissen zurechtgerückt hatte. »Sie kommen doch auch aus Russland, oder?« »Aus einem Dorf am Schwarzen Meer«, bestätigte die Schwester. »Und ich bin froh, dass wir nach Amerika gegangen sind. Hier brauchen wir keine Angst mehr vor den Männern des Zaren zu haben. Ich verdiene nicht viel, Miss Lemlich, aber ich werde einen guten Mann heiraten, und sind wir Frauen nicht dazu ausersehen, einem Mann den Haushalt zu führen und ihm Kinder zu schenken?« Clara Lemlich fühlte sich herausgefordert. »Auch, Schwester. Ich habe nichts gegen Frauen, die heiraten und ihr größtes Glück darin sehen, ein Kind großzuziehen. Vielleicht heirate ich ja selbst einmal. Aber das eine schließt das andere nicht aus. Wir können heiraten und arbeiten, so haben es in Russland viele Frauen getan. Und wenn ich arbeite, will ich anständig dafür bezahlt werden. Ich bin keine Puppe, mit der man machen kann, was man will!« »Sie sind eine Sozialistin, Miss Lemlich!« »Und? Ist das was Böses?« »Es ist unamerikanisch.« »Unsinn!«, konterte Clara Lemlich. »Alle Menschen sind gleich geboren. Wissen Sie, wo das steht? In der amerikanischen Verfassung! Ich klage nur meine verbrieften Rechte ein.« Nachdem die Schwester gegangen war, verabschiedeten sich auch Emma und Rose von ihr. Beide waren sichtlich beeindruckt von der resoluten Russin, die niemals klein beizugeben schien und auf jedes Argument eine Erwiderung
parat hatte. Sie versprachen ihr, sich bei der Gewerkschaft anzumelden und bei den Angestellten der Triangle Shirtwaist Company dafür zu werben. Doch schon zwei Tage später stand Clara Lemlich wieder selbst vor dem Hochhaus der Fabrik und schmetterte ihre Forderungen an die Fabrikbesitzer über die Straße. Zahlreiche Reporter hatten sich um sie geschart, und keiner der Schläger, die Max Blanck und Isaac Harris angeheuert hatten, ließ sich blicken. »In einer Woche feiert diese Stadt die Hudson-Fulton Celebration«, rief sie vor allem den Reportern zu, »ein Fest für den Fortschritt dieses großartigen Landes. Wir ehren Henry Hudson, den ersten Europäer, der vor über zwei Jahrhunderten durch die Gewässer von New York segelte, und wir lassen Robert Fulton hochleben, den großartigen Erfinder des Dampfschiffes. Mit Feuerwerken, Paraden, Konzerten, Vorträgen und Ausstellungen feiern wir den amerikanischen Fortschritt. Doch was für ein Fortschritt ist das, der eine Hälfte der Bevölkerung links liegen lässt? Haben wir Frauen denn nicht zu diesem Fortschritt beigetragen? Sind wir nur dazu da, um den Haushalt zu führen und Kinder zu bekommen?« Emma und Rose standen gleich hinter den Reportern und blickten in einer Mischung aus Furcht und Neugier zu der Rednerin empor. Clara Lemlich verstand ihr Handwerk, daran gab es keinen Zweifel. Sie übertrug die Leidenschaft, mit der sie ihre Thesen vertrat, allein mit ihrer wohlklingenden Stimme und ihren lebhaften Gesten auf das Publikum. Sie gab sich weiblich und männlich zugleich, einmal sanft und mitfühlend und dann wieder hart und entschlossen, und das energische Funkeln in ihren Augen, das streng nach hinten gekämmte Haar und die hochgeschlossene Bluse mit der Krawatte, die wohl ihr gewagtes Vordringen in die Männerwelt unterstreichen sollte, trugen wesentlich zu dem
großen Respekt bei, den die meisten Zuhörer ihr entgegenbrachten. »Sie ist eine tapfere Frau«, sagte Rose, »aber ich habe große Angst um sie. Solche Dinge hat noch nie eine Frau gesagt. Nicht vor so vielen Leuten. Das lassen sich die Bosse nicht gefallen!« Emma war längst von der Begeisterung der Russin angesteckt worden. »Wenn wir zusammenhalten, können wir es schaffen, Rose!«, meinte sie strahlend. »Wenn wir alle auf die Straße gehen!« Nach ihrer Rede und nachdem zahlreiche Mädchen versprochen hatten sich bei Local 25 anzumelden, blieb Clara Lemlich neben Emma stehen. »Wir treffen uns am nächsten Donnerstag in der Clinton Hall«, flüsterte sie ihr verstohlen zu. »Ich wollte das Treffen nicht an die große Glocke hängen. Sag allen Mädchen bei Triangle, dass sie kommen sollen, aber pass auf, dass die Vorarbeiterin und der Manager nichts merken. Ihr kommt doch, oder?« »Natürlich«, versprach Emma der Russin. Die Hudson-Fulton Celebration bedeutete eine willkommene Abwechslung für die Mädchen. Emma und Rose standen am Ufer des Hudson River, als eine internationale Flotte von Kriegsschiffen in seltener Eintracht über den Fluss fuhr, und säumten mit vielen tausend Menschen die Zweiundsiebzigste Straße, um die mehr als zehntausend Automobile zu bestaunen, die hupend nach Westen fuhren. Doch am eindrucksvollsten waren die Lichter. Bereits am frühen Abend erstrahlten New York und seine Vororte im Glanz unzähliger Lampen. Die Fifth Avenue wurde zu einer »Straße des Lichts«, die sich vom Central Park bis zum Washington Square zog, die Brooklyn Bridge hob sich funkelnd vom dunklen Wasser ab und Wolkenkratzer wie das Metropolitan Life Insurance Building verwandelten sich in die leuchtenden Türme eines
Märchenpalastes. Ein Feuerwerk ließ den Himmel erstrahlen und ließ selbst die Bewohner der Mietskasernen ihre Sorgen vergessen. Emma und Rose opferten einen Teil ihres Verdienstes für Popcorn und Eiscreme in essbaren Waffeltüten, einer neuen Erfindung, die auf großen Plakaten angepriesen wurde. Das Eis schmeckte herrlich. Und als sie nachts auf dem Dach saßen und über die leuchtende Stadt blickten, hatten sie zum ersten Mal das Gefühl, einen Schritt in eine neue Zukunft getan zu haben. »Was für ein glick«, sagte Rose. »Wenn mir das jemand vor einem Jahr erzählt hätte, ich hätte ihm nicht geglaubt.« Emma wollte ihrer Freundin nicht die friedliche Stimmung verderben und griff nach ihrer Hand. Doch insgeheim verglich sie die Worte der Festredner bereits mit dem, was Clara Lemlich gesagt hatte. »Der Erfindergeist und der Drang, neue Grenzen zu erkunden, sind die beiden Seiten der Münze, die wir in dieser feierlichen Stunde in die Waagschale werfen«, hatte ein Mann in Frack und Zylinder behauptet. Doch warum standen nur Männer auf dem Podium? Warum hielten sich die Frauen im Hintergrund, als hätten sie nichts mit diesem Fortschritt zu tun? Und warum begehrten die Armen aus den Mietskasernen nicht auf und protestierten gegen ein Land, das die Hälfte seiner Bewohner zugrunde gehen ließ? Ähnliche Worte fand auch Clara Lemlich bei der Versammlung in der Clinton Hall. Es waren weniger Mädchen gekommen, als sie gehofft hatte, und sie wies noch einmal nachdrücklich darauf hin, dass die Näherinnen in den fünfhundert Fabriken, die es in New York gab, auf schmähliche Weise ausgenutzt und benachteiligt wurden und dass es an der Zeit war, diesen Zustand zu ändern. »Und das ist nur durch einen Streik möglich! Geht für eure Rechte auf die Straße! Setzt euch für eine bessere Zukunft ein! Bekämpft das
Kapital, das die Arbeiterinnen wie Zitronen auspresst! Vierzigtausend Näherinnen arbeiten in dieser Stadt. Vierzigtausend! Könnt ihr euch vorstellen, welchen Eindruck es machen würde, wenn alle vierzigtausend auf die Straße gingen? Meint ihr nicht, dass wir stark genug sind, um die Bosse in die Knie zu zwingen?« Niemand bemerkte den hageren Mann, der neben dem Ausgang im Dunkeln stand und eilig verschwand, als Clara Lemlich ihre Rede beendete. Doch als am nächsten Morgen zum ersten Mal in der Geschichte der Triangle Shirtwaist Company die Arbeit unterbrochen wurde und sich die mächtigen Bosse persönlich im neunten Stock sehen ließen, ahnten die Mädchen natürlich, dass die Fabrikbesitzer einen Spion in die Clinton Hall geschickt hatten. Anna Gullo stand überrascht auf und schaltete den Strom ab. Das Rattern der Nähmaschinen verstummte. Angespannte Stille breitete sich im Raum aus. »Erhebt euch!«, befahl die Vorarbeiterin den Mädchen und stand selbst stramm, als Max Blanck und Isaac Harris neben den Tischen stehen blieben. Sie hielten es nicht für nötig, die Mädchen zu begrüßen und ihre gelangweilten Mienen machten deutlich, was sie von ihren Angestellten hielten. »Wir haben von dem Treffen gehört, das gestern Abend in der Clinton Hall stattfand«, sagte Max Blanck und rang dabei sichtlich um Beherrschung. Mit seinen schmalen Augen und der breiten Nase sah er wie ein Preisboxer aus der Bowery aus. »Wir sind Ihnen nicht böse. Ich schreibe es Ihrer Jugend und Ihrer Unerfahrenheit zu, den verlockenden Worten dieser Verführer erlegen zu sein. Glücklicherweise ist es noch nicht zu spät, diesen Irrpfad zu verlassen und auf den Pfad von Rechtschaffenheit und Tugend zurückzukehren.« Seine Rede klang, als hätte sein Anwalt, ein arroganter Bursche aus Brooklyn, sie geschrieben. »Ich darf Ihnen die erfreuliche
Mitteilung machen, dass wir heute Morgen eine firmeneigene Gewerkschaft gegründet haben, die sich Ihrer berechtigten Forderungen annehmen wird. Allerdings…«, und bei seinen letzten Worten verschwand auch die letzte vorgespielte Freundlichkeit aus seinen Augen, »müssen wir Ihnen untersagen, sich einer anderen Gewerkschaft anzuschließen. Wer sich diesem Verbot widersetzt, wird sofort gekündigt. Haben wir uns verstanden?« Emma konnte später nicht sagen, was in diesem Augenblick in sie gefahren war. Es war wohl der Bazillus, mit dem Clara Lemlich sie infiziert hatte. Ohne lange nachzudenken, stieg sie auf ihren Stuhl und erwiderte: »Nein, Mr Blanck! Wir haben uns nicht verstanden! Wie kann eine Gewerkschaft, die Sie gegründet haben, für unsere Rechte eintreten? Das kann nur eine Organisation wie Local 25. Wir fordern eine kürzere Arbeitszeit! Wir fordern mehr Lohn! Wir fordern eine menschenwürdige Behandlung! Solange diese Forderungen nicht erfüllt werden, gehen wir auf die Straße und streiken! Worauf warten wir noch, Mädchen?« Sie hatte Englisch gesprochen, das sie inzwischen gut beherrschte, und wiederholte die letzten Sätze noch einmal in einem Kauderwelsch aus Jiddisch und Deutsch. »Wir streiken, Mr Blanck! Mr Harris!« Ohne zu wissen, ob eines der Mädchen ihr folgen würde, ging sie zu ihrem Spind, holte ihren Hut heraus und stolzierte an den verdutzten Fabrikbesitzern vorbei zur Treppe neben dem Frachtaufzug. Dort blickte sie sich noch einmal um. Rose reagierte als Erste auf ihren flehenden Blick. »Wir streiken!«, wiederholte sie mutig, obwohl sie sich am liebsten unter dem Tisch verkrochen hätte. Damit war der Bann gebrochen. Ein großer Teil der Mädchen holte seine Sachen aus der Garderobe und folgte Emma und Rose ins Treppenhaus. Im Gänsemarsch stiegen sie ins
Erdgeschoss hinunter. Auf der Straße blieben sie stehen. »Und jetzt?«, fragte jemand. »Euch ist doch klar, dass sie uns kündigen werden.« »Wir streiken«, wiederholte Emma entschlossen. »Wir bleiben so lange auf der Straße, bis sie unsere Forderungen erfüllen. Wartet, bis ich mit Clara Lemlich gesprochen habe. Die weiß, was zu tun ist.« Sie sah den zweifelnden Blick von Rose und sagte: »Keine Angst, wir schaffen das! Wir haben schon ganz andere Sachen überlebt, oder?« Doch besonders zuversichtlich war sie nicht.
