Uri Geller Ella
Uri Geller
Ella Roman
Aus dem Englischen von Dagmar Roth
LangenMüller
Allen kranken Kindern auf ...
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Uri Geller Ella
Uri Geller
Ella Roman
Aus dem Englischen von Dagmar Roth
LangenMüller
Allen kranken Kindern auf der ganzen Welt möge diese Geschichte bald wahr werden.
Die englische Originalausgabe erschien bei Headline Book Publishing unter dem Titel »Ella«
Besuchen Sie uns im Internet unter: www.langen-mueller-verlag.de © für die englische Originalausgabe 1998 by 11-11 Ltd. © für die deutsche Ausgabe 2008 by LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel Umschlagbild: getty-images, München Herstellung und Satz: VerlagsService Dr. Helmut Neuberger & Karl Schaumann GmbH, Heimstetten Gesetzt aus der 10,5/13,2 GaramondBQ-Regular Druck und Binden: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN 978-3-7844-3132-1
TEIL 1
KAPITEL 1
E
lla sagte: »Hört auf zu streiten«, aber keiner beachtete sie. Sie hatte Geburtstag, und der Tisch war mit ihrem Geburtstagstee gedeckt. Ella und ihr Bruder durften bei Tisch nicht sprechen, nur wenn das Wort an sie gerichtet wurde. Ihre Eltern redeten, aber sie redeten nicht mit ihr. Als Ella den Mund aufmachte und sagte: »Hört auf zu streiten«, fehlte ihr der Mut, das richtig laut zu sagen. Niemand nahm sie zur Kenntnis. Ihr Vater zerdrückte mit der Gabel sein Stück Geburtstagskuchen. »Schluss. Ich brauch' nichts mehr dazu zu sagen«, sagte er wieder und wieder zu Ellas Mutter. Juliette nickte jedes Mal und starrte auf ihren Kuchen, ohne etwas zu essen. »Ich muss nicht darüber reden. Ich weiß genau Bescheid.« Sie gab sich große Mühe, nicht in den Bristol-Slang ihres Mannes zu verfallen. Die größte Mühe gab sie sich, wenn sie zornig war. Juliette würde nie so reden. Sie sagte: »Du musst nicht« mit einem verhuschten französischen Akzent. »Du musst nicht darüber reden.« Ellas Bruder Frank sagte nichts. Er hatte sein Stück bereits gegessen und wartete stumm auf die Chance auf ein zweites. Frank wusste, er sollte nicht viel reden. Der Kuchen war gut. Ellas Tante Sylvie hatte ihn wie ein Herz geformt gebacken und mit rosa Zuckerguss verziert, und in der Mitte hatte sie vierzehn rosa Kerzen zu einem kleinen Herzen gesteckt. Tante Sylvie war nicht dabei, als Ella die Kerzen ausblies und die harte rosafarbene Glasur mit einem Brotmesser durchschnitt, weil Ellas Vater die Vorschrift erlassen hatte: »Ich will nicht, dass sie kommt und sich einfach da hinsetzt, wenn ich meinen Tee trinken will. Da kommt mir doch alles wieder hoch.« »Du musst meine Schwester natürlich gar nie sehen«, sagte Juliette. »Es ist dein Haus. Natürlich haben wir nur die Gäste, die du willst. Ich sage nur, dass Ella Sylvie so gern hat.« 5
»Es ist mir egal, wen Ella gern hat. Ich sage dir nur eins: Deine Schwester kann herkommen, wenn du willst. Aber glaube bloß nicht, dass ich zur selben Zeit da bin.« Diese Diskussion hatte beim Frühstück stattgefunden. Als Ella um halb fünf von der Schule nach Hause kam, hatte Tante Sylvie den Kuchen vorbeigebracht und war gleich wieder gegangen. Tante Sylvie war noch weniger erpicht darauf, ihren Schwager zu sehen, als er sie. Der Streit beim Tee ging um etwas völlig anderes. Er begann, als Juliette die Kerzen anzündete. »Los, Ella, beeil dich, blas sie aus«, sagte ihr Vater. »Es ist meine Schuld«, antwortete ihre Mutter. »Ich bin immer so ungeschickt mit Streichhölzern.« Sie schüttelte noch ein Hölzchen heraus und mühte sich mit der Schachtel, um es anzuzünden. »Aber warum hast du es so eilig mit dem Kuchen? Hast du plötzlich deine Vorliebe für die Kochkünste meiner Schwester entdeckt? So, Ella, das ist jetzt die letzte. Aber bevor du pustest, müssen wir noch für dich singen.« »Oh, um Himmels willen!«, Ken Wallis machte Anstalten aufzustehen, warf einen prüfenden Blick auf seine Uhr und setzte sich wieder. »Happy birthday to you«, sang Ellas Mutter und Frank fiel mit ein. »Happy birthday to you, oh, natürlich, es ist Mittwoch«, fügte Juliette unschuldig hinzu. »Happy birthday to you«, sang Frank und schielte aus dem Augenwinkel zu seinem Vater. Ken sang nicht. »Mittwoch, wer ist es am Mittwoch?«, murmelte Juliette. »Marcia Mittwoch, natürlich.« »Happy birthday, liebe Ella, happy-birthday-to-you«, beeilte sich Franks Kinderstimmchen. »Bläst du die jetzt mal aus?« Die Stimme ihres Vaters hörte sich an, als warte eine Tracht Prügel auf Ella, wenn sie nicht tat wie geheißen, und zwar fix. »Marcia möchte, dass du um sieben bei ihr bist, ja? Gut gemacht, Ella, alle auf einmal. Aber verzeiht sie dir denn keine winzig kleine Verspätung, wenn deine Tochter Geburtstag hat? Schneid jetzt den Kuchen an, Schatz.« »Ich brauch' nichts dazu zu sagen. Das weißt du. Nicht vor den Kindern.« 6
»Ich muss nicht darüber reden. Ich weiß genau Bescheid. Gib deinem Vater das erste Stück, Ella.« »Ich brauch' nicht mehr dazu zu sagen«, beharrte Ken. »Ich muss nicht darüber reden.« »Hört auf zu streiten«, sagte Ella, das Kinn auf den Spitzenkragen ihres Geburtstagskleides gepresst. Ihre Eltern ignorierten sie. »Ich bin da, oder?«, sagte ihr Vater. »Was willst du mehr?« »Ich möchte, dass du tust, was das Beste ist, und das weißt du natürlich am besten.« Juliette sprach mit Bedacht und stieß dabei ständig mit den Nägeln einer Hand auf das Tischtuch. Sie hatte nie gelernt, auf Englisch zu denken - vierzehn Jahre und neun Monate ihres Lebens hatte sie nicht einmal ein einziges Wort dieser Sprache gekannt. Sie war per Anhalter vom Haus ihres Vaters bei Orleans losgefahren und schließlich mit Ken und seinen Freunden mit einem VW-Campingbus nach England gekommen, nach Bristol. Sie dachte stets französisch, und sie musste sorgsam übersetzen. »Natürlich, es ist Mittwoch.« »Ja. Mittwoch! Und?« »Wie du gesagt hast. Marcia - Mittwoch.« »Ich habe Marcia nicht erwähnt. Du warst es, du hast Marcia erwähnt.« »Natürlich«, sagte seine Frau sofort. »Ich irre mich. Ich sagte es. Tut mir Leid.« »Ich habe das nie zur Sprache gebracht. Du warst es, du hast das vor den Kindern gesagt.« Ella hatte Marcia nie kennengelernt. Sie erinnerte sich nicht, den Namen schon einmal gehört zu haben. Marcia würde nie in dieses Haus kommen oder neben ihnen in der Kirche sitzen. Trotzdem wusste Ella, wer Marcia war. Ihr Leben lang hatte es Marcias gegeben. Um sieben Uhr würde Ken mit einer Sporttasche über der Schulter das Haus verlassen und am nächsten Morgen beim Frühstück würde sein Stuhl leer sein. In den Nächten am Mittwoch und am Sonntag. »Sonntagnacht, da ist es natürlich anders«, sagte Juliette. »Nicht Marcia. Aileen? Ich hoffe, ich habe recht. Ich kann mir Namen so schlecht merken.« Ken beugte sich zu ihr hinüber. Seine breiten Schultern drückten reinste Bedrohung aus. »Ai-lish«, korrigierte er sie mit einem grausamen 7
Lächeln. »Sie heißt Ailish.« Seine Überlegenheit lastete schwer auf dem Tisch. Das Wort Ailish, das war das letzte Wort zu diesem Thema. Schluss. Juliette nickte. Pick, pick machten ihre nicht manikürten Nägel auf dem weißen Baumwolltischtuch. »Ella!« Ken Wallis lehnte sich zurück und starrte seine Tochter wütend an. »Deine Mutter hat dir gesagt, du sollst diese Kerzen da ausblasen.« Ein dünnes rosarotes Wachsstäbchen brannte noch auf dem Kuchen. »Hab' ich doch«, sagte Ella. Ihr Vater sah sie verächtlich an. »Was ist dann das?« Ella stand auf und löschte die Kerze aus. Das Flämmchen flackerte wieder auf. »Ist das eine Scherz-Kerze?«, fragte Juliette ängstlich. Sie verstand Scherze nie. »Hast du dein Taschengeld für dumme Scherze ausgegeben, Frank?«, verlangte sein Vater zu wissen. Frank saß ganz starr, nur sein Kopf bewegte sich leicht von einer Seite zur anderen. Die Kerze war kein Scherz. Ella stand immer noch. Sie blies die Flamme wieder aus. Der Docht glimmte kurz, dann brannte er erneut. Ken spuckte auf seine Finger und klemmte die Flamme ab, dann zog er das feine Wachsstäbchen aus dem kleinen Kerzenhalter und zerquetschte es in seiner Hand. »Aus«, sagte er. Juliette und Ella hielten die Blicke gesenkt. Frank brach das Schweigen - »Dad, kann ich noch ein Stück Kuchen haben?« »Ist dein Zimmer aufgeräumt? Dann los.« Bevor Frank sein Messer abwischen konnte, landete der Kuchen mit dem Zuckerguss nach unten neben Juliettes Stuhl. »Ella! Was denkst du dir dabei?« Ihr Vater packte sie an ihrem Spitzenkragen und zog sie von ihrem Stuhl hoch. »Oh mein Gott, sieh dir diese Schweinerei an«, kreischte Juliette. »Das glaube ich jetzt nicht, wie kommst du dazu!«, brüllte Ken. »Das war ich nicht«, antwortete Ella und baumelte ängstlich im Griff seiner Faust. Sie war nicht so dumm, sich zu wehren, wenn ihr Vater sie in seiner Gewalt hatte. »Lüg mich nicht an! Ich habe gesehen, dass du es warst.« 8
»Ich habe ihn nicht angerührt«, verteidigte sie sich. »Lüg mich«, und er schüttelte sie heftig, »lüg mich niemals an, mein Kind, versuch es erst gar nicht, mach es nicht noch schlimmer.« »Mein Gott, der Fleck geht nie wieder raus.« »Lästere Gott nicht, Weib«, warnte er seine Ehefrau. Das Biskuit und die Marmeladefüllung waren mit solcher Wucht in den Polyester-Velours gefahren, als hätte man den Kuchen mit Stiefeln hineingetrampelt. »Ella wird den Fleck rausmachen. Stimmt's, mein Kind?« »Ja, Dad. Ja.« »Dad«, bat Frank und wagte, sich an den anderen Arm seines Vaters zu hängen. »Ella hat ihn nicht angerührt.« »Tja, wer hat ihn dann geworfen? Warst du es?« »Nein, ehrlich. Er ist einfach so runtergefallen.« »Nimm sie nicht in Schutz, Frank, sie hat es nicht verdient. Dieser Kuchen stand mitten auf dem Tisch. Sie hat ihn absichtlich auf den Boden geschmissen.« »Nein, ehrlich, Dad, ehrlich, ich war es nicht.« »ICH HABE D I C H GESEHEN!« Aber er hatte sie nicht gesehen. Einen Augenblick lang war der Kuchen mit der Oberseite nach unten auf der Tischkante liegen geblieben, dann hatte eine unsichtbare Hand ihn auf den Boden gefegt, und zwar so heftig, dass Creme und Marmelade gegen die Wände spritzten. »Ich sollte dich das essen lassen. Auf Händen und Knien. Jedes kleinste bisschen.« Ellas Zehen berührten kaum noch den Boden, das Gesicht ihres Vaters befand sich direkt vor ihren Lippen und ihrer Nase. »Willst du mich weiter anlügen?« »Nein.« »Hast du den Kuchen geworfen?« »Ja.« »Warum?« »Weiß nicht.« »Mach das sauber.« Er stieß sie von sich. Mit dem Finger auf Frank zeigend, fügte er hinzu: »Dass du ihr bloß nicht hilfst. Und wenn da noch ein Krümel liegt, wenn ich zurückkomme, ... nur einer.« Er schlug die Zimmertür zu, gleich darauf knallte die Haustür. Ella kniete sich neben den Stuhl ihrer Mutter und begann, die rosafarbenen Klumpen auf einen Teller zu kratzen. 9
Ella war klein für ihr Alter. Ihr silberblondes Haar reichte ihr über den ganzen Rücken. Über ihrer Stirn war es gerade abgesäbelt, sodass es ihr Gesicht wie ein Helm einrahmte. Seit Kurzem hatte ihr Vater angefangen, darauf zu drängen, sie solle es hinten zusammenbinden, sonst würde es auf Nackenlänge gestutzt. Es sei unanständig, mit so langen Haaren herumzulaufen. Sie sei kein Kind mehr, erklärte er, und Eitelkeit sei ein Übel bei einer Frau. Ella glaubte nicht, dass sie schlecht war, aber sie wusch ihr Haar jeden Abend und bürstete es morgens und abends. Die monotone Bewegung ihrer Hand auf der fließenden Seide ihres Haares half ihr, alle Gefühle abzuschalten. Als alle Kuchenflecken aus dem Teppich geputzt waren, saß Ella an ihrem Geburtstag auf der Kante ihres Bettes. Frank schlief im Zimmer nebenan. Ihre Mutter war unten - Ella hörte undeutlich die typischen Laute der Neun-Uhr-Nachrichten. Im Schein eines schmalen Lichtstrahls, der in ihr Schlafzimmer fiel, bürstete Ella ihr Haar, bis ihr der Arm wehtat. Sie liebte das Ziehen jeder langen Strähne auf ihrer Kopfhaut und das Gefühl, wenn jede Bahn ihrer Mähne wie Wasser über ihren Handrücken floss. Der Lichtstrahl vom Treppenabsatz fiel auf ihre Wand. Sie hatte im Kunstunterricht in der Schule einen Engel gemalt, ihn ausgeschnitten und mit Klebeband auf der Tapete befestigt. Der Engel hatte blonde Haare, die in blonden Flügeln endeten. Die Flügel waren halb zusammengefaltet, ihre Spitzen reichten bis zu den Sandalen des Engels. Ella dachte, so müsste der Erzengel Gabriel ausgesehen haben, als er Maria erschien. Ihrem Vater hatte sie das nicht gesagt, als er den Engel an ihrer Wand entdeckt hatte. »Was ist das?«, wollte er wissen, als er einen seiner Kontrollbesuche machte, um nachzusehen, ob sie ihr Zimmer aufgeräumt hatte. »Das habe ich in der Schule gemacht.« »Das bringen sie euch bei? Blasphemie? Du kennst das zweite Gebot?« »Du sollst dir nicht ein Bildnis machen.« »Kein Bildnis. Gott spricht gutes Englisch, im Unterschied zu dir.« »Tut mir leid, Dad. Es ist doch nur ein Bild, weil die Wand so kahl ausgesehen hat.« Sie sprach mit ihrem Vater immer so leise, dass er sie
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kaum verstehen konnte. »Alle meine Freundinnen haben Poster aufgehängt, aber ich weiß, du magst das nicht.« »Kein Bildnis«, wiederholte Ken, »noch irgendein Gleichnis, das oben im Himmel ist.« »Ja.« »Du weißt das, und du gehst her und machst dir ein Bild.« Kopfschüttelnd verließ er das Zimmer. Aber er hatte ihr nicht befohlen, es abzuhängen. Im Traum kam ein Engel zu Ella. Diese Nacht, ihre Geburtstagsnacht, war nicht die erste Nacht, in der sie diesen Traum träumte, aber er ängstigte sie mehr als je zuvor. Seit Wochen war der Traum immer wieder gekommen, stets begann er unter Wasser. Sie kämpfte sich nach oben zu einem Lichtpunkt, von ihren Lippen und ihrer Nase stiegen Blasen auf, die in ihren Ohren ein wirbelndes Brausen erzeugten. Ella trat nach unten und kämpfte, aber eine feste Hand hielt ihren Fußknöchel umklammert. Die Finger krallten sich durch bis auf den Knochen. Wieder und wieder griff sie hinauf zum Licht, und eine andere Hand bekam ihr Handgelenk zu fassen. Es war eine kleine Hand, schwach wie die eines Kindes, die verzweifelt an ihrem Arm zerrte. Gegen den gnadenlosen Griff der Hand an ihrem Knöchel war dieser kümmerliche Retter erbarmungswürdig machtlos. In diesem Traum schaffte sie es stets, die Lippen aus dem Wasser zu heben und hektisch Luft zu holen, die mit Tröpfchen eiskalten Wassers durchtränkt war. Die Tröpfchen raubten ihr den Atem, und sie öffnete noch einmal den Mund, doch dieses Mal sog sie weit mehr Wasser als Luft ein. Ella war noch nie im Meer geschwommen, sie war kaum in der Lage, einmal quer durch das warme Chlorwasser im Freizeitzentrum zu schwimmen, aber das Wasser, das nun in ihre Lunge strömte, schmeckte erschreckend echt. Es war durchsetzt von Schlamm und Schutt, und direkt über ihren Augen bildete es Vertiefungen und kräuselte sich, als würde heftiger Regen auf die Wasseroberfläche herabstürzen. Durch das dunkle Wasser bewegte sie sich nach unten und tastete nach den unbarmherzigen Fingern, die ihr Bein umklammerten. Und sie kämpfte sich wieder hinauf zu dem Licht, doch die Wasseroberfläche wich weiter und weiter zurück, bis ihre Lippen sie nicht mehr er11
reichen konnten, und als sie noch einmal keuchend Atem holte, schluckte sie nur Wasser. Ellas Traum begann sich nun zu entfernen - sie blieb im Wasser, aber die Empfindungen verloren an Intensität. Ihr Bein wurde taub. Ihr Arm trieb über ihr, aber sie wusste nicht, ob sie die mitleidsvolle kindliche Hand ihres hilflosen Retters erreichte. Das Wasser in ihrer Lunge war nicht mehr kalt - vielleicht war ihre Lunge aber auch nicht mehr warm. Das Licht über ihr war immer noch da. Sie spürte das Kitzeln ihrer Haare, als sie über ihr Gesicht glitten. Das Licht wurde heller. Es pochte, und aus dem Pochen wurde ein stetiges Pulsieren. Mit jedem Pulsschlag sah sie deutlicher, dass es sich bei dem Licht in Wahrheit um drei Lichter handelte. Drei Lichter, die sich umeinander drehten. Sie leuchteten wie ein Halogen-Heiligenschein durch die Wasserdecke und hinter ihnen, da, wo graue Wolken gewesen waren, war nun sonnendurchfluteter blauer Himmel. Die Lichter dehnten sich zu ihr hin aus. In ihrem Innern war Sicherheit. Könnten sie sie nur berühren, sie nur einen einzigen Moment lang berühren. Wie eine Flamme, die durch Wasser zischt, erreichten die Lichter ihr Gesicht. Einen Augenblick lang sah sie einen Engel im blauen Himmel. Das silberne Haar des Engels ergoss sich fast bis auf seine Füße. Er hatte die Hände vor sich gefaltet. Sie wollte glauben, der Engel würde für sie bitten, damit sie mit ihm gehen konnte, aber gegen das blendende starke Leuchten konnte sie sein Gesicht nicht erkennen. Und dann war sie sich nichts mehr bewusst, nur noch der Lichter. Das war das Ende des Traumes. Sie erwachte stets mit einer Leere hinter dem Brustkorb, als hätte sie vergessen, richtig zu atmen. Als Ella dieses Mal erwachte, schwebte sie ein paar Fuß über ihrem Bett.
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KAPITEL 2
E
in paar Sekunden lang war Ella noch am Ertrinken im Wasser ihres Traumes. Mit offenen Augen starrte sie durch die Lichter hindurch, während sich die Hand hilfreich zu ihr ausstreckte. Dann prallte ihr Arm gegen die Wand, und sie fror. Die Bettdecke war weggerutscht, sie lag mit dem Gesicht nach oben, und sie spürte die abgetragene Baumwolle ihres Nachthemds an ihrem Körper. Sie spürte weder die Matratze noch das Kissen. Ihr Haar hing schwer nach unten. Sonst spürte sie kein Gewicht in ihrem ganzen Körper. Ihre Hand griff nach unten und sie betastete den Raum unter sich. Ihr Körper berührte das Bett nicht. Ella drehte den Kopf zur Seite. Sie befand sich auf einer Ebene mit dem Regal, auf dem ihr Sparschwein und der schwarze Samtbulle standen, den eine Schulfreundin aus den Ferien in Mallorca mitgebracht hatte. Sie war kaum eine Armlänge von der Decke entfernt. Schwebend. Um sich herum spürte sie wie einen sanften Wellenschlag eine deutliche Strömung, die sie oben hielt. Sie schlief nicht. Sie wusste, sie war aufgewacht. Ihr Traum hatte wie immer mit den hell leuchtenden, sich drehenden Lichtern aufgehört. Dies hier war kein neuer Bestandteil des Traums. In ihrem Hals und in ihrem Kopf hörte sie das Pulsieren ihres Blutes. Am Leben, sagte jeder Pulsschlag. Am Leben, wach, am Leben. Vielleicht hatte ein Engel sie besucht. Vielleicht war der Engel unsichtbar und hielt sie in seinen Armen. Und sie war deshalb ruhig und furchtlos. Angestrengt schaute sie über ihre Füße zu ihrem Engelbild an der Wand. Dort hing nichts weiter als ein Fetzen schwarzen Papiers. Ella stieß einen kleinen Schrei aus, als habe man sie mit der Spitze einer Klinge gepiekst. Im Moment ihres Aufschreis schwebte sie nicht mehr. Sie fiel nicht. Da war kein Übergang zwischen Luft und Bett gewesen. Es gab keinen Aufprall, als sie unten ankam, keine Reaktion der Bettfedern auf ihr Gewicht. Im einen Augenblick befand sie sich über 13
dem Bett - im nächsten lag sie darauf. Die Bettdecke lag auf dem Boden, und so, wie es gewesen wäre, wenn sie eine Stunde lang absolut ruhig im Bett gelegen hätte, schmiegte sich ihr Körper in die Vertiefung der Matratze, und ihr Kopf war tief in dem massigen Kissen versunken. Ella klammerte sich an die Bettkante, spannte die Muskeln und drückte sich so fest sie konnte gegen die Matratze. Sie wollte nicht noch einmal schweben. Sie hatte keine Zweifel. Als sie aufwachte, war ihr Körper oben über dem Bett getragen worden. Ihre Haut hatte sich eine physische Erinnerung an die Empfindung bewahrt. Hätte sie dagelegen und darüber nachgedacht, hätte sie begonnen, sich zu wundern und sich dann selbst davon überzeugt, dass es ein Irrtum war. Ein Traum, weiter nichts. Oder eines dieser merkwürdigen Gefühle. Aber Ella lag nie da und dachte über etwas nach. Sie fühlte Dinge sehr stark. Sie konnte nur nicht sehr klar darüber nachdenken. Sie versuchte nicht, rational zu sein. Es war eine simple Tatsache - als sie aufwachte, fühlte sie, dass sie schwebte. Sie begriff es nicht, aber ihr ganzes Leben lang hatten die Leute zu ihr gesagt, dass sie nichts begriff. So festgeklammert am Bett, taten ihr langsam die Muskeln weh. Es war ein Gefühl der Sicherheit gewesen, oben zu schweben. Warum wollte sie nicht noch einmal schweben? Weil ihr Engel fort war. Ella setzte sich auf. Im schmalen Lichtstrahl vom Treppenhaus her war es deutlich zu sehen - da, wo ihr Engel gewesen war, war ein dunkler Fleck. Sie ging hin, um ihn zu berühren. Ein verkohlter Flügel klebte noch an einem Rest Klebeband. Auf der Arbeitsplatte darunter waren Aschefetzen verstreut. Ella rief: »Mum!« Ihre Uhr war unten im Erdgeschoss, aber sie konnte den Fernseher hören, es konnte also noch nicht spät sein. Keine Antwort. Ella rieb an der Asche, und ihre Hand wurde schwarz. Sie schrie: »Mum! Mum! Mummy!« Keine Antwort. Sie hastete zum Lichtschalter, aber er funktionierte nicht. Panik ließ ihr Herz schneller schlagen. »Mum! Mum!« Sie öffnete ihre Tür, sprang mit einem Satz auf die oberste Treppenstufe und hinterließ dabei einen schwarzen Handabdruck auf dem Geländerpfosten. 14
Das Gesicht ihrer Mutter erschien in der Tür des Wohnzimmers. »Was hast du getan?« »Mein Engel ist fort, alles ist verbrannt.« »Was schreist du hier herum?« Sie kam zum Fuß der Treppe, ihr tränenloses Gesicht war müde. Ihre Augenränder waren entzündet, und die dunklen Striche, mit denen sie jeden Morgen ihre Augen umrahmte, hatten schmierige Spuren auf ihren Wangen hinterlassen. Ella vergaß den Engel. »Mum, du hast geweint.« Sie machte Anstalten, zu ihr hinunterzugehen. »Bleib da oben. Mit mir ist nichts. Ich komme rauf.« Frank, der Junge von sieben mit seinen kurzen drahtigen Haaren, stolperte in seinem zerknitterten Schlafanzug aus seinem Zimmer, um zu erfahren, was los war. »Ella hatte wieder einen ihrer Träume, weiter nichts. Ab ins Bett, Liebling.« »Es ist kein Traum, mein Engel ist total verbrannt. Sieh doch!« »Was hast du da an der Hand? Mein Gott, sogar wenn ich dich ins Bett schicke, machst du aus meinem Haus einen Schweinestall. Frank, wenn du nicht im Bett bist, wenn ich diese Treppe oben bin ... Ella, Ella, was machst du bloß?« Ellas geschwärzte Hand umklammerte Juliettes Arm - »Mein Gott, pass doch auf, meine Strickjacke« - und zog sie in das Schlafzimmer. »Was soll das, wie soll ich etwas sehen, wenn das Licht aus ist?« »Die Birne funktioniert nicht.« Aber als Juliettes Hand den Schalter berührte, ging das Licht an. »Jetzt beruhige dich.« Ihre spröden, kalten Hände lagen auf den Schultern ihrer Tochter. »Sieh doch«, drängte Ella. »Alles ist verbrannt.« Dann fügte sie beunruhigt hinzu: »Hat Dad ihn verbrannt?« »Daddy ist nicht da. Schon vergessen? Am Mittwoch pflegt er auszugehen ...« »Und du oder Frank, ihr wart es nicht?« »Ella, du selbst hast das getan.« »Nein!« »Frank war es natürlich nicht. Er ist nicht so kindisch. Und ich bin unten gewesen.« Während Juliette sie schalt, war ihr Gesicht ganz dicht vor ihr, und Ella roch den penetranten Atem der Mutter. Gin und Tonic. 15
»Ich war es nicht.« »Dann ist es deine Lampe.« Juliette deutete auf eine Gelenkleselampe, drei Fuß entfernt an der Schreibtischkante. »Du lässt sie immer an, sie wird heiß. Ich habe es dir gesagt. Das ist Stromverschwendung, dein Vater mag das nicht. Und jetzt brennst du womöglich noch das ganze Haus nieder.« »Es waren keine Lampen an.« »Es ist nicht gut, wenn du dich herauszureden versuchst. Geh wieder schlafen oder ich sage es deinem Vater.« »Ich möchte jetzt nicht wieder schlafen gehen«, bettelte Ella. »Das machst du nur, um mich noch müder zu machen.« »Mum, darf ich noch eine Weile mit dir nach unten?« »Ella, ich bin zu müde zum Streiten. Du hattest einen schönen Geburtstag - wenn du ihn verderben willst, liegt das ganz allein bei dir.« »Ich will jetzt nicht wieder ins Bett.« Sie hielt Juliette an den Fingern fest, um sie vom Gehen abzuhalten. »Mr. McNulty sagt, du musst in seiner Klasse mehr arbeiten. Wenn du also so freundlich wärst und zu Bett gehen und anständig schlafen würdest wie ein gutes Mädchen. Jetzt lass los, im Unterschied zu dir bin ich müde.« »Nein, Mum, bleib da. Ich habe Angst.« »Wovor hast du Angst? Träume! Sprich deine Gebete und vertraue auf Jesus. Träume können dir nichts tun.« »Mum, ich bin geschwebt.« »Was meinst du? Hör auf, Ella.« »Ich habe schon geträumt, aber als ich aufgewacht bin, bin ich geschwebt.« Juliette entzog ihr ihre Hand. »Du bist ein dummes, kleines Mädchen«, sagte sie, »und du hast deine Albträume verdient.« Von der Nacht ihres vierzehnten Geburtstags an schien Ella keine Kontrolle mehr über ihr Leben zu haben. Wo sie hinging, passierten Dinge. Diese Dinge ließen keinen Sinn und kein Muster erkennen. Sie konnten nicht recht erklärt oder gedeutet werden. Anfangs konnten sie nicht einmal mit Ella in Verbindung gebracht werden. Am Morgen nach ihrem Geburtstag gingen um vier Uhr in der Nelson Road 66 alle Lichter an. Alle, sogar die Lampen, deren Stecker aus16
gesteckt waren, und die Leuchtstofflampe im Badezimmer, die gezündet werden muss. Vor fünf Uhr wurden sie, eine nach der anderen, ausgeschaltet oder sie gingen von selbst wieder aus. Noch ehe jemand zum Frühstück aufgestanden war, wurden Juliettes Beefeater-Flasche und eine leere Tonicflasche aus ihrem sorgfältig gewählten Versteck unter der Treppe geholt und zerschmettert. Juliette beschuldigte keines ihrer Kinder, sondern kehrte eiligst die Scherben auf. Sie konnte nicht zugeben, dass sie eine Ginflasche im Schrank unter der Treppe versteckt hatte, aber sie glaubte, Ella habe sie aus Bosheit zerschlagen. Das Telefon läutete beständig fünfzehn Minuten lang, sogar mit abgenommenem Hörer. Ellas Uhr blieb um elf nach elf stehen. Als sie versuchte, sie aufzuziehen, sah sie, dass die Zeiger nach oben standen und gegen das Glas gedrückt waren. Zweimal, als Frank nach einem Brotmesser griff, erschütterte ein Dröhnen, das aus dem Fundament aufzusteigen schien, das Haus. Beim zweiten Mal ging Juliette zum Fenster und spähte in den grauen Himmel hinauf. »Das ist die Concorde«, erklärte sie, obwohl durch die dichten Regenwolken nichts zu erkennen war. »Sie sollte nicht so schnell und so tief über unsere Häuser fliegen.« Die Küche war erfüllt mit einem elektronischen Wimmern, fast zu hoch, um es zu hören. Am lautesten war es, wenn das Wasser lief. Juliette sagte, die Leitungen würden das Radio von nebenan weiterleiten. Der Reißverschluss von Franks Sporttasche war zugezogen und ließ sich allen Anstrengungen zum Trotz nicht öffnen. Das war das Einzige, was Juliette an diesem Morgen eingestandenermaßen merkwürdig fand. »Ich verstehe das nicht, er klemmt, aber ich sehe nicht, wo. Ich bin so ungeschickt mit Reißverschlüssen, euer Vater könnte das in null Komma nichts in Ordnung bringen. Da, versuch du es, du bist ein Junge, du bist besser in solchen Dingen. Ich sehe einfach nicht, wo er klemmt, siehst du es? Ella, geh mit deinem Kopf weg, du bist mir im Licht.« Die Tasche ging auf, als Ella sie berührte. Als Ella die Haustür hinter sich zuzog, schaltete sich der Radiokassettenrekorder in ihrem Zimmer mit voller Lautstärke ein. Für den Rest des Tages war alles im Haus normal. Aber in der Schule war es viel schlimmer. 17
KAPITEL 3
J
uliette dachte, kleine Zicke, während sie Glassplitter von der Teppichkante pickte an den Stellen, wo der Staubsauger nicht hinkam. Es war nicht nur der vergeudete Gin - es war nicht mehr so viel in der Flasche gewesen, wie sie gedacht hatte -, sondern der Stress. Jedes Splitterchen musste beseitigt sein, bevor Ken nach Haus kam und es entdeckte. Er schien Radaraugen zu haben, denn sie entdeckten alles, was sie vor ihm verbergen wollte. Es war, als wüsste er, wonach er Ausschau halten musste. Natürlich war es Ella gewesen, die die Flaschen zerschlagen hatte. Juliette wusste das, auch wenn sie es dem gnädigen Fräulein nicht ins Gesicht sagen würde. Es war nicht Frank. Er wusste ohnehin nicht, dass die Flaschen dort waren. Er war immer noch sehr klein. Nein, es war Ella, obwohl sich Juliette nicht vorstellen konnte, wie sie diese Treppe hinaufgekommen war, bevor sie sie entdeckte. Gemeine, boshafte kleine Zicke. Dennoch, es war nicht die einzige Flasche. Ella hatte ein Versteck gefunden, aber sie kannte nicht alle ... Plötzlich unruhig geworden, musste Juliette sichergehen und überprüfte den Kaminmantel hinter dem Gasanzünder und den Boden des Schmutzwäschebehälters. Beide Flaschen waren da. Sie nahm ein Becherglas aus der Geschirrspülmaschine. Es war erst zwanzig nach neun, aber Juliette hatte bereits einen harten Morgen hinter sich. Dieses ganze Chaos, bevor die Kinder in die Schule gingen, und dann die Staubsaugerei. Und wenn Ella glaubte, sie könnte über ihre Mutter bestimmen, indem sie in den frühen Morgenstunden herumschlich und Lampen anmachte oder die persönlichen Sachen anderer Leute zerschlug, dann musste man ihr zeigen, dass sie im Irrtum war. Juliette hatte absolut das Anrecht auf einen Drink.
Sie trank ohnehin kaum. Nur an Sonntagen und Mittwochen, wenn Ken bei seinen billigen Weibern war - bei ihren Selbstgesprächen nahm Juliette kein Blatt vor den Mund. Und montags und donnerstags, bevor er heimkam. An den anderen Tagen trank sie überhaupt nicht. Nur, wenn andere tranken. Sie behauptete nicht, Abstinenzlerin zu sein, das wäre 18
eine Lüge, aber sie trank tatsächlich so wenig, das es überhaupt nicht ins Gewicht fiel. Nur an den Tagen, wenn Ken sie erniedrigte. Dann brauchte sie etwas, dann verdiente sie einen Drink, oder zwei Drinks, wenn sie wollte, um nicht trübsinnig zu werden. Es war seine Schuld. Wenn Ken da war, nahm Juliette stets für alles, was passierte, die Schuld auf sich. Ihm gab sie die Schuld für das, was sie tat, wenn sie allein war. Sie goss einen ordendichen Schluck in den Becher, dann gab sie noch einen Spritzer hinzu, anstelle des Tonicwassers. Sie lehnte an der Wand neben der Treppe, am Telefon, und drehte eine Locke ihres strohfarbenen Haars. Sie sollte Sylvie anrufen. Einfach, um ihr für den Kuchen zu danken. Bevor Sylvie sie anrief. Es musste sein, obwohl sie nicht in der Stimmung war. Juliette hatte nicht die Kraft, um sich anzuhören, dass Sylvie sich so-o freute, dass Ella einen schönen Tag gehabt hatte. So-o froh war, dass ihr der Kuchen geschmeckt hatte, so-o erleichtert, weil sie sich so-o sicher gewesen war, dass die Teigmischung zu durchgeweicht war. Und war es nicht so-o wundervoll, vierzehn zu sein? Juliette konnte sich an nichts Wundervolles erinnern, als sie vierzehn war. Ihr Vater schlug sie bewusstlos, als er dahinterkam, dass sie mit Marco Bouchere geschlafen hatte. Ihre Stiefmutter brachte man im Rollstuhl heim, nachdem ihre beiden Beine von dem Fahrer eines Citroen-Lastwagens, der Fahrerflucht begangen hatte, zerschmettert worden waren. Marcos Schwester, Simone Bouchere, verschwand, und es dauerte drei Monate mit Zeitungsreportern und Gebeten, bis ihre verweste Leiche während einer Hitzewelle gefunden wurde, bei der die Kiesgrube ausgetrocknet war. Das alles hieß vierzehn sein. Ella hatte keine Ahnung. Beide Eltern zu Hause, viel Geld kam herein, eine gute Schule. Dieses Mädchen hatte wirklich keine Ahnung. Wie Sylvie. Die hübsche kleine Schwester. Sylvie war vierzehn gewesen, als Ken und seine Kumpels Juliette in Le Havre auf eine Autofähre schmuggelten. Und jetzt sehe sich einer die hübsche kleine Schwester an. Neunundzwanzig, zwei Ehemänner, die sie nicht hatte halten können, ein Baby, das sie ebenfalls nicht hatte behalten können. Und immer tönte sie so-o optimistisch herum, weil es so-o wichtig war, stets positiv zu denken. Konnte Juliette Sylvies Baby-Geplapper verkraften, ihr sie sei so-o froh, dass sie eine so wunderbare-wunderbare-wunderbare Familie habe? 19
Sie nahm einen tüchtigen Schluck aus dem Becher. Ja, sie konnte es verkraften. Allemal besser, als darauf zu warten, dass Sylvie anrief, total eingeschnappt, weil ihr alberner Kuchen eine Katastrophe gewesen sein müsste, und es täte ihr so-o leid. Auch Ella hatte einen schlechten Vormittag. Jeder Vormittag in der Schule war schlimm für Ella, aber dieser war noch schlimmer als sonst. Sie war alt genug, um zu wissen, dass dieses ganze Zeugs beim Frühstück verrückt war, und anderen, die sie kannte, passierte nie verrücktes Zeug. Als sie noch ein Kind war, hatte sie nicht so darauf geachtet und überhaupt, damals war verrücktes Zeug nicht so oft vorgekommen. Hin und wieder verschwand etwas oder flog in der Gegend herum. Für gewöhnlich merkte es keiner. Die letzten paar Stunden war es jedoch ohne Unterbrechung gegangen. Der Kuchen - sie hatte ihn nicht angerührt. Sie hatte es nur zugegeben, um sich keine Schläge von ihrem Vater anzufangen. Und das Schweben im Bett und ihr Engel, der bei ihrem Traum irgendwie verbrannte. Ihre Mutter hatte für das verrückte Zeug vor dem Frühstück eine Erklärung gefunden - ein Überschallknall, Frank, der herumalberte, die Telefongesellschaft, deren Leitungen nicht in Ordnung waren. Ella war stets erleichtert, wenn ihre Mutter diese Verrücktheiten ignorierte. Ihr war es lieber, von Juliette ignoriert zu werden, als von Ken gewaltig eine aufs Dach zu kriegen. Wie da, als er wegen des Geburtstagskuchens ausgerastet war. Wäre nur ihre Mutter anwesend gewesen, wäre die Schweinerei ohne jeden weiteren Kommentar aufgeputzt worden. Juliette wurde nur wütend, wenn man ihr auf die Nerven ging, zum Beispiel, wenn sie fernsehen wollte und man versuchte, mit ihr zu reden. Dann konnte sie richtig heftig werden. Aber nicht so wie Ken. Er konnte ausflippen, wenn man ihm zufällig über den Weg lief. Bei Ken war man nur auf der sicheren Seite, wenn man ihm aus dem Weg ging, sofern er nicht erwartete, dass man da war, wie zu den Mahlzeiten oder wenn er überraschend einen seiner »Ordnungs-Checks« machte - die Schlafzimmer der Kinder auf Ordnung hin inspizierte. Ken hielt seine Tochter offen gesagt für blöd, eindeutig unter dem Durchschnitt. Sie sprach kaum, und wenn sie etwas sagte, war es für ge20
wohnlich unhörbar. Aber nicht einmal ihre Freundinnen hielten sie für eine Leuchte. Alle sagten, sie wäre ein bisschen dumm. Ihre beste Freundin Holly stand ihr bei. »Sie hat super Haare«, führte Holly stets ins Feld, wenn jemand über Ella herzog. Der Morgen hatte schlecht angefangen. Gegen zehn Uhr wurde es noch schlimmer. Sie kritzelte herum, als sie hätte lesen sollen. »Wir sind nicht im Zeichenunterricht, Ella«, verkündete Mr. McNulty. Ella hob den Blick, senkte ihn aber gleich wieder. Sie war völlig darin vertieft gewesen, einen Engel auf einen Bucheinband zu malen, sorgfältig hatte sie jede einzelne Feder seiner Flügel schraffiert, und sie hatte nicht einmal gemerkt, dass sie das tat. Alle drehten sich zu ihr und sahen sie an. Das war Ella am meisten verhasst. Alles andere ertrug sie lieber, als dass die ganze Klasse sie anstarrte. Der Einzige, der sie nicht ansah, war Mr. McNulty. Er hatte sich zur Tafel umgedreht und zeigte den siebenunddreißig Schülern der neunten B-Klasse im Englischunterricht die Rückseite eines verschwitzten Nylonhemdes und seinen fetten, abgewetzten Hosenboden. Die Neunte wartete. Je länger Mr. McNultys Kunstpause dauerte, umso schlimmer würde es werden. In den zehn Sekunden des Schweigens versuchte Ella, die Zeichnung zu verdecken und die richtige Seite in ihrem Arbeitsbuch zu finden. »Ich kehre dir den Rücken zu, Ella.« Sie antwortete nicht. »Ella Wallis!« Mr. McNulty legte die Fingerspitzen an die Schläfen. »Ist da jemand? Kann mich jemand empfangen auf dem Planeten Ella?« Die Klasse brach in Gelächter aus. McNulty war an diesem Morgen offensichtlich zu Scherzen aufgelegt. Manchmal war er so. Normalerweise kurz vor den Ferien. Außer Mr. McNulty fand niemand diese McNultiness wirklich lustig, aber alle lachten, weil jeder froh und glücklich war, dass er nicht in der Schusslinie stand. »Ella, ich werde dich jetzt mit einem Meisterstück an Geisteskraft verblüffen. Mir ist bewusst, dass du gezeichnet hast, denn ich habe gesehen, dass sich dein Stift bewegt. Du konntest nicht geschrieben haben, denn deine Lippen haben sich nicht bewegt. Aber was du gezeichnet hast, konnte ich nicht sehen, weil du deinen rechten Arm um das Buch gelegt hast. 21
Unter äußerster Anstrengung der grauen Zellen wird der Große McNulty, meine Damen und Herren, in die Gedanken von Ella Wallis blicken, TELEPATHISCH. Die Zeichnung ist ... ein Tier!« »Ja, Mr. McNulty«, sagte Ella. Es war eine Lüge, aber alle anderen machten bei dem Spaß mit, und sie war zu eingeschüchtert, um sich zur Wehr zu setzen. »Es ist... ein Haustier. Und das Haustier ... das Bild ist ein bisschen verschwommen ... aber schließlich sprechen wir hier vom Gehirn von Ella Wallis ... das Tier ist eine Katze!« »Ja, Mr. McNulty.« Mr. McNulty drehte sich um. Er zeigte der Neunten große, gelbe Zähne. »Sie dürfen applaudieren.« Und das taten sie. »Wie ist das zustande gekommen, dieses fantastische Meisterstück der Telepathie? Wer glaubt, dass ich Ellas Gedanken gelesen habe? Hände hoch!« Ungefähr die halbe Klasse behauptete, an McNultys übernatürliche Kräfte zu glauben. »Und wer glaubt, dass ich die Zeichnung gesehen habe?« Die andere Hälfte hob die Arme. »Aus dieser Entfernung? Wo sie dergestalt über das Bild gebeugt war? Unmöglich. Aber ... ABER! Ich sage euch das jetzt und merkt es euch gut, damit ihr es nie vergesst, egal, was euch Hypnotiseure und Magier im Fernsehen glauben machen möchten - so etwas wie Telepathie gibt es nicht. Ich habe Ellas Gedanken nicht gelesen. Was ich gelesen habe war ... Ellas Schularbeit!« Mr. McNulty griff in seine Schreibtischschublade und holte einen Stoß Papiere heraus. »Die Aufsätze vom Montag, alle korrigiert, keiner hat die maximale Punktzahl erreicht ... wieder einmal. Die beste Bewertung hat Richard, und deshalb Richard, dein Preis - du darfst die alle austeilen.« Er reichte dem Jungen den Papierstoß - er genoss heute seinen kleinen Anfall von McNultiness ausgiebig. »Eure Aufgabe war es, >Ein paar Dinge, die ich am liebsten mag< aufzuzählen, mit Begründung. Als angemessene Anzahl nannte ich elf.« Er kritzelte »11« auf die Tafel. »Es ist gut, dass wir hier nicht im Mathematikunterricht sind, weil kaum einer hier bis elf zählen kann. Ella Wallis kann es, das muss ich ihr lassen, sie kann bis elf zählen. Ich war derart beeindruckt, dass ich die elf liebsten Dinge von Ella auswendig gelernt habe. In umgekehrter Reihenfolge sind das - Ella, korrigiere 22
mich, wenn ich mich irre, ... was ich aber nicht tun werde -, Nummer elf: Frösche. Nummer zehn: Delfine. Neun: Wildkaninchen. Acht: Papageien. Sieben: tropische Fische, besonders Haie. Sechs: Giraffen. Fünf: Vögel im Garten, wie Rotkehlchen. Vier: Füchse. Drei: Ziervögel, besonders Tante Sylvies Wellensittich Tutu. Zwei: Hunde. Offensichtlich alle Hunde. Und Nummer eins: Am allerliebsten mag Ella Wallis eine Katze namens Rambo.« Jetzt lachten nicht mehr viele. Das ging zu weit. Ella, das Gesicht hinter ihren silbernen Haaren versteckt, starrte vor sich. Mr. McNulty war jetzt zu sehr in Fahrt und von sich begeistert, um aufhören zu können. »Was fällt uns auf bei den Lieblingsdingen von Ella? Richard? Irgendjemand? »Es sind alles Tiere, Mr. McNulty.« »Richtig. Keine große Vielfalt, oder? Ich hätte gerne ein wenig mehr Fantasie gesehen, Miss Wallis. Zum Beispiel: »Arn allerliebsten male ich Männchen, wenn ich im Unterricht von Mr. McNulty aufpassen soll.< Botschaft angekommen, Ella?« Es herrschte Stille, während Ellas schwache Stimme sich darauf vorbereitete, ohne zu zittern sagen zu können: »Ja, Mr. McNulty.« Vielleicht lag es daran, dass nun niemand mehr zu Ella hinstarren wollte, dass Mr. McNulty zu merken schien, dass er seinen Scherz ein wenig zu weit getrieben hatte. Er versuchte, sich wieder einzukriegen. »Das ist eine ernsthafte Lektion. Das nächste Mal werde ich euch erklären, wie es mir gelungen ist, Ellas Arbeit aufzusagen, ohne hineinzusehen - unser Gedächtnis ist ein sehr mächtiges Instrument, wenn wir es richtig trainieren. Jeder in dieser Klasse verfügt über ein gewaltiges Intelligenzpotenzial, wenn ihr es richtig trainiert. Wir gebrauchen nur zehn Prozent unseres Gehirns - das sagte Albert Einstein. Aber Telepathie ist lediglich ein aufgelegter Schwindel. Haben das alle verstanden?« Für einen Moment bekam Ella einen kleinen Einblick in Lewis McNultys Gehirn. Sie versuchte nicht, ihm das Gegenteil zu beweisen - sie hatte noch nicht einmal aufgeblickt, aber, wie ein Hauch von Körpergeruch oder ein Speicheltröpfchen im Gesicht, streiften plötzlich seine Gedanken ihren Kopf. Das kam vor, manchmal. Sie hatte stets ein feines Gespür für das, was die Leute gerade im Begriff waren zu sagen. Sie sah die Dinge, die andere Leute vor sich sahen, und sie hörte die Worte, die sie zu unter23
drücken versuchten. Ihre Emotionen durchliefen sie manchmal wie ein Schauder. Es war nicht so, dass sie diese Gefühle genauso empfand - aber ein oder zwei Tropfen der Essenz des Lebens anderer Menschen sickerten in ihren Geist ein. Sie dachte daran nicht als Telepathie. Sie dachte überhaupt nicht darüber nach - für sie war es genauso normal, wie die Worte zu hören, die andere sprachen. Mr. McNultys Gedanken hatten einen bitteren Geschmack, wie nach Langeweile. Nach Frustration darüber, von so viel Jugend umgeben zu sein und sich nach seiner eigenen, vergangenen Jugend zu sehnen. Einsamkeit. Angst, sich lächerlich zu machen. Dieser Geschmack war nur ein paar Sekunden zu spüren, dann war er verflogen. Ella wünschte sehnlichst das Ende der Stunde herbei. Ihre Hände packten ihr Buch, und sie wünschte, sie könnte die Tür zum Klassenzimmer hinter sich zuschlagen. Draußen auf dem Flur explodierte Glas mit einem ohrenbetäubenden Knall, der die siebenunddreißig Schüler der neunten Klasse aufschreien ließ.
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KAPITEL 4
H
olly sagte: »Ich dachte, es wäre eine Bombe.« Wie Ella sprach sie mit dem Bristoler Dialekt, sodass sich jeder Satz wie eine Frage anhörte. »Ich dachte, es wäre die IRA oder so? Ich dachte, wir müssten alle sterben!« Holly kicherte. Holly und Ella und Flora Sedgewick standen im Vortragssaal der St. John's Lane Secondary, Bedminster, vor dem Tisch mit der Ausstellung über das Verkehrswesen in Bristol im Wandel der Zeit. Die erste Stunde am Nachmittag war Geografie, die letzte Geografiestunde vor den Weihnachtsferien. Aus diesem Anlass wollte Mrs. Hyde Dias vorführen, die sie im Laufe von fünfundzwanzig Jahren gemacht hatte und die anschaulich zeigten, wie sich das Leben in Norwegen in diesem Zeitraum verändert hatte. Darum warteten sie im Vortragssaal, dem einzigen Raum der Schule mit einem Diaprojektor. »Mr. Evans sagte, das könnte nicht einfach so passiert sein«, sagte Holly. Mr. Evans war der Hausmeister. »Er sagte, da müsste einer einen Stein geworfen haben, aber das hat keiner, stimmt's? Außerdem hätte ein Stein sowieso nicht das ganze Glas kaputtmachen können.« Die gesamte Mittagspause über hatten sie von nichts anderem geredet als darüber, wie während der Englischstunde die Glasscheiben aus der Klassenzimmertür gekracht und messerscharfe Scherben in alle Richtungen geflogen waren. Holly Mayor war direkt neben der Tür gewesen, als diese zersprang, und sie konnte noch immer kaum glauben, dass sie nicht verletzt worden war. Ella und Flora hielten sich dicht bei Holly, die wegen des Schocks verstört und den Tränen nahe war. Man musste sich um sie kümmern. Holly und Flora Sedgewick waren stets unzertrennlich, aber Holly, ein kleines Mädchen mit dunklen Augen, war auch Ellas beste Freundin. »Kein Mensch hat was geworfen«, bestätigte Flora. »Und die Tür war zu. Ich weiß, dass Mr. McNulty gesagt hat, wir hätten sie offen gelassen, aber das stimmt nicht. Also war es nicht der Wind.« »Vielleicht so was wie ein Erdbeben«, meinte Holly. »Ja, das klingt gut«, sagte Flora, froh darüber, eine Erklärung gefunden zu haben, die keiner der Lehrer in Betracht gezogen hatte. »Und ich 25
habe irgendwas gespürt, bevor es passiert ist, als hätte das Zimmer vibriert oder so.« »Wirklich? Hast du auch was gemerkt, Ella?« »Ella hat nichts mitgekriegt«, antwortete Flora an ihrer Stelle. Ella hatte bereits erklärt, sie habe von der Explosion des Glases absolut nichts mitbekommen. Sie sagte, sie habe mit offenen Augen geträumt, als es passierte. Die anderen Mädchen wussten, was sie meinte - sie war zu fertig gewesen wegen Mr. McNultys Schmähungen. »Es muss ein Erdbeben gewesen sein«, entschied Holly. »Der ganze Tag war schon verrückt«, meinte Ella. »Ich glaube nicht, dass es in diesem Land Erdbeben gibt«, ergänzte Flora. »Bei uns im Haus gingen mitten in der Nacht alle Lichter an. Und mein Kassettenrekorder hat sich von selbst mit voller Lautstärke eingeschaltet und kein Mensch war in seiner Nähe.« »Das ist echt unheimlich«, sagte Holly und drückte ihren Arm. Ella betrachtete angestrengt die Verkehrsmittelausstellung, sie überlegte, ob sie erzählen sollte, dass sie geschwebt war. »Das hört sich ganz nach einem Geist oder so was an«, meinte Flora. »Nicht. Du machst ihr Angst.« Ella starrte auf ein Foto vom Stadtzentrum Bristols vor den deutschen Luftangriffen, als noch Straßenbahnen vor dem Hippodrom vorbeifuhren. Die Ausstellung zeigte auch eine Blaupause von The Matthew, dem Schiff, mit dem John Cabot von Bristol losgesegelt war und Neufundland entdeckt hatte. Ferner gab es zwei Fotos von der Concorde, die auf der Start- und Landebahn der BA in Filton getestet worden war. Und in der Mitte des Tisches mit einem Schild »Nicht berühren« stand das 1/8-Airfix-Modell eines Sportwagens der Bristol Motors, sorgfältig zusammengebaut und bemalt von Mr. Evans. »In meinem Tagtraum«, gab Ella zu, »stellte ich mir in dem Moment, in dem das Glas zerbrach, vor, ich würde die Tür zuschlagen.« »Unheimlich«, wiederholte Holly ohne großes Interesse. Ihr gefiel die Erdbebentheorie. »Entschuldigt, ich bin spät dran.« Mrs. Hyde schob die Schiebetür zum Vortragssaal auf und hob die Stimme. »Bitte alle setzen, wir haben viel durchzunehmen. Hör bitte auf, dir das anzusehen, Ella.« Sie setzten sich, um sich Dias von Trondheim in den Siebzigerjahren 26
anzusehen, und Ella blieb keine Zeit mehr, um über die merkwürdigen Vorfalle dieses Morgens zu sprechen. Hätte sie sie erklären können, hätten ihre Freundinnen ihr vielleicht später geglaubt. Der Hausmeister, Mr. Evans, ging direkt zum Rektor, der Rektor ging zu Mrs. Hyde, und Mrs. Hyde rief alle Schüler der neunten Klasse zurück in den Vortragssaal, bevor einer von ihnen durch die Schultore schlüpfen konnte. Es war zehn vor vier und die Busse warteten. »Schnell, schnell«, rief der Schulleiter, als die Kinder hereingetrieben wurden. »Ich weiß, draußen wartet alles auf euch, aber wegen der Dummheit eines von euch müssen alle leiden. Barbara«, fügte er an Mrs. Hyde gewandt ruhiger hinzu, »vielleicht könnten Sie rasch hinausgehen und die Busfahrer bitten, sich einen Moment zu gedulden.« Der Rektor war ein dünner Mann mit einer hohen Stimme und langen Fingern, die er ständig vor sich hin und her bewegte, als würde er Klavier spielen. »Setzt euch - wer auf die Schnelle keinen Sitzplatz findet, stellt sich hinten auf. Ich bedauere außerordentlich ...«, er machte eine Kunstpause, um das letzte Wort richtig wirken zu lassen, »aber unter euch ist ein Dieb.«
Mr. Evans stand vor der Verkehrsmittelausstellung. Voller Abscheu schaute er sich in der Runde um. »Unmittelbar nach dem Ende der Geografiestunde von Mrs. Hyde heute Nachmittag kam Mr. Evans, um den Saal abzusperren. Entsetzt musste er feststellen, dass etwas aus unserer Verkehrsmittelausstellung entfernt worden ist. Ein Modellsportwagen, den Mr. Evans selbst gemacht hat - er ist weg.« Der Rektor wies mit einer dramatischen Gebärde hinüber zum Tisch. Da stand das Schild »Nicht berühren«, ansonsten war die Mitte leer. »Man hat mir versichert, alles war, wie es sein sollte, als Mrs. Hyde den Raum verlassen hat. Also muss jemand von euch das Auto genommen haben. Möchte dieser Jemand jetzt gestehen, es genommen zu haben?« Schweigen. »Ich kann euch versprechen, es wäre einfacher, jetzt zu gestehen, als später erwischt zu werden. Und derjenige wird erwischt. In jedem Fall. Mr. Evans war außerordendich großzügig, als er uns gestattete, sein wertvolles Modell in unserer Ausstellung zu zeigen, und wir haben sein Vertrauen missbraucht. Der Dieb bringt Schande über die ganze 27
Schule, und ihr alle werdet darunter leiden. So, jetzt tauscht ihr alle eure Tasche oder euren Ranzen mit dem Nebenmann. Schnell jetzt, und sucht sehr gewissenhaft nach diesem Auto. Und kommt gar nicht erst auf den Gedanken, einen sogenannten Freund schützen zu wollen, denn kein wahrer Freund würde die Selbstachtung der Schule zerstören.« Ella reichte Holly ihre Sporttasche, aber Holly tauschte die Taschen mit Flora Sedgewick, deshalb war es Flora, die kreischend aufsprang. »Mr. Pritchard, ist es das?« Sie zog das rote Plastikauto aus Ellas Tasche. Die Windschutzscheibe blieb hängen und zerbrach am Reißverschluss der Tasche. Mr. Evans eilte herbei und barg das Auto in seinen Händen wie einen verwundeten Vogel. Ein Kotflügel war eingedrückt, ein Rad hatte sich darunter verklemmt. »Kaputt«, bemerkte er, aber er trug es vorsichtig zum Tisch zurück. »Wem gehört die Tasche, Flora?« Flora behauptete, sie wisse es nicht. Sie wollte nicht den Eindruck erwecken, sie brenne darauf, Ella zu verraten. »Wem gehört die Tasche!« »Ella, Mr. Pritchard.« Aus Ellas Gesicht war alles Blut gewichen, im schwachen Licht des Vortragssaals sah sie aus wie ein Geist. Vor fünf Minuten waren in ihrer Tasche lediglich Bücher und Sportsachen gewesen. »Du hast es hineingetan«, wandte sie sich protestierend an Flora. »Habe ich nicht«, zischte Flora mit einer solcher Gehässigkeit, dass die anderen auf ihren Stühlen zusammenzuckten. »Ella Wallis, hierher bitte.« Der Rektor ließ sie nach vorn kommen, und aller Augen folgten Ella, die sich zwischen den Stühlen hindurchschob. »In Ordnung, ihr anderen könnt jetzt gehen. Flora, würdest du bitte noch einen Moment warten. Habe ich gesagt du, Holly Mayor? Also dann raus.« Mr. Pritchard starrte auf Ella und Flora hinunter, während die anderen aus der Klasse mit finsteren Gesichtern hinter ihnen vorbeischlurften. Er war leicht zwölf Inches größer als die beiden Mädchen. »Warum hast du das Auto genommen, Ella?« »Ich, niemals. Ich war es nicht«, flüsterte sie verzweifelt. »Wie kommt es bloß, dass ich mit dieser Antwort gerechnet habe? Flora, hast du das Auto in die Tasche gesteckt?« 28
»Ich, niemals«, erklärte Flora scharf. »Sie hatte es unter ihre Trainingsschuhe gestopft.« »In Ordnung, Flora, du kannst jetzt auch gehen.« Er wartete, bis die letzte Schülerin die Tür geschlossen hatte. Die beiden Männer standen nur wenige Inches von Ella entfernt, die die Griffe ihrer Tasche umklammerte. Plötzlich beugte sich der Schulleiter vor, und die aufgesetzte Freundlichkeit war aus seiner Stimme verschwunden. »Ich mag keine kleinen Mädchen, die sich in kleine Diebinnen verwandeln.« Seine dünnen Finger griffen ihr über dem Ohr ins Haar, und er zog ihr Gesicht bis dicht vor seine Brust. »Wie kommst du dazu, es wegzunehmen?« »Ich habe es nicht einmal angefasst«, stammelte Ella. »Du bist eine hinterhältige kleine Lügnerin. Ein hinterhältiges, dreckiges, verlogenes kleines Mädchen!« Er zog noch fester an ihren Haaren und zwang sie so, zu seinem Gesicht aufzusehen. »Oder etwa nicht?« »Ich war es nicht. Ich wollte es nicht einmal haben.« »Hör auf zu jammern. Was wirst du tun, um dich bei Mr. Evans zu entschuldigen?« Seine andere Hand schwebte über ihrem Gesicht, als hätte er sie am liebsten geschlagen, aber er riss sich zusammen. »Glaubst du, er wird eine Entschuldigung von einem hinterhältigen, kleinen, verlogenen Mädchen annehmen?« »Schlagen Sie mich nicht!« »Am liebsten würde ich sie übers Knie legen«, stieß der Hausmeister wütend hervor. Sie spürte die Gewalttätigkeit, die in den Armen und Beinen der Männer kribbelte, spürte sie so stark, dass sie kaum unterscheiden konnte, was die Männer laut aussprachen und was sie für sich behielten. »Dreckig! Klein! Diebin!« Ella hörte die Schiebetür rattern, als Mrs. Hyde zurückkam, und wurde mit einem Ruck nach oben gezerrt. Schluchzend griff sie sich an die vor Schmerz brennende Stelle der Kopfhaut, an der die Hand des Rektors sie festgehalten hatte. »Wir haben unsere kleine Diebin, Mrs. Hyde.« Seine Stimme war wieder kontrolliert, erfüllt von sanfterer Abscheu. »Ella?«, fragte die Geografielehrerin. »Was um alles in der Welt wolltest du mit diesem blöden Auto?« 29
»Was ich nicht begreife, ist der Grund«, sagte ihr Vater, als Ella im Wohnzimmer angetreten war und er sie umkreiste. »Warum? Wozu? Was willst du damit?« »Ich habe es nicht genommen.« »Fast glaube ich dir. Wenn ich nicht wüsste, dass du einfach zum Spaß Lügen erzählst, würde ich glauben, dass du die Wahrheit sagst. Wolltest du es Frank geben? Ich dulde nicht, dass du stiehlst, nicht einmal für Geschenke.« »Ehrlich, Dad, ehrlich. Ich lüge nicht. Ich würde es dir sagen, wenn ich es genommen hätte.« »Dann hat es dir jemand in die Tasche gesteckt. Das ist die einzige Erklärung. Oder? Also wer war das?« »Ich weiß es nicht.« »Hast du deine Tasche jemandem gegeben?« »Ich habe meine Tasche seit dem Mittagessen nicht einmal mehr aufgemacht.« »Aber du hast das Auto gesehen? Bevor es gestohlen wurde?« »Ich habe es mir angesehen, als wir auf Mrs. Hyde gewartet haben«, gestand Ella. Sie wollte weglaufen, sich in eine Ecke verkriechen, aber die breite Brust ihres Vaters hinderte sie daran. Ihre Augen befanden sich auf einer Ebene mit den filzigen grauen Haaren, die sich aus seinem Hemdkragen kräuselten. Sein aufdringliches Rasierwasser stieg ihr in die Nase. Zum dritten Mal an diesem Tag bebte Ella innerlich und wartete darauf, dass ein Mann mittleren Alters ihr Gewalt antat. Plötzlich griffen Kens Hände an den Gürtel seiner Hose. »Weißt du, was ich glaube, woran es liegt?«, fragte er und ließ den Dorn aus der Schnalle gleiten. »Ich glaube, dir gefällt's, wenn du beachtet wirst. Habe ich nicht recht? Es gefällt dir, wenn alle deine Klassenkameraden dich ansehen. Aber sie bewundern dich nicht. Glaub bloß nicht, irgendjemand würde dich achten, weil du klaust. Und Gott wird dich deswegen hassen.« Sie konnte nicht zuhören. Sie sah nur, wie die Hände des Vaters den breiten schwarzen Gürtel mit dem Silberkreuz auf der Schnalle doppelt nahmen. »Ich werde dir zeigen, wie es ist, wenn dich dein Vater beachtet. Du weißt, was die in manchen Heidenländern machen. Die hacken Dieben 30
die Hände ab. Das sind die Hände, die sich gegen Gott versündigt haben.« Er nahm ihre beiden Handgelenke in seine linke Hand. »Wenn dir deine rechte Hand Ärgernis schafft, sagte Jesus, so haue sie ab und wirf sie von dir. Steht das in der Schrift? Ja?« »Bitte, Dad. Ich habe es nicht geklaut.« »Du meinst, es wär dir lieber, du hättest es nicht getan. Und ich werde dafür sorgen, dass es dir noch ein bisschen lieber wäre. Heul nicht, mach es nicht noch schlimmer.« Ken Wallis hob den Arm und schlug mit dem Gürtel auf die offenen Handflächen seiner Tochter. Der Balken des silbernen Kreuzes schnitt in das Fleisch von Ellas Daumen. Er schlug sie noch einmal, und das doppelt genommene Lederband schlug mit einem Peitschenknall aneinander. Er schlug sie noch einmal und die Silberschnalle explodierte.
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KAPITEL 5
M
it einem Knall wie ein Gewehrschuss zersprang das Metall, als es Ellas misshandelte Hände berührte. Verblüfft hielt sich Ken das zerrissene Ende seines Gürtels vor die Augen. M i t einer Hand umklammerte er immer noch Ellas Handgelenke, so fest, dass er die Blutzufuhr abschnitt. Alles, was von der Schnalle übrig geblieben war, war der herabhängende Dorn. Seine Augen suchten auf dem Boden nach dem silbernen Kreuz. »Wo ist das hin?«, wollte er wissen. »Dad. Lass mich gehen.« Er schob sie von sich. »Geh auf dein Zimmer.« Als Ella an der Tür war, kniete ihr Vater auf dem Boden und klopfte den Teppich nach dem zerbrochenen Kreuz ab. Sie schob sich an ihrer Mutter und Frank vorbei in den Flur und lief hinauf, wo sie sich zu einer Kugel zusammenrollte, den Rücken gegen ihre Schlafzimmertür gepresst. Ihre pochenden Hände klemmte sie zwischen ihre Wadenmuskeln. Sie schluchzte und versuchte, mit vorgebeugten Schultern das Geräusch zu dämpfen, damit die unten sie nicht hörten.
Ella hatte etwa zwanzig Minuten so zusammengekauert dagehockt, hin und wieder auf die purpurroten Striemen gestarrt, die sich dunkel quer über ihre Handballen zogen, als sie die Stimme ihres Bruders hörte. »Elly? Elly?« Sie antwortete nicht sofort. »Wie geht's dir, Elly? Dad hat dir nicht wehgetan, oder?« »Mir geht's gut«, gab sie flüsternd zurück. »Frank! Was machst du da oben?« Das war die Stimme ihrer Mutter. »Ich gehe auf's Klo, Mum.« »Dein Vater hat dir gesagt, du sollst nicht rein und mit Ella sprechen.« »Tu ich nicht, Mum.« Ella hörte seine Schritte, als er zur Toilette lief, um die Wasserspülung zu betätigen und seiner Lüge den Anstrich von Wahrheit zu geben. Zehn Sekunden später erschien ein Fetzen zusammengefaltetes Papier unter der Tür, und Franks kleine Füße stürmten die Treppe hinunter. 32
Auf den Zettel waren zwei Augen und ein lachender Mund gemalt. Sie wusste, was er damit sagen wollte. »Don't worry, be happy.« Franks Lieblingssong. Er konnte es nicht ausstehen, wenn Ella niedergeschlagen war. Das war Franks Art. Betrübt zu sein, war für ihn nur Zeitverschwendung. War Ella betrübt, pflegte er dreißig Pence aus Juliettes Geldbeutel zu klauen und seiner Schwester einen Riegel Mars im Laden an der Ecke zu kaufen. Das half in der Regel. Wenn es eine Familienkrise gab und die Stimmung schlecht war - wie an den meisten Tagen -, musste Frank still sitzen und sich ruhig verhalten. Er ging fast die Wände hoch. Er war erst sieben, aber manchmal sah Ella, wie er mit beiden Händen in seine krausen Haare griff und sie drehte, weil es ihn verrückt machte, sich still verhalten zu müssen. Wenn Juliette mürrisch war, fasste er sie bei den Armen, drehte sich im Kreis und versuchte, sie herumzuwirbeln. Er musste schreien und herumsausen, zwölf Stunden am Tag, und wenn seine Mutter schon das bloße Zuschauen erschöpfte, dann war das zu schade. Hatten ihre Eltern Krach und Frank musste verdrossen still sitzen, konnte Ella hören, wie sich in seinem Innern Energie aufbaute. Tatsächlich hörte sie ein heiseres Summen wie in der Nähe eines Stromgenerators. Und genau das war Frank: ein Generator. Ken sagte, mit diesem Jungen könnte man eine Glühbirne betreiben, und vielleicht lag er damit nicht einmal so falsch. Wenn sie die Augen schloss und sich konzentrierte, konnte Ella manchmal das sehen, was ihr Bruder sah. Sie machte das manchmal, wenn er ihr fehlte - wenn sie auf ihren verschiedenen Schulen waren oder wenn Frank ins Pfadfinderlager geschickt worden war. Einfach, um zu wissen, wo er steckte. Sie wandte dabei eine bestimmte Technik an: Sie stellte sich den Bildschirm eines Fernsehers vor. Der Fernseher gab das wieder, was Franks Augen sahen. Wenn er in der Schule war, erschienen auf dem Bildschirm das Gesicht des Lehrers, die Bücher auf dem Tisch, die Hinterköpfe der anderen Kinder. Trieb er Sport, folgte der Fernseher dem Ball und zeichnete Franks Schreie auf. Einmal, als Juliette in Panik geriet, weil Frank noch nicht nach Hause gekommen und auch bei keinem seiner Schulfreunde war, sah Ella auf den Bildschirm in ihrem Kopf, und sie sah Wasser und hörte das Echo von Schreien. Fast wäre sie selbst in Panik verfallen, bis ihr klar wurde, 33
dass ihr Bruder in einem Schwimmbad war. Er war mit der Mannschaft der sechsten Klasse ins Bad gegangen - Frank war ein guter Schwimmer und konnte das Training der älteren Kinder mitmachen. Juliette weigerte sich, ihrer Tochter zu glauben, sie rief nicht einmal im Schwimmbad an, um es zu überprüfen - aber als Frank feucht nach Hause kam, machte sie Ella Vorwürfe. »Du hast es gewusst«, beschuldigte sie sie, »er hat es dir gesagt. Ich glaube, es gefällt dir, mich in einem solchen Zustand zu sehen.« Frank wurde nicht bestraft. Man drohte ihm oft mit Bestrafung, aber das waren leere Drohungen. Er hatte gelernt, ängstlich zu schauen und nicht weiter darauf zu achten. Bei Ella war es anders, sie wurde oft bestraft und ohne jede Vorwarnung. Manchmal, so wie heute, kam Frank und flüsterte eine Art von Entschuldigung, wenn Ella eine Tracht Prügel bekommen hatte. Er wusste, er bekam seinen gerechten Anteil nicht ab - er war auch nicht begierig darauf, aber er mochte es nicht, wenn man ihr wehtat. Ella hielt das hingekritzelte lächelnde Gesicht so fest, als hielte sie die Hand, die es gezeichnet hatte. Sie liebte ihren kleinen Bruder. Sie bemutterte ihn, als er ein Baby war, hätschelte ihn und schmuste mit ihm, zog ihn an und aus, machte ihn sauber. Beschützte ihn, als er älter wurde. Log, um ihm zu helfen, und setzte sich für ihn ein, wenn jemand etwas gegen ihn sagte. Sie liebte ihn, und er wusste es. Falls er sich einer telepathischen Verbindung zu seiner Schwester bewusst war, ignorierte er sie. Kein Siebenjähriger erwartet, seine große Schwester zu verstehen. Ihr Schlafzimmer war inzwischen dunkel, aber Ella stand nicht auf, um das Licht anzumachen. Sie wollte die Stromrechnung ihres Vaters nicht mit etwas so Überflüssigem belasten wie Licht für ihr Zimmer. Ihr war erbärmlich zumute, wie sie da so zusammengerollt an der Tür lag. Sie konnte den Schmutz in dem abgenutzten Teppich riechen und die rohe Spanplatte in der Tür. Ihr Rücken schmerzte von der Zugluft, die an den Türangeln hereindrang, trotzdem rührte sie sich lange nicht von der Stelle. Sie hatte es verdient, dass es ihr schlecht ging. Ihr Vater wusste das - er hatte ihr absichtlich auf die Hände geschlagen, bis sie schmerzten. Ihr Schulleiter wusste es - sie hatte den glühend heißen Ruck auf ihrer Kopfhaut nicht vergessen, als er eine lange Strähne ihrer Haare um seine Hand ge34
wickelt hatte. Sie war von Erwachsenen gedemütigt worden, die ihr überlegen waren. Natürlich hatte sie es verdient. Von unten konnte Ella das Klirren von Besteck hören. Ihre Familie saß beim Essen, aber sie durfte nicht bei ihnen sein. Sie wusste, es war ihre eigene Schuld. Sie konnte sich nicht erinnern, wie das Modellauto in ihre Tasche gekommen war. Sie wusste, sie hatte es angesehen. Sie wusste, sie hatte es nicht angefasst. Ihre Hände fühlten sich sauber an. Sie würden sich an den Kontakt mit dem Plastik erinnern, wenn sie das Auto genommen und unter ihre Sportschuhe gesteckt hätte. Sie musste es durch Willenskraft in die Tasche geholt haben. Mit ihrem Willen, obwohl sie es nicht haben wollte. Sie konnte sich nicht vorstellen, warum. Vielleicht, weil sie wusste, dass das Auto wertvoll war das heißt, man hatte ihr gesagt, es sei wertvoll, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, wieso. Sie konnte sich nicht denken, wer es, außer Mr. Evans, haben wollte oder wer es kaufen würde. Irgendwie schien ihr eine Erinnerung an das Auto geblieben, aber sie kam nicht dahinter, welche, und sie hätte es auch nicht in Worte fassen können. Da war irgendwas in ihrem Kopf, etwas, das da war, auf das sie aber einfach nicht kommen konnte. M i t der Tür und der zerbrochenen Scheibe war es das Gleiche - sie wusste, in ihrem Tagtraum hatte sie die Tür zugeschlagen, aber dahinter schien es noch eine bedeutendere Erinnerung als diese zu geben. Wie ein Name, den sie kannte, der ihr aber einfach nicht einfallen wollte. Ella glaubte, sie müsste geschlafen oder sich einem Tagtraum hingegeben haben, nur einen Moment lang, als das Glas explodierte und als das Modellauto verschwand. Sie lutschte an ihrem misshandelten Daumen. Der Dampf gekochter Kartoffeln vermischte sich mit den Gerüchen in ihrem Zimmer - sie war hungrig, und sie wollte essen, was ihre Familie aß. Als ihre Mutter an die Tür klopfte und mit matter Stimme sagte: »Dein Vater möchte, dass du dein Abendessen isst«, wagte Ella nicht zu antworten. Sie hörte, wie der Teller hingestellt wurde und wie sich die Schritte ihrer Mutter entfernten. Es gab gekochte Kartoffeln mit Würstchen und Soße. Alles kalt und hart. Ella saß schuldbewusst auf der Kante ihres Bettes und aß ein eiskaltes Essen, das sie nicht verdiente. 35
Mit vollem Magen kam sie sich vor wie eine Betrügerin. Sie fühlte sich besser, und sie durfte sich nicht besser fühlen. Sich besser zu fühlen, war gleichbedeutend mit Betrügen, noch ein Verbrechen an diesem schrecklichen Tag. Ihr Vater hatte gewollt, dass sie das Essen aß - sie nahm an, er habe ihr verziehen, aber Ella verstand nicht, wie er ihr verzeihen konnte. Sie hatte nicht gesagt, dass es ihr leidtat. Sie wusste gar nicht, was ihr leidtun sollte. Es war allein ihre Schuld, aber sie wusste nicht, wie sie verhindern sollte, dass alles noch mal passierte. »Etwas bereuen«, sagte Ken stets zu ihr und Frank, »heißt, sicherzugehen, dass man an diesem Tun nicht festhält. Bereuen heißt, es wird nie wieder vorkommen.« Gott würde ihr nicht vergeben, wenn sie nicht bereute. Dafür waren Gebete da, um zu bereuen. Sie wusste das. Mit diesem Essen im Bauch machte sie alles nur noch schlimmer. Sie hätte nicht essen dürfen. Es war falsch. Vielleicht hatte sie nicht verhindern können, dass sie dieses Modellauto gestohlen hatte, aber das Essen verweigern, das konnte sie. Die Würstchen und die Kartoffeln lagen ihr schwer im Magen. Am liebsten hätte sie sich auf das Bettzeug erbrochen. Das konnte sie nicht. Ihre Mutter würde fuchsteufelswild. Ella kauerte am Fußende ihres Bettes, ihr war schlecht. Als sie genügend Mut gesammelt hatte, öffnete sie die Tür und lugte hinaus. Alle waren unten. Sie schlich über den Treppenabsatz und hoffte verzweifelt, niemand würde sie hören. Im Badezimmer verriegelte sie die Tür so geräuschlos wie möglich. Sie starrte in die Toilettenschüssel und dachte an die eiskalte Soße. Mit einmal Würgen kam alles heraus. Der nächste Würgereiz war lediglich ein Reflex, und der dritte eher eine Art Husten, der nur schleimige Tropfen herausbrachte, die ihr über das Kinn rannen. Sie wischte die Schüssel mit Toilettenpapier sauber und spülte, anschließend wusch sie sich das Gesicht. Jede Spur der Mahlzeit war beseitigt. Sie hatte getan, was Ken gewollt hatte, und gegessen, aber nun war sie wieder hungrig. Hungrig und elend. Zum ersten Mal an diesem Tag hatte Ella das Gefühl, etwas richtig gemacht zu haben.
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In der Dunkelheit des Schlafzimmers seiner Geliebten hörte Ken Wallis ein Geräusch, als würde jemand gegen etwas stoßen. Er setzte sich auf und streckte eine Hand nach Ailishs massigem Körper aus. Sie war fort. Die Bettdecke war zurückgeschlagen, und seine Hand tätschelte das zerknitterte Laken. »Aili? Bist du das, Mädchen?« Er rief nach ihr, als wäre sie ein Hund. Komisch - dachte er, er war hellwach, aber er hatte nicht gemerkt, wie sie aus dem Bett geschlüpft war. »In Ordnung, Liebster?«, rief sie. »Ich habe mir an dieser verdammten Tür den Zeh angeschlagen. Wieso bist du überhaupt wach?« »Was polterst du da im Dunkeln herum?«, entgegnete er. »Meine Kippen suchen, Liebster. Gib Ruhe.« Sie machte das Licht im Nebenzimmer an, und Ken konnte sehen, wie sie nackt auf der Suche nach ihren Marlboros die Sofakissen umdrehte und unter den Couchtisch kroch. Sie war eine kräftige Frau, füllig und mit Dellen im Fleisch. Als sie sich vorbeugte, dachte er, dass seine Frau Juliette ihre beiden mageren Oberschenkel in ein Bein von Ailishs Jeans quetschen könnte. Sie war viel älter als Juliette. Sie war mindestens zehn Jahre älter als Ken. An die fünfzig. Na und? Sie war immer noch eine sehr attraktive Frau. Frau genug für ihn, und das, dachte Ken voller Genugtuung, besagte eine Menge. »Du bist ein prachtvoller Anblick, Mädchen.« »Frech.« Ailish machte das Licht aus und ließ sich auf ihrem Allerwertesten am Bettende nieder. »Ist mein Kenny immer noch zu Unarten aufgelegt?« Sie zündete sich an der aufflackernden Flamme eines Zippos ihre Zigarette an. Als das Flämmchen verlöschte, war das einzige Licht im Zimmer die matte Glut einer Marlboro. »Also, was hält dich denn wach?« »Mir geht was durch den Kopf, Mädchen.« »Willst du mir sagen, dass du nicht mehr zu mir kommen kannst?« Ailish klang nicht betroffen. Diese Dinge passierten ständig. »Wird deine Frau pampig?« »Die Zicke kann so pampig werden, wie sie will. Sie sagt Ken Wallis nicht, was er zu tun hat. Ich komme nach wie vor her, jeden Sonntag. Mach dir keine Sorgen.« »Ich hab mir keine Sorgen gemacht!« Sie lachten beide. 37
Ailish wusste gern Bescheid, was mit ihren Männern los war. Sie pflegte stets so lange zu fragen, bis sie es ihr sagten. »Also, was ist los? Was hält dich wach?« Sie hörte sich besorgt an, aber Ken wusste, es war lediglich Neugier. Er sagte es ihr trotzdem - er musste mit jemandem darüber reden, dem es egal war, mit jemandem, der nicht zur Familie gehörte, mit jemandem, der seiner Tochter nie begegnet war. Also mit jemandem, der im Grunde ein Fremder war. »Meine Älteste, Ella. Sie verhält sich ein wenig sonderbar. Manchmal richtig unheimlich.« »Wie alt ist sie?« »Vierzehn, diese Woche.« »Alle Vierzehnjährigen verhalten sich sonderbar, Kenny. Hat sie einen Freund?« »Nicht, dass ich wüsste. Sie ist noch ein Kind.« »Mit vierzehn ist man kein Kind mehr, Kenny. Ein Mädchen nicht.« »Sie ist ein bisschen zurückgeblieben, ehrlich gesagt. Hat zu viel von der Seite ihrer Mutter. Sie ist noch nicht erwachsen. Manchmal frage ich mich, ob sie überhaupt mal erwachsen wird.« »Ganz sicher«, sagte Ailish zuversichtlich. »Auf einmal kommt sie an und will einen Jungen heiraten, dann wird sie fort sein und du Großvater, bevor du es begriffen hast.« »Vielleicht. Ich würde nicht Nein sagen, das ist schon mal sicher. Täte mir nicht leid, sie von hinten zu sehen. Sie war schon von Anfang an eine Plage. Nichts, worauf man stolz sein könnte - sie ist nicht hübsch, sie ist nicht gut, sie ist nicht gottesfürchtig. Sie hängt einfach nur so rum. Nicht wie ihr Bruder. Frank, also das ist ein prima Bursche. Ein richtiger Racker. Ist dauernd beschäftigt mit Sachen, die ein Junge halt so tut. Außerdem, wenn Ella nicht unterwegs gewesen wäre, hätte ich ihre Mutter nicht heiraten müssen.« »Das ist nicht fair, ihr das vorzuwerfen. Du hättest sie nicht heiraten müssen, nur wegen eines Kindes. Sieh mich an. Mein Dad hat meine Mum nicht geheiratet.« »Das ist nicht gottesfürchtig«, sagte Ken grimmig. »Damit versündigt man sich gegen den Herrn. Natürlich«, fügte er nach einer kleinen Pause hinzu, »war es nicht deine Schuld.« »Nett von dir.« 38
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»Sie war schon immer ein komisches Mädchen. Hockt stundenlang in ihrem Zimmer, ewig. Das Radio läuft, aber so leise, dass sie es gar nicht hören kann. Malt Sachen. Malt in ihren Schulheften herum, wenn sie eigentlich schreiben sollte. Weißt du, was sie malt? Engel. Immer Engel. Engel mit großen Flügeln, die in der Gegend herumfliegen. Vielleicht ist das gotteslästerlich. Manchmal frage ich mich, ob nicht der Teufel versucht, sich in ihre Seele zu schleichen.« »Warum? Was tut sie denn so Böses?« »Das sind so Sachen ... manchmal denke ich, sie kann meine Gedanken lesen.« »Ich dachte, du hättest gesagt, sie wäre ein bisschen zurückgeblieben.« »Das ist sie auch. Aber du kannst einfach so dasitzen, an irgendwas denken - >Ich will die Fernsehseiten anschauen< oder >Ich hätte gern ein Sandwich< -, und sie steht auf und holt es dir. Obwohl du kein Wort gesagt hast.« »Klingt für mich nicht böse, sondern gescheit.« »Sie ist nicht gescheit. Kein bisschen.« »Dann hilfsbereit.« »Hilfsbereit ist Ella wirklich«, räumte ihr Vater ein. »Wo ist dann das Problem?« »Es gibt keins. Ich weiß nicht, warum ich darüber gesprochen habe.« Worum ging es? Wie sollte Ken Ailish etwas begreiflich machen, von dem er selbst nicht die leiseste Ahnung hatte? Er sah zu, wie die Glut in einem Glasaschenbecher ausgedrückt wurde. Nun war es wieder stockdunkel. Er streckte den Arm aus, um Ailish ins Bett zu ziehen.