20
Zu den rhythmischen Schlägen einer Trommlerin zogen die streikenden Mädchen über den Washington Place. Local 25 hatte Transparente und Schilder für sie anfertigen lassen und ihnen Parolen wie »Mehr Lohn für harte Arbeit« eingehämmert. Die Sprechchöre hallten von den Häuserwänden wider und beeindruckten die vielen Schaulustigen, die das Spektakel der streikenden Mädchen aus der Nähe betrachten wollten. Fast alle Zeitungen hatten in reißerisch aufgemachten Berichten über die Näherinnen berichtet. Die Mädchen kümmerte es nicht, dass die Fabriktore geschlossen waren und die Triangle Shirtwaist Company auf Plakaten und in Anzeigen nach neuen Angestellten suchte. Seit der Versammlung in der Clinton Hall und Emmas mutigem Auftritt waren sie fest entschlossen den Streik durchzuhalten. »Habt keine Angst!«, ermutigte Emma ihre Kolleginnen. In Clara Lemlichs Abwesenheit hatte sie die Leitung des Streiks übernommen. »Solange uns so viele Leute zusehen, schicken sie bestimmt keine Schläger mehr.« Doch Emma unterschätzte die Fabrikbesitzer. Nur wenige Tage nach dem Treffen in der Clinton Hall antworteten sie mit einem Schachzug, der für schadenfrohes Gelächter bei den männlichen Angestellten und spöttische Berichte in den Zeitungen sorgte. Es war der 4. Oktober 1909. Frischer Herbstwind trieb Abfall und verfärbte Blätter aus dem Washington Square Park durch die Straßen. Emma trug einen neuen Mantel, den sie sich von ihrem ersparten Geld gekauft, und einen Wollschal, den Roses
Tante ihr zum Geburtstag gestrickt hatte. Die breite Schärpe mit der Aufschrift »Wir fordern kürzere Arbeitszeiten und gerechten Lohn!« war über ihren Oberkörper drapiert. Ihre Freundin Rose, ebenfalls in einem neuen Mantel und mit einer modischen Strickmütze, hielt ein Plakat mit der Forderung »Höhere Löhne – jetzt« in beiden Händen. Mit ihnen marschierten über fünfzig andere Mädchen, trotz des kühlen Windes und der Aussperrung bester Stimmung und fest entschlossen, so lange zu streiken, bis die Fabrikbesitzer ihre Forderungen erfüllten. Seit dem Überfall auf Clara Lemlich waren keine Schläger mehr erschienen und die Streikenden wiegten sich wegen der Schaulustigen und der Polizisten, die auf der anderen Straßenseite standen, in Sicherheit. Keines der Mädchen schien sich daran zu erinnern, dass die Polizisten tatenlos zugesehen hatten, als der Russin die Rippen gebrochen worden waren. »Ihr werdet sehen, der Streik dauert höchstens zwei Wochen«, behauptete Katinka, die junge Russin, die inzwischen einigermaßen Englisch sprach, »dann geben die Fabrikbesitzer nach! Wir leben jetzt in Amerika! Hier lässt man nicht zu, dass uns die Bosse ausbeuten. Dies ist ein freies Land.« Emma war skeptischer, hegte jedoch keinen Verdacht, als eine Gruppe von seltsam gekleideten Frauen aus der Greene Street bog. Sie trugen luftige Kleidung, die mehr Haut entblößte, als es bei diesem Wetter ratsam und in anständigen Kreisen schicklich war, und wedelten mit Federboas. Die Gesichter waren angemalt und stark gepudert. Sie bewegten sich so aufreizend, dass einige der Männer leuchtende Augen bekamen und die schaulustigen Damen entsetzt aufschrien. Eine der Frauen raffte ihr Kleid und ließ ihre Beine bis zu den Strumpfbändern sehen. »Leichte Mädchen!«, erschrak Rose. »Was wollen die hier?«
Auch Emma konnte sich keinen Reim auf die Prostituierten machen. Sie waren bestimmt nicht zufällig gekommen, das war sicher. Leichte Mädchen ließen sich nur nachts auf den Straßen blicken und blieben in den dunklen Hauseingängen abseits der Bowery. Eine Straßendirne, die sich am helllichten Tage im Fabrikenviertel sehen ließ, war entweder verrückt oder verfolgte eine bestimmte Absicht. »Die kommen wegen uns«, vermutete Emma. »Straßenmädchen?«, wunderte sich Rose. »Sag bloß, die haben uns die Bosse geschickt. Aber was wollen sie damit erreichen?« Emma glaubte es zu wissen. »Sie wollen uns in den Dreck ziehen! Die Leute sollen glauben, dass wir auf einer Stufe mit den leichten Mädchen stehen. Siehst du die Fotografen? Was meinst du, was morgen für Fotos in den Zeitungen sind?« Sie sah bereits die Schlagzeilen vor sich: »Streikende machen gemeinsame Sache mit leichten Mädchen.« Oder: »Prostituierte und streikende Mädchen haben ein gemeinsames Zuhause: die Straße!« Nicht auszudenken, wie sich solche Berichte auf den weiteren Verlauf des Streiks auswirken würden. Niemand würde sie mehr ernst nehmen und keine Firma würde ihnen mehr eine Stellung geben. Sie blieb stehen und blickte mit wachsendem Unbehagen auf die näher kommenden Prostituierten. Die leichten Mädchen kicherten, provozierten die Schaulustigen mit obszönen Gesten und riefen Schimpfwörter, die selbst den Männern die Schamesröte ins Gesicht trieben. Die Polizisten sahen grinsend zu, wie sie auf das Hochhaus der Triangle Shirtwaist Company zugingen. Als ein junger Beamter eingreifen wollte, hielt ihn ein älterer Polizist zurück. Er schüttelte den Kopf und sagte etwas, das Emma nicht verstand. »Die haben irgendeine Schweinerei vor«, erkannte Emma. Sie hielt Rose am Ärmel zurück und beobachtete eine der
Prostituierten, die einer der schaulustigen Damen den Hut vom Kopf riss und ihn sich kichernd auf die flammend roten Haare stülpte. »Die… die kenn ich doch«, rief sie, »das ist doch… Kitty!« Sie erkannte ihren Fehler gerade noch rechtzeitig und verstummte. Mit hochrotem Gesicht sagte sie nach einer Weile: »Ich dachte schon, ich würde eines der Mädchen vom Schiff kennen. Aber das ist unmöglich!« »In Amerika ist nichts unmöglich«, meinte Rose. Die leichten Mädchen blieben vor dem Eingang des Hochhauses stehen und deuteten kichernd auf die Plakate an der Doppeltür. Dort stand: »Näherinnen gesucht! Bitte im 10. Stock melden!« »He, das wär doch was für uns!«, rief eine der angemalten Frauen. »Was meint ihr? Sollen wir mal beim Manager vorbeischauen?« »Na klar«, antwortete eine andere und bedachte die streikenden Mädchen mit einem verächtlichen Blick. »Wenn dieses Gesindel nicht mehr arbeiten will, übernehmen wir eben den Job!« Das war zu viel für einige der streikenden Mädchen. Noch bevor Emma ihre Stimme erheben und rufen konnte: »Lasst euch nicht provozieren! Die wollen doch nur, dass wir auf sie losgehen!«, kam es zu einem Handgemenge zwischen einer Russin und einigen der Prostituierten. »Zurück!«, rief Emma. »Nicht prügeln!« Doch es war schon zu spät. Die leichten Mädchen schienen nur auf dieses Signal gewartet zu haben und stürzten sich johlend auf die Streikenden. Schreiend, fluchend, kratzend und beißend fielen sie über die verdutzten Mädchen her. Keine der Näherinnen hatte mit einem solchen Angriff gerechnet, auch Emma nicht, die plötzlich erkennen musste, was für eine heimtückische Absicht hinter dem Auftauchen der Prostituierten steckte. »Zurück! Zurück!«, schrie sie wieder.
»Die wollen doch nur, dass wir uns prügeln! Das haben die Bosse eingefädelt! Die wollen uns lächerlich machen! Lauft weg!« Einige der streikenden Mädchen befolgten ihren Rat und rannten davon. Der Großteil war jedoch in ein wüstes Handgemenge verwickelt und wehrte sich verzweifelt gegen den Angriff der Prostituierten. Es war ein ungleicher Kampf. Die leichten Mädchen waren den Näherinnen körperlich überlegen, schlugen brutal mit den Fäusten zu, traten ihnen mit ihren hochhackigen Schuhen gegen die Beine, spuckten ihnen ins Gesicht und zerrten sie an den Haaren über den Asphalt. Kitty tat sich besonders hervor, riss einem Mädchen das Plakat aus den Händen und schlug damit auf sie ein. Die verzweifelten Schreie der Opfer hallten durch die Häuserschlucht. Die Polizisten standen tatenlos dabei und lachten, machten nicht die geringsten Anstalten, die Schlägerei zu beenden. Ein roter Schuh flog durch die Luft und traf Rose an der Schläfe. Sie schrie schmerzerfüllt auf, griff sich an die blutende Wunde und geriet so in Wut, dass sie am liebsten nach dem Schuh gegriffen und ihn zurückgeworfen hätte, aber Emma zog sie rechtzeitig davon. »Weg hier!«, befahl sie. »Komm schon! Wenn wir uns auf einen Kampf einlassen, landen wir im Gefängnis!« Sie zerrte die fluchende Rose über die Straße und in den Washington Square Park und blieb erst stehen, als sie außer Sichtweite der Polizisten waren. Erschöpft ließen sie sich auf eine Parkbank fallen. »Eine Platzwunde«, stellte Emma besorgt fest, als sie die blutende Schläfe ihrer Freundin mit einem Taschentuch abtupfte. »Wir gehen besser ins Krankenhaus und lassen die Wunde nähen!« »Wenn ich die gemeine Kuh erwische!«, schimpfte Rose.
Emma überließ ihr das Taschentuch und brachte sie zu dem jüdischen Krankenhaus, in dem Clara Lemlich gewesen war. In der Notaufnahme trafen sie einige der anderen Mädchen. Sie sahen wie Männer aus, die sich betrunken in einer Bar geprügelt hatten. »Das war’s dann wohl«, seufzte die mutige Katinka, die zahlreiche Bisswunden und einen Kratzer am Hals abbekommen hatte. »Unsinn!«, erwiderte Emma entschlossen. »Oder wollt ihr euch von einer Horde leichter Mädchen verjagen lassen? Egal was morgen in der Zeitung steht, wir machen weiter! Clara wird schon was einfallen, wie wir gegen die Fabrikbesitzer gewinnen können!« Rose musste zwei Stunden warten, bis sich endlich ein Arzt ihrer erbarmte und die Wunde nähte. Als sie in den Warteraum zurückkehrte, sah sie Clara Lemlich bei den Mädchen stehen. Die Russin hatte von der Schlägerei gehört und war sofort gekommen. »So geht das nicht weiter«, entschied sie. »Solange wir nicht organisiert sind, erreichen wir gar nichts. Es muss endlich ein Generalstreik her, wenn wir die Bosse in die Knie zwingen wollen. Nur wenn alle vierzigtausend Näherinnen in den fünfhundert Fabriken, die es in New York gibt, auf die Straße gehen, werden wir siegen.« »Und wie willst du das anstellen?«, fragte Emma. »Lass mich nur machen«, antwortete die Russin. Aber es dauerte noch über sieben Wochen, bis endlich etwas geschah. Emma und Rose halfen inzwischen im Büro von Local 25, falteten Zeitungen, stapelten Handzettel und bekamen hautnah mit, wie Clara Lemlich sich verzweifelt darum bemühte, eine gemeinsame Linie in die Aktionen der einzelnen Gruppen zu bringen. Die Russin arbeitete bis zur Erschöpfung, war für jeden zu sprechen und hing alle paar
Minuten am Telefon, um andere Gewerkschaften wie die Women’s Trade Union League, die Vereinigte Yiddish Gewerkschaft und die mächtige American Federation of Labor auf ihre Seite zu bringen. Nur Mary Dreier von der Women’s Trade Union League hatte bisher zugesagt, die Local 25 bei ihrem Streik gegen die Fabriken der East Side zu unterstützen. »Manchmal glaube ich, wir haben mehr Gegner in den eigenen Reihen«, seufzte Clara Lemlich eines Abends, als sie mit Emma, Rose und Katinka bei russischem Tee und Keksen zusammensaß. »Wisst ihr, dass selbst die Women’s Trade von einem Mann gegründet wurde? Ehrlich, ein Millionär aus Kentucky hat sie eintragen lassen. Die Männer haben überall das Sagen und manche nehmen uns noch immer nicht ernst. Selbst einige unserer eigenen Mitglieder glauben, dass Frauen nur in die Küche gehören. Ich hab nichts gegen Männer, und wenn der Richtige kommt, werde ich sogar heiraten, aber das lasse ich mir nicht mehr lange gefallen. Alle Menschen sind gleich geboren, und solange man uns nicht die gleichen Rechte wie den Männern zubilligt, muss ich davon ausgehen, dass man uns nicht zu den Menschen rechnet.« Als für den 22. November ein großes Treffen aller Gewerkschaften in der Cooper Union Hall vereinbart und beschlossen wurde, um dort über einen möglichen Generalstreik zu diskutieren, sah Clara Lemlich ihre Stunde gekommen. Schon einige Tage vor dem Treffen wirkte die Russin ungewöhnlich nervös. Sie erwähnte mehrfach, wie wichtig die bevorstehende Versammlung für die Näherinnen der Lower East Side war. Auch Emma und Rose wurden von einer seltenen Unruhe ergriffen und schienen zu spüren, dass eine wichtige Entscheidung bevorstand. Nur Katinka gab sich unbeschwert und fröhlich und wesentlich selbstbewusster als einige Wochen zuvor in der Fabrik. Der Streik schien die junge Russin zu einem anderen Menschen gemacht haben. Selbst die
Verletzungen, die sie im Kampf gegen die Prostituierten erlitten hatte, hielten sie nicht davon ab, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Die Great Hall des Cooper Union Buildings war bis auf den letzten Platz gefüllt, als das entscheidende Treffen der Gewerkschaften begann. Emma, Rose, Katinka und Clara Lemlich saßen in einer der vordersten Reihen. Die riesige Halle, die über dreitausend Menschen fasste, war fensterlos und wurde von mächtigen Säulen getragen. Künstliches Licht brach sich zwischen den gewaltigen Steinbögen und zauberte Schatten auf die kahlen Wände. Die Zuhörer saßen dicht an dicht, drängten sich zwischen den Reihen, lehnten an der Wand und scharten sich um das Podium, das wie eine kleine Insel inmitten der Menschenmenge lag. Selbst in den angrenzenden Räumen waren Zuhörer. Die Mädchen fassten sich an den Händen, als Benjamin Feigenbaum das Podium betrat und um Ruhe bat. Als eine der führenden Persönlichkeiten von Local 25 hatte er die Moderation des Abends übernommen. Er begrüßte die Zuhörer und verlor sich in unverbindlichen Worten. Schon bei seinen ersten Worten war klar, dass er die Zeit für einen Generalstreik noch nicht gekommen sah. »Männer!«, flüsterte Clara Lemlich vorwurfsvoll. »Der Kerl ist feiger, als ich dachte. Wann spricht er denn über den verdammten Streik?« Meyer London, der bekannte Sozialistenführer, war schon eher nach dem Geschmack der Mädchen. Er entwarf das Bild einer Traumwelt, in der alle Menschen gleich waren und niemand den anderen übervorteilte. »Eines Tages«, so schloss er, »wird dieses Amerika zu dem Goldenen Medina, das wir uns alle erhofft haben.« Kein Wort von einem möglichen Generalstreik, nicht einmal die Andeutung, den Arbeitskampf der Näherinnen zu unterstützen.
Dann war Mary Dreier an der Reihe. Die angesehene Präsidentin der Women’s Trade Union League war für einige Stunden verhaftet worden, als sie die streikenden Mädchen vor der Triangle Shirtwaist Factory besucht hatte, und seitdem bei ihnen hoch angesehen. Ihr mutiger Besuch und ihre unrechtmäßige Verhaftung hatten den Kampf mit den Prostituierten aus den Schlagzeilen vertrieben und den Mädchen neue Hoffnung gegeben. In ihrer Rede bewunderte sie den Mut der Mädchen, aber auf ein eindeutiges Votum für einen Generalstreik ließ auch sie sich nicht ein. Sie nutzte die Gelegenheit und die Anwesenheit der Presse, um sich für das Wahlrecht der Frauen einzusetzen. In New York waren Frauen noch immer nicht zu Wahlen zugelassen. »Wenn wir den Streik gewonnen haben, kommt das Wahlrecht von selbst«, schimpfte Clara Lemlich leise. »Warum setzt sie sich nicht für den Generalstreik ein? Warum glaubt denn niemand an uns?« Nach beinahe zwei Stunden betrat Samuel Gompers das Rednerpult. Der Präsident der American Federation of Labor war der mächtigste Mann der amerikanischen Gewerkschaften und seine Rede wurde sehnsüchtig erwartet. Er war ein untersetzter Mann mit einem runden Gesicht, der es verstand, die Leute mitzureißen. Doch obwohl er den Kampf der Näherinnen für bessere Arbeitsbedingungen vehement unterstützte, schreckte auch er vor einem Generalstreik zurück. »Ich habe niemals einen Streik erklärt«, sagte er. »Ich habe meinen Teil dazu beigetragen, Streiks zu vermeiden. Doch manchmal bleibt uns keine andere Wahl, wenn wir die Ketten der Sklaverei abwerfen wollen. Dennoch, meine Freunde, sage ich: Streikt nicht zu schnell! Streikt erst, wenn die Fabrikbesitzer euch den
Lohn verweigern, der euch zusteht! Dann geht auf die Straße und lasst die Bosse wissen, dass ihr streikt!« Tosender Beifall belohnte die Rede des bekannten Gewerkschaftsführers. Nur Clara Lemlich regte keinen Finger. »Warum lässt er nicht über einen Generalstreik abstimmen?«, flüsterte sie. Stattdessen betrat der Moderator das Podium und sprach noch einmal in blumigen Worten über die Situation der Näherinnen. Als er einen weiteren Redner ankündigen wollte, hielt es Clara Lemlich nicht mehr aus. Sie sprang auf, arbeitete sich zum Podium vor und kletterte auf das Podest: »Ich möchte ein paar Worte sagen!« Der Moderator kannte Clara als eine der bestimmenden Figuren in den wilden Streiks und wagte nicht, ihr den Wunsch abzuschlagen. »Miss Clara Lemlich!«, kündigte er an. »Ich habe mir alle Reden angehört!«, wandte sich die Russin leidenschaftlich ans das Publikum. »Aber jetzt habe ich keine Geduld mehr für weitere Reden. Auch ich habe gearbeitet und gelitten. Ich habe das Gerede endgültig satt! Ich stimme für einen Generalstreik – jetzt!« Nach einem winzigen Augenblick der Stille brandete tosender Beifall auf. Alle Zuhörer sprangen von den Sitzen, warfen Hüte, schwenkten Taschentücher und klatschten begeistert. »So ist es recht, Clara!«, rief Emma in den Lärm, und Rose jubelte: »Azoy gait es! Azoy gait es! Wir wollen den Generalstreik! Streik! Streik!« Erst nach fünf Minuten wurde es ruhiger. Inzwischen hatte Benjamin Feigenbaum, der Moderator, sich mit den anderen Gewerkschaftsbossen beraten und kehrte verwirrt auf das Podium zurück. »Wer unterstützt dieses Anliegen?«, fragte er vorschriftsgemäß.
Wieder hallte der Raum vom begeisterten Beifall der Zuhörer wider. »Wir unterstützen das Anliegen!«, rief Emma in den Lärm. Benjamin Feigenbaum bat verzweifelt um Ruhe und sagte: »Die sich vor der Kälte und dem Hunger fürchten, sollten sich nicht schämen gegen den Streik zu stimmen. Aber diejenigen, die für diesen Generalstreik sind, sollten ihn bis zum Ende kämpfen.« Er hob feierlich die rechte Hand und rief: »Seid ihr für diesen Generalstreik? Seid ihr bereit, den alten jüdischen Eid dafür zu leisten?« Dreitausend Hände schnellten nach oben und die jüdischen Zuhörer antworteten im Chor: »Wenn ich zum Verräter an der Sache werde, für die ich hiermit stimme, möge diese Hand von dem Arm abfallen, den ich jetzt erhebe!« Emma lief der Russin entgegen, die mit zufriedener Miene vom Podium kletterte, und umarmte sie. »Ich bin stolz auf dich, Clara!«
21
Emma war stolz, zu den streikenden Mädchen zu gehören. Der unerschütterliche Kampfgeist der russischen Jüdinnen hatte sie angesteckt und in die vorderste Reihe gedrängt. Es war so, wie Clara Lemlich gesagt hatte. Sie waren dabei, die Ketten der Sklaverei abzustreifen und der Unterdrückung zu entfliehen. Sie überlegte, was wohl ihr Onkel und ihre Tante in der alten Heimat zum Aufstand der Näherinnen sagen würden, und musste lachen. Vor ein paar Monaten hätte sie sich nicht einmal vorstellen können gegen einen Erwachsenen zu rebellieren und jetzt marschierte sie mit einem Plakat durch die Straßen von New York und kämpfte gegen mächtige Fabrikbesitzer. Wie sehr hatte sich ihr Leben doch verändert, wie sehr unterschied sie sich von dem schüchternen Mädchen, das vor ihrem Onkel davongelaufen war. Sie hatte keine Angst mehr. Amerika war nicht das Gelobte Land, das sie in ihren Träumen gesehen hatte, aber sie war bereit dafür zu kämpfen, so wie die vielen anderen Mädchen, die nach der Versammlung auf die Straßen geströmt waren. Die Beteiligung an dem Streik überstieg alle Erwartungen. Vor den Büros, in denen man sich bei der Gewerkschaft anmelden konnte, bildeten sich lange Warteschlangen, und zwei Tage später waren bereits über zwanzigtausend Mädchen auf der Straße. Einen Tag darauf waren es dreißigtausend. Sie zogen lachend, singend, klatschend und Parolen rufend durch New York und schienen bei aller Fröhlichkeit fest entschlossen zu sein, so lange zu marschieren, bis die Fabrikbesitzer auf ihre Forderungen eingegangen waren.
Sie hatten die Stadt übernommen. Vor allen fünfhundert Fabriken bildeten sich dichte Trauben von streikenden Mädchen, auf dem Broadway, der Bowery und der Second Avenue staute sich der Verkehr und die Polizei hatte alle Hände voll zu tun, um für Ordnung zu sorgen. Emma spürte, wie frische Energie und Hoffnung ihren Körper durchströmten und ihr neue Kraft gaben. Rose schien es ähnlich zu gehen. Wie viele andere Mädchen, die dem Streik skeptisch gegenübergestanden und sich eher zögernd daran beteiligt hatten, wurde sie von der Begeisterung der anderen mitgerissen. Nicht einmal die Verletzung aus dem Kampf mit den Prostituierten konnte sie daran hindern, in vorderster Reihe mitzumarschieren. Noch erstaunlicher war die Wandlung von Katinka, die stumm und schüchtern gewirkt hatte und sich inzwischen so kämpferisch wie Clara Lemlich und die meisten Russinnen gab. Emma und Rose blieben meist zusammen. Sie wechselten sich mit einigen anderen Mädchen im Büro von Local 25 ab und verbrachten den Rest des Tages vor dem Hochhaus der Triangle Shirtwaist Company. Die Goldsteins waren wenig begeistert gewesen, als sie von dem Streik gehört und die genähte Wunde ihrer Nichte gesehen hatten, verboten Rose aber nicht, auf die Straße zu gehen. Das hatte Rose vor allem den begeisterten Schlagzeilen der New Yorker Zeitungen zu verdanken, die den Streik fast ausnahmslos unterstützten. Selbst die eher zurückhaltende New York Times stellte sich hinter die Mädchen. In der deutschen Staats erschienen die kämpferischen Berichte eines gewissen August Stark, der die Forderungen der Streikenden in wunderschöne Worte kleidete und auf eindrucksvolle Weise die Bedingungen schilderte, unter denen die Sweatshop Girls arbeiteten. Der Vorname des Reporters erinnerte Emma an den jungen Mann, mit dem sie nach Amerika gekommen war. Sie hatte ihn
nie vergessen, auch während der letzten Tage nicht, obwohl sie sich eingestehen musste, dass die Hoffnung, ihn jemals wieder zu sehen, sehr gering war. Es spielte keine Rolle mehr, ob er als »August der Starke« eine Schlägerbande anführte oder New York verlassen hatte und nach Westen gezogen war wie so viele andere Männer, die in der Stadt keine Arbeit fanden. Er war verschwunden. Er hatte nicht einmal nach ihr gesucht, und ihr Traum, zusammen mit ihm in die neue Zukunft zu gehen, war zerbrochen. Die ersten Tage des Streiks verliefen friedlich. Außer den Wortgefechten, die sich die Mädchen mit einigen Streikbrechern lieferten, passierte nichts. Die Fabrikbesitzer hatten vor allem schwarze Mädchen überredet, die leeren Plätze in den Nähstuben einzunehmen, und die Streikenden taten alles, um ihre Nachfolgerinnen zu überreden, ebenfalls die Fabrik zu verlassen. Die meisten folgten ihrem Beispiel. Als Emma eines Morgens sah, wie Max Blanck und Isaac Harris vor ihrem Fabrikgebäude aus ihrer Limousine stiegen und mit verkniffenen Gesichtern im Hochhaus verschwanden, zeigte sie mit dem Finger auf sie und rief: »Ihr werdet uns niemals in die Knie zwingen! Wir sind keine Sklavinnen mehr!« Im Dezember wendete sich das Blatt. Die ersten Winterstürme brausten durch die Häuserschluchten und eisige Kälte legte sich über die Stadt. Emma war froh, ihren neuen Mantel und den Schal zu haben, und bedauerte einige der anderen Mädchen, die sich in leichter Sommerkleidung auf die Straße wagten. Nicht alle hatten es so gut wie Emma und Rose, die von dem Onkel unterstützt wurden und immer genug zu essen hatten. Obwohl sie ihren Proviant mit anderen Mädchen teilten, wurden die Kälte, der Hunger und die vermehrt auftretenden Krankheiten zu einem ernsthaften Problem. Doch selbst die ärmsten Mädchen hielten durch und dachten nicht
daran, die Reihen der Streikenden zu verlassen, als hätten Kälte und Hunger sie nur noch entschlossener gemacht. Mit der Kälte wurden auch die Polizisten nervöser. Immer öfter schrien sie streikende Mädchen an oder schlugen mit ihren Knüppeln auf sie ein. »Daran ist nicht die Kälte schuld«, behauptete Clara Lemlich, »das haben die Bosse befohlen. Die Polizei ist bestechlich, das war sie schon immer, und Leute wie Max Blanck und Isaac Harris bezahlen sicher gut, um uns einzuschüchtern!« Wenige Tage vor Weihnachten erwischte es Emma. Sie stand vor dem Gebäude der Triangle Shirtwaist Company und hielt ihr Plakat hoch, als einer der Polizisten auf eines der jüngsten Mädchen losging. Sie kannte das Mädchen nicht, sah nur, dass es besonders arm und abgerissen aussah und viel zu ängstlich war, um sich gegen den Polizisten zur Wehr zu setzen. »Spuck gefälligst nicht auf den Bürgersteig!«, fuhr der Polizist das Mädchen an. »Sonst bekommst du das hier zu spüren!« Er zeigte ihr den Knüppel und grinste dabei so gemein, dass Emma sich nicht mehr beherrschen konnte und sich vor das weinende Mädchen stellte. »Lassen Sie das Mädchen in Ruhe!«, fuhr sie den Polizisten an. In ihrer Wut dachte sie nicht über die möglichen Folgen ihres Vorgehens nach. »Sie hat doch nichts getan! Sie hat nicht gespuckt!« Der Polizist schlug ihr das Plakat aus der Hand. »Was fällt dir ein, du Rotznase?«, schrie er. »Wie kommst du dazu, einen Polizisten zu beleidigen? Na, dir werde ich’s zeigen!« Er schlug ohne Vorwarnung mit dem Knüppel auf sie ein, erwischte sie an der linken Schulter und am linken Arm. Dann packte er sie am Kragen und schob sie zu dem bereitstehenden Lieferwagen. Mit einem Fußtritt zwang er sie, zu den anderen Gefangenen auf die Ladefläche zu steigen. Er schlug die Tür zu und rief: »Fahr los, Jack!«
Emma rieb sich die schmerzenden Stellen an ihrer Schulter und ihrem Arm und konnte von Glück sagen, dass ihr Mantel die Schläge wenigstens etwas abgemildert hatte. Sie blickte auf die anderen Näherinnen, die mit gesenkten Köpfen in dem schaukelnden Wagen saßen. Einige weinten. Ein hageres Mädchen, das nur mit einem Rock und einer Bluse bekleidet war, zitterte so sehr, dass Emma ihr einen Arm um die Schultern legte und sie fest an sich zog. Eine Italienerin stöhnte immer wieder: »Mamma mia!« »Habt keine Angst!«, tröstete Emma die Mädchen. »Länger als eine Nacht können sie uns nicht festhalten! Sie dürfen uns nichts tun! Morgen früh sind wir wieder auf der Straße und streiken.« »Ich will nicht ins Gefängnis«, sagte das frierende Mädchen. »Wir sind ja bei dir«, sagte Emma leise. Der Lieferwagen schaukelte über das Kopfsteinpflaster einer Nebenstraße und hielt so abrupt, dass die Mädchen sich aneinander festhalten mussten, um nicht durch den Wagen geschleudert zu werden. Die Hecktüren wurden aufgerissen. »Raus mit euch!«, forderte sie ein Polizist auf. »Durch die große Tür! Macht schon!« Unter dem schadenfrohen Gelächter der Polizisten kletterten die Mädchen aus dem Wagen. Wie eine Herde widerspenstiger Schafe wurden sie ins Polizeirevier getrieben. Sie landeten in einer großen Gemeinschaftszelle, zusammen mit einigen betrunkenen Prostituierten, die lallend in einer Ecke hockten. Helle Lampen hingen von der gewölbten Decke des großen Raumes und ließen keinen der Insassen zum Schlafen kommen. In der Zelle gegenüber saßen einige Männer und johlten begeistert, als sie die Mädchen sahen. »He, warum sperrt ihr die Süßen nicht zu uns?«, rief einer. »Wir würden ihnen schon beibringen, wozu Frauen da sind!«
Emma wandte sich angewidert ab und setzte sich zu dem weinenden Mädchen auf den Boden. Sie legte einen Arm um sie und versprach ihr, dass sich alles zum Guten wenden würde, obwohl sie selbst keine klare Vorstellung davon hatte, was sie erwartete. Die Mädchen, die man bisher verhaftet hatte, meist ohne einen triftigen Grund, beklagten sich vor allem über die gemeinen Polizisten und die Schmach, wie Verbrecher in einer Zelle aushalten zu müssen. Angeblich musste man mindestens zwei Tage warten, bis man dem Richter vorgefühlt wurde. Und dass man von Glück sagen konnte, wenn man mit einer niedrigen Geldstrafe davonkam. Die Pflichtverteidiger würden sich kaum für einen einsetzen. Emma und ihre Leidensgenossinnen hatten mehr Glück. Weil in dieser Nacht besonders viele Gefangene auf dem Revier landeten, wurden sie bereits am frühen Morgen dem Richter vorgeführt. Ein Lieferwagen brachte sie zum Gerichtsgebäude, das einige Straßen weiter lag und wenig imposant aussah. Vor dem Verhandlungsraum warteten sie zusammen mit Schlägern, Taschendieben, Ehebrechern, Prostituierten und einer wütenden Ehefrau, die ihren betrunkenen Ehemann mit heißer Suppe verbrüht hatte. Die Pflichtverteidiger stanken nach Schnaps und Zigarettenqualm. Der Richter, ein korpulenter Mann mit schütterem Haar, wirkte gelangweilt und hob nicht einmal den Kopf, als Emma ihm vorgeführt wurde. Er fragte nach dem Namen und ihrer Adresse und ließ sie den Eid nachsprechen: »… schwöre ich die Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit, so wahr mir Gott helfe.« Er blickte den hageren Staatsanwalt an. »Was liegt gegen die Angeklagte vor?« »Widerstand gegen die Staatsgewalt, Euer Ehren. Sie hat einen Polizisten beleidigt und ihn der Lüge bezichtigt. Der Polizist war gerade dabei, ein Mädchen zu verwarnen, das sich