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KAPITEL 6
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iemand sprach mit Ella, als sie in das Klassenzimmer kam. Sie wichen zurück, als sie an ihnen vorbeiging, und kehrten ihr den Rücken zu. Es war Dienstag - nur noch zehn Tage bis Weihnachten. Buntpapierketten zogen sich unter der Decke entlang, und Sterne und Kamele waren mit Glitzerspray auf die Fenster gesprüht worden. Aber Ella konnte nicht mit Weihnachtsfrieden rechnen. Flora Sedgewick lümmelte an Mr. McNultys leerem Schreibtisch, die Hände in den Gesäßtaschen ihrer Calvin-Klein-Jeans. Sie fixierte Ella. »Hi«, sagte Ella unsicher. Flora zuckte mit keiner Wimper. Ella schob sich an einem der Jungen vorbei, der ihr den Weg versperrte und sie ignorierte. Sie wollte zu ihrem Platz. »Passt auf eure Wertsachen auf«, bemerkte Flora. »Haltet die Augen offen, eine Diebin ist unter uns.« Ella ignorierte es. Flora und einer der Jungs umarmten sich kichernd. Ella setzte sich und ließ ihre Tasche vor sich auf den Tisch plumpsen, als wäre es ein Sandsack. »He, mein Geld ist weg«, rief Flora. »Ella, hast du mein Portemonnaie geklaut? Oh nein, hier ist es. Ich dachte, Ella Wallis hätte es geklaut«, verkündete sie. »Ich habe noch nie etwas geklaut«, brummte Ella und klammerte sich krampfhaft an ihre Tasche. »Denke nicht, dass Mr. Pritchard gestern so etwas gesagt hat«, sagte Flora. »Was hat er doch gleich gesagt?« Sie fragte ihren Freund, der sein Lachen nicht unterdrücken konnte. »Diebstahl ist ein Verbrechen gegen die Menschheit und gegen Gott«, erklärte ein anderer der Jungs und imitierte dabei gekonnt die salbungsvolle Redeweise des Rektors. »Der Dieb ist der Tod der zivilisierten Gesellschaft.« Ella hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte, sie wusste nur, dass sie über sie sprachen. Sie war zwei Tage lang nicht zur Schule gegangen, sie musste so lange zu Hause bleiben, bis Ken Wallis Mr. Pritchard widerwillig versprochen hatte, den Hausmeister für sein kaputtes Mo40
dellauto zu entschädigen. Deshalb hatte sie die Morgenandacht am Montag versäumt, bei der jeder Schüler ab der siebten Klasse eine halbstündige Lektion über Ehrlichkeit, Rechtschaffenheit und schmutzige kleine Diebe über sich ergehen lassen musste. »Was hast du jetzt in deiner Tasche, Ella?«, wollte Paul Cary wissen. Paul war ein stämmiger Junge, kaum größer als Ella, aber doppelt so schwer. Er fegte die Tasche von ihrem Tisch und steckte den Kopf hinein. Ella sprang auf, um die Tasche an sich zu reißen, aber Pauls Hand hielt sie mühelos fest. Er zog ihren Füllfederhalter heraus. »Ist jemand der Federhalter gestohlen worden?«, fragte er. »Mir«, schrie einer. Paul schnippte den Parker in hohem Bogen quer durch das Klassenzimmer, sodass die Kappe wegflog und Tinte verspritzte. »Du Trottel, Cary!« Ein Junge wischte Tinte von seinem weißen Hemd. Paul beachtete ihn nicht und kippte die Tasche aus, die Bücher fielen heraus. Die kleinen Stifte und Rädchen eines Zirkelkastens kullerten über den Boden. »Gib her«, zischte Ella. Sie zog mit aller Kraft an der Tasche. Achselzuckend ließ Paul los, sodass Ella nach hinten fiel. Er wandte sich ab. Ella stieß sich das Bein an einem Tisch, fing sich wieder und hechtete, die leere Tasche schwingend, zu Paul Cary. Sie schlug sie ihm an den Hinterkopf. Der Schlag war fast nichts, aber er rutschte auf einem der auf dem Boden liegenden Rädchen aus. Paul stürzte mit einem Aufschrei und bekam eine Kompassnadel in den Hintern. Schreiend und lachend versammelten sich dreißig Schüler um den auf dem Boden liegenden Paul. Ella hockte auf dem Boden, sammelte mit gesenktem Kopf ihre Bücher ein und steckte sie in ihre Tasche. Paul Cary kam wieder auf die Beine und rieb sich fluchend den Hintern. Er blies die Backen auf, die Adern an seinen Schläfen pochten. Er holte weit mit dem Fuß aus, verpasste Ella aber um etliches, doch da ihn niemand zurückhielt, sammelte er sich erneut und zielte genauer. »Untersteh dich!« Das tiefe Brüllen des Lehrers sorgte für schlagartige Stille. Die Schüler erstarrten mitten in der Bewegung. Paul Cary, der ge41
rade mit dem rechten Fuß ausgeholt hatte, um Ella einen Tritt gegen den Kopf zu verpassen, stand wie angewurzelt auf einem Bein. »Jeder auf seinen Platz«, befahl Mr. McNulty. Ella kauerte weiter am Boden, Beine hasteten um sie herum. Sie wagte nicht aufzublicken. »Das ist ja eine Überraschung«, sagte Mr. McNulty. Der Sarkasmus in seiner Stimme hob seinen nordirischen Akzent hervor. »Wer hätte das gedacht? Ella Wallis!« Sie schielte zu ihm hinauf. »Die allererste Minute im Unterricht. An deinem ersten Tag. Und wer verursacht so einen Aufruhr?« Er ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Paul Cary hatte sich in die hinterste Ecke verzogen. Wie alle anderen Schüler saß er da, die Augen geradeaus gerichtet. »Steh auf, Ella. Lass die Tasche liegen.« Mr. McNulty beugte sich über sie. »Ich will heute nichts mehr von dir hören«, sagte er ruhig zu ihr. »Okay, Neunte! Die letzte Stunde vor den Ferien. Machen wir weiter mit Stolz und Vorurteil, in den Ferien könnt ihr es vollends durchlesen. Paul, Seite 220, fang bitte an zu lesen.« Ella presste ihre Hände auf die Ohren, um die Stimme nicht hören zu müssen. Sie konzentrierte sich auf das Geräusch ihres Pulsschlags. Ihre Sachen lagen verstreut auf dem Boden - sogar Stolz und Vorurteil befand sich außer Reichweite. Sie wünschte sich raus hier. Sie wünschte, der Tag wäre vorbei. Sie wünschte, die Schule wäre vorbei, nicht nur das Halbjahr, sondern für immer. Noch zwei Jahre. Weniger. In einem Jahr und einundfünfzig Wochen würde sie sechzehn werden. An diesem Tag würde sie die Schule verlassen und nie mehr zurückkehren. Ihr Vater würde es ihr erlauben. Er wusste, es gab keinen Grund, dass Ella noch weitere sechs Monate Ausbildung hinter sich brachte und ein paar Prüfungen für die mittlere Reife machte, die sie wahrscheinlich nicht bestehen würde. Genauso gut konnte sie sich einen Job suchen - oder wenigstens einen Platz in einem staatlichen Beschäftigungsprogramm. Ella wusste, was sie machen wollte: Arbeitserfahrung sammeln in einem Tierheim wie die Schwester ihres Nachbarn. Die Schwester ihres Nachbarn bekam vierzig Pfund die Woche dafür, dass sie den Auslauf einer Katzenstation sauber machte. Nach Ablauf dieses einen Jahres musste sie Stütze beantragen, aber sie arbeitete weiter unbezahlt in der Katzenstation, wenn sie sich das Fahrgeld für den Bus dorthin leisten 42
konnte. Das wollte Ella auch machen. Früher hatte sie Tierärztin werden wollen, aber dazu brauchte man Qualifikationen. Man musste auf die Universität, um Tierarzt zu werden. Sie würde irgendwo in ein Tierheim gehen. Es musste nicht in Bristol sein. Irgendwo in Devon gab es ein Asyl für Esel, das Fernsehen hatte darüber berichtet. Esel wären das Paradies. Ella hatte vergessen, Esel mit auf die Liste ihrer elf Lieblingsdinge zu setzen, dabei hätten sie es verdient, ziemlich weit oben zu stehen. Esel waren spitze. Sie hob den Blick zu ihrem Lehrer, der ihre Liste vor der ganzen Klasse auswendig vorgetragen hatte. Sie wollte raus hier. Sie wollte, dass die Schule vorbei war. Das Schlagen ihres Pulses unter ihren Händen wurde langsamer. Sie fühlte, wie die Pause zwischen jedem Herzschlag länger wurde. Ihr Kopf sank herab. Das Zimmer verdunkelte sich. »Macht das Licht an«, rief Mr. McNulty. »Welcher Trottel war das?« Keiner rührte sich. Wer jetzt das Licht anmachen würde, würde beschuldigt werden, es ausgemacht zu haben. »Alice! Du sitzt am nächsten. Mach das Licht an. Hast du es ausgemacht?« »Nein, Mr. McNulty.« »Wer dann? Du musst es gesehen haben.« »Ich weiß nicht, Mr. McNulty.« Nur Paul Cary lachte - die anderen waren nicht so dumm. »Irgendwas lustig, Paul?«, brüllte Mr. McNulty. »Nein, Mr. McNulty.« Ein Tafelwischer aus Holz krachte an die Tafel und fiel zu Boden. Mr. McNulty dachte, er wäre von selbst heruntergefallen, und legte ihn zurück. Als er sich wieder der Klasse zuwandte, fiel der Wischer wieder herunter. Der Lehrer blickte ihn finster an, als wäre es ein Kind, das ihn absichtlich verhöhnt. Er hob den Wischer auf und knallte ihn wütend auf seinen Schreibtisch. »Richard, lies bitte.« Irgendwo schlug ein Pultdeckel zu. Mr. McNulty guckte in Ellas Richtung. Sie saß über ihren Tisch gebeugt, beide Ellenbogen fest auf der Platte. Richard begann zu lesen. 43
Plötzlich landete ein Schulheft neben den Füßen des Jungen. »Gut! Was ist das?« Mr. McNulty sprang vor und riss das Heft an sich. »Paul Cary« - er las den Namen auf dem Umschlag vor. »Eine Stunde nachsitzen.« »Ich habe es nicht geworfen, Mr. McNulty.« »Zwei Stunden nachsitzen.« Kurze Stille, bis Richard einen neuen Anfang versuchte. »Ich dulde dieses Benehmen in meinem Unterricht nicht«, schnitt ihm Mr. McNulty das Wort ab. »Ist das klar? Oder soll ich mich einfacher ausdrücken?« Seine Stimme überschlug sich fast. Bestürzte Stille trat ein, die von einem erneuten Schlag, lauter als der Deckel eines Pults, gestört wurde. Mr. McNulty fuhr zusammen. Ihm klangen die Ohren von dem Lärm. Aller Ohren klangen - oder wimmerte da irgendwas im Klassenzimmer? Der Lehrer blickte auf die Kinder in der ersten Reihe hinab. Sie schauderten, als hätten sie eine Gänsehaut, also hörten sie es auch. »Wenn irgendeiner ein Radio dabei hat ...« Ella, die Hände immer noch fest auf die Ohren gepresst, konnte den durchdringenden Ton, der mit ihrem Herzschlag pulsierte, hören. Manche scharrten mit den Füßen. Das Geräusch ging ihnen unter die Haut. Es drang ins Mark wie eine Nadel. Stillsitzen war unmöglich. Wütend blickte Mr. McNulty im Zimmer herum, da sah er, wie Ellas Tisch, obwohl sie Kopf und Arme dagegen drückte, hochgehoben wurde, und wie er mit allen vieren gleichzeitig wieder auf dem Boden aufkam. Erschrocken warf sie sich nach hinten. Das Geräusch wurde lauter. Die Tür schlug zu. Jemand war aus dem Zimmer gelaufen. Die Schüler erhoben sich von ihren Plätzen. »Bleibt, wo ihr seid, alle! Setzt euch!« Das Wimmern wurde zu einem Kreischen, als würden tausend Fingernägel über eine Tafel kratzen. Mr. McNulty überschrie es: »Gut - wo kommt das her? Alice, von deiner Seite des Zimmers?« Die Schüler, halb stehend an ihren Pulten, warfen verzweifelte Blicke um sich. Das Geräusch war überall - es war das Geräusch der Luft, es war jeder Staubpartikel, der bei jedem Atemzug kratzte. Es hatte keine konkrete Quelle. Ella packte die Kanten ihres Tisches. Sie drückte mit ihrem ganzen 44
Gewicht die Beine hinunter. Er schien sich in die Luft erheben zu wollen wie ein Tisch bei einer Séance in der viktorianischen Zeit. Mit enormem Krachen entriss sich der Tisch ihren Händen und schleuderte den Gang entlang mit einer Kraft, die ausreichte, dass die Kanten absplitterten. Das ohrenbetäubende Wimmern endete. Ella saß atemlos auf ihrem Stuhl. Mr. McNulty starrte sie ungläubig an. »Die Krippe!«, rief jemand. »Mr. McNulty, sehen Sie doch.« Völlig verwirrt ging sein Blick durch den Raum. »Sie brennt, sie brennt!«, riefen die Schüler. »Das Jesuskind!« Die Weihnachtskrippe hinter seinem Schreibtisch, von den Siebtklässlern dorthin gestellt und mit Kühen und Schafen bestückt, stand in Flammen. Aus dem Stroh im Stall stieg eine dunkle, rauchige Flamme auf. Plötzlich fingen die aus alten Streichhölzern gemachten Zaunlatten Feuer. Das dunkelrote Gewand eines Weisen brannte. Das Heu in der Krippe des Kindes prasselte und loderte. Als Mr. McNulty nach der Krippe griff, fing das Strohdach Feuer, und die Flammen leckten nach seinem Jackenärmel. Er schleuderte die Krippe zu Boden, Tiere und Figuren und brennende Strohbündel flogen herum. Die weißen Windeln, in die das Kind gehüllt war, waren nicht versengt. Die ganze Weihnachtsszene stand in Flammen, doch das Jesusfigürchen blieb vom Feuer unberührt. »Hol den Feuerlöscher«, befahl er Richard Price, aber der Junge hatte sich kaum von seinem Stuhl erhoben, da entschied der Lehrer, dass er keine Zeit zu verlieren hatte. Er begann, die Flammen auszutreten, zuerst das Stroh und dann den Stall. Seine braunen Schuhe zertraten das Holz, bis vom Feuer nur noch schwarze schmierige Flecken auf den Fliesen übrig waren. Seine Füße zerstörten den Kuhstall, die Gaben und die Krippe. Schweiß strömte über sein rotes Gesicht, als er aufblickte. »Hol Mr. Evans«, wies er Richard an, als dieser mit dem Feuerlöscher angelaufen kam. Ella kämpfte mit den Überresten ihres Tisches. Der Boden um sie herum war mit Büchern und Trümmern übersät. Mr. McNulty, den Feuerlöscher in der Hand, beobachtete sie wortlos. Ihm fehlten die Worte, er wusste nicht, was er zuerst sagen sollte. Die anderen in der Klasse setz45
ten sich wieder und folgten seinem Blick. Als Ella aufsah, starrten alle sie an. Sie hielt sich den zerbrochenen Pultdeckel vor die Brust wie eine Rüstung und verbarg ihr Gesicht. Mr. McNulty hatte weiche Knie, doch er brachte es fertig zu sagen: »Heb das alles auf.« Sofort kehrte das Wimmern zurück, so laut und in einer so hohen Frequenz, dass die großen Fensterscheiben in ihren Rahmen erzitterten. Und überall um Ella herum begannen sich die Sachen vom Boden zu heben. Schulhefte, schwerere Lehrbücher, Stücke aus Metall und Holz schwebten über dem Boden, bevor sie hinaufwirbelten. Manche Teile sausten wie in einem Tornado direkt zur Decke hinauf - andere Fragmente verharrten auf Kopfhöhe und bewegten sich hin und her. Ein dickes Buch wirbelte gegen die Wand und kam wie ein Bumerang zurück. Die Zeiger der Wanduhr drehten sich so schnell wie Rotorblätter. Das Wimmern übertönte alle anderen Geräusche. Die Neonbeleuchtung brannte heller und heller, bis sie blendend weiß war wie Magnesiumlicht. Die Trümmer von Ellas Pult schwebten vor ihr. Sie hatte die Knie an die Brust gezogen und vergrub ihr Gesicht darin. Mr. McNulty, den seine zittrigen Beine kaum noch trugen, befand sich am Rande hilfloser Panik. Aber die Schüler hatte eine entsetzte Ruhe ergriffen. Keiner versuchte, das Zimmer zu verlassen. Keiner schrie. Im sengenden, grellen Licht starrten sie alle auf Ella. Sie spürte eine Hand, die an ihren Haaren riss. Mr. McNulty zerrte sie vom Stuhl, und die Gegenstände begannen, in einiger Entfernung von ihr herabzufallen. Er hätte nicht gewagt, einen Schritt zu ihr hinzugehen, wenn ihm nicht schlagartig klar geworden wäre, dass er sie aus dem Zimmer haben musste. Aus seinem Blickfeld. Nach vorn gekrümmt, ließ sich Ella in höchster Angst an den Haaren zur Tür ziehen. Bücher und Fragmente schlugen gegen die Tür, aber dieser Lärm wurde übertönt von dem unbarmherzigen Wimmern. Sie knallte mit der Schulter gegen die Tür, als Mr. McNulty sie in den Flur hinausstieß. Plötzlich war sie außer Sicht. Der Lärm hörte auf. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Ihre Tasche, oder das, was davon noch übrig geblieben war, befand sich immer noch im Klassenzimmer. Auch Holly Mayor war im Klassenzimmer. Wo sonst sollte Ella hingehen? 46
Mr. McNulty lugte um die Tür herum. »Geh zur Sekretärin«, sagte er ganz ruhig, aber ohne sich ihr zu nähern. »Sag ihr, ich hätte dich nach Hause geschickt. Ist jemand bei euch zu Hause?« »Meine Mum.« »Geh heim zu deiner Mum, Ella.« Er machte ihr die Tür vor der Nase zu. »Ich hoffe, das lehrt euch alle«, sagte er, während er zwischen den verstreuten Büchern und dem kaputten Tisch herumstolperte und versuchte, mit gleichmütiger Stimme zu sprechen. »Ich hoffe, ihr habt das jetzt alle begriffen - Streichhölzer sind kein Spielzeug. Dies war eine äußerst gefährliche Situation.« Er bückte sich, um die verkohlte Krippe aufzuheben, und sah, dass das weiße Tuch, in das das Jesuskind gewickelt war, nicht geschwärzt war. Verwirrt rollte Mr. McNulty die Figur einen Augenblick lang zwischen den Fingern hin und her. Er hatte genau gesehen, dass die Krippe gebrannt hatte. Er schob die mysteriöse Symbolfigur in seine Jackentasche und fuhr fort: »Wenn die Jalousien Feuer gefangen hätten, wäre der ganze Raum in Sekundenschnelle voller Rauch und Flammen gewesen. Wir hätten leicht ersticken und bei lebendigem Leib verbrennen können.« Die bildhafte Schilderung eines Albtraums, der nicht eingetreten war, wirkte erleichternd. Einige Mädchen schluchzten. Die Kinder, die bislang geschwiegen hatten, begannen miteinander zu flüstern. »Ein dummes Mädchen wirft mit Streichhölzern herum, und wir alle hätten dabei umkommen können«, wiederholte Mr. McNulty. »Ganz zu schweigen davon, dass sie ihre Bücher herumgeworfen hat, den Schreibtisch hemmgeworfen hat ...« Er brachte ein unsicheres Lachen zustande. »Okay, räumen wir auf.« Er schaute zur Wanduhr. Die Zeiger waren bei elf Sekunden und elf Minuten nach elf stehen geblieben. »Woher kam dieser Lärm?«, fragte Richard Price. Jede Antwort war ihm recht - er wollte einfach eine Erklärung für das, was er gehört hatte. »Sie hatte ein Radio«, sagte Flora. »Dieser Lärm kam niemals von einem Radio.« »Ich habe es gesehen«, beharrte Flora. »Warum? Warum so einen Aufstand machen?« »Manche Leute«, ereiferte sich Mr. McNulty, »sind nur glücklich, wenn sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Und das Beste, 47
was wir tun können«, setzte er heuchlerisch hinzu, »ist, diese Leute zu ignorieren.« Ella, die unglücklich im Flur hemmlungerte, hörte ihn. Sie drehte sich um und schlich aus der Schule. Und sie wurde ignoriert. Kein Mensch versuchte sie aufzuhalten. Kein Mensch sprach sie auf der Straße an oder fragte sie, warum sie so früh nach Hause kam. Kein Mensch von der Schule rief an, nicht sie und nicht ihre Eltern. Kein Mensch musste ihr sagen, sie solle sich von der Schule fernhalten, denn sie traute sich nicht mehr hinzugehen. Keine ihrer Freundinnen erkundigte sich, wie es ihr ging. Keine von ihnen war zu Hause, als sie versuchte, sie anzurufen. Eine Woche lang täuschte Ella ihre Familie. Jeden Morgen zur Schulzeit verließ sie das Haus und drückte sich den ganzen Tag zwischen der Menge in der Shopping-Mall herum, die ihre Weihnachtseinkäufe tätigte. Bis Holly Mayor sie am zweiten Weihnachtsfeiertag besuchen kam, sagte niemand ein Wort zu Ella über das Chaos, das sie angerichtet hatte.
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KAPITEL 7
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m ersten Weihnachtsfeiertag schneite es. Juliette sagte immer wieder: »Ist das nicht schön, ein richtiges Weihnachten«, als die Familie die Smyth Road entlang zur Pentecostal Church of Christ Reborn ging. Aber sie klang nicht begeistert. Die Kinder mussten vor ihren Eltern hergehen, damit sie auch bestimmt nicht trödelten. Frank durfte weder schlittern noch mit Schnee werfen. Zehn Minuten vor Beginn des Gottesdienstes langten sie an der Kirchentreppe an, sie waren fast die Ersten. Die Frau des Organisten begrüßte sie: »Frohe Weihnachten euch allen.« Juliette, Ella und Frank lächelten nur und nickten, während Ken für sie alle antwortete: »Christus' Segen über dich an Seinem Morgen.« Die Organistengattin strahlte. Kenneth Wallis konnte so gut mit Worten umgehen, wenn natürlich auch nicht so inspirierend wie sein Bruder. Sie setzten sich auf ihre angestammten Plätze in der zweiten Reihe von vorn. Die Mäntel wurden zu dicken Bündeln zusammengerollt und unter die Sitze der schlichten Holzstühle gestopft. Es gab keine Polster zum Beten, alle vier legten die Hände in den Schoß und schlossen die Augen. Frank kniff seine Augen besonders fest zu. Er wusste, was passierte, wenn er sie zu früh aufmachte. Gott würde ihn nicht erhören, und sein Vater würde ihn verprügeln.
Auf dem schmalen Brett, das die Lattenlehnen der Stühle oben abschloss, lagen blaue Gebetbücher. Ella nahm eins und fuhr mit dem Zeigefinger den Umriss der weißen Taube auf dem Deckel nach. Juliette drehte sich alle paar Sekunden um und warf einen neugierigen Blick auf den Eingang. Die meisten würden es selbst um neun Uhr am Weihnachtstag schaffen, ein paar Minuten zu früh einzutreffen. Im Saal der Pfingstkirche, durch dessen weit geöffnete Doppeltüren eine eisige Brise hereinzog, setzte ein gedämpftes Gemurmel ein. Stühle wurde vor- und zurückgerückt. Hie und da drangen ernste Stimmen durch: »Friede auf Erden, den Menschen ein Wohlgefallen.« »Die Freude des Festes über euch.« »Diese Frau, die in der Straße hinter unserem Haus wohnt, ist da«, bemerkte Juliette. »Von ihrem Mann noch keine Spur. Und sie hat die 49
Söhne ihres Bruders und ihren eigenen Sohn dabei. Also wo ist deren Mutter?« Ken ließ sich nicht zu einer Antwort herab. Ella traute sich nicht. Schwatzen in der Kirche war ein Verbrechen. Juliette tat es: »Weil sie eine Frau ist«, wie Ken voller Geringschätzung sagte. Ella war keine Frau, nur ein Kind, und jetzt zu schwatzen würde ihr später eine ordendiche Tracht Prügel einbringen. Sie starrte nach vorn auf die Wand, deren Reihen neuer Ziegel nur von der elektrischen Orgel und einer roten Tür unterbrochen wurden. In Kürze würde Onkel Robert durch diese Tür eintreten. Er war Kens älterer Bruder, Laienprediger der Gemeinde. Seine Predigten waren scharf und sehr populär, und er sprach nie unter fünfundvierzig Minuten. »Sieh mal, wer da ist«, murmelte Juliette und schielte seitlich zu einem Paar hin, »komisch, dass die beiden wieder hier aufkreuzen. Und sie muss immer noch diesen Mantel tragen. Sie hat diesen Mantel schon so lang wie ich meinen grünen, das arme Ding. Sie sollte ihn endlich zu Putzlumpen zerschneiden. Oh, sie sieht uns.« Juliette hob unsicher die Hand. »Du hast einen neuen Mantel bekommen«, murmelte Ken, ohne aufzublicken. »Oh ja. Das habe ich gemeint. Tut mir leid. Ich kann mich manchmal nicht richtig ausdrücken. Tut mir leid. Sie hat ihren alten Mantel, aber du hast einen neuen für mich gekauft.« »Sind wir deshalb was Besseres, ja?« »Tut mir leid. Tut mir leid. Tut mir leid.« Die rote Tür öffnete sich einen Spalt. Onkel Robert schob sich durch und flüsterte mit jemand Unsichtbarem hinter sich. Dann zog er die Tür zu, laut genug, um die Aufmerksamkeit der Gemeinde auf sich zu lenken. Eine schwarz eingebundene Bibel in der Hand, schritt er langsam vor die versammelten Gläubigen und strich seine Jacke über seinem vorgewölbten Bauch glatt. In der Pfingstkirche gab es keine Kanzel. »Ich lehre, Christus wurde gekreuzigt, Christus wurde wiedergeboren, und die Menschheit wurde durch das Leiden Christi erlöst«, sprach Onkel Robert. Mit dieser Formel hatte sein Vater, Hauptprediger der Kirche von 1956 bis zu seinem Tod, jede Predigt begonnen. Eric Wallis hatte seine Söhne gelehrt, wie man das Wort Gottes verkündete und die Leute dazu brachte, zuzuhören. Er war dreiundfünfzig, als die Hecktür 50
eines Lastwagens, der Druckpapier für den Bristol Evening Herald lieferte, für den er als Drucker arbeitete, unvermutet aufging. Sechs Rollen Papier, jede drei Meilen lang und zwei Tonnen schwer, waren über ihn hinweggerollt. Das war 1984 gewesen. Seit damals hatten Onkel Robert oder Ken Wallis mindestens zwei Mal im Monat die Predigt gehalten. Nach Franks Geburt und nachdem Ken Aufseher bei BK Lewis Printers in der Wells Road geworden war, hatte Onkel Robert fast alle Pflichten auf sich genommen. Über welche Bibelstelle er auch sprach, stets begann er mit dieser Reverenz an seinen Vater: »Ich lehre, Christus wurde gekreuzigt, Christus wurde wiedergeboren, und die Menschheit wurde durch das Leiden Christi erlöst.« Feierlich hielt er die aufgeschlagene Bibel, und ohne hineinzusehen, deklamierte er: »Und sie - die Weisen - gingen in das Haus, fanden das Kindlein mit Maria, seiner Mutter, und fielen nieder und beteten es an; und taten ihre Schätze auf und schenkten ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe. Matthäus zwei, Vers elf.« Er schloss das Buch mit einem Geräusch, nicht lauter als ein Atemzug, und der Saal war so still, so erwartungsvoll still, dass jedes Mitglied der Gemeinde hörte, wie das Buch geschlossen wurde. »Und was geschah mit diesen Geschenken? Finden wir sie noch einmal in der Heiligen Geschichte? Machten diese Reichtümer einen Feudalherrn aus unserem Herrn? Sorgten sie für das, was man >eine privilegierte Kindheit< nennt? Nein. Er war ein armer Mann.« Onkel Robert nickte beifällig. Er hatte ein derbes, rotes Gesicht, das von beiden Seiten von breiten Koteletten eingerahmt wurde. Die buschigen, widerspenstigen Haare auf seinem Gesicht waren weiß meliert. Die Haare auf seinem Kopf - oder was davon noch übrig war, denn am Oberkopf war er kahl - waren noch schwarz, aber ungebärdig und schlecht geschnitten wie seine Koteletten. Sogar die Haare, die ihm aus Nase und Ohren wuchsen und mit Onkel Roberts zunehmendem A l ter immer dicker wurden, wurden nicht getrimmt. Ella, die so stolz war auf ihre Haare, starrte stets auf Onkel Roberts Koteletten. Sie sahen fettig aus, als würden sie aus etwas Schmutzigem in seinem Gesicht herauswachsen. Onkel Robert hatte ihren Blick längst bemerkt. Er dachte, sie sei ein aufmerksames Kind, wenn auch nicht sehr helle. 51
»Aber hätten diese Weisen gewusst, wohin sie sich aufmachten«, fuhr er ruhig fort, »so frage ich mich, ob ihnen ebenso viel daran gelegen wäre, Geschenke mitzubringen. Das frage ich mich. Vielleicht hätte es ihnen genügt, sich vor der Krippe niederzuwerfen. Immerhin waren sie Könige, gekommen, dem König aller Könige zu huldigen. Sie hätten wissen müssen, dass ihre geringfügigen Gaben dem Sohn Gottes nichts bedeuten würden. Aber uns bedeuten diese Geschenke etwas.« Onkel Roberts Stimme, bisher mild und gutmütig, wurde lauter und einschneidend. »Wir wissen vielleicht nicht viel mit diesen großartig klingenden Worten Weihrauch und Myrrhe anzufangen, aber ach, wir wissen etwas mit Gold anzufangen. Ist uns allen Gold nicht ein Begriff! Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind auf dieser Insel, diesem Großbritannien, kennt die Weihnachtsgeschichte. Und sie alle erinnern sich nur an ein Wort daraus. Gold! Ein Wort, aus lediglich einem der vier Evangelien! Ein Wort, das eine ganze Nation verderben kann. Gold! Welche Bedeutung hat Weihnachten für die Welt? Gold! Wer spricht vom Wunder der Geburt? Wen erstaunt es, dass uns Gott an diesem bestimmten Tag seinen Sohn gesandt hat, um für uns zu leiden. Für uns! Für jeden von euch! Und für mich! Und danken wir es ihm? Oder denken wir nur an - Gold!« Onkel Roberts Blick blieb auf Ella haften. Er spürte ihren intensiven Blick und erwiderte ihn. Für einen Moment lang hielt er in seinen Fragen inne. »Was haben wir unsere Kinder gelehrt, woran sollen sie sich an diesem Morgen erinnern? Was war heute beim Aufwachen der erste Gedanke in diesen kleinen Köpfen? Das Christkind? Nein. Habsüchtige Gedanken an Geschenke, heidnische Gedanken an den Weihnachtsmann und die sogenannten Christbäume. Und dabei sollten diese kleinen Gedanken so unschuldig sein! Doch in den Monaten und Wochen vor diesem heiligen Tag wurden diese unschuldigen Gemüter mit Versuchungen bombardiert. Endlose Werbespots im Fernsehen. Bunter Tand in jedem Schaufenster. Werbung, so weit das Auge reicht - unsere Kinder können nicht einmal ihre Pausenbrote in die Schule mitnehmen, ohne von Sirenengesängen verhöhnt zu werden. Kauf mich! Jedes Spielzeug, jede Puppe, jedes Spiel, jeder Computer, alle schreien - kauf mich! Begehre mich! Verlange nach 52
mir! Kauf mich!« Seine Stimme erhob sich, wurde laut und lauter bis zu einem Schrei. Die Gläubigen rutschten nach dem Hieb der Worte auf ihren Stühlen nach vom, oder sie wurden kleiner auf ihren Stühlen. Nun verdrehte Onkel Robert die Augen nach oben, zu Gott und seinem eigenen Kahlkopf. »Indem wir Weihnachten in den Herzen unserer Kinder verderben, tun wir, was Herodes getan hat. Der Kindermord zu Bethlehem. Aber wir sind schlimmer als Herodes. Schlimmer! Herodes ließ in Bethlehem und entlang der Küsten jedes Kind unter zwei Jahren morden. Wir sind nicht so gnädig. Jedes Kind! Jedes Kind, in jeder Stadt, in jedem Dorf, im Landesinnern und entlang der Küsten, unter zwei und über zwei, Mädchen oder Junge. Damit kein Tropfen unschuldigen Blutes in diesem Land unvergossen bleibt.« Ekstatisch drückte er die Bibel an sich. »Und wir glauben auch noch, dass wir Seiner Liebe wert sind!« Onkel Robert taumelte nach hinten. Sein Gesicht war dunkelrot, er schloss die Augen und atmete tief aus. Als er den Blick wieder auf die Gemeinde richtete, kehrte Ruhe in seine Miene zurück. »Wer unter euch hier hat heute ein Weihnachtsgeschenk ausgepackt?« In jeder Reihe gingen Hände in die Höhe, und die Leute entspannten sich ein wenig. Ihnen war gar nicht bewusst gewesen, unter welcher Anspannung sie gestanden hatten, erst, als sie ein wenig in sich zusammensackten und ihre Schultern herabsanken. Nun war das Schlimmste vorbei. Onkel Robert lächelte sogar ein wenig, als sich jede Hand in der Kirche hob, um sich schuldig zu bekennen. Jetzt hatte er sie. Sie waren verstört, verängstigt und bußfertig. Kein Bedarf nach weiterer Schärfe. Sie würden tun, was immer Onkel Robert ihnen auferlegen würde. Er würde sie mit der Weisung nach Hause entlassen, über Christus nachzudenken, während sie beim Essen saßen. Um Vergebung zu bitten für ihre Habgier. Damit sie im kommenden Jahr dem Weg Christi demütiger nachfolgten. Sie würden ihm alles versprechen, nur damit Onkel Robert nicht mehr zu ihnen sagt, sie seien Gottes Liebe nicht wert. Später, als sein blauer Jaguar XJS - Kennzeichen K1 NGJ - vor dem Haus seines Bruders in der Nelson Road parkte, sprach Onkel Robert 53
das Tischgebet zum Truthahn. Zwanzig Minuten lang hatte er ununterbrochen über die Auswirkungen der Rezession auf die Tankstelle, deren Pächter er war, gepredigt. Es handelte sich um die Ufil-Garage in der Coronation Road. Als der Truthahnbraten auf dem Esszimmertisch stand und Juliette ihren Stuhl heranzog, kam Onkel Robert nahtlos von der Ökonomie zur Ökumene. »Lieber Herr und Vater, an diesem heiligsten Tag, nimm bitte unseren demütigsten Dank für das, was du uns gegeben hast, die großzügige Gabe, die du uns hier beschert hast, wie auch für das Geschenk Deines Sohnes, unseres Erlösers.« Ella und Frank standen regungslos, die Hände gegeneinandergepresst, die Augen zugekniffen, bis Onkel Robert hinzufügte: »Wenn ich keine Mehrwertsteuer auf die Zusatzprodukte zahlen müsste, stünde es nicht ganz so schlecht.« »Richtig«, antwortete Ken. »Reich Robert den Teller, Julie.« »Verstehst du, 11,99 Pfund für eine Dose Öl, das hört sich nach viel an«, sagte Onkel Robert. »Aber du darfst nicht vergessen, fast zwei Pfund davon gehen direkt an die Mehrwertsteuer.« »Richtig. Willst du Brust oder Bein?« »Von beidem ein bisschen, Kenny, von beidem ein bisschen. Verstehst du, ich habe Labour gewählt, zum ersten Mal in dreiundzwanzig Jahren, und Labour gewinnt dank Leuten wie mir zum ersten Mal in dreiundzwanzig Jahren, und sie ändern gar nichts. Mehrwertsteuer und Mineralölsteuer und Kfz-Steuer - wird irgendetwas leichter für den kleinen Mann? Vertraue nicht auf Fürsten, nicht auf einen Menschensohn, bei welchem keine Rettung ist. Der Rosenkohl sieht gut aus, Julie.« Julie lächelte, als sie das Gemüse austeilte, aber sie wusste, der Kohl sah schlaff und wässrig aus. Und es war nicht genug für alle da, auch nicht genug Bratkartoffeln. Rosenkohl zuzubereiten war eine solche Qual - die äußeren Blätter entfernen, oben auf jedes einzelne Röschen diese Kreuze machen. Sie sorgte dafür, dass Ken und sein Bruder eine anständige Portion bekamen. Ella und Frank musste mit ein oder zwei Röschen auskommen. Juliette häufte einen tüchtigen Schlag Steckrüben auf ihre Teller. Die waren genauso nahrhaft und bei Weitem leichter zuzubereiten. »Wein, allerseits«, fügte sie hinzu. »Für mich roten, Julie, sofern du genug für alle hast.« »Oh, es ist reichlich da«, versicherte sie, und das stimmte. Juliette 54
mochte sich beim Rosenkohl verschätzt haben, aber beim Wein hatte sie genau darauf geachtet, genügend zu besorgen. Und ein paar Flaschen Beefeater für den Fall, dass jemand ein Schlückchen haben wollte. Es wäre schlecht, wenn die Getränke an Weihnachten ausgingen. »Du musst Durst haben, du hast den ganzen Vormittag geredet.« »Mir kommt es immer so vor, als hätte ich gerade mal zwei Minuten gepredigt. Dann schaue ich auf meine Uhr und bin schon eine halbe Stunde auf den Beinen gestanden.« »Und alle haben gelauscht«, sagte Ken. »Ja, Ella hat aufgepasst auf das, was ich gesagt habe. Stimmt's, Mädchen?« Ella nickte, Messer und Gabel verharrten über ihrem Teller. »Während der ganzen Predigt waren deine Augen auf mich gerichtet.« Ella wagte nicht aufzublicken. Ihr war gar nicht in den Sinn gekommen, dass Onkel Robert sehen konnte, wie sie ihn während der Predigt anstarrte. »Fast hätte ich dich heute Morgen vorkommen lassen und neben mich gestellt. Ich habe daran gedacht. Eine dieser verrückten Eingebungen, die man bekommt, wenn man aus dem Handgelenk heraus predigt, um es mal salopp auszudrücken. Du weißt, wie das ist, Kenny. Der Geist des Herrn treibt dich voran, und du musst auf das eingehen, was immer dir auch durch den Kopf gehen mag. Es hätte dir doch nichts ausgemacht, oder, Ella?« Sie schüttelte den Kopf. Ihre Hände waren so weiß wie das Tischtuch. In der Kirche neben Onkel Robert zu stehen - sie wäre in sich zusammengeschrumpft und gestorben. Sie wäre nicht mal von ihrem Stuhl hochgekommen. Sogar jetzt wurden ihre Beine ganz schwach beim bloßen Gedanken daran. »Weswegen wolltest du sie nach vorn holen?«, fragte Ken verächtlich. »Unschuld. Als ich von dem verderbten Kind sprach - flüsterte die Eingebung: Zeig ihnen, was du meinst. Vergegenwärtige ihnen das Bild der Reinheit und dann frage sie, warum. Frage sie, warum wir zulassen, dass es besudelt wird. Solche Worte sind schärfer als das schärfste Schwert. Sie gehen direkt ins Herz. Ein Stoß. >Unschuld.< Ein weiterer Stoß. >Verderbtheit.< Die sind wie tödliche Waffen für die schuldige Seele.« »Ella ist zu alt, sie ist kein Kind mehr«, antwortete ihr Vater. 55
»Sie ist vierzehn«, fügte ihre Mutter hinzu. »Das war auch mein Gedanke«, gab Robert zu. »Nicht, dass sie nicht unschuldig wäre«, sagte Ken. »Das ist normal, sie ist erst vierzehn, was das angeht, ist sie rein«, sagte Juliette. »Das würde ich ihr auch raten«, meinte Ken. »Nein, ja, natürlich«, pflichtete Onkel Robert, den Mund voll mit Truthahnbrust, bei. »Ich meine, das würde jeder in der Kirche für selbstverständlich halten, sobald sie sie ansehen. Aber Reinheit des Geistes. Die Unschuld eines Kindes. Mit vierzehn ist man kein Kind mehr, Ella.« Wieder schüttelte sie den Kopf. »Die Stimme der Eingebung verklang. Verklang so schnell, wie sie gekommen war. Ich dachte, die Leute haben ihr eigenes Bild von der Reinheit eines Kindes. Nämlich sich selbst. Ihr eigenes Ich, bevor die Verderbnis einsetzte. Bevor die Fäulnis ihre Seelen befiel. Und es hätte alles nur noch komplizierter gemacht, wenn ich ein Mädchen von vierzehn, selbst wenn sie meine eigene Nichte und die Enkelin von Eric Wallis ist, als Gleichnis für das Jesuskind hinstellen würde. Wenn du zwei Jahre jünger gewesen wärst, dann, Ella - ich glaube, dann hätte ich es getan.« »Okay«, sagte sie, weil sie das Gefühl hatte, man erwarte eine Antwort von ihr. »In deinem Alter verändert sich ein Mädchen«, führ er fort. »Weißt du, was ich meine? Sie wird ... eine Frau.« »Ella ist noch keine Frau«, sagte ihre Mutter. »Aber sie ist auf dem Weg dahin, Juliemädchen. Sie hat noch ihr Kindergesicht. Die Haare sind noch kindlich. Aber der Körper beginnt der einer Frau zu werden.« »Die Haare werden bald abgeschnitten«, kündigte Ken an. »Das schlägt um in Eitelkeit.« »Ah. Eitelkeit. Das ist eine Sünde der Frau, nicht des Kindes. Hat dein Körper bereits begonnen, sich zu verändern, Ella?« Flehend hob sie den Blick, aber ihre Mutter und ihr Vater starrten auf ihre Teller. Onkel Robert beugte sich vor und stierte ihr direkt ins Gesicht. »Maria muss ungefähr in deinem Alter gewesen sein«, sagte er. »Möglich, dass sie ein bisschen älter war, aber sie hatte ihre Periode noch nicht. Darum hat Gott sie auserwählt. Sie war eine verheiratete Frau, natürlich, 56
aber sie war eine Jungfrau. Mehr als eine Jungfrau. Ihr ganzer Körper war rein.« Er schob sich eine Kartoffel in den Mund. »Hast du deine Periode bereits?« »Ella ist eine Spätentwicklerin«, antwortete Juliette. Ellas Gesicht und Arme brannten. Sie konnte nicht essen. Es fühlte sich schmutzig an, neben diesem Mann Essen zu sich nehmen zu müssen. Sie merkte, dass ihr Tränen über die Wangen liefen - sie fühlte, wie ihre Spuren auf ihrer heißen Haut trockneten. »Eine gute Sache, wenn der Körper eines Mädchen so lange wie möglich rein bleibt«, erklärte Onkel Robert. »Heutzutage werden die Mädchen immer früher und jünger sexuell reif. Manche sind erst neun Jahre alt. Es gibt weibliche Wesen von dreizehn, die von einem elfjährigen Jungen in andere Umstände kommen, steht jede Woche in der Zeitung. Wen wundert's? Man sieht Mädchen, die sind kaum Teenager und die gehen für achtzehn durch.« Ella hielt sich an ihrem Besteck fest und bemühte sich krampfhaft, nicht wegzulaufen. Ihre Mutter schob unglücklich Kartoffeln auf ihrem Teller hin und her. »Bei uns im Laden von der Tankstelle sind sie andauernd. Kaufen Süßigkeiten. Noch nicht mal alt genug zum Zigarettenkaufen, aber diese kurzen Oberteile tragen. Damit man den gepiercten Nabel sieht. Und üppige Brüste.« Ella ließ die Gabel fallen. »Dad, ich muss ins Badezimmer.« Sie stand bereits neben ihrem Stuhl. »Dann geh.« Er sagte nicht gern Ja, aber es war wahrscheinlich der schnellste Weg, um Onkel Robert vom Thema abzubringen. »Ich sollte wohl wieder anfangen, selber zu predigen.« »Das ist das Gottesfürchtigste, was du tun kannst, Ken, und du, Julie, bete darum, den Teufel von der Seele dieses jungen Mädchens fernzuhalten.« Ella umklammerte den Toilettensitz und würgte. Sie erbrach so lange und so heftig, dass man meinen könnte, sie müssten es unten hören. Ihr Magen verkrampfte sich immer wieder, bis die letzten Reste, die sie in die Schüssel spuckte, mit Blut befleckt waren.
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KAPITEL 8
D
er erste Weihnachtstag ging irgendwie zu Ende. Der zweite Weihnachtsfeiertag kam und mit ihm Holly Mayor. Ellas beste Freundin kniete zur Rückenlehne hin auf Ellas Schreibtischstuhl. »Wir haben gestern so viel gegessen. Ich dachte, ich müsste mich übergeben.« »Ich auch.« »Hast du auch eine Unmenge Schokolade gekriegt?« »Ein bisschen.« »Wir massenhaft. Wir hatten so viel, wir konnten gar nicht alles essen. Ich habe den Rest heute Morgen zum Frühstück verdrückt.« »Zum Frühstück?« Ella war schockiert. »Es ist Weihnachten. Na gut, der zweite Feiertag, aber das ist auch noch so eine Art Weihnachten.« Holly kippelte gefährlich mit dem Stuhl. »Mein Dad flippt aus, wenn er dich verkehrt herum auf dem Stuhl sitzen sieht.« »Wir hören ihn, wenn er die Treppe raufkommt.« Was Holly auch sagte, klang zwar stets nach einer Frage, aber sie war nicht verunsichert - Ellas Vater konnte sie nicht verprügeln. »Wir hatten eine Riesenpackung Turkish Delight, so das richtige mit Zucker und allem, von Marks and Sparks. Mein Bruder hat fast zwanzig Stück gegessen. Wir haben alle wahnsinnig zugenommen, wir werden ganz schön fett werden.« »Ich auch.« »Du wirst nie fett werden, du wirst immer dünn bleiben. Sieh mal.« Holly kniff auf ihrem Arm eine Speckrolle zusammen, dann beugte sie sich vor und zog die Haut an Ellas Handgelenk hoch. »Noch zwei Wochen. Na, dreizehneinhalb Tage.« »Bis was?« »Bis wir wieder zur Schule müssen.« Deshalb war Holly eigentlich vorbeigekommen. Darum hatte sie Ella angerufen und darum saß sie jetzt in Ellas Zimmer, nachdem sie über eine Woche nicht miteinander geredet hatten. »Wirst du wiederkommen?« 58
»Ja. Ich denke. Weiß nicht. Warum?« »Na ja, weil du dieses Auto ...« »Ich habe es nicht gestohlen.« »Alle glauben, dass du es warst.« Alle, klar, einschließlich Holly. »Dann irren sich eben alle. Es ist einfach in meine Tasche gekommen. Es muss so gekommen sein, weil ich daran gedacht habe.« »Ach ja? Du hast daran gedacht, und dann ist es ganz von selbst in deine Tasche gefahren?« »Ich habe es nicht weggenommen. Nicht einmal angefasst. Aber«, und dies war eine Art Schuldeingeständnis, denn sie wusste, eigentlich war es ihre Schuld, »ich habe es angesehen. Ich habe es nicht geklaut. Ich schwöre es.« Holly Mayor war ihre beste Freundin. Ella wusste, dass sie nicht Hollys beste Freundin war, nur ihre zweitbeste, aber das reichte sicherlich auch. Ella musste sich jemandem anvertrauen. Schließlich war Ella manchmal, wenn Holly und Flora verkracht waren, wirklich Hollys Nummer eins. Und beste Freundinnen mussten sich voneinander alles glauben und durften keine Geheimnisse voreinander haben. »Ich dachte an dieses Krippendings, als es Feuer fing.« Holly hörte auf, mit dem Stuhl zu schaukeln. Diese ganze Sache im Klassenzimmer war tabu geblieben. Niemand hatte darüber geredet - sie hatten alle so getan, als würden sie die Erklärung mit dem Radio glauben, und hatten alles andere ignoriert. Sie zogen über Ella her - dass sie eine Diebin war, eine Angeberin, dass sie so tat, als wäre sie anders als alle anderen -, aber sie sprachen nicht über die fliegenden Bücher oder das Feuer. Sie sprachen nicht darüber, dass Mr. McNulty das Jesuskind sauber und unversehrt aus seiner Tasche geholt und auf seinen Schreibtisch gelegt hatte, obwohl die ganze Krippe verkohlt war. Holly wollte von all dem auch nichts wissen. »Mein Dad sagt, es ist egal, was du denkst, die Leute beurteilen dich nach dem, was du tust und was du anhast.« Ella spürte, dass ihre Freundin sich von ihr zurückzog. Sie kannte Holly so gut, dass es sich manchmal anfühlte, als wären sie ein und dieselbe Person. Sie hatten die gleichen Ansichten, sie hatten die gleiche Meinung über andere Leute. Ella vertraute Hollys Ansichten. Sie ließ sich führen. Was immer Holly über jemanden dachte, das wollte auch Ella denken. 59
Aber jetzt, als Ella versuchte, ihr etwas Wichtiges zu erklären, zog sich Holly zurück. Barrieren gingen hoch, Barrieren errichtet aus Angst. »Weißt du, als diese Sachen in der Klasse herumgeflogen sind ...« »Ich will nicht darüber reden«, sagte Holly. »... und dann war da dieses unheimliche Geräusch ...« »Hör auf damit!« »... also, ich wusste, dass ich das war, aber ich konnte nichts dagegen tun.« »Das kommt nur daher, weil du unsicher bist und Aufmerksamkeit willst!« »Was?« »Du willst, dass alle dich ansehen und dich für ganz großartig halten! Mr. McNulty hat das gesagt, alle finden das armselig.« »Was hat er gesagt?« »Er hat gesagt, du würdest nur angeben, und das käme wahrscheinlich daher, weil du nicht wüsstest, wer du bist, oder weil du glauben würdest, dass man dich zu Hause nicht genug beachtet. Und ich glaube, er hat recht, weil dich deine Eltern ja kaum beachten, besonders nicht dein Dad, wenn er dich nicht gerade verdrischt. Es ist nicht deine Schuld.« Mit dem letzten Satz lenkte sie ein. Ella, entsetzt, dass ein Lehrer in ihrer Abwesenheit über sie sprach, wollte nun auch den Rest wissen. »Wie habe ich denn angegeben?« »Du hast das Radio angemacht.« »Welches Radio?« »Dieses grauenhafte schrille Geräusch, mein Bruder sagte, das war eine Rückkopplung. Er sagte, das könntest du mit einem Radio und so einem kleinen Lautsprecherding gemacht haben.« »Ich hatte kein Radio dabei.« »Er sagte, Jimi Hendrix hat das gemacht, das hat zum Song gehört.« »Das da ist mein Radio.« Ella deutete auf den altmodischen RadioKassettenrekorder. »Man muss es einstecken, es hat nicht einmal Batterien. Wie hätte ich das in die Schule mitnehmen sollen?« »Wie hast du das Geräusch dann gemacht?« »Ich habe es nicht gemacht. Das habe ich dir gesagt. Ich war es, aber ich habe es nicht gemacht. Ich wollte, dass es aufhört. Je mehr ich versucht habe, dass es aufhört, umso lauter ist es geworden. Es war, als ob 60
ich schreien wollte, aber nicht konnte, und stattdessen kam dann dieses Geräusch heraus.« »Wie denn?« Holly begriff offensichtlich nichts. Ella konnte es ihr nicht erklären. Wenn Holly nicht fühlen konnte, was sie fühlte, wie sollte Ella es ihr dann begreiflich machen? Sie wollte die richtigen Worte finden, aber sie wusste nicht, wie. »Hat er viel über mich gesprochen?« »Mr. McNulty? Er hat gesagt, wir sollten es nicht beachten, sonst würdest du die Aufmerksamkeit bekommen, die du willst, und das wäre dann so, als würden wir dich dafür belohnen, dass du so ein Theater machst. Und er hat gesagt, das Feuer wäre wirklich gefährlich gewesen. Du hättest die ganze Klasse umbringen können. Das war ganz blöd, Ella.« »Was?« »Mit Streichhölzern herumzuspielen.« »Ich doch nicht! Wie könnte ich? Wie sollte ich an Streichhölzer kommen? In meiner Familie raucht keiner. Und alle haben mich angeschaut. Was ich hasse! Ich will keine Aufmerksamkeit, ich will, dass mich alle in Ruhe lassen. Wie hätte ich mit Streichhölzern herumspielen können, wenn mir alle dabei zusehen?« »Das Stroh und das ganze Zeug hat nicht einfach so von sich aus Feuer gefangen.« »Sieh mal. Es ist wie ... weil ich daran denke, passiert etwas. Glaubst du, dass ich Streichhölzer anzünde und damit herumspiele? Ehrlich? Und ich habe diese Bücher in die Luft geworfen? Alle? Alle auf einmal?« Holly ließ diesen Angriff sehr ruhig über sich ergehen. Es war nicht Ellas Art, mit jemandem so zu sprechen. »Wenn du einfach an etwas denken musst, damit es eintritt, dann denk doch mal an ein bisschen Geld. Los, denk dir, wir hätten hundert Pfund in den Händen.« »Sei nicht blöd.« »Gut. Dann denk dir, dass dieses Buch in die Luft fliegt.« Holly nahm ein Buch vom Schreibtisch und warf es Ella zu. Sie hatte Angst, aber sie war bereit, sich überzeugen zu lassen. Das Buch fiel auf Ellas Bett. Ella betrachtete es zweifelnd. »Es passiert nie, wenn ich es will.« 61
»Eben hast du gesagt, es kommt daher, wenn du daran denkst. Dann denk doch jetzt daran.« »So ist das nicht.« »Du bist so bescheuert, Ella.« Erleichtert stand Holly auf. »Kein Mensch wird dir glauben. Alle wissen, dass du eine Lügnerin bist. Die anderen hätten dich viel lieber, wenn du nicht lügen würdest. Und die Lehrer hätten dich gern.« Ella widersprach nicht. Sie fühlte, dass sich die Distanz zwischen ihnen verringerte. Holly versuchte, nett zu sein. Sie hielt Ella eben für eine Lügnerin, und das war nicht so schlimm. Holly wusste Bescheid mit Lügen. Aber wenn Ella steif und fest dabei blieb und Holly dazu bringen wollte, an dieses verrückte Zeug zu glauben, dann könnten sie keine Freundinnen mehr sein. »Außerdem«, sagte sie in dem Versuch, Holly zum Weiterreden und Dableiben zu bewegen, »hat mein Dad nichts davon gesagt, dass ich auf eine andere Schule gehen soll. Es sind auch keine Briefe oder so was von der Schule gekommen. Sie können mich nicht einfach rauswerfen, oder?« »Nein«, sagte Holly in einem Tonfall, als käme es bei einem Verweis entscheidend auf ihre Stimme an, »aber es wäre besser, wenn du so was nicht noch einmal machst, sonst kommen sie über dich wie ein Tonne Ziegelsteine.« Sie nahm ihre Jacke. Sie war schwer. »Das habe ich ganz vergessen. Ich hab was für dich. Nicht sehr originell für ein Weihnachtsgeschenk, aber ich weiß, dein Dad würde dir nie erlauben würde, dass du es dir kaufst oder in der Schule liest.« Sie reichte ihr ein eingewickeltes Päckchen. »Bis später. Ruf mich heute Abend an.« »Ja, ich muss meinen Dad fragen.« »Er wird dich doch wohl am zweiten Weihnachtsfeiertag ein Ortsgespräch führen lassen. Das kostet einen Pence die Minute. Er wird dich doch einen Pence ausgeben lassen.« »Ich muss ihn fragen.« Ella war Holly auf den Treppenabsatz hinaus gefolgt, blieb aber oben an der Treppe stehen. Ihre Eltern waren unten im Flur. »Bis später«, sagte sie und zog sich in ihr Zimmer zurück. Holly warf ihre Jacke über die Schulter und stolzierte die Treppe hinunter. »Hi, Mr. Wallis, hi, Mrs. Wallis.« Ihr konnten sie nichts tun. »Mr. 62
Wallis«, fügte sie hinzu und baute sich großspurig vor ihm auf, »Ella wird nicht verwiesen, oder?« Ken Wallis war ein großer Mann, ein Fuß größer als Holly und fast dreimal so schwer. Die Manschetten seines Hemdes waren zweimal umgeschlagen, die Polyesterärmel spannten sich über seinen Armen. Er hatte Tattoos auf beiden Handgelenken - einen Totenkopf auf der Lenkstange einer Harley Davidson und ein keltisches Kreuz. An der rechten Hand trug er einen dicken Silberring. Holly wurde schlagartig bewusst, dass die dunklen, erbsengroßen Flecken, die sie manchmal auf Ellas Gesicht und Armen gesehen hatte, die Spuren dieses Rings waren. »Weshalb sollte sie verwiesen werden?«, fragte er. »Nur so. War nur ein Scherz.« Sie wich zurück, er blockierte den Weg zur Haustür. »Weshalb sollte sie verwiesen werden? Was hat sie getan?« »Das wissen Sie doch. Tut mir leid. Es war ein Scherz.« Er konnte sie nicht anfassen. Wenn er sie nur mit einem Finger berührte, würde sie es ihrem Dad sagen. Die Hand mit dem Silberring schwebte knapp über ihrem Arm. »Nein, ich weiß es nicht. Sag mir's.« »Weil sie dieses Spielzeugauto geklaut hat.« Das war nicht gepetzt Mr. Wallis wusste von dem Auto. »Ella sagt, dass sie es nicht geklaut hat. Weißt du was anderes?« »Nein.« »Warum also dann? Warum glaubst du, dass man sie verweisen wird?« »Sie wissen es doch. Man hat sie doch nach Hause geschickt, weil sie dieses ganze Zeug in der Klasse herumgeschmissen hat.« »Was?« Er wusste es nicht. Die Schule hatte es ihm nicht mitgeteilt. »Ich dachte, Sie ...« »Ja? Was?« Holly wurde gegen den unter der Treppe eingebauten Schrank gepresst. Über Mr. Wallis' Schulter hinweg starrte sie das verhärmte Gesicht von Ellas Mutter verständnislos an. »Es war nicht Ellas Schuld. Es ist einfach passiert. Sie hat mir gesagt, sie hat das nicht gewollt.« Jetzt wusste sie, warum Ella mit diesen ganzen Lügen daherkam. Etwas Schlimmeres, als Ellas Dad etwas gestehen 63
zu müssen, war kaum vorstellbar. Diese Arme konnten einen erdrücken. Er machte den Eindruck, als würde er gleich die Beherrschung verlieren. Seine Hände bebten vor Anstrengung, die Selbstkontrolle zu bewahren. »Was nicht gewollt?« »Sachen sind herumgeflogen. Diese ganzen Bücher und dann ihr Pult, die gingen einfach so in die Luft. Sie hat sie nicht geworfen. Ich hab's gesehen, sie hat sich echt gefürchtet. Es war nicht ihre Schuld, Mr. Wallis, und dann war da auch dieses wahnsinnig laute Geräusch.« »Wann war das?« »In der Woche vor den Ferien. Kann ich nach Hause gehen?« »Da wurden Bücher herumgeworfen?« »Niemand hat was geworfen, Mr. Wallis. Die Sachen sind von alleine herumgeflogen. Es war nicht Ellas Schuld. Aber als Mr. McNulty sie heimgeschickt hatte, hörte es auf.« »Warum hat Mr. McWieheißtergleich mich nicht verständigt?« »Keine Ahnung.« »Hast du dir das ausgedacht?« »Ich schwöre bei Gott, Mr. Wallis.« »Ist so was vorher schon mal passiert?« Er beugte sich vor, sein Gesicht befand sich dicht vor dem ihren, und er wartete kaum ihre Antwort ab, bevor er mit der nächsten Frage kam. »Eigentlich nicht.« »Eigentlich nicht? Entweder ja oder nein.« »Ein Fenster ist zerbrochen. Keine Ahnung. Ich möchte jetzt gehen. Lassen Sie mich gehen.« Er trat zurück, und Holly Mayor schob sich an ihm vorbei zur Haustür hinaus. Sie würde dieses Haus nie wieder betreten. Nichts auf der Welt könnte sie dazu bringen, noch einmal durch diese Tür zu treten.
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KAPITEL 9
E
s wurde nicht gesprochen. Die Familie saß schweigend beim Tee. Seit Holly aus dem Haus gelaufen war, hatte Ken kein Wort zu seiner Frau gesagt, und Juliette würde Ella niemals zur Rede stellen, bevor es nicht ihr Ehemann getan hatte. Ella wusste, dass das Schweigen etwas zu bedeuten hatte. Es interessierte sie nicht, was es auch sein mochte. Vermutlich hatte es mit den Freundinnen ihres Vaters zu tun. Oder mit Tante Sylvie. Oder Mum war schlechter Laune, weil sie kein Glas Wein trinken konnte. Sie fühlte sich schuldig, weil sie dankbar war für das Schweigen, denn es bedeutete, dass sie ihrer Mutter und ihrem Vater nicht ins Gesicht sehen musste. Ella hatte Holly Mayors Weihnachtsgeschenk ausgepackt. Es war ein Buch. Ein Buch mit Zeichnungen. Es handelte sich um dasselbe Buch, das sie für den Sexualkundeunterricht in der neunten Klasse bekommen hatten. Ellas Vater hatte ihr nicht erlaubt, an diesem Unterricht teilzunehmen. Darin beschäftigte man sich mit der Fortpflanzung. Darin beschäftigte man sich mit den Unterschieden zwischen den Geschlechtern. Und das hieß, irgendein perverser Lehrer erzählte seiner Tochter schmutzige Dinge. Sie brauchte von diesen Sachen jetzt noch nichts zu wissen, und es oblag ihrem Vater, und nur ihrem Vater, darüber zu entscheiden, wann es so weit war. An der Schule war man darüber natürlich nicht erbaut gewesen, und der Schulpsychologe hatte den Wallis' sogar einen Brief geschrieben, den Ken zerriss. Aber viele von Ellas Schulkameraden beneideten sie. Sexualkunde war ein bisschen schmutzig. In dem Buch waren Zeichnungen von Genitalien und Leuten, die es taten. Angemessene pädagogische Zeichnungen, aber trotzdem ein bisschen schmutzig. Ella war froh, dass ihr Vater sich so sehr um sie sorgte und etwas dagegen unternahm. Als Miss Chapman die Bücher austeilte, versuchte Flora Sedgewick, Ella hineinsehen zu lassen. Flora war von ihren Eltern aufgeklärt worden, als sie zehn Jahre alt war, und sie hatte schon zwei Freunde gehabt, hatte es aber mit keinem von ihnen getan. Flora hatte Holly unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt, dass sie es mit Richard Price 65
tun würde, wenn sie es wollte. Nicht jetzt, aber wenn sie es wollte, dann ja. Holly hatte das Ella natürlich brühwarm weitererzählt, und Ella war entsetzt. Sie begann zu glauben, was ihr Vater behauptete, nämlich dass Bücher wie dieses einen verderben konnten. Schon, sie nur anzusehen. Sie anzufassen. Sie halfen dem Teufel, sich in einen hineinzuschleichen. Als Flora Sedgewick sie so weit bringen wollte, dass sie einen Blick in Making a Baby: The Story of Human Reproduction warf, weigerte sich Ella. Und nun hatte ihr Holly eben dieses Buch zu Weihnachten geschenkt. Sie hatte vermutet, was es war, trotzdem hatte sie es ausgepackt. Noch während Holly und ihr Dad unten im Flur miteinander redeten - sie wusste nicht, worüber -, lehnte sich Ella gegen ihre Schlafzimmertür und nahm das dicke Buch aus seinem glänzenden Geschenkpapier. Die meisten Zeichnungen waren nichtssagend. Kaulquappen, die sich auf ein Ziel zuschlängelten. Ein Kreis voller Blasen. Etwas Haarloses und Blindes, wie ein Hündchen, aus dessen Bauch sich ein Schlauch kringelte. Aber es gab auch die anderen Zeichnungen. Ein Mann und eine Frau, die sich an den Händen hielten, mit nichts an. Man konnte alles sehen. Sie standen nebeneinander, ohne sich zu schämen, und machten keinen Versuch, sich zu bedecken. Die Querschnittzeichnung einer Erektion. Ella konnte sich nicht vorstellen, wie herum das Ganze sein sollte. Sie hatte Pferdepimmel gesehen, wenn die Tiere pinkelten, aber die hatten überhaupt nicht so ausgesehen. Die grafische Darstellung einer Frau - Genitalien, wie die ihren auch sein mussten - ergab für sie auch keinen Sinn. Bei der Zeichnung auf der Doppelseite in der Mitte war es anders. Die konnte jeder verstehen. Einen Tag lang war diese Seite Tagesgespräch in der Neunten gewesen. Sie zeigte einen Mann und eine Frau, die sich liebten. Oder es gerade wollten. Sie taten es nicht richtig, nur fast, sodass man alles sehen konnte. Die Frau lag unten, die Arme nach oben gestreckt, sie würde sie sie um den Hals des Mannes schlingen. Der Mann kniete zwischen ihren Beinen. Ella klappte das Buch zu. Der Einband war feucht unter ihren Händen. Die winzigen, unsichtbaren Härchen auf ihrem Rücken, ihren Schultern und Armen hatten sich aufgerichtet. Einen Moment lang blieb sie sitzen, teilte ihr langes, schweres Haar in Strähnen und wünschte, Holly hätte ihr das Buch nie geschenkt, wünschte, sie hätte es nicht auf66
gemacht und nicht hineingesehen. Dann schlug sie noch einmal die Doppelseite in der Mitte auf. Der Mann war glatt rasiert. Er hatte keine Haare außer dem akkuraten Bürstenhaarschnitt auf dem Kopf und dem schwarzen rasierpinselartigen Busch rings um seine Erektion. Er hatte nicht so was wie die weißen Haare, die ihrem Vater oben aus dem Hemdkragen wuchsen, oder die borstigen, grau-schwarz melierten Koteletten, die über Onkel Roberts Gesicht und aus seinen Ohren wuchsen. Die Frau hatte runde Brüste, ein paar Striche deuteten die Brustwarzen an. Beide, der Mann und die Frau, lächelten. Beide trugen einen Ehering. Sie hatten keine blauen Flecken, keine Tätowierungen. Ella betrachtete sie lange. Sie lauschte ständig, ob Schritte auf der Treppe knarrten. Dann blätterte sie die restlichen Seiten durch, Zeichnungen von Embryos und Keimbläschen und Föten und Neugeborenen, und schob das Buch unter ihre Matratze. Ihre schweigenden Eltern am Teetisch schienen von Abscheu gegen sie erfüllt. Ella machte ihnen daraus keinen Vorwurf. Sie hatte etwas Schmutziges getan. Ihr Vater hatte versucht, sie davor zu beschützen, und sie hatte ihm nicht gehorcht. Sie verdiente ihren Abscheu. Sie war froh, dass sie nicht redeten, denn sie hätte ihnen nicht ins Gesicht sehen und antworten können. Das Buch war schmutzig, und es beschmutzte sie. Ella schlich ins Badezimmer und erbrach die Truthahnsandwiches und den glasierten Obstkuchen. Sie übergab sich, trotzdem fühlte sie sich kaum reiner. Dass das Buch in ihrem Schlafzimmer war, genügte, um das ganze Haus zu beschmutzen. Sie konnte nicht auf einer Matratze schlafen, unter der ein solches Bild versteckt war. Das wäre eine Einladung an den Teufel. Aber wo sonst könnte sie es verstecken? Sie konnte das Haus nicht verlassen und zu der großen Mülltonne gehen. Das Buch war schmal genug, dass sie es durch das Gitter eines Gullys schieben könnte, aber sie traute sich nicht, die Haustür zu öffnen, ohne vorher ihren Vater zu fragen. Das Papier war zu schwer, um es hinunterzuspülen. Sie versuchte es mit der Ecke einer Seite, aber nach zwei Spülversuchen drehte es sich immer noch in der Kloschüssel. Ella begann, jede Seite einzeln herauszureißen und in das glänzende Geschenkpapier zu packen. Sie dämpfte das Geräusch, das beim Reißen 67
entstand, indem sie das Buch eine Armlänge weit unter die Steppdecke schob. Sie konnte die Seiten nicht sehen. Als ihre Finger spürten, dass sie bei der Doppelseite in der Mitte angelangt war, riss sie sie durch, wieder und wieder und wieder. Sollte ihre Mutter das Buch finden, bevor sie es in den Abfalleimer werfen konnte, dann wusste sie wenigstens, dass sie, Ella, es verabscheut hatte. Die Überreste waren gerade ein paar Sekunden lang in ihrer Pulloverschublade, als Juliette die Zimmertür aufstieß. »Es ist so still hier drin.« »Ich ... räume auf.« »Das ist schön. Ich bin hochgekommen, um dir gute Nacht zu sagen, weil dein Daddy und ich miteinander reden müssen. Komm also nicht runter, um gute Nacht zu sagen, okay. Daddy schickt dir einen Kuss.« Ella sprang auf und schlang die Arme um Juliettes Schultern. Sie küsste ihre Wange - »Nacht-Nacht, Mum, ich liebe dich. Und der da ist für Daddy.« Juliette war überrascht, aber sie entzog sich nicht sofort. »Mach dich jetzt fertig fürs Bett - und sei sehr leise, Frank schläft schon.« Es war kurz vor neun. Ella nahm ihre Bürste und begann mit ihrem Ritual, dem Bürsten ihrer seidigen Fülle, das so herrlich an der Kopfhaut zog. Als sie auf einer Seite fertig war, beugte sie sich zu ihrem Radiorekorder und schaltete ihn ein. Frank hatte ihr geholfen, Galaxy 101 einzustellen. Sie ließ es auf ganz leiser Stufe laufen, der schmeichelnde Pop und Rock war kaum lauter als ihr Atem. Sie hörte die Stimme ihres Vaters. Zuerst dachte sie, es handele sich um einen Anruf beim Sender, und sie drehte den Ton etwas lauter, um zu hören, was er sagte. Sie konnte sich nicht vorstellen, warum Ken bei Galaxy anrufen sollte, aber es war unverkennbar seine Stimme. Und die Stimme ihrer Mutter. Beider Stimmen im Radio. Sie hielt mitten im Bürsten inne, eine dicke Strähne um die Hand gewickelt. »Ich sehe nichts, warum sich Holly das ausdenken sollte, es ist komisch, so was sagt man nicht einfach«, sagte Juliette. Sie klang aufgeregt. Ihr Englisch war immer schlecht, wenn sie unglücklich war. Wenn sie glücklich war und ein Glas Wein oder Gin intus hatte, redete sie bei Weitem verständlicher. 68
»Sie glaubte, ich blase ihr gleich das Lebenslicht aus«, sagte Ken. »Sie hatte verdammt zu viel Angst, um mich anzulügen.« Das würde ihr Vater niemals im Radio sagen. Er würde mit Sicherheit nicht fluchen. Im Hintergrund war noch ein Geräusch. Es hörte sich an wie ihr Fernseher. Ella schlich auf den Treppenabsatz und horchte. Die Stimmen von unten wurden vom Radio in ihrem Zimmer verstärkt. Es hörte ihr Gespräch ab, irgendein Phänomen. Sie hörte nicht Galaxy 101, sie hörte ihre Eltern. Ella drehte es leiser und legte ihr Ohr dicht an den Lautsprecher. »Ich sage dir, warum ich es glaube«, hörte sie Ken sagen. »Mein Gürtel. Ich erhob den Gürtel gegen sie, und sie machte die Schnalle kaputt. Ich habe es gehört. Es hörte sich an wie eine Druckplatte, die in der Presse bricht, das ist so ein bestimmtes Geräusch, wenn das passiert. Wie eine Explosion. So war dieses Geräusch. Und auf der Schnalle war ein silbernes Kreuz. Du kennst meinen Gürtel. Es war der meines Vaters, die Kirche hat ihn ihm geschenkt. Ein silbernes Kreuz. Du hast mir geholfen, es zu suchen. Du hast das ganze Zimmer gesaugt, stimmt's? Und du hast es nicht gefunden. Es ist nicht einfach so fortgeflogen. Ich habe gehört, wie es weggesprungen ist, das war keine Einbildung. Ein silbernes Kreuz. Also was ist das, wenn nicht das Werk des Teufels?« »Ken, nein.« »Sag du mir nicht nein.« »Tut mir leid, ich meinte nicht ...« »Du widersprichst mir nicht. Nie.« »Tut mir leid, natürlich, ich habe unrecht, es ist mir so rausgerutscht, ich habe überlegt. Ich habe mich erinnert.« »Was hast du erinnert.« »Es war, als Sylvie ungefähr in Ellas Alter war. Vielleicht ein bisschen jünger.« »Was?« »Ein paar Sachen, ein bisschen so wie diese, sind passiert.« »Auch deine Schwester hat den Teufel in sich? Das glaub' ich gern.« »Es war nicht der Teufel. Der Priester nannte es einen bösen Geist.« »Oh ja. Eure katholischen Priester. Wir geben gar nichts auf das, was eure Katholen sagen.« 69
»Nein. Nein. Natürlich. Du weißt, ich bin keine Katholikin mehr. Aber das liegt lange zurück. Bevor ich dich kannte. Und natürlich ging mein Vater zu unserem Priester. Er hatte ein deutsches Geisterwort dafür.« »Was, ein Poltergeist war das? Und was hat der getan, dieser Poltergeist-Teufel?« »War nicht so schlimm wie Ella. Er hat Sachen geworfen. So wie Holly das aus Ellas Klasse erzählt hat. Sachen flogen herum. Einmal nahm er einen Käse, einen großen runden Käse von unseren Ziegen, und diesen Käse warf er mitten auf das Bild unserer toten Mutter. Peng! Das Foto hing an der Wand, und es fiel runter und zerbrach. Sylvie schrie und schrie, und dann brüllte sie sehr laut in die Luft: >Hör auf, hör auf, ich hasse dich.< Und dann stampfte sie mit den Füßen auf das Bild unserer Mutter. Sie dachte, der Geist, das wäre unsere Mutter.« »Und war es so?« »Vater, er war so wütend. Er schlug Sylvie heftig. Ich dachte, er bringt sie um. Und ich, verstehst du, hatte zu große Angst, um dazwischenzugehen. Ich lief hinaus. Und er hätte sie vielleicht umgebracht, aber alle Teller vom oberen Bord fielen herunter und zersprangen. Und da war er so geschockt, dass er Sylvie losließ, und sie rannte weg. Wir haben sie dann drei Tage lang nicht gesehen.« Ken unterbrach sie ungeduldig. »Und war es der Geist deiner Mutter und hat das aufgehört?« »Es hörte auf. Sylvie kam zurück. Ein paar Wochen später - ich habe dir das schon erzählt.« »Keine Ahnung, wovon du sprichst.« »Sie hatte eine Fehlgeburt. Du erinnerst dich. Ich habe dir das schon mal erzählt. Sie war damals noch nicht einmal dreizehn Jahre alt. Ich wusste gar nicht, dass sie ihre Periode hatte. Kein Mensch wusste, dass sie schwanger war - nicht einmal Sylvie, sie wusste es auch nicht. Bis sie diese Bauchschmerzen bekam. Sie war in der Schule. Ich war damals schon aus der Schule, ich arbeitete in einem großen Kaufhaus. Das war ein Jahr, vielleicht ein bisschen mehr, bevor ich mit dir weglief. Die Schule hat bei uns zu Hause angerufen, und unser Vater war da, weil er an diesem Tag zu betrunken war, um auf den Schrottplatz zur Arbeit zu gehen. Und man sagte ihm, Sylvie sei es nicht gut, können wir sie heimschicken. Aber er war so betrunken und so grob, dass die Lehrer sie nicht allein nach Hause schicken wollten, deshalb hat einer sie 70
im Wagen heimgefahren. Und unterwegs fing sie an zu bluten, auf dem Beifahrersitz. Im Krankenhaus sagten sie, sie sei seit zwei Monaten, vielleicht zehn Wochen, schwanger. Ich weiß also nicht, ob sie das Kind schon hatte, als sie damals weglief. Sie hat mir mal erzählt, sie sei vergewaltigt worden beim Trampen, sie habe den falschen Wagen erwischt. Aber ein anderes Mal hat sie zu mir gesagt, unser Vater hätte mit ihr herumgemacht. Und ich glaube, er war es. Ich glaube, er hat das getan, auch wenn das Kind vielleicht nicht von ihm war.« Ella, die Haare hinter die Ohren gestrichen, kauerte neben dem Kassettenradio und versuchte, der Geschichte ihrer Mutter zu folgen. Sie hatte ihren Großvater nie kennengelernt. Sie waren nie nach Frankreich gefahren. Juliette hatte nur so viel gesagt, dass sie keine sehr schöne Kindheit gehabt hätte. Tante Sylvie sprach nie von früher - Tante Sylvie sagte immer: »Morgen ist ein schöner neuer Tag.« Niemand schien zu wissen, ob der Vater der Schwestern noch lebte. Niemanden schien das zu interessieren. Warum war Tante Sylvie zurückgekommen, nachdem sie weggelaufen war? Ella begriff das nicht. Obwohl sie es schon interessant fand zu hören, dass Tante Sylvie auch verrückte Sachen passiert waren. Vielleicht war das immer noch so, es achtete nur keiner darauf. Sie würde fragen müssen. Sie hörte ihren Vater sagen: »Das hast du mir alles schon erzählt. Soll ich dir sagen, was ich glaube, was deine Schwester ist?« »Natürlich. Ich weiß.« »Der Punkt ist - der Punkt ist der. Es liegt in deiner Familie. Gegenstände fliegen herum. Sachen kippen um und fallen von Regalen runter. Zerbrechen. Und weil ich nicht glaube, dass unsere Ella schwanger ist - Herrgott noch mal, es wäre besser für sie ...« Schwanger? Wie konnte ihr Vater das auch nur denken? Ihr Vater! Noch nie hatte jemand etwas so Schreckliches über Ella gesagt. Sie wollte schreien oder auf ihn einschlagen oder weglaufen, alles auf einmal. Natürlich wusste er nicht, dass sie lauschte. Sie spionierte ihrer Mum und ihrem Dad nach, die ein Gespräch unter vier Augen führten. Vielleicht sagten sie immer schreckliche Dinge über sie und Frank, wenn sie unter sich waren. Vielleicht machten das alle. Sie hasste sie und fühlte sich nicht mehr so schuldig für ihr heimliches Lauschen. 71
»Natürlich«, sagte ihre Mutter, »ist es nicht deine Schuld.« »Ich habe keine Sekunde lang geglaubt, dass es meine Schuld ist. Meine Familie hat nicht dieses verrückte Zeug in den Genen. Ich wusste, dass das von dir kommt, das hättest du mir nicht zu sagen brauchen.« »Ich bin es, tut mir leid.« »Richtig. Willst du wissen, was ich denke.« Das sagte ihr Vater immer, wenn er zu einer Entscheidung gelangt war. »Sie hat Teufel in sich. Die sind das, die machen das, dieses Stehlen und Lügen und Herumwerfen.« »Das ist ...«, flüsterte ihre Mutter zaghaft. »Es ist das, was ich sage, das es ist«, erklärte Ken Wallis nachdrücklich. »Nicht das, was die Wissenschaftler dazu sagen würden. Nicht das, was die Ärzte sagen würden. Aber kein Wissenschaftler und kein Arzt wird bei meiner Tochter herumschnüffeln. Weil kein Mensch etwas davon erfahren wird. Ihre Schule scheint mir auch mehr als froh, wenn das unter den Teppich gekehrt wird. Und Ella wird es gewiss nicht überall herumerzählen.« »Ich glaube nicht, dass ihr wirklich bewusst ist, dass daran etwas ungewöhnlich ist.« »Sie ist nicht die Hellste«, sagte ihr Vater nicht unfreundlich. »Vielleicht haben sie recht, die Schule und Ella. Am besten, wir beachten das einfach nicht. Vielleicht ist es sowieso schon vorbei, wer weiß?« »Du kannst den Teufel nicht ignorieren, Juliette. Das ist der Weg zur Hölle. Das ist der Weg zur ewigen Verdammnis. Wenn du den Teufel in dir hast, musst du ihn austreiben.« »Wir müssen für ihre Seele beten«, sagte Juliette. Ella fand, die Gebete der Pfingstkirche klangen unaufrichtig, wenn ihre Mutter sie sprach. »Ich sagte, wir müssen ihn austreiben«, bemerkte Ken. »Wir müssen sie einem Exorzisten anvertrauen.« »Ich verstehe nicht ...« »Macht nichts. Sie hat den Teufel in sich, und der muss ausgetrieben werden. Und dazu braucht es mehr als Gebete, sonst wäre der Teufel kein Problem, oder? Wir müssen Robert fragen. Robert wird es machen.« »Kannst du es nicht tun, Ken? Ich bin sicher, du bist genauso gut, du bist besser.« 72
»Ich bin nicht in Übung. Ich habe es überhaupt noch nie gemacht. Robert kann es, er ist gut.« »Was wird er tun?« »Die Dämonen exorzieren, die sich in Ellas Seele eingenistet haben.« Ella presste die Hände an die Brust. Wo waren die Dämonen? Konnte sie sie spüren? Wie waren sie in sie hineingekommen? Warum sie? Es war eine Lüge, er log. Sie hatte keine Dämonen in sich. Warum aber sonst? Warum sonst passierten diese verrückten Sachen? Sie begann zu beten: »Vater unser, der du bist im Himmel, Dein Name werde geheiligt...« »Manchmal ist dein Robert, also er ist ...« »Mein Bruder, Juliette, das ist er.« »Ja natürlich, tut mir leid...« »... Dein Reich komme, Dein Wille geschehe ...« »Manchmal ist er sehr heftig ...« »... im Himmel, also auch auf Erden ...« »Du weißt, Angela hat ihn aus einem bestimmten Grund verlassen. Sie hat beide Jungs mitgenommen. Sie will nicht, dass er seine beiden eigenen Söhne sieht. Das hat einen Grund.« »Sie ist eine Zicke«, sagte Ken. »Okay, ich mag sie jetzt auch nicht mehr lieber als du. Aber es hatte einen Grund.« »... unser täglich Brot gib uns heute und vergib uns unsere Schuld...« »Red weiter, welchen? Eh? Du bist kurz davor, ihn zu verleumden, was? Weil die anderen Frauen das tun? Robert weiß, was diese Zicke von einer Frau über ihn gesagt hat. Sie läuft zu den Bullen und erzählt, er hätte kleine Mädchen und Jungs angefasst, die Freunde seiner Söhne, und sie ist sogar so verdorben, dass sie ihnen erzählt, er hätte sich an seinen eigenen Söhnen vergangen. An meinen Neffen. So nennen die Bullen das doch - sich vergehen? Stimmt's?« »Du weißt, ich tratsche nicht herum.« »Du bist eine Frau, ihr seid alle verlogene Huren.« »... wie auch wir vergeben unseren Schuldigern ...« »O-kaaay«, sagte Juliette zaghaft nach langem Schweigen. »Immer sage ich Sachen, die ich eigentlich nicht so meine. Ich wollte nichts Schlechtes sagen. Ich glaube nicht, was Roberts Frau über ihn und die Jungs erzählt.« 73
»Ex-Frau.« »... und führe uns nicht in Versuchung ...« »Ex, ja. Tut mir leid, wir können jetzt die Neffen gar nicht mehr sehen. Aber ich will doch nur wissen, wie ist das, wie macht Robert diese Exorzieren-Sache ?« »... sondern erlöse uns von dem Übel...« »Du willst also, dass er es macht?« »Vielleicht.« »... denn dein ist das Reich ...« »Er spricht ein paar Gebete über ihr. Befiehlt den Dämonen, ihren Körper zu verlassen.« »Und er kann das hier machen? Das muss nicht in der Kirche sein?« »Hier, wenn du das willst.« »Und wir können die ganze Zeit dabei sein.« »Wüsste nicht, warum nicht.« »Die ganze Zeit. Ja?« »Okay«, sagte Ken. »Gut. Und es ist sind nur Gebete. Er wird sie nicht schneiden, kein Blut, nichts Grusliges.« »Das ist christlicher Glaube. Keine Hexerei.« »... und die Kraft und die Herrlichkeit...« Das Licht am Kassettenradio erlosch, und egal, wie heftig Ella das Gerät schüttelte, der Ton und damit die Stimmen ihrer Eltern kam nicht wieder. Noch nach Mitternacht, als es ihr endlich gelang, einzuschlafen, wiederholte sie das Vaterunser. »...in Ewigkeit. Amen.«
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KAPITEL 10
O
nkel Robert wischte über seinen vom Regen feuchten Kahlkopf und ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Esstisch und Stühle waren vor die Fenstertüren geschoben worden, und der Teppich lag aufgerollt vor den Tischbeinen. Das Regenwasser von Onkel Roberts blauer Polyesterjacke tröpfelte auf die blanken Fußbodendielen. »Das wird gehen«, sagte er. »Dieser Raum nach hinten raus ist der einzige im Haus, der groß genug ist«, entschuldigte sich sein Bruder. Onkel Roberts Schritte hallten auf den Holzdielen. »Wir brauchen einen Stuhl - hier«, erklärte er und stellte mit Schwung einen der grünen Esszimmerstühle in die Mitte des Zimmers. Das Licht der Lampe fiel direkt darauf. »Die Kerzenleuchter sind im Wagen.« Er spähte durch die Fenstertüren. Regenwasser lief an den Scheiben herab und behinderte seine Sicht in den rückwärtigen Garten. »Bring ihm einen Schirm«, befahl Ken seiner Frau. »Wenn er noch mal raus muss bei diesem ...« Er fing den Blick seines Bruders auf. »Ich sag dir was, ich hole das Zeug selbst. Robert macht das schließlich alles nur für unsere Tochter.« Onkel Robert nickte. Immer noch rannen ihm Regentropfen von Ohren und Kinn. »Der Jaguar steht nur zwei, drei Türen weiter. Es ist alles im Kofferraum.« Er warf Ken die Schlüssel zu. »Die Sachen sind schwer, pass also auf.« »Kann ich dir eine Tasse Tee bringen?«, fragte Juliette. Onkel Robert wandte sich nicht um. Wenn Ken nicht im Zimmer war, sprach er nicht einmal mit seiner Schwägerin. Sie schien unter seiner Würde. Er zog sein schwarzes Neues Testament mit der Messingschnalle aus seiner Jacke und begann das Zimmer zu durchschreiten. Als würde er es ausmessen, teilte er es in vier Teile. Anschließend verschob er den Stuhl ein wenig. Er blätterte durch das Buch, legte seinen Finger auf eine Textstelle, schloss die Augen und begann stumm zu rezitieren. »Wo willst du die haben?«, fragte Ken ein wenig atemlos und schlenkerte acht schwarze Kerzenhalter, jeder vier Fuß lang und tropfnass. Onkel Robert deutete mit der Hand einen Kreis um den Stuhl an. 75
Die Kerzen waren bereits benutzt worden. Onkel Robert drückte jede auf die Metallnadel eines Kerzenhalters. Er holte eine silberne Flasche mit heiligem Wasser aus seiner Brusttasche und schritt dann langsam mit einer dünnen Wachskerze den Innenkreis ab. Dabei verspritzte er das Wasser und intonierte: »Dominuspater, dominusfilius, et dominus Spiritus. Amen. Dominus pater, dominus filius, et dominus Spiritus. Amen.« »Wo ist dein Sohn?«, fragte er. »Wir haben ihn zu Freunden geschickt.« »Und das Mädchen?« Ken und Juliette, die nebeneinander gedrängt in der Tür standen, warfen einen Blick die Treppe hinauf. »Ich habe ihr gesagt, sie soll in ihrem Zimmer warten.« »Ich bin jetzt so weit. Hol sie, Julie. Mach das Licht aus, Kenny.« Ella kam gehorsam, aber unten an der Treppe zögerte sie. Niemand wusste, dass sie das hier erwartet hatte. Sie wussten nicht, was sie gehört hatte. Sie sah Onkel Robert in seinem dunklen Anzug, angestrahlt von Kerzen in Schulterhöhe, und obwohl sie es erwartet hatte, wusste Ella nicht, was es bedeutete. Kens Hand schloss sich um ihr Handgelenk und zerrte sie in das Zimmer hinein. »Ich habe keine Dämonen in mir«, protestierte sie. Die Hand ihres Vaters zog sie zu Onkel Robert. »Du weißt also, welchen Sinn das hat?«, fragte Onkel Robert ruhig. Ella schüttelte den Kopf. »Ein Teil von dir weiß es, Ella. Ein Teil von dir hat das bereits einmal gesehen. Nicht wahr?«, fügte er barsch hinzu. »Und das ist der Teil, von dem wir uns befreien wollen.« Er nickte Ellas Eltern zu. »Macht die Tür zu. Ken, du stellst dich vor den Stuhl - Julie, du dahinter. So, Ella, nun trittst du in den Kreis. Pass auf, damit du nicht mit deinen Haaren an die Flamme da kommst.« Seine schweren Hände auf ihrer Schulter drückten Ella auf den Stuhl. Er roch nach Benzin - nach Jahren in der Tankstelle war seine Haut damit durchtränkt. Sie dachte an die Kerzen und duckte sich unwillkürlich auf ihrem Stuhl, weil sie fürchtete, die Dämpfe könnten Feuer fangen. Er würde direkt vor ihr explodieren. Sie wagte, in sein Gesicht zu blicken. Seine braunen Augen funkelten im Kerzenlicht, das sie von unten anstrahlte. Im flackernden Schein 76
der Kerzen waren die Unterseite seiner Lippen und seines Kinns rot. Er lächelte. »Ella, ich möchte nicht, dass du Angst hast. Vergiss nicht, Jesus ist an deiner Seite, auf jedem Schritt. Wir werden nun dein Herz für Jesus öffnen, und er wird kommen und die Dämonen austreiben.« Ihr Vater, eine Kerze an jeder Schulter, stand hinter Onkel Robert. Er sah Ella grimmig an. »Ich will das nicht!«, platzte sie heraus. »Dad, er macht mir Angst.« Sie versuchte, sich nach vorn fallen zu lassen, aber eine starke Hand hielt sie an der Schulter fest. Die andere schlug die Bibel auf. Ella drehte sich um, um ihre Mutter anzusehen, aber Juliette wandte den Blick absichtlich ab und sah in eine der Flammen. »Mum!« Juliette starrte in die Kerze. Jeder Muskel in Ellas magerem Körper schien gespannt, als würde er von Drähten gezogen. Ihr Bauch schien gebläht und voller Flüssigkeit zu sein, und sie kämpfte gegen den Brechreiz. Gallensäure kam hoch und breitete sich in ihrem Mund aus. Sie schluckte den Übelkeit erregenden bitteren Geschmack hinunter. »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, fahre aus aus diesem Mädchen, du unsauberer Geist.« Onkel Robert schlug Ella die Bibel an die Brust. Ein Wimmern wie von einer Drahtsaite zirpte durch das Zimmer, ein Ton, ohne jeden Zusammenhang mit dem zunehmend lauter werdenden Rauschen des Regens draußen. Onkel Robert blickte auf. Das Kerzenlicht ließ seinen Hals aufleuchten. »Das ist das Geräusch des Dämons, des unheiligen Geistes, des Abgesandten des Teufels. Im Namen Jesu möge der Teufel in der Hölle erbeben!« Er hob beide Arme, als wären es Flügel, und formte mit den Ärmeln seines blauen Jacketts einen Bogen über ihr. »Fahre aus aus diesem Mädchen, du unsauberer Geist.« Der erste Blitz erhellte die Fensterscheiben. Donner grollte. Das andere Geräusch teilte sich in zwei separate Saiten, die aneinander kratzten. Ella sah, wie ihr Vater das Gesicht verzog und mit den Zähnen mahlte. Ihre Sinne begannen die Orientierung zu verlieren, sie konnte nicht mehr exakt unterscheiden, wo sich ihre Eltern und Onkel Robert und die Kerzen befanden. 77
»Fahre aus aus diesem Mädchen!«, brüllte Onkel Robert. »Du unsauberer Geist!« Sie wandte den Blick nach oben. Ein Schauder durchlief sie und schüttelte sie so heftig, dass sie sich am Stuhl festklammerte. Die Blitze draußen wurden bedrohlicher. »Unreinheit und Verderbtheit ihres Körpers! Schmutz, der du die Seele dieser Frau, die noch ein Kind ist, heimsuchst! Im Namen des lebendigen Christus! Im Namen der reinigenden Flamme, die ihre Seele zu Asche verwandeln wird - hinaus! Im Namen Gottes unseres Herrn - hinaus! Feuer unseres Herrn - reinige diese erbärmliche Seele!« »Amen!«, brach es aus ihrem Vater heraus. »Feuer des Himmels - reinige! Reinige! Brenne in ihrem Herzen!« Ella keuchte, als ein heftiger, sengender Stich ihre Brust traf. Das Zimmer war in Dunkelheit getaucht. Jede Kerze war, ohne einmal zu flackern, erloschen. Jede Flammenglut lief zur Spitze des Dochts hinauf und verschwand nach oben. Im kurzen Auflodern eines Blitzes wirkten die Gestalten der Erwachsenen, die um sie herumstanden, wie Schatten. Ella lockerte ihren Griff. Der Schmerz in ihrer Brust verging. Erleichtert senkte sie den Kopf. Eine tropfende Kerze flammte wieder auf. Onkel Robert, die Arme immer noch erhoben, drehte überrascht den Kopf. Die Kerze, einer der kürzeren Stümpfe, brannte gleichmäßig, und der hohe, schneidende Ton einer Saite setzte wieder ein, als würde sie durch die Luft gezogen. Eine zweite Kerze erwachte zum Leben. Und eine dritte. Das Geräusch wurde lauter. Onkel Roberts Gesicht verfinsterte sich, als sich jede Flamme erneut entzündete. Bedrohlich ragte seine Gestalt vor Ellas Augen auf. »Ergreife das Buch, Kind! Komm jetzt nicht vom Wege ab!« Er stieß ihr die Bibel in die Hände. »Wahrhaftig, du musst kämpfen, um deine Seele zu retten. Ich kann nicht alles allein machen. Kämpfe den gerechten Kampf! Nimm das Wort des Herrn an deinen Busen.« Ellas Händen, die vor Entsetzen schwitzten, entglitt der schwarze Ledereinband. Onkel Robert trat vor und presste seine Knie gegen die ihren. Sein Bauch wölbte sich über ihren Schoß, und sie zuckte zurück, um nicht mit dem Gesicht an seine Hemdbrust zu kommen. 78
»Und ich sah den Himmel aufgetan«, deklamierte Onkel Robert und übertönte den in der Luft kreischenden Ton, »und siehe ein weißes Pferd; und der darauf saß, hieß Treu und Wahrhaftig, und richtet und streitet mit Ge-
rechtigkeit.« Er hob die Arme höher und stieß ein Brüllen aus wie ein Ochse. Er schnalzte mit der Zunge und ließ seine Hände auf Ellas Kopf fallen. Seine dicken Finger griffen in ihre Haare und gruben sich in ihre Kopfhaut. Die Worte kamen wie kleine Explosionen über seine Lippen, Wortsalven brachen aus seiner Kehle. Immer dieselben kehligen, rasselnden Worte, die sich ständig wiederholten. Ella hatte Onkel Robert schon so besessen erlebt. Mitten in einer Predigt kamen gebrochene Laute aus seinem Mund. Ken hatte ihr gesagt, das sei die Sprache der Engel. Onkel Robert besäße die Gabe der Zungen. Nur die Gottlosen müssten sie fürchten, sagte ihr Vater. Ella kam es nicht menschlich vor. Seine Hände hatten sich über Ellas Kopf nach hinten zu ihrem Hals gearbeitet und hielten ihren Schädel so fest, dass sie glaubte, er würde ihr den Kopf abdrehen. Onkel Robert schob sich vor und zwängte eines seiner fetten Beine zwischen ihre Knie, sein feuchtes Jackett schlug ihr ins Gesicht. Ella versuchte, ihn mit der Bibel wegzudrücken, aber sie war zu schwach. Die Kerzen loderten auf mit Flammen so hoch wie von Gasfackeln. Seine Hände erreichten ihre Schultern und zogen sie grob an sich. Ella konnte nichts sehen außer seiner Brust und der Speckrolle an seinem Hals. Die Ärmel seines Hemdes waren schweißdurchtränkt, und sein Atem streifte ihre Haare. Seine Hände fielen auf ihre Brust herab und drückten ihre Rippen zusammen, seine Daumen gruben sich unter die Träger ihres BHs. Seine Handflächen pressten sich gegen die kleinen Schwellungen und rieben die knospenden Brüste. Ella stieß die Bibel zwischen seine Hände und versuchte, ihn wegzuschieben, aber sein Griff unter ihren Armen war zu stark. Er hatte den Kopf in den Nacken geworfen, sein Adamsapfel bewegte sich im Rhythmus seines Geheules. Ellas Eltern konnten nicht sehen, was er tat. Sein Körper verdeckte ihre Tochter. Ella bemühte sich, ihre Knie anzuziehen, aber sein fetter Oberschenkel war im Weg. Die starre Ausbuchtung hinter dem Reißverschluss seiner Hose stieß gegen ihren Bauch. 79
Ein Schauder durchzuckte sie und noch einer. Die Krämpfe schüttelten sie, als wäre sie eine Marionette und über ihr würde an den Fäden gerissen. Das kreischende Wimmern ließ sich nicht mehr von dem Klingen in ihren Ohren unterscheiden. Es übertönte das übel riechende, Angst einflößende Geleier nicht, das aus Onkel Roberts Mund hervorkam. Regen schlug gegen die Scheiben der Türen. Die Donnerschläge kamen fast gleichzeitig mit dem Zucken der Blitze. Als das Stoßen seiner Lende sie fast zerquetschte und seine Handballen sich so brutal in sie hineindrückten, dass er ihr die Luft nahm, zuckte Ellas Knie nach oben. Sie wollte das nicht. Sie hätte nie den Mut dazu gehabt. Das Knie stieß kraftvoll nach oben. Ihr magerer Unterschenkel, obwohl schwerelos, hämmerte so fest zwischen seine fetten Oberschenkel, dass sie spürte, wie sie seinen Beckenboden berührte und ihn fast vom Boden hochgehoben hätte. Onkel Roberts Hoden waren eingeklemmt. Onkel Roberts Gabe der Zungen versiegte. Bevor der Schmerz sich voll bemerkbar machte, weiteten sich seine Augen vor Verwunderung. Seine Nichte konnte ihn nicht treten, nie würde sie es wagen, so hart zuzuschlagen. Er bemühte sich, nicht zusammenzusacken, als er die Arme von Ellas Körper nahm. Als sie nach vorn kippte, hob er seine Arme über den Kopf und fasste sich bei den Händen, um sie von dem verräterischen Griff nach seiner Lende abzuhalten. Ein Winseln konnte er nicht unterdrücken, aber der leise Laut wurde von dem unmenschlichen Kreischen übertönt, das das ganze Zimmer erfüllte. Die ledergebundene Bibel sprang aus Ellas Händen und traf Onkel Robert mitten ins Gesicht. Die Messingschnalle hämmerte gegen seine Nase, und Blut tropfte auf seine Lippe. Die Bibel schwebte einen Moment lang, dann fiel sie zu Boden. Ella schlang die Arme um ihren schmerzenden Brustkorb. Das Kreischen verebbte. Dieser eine Tritt hatte all ihre übernatürliche Energie enthalten. Sie war kaum noch bei Bewusstsein, als würde alles Blut aus ihrem Kopf entweichen, und sie nahm die Erwachsenen nur noch als schemenhafte Schatten wahr. Onkel Robert rührte sich nicht. Er schielte an seinen Unterarmen vorbei zu den flackernden Kerzen. Ellas Vater, eine Hand halb ausgestreckt nach ihrer Mutter, die hinter dem Stuhl stand, schien erstarrt. 80
Onkel Robert war wieder eingefallen, dass er Englisch konnte. Mit bebender Stimme rief er: »Im Namen des Herrn, ich treibe dich aus!« Die rituellen Worte konnten seinen Schmerz nicht überdecken. Plötzlich schrie Ellas Mutter auf. Onkel Robert nahm es nur kurz wahr. »Du wirst nicht triumphieren«, rief er hinauf in die Luft. »Ich werde dich bezwingen wie Jakob, der mit dem Engel des Herrn kämpfte und ihn überwand.« Ella, die Augen nach oben gedreht, begann aufzusteigen. Die Hände unter die Arme geschoben, die Knie angezogen, löste sie sich ganz langsam von ihrem Stuhl wie eine Luftblase in dickem Öl. Juliette kreischte. Ellas Blick blieb nach oben gewandt. Der kreischende Lärm wurde erst zu einem einzigen Saitenton, dann zu einem Seufzer, dann löste er sich in der Luft auf wie ein scharfer Atemzug. Ella schwebte weiter. Der Donner war plötzlich weiter entfernt. »Nein! Nein!«, flehte Juliette. »Geh raus hier.« Onkel Robert drehte sich um, um sie drohend anzufunkeln, doch er merkte, dass sie nicht mit den bösen Geistern redete. Ihr Sohn Frank stand hinter seinem Vater in der Tür. Seine Haare und sein Mantel waren tropfnass. Mit offenem Mund starrte er auf seine Schwester. »Was hat man dir gesagt! Was hat man dir gesagt! Du darfst nicht hier rein.« »Was macht sie da?«, fragte Frank. »Du musst ihr helfen.« »Bleib weg von ihr, Frank! Fass sie nicht an!« Aber Frank schlüpfte unter Onkel Roberts Arm hindurch und griff nach Ella hinauf. Er packte sie an den Beinen und zog sie zurück auf den Stuhl. Ihren Nacken umfassend, flüsterte er: »Ich habe keine Angst, Ella. Ich habe keine Angst.« Erstaunt sah Ella sich um. Die Kerzen waren heruntergebrannt und tropften. Sie konnte sich nicht erinnern, warum die Kerzen da waren. Sie konnte sich nicht erinnern, warum ihr Vater und Onkel Robert vor ihr standen. Onkel Robert blutete im Gesicht. Kens Gesicht war weiß. Sie verstand nicht, warum ihr Bruder sie umarmte, das Haar feucht vom Regen. Sie verstand es nicht, doch sie fragte nicht, als ihr Vater seine Arme recht sanft um sie legte und sie auf ihr Zimmer brachte. Er sagte, er und Onkel Robert müssten miteinander reden.