ungebührlich benommen hatte. Sie hatte auf den Boden gespuckt, Euer Ehren.« »Das ist nicht wahr!«, sagte Emma, als sie an der Reihe war. »Das Mädchen hat nicht auf den Boden gespuckt und ich habe den Polizisten auch nicht beleidigt. Ich bin lediglich dazwischen, als er sie mit dem Knüppel schlagen wollte. Wenn Sie dort gewesen wären, Euer Ehren, hätten Sie genauso wie ich reagiert!« Der Richter konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Wahrscheinlich«, gab er mit einem vorwurfsvollen Blick auf den Staatsanwalt und die anwesenden Polizisten zu. »Freispruch!« Auch die anderen Mädchen kamen mit Freisprüchen oder geringen Geldstrafen davon, die Local 25 für sie bezahlte. »Du hast Glück gehabt«, sagte Rose erleichtert, als Emma zu den streikenden Mädchen zurückkehrte, »es gibt andere Richter, die sind nicht so milde. Zwei Russinnen haben sie ins Workhouse geschickt!« Das Workhouse, das auf einer kleinen Insel vor Manhattan lag, war vor allem bei jugendlichen Straftätern gefürchtet. Sie lebten dort in schmutzigen Zellen, bekamen schlechtes Essen und mussten von frühmorgens bis spätabends und manchmal auch nachts schwere Arbeiten verrichten. Doch als die Russinnen von ihrer dreitägigen Strafe zurückkehrten, winkten sie lächelnd ab und sagten: »Habt keine Angst vor dem Workhouse! Nirgendwo können die Zustände schlimmer sein als in der Fabrik, in der wir gearbeitet haben!« Mehrere Zeitungen griffen die Antwort begierig auf und druckten sie auf der ersten Seite. Bei den streikenden Mädchen tauchten neue Plakate auf: »Keine Angst vor dem Workhouse!« Im Januar wurde Emma erneut verhaftet. Diesmal war die verwöhnte Tochter eines Unternehmers an ihrer Festnahme schuld. »Schau dir die an!«, sagte sie zu Rose, als die junge
Lady sich vor die Streikenden stellte und ihren Begleiter bat sie zu fotografieren. Sie war höchstens fünfzehn, wie eine Dame gekleidet und trug einen breitkrempigen Hut mit einer weißen Blume. »Sieht man die streikenden Mädchen auch?«, fragte sie den Mann, der die Kamera aufgebaut hatte und durch den Sucher blickte. »Ich möchte, dass man sieht, wie arm sie gekleidet sind!« Emma glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. »Was soll das?«, fragte sie die junge Lady vorwurfsvoll. »Was haben Sie vor?« »Ich lasse eine Fotografie machen«, kam die bereitwillige Antwort. Das Mädchen schien sich der peinlichen Situation nicht bewusst zu sein und lächelte fröhlich. Ihre Zähne waren blendend weiß, das Gesicht blass, wie es der aktuellen Mode entsprach. »Ich möchte ein Andenken an den Streik haben, meine Liebe! Ich finde es einfach wundervoll, wie mutig Sie für Ihre Sache eintreten!« »Verschwinden Sie!« »Wie bitte?« »Sie sollen verschwinden!«, fuhr Emma sie an. »Wenn Sie uns helfen wollen, spenden Sie Geld oder was zu essen, und wenn Sie unbedingt ein Foto haben wollen, dann gehen Sie in ein Studio und halten Sie Ihr hübsches gepudertes Gesicht in die Kamera!« Die junge Lady errötete und begann zu weinen. »Officer! Officer!«, rief sie nach einem Polizisten. »Diese… diese Person hat mich beleidigt! Sie will, dass ich ihr Geld gebe und… und…« Sie zog ein weißes Taschentuch hervor und tupfte die Tränen aus ihren Augen. »So etwas muss ich mir nicht bieten lassen, Officer! Ich bin die Tochter eines angesehenen Kaufhausbesitzers in Brooklyn und lasse mich nicht von einer einfachen… Näherin beleidigen!« »Sie wollte sich fotografieren lassen!«, brauste Emma auf. Rose und einige der anderen Mädchen hatten sich um sie
geschart und pflichteten ihr lautstark bei. »Sie wollte uns zum Narren halten!« Der Polizist machte sich nicht die Mühe, sie weiter zu befragen. Er vertrieb die anderen Mädchen mit dem Schlagstock und packte Emma am Kragen. »Mitkommen!«, befahl er barsch. »Dir werde ich’s zeigen, angesehene Bürgerinnen zu beleidigen!« Er lachte grimmig. »Ein kleiner Urlaub auf Blackwell’s Island wird dir gut tun!« Auf Blackwell’s Island lag das gefürchtete Workhouse, und obwohl die Russinnen ihre Strafzeit in dem Arbeitslager verhöhnt hatten, hatte Emma große Angst, als sie mit einigen anderen Gefangenen auf die Fähre gebracht wurde. Diesmal hatte sie mit dem Richter weniger Glück gehabt und war zu drei Tagen Workhouse verurteilt worden. Niemand auf dem kleinen Schiff sprach ein Wort. Das Tuckern des Motors und das Kreischen einiger Möwen waren die einzigen Geräusche, die sie auf der kurzen Fahrt zur Insel begleiteten. An einem hölzernen Steg legte die Fähre an. Die Mädchen gingen an Land und blickten ängstlich zu dem mächtigen Haus aus Granitsteinen empor. Wie ein Koloss ragte es aus den Bäumen im Zentrum der Insel. »In Zweierreihen aufstellen!«, schrie eine Aufseherin die Neuankömmlinge an. »Und damit wir uns gleich richtig verstehen! Dies ist keine Ferieninsel! Ihr seid hier, um zu arbeiten, und wenn ich eine dabei erwische, wie sie lacht, hustet oder sonst was tut, was mir gegen den Strich geht, bekommt sie Dunkelhaft!« Wie in der Fabrik, dachte Emma. Sie fügte sich in ihr Schicksal und reihte sich ein, folgte der Aufseherin zum düsteren Workhouse. Innen war es kalt und ungemütlich. Riesige Hallen wechselten mit langen Fluren ab, in denen die Zellen der Gefangenen lagen. Es roch nach dem gleichen
Putzmittel wie in den Wartehallen von Ellis Island. Jedes Wort, das die Aufseherin sprach, hallte in den Gewölben nach. Emma musste ihre Kleidung abgeben, bekam ein gestreiftes Gefangenenkleid aus grobem Leinen, das auf der Haut kratzte, schwere Schuhe und wurde von einer anderen Aufseherin zu ihrer Zelle geführt. Die Frau öffnete die Tür und schob sie hinein. »In zehn Minuten antreten zum Mittagessen!«, hörte Emma. Dann knallte die Tür hinter ihr zu und sie war allein in der kleinen Zelle. Sie sank auf die hölzerne Pritsche, blickte angewidert auf das rostige Waschbecken und die schmutzige Toilette und unterdrückte mühsam die Tränen. Sie stützte den Kopf in die Hände und gab sich eine Weile ihrem Selbstmitleid hin. Dann riss sie sich zusammen. Sie ballte sie Hände zu Fäusten und sagte entschlossen: »Nein, ich lasse mich nicht unterkriegen! Ich bin über den Ozean gefahren, ich habe in einer schmutzigen Absteige gewohnt und ich war in einer Fabrik, wo die Angestellten wie Sklavinnen behandelt werden! Ich werde niemals aufgeben!« Doch wenn sie an die grimmigen Mienen der Aufseherinnen dachte, war sie sich nicht mehr so sicher. Wie zur Bestätigung wurde wenig später der Riegel ihrer Tür zur Seite geschoben und geöffnet und die Aufseherin rief mit barscher Stimme: »Mitkommen!«
22
In Zweierreihen folgten die gefangenen Mädchen den Aufseherinnen in den Speisesaal. Sie holten sich ihr Essen an der Ausgabe ab und setzten sich an die langen Holztische. Es gab fast jeden Tag das gleiche: dünne Maissuppe, etwas Fleisch, das schon fast verdorben war, und Kartoffeln, die nach gar nichts schmeckten. Und Emma empfand es fast als Hohn, dass man Gott in einem feierlichen Gebet für diese kostbaren Gaben danken und eines der Mädchen sogar eine Hymne singen musste. Meist traf es die jüngste Gefangene, eine Taschendiebin, die schon zum dritten Mal auf der Insel war und sich nicht darum scherte, was sie sang. Die halbstündige Mittagspause war die einzige Zeit, während der sich die Mädchen unterhalten durften und nicht bei jeder falschen Bewegung einen Schlag mit dem Rohrstock bekamen. »Hallo, Schwester«, hörte sie eine bekannte Stimme. »Bist du hier, um mich zu besuchen? Oder hast du schon genug vom anständigen Leben? Sag bloß, du machst bei diesem Streik mit?« Emma blickte auf und sah Charlie schräg gegenüber sitzen. In ihrem gestreiften Gefangenenkleid sah sie jünger und unschuldiger aus. »Charlie! Was machst du denn hier? Ich dachte, eine wie du lässt sich nicht fangen! Bei deinen Beziehungen zur Polizei!« »Damit ist es nicht mehr weit her«, winkte Charlie ab. »Kitty hat ‘ne Überdosis erwischt und ist vor ein paar Tagen gestorben.« »Kitty?«, erwiderte Emma entsetzt. »Aber ich hab sie doch neulich noch gesehen! Sie war bei den leichten Mädchen
dabei, die uns überfallen haben! Sie hat zu viel von dem Rauschgift genommen?« Charlie verschlang ihre Kartoffeln. »Ist nichts Besonderes. Seit es dieses neue Zeug gibt, dieses Kokain, passiert das alle paar Tage. Der Captain hat sicher schon eine andere gefunden.« »Das mit Kitty tut mir Leid«, sagte Emma. »Braucht es nicht, Schwester. Kitty wusste, worauf sie sich einließ. Pass lieber auf dich selber auf! Wenn ich mich nicht irre, haben die Cops euch auf dem Kieker. Was hast du getan?« Emma erzählte es ihr. »Das kommt davon, wenn man sich zu sehr um andere kümmert.« Sie deutete auf Emmas Teller. »Magst du keine Kartoffeln?« Sie schüttelte angewidert den Kopf. »Dann gib sie mir! Die sind immer noch besser als der Fraß, den es hier zum Abendessen gibt.« Sie zog den Teller zu sich herüber und machte sich über die Kartoffeln her. »Glaub mir«, sagte sie kauend, »morgen lässt du nichts mehr auf dem Teller liegen.« Nach dem Essen mussten die Mädchen erneut antreten. Die Aufseherinnen teilten die Arbeit ein und schickten Emma, Charlie und einige andere Gefangene in die große Eingangshalle. »Bis heute Abend ist der Boden blitzsauber!«, befahl die Aufseherin mit den grauen Augen. Sie reichte Emma einen Eimer mit Seifenlauge und eine Wurzelbürste. »Hast du schon mal geputzt, Mädchen?« Emma nickte stumm. »Wie heißt das?« »Ja, Ma’am!«, antwortete sie schnell. Unter den strengen Blicken der Aufseherinnen, die sich abwechselten und ständig mit ihren Rohrstöcken drohten,
begannen sie mit der Arbeit. Emma kroch auf den bloßen Knien über den harten Holzboden, stützte sich mit der linken Hand ab, tauchte die Bürste mit der rechten ins Wasser und schrubbte die Dielen. Die Arbeit war anstrengend und unbequem. Schon nach wenigen Minuten taten ihr der Rücken und die Knie weh und sie hätte die Bürste am liebsten weggeworfen. »Geht das nicht ein bisschen schneller?«, hörte sie die Stimme der Aufseherin. Der Rohrstock klatschte auf ihren Rücken und ließ sie aufschreien. »Es sieht so aus, als müsstest du heute Abend eine Stunde nachsitzen! Na los! Du sollst den Boden nicht streicheln, sondern ordentlich mit der Bürste bearbeiten!« Emma wechselte einen heimlichen Blick mit Charlie, die ihr durch ein Augenzwinkern zu verstehen gab, die Beschimpfungen der Aufseherin nicht zu ernst zu nehmen. Ein heftiger Hieb mit dem Rohrstock ließ Emma wieder auf ihre Arbeit blicken. Wütend zog sie die Bürste über den Boden. Nur die Angst, von der Aufseherin verprügelt oder in Dunkelhaft gesteckt zu werden, hielt sie davon ab, ihr die Bürste ins Gesicht zu werfen. Sie unterdrückte ihre Tränen, schon aus Angst, sich vor Charlie und den anderen Mädchen zu blamieren, und munterte sich mit den Worten auf, die Clara Lemlich auf einer Versammlung vor einigen Tagen gesprochen hatte: »Seht nach vorn! Nur Hummer und Skorpione gehen rückwärts! Denkt daran, was in der Bibel geschrieben steht. Lots Frau erstarrte zur Salzsäule, als sie zurückblickte. Behaltet unser großes Ziel im Auge, dann werdet ihr auch die Leiden dieses langen Streiks und des harten Winters ertragen!« Das große Ziel. Würden die Fabrikbesitzer jemals auf ihre Bedingungen eingehen? Würden sie kürzere Arbeitszeiten und höhere Löhne akzeptieren und die Gewerkschaft anerkennen? Und wie lange würde es dauern? Würden alle dreißigtausend
Mädchen den Winter durchstehen? Emma betrachtete es schon als Wunder, dass sie bis ins neue Jahr durchgehalten hatten. Das war vor allem den Jüdinnen zu verdanken, die sich weder durch die eisige Kälte noch durch herbe Rückschläge, wie die Parteinahme der Polizei für die Fabrikbesitzer, aus der Ruhe bringen ließen. Vielleicht war wirklich etwas dran an der Behauptung, dass Juden gern bereit seien, sich für ein erstrebenswertes Ziel aufzuopfern. Nach dem kargen Abendessen war Bettruhe und Emma sank erschöpft auf ihre harte Liege. Sie schlief sofort ein. Als die Aufseherin den Riegel zur Seite schob und sie mit lauter Stimme weckte, hatte sie das Gefühl, keine Stunde geschlafen zu haben. »Na, schmeckt’s?«, spottete Charlie, als sie den morgendlichen Haferbrei so gierig hinunterschlang, als handle es sich um einen leckeren Nachtisch. »Ich hab dir doch gesagt, dass der Hunger es reintreibt!« Sie grinste. »Warte erst mal, bis du drei Tage hier bist!« Auch am zweiten Tag wurde Emma zum Schrubben eingeteilt. Sie hätte lieber im Garten gearbeitet, dann wäre sie wenigstens an der frischen Luft gewesen. Der Seifengestank machte ihr schwer zu schaffen. Am meisten aber störte sie die Vorstellung, etwas vollkommen Sinnloses zu tun. Der Boden in der großen Eingangshalle war absolut sauber, wurde jeden Tag von morgens bis abends geschrubbt, und es ergab wenig Sinn, ihn täglich neu zu bearbeiten. Wenn das eine Methode war, um straffällige Jugendliche auf den Pfad der Tugend zurückzubringen, war mit dem amerikanischen Strafsystem nicht viel los. Eine bestechliche Polizei, die mit den Bossen gemeinsame Sache machte, willkürlich entscheidende Richter, betrunkene Pflichtanwälte und ein Workhouse, das aus dem Mittelalter zu stammen schien… konnte es sein, dass der Wilde Westen in New York noch lebendig war?