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Ella musste in ihrem Zimmer eingeschlafen sein. Sie lag mit dem Gesicht nach unten auf ihrem Bett, als sie merkte, dass ihre weiten grauen Jeans unangenehm an ihrem Oberschenkel klebten. Sie beugte sich vor. Ein schmaler, dunkler Fleck hatte sich oben an ihrem Bein in einer Falte ausgebreitet. Sie öffnete den Reißverschluss der Hose. Ihr Schlüpfer war voller Blut. Sie hatte keine Schmerzen. Einen Augenblick lang glaubte sie, sie müsste vorhin im Erdgeschoss verletzt worden sein, als ... als ... sie konnte sich nicht erinnern, was dort vor sich gegangen war. Sie berührte das Blut auf ihrem Bein, und dann begriff sie. Sie hatte ihre erste Periode bekommen.
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TEIL 2
KAPITEL 11
M
onty Bell saß an einem Schreibtisch, der nicht der seine war, und ging die Post durch. Die anderen Reporter waren längst nach Hause gegangen. Niemand war da, der gesehen hätte, wie er in den Büros des Bristol Evening Herald herumschnüffelte, außer einer Redakteurin und einem Redakteur. Die eine war zu beschäftigt, der andere zu betrunken, um von Monty Notiz zu nehmen. Es war nicht ungewöhnlich, dass Monty nach elf Uhr in der Nacht hier herumkramte. Er suchte nicht nach etwas Bestimmten - etwas zu tun, das war alles. Eine verwertbare Pressemitteilung. Eine Zeitschrift zum Lesen. Irgendwas, damit er nur nicht nach Hause gehen musste. Im Herumgehen sprach er mit sich selbst. »Protokolle Politik und Umwelt - die müssen alt sein. 30. November. Warum liegen die immer noch auf ihrem Schreibtisch? Was für eine Schlamperei ... Nichts auf dem Laufenden. So ist das mit diesem verdammten Weihnachten, eh, Jim? Nichts passiert.« Monty murmelte vor sich hin, tat dabei aber so, als würde er ein Gespräch mit seinen Kollegen führen, doch er erwartete keine Antwort von ihnen. Die anderen waren nicht so dumm, auf Monty einzugehen, wenn er mit ihnen zu reden anfing. Dann wurde man ihn nie los. Er marschierte ihnen hinterher und bemühte sich verzweifelt, eine Unterhaltung in Gang zu halten. Es gab kein Entrinnen, wenn er sich einmal an einen drangehängt hatte. Man wusste, dass er den Leuten sogar aufs Klo hinterhergegangen war, in den Aufzug und hinunter auf den Parkplatz. Unentwegt redend, sodass sie sich notgedrungen mit ihm auseinandersetzen mussten. Nicht, dass er ein schlechter Reporter wäre. Er war bemüht, stets bereit, zu den langweiligsten Versammlungen zu gehen und sie bis zum letzten Wort auszusitzen. Die Fakten in seinen Artikeln waren immer 83
korrekt. Es war ihm nicht peinlich, sie noch einmal zu überprüfen und Fragen mehrmals zu stellen. Kein schlechter Reporter. Nur einsam. Aber er achtete auf sich. Nicht wie Jim Wright, der Redakteur, der mit dem Kopf auf der Schreibtischplatte seinen Whiskyrausch ausschlief, im selben Hemd, das er bereits am Mittwoch getragen hatte. Dennoch, ein Mann Mitte vierzig, der Jobs erledigte, die eigentlich ein Anfänger machen sollte, hatte etwas Mitleiderregendes. Monty wusste das. »Shout For Joy«, sagte er und zog eine A4-Broschüre aus einem Papierhaufen. »Ja. Shout For Joy: Evangelical good news for the Bedminster Ministry.« Er drehte sie um. Auf der Rückseite war ein schlecht fotografiertes Bild von einem Gottesdienst in der Pfingstkirche abgedruckt. Die Leute schienen zu jauchzen, wie es ihnen der Titel der Broschüre befahl, und dabei zu winken oder in die Luft zu boxen. Es war schwer zu sagen. »Yippee«, murmelte Monty. »Hast du die Weihnachtsausgabe von Shout For Joy gelesen, Jim? Aber selbstverständlich. Das würdest du dir nicht entgehen lassen, oder? Und wenn du dich kaum auf den Beinen halten könntest.« Er warf die Broschüre auf den Papierstapel und fummelte an dem Schreibtischkalender neben dem Apple-Mac-Monitor herum. Heute war Donnerstag, der 31. Dezember. In neunundvierzig Minuten würde es Freitag, der 1. Januar, sein. Silvester. Monty blätterte den Kalender um und zog aus schierer Verzweiflung wieder Shout For Joy heraus. Alles war besser, als nach Hause zu gehen. Sogar das zu lesen. »Neues Jahr, neuer Mensch. Komm Jesus näher am 1. Januar.« Erholte eine zerknitterte Schachtel Silk Cut aus seiner Hosentasche und ein rosarotes Plastikfeuerzeug. Die letzte Zigarette. Aber wenn er in ein Pub gehen würde, würde ihn irgendein Trottel bei der Hand fassen und Auld Lang Syne singen. Er sollte nach Hause gehen. Da lagen immer irgendwo ein paar Kippen herum. Sich eine Tasse Tee machen und sich das verdammte schottische Silvesterfest auf BBC 1 ansehen. »Das Ende eines fantastischen Jahres, eh, Jim?« Er schaute hinüber zu Marielle, die beim Arbeiten das Gesicht so dicht an ihrem Mac hatte, dass wahrscheinlich der Bildschirm von ihrem Atem beschlug. Vielleicht wollte sie ein wenig Aufheiterung. 84
»Soll das im neuen Jahr so weitergehen, Marielle?«, rief er. »Nur malochen?« Keine Antwort. Monty ging hinüber. »Soll das im neuen Jahr so weitergehen?«, wiederholte er. Marielle führ ihn an: »Nicht, wenn ich es verhindern kann.« Sie blickte nicht auf. Offensichtlich wollte sie nicht aufgeheitert werden. Monty marschierte zurück zu dem Schreibtisch, auf dem Shout For Joy aufgeschlagen lag. Er würde noch seine Zigarette rauchen. Dann würde er gehen. »Squaredance für Jesus! Warum kommt ihr nicht am 2. Januar in unsere freundliche evangelische Kirche zu einem Tanzabend mit Musik im amerikanischen Stil? Es wird ein Büffet im Ranch-Stil da sein, viele gute Freunde und die Chance, mit beiden Beinen aufzuspringen und den Herrn auf vergnügliche Weise zu loben.« Monty schüttelte den Kopf. Was waren das für Leute? Wenn es das war, was man tun musste, um in den Himmel zu kommen, dann danke schön, dann ging er lieber an den anderen Ort. Er blätterte die Seite um. »Die unglaubliche Macht von Jesus! Ich bekam diese Woche die Gelegenheit, die Geistheilkraft unseres Herrn zu beschwören und einem Teenager, einem Mädchen, zu helfen, schreibt RW. Die populäre Bezeichnung für diesen Vorgang lautet Exorzismus - doch in Wahrheit handelt es sich um eine machtvolle Verfahrensweise, um das Herz eines kranken Menschen zu öffnen und Jesus einzulassen. Wenn Jesus in einem Geist wohnt, hat der Teufel keinen Platz mehr.« Monty wunderte sich immer mehr - wer waren diese Leute? Lebten die im Mittelalter? »Ich habe im Laufe der Jahre etliche Exorzismen praktiziert, aber noch nie mit derart spektakulären Ergebnissen wie in dem Hinterzimmer eines Hauses in Bedminster am Sonntag, den 27. Dezember. Die Eltern des jungen Mädchens hatten mit wachsender Sorge bemerkt, dass der Teufel Einfluss auf ihre Seele zu erlangen schien. Ich sollte hinzufügen, dass man dem Mädchen dafür nicht die Schuld geben kann - sie ist das wohlerzogene Kind einer angesehenen Familie. Ich möchte sie nicht beim Namen nennen, aber sie ist euch allen bekannt.« Montys Interesse war geweckt. Nenn sie beim Namen, dachte er. Wenn sie sowieso jeder kennt, dann rück den Namen raus. 85
»Dämonische Mächte waren mit diesem Mädchen am Werk, mit zuweilen chaotischen Auswirkungen. Lichter gingen an und aus, Geräusche waren zu hören, und in der Schule brach einmal ein kleines Feuer aus. Selbstverständlich beteuerte das Kind seine Unschuld, aber diese Vorfalle verursachten natürlich Kummer und Ärger.« Ihm dämmerte etwas. Feuer in einer Schule. Irgendjemand hatte Monty davon erzählt. Im Bericht hieß es weiter: »Es war offenkundig Zeit für drastische Maßnahmen, deshalb wurde das rückwärtige Zimmer der Familie mit entsprechenden Mitteln zu einem Verstärker von Gottes Macht umgewandelt.« Monty begann zu überlegen - das war ein Gemeindeblatt aus Bedminster. Sein Sohn, Christopher, besuchte die St. John's Lane Secondary in Bedminster. Es war Christopher, der ihm von einem Feuer erzählt hatte. Die Krippe hatte Feuer gefangen, und der Lehrer hatte die Flammen ausgetreten und dabei Josef und Maria plattgemacht. Und der Plastikjesus hatte alles unversehrt überstanden. Wie hatte dieses Feuer angefangen? Monty erinnerte sich nicht, gefragt zu haben. Sie hatten einfach darüber gelacht. Konnte dieses Mädchen, das Teufelsmädchen, eine Mitschülerin von Christopher sein? Er las weiter: »Das Mädchen wurde hereingebracht und in einen aus Kerzen gebildeten Kreis gesetzt. Sofort wurde deutlich, dass der Teufel sich heftig bemüht hatte, sich an ihre Seele zu klammern. Ein Kreischen begleitete die rituelle Austreibung, aber über die Kerzen wurde aufmerksam gewacht, auf dass sie sehr hell brannten - ein sichtbares Zeichen für die Anwesenheit des Herrn. Als der Dämon aus ihrem Körper ausgetrieben worden war, offenbarte er seine Wut, und das können alle Anwesenden bezeugen, unter grässlichem Protest. Obwohl wir uns völlig unter dem Schutz der Liebe Gottes wussten und wussten, dass der Teufel machtlos ist, wenn wir uns weigern, ihm zu helfen, war es doch eine beunruhigende Erfahrung. Wie sich jeder vorstellen kann, waren wir froh, als die Macht Jesu den Sieg davongetragen hatte und den Dämon ganz und gar aus dem Haus getrieben hat. Ich habe besondere Anstrengungen unternommen, damit der Vorfall in diese Monatsausgabe von Shout For Joy aufgenommen werden konnte. 86
Tatsächlich ist dieses Ereignis noch keine vierundzwanzig Stunden her. Die Tatsachen, über die hier berichtet wird, sind, so unglaublich es scheinen mag, völlig korrekt wiedergegeben und wurden niedergeschrieben, als sie mir noch frisch im Gedächtnis waren. Niemand, der mich kennt, wird an mir zweifeln, aber meine beiden Zeugen, ihre eigenen Eltern, können auf jeden Fall jede Aussage bestätigen. Manchem mag es schwerfallen zu akzeptieren, dass es Dämonen und Exorzismen gibt - das alles ist so weit entfernt von unserem Zeitalter der Technik, der Elektronik und des Materialismus. Wie sagte Hamlet zu seinem Vater: Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als eure Schulweisheit sich erträumt ...« Monty rauchte seine Silk Cut bis zum Filter, während er den Artikel zum zweiten Mal las. Als er fertig war, war er sich in zwei Punkten sicher. Erstens, dass Shakespeare sich irrte - Hamlet hat das nie zu seinem Vater gesagt, sondern zu Horatio. Und zweitens: Böse Stimmen in der Luft, Dämonen, Teufelsaustreibungen, diese ganzen Geschichten zu akzeptieren war schwer. Was dachten die sich bloß - dass Der Exorzist die Realität wäre? Glaubte wirklich jemand ernsthaft an dieses starke Stück, dieses Gott-kümmert-sich-um-euch-Zeug? Wer waren diese Leute? Ja - genau, wer waren diese Leute? Die Vierundsechzigtausend-Dollar-Frage. Die Signatur des Autors war KW - nur die Initialen. Monty blätterte die Broschüre durch. Der Name Robert Wallis erschien mindestens einmal auf jeder Seite. Auch sein Foto. Im Telefonbuch von Bristol gab es sieben Einträge für Wallis, R, aber nur einen in Bedminster. Allerdings war es jetzt ein bisschen zu spät, um dort anzurufen. Das musste bis morgen warten. Aber vielleicht war es den Versuch wert, Christopher zu fragen. Die Sache mit der brennenden Krippe hatte vermutlich nichts mit dieser Geschichte hier zu tun, aber fragen tat nicht weh. Natürlich war es auch zu spät, um Christopher anzurufen. Ausgenommen der 31. Dezember. Silvester. Noch eine halbe Stunde. Christopher war sicher noch auf. Er war jetzt fünfzehn. Seine Mutter hatte keine Chance, ihn vor Mitternacht ins Bett zu schicken. Monty begann nach einer Zigarette zu suchen. Er hatte die Telefonnummer seiner Ex-Frau bereits gewählt, als ihm einfiel, dass er die letzte geraucht hatte. Viermal läuten, fünfmal - keiner ging ran. Anita 87
würde sicher eine Party schmeißen. Und wahrscheinlich waren sie zu betrunken, um das Telefon zu hören. Achtmal läuten. Neunmal läuten. Vielleicht hatten sie Christopher zu einem Freund geschickt zum Übernachten. Damit er aus dem Weg war. Zehnmal läuten. Elf. »Hi - ja?« »Hi, Monty hier. Ist Christopher da?« »Chris wer?« Er war es, Anitas Neuer - Monty kannte die Stimme. Dieser Kretin von einem Public-School-Zögling. Der Idiot lebte seit zwei Jahren mit Montys Ex-Frau und seinem Sohn zusammen, und er fragte: »Chris wer?« »Hier spricht Monty Bell, holen Sie einfach meinen Sohn ans Telefon, wären Sie so nett?« Eine lange Pause. Aus einem Zimmer waren Gelächter und das Knallen eines Sektkorkens zu hören. Anita gab eine Party. »Dad?« »Hi. Alles in Ordnung?« »Okay.« »Deine Mutter hat ein paar Freunde da?« »Ja ...« Monty versuchte zu grinsen, doch in Wahrheit biss er die Zähne zusammen. Gespräche mit Christopher begannen inzwischen immer so. Sie sahen einander mindestens zweimal im Monat, aber jedes Mal war es, als würde er sich mit einem Fremden bekannt machen. »Also. Ein frohes neues Jahr.« »Danke.« »Möchtest du mir nicht das Gleiche wünschen?« »Frohes neues Jahr. Ich geh jetzt besser wieder zurück, Dad.« »Klar. Hör mal. Ehe du gehst. Das letzte Mal, als wir uns gesehen haben, hast du mir was erzählt. Am zweiten Weihnachtsfeiertag. Erinnerst du dich, von einem Feuer in deiner Schule? Die Krippe geriet in Brand, oder so was?« »Ja ... habe ich dir auch erzählt von ...« »Was?« »Ich habe erst später darüber nachgedacht. Weil du gesagt hast, dass du es irgendwie unheimlich findest. Ich wollte wohl nicht darüber 88
nachdenken. Wahrscheinlich wollte ich mich nicht damit befassen. Aber es war unheimlich.« »Inwiefern?« »Da war dieses Geräusch. Ich weiß nicht. Es war einfach unheimlich.« Herrgott noch mal, dachte Monty, das ist doch ein heller Bursche gewesen, bevor er ohne ihn mit seiner Mutter zusammenlebte. Was brachten sie ihm in dieser Schule bei? Englisch nicht, das war mal sicher. »Hast du nicht gesagt, dass ein Mädchen damit zu tun gehabt hat?« »Yeah. Der Lehrer hat sie rausgeschickt.« »Und dann hat das unheimliche Geräusch aufgehört?« »Yeah.« »Wer war sie?« »Ein Mädchen aus meiner Klasse halt.« »Wie heißt sie?« »Ella.« »Ella wie?« »Ella Wallis.« »Wallis! Dann ist Robert Wallis ihr Vater! Nein, nicht der Vater - er schreibt, ihre Eltern wären seine Zeugen. Onkel, Großvater, so was. Das hat er damit gemeint - >Ich möchte die Familie nicht beim Namen nennen, aber sie ist euch allen bekannte Chris, du bist ein Genie. Eine gute Story, ja. Fabelhafte kleine Story.« Monty sprach seine Gedanken absichtlich laut aus, er war dankbar, dass er mit jemandem reden konnte. Sein Sohn am anderen Ende der Leitung wand sich. »Geh zurück zur Party, Chris. Ich melde mich bald bei dir.« Sie haben sie einem Exorzismus unterzogen! Dieses arme kleine Gör aus Chris' Klasse, ihre eigene Familie hat sie exorziert. Verdammt noch mal. Monty schob Shout For Joy zusammengefaltet in die Innentasche seines Sakkos. Er wollte auf keinen Fall, dass jemand Lunte roch. Schade, dass es so spät war. Er konnte es kaum erwarten, diesen Robert Wallis aufzuspüren. Aber was für ein Timing - Silvester! Vielleicht war das ein Omen. Vielleicht war das nächste Jahr das Jahr der guten Storys. Vielleicht hatte er mit dieser da ein wenig Spaß.
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KAPITEL 12
D
er stellvertretende Nachrichtenchef des Heralds drei oder vier Absätze, dann sah er Monty überrascht an. Es war der 2. Januar, das neue Jahr war sechsunddreißig Stunden alt, und der zweite Nachrichtenchef hatte immer noch einen schweren Kater. Sein Gesicht unter den rotbraunen Stoppeln war grau. »Du hast gestern den ganzen Tag daran gearbeitet? Aber gestern war keiner hier.« Der Herald, eine Abendzeitung, erschien nie am 1. Januar. »Ich war da«, sagte Monty. Der Stellvertretende zuckte die Achseln. »Gute Story«, gab er gönnerhaft zu und las weiter. Monty stand geduldig hinter seinem Stuhl. Natürlich war die Story gut. Aber von Monty erwartete dieser Tage niemand eine gute Story. Und allein die Tatsache, dass diese von Monty gekommen war, könnte sie in den Augen des stellvertretenden Nachrichtenchefs abwerten. »Allerdings zu spät für die heutige Ausgabe.« Das wusste Monty. Er arbeitete seit fünfzehn Jahren hier. Er kannte die Schlusstermine. »Warum hast du mir nicht gesagt, dass du daran arbeitest?« »Du warst nicht da.« »Ich meine heute Morgen.« Der Redakteur bedachte ihn plötzlich mit einem geringschätzigen Blick. Wenn Monty ihm nicht den gebührenden Respekt erwies, könnte es sein, dass die Story abgelehnt würde. Oder noch schlimmer, der Text würde zum »Umschreiben« an ein dreiundzwanzig Jahre altes Reportergenie gehen. Monty wusste, dass eine Entschuldigung von ihm erwartet wurde. Eine Entschuldigung dafür, dass er die beste Story des Tages geliefert hatte. Er hatte oft genug mit Leuten wie diesem teiggesichtigen Zwerg von einem stellvertretenden Oberboss zu tun gehabt - sie schossen so schnell vom Reporteranfänger zum Zwölf-Stunden-Tag-Superstar hoch, dass Monty kaum Zeit hatte, sich ihre Namen zu merken. Dann waren sie weg, beim Rundfunk oder bei den überregionalen Blättern. Wenn sie 90
anfingen, arbeitete Monty sie ein - erklärte ihnen, wo die Gerichte waren, wo die Gemeinderäte und so weiter tagten, in welchem Schrank die Teebeutel waren. Schon bald verachteten sie ihn, weil er doppelt so alt war wie sie und immer noch bei diesem Provinzblatt herumhing. »Tut mir leid«, sagte er. »Ich hätte dir eher Bescheid sagen sollen.« »Ja. Hättest du. Wie soll ich den Newsdesk koordinieren, wenn Leute wie du nicht mit ihren Storys rausrücken?« Monty unterdrückte den Drang, ihm einen Schlag auf den Hinterkopf zu verpassen. Das großartige Ende einer großen journalistischen Karriere wäre das. »Die Eltern dieses Mädchens. Die Wallis'. Wären sie bei einem Foto dabei?« »Wir haben gestern Nachmittag eines gemacht«, antwortete Monty. »Roger war gerade da, und als ich ihm von der Story erzählte, war er interessiert, deshalb hat er mich begleitet. So war es einfacher.« Roger Thompson war der beste Fotograf der Zeitung. Jetzt entschuldigte sich Monty nicht nur dafür, dass er eine Story für die Titelseite ausgegraben hatte, sondern auch noch dafür, dass er ein Foto dazu hatte. »Taugt das Foto was? Verbiegt sie Löffel oder so was?« »Sie sitzt einfach da, mit ihrer Mum und ihrem Dad. Hübsches Bild.« »Wenn du das nächste Mal einen geistreichen Einfall hast, dann lass es mich gleich wissen, okay? Und wenn das bedeuten sollte, dass du mich zu Hause anrufst.« »Klar«, sagte Monty. Ein letztes Mal zu Kreuze kriechen, und er hatte gewonnen. »Guter Aufmacher für die Titelseite morgen, eh?« »Vielleicht.« Am Montagmorgen stand Montys Story in großer Aufmachung auf der Titelseite, mit Fortsetzung auf Seite drei, wo sie die halbe Seite einnahm. Zwei von Rogers Fotos waren groß und in Farbe abgedruckt. Auf der Titelseite sah man Ella, Juliette und Ken, die Arme unbeholfen umeinander gelegt, vor dem Haus Nelson Road 66 stehen. Auf Seite drei war Onkel Robert zu sehen, geschickt ausgeleuchtet, sodass seine Koteletten Schatten auf sein Gesicht warfen. Die Überschrift bestand aus einem einzigen Wort: »BESESSEN!« Und kaum kleiner darunter in weißen Buchstaben auf einem fetten schwarzen Block: »EXKLUSIV! Von Monty Bell«. 91
Von außen betrachtet ist Nelson Road 66 ein Haus wie jedes andere, und kein Passant käme auf die Idee, welch Schrecken sich dort eingenistet hatte. Aber ein Blick in die angsterfüllten Augen des Schulmädchens Ella Wallis oder ihrer eleganten französischen Mutter, Juliette, und die Wahrheit kommt ans Licht. Die ganz normale Familie, die in Nr. 66 wohnt, wurde in ihrem eigenen Heim an den Rand der Hölle getrieben. Was sie sahen, als sie über diesen Rand hinunterspähten, wird vielen Lesern des Evening Herald zu glauben schwerfallen. Deshalb muss es nicht weniger wahr sein. Und die Familie kann nur beten, dass der paranormale Albtraum, der Ella, 14, peinigte, durch einen dramatischen Exorzismus ein Ende gefunden hat, bei dessen Praktizierung das Schulmädchen angeblich von unsichtbaren Mächten in die Luft getragen wurde, während gleichzeitig unheimliche Stimmen erklangen. »Es war eine Konfrontation«, erklärt der Erweckungsprediger Robert Wallis, Ellas Onkel und der Mann, der das Gänsehaut verursachende Ritual vollzogen hat, bei dem, wie er behauptet, ein Dämon ausgetrieben wurde, der vom Körper seiner Nichte Besitz ergriffen hatte. »Wir hörten die unartikulierte Stimme des Bösen. Das ist keine Metapher. Ich meine jedes Wort so, wie ich es sage, und Ellas Eltern werden jedes meiner Worte voll und ganz bestätigen. Die moderne Wissenschaft hat keine Erklärung dafür. Aber wir haben gesehen, was wir gesehen haben. Ich wünschte, ich hätte das ganze Geschehen auf Video aufgenommen. Wir haben Dinge gesehen, da würden die Wissenschaftler kopfstehen. Es gibt nur eine einzige Erklärung - es war eine Konfrontation. Die Mächte des Lichts gegen die Mächte der Finsternis.« Ellas Mutter äußerte sich zurückhaltender über das Martyrium, das ihre Tochter erduldete. »Es ist alles wahr, was Robert sagt«, bestätigte Juliette Wallis, 32. »Ich weiß nicht, wie man es deuten soll. Robert sagt, es war ein Dämon aus der Hölle - er weiß natürlich sehr viel mehr über diese Dinge als ich. Ich kann dazu nichts sagen. Aber wir haben alle gesehen, was passiert ist.« Was die Mutter von Ella Wallis, ihr Vater Ken, 35, und dessen Bruder 92
Robert, 41, berichteten, stimmt bis ins kleinste Detail vollkommen überein - was kaum der Fall wäre, wenn alles nur ein übler Scherz wäre. Alle drei erklären übereinstimmend: Am Donnerstag, den 27. Dezember, hat Robert Wallis im rückwärtigen Zimmer im Erdgeschoss ihres Hauses acht Kerzen im Kreis um seine Nichte herum aufgestellt. Mit der Bibel in der Hand begann Robert, Prediger der Pfingstkirche in der Smyth Road, mit dem Exorzismus, einem Ritual, das er schon ein Dutzend Mal bei anderen Gläubigen seiner Gemeinde praktiziert hat. Sofort setzte ein hoher Ton ein, wie von einer Rückkopplung. Ein eisiger Wind strich durch das Zimmer. Die Kerzen erloschen, dann flammten sie von selbst wieder auf. Robert Wallis begann in Zungen zu sprechen - ein Phänomen, das er als eine Gabe Gottes bezeichnet, die auf die Anwesenheit des Heiligen Geistes schließen lässt. Dieser tranceähnliche Zustand, begleitet von einem Strom von Wörtern und Tönen ohne erkennbare Bedeutung, trat bereits zuvor manchmal auf, wenn er vor einer Menge Leute in der Kirche in der Smyth Road predigte. Der Exorzist legte seine Hände auf den Kopf und die Brust von Ella Wallis: »Um dem Heiligen Geist zu helfen, in ihren Körper einzugehen«, sagt er. Auf dem Höhepunkt des Exorzismus wurden sie Zeugen, wie Ella sich senkrecht erhob und über ihrem Stuhl frei schwebte. Jeder der anwesenden Erwachsenen schilderte, einzeln befragt, dieses Ereignis vollkommen übereinstimmend, obwohl weder Ken noch Juliette gerne darüber sprachen. Ihre Tochter, so sagten sie, erhob sich sechs oder acht Inches, und in unverändert sitzender Haltung schwebte sie über dem Stuhl, offenbar in einer Trance, die ihr gar nicht bewusst war. Dies dauerte über eine Minute, bis das jüngere Kind der Wallis', Frank, sieben, unerwartet in das Zimmer kam und zu seiner Schwester ging. Ella selbst sagt, sie könne sich an nichts erinnern. Ein stilles, kleines Mädchen, dem es sichtlich unangenehm ist, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Sie nimmt hin, was ihre Eltern ihr erzählt haben - dass ein furchterregendes Geräusch aufkam und dass sie 93
schwebte -, aber ihr wäre es lieber gewesen, wenn sie sich dem Exorzismus nicht hätte unterziehen müssen. »Es macht mir Angst«, gesteht sie. »Ich verstehe das nicht. Ich weiß, mein Dad weiß alles darüber, deshalb habe ich mich nicht gewehrt dagegen. Er weiß, was richtig ist. Aber den anderen Mädchen, die ich kenne, passieren solche Sachen nicht, und das finde ich nicht fair.« Ken und Juliette Wallis gelangten nach einer Reihe merkwürdiger Vorfälle, wie Lichter, die aus- und angingen, Sachen, die wie von selbst von Tischen fielen, und unerklärliche Geräusche, zu dem Entschluss, ihre Tochter einem Exorzismus unterziehen zu lassen. Den Höhepunkt erreichte das Phänomen bei einem Vorfall in der St. John's Lane Secondary School in Bedminster, Bristol, als angeblich Bücher von sich aus durch das Klassenzimmer flogen und eine unsichtbare Hand ein Feuer in einer Weihnachtskrippe aus Pappe entfachte. Eine Sprecherin der Schule verweigerte gestern einen Kommentar. Aber ein Schüler, Zeuge dieser erschreckenden Ereignisse, sagte: »Es war wie ein Poltergeist. Alle wussten, es hatte etwas mit Ella zu tun, weil die Bücher von ihrem Pult kamen. Ein unheimliches Geräusch war zu hören, und das hörte auf, als sie das Zimmer verließ.« Wissenschafts- und Kirchenkreise waren heute geteilter Meinung über die Ursachen dieser Phänomene. Der Seelenforscher Dr. Thomas Wathern-Pickett von der University of the West of England sagte: » Es überrascht mich nicht, dass ein vierzehn Jahre altes Mädchen mittendrin steckt. Im Umfeld von Jugendlichen in der Adoleszenz wird häufig über paranormale Aktivitäten berichtet, und ich glaube, man sollte es nicht zu ernst nehmen. In der Hauptsache handelt es sich nur um einen Schrei nach Aufmerksamkeit. Ich denke jedoch, die Familie hat einen Fehler gemacht, als sie in dieses abergläubische Exorzismusritual eingewilligt hat. Derartige Phänomene hochzustilisieren, trägt nicht zu ihrem Verschwinden bei und könnte dazu führen, dass dieses Mädchen einen Komplex bekommt. Nach allem, was man hört, musste sie einen äußerst furchterregenden Nachmittag über sich ergehen lassen. Wie man hört, 94
wohnen die Leute in Nummer 66, aber ich denke, Nummer 666, die Zahlen des Teufels, wäre passender.« Aber der Erweckungstheologe Professor Lucius Scudder von der Bristol University sagte: »Die Bibel ist in diesen Dingen sehr konkret. Dämonen existieren. Besessenheit kommt vor. Jesus wusste das, und er scheute sich nicht, etwas zu unternehmen. Es ist eine Verirrung unserer modernen Zeit, dass wir an subatomare Teilchen glauben sollen, die den einfachsten Gesetzen der Physik widersprechen, und dass wir andererseits über Wahrheiten spotten, die unseren Ahnen seit Jahrtausenden vertraut waren. Diese Familie hat sich lobenswert verhalten. Es scheint, als habe das arme Mädchen eine für sie schlimme Besessenheit ertragen müssen, und ich hoffe, nun ist alles vorbei.« Monty wusste, das war das Beste, was er seit Jahren geschrieben hatte. Dass er wieder bewiesen hatte, wie gut er sein konnte, wenn er wollte, bereitete ihm ein sinnliches Vergnügen - ihm wurde ganz heiß, wenn er daran dachte. Der Chefredakteur hatte ihn in die Konferenz, die Kabinettsversammlung der Zeitung, holen lassen, um ihm zu sagen: »Zwei Dinge, Monty. Das eine, Sie sind komplett verrückt. Das zweite, verdammt brillante Story. Verdammt brillant. Aber wir können sie nicht bringen ...«, Monty sank das Herz, »... ohne eine Art Widerruf. Was sagt dieser David Frost im Fernsehen? >Ist es Magie, ist es Illusion oder übersteigt es unseren Horizont?«< Fügen Sie so was am Schluss hinzu.« Das störte Monty nicht weiter. Wenn das die einzige Änderung war, die sein Chefredakteur verlangte, war er sehr zufrieden. Kollegen, die sich taub stellten, sobald er in ihre Nähe kam, blieben stehen und sagten das Gleiche. »Du bist ein Spinner, Monty. Aber tolle Story. Wie bist du da rangekommen?« Ganz Bristol sagte das Gleiche. Es war ein fantastisches Gefühl, und er hatte es so lange entbehren müssen - die ganze Stadt sprach über das, was er, Monty Bell, geschrieben hatte. Der Gedanke, dass er zwar den Ruhm kassierte, jemand anderer aber das große Geld, war kaum zu ertragen. Bristols rivalisierende Nachrichtenagenturen würden den Bericht für die überregionalen Blätter bereits nachschreiben. Sie würden den Reibach machen. 95
Deshalb ging Monty ein Risiko ein. Er verstieß gegen eine der wichtigsten Klauseln in seinem Vertrag. Falls er erwischt wurde, hieß das fristlose Entlassung. Er nahm eine Kopie seines Artikels, ging in den Prontaprint-Shop ein Stück die Straße hinauf und faxte seine Story zusammen mit einer Rechnung über 400 Pfund - an den Newsdesk der Daily Post in London.
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KAPITEL 13
B
is er sein Visier hochklappte, sah der Reporter aus wie ein Außerirdischer. Er stand in der Nelson Road und beobachtete das Haus Nummer 66 durch das getönte Sonnenvisier des Motorradhelms. Er steckte von Kopf bis Fuß in Leder - Stiefel, Anzug und Handschuhe. Er hätte von Außerirdischen hergestellt sein können, ein menschenähnlicher Mann in Schwarz, ein Abgesandter, der von Ella und ihrer Familie ein Schweigegelübde einforderte. Er war kein Alien. Er war Korrespondent für paranormale Phänomene. Seine behandschuhte Faust griff nach dem Visier und klappte es hoch. Seine Augen verrieten nichts, keinen Anflug von Unschlüssigkeit, Ermüdung oder Unbehagen. Es waren die Augen von Peter Guntarson. Guntarson betrachtete prüfend das Haus der Wallis'. In einer Reißverschlusstasche seiner Motorrad-Kombi steckte Monty Bells gefaxte Story vom Herald. Der Artikel war vom ersten Wort an um Hohn und Spott bemüht, aber eines hatte sich bereits als wahr erwiesen: Von außen unterschied sich Ellas Haus in nichts von den anderen Häusern. Zwischen der Gartentür und der Haustür befanden sich nur vier Steinstufen. Die gesamte Häuserreihe entlang zog sich eine hüfthohe Begrenzungsmauer aus Backstein, sodass jedes Haus einen winzigen Vorgarten hatte. Wie vor den meisten Häusern wuchs auch vor Nummer 66 ein Strauch im Garten. Der Strauch war sorgfältig beschnitten, damit durch das einzige Fenster im unteren Stockwerk so viel Licht wie möglich hereinkam. Viele in der Straße, auch die Wallis', hatten ihr Fenster modernisiert und einen modernen Aluminiumrahmen einbauen lassen. Auch im oberen Stockwerk gab es nur ein Fenster - das Elternschlafzimmer. In sämtlichen Fenstern in der Straße hingen Stores. Nummer 66 und Nummer 68 hatten einen gemeinsamen Schornsteinkasten. Die Fensterrahmen waren orange, die einzigen orangen Rahmen in der ganzen Straße. Weiter gab es nichts zu sehen. Guntarson blickte die Straße hinauf zu seinem Fotografen, der eine Kameratasche von seiner roten 850er Yamaha schnallte. Die beiden Männer gingen mit schwarz funkelnden Helmen unter dem Arm durch die Gartentür von Nummer 66 und läuteten. 97
Ella hob den Blick vom Fernseher, als sich die beiden Reporter durch die Tür zwängten. Sie füllten fast das ganze Zimmer aus. Ihre Köpfe, unproportioniert klein, ragten aus eng geknöpften Lederkragen, sodass sie aussahen wie unbehelmte Ritter in Rüstung. Dicke schwarze Wülste polsterten ihre breiten Schultern. Gerippte schwarze Wattierungen, die zu den Hüften hinunter spitz zuliefen, schützten ihre Brust. Das Leder auf ihren Oberschenkeln glänzte faltenlos. Fächerfinger aus Leder schützten ihre Knie, und ihre schweren Stiefel mit den zwei Inch dicken Sohlen hatten Schnallen bis zu den Waden. Sie zogen ihre Motorradhandschuhe aus, merkwürdig weiße Hände kamen zum Vorschein. »Diese Männer sind den weiten Weg von London hergekommen, nur um dich zu sehen, Ella«, sagte Juliette. Einer der beiden, der mit den aus der Stirn gestrichenen blonden Haaren und den leuchtend blauen Augen, streckte die Hand aus. »Die Daily Post schickt uns.« Sie waren also nicht gekommen, um sie zu beschützen. Es war lächerlich, aber ein paar Sekunden lang hatte sie sich gefragt, ob ihr Vater diese Männer in der Rüstung als Bodyguards engagiert hatte, die sie vor Journalisten schützen sollten. Und jetzt waren das Journalisten. Sie konzentrierte sich wieder auf den Fernsehapparat. »Sie sind den ganzen Weg hierher gefahren, um dir ein paar Fragen zu stellen«, sagte Juliette nachdrücklich. »Ich will nicht reden.« »Dein Vater möchte, dass du ihre Fragen freundlich beantwortest.« Ella starrte auf den Bildschirm ohne Bild. »Tut mir leid, das Mädchen ist manchmal sehr schwierig. Es ist meine Schuld, wenn ich nur strenger mit ihr wäre, würde sie sich besser benehmen ...« Der Blonde achtete nicht auf Juliette. Er ging ein paar Schritte von Ellas Sessel entfernt in die Knie und zog den Reißverschluss seines knarrenden Leders vor der Brust auf, als würde er dem Mädchen sein Herz öffnen. »Hi. Ich bin Peter.« Er grinste. Ihre Blicke trafen sich. »Das ist Joey. Er macht die Fotos. Ich schreibe den Text. Dein Dad hat mit unserer Zeitung ein Geschäft gemacht. Er bekommt Geld, viel Geld, und dafür darf 98
die Zeitung einen oder zwei Artikel bringen. Über dich. Über deine Familie. Hat er dir das gesagt?« »Er spricht nicht von Geld.« »Okay. Tja, ich spreche von Geld.« Juliette schaltete sich ein: »Es besteht kein Grund, ein Mädchen wie Ella mit geschäftlichen Angelegenheiten zu behelligen.« Peter Guntarson lächelte Juliette zu, ignorierte aber die Unterbrechung. »Die Lokalzeitung hat dich interviewt, stimmt's? Die haben dir keinen Penny bezahlt, aber die ganze Geschichte über >Besessenheit< und >Exorzismus< veröffentlicht und obendrein eine Menge Einzelheiten aus deinem Privatleben. Und ich wette, sie haben dir mit keinem Wort gesagt, dass diese Story die ganze Titelseite einnehmen würde, mit fetten Schlagzeilen und Fotos und was noch alles. Habe ich recht?« »Zu mir haben sie eigentlich gar nichts gesagt«, gab Ella zu. »Sie wollten hauptsächlich was von Dad.« »Finde ich nicht sehr fair. Ich finde übrigens den ganzen Artikel unfair.« Tatsächlich hatte Guntarson Monty Bells Artikel bewundert. Ellas Eltern und ihr Onkel Robert waren gut getroffen. Er hatte sie mit ihren eigenen Zitaten fertiggemacht, sie unheimlich und verschroben aussehen lassen und grausam gegenüber einem verwirrten jungen Mädchen. Aber das war nicht die Story, die Guntarson wollte. Ihm ging es um etwas anderes. »Hör mal. Das war nicht leicht für dich«, sagte er. Sie sah ihm immer noch direkt ins Gesicht. Er erwiderte ihren Blick offen. So ließ sich leicht ein harmonisches Verhältnis aufbauen. Und Peter Guntarson war kein Mann, der dem Blick eines vierzehnjährigen Mädchens nicht standhalten könnte. »Ich möchte, dass du dich mit einer positiven Einstellung auf uns einlässt. Damit wir einander von Anfang an verstehen - ich bin hier, um dir zu helfen.« Guntarson sah zu Juliette hinüber. »Könnten wir vielleicht eine Tasse Tee haben? Und ich möchte die Lederkombi ausziehen. Es ist plötzlich sehr warm.« Ella wandte den Blick von ihm ab und starrte auf ihre Füße, als Guntarson den Reißverschluss der Rüstung bis hinunter zu den Oberschenkeln aufzog und die glänzenden Schnallen an seinen Stiefeln lockerte. Er legte die Motorradkleidung lässig über einen Stuhl und 99
glättete seinen dunkelblauen Anzug. Als Ella den Blick hob, schlüpfte er in schwarze Nikes. Joey, der ebenfalls seine Motorradkluft abgelegt hatte und in seiner Kameratasche herumwühlte, schenkte sie kaum einen Blick. »Okay, machen wir uns miteinander bekannt. Ich bin Peter Guntarson. Ich bin sechsundzwanzig. Mein Vater ist Isländer - aber ich wurde in Kanada geboren. Mein Vater holte mich nach England, als ich vierzehn war, und ich habe keinen Kontakt mehr mit ihm. Ich habe die doppelte Staatsangehörigkeit. Ich bin freier Journalist, was heißt, ich arbeite für jeden, der mir genug bezahlt. Meist ist das die Post - den Leuten dort gefallen meine Geschichten. Ich untersuche das Unerklärliche. Geister, UFOs, Parapsychologie - ich weiß eine Menge darüber und ich habe keine Vorurteile. Außerdem schreibe ich gut: Darum beschäftigt mich die Zeitung immer wieder. Und ich verdiene meinen Lebensunterhalt schon eine geraume Zeit mit dieser Arbeit, seit etwa fünfzehn Monaten, seit ich die Universität verlassen habe.« »Er ist ein richtiges Superhirn«, warf der Fotograf ein. Guntarson brachte es fertig, gleichzeitig zu lächeln und Joey einen drohenden Blick zuzuwerfen. »Richtig ist, dass ich in Oxford war und den Doktor der Philosophie in Psychologie und Parapsychologie gemacht habe, aber das sollte dich nicht beunruhigen.« Ella sah aus, als würde es sie beunruhigen. Sie wich zurück, als werde er, wenn er ihr zu nahe kam, gleich merken, dass es reine Zeitverschwendung war, mit ihr zu reden. »Also, so viel zu meiner Person. Und wie steht's mit dir?« Nach ein paar Sekunden brachte sie den Mut auf, mit den Achseln zu zucken. »Okay. Verstehe. Es ist nicht leicht. Eine Menge fremder Leute, die dir Fragen stellen. Vergiss die Fragen. Ich zeige dir einen Trick. Meine Mutter hat ihn mir beigebracht.« Er zögerte. »Meine Mutter«, wiederholte er. »Er funktioniert nicht mit allen Leuten, aber mit dir wird es klappen. Du bist die Richtige dafür. Denk an ein Wort. Irgendein Wort. Das erste Wort, das dir in den Sinn kommt. Und jetzt stellst du dir vor, dass du an einem Sandstrand stehst, direkt am Wasser. Du kannst die Wellen hören. Da ist ein Schiff, gerade am Horizont. Nichts als blaues Wasser zwischen dir und dem Schiff. Und du möchtest dem Schiff da draußen dein Wort mitteilen. 100
Stell dir also vor, dass du das Wort hinausschreist, so laut du kannst. Nicht richtig schreien. Nur in Gedanken. Hast du an ein Wort gedacht?« Ella nickte. Ihre Augen waren geschlossen. »Okay. Schrei es zu dem Schiff hinüber.« Guntarsons Augen flackerten, er sprang auf. »Du hast es laut gesagt!« Aber er sah ihrem Gesicht an, dass das nicht stimmte. »Joey, hast du gehört, dass sie etwas gesagt hat?« »Sie hat kein Wort gesprochen, seit wir hier sind«, antwortete der Fotograf. »Wow. Ich habe noch nie ein Wort so deutlich gehört wie dieses. Du hast es wirklich nicht laut gesagt?« Erstaunt schüttelte er den Kopf. »Das Wort war >Hilfe<. Richtig? Hilfe! Hast du das zu dem Schiff hinübergeschrien?« Er verstummte und blickte Ella an. »Das ist ein echtes Déjàvu-Erlebnis. Ich erkläre dir irgendwann, was ich meine. Okay, ich bin an der Reihe. Ich denke ein Wort, du hörst es. Fertig?« Guntarson schloss die Augen und ließ die Schultern sinken. Joey beobachtete ihn. Er hatte den Reporter noch nie so erlebt. Guntarsons Kiefer spannte sich, er zog den Kopf ein und schob ihn nach vorn, aber nichts verriet, an welches Wort er dachte. »Freunde«, sagte Ella. »Richtig, richtig.« Guntarson schüttelte aufgeregt seine Fäuste. »Hast du mich klar und deutlich gehört?« Ella nickte. Eine kurze Stille trat ein. Das, dachte Guntarson, müsste eigentlich reichen. Das müsste das Eis brechen. »Glaubst du, wir werden Freunde sein?«, flüsterte Ella. »Wir müssen. Ich möchte nicht mit jemandem auf schlechtem Fuße stehen, der meine Gedanken derart klar und deutlich lesen kann.« Sie lächelte. Es war ein hübsches Lächeln. Ellas Zähne waren klein und weiß. Guntarson erwiderte das Lächeln. »Machen wir's noch mal«, meinte sie. Innerhalb von ein paar Sekunden rief sie »Delfin«, »Tutu« und »Rambo«. Er hatte sie alle sofort. Wenn Ella laut sprach, flüsterte sie kaum vernehmlich, aber ihre Gedanken waren laut genug. Guntarson versuchte, seine Gefühlsregung zu unterdrücken. Die Kraft ihrer telepathischen Reaktion löste eine starke, beruhigende Erinnerung aus. Einmal, erst ein101
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mal, hatte er einen solch starken Empfang erlebt, und nun kehrte ein Entsetzen zurück, das er sein halbes Leben lang verdrängt hatte. Er schluckte die aufsteigende Angst hinunter und sagte: »Das sind schwere Wörter. Normalerweise nehmen die Leute leichte - Katze, Hund, Blume. Was hat es mit Rimbaud auf sich?« »Das ist der Kater meiner Freundin.« »Und Tutu?« »Das ist Tante Sylvies Wellensittich.« »Aha. Hast du ein Tier?« Er stellte weiter solche Fragen, zum Beispiel welche Interessen sie hatte, wie ihre Freundinnen hießen, wo sie in den Ferien gewesen war - keine war von Bedeutung. Er würde nichts davon in einem Artikel verwenden. Diese Fragen hatten lediglich den Zweck, dass Ella völlig natürlich mit ihm sprach und Vertrauen zu ihm fasste. Seine übliche Methode ging in Richtung Schmeichelei. Er hörte einfach zu. Er ließ die Person, die er interviewte, mindestens eine halbe Stunde lang über ihr Lieblingsthema reden - das war meist die betreffende Person selbst oder ihre Familie. Die Menschen gerieten in eine Art Rausch, wenn sie reden durften, ohne unterbrochen zu werden, und einen aufmerksamen Zuhörer hatten. Es war eine Art von Hypnose. Sie öffneten sich und kamen aus der Deckung. Nach einer Weile ließen sie sich mit ein paar Fragen in die gewünschte Richtung lenken. Aber Ella redete nicht. Sie brachte nie mehr als ein paar Wörter heraus, im Höchstfall einen Satz, dann verstummte sie wieder. Offensichtlich gefiel es ihr schon, dass jemand sie beachtete - Guntarson vermutete, dass sie die meiste Zeit ignoriert wurde. Aber sie war alles andere als ein Plappermaul. Er konnte ihr nicht dauernd Fragen stellen. Der sicherste Weg, eine Person, die interviewt wurde, zum Verstummen zu bringen, war, eine Frage nach der anderen zu stellen, und mochte sie noch so belanglos sein. Juliette brachte den Tee. »Ich hoffe, Sie langweilen sich nicht zu sehr, wenn Sie mit unserer Ella reden. Sie hat nicht viel zu sagen über sich selbst.« Ella biss die Zähne zusammen und blickte finster auf ihre Hände. Das war es, dachte Guntarson. Du musst sie ein bisschen reizen. Sie möchte, dass wir Freunde werden - sorg dafür, dass sie sich produzieren kann. 102
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»Ich vermute«, sagte er, »dass es viel besser geworden ist, seit dein Onkel Robert diese Dämonen ausgetrieben hat.« »Oh ja«, antwortete ihre Mutter an ihrer Stelle. »Viel besser.« »Keine unheimlichen Vorfälle mehr«, sagte er prompt. Ella starrte unverwandt auf ihre Hände. Guntarson stellte sich das Schiff am Horizont vor und rief in Gedanken: »Zerschlag es!« Etwas donnerte mit einem Knall, laut wie ein Pistolenschuss, gegen die Sockelleiste. Juliette kreischte. »Verdammt noch mal!«, sagte Joey. »Ha-ha-ha! Hast du das gesehen? Das war irgendein Nippes - eine Katze oder so was.« Er bückte sich rasch und hob die drei Teile des Figürchens auf. »Sehen Sie sich das an.« Er zeigte Juliette die Stücke. »Was ist das? Ich habe das nie gesehen. Ella, ist das deins?« Ella schüttelte den Kopf, ohne hinzusehen. »Das gehört meiner Mum«, sagte Joey und konnte den Blick nicht von den Bruchstücken abwenden, die er in seinen Wurstfingern hielt. »Sie hat eine Unmenge von diesem Zeug. Ha-ha-ha! Sie sammelt die Sachen.« Er zeigte Guntarson die Stücke. »Ich schwöre dir, das ist von meiner Mutter. Ich habe ihr das zu ihrem Geburtstag gekauft, als ich noch ein Kind war. Ich kann das nicht glauben. Es tauchte einfach so in der Luft auf. Hast du es gesehen?« »Nur gehört.« »Hätte ich bloß die Kamera draufgehalten. Es schwirrte durch die Luft, da drüben« - er zeigte auf einen Punkt hinter Juliettes Kopf in etwa fünf Fuß Höhe -, »es schwebte, und ich dachte noch, was zum Teufel ist das? Und dann ging es runter bis ungefähr dahin« - zehn Inches über dem Teppich -, »sauste da entlang und donnerte in die Wand.« »Es ist nicht direkt heruntergefallen?« »Ich bilde mir das nicht ein, Pete. Ich bin nicht - ich habe die Stücke in der Hand gehabt. Du kennst nicht zufällig meine Mum, Ella, oder? Ha-ha-ha?« Joey konnte kaum eine Gelegenheit auslassen, die sich bot, um einen Witz zu reißen. »Sie wird wütend sein. Falls ich sie überhaupt davon überzeugen kann, dass sie mir das glaubt. Sie liebt ihre Katzen. Nicht deine Schuld natürlich. Ich hätte mir das nur zu gerne als Standbild angesehen. Kannst du das noch mal machen, ja? Ha-haha!« Er krabbelte zu seiner Kameratasche, um das Objektiv zu wechseln. 103
Juliette lächelte nicht. Guntarson, die Ellenbogen auf die Oberschenkel gestützt, beugte sich vor und ließ den aufgeregten Joey nicht aus den Augen. Ella sagte immer noch nichts. Ihr silberblonder Haarvorhang verbarg die stille Befriedigung nicht, die sich auf ihrem Gesicht zeigte. »Wenn ein Poltergeist etwas wirft«, bemerkte Guntarson, »taucht das Objekt normalerweise aus dem Nichts auf, genau wie dieses Figürchen, und es bewegt sich nicht auf direkter Linie. Es schwebt, es geht um Ecken. Als würde es von einem Unsichtbaren getragen.« Er sah, dass Juliette zusammenzuckte. »Haben Sie schon von Poltergeistern gehört, Mrs. Wallis?« »Ich habe sie gesehen. In Frankreich, als Mädchen.« »In Ihrer eigenen Familie?« »Nein.« Ella rief in Gedanken: »Lügnerin! Radio! Stimmen!« Guntarson hörte sie. Er begriff nicht, was es bedeuten sollte, aber er hörte sie gut, und er lächelte Ella zu. Sie sah verlegen aus und wurde rot. »Mit einem Poltergeist steht oft ein junger Mensch im Zusammenhang. Diese Person ist die Energiequelle. Und offensichtlich ist Ella hier die Energiequelle. Aber ich glaube nicht, dass man das als Poltergeist bezeichnen kann.« Joey hielt seine Kamera schussbereit in der Hand, um alles, was geschah, mit seinem Weitwinkelobjektiv einzufangen. »Poltergeister sind alle gleich. Kein Sinn für Humor, nur Zerstörung anrichten und Unheil verursachen. Sachen zerbrechen, Sachen herumfliegen lassen. Sie mögen keine religiösen Objekte und sie mögen keine Eltern.« »Ich weiß nicht«, sagte Juliette, »ob ich glaube, was Sie sagen, aber es ist genau das, was Ella passiert ist.« »Nein. Ein Poltergeist lässt sich nicht kontrollieren«, sagte Guntarson zu Ella. »Und ich glaube, du kannst das kontrollieren, wenn du willst.« Ella schüttelte den Kopf. »Ich glaube, du kannst es.« Er ließ nicht locker. »Ich habe das ganz starke Gefühl, du kannst weit mehr kontrollieren, als dir bewusst ist. Du kannst ein Wort so klar denken, wie ich es aussprechen kann. Das zeigt, wie stark du im Geist bist.« Juliette stellte sich neben ihre Tochter, als wolle sie zwischen das Mädchen und den Reporter treten, der nach wie vor in der Hocke saß. »Ich 104
glaube nicht, dass Ella irgendeine Kontrolle hat. Dämonen, Poltergeister, Energie - ich will nichts davon wissen. Sie kennen Ella nicht, Sie haben sie nicht gekannt, als sie ein Baby war.« »Gab es damals Vorfälle? Schon damals, als sie noch ganz klein war?« »Ich weiß nicht. Nein. Natürlich nicht.« »Was spielt es dann für eine Rolle, wie sie als Baby war?« »Ich bin ihre Mutter. Und ich sage Ihnen, sie kann das nicht kontrollieren. Es ist keine, wie würden Sie sagen, Absicht.« »Ich behaupte nicht, dass es das ist.« Guntarson fixierte Ella. »Aber du könntest es kontrollieren. Wenn du es wirklich wolltest. Wenn du die richtige Unterstützung hättest.« »Ella braucht die Unterstützung, wieder ein normales kleines Mädchen zu werden.« »Das wäre Verschwendung.« Ella blickte unverwandt in Guntarsons große blaue Augen. Sie hatte immer ein normales kleines Mädchen sein wollen. Ein normales, liebenswertes Mädchen. Sie hatte darum gebetet, lange bevor ihr auffiel, dass sie etwas Übersinnliches an sich hatte. Ihre Gebete hatten nichts bewirkt. Und nun war dieser Mann gekommen, der mit ihr sprach und ihr direkt in die Augen sah und der nicht versuchte, sie zu ängstigen oder zu bedrohen. Und der sagte, es wäre Verschwendung, wenn sie versuchte, normal zu sein. Tante Sylvie würde sagen, er sehe aus wie ein schöner griechischer Gott. Ella wusste nicht recht, was das bedeuten sollte, in ihren Augen sah er aus wie ein Rettungsschwimmer auf einem Poster an den Schlafzimmerwänden ihrer Freundin. Baywatch-Poster. Sie hatte keine Ahnung, was ihr Rettungsschwimmer wollte, aber was immer es war, sie wollte es auch. Sie atmete tief ein. Guntarson roch nach Leder und nach einem Rasierwasser mit einer Duftnote nach Leder und Zitrone. »Die meisten Menschen«, sagte er, »haben einen schwachen Geist. Sie stellen sich ein Bild vor oder denken an ein Wort, und gleichzeitig gehen ihnen unzählige andere Dinge durch den Kopf. Meist sind das Dinge, die sie zu verdrängen versuchen, an die sie nicht denken wollen. Aus diesem Grund können sie ihre Gedanken nicht klar übertragen, sie können sie nicht kanalisieren. Sie haben Angst, das Fal105
sehe zu denken. Man braucht einen starken Geist, um alles andere auszuschalten und sich auf einen einzigen Gedanken zu konzentrieren. Aber du kannst das, Ella. Du hast einen sehr starken Geist.« »Ihr Vater sagt immer«, sagte Juliette naserümpfend, »sie ist sehr schwach im Kopf.« »Ich kann es kontrollieren«, gestand Ella ruhig. »Manchmal.« Guntarson wartete lange, um ihr Zeit zu lassen, die richtigen Worte zu finden. Doch schließlich fragte er: »Wie?« »Nicht die Geräusche. Nicht die Sachen, die runterfallen und zerbrechen. Das ist keine Absicht.« »Niemand behauptet, du wolltest absichtlich ungezogen sein.« »Ich kann, also irgendwie kann ich die Gefühle anderer Leute fühlen.« »Ja. Ich verstehe.« Er wollte, dass sie sich ihm offenbarte, ihm erzählte, was er von ihr hören wollte, aber er musste abwarten, bis sie ihm alles sagte, Wort für Wort. »Und ich kann schweben. Wenn ich will.« »Levitieren?« Sie sah ihn verständnislos an. »So wie fliegen? Dein ganzer Körper hebt sich vom Boden?« »Ja.« »Ella!«, rief Juliette aus. Der Anblick ihrer über ihrem Stuhl schwebenden Tochter hatte sie bei diesem Exorzismus mehr schockiert als alles andere, und das noch einmal sehen zu müssen, war das Letzte, was sie sich wünschte. »Mach dich nicht lächerlich! Was wird dein Vater sagen, wenn du diesen Männern, die uns Geld bezahlen, solche Dummheiten erzählst?« »Es stimmt.« »Es tut mir so leid, Mr. Guntarson«, flehte Juliette. »Sie lebt in ihrer eigenen Traumwelt.« »Kannst du es mir zeigen, Ella?« Ella spürte den Zorn ihrer Mutter. Joey schob sich näher an sie heran, die hohle Hand um das Objektiv gelegt. Sie hätte den Mund halten sollen. »Ich kann es nicht.« »Natürlich nicht! Dummes Ding!« Guntarson sah die Mutter ruhig an. »Mrs. Wallis, wie Sie eben ganz richtig gesagt haben, bezahlt meine Zeitung Ihnen einen schönen Bat106
zen Geld. Ich glaube nicht, dass Ihre Haltung im Moment sehr hilfreich ist. Es macht Ihnen sicher nichts aus, in ein anderes Zimmer zu gehen.« Ella bangte um ihn. Wie konnte er es wagen, so mit Juliette zu reden? Wenn Ken das erfuhr. »Ich bleibe hier. Mein Mann hat es angeordnet.« »Dann muss ich darauf bestehen, dass Sie auf die andere Seite des Zimmers gehen, und bitte, beantworten Sie nicht die an Ella gerichteten Fragen an ihrer Stelle.« Und Juliette zog sich zurück. Ella starrte ihren neuen Verbündeten voll erstaunter Bewunderung an. Wo nahm er diesen Mut her? Er musste sehr selbstsicher sein. Und er war unglaublich, geradezu wahnsinnig gescheit. Bestimmt verdiente er eine Menge Geld. Und er hielt es für Verschwendung, wenn Ella normal wäre, wenn sie nicht irgendwas von diesem verrückten Zeugs kontrollieren könnte. Es wäre schrecklich, ihn zu enttäuschen. Das Leben wäre nicht mehr lebenswert, wenn sie ihn enttäuschte. »Wo bist du geschwebt?« »In meinem Zimmer.« »Als du allein warst? Okay, mach die Augen zu. Stell dir dein Zimmer vor. Du bist in deinem Zimmer, niemand sonst ist da. Du hörst die üblichen Geräusche wie sonst auch. Konzentriere dich darauf. Wenn du so weit bist, beginne zu schweben.« Guntarsons Stimme war leise und fest, eindringlich, die Stimme eines Hypnotiseurs. Er beobachtete, wie Ella langsam ausatmete und ihr Körper erschlaffte. Aber ihre Füße standen auf dem Boden, und ihre Hände lagen unverändert auf den Armlehnen. Ihre Augenlider zuckten. Sie starrte ihn an, und er spürte, wie es in seinen Rücken- und Schultermuskeln hämmerte, als wäre er beim Gewichtheben gewesen. Ein Schwall kalter Luft verursachte ein Prickeln auf seiner Haut. Ellas Augen drehten sich nach oben, sie neigte den Kopf zur Seite und öffnete leicht den Mund. Ein schriller Ton drang gepresst aus ihrer Kehle. Er begann zu keuchen, zwang sie mit der Kraft seines Willens langsam hinauf. Ihre Hände lösten sich von den Armlehnen. Ihre gesamte Energie bündelte sich in ihrem Körper - sie durfte keine für die Bodenhaftung verschwenden. Nun lösten sich ihre Füße vom Boden. Sie begann sich 107
sacht aus dem Sitz zu erheben - sie schwebte nicht sichtbar, hinterließ jedoch keine wahrnehmbare Vertiefung auf der Sitzfläche. Mit einem plötzlichen Seitwärtsruck schnellte Ella aus dem Sessel. Eine Hüfte stieß gegen ein Ohr an der Sessellehne, und sie drehte sich in der Luft. Ihre Knie waren an die Brust gezogen, ihre Ellenbogen nach außen gestreckt, als würde sie jemand unter den Achseln hochheben. Während sie sich langsam umdrehte und mit dem Gesicht nach unten weiter schwebte, streckte Guntarson eine Hand aus. Er tippte an ihren Fuß. Als seine Finger sie berührten, glitt Ella so leicht davon wie ein Luftballon. Seine Berührung stieß auf keinerlei Widerstand. Sie war schwerelos. Der Motor von Joeys Kamera nahm automatisch Bild für Bild auf, während Ella sich ein wenig drehte, bis sie mit dem Gesicht direkt vor seinem Objektiv war. Ihre Augen waren völlig weiß wie die einer Statue. Ihre Lippen waren geschürzt, und die Haut spannte sich wie eine transparente Maske über Nase und Wangenknochen. Der Puls in ihren Schläfen schlug schnell. Sie drehte sich in einer Achse, die von ihrer Schädeldecke durch ihren Bauch bis zu den Fersen zu laufen schien. Diese imaginäre Linie blieb konstant auf einer Höhe, etwa vier Fuß über dem Boden. Als Joey geschickt den vollen Film aus der Nikon nahm und durch einen neuen ersetzte, glitt Ella nach unten. Zwei oder drei Inches über dem Teppich, zusammengekauert, als hocke sie auf allen vieren, bewegte sie sich plötzlich näher an Guntarson heran. Sie schien weniger von einer Luftströmung getragen - es sah eher so aus, als habe er sie an einer unsichtbaren Leine und würde sie zu sich heranziehen. Mit dem Kopf an seinem Fuß blieb sie liegen und schloss fest die Augen. Später rief Joey aus der Dunkelkammer der Post Guntarsons Handynummer an. »Pete! Pete! Ich habe eben die Filme entwickelt. Das rätst du nie!« »Was?« Guntarson war direkt von Ellas Haus in seine Wohnung in Bayswater gefahren. Er wollte den Artikel schreiben, aber er war so aufgeregt, dass er kaum still sitzen konnte. Hin und wieder beugte er sich über die Tastatur und gab Gedanken und Eindrücke ein, die ihm aufschlussreich erschienen. Auf dem Monitor standen nur Halbsätze und zusammenhanglose Wörter. »Kälte ... Unterdrückung ... ihre Intelli108
genz, fast ihre ganze Selbstbewusstheit konzentrieren sich in ihren übersinnlichen Kräften ... im Vertrauen auf das, was sie nicht versteht ...« Sein Herz raste immer noch, und seine Hände hämmerten in diesem Takt auf die Tastatur. Er hatte es gesehen, und es war unglaublich. Es war, nahezu wortwörtlich, unglaublich. Tranceartige Gitarren- und Schlagzeugklänge drangen aus seiner Musikanlage - U2 mit If God Will Send His Angels. Guntarson machte den Ton mit der Fernbedienung leiser. »Du wirst nicht glauben, was passiert ist«, sagte Joey noch einmal. »Keine Bilder«, antwortete Guntarson prompt. »Leerer Film.« »Nein, sie sind gut geworden. Aber sie ist nicht auf allen drauf. Ich habe sie, wie sie sich aus dem Sessel erhebt, dann habe ich ein paar Sekunden gewartet und weitergemacht, als sie sich gedreht hat und direkt vor mir war. Richtig? Auf zwei Einzelbildern ist sie einfach nicht drauf. Im einen Moment ist sie da, im nächsten nicht und dann ist sie wieder da. Dann verschwindet sie wieder. Exakt der gleiche Kamerawinkel, und alles sonst im Zimmer ist identisch. Nur unser kleines Fräulein fehlt auf zwei Bildern. Sogar ihr Schatten ist verschwunden.« Guntarson drehte die Musik wieder auf. Er stand drei Stockwerke über der Bayswater Road am Fenster seines Arbeitszimmers und schloss die Augen. Das Bild von Ellas schwerelos gleitendem Körper zog durch seinen Kopf. Da zuckte nichts. Er hatte sie während der Levitation keine Sekunde aus den Augen gelassen, und er hatte nicht das gesehen, was Joeys Kamera gesehen hatte - sie war immer da gewesen, vor ihm. Was sollte er glauben? Er hatte keine Veranlassung, das, was die Kamera sah, einfach abzutun. Dieses Mädchen hatte levitiert und dafür gab es keine rationale, naturwissenschaftliche Erklärung. Wenn der Film tatsächlich zeigte, dass Ella verschwand, musste man dies als Teil des Phänomens betrachten. Für nicht wahrnehmbare kurze Augenblicke könnte Ella bei einer Levitation nicht mehr sichtbar sein. Nicht wahrnehmbar, außer für eine Kamera. Guntarson versuchte sich vorzustellen, wo sie sein könnte, wenn sie verschwand.
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KAPITEL 14
I
n der winterlichen Dunkelheit von Ailishs kleinem Schlafzimmer lagen Ken Wallis und seine Sonntagsfrau eng umschlungen im Bett, nur eine dünne Steppdecke schützte die beiden Körper gegen die Kälte. Ailish hatte ihren Büstenhalter wieder angezogen, wegen der Bequemlichkeit - ansonsten waren sie nackt, und ihre Zehen steckten wärmesuchend zwischen nackten Beinen. »Mein Gott, ist das kalt hier drin«, sagte Ken bereits zum dritten Mal. »Dieses Heizgerät gibt so langsam den Geist auf«, antwortete sie. »Funktioniert prima, bis eine Nacht wie diese kommt. Damit wird es nicht mehr fertig.« »In der Wettervorhersage haben sie gesagt, heute Nacht soll es minus acht Grad geben.« »Was - Fahrenheit?« »Haben sie nicht gesagt. Verflixt kalt jedenfalls. Die Kälte kommt direkt durch dieses Fenster da rein. Warum hast du keine Doppelverglasung?« »Oh ja. Sonst noch was. Ich lass dann gleich noch ein Schwimmbad einbauen, wenn ich schon dabei bin, was meinst du?« »So teuer ist das gar nicht.« »Für dich vielleicht nicht. Nicht für Mr. Millionär-seit-Verkauf-seinerGeschichte-an-den-Evening-Herald.« »Ha«, machte Ken. Das Bettgeflüster nahm eine Richtung, die ihm gar nicht behagte. »Wie viel hast du überhaupt dafür gekriegt?« »Was, vom Herald? Keinen Penny.« »Komm schon.« »Ich lüge nie. Das weißt du, Mädchen. Wie heißt es im neunten Gebot? Du sollst nicht falsch Zeugnis reden.« »Wie heißt es in dem anderen? Du sollst nicht etwas brechen, duweißt-schon-was.« Ken setzte sich mit einem Ruck auf, und sie wusste sofort, dass sie zu weit gegangen war. Aus Angst, er würde sie schlagen, hielt sie beide Unterarme schützend vor ihr Gesicht. »Tut mir leid! Tut mir leid!« 110
Er atmete tief ein. »Tut mir leid, Liebster.« »Treib keine Scherze damit«, warnte er sie. »Du weißt nicht, was du tust. Verhöhne nicht das wahre Buch.« Sie ließ die Arme sinken. Eine Hand glitt auf seinen Oberschenkel und liebkoste ihn. Ihre Finger schoben sich nach oben. Ailish wusste, wie man einen Mann auf andere Gedanken brachte. »Du hast den Herald das alles drucken lassen, deine Fotos auf der Titelseite und das alles, und du hast nichts dafür gekriegt?« »Die zahlen nicht für Storys. Das ist doch bloß so ein kleines Lokalblättchen. Gefragt hab ich natürlich. Hab gesagt, ich liefere ihnen sämtliche Einzelheiten, aber dafür wollte ich ein paar Hundert Pfund. Als angemessene Erstattung für meine Ausgaben. Zeit, Telefon, solche Dinge.« Er ließ den Kopf auf das Kissen sinken. »Nicht aufhören, Kleines, du machst das gut.« »Ich hätte denen kein Wort gesagt«, meinte Ailish, die sich weiter vorschob und begann, stärker zu reiben. »Erst wenn ich das Futter ihrer Brieftaschen gesehen hätte.« Noch etwas, womit sich Ailish auskannte - aus Leuten Geld herauszuholen. Obwohl sie wöchentlich Lohn erhielt, arbeitete sie nicht - und weil sie nicht arbeitete, bezog sie Sozialhilfe. Die Wohnung gehörte ihr nicht, aber sie bezahlte keine Miete. Sie schlief mit ihren Männern nicht für Geld, aber ohne die Männer hätte sie nichts. Ihren letzten richtigen Job hatte sie bei BK Lewis Printers, wo Ken Produktionsleiter war. Ailish war während eines kurzen Streits mit der Reinigungsfirma, die normalerweise für Lewis arbeitete, als Putzfrau eingestellt worden. Der Streit war rasch beigelegt, und die alte Firma kehrte wieder zwischen den Druckerpressen und wischte die Toiletten. Aber Ailish stand weiter auf der Lohnliste. Dafür sorgte Ken. Von ihrem dritten Arbeitstag an waren sie ein Liebespaar. Das erste Mal machten sie es im Papierlager. Die breiten Türen für die Anlieferung standen weit offen und ein kalter Luftzug strich zwischen den Kartons hindurch. Sie hätten jeden Moment von jemandem erwischt werden können. Ailish gefiel das. Danach drang sie ständig darauf. Sie wollte es in aller Öffentlichkeit treiben - in Kinos, im Park, im Wagen draußen vor Kens Haus. 111
Ken war nicht so erpicht darauf, in flagranti ertappt zu werden. Aber als Ailish diesbezüglich zu drängen anfing, setzte sein Hirn aus und etwas anderes ein. Er hatte bereits eine Geliebte, Marcia - die Frau, die er an den Mittwochen traf. Er hatte seit über einem Jahr nicht mehr mit Juliette geschlafen - nicht richtig mit ihr geschlafen, nicht so erkannt, wie ein Mann seine Frau erkennen sollte, wenn sie eine rechtschaffene Frau war. Und schon davor lag es Jahre zurück, dass er und Juliette so etwas wie Leidenschaft füreinander empfunden hatten. Es war unmöglich geworden, hatte sich Ken selbst überzeugt. In diesem vertrockneten, klapperdürren Körper seiner Frau konnte keine Leidenschaft stecken. Und kein ehrlicher Mann konnte behaupten, er fände eine leere Hülse wie sie begehrenswert. Er war einmal von ihrem Körper besessen gewesen, als ihre blässliche Haut und ihre feuchten Lippen noch nichts ahnen ließen von dieser vertrockneten Hülse. Er sah sie das erste Mal in der Gegend von Orleans, als sie aus einem Laden eilte. Kenneth Wallis war einundzwanzig. Er saß auf dem Beifahrersitz eines rosaroten VW-Campingbusses und war mit fünf Freunden auf dem Rückweg nach Le Havre zur Fähre. Er befahl dem Fahrer, anzuhalten, und überredete das Mädchen, sich nach Hause fahren zu lassen. Große Überredungskunst brauchte es dazu nicht - bis zum Haus ihres Vaters waren es fast vier Meilen. Sie quetschte sich zu Ken auf den Sitz und erzählte, dass sie in einem Geschäft als Verkäuferin arbeitete. Nach einer halben Minute küssten sie sich. Als sie vom Sitz auf den schlammigen Weg hinausschlüpfte, der zu ihrem elterlichen Haus führte, bat sie die jungen Männer, an der Kreuzung nach Artenay auf sie zu warten. Über zwei Stunden stand der VW an dieser Kreuzung. Ken hatte die Wagenschlüssel und drohte, jeden krankenhausreif zu prügeln, der den Versuch machte, sie ihm abzunehmen. Keiner hatte das Mädchen nach seinem Namen gefragt. Sie hatten keine Ahnung, warum sie mitkommen wollte oder was sie vorhatte, wenn sie in Le Havre angekommen waren. Aber als sie auf Kens Schoß kletterte und eine schmuddelige Reisetasche mit Kleidung hinten in den Camper warf, war klar, dass sie einen Entschluss gefasst hatte. Juliette wurde auf das Autodeck der Fähre geschmuggelt und kauerte, eingemauert von Koffern, unter einer heruntergeklappten Koje. Vierzig Stunden waren vergangen, seit sie von ihrem Vater weggelaufen war. Sie war bereits schwanger. 112
Das war lange her. Seit Frank zwei war, waren sie kein Liebespaar mehr. Natürlich hatte es dafür einen Grund gegeben - einen Vorfall, der es für sie undenkbar machte, weiterhin miteinander zu schlafen. Dieser Grund war längst nicht mehr von Bedeutung, seit Jahren nicht. Es war egal - sie würden nie wieder ein Liebespaar sein. Sie sprachen noch miteinander, aber sie trauten einander nicht. Geständnisse oder bohrende Fragen gab es nicht. Wenn Juliette mit jemandem reden wollte, hatte sie ihre Schwester Sylvie. Sie brauchte Ken nicht zu belästigen. Als Ken die Geschichte seiner Tochter exklusiv an die Daily Post verkaufte, dachte er nicht im Traum daran, Juliette Einzelheiten darüber zu erzählen. Ebenso wenig Ailish. Das Geld eines Mannes ging nur ihn etwas an. Auch Ella war an diesem eisigen Montagmorgen um drei Uhr wach. Der Traum hatte sie geweckt, der Traum vom Engel und vom Dämon, vom Gestank und vom Feuer. Sie levitierte nicht, als sie aufwachte. Inzwischen kannte sie das Wort - levitieren. So lautete das richtige Wort dafür. Sie war aufgewacht und hatte sich wie üblich im Bett hin und her geworfen. Dann sah sie die Lichter. Drei Lichter bewegten sich im Kreis auf der Wand. Sie erinnerten sie an etwas. Sie hatte sie schon mal gesehen. Sie erhellten das Zimmer mit einem weichen Leuchten. Sie hatten keine Quelle. Nichts schien durch ihr Fenster herein. Die Vorhänge waren ohnehin zugezogen und die Zimmertür geschlossen. Sie beobachtete die Lichter, die sich umeinander drehten, jedes beschrieb geschwind ein Dreieck, das sich mit den anderen überschnitt. Sie wirbelten so schnell, dass sie kaum zu unterscheiden waren, und wurden dann langsamer. Ella kam es fast so vor, als befänden sie sich nicht direkt auf der Wand - sie waren ein oder zwei Zentimeter davon entfernt, wirbelnde Lichtscheiben, greifbare Scheiben. Sie hätte hingehen und sie anfassen können, aber es war zu kalt, um aufzustehen. Ella, eine Hand in ihrem langen Haar vergraben und den Kopf aufgestützt, lag da und sah zu, wie sich die drei Lichter mehr und mehr ineinanderdrehten, bis es nur noch ein Licht war, eine helle, kreiselnde Scheibe. Sie hatte sie schon einmal gesehen. Die Erinnerung daran war fast verflogen. Während sie sich zu erinnern versuchte, schlief sie ein.
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KAPITEL 15
G
untarson kamen fast die Tränen vor Wut. Den Oberkörper auf den Tank seiner schwarzen 1100er Kawasaki gedrückt, donnerte er mit annähernd 100 Meilen unter dem grauen Himmel über die M4, ohne den Montagsverkehr richtig wahrzunehmen. Sein Helm war so tief gebeugt, dass Guntarson so gut wie nichts sah außer dem Asphalt der Fahrbahn unter seinen Rädern. Guntarson sah rot. Er hing fast auf einem metallicblauen Porsche 944, als er ihn bemerkte. Der Porsche rollte mit achtzig Meilen dahin und machte keine Anstalten, ihn vorbeizulassen. Guntarson ließ sich ein paar Yards zurückfallen, dann gab er Vollgas. Das Motorrad wich auf die dicht befahrene Innenbahn aus und beschleunigte derart schnell, dass der Autofahrer nicht merkte, was Guntarson vorhatte, erst, als das Motorrad auf gleicher Höhe war. Da war es zu spät, ihn auszubremsen. Mit einem geschickten Manöver schoss die Kawasaki mit einem Sound wie bei einem Grand-Prix-Rennen vor dem Wagen hinein. Der Porschefahrer hatte keine andere Wahl, als voll auf die Bremse zu treten und die Lichthupe zu betätigen. Bevor er auf neunzig war, war das Motorrad schon hundert Yards voraus.
Guntarson hätte zu gerne den Stinkefinger gezeigt, aber bei 120 Meilen verlangte die vibrierende, unruhige Kawasaki alle seine Finger und seine ganze Kraft. Er nahm Gas weg und fühlte sich etwas besser. Das machte ihn sogleich noch wütender. Wie konnte er sich von diesen Idioten so demütigen, so aus der Fassung bringen lassen? Musste er sich seine Überlegenheit schon mit selbstmörderischen Überholmanövern beweisen? Hatte er keinen Doktor der Philosophie von der renommiertesten Universität der Welt - Dr. Guntarson, ein echter Doktor, Doktor Guntarson? Und wie intelligent war es, sich mit einem Motorrad umzubringen? Aber wie sollte er sich damit abfinden, dass er diesem großspurigen, halbgebildeten, ungehobelten, eingebildeten, einfaltigen, lächerlichen Trottel, der sich Herausgeber der Daily Post nannte, ausgeliefert war? Sie hatten Guntarsons Manuskript gekürzt. Schlimmer als gekürzt. Von dem Text, den er nach Mitternacht am Donnerstagmorgen vorgelegt 114
hatte, war über die Hälfte für die Samstagsausgabe umgeschrieben worden. Er war es gewohnt, redigiert zu werden. Er hatte sich nie beschwert, wenn das eine oder andere Wort geändert worden war - die Redakteure mussten schließlich etwas tun, um ihre Existenz zu rechtfertigen. Aber dieses Mal hatten sie den Tenor von Grund auf verändert. Guntarson hatte über Ellas geistige Verfassung geschrieben. Über die verwirrte, isolierte, von übersinnlichen Kräfte geformte Persönlichkeit. Er war über die Parapsychologie hinaus in die normale Psychologie eingetaucht. Und die Post wollte weiter nichts als die unheimlichen Elemente. Sie hatten die Fotos genommen. Sie hatten etwa ein Dutzend von Joeys Fotos abgedruckt, eines ganzseitig auf dem Titel. Ella schwebte mit angezogenen Knien über dem Sessel, auf der Seite liegend wie ein Baby im Mutterschoß. Das Gesicht war der Kamera zugewandt, aber ihre Augen waren geschlossen und Nase und Mund hinter ihrem Haarvorhang verborgen. Jedes einzelne Haar war total scharf. Es konnte keinen Zweifel geben, dass da nichts war, was sie oben hielt. Die Schlagzeile lautete: »TRAUEN SIE IHREN AUGEN?« Sonst stand nur noch die Bildunterschrift auf dieser Seite: »Das ist Ella Wallis. Ein vierzehn Jahre altes britisches Schulmädchen. Wie diese exklusiven Post-Fotos eindeutig beweisen, kann sie frei schweben. Lesen Sie die ganze unglaubliche Geschichte auf den Seiten acht und neun.« Auf der Doppelseite im Innenteil prangte ein weiteres großformatiges Foto, auf dem sich Ella auf fantastische Weise drehte, ihre Haare hingen senkrecht nach unten, fast bis auf den Boden. Kleinere, nebeneinandergestellte Einzelbilder zeigten die ganze Sequenz von dem Moment an, in dem Ella aus ihrem Sessel schnellte, bis zum Schluss, als sie mit der Wange an Guntarsons Schuh lag. Die Fotos erzählten die Geschichte. Das gab er zu. Aber wo war die Tiefe? Die Analyse? Die ausgewogene, objektive Abhandlung, die er zehn Stunden lang überarbeitet hatte, bevor er sie dem Modem anvertraut hatte? Stattdessen hatte sich einer, der Ella nie gesehen hatte, irgendein Schreiberling, einen Haufen sensationsgeiler Phrasendrescherei einfallen lassen und als world exclusive ausgegeben. Am meisten ärgerte ihn, dass er überhaupt darüber geschrieben hatte. Er hätte sie sich sofort unter den Nagel reißen sollen. Auf seiner Fahrt in die Nelson Road 66 hatte er ein Handy, einen Vertrag und ein weit geöffnetes Scheckbuch bei sich. 115
Ella brauchte die Post nicht zu sehen, sie wusste auch so, dass sich ihr Leben verändert hatte. Sie brauchte weder ihr Zimmer zu verlassen noch aus dem Fenster zu blicken. Sie spürte, wie ein Schwarm um sie herum summte. Es war ein Gefühl, als könnte sie die Stadt surren hören, als sich die Menschen in Grüppchen zusammenfanden, um über sie zu reden, Tausende summende Stimmen. Genau genommen war da kein Geräusch - die Schritte ihrer Mutter, das Radio ihres Bruders waren die einzigen Geräusche im Haus. Das Summen war eine Vibration. Es war eine Schwingung im Niederfrequenzbereich in den Ziegeln und Steinen. Sie zitterte. Die Türglocke läutete. Im selben Moment wurde das Summen stärker. Das konnte nicht ihr Vater sein an der Tür - er hatte seine eigenen Schlüssel. Ella saß am Fuß ihres Bettes, fuhr mit der Bürste unter ihre Haare und schloss die Augen. Durch die geschlossenen Lider sah sie die sich drehenden, ineinandergreifenden Lichtscheiben. Als sie die Augen öffnete, waren die Lichter nicht da. Ella erinnerte sich, dass die Scheiben zu einem einzigen Licht verschmolzen waren. Sie erinnerte sich, wie hell es gewesen war, so strahlend, dass sie gefürchtet hatte, das Licht würde unter der Tür durchscheinen und ihre Mutter wecken. Aber sie konnte sich nicht daran erinnern, wann das Licht erloschen war oder wann sie wieder eingeschlafen war. Und sie konnte sich nicht daran erinnern, warum ihr diese Lichter so viel bedeuteten. Juliette machte einen halben Schritt ins Zimmer. Ihre Augenränder waren rot entzündet. »Da draußen sind Leute für dich. Auch mit Kameras, ich glaube, sie sind vom Fernsehen.« Wieder läutete die Türglocke. »Ich will mit keinem reden.« Ella war beunruhigt. »Das hast nicht du zu bestimmen, wir müssen deinen Vater fragen. Aber es sind ziemlich viele.« »Wir haben es versprochen. Wir werden keinem was sagen. Außer Peter.« »Ich weiß nicht. Es ist furchtbar, was werden die Leute bloß von uns denken? Ich musste den Hörer neben das Telefon legen. Ich weiß nicht, was mit dir los ist, warum kommen alle diese Leute hierher und wollen dich sehen?« »Ich will keinen sehen!«, rief Ella ihr nach. 116
Das stumme Summen erfüllte die Luft und brachte Ella an den Rand der Verzweiflung. Sie brauchte Hilfe. Peter hatte gesagt, er wäre ihr Freund. Wo war er? Unvermutet überfiel sie ein Gefühl von Geschwindigkeit. Gegenwind hämmerte auf ihren Kopf ein und drückte gegen ihre Arme. Unter ihr röhrte ein Motor. Kalte, nach Motoröl riechende Luft stieg ihr in die Nase. Sie spürte Peter Guntarson so deutlich, als würde sie ihn berühren. Er kam ihr zu Hilfe. Mit verdoppelter Energie begann Ella ihr Haar zu bürsten. Als Guntarson in der Nelson Road anlangte, sah er die erste Auswirkung des Exklusivartikels der Post. Nummer 66 war nicht mehr länger ein Haus wie jedes andere in der Straße - bei keinem anderen Haus waren Kameras auf die Fenster gerichtet, nirgendwo sonst schlichen Leute über die Stufen und standen auf der Mauer, parkten die Autos in zweiter Reihe auf dem Gehweg. Die Straße vor ihrem Haus war dicht. Guntarson musste sein Motorrad in der Seitenstraße abstellen und zu Fuß gehen, eine imposante Erscheinung in der Lederkombi. Manchmal, wenn die Hitze in seiner Lederkluft aufstieg, stellte er sich vor, er wäre ein Grand-Prix-Champion, der zur Poleposition schritt. Er bog um die Ecke in die Nelson Road und marschierte Richtung Gartentür. Ein paar aus dem Gedränge vor der Haustür grinsten, als sie sahen, wie der Neuankömmling sein Handy aus der Reißverschlusstasche zog. Die Leute von den lokalen Medien kannten sich - die Rundfunkreporter, die Jungs von den Agenturen, die Lokalkorrespondenten der Londoner Zeitungen, die jungen Leute von den Wochenzeitungen. Sie trafen einander tagtäglich in den Gerichtssälen und jede Woche bei den Spielen. Keiner kannte Guntarson. Er war irgendein Überflieger von den Überregionalen. »Sie hat den Hörer abgenommen!«, höhnten sie. »Einmal haben sie die Tür aufgemacht, etwa fünf Sekunden lang.« »Von weit her? Die Mühe hättest du dir sparen können.« »Die Mutter ist da, aber sie weigert sich, was zu sagen. Sagt, sie will zuerst mit ihrem Mann sprechen.« »Die Nachbarn vermuten, dass das Mädchen drin ist.« »Sie schicken sie wohl nicht in die Schule. Leuchtet ein.« »Von wem kommst du?« 117
Guntarsons Gesicht zeigte keine Regung, dann hob er den Kopf und schloss die Augen. Die Adern an seinen Schläfen schwollen an. »Was tust du, versuchst du abzuheben?«, spottete ein Kameramann. Guntarson entspannte sich. Durch die Vorhänge im oberen Stockwerk schob sich Ellas Gesicht. Ein Blitzlicht flammte auf, und dann blickten alle nach oben, Objektive und Finger richteten sich auf das Fenster und Rufe ertönten. »Hi! Ella! Machst du das Fenster auf? Wir wollen mit dir reden. Willst du ins Fernsehen, Ella?« Ihr Gesicht verschwand wieder. Guntarson hörte ihren stummen Schrei in seinem Kopf: »PETER!« »Wie haben Sie das gemacht?«, fragte eine junge Frau ernsthaft. »Haben Sie sie gerufen?« Guntarson blickte sich um. In jedem Eingang und jedem Fenster in der Straße befanden sich Personen. In sicherer Entfernung zu den Medienleuten sammelten sich Gruppen und Grüppchen - sie standen auf der anderen Straßenseite, lehnten an den Hauswänden, normale Menschen, Schaulustige, einige kletterten an den Laternenpfählen hinauf. Wenn dieser Zirkus so weiterging, wäre Ella zu Hause nicht mehr sicher. Guntarson sprang die Stufen hinauf. Die Tür öffnete sich einen Spalt, und er schlüpfte hinein. Ella knallte die Tür zu und presste den Rücken dagegen, damit die anderen nicht herein und Guntarson nicht hinaus konnte. Er lächelte und streckte ihr das Handy hin. »Geschenk für dich. Bevor ich es vergesse. Für den Fall, dass du mich brauchst, egal wann, jederzeit.« Sie nahm es und betrachtete es mit großen Augen. Ihre Mutter sagte: »Oh, Mr. Guntarson, ob das eine so gute Idee ist? Ich meine, Ella kann es sich nicht leisten, ihre Anrufe zu bezahlen, und ...« »Wir bezahlen. Kein Problem. Es ist für uns sowieso von Vorteil, eine direkte Leitung zu Ihnen zu haben. Aber es ist dein Telefon, Ella. Du kannst anrufen, wen du willst - deine Freunde, Quizsendungen im Femsehen, wen du willst. Mein Herausgeber bezahlt.« Guntarson hätte seine helle Freude daran, wenn der Exklusivbericht die Post eine zusätzliche Stange Geld kosten würde. »Ich weiß nicht, wie es geht«, murmelte sie schüchtern. »Komm her, ich zeige es dir. Deine Mutter kann mir eine Tasse Tee machen.« 118
»Wir haben noch ein bisschen Sherry von Weihnachten, Mr. Guntarson, möchten Sie vielleicht ein Glas? Ich würde eins mittrinken. Und ich mache Ihnen auch einen Tee.« Juliette ging ihm voraus durch den schmalen Korridor in die beigefarbene vollgestopfte Küche, wo immer noch das Frühstücksgeschirr auf dem Tisch stand und alte Marmeladeflecken das rot karierte Tischtuch verunzierten. Der schale Geruch nach Essen traf Ella so heftig wie eine Duftwolke aus einem Müllcontainer. Ihr Gesicht verfinsterte sich, als sie sah, wie ihre Mutter ein volles Sherryglas in zwei Zügen leerte. Guntarson nahm sein Glas, trank aber nicht. Er schien die schmierigen Fingerspuren auf dem Kühlschrank und die angeschlagenen Ränder der Becher nicht zu bemerken. Er hatte den Reißverschluss seines Lederanzugs ein paar Inches aufgezogen bis auf Ellas Augenhöhe und zeigte ihr, wie leicht das Mobiltelefon zu bedienen war. Antenne raus, grüner Knopf mit dem Hörerlogo und »Go«. Es wählte automatisch die Nummer von Guntarsons Handy. Er begann, ihr die anderen gespeicherten Nummern zu erklären, aber die interessierten sie nicht. Wenn sie nur ihn anrufen konnte - Antenne, grüner Knopf, Go. Sie führten ein kurzes Gespräch zur Probe quer durch die Küche »Hallo, hier Guntarson, wer ist da?« »Ella.« »Schön, dass du mich anrufst, wo bist du? Bist du weit weg?« »Nein.« »In der Nähe also? Nahe genug, um zu winken? Ah! Hallo! Auf Wiederhören!« »Bye.« Sie war sehr kindlich. Mit vierzehn hatte er seine ersten Abschlussprüfungen gemacht, Fernschach gespielt, die Programmiersprache BASIC gelernt. Er konnte sich mit jedem unterhalten. Aber andererseits konnte er mit vierzehn nicht levitieren. »Gut.« Er fischte den Teebeutel aus seinem Becher und gab ein Tröpfchen Milch hinein. Guntarson hätte lieber Sojamilch gehabt oder wenigstens Magermilch, wenn es schon Kuhmilch sein musste. Vollfettmilch schmeckte immer ranzig. Er achtete auf seine Ernährung. »So ist das. Eines Morgens wachst du auf und du bist berühmt. Du schaust aus dem Fenster und überall wimmeln Reporter herum. Schwer, damit umzugehen, nicht wahr?« 119
»Das hatten wir nicht erwartet. Tut mir leid, es ist wohl unsere Schuld - meine Schuld -, mir war nicht klar, dass es so kommen wird.« »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Juliette. Niemand rechnet damit, bis es passiert. Es ist immer ein Schock. Jeder steht gern in der Zeitung, aber dabei wird oft vergessen, dass auch die anderen Leute Zeitungen lesen. Das geht nicht Ihnen allein so. Sie würden sich wundern, wie viele Menschen eines Morgens die Vorhänge aufziehen und sehen, dass zehntausend Journalisten auf ihrer Türschwelle kampieren. Lotteriegewinner, Familien von Verbrechensopfern, jeder, dessen Name in Verbindung mit der königlichen Familie gebracht wird - alles eigentlich ganz normale Menschen. Niemand ist darauf vorbereitet.« An der Haustür läutete es inzwischen ununterbrochen. Guntarson beachtete es nicht, deshalb versuchte auch Juliette, keine Notiz davon zu nehmen. »Es wird sich bald legen. Du kannst dir jetzt nicht vorstellen, dass du dein altes Leben je wieder zurückbekommen wirst, aber nach ein paar Tagen wird alles wieder normal. Dann haben die Journalisten alles ausgeschlachtet und stürzen sich auf eine neue Story - wir haben eine sehr kurze Aufmerksamkeitsspanne. Nur bei sehr wenigen Menschen verläuft das Leben nie wieder in normalen Bahnen. Die Herzogin von York, Paul Gascoigne, Brigitte Bardot - sie werden ihr Leben lang berühmt sein, egal, wie verhasst es ihnen ist. Das sind die Ausnahmen. In ein paar Wochen kommt es dir vor, als wäre es weiter nichts als ein verrückter Traum gewesen, Ella.« Ella sagte stolz: »Ich red sowieso nicht mit Reportern. Ich spreche nur mit dir.« »Das bestimmt dein Vater«, mahnte Juliette. »Er weiß noch gar nichts von diesen Leuten da draußen.« »Ich rede mit keinem.« Ella war kühn, wenn Peter in Reichweite war. Er hatte keine Angst vor Juliette. Sie könnte wetten, dass er auch vor Ken keine Angst hatte. »Jawohl.« »Ist dein Vater bei der Arbeit? War er schon fort, als die Medienleute aufgetaucht sind?« »Er geht zu Ailish, an den Sonntagen ...« »Ella!«, zischte ihre Mutter. »Dad weiß nichts von diesen Reportern.« »Tut mir leid, Mr. Guntarson ...« »Dein Dad war letzte Nacht nicht daheim?« 120
»Nein.« Ella fand es toll, dass Peter seine Fragen und seine Bemerkungen an sie richtete. Nicht an sie und ihre Mutter - direkt an sie. »Mr. Guntarson, ich fürchte ...« »Sagen Sie Peter zu mir.« »Ja, natürlich, tut mir leid, Peter, Entschuldigung ...« »Und hören Sie auf, sich zu entschuldigen.« »Tut mir leid, natürlich.« »Keine Entschuldigung mehr.« Aber das war ein bisschen zu vorlaut und arrogant. Juliette war keine Idiotin. »Mr. Guntarson, es gibt ein paar Dinge, über die wir nicht sprechen, egal, ob Ihre Zeitung uns Geld gibt oder nicht.« »Ihr Mann kommt nach der Arbeit hierher zurück?« »Selbstverständlich.« »Aber er ist heute Morgen nicht von hier aus zur Arbeit gegangen?« »Darüber spreche ich nicht. Es spielt keine Rolle. Sie werden nichts über unsere Privatangelegenheiten in die Zeitungen bringen.« »Worüber wir berichten wollen, woran wir interessiert sind, sind Ellas übersinnliche Kräfte. Aber bevor wir uns weiter damit befassen, muss ich mit euch allen zusammen reden, auch mit deinem Dad. Vielleicht wäre es das Beste, ihr kommt alle nach London, die ganze Familie. Möglich, dass man das mit einem Fernsehauftritt verbinden kann. Vielleicht könnten wir sogar über ein neues Finanzpaket reden.« »Sprechen Sie mit Ella nicht über Geld, Mr. Guntarson. Sie versteht nichts davon. Sie müssen auf Ken warten.« Also warteten sie. Sie spielten Spiele, weil es nicht leichter geworden war, von Ella Antworten auf Fragen zu bekommen. Es war offensichtlich, dass sie nie über ihre Kräfte nachgedacht hatte, dass sie keine Erklärung dafür brauchte und dass Guntarson sie in Verlegenheit brachte, wenn er auf Antworten bestand. Ella wollte antworten - wenn er sie fragte, was sie bei der Levitation empfand und worauf sie sich dabei konzentrierte, dann antwortete sie so ehrlich wie möglich. Schweben war recht schön. Sie dachte an gar nichts, sie stieg einfach auf. Aber sie wusste, dass diese Antworten nicht genügten. Sie wusste, er würde sie lieber mögen, wenn sie gescheiter wäre. Die Fragen regten sie auf, und das merkte man. Deshalb spielten sie Spiele. Guntarson malte Symbole auf einen Block: Herz, Kreis, Dreieck, Fünfeck. Ella erriet sie, obwohl sie das Wort für Fünfeck nicht wusste. 121
Er gab den Block an sie weiter. Sie malte. Er stellte fest, dass er wusste, was sie malen würde, noch bevor sie angefangen hatte: »Haus, Katze, Auto«, sagte er. Ella machte es sichtlich Spaß, aber nach zwanzig Minuten fühlte er sich an die sich ständig wiederholenden Spiele mit seinem drei Jahre alten Patensohn erinnert - ewig den Ball hin und her rollen oder dieselbe Grimasse schneiden, bis die Langweiligkeit nicht mehr auszuhalten war und er eine Entschuldigung vorbringen musste, um aufhören zu können. Dies hier war noch nicht langweilig, aber der Ablauf war vorhersehbar. Ella dachte an etwas und in ihrer Aufregung übermittelte sie das Wort oder das Bild mit einer solchen Kraft, dass es fast zu hören war. Dann kam die Reihe an ihn, und sie hatte sein Wort bereits erkannt, bevor er überhaupt begonnen hatte, es zu übertragen. Er war versucht, an gar nichts zu denken oder sich das nichtssagende Rauschen eines defekten Fernsehapparats vorzustellen oder auf Isländisch zu denken - alles nur, um es ihr ein weniger schwerer zu machen. Aber sie sollte lernen, ihm zu vertrauen, und das durfte durch nichts aufs Spiel gesetzt werden. Später war noch genug Zeit für Experimente. Guntarson hatte darum gebetet, jemanden wie Ella kennenzulernen, jahrelang hatte er darum gebetet. Es wäre töricht, jetzt ungeduldig zu werden. »Rate, was ich auf dem Kopf habe!« »Einen Stern?« »Richtig, richtig.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Ella. Peter griff sich in das blonde Haar, neigte den Kopf und zeigte ihr ein sternförmiges Muttermal auf seinem Schädel. »Was habe ich in meinen Taschen?«, versuchte er es weiter. »Einen Stein«, antwortete sie prompt. Peter war überrascht. An den Stein, den er immer bei sich trug, hatte er gar nicht gedacht. Er hatte sich auf den Vertrag konzentriert, den Ellas Vater unterschreiben sollte - der war in seiner Tasche. Aber sie hatte recht: Ein Stein, ein klarer Bergkristall, steckte tief hinter dem Reißverschluss in seiner Lederkombi. »Warum trägst du einen Stein mit dir herum?« Er überlegte, ob er ihn ihr zeigen sollte. »Er gehörte meiner Mutter«, sagte er, aber das war nicht die ganze Wahrheit. 122
Ella spürte etwas, zu dem sie nicht vordringen konnte. Etwas stieg auf, hinter einer Platte aus Baustahl. Die Stahlwand war geruchlos, hatte keine besonderen Merkmale, lieferte keinen Anhaltspunkt auf das, was sich auf der anderen Seite befand. Sie könnte ein kleines Geheimnis verbergen, aber ebenso gut ein ganzes Leben, von dem sie noch nicht einmal einen flüchtigen Eindruck erhaschen konnte. »Willst du ihn sehen?« Ella gelangte zu dem Schluss, dass es Peters Intelligenz war, zu der sie nicht vordringen konnte. Er war ein sehr kluger Kopf, er hatte einen Verstand aus Stahl. Die meisten seiner Gedanken ergaben keinen Sinn für sie. Sie war einfach dumm, sie wusste es. Sie vertraute darauf, dass er ihr Freund war. Sie wusste, dass er nichts vor ihr verbarg. Immerhin zeigte er ihr den Stein seiner Mutter. Sie umschloss ihn mit den Händen, ein lanzenförmiger Stein, vier Inches lang und glasklar. Seine fünf Seiten waren glatt und verjüngten sich zu einer scharfen Spitze. Das andere Ende war rau und wolkig. »Kannst du etwas darin sehen?«, fragte Peter. Er lächelte, aber befangen. Es fiel ihm nicht leicht mitanzusehen, wie jemand, selbst Ella, den Stein berührte. »Ich kann meine Finger sehen«, sagte sie. »Sie sind alle abgebrochen.« Er lachte: »Das ist der Prismeneffekt.« »Ich kann hohe Klippen sehen.« »Wirklich? Vielleicht ist das die Schlucht weiter die Straße hinauf. Jemand hat mir gesagt, dieser Stein stamme aus Bristol, aus der Zeit, als die Arbeiter die Tiefbauarbeiten für die Hängebrücke von Brunei gemacht haben. Man nennt so einen Stein Bristol-Diamant, davon gibt es dort viele.« Ella wandte den Blick nicht von dem Stein, dann verbarg sie ihn in ihren Händen. »Ich trage ihn immer bei mir. Gibst du ihn mir wieder?« Sie lugte zwischen ihren Fingern hindurch, bevor sie ihn Peter gab. »Es ist weg«, sagte sie. »Was ist weg?« »Da war ein Gesicht drin.« »Du hast ein Gesicht gesehen?« »Das ist nicht vielleicht ein Spiegel oder so was?« 123
»Du kannst darin nicht dein Spiegelbild gesehen haben, Ella, falls du das meinst ...« »Da war ein Gesicht.« »Manche Menschen haben Visionen, wenn sie in Kristalle blicken, Ella. Meine Mutter auch.« »Wie in die Zukunft sehen?« »Vielleicht. Nicht immer. Was war mit dem Gesicht, Ella?« »Sie war im Wasser.« »Was?« Seine Miene änderte sich schlagartig, und er zischte das Wort mit solcher Heftigkeit, dass Ella erschrocken zurückwich. »Du brauchst keine Angst zu haben, Ella. Beschreib mir ihr Gesicht.« »Sie hatte blonde Haare. Fast weiß. Wie meine, aber kürzer. Sie breiteten sich um sie herum aus. Wie der Kreis um einen Engel.« »Ein Heiligenschein.« »Aber ihr Gesicht war unter Wasser, es trieb so wie ertrunken oder so. Ihre Augen waren offen. Sie waren nach oben verdreht, sie haben mich nicht gesehen.« Ellas Stimme zitterte. Peter sah sie nicht einmal an - er starrte blindlings in den Stein, als ob sich Ellas Vision in den schimmernden Facetten wieder zeigen würde, wie ein Fernsehbild, wenn man den Apparat einschaltete. »War ich das?«, fragte sie. »Ich habe nie etwas darin gesehen«, entgegnete er entgeistert. »Ich habe hineingesehen und hineingesehen. Gott weiß, wie ich hineingesehen habe.« »War ich das? Ja? War ich das, ertrunken? Im Wasser? War ich das?« Er sah ihr in die Augen, aber er konnte sich nicht dazu überwinden, ihr zu antworten. Er umschloss den Stein fest mit der Faust und schob ihn tief in seine Tasche. »Komisch«, sagte er und zog den Reißverschluss zu. »Vergiss es. Vergiss es einfach. He, ich habe Hunger, bist du auch hungrig?« Nach dem Essen beschäftigten sie sich weiter mit Telepathie, diesmal aus getrennten Zimmern oder wenn sie auf verschiedenen Seiten einer Ziegelmauer standen. Es war kein Nachlassen der Übertragungskräfte zu beobachten. Sie versuchten, Zahlen zu übermitteln, dann Melodien, Farben, Städtenamen, ganze Sätze. Ella konnte Melodien zurücksingen, die sie noch nie zuvor gehört hatte, sobald Guntarson sie dachte, obwohl sie behauptete, in Musik miserabel zu sein. Selbst schwierige Stellen 124
konnte sie wiedergeben - »When I'm calling you, oo-oo-oo-, oo-oo-oo . . . «
»Aus welchem Film ist das?«, fragte er. »Keine Ahnung.« Und dann entnahm sie die Antwort seinen Gedanken. »Rose-Marie.« »Hauptrollen?« Wieder war sie einen Moment lang verwirrt, dann kam die Antwort: »Jeannette MacDonald und Nelson Eddy.« Sie war immer noch irritiert. »Sind das die Namen von Leuten?« »Du hast noch nie von einem von ihnen gehört, oder? Du wärst unschlagbar bei Quizshows. Du könntest einfach die Gedanken des Quizmasters lesen.« Könnte sie die Zahlen auf einem Roulettetisch voraussehen? Die Sieger auf den Rennseiten entdecken? Gewinnzahlen der Lotterie vorhersagen? Sie kicherte. »Bist du in der Schule auch so schlau?« »Von anderen Leuten kriege ich keine Antworten. Nicht so. Nur von dir.« »Was ist mit deiner Familie? Wie wär's mit deiner Mum?« Aber Juliette weigerte sich mitzuspielen. »Wie ist es mit deinem Bruder?« Sie zuckte die Achseln. »Ich habe es nie versucht.« Sie wollte ihm alles sagen, ihm erklären, wie sie ein Gefühl für das erfasste, was in anderen Menschen vorging, wie sie im Geist einen Fernsehapparat heraufbeschwören konnte, in dem sie sah, was ihr Bruder sah. Sie wollte erklären, dass sie nicht so gut mit Worten umgehen konnte, dass sie nicht wusste, wie sie Zahlen und Antworten aus den Gedanken von Fremden entnehmen sollte. Alles das wollte sie Peter sagen, aber sie wusste nicht, wie. Juliette umklammerte nervös ihren Becher. Ken hatte sie am Samstag eindrücklich gewarnt: »Wir müssen Frank aus allem heraushalten. Die Zeitungen interessieren sich nur für Ella, und so muss es bleiben. Niemand soll versuchen, unseren Frank verrückt zu machen. Er ist zu klein.« Guntarson fragte: »Wo ist er, in der Schule? Könntest du versuchen, ihm eine Nachricht zu übermitteln? Wie weit ist sie weg? Mal sehen, ob er antwortet.« »Oh! Dieser Lärm«, rief Juliette. »Die Türklingel! Warum können die uns nicht einfach in Ruhe lassen?« 125
»Möchten Sie, dass ich rausgehe und sie bitte, dass sie Ruhe geben?« »Würden Sie das tun? Es tut mir so leid, dass ich Ihnen solche Ungelegenheiten mache, ich weiß, ich sollte es selbst tun ...« Guntarson öffnete die Tür und stand eine Stufe über der Reportermeute. Er ließ einen Blick väterlicher Geringschätzung über sie hinwegschweifen. »Eine Bitte der Familie. Da die Familie frühestens heute Abend einen Kommentar abgeben wird, wären Sie so freundlich und würden von diesem Geklopfe und Geklingle und Gerufe Abstand nehmen. Sie haben keinen Vorteil davon, und drinnen ist es sehr ärgerlich und störend. Und die Nachbarn beschweren sich«, log er, ohne mit der Wimper zu zucken. Seine Worte wurden auf Band aufgenommen, gefilmt und mitgeschrieben. »Wer sind Sie?«, schrie einer. Guntarson starrte mit gelangweilter Verachtung über sie hinweg. »Ich bin Peter Guntarson von der Daily Post«, erklärte er. Eine Frau, die zum Kamerateam von BBC West gehörte, fragte gespannt: »Haben Sie heute neue Phänomene im Umfeld von Ella Wallis beobachtet?« »Warten Sie ab und kaufen Sie morgen die Post.« »Wie viel bezahlt die Post Ellas Familie?« »Wie rechtfertigen Sie, dass sie nicht in die Schule geht?« »Wie wird sie damit fertig, plötzlich berühmt zu sein?« Ein plötzlicher Tumult am Rand des Reportergewimmels lenkte Guntarson ab. Ein kräftiger Mann im blauen Overall drängte sich unter Einsatz der Ellenbogen durch die Menge. Eine kleine dunkelhaarige Frau wurde beiseite gestoßen und schrie auf. Ein Kollege, der sich umdrehte, um sich dem Mann entgegenzustellen, bekam den Unterarm in die Rippen. Als der Mann die Stufen erreichte, griff er nach einem Mikrofonkopf. Guntarson sah das Aufblitzen eines goldenen Siegelrings, schon war das Mikro rausgerissen und weggeschleudert. »Mr. Wallis?« »Lassen Sie mich in mein Haus«, knurrte Ken. Guntarson wich zurück und wäre fast gestolpert. Die Reporter, die spürten, dass sich ihnen die beste Chance des Tages bot, kämpften um Kens Aufmerksamkeit - »Mr. Wallis! Ken! Hallo! Hier rüber! Sehen Sie hierher, Sir! Nur ein paar Worte!« Und als sich die Tür geschlossen hatte, verwandelten sich die Fragen zu Hohn und Spott. »Wie viel Geld krie126
gen Sie dafür, Mr. Wallis! Was hält Ella von all dem, Mr. Wallis! Verkaufen Sie Ihre Tochter an die Post, Mr. Wallis!« Guntarson begegnete Ken Wallis zum ersten Mal. Sie hatten ein paar Male am Telefon miteinander gesprochen, ihre Vereinbarungen getroffen und waren recht höflich miteinander umgegangen. Jetzt sahen sie sich zum ersten Mal ins Gesicht. Ken, ein Inch kleiner und dreißig Pfund schwerer, blickte finster. Seine Fäuste waren so hart wie sein Gesichtsausdruck. Guntarson wusste so klar und unmissverständlich, wie Ellas telepathische Stimme zu ihm sprach, er und Ken Wallis, sie würden einander hassen wie die Pest.
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KAPITEL 16
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uliette traute sich nicht näher heran als bis zur Küchentür. Sie war auf der Suche nach einem Schürhaken oder einem Billardstock - irgendetwas, was sich als Waffe gebrauchen ließ. Guntarson nannte seinen Namen, weiter kam er bei seinem Versuch, sich vorzustellen, nicht. »Sie kommen mir nicht in mein Haus. Nicht, wenn ich nicht da bin.« »Mr. Wallis, wir haben bereits miteinander gesprochen. Wir bezahlen Sie.« »Sie bezahlen nicht dafür, dass Sie in mein Haus kommen und mit meiner Frau sprechen, wenn ich nicht da bin.« »Ich bitte um Entschuldigung. Ich habe auf Sie gewartet.« »Das ist mein Haus. Kapiert? Wenn Sie herkommen und Fotos von meiner Tochter machen wollen, fragen Sie vorher mich. Ist das klar?« »In diesem Fall müsste ich Sie zu jeder Tages- und Nachtzeit erreichen können. Am besten stellen Sie mir eine Liste der entsprechenden Telefonnummern zusammen.« »Ein ganz Schlauer, was! Freche Antworten kann ich nicht leiden!« Ken stand nun so dicht vor ihm, dass Guntarson keinen Versuch mehr machte zu lächeln, sondern sein Gewicht auf den linken Fuß verlagerte und die Fäuste ballte. »Ihr Typen, ihr, ihr werdet mir und meiner Familie etwas mehr Respekt erweisen! Ist das klar?« Ken wandte sich abrupt um. Juliette zuckte zurück. »Habe ich gesagt, lass den Mann da rein?« »Tut mir leid, ich denke, das geht in Ordnung?« »Warum? Wann habe ich gesagt, dass ich fremde Männer in meinem Haus haben will?« »Wir kannten ihn doch, er war schon mal hier.« »Habe ich ihn gekannt?« »Tut mir leid, natürlich, nein.« »Habe ich gesagt, ich will ihn heute hier haben?« »Er ist gekommen, mit diesen Leuten da draußen, und Ella wollte ihn sehen.« 128
»Ella! Dann bestimmt sie jetzt also, wer in unser Haus kommt, oder was? Ja, jetzt, wo sie berühmt ist und ihr Foto auf der Titelseite. Jetzt bestimmt sie, wenn ich nicht da bin, ja?« Guntarson versuchte dazwischenzugehen: »Mr. Wallis, wenn ich ...« »Klappe!«, fuhr ihn Ken an. »Wo ist Ella? Ella, beweg dich gefälligst aus diesem Sessel und sprich anständig mit deinem Vater.« »Mr. Wallis, lassen Sie uns eines klarstellen. Wir haben eine Vereinbarung - Mr. Wallis, sehen Sie mich bitte an!« Jetzt hatte Guntarson die Stimme erhoben. »Wenn Sie das ganze Geld haben wollen, müssen Sie kooperieren. Ich bin nicht hergekommen, um hier einzudringen. Ich habe auf Sie gewartet, weil ich etwas Geschäftliches mit Ihnen besprechen wollte.« »Sind Sie hergekommen, um in meinem Haus herumzuschreien, ja?« »Ich versuche lediglich, mir Gehör zu verschaffen, Mr. Wallis. Sie haben noch nicht die ganze Summe bekommen. Wenn Sie unser Geld nicht wollen, gut. Dann gehe ich.« »Da draußen sind jede Menge Leute, die zahlen alles, was ich von denen verlange, junger Mann«, warnte Ken. »Diese Leute da draußen? Denen würde ich an Ihrer Stelle nicht vertrauen, Mr. Wallis. Für die sind Sie jetzt Freiwild. Von denen kriegen Sie keinen roten Heller, die holen aus Ihnen raus, was sie rausholen können. Warten Sie ab, bis die Paparazzi hinter Ihnen her sind. Die schieben ihre Kameras durch Ihre Fenster, durch Ihren Kamin, und glauben Sie bloß nicht, dass die für das bezahlen, was sie kriegen. Sie stehen jetzt in der Öffentlichkeit. Sie haben Ihre Geschichte verkauft. Noch einmal können Sie sie nicht verkaufen.« Ken ließ sich auf einen Stuhl fallen. Er war müde. Er spürte, dass ihm die Sache entglitt. Fremde in seinem Haus, die ihn anschrien, vor seiner Familie - vor Kurzem noch wäre dieser arrogante Reporter hier nur in einem Leichensack rausgekommen. Der Gedanke an Geld schwächte Ken Wallis. Er wollte Guntarsons Geld. Und er hatte bei Weitem noch nicht genug gekriegt. Ken zog eine Daily Post aus der Tasche seines Overalls. Er glättete sie auf dem Küchentisch und legte seinen Finger auf das Gesicht der schwebenden Ella. Er sagte: »So was habt ihr nicht erwartet. Eh?« »Niemand hätte vorhersagen können ...« »Ich wusste nicht, dass Ella das kann. Fliegen. Ich meine, schweben. 129
Nicht, wenn sie es einfach will. Wir haben sie mal gesehen, aber damals dachte ich, sie hätte den Teufel im Leib. Vielleicht hat sie den Teufel ständig im Leib.« »Ich glaube, dafür gibt es eine wissenschaftlichere Erklärung als diese.« »Glauben Sie? Ich denke nicht, dass allzu viele von euren Wissenschaftlern erfreut sind, wenn sie das sehen. Stellt ihre Gesetze der Physik auf den Kopf. Lässt die Leute an Wunder glauben.« »Ella kann nicht gleichzeitig ein Wunder auf zwei Beinen und vom Teufel besessen sein«, sagte Guntarson geringschätzig. »Ich glaube, Sie wissen gar nichts darüber, Mr. Guntarson. Mr. Daily Post. Aber Sie wissen, wie man was an die Leute bringt. Das gestehe ich Ihnen zu. Schwer vorstellbar, dass es einen in Bristol gibt, der Ihre Zeitung heute Morgen nicht gekauft hat. Und mein Bruder hat die gleiche Geschichte zuerst in seinem Kirchenblatt gebracht. Das ist schade. Wenn er geschwiegen hätte, wäre bei uns alles wieder normal. Aber das ist es nicht, und wenn ich recht verstehe, wollen sie noch mehr Geschichten über unsere Ella verkaufen, also reden wir über Geld.« »Mir macht es nichts aus, mit Peter zu reden, Dad. Er hat uns schon Geld gegeben.« »Klappe, Ella.« »Wir haben uns auf 4000 Pfund geeinigt, Mr. Wallis.« Guntarson zog einen Stuhl heran und beugte sich vertraulich vor. »2000 Pfund haben Sie bereits bekommen. Die anderen 2000 Pfund habe ich Ihnen mitgebracht und unseren Vertrag.« »Zwei Riesen, das ist Kleingeld.« »Das ist gutes Geld.« »Das sind die Unkosten, weiter nichts. Wahrscheinlich wollen Sie Ella mitnehmen. Tests mit ihr machen. Ich schätze, Sie wollen den Beweis für Ihre Story erbringen. Wissenschaftlich.« Er spuckte dieses Wort voller Sarkasmus aus. »Weil halb Bristol kein Wort davon glaubt. Heute Morgen haben mich etliche Leute angesprochen. Sie haben die Fotos gesehen. Ich hatte keinen Schimmer, wovon die redeten, bis mir einer das da gab.« Er schlug auf die Zeitung. »Und ich habe es nicht geglaubt. Ich dachte zuerst, es wäre eine Trickaufnahme. Und ich habe gesehen, wie sie es in echt gemacht hat. Wenn Sie also nicht wollen, dass die Leute glauben, Sie hätten sich das alles nur ausgedacht, müssen Sie 130
es beweisen. Wissenschaftlich. Und ohne Ella können Sie es nicht beweisen.« »Vielleicht wäre es besser für Ella, wenn wir es nicht beweisen. Einfach so lassen, als eines der unerklärlichen Mysterien«, meinte Guntarson und lehnte sich zurück. »Die Leute würden sie recht schnell vergessen.« »Bockmist. Sie wollen unbedingt mehr. Was wollen Sie denn hier, wenn Sie nicht noch was drucken wollen? Was will dieser Abschaum da draußen vor meinem Haus? Wenn nicht auch die Story.« Ken grinste habgierig. »Ella ist meine Tochter. Wenn Sie noch ein Wort über sie kriegen wollen - dann müssen wir uns ernsthaft über Geld unterhalten.« In Ellas dunklem Schlafzimmer leuchtete nur das grüne Licht des Handys in ihrem Schoß. Das Wort READY war in LED zu lesen. Sie bürstete ihr Haar. Das Kunststoffgerät schützte sie wie eine Wunderlampe. Sie musste nur zwei Knöpfe drücken, und sie hatte Peter am Telefon. Die Antenne war ausgezogen. Sie hätte ihn gern angerufen, aber sie wusste nicht, ob er gestört werden wollte. Er war den ganzen Tag hier im Haus gewesen. Erst kurz vor sechs war er gegangen. Vielleicht ging sie ihm auf die Nerven. Wenn sie ihm etwas Besonderes zu sagen hätte, wäre es anders. Also rief sie Holly an. »Ich bin's. Ich habe ein eigenes Telefon gekriegt.« »Oh. Warum rufst du an?« »Einfach, um es dir zu sagen. Ich kann dich jetzt anrufen, wann ich will.« »Lass es sein.« »Peter hat es mir gegeben. Er wird noch einen Artikel über mich in der Zeitung bringen, er und mein Dad haben ein Geschäft gemacht.« »Tja, mein Dad sagt, er glaubt kein Wort von alldem. Er sagt, du hast das alles erfunden, wegen dem Geld.« »Du weißt, dass das nicht ...« »Alle glauben das. Wir glauben alle, dass du dumm bist, Ella Wallis, deshalb brauchst du dir auch nicht die Mühe zu machen, mich noch einmal mit deinem blöden Handy anzurufen.« Ella begann zu weinen. Holly war ihre beste Freundin. Sie schluchzte sehr leise, damit Frank nebenan sie nicht hörte, aber ihre Schultern beb131
ten. Sie legte das Telefon außer Reichweite auf ihre Arbeitsplatte. Sie wollte es jetzt nicht anfassen. Das Licht des Telefons, das vor ihren tränennassen Augen verschwamm, beobachtete sie wie ein grünes Auge. Ella hockte da, das Kinn auf den Knien, und schluckte ihre Enttäuschung hinunter. Sie hatte massenhaft nachzudenken. Massenhaft recht gute Neuigkeiten. Neuigkeiten, von denen sie Holly hatte erzählen wollen. Peter hatte versprochen, dass sie ins Fernsehen käme und berühmt werden würde. Sie konnte das kaum glauben, aber sie musste es ja glauben, weil er es ihr gesagt hat. Er sagte, sie würde der berühmteste Mensch der ganzen Welt. Er sagte, die Leute würden sie wirklich sehr gern haben und nett zu ihr sein, weil sie etwas sehr Aufregendes konnte. Das hörte sich wirklich gut an. Sie wollte mit jemandem darüber reden. Sie wollte über Peter reden. Sie wollte jemanden anrufen. Aber jetzt machte ihr das neue Telefon keine so große Freude mehr.
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KAPITEL 17
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eter hielt sein Versprechen. Innerhalb von sechsunddreißig Stunden war Ella für eine Fernsehshow gebucht. Die Post schickte einen Wagen, einen schwarzen Ford Scorpio, um ihre Familie abzuholen, und Ella ging mit hochgeschlagenem Kragen die Stufen vor ihrem Haus hinunter, die Post vor ihr Gesicht haltend, wie Peter es ihr gezeigt hatte. Die anderen Zeitungen sollten keine gute Sicht auf sie haben. Sie entdeckte Peter unter dem in blauem Neonlicht leuchtenden Säulenvorbau der Network Europe Studios, bevor er den Wagen bemerkt hatte. Es war früh am Abend; der Regen überflutete die glänzenden Steinplatten und glitzerte im Scheinwerferlicht. Guntarson stand da in einem knöchellangen Wachsmantel mit ausladenden Schulterklappen, dem Mantel eines australischen Viehzüchters. Sein kräftiges blondes Haar klebte ihm feucht an der Stirn. Als das Auto bremste, hatte Ella schon die Tür geöffnet. »Ella! Warte einen Moment«, sagte ihre Mutter barsch, aber Ella war bereits aus dem Wagen und lief ohne Mantel durch den Regen zu Peter. Er wandte den Kopf ab, als sie bei ihm anlangte.
Auf diese Geste hin griff eine Empfangsdame jenseits der dicken Glasund Aluminiumtüren von Network Europe zum Telefon. Ein livrierter Portier eilte mit Regenschirmen in Grün und Gold, den Farben von Post Communications, heraus. Als Guntarson sich wieder umwandte, um Ella zu begrüßen, stand sie verloren drei Fuß von ihm entfernt im Regen. »Schnell! Was tust du da?« Er streckte die Hand aus, um sie unter das Eingangsdach zu ziehen. Der Regen hatte Ellas silberblonde Haare in dunkle Strähnen verwandelt und aus dem blauen Samt ihres Kleides ein fleckiges Schwarz gemacht, das an ihrem Körper klebte. »Du bist völlig durchnässt. Worauf hast du gewartet?« Sie sagte nichts, aber schlagartig begriff er. »Habe ich dich gekränkt, weil ich nicht >Hallo< gesagt habe? Entschuldige, Ella.« Mit einem Lächeln beugte er sich über sie, die Hände in den Taschen vergraben. Sie presste in der kalten Januarluft die Ellenbogen an ihren Körper und blickte unglücklich zu ihm auf. »Ich musste sofort Bescheid geben, wenn du da bist. Deshalb war ich abgelenkt. Ein paar sehr wichtige Leute möchten dich kennenlernen, 133
Ella. Sie haben strikte Anweisungen erteilt.« Er führte sie in die warme Lobby, ihre Eltern eilten unter den zeltgroßen Regenschirmen zum Eingang. »Sie wollten unverzüglich von deiner Ankunft verständigt werden.« Ella zitterte, das Wasser lief an ihr hinunter und tropfte auf den grüngoldenen Teppich. Guntarson deutete zum Empfang. »Wir müssen dich eintragen. Hey, da ist mein Chef«, flüsterte er. Ein Mann mit einem Birnenkopf und buschigen weißen Haaren um die Ohren wie ein Clown kam zwischen den Palmen auf der anderen Seite der Lobby hervor. Er trug einen förmlichen Anzug mit dunkler Krawatte, und zwei andere Männer in identischen Anzügen folgten ihm auf dem Fuß. Die schwere, graue Last ihrer Nadelstreifen war erstickend und legte sich über Ella wie eine Decke. Der Mann mit den Clownshaaren musterte Ella von oben bis unten. »Bist ein bisschen nass geworden draußen, was?« Er stellte sich nicht vor. Einer von den anderen Männern betrachtete sie eingehender, so, als erwarte er etwas ganz Außergewöhnliches. »Mr. Wallis!«, brüllte der Clownchef. Er griff nach Kens Hand, die feucht war vom Griff des Regenschirms. »Wir sind Ihr Empfangskomitee - so eine Art Triumvirat der großen Tiere der Post Comm.« Die anderen Männer lachten leise, ohne den Blick von Ella abzuwenden. Ein Junge aus ihrer Klasse fing manchmal Nachtfalter und hielt sie in der hohlen Hand, und die anderen Schüler scharten sich um ihn, um sich den Falter anzusehen. Sie fühlte sich wie ein Nachtfalter, dessen Flügel von Fingerspitzen sacht festgehalten wurden. Stimmen umsummten sie, und Ella, ganz klein geworden zwischen Guntarson und dem Empfangstresen, verstand nicht mehr als ein Nachtfalter. »Gestatten Sie, dass ich die Vorstellung übernehme. Ich bin Sir Peregrine Parrish, Kommandant des Flaggschiffs. Dies ist Lord Treharris, Vizeadmiral der Flotte - das heißt, von Post Comm - und Mr. Dyre, der Lotse unseres Satelliten.« Mr. Dyre schüttelte Ken die Hand. »Ich leite diesen Fernsehsender«, übersetzte er. »Sie sind der Vater von Miss Wallis?«. »Der erstaunlichen Miss Wallis«, schaltete sich Sir Peregrine ein. »Der Miss Wallis, die in der Lage zu sein scheint, die Gesetze der Physik, an denen wir bisher nicht gerüttelt haben, auf den Kopf zu stellen. Ganz die Miss Wallis von der Post, könnte man sagen.« »Sie ist meine Tochter«, knurrte Ken. 134
»Und momentan von einem Schüchternheitsanfall heimgesucht, befürchte ich.« Sir Peregrine machte eine Geste zu Lord Treharris, einem Gerippe von einem Mann mit nikotingelben Lippen und Wangen, der Ella daraufhin die Hand hinstreckte. »Sag anständig >Hallo<, Ella.« Versteinert von den Männern in Anzügen und in Panik wegen der in der Stimme ihres Vaters aufsteigenden Wut, konnte sie sich nicht rühren. »Ella, ich sage das nicht zweimal.« »Keine Eile, Mr. Wallis: Zurückhaltung ist das Vorrecht einer jungen Dame.« Sir Peregrine, Boss vom Scheitel bis zur Sohle, ließ sich von Männern wie Ken nicht beeindrucken. »Also zum Studio - gehen Sie voran, Mr. Dyre, lotsen Sie uns ins Reich des Satelliten.« Ella versuchte, sich neben Guntarson zu halten, sodass er zwischen ihr und ihren Eltern lief. Sie hasteten durch einen Rauglaskorridor, an dessen Wänden gerahmte Fotos von Soap-Stars und Quizmastern des Senders hingen. Sie klebte buchstäblich an Peters Mantelzipfel. Das Atmen fiel ihr so schwer, als läge ein dickes Tuch auf ihrem Gesicht. Sie begriff weder, wohin sie gebracht wurde, noch warum sie es so eilig hatten. Die Männer in den Anzügen sprachen mit ihr, aber sie verstand nicht, was sie sagten. Die Verwirrung war total - ihre Sinne waren ausgelöscht. Das Rauglas und der dicke, prächtige Teppich erzeugten eine bedrückende Atmosphäre. Sie hörte die aufgeregte Stimme ihrer Mutter und spürte Hände auf ihrer Schulter, die sie durch eine Tür bugsierten. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war und warum sie hierher gebracht worden war. Sie wusste kaum noch, wer sie war. Sie klammerte sich an Peters Mantel, aber zwischen all diesen Menschen war er ein anderer Peter, fast ebenso sehr ein Fremder wie die Männer in den Anzügen. Sacht löste er ihre Finger vom Saum seines Wachsmantels. »Möchtest du, dass deine Mum und dein Dad dich begleiten?« Sie starrte ihn an, panische Angst stand in ihren Augen. »Ich warte hier«, versprach er. »Nein!« Ella klammerte sich wieder an seinen Mantel. »Ich sehe dir von den Seitenkulissen aus zu. Sie können nicht alle am Set unterbringen.« Peter, die Hände auf die Knie gestützt, beugte sich herab und sprach zu ihr wie zu einem Kind. »Und ich schicke dir Bot135
schatten.« Er lächelte und rief lautlos: »Alles in Ordnung!« Laut fügte er hinzu: »Du kannst mich noch hören?« Sie nickte. Peter richtete sich auf, eine Frau nahm sie bei der Hand und zog sie sanft weg. Ella versuchte, Peter im Blick zu behalten, aber die Männer in den Anzügen umringten sie wieder, und plötzlich erklang eine neue Stimme: »Hallo, Ella, mir scheint, du bist ein wenig verängstigt, aber weißt du, dazu besteht kein Grund, alles wird ganz glatt gehen, ganz glatt, entspann dich einfach, du wirst es genießen, du wirst sehen, komm hier rüber und setz dich, Alice kümmert sich um ein passendes Make-up für dich.« Diese Stimme sprach nicht zu ihr - sie goss einen Wasserfall von Worten über ihr aus. Ella hielt den Kopf gesenkt, sie machte keinen Versuch, denjenigen zu sehen, dem die Stimme gehörte. Über ihrem Kopf erklang ein Summen, fast zeitgleich dann ein dumpfer Schlag und drei blendend helle Lichterreihen flammten auf. Sie fuhr zusammen und blickte auf, und in dem kurzen Moment, in dem sie in die Scheinwerfer schaute, brannten sich blaue und grüne Dreiecke in ihre Augenlider. In den nächsten Minuten blitzten bei jedem Zwinkern diese bunten Figuren vor ihr auf. »Ihre Haare sind nass«, sagte eine Frauenstimme. »Ich brauche den Trockner.« »Bist du in den Regen gekommen, Ella, ich bin auch fast ganz durchnässt worden, jetzt musst du aufpassen, dass du dich nicht erkältest, aber es ist ja immer so herrlich warm in diesen Studios, schau dich mal an, du dampfst schon in der Hitze dieser Lampen.« Der Mann mit der unaufhörlich plappernden Stimme tätschelte ihren Arm, und Ella riskierte zum ersten Mal einen Blick auf ihn. Er hatte einen Akzent. Nie stolperte er über einen Laut oder hielt inne, um nachzudenken. Sie hatte ihn schon einmal gehört. Er war Ire. Wie Mr. McNulty. »Weißt du, wer ich bin, Ella, hast du meine Sendung schon gesehen, kriegt ihr zu Hause Network Europe rein, habt ihr eine Schüssel oder Kabel? Ich bin Phineas Finnegan, dies ist meine Show, eine Talkshow, und wir machen es so, dass du sagen kannst, was du willst, und ich höre zu, es ist die Gelegenheit für dich, den Zuschauern zu erzählen, was dir alles am Herzen liegt.« 136
Hände drückten sie auf einen Stuhl. Der Gummirand eines Kameraobjektivs traf sie fast ins Gesicht und wurde an einem langen Arm wieder zurückgezogen. Phineas Finnegan, dessen Hände ständig mit einer verrutschenden Fliege und den Revers und Manschetten seines nahezu leuchtenden grünen Anzugs beschäftigt waren, sprang vor ihr herum. Er war nicht älter als Peter, aber sehr viel kleiner. Seine Kopfhaut unter den dünnen rotblonden Haaren war mit Sommersprossen übersät. »Wir kriegen alle Stars in unsere Show, weißt du, bist du ein Popfan, magst du die Life Boys, Robbie und Michael von den Life Boys waren gestern hier, was sagst du dazu, bist du ein Fan von ihnen? Robbie saß genau auf dem Stuhl, auf dem du jetzt sitzt, oder war es Michael, genau auf diesem Stuhl, wir kriegen alle Stars, und ich sage dir auch, warum« - er verstummte für den Bruchteil einer Sekunde, als würde er ihr gleich eine vertrauliche Mitteilung machen -, »nämlich deshalb, weil ich die Gäste selbst auswähle und weil ich niemanden in meiner Show haben möchte, der nicht total faszinierend und kontrovers ist, deshalb wusste ich, als ich die Fotos von dir in der Post gesehen habe, dass ich dich in meiner Show haben muss.« Hände hoben sich und kämmten Ellas feuchte Haare. Sie hasste es, wenn jemand ihre Haare berührte. Sie ruckte mit dem Kopf, aber die kräftigen Hände hielten ihn fest und kämmten weiter. Ella griff hinauf, um sich zu befreien, aber die unermüdlichen Hände drückten sie wieder herab. »Du hast schöne Haare, Ella, ich wette, du hast sie noch nie geschnitten, aber dauert es nicht eine Ewigkeit, sie zu waschen, und ich wette, du musst das jeden Abend machen, natürlich bin ich nur eifersüchtig, denn ich könnte meine wachsen lassen von heute bis zum Jüngsten Tag, sie würden nie so lang werden wie deine, du wirst es nicht glauben, aber in Wahrheit habe ich hinten schon eine kleine kahle Stelle, nicht, dass man sie sieht, denn ich achte darauf, dass die Mädchen sie richtig zukämmen, nicht aus Eitelkeit, aber das ist Fernsehen, mir würde das an sich nichts ausmachen, aber die Zuschauer sind furchtbar kritisch, furchtbar kritisch, okay, wir sind fast fertig, Alice, hopp hopp, Schätzchen, ich will in neunzig Sekunden anfangen, ich will kein unnötiges Herumgetrödel, wir haben heute noch viel vor.« Die Hände tupften Puder auf Ellas Gesicht und stießen ihr einen di137
cken Pinsel auf Nase, Wangen und Kinn. Sie blinzelte. Pulvriger Staub glitzerte im grellen Licht. »Okay, jetzt gehen alle vom Set, sogar unser adliger Ritter, vielen Dank, Sir Peregrine, vielen Dank, so ist's gut, nur noch ein Stückchen weiter nach hinten, dann werden wir keine verhängnisvollen Unfälle mit der Kamera haben.« Die Anzüge zogen sich zurück, die Hände entfernten sich von Ellas Gesicht, und urplötzlich versank Phineas Finnegan in einem gepolsterten hochlehnigen Chefsessel. Ella wurde auf die Kante eines fast identischen Sessels gesetzt, nur dass ihrer scharlachrot war und seiner braun. Die Lampen spiegelten sich wie Monde in dem schweren Glas eines runden Couchtisches, der zwischen ihnen stand. Ella erhaschte einen Blick auf sich selbst, und ihr geschminktes Gesicht war ihr fremd. »Ella, es ist großartig, dass wir die Gelegenheit haben, einander kennenzulernen, ich weiß, ein Interview geht immer dann gut, wenn ich vorher einen kleinen Plausch mit meinem Gast habe, das verschafft uns innere Ruhe, ich habe jetzt sehr positive, sehr optimistische Gefühle, in dieser Story steckt großes menschliches Potenzial, nun möchte ich, dass du dich völlig entspannst, du siehst noch ein bisschen ängstlich aus, du kannst dich zurücklehnen, es ist okay, der Sessel rollt nicht weg, es ist nicht live, das weißt du, obwohl wir möchten, dass unsere Zuschauer denken, es ist live, sag also nichts, was unser kleines Geheimnis aufdecken würde, wir zeichnen nur ein kleines Gespräch auf, und wie schon gesagt, möchte ich, dass du frei von der Leber weg sprichst, erzähl mir einfach, was du auf dem Herzen hast, betrachte mich als deinen Freund, als Beichtvater, stell dir vor, ich wäre ein Priester, wenn du möchtest.« In ihrem Kopf hörte sie Peters Stimme: »Entspann dich, entspann dich«, und sie drehte sich nach ihm um. »Sieh mich an, Ella«, schalt Finnegan. »Okay, wir können anfangen, sei jetzt ganz natürlich du selbst und vergiss nicht, du bist der Star.« Er verstummte und strahlte breit in eine Kamera. Ella lächelte nicht. Sie klammerte sich an den Kanten ihres Sessels fest. Der Aufnahmeleiter gab ihnen mit einer Handbewegung das Zeichen zum Anfangen. »Und hier sind wir nun mit meinem nächsten Gast, und wenn Sie in den letzten Tagen in die Zeitung geschaut haben, erkennen Sie zweifellos dieses endlos lange goldene Haar, und ich freue mich natürlich, aus dem 138
Reich des Übernatürlichen Großbritanniens neuesten übersinnlichen Star willkommen zu heißen, Ella Willis ... verdammt! Ich hab' mich bei ihrem Scheißnamen versprochen! Ella, es tut mir so leid, das war einfach dumm von mir, okay, alles in Ordnung, ja? Also, fangen wir noch mal an.« Sie begann in ihrem Sessel zu schaukeln. Hoch oben explodierte eine der grellen Lampen mit einem Geräusch wie ein Gewehrschuss. Glasstücke fielen klirrend zu Boden. »Verdammte Scheiße! Okay, war nur ein Scheinwerfer. Ella, entschuldige die Ausdrucksweise der Leute hier, das kommt nur von der Anspannung, ich denke, du hörst auf dem Schulhof jeden Tag Schlimmeres, verdammt, das hat mich wirklich erschreckt, okay, konzentrieren wir uns wieder, sind wir bereit, kein Blödsinn mehr.« Eine Maskenbildnerin stürzte herbei und tupfte ihm mit einem Kleenex Schweiß unter der Nase ab. Sollte sein Gesicht im Fernsehen glänzen, verlor sie ihren Job. »Ich möchte blenden«, warnte Phineas Finnegan sie tagtäglich, »nicht glänzen.« Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als würde er sein Lächeln in die richtige Position schieben. Finnegan rasselte noch einmal das Intro herunter. Ella saß ihm stocksteif gegenüber, sie hatte Angst, den Blick abzuwenden, aber ihre Augen fanden keinen Punkt, auf den sie sich hätte konzentrieren können, und so begann ihr Blick zu schweifen. »Ella! Ella!« Er beugte sich vor und tätschelte ihr Handgelenk. »Es ist okay, wenn du was sagst, es ist eine Talkshow. Fangen wir mit der naheliegendsten Frage an, kannst du dich an eine Zeit erinnern, zu der du kein Medium warst?« Nichts ergab einen Sinn. Sie sah, wie sich seine Lippen bewegten, hörte Laute, sah, wie er aufmunternd nickte, aber nichts hatte eine Bedeutung. Ella wusste nicht, was er von ihr erwartete. Sie schaukelte ein wenig heftiger. Eine zweite Lampe detonierte und etwas krachte zu Boden. Dieses Mal fluchte Finnegan nicht. »Diese Knallerei kann einen kleinen Teenager schon nervös machen, Ella, hör zu, du musst dir deshalb keine Sorgen machen, normalerweise knallen uns im Jahr keine zwei durch, und jetzt gehen sie ab wie Knallfrösche, vielleicht ist es ein übernatürliches Phänomen, Ella, lass dich dadurch nicht aus dem Konzept bringen.« 139
Sie konnte Peters Stimme in ihrem Kopf hören. »Sitz! Still!« Das verstand sie. Mit einiger Anstrengung gelang es Ella, sich zurückzulehnen und ruhig zu sitzen. »Das ist schön, in der Phineas-Finnegan-Show sollen sich alle wohl fühlen. Anscheinend bist du der ganz schweigsame Typ, was, du gehörst nicht zu diesen albernen Teenagern, die dauernd nur kichern und plappern, und das ist gut so, niemand mag Schwätzer, aber ich habe eine Idee, anstatt laut zu sprechen, versuchen wir es mit ein bisschen Telepathie, hört sich doch gut an, okay, in meiner Tasche habe ich vier Umschläge, und in jedem dieser Umschläge, sieh mal, sind wunderhübsche Farben, ich habe einen roten, einen gelben, hier einen blauen, und dieser hier ist grün. Ich halte sie hoch, damit alle zu Hause sie sehen können, es sind ganz gewöhnliche Umschläge, kein Hinweis außen auf das, was darin sein könnte, und du hast sie noch nie zuvor gesehen, Ella, du hast noch nicht einmal gewusst, dass wir das machen werden ... Ich nehme das dann mal als ein >Nein<.« Finnegans neckische Plauderei, anfangs aalglatter Verkäufercharme, war inzwischen mit Boshaftigkeit gespickt. Diese verdammte Idiotin hockte da wie eine Taubstumme. »Ich habe eine kleine Zeichnung angefertigt und in jedem Umschlag eine versteckt, und nun fordere ich dich heraus, weil wir alle mit großem Erstaunen von deinen fantastischen telepathischen Kräften erfahren haben, kannst du meine Gedanken lesen?« Er legte eine Pause ein. Ella starrte blicklos auf die Umschläge. In der Hitze der Scheinwerfer schlug ihr Finnegans Persönlichkeit in schweren, süßlichen Wellen entgegen. Sie hatte keine Ahnung, was in den Umschlägen war - sie wusste nicht einmal, was sie tun sollte. Es war, als würde Finnegan vor Frustration und Ungeduld und Verachtung bersten. »Ich halte jetzt den roten hoch, ich weiß, was darin ist, es ist ein Bild, es ist ein Symbol, und ich konzentriere mich auf dieses Symbol, ich übertrage es auf dich, Ella, und Sie, die Zuschauer zu Hause, können dir auch helfen, denn wir zeigen Ihnen das Symbol auf dem Bildschirm, warum also nicht für einen Augenblick Ihre Zweifel beiseite legen und sich auf dieses Symbol konzentrieren, hier, das ist das, das Ella zu erraten versucht.« »Ella, kannst du mich hören, sag etwas, hast du irgendeine Vorstellung, was in diesem Umschlag ist, es ist der rote Umschlag, den ich dir 140
zeige, sag mir, wenn du irgendeinen telepathischen Kontakt bekommst, hallo Ella, Ella, es ist ein gelber Stern, ein gelber Stern, du siehst ihn nicht einmal, wenn ich dir damit direkt vor dem Gesicht herumwedle, was soll das! Was ist das hier!« Finnegan sprang auf und schleuderte die bunten Umschläge durch das Studio. »Ich meine, wer soll das sein, die verdammte Helen Keller?« Gestikulierend und plappernd marschierte er zu Tony Dyre hinüber, dem Studiochef. Beide Kameras blieben auf Ella gerichtet. Die Scheinwerfer strahlten. Sie saß in ihrem Sessel, gegen die Kissen gedrückt, und klammerte sich fest. Sie sah sich nicht um, und niemand näherte sich ihr. Sollte sie die erhobene Stimme ihres Vaters hören, der irgendetwas schrie wie, sie sollten aufpassen, wie sie über seine Tochter redeten, so zeigte sich dennoch keine Regung auf ihrem Gesicht. Ihr Sessel kippte langsam nach hinten. Ellas Augen blinzelten ins Nichts. Ihr Mund öffnete sich leicht, als der Sessel sich neigte und das Gestell sich nach oben drehte. Als habe jemand seitlich quer durch die Rückenlehne, knapp unter Ellas Schultern, eine Achse gerammt, senkte sich die Kopfstütze, schlug aber nicht auf dem Boden auf. Ellas Haare fielen nach hinten. Sie hielt sich weiterhin am Sitz fest und saß so sicher, als würde sie von einem Sicherheitsgurt gehalten. Der Sessel hing in der Luft, das Unterteil über die Köpfe der Kameraleute nach oben gerichtet. Das plötzliche Schweigen, das sich über das Studio gesenkt hatte, diese Stille, wurde nur von Juliettes Stimme unterbrochen: »Ella! Mein Gott! Hör auf!« Guntarson packte sie am Arm. »Lenken Sie sie nicht ab«, warnte er. »Sie weiß vermutlich gar nicht, was sie macht. Sie hat alles ausgeblendet.« »Haben wir das?«, zischte Finnegan dem Kamerateam zu. »Wir brauchen das alles durchgängig, achtet darauf, dass es jeder sehen kann, dass es keine Tricks gibt, keine Drähte oder irgendwas, sind ihre Augen offen, in Trance oder was?« Die Kopfstütze bewegte sich leicht auf und ab und der Chefsessel mit Ella, die darin geborgen lag wie ein Vögelchen in der hohlen Hand, stieg auf. Die Anweisungen des Regisseurs waren deutlich zu hören, ein Flüstern aus den Kopfhörern der Kameraleute. Lord Treharris ging mit offenem Mund langsam in die Mitte und streckte einen Arm aus. Der Sessel schwebte außer Reichweite seiner Hand. 141
»Zoom her, zoom her«, drängte Finnegan, »damit jeder sieht, dass es da keinen Flaschenzug oder Spiegel oder irgendwas gibt.« Der Sessel machte eine volle Drehung, als wollte er beweisen, dass er nicht an Drähten hing. Dann überstieg er sacht die Studioscheinwerfer und kletterte hinauf in das Halbdunkel der Metallschienen, an denen Dutzende Projektionslampen hingen. Dort verharrte er, sanft schaukelnd mit jedem von Ellas langsamen, tiefen Atemzügen.
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KAPITEL 18
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hineas Finnegan war im Fernsehen. »Ich bin Ire und wir Iren sind an das Unwahrscheinliche gewöhnt, an das Übernatürliche, wenn Sie so wollen.« Er hatte die Hände vor sich gefaltet und behielt ein entschiedenes, ernsthaftes Gesicht bei. Dies waren die Neun-UhrNachrichten der BBC - bei Weitem die meisten Zuschauer, die er je gehabt hatte. »Diese Erscheinung, dieses Phänomen, diese Manifestation, ich weiß nicht, nennen Sie es, wie Sie wollen, war nicht von dieser Welt. Nicht von dieser Welt.« Der Fernsehapparat im Hotelwohnzimmer der Familie Wallis zählte zu den Gegenständen, die zeigten, dass man sie in einer Suite für gehobene Ansprüche untergebracht hatte. Finnegans Gesicht in Großaufnahme war fast doppelt so groß wie in natura. Ella saß am Fenster und starrte auf die geschlossenen grauen Lamellen der Jalousie. Sie hatte noch nicht gesprochen. Ken und Juliette saßen in zwei üppigen Polstersesseln. Die Stoffbezüge waren auf die im chinesischen Stil eingerichtete Suite abgestimmt - blaue Drachen auf roter Seide, weise Männer mit weißen Bärten und Papiertiger. Man hätte meinen können, Ken warte auf chinesisches Essen zum Mitnehmen, so wie er da auf dem Sessel lümmelte und die Beine über die Armlehne baumeln ließ - absichtlich respektlos gegenüber der prächtigen Umgebung. Der einzige Gegenstand in diesem Zimmer, den er normal fand, war die Fernbedienung in seinem Schoß. Auf Juliettes Schoß stand ein Bleikristallglas. Sie hatte in der Minibar vier Fläschchen Beefeater-Gin entdeckt und zwei Fläschchen Schweppes Tonic, die sie nicht gebraucht hatte. »Nur eine kleine Stärkung«, murmelte sie und schirmte mit den Händen das Wasserglas vor den Blicken ihres Gatten ab. Sie war im Badezimmer gewesen, wo es einen eigenen Farbfernseher gab, und Handtücher so groß wie Decken und fantastische Haartrockner und herrliche vergoldete Spiegel und Seifen und Eau de Cologne von Gucci und eiskalten Marmor unter ihren Füßen. Danach brauchte sie einen Drink. 143
Guntarson hatte nichts von sich hören lassen. Ella konnte sich nicht erinnern, ob er sich vergewissert hatte, dass es ihr gut ging, als sie das Studio verließ. Sie bemühte sich angestrengt, sich überhaupt an etwas zu erinnern - ihr kam es so vor, als würde sie schon sehr lange an diesem Fenster sitzen. Sie hatte nichts gegessen - ein Teller mit Fleisch und Salat stand unberührt neben ihr. Sie trug noch dasselbe blaue Kleid, das sie extra für die Show gekauft hatte. Sie erinnerte sich, dass sie im Studio sehr große Angst, ungeheure Angst gehabt hatte, und sie wusste, dass sie levitiert hatte. Man hatte es ihr gesagt. Sie war in Trance gewesen. Peter würde sie anrufen. Bald, bestimmt sehr bald. Dann kämen auch wieder ein paar Erinnerungen zurück. Sie könnte ihn selbst anrufen, aber dieser Gedanke verflüchtigte sich rasch. Sie konnte ihre Gedanken einfach nicht sammeln. »Da holen sie dich runter, Ella«, rief ihr Vater. »Siehst du? Wir hätten das auf Video aufzeichnen sollen.« Der Anblick seiner Tochter, die sich dreißig Fuß über dem Boden in einem Sessel sacht auf und ab bewegte, gefiel ihm im Fernsehen bei Weitem besser als das tatsächliche Spektakel im Studio. »Die haben so Seile gebraucht. Die Jungs von der Beleuchtung, die sind zu dir rauf auf dieses Scheinwerfergerüst, dann haben sie Seile um den Sessel gebunden für den Fall, dass er plötzlich runterfällt. Und dann haben sie ein langes Seil zum Boden runtergeworfen, und wir alle haben dich runtergeholt. War ein bisschen so, wie wenn man einen Drachen fliegen lässt.« Der Bericht lief volle zehn Minuten als erster Beitrag der Nachrichten. Das Filmmaterial von Network Europe, das in den letzten drei Stunden fast ununterbrochen über Satellit gesendet worden war, wurde in Zeitlupe wiederholt, jedes Detail wurde vergrößert, damit auch jeder Zuschauer wirklich die tatsächlichen Gegebenheiten sehen konnte. Da waren keine versteckten Drähte. Keine Flaschenzugrollen, keine Spiegel. Der Sessel flog. Das war alles. Er flog und trug das Mädchen zur Decke hinauf. Das Material war bereits an C N N verkauft worden, die es weltweit in über hundert Ländern ausstrahlte. »Du bist ein Star, Mädchen. Richtig berühmt jetzt«, bemerkte Ken, als im Studio Experten zu Wort kamen. Jeder Experte hatte eine andere Erklärung, je nach Fachgebiet - es waren ein Physiker, zwei Psychiater, 144
ein Professor der Parapsychologie und, per Satellitenschaltung nach Las Vegas, ein Magier, einer der berühmtesten der Welt, der allabendlich auf der Bühne »levitierte«. Ken sagte: »Wir können reich werden, wenn wir es richtig anpacken. Wir müssen mit unserem Robert reden, das ist der Richtige, der weiß, wie man Geld macht. Vielleicht kriegen wir auch so einen Jaguar wie er. Wie findest du das?« Er drehte sich, um über die Rückenlehne seines Sessels zu Ella hinüberzublicken. Sie hatte die Knie bis an die Schultern gezogen und starrte immer noch in die Jalousie. »Ein Jammer, dass sie so eine erbärmliche kleine Zicke ist«, sagte er leise zu Juliette hinüber. Weder ihr Vater noch ihre Mutter kamen zu ihr, mit einer Ausnahme, als Ken das Handy aus ihrer neuen Tasche nahm, blau, passend zum Kleid. »Kein Grund, die Telefonrechnung im Hotel auflaufen zu lassen. Wir wissen nicht, ob die Zeitung die auch begleicht. Aber wir wissen«, fügte er hinzu und gab das Handy seiner Frau, »dass sie das da bezahlen werden.« Juliette rief ihre Schwester an, um sich zu vergewissern, dass mit Frank alles in Ordnung wäre. Sylvie wollte alles über die Fernsehsendung erfahren, und ob sie wüssten, dass Ella die ganze Zeit in Sky News käme? Im Moment seien dort Zauberer dran, und einige behaupteten, das alles sei nur ein Trick und Betrug, ... aber ein paar andere seien genau gegenteiliger Ansicht und sagten, bei Ella sei alles echt. Sie sagten, sie glaubten tatsächlich, wahrhaftig und ehrlich, dass unsere Ella fliegen könne. Sylvie wusste nicht, was sie denken sollte - hatten sich die Fernsehleute das alles ausgedacht? Auch Frank durfte kurz mit seiner Mutter sprechen, er stellte die gleichen Fragen und klagte über Kopfschmerzen. Juliette wollte nicht reden. Sie war fast ebenso in sich gekehrt wie ihre Tochter. Sie war völlig durcheinander, wegen des ganzen Wirbels oder weil das alles so merkwürdig war, oder weil sie aus ihrem gewohnten Alltagstrott gerissen worden war. Vielleicht wollte sie auch einfach nicht in einem Hotelzimmer sitzen, nicht einmal in einem so luxuriösen wie diesem, weit weg von ihrem Sohn. Etwas beunruhigte sie. Ken brauchte nicht unbedingt zu wissen, was es war. 145
Gerade als Ken Ella befahl, ins Bett zu gehen, kamen die Blumen. Ein Portier brachte sie herauf - der Bote von Interflora durfte nicht in die Nähe des Zimmers. Das Bukett war nur mit Mühe, mit den Stängeln zuerst, in die Suite manövriert worden. Der Portier konnte den Strauß nicht einmal mit beiden Armen umfassen. Als er ihn an einen Tisch lehnte, sprengten mächtige gelbe Magnolien und Sonnenblumen das Zellophan. Sonnenblumen, im Januar. Ella schwang die Füße auf den Teppich und stürzte sich auf den an den Stängeln baumelnden Anhänger. Sie kniete nieder, als sie den Umschlag aufriss. »Es gibt noch mehr«, sagte der Portier. »Sie brauchen Vasen, jede Menge Vasen.« Und eine zweite Wagenladung Blumen blockierte die Tür. Ellas erste Aufregung war dahin, als sie Guntarsons Namen nicht entdeckte. »Von wem sind die? Dieser Brief da, stehen da die Namen drauf, der Absender?« Ella steckte die Karte zurück in die Blumen und stand langsam auf. Ein dritter Strauß mit gelben Gerbera und weißen Osterglocken, der an eine Servierplatte mit Spiegeleiern erinnerte, wurde gebracht. Sie ging wieder zum Fenster. »Sie hat es nicht lesen können«, sagte ihr Vater und zog die Karte heraus. »José Miguel Dóla steht da. Wer ist das? Itakername. Kennst du den?«, wollte er wissen. Aber Juliette schüttelte den Kopf. Die Blumensträuße reichten zusammen von der Tür bis zum Sofa. Wenn sie sie mit nach Hause nahm, dachte Juliette, könnte sie damit beide Zimmer im Erdgeschoss auslegen. Und die Blumen hatten bestimmt mehr gekostet, als Ken für die Teppiche bezahlt hatte. »José Dóla. Public Relations. 110c Kings Road SW1. Und da steht die Telefonnummer. Das Handschriftliche darunter kann ich kaum lesen, >Unterschreiben Sie nichts, bevor Sie nicht mit mir gesprochen haben. JMD.< Oh yeah. Ein Gauner. Der erste Geruch nach Geld. Schön. Tja, der kann mich mal.« Aber Juliette sagte: »Ich weiß, du hast recht, natürlich. Es tut mir Leid, ich würde ihn sehr gern anrufen und mich sehr herzlich für die Blumen bedanken. Weil er so viel ausgegeben hat. Diese Blumen gibt es gar nicht um diese Jahreszeit. Gerbera, sind die nicht hübsch? Und diese Oster146
glocken, sie sind durch ganz Europa hierher geflogen, da bin ich sicher. Vielleicht könnte ich ihn kurz anrufen und ihm sagen: >Die Blumen sind gut angekommen<« »Wäre besser«, antwortete Ken, »wenn das von mir käme.« Juliette öffnete Guntarson die Tür, als er klopfte. Er stieg über die Reste ihres Frühstücks, die auf Tabletts vor der Tür standen, und trat ein in einen Garten aus Schnittblumen. Auf jedem Tisch und jedem Regal in der Suite standen dicht gedrängt Gefäße, aus denen Stängel und Blüten quollen, Lilien, Rosen und Sonnenblumen. »Wow, das ist ja ein richtiger Urwald. Sind die alle vom Hotel?«, fragte Guntarson. »Wo ist Ella?« »Sie putzt sich die Zähne. Ich glaube, sie freut sich, Sie zu sehen. Kommen Sie herein, das ist das Wohnzimmer, es ist eine schöne große Suite. Ihre Zeitung ist wirklich sehr freundlich, Mr. Guntarson. Mein Mann ist da drüben.« Guntarson setzte ein frostiges Lächeln auf, um Ken zu begrüßen, doch er sah sich einem kleinen Mann mit schwarzen Haaren und einem weißen Anzug gegenüber. Um den Hals trug er eine scharlachrote Fliege, samtig und leuchtend, als wären es zwei von den Millionen Blüten, die er der Familie Wallis so großzügig hatte schicken lassen. Sein Aktenkoffer aus Krokodilleder lag auf dem Esstisch, Papiere quollen heraus. Ken Wallis saß da, ein Papier in der linken Hand und in der anderen einen schönen repräsentativen Mont-Blanc-Füller. José Miguel Dóla, zartknochig und klein, versperrte den Weg zu diesem Tisch. Guntarson, leidlich höflich, ergriff die ausgestreckte Hand des kleinen Mannes, aber er blickte über dessen Kopf hinweg und sagte: »Morgen, Ken. Frühstück war gut?« »Mir hat man gesagt, Ella habe das meiste gegessen. Ihre Abenteuer gestern haben offensichtlich für einen guten Appetit gesorgt«, sagte Dóla, der Guntarsons Hand festhielt, sodass er nicht weitergehen konnte. »Sie müssen der Bursche von der Post sein?« »Ich bin Dr. Guntarson.« »Und ich bin Dr. Dóla. Welch ein Glück - ein Doktorpaar.« Er sprach schnell mit einem hörbaren Akzent. »Sagen Sie Joe zu mir, ich bin kein 147
Freund von Förmlichkeiten. In der Post von heute Morgen habe ich Ihre Verfasserangabe gesehen. Sie schreiben mit starker Ausdruckskraft.« Guntarsons Lippen zuckten, als er eine Grimasse zu unterdrücken versuchte. Die Post bezahlte ihn gut für den reißerischen Stil, den die Zeitung verlangte, und er war nicht stolz darauf. Ella verdiente mehr Respekt. Die Obsession, die ihn zu Ella geführt hatte, verdiente mehr Respekt. Nach einem Medium wie ihr hatte er gesucht, seit er in ihrem Alter war. »Sie müssen uns entschuldigen. Die Wallis' und ich, wir haben eine Privatangelegenheit zu erledigen.« Dr. Dóla bemühte sich, die Sache so beiläufig wie möglich abzutun, doch seine Worte klangen unaufrichtig, und Guntarson wusste sofort, noch ehe Ken aufgeblickt hatte, dass die beiden bereits eine Übereinkunft getroffen hatten. »Die Lage hat sich inzwischen ein wenig verändert, Peter«, sagte Ken. »Gestern um diese Zeit war Ella so was wie eine Berühmtheit in Bristol. Heute spricht die ganze Welt von ihr.« »Weil ich sie entdeckt habe.« »Weil meine Ella ein einzigartiges Mädchen ist. Ja, Ihr Blatt hat sie groß herausgebracht und mit ihr viele Zeitungen verkauft. Aber seit heute Morgen müssen wir international denken.« »Selbstverständlich. Und ich glaube, Mr. Wallis, Sie werden feststellen, dass es keine größere internationale Gesellschaft gibt als Post Comm.« Guntarson suchte nach einer Hintertür. Er war hergekommen, um die Wallis' von Post Comm loszueisen und sie an sich zu binden. Nun musste er feststellen, dass ein anderer ihm bereits zuvorgekommen war. Er hätte niemals so lange warten dürfen. Er hätte Ella vom ersten Augenblick an fest an sich binden müssen. Jetzt konnte er im besten Fall noch hoffen, dass die Wallis' bei der Post blieben und er sie sich später unter den Nagel reißen konnte. »Sie wissen«, setzte er nach, »Post Comm heißt Zeitungen, Zeitschriften, Verlage, Radio- und Fernsehstationen, sowohl terrestrisch als auch Kabel, Filmstudios, sogar InternetProvider.« »Ein Unternehmen, mehr nicht«, sagte Ken. »Ein einziges. Und ich wette, sämtliche Unternehmen auf der großen weiten Welt würden gerne ein Stück von Ella und ihren Wunderkräften kaufen. Wenn sie es sich leisten können.« 148
»Ah! Geld! Ich dachte mir, dass Sie heute gern darüber sprechen möchten, Mr. Wallis. Das Team von Post Comm möchte Sie in der Zentrale in London/Wapping sprechen, in«, er blickte flüchtig auf seine Uhr, »genau fünfundvierzig Minuten - ich weiß, Sir Peregrine hat es Ihnen gegenüber erwähnt. Und ich bin sicher, Sie werden nicht enttäuscht sein von dem Paket, das unsere Rechtsanwälte geschnürt haben.« »Sie werden diejenigen sein, die enttäuscht sind.« »Die Post ist Ihrer Familie gegenüber außerordentlich hilfsbereit und zuvorkommend gewesen, Mr. Wallis«, sagte Guntarson in einem Ton, der unmissverständlich den Anflug einer Drohung enthielt. »Ich würde nicht empfehlen, zu diesem Zeitpunkt das Risiko einzugehen, auf dieses schützende Dach zu verzichten. Die Welt da draußen ist rau.« »Ich kann schon selbst auf meine Familie aufpassen«, knurrte Ken. »Ich glaube, Sie schätzen nicht richtig ein, wie verletzlich Ella sein kann.« »Ich glaube, dass Sie das absolut nichts mehr angeht.« Noch blieb Ken sitzen, aber er starrte drohend zu Guntarson hinauf. Dr. Dóla legte seine Hände so auf die Tischplatte zwischen den beiden Männern, dass nur die äußersten Spitzen seiner Nägel die lackierte Oberfläche berührten. »Mein Klient hat mir mitgeteilt, dass die Post es vorzog, diese Diamantader Stück für Stück abzubauen.« »Ihr Klient?« »In der Tat. Das heißt, Sie haben keine Vereinbarung getroffen, die einen unbeschränkten und alleinigen Zugang zu den Wallis' für einen bestimmten Zeitraum festlegt. Was mich in Anbetracht einer so offensichtlich außergewöhnlichen Story wie dieser überraschte.« »Wir haben Mr. Wallis eine beträchtliche Summe für Exklusivrechte bezahlt.« »Das waren Peanuts. Ich glaube, ich kann ehrlich behaupten, dass mich diese Blumen mehr gekostet haben.« »Sie sind so schön, sie sind viel zu teuer gewesen«, murmelte Juliette. Dr. Dóla lächelte und enthüllte dabei einen Rubin in seinem linken Eckzahn. »Madame Wallis, ich gestehe, ich habe mich selbst übertroffen. Ich unterhalte selbstverständlich eine innige Beziehung zu einer Reihe von Blumenhändlern. Das liegt im Interesse meines Berufs. Man weiß nie, ob nicht plötzlich ein entsprechender Anlass eintreten könnte, 149
sei es, dass man einen verärgerten Klienten besänftigen oder einem Sponsor seinen Dank ausdrücken muss. Blumen sind nie verkehrt. Aber in Ihrem Fall hatte ich das Gefühl, die Geste müsste spektakulär sein, wenn sie der Bedeutung, die die Gabe Ihrer Tochter verdient, gerecht werden sollte.« Dr. Dóla lächelte wieder. Seine Investition erfreute ihn ungemein. »Ich sah Ella im Fernsehen, und sofort rief ich jeden Blumenhändler an, mit dem ich zusammenarbeite. Wir entschieden uns für Tulpen aus Amsterdam, Rosen aus Jersey, Lilien aus dem Rhônetal - und ich muss sagen, Sie haben sie fantastisch dekoriert, Madame Wallis.« Juliette lächelte dankbar und vergaß zu erwähnen, dass Zimmermädchen vom Hotel die Arrangements gemacht hatten. »Sie sind PR-Fachmann, denke ich«, bemerkte Guntarson. »Gewisse Zeitungsredakteure bezeichneten mich in ihrem Hang zur Alliteration als Media Maestro.« »Dann werden Sie einsehen, dass die Post die Wallis' fest an sich gebunden hat.« »Niemand hat mich gebunden, Mann«, grollte Ken. »Richtig. Sie haben lediglich eine äußerst verschwommene Vereinbarung getroffen. Im Unterschied dazu habe ich eine äußerst klar umrissene Vereinbarung getroffen. Mr. und Mrs. Wallis äußerten sich höchst glücklich darüber.« »Und was meint Ella dazu?« »Sie meint das, was ich ihr sage, was sie zu meinen hat«, erklärte Ken. »Könnte sein, Mr. Wallis, Sie stellen fest, dass das Kind Ihnen über den Kopf gewachsen ist.« »Ella ist vierzehn«, ließ sich José Dóla vernehmen. »Es wird noch einige Zeit dauern, bis sie der Vormundschaft entwachsen ist.« »Hat jemand sie gefragt?« Ella kauerte still in dem Durchgang, der ins Wohnzimmer führte. Sie hörte das, worauf es ankam - nur eine Person kümmerte es, was sie fühlte. Peter war hier, und er setzte sich für sie ein. Ein letztes Mal wischte sie die Lippen an ihrem Ärmel ab, um ganz sicherzugehen, dass sie das Erbrochene vom Frühstück vollständig beseitigt hatte. Nicht einmal Peter sollte wissen, dass sie sich erbrach. »Ich bin sicher, Ella sieht ein«, sagte Dr. Dóla, »dass ihre Eltern natürlich nur ihr Bestes wollen.« 150
»Ich mag Sie nicht«, sagte Ella. Dóla fuhr herum. Bis jetzt hatte er das Wunderkind noch nicht gesehen. Sie war schmächtiger, als er sich vorgestellt hatte. »Ich mag Peter.« Dr. Dóla runzelte leicht die Stirn. »Ich freue mich, dich kennenzulernen, Ella. Ich bin gekommen, um dir durch eine schwere Zeit zu helfen.« »Ich weiß, warum Sie hier sind. Sie wollen Geld verdienen.« »Ella, halt den Mund, bis du gefragt wirst.« Sie zitterte, sie nahm all ihren Mut zusammen, um ihrem Vater die Stirn zu bieten. Dann platzte sie heraus: »Sie möchten gut riechen und duften, aber darunter stinken Sie!« Dr. Dóla blieb der Mund offen stehen. Dieser Anblick brachte Guntarson noch mehr zum Lachen als das Schauspiel einer wütenden Ella. »Ella, noch ein Wort ...«, warnte Ken. »Tut mir leid, dass du mein Aftershave nicht magst.« Dem Doktor gelang es, wenigstens einen schlechten Witz darüber zu machen. »Mir scheint, du kannst mich nicht riechen.« »Ich meine nicht, wie Sie in Wirklichkeit riechen«, sagte Ella widerwillig. »Schön. Dafür bin ich dankbar. Ich hoffe, wir können Freunde sein.« Ellas Augen füllten sich bis zum Rand mit Tränen der Wut. Ihr fehlten die passenden Worte, um ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Dr. Dólas Ausstrahlung und was sich hinter seinem Charme verbarg war weniger schön, wie bei einem Mann, der seinen Körpergeruch mit Eau de Cologne erstickte. »Ella, du tätest gut daran, nett zu Dr. Dóla zu sein. Er sorgt dafür, dass wir viel Geld kriegen.« »Ich will kein Geld.« »Nein, du lebst lieber von der Luft.« »Ich werde nichts tun, außer mit Peter.« »Ella«, bat Dr. Dóla sie ruhig, »komm her und setz dich an den Tisch.« Aber sie schüttelte den Kopf und wich zurück in den Durchgang. »Du hast eine seltene Gabe. Einzigartig. Ein Kind wie dich hat es noch nie gegeben.« »Ich will nicht so sein, nicht einzigartig! Ich will so sein wie alle an151
deren.« Sie war in Rage, und sie würde sagen, was sie wollte. Sie konnte ihnen die Stirn bieten, weil Peter da war. »Ich meinte, deine Gabe ist einzigartig. Ich weiß, du bist eine sehr nette, sehr normale junge Dame. Aber das interessiert die meisten Leute nicht. Sie wollen dich ausbeuten und ausnutzen und ausnehmen, und die wirkliche Ella Wallis interessiert sie ganz und gar nicht. Ich kann das verhindern. Ich kann dafür sorgen, dass du die Kontrolle behältst.« »Dr. Dóla ist Profi. Er ist der Beste, er kann dich jederzeit in die BBC bringen. Und die BBC genießt in der ganzen Welt Respekt - stimmt's, Joe?«, sagte Ken. »Zeigen Sie ihr die Fotos, Joe. Er hat Fotos dabei von allen seinen prominenten Klienten - von den Royals, und dem Captain der englischen Nationalmannschaft und Rennfahrern und den Space Girls. Du solltest dich glücklich schätzen, dass er überhaupt etwas mit dir zu tun haben will.« »Ich will Peter«, sagte sie wieder. »Sie will mich«, wiederholte Guntarson mit Nachdruck. Er hatte gewonnen. Er hatte bereits gewonnen, bevor er das Zimmer betreten hatte. Dumm von ihm, das nicht erkannt zu haben. Diese ganze Heuchelei über die wunderbare Post Comm - er hätte sich keine Sorgen machen müssen. Ella wollte ihn. Ihn, Guntarson. Niemanden sonst. Mochte Ken Wallis ein Papier unterschrieben haben, das ihn für zehntausend Jahre an Joe Dóla band. Na wenn schon. Ken war nicht Ella. Ohne Ella konnte er gar nichts machen. Aber in einer Beziehung war Ken auf dem richtigen Weg. Die potenziellen Einnahmen von Ella waren unmöglich zu schätzen. Niemand hatte auch nur die leiseste Ahnung, wozu sie fähig wäre, wenn sie richtig trainiert wurde, wenn sie untersucht wurde, wenn sie gefördert wurde. Was Ella brauchte, war ein Freiberuflicher. Ein PR-Guru. Einer, der jeden kannte. Einer, der den Wert eines Vertrags kannte. Einer, der Millionen aus Post Comm herausholte, bevor Ella auch nur einen Finger levitieren musste. Einer wie Joe Dóla. Aber wenn Ella Joe Dóla ablehnte und nicht mit ihm kooperierte, dann war sie weniger als nutzlos. Aber Ella war nicht nutzlos, wenn Guntarson bei ihr war. Bei ihm hatte Ella von Anfang an funktioniert - Telepathie, Levitation, sogar ein152
fach den Mund aufgemacht und gesprochen. Er setzte sie in Gang. Er war ihr Ermöglicher. All das schoss ihm im Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf. Die Geschwindigkeit der Gedanken, der elektrischen Impulse, reicht fast an die Lichtgeschwindigkeit heran, übersteigt sie vielleicht sogar. Guntarson sah das Licht. »Ella braucht mehr als Ihre Kontakte zu den Medien«, sagte er. »Sie hat etwas Besseres verdient als Post Communications«, gab Dóla zurück. »Sie braucht einen Ermöglicher.« »Einen was?« »Jemand, der die richtige Atmosphäre schafft, in der sich ihre Kräfte entfalten. Einen Katalysator, einen Auslöser, einen Vertrauten, wenn Sie so wollen. Jemand, der die magische Kraft zum Fließen bringt.« Er lehnte sich zurück. Auf der Couch lümmelnd, lächelte er Ella siegessicher zu. Und sie lächelte zurück. »Wollen Sie allen Ernstes behaupten«, fragte Dóla mit unüberhörbarer Ironie, »dass Ella ihre paranormalen Kräfte nur dann hervorbringen kann, wenn jemand von der Post dabei ist?« »Vergessen Sie die Post. Sie können bei der Post anrufen und sagen, sie sollen schon mal eine Stellenanzeige für meinen Nachfolger aufgeben.« »Rufen Sie selbst an«, sagte Dóla. Der süßlich-klebrige Charme schwand dahin. »Ella, wärst du glücklich, wenn ich nicht da wäre?« Sie schüttelte den Kopf, Angst stand in ihren Augen. »Würdest du dich sicherer fühlen, wenn wir uns zusammentun? Wie ein Team?« »Meine Ella war schon übersinnlich, bevor Sie da waren, Mann«, sagte Ken. Aber Ella lächelte und nickte. Im Kopf hörte Guntarson sie rufen: »Freunde! Freunde!«
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KAPITEL 19
The Independent, Freitag, 15. Januar: Es hat den Anschein eines Wunders. Ein müheloser Aufstieg, ohne sichtbare Hilfsmittel, den gesunden Menschenverstand ebenso herausfordernd wie die etablierten Gesetze der Naturwissenschaften der unaufhaltsame Weg nach oben von José Dólas Karriere entzieht sich jeder Erklärung. Mit sechsundvierzig hat der PR-Guru aus Porto, Portugal, seinen größten Coup gelandet, einen Exklusivvertrag mit dem übersinnlichen Wunderkind Ella Wallis. Unter den Augen der empörten Chefs des Mediengiganten Post Communications ist Dóla mit deren paranormalem Schützling durchgebrannt - und sicherte sich, so die Gerüchte, erstaunliche fünfundzwanzig Prozent ihrer Einnahmen nach Eingang der ersten Million Pfund. Dóla verlor keine Zeit, um den Schleier des Geheimnisses über den rätselhaftesten Fall von Paranormalität zu werfen, von dem die Welt je erfahren hat. Die vierzehn Jahre alte Ella und ihre Familie wurden von ihrer Hotelsuite in Kensington zu einem geheimen Ort außerhalb Londons gebracht, angeblich, um sie vor dem Ansturm der Medienleute aus aller Welt zu schützen. Der aufgebrachte Herausgeber der Daily Post, Sir Peregrine Parrish, der gestern Morgen einen Vertrag mit den Wallis abschließen wollte, der sie für die nächsten zwei Jahre an Post Communications gebunden hätte, ging angeblich bereits zum Gegenangriff über und hat ein professionelles Medium, Bill Durrant, angeheuert, der Dólas Schlupfloch aufspüren soll. Durrant bezeichnet sich selbst als »außerkörperlichen Privatdetektiv« und imstande, den Aufenthaltsort vermisster Personen zu visualisieren mithilfe einer Technik, die als »Remote Viewing« bekannt ist, dem Sehen aus der Ferne. Parrish hat auch ein Blutvergießen angeordnet, inzwischen ein Ritual unter seiner Ägide, das er jedes Mal abhält, wenn ihm eine gute Exklusivstory durch die Lappen geht. Erstes Opfer war diesmal der Starreporter Peter Guntarson - der anscheinend morgens im Teesatz ge154
lesen hat, denn er faxte seine Kündigung bereits zwanzig Minuten früher, als die Post erfuhr, dass sie die Story verloren hat. Sir Peregrine, der einmal Knall auf Fall ein gesamtes Redaktionsteam entlassen hat, indem er sich auf einen Schreibtisch stellte und brüllte: »Ihr seid alle ....er«, wurde erst nach über drei Stunden von Guntarsons Flucht in Kenntnis gesetzt. So lange dauerte es, bis die Redakteure genug Mut aufbrachten und eine Sekretärin bestachen, die das belastende Fax in Parrishs Büro schleuste. So die Gerüchteküche. Um sechs Uhr gestern Abend waren Tausende solcher Geschichten in den Londoner Redaktionen im Umlauf und gingen hinaus an Press Association und Associated Press und Reuters. Geschichten, die aus dem Nichts auftauchten und sich ständig weiter aufbliesen, trotz der halbherzigen Versuche der Skeptiker, sie zu widerlegen. Spaßvögel meinten, José Dóla habe spezielle Leckerbissen per Telepathie in die Gerüchteküche übertragen. Das mag sein - aber er vertraut doch eher auf die konventionellere Pressekonferenz und präsentiert Ellas Eltern heute um 11 Uhr im South Bank Centre in London den kritischen Blicken der Medien. Ella, das Wunderkind, wird nicht anwesend sein. Offiziell heißt es, sie sei zu sensibel, um ein Kreuzverhör in einem Saal voller durcheinanderschreiender Presseleute durchzustehen. Inoffiziell möchte Dóla den hemmungslosen Bieterwettstreit der TV-Kanäle für die Übertragung von Ellas nächster Demonstration nicht gefährden. Im Moment sieht es so aus, als habe sich Sky zusammen mit der US-Schwesterstation, Fox, mit dem Gebot von zwei Millionen Pfund die Rechte gesichert, doch das kann sich aufgrund des massiven Interesses der großen USSender - NBC, CBS, ABC - jederzeit ändern. Ella wird ähnlich verkauft wie ein Preisboxer von einem Boxpromoter, aber sie muss abgeschirmt werden. Der Stress einer Pressekonferenz, die noch dazu genau gegenüber auf der anderen Seite der Themse von der zweifellos paranormalen Turmspitze Big Ben stattfindet, könnte schließlich dazu führen, dass sie wieder ihren Levitationsmodus einschaltet. Und die Welt hätte eine kostenlose Show. Und bevor sich weitere Wunder ereignen, möchte José Dóla seinen wunderbaren Vertrag fest unter Dach und Fach haben.