Unter den Mädchen, die mit Emma und Charlie schrubbten, war eine junge Näherin, die in einer anderen Fabrik gearbeitet hatte und unter einer schweren Erkältung litt. Sie schniefte und hustete und musste alle paar Minuten mit der Arbeit innehalten, um neue Kraft zu schöpfen. Schon nach ein paar Minuten weinte sie vor Erschöpfung. »Ich kann nicht mehr«, stöhnte sie. »Ich bin krank!« »Zum Streiken warst du auch munter genug!«, fuhr die Aufseherin sie an. »Oder muss ich dir erst den Rohrstock überziehen?« Emma hielt es wieder einmal nicht aus. Sie warf wütend ihre Bürste weg und sprang auf. »Sehen Sie denn nicht, dass sie krank ist?«, rief sie aufgebracht. »Sie kann nicht mehr! Sie ist erkältet!« »Was fällt dir ein?«, brüllte die Aufseherin sie an. »Wie kannst du es wagen, dich einzumischen? Ein Tag in Dunkelhaft wird dich lehren, über dein Benehmen nachzudenken! Mitkommen!« Sie warf einen raschen Blick auf Charlie, die den Mund verzog, als wollte sie sagen, ich hab dich gewarnt, und folgte der Aufseherin in den Keller des Gebäudes. Die Zelle für die Dunkelhaft bestand aus einem dunklen Loch im nackten Fels. Aus dem harten Sandboden ragte ein dicker Holzpfahl mit einem Eisenring, an den ihre gefesselten Hände mit einer stabilen Kette geschlossen wurden. »Was zu essen und zu trinken gibt’s erst wieder morgen früh«, verkündete die Aufseherin. »Und spar dir dein Schreien und dein Fluchen! Sobald ich die Eisentür verriegelt habe, hört dich kein Mensch!« Die Tür flog ins Schloss und sie hörte, wie der schwere Riegel vorgeschoben wurde. Vollkommene Dunkelheit umfing sie. Es war so finster, dass sie nicht mal ihre eigenen Hände sah. Durch einen Spalt in den Granitwänden drang feuchte
Luft. Sie stemmte sich mit den Füßen in eine sitzende Stellung und lehnte sich an den Pfahl. Sie wusste, dass es vollkommen sinnlos war, an den Ketten zu rütteln, denn selbst wenn es ihr durch ein Wunder gelingen sollte, sich zu befreien, war sie immer noch in der Zelle gefangen. Ein leises Scharren drang an ihre Ohren. Sie blickte in die Richtung, aus der das Geräusch kam, und spürte plötzlich eine Berührung an ihren Füßen. Ratten! Sie schrie in panischer Angst auf, strampelte wie verrückt mit den Beinen, bis die Ratten das Weite suchten und sich in ihre Ecke zurückzogen. Das Spiel wiederholte sich alle paar Minuten. Während des ganzen Tages und der ganzen Nacht tat sie kein Auge zu. Als sich die Tür endlich öffnete, hatte sie beinahe den Verstand verloren. Sie durfte sich waschen, bekam ein neues Kleid und empfand es schon als Belohnung, mit den anderen Mädchen zum Frühstück gehen zu dürfen. »Scheißspiel, was?«, meinte Charlie grinsend. »Halte das nächste Mal lieber deine Klappe, sonst musst du zwei Tage in den Bau!« Auch am letzten Tag ihrer Gefangenschaft musste sie wieder die große Halle schrubben, aber nach der Leidenszeit in Dunkelhaft kam ihr die Arbeit wie eine Erholung vor, und die Genugtuung, die Einzelhaft unbeschadet überstanden zu haben, gab ihr zusätzliche Kraft. Als sie am nächsten Morgen entlassen wurde und sich von Charlie verabschiedete, konnte sie schon wieder lachen. »Das nächste Mal treffen wir uns hoffentlich woanders!« »Darauf kannst du Gift nehmen!«, versprach Charlie, die zwei Wochen absitzen musste. »Hast du August schon gefunden?« »Nein«, seufzte Emma, »und ich hab wenig Hoffnung, dass ich ihn jemals wieder finde. Ich muss wohl ohne ihn auskommen.«
»Die Bowery Boys gibt’s nicht mehr. Ich hab nie rausgefunden, wer dieser August der Starke wirklich ist, aber besonders lange hat er’s in der Unterwelt nicht ausgehalten. Man erzählt sich, dass er nach Westen gegangen ist. Nun ja, was interessiert’s dich?« »Mach’s gut, Charlie! Bis bald!« »Bis bald, Emma.« Emma war froh, als sie endlich wieder ihre eigenen Kleider anhatte und mit der Fähre nach Manhattan zurückfahren durfte. Während der ganzen Fahrt stand sie an der Reling und genoss den frischen Seewind. Sie hatte einen selten schönen Wintertag für ihre Entlassung erwischt, der Himmel war wolkenlos, die Sonne schien und spiegelte sich in den sanften Wellen des Meeres. Am Ufer erlebte sie eine Überraschung. Clara Lemlich, Rose, Katinka und einige andere Mädchen erwarteten sie und ließen sie kräftig hochleben, feierten ihre Entlassung wie einen Sieg. Emma dankte ihnen und blickte staunend auf die vielen offenen Automobile, die am Straßenrand geparkt waren. In den Wagen warteten elegant gekleidete Frauen mit Schildern und Transparenten. »Was ist denn hier los?«, fragte sie verwundert. »Sagt bloß, das ist die… « »… Automobilparade«, ergänzte Clara Lemlich den Satz. Einige der reichsten Frauen dieser Stadt mit ihren Chauffeuren. »Und das ist noch nicht alles, Emma!« Sie wartete, bis eine der vornehmen Damen zu ihnen gekommen war, und stellte vor: »Emma Mahler. Sie kommt gerade von Blackwell’s Island zurück. Anne Morgan, die Tochter des renommierten Bankiers John Piermont Morgan.« »Es ist mir eine große Ehre, Mrs Morgan«, sagte Emma. »Nennen Sie mich Anne«, erwiderte die Millionärstochter mit ihrer heiseren Stimme. Der Duft von türkischem Tabak umgab die freundliche Frau mit dem extravaganten Hut. »Ich
bin schließlich nicht dafür verantwortlich, dass mein Vater so reich ist. Fahren Sie bei mir mit?« Emma stieg zu Anne Morgan in die offene Limousine und lehnte sich auf der roten Lederbank zurück. Sie kam sich wie eine Prinzessin vor, als die Parade langsam anrollte und sie quer durch die Stadt auf die Fifth Avenue fuhren. Vorbei an den vielen tausend Schaulustigen, die überall die breite Straße säumten, ging es nach Uptown, in ein New York, das Emma bisher nur vom Hörensagen gekannt hatte. Mehrstöckige Kaufhäuser und Hotels, Läden mit mehrteiligen Schaufenstern und erlesene Restaurants, das beinahe fertig gestellte Gebäude der New York Library und die St. Patrick’s Church, von der die italienischen Näherinnen immer so geschwärmt hatten, säumten ihren Weg. Emma kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, vergaß sogar, das Plakat mit der Aufschrift »Höhere Löhne, weniger Arbeit«, das im Wagen gelegen hatte, in die Höhe zu halten. Wie groß war doch der Unterschied zwischen den dunklen Mietskasernen auf der Lower East Side und diesen Prachtbauten an der Fifth Avenue, und was für ein erhebendes Gefühl war es, nach drei Tagen im Workhouse durch diese Gegend zu fahren. Hier lag also das New York versteckt, das sie auf den Bildpostkarten des Apothekers gesehen hatte. Vor dem Colony Club, einem der vornehmsten Damenclubs von New York, hielten sie an. Ein uniformierter Diener sprang herbei und öffnete die Wagentür. »Schön, Sie wieder zu sehen, Ma’am!« Erst als sie den Versammlungsraum des Colony Clubs betraten und Emma verwundert auf die festlich geschmückten Tische blickte, verriet ihr Anne Morgan, welche Überraschung auf sie wartete: »Du wirst eine Rede halten, Emma! Keine Angst, du sollst nur ein paar Sätze sagen. Über deinen Aufenthalt auf Blackwell’s Island. Auch deine Freundinnen
werden sprechen. An diesen Tischen werden über hundert der reichsten Frauen der Ostküste sitzen, und ich möchte, dass sie möglichst viel Geld spenden. Ihr braucht das Geld für den Streik, wenn ihr mit unbarmherzigen Männern wie Max Blanck und Isaac Harris fertig werden wollt.« Emma war überwältigt. Auf der Bühne am Kopfende des Raumes spielte ein kleines Orchester dezente Musik, überall auf den Tischen standen Blumen, und das teure Porzellan und das Tafelsilber gehörten zum Erlesensten, was sie jemals gesehen hatte. Noch beeindruckter war sie allerdings von den Kleidern, Pelzen und dem Schmuck der Millionärsgattinen, die aus der Garderobe in den Raum strömten und von Dienern zu ihrem Platz geführt wurden. Clara Lemlich, Emma, Rose und Katinka saßen zusammen mit Anne Morgan, der Gastgeberin, und Mary Dreier, der Präsidentin der Women’s Trade Union League, am Rednertisch. Nachdem Anne Morgan ihre Gäste mit einer kurzen Ansprache begrüßt hatte, bat sie Mary Dreier einige Worte zu sagen. »Dieser Streik hat den Mädchen, die bisher keine Namen hatten, einen Namen gegeben«, sagte sie. »Jetzt ist ihr Streik in die entscheidende Phase getreten und es geht nur noch darum, wer gewinnt: die Fabrikbesitzer mit viel Geld oder die Mädchen ohne Geld!« Clara Lemlich gab sich wie immer kämpferisch: »Ich könnte Ihnen sagen, meine Damen, wie man von fünfzehn Dollar in der Woche lebt, denn ich hatte einen besseren Job als alle diese Mädchen, aber ich habe kein Recht zu sprechen, solange es Näherinnen gibt, die mit drei Dollar pro Woche auskommen müssen.« Nachdem auch Rose und Katinka einige Worte gesagt hatten, wurde Emma an das Rednerpult gebeten. Sie sagte: »Ich bin vor zwei Stunden aus dem Workhouse zurückgekehrt. Ich war drei Tage dort, weil ich einem reichen Mädchen verbieten
wollte, sich über uns lustig zu machen. Ich weiß, dass Sie anders denken, sonst wären Sie nicht hier. Es war schlimm im Workhouse. Ich musste einen Tag und eine Nacht in Dunkelhaft verbringen. Ich war mit Ketten an einen Pfahl gebunden und die ganze Zeit musste ich mich mit beiden Füßen gegen die vielen Ratten wehren. Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben.« Ihrer Ansprache folgte betroffene Stille, dann entschlossen sich die ersten Damen, beträchtliche Summen zu spenden, und als endlich erlesene Sandwiches, Kuchen und Tee serviert wurden, hatte Anne Morgan so viel Geld gesammelt, dass sich die Gewerkschaften keine Sorgen mehr über die Dauer des Streiks zu machen brauchten. »Reiche Frauen geben den Streikenden neue Hoffnung«, würde am nächsten Tag in der New York Times stehen, und die Post würde berichten: »Miss Morgan und andere reiche Frauen unterstützen die Shirtwaist Girls in ihrem Anliegen.« Anne Morgan verabschiedete sich von den Mädchen und trug ihrem Chauffeur auf, sie mit der Limousine nach Hause zu fahren. Sie gingen über den roten Teppich nach draußen und kamen gerade rechtzeitig, um einen jungen Mann und eine junge Frau in ein Taxi steigen zu sehen. »August!«, rief Emma entsetzt. »Das ist August! Der Mann, der gerade ins Taxi gestiegen ist! Mit der Frau!« »Bist du sicher?«, fragte Rose. »Ganz sicher«, antwortete Emma. Sie rannte auf die Straße, rief dem Taxi hinterher und versuchte es durch aufgeregtes Winken aufzuhalten, aber der Wagen war schon zu weit entfernt. Anscheinend hatte August es eilig, mit seiner blonden Freundin davonzufahren. Als sie zu der Limousine zurückkehrte, fragte der Chauffeur: »Das war August Stark von der New Yorker Staatszeitung. Ein
guter Reporter. Kennen Sie ihn? Er schreibt viel über den Streik.« »August Stark?«, wunderte sie sich. Auf einmal wurde ihr so manches klar.