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Daily Telegraph, Freitag, 15. Januar: Auf Gruppenfotos von Prominenten ist er der Mann am Rand. Hingerissen lächelnd, makellos gekleidet, aber nie mittendrin. Nie der Mittelpunkt des Bildes. Das ist kein Zufall. Dr. José Dóla hat die Technik perfektioniert, kurz bevor die Auslöser klicken, blitzschnell einen Umstehenden in den Vordergrund zu schieben. »Kommen Sie, kommen Sie«, ruft er, »die Leute sollen Sie sehen. Kein Mensch will meine hässliche Visage sehen. Herrlich, was für ein ausgefallenes Kleid, das muss aufs Bild!« Er hat unzählige solcher Phrasen auf Lager. Alle erfüllen ihren Zweck. Derjenige, dem schmeichelhafterweise für dieses Foto die Rolle des Stars zugeschoben wird, ist entweder bereits ein Klient von Joe Dóla oder wird es bald sein. Wen der Doktor will, den kriegt der Doktor. Den Trick, sich unsichtbar zu machen, beherrscht er auch in seinem Privatleben. Noch nicht einmal seine engsten Mitarbeiter kennen seine Frau, Carmilla, oder werden in sein Queen-Anne-Stadthaus in Kensington eingeladen. Seine halbwüchsigen Söhne, José und Ricardo, sind im Internat in Marlborough - einer Schule, die von so vielen Sprösslingen illustrer Eltern besucht wird, dass die Dóla-Jungs dort praktisch übersehen werden. Dóla behauptet, seine Zurückhaltung sei Teil des erfolgreichen modus operandi. Wenn sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf einen seiner Klienten richtet, möchte er nichts davon auf seine Person lenken. Das würde den Effekt verringern und damit seine Effektivität. Aber schüchtern ist er gewiss nicht. Mit seiner Kleidung will er Eindruck machen - seine Anzüge sind weißer als Dulux Gloss, die Fliegen so grell wie die Reklame in Las Vegas. Seine Zähne hat er überkronen lassen, einen schmückt ein runder Rubin. Der Besuch bei seinem Friseur in der Soho Street, unfehlbar um 9.30 Uhr jeden Montagmorgen, sorgt dafür, dass seine Haare ihre lackschwarze Farbe behalten. Der Sohn eines bekannten Geschäftsmannes aus Porto, Portugal, sollte eigentlich das von seinem Großvater, Jesus Juan Dóla, 1922 gegründete Familienunternehmen übernehmen, das sich mit dem Export von Kork beschäftigt. Aber als er Anfang der Siebzigerjahre in Paris Jura studierte, begann er an einem Lebensstil Gefallen zu finden, der in Porto nicht so leicht zu verwirklichen ist. Angezogen von der Aus156
sicht auf gute Mittagessen wie auch von den potenziellen Verdienstmöglichkeiten, trat er in die Werbung ein. Heute erzählt er gern, seine erste Lohntüte habe gerade mal 47,60 Pfund enthalten. Dóla behauptet, er habe sein Studium abgeschlossen und trage den Titel docteur de droit zu Recht, obwohl keine diesbezügliche Bestätigung der Universität existiert. Wie auch immer, sicher ist, dass Joe Dóla niemals als Anwalt praktiziert hat. Seine Familie hatte selbstverständlich niemals etwas dergleichen von ihm erwartet. Noch hatte sie erwartet, dass der Firmenerbe eine Stellung als Werbetexter für 47,60 Pfund in der Woche annimmt. Er wechselte rasch vom Werbetexter in den PR-Bereich, allerdings erst, als er das »Dial-a-Smile«-Logo erfunden hatte, das den Fernmeldebereich der britischen Post bis zur Gründung der British Telecom begleitet hat. In der Zwischenzeit heiratete er Carmilla da Portelegre, die Tochter eines Freundes der Familie und die Frau, die seit zwanzig Jahren diskret an der Seite des Doktors geblieben ist. Ihr erstes Kind, ein Mädchen, starb drei Tage nach der Geburt. Es wurde in einer Nottaufe am Bett auf den Namen Maria Anna getauft. Zwei gesunde Söhne folgten, und eine Zeit lang gingen Freunde davon aus, Dóla würde ganz im Zeichen portugiesischer Tradition Vater einer Dynastie. Aber der Schock über den Verlust eines Kindes schien Vorsicht geweckt zu haben, und Mitte der Achtzigerjahre gab Dóla freimütig bekannt, er habe sich einer Vasektomie unterzogen. Seiner Vitalität tat das keinen Abbruch. Vom PR-Talent hatte er sich zum Genie für schamlose Promotion entwickelt. Kein Klient war Dóla zu schäbig, kein Bereich zu geschmacklos. Junge Frauen, die die Frucht der Liebe von Earls erwarteten, Drogenabhängige, die heimlich Videos von Rockstar-Orgien aufzeichneten, verurteilte Betrüger, die mit weniger hochrangigen Mitgliedern der königlichen Familie dubiose Geschäfte machten - solche Leute sind das Rückgrat seiner Agentur. Anfang der Neunzigerjahre hat er sich einen besonderen Ruf bei den professionellen Geliebten erworben. Großbritanniens Schattenwirtschaft profitiert stark von diesen Frauen - und Dóla sagt gerne, gebe es diese Damen nicht, würde die Nation kollabieren. Ob er zu den wenigen moralisch Gefestigten gehört, die sich von ihnen fernhalten, das sagt er nicht. 157
Zu den professionellen Geliebten, die er vertritt, gehört Lady Alicia Stedding, die Witwe des Baronets, deren Buch mit eindeutigen Fotos zwei Minister des Kabinetts, ein Dutzend Peers und einen Sportkommentator beim Liebesspiel zeigte. Zsuzsa Peppar, eine ungarische Schauspielerin, die das Bett mit einer Polizeipräsidentin und ihrem Ehemann teilte, ist ebenfalls seine Klientin. Sein Vertrag mit Ella Wallis und ihrer Familie könnte den Sprung auf ein moralischeres Niveau bedeuten. Bleibt abzuwarten, ob Joe Dóla das fliegende Medium auf seine Ebene hinunterziehen wird. »Lesen Sie die Zeitungen nicht«, riet Dr. Dóla Ellas Eltern. »Sehen Sie sich an, ob und wie viel geschrieben wird, aber lesen Sie die Berichte nicht. Sie werden sonst nur wütend. Alles wird falsch dargestellt. Ich glaube, ich habe noch keinen Artikel gelesen, in dem jeder Fakt korrekt war. Am liebsten würde man zum Hörer greifen und jeden Fehler sofort richtigstellen lassen. Aber dann drucken sie schlicht noch mehr dummes Zeug. Und wenn Sie in diesem Land Klage wegen Verleumdung einreichen, kann es leicht passieren, dass Sie bankrottgehen. Glauben Sie mir, ich kenne das. Am besten, man ignoriert das alles und beschäftigt sich stattdessen damit, das Geld zu zählen.« »Ich muss die Zeitungen lesen«, sagte Ken listig. »Wir möchten schon wissen, ob Sie unser Mädchen reich und berühmt machen.« Er lümmelte auf dem großen beigefarbenen Ledersitz einer Mercedes 600-V-12Stretchlimousine, die von einem Chauffeur gefahren wurde, und hatte ein Mahagonitischchen über seinem Schoß heruntergeklappt, auf dem ein Glas Champagner stand. Ken trank fast nie Alkohol. Es war eine Schwäche, eine Versuchung der Hölle, der die Frauen erlagen. Er wusste, dass Juliette gern einen Drink mehr nahm, mehr als ihr guttat. Er war stärker. Aber das war ein Mercedes, eine Limousine mit uniformiertem Chauffeur mit Mütze und allem. Da gehörte ein bisschen Champagner dazu. »Seht mich an«, rief er und nippte an dem perlenden Getränk. Er verzog das Gesicht. »Gleichzeitig trinken und fahren!« Dr. Dóla lächelte. Jeder machte diesen Witz. Er saß in dem angebauten Heck, das als Rücksitz galt, zusammen mit Juliette, die laut auf158
lachte, damit keiner das Zischen hörte, als sie sich ein weiteres Glas eingoss. »Reich und berühmt, Ruhm und Reichtum«, wiederholte der Doktor. »Reich sein, darauf kommt es an. Berühmt sein ist nur ein Teil der Methode zum Reichwerden. Wenn Sie berühmt sind, machen die Zeitungen Auflage mit Ihnen, mit Ihnen werden Bücher und Filme und Videos und CDs verkauft, und damit bringen Sie den Leuten Geld ein. Mein Job ist es, dafür zu sorgen, dass Sie einen gerechten Anteil bekommen. Aber das Berühmtsein macht Ihnen vielleicht nicht allzu viel Freude. Ich möchte Sie nur warnen. Es kann nerven, ständig erkannt zu werden. Die Leute jagen hinter Ihnen her, um sich ein Autogramm zu holen. Vielleicht bekommen Sie es sogar mit Stalkern zu tun. Die Paparazzi verbeißen sich in Sie. Sie dringen in Ihre Privatsphäre ein. Ständig schreien sie einem ihre ewig gleichen Scherze entgegen. Bei mir heißt er: >Wen erpressen Sie heute?< Sehr unfair, weil ich niemanden erpresse. Ganz im Gegenteil. Ihrer Tochter wird es vermutlich nicht gefallen, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Wir müssen sie so gut es geht abschirmen. Ohne ihr Verdienstpotenzial zu schmälern. Sobald sie eine Straße entlanggeht, werden die Leute schreiben: >Los, flieg für uns herum. Zeig uns deine Flügel. Mach schon, schwebe wie ein Helikopter<« »Sie kann sie einfach ignorieren«, meinte Ken. »Es wird heute viele Fragen zu Ella geben«, fuhr Dóla fort. »Haben Sie sich überlegt, was Sie darauf antworten werden?« »Ich übernehme das Reden«, sagte Ken. »Juliette wird nichts sagen ohne mein Einverständnis.« »Gut. Es ist leichter, wenn sich alle auf eine Person konzentrieren. Aber Sie sollten sich einfühlsam über sie äußern. Denken Sie >stark und liebevoll< Okay? Sie wollen doch nicht, dass die Ihnen unterstellen, Sie würden Ella ausnutzen. Exakt das Gegenteil - Sie beschützen sie. Beschirmen Sie vor einer feindlichen Welt. Darum kommt sie nicht zu dieser Pressekonferenz. Steht nicht im Scheinwerferlicht.« Ella hielt sich in einem sicheren Haus auf. Niemand wusste, wo sie war - niemand außer Guntarson, der bei ihr war. Als Babysitter. Das Haus gehörte einem skandinavischen Bekannten Dólas, der es nur sechs Wochen im Jahr nutzte und es ansonsten dem PR-Mann unentgeltlich zur Verfügung stellte. Für Dóla war es eine steuerfreie Vergünstigung - für den Skandinavier, dessen Ex-Geliebte eine kurze und be159
dauerliche Zeit lang eine Klientin von Joe Dóla gewesen war, eine bequeme Möglichkeit, eine Schuld zu begleichen. Dóla benutzte das Haus regelmäßig, und die Welt würde nie etwas über den Skandinavier und seine Ex-Geliebte lesen. Das Haus war als eines der Schlupflöcher des Doktors bekannt, Ella würde dort nicht auf ewig unbemerkt bleiben. Die Reporter würden sie finden. Für ein paar Tage, bis sich zwischen Dóla und den Wallis' alles eingespielt hatte, war das Haus aber wohl sicher genug. Juliette leerte die Champagnerflasche. Ihre nervösen Finger drehten den Flaschenhals hin und her. »Und noch etwas. Erwähnen Sie diesen Freund nicht, diesen Peter. Ich bin mir noch nicht im Klaren, wie er da hineinpasst.« »Gar nicht«, sagte Ken. »Sie mag ihn. Sie braucht Leute, die ihr Selbstvertrauen geben, die ihr helfen, sich weiterzuentwickeln. Sie wollen doch nicht, dass sie unter diesen grellen Scheinwerfern immer kleiner und kleiner wird. Aber wir werden aufpassen und genau darauf achten, was er zu ihr sagt. Sie ist sehr empfänglich, fürchte ich, für Gedanken, die er ihr eintrichtert.« »Dieses Mädchen hatte noch keinen einzigen Gedanken im Kopf, ihr Leben lang nicht.« »Mr. Wallis.« Dr. Dóla klang ausgesprochen ernst. »Wenn die Reporter anfangen, Ihnen Fragen zu Ihrer Tochter zu stellen, möchte ich von Ihnen nur das Allerpositivste hören.« »Ich werde nicht fernsehen«, versprach Ella. »Und ich werde keine Zeitung lesen.« Sie stand am Fenster und sah zu, wie der dicht fallende Regen den Garten in ein Kaleidoskop verwandelte. Der Rasen und die schlanken Pappeln flossen ineinander, und der unter Wasser stehende Kiesweg verbreiterte sich bis zu der hohen Steinmauer, die das Grundstück umgab. In der Doppelverglasung konnte sie, ein bisschen verschoben, zwei unscharfe Spiegelbilder von sich selbst sehen. Über ihrer Schulter flimmerte ein Fernsehapparat. Ohne hineinzusehen, flegelte Guntarson im Sessel, ein Bein über die Armlehne gelegt, den Telegraph in der Hand. »Du musst dich daran gewöhnen, dass du der Boss bist«, sagte er. »Was du sagst, wird gemacht.« 160
Sie schwieg lange. Die Pappeln neigten sich im heftigen Wind zu ihr her, Windstöße drangen durch die schlecht schließenden Fenster und bewegten die Vorhänge. Da, wo sie stand, war es kalt. Das Fenster, zweimal so hoch wie sie, erhob sich weit hinauf zu einem Bogen. Sie sah sehr klein aus zwischen den verblassten gelben Satinvorhängen, die das Fenster einrahmten wie Doppelsäulen. Das Zimmer war mit acht oder zehn Sesseln möbliert, und es war noch reichlich Platz für mehr. Eine lang gezogene Anrichte, schwarz vor Alter und grob geschnitzt, stand gegenüber vom Kamin neben einer der beiden Türen. Ella war noch nie in einem solchen Zimmer gewesen. Sie vermutete, das Haus müsste so was wie ein Herrensitz sein, der der Öffentlichkeit zugänglich war, wie sie es auf Videos in der Schule gesehen hatte, aber es waren keine Touristen da. Das Haus schien trocken und war nicht schmutzig, aber als sie ankamen, war niemand da. Keiner, der sauber machte oder kochte. Nicht einmal ein Butler. Das Frühstück hatte ein Junge in einem Lieferwagen gebracht. »Ein großes Haus«, sagte sie schließlich. Guntarson lachte und verrenkte sich den Hals, um über die Rückenlehne zu ihr hinüberzusehen. »Möchtest du es erkunden? Im zweiten Stock habe ich eine Rüstung gesehen.« Sie mochte es, wenn er lachte. Sein Lachen war tief und voll. Sie hätte ihn gerne wieder zum Lachen gebracht, wusste aber nicht wie. »Außer uns ist keiner da«, bemerkte sie. »Nein. Wir können in jeder Schublade herumstöbern und keiner kann uns daran hindern.« Der Gedanke an so viele Räume schüchterte sie ein. So viele Menschen, die darin gelebt, sie benutzt hatten. Die sich im Haus ausgekannt hatten. Räume, die es seit Hunderten von Jahren gab. »Bleiben wir lieber hier.« Achselzuckend pflichtete er ihr bei: »Wir wollen die Pressekonferenz nicht verpassen. Sie müsste jetzt fast vorbei sein - in den nächsten Kurznachrichten werden sie was bringen. Ich wette, deine Mum und dein Dad waren nervös.« »Mein Dad hat nie Angst.« »Ich hätte Angst gehabt.« Ella drehte sich um und sah ihn mit Stolz erfüllt an. Noch nie hatte ein Mann ehrlich mit ihr gesprochen - ihre Lehrer und ihr Dad, ihr On161
kel Robert, alle speisten sie mit Allgemeinplätzen ab. Sie war nie wert gewesen, dass sie sich die Mühe machten, die Ehrlichkeit verlangte. »Ich hatte Angst«, sagte sie. »Ich habe mir vor Angst in die Hosen gemacht bei diesem Fernseh-Ding.« Guntarson brach in Gelächter aus. »Du hast was? Ich dachte, so perfekt, wie du bist, würdest du solche Wörter nie gebrauchen.« »Warum glaubst du, dass ich perfekt bin?« Er lachte immer noch, jetzt über ihr überraschtes Gesicht. »Weil du so aussiehst.« Jetzt zog er sie auf. »Ich bin nicht perfekt«, sagte sie ernsthaft. »Du täuschst dich.« »Du musst schon ziemlich perfekt sein, sonst könntest du nicht schweben. Sonst würde dich das Gewicht deiner Sünden herunterziehen. Aber vor Fernsehkameras brauchst du keine Angst zu haben. Es war mein Fehler, ich hätte dir beistehen sollen. Tut mir leid. Das nächste Mal werde ich mehr von Nutzen sein.« Er lachte, er war ehrlich zu ihr, er sagte, sie sei perfekt. Und sie war allein mit ihm in diesem Haus. Ella dachte, sie hätte wirklich allen Grund, glücklich zu sein. Und sie würde alles versuchen, damit auch Peter glücklich wäre. »Denn es wird nächste Male geben - ich will jede Menge Filme und sie der ganzen Welt zeigen. Filme über dich beim Levitieren, Filme beim Gedankenlesen, über das Erscheinen von Gegenständen. Wir werden sehr sorgfältig vorgehen und genaue Aufzeichnungen machen, um den engstirnigen Wissenschaftlern deine PK-Energien zu demonstrieren. Psychokinetische Kräfte. Niemand wird sie mehr leugnen können.« »Wenn du das willst - ich mache das für niemand sonst, verstehst du. Nicht für diesen Doktor, den mein Vater angeschleppt hat. Auch nicht mehr bei Talkshows. Ich mache es nur für dich.« Guntarson legte seine Zeitung weg, beugte sich vor und sah Ella aufmerksam an. »Wenn du wirklich Angst hast, müssen wir etwas dagegen tun.« »Vor dir habe ich keine Angst.« »Das ist gut. Ich fühle mich geehrt.« Jetzt zog er sie nicht auf. »Aber niemand wird deiner Gabe Beachtung schenken, wenn du sie nicht vor vielen Leuten demonstrierst. Für mich allein genügt nicht. Ich werde immer in der Nähe sein, bei dir, wenn du das willst.« Ella nickte. Genau das wollte sie. 162
»Aber ich möchte, dass du du selbst bist, dass du ganz natürlich bist, auch wenn andere Leute dabei sind. Hast du davor Angst?« »Ich weiß nicht.« »Bist du schon einmal hypnotisiert worden? Weißt du, was Hypnose ist? Ich meine nicht das, was Fernsehunterhalter machen. Kein dummes Zeug. Richtige Hypnose.« »Ich war nie hypnotisiert«, sagte sie bekümmert. »Das ist nicht der Grund, warum ich levitiere.« »So habe ich es nicht gemeint.« »Meine Freundin, also dieses Mädchen aus meiner Klasse, Flora, ihr Bruder hat einen Hypnotiseur gesehen, als er im Ritzy's in Bristol war. Und er sagte, diese Frau war hypnotisiert, und sie musste eine Zwiebel essen, und sie dachte, es wäre ein Apfel und ...« »Das habe ich nicht gemeint.« Guntarson lächelte - es ging nur langsam voran mit den Gesprächen mit Ella, aber zumindest gewann er ihr Vertrauen. Noch nie hatte er sie so viele Wörter hintereinander sprechen hören. »Ich werde dich keine Zwiebeln essen lassen.« »Wirst du mich hypnotisieren?« »Nur, wenn du es willst.« »Kannst du es denn?« »Ich bin gut darin. Ich habe es auf der Universität ständig gemacht. Hypnose bedeutet nicht, dass du die Kontrolle verlierst, du erlangst vielmehr die Kontrolle. Sie macht deinen Geist stärker.« Ella sah ihn unsicher an. »Ich verspreche dir, dass du absolut sicher bist.« Mehr brauchte sie nicht zu wissen. »Ich möchte, dass du mich hypnotisierst«, sagte sie.
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KAPITEL 20
I
ch werde nichts weiter tun«, sagte Guntarson, »als dafür sorgen, dass du dich entspannst. Dir wird nicht komisch werden, du wirst nicht bewusstlos sein oder so was. Du wirst dich an alles erinnern, was ich zu dir sage, und an alles, was geschieht.« Er schwang seine Beine von der Sessellehne und ließ sich auf den Teppich fallen. »Komm her und knie dich neben mich. Oder setz dich mit gekreuzten Beinen hin, wenn dir das bequemer ist.« Ella trug ein imitiertes Hard-Rock-Café-T-Shirt über gerade geschnittenen, relativ locker sitzenden Jeans. Sie hockte sich hin und faltete die Hände in ihrem Schoß. Ihre Gesichter waren nicht mehr als zwei Fuß voneinander entfernt. Mit der Fernbedienung machte Guntarson den Fernsehapparat aus. Seine Stimme war sanft, er sprach jedes einzelne Wort sehr deutlich aus. »Du entspannst dich, alles, was dich umgibt, wird dir stärker bewusst. Die Geräusche im Zimmer werden klarer. Deine Gedanken werden klarer. Alles wird reiner und stärker. Ich sehe in deine Augen. Du siehst in meine. Ich möchte, dass du dir jeder Feinheit in meiner Stimme bewusst bist. Du hörst jede winzige Nuance in jedem Wort. Jeder Ton ist für dich klarer als Wasser.« Ella hörte das Prasseln des Wassers gegen das Fenster. Regentropfen schlugen klatschend auf den Kiesweg. Irgendwo im Haus, auf einer anderen Etage, tickte eine laute Uhr. »Atme langsam und tief ein. Du spürst die leichte Kühle der Luft, die durch deine Nase zieht. Spürst, wie sich deine Lunge dehnt. Das ist Sauerstoff. Mit jedem Atemzug nährst du deinen Körper. Halt den Atem an, und nun lass ihn langsam aus deinem Mund strömen. Die ganze Anspannung entweicht mit dieser Luft. Du spürst, wie sich deine Schultern senken. Die Spannung, die sie nach oben gepresst hat, weicht von dir. Du atmest wieder ein, dein Rücken ist gerade. Du spürst die Kraft deiner Muskeln. Diese Stärke und Kontrolle, in vollkommener Ruhe. So fühlt sich dein Geist. Entspannt und stark. Entspannt und in Kontrolle. Du hast nicht das Gefühl, als hätte ich dich hypnotisiert, oder?« »Du hast noch gar nicht angefangen.« 164
»Ich bin fertig. Sonst mache ich nichts. Dein Geist ist sehr empfänglich, Ella. Es ist ein sehr starker Geist. Er folgt mühelos, wenn die Instruktionen gut sind.« »Wirst du mit den Fingern schnippen oder so, wenn wir aufhören?« »Wir sind in einem Zustand der Entspannung. Wenn wir ihn beenden wollen, sage ich es dir. Jetzt will ich, dass du jeden Atemzug bewusst atmest. Und wenn du so weit bist, spürst du, wie du ausatmest und all die Angst und die Furcht strömen aus dir heraus.« Er lehnte sich zurück und stützte sich mit einer Hand hinter sich auf dem Boden ab. Ihre Augen waren immer noch auf die seinen fixiert, aber ihre Aufmerksamkeit konzentrierte sich voll und ganz auf jeden Atemzug. Auch Guntarson war entspannt. Er sah jede Feinheit ihres Gesichts, als wäre jedes Härchen ihrer Augenbrauen mit einem separaten Pinselstrich gemalt worden. Sie schien unwirklich, wie eine Statue. Er war überrascht, dass er keine sexuellen Gefühle für sie empfand. Sie schien jetzt leicht von oben auf ihn herabzublicken. Guntarson wandte seinen Blick ab und sah, dass Ellas Knie und Füße sich drei bis vier Inches vom Teppich gehoben hatten. »Ella, kannst du fühlen, dass du schwebst?« Sie war völlig vertieft in ihre langsamen, gleichmäßigen Atemzüge. Guntarson beobachtete sie ein paar Minuten lang, während ihr Körper schwerelos an derselben Stelle verharrte. Was gab ihr Auftrieb? Guntarsons Augen suchten nach Anzeichen für eine Kraft, aber sie zeigte keinerlei Spuren von Unruhe. Zögernd streckte er einen Arm unter ihren Körper. Ihre Haare und ihre Kleidung hingen ganz normal nach unten, als seien sie der Schwerkraft ausgesetzt. Der Teppich unter ihr war wie immer. Ella schien einfach vergessen zu haben, auf dem Boden zu bleiben. Aber sie stieg nicht weiter. Sie kniete unverändert, vollkommen im Gleichgewicht, schwankte nicht, drehte sich nicht und wurde nicht abgetrieben. Sein Körper spannte sich, als er sich in die Vorstellung hineinzuversetzen versuchte, auch er wäre leicht genug, um sich in die Luft zu erheben. Seine Zehen und Finger fuhren in den Teppichflor. Seine Oberarmmuskeln zitterten. Aber er levitierte nicht. »Weißt du, wie du das machst?«, fragte er. »Kannst du mir das beibringen?« 165
Ella schwebte schweigend. »Schon gut. Ich verstehe«, flüsterte er. »Du bist so geboren. Ich nicht. Aber ich bin dir eine Hilfe, oder? Du hast mehr Kraft, wenn ich da bin. Ich wirke als Verstärker für deine Kräfte. Wir werden es ihnen zeigen. Leuten wie meinem Vater, Leuten, die glauben, das sei alles Hokuspokus, dieses Mal werden wir es ihnen zeigen. Weißt du, woran ich gerade denken muss? An einen Ort namens Snowflake. Meine Mutter ging da früher hin, und sie erzählte mir, Snowflake sei der Ort, der ihr Leben verändert habe, und der Grund, warum ich geboren wurde. Und darum begann sich meine Mutter für kristallene Energie zu interessieren, weil Schneeflocken Kristalle sind. Kristallenes gefrorenes Wasser. Kristalle tragen eine unglaubliche Energie in sich. Ich habe dir meinen Bergkristall gezeigt. Ich trage ihn immer bei mir, immer, und niemand außer dir weiß das. Meine Mutter. Sie hieß Ruth. Soll ich dir von Snowflake erzählen? Es ist lange, lange her. 1971. Meine Eltern waren ungefähr fünf Jahre verheiratet, und meine Mutter langweilte sich. Sie arbeitete als Grafikerin in einem Designbüro. Das war in Winnipeg, wo ich geboren wurde. Und mein Vater - ich sage dir gleich, dass ich meinen Vater überhaupt nicht mochte, er wird also in dieser Geschichte ziemlich schlecht wegkommen -, er war Bauingenieur. Er war aus Island. Guntar Einarsson. Er bestand darauf, mir Isländisch beizubringen. Er lebt heute in London, mit seiner Freundin - zumindest, als ich das letzte Mal mit ihm gesprochen habe, und das ist etwa so sechs Jahre her. Zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag schenkte er mir ein Apartment in Bayswater, dort wohne ich immer noch, und eine 200 000-Pfund-Beteiligung an seiner Firma. Ich habe die Aktien prompt verkauft. Das Geld habe ich natürlich noch, angelegt in Offshore-Bonds und solchem Zeug. Hat mir geholfen, mein Studium zu finanzieren. Aber die Abmachung war folgende - ich hatte nichts mehr mit meinem Vater zu tun. Ich rief ihn nicht an und bat um Geld, ich bekam keine finanzielle Unterstützung mehr. Im Grunde war ich nicht mehr sein Sohn. Womit ich absolut einverstanden war. Aber das wollte ich dir gar nicht erzählen. Du möchtest von Snowflake hören.« Ella, lautlos und weit weg, gab nicht im Geringsten zu erkennen, ob sie Peters Erzählung verstehen konnte. 166
»Snowflake, dorthin ging meine Mutter eines Tages, um sich selbst zu finden. Sie hatte eine Karte von der Umgebung von Winnipeg. Dort gibt es Seen und unter anderem auch ein Fischerdorf namens Reykjavik, ungefähr 220 Kilometer von ihrer Wohnung in der Stadt entfernt. Dort draußen hatten sie eine Hütte, ich glaube einfach deshalb, weil mein Vater aus Reykjavik, Island, kam. Snowflake liegt in einer verlassenen Gegend an der Grenze zu den Vereinigten Staaten. Direkt neben Crystal City. Dort sind auch der Turtle Mountain und der Swan Lake. Meine Mutter war nie dort gewesen. Ihre Familie war jüdisch, sie hatten kein Auto, denn sie hatten nicht viel Geld, als sie ein Kind war. Alles, was sie besaßen, war in Deutschland. Sie sind 1933 aus Deutschland weg und mussten viele meiner Verwandten zurücklassen. Die Großeltern meiner Mutter väterlicherseits und ihre Brüder und Schwestern und deren Kinder, alle starben im Holocaust. In den Lagern. Meine Mutter sagte mehr als einmal zu mir: >Wir sind arm, aber wir leben.< Das Geld, das ihre Familie in den Fünfzigerjahren hatte, wurde gespart. Gespart für die Emigration. Aber als die Familie das Geld für die Fahrkarten zusammenhatte und alle bereit waren, die Zelte abzubrechen und ihren Claim im Gelobten Land abzustecken, ausgerechnet da lernte meine Mutter meinen Vater kennen. Sie waren verliebt, und sie hatte die ersten Erfolge in ihrem Beruf, und er hatte gerade in der Bauindustrie angefangen. Und das alles wollten sie nicht aufgeben. Sie konnten auch nicht einfach heiraten und mitgehen, weil mein Vater kein Jude war. Er gehörte einer lutherischen Kirche an wie ich, jedenfalls dem Namen nach. Das wusstest du noch nicht, nicht wahr - dass ich theoretisch gesehen Jude bin? Der Sohn einer jüdischen Mutter ist immer Jude. Aber ich bin nicht jüdisch erzogen worden, deshalb bezeichne ich mich lieber als Halbjude. Verstehst du? Snowflake - ich schweife ab. Snowflake. Meine Mutter war es leid, verstehst du, dieses andauernde Gerede über das Baugewerbe, die damit verbundenen Machenschaften und die internen Streitereien, dafür lebte mein Vater. Die ersten paar Jahre störte sie das kaum, aber nach einiger Zeit war es eben immer dasselbe. Meine Mutter war eine außerordentlich fantasievolle Frau. Sie brauchte neue Horizonte. Und so kam sie auf 167
den Gedanken, Kinder wären die Lösung, aber mein Vater war dagegen. Total. Er hat immer zu mir gesagt, er habe nie einen Sohn gewollt. Auch keine Tochter. Snowflake, das war der erste Ort, bei dem meine Mutter den Versuch machte, ihn in ihrer Fantasie entstehen zu lassen. Kinder waren keine in Sicht, im Beruf hatte sie erreicht, was sie erreichen konnte, sie war mit einem Mann verheiratet, in den sie einmal sehr verliebt gewesen war, der nun aber ihre Weiterentwicklung behinderte. Sie wollte eine Familie mich, sie wollte mich -, und er war nicht einverstanden; sie sagte: >Komm, wir ziehen weg, nach New York, Los Angeles, London, irgendwohin, nur weg von Winnipeg<, und auch damit war er nicht einverstanden. Seine famose Firma aufbauen, verstehst du, das interessiert ihn. Snowflake wurde zu einem Symbol für sie. Dieser faszinierende kleine Name auf ihrer Landkarte, bei dem sie an etwas Vergängliches und Fragiles dachte, das darauf wartete, eingefangen und festgehalten zu werden, wenn auch nur für einen Moment. Dieser Name weckte ihre Fantasie. Deshalb versuchte sie zu visualisieren. Sie hatte gerade erst angefangen zu meditieren - das war Ende der Sechziger-, Anfang der Siebzigerjahre, vergiss das nicht. Also setzte sie sich mit gekreuzten Beinen hin und begann zu meditieren, Snowflake. In ihrer Vorstellungskraft erschuf sie sich ein Bild. Snowflake ist, ich weiß nicht genau, zwei oder drei Stunden Fahrt mit dem Auto von Winnipeg entfernt. Meine Eltern hatten damals beide einen Wagen. Und so fuhr meine Mutter eines Tages nach Snowflake. Es kostete sie Überwindung - ganz allein auf Erkundungstour zu gehen. Aber sie tat es. Und jetzt kommt's. Snowflake war exakt so, wie sie es sich ausgemalt hatte. Die Straßen, die Häuser, die Menschen. Nicht der Ort im Allgemeinen, wie es im Großen und Ganzen dort aussah, hätte sie sich wohl denken können. Nein, einzelne Gebäude. Sachen in Schaufenstern, Fahnen über Türen, Bäume. Sie erzählte mir, sie sei in ein Restaurant gegangen, um eine Tasse Kaffee zu trinken, in genau das Restaurant, das sie im Geist hatte entstehen lassen, habe sich an den Tisch gesetzt, den sie sich dort vorgestellt hatte, und die Kellnerin, die sie bediente, habe das Gesicht der Kellnerin aus ihrer Meditation gehabt. Es war, als hätte meine Mutter die ganze Stadt im Geist erschaffen und Wirklichkeit werden lassen. 168
Sie versuchte, meinem Vater von Snowflake zu erzählen, doch das war Zeitverschwendung. Er dachte, ihre Hormone würden verrückt spielen oder sie hätte Gehirnerweichung durch zu viel Meditation. Er befahl ihr tatsächlich, mit dem Meditieren aufzuhören, aber sie ließ ihn reden. Sie machte einen zweiten Versuch mit einer anderen Stadt. Notre Dame de Lourdes. Einen solchen Ort gibt es tatsächlich in Manitoba. Und meine Mutter visualisierte ihn so detailliert wie möglich. Die Gärten der Häuser, die Gesichter der Kinder, das Licht auf dem Pembina Mountain. Sie versuchte, jede Einzelheit in ihrem Geist lebendig werden zu lassen. Und es stimmte alles, bis ins Kleinste. Sie war medial veranlagt, Ella. Zwar anders als du, denn ihre Intuition war hoch entwickelt und intelligent. Und meine Mutter konnte nicht verstehen, dass niemand ihr glaubte und es niemanden interessierte. So beschloss sie, auf eigene Faust alles über das Übersinnliche zu erfahren, und sie begann Bücher und Zeitschriften zu bestellen und ging jeden Tag in die Bibliothek. Bis das meinen Vater ziemlich beunruhigte. Übersinnliche Kräfte bedeuteten ihm nichts. Mit übersinnlichen Kräften konnte er kein Geschäftsgebäude hochziehen. Er dachte, meine Mutter würde den Verstand verlieren, und das wäre schlecht für die Firma gewesen. Dann wäre er nicht mehr der Vorsitzende gewesen, sondern der Vorsitzende mit der verrückten Frau. Mein Vater vertraute sich seinen Freunden an, obwohl es schwer vorstellbar ist, dass er welche hatte, und die sagten: >Tja, das liegt doch auf der Hand, oder? Sie braucht Kinder wie jede Frau. Ganz klar.< Und ich glaube, dass sie gewisse Andeutungen gemacht haben, von Mann zu Mann - Ruth fährt jeden Tag weg, dann diese verrückte Geschichte, sie besuche Orte aus ihrer Fantasie ... >Bist du sicher, Guntar, dass sie keinen Liebhaber hat? Bist du ganz sicher? Bist du Manns genug, um sicherzugehen, dass sie keinen Liebhaber will?< Und so hat Snowflake direkt zu mir geführt. Mein Vater sagte einmal zu mir, eventuell hätte er sich Kinder gewünscht, aber erst, wenn die Firma auf sicherem Boden gestanden hätte. Vielleicht, wenn er fünfzig gewesen wäre. Dann wäre auch meine Mutter fünfzig gewesen. Mit anderen Worten, er sagte, dass er zur falschen Zeit die falsche Frau geheiratet habe. Während der Schwangerschaft las meine Mutter Bücher über Religion, die Kabbala und die Bibel und den Koran und über das Okkulte 169
und Paranormale. Alles, was ihr in die Finger kam. Sie sagte, sogar im Krankenhaus, in den Wehen, habe sie noch ein Buch in der Hand gehalten. Versuchte, gleichzeitig zu lesen und ein Baby zu bekommen. Ich war noch recht klein, da fing sie an mit einem Mann in Reykjavik etwas Ernsteres an. Mit Clarence, einem Bootsbauer aus Minnesota. Clarence war meine ganze Kindheit über da. Mein Vater kam dahinter und nahm es sehr ruhig auf - vermutlich, weil er selber es schon seit Jahren so trieb. Ich weiß nicht, ob meine Eltern jemals darüber gesprochen haben. Es wurde einfach stillschweigend hingenommen. Als Kind war ich die halbe Zeit am Lake Manitoba. Aber es gab Wichtigeres als das. Meine Mutter sah eine Sendung im Fernsehen, die sie elektrisierte und ihre mediale Veranlagung aktivierte. Da war ein Mann, der konnte mit Gedankenkraft Metall verbiegen. Er berührte einen Löffel und der verbog sich. Er forderte die Zuschauer auf, es selbst zu versuchen. Meine Mutter konnte es. Sie war gut darin. Sie war klasse. Sie strich über den Stiel eines Löffels und nach ungefähr fünf Minuten wurde das Metall wie Plastilin. Wenn sie weiter darüber strich, fiel das Ende ab. Ich versuchte es auch wieder und wieder, als ich älter war. Meine Mutter pflegte zu sagen, für mich als Kind wäre es doppelt so leicht. Vielleicht war ich mental blockiert oder ich bin nicht medial genug veranlagt, aber in meinem Leben habe ich keinen einzigen Löffel verbogen. Aber ich konnte ihre Gedanken lesen. Als sich dieser Fernsehmensch telepathisch auf ein Bild konzentrierte, konnte sie dieses Bild sehen, sie brauchte nur seine Augen zu beobachten. Sie erzählte mir, sie habe meine Gedanken gleich mitbekommen, aber anfangs habe sie gedacht, das sei so eine Mutter-Geschichte, es ginge allen Müttern mit ihren Babys so. Sie begann zu üben. Sie entwickelte diese Technik, mir ein Wort zu übermitteln - es zu rufen, vom Schiff zum Ufer, wie ich es dir gezeigt habe, Ella. Und ich konnte es zurückrufen, aber nur bei ihr. Ein- oder zweimal habe ich telepathische Botschaften empfangen, als ich die Leute hypnotisiert hatte. Auch das hat sie mir beigebracht. Aber bis ich dich traf, Ella, konnte nie jemand meine Gedanken so lesen wie meine Mutter. Clarence hat diese Dinge toleriert, glaube ich. Ihm war das alles zwar unheimlich, wenn sie zum Beispiel versuchte, Sachen mithilfe von Psychokinese zu bewegen, und von Auren sprach. Aber es machte ihm weiter nichts aus, mein Vater, der hasste es. Hasste es. Und ich hasste ihn, 170
weil er es hasste. Ich gab ihm die Schuld für die Gene, die meine Kräfte blockierten. Meine übersinnliche Veranlagung ist nicht sehr stark ausgeprägt und schuld daran sind vielleicht seine Gene. Mehr noch - manchmal schien ich eine negative übersinnliche Kraft zu haben. Einmal platzte ich in ihr Schlafzimmer hinein, ich war ungefähr neun Jahre alt. Meine Mutter meditierte, sie konzentrierte sich auf eine Kerze. Sie musste schon ewig da gesessen haben, ich erinnere mich, dass die Kerze fast ganz niedergebrannt war. Und ich hatte mir ihretwegen Sorgen gemacht. Vielleicht wollte ich aber auch nur ein wenig Aufmerksamkeit - egal, jedenfalls ich ging hinein und die Kerze ging aus. Als hätte ich sie ausgeschaltet. Es war nicht der Luftzug, die Flamme wurde nicht ausgeblasen. Sie ging einfach aus. Meine Mutter sah mich an, ihr Blick durchbohrte mich. Er war messerscharf. Ich fühlte mich schrecklich - ich hatte keine der medialen Fähigkeiten meiner Mutter, und nun zerstörte ich noch das, was ihr wichtig war. Ich war unerwünscht. A u f dem Boden lagen ein paar Streichhölzer und ich sprang vor und versuchte, die Kerze wieder anzuzünden. In meiner Aufregung habe ich gleichzeitig die Tagesdecke in Brand gesteckt. Ich habe fast das Häuschen niedergebrannt. Meine Mutter war so zornig. Zorniger darüber, glaube ich, dass ich mit meiner negativen Ausstrahlung ihre Meditation gestört hatte, als über den angerichteten Schaden.« Peter hörte auf zu sprechen. Mit abwesendem Blick starrte er auf Ella. Sie schwebte vor ihm, die Hände zwischen den Knien gefaltet, als sei sie im tiefsten Gebet versunken. »Meine Mutter ist tot«, sagte Peter schließlich. »Das habe ich dir nicht erzählt. Sie ist tot. Ich weiß nicht, warum ich dir das alles erzählt habe. Ich glaube nicht, dass ich will, dass du das weißt. Es wäre vermutlich besser, du vergisst es. Du wirst bald aufwachen, Ella, und du wirst keine Erinnerung an diese Geschichte haben. Sie hat ohnehin keinerlei Bedeutung für dich. Sie ist nicht relevant. Nicht für uns.« Ella sank ruhig herab. Guntarson beobachtete sie einige Minuten und lauschte ihren leisen, regelmäßigen Atemzügen. Sie lächelte. Während er sie beobachtete, fiel Guntarson zum ersten Mal auf, wie dünn sie war. Kein Wunder, dass sie drei Portionen Frühstück aß, wenn sie die Gelegenheit bekam. 171
»Ella? Ella, du warst in einem Stadium tiefer Ruhe. Nun bist du völlig entspannt. Ich möchte, dass du dich wieder bewegst. Streck die Arme und Beine, so ist es gut. Du wirst dich genauso fühlen wie immer, nur sehr ausgeruht. Und sehr stark. In Kontrolle. Du wirst nun keine Angst mehr haben vor kritischen Situationen. Diese Stärke wird dir erhalten bleiben. Du kannst nun sprechen und tun, was immer du willst.« Ella erhob sich, sah ihn erstaunt an und ging zum Fenster. »Ich habe dem Regen gelauscht. Seltsam, was man alles hören kann, wenn man sich richtig bemüht.« »Was hast du gehört? Eine Stimme?« »Nein! Regen kann nicht sprechen!« »Was hast du gehört?«, fragte er. »Wasserrauschen. Als könnte ich jeden einzelnen Tropfen wahrnehmen, der an das Fenster schlägt. Und ich habe sogar jeden Tropfen gehört, den das Gras aufgesogen hat.« »Du lässt dich sehr gut hypnotisieren.« »Wirklich, ehrlich?« »Du hast einen fantastischen Geist, extrem konzentriert. In gewisser Weise, auf eine sehr bedeutsame Weise, bist du so klug wie ich.« Ella schüttelte den Kopf. Sie wusste, er täuschte sich. Aber es war wunderbar, ihn das sagen zu hören.
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KAPITEL 21
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lla saß ganz still in der Ecke, halb versteckt hinter einem Vorhang, und drückte die Wahlwiederholung ihres Handys. Peter war auf seinem schweren schwarzen Motorrad weggefahren, er wollte die Nacht in seiner Wohnung verbringen. Am liebsten hätte sie ihn gefragt, ob er sie mitnehmen würde, sie hätte noch nicht einmal Angst gehabt, ihn zu fragen. Ihre Selbstsicherheit befand sich immer noch auf dem Hoch nach der Hypnose. Aber ihr Dad hätte sie nie über Nacht weggehen lassen, wozu also fragen? Ken und Juliette bekamen eine Nachhilfestunde in Medienmanagement von Dr. Dóla. Er ließ die Aufzeichnung ihrer Pressekonferenz laufen und äußerte taktvoll Kritik. »Vielleicht wäre es hier besser gewesen, das so zu formulieren ... Ich glaube nicht, dass Sie an dieser Stelle so freimütig sein müssten ... Sie dürfen den Reportern nicht die Genugtuung geben und sie merken lassen, dass die Sie unter Druck setzen ...« Ella war aufgefordert worden, sich anzuschließen, aber sie wollte nicht. Sie wollte keine Berichte über sich lesen und schon gar nicht ihr Gesicht im Fernsehen sehen. Ken dagegen genoss es. Das Einzige, was ihn ärgerte - und es musste schwer an ihm nagen, denn er erwähnte es drei- oder viermal -, war sein Taillenumfang. »Das ist keine gute Perspektive, ich sehe aus, als hätte ich einen Bauch. Können wir denen nicht sagen, dass sie in Zukunft nur noch mein Gesicht filmen sollen?« Juliette hatte nach der Konferenz zwei Flaschen Weißwein aus dem Saal geschmuggelt. Sie wickelte sie in eine Strickjacke, die sie zu einer Acht schlang, damit die Flaschen in ihrer Schultertasche nicht klirrten. Auf dem Rücksitz der Limousine, außer Sicht von Ken auf dem Vordersitz, zog sie eine heraus. Dr. Dóla machte große Augen. Sie öffnete sie geschickt, völlig geräuschlos. Offensichtlich hatte sie einen Korkenzieher in ihrer Tasche. Sie bemerkte Dr. Dólas Bestürzung. »Die waren für uns bereitgestellt«, meinte sie. »Ich glaube nicht, dass man das Stehlen nennen kann, es kümmert keinen, wenn es keiner sieht.« 173
Er lächelte; er mochte Juliette. Genauer gesagt, sie tat ihm leid, weil sie mit Ken verheiratet war. Auf Französisch murmelte er: »Überlassen Sie das mir - ich sorge dafür, dass Sie nicht verdursten.« Nun saß sie vor dem Fernseher und hatte so viel getrunken, dass es ihr egal war, ob Ken sah, dass sie sich noch ein Glas Gratiswein eingoss. Ella hielt ihr Handy fest umklammert. Tante Sylvie in Bristol nahm ab. Wahlwiederholung. Ella hatte Tante Sylvie noch nie angerufen, das hieß, jemand hatte ihr Telefon genommen und Anrufe getätigt. Das musste Juliette gewesen sein. Die sollte ihre diebischen Finger davonlassen. Es war Ellas Telefon. Fast hätte sie aufgelegt. Nur der Gedanke, mit Frank zu sprechen, ließ sie zögern. »Ist mein Bruder da, Tante Sylvie?« »Ella! Du rufst mich an? Na, das ist eine Ehre, ich glaube, ich habe noch nie mit einem Superstar gesprochen. Wäre es nicht toll, wenn du mir das nächste Mal, wenn wir uns sehen, ein Autogramm geben würdest!« »Lass das.« Tante Sylvie zog sie immer auf und brachte sie damit in Verlegenheit. »Aber du kannst deiner Mumma sagen, ich werde das nicht tun, was der schreckliche, schreckliche Bruder deines Daddas getan hat. Ich könnte das Geld schon brauchen, wir alle brauchen hin und wieder Geld, aber ich dachte, das ist so-o widerlich, was er gesagt hat. Du hast die Zeitungen gelesen, ja?« Ella wünschte, sie hätte gleich aufgelegt. »Ich denke nicht dran, fernzusehen oder Zeitungen zu lesen, weder noch.« »Schön für dich. Was dein Onkel Robert über deine Familie gesagt hat, war so-o gemein, man mag das nicht wiederholen. Ich bin froh, dass du es nicht gelesen hast, und du musst Mumma sagen, sie soll die Zeitung nicht lesen. Es war die Daily Post, die Zeitung, die auch deinem Dadda Geld gegeben hat. Natürlich, es ist auch möglich, dass dein Onkel Robert das alles gar nicht gesagt hat, und die haben das alles einfach erfunden.« »Was steht denn da?« »Besser, du weißt es nicht. Ich war so-o fertig den ganzen Tag. Er erzählte ihnen furchtbare Dinge, alle über mich. Und ich weiß nicht, was ich damit zu tun habe, nur weil du im Fernsehen kommst und solche Sachen machst, wirklich nicht. Mein ganzes Privatleben, alles vor den 174
Leuten ausgebreitet. Dabei ist es besser, diese Dinge ruhen in der Vergangenheit. Ich weiß nicht, wie dein Onkel Robert auf die Idee kommt, dass ihn das irgendwas angeht. Nur weil er Kirchenprediger ist, glaubt er, er muss jedem was predigen, als wäre er ein Heiliger oder so was. Tja, wir wissen, dass er keiner ist, was, Ella?« Sylvies Worte überschlugen sich fast, so sehr bemühte sie sich, nicht in Tränen auszubrechen. »Wir wissen genau, was die Leute über deinen Onkel Robert reden, und ich weiß, das ist nicht sehr nett. Aber es geht mich absolut nichts an. Wie würde es ihm wohl gefallen, wenn sein Privatleben plötzlich in allen Zeitungen breitgetreten wird? Ich könnte es ja mal darauf ankommen lassen, aber ich lasse mich nicht auf dieses Niveau herab.« »Kann ich mit Frank sprechen, Tante Sylvie?« »Ja, ja, natürlich willst du nicht die ganze Nacht mit einer geschwätzigen, langweiligen alten Frau wie mir zubringen. Aber mach nicht zu lange, Ella, er ist noch klein und sollte bald ins Bett. Und er hatte den ganzen Tag furchtbare Kopfschmerzen. Sag deiner Mumma, sie darf nicht vergessen, das alles ist nicht schön für Frank, es ist sehr stressig für ihn. Ich weiß, für dich ist es sehr schön, dass du jetzt reich und berühmt bist und sich alle für dich interessieren, und ich bin sicher, dein Dadda wird sehr lukrative Verträge abschließen, wo du doch so clever und berühmt bist. Du bist so-o clever, Ella. Aber für Frank ist es vielleicht nicht so gut.« »Hi, Ella!« Endlich war Frank am Telefon. »Wo bist du?« »Keine Ahnung.« »In einem großen Hotel?« »Keine Ahnung. Ich glaube nicht. Es ist eher so was wie ein Haus.« »Gibt's dort Zimmerservice und Kellner und all das?« »Nein.« »Warum kommst du dann nicht einfach wieder nach Hause?« Das wusste Ella nicht. Sie wusste auch nicht, was sie noch sagen sollte. Es gefiel ihr, mit ihrem kleinen Bruder am Handy zu sprechen. Es war echt cool. Vielleicht würde Peter auch eins für Frank kaufen, dann könnten sie sich gegenseitig anrufen wie mit Walkie-Talkies. Doch ihr wollte einfach nicht einfallen, worüber sie reden sollte. »Tante Sylvie sagte, du hättest Kopfschmerzen gehabt.« »Mir geht's gut. Es ist nur Sylvie, sie redet wie ein Wasserfall. Macht einen ganz krank«, flüsterte er. »Sie war echt stocksauer auf Onkel Ro175
bert wegen der Sachen, die er den Zeitungen erzählt hat. Sie sagte, am liebsten würde sie zu ihm gehen, aber sie hätte zu große Angst davor, dass sie ihn dann umbringt.« »Ihn umbringt! Womit denn?« »Weiß nicht. Vielleicht hat sie ein Gewehr in ihrem Schlüpfer versteckt!« Frank verstummte kurz, um diesen Gedanken weiterzuverfolgen. »Ich habe die Zeitungen sowieso gelesen. Als sie auf dem Klo war. Tante Sylvie sagt, das sind ein Haufen Lügen. Das meiste handelt von dir, so langweiliges Zeug. Aber auch ein bisschen was über Mum und Tante Sylvie und ihren Dad, und deshalb ist sie so sauer.« »Ja?« »Da steht, Mum und Dad hätten gerade noch rechtzeitig geheiratet, bevor du geboren wurdest. Und ihr Vater hätte Sylvie nicht erlaubt, zur Hochzeit zu kommen, aber als sie schwanger war, hat ihr Vater sie rausgeworfen und sie ist hierher gekommen. Und sie war noch nicht einmal verheiratet, als das Baby auf die Welt kam, und sie hat versucht, sich selbst um das Baby zu kümmern, aber dann hat sie es zur Adoption freigegeben, weil es zu viel Arbeit gemacht hat.« »Daran kann ich mich überhaupt nicht erinnern.« »Da warst du erst zwei. Und ich war noch nicht geboren. Tante Sylvie weiß nicht, dass ich es gelesen habe. Deshalb kann ich sie nichts fragen.« »Dieses Baby hat echt Glück gehabt«, sagte Ella. »Ich wette, es ist zu einer richtig netten Familie gekommen.« »Kommst du bald heim, Ella?« »Keine Ahnung.« Anschließend wählte sie Peters Handynummer. Eine weibliche Tonbandstimme antwortete, die Nummer sei im Augenblick nicht erreichbar, sie möge es später noch einmal versuchen. Sie rief immer wieder an und bekam nur diese Stimme zu hören. Nach einer ganzen Weile probierte sie es auch bei seinem Festnetzanschluss, obwohl sie da nicht gern anrief - sein Anrufbeantworter schaltete sich immer ein. Der Anrufbeantworter nervte Ella: Schweigend hörte sie die Ansage ab und auch nach dem Piepton blieb sie stumm. Das Lämpchen zum Batterieladen leuchtete auf, aber sie ignorierte es und rief Holly an. »Wenn ich gewusst hätte, wie dein Onkel über deine Familie herzieht, hätte ich Miss Meese eine ganze Menge mehr erzählt«, sagte Holly. 176
»Wer ist Miss Meese?« »Sie schreibt für die Daily Mail. Mein Dad sagt, die Mail ist um Klassen besser als die Post. Viel anspruchsvoller. Mein Dad sagt, zwanzig Prozent der Mail-Leser sind in der Marketinggruppe ABC1, und die Post hat überhaupt keine Leser in ABC1.« Ella sagte nichts. Sie hörte zu, aber sie begriff nichts, und so hatte sie auch nichts zu sagen. »Die Daily Post ist Skandalpresse, sagt mein Dad. Unterstes Niveau. Mit der Post hätte ich nie geredet. Mein Dad sagt, sie müssten deinem Onkel eine Unsumme bezahlt haben, entweder das, oder er hasst deine Mum und deine Tante Sylvie. Wahrscheinlich hat er Tausende kassiert für das, was er alles gesagt hat. Ich habe hundert Pfund bekommen, aber mein Dad sagte, ich darf Miss Meese nur Fakten erzählen. Die Daily Mail bringt nur Fakten.« »Du hast mit einer Zeitung gesprochen und dafür hundert Pfund gekriegt?« »Mein Dad sagte, ich wäre dumm, wenn ich es nicht täte«, erwiderte Holly angriffslustig, »wo du doch haufenweise Geld kassierst.« »Was hast du denen gesagt?« »Kannst du morgen in der Zeitung lesen. Ich habe nichts gesagt, was nicht wahr ist. Kann dir sowieso egal sein, du bist ja jetzt reich. Hast du dir schon ein Auto gekauft?« »Nein.« »Kriegst du das ganze Geld auf dein eigenes Konto? Hast du ein Bankkonto? Hast du nicht, was? Ich wusste es! Meine Schwester Brooke sagte, dein Vater würde dich nicht ausnehmen, aber ich wette, dass er das tut. Geschieht dir recht, Ella Wallis, du hältst dich für was Besseres als alle anderen, aber ich wette, am Schluss kriegst du nicht einen Penny. Du kriegst nicht einmal hundert Pfund wie ich. Das hast du ...« Das blinkende Lämpchen erlosch. Hollys Stimme verschwand. Ella versuchte, zurückzurufen. Sie wollte Holly sagen, dass es ihr nichts ausmachte, wenn ihre Freundinnen mit den Zeitungen sprachen. Sie würde ohnehin keine lesen, deshalb war es egal. Sie wollte nicht, dass Holly sich deshalb Gedanken machte. Es kam kein Freizeichen. Die Batterie war leer. Unten am Handy war ein Fach zum Auswechseln. Peter musste ihr zeigen, wie man eine neue einlegte. Und Peter war nicht da. 177
KAPITEL 22
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egenwasser strömte über die Kiesauffahrt und lief in Bächen von den Motorhauben der Wagen, die vor Dr. Dólas Zufluchtsort parkten, als das BBC-Team eintraf. Es war acht Uhr früh und noch nicht hell. Der Kies knirschte unter den Reifen des Range Rovers, als er in einem Bogen zur Vordertreppe fuhr. Die Scheinwerfer schwenkten über das nasse Blattwerk, das die Steinmauern bedeckte. Wässerperlen funkelten auf den dunkelgrünen Blättern. Als das letzte Tageslicht längst der Dunkelheit gewichen war und das Team nach London zurückfuhr, war aus dem starken Regen ein Nieselregen geworden, der die Fahrbahn rutschig machte. Rote und gelbe Rücklichter spiegelten sich glitzernd in den feuchten Schaufensterscheiben, im nassen Asphalt und in den Abflussrinnen. Emily Whitlock beobachtete den Kameramann über ihre Schulter hinweg. Er hatte mit seiner Ausrüstung den ganzen Rücksitz belegt und beugte sich über seine Ikegama, ein Auge am Sucher. Seine Finger, so sicher wie die einer blind schreibenden Sekretärin, sprangen rasch zwischen den Rewind- und Replay-Tasten hin und her. Er blickte kurz hinein, dann warf er das Band aus. Dieses Ritual hatte er auf dieser Fahrt alle zehn Minuten wiederholt. »Immer noch da?«, fragte Whitlock. »Ich bin schon bescheuert«, gab Fraser Bough zu, öffnete den Reißverschluss seiner Kameratasche und zählte sechs weitere Videokassetten durch. »Es liegt nur an dem, was Guntarson gesagt hat, es nervt mich wenn man paranormale Vorgänge aufzeichnet, verschwindet manchmal das Band. Entmaterialisiert sich. Okay, alle sind da - ich bin bescheuert.« Eric Williams, der Beleuchter, der auf dem Fahrersitz saß, sagte: »Er ist derjenige, der bescheuert ist, nicht du, Fraze.« »Ich kann mir vorstellen«, bemerkte Whitlock in dem trockenen Ton, den sie ihrem Team gegenüber immer anschlug, »wer mit diesem Mädchen zusammenlebt, wird automatisch bescheuert.« Im Schneideraum Nummer zwei der Whitlock Majestic Productions war sie erleichtert, obwohl sie das für sich behielt, als sämtliche an die178
sem Tag aufgezeichneten Kassetten im Test reibungslos liefen. Scharfe Bilder, guter Ton. Jedes Band mit markierten Start- und Schlusszeiten. Sieben Stunden Film - sie hatten die Kamera ständig laufen lassen. Sieben Stunden Beweis, dass die außergewöhnliche Ella Wallis keine Betrügerin war. Sieben Stunden, die auf neunzig Minuten geschnitten werden mussten. »Bringen wir das Schwierigste gleich hinter uns, ja? Nehmen wir uns zuerst die Ausschnitte vor, die wir drinlassen. Nur für den Fall, dass wir morgen feststellen müssen, dass sich alles entmaterialisiert hat. Oder gelöscht worden ist.« »Das darfst du nicht mal denken«, warnte Fraze. Aber auch er wollte sofort mit dem Schneiden beginnen. Es war Samstagnacht. Besser, bis zwei oder drei Uhr früh durchzuarbeiten, als am Montagabend um 21.15 Uhr immer noch herumzuschnippeln und Sekunden rauszuschneiden. Je näher der Schlusstermin rückte, umso weniger exakt der Schnitt. Er kannte das. Er hatte das schon oft genug erlebt, noch zehn Minuten bis zur Sendung und noch zwanzig Minuten Videomaterial, das geschnitten werden musste. »Fang nicht am Anfang an«, sagte Emily. »Das war nicht das beste Material. Wo hat sie angefangen zu schweben - auf dem dritten Band? Auf dem vierten?« Fraze legte die dritte Kassette ein: »11.15-12.30 Uhr«, und spulte vor. »Da ist es drauf. Hier.« »Okay, fangen wir mit dem Stoff an, der unbedingt sein muss. Alles, was nicht unbedingt sein muss, ... auf das werden wir verzichten müssen.« Miss Whitlock blickte nervös auf das flimmernde Bild von Ella, die zur Decke aufstieg. Emily Whitlock war Dr. Dólas erste Wahl für ein Interview mit Ella gewesen. Zum Glück ergriff sie sofort die Chance, denn eine zweite Wahl hatte er nicht. Dóla brauchte eine konservative und einflussreiche Journalistin, die respektiert wurde, deren Meinung ernst genommen werden würde. Eine Journalistin, die die Produktion in ein paar Tagen durchziehen und die sie zur besten Sendezeit ins Programm drücken konnte. Eine, deren Berichte Verkaufschancen an die Fernsehsender weltweit hatte. Emily Whitlock, die mit ihrer eigenen Produktionsfirma Sendungen zu aktuellen Anlässen machte und seit zehn Jahren auf BBC1 Spirit of 179
Inquiry moderierte, war eine höchst angesehene Medienfrau ihrer Generation. Sie war neununddreißig und hatte bereits die Sendung Today auf Radio 4 moderiert, war eine einflussreiche Fürsprecherin für Frauen als Priester und verschaffte religiösen Sendungen wieder den Ruf von Seriosität und Ernsthaftigkeit. Sie war Kriegsberichterstatterin gewesen und hatte an vorderster Front in Bosnien und Beirut gedreht. Sie hatte einen Emmy gewonnen und zweimal in Folge die Auszeichnung der British Academy of Film and Television Arts (BAFTA) erhalten. Was Emily Whitlock über Ella Wallis zu sagen hatte, würde Millionen helfen, sich eine Meinung zu bilden. Es gab noch andere Journalisten ihres Kalibers, wenn auch nur wenige. Aber Emily Whitlock entsprach in einem weiteren, ganz wesentlichen Punkt Dr. Dólas Vorstellungen. Sie würde Ella nicht einschüchtern. Trotz seiner lebenslangen Erfahrung im Umgang mit Menschen fand Dóla selbst keinen Zugang zu dem Kind. Er benutzte eine einfache Sprache und redete in einem freundlichen Tonfall, er lächelte sie an und versuchte ständig, Augenkontakt mit ihr herzustellen. Sie zuckte vor ihm zurück. Sie antwortete ihm nur mit Halbworten, murmelte Unverständliches zwischen zusammengepressten Zähnen und sprang von ihrem Stuhl auf, um ihm aus dem Weg zu gehen, wenn er das Zimmer betrat. Sie ertrug ihn, wenn ihr Vater sie dazu zwang. »Hör auf das, was der Doktor sagt«, hatte Ken geknurrt, als Dóla das Whitlock-Interview vorgeschlagen hatte, »er weiß, was gut für dich ist.« Es kam nicht in Frage, Ella in ein Fernsehstudio zu bringen. Sie war bereits aus ihrem Zuhause und der Schule herausgerissen, von ihrem Bruder und ihren Freundinnen getrennt worden. Sie brauchte etwas, das ihr wieder ein bisschen Halt geben würde. Natürlich vertraute sie diesem Typen in Lederkluft. Nordisch blond und eine Figur wie Conan der Barbar. Das Erste, was Guntarson in Dólas Hörweite getan hatte, war, seinen Job hinzuschmeißen. Seither schien er nichts unternommen zu haben, um eine neue Arbeit zu finden. Er hatte nicht einmal den Versuch gemacht, seine Position zu Ella abzuklären. Sie hatte keinen förmlichen Vertrag mit ihm - wie sollte sie auch? Sie war noch minderjährig. Und Ken Wallis wäre nur zu froh, wenn er ihn von hinten sehen würde. Da war nichts zu holen. Wie also stellte er sich vor, an Geld zu kommen? 180
Ella vertraute Guntarson, aber es wäre fatal gewesen, ihn das Interview führen zu lassen. Er hatte null Glaubwürdigkeit. Unerfahren, unbekannt und aufgeblasen vor Stolz. Wer konnte vorhersagen, welche Bravourstückchen Guntarson abliefern würde, wenn man ihn vor eine Kamera ließ? Und tatsächlich hätte er mit seinem lächerlichen Benehmen fast das Whitlock-Interview ruiniert. Dóla hatte die richtige Wahl getroffen. Emily Whitlock gewann gleich zu Beginn Ellas Vertrauen. Die Wallis' saßen beim Frühstück, als das Fernsehteam eintraf. Ella aß eine riesige Schüssel Cornflakes in einem halben Liter Vollfettmilch mit ihrer üblichen mechanischen Geschwindigkeit. Jeder gehäufte Löffel war bereits wieder vor ihrem Mund, obwohl sie den letzten kaum geschluckt hatte, und kein einziges Mal wandte sie ihren Blick von dem Aufdruck auf der Rückseite der Packung. Sicher verbrannte sie die Kalorien ihres Frühstücks in übersinnlicher Energie, denn sie schien nicht dick zu werden. Dóla hatte noch nie erlebt, dass sie ihren Teller nicht leer gegessen hatte, egal, was man ihr vorsetzte. Ihr Vater bestand darauf - bei jedem Tischgebet wiederholte er mit drohendem Unterton: »Und lass uns nicht verfallen in die Sünde der Undankbarkeit, indem wir die großzügige Gabe verschmähen, die uns unser Herr gibt.« Eine von Dólas Reinemachefrauen ließ das Fernsehteam ein, und gleich darauf erklang aufgeregtes Kläffen und das Klackern von Pfoten auf den Steinfliesen im Flur. Ella leerte ihre Schüssel mit drei blitzschnellen Löffeln und rutschte vor auf die Kante ihres Stuhles. Stumm flehte sie ihren Vater an. »Steh auf, ist gut«, sagte er, und sie rannte aus dem Frühstückszimmer. Im Flur presste sich Ella an die gegenüberliegende Wand, während Dóla die drei Fremden begrüßte, und blickte hinüber zu einem nassen Hündchen auf der Fußmatte. Der Hund sah sie und erstarrte mitten im Schütteln in einem Tropfenregen. Plötzlich war das Schütteln nicht mehr vorrangig vor allem anderen, erwartungsvoll sah er sie an. Ella stellte sich vor, wie der Hund auf ihren Schoß sprang. Er sauste auf sie zu und sie hockte sich nieder, um ihn hochzuheben. »Das ist Cleo«, sagte Emily. »Sie mag dich - hast du einen Hund? Riecht sie den? Nein? Dann musst du ein besonders netter Mensch sein, 181
denn Cleo kann sehr garstig sein, wenn sie einen Menschen nicht mag.« Emily Whitlock log. Oder griff zumindest auf journalistische Freiheit zurück. Cleo war ein vierzehn Wochen alter Retriever. Sie mochte jeden. Ella mochte nicht jeden, aber zu Emily fühlte sie sich gleich hingezogen. Ella willigte ein, sich vor Frasers Kamera zu setzen, unter Erics Vierhundert-Watt-Scheinwerfer. Sie versuchte, Emilys Fragen zu beantworten. Und um 11.11 Uhr bekam das Team von Whitlock Majestic das, weswegen es hergekommen war. Ella schwebte. Sie machte es auf Befehl. Emily hatte sie eine halbe Stunde lang befragt. Ob es ihr gefalle, weg von zu Hause zu wohnen, den Unterricht zu versäumen, im Fernsehen zu sein? Berühmt zu sein? Ob ihr Bruder die gleichen Kräfte habe wie sie? Alles sehr freundlich, auf Umwegen erfragt. Als Ella, Cleo auf dem Schoß, neben Guntarson auf das Wohnzimmersofa gesetzt wurde, änderte Emily ihren Kurs. Sie habe ein kleines Bild bei sich. Gestern Abend zu Hause, ganz allein, habe sie diese Figur - oder das Ding oder das Diagramm - gezeichnet, in einen Umschlag gesteckt und diesen versiegelt. Der Umschlag befände sich in ihrer Tasche. Ob Ella ihr sagen könnte, wenn sie sich beide heftig konzentrierten, was ... »Ein Weihnachtsbaum«, sagte Ella. »Also, ein Weihnachtsbaum mit einem Kreis darin. Einem lächelnden Kreis.« Emily Whitlock, die Augen geschlossen und die Stirn gerunzelt, griff in ihre Westentasche. Sie zog den Umschlag heraus und öffnete ihn. Zuerst faltete sie eine Alufolie auseinander, aus der sie das darin befindliche Stück Papier vor der Kamera herausnahm. Auf das Blatt hatte sie einen Weihnachtsbaum gemalt mit einem runden, lächelnden Gesicht in den Ästen. »Dies«, kommentierte Emily in die Kamera, »ist einer dieser Momente, in denen du nicht zweifelst. Das muss man selbst erlebt haben. Das Medium Film, das Erlebnis aus zweiter Hand, wird dem nicht gerecht. Das ist mir klar. Kein Zuschauer zu Hause kann so sicher sein wie ich, dass Ella von diesem Experiment nichts gewusst hat. Sie wusste nicht, was ich ganz allein in meinem eigenen Haus, in meiner eigenen Küche gemalt habe. Durch den Papierumschlag und dann noch durch 182
die Alufolie konnte sie es nicht gesehen haben. Sie wusste nicht, dass ich überhaupt ein solches Experiment machen würde. Also ich bin absolut überzeugt. Da steckt keine Betrügerei dahinter. Aber es ist wie bei jeder Glaubenssache. Jeder muss es für sich selbst herausfinden.« »Ich glaube«, fügte Guntarson hinzu, »wir können sämtliche ungläubigen Thomasse überzeugen. Ella?« Sie wandte sich ihm zu. Der Hund lag gleichmütig über ihren Beinen. »Sieh mich bitte an. Atme ein. Spüre die Luft in deiner Nase, in deinem Hals, in deiner Lunge. Du spürst nichts anderes. Beim Ausatmen wirst du entspannt sein. Alles, was schwer ist und angespannt, wird mit diesem Atemzug aus dir ausströmen. Atme aus.« Beim Ausatmen sank ihr Kopf nach unten. Fast gleichzeitig hoben sich ihre Füße und zogen sie auf der Sitzfläche nach vorn. Ihr Hinterkopf berührte nun das Sofa, und sie schwang sich von diesem Punkt aus nach oben und drehte sich auf dieser Achse. Als sie auf dem Kopf stand, die Knie immer noch in sitzender Position angezogen, löste sich ihr Kopf von der Rückenlehne. Für kurze Zeit hörte sie auf zu steigen. Ihre Augen waren offen, aber leer. Ihre Haare fluteten über die Kissen. »Seht den Hund an«, wisperte Emily. Der schlafende Hund lag in Ellas Schoß, ohne etwas mitzubekommen. Seine kraus gelockten Ohren hingen von der Schwerkraft gezogen herab, aber da war nichts, was ihn trug. Ella hielt ihn nicht. Emily griff sacht hinauf und nahm ihn in ihre Hände. Nun begann Ella weiter zu steigen. Die grellen Scheinwerfer folgten ihr. Sie beleuchteten ihre Füße, ihre Schultern, ihre Hüften und die Decke - alles, woran Drähte befestigt sein könnten. Im Schneideraum von Whitlock Majestic ließ Emily das stumme Band weiterlaufen. »Ich konnte nichts dazu sagen«, murmelte sie und beobachtete Ella, die hinauf zur Decke schwebte und sich dort entlangbewegte wie eine Blase, immer wieder oben anstoßend. »Ich hatte so viele Fragen, und mit einem Mal schienen sie - nur banal.« Aus dem Off erklang Kens Stimme: »Ich will nicht, dass Sie sie hypnotisieren und in ihrem Kopf herumpfuschen.« »Ella, ich möchte, dass du jetzt herunterkommst«, sagte Guntarson ruhig. 183
»Ich bin ihr Vater. Ella, komm da runter.« »Wir wollen sie nicht in Unruhe versetzen, Mr. Wallis. Sie könnte sich wehtun.« Er behielt denselben ruhigen Tonfall bei, und das brachte Ken offensichtlich in Rage. »Was maßen Sie sich für Rechte an, was bilden Sie sich ein«, zischte er, »tun so, als wäre mein Mädchen Ihr Eigentum. Machen Sie, dass Sie rauskommen, ich will Sie nicht mehr in Ellas Nähe haben.« Ella sank zu Boden und erschlaffte mit jedem langen Atemzug. Juliette ergriff ihre Hand. Fraser Bough ließ sich auf die Knie sinken, um gleichzeitig Guntarson und Wallis und Ella im Bild zu haben. Die Gesichter der Männer waren deutlich erkennbar, während Ellas Körper nach unten sank. Guntarson blickte hinüber. Ella war in Sicherheit. »Hör mal!« Ken stand neben Guntarson, packte ihn am Arm und zog ihn herum. Der Jüngere warf den Kopf nach hinten und streckte sich, um zu demonstrieren, dass er größer war. »Ich >pfusche nicht in ihrem Kopf herum<. Ich helfe ihr, mit diesem Druck fertig zu werden. Und Sie nicht.« »Ich sage dir«, befahl Ken ruhig, »du verlässt jetzt auf der Stelle das Haus. Und wenn ich jetzt sage, meine ich jetzt.« »Sie können schäumen vor Wut, wenn Sie wollen. Das lässt mich völlig kalt.« Die Kamera zeigte die beiden Männer als ineinanderfließende Schemen. Ella, die auf dem Boden kniete und vor der Hand ihrer Mutter zurückwich, war nun scharf im Vordergrund. Ihr Gesicht leuchtete fast. Schwer atmend starrte sie zu Boden. »Du kannst gehen, du Klugscheißer, oder ich schmeiß dich raus. Und ich sage dir ...« »Sie wären schlecht beraten, wenn Sie Hand an mich legen würden, Mr. Wallis.« »... wenn du mich zwingst, dich rauszuschmeißen, dann gehst du anschließend nicht nach Hause, sondern direkt in die Ambulanz.« »Halt den Mund!«, sagte Ella. »Was hast du da eben gesagt, Mädchen?« »Schrei Peter nicht an!« »Jetzt reicht's. Du - auf dein Motorrad! SOFORT! Und du, mein Kind, du suchst dir am besten ein Versteck, wo ...« 184
Eine Hand, die Hand von José Dóla, legte sich vor das Objektiv und verdunkelte das Bild. Undeutlich war Dólas Stimme zu vernehmen, der über Kens Gebrüll hinweg mit Fraser diskutierte. Dóla konnte sich nicht durchsetzen, und ein paar Sekunden später sah man verwackelte Bilder vom Teppich, dann fand die Kamera Ellas Gesicht. »Lass das drin, lass das, das ist Gold wert«, sagte Emily. Sie und Fraze waren so nah am Monitor, dass er von ihrem Atem beschlug. »Mr. Wallis, Kenneth!«, rief Dóla. »Wir sollten uns beherrschen. Vergessen Sie nicht, wir haben Gäste.« Ken stieß mit dem Finger nach Fraser. »Das nehmen Sie nicht auf!« »Aber darum geht es doch, ja?«, beharrte Dóla. »Wir haben die Leute eingeladen, damit sie filmen. Nun wird jeder Verständnis dafür haben, dass Sie zurzeit alle sehr angespannt sind. Aber wir können unsere Probleme ohne Geschrei lösen.« »Sie ist kein Problem«, sagte Ken. Sonderbarerweise klang seine Stimme mit einem Mal vernünftig. »Sie erinnert sich bald wieder daran, dass sie Mutter und Vater ehren muss, egal, wie berühmt sie ist.« »Ich mache nichts ohne Peter.« Ellas Gesicht verfinsterte sich vor Angst. Noch nie hatte sie sich ihrem Vater widersetzt. Aber jetzt traute sie sich auch nicht mehr zurück. »Du kannst mich nicht zwingen.« »Das werden wir ja sehen.« »Nein. Peter ist der Einzige, der mich versteht.« »Ach ja? Nun, dein Peter kann verschwinden und zusehen, wo er woanders leichtes Geld verdient.« »Habgier. Das ist es, ja, Mr. Wallis? Sie wissen, warum Sie Ella nicht mehr windelweich prügeln können, stimmt's? Weil Sie gierig sind nach dem Geld, dass sie Ihnen einbringt. So viel hat sie Ihnen noch nie bedeutet. Ist doch so?« »Du bist kein Vater«, knurrte Ken. »Was weißt du schon?« »Ich weiß, dass Sie an nichts anderes denken außer an Geld.« »Und du willst was davon abhaben!« »Sollte es dazu kommen, habe ich es mehr verdient als Sie. Ella braucht mich in ihrer Nähe. Ohne Sie kommt sie sehr gut zurecht.« »Du willst Geld, damit du verschwindest, was?« »Mir geht's nicht um Geld. Ich bin noch nicht einmal an einem förmlichen Vertrag interessiert.« »Du kriegst auch keinen. Ella ist noch minderjährig. Ich bin ihr ge185
setzlicher Vormund. Und ich unterschreibe nichts, auf dem dein Name draufsteht.« »Wenn Ella will, dann werden Sie keine andere Wahl haben.« »Für dich tu ich gar nichts«, verkündete Ella ihrem Vater. »Das Geld, das du dir nimmst, das ist, als ob du es stiehlst. Du hast nichts getan, du verdienst es nicht.« Sie lächelte Peter zu, stolz und verängstigt zugleich. Er sah sie nicht an. Sein Blick war auf Ken gerichtet, der ihn ebenso geringschätzig betrachtete. »Du hältst dich wohl für sehr klug. Wart's ab, Klugscheißer. Du sitzt auf der Straße, bevor du es merkst.« Er stolzierte zu der Eichentür und wandte sich um. »Und du, mein Mädchen - ich hoffe, du bereust deine bösen Worte eines Tages, gebührend und aufrichtig. Der Teufel hat von deinem Herzen Besitz ergriffen. Du kennst Gottes Wege noch nicht gut genug, sonst wärst du wenigstens beschämt darüber, dass du diese niederträchtigen und gottlosen Worte zu deinem Vater gesagt hast.« »Kokolores«, fauchte Peter. Ken schüttelte so ernst und feierlich den Kopf, als hätte er noch nie im Leben seine Stimme gegen jemanden erhoben. »Deinetwegen hat unser Heiland heute bittere Tränen vergossen, mein Mädchen.«