23
An diesem Abend wollte Emma allein sein. Sie stieg mit einer Wolldecke aufs Dach, lehnte sich gegen den warmen Kamin und blickte zum sternenübersäten Himmel empor. Der eisige Wind, der über das Dach fegte und die aufgehängte Wäsche flattern ließ, schien ihr nichts auszumachen. Wie ein Häufchen Elend saß sie auf dem Boden, die Decke bis über den Kopf gezogen und die Augen entzündet vom vielen Weinen. Jetzt kamen keine Tränen mehr. Sie hatte sich damit abgefunden, so glaubte sie jedenfalls, dass August niemals zu ihr zurückkehren würde. Er wollte nichts mehr von ihr wissen, denn sonst wäre er ja auf sie zugegangen. Wenn er bei den Reportern auf der anderen Seite des Saales gewesen war, musste er sie erkannt haben. Stattdessen hatte er sich mit seiner neuen Freundin wie ein Dieb aus dem Staub gemacht. »Warum mache ich mir überhaupt Gedanken über den verdammten Kerl!«, sagte sie laut. »Er hat mich nie geliebt und verdient es nicht, dass ich ihm auch nur eine Träne nachweine!« Natürlich geriet sie während der nächsten Tage mehrmals in Versuchung, zum Büro der New Yorker Staatszeitung zu laufen und nach ihm zu fragen, doch wenn sie sich vorstellte, wie eine solche Begegnung ablaufen würde, verwarf sie den Gedanken gleich wieder. In diese Verlegenheit wollte sie weder ihn noch sich selbst bringen. Und die Genugtuung in den Augen seiner hübschen Freundin zu sehen, wollte sie sich auf jeden Fall ersparen. Auch um August zu vergessen, stürzte sie sich mit neuem Eifer in die Arbeit. Sie schuftete beinahe so lange wie Clara
Lemlich, die jeden zweiten Tag im Büro von Local 25 übernachtete, nahm mit wechselnden Plakaten an den Streiks teil und war bei jeder Versammlung dabei. Lange durfte der Streik nicht mehr dauern. Der Winter war sehr kalt, viele Mädchen verloren die Geduld oder litten so großen Hunger, dass sie gezwungen waren, wieder eine Stellung anzunehmen, und bei den Versammlungen wurde immer deutlicher, dass die wohlhabenden Frauen eine andere politische Linie als Sozialistinnen wie Clara Lemlich verfolgten. Ihnen war vor allem daran gelegen, das Wahlrecht für Frauen durchzusetzen, während junge Frauen wie Clara Lemlich von einer idealen Welt träumten, in der Frauen sich auch beruflich verwirklichen konnten. Während die Front der Streikenden zerbröckelte und sich die Mehrzahl der Firmen auf höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten einließ, wollte Clara Lemlich einen vollkommenen Sieg: Die großen Firmen sollten die Gewerkschaften als einzigen Verhandlungspartner anerkennen und allgemein gültige Verträge akzeptieren. »Ich denke an die Zukunft«, sagte sie. »Ich denke an die Mädchen, die in zehn oder zwanzig Jahren nach Amerika kommen.« Doch schon bald wurde klar, dass dieses Ziel nicht zu erreichen war. »Besser ein halber Sieg als gar keiner«, behauptete Emma. Und Rose stimmte zu: »Wir haben viel erreicht.« Im Februar endete der Streik. Es gab keine große Versammlung und keine Siegesfeier, dazu hatten beide Seiten zu viele Wunden davongetragen. Der lange Winter und die Zeit ohne Arbeit hatten die meisten Mädchen bis an den Rand der Erschöpfung und der Armut getrieben. Sie waren froh, endlich wieder arbeiten zu können. Die Fabrikbesitzer brauchten dringend erfahrene Näherinnen und stellten auch die Angestellten, die sie vor ein paar Monaten gefeuert hatten, wieder ein. Selbst die Triangle Shirtwaist Company beugte
sich den neuen Abmachungen. »Fünfzehn Dollar die Woche und freies Mittagessen«, versicherte Samuel Bernstein, als Emma einen neuen Arbeitsvertrag unterschrieb. »Überstunden werden extra vergütet. Nähmaschine, Nähgarn und Nadeln stellen wir, und für den Spind wird auch keine Miete mehr erhoben.« Man sah dem Production Manager an, dass ihm diese Zusicherungen nicht leicht fielen. »Während der Mittagspause darf getanzt werden. Ich hoffe, Sie sind mit diesen Abmachungen zufrieden, Miss.« »Natürlich, Sir. Sehr sogar.« »Wir haben nichts dagegen, dass Sie Mitglied einer Gewerkschaft sind«, fügte Samuel Bernstein hinzu, »genauso wenig, wie wir Angestellte wegen ihrer Herkunft oder ihres Glaubens diskriminieren. Aber ich sage Ihnen auch ganz ehrlich, dass wir unabhängige und freiheitsliebende Angestellte bevorzugen. Denken Sie darüber nach, Miss.« Er lächelte. »Sie schätzen doch die Freiheit?« »Ich schätze ein Land, in dem alle Menschen gleich behandelt werden, Mr Bernstein«, erwiderte Emma. »In Europa war das nicht der Fall, und auch in Amerika wird es noch einige Zeit dauern, bis man die Statue der Freiheit ansehen kann ohne rot zu werden.« Der Streik hatte Emma selbstbewusster gemacht, und nachdem sie den ersten Schmerz über den Verlust von August überwunden hatte, kehrte ihre alte Stärke zurück. Auch Rose und Katinka fanden in ein geregeltes Leben zurück. »In Russland würde man niemals auf ein jüdisches Mädchen hören«, sagte Katinka. »Hier in Amerika hat man das getan. Ich fühle mich wie neugeboren.« Doch bis sich die Gleichberechtigung auf allen Ebenen durchsetzte, würde es auch in Amerika noch einige Jahre dauern. Besonders in großen Konzernen wie der Triangle Shirtwaist Company. Denn obwohl sich nach dem Streik vieles
gebessert hatte, gab es noch Ungerechtigkeiten. Männer erhielten für die gleiche Arbeit mehr Lohn als Frauen. Nach Feierabend wurden alle Näherinnen durchsucht und die Notausgänge blieben verschlossen, weil die Fabrikbesitzer ihre Angestellten verdächtigten, Stoffteile, Nähgarn und Nadeln zu stehlen. An der Uhr wurde immer noch gedreht, vor allem während der Mittagspause und vor Feierabend. Doch die meisten Mädchen waren so glücklich, weniger arbeiten zu müssen und mehr verdienen zu können, dass ihnen diese Dinge kaum noch auffielen. Selbst Anna Gullo, die Vorarbeiterin, gab sich nach dem Streik wesentlich versöhnlicher. Rose war lediglich unglücklich darüber, in der Ausübung ihrer Religion behindert zu sein. Am Sabbat arbeiten zu müssen bedeutete für sie eine Qual. »Wenn mein Vater wüsste, dass ich am Sabbat in einer Fabrik arbeite, würde er tot umfallen«, sagte sie. Deshalb wunderte es Emma auch nicht, als Rose am Morgen des 25. März 1911 sagte: »Heute bleibe ich zu Hause, Emma. Sag dem Manager, dass ich krank bin. Heute hat mein Tatteh Geburtstag, und ich bringe es einfach nicht übers Herz, an diesem besonderen Sabbat zu arbeiten. Du verstehst mich doch, Emma?« »Sie werden dir schon nicht den Kopf abreißen«, erwiderte Emma, während sie gähnend aus dem Bett stieg. Sie blickte in den Regen hinaus. »Ich würde heute auch lieber zu Hause bleiben.« Später würde sich Emma noch oft an diesen Satz erinnern. Doch auf dem Weg zur Fabrik war alles wie immer und niemand konnte die dramatischen Ereignisse ahnen, die eine ganze Stadt in Angst und Schrecken versetzen würden. Nur der leichte Nieselregen trübte Emmas Laune. Sie grüßte den freundlichen Gemüsehändler, der ihr jedes Mal, wenn sie an
seinem Laden vorbeikam, ein freundliches »Guten Morgen, Miss!« zurief, lächelte einigen Zeitungsjungen zu, die eine Morgenausgabe anpriesen, und ging einem Mann aus dem Weg, der Kohle in einen Keller schaufelte. In der Fabrik fuhr sie mit einigen anderen Mädchen im Frachtaufzug in den neunten Stock und vor der Stechuhr stand sie geduldig an, bis sie an der Reihe war. Sie umarmte Katinka, flüsterte ihr zu, warum Rose zu Hause geblieben war, und überbrachte der Vorarbeiterin die Entschuldigung ihrer Freundin. Pünktlich um sieben Uhr dreißig saß sie an ihrer Maschine, und als die Klingel schrillte und der Strom floss, erledigte sie ihre Arbeit mit einer solchen Routine, dass einige der neuen Arbeiterinnen neidisch zu ihr herüberschielten. Sie arbeitete schon so lange bei der Triangle Shirtwaist Company, dass sie kaum noch hinsehen musste, wenn sie die Stoffteile unter die Maschine schob und zusammennähte. Während der Mittagspause unterhielt sie sich mit Katinka und erfuhr, dass ihre russische Freundin einen jungen Mann kennen gelernt hatte. Er stammte aus einem Dorf an der Schwarzmeerküste und arbeitete im Restaurant seiner Verwandten. »Sobald wir genug Geld gespart haben, wollen wir ein eigenes Restaurant eröffnen. Du kommst doch mal zu uns essen, wenn es so weit ist?« Emma versprach es und dachte während der Arbeit darüber nach, wann sie sich wieder verlieben würde. Sie war jetzt beinahe neunzehn, in einem Alter, in dem viele Frauen bereits verheiratet waren und Kinder hatten, aber noch war sie nicht bereit dazu. Die Erinnerung an August war zu stark und sie spürte immer noch dieses seltsame Kribbeln im Bauch, das ihr während der Überfahrt so gefallen hatte. Jetzt stimmte es sie wehmütig und sie konnte sich nicht einmal auf den Feierabend freuen.
Anna Gullo war bereits dabei, die Umschläge mit dem Wochenlohn zu verteilen. Pünktlich um sechzehn Uhr fünfundvierzig drückte sie den Klingelknopf neben den beiden Frachtaufzügen. Dann geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Ethel Monick, eine junge Angestellte, war wie immer als Erste an den Frachtaufzügen und sah Rauch aus den Türen quellen. Anna Gullo öffnete die Tür zum Treppenhaus, sah Flammen im achten Stock und schrie: »Feuer! Feuer!« Nur den Bruchteil einer Sekunde später explodierten die Fenster zum Luftschacht auf der anderen Seite und mächtige Flammen sprangen in den Fabrikraum und züngelten bis zur Decke empor. Emma stand bereits in der langen Reihe von Mädchen vor der Stechuhr und wurde von der Wucht der Flammen zu Boden geworfen. Ein Hitzeschwall brachte ihr Gesicht zum Glühen. Sie lag gekrümmt auf dem Boden, merkte gar nicht, wie sie weinte und schrie, und schreckte erst aus ihrer Panik hoch, als sie das Gewicht mehrerer Mädchen auf ihrem Rücken spürte. Sie stemmte sich vom Boden hoch, krallte ihre Hände um die Kante eines Arbeitstisches und zog sich nach oben. Ihr Rücken schmerzte von den Tritten. Für einen Augenblick war sie zu keiner Bewegung fähig. Im Fabrikraum herrschte totales Chaos. Ein Teil der Mädchen drängte zu den Personalaufzügen und der Tür, die zum Treppenhaus auf den Washington Place führte, die anderen wollten zu den Frachtaufzügen und der Treppe auf der GreeneStreet-Seite. Sie schrien und weinten und stießen sich in ihrer Panik gegenseitig zu Boden. Emma erwachte aus ihrer Lethargie, bekämpfte den Schock, der sie wie gebannt auf die Feuerwand starren ließ. Die ersten Flammen griffen bereits auf die Körbe mit den Stoffteilen und die geölten Nähmaschinen über. Es war unerträglich heiß. »Katinka!«, rief sie. »Katinka! Wo bist du?«
In dem panischen Geschrei der Mädchen hörte sie nicht einmal ihre eigene Stimme. Vergeblich suchte sie nach ihrer Freundin, die nirgendwo zu sehen war. Dann prallte eines der Mädchen gegen sie und Emma wurde von dem Strom der Flüchtenden mitgerissen. Ihr Ziel waren die Personenaufzüge. Vor den Türen hatte sich eine dichte Menschentraube gebildet, und als die Aufzüge endlich kamen und die Türen aufgingen, drängten so viele Mädchen hinein, dass sie beinahe unter der Last zusammenbrachen. Einige Mädchen weinten hysterisch, als die Türen zugingen und die Aufzüge nach unten fuhren. »Zur Treppe! Macht die Tür auf!«, rief jemand. Emma sah, wie jemand an der Tür rüttelte und verzweifelt schrie: »Sie ist verschlossen! Ich krieg sie nicht auf!« Ihr fiel ein, dass die Fabrikbesitzer einen Teil der Notausgänge verriegelt hatten, damit niemand etwas stahl und durch die Hintertür entwischen konnte. Einige Mädchen versuchten es mit vereinten Kräften, aber die Tür war zu schwer und nicht einmal zehn erwachsene Männer hätten sie mit bloßen Händen öffnen können. Wütend hämmerten einige Mädchen gegen die Tür, verfluchten die Fabrikbesitzer und brachen in verzweifelte Tränen aus. Als die Aufzüge zurückkehrten, stürmte alles auf einmal in die Kabinen und der Fahrstuhlwärter schaffte es nur mühsam, die Türen zu verschließen. »Zu den Frachtaufzügen! Schnell!« Das war Katinkas Stimme, und Emma sah für einen Moment ihr gerötetes Gesicht, dann verschwand sie im Pulk der schreienden Mädchen. Ein weiteres Fenster zersprang und ließ Scherben auf die Flüchtenden regnen. Emma wurde erneut zu Boden gestoßen und kroch unter einen der Arbeitstische, kämpfte sich nach oben und blieb schnaufend stehen. Was sie sah, ließ ihr den Atem stocken. Die Flammen breiteten sich mit rasender Geschwindigkeit aus. Auf allen Tischen brannten Stoffteile, das Feuer wütete in den
Arbeitskörben und fraß sich bereits in Tische und Stühle, und als die Tür zum Treppenhaus neben den Frachtaufzügen aufklappte, fauchten die Flammen wie die feurige Zunge eines wütenden Drachen herein. Ein Fenster explodierte und der Sog schleuderte zwei Mädchen nach draußen, wirbelte sie wie lodernde Fackeln durch die Luft. Ihre Schreie übertönten sogar den Lärm in dem Fabrikraum. Einige Mädchen hatten sich Schals um den Kopf gewickelt, öffneten die Tür zum Treppenhaus und brachen schon nach wenigen Metern zusammen. Das Feuer wütete wie ein Sturm, kam aus dem Luftschacht, den Treppenhäusern und den Aufzugschächten. Emma suchte verzweifelt nach einem Ausweg, nahm wie in einem Albtraum wahr, wie die letzten Fenster zersprangen und die ersten Mädchen in den Tod sprangen. Sie wollte zu ihnen laufen, ihnen helfen, und war doch nicht fähig sich zu bewegen. Immer mehr Mädchen flohen auf diese Weise vor den Flammen, fassten sich an den Händen, sprachen ein kurzes Gebet und stiegen durch die zerbrochenen Fenster. Sie schrien nicht einmal. »Katinka!«, rief Emma in verzweifelter Panik, als sie ihre Freundin zum Fenster laufen sah. Aber die Russin hörte sie nicht oder wollte sie nicht hören, betete nicht einmal und warf sich ohne zu zögern in die Tiefe. »Katinka!«, schrie Emma wieder. Das ferne Schrillen von Sirenen riss sie aus ihrer Erstarrung. Die Feuertreppe, fiel es ihr ein, warum war noch niemand auf die verdammte Feuertreppe gekommen? »Zur Feuertreppe!«, rief sie. Sie rannte zu dem Fenster zwischen den Frachtaufzügen und dem Luftschacht und kam den Flammen so nahe, dass ihre Haare Feuer fingen. Beherzt griff sie nach einer fertigen Bluse, schlug sich damit auf den Kopf und erstickte so die Flammen.
Die Schmerzen spürte sie nicht. Mit beiden Händen schob sie das Fenster nach oben. Es klemmte und ließ sich nur widerwillig öffnen. Von hinten drängten andere Mädchen nach, drückten ihr die Luft ab. Mit einem Schrei stieß sie den eisernen Laden nach außen. Sie kletterte auf den Balkon und griff nach der klapprigen Leiter. Keuchend stieg sie nach unten. Sie merkte gar nicht, wie sie sich an dem rostigen Metall die Hände aufriss. Hinter ihr drängte ein Mädchen nach dem anderen nach draußen. Die Leiter begann zu schwanken und verbog sich gefährlich. Auch unter ihr im achten Stock drängten Mädchen auf die Leiter, die Gesichter schwarz vom Ruß, die Haare angesengt und kaum noch Kleider am Körper. Ein Mädchen schrie nach seiner Mutter und weinte bitterlich. Emma beschleunigte ihre Schritte. Sie wagte nicht nach unten zu blicken, setzte einen Fuß mechanisch vor den anderen und hoffte, sobald wie möglich festen Boden unter die Füße zu bekommen. Als sie den zweiten Stock erreicht hatte, hörte sie weit über sich einen durchdringenden Schrei. Sie blickte nach oben und musste entsetzt feststellen, dass sich die Leiter unter dem Gewicht der vielen Mädchen immer mehr verbogen hatte und aus ihrer Verankerung löste. Die ersten Mädchen verloren den Halt und stürzten in die Tiefe, fielen schreiend an Emma vorbei und knallten auf den harten Asphalt. Ihre Schreie hingen wie ein Echo in der Luft. Nur ihrem Instinkt verdankte Emma ihre Rettung. Sie stieß sich mit beiden Füßen von der schwankenden Leiter ab, bekam das Geländer des Balkons zu fassen und zog sich in Sicherheit. Nachdem sie das Fenster eingeschlagen hatte, stieg sie in den zweiten Stock. Sie stützte sich auf einen Tisch und rang nach Atem, brauchte einige Minuten, um den ersten Schock zu verdauen und wieder einigermaßen ruhig atmen zu können. Sie befand sich in einem Büro. Die Angestellten waren längst nach
Hause gegangen, nur die Näherinnen der Triangle Shirtwaist Company arbeiteten am Samstag noch so spät. Nach dem Lärm und der Panik auf der Feuertreppe kam ihr der düstere Raum unnatürlich still und unheimlich vor. Die Schreie der Mädchen, das Schrillen der Sirenen und das Prasseln des Feuers drangen wie aus weiter Ferne zu ihr. Sie ging zu dem Waschbecken im Vorraum und hielt ihren Kopf und ihre Hände unter das kühle Wasser. Als sie in den Spiegel blickte und ihr verschmiertes Gesicht und die angesengten Haare sah, begann sie zu weinen. Sie hielt sich mit beiden Händen am Waschbecken fest, schluchzte heftig und musste so stark husten, dass ihr der ganze Brustkorb wehtat. Vor lauter Schmerzen hörte sie gar nicht, wie die Tür aufgebrochen wurde und ein Feuerwehrmann seine Laterne auf sie richtete. »Miss? Sind Sie in Ordnung?« Emma nickte schwach und ließ sich von dem Feuerwehrmann zur Tür führen. Dort hielt er sie zurück. »Warten Sie, Miss!« Er blickte nach draußen und sie erkannte mit Schrecken, dass er lediglich feststellen wollte, ob noch Mädchen aus den Fenstern sprangen. Anscheinend waren einige Leute auf den Bürgersteigen von den fallenden Mädchen erschlagen worden. »Kommen Sie!« Sie trat in den verregneten Abend hinaus, dankte dem Feuerwehrmann und ließ sich willenlos von einem der Sanitäter untersuchen. »Ist nicht so schlimm, Miss! Ihnen ist nicht viel passiert«, sagte der junge Mann. Sie ging wortlos weiter, lehnte sich gegen eine Hauswand und rutschte weinend auf den nassen Bürgersteig.