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KAPITEL 23
E
mily Whitlock tippte mit dem Finger auf den Bildschirm, direkt auf Kens Bierbauch. »Unterbrich ihn hier. Wie lang war das? Elf Minuten? Ein bisschen drüber. Alles in einer Einstellung - Alfred Hitchcock würde vor Neid erblassen. >Unser Heiland vergießt bittere Tränen.< Ich hätte zu gern ein paar Aufnahmen von diesem Typen, wenn er predigt, aber um das zu arrangieren, haben wir einfach nicht genug Zeit. Okay, Schnitt ... wir müssen deutlich machen, wer dieser blonde Typ ist. Guntarson. Alle anderen sind klar: Ella, ihre Eltern - vielleicht sollte ich einen halben Satz als Off-Kommentar einbauen, ganz am Anfang, und Joe Dóla vorstellen. Aber die Zuschauer werden sich fragen: >Wer ist der Große da?< Ihr Freund? Ich glaube nicht. Er verhält sich nicht so, als ob er mit ihr schläft. U n d sie ist offensichtlich kein Flittchen. Sie ist ein Kind. Also müssen wir dahinterkommen, wie er hineinpasst.«
Fraze reichte ihr ein anderes Band. »15.30 bis 16.45 Uhr. Das ist das, wo er die Treppe hinaufgeht, richtig? Das wird reichen. Ich sagte zu ihm so ungefähr: >Warum drängen Sie sich dieser Familie auf?< Kannst du das finden?« Sie sah zu, wie das Band weitergespult wurde. »Okay, nach dem da, hier habe ich versucht, dass die Mutter etwas sagt, irgendwas. O h n e Erfolg. Okay - ab hier.« Peters Gesicht war zu sehen. Er stand ruhig hinter Juliette Wallis' Stuhl und beobachtete ihre Tochter. Alle paar Augenblicke schloss er die Augen und schürzte die Lippen. Die Kamera schwenkte auf Ella. Sie versteckte ein Lächeln hinter ihrer Hand. »Ich wusste nicht, dass du das aufgenommen hast«, murmelte Emily. »Ella und dieser Guntarson haben auch nichts gemerkt. Es erstaunt mich immer wieder, Fraze, dass die Leute nicht merken, wenn du sie filmst. Du wirst unsichtbar. Ist das paranormal?« Ella schloss die Augen, legte die Finger auf die Lider und begann zu nicken, als würde sie eine Melodie hören. »Von welchem Planeten kommt sie?«, fragte Emily. »Beim Drehen dachte ich«, sagte Fraze, »er schickt ihr Botschaften. Gedankenübertragung.« 187
»Eine heimliche Unterhaltung«, flüsterte Emily. »Kein Wunder, dass sie ihm vertraut. Irgendwie müssen wir das mit reinnehmen.« Aus dem Fernseher fragte ihre Stimme: »Peter, man könnte sagen, dass Sie sich dieser Familie aufdrängen. Ellas Vater hat sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er will, dass Sie gehen.« Ken und Dr. Dóla waren nicht im Zimmer. »Warum bleiben Sie?« »Ella möchte mich um sich haben.« »Aber Sie kennen Ella doch erst seit ein paar Tagen, nicht wahr? Sie sind kein alter Freund.« »So?« »Warum also, glauben Sie, braucht sie Sie plötzlich so sehr?« »Weil sich ihr Leben schlagartig extrem verändert hat.« Er sprach ruhig und bestimmt. »Zu dieser Veränderung haben Sie ganz wesentlich beigetragen.« »Ich ... habe die Menschen aufgerüttelt. Ja.« »Sind Sie darüber froh?« »Natürlich. Aber Sie müssen verstehen - mir wurde diese Rolle zugewiesen. Ich habe sie mir nicht ausgesucht.« »Die Redaktion der Daily Post hätte genauso gut einen anderen Reporter schicken können?«, hakte Emily nach. »Dann würde dieser andere Reporter jetzt hier stehen, an Ihrer Stelle, und darauf bestehen, bei Ella zu bleiben?« »Natürlich nicht. Es hat nichts mit Journalismus zu tun. Kommen Sie, sehen Sie selbst«, sagte Guntarson. Er wandte sich zur Tür. Die Kamera beobachtete Ellas ängstliches Gesicht. »Ella, möchtest du mitkommen?« »Ihr Vater sagt, sie soll hierbleiben«, sagte Juliette. »Bis er zurück ist. Wird das lange dauern, was Sie uns zeigen wollen, Peter?« »Ein paar Minuten. Dann werden Sie verstehen.« Die Kamera schwenkte zu einem Treppenabsatz, der ein Fenster auf der einen und Türen auf jeder Seite hatte. An der Wand hingen ein Kürass und ein Helm, der wie eine Zinnschüssel aussah. Gegenüber der Treppe stand ein halbmondförmiger Tisch mit einer spiegelglatten Oberfläche. Darauf stand eine Messingbüste. Guntarson wog sie in seinen Händen, bevor er sie Emily Whitlock reichte. »Sehen Sie die Inschrift?« 188
»Unser lieber Dan.« Eric Williams hielt einen Scheinwerfer darauf, damit das Messing richtig glänzte. »Dan«, sagte Guntarson, »ist Daniel Dunglas Home. Ein viktorianischer Spiritualist. Ein Medium.« »Tischerücken, Botschaften von den Toten, solche Sachen?«, antwortete Emily. »Ein Scharlatan, mit anderen Worten.« »Ich glaube nicht, dass irgendjemand, der mit Home zu tun hatte, dieser Ansicht war«, sagte Guntarson und stellte die Büste wieder auf den Tisch. Er sprach den Namen »Hume« aus. »So gut wie jede Berühmtheit der viktorianischen Zeit besuchte eine von Homes Séancen. Dickens, Thackeray, Ruskin. Er war in den meisten Palästen Europas zu Gast. Und niemand hat je Betrug festgestellt. Home war echt. Und worauf es ankommt - er levitierte. Genau wie Ella. Eine Zeit lang war er ein Superstar. Viele haben ihm dabei zugesehen. Er saß oder stand bei einer Séance, war vermutlich in Trance, dann begann er zu levitieren. Manchmal stieg er senkrecht hinauf, manchmal nahm er seinen Stuhl mit. Einmal flog er durch ein Fenster im dritten Stock hinaus und durch ein anderes wieder herein.« Fraser hinter der Kamera lachte. »Es hört sich komisch an«, gab ihm Guntarson nachsichtig recht. »Ich wäre nicht im Mindesten überrascht, wenn mit Ihrem Videomaterial etwas Komisches passieren würde. Sie spulen es zurück, und ja, vielleicht ist es ruiniert. Oder einfach verschwunden.« Emily fragte: »Wollen Sie mir sagen, Ella ist eine Reinkarnation dieses Mannes, dieses Home?« »Sie übersehen das Entscheidende. Wir haben alle Fakten hier vor uns. Wir brauchen keine Verbindungen zu erfinden. Sehen Sie. Ella hat noch nie etwas von Home gehört. Dóla hat nie von ihm gehört - ich habe ihn gefragt. Dóla benutzt dieses Haus nur. Es gehört ihm nicht einmal, er wohnt nicht einmal hier, es ist nur ein Versteck. Er kommt schon seit Jahren hierher und seit Jahren geht er an dieser Büste von unserem lieben Dan vorbei, ohne sich etwas zu denken. Und dann bringt der gute Doktor Ella hierher. Die levitiert, was die ganze Welt weiß. Und hier steht eine Büste ihres Vorgängers.« Emily zuckte die Achseln, als sie sagte: »Netter Zufall.« »Wie können Sie etwas derartig Offensichtliches leugnen? Das of189
fenkundig Unleugbare?« Guntarson schrie fast vor Wut. »Hier ist eine Intelligenz am Werk, die das steuert. Wenn Ihnen ein Zeichen gegeben wird, warum tun Sie es als Zufall ab?« Er hob die Hände und griff in die Luft - und schlagartig hellte sich sein Gesicht auf. »Nun, wenn Sie es sehen könnten, würde ich nicht so sehr gebraucht.« »Wie meinen Sie das?«, fragte Emily nach. »Ich sagte Ihnen bereits, mir ist diese Rolle zugewiesen worden. Als Ellas Interpretant.« »Zugewiesen von wem?« »Sie nehmen das zu wörtlich. Übernatürliche Kraft hat ihre eigene Persönlichkeit. Sie kann Menschen herausgreifen und auswählen, Ereignisse herbeiführen, genau wie wir. Übersinnlich sein beinhaltet nicht nur das, was offen zu Tage liegt - Levitation oder was immer. Es bedeutet, im Besitz einer nichtmenschlichen Intelligenz zu sein.« »Nichtmenschlich? Meinen Sie Aliens?« »Nein. Das meine ich nicht. Manche Leute entscheiden sich für diese Erklärung, andere wiederum nehmen als Erklärung Gott, aber ich glaube, es ist völlig angemessen zu behaupten, übernatürliche Kraft besitzt ihre eigene, selbstständige Intelligenz. Einschließlich der Macht, sich selbst einzelnen Personen hinzugeben.« »Dann wurde Ella nicht mit übernatürlichen Kräften geboren? Ihre Kräfte haben sie erwählt?« »Sie könnten sogar zuerst mich erwählt haben«, erklärte Peter. »Schließlich war ich vor ihr auf diesem Planeten.« »Und wie passen Sie da hinein? Welche Rolle spielen Sie?« »Ich bin ihr Ermöglicher. Ihr Katalysator, der Schlüssel zu ihrer Tür, das entscheidende Teil in ihrem Puzzle, der Funke zur Zündung des Motors. Welche Metapher Sie auch wählen, Sie müssen verstehen, dass Ella ohne mich nur ein übersinnlicher Zufallsgenerator ist. Sie kann es nicht kontrollieren. Sie kann es nicht begreifen. Sie kann keinen Sinn darin erkennen. Und da komm ich ins Spiel, der Ermöglicher, denn inzwischen ist sie alt genug, um als Kanal für ihre Psi-Energien genutzt zu werden. Und meine Aufgabe ist das Fokussieren.« Emily sagte: »Wäre es nicht sehr viel einfacher zu sagen, Ella wurde mit außergewöhnlichen Fähigkeiten geboren?« »Ach, kommen Sie. Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass es sich bei 190
alldem um eine natürliche menschliche Funktion handelt? Ihre Kräfte wären ihr angeboren? Kaum sehr logisch, wirklich nicht, oder? Sonst wäre ein Arzt mit einem operativen Eingriff in der Lage, den Konzentrationspunkt zu finden, von dem ihre Levitation ausgeht. Sie wissen schon, eine Geschwulst im Gehirn oder so etwas. Das hat nichts mit Physiologie zu tun. Das hat nichts mit Genen zu tun, sie wird es nicht an ihre Kinder weitergeben können. Glauben Sie mir, ich bin der lebende Beweis dafür.« »Warum?« »In meiner Familie gab es medial Veranlagte. Das hat mich dazu veranlasst, auf diesem Gebiet zu forschen. Ich habe mein halbes Leben damit verbracht, alles über die verschiedenen Erscheinungen des Paranormalen zu lesen. Ich habe mein Studium daran ausgerichtet - ich habe nur deshalb Psychologie studiert, um mehr über die wechselseitige Beeinflussung des Übersinnlichen mit der Psyche zu erfahren. Meine PsiEnergien haben mich auf diesen Weg geführt. Bereit für den Tag, an dem ich der Ermöglicher für Ella sein kann.« »Wer waren die Übersinnlichen in Ihrer Familie?« »Verwandte eben. »Hat einer von ihnen levitiert?« »Nein. Ella ist außergewöhnlich. Aber nur die Kombination unserer Energien macht sie außergewöhnlich. Darum weiß ich, dass wir zwangsläufig voneinander angezogen werden. Unsere übersinnlichen Energien ziehen sich an.« »Manche Leute könnten Ihre Theorie ein wenig ... egozentrisch finden.« »Ich weiß, dass Sie mich für verrückt halten«, entgegnete er. »Aber bedenken Sie doch einmal für einen Moment die Macht, die mit diesem kleinen >Zufall< oder, in Ermangelung eines zutreffenderen Wortes, mit der Synchronität in Verbindung steht.« Er fuhr über Homes Büste. »Es wurde arrangiert, dass diese Büste angefertigt und hier aufgestellt wurde und hier stehen geblieben ist, hundert Jahre später wird das Haus verkauft, und wieder Jahre danach kommt jemand, der relevant ist, in dieses Haus. Und diese Person bringt jemanden mit, der dieses Zeichen erkennen und interpretieren wird, jemanden, der wissen wird, wer Home war und welche Bedeutung das alles hat. Und es Ihnen erklären wird.«
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»Ja. Okay.« Emily wandte sich zum Gehen. »Denken Sie an die Macht, die sich darin manifestiert. Sie überspringt ein Jahrhundert und schließt diese Lücke, indem sie die Finger dazwischenklemmt. Wenn Sie das einmal in Ihren Kopf gekriegt haben, können Sie nur noch Ehrfurcht empfinden. Kein Wunder, dass sie Ella hochheben und wie eine Feder im Zimmer herumblasen kann.« »Was ist, wenn die Energien beschließen, etwas zu tun, womit Sie nicht einverstanden sind. Nehmen wir an, es steht im Widerspruch zu Ihrem moralischen Empfinden. Diese Energien besitzen eine eigene Intelligenz - wie werden Sie mit einem Meinungsunterschied fertig - und ich meine keinen zwischen Ihnen und Ella, ich spreche von einem Meinungsunterschied zwischen der menschlichen Intelligenz und der PsiIntelligenz?« Lächelnd schüttelte Guntarson den Kopf. »Drücken Sie es anders aus, dann haben Sie exakt das, wovor Ellas Vater, dieser Jesus-Freak, Angst hat. Okay, tut mir leid, halten wir uns an die formelle Sprache. Ellas Vater ist evangelischer Christ, er nimmt die Bibel sehr wörtlich, und er fürchtet, seine Tochter könnte von Dämonen besessen sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er so sehr um ihre Seele fürchtet - er kann eben aus Ella viel Geld herausschlagen. Und wahrscheinlich ist es eine Sünde, aus einer von Dämonen Besessenen Geld herauszuschlagen. Er bräuchte sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen. Und Sie auch nicht. Ella ist erwählt worden, weil sie ein guter Mensch ist. Ein geistig reines Kind. Eine Unschuldige. Die Unschuldigen sind jenseits der Verführung durch Dämonen.« Emily hielt das Band an. »Es ist schade«, sagte sie, »aber das Letzte werden wir nicht nehmen. Zu herabwürdigend.« »Musst du überhaupt was von dem Zeug drinlassen?«, fragte Eric. »Das ist doch ein Blödmann.« »Ich habe das Gefühl, dass er bei der ganzen Sache eine große Rolle spielt. Er ist ein integraler Bestandteil des Ella-Phänomens. Und wir sind die Ersten, die ihn damit in Verbindung bringen. Er beeinflusst den Blick, mit dem man Ella betrachtet. Findest du nicht? Das hat verhindert, dass ich meine eigene Agenda entwickelte für das, was sie tut, meine eigene Wunschliste. Weil ein anderer das vorher gemacht hat.« »In diesem Fall«, warf Fraze ein und nahm die Kassette 16.40-17.55 Uhr, »sollten wir auch das reinnehmen. Es kommt gleich am Anfang. 192
Ich brenne darauf, das abzuspielen. Wir werden sehen, ob es echt ist oder nur Schrott.« Das Material, das er ein Stück weit vorspulte, zeigte die Familie am Teetisch. Ella und Juliette aßen, Ken und Joe Dóla führten eine heftige Unterhaltung, dauernd fuhren Finger Richtung Decke hinauf und Fäuste hieben auf den Tisch. Peter Guntarson hatte sich von den anderen am Tisch distanziert, er saß zurückgelehnt und rührte sein Essen nicht an. Die Messingbüste schien in einem spitzen Winkel auf dem Tisch aufzuschlagen, als sei sie aus der Richtung hinter Ellas Kopf geworfen worden. Sie traf die Teekanne, und Steingut zerbarst in unzählige Teile. Dampfender Tee ergoss sich über das Tischtuch. Die Büste drehte sich zweimal, bis sie leicht vibrierend neben Joe Dólas Teller zum Liegen kam. Als die Teekanne zerbrach, sprang Juliette schreiend auf. Ihr Mann verstummte schlagartig und saß wie erstarrt. Dóla berührte vorsichtig die Büste. »Geben Sie sie Ella«, wies ihn Guntarson an. »Sie ist gekommen, weil sie bei Ella sein will.« »Ich habe das noch nie gesehen!«, protestierte Ella. Sie rutschte mit ihrem Stuhl ein wenig nach hinten, um nichts von dem herabtropfenden Tee abzubekommen. »Unser lieber Dan«, erklärte Guntarson, nahm den Messingkopf und beugte sich damit vor zur Kamera. »Das ist Daniel Dunglas Home vom Treppenabsatz oben. Jetzt müssen Sie mir glauben: Diese Büste ist ein Zeichen.« Fraser hielt den Film an. »Fest wie ein Fels«, sagte er stolz. »Ihr werdet nicht den kleinsten Wackler im Film entdecken. Obwohl«, fügte er hinzu und spulte das Video zurück, »meine Knie danach weich wie Pudding waren.« »Jetzt schauen wir mal. Die Einzelbildfolgen. Das Objekt kommt von links. Hat es jemand reingeschmissen? Jemand von außerhalb des Bildes? Beobachtet die Gesichter am Tisch - blickt jemand auf, sucht jemand nach einem Komplizen? Wartet jemand darauf, dass dieses Ding geworfen wird? Ich sehe nichts dergleichen, keine Spur.« »Guntarson isst nichts«, bemerkte Emily. »Stimmt. Er starrt lediglich auf die Teekanne. Gehen wir weiter - eins, zwei, drei ... vier Bilder. Fünf. 193
Da ist es! Seht - fast in der Bildmitte. Woher ist es gekommen? Gehen wir ein Bild zurück. Keine Spur von dem Ding. Und vor - es materialisiert sich einfach. Mehr kann man dazu nicht sagen. Es erscheint mitten im Flug aus dem Nichts. Und auf dem nächsten Bild - seht, es ist drei Inches weiter inzwischen und ein paar Inches tiefer. Was würdet ihr sagen: Sechs Inches über dem Tischtuch? Und es fliegt noch ein paar Inches weiter. Es kommt recht steil herunter. Und auf dem nächsten Bild ... weg! Nicht da. Verschwunden! Ein Bild zurück, es ist da. Eins vor, es ist weg. Wow. Und auf dem nächsten Bild ist es auch noch nicht wieder da. Also wo ist es? Ist es erschienen und verschwunden, was glaubt ihr?« »Ich habe nur etwas ganz verschwommen gesehen.« »Unglaublich. Da ist es wieder. Und es ist bleibt da, auf dem nächsten Bild trifft es die Teekanne. Und peng! Ein Bild weiter - seht euch das an.« »Es erinnert mich ein wenig«, bemerkte Emily, »an diese Zeitrafferaufnahmen. Ihr wisst schon, eine Kugel, die ein Ei durchschlägt.« »Nur dass das hier ein Messingkopf ist, der eine volle Teekanne trifft. Wenn das ein Zeichen ist ...« »Es muss so sein. Es muss etwas bedeuten.« »Okay. Sagen wir, er hat recht«, räumte Fraser widerwillig ein. »Mr. Guntarson behauptet, es sei intelligent, bedeutungsvoll. Okay, es ist bedeutungsvoll. Bloß was in Gottes Namen soll es bedeuten?«
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KAPITEL 2 4
Sun, Mittwoch, 20. Januar:
Ella-Virtual Airline - Ein Wunder In Großbritannien herrschte gestern paranormaler Ausnahmezustand. Berichte von unglaublichen Phänomenen, die sich ereigneten, während Millionen gebannt vor den Fernsehern saßen, brachen über die Nation herein. Die brandaktuelle Dokumentation über das Luftlande-Medium Ella Wallis auf BBC1 löste eine unfassbare Kette von ähnlich gearteten Ereignissen aus. - In Barnley schwebte die dreifache Mutter Michaela Nixon unkontrollierbar auf ihr Dach und musste von Nachbarn mit der Leiter gerettet werden. - In Falkirk stieg die alte Standuhr der Familie Kennedy waagerecht zur Decke hinauf und blieb zwei Stunden, nach wie vor tickend, oben. - In Mousehole, Cornwall, konnte der Schuljunge Richard Wellington, zehn, nur, indem er auf sie zeigte, Gegenstände verschwinden und wieder auftauchen lassen. - In Aberdovey, Wales, strömte das Wasser aus Charles Tidworths Badewanne die Wände hinauf und sickerte durch die Decke. Ein paar Minuten nach Beginn von Emily Whitlocks Sendung Panorama über Ella und ihre Familie liefen die Telefone der Sun wegen unzähliger Anrufe verwirrter, aufgeregter und verängstigter Zuschauer heiß. Verlegene BBC-Chefs mussten zugeben, dass ihre eigene Vermittlung viereinhalb Minuten lang unter dem Ansturm zusammengebrochen war, und viele Anrufer nur baten, man möge ihnen sagen, dass sie träumten oder dass dies so etwas war wie Orson Welles' getürkter Krieg der Welten. Die hysterische Reaktion hat die Resonanz auf den übersinnlichen Rudy Zeller aus der Schweiz, der Mitte der Siebzigerjahre die Zuschauer dazu brachte, Besteck zu verbiegen und kaputte Uhren wie195
der in Gang zu setzen, bei Weitem in den Schatten gestellt. Dieses Mal war jedes Ereignis einzigartig - nicht ein Anrufer berichtete von einem Phänomen, das mit einem anderen identisch gewesen wäre. Nur eines hatten alle gemeinsam - überall lief der Fernseher, und eingestellt war BBC1. Nicht einmal unsere eigenen Mitarbeiter waren immun dagegen. Der Kriminalberichterstatter Niels Hammer - normalerweise nicht bekannt für fantasievolle Höhenflüge - sagte: »Ungefähr zehn Minuten nach Beginn der Sendung verschwand meine Uhr von meinem Handgelenk. Ich weiß, dass ich sie getragen habe. Heute Morgen fand sie sich in einem Schuh wieder. Das Unheimlichste aber ist, dass sie nicht mehr geht. Sie blieb um 21.41 Uhr stehen, genau zu der Zeit, als sie verschwand. Sie war immer absolut zuverlässig, aber ich fürchte, jetzt muss ich mir eine neue kaufen.« Niels' Erlebnis ist eine Kleinigkeit verglichen mit dem Schock, den die Wetteransagerin Janice Chauncey erlitt, die sich die Dokumentation nach der Moderation ihres Wetterberichts um 21.25 Uhr auf Studiomonitoren ansah. »Der leere Stuhl neben mir begann zu schweben«, sagte sie. »Ich muss einen Schrei ausgestoßen haben, denn der Produzent steckte seinen Kopf durch die Tür, um nachzusehen, ob mit mir alles in Ordnung ist. Das Studio ist für andere nicht zugänglich, und ich dachte: Das kannst du keinem erzählen - die glauben, bei dir ist eine Schraube locker. Doch dann begriff ich, dass ich mir nichts einbilde - mein Produzent stand wie erstarrt in der Tür. Also habe ich die Arme ausgestreckt und ihn an den Beinen festgehalten. Und der Stuhl stieg weiter nach oben. Ich konnte ihn nicht runterbringen. Ich wiege etwas über fünfzig Kilo und ich habe so fest gezogen, wie ich konnte. Aber letztendlich hob er mich vom Boden hoch. Ich musste loslassen. Ich bin nur drei oder vier Inches gefallen, aber er hat mich eindeutig vom Boden gehoben.« Es hieß, Ella Wallis, die nach wie vor mit ihrer Familie und ihrem Guru, dem Ex-Journalisten Peter Guntarson, an einem geheimen Ort auf dem Land wohnt, wäre gestern Abend angesichts des paranormalen Chaos ebenso fassungslos gewesen wie der Rest von Großbritannien. »Sie kann es nicht erklären«, sagte ein Sprecher. »Sie weiß nicht, wa196
rum ihr diese Dinge widerfahren - und sie kann sich deshalb auch nicht vorstellen, warum andere Menschen in Mitleidenschaft gezogen werden.« The Independent, Mittwoch, 20. Januar: Dank sei dem Videorekorder. Er hat fünfzig Millionen Menschen der gesellschaftlichen Vergessenheit entrissen. Über die Hälfte der Fernsehzuschauer entschieden sich am Montagabend gegen Panorama und sahen sich stattdessen das Spiel in der European Champions League zwischen Manchester United und Juventus Turin auf ITV an. Ein großer Fehler. Zum einen, weil das Spiel reichlich unspektakulär war, 1:1 unentschieden. Und zum anderen, weil sich Panorama als das bedeutsamste Ereignis in der Geschichte des Fernsehens entpuppte. Wenn Sie die Sendung nicht gesehen haben und wenn Ihre Katze nicht frei schwebte oder Ihre Möbel im Wohnzimmer nicht Walzer tanzten, dann haben Sie in den nächsten paar Monaten ausgesprochen schlechte Karten. In den kommenden Wochen dreht sich das Gespräch bei jeder Dinnerparty und in jedem Pub ausschließlich darum, wer was erlebt hat. Der Büroklatsch beschäftigt sich nur mit einem Thema, nämlich, wer mit wem beim Schweben erwischt wurde. Und der Mann im Bus Nr. 19 lässt Sie an dem fantastischen Ereignis teilhaben, das seiner Schwester in Acton widerfuhr. Zum Glück gibt es das offizielle Video. Erfahrungsberichte scheinen zu belegen, dass in der Nähe jedes Fernsehgeräts, in dem die Wiederholung der Sendung über Ella Wallis läuft, seltsame Dinge geschahen und sogar noch geschehen. Das Hochgefühl von Monty Bell war schnell verflogen. Einen Tag lang, vielleicht auch zwei, hatte er Anerkennung genossen - aber wie immer, wenn Monty eine ihm gebührende Anerkennung erwiesen wurde, war es damit rasch vorbei und sein Ansehen war wieder im Keller. Der Chefreporter, die Redakteure, die Redaktionsassistenten, alle seine Vorgesetzten zögerten nicht, ihm unter dem Vorwand, er sei der Größte, zusätzliche Arbeit aufzubürden. »Monty, ich habe genau den richtigen Job für dich - dazu braucht man deine Verbindungen, dei197
nen Scharfblick, deine Erfahrung«, sagten sie und schickten ihn auf nutzlose Lehrgänge. Monty gab sich Mühe, er war sogar mit Begeisterung bei der Sache. Er glaubte seinen Vorgesetzten, wenn sie ihm schmeichelten - anfangs zumindest. Er glaubte wirklich, seine Karriere würde endlich richtig in Gang kommen. Es war nicht das erste Mal, dass man ihn derart verheizte, aber er fiel wieder darauf herein, wie immer. Und so zog er los, um Storys hinterherzujagen, die keine waren. Und als es ihm nicht gelang, tolle Berichte zu liefern, und als seine Vorgesetzten ihm nicht mehr schmeichelten, sondern begannen, abfällig über ihn zu reden, da glaubte Monty, er hätte sie enttäuscht. Er ließ sich weiter runterziehen und immer weiter bis heute, bis zum größten Anschiss seines Lebens. Mitten in der Redaktion, mitten am Tag, alle anderen Reporter in Hörweite, hatte Monty Bell von seinem Newsdesk-Chef eine aufs Dach gekriegt. Monty war fast zwanzig Jahre älter als der Newsdesk-Chef, aber er musste vor ihm stehen und sich anhören, wie dieses Bürschchen ihm die Art von Anschiss erteilte, die kein Mensch sich gefallen lassen sollte. Niemand mit einem Rest von Würde. Niemand außer einem Reporter mittleren Alters, dessen Hoffnungen auf einen anderen Job gleich null waren. Monty steckte den Anschiss ein. Der Vorwand dafür war ausgesprochen schwach - es hatte irgendwas mit einem falsch geschriebenen Namen zu tun. Man hatte ihn gedemütigt, aber das war nur ein Nebeneffekt. Eigentliches Ziel war, die Belegschaft des Herald wissen zu lassen, dass Monty Bell wieder ganz unten auf dem Misthaufen angekommen war. Künftig würden der Chefredakteur, der stellvertretende Chefredakteur und die Redakteure den Ruhm für die Ella-Story einstecken. Die Kollegen hatten die Botschaft verstanden. Es war spät geworden, aber Monty war nicht nach Hause gegangen. Er wusste, warum er gar nicht daran dachte zu gehen - in der Redaktion musste er sich zusammenreißen. Zu Hause hätte er vermutlich den Fernseher eingeschaltet, sich ein Sandwich gemacht, das er nicht gegessen hätte, dann wäre er zu Bett gegangen und hätte geweint. Im Büro musste er sich unbekümmert geben. Marielle von den Features ging hinter seinem Schreibtisch vorbei. »Ich habe auch schon bessere Tage gesehen«, bemerkte er, aber sie antwortete nicht. Sie sah nicht einmal zu ihm hin. 198
»Oh ja, ganz eindeutig, ich hatte schon bessere«, fuhr er fort. Auch ein Monty-Trick, um Demütigungen nicht so an sich heranzulassen: Wenn dich die anderen ignorieren, dann rede einfach weiter. Tu so, als würdest du mit dir selbst reden. »Alles hat seine Vor- und Nachteile, so ist das eben. Vor zehn Tagen war ich der Größte - heute bin ich nicht mehr gut genug, um den Druckerei-Lokus zu putzen. Oh ja, so bleibt man auf dem Boden.« Er stand auf und marschierte zum nicht besetzten Newsdesk. Die Wörterbücher und Telefonbücher lagen sorgsam in abgeschlossenen Schubladen. Es gab nichts zu lesen. Ein großer Apple Mac stand seit Neujahr auf dem Schreibtisch des Newsdesk-Chefs. Monty schaltete ihn ein. »Es war mein Fehler. Ich bringe eine fabelhafte Story - ich war es nämlich, der die Ella-Story angebracht hat«, erinnerte er den Apple Mac, »auch wenn jetzt jeder Typ diese Ehre für sich beansprucht. Guck dir doch unsere Titelseite von gestern an: >EMPORGEHOBEN!< EmporScheiße-gehoben. Und der Redakteur hat seinen Namen als Verfasserangabe draufgesetzt. >Wie Ella meinen Fernseher schweben ließ< von Herald-Redakteur Andrew Archibald. Nicht gerade das aufregendste Phänomen der Welt, würde ich sagen, aber der Große Weiße Häuptling muss sich natürlich wichtigmachen. Emporgehoben! Wie oft erwähnt er meine Wenigkeit? Genau gar nicht. Wie oft erwähnt er sich selbst? Zwei-vier-sechs, ungefähr fünfzehn Mal.« Monty stand auf und starrte, die Zeitung in den Händen, auf den Artikel auf der Titelseite. »Und er ist noch nicht mal gut geschrieben.« Er setzte sich in den hochlehnigen Sessel, der für die Redakteure des Newsdesks reserviert war. »Bin selber schuld. Ella war mein Fund. Und ich habe sie mir wegnehmen lassen. Trottel.« Er seufzte. Armer alter Monty Bell, jeder verscheißerte ihn. Er ging mit dem Cursor auf Start und klickte auf ein kleines blaues Icon mit einem Steuerrad. Ein Fenster ging auf, und es öffnete sich der Nachthimmel des legendären Netscape Navigator 3.01. Er sah zu, wie der Navigator lud. »Wie geht das jetzt?« Die nächsten paar Stunden verbrachte er damit, das herauszufinden. Mit dem Navigator kam man ins Internet. Darum stand dieser Mac auf dem Newsdesk. Ohne Name und Passwort ließ ihn Navigator allerdings nicht einmal den Anker lichten. Mehr hoffnungs- als erwar199
tungsvoll tippte er »Monty Bell« und erhielt die Abfuhr: Nutzeridentität nicht erkannt. Abbrechen oder neuer Versuch? Natürlich neuer Versuch. Hast du nicht auf Anhieb Erfolg, dann versuch es noch mal und noch mal. Tritt ihnen in die Eier. Hol dir dein Essensgeld zurück. Er gab den Namen des Redakteurs ein: Nicht erkannt. Aber mit dem Namen des Newsdesk-Chefredakteurs landete er einen Treffer. Nächste Frage: Passwort? Monty versuchte es mit Herald, Evening, Bristol, Nachrichten, Zeitung, Story, Internet, Logon, Passwort, Newsdesk, Redakteur, Manuskript, Headline, Deadline. Jedes Mal musste er den Namen des Newsdesk-Chefs erneut eingeben. Er versuchte auch diesen Namen als Passwort und zerbrach sich den Kopf, um sich an den Namen der Freundin dieses Bürschchens zu erinnern. Er versuchte es mit sämtlichen Lieblingszoten des Redakteurs. Er versuchte es mit Reporterklischees Schock, Horror, Untersuchung, Wissenschaftler, Knüller. Er versuchte es mit Ella. Ella funktionierte. Monty tippte »Ella« in das Feld auf dem Monitor. Navigator fand 295611 Treffer für »Ella«. Die konnten natürlich nicht alle Ella Wallis meinen. Es musste Tausende von Ellas im Internet geben. Er versuchte es mit »Ella Wallis« und erhielt 173 011 Treffer. Welcher war seiner? Er klickte die ersten an und las Zeitungsberichte aus Sydney und Wellington. Auf der Homepage von einem Mervyn aus Cleveland, Ohio, wurde von einer spektakulären Levitation berichtet - der Esstisch samt dem Mittagessen der Familie und zwei Großeltern. Monty lachte, aber er war sich nicht sicher, ob das auch lustig gemeint war. Er fand noch mehr Homepages, weitere Augenzeugenberichte. Vielleicht gab es auch Homepages aus Bristol. Um ein Uhr früh holte er sich einen Kaffee. Um zwei Uhr versuchte er es mit kombinierten Eingaben: »Ella Wallis« + »Bristol« und hatte Tausende Treffer, weil die Leute in ihren Beiträgen zu Ella auch die Adresse mit eingaben. Aber als Monty »Clifton« hinzufügte, engte er das Feld auf drei Treffer ein - allesamt aus Bristols Nobelgegend. Drei Augenzeugenberichte über unerklärliche Phänomene während der Panorama-Sendung. 200
Das war ein Anfang. Monty hätte in jedes Pub in Bristol gehen können und hätte innerhalb von drei Minuten drei Augenzeugen für das Ella-Phänomen gefunden. Weiter versuchen. Er versuchte es mit »Ella« + »Guntarson«. Unzählige Treffer, aber auf den Seiten, die er sich ansah, wurde Guntarson nur beiläufig erwähnt. Was war das für ein Kerl? Gab es irgendwo Hintergrundmaterial über ihn? Er versuchte »Guntarson« + »Biografie«, »Guntarson + Ausbildung«, »Guntarson« + »Karriere«, ohne Erfolg. »Guntarson« + »Nationalität« erbrachte ein interessantes Detail - Ellas Freund war in Kanada geboren. Was war mit »Guntarson« + »Kanada«? Ein Treffer. Aber ein kapitaler Treffer. Die Adresse war die des Zeitungsarchivs der Winnipeg Free Press mit Sitz in 300 Carlton St., Winnipeg, Manitoba. Der Ausschnitt war zwölf Jahre alt. Monty überprüfte alle im Bericht erwähnten Namen auf weitere Hinweise, um noch das Letzte aus dem Archiv der Free Press herauszuholen. Das war um drei Uhr früh. Er schrieb die Story an seinem Schreibtisch, druckte sie aus und kennzeichnete sie: Copyright © Monty Bell. Dann löschte er den Artikel aus dem Computersystem des Herald und achtete darauf, keine Sicherungskopien zu hinterlassen. Er schaltete das Fax am Newsdesk ein und schickte seinen Bericht an die Daily Post. Dieses Mal lautete die Rechnung auf 800 Pfund - doppelt so viel, wie er das letzte Mal zu verlangen gewagt hatte. Das war um fünf Uhr früh. Monty musste um 6.30 Uhr in der Redaktion anfangen, deshalb machte er einen Spaziergang durch die Stadt. Am nächsten Morgen stand sein Artikel in der Post. Es war den Leuten sogar gelungen, einen Schnappschuss der Familie Guntarson auszugraben, der die gesamte Titelseite einnahm. Am Wochenende hatte Monty Bell den Bristol Evening Herald verlassen und wurde Fünfzig-Riesen-im-Jahr-Korrespondent für paranormale Phänomene bei der Daily Post.
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Daily Post, Freitag, 22. Januar [oder Donnerstag, 21.]:
Die geheime Tragödie von Ellas Guru Der geheimnisvolle Hüter des Wunderkindes Ella Wallis musste mitansehen, wie seine Mutter ertrank, als er gerade dreizehn Jahre alt war. Das enthüllten Dokumente, die bis gestern erstaunlicherweise im Verborgenen schlummerten. Der ehemalige Reporter der Post, Peter Guntarson, hat nie über das Leid gesprochen, das seine Kindheit zerstörte. Aber gestern Abend kamen die in Vergessenheit geratenen Geschehnisse über das Internet wieder ans Licht. Nun ist ersichtlich, dass der in Kanada geborene Guru, der diese Woche in einem die Welt erschütternden TV-Special das vierzehn Jahre alte Medium Ella vorgestellt hat, mit albtraumhaften Erinnerungen hat leben müssen. Ruth Einarsons Tod vor dreizehn Jahren veränderte das Leben ihres damals halbwüchsigen Sohnes von Grund auf - ein Leben, das bereits durch die bittere Trennung der Familie geprägt war. Die dreiundvierzigjährige ehemalige Grafikerin ereilte der Tod bei einer Bootsfahrt in der Nähe eines Fischkutterwracks auf dem Lake Manitoba nicht weit von ihrer Heimatstadt Winnipeg, Kanada. Peter musste hilflos mitansehen, wie seine Mutter, eine gute Schwimmerin, in Schwierigkeiten geriet und nur ein paar Yards von ihrem Boot entfernt ertrank. Ein paar Wochen nach ihrer Beerdigung wurde der Junge von seinem Vater auf eine Public School nach England geschickt - obwohl Peter seit der Trennung nur bei seiner Mutter gelebt hätte. Viele Jahre war Ruth Einarson ihre Karriere in einer Werbeagentur wichtiger als eine eigene Familie - eine Einstellung, die ihrem ehrgeizigen Ehemann entgegenkam, einem Bauingenieur, dessen auf umweltfreundliche Materialien spezialisierte Firma inzwischen ihren Sitz in London hat. Freunde sagten, ihre Entscheidung für ein Kind habe die Ehe unerträglich belastet, und bevor Peter drei war, hatten sich seine Eltern auseinandergelebt. 1981 wurde die völlige Trennung vollzogen, und Ruth lebte mit ihrem Liebhaber, einem Bootsbauer namens Clarence Robson, zusammen. 202
Robson zählte zu der Rettungsmannschaft, der es gelungen war, bis auf einen Mann die Besatzung des Fischerbootes zu retten, als es in dem hundert Meilen langen Lake Manitoba auf Grund lief und kenterte. Es konnte nie geklärt werden, warum Ruth Einarson sich eine Woche nach dem Untergang entschied, zu dem Wrack hinauszurudern. Ihr Sohn verweigerte gestern Abend jeden Kommentar zu der Tragödie - wie bisher immer. Wenn Peter Guntarson sich nicht dazu entschließt, die ganze Geschichte zu erzählen, werden die Gründe für diese riskante Unglücksfahrt zum Wrack hinaus für immer im Dunkeln liegen. Daily Post, Innenteil, Freitag, 22. Januar: Zehn Dinge, die Sie von Ellas verrücktem Guru noch nicht wussten - Die Entlarvung des Ex-Post-Reporters Peter Guntarson: 1) Sie können sich darauf verlassen - er ist Doktor! Dr. Guntarsons Doktorarbeit zum Dr. Phil, am Christchurch, Oxford, hatte den bizarren Titel »Die Flossen von Raumschiffen und außerirdische Augen: Die Darstellung von UFOs im modernen Design«. 2) Trotz seiner Größe von 6 Fuß 2 Inches und einem Gewicht von 175 Pfund hat er sich nie in Mannschaftssportarten hervorgetan - aber er hat sein Land bei den Unter-18 über 200 m repräsentiert. 3) Sein bevorzugter »Sport« ist Bumsen. Eine Ex-Freundin erzählte, in seiner Studentenzeit wollte er bis zu FÜNFmal in einer Nacht mit ihr schlafen. 4) Er ist so stolz auf seinen Mensa-würdigen IQ, dass er schon einmal vorgehabt hatte, 1250 Pfund für das Nummernschild PG183 auszugeben - seine Initialen plus seinem einem Genie entsprechenden IQ-Wert. 5) Seine Karriere als freier Journalist startete er mit einer Reihe über einen Poltergeist im Oxford Journal, reagierte aber wütend, als der skeptische Redakteur manche der heftigeren Gespenster-Phänomene abschwächte. 6) Er ist Gesundheitsfanatiker und rührt nie Milchprodukte oder auf Weizen basierende Nahrung an,... aber er ist kein Vegetarier, bei kurzgebratenem rotem Fleisch langt er tüchtig zu. 203
7) Mit vierzehn Jahren wurde er als Internatsschüler auf die Lutheran Academy in Theakston, Yorkshire, geschickt - wo er in jedem Fach brillierte. 8) In Oxford beschäftigte er sich nebenbei mit dem Katholizismus, Spiritualismus und der Kampagne gegen Atomwaffen. Aber derartige Interessen kollidierten nie mit seinem Studium, er war Jahrgangsbester in Psychologie. 9) Seine Eltern, Guntar Einarsson und Ruth Friedman, heirateten 1964. Nach der isländischen Tradition seines Vaters wurde Peter »Sohn von Guntar« - Guntarsson - genannt, aber 1988 änderte er die Schreibweise seines Namens und ließ ein s weg. 10) Geld spielt keine Rolle. Sein Vater, der Millionär Guntar Einarsson, kaufte ihm eine Wohnung in London und übergab ihm zu seinem 21 .Geburtstag ein sechsstelliges Portfolio aus Aktien und Anteilen - und Guntarson rühmt sich, diese verkauft und den Erlös mit steuerlichen Vorteilen in Offshore-Fonds investiert zu haben.
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KAPITEL 25
E
lla saß an einem Schreibtisch im großen Zimmer, den rechten Arm um ein Blatt Papier gelegt und den Kopf über ihr Handgelenk gebeugt. Mit einem Biro-Stift in der linken Hand füllte sie das Blatt mit dicken schwarzen Schlingen und Linien. Fast drei Stunden malte sie ohne Unterbrechung. Rings um den Stuhl lagen zwölf oder fünfzehn Blätter, alle mit den gleichen Mustern bemalt. Ellas Gesicht berührte fast das Papier, sie konnte gar nicht sehen, was sie malte. Die konstante, monotone Bewegung des Kugelschreibers ging automatisch vonstatten. Sie sah etwas ganz anderes. Sie sah das, was Peter Guntarson sah. Sie betrachtete die Welt mit seinen Augen. Zuerst hatte Ella nur gesehen, wo im Haus er sich aufhielt. Während er den dritten Stock erforschte oder durch die muffige Bibliothek ins nächste Zimmer ging, saß sie bei ihrer Mutter im Wohnzimmer und folgte ihm im Geist. Juliette hatte bereits vor sechs Uhr den Fernsehapparat eingeschaltet. Sie sagte, sie hätte nicht schlafen können. Sie sagte, sie hätte gefrühstückt, bevor Ken aus dem Haus gegangen, bevor jemand aufgestanden war. Sie trank, und sie gab sich keine Mühe, es zu verheimlichen. Die letzten paar Stunden hatte Juliette geredet. Vielleicht telefonierte sie. Ella war es egal. Sie hörte nicht zu. Als Peter ein Buch nahm, war es, als könnte sie das Buch in dem dunklen Schlingenmuster unter ihrem Arm sehen. Nicht richtig sehen, nicht wie ein Buch, das sie in der Hand hielt. Aber alle sinnlichen Eindrücke waren da. Der abgenutzte Falz am Buchrücken, die verwitterten vergoldeten Buchstaben, der feuchte Fleck, der den Umschlag unten wellte. Er blätterte die Seiten um, die Zeilen mit den Buchstaben waren deutlich zu sehen. Seine Augen überflogen die Seiten, zu schnell für sie, um die Worte zu erfassen, aber sie wusste, dass er sie las. Wenn Guntarson zur Wand blickte, auf seine Hand oder auf die Regale, dann sah Ella, was er sah. Es war ein gutes Gefühl. Oft schon hatte sie ein Echo seiner Gedanken eingefangen, aber noch nie einen auch nur 205
flüchtigen Eindruck erhascht von dem, was er sah. Andererseits hatte sie es auch noch nie versucht - dies war das erste Mal. Sie hatte sich stundenlang konzentriert, und das Bild war deutlicher und verlässlicher geworden. Sie spionierte nicht. Sie wollte, dass er das wusste, deshalb schickte sie ihm Botschaften: »Ich beobachte dich.« »Ich kann dich sehen.« Er antwortete stets: »Ich kann dich hören.« Einmal fügte er hinzu: »Bist du okay?« Was sollte Ella darauf antworten? Sie konnte sich nicht orientieren. Ihre Mutter befand sich mit einer Ginflasche auf der anderen Seite dieses fremden Zimmers. Sie war nicht in der Schule. Sie konnte nicht mit ihren Freundinnen oder mit ihrem Bruder sprechen. Ihr Vater könnte jederzeit zurückkommen. Woher sollte sie wissen, ob sie okay war? Sie antwortete schlicht: »Ja.« Ken kam zurück, und Ella sah es durch Peters Augen. Der Regen rauschte in Strömen, die Zufahrt stand unter Wasser. Dutzende Wagen hatten sich um das Haus versammelt, ihre Reifen versanken tief im Kies. Sie sah sie so deutlich vor sich, dass sie die Kennzeichen lesen konnte - B612 FLY parkte am nächsten. Die Wagen standen seit gestern in aller Herrgottsfrühe da, als das Versteck aufgeflogen war. Hinter den beschlagenen Fenstern saßen unsichtbar die Journalisten mit ihren Kameras. Die internationalen Teams lauerten in ihren Satellitenübertragungswagen mit ausgefahrenen Antennen und in den Schüsseln sammelte sich das Wasser. Dr. Dóla hatte versprochen, dass Ella sich heute nicht zeigen würde. Das Versprechen wurde honoriert. Von den fünfzig Wagen und den Motorrädern der Fotografen, die im Morgengrauen vor dem Haus standen, fuhren über die Hälfte ab. Der eine oder andere Reporter hatte Ellas Handynummer herausbekommen. Sie wählten und wählten, aber Guntarson hatte das Handy in seiner Jackentasche. Er hatte sich noch nicht dazu aufgerafft, es neu zu laden. Ein dicker BMW 750 in Racing Green, das im Dämmerlicht schwarz erschien, rollte langsam über den Kiesweg. Sein neuer Besitzer achtete sorgsamst auf den Lack. Ken Wallis hatte noch nie ein nagelneues Auto besessen. Er hatte noch nie ein Auto mit einem so starken Motor ge206
fahren, nicht einmal, als sein Bruder ihm großzügig die Schlüssel für den Vier-Liter-Jaguar geliehen hatte. Das Warten hatte sich gelohnt. Regentropfen hieben wie Geschosse auf die Karosserie. Jeder Einschlag drohte, eine Delle in den glänzenden Lack zu hämmern. Ken machte die Zündung aus und schlug vor: »Die Pressefritzen könnten mich eigentlich gleich mal mit dem Siebener fotografieren.« Joe Dóla knöpfte seinen Mantel zu. Den ganzen Tag hatte er sich Kens Gerede angehört. Seit elf Uhr, seit Ken den Wagen zum ersten Mal in den BMW-Ausstellungsräumen in Kensington gesehen hatte, bezog sich jeder Satz auf den »Siebener«. »Es ist zu nass.« »Ist doch ihr Job, oder? Wenn sie das bisschen Regen nicht aushalten, ... ihre Bosse werden sie ganz schön zusammenstauchen, wenn sie kein Foto vom neuen Siebener von Ellas Dad bringen.« »Die Leute würden nass bis auf die Haut.« »Die können mich durch die Scheibe fotografieren. Wie einen Filmstar, verstehen Sie, dieses Foto von Clark Gable am Steuer.« »Das Licht ist zu schlecht.« »Was ist los? Wollen Sie keine guten Publicity-Fotos in den Zeitungen morgen?« »Die Leute sitzen den ganzen Tag in ihren Autos«, sagte Dr. Dóla. Ken hatte seine Geduld überstrapaziert. »Vermutlich haben sie in ihren Kleidern geschlafen. Sie werden Ihnen kaum dankbar sein, wenn sie noch mal klatschnasse Klamotten kriegen. Los jetzt, tragen wir diese Tüten rein.« Aber an der Haustür, trocken und geschützt unter dem Säulenvorbau, drehte sich Ken um und winkte den in ihren Autos kauernden Journalisten zu. Er hatte die Hände voll mit Tüten aus gelacktem Papier mit vergoldeten Schnüren als Henkel. Die Fotografen, die ihre Objektive durch die einen Spaltbreit geöffneten Fenster geschoben hatten, stellten zögernd die Kragen hoch und stiegen in den Regen hinaus. »Was tun Sie da?«, zischte Dr. Dóla. »Eine Erklärung abgeben.« »Nein. Um Gottes willen!« »Nicht«, warnte Ken, drehte sich jäh um und stach dem kleineren Mann den Finger in die Brust. »Keine Blasphemie. Ich weiß, Sie sind Ausländer und Sie haben eine andere Religion und all das. Aber ge207
brauchen Sie niemals den Namen unseres Herrn, außer in heiliger Ehrfurcht.« Die Fotografen näherten sich langsam, die hohle Hand über den Objektiven, um sie vor dem Regen zu schützen. Offenbar hatte man sie in den Regen hinausgeholt, um Zeugen einer Auseinandersetzung zu werden. »Ich bin Katholik.« »Schön für Sie«, sagte Ken ernsthaft, »das haben Sie mir noch nie gesagt, um das gleich klarzustellen.« »Lassen Sie uns reingehen.« »Ich habe eine Erklärung abzugeben«, beharrte er. »Meine Herren von der Presse! Kommen Sie schon, kommen Sie näher, ich will nicht schreien müssen. Okay, das ist nah genug. Tut mir leid, dass Sie nass werden und so weiter. Aber ich habe die Zeitungen gelesen. Wir kriegen alle, die feinen und die anderen. Und ich weiß, manche von euren Bossen haben behauptet, meine Ella sei nicht echt. Die sagen, vielleicht ist das alles bloß eingebildet, alles nur Fantasie. Hysterie. Das ist das Wort, das sie benutzt haben. Hys-terie. Tja, Sie haben gesehen, was ich heute fahre. Einen nagelneuen Siebener-BMW, das größte Modell. Das nobelste Auto der Welt. Wahrscheinlich besser als das, was eure Chefs fahren. Kein britischer Wagen, ich weiß. Vor ein paar Jahren hätte ich einen Jaguar gewollt. Aber man muss den Tatsachen ins Auge schauen. Wir gehören jetzt zu Europa. Und die Deutschen sind die stärkste Nation in Europa. Bauen die besten Autos. Dieser Siebener kostet mich 75 000 Pfund. Die hab ich bar bezahlt. Nicht auf Pump. Der ist bezahlt. Hört sich das für euch nach Hysterie an? Glaubt ihr, dass ihr euch diesen Siebener bloß einbildet? Seht ihr die Namen auf diesen Tüten? Harrods, Harvey Nichols. Ich habe Geschenke für meine Frau und meinen Jungen gekauft. Und auch für Ella ist was dabei. Eine Menge mehr als das, was sie zu Weihnachten gekriegt hat. Diese Tüten, sind die Hysterie? Hört alle her, ich werde euch was sagen - schon bald haben wir unser eigenes Haus mit Toren, um euch Pack draußen stehen zu lassen. Okay, jetzt könnt ihr wieder in eure Autos.« »Mr. Wallis, können wir mit rein und uns ein wenig trocknen?« 208
»Nee.« »Ach bitte, Ken«, rief einer verzweifelt. Und kurz bevor die Tür ins Schloss fiel, appellierte eine andere Stimme an Dr. Dóla: »Joe, lassen Sie uns rein. Seien Sie doch vernünftig.« Die Tür schlug zu. Peter Guntarson stand an einem Fenster im ersten Stock und blickte auf die Zufahrt hinunter, wo die Journalisten wieder zu ihren Wagen trotteten. Ella, über den Schreibtisch geduckt, sah sie ebenfalls. Sie fürchtete sich vor den Männern und Frauen, die sich um ihr Haus festgesetzt hatten. Die auf sie warteten. Es tat ihr leid, dass sie nass waren, aber sie hatte zu große Angst, um hinauszugehen und zu ihnen zu sprechen oder ihnen heiße Getränke zu bringen. Guntarson hörte Dr. Dóla im Flur schimpfen: »Das war eine dumme Sache, das war nicht gut. Warum hören Sie nicht auf mich? Ich kenne mich in diesen Dingen aus. Dafür werden sie Sie hassen.« »So ist nun mal ihr Job. Hart. Interessiert mich einen Dreck, ist allein ihre Sache. Wenn es denen nicht passt, sollen sie sich einen anderen Job suchen.« »Sie sind Drucker, nicht wahr?« Dr. Dóla erinnerte sich. »Wie mein Vater vor mir.« »Wenn Sie weiterhin schöne Autos fahren wollen, brauchen Sie Journalisten, die Ihnen helfen. Also helfen Sie ihnen.« »Hören Sie, ich habe in Streikpostenketten gestanden, und ich habe gesehen, wie die Journalisten durchgegangen sind.« »Alte Animositäten sind absolut nicht hilfreich.« »Damals habe ich gesagt, die da, die übernehmen unsere Jobs. Stehlen Männern ihren Lohn. Und ich hatte recht, oder?« »Machen Sie sie sich nicht zu Feinden«, führ ihn Dóla an. »Oder die werden Ihnen zeigen, wie es ist, Feinde zu haben. Bezahlen Sie mir nicht genug? Glauben Sie nicht, dass ich weiß, wovon ich rede? Mehr Respekt!« Er stolzierte weg. Guntarson, in der Dunkelheit oben an der Treppe lehnend, blickte hinunter und sah Ken Wallis, der vor Wut fast die Beherrschung verlor. Mit einem tiefen Seufzer, wie um sich zu beruhigen, raffte er die Knightsbridge-Einkaufstüten zusammen und polterte ins Wohnzimmer. »Julie-Mädchen, sieh mal, was ich für dich hab. Und dann kommst du mit und guckst, was draußen steht.« 209
Weder Ella noch Juliette blickten auf. Ken warf die Tüten schwungvoll auf das Sofa. »Sieh rein. Und das sind nur die Zugaben, Julie-Mädchen. Wart ab, bis du siehst, was in der Einfahrt steht. Ich habe ausgerechnet«, fügte er mit lässiger Großspurigkeit hinzu, »dass wir heute fast achtzig Riesen ausgegeben haben. Das ist mehr, als ich in drei Jahren insgesamt verdient habe. Vor Steuern. Und das ist nicht mal die Hälfte von dem, was wir noch auf der Bank haben. Ich habe mit dem Bankdirektor gesprochen, ich hätte keinen Penny ausgegeben, wenn er mir nicht zugesagt hätte, dass diese ganze Knete unsere ist. Alle Schecks sind eingelöst. Das meiste ist der Vorschuss vom Verlag. Wir müssen mit den Leuten zusammenarbeiten, die Ellas Buch schreiben, aber uns kann es egal sein, wenn sich das Buch nicht gut verkauft. Es ist auch egal, wenn es keinen Penny bringt. Es ist sogar egal«, schloss er selbstbewusst, obwohl niemand ihm zuhörte, »wenn das Buch nicht einmal veröffentlicht wird. Der Vorschuss gehört uns.« Keine Reaktion. Ella und Juliette sagten nichts. Nur der Fernseher antwortete ihm. »Was guckst du?« Er drückte die Aus-Taste. Ohne den flimmernden Bildschirm herrschte graues Dämmerlicht im Zimmer. Juliette starrte immer noch in den Apparat. »Du hast getrunken.« Er sagte es mit der milden Ungläubigkeit eines Priesters, den des Teufels List immer wieder erstaunt. Ein paar Stunden hatte er nicht aufgepasst und schon hatte sich die Sünde schlangengleich im Schoße seiner Familie eingenistet. »Wo ist die Flasche?« Juliette hob den Kopf. Er hob die Ginflasche und ein schweres Kristallglas vom Boden auf. Eine Tonicflasche lag umgestürzt daneben. Ken hielt das Glas in der Hand, als würde es stinken. Er kippte die letzten Tropfen auf eine Zeitung und stopfte das Papier in einen Abfalleimer. Nur ein Tröpfchen war noch in der Flasche. »Hast du das alles getrunken?« Juliette sog langsam die Luft ein und versuchte, die Zunge zu bewegen, ohne dabei zu vergessen, aufrecht zu sitzen. »Ich«, sagte sie, »hatte zwei.« Nur das Kratzen von Ellas Stift störte die Stille, bis Ken die Sprache wiedergefunden hatte. »Mein Vater hatte ein Zitat, er pflegte zu mir zu sagen: >Alle Schlech210
tigkeit ist gering gegen die Schlechtigkeit einer Frau<«, und er fügte hinzu: »Ekklesiastes. Das ist aus den Apokryphen der Bibel.« Ken war stolz auf sein Wissen. Mitleidsvoll blickte er auf den Abschaum, der seine Frau war. Sie konnte ihn weder hören noch verstehen. Ihm blieb nur noch, sein Elend voller Würde zu tragen wie ein moderner Hiob. »Es ist nicht christlich, zu verurteilen. Ich muss in meiner Seele nach Vergebung suchen. Aber erst einmal musst du so weit nüchtern werden, dass du bereust. Am liebsten würde ich dich draußen in den Regen setzen, das würde dich wieder zur Besinnung bringen, aber wahrscheinlich holst du dir nur den Tod!« »Gut«, zischte Juliette. »Und du bist Mutter. Bist du nicht dankbar für das, was Gott dir geschenkt hat? Du willst doch noch nicht vor Sein Strafgericht, oder?« Schlagartig kam ihm ein Gedanke. »Du hast doch nicht versucht, dich umzubringen? Julie? Hast du Tabletten genommen? Ist es das? Wo sind sie?« Er krabbelte auf dem Boden herum und suchte nach leeren Fläschchen Paracetamol. Als er aufblickte, merkte er, dass ihn Ella, die sich auf ihrem Stuhl umgedreht hatte, beobachtete. »Was guckst du?« Rasch kehrte sie ihm den Rücken zu und verbarg ihr Gesicht. »Und du hast einfach so dagesessen? Deine Mutter angeglotzt und zugesehen, wie sie sich in diesen Zustand versetzt hat? Hast du gesehen, dass sie Tabletten genommen hat? Antworte mir!« »Nein, Dad.« »Nein was?« »Ich habe Mum gar nichts tun sehen. Ich habe nicht hingesehen.« »Nein, du hast überhaupt nichts mitgekriegt, ja? Lebst in deiner eigenen Welt, ja? Du siehst nicht einmal, wenn deine Mutter eine Flasche in der Hand hat. Weil diese Dämonen das nicht sehen wollen, ja?« »Sie kann doch etwas trinken, wenn du nicht da bist«, verteidigte sich Ella. Sie wollte zu Peter laufen. Sie konnte nicht sehen, wo er sich jetzt aufhielt. Sie wusste nicht, warum er nicht kam und ihr half. »Ich bin immer da, Mädchen. Ich bin dein Vater. Ich bin der Herr im Haus, und ich muss nicht vierundzwanzig Stunden am Tag in Person da sein, damit Ordnung herrscht. Du hast dich so zu verhalten, als ob ich dich jede Minute im Auge habe.« 211
»Das mach ich, Dad.« »Ich sollte euch beide meinen Gürtel spüren lassen. Aber die da« er zeigte auf seine Frau, die sich bemühte, vom Sofa hochzukommen -, »die würde es nicht spüren, und du bist nicht gescheit genug, um etwas daraus zu lernen.« »Welchen Tag haben wir heute?«, fragte Juliette heiser. »Die Sprache wiedergefunden, ja? Weiß nicht mal, welchen Tag wir haben. Mittwoch.« »Hab nicht mit dir gerechnet. Zu Haus. Am Mittwoch.« »Ich hab dir Geschenke mitgebracht. Und ein Auto. Ich wollte, dass du es dir ansiehst, aber du bist nicht in der Verfassung, um rauszugehen. Es ist ein Siebener-BMW.« Sein Zorn ließ nach. Es schien unangemessen, mit einem Siebener vor der Tür so wütend zu sein. Letztendlich würde Juliette für ihre Sünde büßen. Es war nicht sein Kater. »Wass' Name?« »BMW 750il - Einspritzer, langes Modell, heißt das.« »Nicht das Auto. Deine Mittwochsfrau. Marsha. Mar-see-arr. Marcia.« »Lass das, Julie.« Er gab der Vergebung eine letzte Chance. »Komm schon, ich hab dir Geschenke mitgebracht. Tu so, als wär Weihnachten. Ich hab sogar Sachen für Ella.« Er ließ eine Tüte auf ihren Schreibtisch fallen und schob die vollgekritzelten Blätter beiseite. »Machst du Hausaufgaben? Was ist das, Kunst? Braves Mädchen. Musst das Lernen nicht vernachlässigen, nur weil du nicht zur Schule gehst. Jetzt sieh her. Das ist ein tragbarer CD-Player. Mit Kopfhörern, damit du überall zuhören kannst. Ausgenommen bei Tisch, du musst ihn ausmachen, wenn wir essen. Er hat wiederaufladbare Batterien und alles - war der beste im Geschäft. Und«, mit einer schwungvollen Gebärde hob er noch eine Tüte hoch, »weil ein CD-Player keinen Sinn macht ohne CDs, habe ich die gekauft, die in der Top Twenty sind. Was sagst du dazu?« »Was hat das gekostet?« »Ist doch egal. Ich kann es mir leisten.« »Nein. Wie viel hat es gekostet?«, wiederholte sie. »Das ist nicht dein Text. Dein Text ist: >Danke, Dad.«< »Ich will nicht, dass du so viel Geld ausgibst. Du hättest mich fragen sollen.« Wieder bot Ella ihrem Vater, dem die Zornesröte ins Gesicht stieg, die Stirn. Sie hatte ihm einmal getrotzt, als das Fernsehteam da war. 212
Mit Peter als Rückendeckung. Das zweite Mal war nicht ganz so schwer. »Ich will diesen ganzen Scheiß nicht.« »Du hütest besser deine Zunge.« »Du hättest kein Geld, wenn es mich nicht gäbe.« »Du hättest gar nichts, wenn es mich nicht gäbe«, entgegnete er. Sie konnte nicht mit ihm herumstreiten. Sie wusste nicht, wie. Er hatte auf alles eine Antwort. Ella konnte nur sagen, was sie empfand. »Es ist nicht dein Geld.« »Oh ja, und ob. Es liegt auf meinem Bankkonto. Meinem Privatkonto. Niemand hat Schecks auf deinen Namen ausgeschrieben. Weil du erst vierzehn bist, und rein rechtlich heißt das, du bist nichts und niemand, wenn es um Geld geht. Ich werde damit das tun, was ich für das Beste halte, und du wirst das hinnehmen.« »Ich will nicht, dass du es ausgibst. Ich will, dass Peter sich darum kümmert.« »Peter wird keinen Penny davon in seine Finger kriegen.« Er kehrte Ellas blassem, magerem Gesicht den Rücken zu. Juliette, die Fäuste schlaff auf den Knien, versuchte ihn zu verhöhnen, als er die auf dem Sofa liegenden Tüten an sich riss. »Mar-see-arr«, krächzte sie. Ken schleuderte die Tüten quer durch den Flur. CDs schepperten über die Fliesen und etwas aus Stoff, in goldenes Seidenpapier verpackt, fiel vor seine Füße. »Joe Dóla«, brüllte er. »Wer hat meiner Frau dieses Zeug gegeben? Sie ist doch völlig besoffen!« Er duckte sich unter dem Türrahmen, packte die Ginflasche vorn am Hals und schwang sie über seinen Kopf. Das grüne Glas zerschmetterte am Rahmen. Drohend hob Ken den gezackten Flaschenhals. »Joe Dóla!« Zwei Fuß von ihm entfernt bemerkte Guntarson: »Der Doktor ist draußen und verteilt heiße Suppe an die Leute.« Ken wirbelte herum. »Du! Du schleichst da herum und horchst. Du hast meine Frau mit Gin abgefüllt.« »Geht mich alles nichts an.« Guntarson nahm die Hände hoch, als das zerbrochene Glas blitzschnell unter sein Kinn fuhr. Er versuchte nicht, Ken wegzuschieben. Er wollte keine Schlägerei mit einem kräftigen Mann, der eine Flasche in der Hand hatte. Aber er wich auch nicht zurück. 213
»Richtig. Es geht dich nichts an. Keiner aus meiner Familie geht dich was an. Und jetzt sage ich dir, raus hier.« Ella, die Augen fest geschlossen, schob sich langsam vor zur Tür. Peter war da! Er war die ganze Zeit draußen vor dem Zimmer gewesen. Er war bereit gewesen, ihr zu helfen, als sie ihrem Vater die Stirn geboten hatte. Er hatte Wache gestanden. Sie hatte die Hände vor dem Gesicht. »Du steigst jetzt auf dein Motorrad, sofort!«, brüllte Ken. »Oder soll man dich hier als Leiche raustragen?« Guntarsons Stimme blieb ruhig. »Mich können Sie nicht einschüchtern, Ken. Was ist das für ein Gefühl?« Ella spürte, wie das gezackte Glas mit einer flinken Bewegung zurückgezogen wurde. Sie fühlte das weiche Fleisch von Peters Kehle, ungeschützt und verletzlich. Sie schrie: »Nein!« Ken schleuderte die Waffe zu Boden. Er holte mit Schwung aus und donnerte seinen Handrücken, nicht einmal die geballte Faust, auf Guntarsons Backe. Der Jüngere wich einen Schritt zurück. Mit einer geschmeidigen Bewegung, unglaublich wendig für einen Mann seines Gewichts, drehte sich Ken auf seinem linken Fuß und zog sein rechtes Knie hoch an die Brust. Sein Fuß stieß kraftvoll vor, ein Bruce-Lee-Tritt aus seiner jugendlichen Schlägerzeit. Der Bewegungsablauf war instinktiv wieder da. Er schmetterte den rechten Absatz Guntarson mitten in den Bauch, und Peter krümmte sich nach vorn. Der zweite Teil dieses Kung-Fu-Tritts, das Knie ins Gesicht, wäre mit derselben automatischen Sicherheit gekommen wie vor fünfundzwanzig Jahren. Aber für einen kurzen Moment war Ken atemlos und das machte ihn langsamer. Er senkte den Fuß ein wenig. »Lass ihn in Ruhe! Lass ihn in Ruhe!« Ellas Gesicht war das einer Fremden für ihn. Urplötzlich sah er es in allen Einzelheiten. Sie stand vor ihm, hilflos. In seinen Augen war sie keine Tochter. Sie war ein kreischender Dämon. Mit seiner Frau konnte er nichts anfangen. Der Mann, den er getreten hatte, bedeutete ihm weniger als nichts. Ken griff in seine Tasche, um sich zu vergewissern, dass die Schlüssel des Siebener darin waren, und verließ das Haus. 214
Ella lief zu Peter und er stützte sich mit seinem ganzen Gewicht auf ihre Schultern, als er sich bemühte, aufzustehen. »Was hat er dir angetan, bist du okay?«, fragte sie wieder und wieder. Rasch wich die Wut von Guntarsons Gesicht. »Ich werde es überleben«, versprach er und richtete sich auf. »Jetzt ist er weg.« Er legte die Arme um Ellas Rücken, zog ihr Gesicht an seine Brust und umarmte sie fest.
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KAPITEL 26
A
ls Ella allein war, versuchte sie angestrengt, die Empfindungen, die sie bei dieser Umarmung gehabt hatte, aus dem Gedächtnis heraus noch einmal zu erschaffen - die Strukturen, die einzelnen Bestandteile von Berührung und Duft und Temperatur - all die Dinge, die sie sehr stark spüren, aber nicht analysieren konnte. Zaghaft griffen ihre Hände um seine Taille und legten sich über seinem Gürtel sacht auf seinen Körper. Seine Muskeln unter ihren Fingern waren angespannt, keine Stelle ihres eigenen Körpers fühlte sich so an. Er hielt sie nur ein paar Sekunden lang fest, dann glitten seine Hände zu ihren Schultern hinauf. Sie löste sich von ihm, und weil sie nicht wusste, wohin mit ihren Händen, traute sie sich, vorsichtig seine Unterarme zu umfassen. »Hast du«, fragte sie, »hast du ... ?« Guntarson runzelte die Stirn und löste sich sanft aus ihrem Griff. »Hab ich was?« Bestimmt wusste er es? Er musste wissen, was sie dachte? »Hast du ... mich gern?« »Natürlich habe ich dich gern. Warts ab, du wirst bald sehr beliebt sein. Alle werden dich mögen. Ich kann allerdings nicht behaupten, dass ich deine Familie übertrieben gern hätte.« Guntarson nahm Ellas Handgelenk und tätschelte mit ihrer Hand sein Kinn. »Uh, das tut weh. Habe ich einen Schnitt? Das wird ein mächtiger blauer Fleck.« Einen Moment lang dachte sie, er würde die Innenfläche ihrer Hand küssen. Ihr ganzer Arm war schlaff. Leise wurde die Haustür geschlossen. Dr. Dóla schüttelte seine nassen Hände und sagte: »Entschuldigung, ich hatte nicht vor, bei irgendwas zu stören.« Schuldbewusst machte Ella einen Satz. Guntarson grinste. »Wo haben Sie gestört, als wir Sie gebraucht haben?« »Ich sah Kenneth aus dem Haus donnern und mit seinem neuen Wagen davonrasen. Er macht keine Spritztour? Dann haben Sie sich mit ihm geprügelt.« 216
»Er hat mich windelweich geschlagen. Obwohl es ihm vielleicht nicht gefallen hätte, wenn ich mich entschlossen hätte, zurückzuschlagen.« »Was ist mit Juliette? Hat er sie nicht geschlagen?« »Sie war nicht dabei. Sie sieht fern.« »Frauen verprügeln ist ein sehr großes Problem. Publicitymäßig. In diesem Gewerbe gibt es genug Komplikationen, auch wenn dein Vater nicht mit den Fäusten um sich schlägt. Hast du schon mal gesehen, dass er deine Mutter geschlagen hat, Ella?« Ella starrte stumm vor sich hin. Zu antworten wäre Verrat. Dr. Dóla hängte seinen Mantel am Aufhänger an einen Hutständer. »Ich wüsste gern, wo er hin ist. Schließlich haben die Geschäfte bereits zu. Ah, meine liebe Madame Juliette, haben Sie einen schönen Tag verbracht?« Erhobenen Hauptes stand Ellas Mutter in der Tür, doch ihre Knie gaben unter ihr nach. Ihre Haut, normalerweise wächsern und angespannt, war aufgequollen. Angestrengt stierte sie auf die gegenüberliegende Wand. »Peter!«, befahl Dr. Dóla. »Helfen Sie ihr, stützen Sie sie.« Aber als Guntarson nach Juliettes Arm griff, brach sie zusammen und fiel auf die Knie. Um zu verhindern, dass ihr Kopf auf den Boden aufschlug, klammerte sie sich an sein Bein. Erbrochenes ergoss sich auf den Steinboden. Ein zweiter Ruck beförderte einen Teil ihres Mageninhalts über das Oberteil ihres Kleides, über ihren Schoß und auf Guntarsons und Dólas Schuhe. Sie rutschte aus und schlug mit dem Kinn zuerst auf den Fliesen auf, wo sie sich heftig erbrach. Mit jeder Welle der Übelkeit brachte sie weniger heraus, und es strengte sie umso mehr an. Ella schlüpfte hinter ihre Mutter, ergriff ihr Kinn und schlang einen Arm um ihre Hüfte. Sie hielt den Kopf ihrer Mutter oben. Ella kannte sich aus mit Brechanfällen. Um dem Gestank zu entfliehen, eilte Dr. Dóla auf der Suche nach einem Eimer und ein paar Wischtüchern den Korridor hinunter zur Küche. Obwohl Guntarson beim Anblick von Juliettes Erbrochenem, das seine Schuhe wie Politur überzog, selbst gegen aufsteigende Übelkeit ankämpfen musste, überwand er sich, packte die Frau an ihrem Arm und beförderte sie die Treppe hinauf ins Badezimmer. Er ließ Ella bei ihr und verzog sich schleunigst. 217
Auf Juliettes Kinn war Blut. Es hätte von der Spuckerei sein können - Ella hatte mehr als einmal Blut gesehen, wenn sie erbrochen hatte -, aber als sie den Mund ihrer Mutter öffnete, sah sie, dass sie sich einen Zahn halb ausgeschlagen hatte. Er hing in den Mund hinein, und Ella hätte ihn vollends herausziehen können, wenn sie sich getraut hätte. Sie traute sich nicht. Sie zog ihre teilnahmslose Mutter aus, die bei Bewusstsein war, und half ihr in die Badewanne. Die eisernen Wasserhähne drückten gegen ihr Kreuz. Ella stellte den Hebel auf Duschen und spülte sie eine Viertelstunde lang mit einem schwachen Strahl ab. Nachdem sie ihre Mutter in einen Bademantel gehüllt und zu Bett gebracht hatte, ging sie wieder nach unten. Peter war bereits gegangen. In der Dunkelheit ihres Zimmers suchte Ella nach ihm. Dr. Dóla war irgendwo auf einer anderen Etage und versuchte, die Ränder, die Juliettes Erbrochenes auf seinen Schuhen hinterlassen hatte, wegzupolieren. Die Autos und Motorräder der Journalisten standen immer noch dicht an dicht vor dem Haus, verstopften die Zufahrt und parkten auf dem Rasen. Periodisch ließen sie die Motoren an, damit die Gebläse und die Kassettenrekorder liefen. Der Siebener war nicht zurückgekommen. Vermutlich war Ken nach Bristol zurückgefahren. Zu Marcia, seiner Mittwochsfrau. Juliette war noch bei Ella, aber nicht ansprechbar. Frank war in Bristol und schlief in Tante Sylvies Zimmer zur Straße. Ella spürte etwas Feuchtes und Kühles über seinen Augen, konnte aber nicht ergründen, was das war. Sie gab den Versuch auf. Deshalb wollte Ella Peter. Sie lag da, lauschte auf das Heulen des Windes in den Pappeln und stellte sich vor, er würde sie umarmen. Sie rieb die Kante ihres Lakens an ihrem Gesicht und malte sich aus, es wäre sein Hemd. Sie kreuzte die Arme, legte die Finger an beide Ellbogen und stellte sich vor, es wären seine Arme. Der Duft seines Deodorants, nach Zitronen, stürmte auf sie ein, und der modrige Geruch ihres Zimmers verflüchtigte sich. Sie malte sich sein Gesicht aus, wie es auf sie herablächelte, ihre Augen auf seinen Lippen. Sie versuchte, ihn zu umfassen und ihn näher an sich zu ziehen, aber ihr Körper fühlte sich im Vergleich zu seinen kräftigen Muskeln, die sie spüren wollte, wie ein Skelett an. Sein Gesicht ver218
schwand, und sie hatte das Gefühl, als habe man sie auf ihre Matratze fallen lassen, kalt und allein. Deshalb begann sie nach ihm zu suchen. Sie konzentrierte sich auf das, was er sah, aber wo immer er war, das Zimmer war dunkel. Ein bläuliches Flimmern, vielleicht ein Fernsehapparat links in seinem Blickfeld, war nicht hell genug, um etwas zu erkennen. Sie wartete, weil sie dachte, ihre Augen würden sich an das schwache Licht gewöhnen. Da war etwas, da war sie sicher, aber es entzog sich ihrem Blick. Ella versuchte zu lauschen, aber der Wind brauste mit unverminderter Kraft in die Pappeln. Sie versuchte, ihn zu rufen, aber er schien sie nicht hören zu wollen. Sie bemühte sich weiter, etwas zu sehen. Ella hatte fünfzehn oder zwanzig Minuten geduldig in die Dunkelheit gestarrt, als sie etwas sah. Ein orangefarbenes Licht flammte vor ihrem Gesicht auf. Ein Streichholz. Es brannte ruhig und hell, und das von dunklen Locken umrahmte dunkle Gesicht eines Mädchens erschien. Sie lag mit dem Kopf auf einem Kissen und rauchte eine Zigarette. Ihr Hals und ihre Schultern waren nackt und Ella schien direkt auf sie hinabzublicken, was bedeutete, dass Peter über ihr kniete oder kauerte. Das Mädchen blies eine Rauchsäule aus. Ella roch den Rauch, rau und bitter. Sie riss die Augen auf. Sie hatte das Mädchen noch nie gesehen. Sie wollte es auch nie wieder sehen.