24
Irgendjemand hatte Emma eine Decke gebracht und um ihre Schultern gelegt. Immer mehr Menschen strömten zum Hochhaus der Triangle Shirtwaist Company, wurden von der dunklen Rauchwolke angelockt, die wie ein drohendes Signal zum Himmel stieg. Schaulustige und Neugierige, aber auch besorgte Angehörige, die wissen wollten, welche Mädchen der Katastrophe zum Opfer gefallen waren. Nur sie wurden von den Polizisten durch die Absperrung gelassen. Sie gingen an der langen Reihe toter und verbrannter Mädchen entlang, die man auf einen hastig herbeigeschafften roten Teppich in der Greene Street gelegt hatte. Im trüben Licht der Dämmerung konnten sie die Toten nur schwer erkennen und manch einer rief nach einem Polizisten oder Feuerwehrmann und bat ihn, seine Laterne über eines der toten Mädchen zu halten. Durch die Tränenschleier vor ihren Augen beobachtete Emma das schreckliche Geschehen. Sie sah, wie Eltern vor den verbrannten Körpern ihrer Töchter zusammenbrachen und andere sich weinend umarmten, weil ihr Kind nicht unter den aufgebahrten Toten war. Doch viele Mädchen waren noch gar nicht geborgen worden oder lagen noch dort, wo sie auf dem Asphalt aufgeprallt waren. Einige Ärzte und Sanitäter, die aus den nahen Krankenhäusern herbeigeeilt waren, untersuchten jede einzelne, obwohl kaum Hoffnung bestand, und deckten die Toten mit Planen zu. Feuerwehren und Krankenwagen standen um das Hochhaus herum und auf den ausgefahrenen Leitern standen Feuerwehrleute und richteten die Schläuche auf die oberen Stockwerke. Ihre Leitern reichten nur bis zum siebten Stock,
eine Gefahr, vor der ein Fire Chief noch wenige Wochen vor der Katastrophe eindringlich gewarnt hatte, und es war schwer, die Flammen unter Kontrolle zu bringen. Ihre Kollegen schafften zwei Scheinwerfer heran, um ihnen die Arbeit zu erleichtern, und die Edison Company installierte eine Lichterkette über dem Washington Place und der Greene Street. In dem künstlichen Licht wirkte die Szene noch düsterer und unwirklicher, und als versehentlich eine Alarmsirene losheulte, fühlte Emma sich in einen Albtraum versetzt. Sie erhob sich und griff dankbar nach dem heißen Kaffee, den ein Sanitäter ihr reichte. Minutenlang stand sie im Licht der Scheinwerfer, beide Hände um den Becher gelegt, und starrte ins Leere. Sie hatte keine Tränen mehr. »Emma! Emma! Bist du das?« Sie blickte auf und sah Rose, fiel ihr erleichtert in die Arme und drückte sie. So standen sie eine halbe Ewigkeit. »Katinka«, sagte Emma leise, den Kopf noch immer an ihrer Schulter. »Sie hat es nicht geschafft! Sie ist… sie ist aus dem Fenster gesprungen!« Rose begann zu weinen. »Wie konnte das nur passieren?«, fragte sie nach einiger Zeit. »Warum hat euch niemand gewarnt?« »Ich weiß es nicht, Rose.« Emma löste sich bedächtig von ihr. »Das Feuer muss sehr schnell gekommen sein. Im neunten Stock hat niemand angerufen. Das Feuer war plötzlich da und dann ging alles rasend schnell.« Sie zog die Decke um ihre Schultern zurecht. »Die Tür zum Washington Place war verschlossen. Und die Feuertreppe war so verrostet, dass sie zusammengebrochen ist. Ich konnte mich gerade noch retten, aber für die meisten Mädchen… Sie sind aus dem neunten Stock gesprungen, Rose!«
»Und ich war zu Hause und habe den Sabbat gefeiert«, seufzte Rose. »Oh, ich fühle mich so schuldig! Ich hätte hier sein müssen!« »Dann wärst du vielleicht auch tot. Sei froh, dass du zu Hause geblieben bist. Gott wollte nicht, dass du schon stirbst.« »Warum lässt Gott so etwas zu, Emma? Warum?« »Ich weiß es nicht. Vielleicht will er uns daran erinnern, dass wir sterblich sind. Oder er wollte den Bossen klar machen, dass es sich nicht auszahlt, nur nach Macht, Geld und Profit zu schielen. Wer weiß das schon. Ich glaube, das erfahren wir erst im Jenseits.« »Katinka…«, sagte Rose traurig. »Sie war so glücklich. Wie sollen wir das bloß ihrem Verlobten beibringen? Und ihren Eltern?« »Sie wissen es sicher schon.« Rose blickte sie an. »Wollen wir nach Hause gehen? Mein Onkel und meine Tante machen sich bestimmt Sorgen. Als sie den Rauch über dem Washington Square sahen, wusste ich gleich, dass es irgendwo brennt. Dann kamen die Sirenen der Feuerwehr und irgendjemand rief: ›Triangle brennt!‹« Sie durchlebte noch einmal die Angst, die sie auf dem Weg zur Fabrik gequält hatte, und fasste Emma an den Schultern. »Du bist doch nicht verletzt, oder?« »Nein«, erwiderte sie. Mit mir ist alles in Ordnung. »Aber ich möchte noch nicht nach Hause gehen. Ich komme später nach.« »Bestimmt?« »Ganz bestimmt, Rose. Es war nur… ich möchte noch ein bisschen allein sein. Es war alles so schrecklich, weißt du, und ich will noch ein bisschen herumspazieren, bevor ich nach Hause gehe.« »Und du machst keine Dummheiten?« »Bestimmt nicht.«
Emma wartete, bis Rose verschwunden war, dann brachte sie den leeren Kaffeebecher zu dem Sanitäter zurück. Die Decke behielt sie. Sie ging langsam an den zugedeckten Toten vorbei, die immer noch vor dem Gebäude lagen, und kroch unter der Absperrung zum Washington Place durch. Während sie an den Polizisten und Feuerwehrleuten vorbeiging, fing sie einzelne Gesprächsfetzen auf: »Über hundertvierzig Tote, Captain… die sprangen einfach aus dem Fenster, Sir, wir konnten nichts machen… das Feuer begann im achten Stock, keine Ahnung, wie es losging… nein, Sir, die Feuerwehrleitern haben nicht bis in den neunten Stock gereicht… bei der Toten handelt es sich um eine gewisse Mary Leventhal… eine Anna Gullo will Sie sprechen, die Vorarbeiterin.« Im Washington Square Park setzte Emma sich auf eine Bank. Sie sprach ein Gebet für Katinka und die vielen anderen Mädchen, die bei dem Brand umgekommen waren, und hielt ihr Gesicht in den leichten Regen, der seit dem Morgen auf New York fiel. Für diese Zeit waren ungewöhnlich viele Menschen im Park, zumeist Angehörige der toten Mädchen, die leise schluchzend und sich gegenseitig tröstend unter den Bäumen standen. Ein italienisches Paar blieb direkt vor Emma stehen. »Tutti morti, tutti morti!«, klagte die Frau leise, »so viele Tote!« Und nicht weit von ihr entfernt rannte ein kleiner Junge weinend in die Büsche und übergab sich. Emma stand auf und ging langsam weiter. Sie hatte kein bestimmtes Ziel, wollte nur weg von dem Unglücksort und nicht mehr die verzweifelten Schreie und das Weinen der Angehörigen hören. Sie blieb auf den beleuchteten Straßen, mied die dunklen Gassen im Village, obwohl sie der Überzeugung war, dass Gott in dieser Nacht kein weiteres Unheil zulassen würde. Vor dem Schaufenster einer Wäscherei blieb sie stehen. Sie blickte hinein, sah ihr schmutziges Gesicht im Schein einer Straßenlampe und spürte plötzlich, wie sich ihr
Magen verkrampfte. Sie übergab sich mehrmals, bis ihr die Galle in den Hals stieg, und stützte sich mit beiden Händen an der Scheibe ab. Nach einer Weile ging es ihr besser. Sie atmete tief durch und wartete, bis sich ihr Magen beruhigt hatte. Anscheinend hatte sie zu viel Rauch eingeatmet. Sie sehnte sich nach einem Glas Wasser, ging in ein Lokal, fragte danach und wurde von einem angewiderten Kellner davongejagt. Bis zu ihm war die Kunde von der Katastrophe nicht vorgedrungen. In einer Nachtbar hatte sie mehr Glück. Die grell geschminkte Dame hinter dem Tresen reichte ihr lachend ein Glas und sagte: »Eigentlich könntest du einen Schnaps vertragen, was?« Als Emma ausgetrunken hatte, goss sie ihr noch einmal nach. »Danke, Ma’am!« »Habt ihr das gehört?«, rief sie den wenigen Gästen zu. »Sie hat mich Ma’am genannt! Der Letzte, der das getan hat, war mein dritter Ehemann, und der liegt seit dem Bürgerkrieg unter der Erde!« Emma verließ die Bar und irrte weiter durch die Stadt. Es war schon spät, beinahe Mitternacht, aber sie war noch nicht bereit nach Hause zurückzukehren und ließ sich nicht einmal durch einen Polizisten umstimmen, der sie aufhielt und darauf hinwies, wie gefährlich es in der nächtlichen Stadt war. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte er, als er ihr schmutziges Gesicht erkannte. »Mir fehlt nichts, Officer.« »Waren Sie in dem Feuer? Bei Triangle?« »Ja, Officer. Aber ich bin in Ordnung.« Er blickte sie zweifelnd an. »Sind Sie sicher, dass Ihnen nichts fehlt? Soll ich Sie zu einem Arzt bringen? Ich könnte einen Streifenwagen rufen und Sie zum St. Vincent’s bringen lassen…« »Nein, Officer, vielen Dank.« »Wie Sie wollen, Miss! Alles Gute!«
Emma wartete, bis der Polizist verschwunden war, und ging erleichtert weiter. Erst an den Namen über den Geschäften erkannte sie, dass sie im deutschen Viertel gelandet war. Sie überquerte die Avenue B und lenkte ihre Schritte zu der evangelischen Kirche, in der sie einige Male gewesen war. Die Tür war nicht verschlossen. Sie ging hinein, blieb zwischen den leeren Bänken stehen und blickte zu dem einfachen Holzkreuz über dem Altar empor. Mit geschlossenen Augen wiederholte sie das Gebet, das sie im Washington Square Park gesprochen hatte. Vielleicht war die Wirkung größer, wenn man es in einer Kirche aufsagte. Als sie die Augen öffnete, sah sie den Pfarrer vor dem Altar stehen. Er trug einen schwarzen Anzug und hielt eine Bibel in der Hand. »Ich habe von dem Feuer gehört«, sagte er. Seine Stimme hatte einen beruhigenden Klang. »Waren Sie in dem Gebäude?« »Ich war im neunten Stock. Ich bin Näherin.« »Wollen Sie darüber sprechen?« »Nein, Sir. Eine meiner besten Freundinnen ist in den Flammen umgekommen. Über hundertvierzig Mädchen sind tot. Ich habe gesehen, wie sie aus dem neunten Stock sprangen. Über so etwas kann man nicht sprechen, Sir. Warum lässt Gott so etwas zu? Warum bestraft er nicht die Fabrikbesitzer, die ihre Angestellten wie Sklaven halten? Warum hat er nicht sie in dem Feuer sterben lassen? Die Notausgänge waren verriegelt!« Auch der Pfarrer wusste auf diese Fragen keine Antwort. »Freud und Leid gehören zu unserem Leben«, sagte er, »und es gibt vieles, was wir nicht verstehen. Wollen Sie mit mir beten, Miss?« »Ich habe schon gebetet, Sir. Vielen Dank.« Enttäuscht darüber, auch von einem Pfarrer keine Antwort auf ihre Fragen zu bekommen, verließ sie die Kirche. Sie ging
an dem Haus vorbei, in dem ihr Onkel gewohnt hatte, blickte zu dem Fenster empor, hinter dem er gestorben war, und lenkte ihre Schritte nach Süden zur Delancey Street. Sie hielt den Kopf gegen den Regen gesenkt und sah den jungen Mann erst, als sie die Straße überquerte und die Treppe zur Haustür hinaufsteigen wollte. »August!«, erkannte sie ihn sofort. »Was machst du denn hier?« »Ich möchte mit dir sprechen, Emma!« »Jetzt? Um diese Zeit?« »Ich hab dich überall gesucht! Ich hatte Angst, dass du… dass du unter den Toten bist. Ich war sogar auf dem Revier in der Mercer Street. Ich weiß inzwischen, dass du bei Triangle arbeitest.« »Und warum hast du dich dann nicht früher gemeldet? Du hast mich doch im Colony Club gesehen, oder? Aber deine Freundin war dir wohl wichtiger? Ich brauche dein Mitleid nicht!« Sie kehrte um und ging davon, hatte keine Lust, mit August zu streiten, schon gar nicht am Ende dieses furchtbaren Tages. Und wenn sie die ganze Nacht auf den Beinen bleiben müsste. August rannte hinter ihr her. »Versteh mich doch, Emma!«, rief er verzweifelt. »Ich hab dich im Colony Club gesehen, das stimmt. Und wenn ich allein gewesen wäre, hätte ich sicher mit dir gesprochen. Es tut mir Leid, Emma! Ich konnte doch nicht vor Celia… « Emma blieb stehen und drehte sich abrupt um. Ihre Trauer hatte sich in Wut verwandelt. »Celia? So heißt deine Freundin also!« »Sie ist nicht mehr meine Freundin, Emma«, beteuerte August. »Ich hab inzwischen mit ihr Schluss gemacht! Als ich dich auf dem Podium sah und hörte, was du im Workhouse erlebt hast… wäre ich am liebsten zu dir gerannt und hätte dich umarmt!«
»Ach, ja? Und warum bist du nicht früher gekommen? Erinnerst du dich noch, was du mir auf dem Schiff versprochen hast? Du wolltest mich holen kommen, sobald du Arbeit hast, und meinen Onkel um meine Hand bitten! Mein Onkel ist tot und ich wohne jetzt bei einer Freundin, aber so schwer wäre es bestimmt nicht gewesen, mich zu finden. Jetzt hast du es ja schließlich auch geschafft.« »Weil Mary Dreier mir verraten hat, wo du wohnst. Ich dachte, du wärst zu den Deutschen nach Texas oder Wisconsin gegangen oder nach Deutschland zurückgefahren. Glaubst du vielleicht, ich war nicht bei deinen Nachbarn? Sie wollten mir weismachen, du hättest deinen Onkel erschlagen und wärst abgehauen.« »Es war ein Unglücksfall.« »Du hast ihn erschlagen?« »Er war betrunken und stürzte sich auf mich, und als ich ihn wegstieß, fiel er gegen den Herd und… Ich kann nichts dafür.« »Ich dachte, du wärst weg und wolltest nichts mehr von mir wissen! Dann lernte ich Celia kennen und… ich habe sie nie geliebt. Das merkte ich aber erst, als ich dich im Colony Club sah. Damals hatte ich noch keine Ahnung, dass du bei Triangle arbeitest.« »Das ist wirklich wahr, oder?« »Meinst du vielleicht, ich lüge dich an? Vielleicht hab ich nicht genug an dich geglaubt, Emma. Ich hätte länger nach dir suchen sollen, das stimmt, und ich hätte nicht alles glauben sollen, was mir diese Nachbarn weismachen wollten. Du wärst nicht nach Texas oder Wisconsin gegangen. Du wolltest es in New York schaffen. Aber ich habe dich immer geliebt, Emma! Verdammt, soll ich vielleicht vor dir auf die Knie fallen?« Sie ging langsam auf ihn zu. »Ja, ich glaube, das würde mir gefallen. Aber eins musst du mir noch verraten: Dieser August