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KAPITEL 27
Daily Mail, Donnerstag, 21. Januar: Wir haben abgehoben! Noch vor einer Woche war Levitation ein Phänomen, das nur Mystiker, Exzentriker und Spinner für möglich hielten. Heute ist die halbe Welt fest davon überzeugt, dass es das tatsächlich gibt. Solche Beweise lassen sich nicht einfach abtun - oder vergessen. Man wird sich nicht nur an die Mediensensation erinnern, aus diesen Erfahrungen entstehen Familienlegenden, die gepflegt und ausgeschmückt und von Generation zu Generation weitergegeben werden. Es wurde Geschichte geschrieben. Levitation kennt man natürlich bereits seit Jahrhunderten, aber bis zum entscheidenden Beweis ist viel Zeit vergangen. Bis vor Kurzem waren nur wenige, isoliert auftretende Vorfälle verbürgt. Nehmen wir den heiligen Ignatius von Loyola. Loyola gründete im sechzehnten Jahrhundert, ohne die Unterstützung von Fernsehen und Video und Satelliten, den Jesuitenorden. Aber selbst den Gläubigen muss es schwergefallen sein, die Geschichte seiner wunderbaren Levitation 1524 in Barcelona zu glauben, als er sich etliche Handbreit über den Boden erhob und der Raum von strahlendem Licht erfüllt war. Der heilige Josef von Copertino, der Schutzpatron der Piloten und Astronauten, erlangte wegen seiner Flüge weltweiten Ruhm. Botschafter, Päpste und Prinzen pilgerten zum Franziskanerkloster in Grotella, um Zeuge seiner ekstatischen Verzückungen zu werden. Josef kam als unehelicher Sohn eines Zimmermanns 1603 in einem Stall zur Welt. Er war ein Einfaltspinsel, wollte unbedingt ein religiöses Leben führen, schien aber als Mönch leider untauglich zu sein. Wegen seines hitzigen Temperaments verlor er sogar die Arbeit als Schuster in einem Kapuzinerkloster, und es erforderte Jahre des Fastens und der Selbstkasteiung, bis die kirchlichen Institutionen entschieden, ein klösterliches Leben wäre das Beste für ihn. Sie sollten es schnell bereuen. Um sich Gott zu empfehlen, fiel Josef in einen ekstatischen Tagtraum. Chorgesang, Glockengeläut, jede Erzählung aus dem Leben Christi, der Name der Heiligen Jungfrau, die 220
Namen aller Heiligen, die Erwähnung himmlischer Herrlichkeit: Alles ließ ihn abheben. Josefs Franziskanerbrüder traten ihn, schlugen ihn nieder, steckten Nadeln in ihn hinein und versengten seinen Körper mit Kerzen, aber nichts durchbrach die Trancen. Nur die Stimme seines Superiors konnte den Bann brechen. Häufig levitierte er während dieser Ekstasen, was zahlreiche Augenzeugen unter Eid bestätigt haben. Es schien, als habe ihn eine göttliche Hand vom Boden hochgehoben, doch die Anmut seiner Körperhaltung wurde für gewöhnlich durch seine Neigung, schrille, erregte Schreie auszustoßen, zunichte gemacht. Bei seinen Levitationen schwebte er nicht nur ein bisschen. Manchmal flog der heilige Josef dreißig Fuß oder höher bis hinauf in die Baumwipfel. Der spanische Botschafter am päpstlichen Hof, der Großadmiral von Kastilien, sah ihn auf Kopfhöhe durch eine Kirche gleiten, um eine Statue der Jungfrau zu umarmen. In Osimo nahm er die Wachsfigur des Heiligen Kinds von einer Statue über dem Altar und flog damit in seine Zelle, wo er das Baby wiegte und herzte. Aus Angst, um seine Person könnte ein Kult entstehen, brachten ihn die Kirchenältesten vor die Inquisition. Der heilige Josef verbrachte seine letzten Jahre in elender Schande und wurde von einem geheimen Ort zum anderen abgeschoben. Den Behauptungen nach schwebte sein Körper selbst im Tod noch drei Inches über der Totenbahre. Der Jesuitenpater Herbert Thurston führt in einem seiner fesselnden Essays über den Katholizismus und das Paranormale über zwanzig heilige Männer und Frauen auf, deren Levitationen über jeden Zweifel erhaben scheinen. Die heilige Teresa von Avila, die Reformerin des Karmeliterordens, schilderte es folgendermaßen: »Es ist eine Empfindung, als befände man sich auf einer Wolke oder würde von einem starken Adler hochgehoben und auf seinen Flügeln weggetragen.« Der heilige Philipp Neri sagte, ihm war, als habe ihn jemand ergriffen und eine Kraft habe ihn auf eine seltsame Weise hoch über den Boden hinaufgetragen. Beide Heilige kämpften gegen die ekstatischen Verzückungen an, doch manchmal wurden sie von ihnen überrascht oder überwältigt. Es passierte immer wieder, von der Eroberung durch die Normannen bis zur Jahrhundertwende und darüber hinaus: Giovanni Batista della 221
Concezione, Reformer der Trinitarier; der mexikanische Missionar Anthony Margil; der heilige Edmund, Erzbischof von Canterbury; der Theologe Francisco Suárez; Schwester Mary of Jesus Crucified, eine syrische Nonne; keiner von ihnen wollte, dass die Wunder, die sie heimsuchten, anerkannt wurden, die meisten waren peinlich berührt, wenn sie während ihrer Ekstase gesehen wurden. Ganz anders das viktorianische Medium Daniel Dunglas Home, ein christlicher Spiritualist, der sich während seiner Flüge bereitwillig allen nur erdenklichen Untersuchungen ausgesetzt hat. Home war wohl der medial begabteste Mensch der Geschichte. Als junger Mann träumte er von einem Besuch in der Welt der Geister; seine sehr detaillierte Beschreibung weist große Übereinstimmungen mit neueren Berichten über Nahtod-Erfahrungen auf. Mit fünfundzwanzig war er eine internationale Berühmtheit. Den Kaiser und die Kaiserin von Frankreich und den russischen Zaren machten die unglaublichen Séancen, die er für sie abhielt, zu Anhängern des Spiritualismus. Durch hell erleuchtete Räume glitten und schwebten schwere Möbelstücke. Tische gingen Wände hinauf. Musikinstrumente schwebten und spielten unirdische Melodien. Verborgene Stimmen sangen. Hände materialisierten sich und verflüchtigten sich. Wurde das Licht ein wenig gedämpft, manifestierten sich die Geister selbst und brannten wie Phosphor. Flammen schlugen von einem der Teilnehmer der Séance zum anderen. Sterne brannten in der Luft und auf Homes Gesicht. Nun könnte man ihn für einen genialen Zauberkünstler halten. Zuerst war das auch die allgemeine Überzeugung. Aber Home lag außerordentlich viel daran, die Existenz von Geistern zu beweisen, und er war so erfüllt von seiner Mission, dass er bei seinen zahllosen Séancen gerne Skeptiker, gleich welcher Art, dabei hatte. Als er gesundheitlich bereits ruiniert war, aber trotzdem noch täglich Sitzungen abhielt, versuchten seine Gegner alles, um ihn zu überführen. Sie hielten seine Füße, seine Hände, seine Arme fest. Sie krochen unter Stühle und Tische. Sie verlangten persönliche Informationen von den Geistern, die ein anderer unmöglich wissen konnte. Sie zogen ihn aus, durchsuchten ihn, verlangten von ihm Séancen ohne Vorankündigung aus dem Stand heraus, präsentierten ihm Klaviere und Ak222
kordeons, die er, ohne die Instrumente zu berühren, zum Spielen bringen musste, und wenn er gegangen war, untersuchten sie ihre Räume minutiös nach Spuren von Betrug. Es wurde nie etwas gefunden. Über dreißig Jahre lang hielt Daniel Dunglas Home Séancen ab, und kein einziges Mal wurde er des Betrugs überführt. Schwer zu glauben, dass er echt war, aber noch schwerer zu beweisen, dass er ein Scharlatan war. Selbst in den Augen der größten Skeptiker schienen die Phänomene echt zu sein. Das spektakulärste Phänomen war Levitation. Sir William Crookes, Präsident der Royal Society und einer der herausragendsten Naturwissenschaftler im viktorianischen Großbritannien, schrieb: »Dass Mr. Home vom Boden abgehoben hat, wurde mindestens hundertmal in Anwesenheit von ebenso vielen Personen beobachtet. Bei drei voneinander unabhängigen Vorfällen habe ich gesehen, wie Mr. Home vollständig vom Boden des Raums abgehoben hat: Einmal saß er in einem Sessel, einmal kniete er auf seinem Stuhl und einmal stand er.« Die aufsehenerregendste Levitation ereignete sich am 16. Dezember 1868 bei einer Séance im dritten Stock eines Hauses am Ashley Place in London. An der Séance nahmen neben Home Lord Lindsay, Lord Adare und Adares Cousin, Captain Charles Wynne, teil. Alle drei sahen, wie Home in Trance das Zimmer verließ und hörten ihn ein Fenster öffnen. In einer Zeugenaussage, die exakt mit der seiner Freunde übereinstimmt, schreibt Lindsay: »Fast gleich darauf sahen wir Home draußen vor unserem Fenster in der Luft schweben ... ungefähr siebzig Fuß über dem Boden. (Home) öffnete das Fenster und glitt mit den Füßen voran in den Raum.« Lindsay und Wynne sahen Flammenzungen oder Strahlen aus Homes Kopf schlagen. Als er aus seiner Trance erwachte, war Home nicht bewusst, was er getan hatte, er war tief verstört. Home ist heute fast vergessen. Die über ihn geschriebenen Bücher, einst massenhaft gedruckt, findet man heute kaum noch außerhalb einschlägiger Bibliotheken. Ella Wallis wird ein anderes Schicksal erwarten. Nicht nur, dass Tausende Zeugen ihres Wunders gewesen sind - sie haben es selbst erlebt. Und das wird sich niemals mit einer Handbewegung abtun lassen. 223
KAPITEL 2 8
Sun, Freitag, 22. Januar: Der Dad von Hell-a Der Vater des Wunderkinds Ella Wallis wird heute exklusiv in der Sun als mieser Schürzenjäger entlarvt. Der wiedergeborene Prediger, der letzte Woche aller Welt verkündete: »Meine wichtigste Aufgabe ist es, meine Familie zu beschützen«, hat sie sitzen lassen, um mit einer seiner BEIDEN Geliebten zusammenzuleben. Und Freunde glauben, dass Ken Wallis' französische Ehefrau Juliette zwar von den anderen Frauen wusste, bis heute aber nichts von dem schwersten Schlag geahnt hat - nämlich der heimlichen Familie ihres Mannes, knapp zwei Meilen vom eigenen Heim entfernt. Die arbeitslose Schauspielerin Marcia Collins gebar Ken vor drei Jahren, als Ellas Bruder Frank vier Jahre alt war, einen kleinen Jungen namens Luke. Ein Freund der Familie sagte gestern Abend: »Ken hat das seiner Frau nie gesagt, obwohl jede Woche ein Teil seines Lohns für Lukes Unterhalt abgezweigt wird.« Marcia Collins wohnt mit Luke und ihren Zwillingstöchtern, Esme und Esther, sechs, in einer gemeindeeigenen Wohnung in Hartcliffe, einem von Bristols ärmsten Vororten. Die Sozialhilfe bezahlt die Miete und die Heizkosten. Sie hat sich stets geweigert, der Child Support Agency den Namen des Vaters ihres Babys zu nennen, machte aber kein großes Geheimnis aus den wöchentlichen Stippvisiten von Ken Wallis - die ihm bei den Nachbarn den Spitznamen »Mittwochsmann« einbrachten. Das Paar verweigerte gestern jeden Kommentar, während es Kens Sammlung von Jazz-LPs aus dem geräumigen Kofferraum seines nagelneuen BMWs auslud und in ihre Wohnung brachte. Ein Arbeitskollege bei BK Lewis Printers, wo Ken Betriebsleiter ist, sagte jedoch: »Wenn er seine Alben mitgenommen hat, muss es ernst sein. Er hat so ziemlich alles, was Sinatra je aufgenommen hat. 224
Ken verehrt die alten Jazzstars. Ich glaube, die meisten Platten sind von seinem Vater - der ging in den 40er- und 50er-Jahren in alle diese Clubs, und Ken erzählte mir, er wäre mit dieser Musik aufgewachsen. Deshalb hat er auch diese Namen für seine Kinder gewählt - Frank für Sinatra, Ella für Ella Fitzgerald.« Kens zweite Geliebte ist angeblich die dreiundfünfzig Jahre alte Ailish McLintock, eine Teilzeitputzfrau, aus Easton. Gestern waren die Vorhänge ihrer Wohnung, die auf die M32 hinausgeht, zugezogen, und niemand beantwortete die Anrufe unserer Reporter. »Oh, das ist schlicht brillant. Ich bin so richtig glücklich«, sagte José Dóla. »Das habe ich unbedingt gebraucht. Ich muss Sie nicht daran erinnern, dass ich noch keinen einzigen Penny an alldem verdient habe? Und alles, was ich mir als Gegenleistung dafür ausbedungen habe, war ein bisschen Ehrlichkeit?« Juliette saß demütig auf dem Sofa und drehte eine Tasse mit kaltem Tee in den Händen. Dóla wollte sich ihr gegenübersetzen, aber er war zu unruhig. Er sprang sofort wieder auf die Füße und hieb eine zusammengerollte Sun auf seinen Handrücken. Guntarson lümmelte in einem runden Sessel mit Holzgestell und beobachtete die beiden mit sichtlichem Vergnügen. Dóla war so aufgebracht, dass er ihn nicht beachtete, und er dachte auch nicht daran, seine Stimme zu dämpfen, um Ella nicht aufzuregen. Sie kauerte wieder an ihrem Schreibtisch mit einer großen Packung farbiger Filzstifte, die Dr. Dóla ihr mitgebracht hatte. Heute zeichnete sie Strichmännchen - auf jedes Blatt Tausende, dicht gedrängt, Hüfte an Hüfte, die Körper gerade so breit wie ein Strich mit dem Stift. »Also, wie sollen wir das wieder auf die Reihe bringen? Warum haben Sie mir das nicht längst gesagt? Warum?« »Tut mir leid«, murmelte Juliette. »Leid, ja natürlich. Leidtun hilft uns jetzt sehr weiter. Was habe ich Ihnen gesagt? Gleich zu Anfang? >Wenn es irgendetwas gibt, über das Sie nichts in den Zeitungen lesen wollen, irgendetwas aus der Vergangenheit, irgendwelche dunklen Punkte, dann sagen Sie es mir. Sagen Sie es mir<, habe ich gesagt, und Sie haben gesagt: >Oh nein, wir sind Christenmenschen, wir führen ein anständiges Leben.< Und ich weiß, dass es nicht fair ist, Ihnen die Schuld an den Sünden Ihres Mannes zu geben, 225
aber Sie haben es gewusst, Juliette, nicht wahr? Und Sie hätten mich warnen können.« Er fuhr sich mit der Hand über den Kopf. Der schwarze Glanz, den Dr. Dólas Haar jeden Montag erhielt, war etwas verblasst. Heute war Freitag, und die Haare glitten nicht mehr so seidig glänzend nach hinten. Sie rebellierten und stellten sich zwischen seinen Fingern auf wie Stroh. »Ich hätte das verhindern können. Ganz leicht. Ein paar Pfund hier, ein paar da, und es hätte Stillschweigen geherrscht. Jeder hätte es geleugnet. Oder wir hätten es sogar noch irgendwie zu unserem Vorteil umgedreht. Behauptet, das Kind sei nicht von Ken, sondern von seinem Cousin. Oder sein Patenkind.« »Sie ist Jamaikanerin«, bemerkte Juliette. »So? So? Dies ist ein gemischtrassiges Land. Ich bin kein Engländer, Sie sind keine Engländerin, er ist kein Engländer.« Er deutete auf Guntarson. »Es lässt sich alles erklären. Wenn ... wenn-wenn-wenn-wennwenn-«, stotterte er und stampfte so wütend mit dem Fuß, dass Guntarson auflachte, »wenn wir die Ersten sind, die Bescheid wissen. Das ist nicht komisch!« »Tut mir leid«, sagte Juliette, obwohl sie gar nicht gelacht hatte. »Okay. Schluss mit den gegenseitigen Beschuldigungen. Es ist mir klar, dass es für Sie nicht schön ist, von dieser Sache aus der Boulevardpresse erfahren zu müssen. Und Sie machen sich Sorgen um Ihren kleinen Jungen, Frank. Und das war alles ein bisschen viel.« Er setzte sich ratlos. »Wie also sollen wir weiter vorgehen? Okay, zuallererst Ihr Mann. Es ist mir noch nicht gelungen, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Verständlich, er geht den Reportern aus dem Weg. Er hat sie gereizt wie eine Bienenherde, und nun versteckt er sich vor ihnen.« »Bienenschwarm«, korrigierte Guntarson. Dóla ignorierte ihn. »Er hat meine Nummer. Er hat nicht versucht, mich zu erreichen, und Sie sagen, bei Ihnen hat er sich auch nicht gemeldet. Ich muss also meine Beziehung zu ihm beenden. Vertragsbruch. Mein Vertrag mit der Familie Wallis ist samt und sonders hinfällig.« Er streckte die Beine aus und verschränkte theatralisch die Arme. »Aber. Es wäre nicht korrekt, Sie im Stich zu lassen. Sie brauchen Orientierung, mehr denn je. Deshalb schlage ich vor, wir beantragen bei Ge226
richt, dass Sie das alleinige Sorgerecht für Ella bekommen. Und ich werde die Öffentlichkeitsarbeit nur noch für Sie machen, nicht mehr für Ken.« »Kein Gericht«, sagte Juliette ängstlich. »Aber ja. Das muss sein. Wir fürchten um Ihre Sicherheit, um die Sicherheit des Kindes.« »Sie meinen Scheidung.« »Das ist eine naheliegende Vermutung. Er hat Sie verlassen. Ist bei einer anderen Frau eingezogen.« »Das behauptet nur die Sun.« »Juliette, Sie müssen ehrlich zu sich selbst sein. Ich habe das überprüft. Die Fakten stimmen. Er hat tatsächlich einen Sohn mit dieser Frau.« »Er wird nicht bei ihr bleiben.« »Vielleicht nicht. So, wie er Geld ausgibt, kann ich mir nicht vorstellen, dass er es sich leisten kann, lange von der Arbeit wegzubleiben.« »Wir werden uns nicht scheiden lassen«, erklärte Juliette. »Er kommt immer zurück. Da ist Frank. Er mag Frank, wirklich. Viel mehr«, fügte sie flüsternd hinzu, »als Ella. Und dann ist da noch meine Kirche.« »Lassen sich wiedergeborene Christen nie scheiden?« »Ich bin Katholikin. Wie Sie. Tief im Innern. Ken versteht das nicht. Er hat nie gewusst, was tief in mir vorgeht. Das ist vor ihm verborgen. Ein verborgener Gott.« Sie nickte heftig mit dem Kopf. »Deshalb kann es kein Gericht geben, keine Scheidung.« »Ich glaube, dann kann er Ihren Anspruch auf Ellas Einnahmen anfechten. Er wird alles verlangen. Vermutlich hat er Anrecht auf die Hälfte. So oder so, Sie enden vor Gericht. Dann sind die Einzigen, die etwas verdienen, die Anwälte.« »Warum«, mischte sich Guntarson ein, »nicht einfach Ella das Geld lassen, das sie verdient?« »Halten Sie sich da raus, Sie«, blaffte Dóla. »Wenn ich Wert auf Ihre Expertenmeinung lege, werde ich Sie fragen, aber bei diesem Gespräch geht es nicht darum, wie man Sie reich macht.« »Ella und mir geht es um mehr als nur um das Finanzielle.« »Juliette. Ich schlage vor, wir verhandeln über einen neuen Vertrag. Wir werden einen gut ausgearbeiteten Treuhandfonds für Ella einrichten, auf den ihr Vater keinen Zugriff hat. Und auch sonst keiner«, sagte 227
er mit einem finsteren Blick zu Guntarson. »Ich bekomme wie vorher auch fünfundzwanzig Prozent der Bruttoeinnahmen. Wir überfahren die Boulevardpresse mit einer Charmeoffensive - Ella bleibt sehr mysteriös und auf Distanz, sie ist in kleinen Dosierungen am besten, aber Sie sind sehr zuvorkommend zu den Reportern, sind mit Fotos einverstanden und versorgen sie täglich mit neuen Informationen zur Gesundheit Ihrer Tochter, ihrer Ausbildung. Was Ihren Mann angeht, äußern Sie sich zurückhaltend und versöhnlich. Wir können eine Heilige aus Ihnen machen. Wenn - und damit sind wir wieder bei diesem Wort -, wenn Sie mir diesmal wirklich versprechen, dass es keine weiteren schmutzigen Überraschungen mehr gibt. Okay? Keine weiteren Leichen mehr im Keller?« Juliette senkte den Blick. »Was noch? Geht es um die Trinkerei? Ich habe Ihnen doch gesagt, wir werden Ihnen die Unterstützung geben, die Sie brauchen. Hier gibt es im Umkreis von einer Meile keinen Alkohol. Diese Versuchung können Sie getrost vergessen. Sie werden stark sein, das weiß ich, ich weiß, Sie wollen nicht mehr trinken. Ich werde Ihnen helfen. Ella wird helfen.« »Tut mir leid. Es ist nicht das Trinken. Ich habe es aufgegeben. Für immer. Wenn Ken nicht da ist, ist das ganz leicht. Es liegt nur an meiner Willenskraft. Und wenn er zurückkommt, habe ich meine Trinkerei vergessen.« Sie starrte immer noch auf ihre Füße. »Das ist es nicht. Es ist etwas anderes.« »Sagen Sie es mir. Was es auch ist, mich kann nichts schockieren. Ich habe alles schon gesehen, weit Schlimmeres, als Sie sich überhaupt vorstellen können. Sagen Sie es mir, und ich werde mich der Sache annehmen. Sagen Sie es mir nicht, dann wird die Boulevardpresse sich der Sache annehmen.« »Es ist ... persönlich.« Juliette beugte sich vor, die Fingerknöchel in das Polster gedrückt, und bewegte stumm die Lippen. »Eine Beziehung?« Sie schüttelte den Kopf. Mit dem Daumen über ihre Schulter auf Ella zeigend, flüsterte sie: »Sie braucht es nicht zu wissen. Es steht in meinen Arztberichten. Ich weiß, einer wird sie veröffentlichen. Wenn das passiert, sterbe ich.« »Eine Abtreibung?« 228
Sie legte ihre Hände an sein Ohr und zischte: »Er hat mir etwas Schlimmes angehängt. Eine Krankheit.« Dr. Dólas Gesicht zeigte keine Regung. »Eine Krankheit. Sprechen Sie von Syphilis? Gonorrhö also. Ken hat Ihnen einen Tripper angehängt. Den kriegen Leute jeden Tag. Da sind Sie nicht die Einzige. Nach Franks Geburt? Sind Sie jetzt gesund? Gut. Kein Problem. Sie sehen, es ist viel besser, wenn man offen spricht. Niemand wird Ihre Berichte sehen. Ich werde diesbezüglich ein gerichtliches Verbot erwirken. Und auch für Ellas Berichte, bloß des Effekts wegen. Wir behaupten, wegen genetischer Gründe. Das fasziniert die Leute. Verstehen Sie? Wir drehen einen Nachteil zu einem Vorteil um. Und jeder, der auch nur veröffentlicht, wann Sie das letzte Mal ein Aspirin genommen haben - der wandert auf direktem Weg ins Gefängnis!« »Danke. Tut mir leid.« »Um Himmels willen«, lächelte er, »es ist doch nicht Ihre Schuld. Und wir gehen weg aus diesem Haus, ja? Mir ist erst jetzt bewusst geworden, dass ich es nicht mag. Es ist so düster. Wir gehen, wohin Sie wollen. Ella, was hältst du von der Küste?« Sie ignorierte ihn. »Frische Seeluft tut uns allen gut. Planen wir unseren nächsten Schritt.« »Der nächste Schritt«, sagte Guntarson, »ist die wissenschaftliche Anerkennung.« »Von wem?« »Was wir brauchen, ist ein Aufsatz in einer wissenschaftlichen Zeitschrift. Wir wollen die offizielle Anerkennung. Experimente, Tests ... Ich habe alles arrangiert. Mir lag Ella am Herzen, nicht nur ihre Eltern. Und bevor Sie fragen, es geht dabei nicht um Geld.« »Peter. Warum machen Sie uns nicht eine Tasse Tee?« Guntarson grinste. Es machte ihm Spaß, diesen aufgeblasenen kleinen Heuchler mit dem Stock im Kreuz und der silbernen Fliege Pläne schmieden zu sehen für etwas, das er unmöglich kontrollieren konnte. »Ein paar Leute haben Ella und mich für morgen Nachmittag eingeladen.« »Morgen Nachmittag halten wir eine Pressekonferenz ab. Ihre Anwesenheit ist natürlich nicht notwendig. Ich weiß ohnehin nicht, wann sie das jemals wäre.« 229
»Doppelbuchung«, rief Guntarson leutselig. »Wir sollten unser Dilemma lösen lassen - Ella, möchtest du lieber morgen mit mir dahin, worüber wir gesprochen haben, oder willst du Dr. Dóla begleiten?« »Mit dir gehen.« Strahlend drehte sie sich um, kam herüber und lehnte sich an die Lehne seines Sessels. Er tätschelte ihre Hand. »Ella und ich haben eine Einladung. Wir besuchen die Raglerian Laboratories in Oxford, jemand vom Journal of the Scientific World wird dabei sein, die brillantesten Physiker und Psychologen der Universität werden ihre weißen Kittel anziehen, und Ella wird sie mit einer kleinen übersinnlichen Vorstellung aus den Schuhen hauen.« Dóla starrte ihn ungläubig an. »Ich kann Ihnen nicht sagen, warum«, fügte Guntarson hinzu, »aber ich habe das Gefühl, Ellas Kraft ist zyklisch. Sie steigt und fällt. Wie die Gezeiten eines Ozeans. Sie ist immer da, sie ist immer enorm, aber manchmal ist sie ausgeprägter als sonst. Und eine starke Vorahnung sagt mir, dass ihre Kraft morgen auf einem Höhepunkt sein wird.« »Machen Sie Witze?« »Warum sollte ich ?« »Sie können sie nicht in ein wissenschaftliches Labor bringen.« »Warum nicht?« »Mein Gott! Sie begreifen auch gar nichts. Denken Sie doch mal nach. Ella ist ein Mysterium. Absolut unergründlich. Ein Mysterium hat Einfluss auf das Leben, die Religion, die Art und Weise, wie wir die Realität wahrnehmen. Dinge, die niemand ignorieren kann. Und wie die Religion, wie das Leben, hat jeder zu Ella seine eigene Theorie. Jeder will Antworten auf die Fragen. Ist sie eine Betrügerin, ist sie ein Engel, besitzen wir alle diese Kräfte, ist sie eine Hexe oder eine Wundertäterin? Und Sie wollen in ein Labor gehen und das Mysterium auseinandernehmen lassen.« »Ja.« »Das ist so, als würde man die Gans aufschneiden, die goldene Eier legt. Stellen Sie sich vor, die Wissenschaftler finden heraus, warum Ella levitiert? Ende der Geschichte. Ende des Interesses. Ende des Mysteriums. Und schlimmer noch, angenommen, die Leute finden nichts. Das frustriert sie. Bringt sie in Verlegenheit. Sie haben ihren beruflichen 230
Stolz. Also erklären sie Ella schlicht für hysterisch. Sonst ist nichts dran. Die Nerven eines vierzehn Jahre alten Mädchens. Alle werden sich auf diese Antwort stürzen. Sie haben keine Ahnung, wie schnell eine Story versandet, wenn das öffentliche Interesse nicht mehr da ist. Heute sind die Zeitungen >Ella, Ella, Ella<. Morgen - gar nichts mehr.« »Sie schlagen ernsthaft vor, wir sollten uns die einmalige Gelegenheit entgehen lassen, die größte Chance, die es je zur Erforschung des Paranormalen gab - nur um eine PR-Kampagne durchzuziehen.« »Und um Ellas Treuhandfonds aufzufüllen.« »Sehr scheinheilig. Ich habe bisher noch nicht viel von einem Treuhandfonds gehört. Heute Morgen zum ersten Mal. Und was wurde aus Ihrem Versprechen, bis zum Erreichen der ersten Million Pfund auf Ihren Anteil zu verzichten? Werden Sie das stillschweigend vergessen?« »Hören Sie.« Dr. Dóla sprang flink vom Sofa und fuchtelte mit den Fingern vor Guntarsons Gesicht herum. Er bemühte sich nicht mehr um Liebenswürdigkeit. »Ich habe Sie gewarnt, von Geld zu reden. Das ist das letzte Mal, denn, glauben Sie mir, Sie sind nicht aus dem Holz geschnitzt, um mit den Großen zu spielen. Kapiert?« »Ich weigere mich, eine Konversation in Ihrem Pidginenglisch zu führen.« »Sie wollen, dass ich es ausspreche. Gut. Wo waren Sie Donnerstagnacht? Ich kenne die Antwort. Mittwochnacht? Ich weiß es. Letzte Nacht? Sobald die Fotos entwickelt sind, weiß ich auch das.« Guntarson hatte aufgehört zu lächeln. Er setzte sich auf und schob Ella von seinem Sessel weg. »Ich war letzte Nacht zu Hause.« Seine Worte klangen heiser. »Und bei wem waren Sie die Nacht davor zu Hause?« »Ich halte Sie nicht für so dumm, dass Sie glauben, ich wäre erpressbar.« »Diese Mühe würde ich mir nicht machen. Aber da Sie sich nun unbedingt ein wenig aufspielen müssen, halte ich den Zeitpunkt für gekommen, Ihnen zu zeigen, wie es ist, wenn mit harten Bandagen gekämpft wird.« Unvermutet warf sich Peter lachend zurück. »Sie aufgeblasener Esel. Vollgepumpt mit grandioser Selbstherrlichkeit. Sie machen sich zum Gespött des ganzen Landes. Ich habe wirklich keine Lust, so viel heiße 231
Luft zum Platzen zu bringen. Meinen Verstand mit dem Ihren zu messen, wäre Verschwendung von Intellekt.« »Schön. Sie werden bestimmt nicht zum Gespött des Landes, wenn das Land Ihren in Oxford ausgebildeten Hintern mit heruntergelassenen Hosen sieht.« »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden. Und Sie auch nicht.« »Mittwochnacht. Was glauben Sie, wo man Sie Mittwochnacht mit heruntergelassenen Hosen gesehen hat?« Mittwochnacht. Das war der Abend, als Ken Peter geschlagen hatte und beide anschließend verschwunden waren und Ella versucht hatte, das zu sehen, was Peter sah. Und sie hatte nichts gesehen außer einem Mädchen mit dunklem Gesicht, das sich eine Zigarette anzündete. Dieses Gesicht, nur für einen Moment aufflackernd, war Ella seither nicht mehr aus dem Kopf gegangen. »Mittwochnacht? Sie wollen ernsthaft wissen, was ich Mittwochnacht gemacht habe? Okay, erstens: Ich kann machen, was ich will. Zweitens: Wenn Sie mir nachspionieren, halte ich Sie für sehr krank und sehr dubios, und es wird mir ein Vergnügen sein, Sie vor Gericht zu sehen - erst vor dem Straf- und anschließend vor dem Zivilgericht. Drittens: Alles, was ich am Mittwoch gemacht habe, war fernzusehen.« Ella glaubte ihm. So einfach war es - das Gesicht eines Mädchens mit nacktem Hals und nackten Schultern, das Zigarettenrauch ausbläst. Das war nur ein Bild in seinem Fernsehapparat. »Und viertens: Regen Sie mich auf, regen Sie Ella auf. Denn Ella und ich sind die besten Freunde, stimmt's, Ella?« Lächelnd wand sie sich und stieß die Zehen ihres rechten Fußes in ihre linke Fußsohle. Dr. Dóla lachte, ein wissendes kleines Schnauben. »Ella ist erst vierzehn. Passen Sie auf, dass nicht Sie vor dem Strafgericht landen.« »Denken Sie, was Sie wollen. Ich bin Ellas bester Freund, stimmt's?« »Ja«, sagte sie, »ja. Stimmt.«
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KAPITEL 29
V
on: John Potts-Style,
Raglerian Professor Emeritus, Christ Church An: Die Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Ella Wallis, Raglerian Laboratories, 24. Januar. Nur vier Kopien. Vertraulich - Nicht zum Umlauf oder zur Veröffentlichung Diese Aufzeichnungen werden am 24. Januar um 19.20 Uhr diktiert, vier Stunden nach Abschluss der Untersuchungen der übernatürlichen Fähigkeiten von Ella Wallis unter im Laboratorium kontrollierten Bedingungen. Grundlage sind während der Experimente gemachte Aufzeichnungen und eine lediglich kurze Diskussion über die beobachteten Phänomene mit den teilnehmenden Kollegen. Zu vergleichen mit den Aufzeichnungen und Eindrücken meiner Kollegen. Anwesend bei der Untersuchung mit Beginn heute 11.00 Uhr: ich selbst; Prof. Siegbert Bronstein, Nobelpreisgewinner (Physik), Universität von Wittenberg und Entdecker des Bronstein-Effekts; Prof. Hannah Samson, ehemals Durham University, Autorin von Abhandlungen, die als Standardwerke des déjá-vu betrachtet werden, inzwischen im Aufsichtsrat, ICI; Dr. Bernard Massey, Chefredakteur des Journal of the Scientific World; der bekannte Illusionist David Bentwich, Vorsitzender von Magic Sphere, anwesend in seiner Eigenschaft als Berater des Journal; Colonel K.-R., Beobachter des Nachrichtendiensts; Lord Quentin of Dursley, Master Christ Church. Prof. Bronstein und Prof. Samson sind häufig bei Untersuchungen mutmaßlich medial veranlagter Personen dabei gewesen und bekannten offen, dass sie sogar schon vor der Untersuchung von den besonderen Kräften der Versuchsperson überzeugt waren. Während einer Fernsehsendung, die angeblich die Probandin bei der Levitation zeigte, erlebten sie selbst Phänomene anekdotischer Natur. Ich selbst, 233
ohne Erfahrung mit Verfahren zur Hervorrufung sogenannter übernatürlicher Energie, bildete zusammen mit dem Master, einem lebenslangen Skeptiker, das Gegengewicht. Col. R. - war Gast des Masters und im Interesse der anderen Beobachter wurde er als Professor Wilson vorgestellt. Sein Interesse an der Untersuchung wurde den nachfolgend genannten Besuchern nicht erklärt: Ella Wallis, Medium, vierzehn Jahre; Dr. Peter Guntarson, Journalist, seiner Behauptung nach Ellas Ermöglicher oder Vertrauter. Ein Bekannter von Prof. Samson, er hat den Vorschlag zur Untersuchung gemacht, der von der Kollegin bereitwillig aufgegriffen wurde. Verfahren: Unser Ziel bestand lediglich darin, nachzuweisen, ob unzweifelhafte Beweise paranormaler Aktivität unter streng überwachten und kontrollierten Bedingungen überzeugend und wiederholt erbracht werden könnten. Konkret wurden Beweise gefordert für Psychokinese, Telepathie, Levitation und, aufgrund des besonderen Interesses von Col. R.s Regierungsbehörde, Fernwahrnehmung, das sogenannte Remote Viewing. Die technischen Vorrichtungen werden bei den einzelnen Experimenten angesprochen. Beobachtungen: Probandin und Begleitperson trafen um 10.40 Uhr mit dem Motorrad ein. Die Umstände der Reise hatten die Probandin merklich aufgeregt - sie war noch nie auf dem Soziussitz mitgefahren. Die Akademiker waren vielleicht ebenso aufgeregt angesichts der Chance, solch frische und offensichtlich mächtige Phänomene zu erforschen, sodass anfangs eine Atmosphäre nervöser Fröhlichkeit herrschte. Ella erwies sich als ein Kind weniger Worte, eingeschüchtert durch die Aufmerksamkeit der Erwachsenen und die erwartungsvolle Stimmung im Laboratorium. Ihre Schweigsamkeit wurde von Dr. Guntarsons Selbstbewusstsein mehr als kompensiert. Nach den Vorreden wurde ein Versuch zur allgemeinen Einschätzung ihrer Intelligenz gemacht, die sich aus dem Gespräch mit ihr keineswegs ersehen ließ. Ein einfacher IQ-Test wurde vorgenommen, und 234
anfangs schien Ella mit Dr. G. an ihrer Seite kaum Schwierigkeiten beim Ausfüllen zu haben. Weder Ella noch Dr. G. sprachen während des Tests, und er schien ihr keine visuellen oder akustischen Hilfen zu geben. Dennoch, als Prof. Samson vorschlug, Ella solle sich einem ähnlichen Test ohne Dr. G. an ihrer Seite unterziehen, wurde ein völlig anderes Resultat erzielt - eines, das als alleiniger Maßstab darauf schließen ließe, dass das Mädchen kaum rechnen und nur halbwegs lesen und schreiben kann. Natürlich können aus einer solch flüchtigen Untersuchung keine Schlüsse gezogen werden. Vor Beginn der Experimente erklärte sich Ella damit einverstanden, sich mit einem Magnetometer und einem tragbaren Metalldetektor, wie auf Flughäfen üblich, durchsuchen zu lassen. Zweck war es, verborgene Apparate aufzuspüren; es wurde nichts gefunden. Experimente: 1. Zu Beginn der eigentlichen Untersuchung, als sich die Beobachter sammelten und vorübergehend nicht auf die Versuchsperson konzentrierten, konnte es keinen Irrtum darüber geben, das sie levitierte. Sie hatte allein in einer Ecke gestanden, unbeobachtet und in einiger Entfernung von den Kameras, und war etwa neunzig Zentimeter senkrecht nach oben gestiegen, wo sie nun mit ausgestreckten Armen in der Luft hing, als würde sie von einem Gurt getragen. Natürlich war kein solches Hilfsmittel zugegen. Als Dr. G. aufschrie, schien ihr schwebender Körper an den Absätzen hochgehoben zu werden, bis sie sich in horizontaler Lage befand. Der Zauberer David Bentwich bestand trotz der Einwände von Prof. Samson und Prof. Bronstein darauf, zu ihr zu treten und mit den Armen Kreise um ihren ganzen Körper zu beschreiben, um uns alle davon zu überzeugen, dass da keinerlei Hilfsmittel vorhanden waren. Als er seine Untersuchung beendet hatte, fiel Ella recht heftig zu Boden. Sie erinnerte sich nicht, emporgehoben worden zu sein, und beteuerte, unverletzt zu sein. la) Diese Levitation drohte die gesamte Untersuchung zu gefährden. Alle Anwesenden erklärten zwar, sie wüssten, dass ihre Augen sie nicht getrogen hätten, doch der Vorfall ereignete sich nicht in einer kontrollierten Umgebung und war deshalb vom wissenschaftlichen Stand235
punkt her gesehen ohne Beweiskraft. Außerdem konnte die Levitation nicht sofort im kontrollierten Bereich wiederholt werden, weil die Probandin protestierte und erklärte, sie sei müde und ängstlich und wolle nicht wieder »fliegen«. Ihr Begleiter ergriff ihre Partei und warnte, eine Überbeanspruchung der übernatürlichen Kraft gegen besseres Wissen der Versuchsperson könnte höchst schädliche Folgen haben. Deshalb wurde vor dem Versuch zu übersinnlicher Kommunikation eine Pause von dreißig Minuten eingelegt. Auch dieser basierte wieder auf einem traditionellen Experiment: den Rhine-Karten. Fünf Karten trugen jeweils ein einfaches, nur einmal auftretendes Symbol - ein Kreuz, einen Kreis, einen Stern, ein Quadrat und eine Wellenlinie. Die Probandin wurde in eine große, fensterlose, schallisolierte Kabine gesetzt mit einem Stuhl und einem Mikrofon. Die Kabine, mit einem Drahtgeflecht zwischen den Wänden, um jedes elektrische Signal zu blockieren, war ein faradayscher Käfig. Frühere Tests hatten bewiesen, dass es unmöglich ist, der darin sitzenden Person von außen irgendwelche Stimuli zu geben. Anschließend wurden die berühmten Rhine-Karten gemischt und einzeln Dr. G. gezeigt, der sich mit den Beobachtern draußen vor der Kabine befand. Er wiederum »übertrug telepathisch« die Symbole an die Versuchsperson. Fast im gleichen Moment, in dem er die Karte in Empfang nahm, sprach sie das entsprechende Symbol in das Mikrofon. Die Karten wurden fünf Mal neu gemischt und aufgedeckt und die Probandin erzielte hundert Prozent Übereinstimmung. Dr. G. behauptete, die Probandin habe noch nie Rhine-Karten gesehen und könne die Symbole deshalb nicht kennen. Außerdem habe sie unmöglich wissen können, wann eine Karte aufgedeckt werde, außer per Telepathie. Der Master meinte, Dr. G. könnte ein verborgenes, elektronisches Kommunikationsgerät benutzt haben, irgendeine neue Technologie, die den nach unserem verehrten Vorfahr Faraday benannten »Käfig« durchdringen könnte. Der Master bat deshalb, die Rolle des telepathischen Senders übernehmen zu dürfen. Das Resultat fiel schlechter aus, die Versuchsperson nahm von den neuen Karten nur sechs von zehn wahr. Wenn sie die Karten jedoch erkannte, dann mit absoluter Exaktheit. 236
Bei den Rhine-Experimenten bestimmt der Zufall zwanzig Prozent der Voraussagen. Eine Trefferquote von dreiunddreißig Prozent gilt gemeinhin als Beweis für Telepathie. Für häufige Fehler von mutmaßlichen telepathischen Versuchspersonen wurde im Allgemeinen den ungünstigen Bedingungen in Laboratorien die Schuld gegeben. 2. Der einzige erwähnenswerte Verdacht auf Tricks oder Betrug erhob sich seltsamerweise nicht während der Experimente, sondern beim Mittagessen. Dr. G. hatte uns im Vorfeld gewarnt, die Versuchsperson könnte sich in der Pracht einer College-Mensa unbehaglich fühlen, deshalb aßen wir in der weniger exklusiven Atmosphäre der Labor-Kantine. Das Kind aß tüchtig für seine Größe. Während die anderen noch mit ihrem Dessert beschäftigt waren, wünschte sie dringend, zur Toilette zu gehen. Prof. Samson, unsere einzige Vertreterin des gleichen Geschlechts, bot an, ihr den Weg zu zeigen. Die Probandin beharrte stur darauf, allein gehen zu wollen. Unser Meisterzauberer David Bentwick meinte, mehr als Möglichkeit denn als Unterstellung, geübte Betrüger könnten die Zeit allein auf der Toilette dazu nutzen, geheime Apparate und so weiter am Körper anzubringen - vorausgesetzt, irgendwelche Gerätschaften wären unserer Durchsuchung entgangen. Die Versuchsperson wurde sehr unruhig und bestand unbedingt auf ihrer Privatsphäre. Natürlich erklärten wir uns einverstanden - und es ist schwer vorstellbar, welche geheimen Apparate die nachfolgenden Ereignisse hätten beeinflussen können. Dennoch blieb es rätselhaft, warum sie derart hartnäckig auf ihrer Privatsphäre beharrte. 2a) Das Experiment zu Remote Viewing wurde auf Wunsch von Col. R. aufgenommen und verlief enttäuschend. Die Probandin erhielt Angaben auf Karten mit der Bitte zu berichten, welchen Begriff sich das geistige Auge von den Verhältnissen an diesen geografischen Punkten macht. Trotz hilfreichen Eingreifens seitens Dr. G. konnte sie keinerlei Information geben; sie war nicht in der Lage zu visualisieren, welche Gegebenheiten innerhalb eines Koordinatensystems vorhanden sind, war aber auch nicht bereit, eine Antwort zu erraten oder zu erfinden. Col. R. - der bei einer Zusammenarbeit mit der CIA offenbar bereits sehr gute Erfahrung mit Experimenten in Remote Viewing gemacht 237
hat, meinte, positive Resultate würden häufig mittels außerkörperlicher Erfahrung erzielt -, die Versuchsperson versetzt sich in einen momentanen Flug an einen bestimmten Ort, um ihn »aus erster Hand« zu betrachten. Ella verneinte jegliche Vertrautheit mit »außerkörperlichen« Reisen und ihre oberflächlichen Versuche, der Aufforderung dazu Folge zu leisten, ergaben vorhersehbare Fehler. 3. In freudiger Erwartung bereiteten sich alle Teilnehmer der Untersuchung darauf vor, noch einmal den Höhepunkt, die Levitation, zu sehen, dieses Mal unter den von uns vorgegebenen Bedingungen. Das Kind zeigte Symptome von Erschöpfung, darunter eine fast lumineszierende Blässe und ein Zittern in den Fingern. Mindestens zweimal bat sie kaum hörbar, Dr. G. möge sie »heimbringen«. Seine Versicherungen, die Tests seien bald vorüber, beruhigten sie. Die Probandin wurde wieder in die Telepathie-Kabine gebracht, in der für dieses Experiment das Mikrofon durch drei kleine Videokameras ersetzt worden war. Die Kabine bot der Versuchsperson genügend Raum, um von Ecke zu Ecke auf dem Bauch zu liegen. Auf dem Boden wurde eine Decke ausgebreitet. Als sie sich sträubte, sich auf den Boden zu legen, wurde ihr ein Stuhl angeboten. Sie klagte weiterhin, sie wolle sich keinen weiteren Tests unterziehen, und wiederholte ihren Wunsch, nach Hause gebracht zu werden. Dr. G. besänftigte sie und betonte, das positive Ergebnis der Untersuchung, und des Weiteren damit all ihre Vorhaben, sei abhängig von einer nachweislich erfolgten Levitation. Während er beruhigend auf sie einredete, ergriff er ihre Hände, ein Umstand, der die Probandin sichtlich günstig beeinflusste. Anschließend führte er mit relativ wenigen hypnotischen Suggestionen einen recht tiefen Trancezustand herbei. Während der Hypnose befahl er ihr nie zu levitieren. Die Probandin wurde von mir und Dr. Massey zu einem Holzstuhl in der Kabine geführt. Sie gab zu verstehen, dass sie mütterlichen Beistand wollte, ihre genauen Worte lauteten: »Ich will zu meiner Mum!« Dr. G. blieb gelassen und versicherte, diese Worte seien ihr nicht bewusst. Die schwere Kabinentür wurde geschlossen. Das schien die Trance zu beeinträchtigen - die Probandin stand stürmisch auf, warf den Stuhl um und schrie. Die genauen Worte sind nicht bekannt, da die Kabine 238
schallisoliert und das Mikrofon entfernt worden war, doch es schien klar, dass die Probandin ihre Zelle zu verlassen wünschte. Der Master bot sofort an, den Test abzubrechen, und Prof. Samson war seiner Meinung, aber Dr. G. erklärte, die Untersuchung könne gut noch ein bisschen länger laufen. Die Unruhe würde sich bald legen, prophezeite er, und so war es. An ihre Stelle trat augenscheinlich ein Zusammenbruch: Die Probandin sackte zusammen und hockte auf dem Boden, das Gesicht zu den Knöcheln gebeugt. Wieder empfahl Dr. G., nicht einzugreifen - die Probandin versänke wahrscheinlich in eine tiefe Trance, auf die gewiss die Levitation erfolgen würde. Zu diesem Zeitpunkt erinnerte mich das Verhalten der Probandin stark an Experimente mit jungen Primaten (Schimpansen etc.), besonders in Fällen, in denen das Versuchstier gewaltsam von seiner Familiengruppe getrennt worden ist und vielleicht die Vernichtung eines oder mehrerer seiner Artgenossen miterleben hatte müssen. Die Probandin nahm die Fötusstellung ein, Knie und Ellenbogen schützten das Gesicht. Außer einem rhythmischen Zusammenziehen des Brustkorbs war keine Bewegung zu sehen. Prof. Bronstein äußerte die Besorgnis, dies könnte auf Atemschwierigkeiten hindeuten, aber Dr. G. versicherte ihm, dass eine derartige Krise im Zustand der Hypnose nicht eintreten könnte. Eine Qual der Probandin sei kaum eine Reaktion auf externe Stimuli, sondern habe höchstwahrscheinlich eine weit tiefersitzende Ursache. Ferner könnte der Eindruck von Qual sehr wohl irreführend sein. Er blieb bei seiner Überzeugung, dass sich eine starke Levitation ankündigte, spielte auf gleichzeitig auftretende Phänomene an und zerstreute mit Erfolg die Befürchtungen der Untersuchungsteilnehmer. Zu diesem Zeitpunkt war der Körper der Probandin, die ein dunkles Kleid trug, auf der hellen Decke klar und deutlich zu sehen. Wie die Videobänder bestätigten, verschwand sie übergangslos. In dem Moment, in dem Dr. G. höchst zuversichtlich eine übernatürliche Manifestation ankündigte, verschwand die Gestalt seines Schützlings von der Bildfläche. Col. R. war der erste, der sein Reaktionsvermögen wiedererlangte. Während wir anderen noch mit offenem Mund ungläubig auf den Monitor starrten, auf dem nun nur noch eine leere Kabine zu sehen war, eilten er und Bentwich zur Tür und rissen sie auf. Die Kabine war leer. 239
Alle Siegel waren intakt. Die schmalen Leitungen für die Luftzufuhr wurden untersucht. Die Probandin konnte unmöglich auf irgendeine herkömmliche Weise die Kabine verlassen haben - ganz abgesehen davon, dass wir den Beweis mit unseren eigenen Augen und unseren Kameras erbracht hatten. David Bentwich machte eine vermutlich überflüssige Show, er umkreiste die Kabine und klopfte auf der Suche nach versteckten Falltüren erst das Dach und dann die Innenwände ab. Er, ein berühmter Entfesselungskünstler, gab unumwunden zu, vor einem Rätsel zu stehen. Der einsetzende Jubel darüber, eindeutig eine menschliche Dematerialisation ausgelöst und aufgezeichnet zu haben, wurde jedoch stark gedämpft von Sorgen um die Sicherheit der Probandin. Dr. G.s optimistische Behauptung, sie würde sich bald wieder materialisieren, bestätigte sich nicht, und nach einigen Minuten wachsender Angst schlug seine Stimmung mit einem Mal von Zuversicht in Entmutigung und Schock um. Die groteske Unmöglichkeit, dieses Verschwinden zu melden - sie konnte kaum bei der Polizei als im üblichen Sinne »vermisste Person« gemeldet werden - steigerte unsere Verwirrung. Nur schwer konnten wir dem Drang, die Kabine noch einmal zu durchsuchen, als könnte sie unter der Decke oder in einer der Ecken möglicherweise übersehen worden sein, widerstehen. Stattdessen versuchten wir Fassung zu bewahren und Dr. G. zu beruhigen, indem wir ihn nach Einzelheiten zu Personen oder Orten befragten, zu denen es sie »hingezogen« haben könnte. Er nannte einige Freundinnen und die Familie, deren Telefonnummern leicht zu beschaffen waren, doch dann erhob sich die Schwierigkeit, mit diesen Leuten Kontakt aufzunehmen, ohne Beunruhigung auszulösen. Diktat unterbrochen, 20.40 Uhr, 19. Januar; Diktatende morgen.
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KAPITEL 30
I
n dem Moment, in dem Ella in Oxford nach ihrer Mutter flehte, befand sich Juliette in London. Auch sie wollte nichts wie weg. Sie zischte Joe Dóla zu: »Ich kann das nicht, Sie lesen denen das vor«, und die Mikrofone fingen ihre Worte ein und verbreiteten sie flüsternd im Saal. Mit sicherem Gespür für gute Fotos hatte Dr. Dóla das Hotel Royal Palace in der Bond Street als Schauplatz seiner Pressekonferenz ausgesucht. Die Lobby und die erste Etage waren im Zuge einer Renovierung teilweise zu einem heiter anmutenden Atrium gestaltet worden, angebaut an das Hochhaus mit den Hotelzimmern. Zwei Wendeltreppen führten zu einer rundlaufenden Galerie hinauf, auf der die Gäste normalerweise dinierten. Eine geschwungene Bar war eingebaut worden. Die Decke war aus Glas, und man blickte direkt zum Himmel hinauf. Die geladenen Journalisten und Fernsehteams saßen an den Tischen. Blumen, Platten mit Käsesnacks und Gläser mit Weißwein waren für sie bereitgestellt worden.
Juliette, von allen Seiten hell angestrahlt, saß dicht bei der Treppe an einem viereckigen, von zwei Dutzend Kabeln durchzogenen Tisch. Ihr Gesicht war halb verdeckt von Mikrofonen. Dr. Dóla saß neben ihr, lehnte sich zurück und schaute blinzelnd wegen der grellen Lampen durch die Decke zum grauen Himmel hinauf. Es hatte nicht gut angefangen. Sie hatten im Hotel gegessen und waren erkannt worden. Hotelgäste kamen mit Autogrammwünschen und erzählten Geschichten, die ihnen während der Ella-Sendung widerfahren waren. Dr. Dóla sagte zu jedem Fan, erst nach dem Essen sei Zeit für Autogramme, aber Juliette zuckte nur die Achseln und schrieb wortlos ihren Namen auf Servietten, Speisekarten, auf Geschäftskarten und die Rückseite eines Herrenhemds. Sie fand sich damit ab, dass sie nun berühmt war. Schließlich war sie Ellas Mutter. Sie war fahrig und kurz angebunden. Dr. Dóla vermutete mitfühlend, sie mache sich Sorgen um Ella, die sich von irgendwelchen Wissenschaftlern durch die Mangel drehen lassen musste. Juliette sorgte sich keineswegs um Ella - und dass Dr. Dóla glaubte, sie mache sich ihretwegen Sorgen, verstärkte nur ihr Schuldgefühl. Sie 241
wollte einen Drink. Am Donnerstag und Freitag, vergiftet vom Gin, hatte sie es leicht geschafft, keinen Alkohol zu trinken. Heute schaffte sie es nicht. Sie zitterte und hatte keinen Appetit. Die Bar auf der anderen Seite der Treppe hatte geöffnet, herrliche Flaschen voller Spirituosen schoben sich in ihr Blickfeld, und in Ständern unter der Kasse klirrten Tonic- und Ginger-Ale-Fläschchen. In dem Moment, in dem Dr. Dóla aufstand, um die Rechnung zu unterschreiben, eilte ein dicker Mann in einer Tweedjacke herbei. Er legte einen Arm um Dólas Rücken, griff nach seinem Bizeps und murmelte: »José, José«, und, ohne den Arm loszulassen, machte er mit dem anderen Arm eine ausholende Bewegung für einen festen Handschlag. Dr. Dóla ließ sich drei oder vier Schritte wegführen. Leute, die viel Geld zum Ausgeben hatten, gingen oft derart auf Tuchfühlung. »Mein Name ist Barry Green, ich bin vom Star.« Dr. Dóla wurde stocksteif. Der Kerl war nur ein Reporter. »Hören Sie, ich hab was Interessantes für Sie. Ohne Gegenleistung. Ich wette, Sie hätten nichts gegen eine gute Story oder?« »Ja, das können Sie wetten«, bestätigte Dóla. Er brauchte niemanden länger als vier Sekunden zu kennen, um ihn wie einen engen Vertrauten zu behandeln. »Dieses Mal arbeite ich hart für meinen Anteil. Sie wissen ja wahrscheinlich, dieses Mal verzichte ich darauf.« »Sie kriegen nichts? Machen es für umsonst?« Barry Greens Gesicht war reinste Ungläubigkeit. »Ist nur fair. Dieses Mädchen, Ella, sie ist ein wundervolles Kind, aber eben ... ein Kind. Man muss sie beschützen. Ich kann keinen Penny annehmen, bevor ich sie nicht gut und sicher untergebracht weiß.« »Joe Dóla, egal, was die Leute über Sie reden, Sie sind ein Heiliger aus reinstem Gold.« »Natürlich, warum fällt es den Leuten bloß so schwer, das zu glauben?« Der Doktor lachte leise. Der Wortwechsel mit diesem Mann vom Star machte ihm Spaß. Barry Green war offenkundig ein unaufrichtiger, alles andere als vertrauenswürdiger Scheißkerl. Gut. Bei solchen Leuten wusste man, wo man dran war. »Unser Problem ist«, teilte ihm Green vertraulich mit, »wie bekommen Sie diese Story in den Griff? Man weiß von einer Minute zur anderen nicht, was passiert.« »Eine laufende Story, und Sie haben keine Ahnung, wohin sie läuft!« 242
Green brüllte vor Lachen. »Sehr gut. Gefällt mir.« »Was Sie auch für Probleme haben, was glauben Sie, wie ich mich fühle? Diese Familie sagt mir nicht die Wahrheit, nicht von einer Minute zur anderen. Erst ist alles glückliche Familie, dann tauchen überall unvermutet Geliebte auf. Und dieses Mädchen ist ganz rehäugig wegen diesem Adonis ...« »Wirklich?« Dóla machte einen Rückzieher. »Ich übertreibe. Die Sache ist die, ich versuche, diese Leute aufzubauen, aber das sind Stoffel. Wir sind unter uns, Barry. Es ist schwer, durch diese dumpfen Schädel durchzudringen. Sie könnten eine Stange Geld kassieren, wenn sie richtig mitspielen würden. Dann hätten sie für den Rest ihres Lebens ausgesorgt. Aber du kannst dich nicht darauf verlassen, dass sie sich eine Minute lang anständig benehmen. Bring sie in die Nähe einer Kamera, und es gibt garantiert ein Chaos. Sie wissen ja, wie es heißt, arbeite nie mit Kindern oder Tieren. Bei mir heißt es, arbeite nie mit Kindern oder Tieren oder der Familie Wallis.« Green nickte verständnisvoll. »Und Ella, die ist also scharf auf diesen Wikinger, ja?« Ein zweites Mal würde sich Dóla eine solche Panne nicht leisten. »Nein, nein. Vergessen Sie das. Barry, ich schweife ab. Also, um was geht es heute?« Green vergewisserte sich, dass Juliette nicht in Hörweite war. »Wir haben den Großvater. Ricard Deyonne. Den alten Froschfresser, den Franzmann. Wie es der Zufall will, ist er just in diesem Moment in einem der Zimmer.« »Juliettes Vater? Ich glaube, die beiden haben einander nicht mehr gesehen ...« »Seit sie davongelaufen und mit Ellas Dad durchgebrannt ist. Exactement. Wenn ich mal kurz in die Landessprache wechseln darf.« »Alors, nous parlons français.« »Wahnsinn, Sie sprechen dieses Kauderwelsch. Natürlich. Das ist gut, denn der Franzmann spricht kein Wort Englisch und mir käm's gelegen, wenn ich weiß, was er von sich gibt. Egal, bisher hab ich mitgekriegt, dass er und Ellas alte Dame sich seit fünfzehn Jahren nicht gesehen haben. Sich ohne diesen ganzen Wirbel wohl nie mehr gesehen hätten. Ich glaube nicht, dass er lesen kann, er hat nicht mal einen Fernseher, aber 243
sogar im hintersten Winkel von Franzland ist ihm irgendwie zu Ohren gekommen, dass er eine Enkelin hat, die schlagartig berühmt geworden ist.« »Vielleicht hat er schlicht Geld gerochen«, bemerkte Dóla. »Ich glaube, er möchte einfach das Kriegsbeil begraben, bevor er den Löffel abgibt«, sagte Green. »Er ist so ein richtig typischer alter Franzmann. Sieht aus, wie einer Gauloise-Anzeige entstiegen.« »Was flüstern Sie da?«, fragte Juliette. Dr. Dóla fuhr herum, doch noch bevor er sich umgedreht hatte, war ein Lächeln auf seinem Gesicht. Er stellte Green vor. »Er hat mir etwas erzählt, Juliette, und zwar zur Abwechslung mal gute Neuigkeiten.« »Welche?« Ihre Augen verengten sich misstrauisch, als sie die Antwort auf seinem Gesicht las. »Mein Vater - nein, nicht mein Vater? Oh nein, nein, nein. Sind Sie hin und haben ihn ausgegraben, ja? Oder hat er die Gelegenheit gerochen, Geld zu bekommen? Sagen Sie ihm, er soll wieder verschwinden. Und sagen Sie ihm, seine Tochter hatte so, so sehr gehofft, dass er nicht mehr lebt.« Green gab sich Mühe, unbeeindruckt zu erscheinen. »Juliette«, besänftigte sie Dr. Dóla, »jetzt ist vielleicht der richtige Zeitpunkt, Brücken zu bauen. Sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Aber ich verspreche Ihnen, wenn Sie sich dazu heute nicht in der Lage fühlen, müssen Sie ihn nicht sehen. Dafür werde ich sorgen.« »Ich will ihn nie wieder sehen.« »Er scheint heute recht verständnisvoll«, log Green. »Ich weiß natürlich nicht, wie er früher war. Aber vielleicht hat er sich verändert, ist mit den Jahren gereift.« »Menschen wie er ändern sich nicht. Er ist schlecht. Durch und durch.« »Okay, Juliette. Versuchen wir, uns auf die Konferenz zu konzentrieren.« »Wollen Sie wissen, warum ich ihn hasse? Ja? Erraten Sie es?« Nein, Green schüttelte unschuldig den Kopf. Interessiert. Dóla versuchte, Juliette zu beschwichtigen, aber sie entzog sich ihm. »Als meine Mutter starb, was hat er da getan? Für seine körperlichen Bedürfnisse? Was glauben Sie? Und als ich weglief, was glauben Sie, wie war es da für meine Schwester Sylvie? Ihr Leute von den Zeitungen, ihr 244
grabt das alles wieder aus. Erst - nein, Sie halten den Mund«, fuhr sie Dr. Dóla an und schob ihn beiseite. »Erst veröffentlichen sie diese Lügen, die ihnen mein Schwager erzählt. Er weiß nichts von meiner Familie. Nichts. Und dann bringen sie diesen furchtbaren Mann hierher.« Sie schrie, und sie schrie weiter, als Dr. Dóla sie fest um die Hüfte fasste und wegführte. »Fragen Sie ihn«, schrie sie Green zu, »warum er meiner Schwester ein armes, krankes Baby gemacht hat.« Und da bugsierte Dóla sie in die Damentoilette. »Reißen Sie sich zusammen! Reißen Sie sich zusammen!« Sie drückte ihm ihre zu Fäusten geballten Hände gegen die Brust und weinte hemmungslos. Dóla versuchte sie zu beruhigen. »Na, kommen Sie. Ein tapferes Gesicht machen. Die Jungs von der Presse sind draußen.« »Tut mir leid, so leid. Sie wissen nicht, was da in mir alles wieder lebendig wird.« »Ich bin im Bilde.« »Er hat Sylvie ein Baby gemacht. Ich, ich habe zwei umgebracht. Ich hatte Abtreibungen. Ich dachte, ich könnte nie mehr Babys bekommen, aber mit Ken bin ich in der allerersten Nacht schwanger geworden. Vielleicht ist Ella deshalb seltsam, manchmal denke ich das. Weil sie die Geister meiner beiden toten Babys in sich hat. Der Babys ihres eigenen Großvaters.« »Kommen Sie. Das bringt Sie nicht weiter. Denken Sie an etwas Schöneres.« »Das sagt Sylvie immer. Be happy. Don't worry. Diesen Song hat sie Frank beigebracht. Ich glaube nicht, dass Sylvie glücklich ist. Es ist nur eine andere Art, unglücklich zu sein. Er wollte, dass sie das Kind bekommt. Unser Vater, er hat es entschieden. Sie war sechzehn. Es wurde blind geboren. Und nicht normal. Als er es sah, wollte er, dass es umgebracht wird. Zuerst lässt er sie keine Abtreibung machen, und als er dann seinen eigenen Sohn von seiner eigenen Tochter sieht, da sagt er: >Du musst es ertränken.<« »Ich bin froh«, sagte José Dóla, »dass Sie mir das unter vier Augen erzählen.« »Ja? Vielleicht war es ein Fehler, dass ich dem Reporter etwas gesagt habe, bevor wir Geld von ihm verlangt haben?« 245
»Aus allem, was Sie ihm sagen, holt er Geld raus. Es ist Ihr Leben Sie können sich ebenso gut dafür bezahlen lassen.« »Was macht Geld für einen Unterschied? Ist Ihnen das kleine Baby ganz egal?« »Es ist lange, lange her.« »Und warum weine ich heute?« Sie richtete sich auf und betrachtete ihr blasses, verweintes Gesicht im Spiegel. »Ich sehe dieses schreckliche Gesicht jeden Tag. Ich mag in keinen Kinderwagen schauen, kein Plakat mit einem Baby in einem Laden ansehen, weil ich in den Gesichtern Sylvies krankes kleines Kind sehe. Sie hatte es in Pullover und Sachen eingewickelt, die sie Leuten in der Autobahnraststätte abgebettelt hat. Sie versteckte sich in einem Wagen, weil sie keine Fahrkarte für die Fähre hatte. Genau wie ich. Und sie fand mich in Bristol und brachte das Baby zu mir. Und zwei Nächte später starb es in unserer Küche. Also nahm Ken einen Spaten und ging nach Leigh Woods und grub ein Loch für das Baby. Das hat er getan. Und wir sprachen Gebete für es.« »Kommen Sie, Juliette. Trocknen Sie die Augen. Ich denke, heute empfinden Sie es noch schlimmer, weil Sie einen Drink möchten.« »Es ist immer so.« »Es ist besser, alles auszuspucken. Danach haben Sie einen besseren Geschmack im Mund.« Er nahm ihren Ellenbogen. »Sie warten auf uns.« Sie wollte der Presse nicht gegenübertreten und bat, heimgehen zu dürfen, als Dóla sie auf einen Stuhl hinter den Mikrofonen drückte. Aufmerksamkeit heischend klopfte er an ein Glas. »Meine Freunde von den Medien - denn ich glaube, ich kenne Sie alle hier, mit Ausnahme von einigen aus weiter entfernten Gefilden.« Er schaute an der Kamera vorbei zu den Tischen hin, an denen die Journalisten saßen. »Ich werde mich kurz fassen. Sicher haben Sie Verständnis dafür, dass dies eine schwere Zeit für Ella und ihre Mutter ist. Ella - und ich weiß, das wird Sie enttäuschen, wenn auch vielleicht nicht überraschen - wird heute Nachmittag nicht bei uns sein. Sie arbeitet mit sehr renommierten Wissenschaftlern in Oxford, alles streng geheim, deshalb kann ich Ihnen heute dazu keine weiteren Einzelheiten mitteilen. Ich bin sicher, was auch dabei herauskommt, es wird für uns alle faszinierend sein.« Jemand rief: »Wer steckt hinter den Experimenten?« 246
Dóla ignorierte den Zwischenruf. »Juliette, Ellas Mutter, wollte Sie alle kennenlernen und Ihre Fragen beantworten, und ich bin sicher, Sie werden sehr nett zu ihr sein. Wir sind alle Menschen - ich weiß, viele von Ihnen haben Ihre eigenen traurigen Erfahrungen mit der Ehe. Versuchen Sie, ihre Gefühle zu respektieren, dem Anstand zuliebe. Ich hoffe, wir alle nehmen von diesem Nachmittag viele Erkenntnisse mit nach Hause.« Juliette presste mit einer Hand die Seiten, auf denen ihr Text stand, auf den Tisch. Mit der anderen Hand griff sie nach einem Mikrofon und brachte es dicht an ihren Mund. So zitterten ihre Hände nicht. Sie vergaß die Anweisung, in die Kameras zu blicken, zeigte ihnen ihren Scheitel und las: »Aufgrund anhaltender Spekulationen in alle Richtungen möchte ich Klarheit schaffen über die Beziehung zwischen Ellas Vater und Mutter - meinem Mann Ken und mir. Ich wusste seit geraumer Zeit Bescheid über Kens Beziehungen zu anderen Frauen und meine Würde gebot mir, das zu ignorieren. Als Mutter betrachtete ich es außerdem als meine erste Pflicht, meinen Kindern Liebe und Geborgenheit zu schenken ...« Sie leierte die Sätze herunter, ohne irgendein Wort zu betonen. Die Wörter hatten nichts zu bedeuten. José Dóla hatte sie für sie aufgesetzt. Am Schluss der Seite verstummte sie kurz. Sie wusste nicht, ob sie das Blatt umdrehen sollte. Sie brachte kaum die Energie auf, darüber nachzudenken. In die Stille hinein sprang eine Frau zwei Tische entfernt auf: »Juliette, ich bin Millicent Armadale vom Minor. Darf ich Sie fragen ... ?« Über der gläsernen Decke tauchte ein Schatten auf, und Miss Armadale stellte ihre Frage nie. Eine der rechteckigen Scheiben zerbarst mit einem Krachen wie ein zerspringender Baumstamm, und die riesigen spitzen Scherben stürzten herab. Sie kamen mit einem leisen Schwirren herunter wie Speere in der Luft und fielen steil durch den Treppenschacht auf die Fliesen des Bodens. Und Ella Wallis, den Körper zu einer festen Kugel gerollt, schlug mit einem Krachen auf dem Tisch ihrer Mutter auf, fegte die Mikrofone beiseite und versetzte die Kamerateams in Aufregung.
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KAPITEL 31
S
päter wusste keiner mehr genau, was er im darauf folgenden Durcheinander gesehen, wie er reagiert hatte. Aber auf Fotos sieht man Joe Dóla nach hinten springen, den Mund vor Entsetzen aufgerissen. Er stolperte vor Panik über seinen Stuhl, als wäre das, was vor ihm herabstürzte, eine Bombe. Juliette schrie. Sie warf die Arme über den Kopf und kreischte dazwischen hindurch. Überall, auf Tischtüchern und Teppichen, lagen riesige Glasspeere, aber auf keinem Foto sah man verletzte Journalisten. Wunderbarerweise war niemand verletzt worden. Ella blieb einige Augenblicke regungslos liegen. Der runde Rücken und die fest an den Körper gezogenen Beine verrieten nicht gleich, was da herabgestürzt war. Ihr Gesicht war von den Kameras abgewandt. Ihre Kleider waren dieselben wie vor ein paar Augenblicken in Oxford. Jeder, der dieses Objekt als menschliches Wesen betrachtet hätte, hätte sie für eine Selbstmörderin gehalten. Für jemanden, der aus einem der Zimmer im Hochhaus durch die Glasdecke gesprungen war. Einer aus dem Sky-Team berührte sie als Erster. Ella hob den Kopf. Sofort riefen alle ihren Namen. Ihre Mutter kreischte ihn. Die Fotografen brüllten ihn in der Hoffnung, sie würde in ihre Objektive blicken. Die Reporter sprachen ihn laut und nachdrücklich, um ihre Fragen anzubringen. Dr. Dóla, der nach vorn hechtete, um sie von der Meute fernzuhalten, zischte ihn. »Ella! Ella! ELLA!« Das Klicken der Kameras klang wie Hagelkörner auf Glas. Einer, der die Bilder, die er wollte, schon hatte, rief nach einem Arzt, und die ganze Meute fiel mit ein: »Holt einen Arzt, ruft die Ambulanz, sie braucht einen Notarzt! Fasst sie nicht an! Sie muss jeden Knochen einzeln gebrochen haben - fass sie nicht an, du bringst sie um!« Ella krabbelte vom Tisch herunter. Dóla hob sie hoch - sie schien nicht mehr zu wiegen als eine Katze -, aber sie entwand sich seinen Armen und ergriff die Hand ihrer Mutter. Sie sah weder verängstigt noch verwirrt aus. Sie hatte erwartet, Juliette zu sehen, und Juliette war da. Dóla schob sie in einen der Aufzüge und hielt die Meute zurück, in248
dem er mit ausgestreckten Armen und Beinen die Tür versperrte, bis sie zugeglitten war. Heraus aus dem grellen Scheinwerferlicht schien der schwach beleuchtete Aufzug ein lichtloses Loch zu sein. Schreie verfolgten sie den Aufzugschacht hinauf: »Ella! Ella!« Juliette wimmerte. Ella war ruhig und still. »Bist du verletzt?«, stieß Juliette hervor. In der Frage lag nicht viel Gefühl. Im achten Stockwerk stiegen sie aus. Dr. Dóla sah sich nervös um. »Wir haben ein Zimmer, ich habe ein Zimmer reserviert. Ich habe den Schlüssel. Damit wir nicht zum Haus zurückmüssen. 1111. Vermutlich da lang.« Er zögerte und hoffte, nach links wäre richtig. Hinter ihnen ertönte die Aufzugglocke. »Los«, entschied Dóla, zog sie nach links und blieb unvermittelt stehen. »1001, 1002. Wir suchen was - 1111. Mist. Wir sind falsch - Mist. Zurück in den Lift.« Aber die Aufzugtüren schlossen sich und ließen sie auf der falschen Etage ausgesetzt zurück. Der Aufzug daneben ging auf und spuckte einen Pulk kamerabehängter Journalisten aus. »Ella, was ist passiert? Bist du gestürzt? Bist du gesprungen? Hast du versucht, dich umzubringen? Ella, bist du verletzt?« Dóla, der sie hinter sich schob, wehrte die Fragen mit den Händen ab und schielte auf sie hinunter. War sie verletzt? »Ich habe mich nicht geschnitten oder so was«, antwortete Ella. Dóla betrachtete sie etwas genauer und sah erstaunt, dass sie die Wahrheit sagte. »Ella, wie bist du gestürzt?« »Ich bin nicht gestürzt.« »Sag uns, was passiert ist.« Festgehalten von ihrer Mutter, wurde sie zurückgedrängt. Dóla sah sich hektisch nach einer Treppe um. Eine Hand packte sie am Ärmel, eine andere am Handgelenk. Sie befühlten sie, als wollten sie sich vergewissern, dass sie echt war. Sie riss sich los. »Wo bist du hergekommen?« »Ich war in diesem kleinen Zimmer.« Sie blickte zu Juliette auf. »Wo ist Peter, ist er da? Er hat mich levitieren lassen. Und dann bin ich auf dem Tisch gelandet.« »Aber wo warst du? Warst du in einem der oberen Stockwerke?« »Ich war in dieser Stadt. Oxford.« »Was?« Und dann schrien alle auf einmal ihre Fragen, die Journalis249
ten keiften und brüllten ihren Namen. Hinter ihnen drängten noch mehr aus den Aufzügen. Big Barry Green, rücksichtslos die Ellenbogen unter den Lederflicken seiner Tweedjacke einsetzend, bahnte sich den Weg zu ihnen. Er schwang einen Schlüssel an einer dicken geschlossenen Kette, wie José Dóla einen hatte. Auf seinem stand die Nummer 1016. »Joe, los, hier entlang.« Der Mann vom Daily Star nahm Dr. Dóla um die Schultern und Juliette um die Taille. Ella lief zwischen ihnen mit, und so stürzten sie sich in die Menge. 1016 war zwei Türen weiter. Dóla machte keinen Versuch, sich zu widersetzen. Die Tür öffnete sich so rasch, dass Ella fast in das Hotelzimmer gefallen wäre. Green war hinter ihr, stieß die Kameras beiseite und schlug die Tür zu. »Gott!«, murmelte Juliette und sank auf die Knie. Von dem schmalen Gang zwischen Badezimmer und Garderobe blickten sie in ein von großzügigen Fenstern erhelltes Doppelzimmer. Auf dem vorderen Bett lagen ausgestreckt lange Beine. Als Green Ella zum Fenster führte, schwangen sich die Beine auf den Boden. Im Vorbeigehen blickte Ella zu dem Mann auf. Er war groß sogar noch größer als Green. Sein Gesicht war rissig. Eine glühende Zigarettenkippe klebte in seinem Mundwinkel. Juliette, auf Händen und Knien, starrte auf die abgetragenen und abgestoßenen braunen Lederschuhe. Anstatt aufzublicken, drückte sie das Kinn gegen die Brust. So, wie diese Schuhe auf dem Boden standen, ziemlich auseinander, einer nach innen gedreht - diese Füße hatten sie oft genug getreten. »Verschwinde«, sagte Juliette mutlos. »Stehen Sie auf«, befahl ihr Vater. Er duzte sie nicht, er gebrauchte das französische »vous«. Diese Frau zu seinen Füßen anzuerkennen, war unter seiner Würde. Beim Klang seiner Stimme drehte sich ihr fast der Magen um, wie seit zwanzig Jahren in ihren Albträumen. Sie war seiner Grausamkeit entflohen, und mit ein paar Wörtern hatte er sie wieder eingeholt. »Stehen Sie auf!« Dr. Dóla trat vor. »Ich muss darauf bestehen«, begann er auf Französisch. Ricard Deyonne würdigte ihn keines Blickes. Er streckte seine Hand aus und bekam Dr. Dóla an der Fliege zu fassen. Am Hals gepackt, hob 250
er ihn hoch, bis sein Kopf an die Decke schlug, dann schleuderte Deyonne den kleinen Mann gegen die Tür. »Ricard«, brüllte Green und ergriff seinen Ellenbogen, aber der Franzose drehte sich nicht einmal um. »Zwinge mich nicht, dir auf die Beine zu helfen«, befahl er Juliette. Den Rücken an die Garderobe gedrückt, schob sie sich hoch. »Warum bist du gekommen?« »Deinetwegen.« »Was meinst du?« »Du und das Mädchen. Ihr kommt mit mir nach Frankreich zurück.« Green blickte zu Dr. Dóla hinüber, der wacklig auf die Beine kam. »Was reden die?« Dóla bekam nicht genug Luft, um zu antworten. »Ich bin verheiratet«, sagte Juliette. »Dein Mann, will der dich?« »Was willst du von uns?« »Dein Mann, habe ich gesagt. Liegt ihm was an dir? Nein. Also muss ich mich kümmern.« »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass wir mit dir gehen?« »Ist das das Kind?« Er deutete nach hinten auf Ella. »Sie ist eine Hexe. Harte Arbeit und der Rücken meiner Hand werden ihr die Hexerei auf schnellstem Weg austreiben.« »Glaubst du, sie weiß nicht, wie sich Schläge anfühlen?«, murmelte Juliette. »Ich erlaube Ihnen nicht ...« Dr. Dóla rang nach Worten. »Halt den Mund. Das nächste Mal fliegst du durchs Fenster.« »Wie viel wollen Sie?« Dóla blieb hartnäckig. »Ich will meine Tochter.« »Ich bin nicht deine Tochter!«, rief Juliette. »Blut ist Blut!« »Und Geld ist Geld.« Dr. Dóla wusste, er hatte ihn. »Wie viel verlangen Sie?« »Wofür?« »Dass Sie gehen.« Deyonne starrte auf seine am Boden kauernde Tochter. Dann lehnte er sich zurück, zündete sich eine neue Zigarette an und warf nie wieder einen Blick auf sie. »Sie machen ein Angebot für etwas, das nicht zum Verkauf steht.« »Ich will nichts kaufen. Ich zahle dafür, dass Sie gehen.« 251
»Nein.« »Fünftausend.« »Was!« Deyonne sah aufrichtig schockiert aus. »Fünfzigtausend.« Nun stand das blanke Entsetzen auf Dr. Dólas Gesicht, bis er begriff, dass sie von Francs redeten. »Okay. Okay, ich schreibe Ihnen einen Scheck aus.« »So einen Scheiß will ich nicht.« »Was wollen Sie? Bargeld?« »Natürlich.« »Wie viel, glauben Sie, trage ich bei mir?« »Ich glaube nicht. Es ist mir egal. Sie bezahlen mich bar, das ist alles.« Dr. Dóla blickte auf seine Uhr. Es war Samstagnachmittag. Die Banken hatten geschlossen. Aber die Wechselstube hatte geöffnet. Er kritzelte »Zahlbar an Überbringer« und die Summe quer über den Scheck und schob sie zusammen mit seiner goldenen AmEx-Karte Green zu. »Holen Sie das in bar. Schaffen Sie ihn raus und geben Sie ihm sein Geld, und lassen Sie ihn mit niemandem reden.« Deyonne schnappte die Karte aus Dólas Hand. »Sagen Sie ihm, ohne die Nummer ist sie nutzlos. Null-eins-nullneun. Und benutzen Sie sie nur, wenn es sein muss. Und auf gar keinen Fall mehr als fünfzigtausend Francs. Kapiert? Francs, nicht Pfund. Das ist das Limit meiner Karte. Lassen Sie sich auf nichts anderes ein.« Green schob den grinsenden Deyonne zur Tür. Blitzlichter flammten auf, bevor Green die Tür ganz zugezogen hatte. Dóla reichte Juliette den Arm und half ihr auf das Bett. »Ich gehe nicht mit ihm«, ertönte eine Stimme aus der Ecke. Dr. Dóla warf einen schnellen Blick auf Ella. Er hatte sie völlig vergessen. »Mach dir keine Sorgen«, sagte er. »Warum bin ich nicht bei Peter?«, wollte sie wissen. Sie zitterte. Sie hatte die Knie bis ans Kinn gezogen, ihre Schultern zuckten krampfhaft. »Du brauchst vor diesem Mann keine Angst zu haben«, sagte Juliette müde, ohne den Blick zu heben. »Du bist ihm egal. Er wollte nur Geld.« »Was mache ich hier?«, antwortete Ella. »Wo sind wir? Was ist passiert?« Ihr Körper bebte so heftig, dass ihre Stuhllehne rhythmisch gegen das 252
Glas zu schlagen begann. José Dóla ging hinüber und sah hinaus. Das Fenster, im Hochhaus des Zimmertrakts, befand sich hoch über dem angebauten Foyer und blickte auf das Atrium mit seinem zerschmetterten Dach und den mit Glasteilen übersäten Tischen. Inzwischen hatte Regen eingesetzt und es tropfte durch das gezackte Loch in der Decke. »Wenn du nicht weißt, wie du hergekommen bist«, sagte er und legte eine Hand auf Ellas bebende Schultern, »dann weiß es niemand.« Er nahm ihre Hände. Sie waren eiskalt. »Du stehst unter Schock. Wahrscheinlich ist er erst jetzt eingetreten. Würde es dir helfen, wenn ich dich zu hypnotisieren versuche?« Sie schüttelte heftig den Kopf. Er legte eine Kaschmirdecke um sie. »Ich wüsste sowieso nicht, wie. Das hier ist besser.« Er nahm eine kleine Packung aus seinem Sakko und drückte zwei runde, weiße Tabletten durch die Folie. »Ich hole dir noch etwas zu trinken.« »Was geben Sie ihr?«, fragte Juliette. Sie blickte immer noch nicht auf. »Etwas, damit sie sich besser fühlt.« »Ich will auch was. Ich will einen Drink.« Dr. Dóla blickte auf die Tabletten in seiner Hand. Einen Weg ins Vergessen kannte Juliette bereits. Er wollte sie nicht noch einen anderen lehren. Er nahm zwei Flaschen aus der Minibar, goss Tonic für Ella in ein Glas und für ihre Mutter einen Gin. Juliette blickte nicht auf, als sie das Knacken von der Verschlusskappe der Flasche hörte. Lächelnd sah sie zu dem kleinen braunen Kühlschrank hin. Dr. Dóla half Ella auf das andere Bett und legte die zusammengelegte Decke unter ihre ausgestreckten Beine. Sein Handy läutete. Nur eine Handvoll Leute hatten die Nummer - es könnte seine Frau sein oder eines seiner Kinder. Er ging ran. Es war Juliettes Schwester. »Ella ist bei uns«, sagte er. »Sie ist unerwartet aufgetaucht. Ich gebe weiter.« Juliette nahm das Telefon und lauschte, auf einen Ellenbogen gestützt, Sylvies nervösem Geschnatter. Peter, dieser Kanadier, hätte angerufen, und sie hätte sich so-o große Sorgen gemacht, weil er gesagt hätte, Ella wäre verschwunden. Er hätte gesagt, sie sollte sich keine Sorgen machen, aber wie sollte sie sich keine Sorgen machen, wenn das arme Kind ganz 253
auf sich allein gestellt wäre? Und Gott sei Dank wäre sie in Sicherheit, sie hätte nur bei ihrer Mutter sein wollen, weiter nichts, und Sylvie wäre so-o froh. Juliette erzählte ihr von ihrem Vater. Es bereitete ihr eine gewisse Befriedigung, weil sie wusste, dass diese Nachricht Sylvie ebenso aufregen würde, wie sie sich aufgeregt hatte. Und als sich Sylvie aufregte, brüllte sie ihre kleine Schwester an, weil diese Angst hatte. Sylvie brauchte den widerlichen Alten nicht zu sehen. Inzwischen war er fort, dafür hatte Juliette gesorgt. Es war ihr Geld, das er bekommen hatte, um zu verschwinden. Warum also heulte Sylvie? Ein langes Schweigen trat ein. Keine der beiden Schwestern wollte das Gespräch beenden. Es war tröstlich zu wissen, dass die andere da war und darauf wartete, dass weitergesprochen wurde. »Wie geht es Frank?« »Oh«, sagte Sylvie. »Ich will nicht, dass du dir seinetwegen Sorgen machst. Du hast schon so viel um die Ohren.« »Was meinst du?« »Überlass das mal mir.« »Was?« »Ich wollte dir jetzt nichts sagen ...« »Sylvie, wenn irgendetwas nicht in Ordnung ...« »Er hat diese Kopfschmerzen, weiter nichts.« »Immer noch?« »Das ist jetzt doch erst eine Woche.« »Warst du mit ihm beim Arzt?« »Er ist nicht in der Lage dazu.« »Er ist zu krank, um zum Arzt zu gehen? Dann lass einen kommen.« »Das möchte ich nicht, die haben so-o viel zu tun. Das weißt du doch.« »Sylvie, wenn Frank krank ist, braucht er einen Doktor. Mach es.« »Okay, okay. Immer schreist du mich an. Hör auf zu schreien. Das bringt nichts.« Sie schluchzte wieder. »Hol den Doktor.« »Morgen wollte ich sowieso mit ihm hin.« »Wieso morgen?« Sylvie antwortete nicht gleich, erst, als die Frage noch mal gestellt wurde. »Ich wollte dich nicht beunruhigen. Es ist nichts. Okay? Er wird 254
wieder. Weißt du, Frank hatte einen kleinen ... Anfall. Oh Gott, oh Gott. Ich wusste, ich hätte es dir nicht sagen sollen.« Juliette schrie auf. »Ich dachte, vielleicht Epilepsie. Oder halt etwas, das er gegessen und nicht vertragen hat. Aber wenn du willst«, sagte sie mit einem kläglichen Versuch, die Mutter des Jungen zu beruhigen, »kann ich den Arzt jetzt gleich anrufen. Okay? Ja, das mache ich. Ich rufe gleich an.« »Ich will zu ihm. Sag dem Arzt, ich komme heim«, rief Juliette. Aber ihre Schwester hatte bereits aufgelegt. Dr. Dóla drückte ihr ein weiteres Glas Gin Tonic in die Hand. »Wir gehen heim. Sofort«, befahl sie. »Momentan hängen wir hier ziemlich fest.« »Das ist mir egal.« »Das Hotel hat Sicherheitspersonal, die werden den Pöbel hinauswerfen. Wir können warten, bis die Luft rein ist.« »Ich will jetzt gehen.« »Ich glaube, Ella braucht Ruhe.« »Ella! Immer Ella! Ich habe noch ein Kind, wissen Sie. Er braucht mich.« »Sobald Barry zurück ist. Er hat meine goldene AmEx.« »Ah!« »Ohne die kommen wir nicht aus«, knurrte Dr. Dóla wütend. Er hasste die Unterstellung, er würde Geld über das Wohl seiner Klienten stellen. »Es tut mir leid, dass es Frank nicht gut geht. Ja, ich habe ein Foto von ihm gesehen, Sie haben es mir gezeigt. Tut mir leid. Natürlich sehe ich es mir gern noch mal an. Ja, er ist ein netter Bursche. Wissen Sie, ich habe auch zwei Jungs. So. Wir werden zu ihm gehen. Sobald dieser Reporter zurück ist. Ich werde Sicherheitskräfte als Begleitmannschaft anfordern.« Green brauchte für seine Rückkehr auf Zimmer 1016 selbst Geleitschutz. Die Polizei hatte die Journalisten aus dem Korridor zurückgedrängt und die Etage versiegelt. Die Spurensicherung der Polizei untersuchte das zerbrochene Fenster im Glasdach. Der stellvertretende Hoteldirektor persönlich bestand darauf, Barry Green zu Dr. Dóla zu begleiten. »Sobald der alte Franzmann seine Knete gekriegt hat«, sagte Green, »hat ihn einer von den Intellektuellen gekrallt. Ein Typ vom konserva255
tiven Blättchen. Also vorausgesetzt, die haben einen, der dieses Kauderwelsch spricht, werden Sie morgen alles über Opa lesen.« Dr. Dóla verstand. Der Telegraph, bei dem ein Großteil der Mitarbeiter ein Miteigentum an provenzalischen Ferienhäusern besaß und hervorragend Französisch sprach, hatte Ricard Deyonne gekauft. Kein Wunder, dass Green wütend aussah. »Ich hätte gerne meine Karte zurück, bitte, Barry.« »Außerdem können Sie morgen auch meinen Nachruf lesen«, fuhr Green unbeirrt fort. »Bis jetzt habe ich meinem Boss noch nicht erzählt, dass ich seine Titelseite geschrottet habe.« »Ich bin sicher, Sie können einiges verwerten.« »Was denn? Wir haben keine Bilder. Und ich habe kein einziges Wort von dem verstanden, was er gesagt hat. Nein, sie schieben mir was anderes rüber, Joe, oder ich bin tot und begraben. Wir haben ein Vermögen bezahlt, um diesen Alten herzuholen. Und für dieses Zimmer.« »Okay«, meinte Dr. Dóla. »Ich bin nicht undankbar für dieses Zimmer.« »Ich will nichts weiter, als fünf Minuten mit Ella reden.« »Nein, das fürchte ich, ist nicht möglich. Ich musste ihr etwas geben, damit sie zur Ruhe kommt.« »Sie kann doch jetzt nicht sternhagelvoll sein?« Green blickte zu dem Mädchen hinüber und sah den Hotelmanager andächtig neben ihrem Bett stehen. Ella war nicht bei Bewusstsein. Sie lag auf dem Rücken, die endlos langen Haare über die Kissen ausgebreitet. Zwischen ihrem Körper und den Laken waren eindeutig drei Inches Luft. Verblüfft beobachteten Green und Dr. Dóla die reglos schwebende Gestalt, sie warteten auf eine Bewegung. Aber nur kaum merkliche Atemzüge und ein zuckender Puls unter den Augenlidern störte die geisterhafte Erscheinung. »Davon brauch' ich einen Schnappschuss«, flüsterte Green. Noch nie hatte er etwas gesehen, das so losgelöst, so weit entfernt war, und vor Aufregung trat ihm der Schweiß auf die Stirn. »Keine Fotos.« »Kommen Sie. Das muss man sehen, um es zu glauben.« »Es dauert zu lang. Sie müssen sich auf Ihre Beschreibungskünste verlassen.« 256
»Dann lassen Sie mich mit der Mutti reden.« »Sie ist nicht direkt in der Verfassung für ein Interview.« »Stinkbesoffen, ja?« »Nur geschockt.« »Joe, ich glaube, Sie verstehen mich nicht. Sie sind mir was schuldig. Und ich brauche was.« »Okay. Okay, ich habe das zurückgehalten, aber gut, Sie können es haben.« Er zog einen Umschlag aus der Tasche und nahm zehn Negativstreifen heraus. »Clarissa aus meinem Büro kann Sie aufklären und Ihnen genauere Informationen geben. Sie machen ein tolles Geschäft. Ich gehe noch bankrott, wenn ich solches Material aus der Hand gebe.« Green hielt einen der Streifen ans Licht. Da waren keine Bilder von Ella drauf. Da war ein Mädchen, aber nicht Ella. Sie sah dunkelhaarig und dunkelhäutig aus. Sie trug nur Unterwäsche. Ein Mann war bei ihr. Er war nackt. Auf der linken Seite des Bildes war ein verschwommener Balken zu sehen. Vermutlich waren diese Aufnahmen durch ein Fenster oder einen Türspalt geschossen worden. Das Paar wusste nicht, dass es fotografiert wurde. Prüfend betrachtete Green den nächsten Streifen. Der Mann umarmte das Mädchen. Sein Gesicht war der Kamera zugewandt. Auf dem Negativ war das Gesicht schwer zu erkennen, aber Barry Green erriet, wer es war. Das war der Guru. Der Wikinger. Ellas Kumpel. Peter Guntarson.