der Starke, der Bandenchef der Bowery Boys, das warst doch du?« »Bowery Boys? Auf so einen Namen wär ich nie gekommen.« »Und August der Starke?« »Du meinst, weil ich mich August Stark nenne?« August lachte. »Das war eine Idee meines Chefredakteurs. Weil es kämpferischer klingt als August Lutz. Aber wenn ich mich richtig erinnere, haben sich die Bowery Boys längst aufgelöst. Und August der Starke, oder wie immer er sich nennt, hat sich in den Westen abgesetzt.« »Mit krummen Sachen kommt man hier nicht weit.« »Und mit Arbeit manchmal auch nicht«, gab August zu bedenken. »Ich hatte Glück. Ein Redakteur der Staats sah mir beim Schreiben in einem Lunchlokal über die Schultern und beschaffte mir einen Job. Ich hab’s geschafft, Emma. Ich hab eine gute Stellung und ich verdiene genug Geld, um eine Frau zu ernähren.« »Ich verdiene selber genug«, gab Emma zurück. Sie ging an dem verdutzten August vorbei und stieg die Treppe zum Eingang hoch. »Wo willst du hin?«, rief August nervös. »Aufs Dach«, antwortete Emma, »und wenn du mir einen Antrag machen willst, kommst du besser mit…«
Der Aufstand der Näherinnen
Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wohnten hauptsächlich osteuropäische Juden in der Lower East Side von New York. Sie waren vor den Verfolgungen des Zaren und der Unterdrückung in der Alten Heimat geflohen und hofften, im »Goldenen Medina« von Amerika eine neue Zukunft zu finden. Sie gesellten sich zu den deutschen, italienischen und slowakischen Einwanderern, die sich bereits vor ihnen auf der Ostseite von Manhattan niedergelassen hatten, und bestimmten den neuen Charakter des Viertels. Auf den Straßen priesen fahrende Händler ihre Waren auf Handkarren an, von Pferden gezogene Fuhrwerke versperrten die Straßen, auf der Hester Street entstand ein Markt, der an die shtetls in Russland erinnerte, Kinder spielten und tanzten und die Straßen waren vom Geplapper der Menschen, fröhlicher Volksmusik, dem Rattern der Fuhrwerke und dem lauten Feilschen der Händler erfüllt. Die meisten Einwanderer wohnten unter katastrophalen Bedingungen in sechs- bis siebenstöckigen Mietskasernen, so genannten tenements. Die Menschen lebten gedrängt in kleinen, oft fensterlosen Zimmern, schliefen teilweise zu zweit und dritt in einem Bett, teilten sich baufällige Schränke, ein verrostetes Waschbecken in der Küche und die einzige Toilette auf dem Flur. Zwischen den Fenstern spannten sich Wäscheleinen. In den Treppenhäusern lag Dreck, man sah Ratten und Ungeziefer und im Sommer wurde es so unerträglich heiß, dass viele Bewohner auf dem Dach schliefen. Ständig drohte in den vollkommen aus Holz erbauten Häusern eine Feuerkatastrophe und die feuchten
Räume boten eine Brutstätte für Krankheiten wie Tuberkulose und Cholera. Doch die Einwanderer beklagten sich nicht. Sie waren froh, dem Terror und der Unterdrückung in Europa entkommen zu sein, und glaubten an ihre Chance, im freien Amerika ein neues Leben beginnen zu können. Hier waren die Straßen gepflastert, man wurde nicht mehr wegen seiner Religion oder Herkunft verfolgt und jeder Einzelne hatte die Chance, sein Glück zu machen. Wie dornig dieser Weg sein würde und wie hart man für diese neue Zukunft kämpfen musste, ahnte jedoch keiner der Auswanderer. Für die Mädchen und jungen Frauen, die mit ihren Familien nach Amerika kamen, änderte sich das Leben radikal. In Europa hatte der Sinn ihres Lebens aus Heirat und Kindererziehung bestand, lediglich den russischen Jüdinnen war es gestattet gewesen, kleinere Geschäfte zu betreiben. Aber die Weiterbildung und das religiöse Studium blieben den Männern vorbehalten. Allein das Ausleihen von Büchern oder das Studium einer anderen Sprache machten eine Frau schon verdächtig. In Deutschland wurde ein Großteil der Mädchen gar nicht in die Schule geschickt. Das viktorianische Familienbild der Frau, die vor allem als fürsorgende Mutter überzeugte, blieb bis weit ins 20. Jahrhundert hinein vorherrschend. In New York waren die Mädchen und jungen Frauen schon aus finanziellen Gründen gezwungen, sich am Broterwerb zu beteiligen. Viele Neuankömmlinge unterstützten ihre Verwandten in der alten Heimat und schickten einen Teil ihres Lohnes nach Europa. Selbst auf den Sabbat verzichteten viele Juden, um im Wettlauf um mehr Wohlstand nicht auf der Strecke zu bleiben. Die meisten Frauen und Mädchen arbeiteten in einer Nähfabrik, ungefähr vierzigtausend in über fünfhundert Nähfabriken. Die Hälfte aller Angestellten waren
osteuropäische Jüdinnen, etwa ein Drittel kam aus Italien und der Rest aus anderen Ländern wie Deutschland. Die Arbeitsbedingungen spotteten jeder Beschreibung. Siebzig, achtzig Wochenstunden waren keine Seltenheit, es war den Näherinnen verboten, während der Arbeit zu sprechen oder zu lachen, sie mussten die Nadeln und das Garn selbst bezahlen, und wer fünf Minuten zu spät kam, bekam einen halben Tageslohn abgezogen. Überstunden wurden mit Gebäck vergütet. Wegen der geringsten Kleinigkeit konnte einer Angestellten gekündigt werden. Dabei kamen die Besitzer der Nähfabriken aus denselben Dörfern wie ihre Arbeiterinnen. Auch sie waren osteuropäische Juden, dachten aber gar nicht daran, ihre Landsleute menschenwürdig zu behandeln. »Ich stelle am liebsten Neuankömmlinge ein«, sagte ein Fabrikbesitzer, »die sind noch grün hinter den Ohren, sprechen kein Englisch und ich brauche ihnen kaum etwas zu bezahlen.« Ähnlich dachten auch Max Blanck und Isaac Harris, Besitzer der Triangle Shirtwaist Company an der Ecke Washington Place und Greene Street, der größten Nähfabrik in New York. Sie selbst wohnten in feudalen Villen mit vielen Angestellten und Dienern. Doch die »Bosse« hatten nicht mit dem politischen Bewusstsein der Mädchen und jungen Frauen gerechnet. Nach einigen wilden Streiks beschlossen sie auf einer Versammlung am 22. November 1909 in der Cooper Union Hall den Generalstreik. Nach den ermüdenden Reden der männlichen Gewerkschaftsführer, die ihre weiblichen Mitglieder wenig ernst nahmen und die Frauen am liebsten am Herd sahen, betrat Clara Lemlich das Podium und sagte: »Ich habe mir alle Reden angehört. Aber jetzt habe ich keine Geduld mehr für weitere Reden. Auch ich habe gearbeitet und gelitten. Ich habe das Gerede endgültig satt! Ich stimme für einen Generalstreik – jetzt!« Schon wenige Tage später waren über dreißigtausend
Mädchen auf der Straße. Sie streikten für kürzere Arbeitszeiten, höhere Löhne, bezahlte Überstunden, bessere Arbeitsbedingungen und die Anerkennung der Gewerkschaftsverträge. Angeführt von der International Ladies’ Garment Workers’ Union (ILG-WU) und mittelständischen Frauen der Women’s Trade Union League (WTUL) zogen sie in den Kampf. Zur bestimmenden Figur in dem monatelangen Streik wurde Clara Lemlich, eine russische Jüdin aus der heutigen Ukraine. Nach der Ermordung zahlreicher Juden in Kishinev (1903) wanderte die überzeugte Sozialistin mit ihrer Familie nach Amerika aus. Ihr Engagement für benachteiligte Frauen und Mädchen, aber auch ihr Charme und ihre verführerische Stimme brachten ihr die Wahl in den Vorstand der ILGWU, Abteilung »Local 25«. Auch der Überfall einiger bezahlter Schläger, die ihr drei Rippen brachen, hielt sie nicht davon ab, die Näherinnen in den Generalstreik zu führen. In zahlreichen Reden brachte sie die Probleme der jungen Einwanderinnen auf den Punkt. Nach dem Streik setzte sie sich mit zahlreichen Mitstreiterinnen für das Wahlrecht der Frauen ein. Während des Streiks antworteten die Fabrikbesitzer mit Aussperrung, ließen Streikende von Schlägern verprügeln und von der korrupten Polizei festnehmen und von Richtern ins Workhouse auf Blackwell’s Island (dem heutigen Roosevelt Island) schicken. Doch die Mädchen blieben standhaft, hielten trotz wachsender Armut und Hunger auch in dem harten Winter durch. Zahlreiche Frauen der Oberschicht, als »Mink Brigade« (»Nerz-Brigade«) verspottet, unterstützten die mittellosen Streikenden. Erst am 15. Februar 1910 nahmen die letzten Mädchen ihre Arbeit wieder auf. Ihr Sieg war nicht vollkommen. Daran änderten auch weitere Streiks in Chicago, Philadelphia, Rochester und Cleveland nichts. Sie erreichten bessere Arbeitsbedingungen, höhere
Löhne, kürzere Arbeitszeiten und bezahlte Überstunden, aber zwischen Männern und Frauen wurden noch immer Unterschiede gemacht, und kein Fabrikbesitzer erkannte die Gewerkschaftsverträge an. Nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass Frauen selbst heute nicht in allen Berufen den gleichen Lohn wie ihre männlichen Kollegen erhalten und nur selten in leitende Positionen gewählt werden. Am 25. März 1911 kam es zu einem tragischen Ereignis: Im achten Stock des Asch Buildings, des Sitzes der Triangle Shirtwaist Company, die ihre Notausgänge aus Angst, von ihren Angestellten bestohlen zu werden, verschlossen hielt, brach Feuer aus. In Windeseile griff es auf den neunten und zehnten Stock über. Nur ein Teil der Angestellten, meist junge Mädchen im Alter zwischen fünfzehn und neunzehn Jahren, konnte sich retten. Hundertsechsundvierzig Mädchen verbrannten oder sprangen aus dem Fenster. Ungefähr zwanzig Mädchen stürzten zu Tode, als die klapprige Feuertreppe zusammenbrach. Der Brand der Triangle Shirtwaist Company war eine der schlimmsten Katastrophen in New York vor dem Terroranschlag am 11. September 2001. Obwohl es bei der Beerdigung der toten Mädchen regnete, säumten Hunderttausende die Straßen, als der Trauerzug durch New York zog. Nach der anschließenden Gerichtsverhandlung verschärfte man die Brandschutzgesetze. Eine Plakette am Asch Building, das heute noch steht, erinnert an die Brandkatastrophe.
Nachwort
Auch historische Romane können brandaktuell sein. So wie sich das, was ich in meinem Buch »Die Sterne über Vietnam« beschrieben habe, in vielerlei Hinsicht im Irak wiederholt, gibt es auch zu »Emmas Weg in die Freiheit« einen aktuellen Bezug: Am 10. Mai 1993 brannte in der Nähe von Bangkok (Thailand) eine Spielzeugfabrik ab. Hundertachtundachtzig junge Frauen kamen in den Flammen um, über vierhundert wurden verletzt. Wie in der Triangle Shirtwaist Company am 25. März 1911 wurden auch in der thailändischen Spielzeugfabrik die Sicherheitsvorkehrungen auf sträfliche Weise vernachlässigt. Auch dort gab es Fabrikbesitzer, die den Profit über das Leben ihrer jungen Arbeiterinnen stellten. Und damit nicht genug. Noch immer müssen (nicht nur in asiatischen Ländern) Kinder und Jugendliche zu menschenunwürdigen Bedingungen schuften, um den Lebensunterhalt ihrer Familien zu sichern, und selbst europäische Konzerne scheuen nicht davor zurück, diese billigen Arbeitskräfte für ihre Zwecke auszunützen, um ihre Waren preiswerter anbieten zu können. Auch in zivilisierten Ländern werden weibliche Arbeitskräfte in vielen Bereichen als preiswerte Alternative angesehen. Sie werden schlechter bezahlt als ihre männlichen Kollegen und haben nicht dieselben Aufstiegschancen. Das traditionelle Familienbild mit der Frau als Hausfrau und Mutter wird wieder als Ideal dargestellt. Ich bin sicher, Clara Lemlich würde heute noch zum Streik aufrufen. Ich bin sehr oft in New York, habe in der Lower East Side mit zahlreichen Menschen gesprochen, deren Vorfahren wie
Clara Lemlich, Emma und Rose gelebt und für eine bessere Zukunft gekämpft haben. In Museen und Archiven habe ich eine Fülle von Material studiert. Außerdem haben mir vor allem die folgenden Sachbücher bei den Recherchen geholfen: »Triangle – The Fire That Changed America« von David von Drehle (New York, 2003), »The Diary of a Shirtwaist Striker« von Theresa S. Malkiel (Ithaca, 1990), »The Triangle Fire« von Leon Stein (Ithaca, 1962), »We Shall Not Be Moved« von Joan Dash (New York, 1996), »America’s Working Women« von Rosalyn Baxandall (New York, 1976), »A Century of Struggle – The Woman’s Right Movement in the United States« von Eleanor Flexner (New York, 1971), »Daughters of the Shtetl« von Susan Glenn (Ithaca, 1990), »The Women’s Garment Workers« von Louis Levine (New York, 1924) sowie zahlreiche Zeitungsberichte aus der Zeit des Streiks. Zum Schluss noch ein Wort in eigener Sache: Wer mir schreiben oder eine unterschriebene Autogrammkarte möchte, schreibt an: Thomas Jeier, c/o Verlag Ueberreuter, Alser Straße 24, A-1090 Wien/Österreich (bitte Rückporto beilegen) oder hinterlässt eine Nachricht im Gästebuch meiner Homepage www.jeier.de Bitte nicht böse sein, wenn die Antwort etwas auf sich warten lässt – ich bin oft unterwegs, um für neue Bücher zu recherchieren. Die Titel aller lieferbaren Bücher, interessante News und Fotos finden sich auf meiner Website www.jeier.de. Thomas Jeier