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KAPITEL 32
E
lla erwachte in ihrem eigenen Bett. Sie hatte lange nicht mehr darin gelegen. Sie konnte sich nicht erinnern, zu Hause schlafen gegangen zu sein. Sie konnte sich überhaupt nicht erinnern, schlafen gegangen zu sein. Licht flutete neben den Kanten der Vorhänge herein. Sie trug ihre Kleider. So musste sich das anfühlen, an einem vertrauten Ort zu sein, ohne zu wissen, warum. Außerhalb der Zeit. Und dann das einladende Licht, das darauf wartete, begrüßt zu werden. Ella hatte keine Angst vor dem Licht. Sie würde freudig hineingehen. Sie sprang aus dem Bett und zog die Vorhänge auf. Im betonierten Hof nebenan, dem einzigen Ausblick aus ihrem kleinen Fenster, richteten vier oder fünf Männer in wattierten Anoraks Kameraobjektive aus wie Schiffskanonen. Sie legte die Hände auf das Fensterbrett, das feucht war vom Kondenswasser. Sie hörte Peter im Zimmer unter ihrem herumschreien. Oben an der Treppe konnte sie seine Worte verstehen. Ella war froh, dass er hier war. Die Welt draußen, außerhalb ihres Heims, schien immer noch in einem Traum verloren, und sie konnte sich nicht erinnern, wann sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Oder wie sie auseinandergegangen waren. Sie lauschte. »Und das, weil Sie nur hinter einem her sind. Geld, Geld, Geld, Geld. Je gieriger Sie danach sind, umso weniger kriegen Sie es. Sie bilden sich ein, Sie hätten eine Einnahmequelle. Ella ist eine Quelle zu etwas weit Größerem.« »Erzählen Sie mir nicht«, hörte sie José Dólas höhnische Antwort, »erzählen Sie mir bloß nicht, dass Sie so heiligmäßig sind. Jeder weiß, was Sie aus Ruhm und Geld herausholen. Im Star kann es jeder lesen.« »Habgierig! Sie wollen nicht nur das Geld. Sie wollen Ella nicht nur um jeden Penny betrügen, den sie verdient hat. Sie wollen obendrein auch noch das Gefühl haben, Sie hätten moralisch das Recht dazu. Nun, Mr. Habgier, ich bekenne mich. Meine Lebensweise hat sich nicht geändert, nur weil ich Ella kennengelernt habe. Ich bin Single. Was Ihren durchschnittlichen Daily Star-Leser betrifft, wer kommt dabei wohl 258
schlechter rüber? Ich, der ich meine Freiheit als Junggeselle genieße? Oder der schmutzige kleine Erpresser, der mir nachspioniert und Voyeurfotos macht, die er meistbietend an die Skandalpresse verhökert?« »Ich kann versichern, dass kein Penny für diese widerwärtige Geschichte bezahlt wurde.« »Dann haben Sie es sogar fertiggebracht, gegen Ihren eigenen Verhaltenskodex zu verstoßen. Sie haben etwas für umsonst hergegeben.« »Sie vergessen ständig etwas. Ich verdiene hier kein Geld. Ich habe nur meine Zeit und meine Sachkenntnis investiert.« »Und diese Investition wird für Sie nie etwas abwerfen. Da ist eine Intelligenz im Spiel, die Ihr Begriffsvermögen übersteigt. Eine gerechte Intelligenz. Je sehnsüchtiger Sie darauf warten, Geld aus Ella herauszupressen, desto mehr Vermögen wird Ihrer eigenen Tasche entnommen.« »Oh, heben Sie diesen Voodoo für Ihre Freundinnen auf.« »Denken Sie darüber nach. Wie viel Geld haben Sie bis jetzt ausgegeben? Was hat Sie das alles gekostet? Je mehr Sie es versuchen, umso mehr wird es Ihnen wehtun.« »Und wer genau übt diese Gerechtigkeit aus?« »Wer? Ich kann Ihnen sagen, wer Sie sind. Sie sind ein Erpresser, ein blutsaugenden Erpresser. Vor hundert Jahren hätten Sie das, was andere Leute geheimhalten wollten, gestohlen und sich für Ihr Schweigen bezahlen lassen. Jetzt machen Sie mit dem, was Sie gestohlen haben, Tauschgeschäfte mit den Zeitungen. Das ist nach wie vor nichts anderes als Erpressung.« Ella hatte sich die Treppe hinuntergeschlichen. Sie stand unter der Tür zum Esszimmer, in dem die Männer sich aufhielten und wo ihr Onkel Robert versucht hatte, sie zu exorzieren. Juliette war in der Küche und saß da, die Fäuste vor den Augen. Die Küchenvorhänge waren zugezogen, damit die Kameras nicht durch die Fenster fotografieren konnten. »Geht es dir gut, Mum?« »Gut. Gut.« »Warum sind wir zu Hause?« »Weil wir hier wohnen. Tu ein wenig Wasser da rein.« Sie reichte Ella ein leeres Glas. Es roch nach Alkohol. Ella spülte es sorgfältig aus. »Peter und der Mann streiten sich.« »Ich höre es.« 259
»Warum ist es in Franks Zimmer dunkel?« »Was?« »Frank ist in seinem Zimmer, und alles ist dunkel.« »Ich habe ihn oben gelassen, zum Fernsehen. Es ist nicht dunkel ich habe die Vorhänge aufgezogen.« Ella nickte. Nicht, weil sie Angst hatte, Juliette zu widersprechen. Aber es kam ihr seltsam vor. In allen Zimmern des Hauses konnte sie Tageslicht spüren. Außer in Franks. In Franks Zimmer schien es dunkel zu sein. »Mum?« »Ja. Was?« Sie konnte es nicht mit Worten ausdrücken. Sie musste ihre Mutter am Arm packen, vom Tisch wegziehen und die Treppe hinauf in Franks Zimmer führen. Die Vorhänge waren offen, und der Fernseher war an. Frank lag wach auf seinem Bett. Ella setzte sich neben ihn und umarmte ihn. »Ist Tante Sylvie wieder da?«, fragte er. »Was willst du von Sylvie?«, fragte seine Mutter. »Sie sagte, sie macht meine Kopfschmerzen weg.« Auf Franks Kopfschmerzen, seine Übelkeit, seine Blässe wurde nicht mehr mit Anteilnahme reagiert. Die Symptome wurden abgetan als Reaktion eines Jungen auf die plötzliche Berühmtheit seiner Schwester und die damit verbundene Abwesenheit seiner Eltern. Niemand kam auf die Idee, er könnte sterben, weil man ihn nicht beachtete. Ella umarmte ihn. Er bekam ihre Haare in den Mund und versuchte, sich ihr zu entziehen und sie gleichzeitig festzuhalten. Als er sprach, klang er verwundert wie alle Siebenjährigen, wenn sie die Frage auf die richtige Antwort nicht wissen. »Mum. Mum, ich kann nichts sehen.« Sie fasste ihm unter das Kinn und hob sein Gesicht hoch. Seine Augen starrten leer an ihr vorbei. Sie schnippte mit den Fingern vor seinem Gesicht. Franks Hand suchte blind nach der ihren. Juliette schlang die Arme um ihren Sohn und schleppte ihn zur Tür. Im Auto hielt Dr. Dóla ihre Hand. Juliette weinte, die hilflosen, herzerschütternden Tränen einer Frau, die erkannte, dass sie alles verlor. Ein Tuch über den Schultern und vor dem Gesicht, war sie auf den Rück260
sitz des Bentley geschoben worden, der Junge neben sie. Ella hatte ebenfalls mitfahren wollen, aber Dóla wollte sie nicht in die Nähe der Haustür lassen. Er stieß sie fast grob zurück. Der Fahrer fuhr im Schneckentempo über die Nelson Road, vorbei an den rangierenden Presseautos, die den Weg freimachten. Kameras stießen gegen die Scheiben. Eine Fahrzeugschlange hing ihnen stetig am Auspuff, über den Fluss, durch die Stadtmitte, immer den Wegweisern zum Bristol Children's Hospital nach. Dr. Dóla murmelte: »Sie müssen tapfer sein. Stark sein. Frank zuliebe.« Bei diesen Worten blickte er aus dem Fenster. Er konnte Juliette nicht ansehen. Gleichzeitig beschäftigte er sich in Gedanken mit Guntarson. »Ich begreife einfach nicht«, bemerkte er, »wie ein Mädchen, das derart Einblick in die Gedanken anderer Menschen hat, so leicht zu täuschen sein kann.« Frank saß sehr starr und still. Vor dem Hippodrom, als der Fahrer an den Ampeln immer wieder bremsen und anfahren musste, erlitt Frank einen Anfall. Sein Körper bäumte sich auf und fiel zur Seite, sein Kopf schlug gegen die Scheibe. Zuerst dachte Juliette, er versuche so, die Kopfschmerzen zu vertreiben, und sie sagte nicht unfreundlich: »Lass das, Frank.« Aber seine Beine begannen zu zucken und gegen den Vordersitz zu stoßen, und als sie sein Gesicht zu sich herzog, sah sie, wie verkrampft er war. Seine Augen waren weiß. Sein Atem kam stoßweise. Juliette kniete auf ihrem Sitz, schüttelte ihren Sohn und schrie ihn an, er solle aufhören, aufhören. Dann hämmerte sie mit den Fäusten an die Trennscheibe zum Fahrer und schrie: »Los! Schnell! Fahren Sie! Helfen Sie mir!« José Dóla hatte keine Ahnung von Erster Hilfe. Er konnte Juliette nicht besser unter Kontrolle halten als sie sich selbst. Alles, was er empfand, als er vor ihren wie rasend schlagenden Armen zurückwich, war Abscheu. Ella schlich die Treppe hinunter, um bei Peter zu sitzen. Er hatte eine Ausgabe des Daily Star zerrissen. Die Zeitungsleute läuteten unentwegt, klapperten mit dem Briefschlitz und klopften an die Fenster. Dr. Dólas Flucht mit Juliette und ihrem Sohn hatte sie in Aufruhr versetzt. Wo war Ella? Hatte sie sich wieder dematerialisiert? Wusste jemand, wo sie sein 261
könnte? Oder hatte man sie im Stich gelassen, allein im Haus zurückgelassen? Wie die Leute, die neben einem Flughafen oder einer Gießerei wohnen, hatte Ella gelernt, den Lärm nicht zu hören. Guntarson sah sie an. Sein Gesicht war noch erhitzt von dem Streit mit Dóla. »Was ist mit deinem Bruder los?«, fragte er. Im Bemühen, ein wenig mehr Anteilnahme zu zeigen, fügte er hinzu: »Er kommt bestimmt wieder in Ordnung.« Ella war dankbar. Wenn Peter glaubte, dass Frank wieder gesund werden würde, brauchte sie sich ein bisschen weniger zu sorgen. Peter war mindestens so gescheit wie die Ärzte. Aber sie wusste, seine Gedanken waren nicht bei Frank, sonst hätte er ihr mental Botschaften geschickt, um sie zu beruhigen. Aber darauf kam es nicht an. Frank war ihr Bruder. Es war an ihr, sich um ihn zu sorgen. Peter ärgerte sich über diesen Mann. Irgendetwas, was in einer der Zeitungen stand, war die Ursache, das wusste sie, aber sie sah nicht nach. Es war ihr egal, was die Zeitungen schrieben. Sie fühlte, dass Peter maßlos wütend war, und schottete ihren Geist dagegen ab. Sie wollte nicht wissen, weswegen Peter zornig war. Alle Erwachsenen wurden wütend, so war das eben - nur gerade jetzt wollte sie nichts davon wissen. Und sie wollte auf gar keinen Fall, dass Peter wütend auf sie war. Das wäre das Allerschlimmste. Ruhig saß sie am Tisch und sah ihm beim Hin- und Herlaufen zu. Es war gut, in seiner Nähe zu sein. Als er in die Küche ging, folgte sie ihm schweigend. Als er unvermutet die Treppe hinaufging, wartete sie. Wegen der Belagerung durch die Journalisten waren sämtliche Vorhänge zugezogen. Während sie dasaß und auf den Vorhang starrte, hob sich dieser leicht, als wäre das Küchenfenster geöffnet worden und ein leichter Luftzug eingedrungen. Ein Lichtstrahl, so dünn, nicht dicker als ein Haar, fiel durch den Spalt auf Ellas Gesicht. Die Stäubchen in der Luft ließen das Licht fast opak erscheinen, wie von einer silbernen Aura umgeben. Nur ein paar Sekunden lang fiel es auf ihre Stirn, so konzentriert, als käme es von einem Laser. Dann senkte sich der Vorhang wieder und das Licht war verschwunden. Nach zwei Stunden Schweigen und ohne Nachricht vom Krankenhaus sagte Ella: »Ich möchte ins Fernsehen.« 262
Guntarson starrte sie an. »Daran habe ich nicht gedacht«, antwortete er überrascht. »Ich habe nicht gelesen, was du denkst.« »Aber ich habe erwartet...« Guntarson hatte gehofft, einen anderen Gedanken in ihren Kopf zu übertragen. Er hatte sich darauf konzentriert, darauf gewartet, dass er zu ihr hinüberglitt. Er hatte den Gedanken nicht übertragen, sondern nur so in der Schwebe gelassen, damit sie ihn aufgreifen sollte. Guntarson war es nicht gewohnt, eigene Gedanken von Ella zu hören. »Warum willst du ins Fernsehen?« »Für Frank.« »Wir wissen nicht, was mit Frank los ist.« »Er hat ein Ding im Kopf. Hinter den Augen. Ich glaube, das lässt kein Licht durch.« »Was ist das für ein Ding?« Sie wusste es nicht. Sie konnte es nicht erklären. Sie wollte nur, dass er verstand. »Krebs?« »Ich will ins Fernsehen.« »Aber warum, was soll das bringen? Sie führen dich vor wie in einer Freak-Show. Wenn du damit weitermachen willst, ist das nur Wasser auf die Mühlen der falschen Leute.« »Es ist für Frank.« »Hör mal, was ich gedacht habe, ist viel besser. Die Leute müssen lernen, uns zu respektieren. Sie müssen angeleitet werden, und zwar jetzt. Und der beste Weg dazu ...« »Wenn du das nicht für mich machen kannst, Mr. Dóla kann es.« Guntarson hatte Ella noch nie so entschlossen erlebt. In Ellas Stimme lag eine richtige Kampfansage. »Er kann mich ins Fernsehen bringen, dafür wird er bezahlt.« »Das wagst du nicht.« »Dann mach du es.« »Gut. Gut. Ganz wie du willst. Du hast auch schon manches für mich getan. Wir sind ein Team. Ich regle das für dich. Heute ist Sonntag. Da wird zwangsläufig auf irgendeinem Kanal eine Talkshow kommen. Die werden jeden rausschmeißen, egal, wen sie gebucht haben. Ella Wallis will ins Fernsehen - Ella Wallis kommt ins Fernsehen.« 263
KAPITEL 33
S
tolz trug Ella ihren schwarzen Motorradhelm. Es war ein weiteres Geschenk von Peter. Sie hatte ihre silberne Haarpracht unter den Helm gestopft und sah aus wie eine kleine Raumfahrerin. Sie folgte Guntarson durch die Türen zur Sicherheitskontrolle der BBC-Studios in der Whiteladies Road. Draußen auf dem dunklen Vorplatz zuckten die Kameras wie Blitze. Nur zu gern wären die beiden Frauen am Empfang zu ihr gegangen, hätten ihre Hände ergriffen und ihr gesagt, welch außergewöhnliche Gabe sie habe, und sie gewarnt, sie solle sich ja nicht den Ruhm zu Kopf steigen lassen. Und um ein kostbares Autogramm zu bekommen. Sie hielten sich zurück. Der Wachmann begrüßte sie mit einem Blinzeln und einem Lächeln, aber er sagte nichts. Die Techniker, das Kantinenpersonal und die Reporter versammelten sich an den Türen und sahen sie an, hielten sich aber zurück. Alle hatten strikte Anweisungen. Tut gar nichts, flüstert nicht einmal.
Nur Hattie Maysfield durfte sich ihr nähern. Hatties Gesicht würde Ella kennen. Vielleicht könnte sie sogar fühlen, dass sie Hattie kannte. Alles, was gekannt werden konnte, um Ellas Aufregung zu dämpfen, musste getan werden. Sogar Karl, der Regisseur, der die Anweisungen erteilt hatte, hielt sich auf Distanz. Hattie kam strahlend durch das Foyer. An ihren Ohren baumelten goldene Kreolen in Untertassengröße und auf ihren Augenlidern glitzerte goldener Lidschatten. Ihr strahlendes Lächeln enthüllte einen Goldzahn. An den Fingern trug sie mehrere prachtvolle goldene Ringe übereinander. Ihre scharlachrote Bluse war golden eingefasst. Ihre dunkelbraunen Augen strahlten Ella an. Ella erwiderte das Lächeln. »Du musst ein bisschen Geduld mit mir haben«, flüsterte Hattie und drückte mit einer Hand leicht Ellas Schulter, die andere legte sie an Ellas Wange. »Ich bin so nervös! Ich bin es nicht gewohnt, wirklich besondere Leute wie dich zu interviewen.« Danach war Ella bereit, Hattie alles zu erzählen. Hattie Maysfield war eine der beliebtesten Reporterinnen der BBC. Kollegen und Zuschauer liebten sie gleichermaßen. Als Guntarson anrief, um anzukündigen, sein 264
Schützling wolle unbedingt im Fernsehen auftreten, vermittelte die Empfangsdame seinen Anruf gleich weiter an Hattie. Niemand sonst hatte diese Sendung verdient. »Bist du mit dem Motorrad gekommen? Ist das dein Fahrer? Hi Peter.« »Ich habe Sie oft im Fernsehen gesehen«, sagte Ella. »Komm hier lang, diese vielen Korridore, einer führt in eine Garderobe.« Ella folgte ihr mit flotten Schritten. In der Hand trug sie einen übergroßen gelben Umschlag mit der Aufschrift Clinical Radiology Unit, in dem ein Röntgenfilmbogen knisterte. Sie war voller Energie. Dieser Auftritt war ihre Entscheidung. Sie wollte es. Man merkte es. »Wir werden aufzeichnen. Dann können wir beide so viele Fehler machen, wie wir wollen, und es kommt nicht darauf an. Kein Mensch wird unsere Schnitzer sehen.« Ella kicherte. Peter lachte nicht. »Ich dachte, es sei live.« »Es wäre wirklich sehr schwer gewesen, dafür die Zustimmung des ganzen Senders zu bekommen. Eine Livesendung ist immer eine unbekannte Größe. Selbst wenn Ella die Präsidentin von Amerika und ich Premierministerin wäre, könnte man nicht einfach einen Sendeplatz für uns freimachen. Das Beste, was Sie sich erhoffen könnten, wären zwanzig Minuten gegen Mitternacht. Und was, wenn wir zwanzig Minuten bräuchten, bis wir eine entspannte Atmosphäre hergestellt hätten? Dann könnten wir reden, bis wir uns verstehen, und schon hieße es Gute Nacht und Sendeschluss.« »Ich will keine Livesendung«, sagte Ella. »Was? Aber du hast darauf bestanden ...« »Ella hat recht«, grinste Hattie. »Kluges Mädchen.« »Und wann wird es gesendet? Nächsten Dienstag in einem Monat?« »Morgen. Um sieben Uhr, wahrscheinlich. Eine halbe Stunde, länger, wenn nötig. Machen Sie sich keine Gedanken. Sie bekommen Tante BBC's superrote Teppich-Behandlung. Vertrauen Sie mir. Wir sind uns bewusst«, fügte sie hinzu, »ich meine, wir sind geschmeichelt. Dass Sie die BBC gewählt haben. Seien wir doch ehrlich, Oprah Winfrey würde herfliegen, um ein Interview zu machen, und sie würde nicht zweimal darüber nachdenken. Ich bin froh, dass Sie uns gewählt haben und nicht Oprah.« 265
Guntarson streckte in der Ecke der Garderobe seine Beine aus und starrte Ella an, während ihr Puder aufgelegt wurde. Was für einen nervösen Eindruck die Maskenbildnerin machte, dachte er - fast zu aufgeregt und ängstlich, um richtig mit dem Pinsel zu hantieren. Gestern hatte sich die Bindung zwischen ihnen gelockert. Als ihr Körper aus dem Laboratorium in Oxford verschwunden war, hatte sie nicht mit ihm gebrochen, aber sie hatte die Bande gedehnt. Ein Teil von ihr hatte ihm entfliehen wollen. Und Guntarson erachtete es mit jedem Tag für notwendiger, dass Ella unter seinem Einfluss stand. Nur unter seinem. Ausschließlich. Und nun plapperte sie mit dieser Moderatorin. Die Erblindung ihres Bruders sollte sie mit Sorge erfüllen. Stattdessen schien sie daraus Kraft zu schöpfen. Guntarson beobachtete sie. Er würde nicht zulassen, dass sie sich von ihm löste. Kein Blatt Papier durfte zwischen sie passen. Hattie sagte: »Meine Katzen waren außerordentlich überrascht, als sie mich heute Abend fortgehen sahen. An einem Sonntag? Sonntags erwarten sie, gehätschelt und gestreichelt und mit Hühnchenstückchen gefüttert zu werden, den ganzen Abend lang. Wenn ich es mir recht überlege, waren sie den ganzen Tag schon schlechter Laune. Vielleicht haben sie etwas gespürt. Alle Katzen sind übersinnlich, stimmt's?« »Wie heißen Ihre Katzen?« »Helmut und Helga. Findest du diese Namen albern?« »Weiß nicht.« Guntarson sah Hatties Gesicht und feixte. Hast du geglaubt, es wäre so einfach?, dachte er. Hast du geglaubt, du könntest sofort Zugang zu Ella finden? Jetzt weißt du, warum Ella mich braucht. Ella dachte immer noch über die Frage nach. »Wenn ich eine Katze wäre, ich fände es süß, solche Namen zu haben.« Guntarsons blaue Augen wurden eisig. Wie angefroren blieb sein Blick blieb auf Ella haften. »Hast du Tiere?« »Nein. Mein Dad erlaubt es nicht. Die Frau auf der anderen Straßenseite hat eine Katze. Die füttere ich manchmal.« »Ich glaube«, sagte Guntarson, »wir könnten vielleicht eine Möglichkeit finden, dass du ein Tier haben kannst.« 266
»Wirklich? Ehrlich?« Fast wäre sie vom Stuhl aufgesprungen. Doch sie erinnerte sich noch rechtzeitig an den Umschlag mit dem Röntgenbild in ihrem Schoß. Im Vergleich dazu war es kaum von Bedeutung, eine eigene Katze zu bekommen. Das Röntgenbild hatte das Krankenhaus geschickt. Es war Ellas Idee gewesen. Guntarson hatte es mit Drohen, Schmeicheln und Betteln versucht, auf gut Glück mit jedem verhandelt, der an einem Sonntagnachmittag im Kinderkrankenhaus, an dem Hochbetrieb herrschte, ans Telefon ging. Schließlich gab Guntarson auf und ließ es Ella versuchen, und mit einer freundlichen Bitte an einen Arzt hatte sie auf Anhieb Erfolg gehabt. Der Arzt hatte Frank untersucht. Mit der gleichen Sanftheit, mit der Ella mit ihm gesprochen hatte, versuchte er ihr zu sagen, wie es um Frank stand. Guntarson schickte ein Taxi, um das Röntgenbild zu holen. Erst kurz vor sieben verließen sie die Nelson Road 66. Hattie schlug vor, Guntarson mit zum Set zu nehmen. »Er muss keine Fragen beantworten. Aber würdest du dich wohler fühlen, wenn du einen Freund dabei hast?« »Ja«, sagte Ella und nickte nachdrücklich. »Peter ist mein Freund.« Ella setzte sich in die Mitte des Sofas, Guntarson an das Ende. Hattie saß ihnen in einem hochlehnigen Drehstuhl mit Rollen gegenüber. Hatties Kulisse erinnerte normalerweise an ein Büro, mit einem Schreibtisch, einem Hutständer und einem großen Terminplaner für ein Jahr, der hinter ihr hing. Diese Utensilien waren allesamt entfernt worden, um eine weniger formelle Atmosphäre zu schaffen. Die Sitzgelegenheiten wirkten nun seltsam zusammengewürfelt, als kämen sie aus einem Gebrauchtmöbelmarkt. Ella drückte den gelben Umschlag an sich. Sie hatte zu Hattie gesagt, sie müsse den Zuschauern etwas zeigen. Nur aus diesem Grund sei sie da. Aber sie würden nicht gleich zu Beginn darüber sprechen, erklärte Hattie. Sie würden zu diesem Thema überleiten. Zuallererst würden sie über Ella sprechen. Hattie wollte wissen, wie es war, wenn man levitierte. Sie machte einen Scherz daraus - niemand könnte sich vorstellen, ein großes Mädchen wie sie würde einfach so davonschweben, oder? Ihre Ohrringe würde sie sowieso herunterziehen. Wie fühlte sich Ella denn, wenn es begann? 267
Das Interview hatte keinen offiziellen Anfang. Es wurden keine Ansagen gemacht, von dem marktschreierischen Getue, das Ella bei Network Europe in Angst und Schrecken versetzt hatte, war nichts zu spüren. An den Kameras blinkten rote Lämpchen, aber sie hielten sich in einiger Entfernung. Peter saß neben ihr, die Arme ausgebreitet, die Beine überkreuzt, den Kopf im Nacken. Sie fühlte sich so sicher, dass es ihr möglich war, zu reden. »Ich kann meistens gar nicht sagen, wann es anfängt«, meinte sie. »Normalerweise schlafe ich oder so.« »Es passiert dir im Schlaf? Hast du keine Angst, du könntest aus dem Fenster fliegen und in den Wolken aufwachen?« »Nein!« Sie kicherte. Alle sprachen voller Verehrung über ihre Levitationen wie über etwas Heiliges. Ella wusste, hinter ihrem Rücken lachten die Leute über sie. Das war schon immer so gewesen. Aber bisher hatte noch nie jemand von Angesicht zu Angesicht Witze über sie gemacht. »Gefallt es dir, wenn du schwebst?« »Es fühlt sich nicht schlecht an oder so. Es ist halt so, alles ist richtig schwer und ich nicht. Ich fühle mich nicht nach unten gezogen. Manchmal kann ich denken >Ich will da rüber<, und dann treibe ich so. Ich kann fast so etwas wie eine Brise um mich herum fühlen, so was wie eine Strömung im Meer. Meistens weiß ich gar nicht, was passiert. Peter kann mich hypnotisieren, oder ich schlafe und fange an zu träumen. Ich glaube, wenn man mich nicht aufwecken würde, wüsste ich nie, dass es passiert ist.« »Wecken dich deine Träume?« »Da ist ein Traum. Ich scheine ihn manchmal zu haben, wenn ich gerade aufgewacht bin. Es ist so, als würde ich mich an etwas erinnern, das tatsächlich passiert ist. Ich glaube, ich muss noch sehr klein gewesen sein. Ich habe noch nie darüber nachgedacht. Ich habe es noch nie jemand erzählt, nicht einmal Peter.« Er beugte sich vor und fragte: »Warum nicht?« »Hab's einfach vergessen. Es ist keine Geschichte oder so was. Es sind nur Lichter. Ich sehe diese drei runden Lichter. Sie drehen sich ständig, dann drehen sie sich umeinander, und dann werden sie richtig schnell. Und dann verbinden sie sich zu einem Licht, richtig strahlend hell, und dann wache ich auf. Aber sie sind nicht echt.« 268
»Was meinst du?« »Sie machen das Zimmer richtig hell. Wie, verstehen Sie, wenn da ein Feuer ist und alles in der heißen Luft wabert. So sieht es aus. Aber das Licht ist nur in meinem Zimmer. Sogar wenn meine Tür offen ist, leuchtet es nicht hinaus. Deshalb kann es niemand sonst sehen. Aber es war einmal echt. Ich glaube, da waren wirklich diese Lichter, ich habe sie gesehen, als ich vielleicht zwei war. Oder drei. Also wirklich klein.« Peter legte seine Hand auf die ihre und sagte zu ihr: »Das ist die Macht. Das ist die Intelligenz. Das Wesen, das dir deine Kraft gibt. Du kannst es sehen.« Ella wirkte beunruhigt. Ihre Hand unter seiner blieb ruhig, aber ihre Zehen krümmten sich auf dem Studioboden. »Peter kennt sich damit aus. Ich nicht«, murmelte sie. »Also er kann sagen, warum das mir passiert und nicht ihm. Er kann es erklären, sodass man es versteht. Ich kann das nicht. Ich verstehe es, wenn er es sagt. Das schon. Aber ich kann mir das alles gar nicht merken.« »Ihr ganzes Leben lang«, sagte Guntarson, »hat man zu Ella gesagt, sie würde nichts begreifen. Und nun hat sie Angst davor, über etwas nachzudenken, weil sie glaubt, sie würde es sowieso nicht verstehen. Das ist eine Frage des Selbstvertrauens. In Wahrheit ist sie einer der intelligentesten Menschen, die mir je begegnet sind. Ehrlich. Das bist du, Ella.« Er drückte ihre Hand, bevor er sie losließ. Sie wurde puterrot. Er tätschelte ihren Kopf. »Ein unglaublich konzentrierter Verstand ist da drin.« »Warum glaubst du, sind diese Kräfte zu dir gekommen? Und nicht zu Peter?«, fragte Hattie. Sie machte eine kleine Bewegung mit ihrer funkelnden Hand, um Guntarson zum Schweigen zu veranlassen und Ella Raum für ihre Antwort zu geben. »Ich glaube ... Peter sagt, es ist so, als wäre ich das Auto und er ist der Motor. Es sieht so aus, als würde ich mich aus eigenem Antrieb bewegen, aber in Wirklichkeit würde ich ohne ihn nirgends hinkommen.« »Ella«, mischte sich Guntarson ein, »ist eine Botschaft. Eine lebendige Botschaft. Und es ist an der Zeit, dass die Welt ihr zuhört. Wir wissen noch nicht genau, wie die Botschaft lautet, darum müssen wir aufmerksam hinhören, um zu begreifen. Ich glaube, es ist zwingend erforderlich, dass wir diese Botschaft rasch in den Griff bekommen. Ihr Phä269
nomen hat bereits weltweit Folgen, es ist offensichtlich, dass ihre Botschaft von globaler Bedeutung ist.« Guntarson sprach jetzt sehr schnell in die Kamera. »All das wird vom Bibel-Code bestätigt - ziemlich faszinierend. Wenn man die ersten fünf Bücher der Bibel mit dem ursprünglichen hebräischen Text mithilfe eines Computercodes untersucht, kann man unter den Buchstabenfolgen mathematische Muster erkennen. Daraus ergeben sich Prophezeiungen, die alles vorhersagen, von Alexander dem Großen bis zum Dritten Reich, sogar den Golfkrieg. Sogar«, und jetzt senkte er seine Stimme, »die Bedrohung von Armageddon.« Hattie versuchte, ihn zum Schweigen zu bringen, aber Ella war auf Guntarson fixiert und eine erzwungene Unterbrechung hätte eine feindselige Atmosphäre schaffen können. Hattie ließ ihn reden. Wenn der Mann jetzt nicht den Mund hielt, dann würde ihn später das Skalpell des Cutters zum Verstummen bringen. »Das decodierte Buch Exodus«, sagte er, »verbindet das Wort Diana - das ist unglaublich, aber der Beweis ist unwiderlegbar -, verbindet Diana mit >Autounfall< und >Tod<. Die Tragödie der Prinzessin von Wales wurde zu Anbeginn der Geschichte prophezeit. Sogar das Jahr ist angegeben: 5757 im jüdischen Kalender, das entspricht 1997 n. Chr. Und«, fuhr Guntarson fort, »wenn man >Ella< als Schlüsselwort nimmt, dann erscheinen im Buch Genesis - das Gott angeblich Moses Buchstabe für Buchstabe diktiert hat - Buchstabenkombinationen, die ergeben >über diese Welt hinaus< und >unsere Erneuerung<, >Gebet< und >Hoffnung<, >engelgleich< und >international<. Mit anderen Worten, Ellas Mission wurde vor Tausenden von Jahren im Detail prophezeit, im heiligsten Buch der Welt. Das Kommen des Millenniums ist sicher nicht ohne Bedeutung. Und tatsächlich spricht der Bibel-Code klar und deutlich vom Jüngsten Tag in naher Zukunft, und ich glaube, Ella wurde erwählt oder geschickt, um genau das zu verhindern. Das Szenario des Jüngsten Tags. Ich glaube aufrichtig, dass Ella die Welt retten kann. Oh, sehen Sie mich nur so an. Was wissen Sie schon?« Er sprach geringschätzig. »Ich weiß, kein Mensch wird meinen Worten auch nur im Mindesten Glauben schenken. Aber das macht mir nichts aus. Es ist besser, die Wahrheit zu sagen. Doch Sie können die Skepsis und den Zynismus nicht verbergen, er zeigt sich deutlich auf Ihrem Gesicht, und 270
darum wird es Zeit für Ella, dass sie über das Stadium des zur Belustigung der Medien auftretenden Seelöwen hinausgeht.« »Ella«, fragte Hattie, »erkläre du es mir. Mit deinen eigenen Worten. Was glaubst du?« »Ja. Ich glaube, Peter hat recht. Ich will nicht immer nur als Verrückte in den Zeitungen stehen. Mir gefällt das nicht.« »Aber was ist mit deiner Übersinnlichkeit, dem Mystischen, was auch immer? Woher kommt das?« »Es ist so, wie Peter gesagt hat.« Ella wurde immer unglücklicher. Die Kameras schlichen näher heran. Sie mochte Hattie, aber sie mochte dieses Gespräch nicht. Es umwirbelte sie, ohne einen Sinn zu ergeben. »Ich kann das alles nicht recht erklären. Aber ich weiß jetzt, dass es wirklich wichtig ist. Ich hab das nicht gewusst. Aber ich habe dieses wirklich starke Gefühl, es ist irgendwie in mir drin.« »Du wurdest schlagartig ins Scheinwerferlicht katapultiert. Berühmt. Wie wirst du damit fertig?« »Es ist okay.« »Gefällt es dir?« Ella schüttelte den Kopf. »Ich will über Frank reden«, flüsterte sie Guntarson zu. »Deine Familie war starkem Druck ausgesetzt. Hat es dich aufgeregt, was alles über deine Mum und deinen Dad in den Zeitungen stand?« Hattie versuchte, so einfühlsam wie möglich zu sprechen, aber sie wusste, sie steckte in der Falle. Sie warf einem Mädchen Fragen an den Kopf, das nicht wusste, wie es sie beantworten sollte. Ella sagte einfach, sie hätte die Zeitungen nicht gelesen. Sie blickte Hattie nicht mehr ins Gesicht. »Fehlt dir die Schule? Deine Freundinnen? Ich wette, die Hausaufgaben vermisst du nicht.« Guntarson sagte: »Ich habe vor, Privatlehrer zu engagieren. Es kommt natürlich nicht in Frage, dass sie wieder ins Klassenzimmer zurückkehrt.« Der Mann blockierte sie. Niemand kam nah an Ella heran, solange dieser Mann da war. Ihn mit zum Set zu nehmen, war ein böser Fehler gewesen. »Mein Bruder Frank ist blind«, stieß Ella hervor. »Frank? Ist das die Sache, über die du reden wolltest? Was ist das, was du da mitgebracht hast?« 271
Ella mühte sich ab, das Röntgenbild aus dem Umschlag zu ziehen. »Er ist heute blind geworden. Er ist krank gewesen. Und er hat Kopfschmerzen gekriegt. Meine Mum hat ihn ins Krankenhaus gebracht. Sie ließ ihn röntgen. Er ist blind und wird vielleicht sterben.«
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KAPITEL 34
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attie war nicht vorgewarnt gewesen. Man hatte ihr mitgeteilt, Ella verbinde ein Anliegen mit diesem Interview, aber nicht, worum es sich handelte. »Du hast die Röntgenaufnahme dabei - dürfen wir sie sehen? Wenn ich sie ins Licht halte, kann die Kamera sie dann sehen? Und das ist... ?« »Es ist Franks Gesicht«, sagte Ella und beugte sich vor. Ihre unbedingte Hingabe ergriff wieder von ihr Besitz. Was sie zu sagen hatte, war so wichtig. »Das da sind seine Augen, die dunklen Stellen, sie lassen sich nicht richtig röntgen. Und da seine Nase, seine Zähne - sehen Sie, die festen Stellen sieht man besser.« Sie deutete darauf. »Frank ist sieben. Er hat im April Geburtstag. Alle behaupten, er würde mir nicht ähnlich sehen, aber ein wenig schon.« »Du liebst ihn offenbar sehr.« »Er ist mein Bruder. Aber als ich nach London ging, musste er wegen der Schule bleiben und wohnte bei Tante Sylvie. Und dann hat er diese Kopfschmerzen bekommen. Und meine Mum dachte, das käme davon, weil Tante Sylvie ihn mit zu viel Kuchen und Keksen gefüttert hat.« Ella sprudelte die Worte nur so heraus und in ihrem Dialekt klang jeder Satz wie eine Frage. »Bloß dann hat er diese Anfälle gekriegt.« »Und er hat sein Augenlicht verloren?« »Als er heute aufgewacht ist, konnte er nichts sehen, aber er hat nichts gesagt. Er hat gewartet, dass wir es merken.« »Wissen die Ärzte, was ihm fehlt?« »Ich konnte es irgendwie fühlen, ich konnte seine Kopfschmerzen spüren, und ich wusste, in seinem Kopf war es dunkel, aber ich wusste nicht, warum. Aber dann fühlte ich diese Kälte hinter meinen Augen« - sie stieß Daumen und Zeigefinger an ihre Lider »und das ist es.« Mit der Fingerspitze strich sie über einen weißen verschwommenen Fleck in der Mitte des Röntgenbildes. »Es ist hart und fühlt sich an, als hätte es scharfe Zacken. Haben Sie schon mal ein Stückchen Koralle gesehen? Aus dem Meer? So fühlt sich das in meinem Kopf an.« »Du kannst spüren«, fragte Hattie, »was Frank krank macht? Aber du wirst nicht blind?« 273
»Ich bin blind, wenn ich in seinen Kopf hineinschaue. Deshalb weiß ich, dass es dunkel ist.« Sie zuckte die Achseln. Sie konnte es nicht erklären. Darauf kam es aber auch nicht an. »Die Ärzte wissen nicht, ob sie operieren können.« »Was ist das weiße Ding? Die Koralle?« »Sie wissen es«, sagte Ella. »Krebs.« »In seinem Gehirn?« Eine dumme Antwort, aber was sollte sie sagen? »Wenn sie versuchen, es herauszuschneiden, wird er für immer blind sein. Es könnte ihn sogar umbringen. Sie sagen, es wächst sehr schnell. Es wird weiterwachsen. Deshalb hat er Kopfschmerzen, weil dieses Ding größer wird und in seinem Kopf drückt. Das ist der Grund.« Die Brutalität des Röntgenbildes erschütterte Hattie. Ellas kleiner Bruder war sehr krank. Ella konnte seine Krankheit fühlen, aber wusste sie, wie ernst es war? Wenn es stimmte, was sie sagte, könnte Frank in den nächsten Tagen sterben. Ob Ella das verstand? »Das ist der Grund«, wiederholte Ella. »Was? Wofür? Weshalb du heute hergekommen bist?« »Warum ich die Kräfte habe«, flüsterte Ella. »Damit Frank gesund wird. Darum habe ich sie und nicht Peter. Weil er nicht in Franks Kopf sehen kann. Er kann es nicht fühlen. Er wird nicht merken, wenn es fort ist.« »Du glaubst, du kannst den Krebs verschwinden lassen?« In Hatties Stimme schwang Ehrfurcht mit. Keine Ungläubigkeit. »Dann würde das alles Sinn machen. Dieses Schweben und die Träume und die Stimmen und das ganze Zeug. Denn bis jetzt - deshalb wissen die Leute nicht, was sie denken sollen. Auch wenn ihnen selber Sachen passieren und sie deshalb daran glauben müssen, wissen sie nicht, was sie davon halten sollen, weil es keinen Sinn ergibt. Und alles im Leben hat einen Sinn. Also, wenn Frank wieder gesund wird, dann ist das der Grund. Das hat das alles zu bedeuten.« Ella hatte den ganzen Tag darüber nachgedacht. Sie wusste, was sie sagen wollte, aber sie war selbst überrascht, dass es so herauskam, wie sie es sich vorgenommen hatte. »Wie kannst du ihn gesund machen?« Ella saß aufrecht mit gefalteten Händen da. Ihr Gesicht war entschlossen und ernst. Sie musste das richtigstellen. »Nicht ich allein. Alle zusammen. Als ich letzte Woche im Fernsehen 274
war - richtig? - haben die Leute, die zugeschaut haben, die gleichen Kräfte bekommen wie ich. Das stimmt. Peter hat es gesagt. Manche fingen an zu schweben, Sachen verschwanden, eben solche Dinge. Das hat etwas mit dem Fernsehen zu tun.« »Wie meinst du das?«, fragte Peter. So hatte Ella noch nie gesprochen, nie hatte sie versucht, etwas zu erklären. »Es passiert nicht, wenn ich Leute treffe. Wie Hattie. Wenn ich levitiere, tut sie es nicht. Aber wenn es im Fernsehen kommt, dann tut sie es vielleicht.« »Das stimmt«, nickte Guntarson und tat so, als wäre ihm dieser Gedanke schon früher gekommen. »Die übersinnliche Kraft überträgt sich nicht auf die Menschen in deiner Umgebung, aber auf die Fernsehzuschauer. Die kollektive Energie aktiviert die Kräfte.« »Ich will, dass alle zusehen«, fuhr Ella fort. »Ich will, dass alle helfen. Ich will, dass alle beten.« »Beten für Frank«, wiederholte Hattie. »Es ist egal, was sie beten. Weil jeder etwas anderes glaubt, das ist doch so? Das können Evangelische oder Katholische sein, sogar was die Muslime machen oder sonst wer - auf das Gebet kommt es an. Wir müssen darum beten, dass Franks Krebs verschwindet. Denn sonst wird er für immer blind sein. Und er ist doch noch sehr klein.« »Willst du laut ein Gebet sprechen?« »Ich bin nicht gut in so was. Mein Vater kann das. Ich möchte tief in meinem Herzen beten. Alle sollen sich wirklich stark konzentrieren. Sich ein Bild im Kopf machen und darauf konzentrieren. Ein Bild davon, was geschehen soll. Wie, dass Frank sehen kann. Dass Frank gesund wird. Dieses Bild müssen sie vor sich sehen. Sie müssen sich fest darauf konzentrieren.« Sie schloss die Augen. Die Kameras beobachteten ihr regloses, blasses Gesicht. Auch Hattie schloss die Augen. Guntarson senkte den Kopf und faltete die Hände wie jemand, der nur an Weihnachten in die Kirche geht. Ella sammelte geballte Kraft in ihrem Körper und hielt die Fäuste an ihr Gesicht. Sie wünschte verzweifelt zu schweben. Sie wusste, das wollten die Leute sehen. Sie wollte ihnen etwas bieten dafür, dass sie ihr zuschauten und ihr glaubten, denn dann würden sie noch fester glauben. Und noch eindringlicher beten. Um Frank zu heilen. 275
Der Regisseur, außerhalb des Studios an den Monitoren, war der Erste, der es sah. Hattie und Guntarson hatten die Augen geschlossen, und die Kameramänner, die durch die Sucher blickten, waren zu nah dran, um sofort sicher zu sein. Aber die Monitore zeigten es deutlich. Von Ellas Kopf und Schultern strahlte Licht aus. Auf Anordnung des Regisseurs wurde das Scheinwerferlicht gedämpft. Sofort war es deutlicher zu sehen. Ella war von einem Leuchten umgeben. Von ihren silbernen Haaren strahlte Licht aus wie starkes Sonnenlicht, das vom Meer reflektiert wird. Ihr Gesicht war überflutet von einem Strahlen. Das Gesicht nach oben gewandt, erhob sie sich mit einem Seufzer von den Kissen in die Luft. Ihre Gliedmaßen entspannten und streckten sich leicht, aber die Intensität ihres Gebets zeigte sich in der Haltung ihrer Hände - geballt, bebend, mit aller Kraft zusammengepresst in der Konzentration auf Franks letzte Hoffnung. Die letzte Lampe im Studio wurde ausgemacht. Ella war das einzige Licht. Ein schimmernder Glanz umgab sie, als würde unter ihrer Haut ein Stern strahlen. Wie ein glühender Himmelskörper, der zu ihr herabgestiegen war. Wie ein Heiligenschein. Frank erwachte nach sechzehn Stunden Schlaf, ungefähr fünfundvierzig Minuten nach Ausstrahlung des Interviews. Er konnte sich nicht erinnern, wo er war. Seine Kopfschmerzen waren weg. Eine Krankenschwester erzählte ihm gegen 21 Uhr, seine Schwester sei im Fernsehen gewesen und habe alle Menschen angefleht, für seine Genesung zu beten. »Und weißt du«, sagte die Krankenschwester, »du bist wirklich ein Glückskind. Ein Glückskind deshalb, weil jemand dich so sehr gern hat. Es könnte wirken. Gebete helfen, das kannst du mir glauben. Und sie hat schon etwas an sich, deine Schwester. Das ist nicht alles nur ausgeklügelte Public Relations. Und noch was kann ich dir sagen: Da ist ein kleines Mädchen auf der Station, seit ihrer Geburt leidet sie an einer Gehirnlähmung und ist ständig im Krankenhaus. Eine Spastikerin, wie man sagt. Ihre Eltern sind ganz liebe Menschen, und es bricht ihnen das Herz, ihr kleines Mädchen so zu sehen, aber manchmal kann man einfach nicht viel machen.
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Nicht alles lässt sich heilen, nicht einmal heutzutage. Und was glaubst du? Fünf Minuten nach der Sendung hat sie sich zwischen ihrem Spielzeug halb aufgerichtet, vor noch nicht einmal einer Stunde, und den Korridor hinunterbewegt, bis sie einer sieht. Und als der Krankenpfleger sie hochhebt, lächelt sie ihn an.« Tränen zeigten sich auf dem Gesicht der Krankenschwester, Tränen, die sie seit über zwanzig Jahren im Krankenhaus nicht geweint hatte. Energisch wischte sie sie mit ihrem Ärmel weg und sagte: »Dieses Mädchen konnte den Kopf nicht heben und keinen verständlichen Laut von sich geben. Und einfach so fängt sie an zu krabbeln. Ich frage dich - wenn das kein Wunder ist, was dann? Und wenn ihr das widerfahren kann, wer weiß, vielleicht geschieht es auch mit dir?« »Darf ich fernsehen?«, fragte Frank. »Nein, darfst du nicht! Was glaubst du, wie spät es ist? Das Beste, was du machen kannst, ist gleich wieder einzuschlafen und zum Frühstück wieder aufzuwachen wie ein braver Junge. Aber wahrscheinlich möchtest du deine große Schwester sehen, stimmt's? Na, vielleicht hat jemand die Sendung auf Video aufgezeichnet.« Sie verharrte am Bett neben dem seinen und drehte sich um. »Und warum willst du in den Fernseher schauen?« Sanft umschloss sie sein Gesicht mit den Händen. »Frank?« Aufmerksam erwiderte er ihren Blick. »Heilige Maria! Du kannst mich sehen, ja?« Und laut nach einem Doktor rufend, lief sie weg. Ella betete am Sonntag. Am Montag wurde die Sendung ausgestrahlt, und die Welt betete mit ihr. Am Dienstag bekam Dr. Dóla ein neues Röntgenbild, und er verkaufte beide an die Nachrichtenagentur Reuters. Am Mittwochmorgen brachte The Times die Aufnahmen über die vollen acht Spalten ihrer Titelseite. Zwei Röntgenbilder nebeneinander, Zeit und Datum jeweils oben in der Ecke deutlich zu lesen. Links ein Bild, das neunundzwanzig Millionen Menschen allein in Großbritannien gesehen hatten und das insgesamt von etwa einer Milliarde gesehen wurde, denn die BBC verkaufte das Interview und verbreitete es über Satelliten in hundert Länder. Es handelte sich um eine Aufnahme vom Schädel, oval und symmetrisch, eines sieben Jahre alten Jungen, dem 277
zwei Milchzähne fehlten. Und zwischen den Augen befand sich ein weißer Fleck, der Tumor, von der Größe des Zifferblatts einer Uhr. Das zweite Röntgenbild war identisch, nur der Tumor fehlte. Der weiße Fleck auf dem schwarzen Film, der aussah, als hätte der Tod einen Fingerabdruck hinterlassen, war weggewischt worden. Franks Wunder war nicht das einzige, das sich an jenem Abend im Krankenhaus ereignete. Dinge passierten, von denen das Personal noch nicht einmal zu träumen gewagt hätte und die es kaum glauben konnte. Anfangs zögerten die Ärzte, die Eltern zu benachrichtigen, weil sie fürchteten, die atemberaubenden Veränderungen, die sich bei einem Kind nach dem anderen einstellten, könnten ebenso plötzlich verschwinden, wie sie aufgetreten waren. Manche der Kinder hatten Ellas Interview gesehen. Ein Mädchen, ein lächelndes, gesprächiges Geschöpf mit grauen Schatten um die Augen und einer Schottenbommelmütze auf dem durch die Chemotherapie kahlen Schädel, wurde in die Luft gehoben. Sie hing oben, mit dem Kopf nach hinten und verdrehten Augen, und ihre Freundin musste sie um die Hüfte fassen, um sie auf den Boden zurückzuziehen. Dieser Anblick löste große Aufregung aus. Als das Kind aus seiner Trance erwachte, hatte es mehr Energie als seit Monaten. Aber niemand kam auf die Idee, das Mädchen könnte geheilt sein. Fast einen Tag später wurde ihr Blut abgenommen. Das Ergebnis der Blutuntersuchung ergab eine vollständige Remission der Leukämie. Als ob es sie nie gegeben hätte. »Es könnten die Medikamente gewesen sein«, ermahnte der Spezialist die Eltern. »Dafür hat man sie entwickelt - damit sie Krebs heilen.« Aber ihre Mutter, die die Hände des Arztes hielt und ihm wieder und wieder dankte, sagte, während ihr die Tränen über die Wangen strömten: »Es war dieses Mädchen. Diese Ella. Als sie im Fernsehen gebetet hat, habe ich ganz fest mit ihr gebetet. Ich sagte, okay, ich kann für ihren kleinen Bruder beten. Natürlich möchte ich, dass es ihm besser geht. Aber mich interessiert nur Suki und weniger die anderen Kinder. Das ist nicht sehr schön, aber es ist wahr. So ist es nun einmal. Wenn das eigene Kind krank ist, zählt nichts anderes mehr. Im Geist machte ich ein Geschäft. Ich bete für den kleinen Jungen, wenn ein Teil ihrer Gebete meiner Suki hilft. Ich habe dann andauernd 278
gebetet, ich war die ganze Nacht auf. Meinen Mann bat ich, sich mir anzuschließen. Ich hatte einfach das Gefühl, es würde helfen. Ich glaubte es.« Der Spezialist nickte. Seit dreiundzwanzig Jahren hatte er Eltern gebeten, Vertrauen in den Glauben zu setzen. Zu beten. Wunder geschahen. Er hatte noch nie erlebt, dass aus dem Schädel eines Kindes ein bösartiger Tumor verschwand wie bei Frank Wallis. Aber er hatte gelähmte Kinder laufen sehen und sterbende Kinder leben. Manchmal, vereinzelt. Dies wäre nicht das erste Mal. »Ich freue mich«, war alles, was er sagen konnte. Der Facharzt wollte sich nicht von der allgemeinen Euphorie anstecken lassen. Er fürchtete, Heilungen zu sehen, wo keine waren, sodass Krankheiten sich verschlimmerten, weil man sie für überstanden hielt. Er begegnete Kollegen mit Misstrauen, die ihm vom jugendlichen Opfer einer Fahrerflucht erzählten, das aus einem sechswöchigen Koma erwacht war. Er blieb skeptisch, als man ihm von einem Mädchen mit Schrapnellwunden berichtete - sie war von Bosnien eingeflogen worden, nachdem eine Landmine ihr beide Beine abgerissen hatte. Der Schock hatte nachhaltig ihre Nieren beeinflusst und am Nachmittag war sie dem Tod nahe gewesen. Am Morgen schien ihre Nierenfunktion normal zu sein. Aber als die Verbände auf dem Gesicht eines kleinen Jungen gewechselt wurden und sein Hautkrebs verschwunden war, als wäre er abgeschält worden - da saß der Spezialist, das schlafende Baby im Arm, in der halbdunklen Station neben dem Kinderbettchen und weinte und begann, Gott für seine Wunder zu danken. Leserbriefe, The Times, Mittwoch, 27. Januar, bis Freitag, 29. Januar: Von Dr. A. Y. Henver Sir, ich hege keineswegs den Wunsch, die Leichtgläubigen von ihren sich selbst erfüllenden Fantasien über sensationelle Heilungen unmittelbar nach der Sendung mit dem »übersinnlichen Schulmädchen« abzubringen, aber ich denke doch, dass ich gegen diese groteske bühnenreife Inszenierung sogenannter Phänomene, den Höhepunkt dieser fragwürdigen Sendung, protestieren muss. Nicht überraschend, wurden sämtliche Lichter im Studio ausgeschaltet, als die angebliche »Levitation« begann; schließlich wollte kei279
ner, dass die Zuschauer die Drähte entdecken, die La Wallis zweifellos in dieser seltsam komischen Schwebehaltung getragen haben müssen. Aber der absurde Gedanke, um die baumelnde Gestalt des Mädchens einen künstlichen Heiligenschein zu erschaffen, überstieg jedes Maß; das war an der Grenze zur Blasphemie. Zweifellos wurde dieser Effekt mit Kameratricks erzeugt, oder man schreckte nicht einmal davor zurück, das Kind mit Phosphor zu bestreichen. Der Heiligenschein ist eine visuelle Metapher für Heiligkeit und von großer Bedeutung im christlichen Glauben. Er steht in besonderer Verbindung mit der Heiligen Jungfrau, der Muttergottes, und mit dem Heiligen Kind selbst. Wären Ella Wallis und ihre Darbietungen nicht so offenkundiger Schwindel, wäre die ganze Sache widerwärtig. Der Beschwerdeausschuss des Fernsehens wird sicher bald von mir hören. Hochachtungsvoll Dr. A. Y. Henver (Geschäftsführer, Gesellschaft zur Beobachtung anomaler Phänomene), Cirencester, 26. Januar Von Dr. Niall Jameson Sir, die Verfasser (Leserbriefe vom Mittwoch, 27. Januar), die behaupten, ein Heiligenschein könne vom menschlichen Körper nicht auf natürliche Weise erzeugt werden, irren. Den Beweis dafür findet man nicht nur in christlichen Legenden und christlicher Kunst, er wird vielmehr von medizinischen Untersuchungen erbracht. Einfach ausgedrückt: Unter bestimmten Bedingungen leuchtet die menschliche Haut. Das »Strahlen«, das von guter Gesundheit, flotter körperlicher Bewegung, wahrer Liebe und Schwangerschaft herrührt, kommt so oft vor, dass man es natürlich nicht mehr als Phänomen bezeichnen kann. Das spektakulärere Strahlen in Ekstase ist weit weniger häufig zu finden, aber dennoch eine Tatsache und keine Erfindung. Zweifler mögen die Archive dieser Zeitung einsehen (The Times, 5. Mai 1934), da finden sie einen Bericht eines Mailänder Korrespondenten über Filmaufnahmen von der Leuchtenden Frau von Pirano. Die Leuchtende Frau war kein Zirkusfreak. Sie war ein sehr frommer Mensch, dessen Glauben eine obsessive Form angenommen hatte. Dr. Protti von der Universität Padua hat den Fall untersucht und die 280
Theorie aufgestellt, dass die Intensität ihres Glaubens Einfluss habe auf die physiologischen Vorgänge. Angst sorgt für den Ausstoß von Adrenalin, und der Herzschlag beschleunigt sich. Es ist sehr schwer, das Herz mittels der eigenen Willenskraft schneller schlagen zu lassen; sogar noch schwerer ist es, den Herzschlag zu verlangsamen, wenn man Angst hat. Extreme Angst kann noch weit Erstaunlicheres bewirken - zum Beispiel das Ergrauen der Haare über Nacht. Das ist den meisten bekannt. Was Dr. Protti sagen wollte, war, dass andere Emotionen dementsprechende Effekte hervorrufen könnten. Protti glaubte, dass bedingt durch das strenge, aus ihrer tiefen Frömmigkeit resultierende Fasten der Frau aus Pirano ihre Drüsen ein Übermaß an Sulfiden produzierten. Diese Theorie wurde gestützt durch das Auftreten dunkler Flecken auf ihrer Haut, überall da, wo sie Silberschmuck trug. Sulfide leuchten, wenn sie ultraviolettem Licht ausgesetzt sind. Wie wir alle wissen, kann Blut strahlen - das ist dieses »Strahlen«, das wir bei guter Gesundheit und flottem Sport sehen. Beschleunigt sich der Herzschlag, fließt das Blut schneller und das Leuchten verstärkt sich. Dieses Strahlen ist ultraviolett. Enthält die Haut ein Übermaß an Sulfiden und das Blut beginnt zu rasen, ist der Effekt unvermeidlich. Ein Heiligenschein bildet sich. Die Haut kann unglaublich hell erscheinen. Damit lassen sich viele menschliche Auren erklären. Beim Fall Ella Wallis sieht man, dass sie keine große Esserin ist. Ob sie fastet, hat man uns nicht gesagt, aber der oberflächliche Beobachter könnte sich fast fragen, ob ihre halb verhungert wirkende Magerkeit das Symptom für eine Essstörung ist, etwa eine Magersucht. Wir wissen auch nicht, ob sich ihr Herzschlag während der Levitationen beschleunigt; es bleibt zu hoffen, dass bald ernsthafte Experimente durchgeführt werden. In jedem Fall kann die Möglichkeit nicht verworfen werden, dass die Leuchtende Frau von Pirano und das Strahlende Schulmädchen von Bristol dieselben Anzeichen einer leichten physiologischen Störung aufweisen. Ihr Dr. Niall Jameson, Trinity College, Dublin, 27. Januar 281
Von Mr. Geoffrey Hendrik Sir, die einfachste und naheliegendste Lösung des Ella-Rätsels wird in der modernen Gesellschaft leider als »politisch nicht korrekt« betrachtet. Der Gedanke, dass dieses Weib eine Hexe ist - die Ausübende einer Magie, so primitiv wie heidnische Blutopfer -, muss sicherlich vielen gekommen sein, aber aus Angst, die Schmähungen und Anfeindungen der organisierten Feministinnen auf sich ziehen, wagen sie es nicht auszusprechen. Wie es heißt, hat ihre Familie - ironischerweise gute Christenmenschen - zuerst befürchtet, das Mädchen wäre von Dämonen besessen und Schritte zur »Austreibung« derselben unternommen. Dies gelingt leider nicht bei jemandem, der aktiv mit den Dämonen zusammenarbeitet und diese noch ermuntert. Dann handelt es sich nicht nur um einen Fall von Besessenheit. Dass Ella Wallis derart begierig ist, ihre erschreckenden Fähigkeiten in einer öffentlichen Show vorzuführen, zeigt sehr klar ihre wahre Natur. Sie möchte von ihrer Teufelskunst profitieren. Es überrascht nicht, heute Morgen zu lesen, dass ihr Manager, Mr. Guntarson, beabsichtigt, sie zum Kopf einer Kommune oder eines Kults zu machen, in dessen Namen sie ihre Prophezeiungen veröffentlichen kann und die Leichtgläubigen auffordern wird, Geld zu spenden. Es gibt nur eine einzige Bezeichnung für sie: Hexe. Hochachtungsvoll Mr. Geoffrey Hendrick, Cheddar, 27. Januar Von der Countess of Bannockburn Sir, mit großer Freude habe ich gelesen (Leserbriefe vom 28. Januar), dass es für menschliches Leuchten eine einfache, natürliche Erklärung gibt. Ich denke, im Mittelalter hielt man Donner und Blitz für unerklärliche, übernatürliche Phänomene. Zweifellos wird die Wissenschaft in den kommenden Monaten oder Jahren in der Lage sein, Levitation und Gesundbeten ebenso klar und eindeutig erklären zu können, und dann werden wir alle recht albern aussehen, weil wir einen solchen Wirbel um ein ziemlich beschränktes Mädchen aus der Provinz gemacht haben. Hochachtungsvoll Bannockburn, House of Lords. 28. Januar 282
Von Miss Amy Roberts Sir, wie die meisten in unserem Land und wahrscheinlich die halbe Welt war ich gefesselt von der Ella-Wallis-Geschichte und gespannt, wie sie sich weiterentwickelt. Meine Freunde und ich stellten weit hergeholte Theorien auf und verglichen sie miteinander. Sie können sich vorstellen, wie amüsiert und erwartungsvoll meine Mutter, meine Schwester und ich uns am Montag um sieben Uhr vor den Fernseher setzten, um Ellas neuestes Erscheinen zu sehen. Unsere Einstellung änderte sich grundlegend, als sie bat, für ihren kranken Bruder Frank zu beten. Mein Bruder ist behindert. Er heißt ebenfalls Frank. Er wurde mit dem Down-Syndrom geboren, meine Klassenkameraden sagten Mongolismus dazu. Als wir einander an den Händen hielten und unsere Augen schlossen, um für Frank Wallis zu beten, kam uns unvermeidlich das Bild von Frank Roberts in den Sinn. Franks Krankheit ist genetisch bedingt. Sie wird durch eine Chromosomenstörung verursacht und ist nicht heilbar. Trotzdem beteten wir für ihn. Am Mittwochmorgen druckte die Times die Röntgenbilder, die bewiesen, dass der Krebs von Frank Wallis verschwunden ist, aber da staunte in unserer Familie bereits keiner mehr darüber. Die Veränderung, die über Nacht bei unserem eigenen Frank stattgefunden hatte, hat dafür gesorgt, dass wir uns über nichts mehr wundern. Das Hospiz, in dem er lebt, rief uns am Dienstagmorgen an und bat uns, ihn zu besuchen. Sie bedauerten, uns nicht früher angerufen zu haben, aber es hätte sieben ähnliche Fälle gegeben - sieben! - und sie hätten es einfach nicht geschafft, uns gleich zu verständigen. Wir stürzten los. Der Frank, der uns begrüßte, war der allergrößte Segen, um den ich hätte beten können. Er sah natürlich genauso aus wie immer. Er hat Downs, und die Ursache für Downs sind die Chromosomen, und daran lässt sich nichts ändern. Aber der Schmerz ist weg. Der Schmerz und die Niedergeschlagenheit, die stets dagewesen waren und die wir anderen, wie ich vermute, irgendwann nicht mehr wahrgenommen hatten, weil wir sie nicht sehen wollten, dieser Schmerz war weg. Wie soll man das beschreiben? Als habe man einen bösartigen Stromerzeuger in seinem Körper abgeschaltet. Beim Sprechen kämpfte er nicht mehr mit den Wörtern. Im Stehen hatte er keine Krämpfe in den Beinen, die ihn zu Grimassen 283
zwangen. Seine Hände waren offen und ruhig, nicht angespannt und zu Fäusten geballt wie sonst. Innerer Friede war eingekehrt. Meine Tränen benetzen beim Schreiben das Papier. Zum ersten Mal in seinem Leben - können Sie sich das vorstellen? Ich kann es nicht. Ein ganzes Leben voller Qual und nun - der Schmerz ist weg. Alles dank Ellas Gebeten. Für meine Familie bedeutet sie nun weit mehr als nur Unterhaltung. Sie ist eine Wohltäterin, eine Wundertäterin. Eine Erretterin. Ich glaube wahrhaftig, sie ist das Wesen, was einem Engel am nächsten kommt, das je auf Erden gelebt hat. Vielleicht ist sie auch einfach - ein Engel. Von Gott gesandt. Mit freundlichen Grüßen Miss Amy Roberts, Chester, 28. Januar
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TEIL 3
KAPITEL 35
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as war zehn Monate vor Ellas nächstem Interview. Sie wurde mit jedem Tag berühmter, aber 303 Tage lang sprach sie mit keinem Journalisten. Immer höhere Barrikaden wurden um sie herum errichtet, und sie sprach mit fast niemandem mehr. Nur noch mit Guntarson. Sie sah sich weder das Interview mit Hattie Maysfield an, noch las sie zehn Monate später den Bericht von Aliss Holmes über ihre Begegnung. Aber später, im Rückblick, schien es Ella, als wären diese beiden Interviews die Brückenköpfe zweier voneinander getrennter Seiten ihres Lebens. Im Abgrund dazwischen wurde sie ihrer Stimme beraubt. Ihr stummes Bild wurde der Öffentlichkeit in einer Reihe sorgsam zusammengestellter Pakete dargeboten. Ihre Botschaften übermittelte Peter Guntarson. Guntarson wurde zu der Figur von internationaler Bedeutung, die er stets hatte sein wollen. Man überhäufte ihn so schnell mit Macht, dass er sie kaum festhalten konnte. Aber dies ist nicht die Geschichte von Guntarson; es ist Ellas Geschichte, deshalb also nur die reinen Fakten aus diesen zehn Monaten: Am 26. Januar, dem Tag nach Franks Heilung, verkündet Guntarson, Ella würde keine persönliche Erklärung abgeben. Was sie zu sagen habe, sage sie durch ihn. Sie trenne sich von José Dóla. In Wolverhampton überwindet Ian Richards, neun Jahre alt, schweren Autismus und spricht zum ersten Mal mit seinen Eltern. In Oban verschwindet ein entstellendes Muttermal im Gesicht des Babys Callum McCloud. Am 27. Januar wird das Haus in der Nelson Road von Gratulanten, Journalisten, Menschen mit Krücken und in Rollstühlen, Pilgern mit Gebeten der Verzweiflung und Spinnern belagert. Dr. Dóla erklärt, er vertrete nach wie vor Juliette Wallis, die währenddessen mit Frank vom Flughafen Bristol aus nach Schiphol, Amsterdam, fliegt, um an einem unbekannten Ort Ruhe und Erholung zu suchen. 285
Der an Psoriasis leidende Aubrey Trace aus Gibraltar behauptet, er konnte spüren, wie sich sein Hautleiden auflöste, während er mit Ella betete. In Toronto bekommt Nina Setton, seit einem Schlaganfall vor vier Jahren gelähmt, wieder Gefühl in ihrer linken Körperseite. Im Royal Berks Hospital in Reading beobachtet die neun Jahre alte Sharma Shabnam, wie die Verbrennungen ersten Grades an ihrem Körper verschwinden, als ihre Eltern an ihrem Bett beteten. Am 28. Januar war das Maysfield-Interview in fünfundachtzig Ländern ausgestrahlt worden. In vielen Ländern wurde es wiederholt gezeigt. Die Röntgenbilder von Franks Kopf erschienen in über 1000 Publikationen und das Kinderkrankenhaus, das das Copyright besaß, erhielt dadurch über eine Million Pfund. Am 29. erklärt Guntarson, das Leben in dem winzigen Haus der Familie sei für Ella unerträglich geworden. Sicherheitsleute wachen über jede Tür und jedes Fenster und haben ständig mit potenziellen Eindringlingen zu kämpfen. Tag und Nacht werden Stücke aus dem Mauerwerk herausgeschlagen als Souvenir. Ella hat ihre Schlafzimmerfenster abgedunkelt und fürchtet sich, die Treppe hinunterzugehen. Straßensperren der Polizei riegeln die Nelson Road ab, Polizeimotorräder lärmen und Polizeipferde beschmutzen die Straßen. Kein LokalDerby der beiden Mannschaften aus Bristol, City und Rovers, hat je solch intensive Sicherheitsmaßnahmen erfordert wie dieser riesige Pilgerstrom zur Tür eines vierzehn Jahre alten Mädchens. Überall sind Krankenwagen, die die Verzweifelten auf ein paar Hundert Fuß an die Nelson Road heranbringen. Jedes Hotel und jede Pension im Umkreis von dreißig Meilen ist ausgebucht. Der Flughafen von Bristol muss sein Personal verdoppeln, um mit dem steigenden Passagieraufkommen fertigzuwerden. In der ganzen Stadt werden Bilder von Ella, eine Strichfigur mit langen Haaren und Engelsflügeln, auf Steinplatten und Wände gemalt. Slogans werden gesprayt oder mit Farbkreide gekritzelt: »Ella ist echt«. Guntarson bittet darum, einen sicheren Zufluchtsort für Ella bereitzustellen. Siebentausend Angebote aus der ganzen Welt treffen ein. Am 30. Januar nennt eine Website im Internet, eingerichtet, um Berichte über Heilungen aufzuzeigen, 156000 Fälle aus Medienberichten und E-Mails. Die Website wurde sieben Millionen Mal an einem Tag aufgerufen - häufiger als die Marslandung, häufiger sogar als der Play286
boy. Das zuständige Postamt in der Kent Street kann nicht mehr an 66, Nelson Road ausliefern und behält 193 Postsäcke ein. Am 1. Februar bringt Guntarson Ella in ein weitläufiges Haus in Leigh Woods, einem abgeschiedenen Vorort von Bristol auf der anderen Seite der Avon Gorge. Das Gebäude hat ein Geschäftsmann, dem auch ein Schloss in Schottland, eine Villa in Paris und eine Fußballmannschaft gehören, dauerhaft zur Verfügung gestellt; dafür dürfen er und seine Familie Ella gelegentlich besuchen, wenn sie sich stark genug fühlt. Das Haus - allerdings erinnert sich außer Juliette niemand daran - ist keine hundert Yards von der Stelle entfernt, an der Sylvies Baby begraben liegt. Guntarson ruft die The Ella Foundation ins Leben. »Ziel der Stiftung ist zu schützen und zu helfen«, steht in der Presseerklärung. »Jeden, der mit Ella betet, vor Haien und Schurken, vor Profitmachern und falschen Propheten zu schützen. Und Menschen dabei zu helfen, die heilende Kraft zu gebrauchen und die Krankheit aus ihrem Leben zu verbannen.« Die Sicherheitsleute - im neuen Haus mehr denn je - werden beauftragt, die Namen der treuesten Pilger zu notieren und sie zu fotografieren. Keine Medienleute - nur die Fans, die glühendsten Verehrer. Guntarson betrachtet eingehend die Aufnahmen von etwa zwanzig Gesichtern und bittet darum, sieben von ihnen - vier Mädchen, drei Jungs im Teenageralter - zu ihm zu bringen. Sie bekommen Jobs im Haus angeboten, sollen putzen, kochen und sortieren Post. Alle akzeptieren und müssen einen Vertrag unterschreiben, in dem sie sich verpflichten, nichts, was im Haus geschieht, nach außen zu tragen, und der es ihnen für 101 Jahre verbietet, irgendein Detail der Stiftung preiszugeben. Innerhalb einer Woche, in der ein Vermögen an Spenden in unberührten Postsäcken herumliegt, werden vier weitere Mitglieder aufgenommen, um Briefe zu öffnen. Unzählige mobile Übertragungsanlagen stehen rund um das Grundstück bereit, um sensationelle Neuigkeiten aufzufangen. Über Satelliten können Live-Bilder des Hauses in jeden Winkel des Globus übertragen werden. Die Journalisten, darunter zahlreiche Veteranen des O.J.-Simpson-Prozesses, sind sich einig, dass das Ella-Phänomen alles bisher Dagewesene bei Weitem übertrifft. 287
Ella ziert gleichzeitig die Titelseiten von Newsweek und Time. Zweimal. Davon ist jeweils eine Ausgabe eine »eigenständige«, also allein Ella gewidmet. Das hat es noch nie gegeben. Aus Newsweek, 29. März: Gebet ist Kraft - Wie Ihre Botschaft an Gott Ellas Botschaft an die Welt wird Wer glaubt an Gott? Wer ist Gott überhaupt? Ist mein Gott derselbe wie Ihr Gott, und wenn nicht, reden die beiden miteinander? Die meisten unter uns geben zu, dass wir es nicht wissen. Die, die behaupten, es zu wissen, tendieren zum Fundamentalismus - sperrt man drei dieser Leute in ein Zimmer, gebietet die Logik, dass mindestens zwei von ihnen sich irren müssen. Aber eines glauben wir alle: Gott hört zu. Und Er antwortet auf unsere Gebete. Vor zwei Jahren kam eine telefonische Umfrage von Newsweek mit 750 Menschen zu dem Resultat, dass siebenundachtzig Prozent an die Kraft des Gebets glauben. Eine ähnliche Umfrage in dieser Woche erbrachte die phänomenale Quote von 99,6 Prozent. Nur drei der Befragten gaben an, sie glaubten nicht, dass Gebete irgendetwas an ihrem Leben ändern könnten. Und wer weiß, wenn Sie diesen Artikel lesen, sind vielleicht auch schon diese drei bekehrt worden. Das Unglaubliche aber ist, dass nur neunundzwanzig Prozent dieser Menschen sich als fromm bezeichnen. Die anderen gaben zu, nicht regelmäßig gebetet zu haben, sich vor dem Besuch der Kirche, der Synagoge, der Moschee oder des Tempelschreins gedrückt zu haben, nie wirklich daran geglaubt zu haben, dass es einen realen, wahrhaftigen Gott irgendwo da draußen gäbe. Aber sie sind sich nicht sicher. Der Widerspruch liegt auf der Hand, scheint aber niemanden zu kümmern. Was zählt, ist der Ella-Faktor, der Ella-Effekt. Die Leute wissen, dass Beten etwas bewirkt, weil sie sehen, was dabei herauskommt, wenn Ella Wallis betet und sie mit ihr beten. Gute Resultate. Wunder. Eben das, was Gebete schon immer bewirken sollten. Zum Jahreswechsel war Ella Wallis noch unbekannt. Vor sechs Wochen war sie bekannt, aber unverstanden - sogar ihr Psi-Guru, Peter Guntarson, gab zu, keine Ahnung gehabt zu haben, welche Botschaft sie eigentlich hatte. 288
GEBET IST KRAFT. Jetzt wissen wir es alle. Und was fangen wir jetzt, da wir es wissen, damit an? Am 4. Februar absolviert Guntarson seinen ersten Fernsehauftritt allein. Ella, sagt er, sei zu erschöpft, um zu reisen. Sie sei nicht krank, aber überanstrengt von den Ansprüchen an ihre übernatürlichen Reserven. Sie bereue nichts, behauptet er. Sie sei außerordentlich glücklich, dass so viel Gutes daraus entstehen könne, wenn man mit ihr bete. Aber sie sei müde. Die Öffentlichkeit dürfe nicht zu viel von ihr erwarten. Die Ella Foundation, sagt Guntarson, sei nicht gewinnorientiert. Keine Sponsoren, keine Endorsement-Verträge. Aber die laufenden Kosten seien enorm, und jeder werde gebeten, durch die Investition in Heilungs-Anteile etwas beizutragen. Diese Anteile machten sich nicht in barer Dividende bezahlt - garantiert werde eine spirituelle Dividende. In Abertausenden von Fällen, erklärt Guntarson, bestehe die Dividende in der Wiederherstellung der Gesundheit und sei damit bereits ausbezahlt worden. Überschüssige Erträge würden in jede Art von Betprogrammen investiert - Gebetsinitiativen in Krankenhäusern, in der Forschung, in Schulen. Warum solle es kein Ella-Prayer-Hospital geben, in dem die Schulmedizin gleichberechtigt neben Wunderkuren arbeite? Als Direktor der Ella Foundation sind Guntarsons Ambitionen grenzenlos. Ella, sagt er, teile seine Vision. Er beschäftigt ein Heer von fünfzehn Rechtsanwälten und Steuerberatern zur Verwaltung seiner Finanzen. Hunderte Unternehmen wollen mit Ella Werbeverträge abschließen, Ellas Gesicht auf ihren Produkten abdrucken, in ihren Werbespots und auf ihren Reklametafeln zeigen. Guntarson lehnt ab, ebenso verweigert er den großen Filmstudios die Rechte an der Geschichte ihres Lebens. Keine Bezahlung könnte so hoch sein, um eine Profanierung des EllaWunders auszugleichen. Im März ist das Haus total abgesichert. Ein Elektrozaun verläuft innerhalb der Grenzmauer. Wachleute mit Mastiffs, Rottweilern und Deutschen Schäferhunden patrouillieren über das hell erleuchtete Grundstück. Guntarson kommt und geht nur mit dem Helikopter. Ella verlässt das Anwesen überhaupt nicht. Die Mitarbeiter im Ella Centre, Jünger genannt, dürfen nur mit Erlaubnis des Direktors kommen und gehen. Nicht weniger als fünfundzwanzig Bewegungsmelder und Video289
kameras mit Infrarotlicht sind installiert, damit jeder Winkel überwacht werden kann. Am 13. März ist der Rückstand bei der Post aufgearbeitet. Jeder Brief ist beantwortet worden. Jeder Scheck von jedem Investor ist eingelöst worden. Jede Bitte um Hilfe wird mit einem Farbfoto, das Ella beim Levitieren zeigt, beantwortet. Die Jünger haben jedes einzelne Foto mit »Bete mit mir - Ella« unterschrieben. Am 26. März klagt Juliette Wallis, man habe sie vom Ella Centre weggeschickt und ihr nicht gestattet, ihre eigene Tochter zu sehen. Seit Januar hat sie sich in Florida aufgehalten. Anfänglich war das Interesse der Medien an ihr immens - jetzt beginnt es nachzulassen. Wegen ihrer Trinkerei ist sie ein unberechenbarer Gast in Fernsehsendungen. Ihre Lebensgeschichte ist in voller Länge erzählt worden, ihre Autobiografie bereits verkauft und von Agenturen weiterverbreitet worden. Es existieren fünf nicht autorisierte Biografien, deren Autoren jedes Schwarzweißfoto aus ihrer Kindheit zusammengekratzt, jedes ramponierte Foto aus den Fotoalben längst vergessener Freunde gekauft haben. Inzwischen hat sie als Promi ein trauriges und schrilles Image - sie ist die allzu menschliche Mutter eines erdgebundenen Engels. Am 28. März verkündet die Ella Foundation: »Ella sehnt sich nach einem Treffen mit ihren Eltern und ihrem Bruder. Sie wünscht sich sehr, ihre Mutter und ihren Vater als eine Familie wiederzusehen. Solange die gegenseitigen Beschuldigungen von Juliette und Ken Wallis anhalten, fürchtet Ella, eine Begegnung mit einem von ihnen würde zu schmerzlich für sie sein. Zum Wohle der Familie bittet sie dringend darum, ihre Differenzen zu vergessen.« Also fliegt Ken nach Florida, ohne Marcia Collins, aber mit ihrem gemeinsamen Sohn, Luke, doch die Chancen auf eine Versöhnung sind gleich null. Juliette hat bei der Polizei von Miami Beach den Antrag gestellt, dass ihr Mann ihre Wohnung in Coconut Grove nicht betreten darf. Sie fürchtet, er wolle Frank entführen und mit beiden Jungen verschwinden. Die Story wird auf der Titelseite des National Enquirer breitgetreten. Ende April verlässt Laura Pittens als Erste der Jünger das Ella Centre. Ihre Geschichte wird von News of the World gekauft, ein schmutziger Bericht über Bett-Spielchen zu dritt zwischen dem Direktor, ihr und einem weiteren weiblichen Jünger. Über das Leben im Haus werden nur sehr 290
wenige Einzelheiten enthüllt. Laura scheint Ella so gut wie nie gesehen zu haben. Aber es gibt Gerüchte, Ella sei krank, zu schwach, um zu sprechen, und zu depressiv, um zu essen. Es gibt keine Gegendarstellung, aber als der Direktor, sehr lässig in einem Gianni-Versace-Jackett und mit Ray-Ban-Sonnenbrille, auf seinem Weg durch Heathrow von Reportern angesprochen wird, gibt er eine inoffizielle Erklärung ab. Ella sei stärker denn je. Sie wisse, ihr einziges Lebensziel sei Heilen, und sie widme jede Minute ihren Gebeten. Ihre spirituelle Kraft für ein Leben in Einsamkeit und Selbstverleugnung sei immens. Natürlich lebe sie zurückgezogen, natürlich verschwende sie keine Zeit mit Klatsch und Tratsch. Zu den Vermutungen, sie würde nicht essen - jeder, der Ella kenne, wisse, welch ausgezeichneten Appetit sie habe. Zufällig habe er ein Foto von ihr bei sich. Sie sitzt am Tisch hinter einem Berg von Fisch und Chips. Sie versucht zu lächeln. Der Direktor händigt dem Reporter das Foto aus. Das Foto zeigt nicht, wie Ella sich anschließend über die Kloschüssel beugt, um alles aus ihrem Magen herauszuwürgen. Ken Wallis, dem wiederholt der Zugang zu seiner Tochter oder den Einnahmen seiner Tochter verweigert wurde, verklagt die Ella Foundation auf zweiundzwanzig Millionen Pfund. Er verliert den Prozess, der ihn sein letztes Vermögen kostet. Seine plumpen Versuche, Verleger, Zeitungen und Sponsoren gegeneinander auszuspielen, um mehr Geld herauszuschlagen, werden ihm zum Verhängnis. Niemand will noch Werbeverträge mit ihm abschließen. Er erklärt sich für bankrott und fängt wieder in der Druckerei in der Wells Road zu arbeiten an - als Untergebener des neuen Vorarbeiters. Im Juni stand Ella auf einer Bühne vor zwei Millionen Menschen, die nach Bristol gekommen waren, um sie zu sehen. Die Stadt war heillos überfüllt. Weltweit schätzte man, dass drei Milliarden Zuschauer live dabei waren. Es war The Miracle In The Meadows. Neben ihr standen Guntarson und der Prince of Wales. Die Vorbereitungen hatten sechs Wochen gedauert. Die Hälfte der Seelen auf diesem Planeten würde für globale Heilung beten. Guntarson beugte sich zum Prinzen hinüber und flüsterte ihm das Miracle-Mantra zu: »Nicht nur der Einzelne, sondern ganze Nationen - nicht nur Krankheiten, sondern Kriege, Hungersnöte, Armut.« Und 291
die Mikrofone verkündeten die geflüsterten Worte über die Köpfe von zwei Millionen Menschen hinweg, die sich zum Gebet für Nationen versammelt hatten. Schauplatz war Ashton Court in Bristol, das riesige Gelände eines Herrenhauses, das einst im Besitz des reichsten Grundbesitzers der Stadt gewesen war. Inzwischen gehörte der Park und das Herrenhaus dem Volk. Guntarson betonte immer wieder, dies sei ein Symbol dafür, wie auch die Welt den Menschen gehören könnte. Zum ersten Mal war es eine Live-Sendung. Bilder von Ella waren oft ausgestrahlt worden, aber nie zeitgleich mit dem Wunder. Würde das den Ella-Effekt noch verstärken? Guntarson hatte versprochen, die Führer der Welt würden Hand in Hand neben Ella auf der Bühne stehen, und es zeigte sich, dass er sein Versprechen gehalten hatte. Die Bühne mit Ella in der Mitte war neunzig Fuß lang, und jeder, der auf dieser Bühne stand, war eine Person von Bedeutung. Jeder Kontinent war mit mindestens einem Staatsoberhaupt vertreten - nur drei oder vier Länder hatten es abgelehnt, einen offiziellen Vertreter zu schicken. Großbritanniens Vizepremierminister hatte seine Teilnahme zugesagt, bevor dem Premier das Ausmaß der Veranstaltung klar geworden war. Und nun lächelte der Vizepremier, der auf seiner Teilnahme bestanden hatte, selbstgefällig in die Runde, die Hände auf dem Rücken verschränkt, voller Vorfreude auf seine Sendung, die ihn den Zuschauern der ganzen Welt in der Rolle des Führers der Nation präsentieren würde. In den letzten Wochen war Guntarson sieben Mal im Fernsehen interviewt worden. Auf Gipfeltreffen hatte man ihn mit jedem Politiker fotografiert, der es geschafft hatte, ihm nahe zu kommen. In der internationalen Arena ignorierte der Direktor nur die Personen ohne Belang, und kein Staatsmann konnte es sich leisten, belanglos zu sein. In stündlichen Verlautbarungen wurden die Stars auf der Gästeliste genannt - Michael Jackson, Sting, Elton John, Diana Ross, Tina Turner. Guntarson hatte die Anwesenheit von Vertretern sämtlicher Weltmächte versprochen, und er hatte versprochen, die Sicherheit sei kein Problem. Die Gebete für Frieden würden Attentäter fernhalten. Führer aus über 200 Ländern, Fürstentümern und Staaten waren gekommen, und jede Nation bestand darauf, die Verantwortung für die Sicherheit der eigenen Politiker zu übernehmen. Eine durchsichtige, ku292
gelsichere Wand und ein Kordon von Sicherheitsleuten schirmte die Bühne ab, die ständig nach Sprengstoffen gescannt und durchsucht wurde. In einem endlosen Hubschrauber-Defilee wurden die Granden einer nach dem anderen abgesetzt und - von Geheimdienstleuten eingekreist - zu Fuß die fünfzig Meter zur Bühne geleitet. Die Pilger standen Schulter an Schulter. Über die Hälfte der zwei Millionen hatte keine Sicht auf die Bühne, sondern sahen sie auf großen Leinwänden, die über die ganze Stadt verteilt waren. Fünfhunderttausend Menschen machten sich auf den Weg zum Gelände, gaben aber Meilen von ihrem Zielort entfernt auf. Im gesamten Westen des Landes begaben sich Pilger in die Häuser der Leute, um das Wunder, dessentwegen sie um den Erdball gereist waren, wenigstens im Fernsehen zu sehen. Auf der ganzen Welt hatte man gigantische Leinwände in Sportstadien und Stadtparks aufgebaut, und die Straßen und Geschäfte waren leer, als sich die Leute vor Bildschirmen versammelten, den kleinen und den großen. Peter Guntarson war im Besitz eines Videos, das er allen vorspielte, die die ungeheure Größe dieses Wunders zu bezweifeln wagten. Darin sprach die Reporterin Judith Sykes von NBC vier Stunden, bevor Ella mit einem Hubschrauber zur Bühne gebracht wurde, in die Kamera: »Wo immer auf der Welt Sie auch sind, danken Sie Gott für die BBC denn die BBC überträgt diese Sendung in einhundertneunzig Länder. Großbritanniens zweiter großer Sender, ITN, versorgt weitere zwanzig. CNN erklärt, die Bilder in zweihundertzehn Länder auszustrahlen, mit drei verschiedenen Anfangszeiten je nach Zeitzone. Die ganze Welt kann also zuschauen, die tatsächliche Zuschauerzahl wird wohl nie bekannt werden. Das britische Publikum wird auf rekordverdächtige fünfunddreißig Millionen geschätzt. Ein solches Ereignis hat es in der Geschichte der Medien noch nicht gegeben. Bei den Presseeinrichtungen in Bristol wurden mehr als fünfhundert Reporter akkreditiert. Die Foreign Press Association hat im Laufe der Woche sechshundert akkreditiert. Die British Press Association sagt, sie habe buchstäblich die Übersicht über die Hunderte von ausländischen Presseleute verloren, denen sie eine Akkreditierung erteilt habe. Aber nicht nur Reporter sind da, unzählige Techniker, Produzenten, Moderatoren und Moderatorinnen sind in Bristol, um das Wunder zu 293
übertragen. Unsere drei amerikanischen Sender, natürlich NBC, daneben noch C N N und ABC, haben ihre Londoner Büros mit annähernd dreihundert Leuten zusätzlich aufgestockt und lassen selbstverständlich ihre größten Stars über das Ereignis berichten. Wegen der Menschenmenge hat die BBC ihre fünfundvierzig Kameras auf erhöhten Kamerabühnen aufgebaut und gesichert. Ein australischer Reporter fasste es kurz und knapp zusammen, als er sagte: >Ein verdammter Albtraum, wenn man sich vorstellt, hier herumlaufen zu müssen.< Die von den Kameras gelieferten Bilder werden über dreizehn Mischpulte an die riesigen Übertragungswagen der BBC weitergeleitet. Ich habe über dreißig Techniker gezählt, die in fünfzig Monitoren das Material für die britischen Bildschirme mischen und zur Versorgung der Satellitensender im Telecom-Turm bereitstellen. Wir haben wahrhaftig schon Massenveranstaltungen erlebt, aber das Wunder übertrifft alles bei Weitem. Wo immer Sie auch sind, wer immer Sie sind, was immer Sie heute um drei Uhr machen - an Ella Wallis kommen Sie nicht vorbei.« NBC ging nicht darauf ein, dass Gläubige jeder Religion vertreten waren, obwohl mindestens ebenso viel Priester sämtlicher Glaubensrichtungen da waren wie Journalisten. Eine unüberschaubare Anzahl von Nonnen war gekommen. Aus Peru, aus Tibet, aus der Wüste Westaustraliens, vom Orden der Mutter Teresa aus Kalkutta. Via Satellit wurde das Ereignis in zweihundertzweiunddreißig Länder live an einhundertundacht Sender übertragen. Schätzungen zufolge versammelten sich mehr Zuschauer denn je gleichzeitig vor dem Fernsehapparat. Das Wunder wurde in ganz China gesehen. Von Wissenschaftlern am Südpol. In Washington, Tokio, Bagdad und Melbourne. Und im Mittelpunkt der globalen Aufmerksamkeit stand ein Mädchen mit ellbogenlangen silberblonden Haaren, ein zartes Wesen, mit fest geschlossenen Augen. Von dem Moment an, da sie die Bühne betrat, betete sie. Die Politiker fassten einander bei den Händen und strahlten stolz auf das Meer der Jünger hinab, die vor Inbrunst kreischten, weinten, sangen, lachten, die Arme ausstreckten, ekstatisch schrien, flehten, knieten, murmelten, heulten, nach vorn drängten, einander umarmten, winkten, Sprechchöre 294
anstimmten. In Sprechchören riefen sie Ellas Namen. Aber Ella betete nur. Auf Uhren in aller Welt wurde das Verstreichen der Sekunden beobachtet, auf Uhren, die Mitternacht anzeigten, und auf solchen, wo Abenddämmerung herrschte, auf Uhren im Morgengrauen und in der Mittagszeit und auf der Atomuhr in Greenwich, bis sie 15 Uhr anzeigte. Um 15 Uhr vereinte sich die Welt im Gebet. Das war das Wunder. Guntarson ergriff Ellas Handgelenk, hob ihren Arm und riss dabei fast ihren zerbrechlichen Körper in die Höhe. Der Schrei aus zwei Millionen Mündern fand sein Echo auf der ganzen Welt. Als er den Countdown herunterzählte, hielt Ella den Kopf gesenkt wie eine Puppe. »Noch zehn Sekunden. Jetzt werden wir es der Welt zeigen! Die größte Freisetzung von Heilkraft in der Geschichte! Hinweg mit den Ungläubigen ! Drei! Zwei! Eins! BETET!« Er ließ Ella los und warf sich in eine betont inbrünstige Pose. Demütig kauerte sie neben ihm. Inmitten des Trubels der Berühmtheiten und Würdenträger schien Ella allein. Sie war allein in der Masse der halben Million Menschen auf dem Gelände, allein unter den drei Milliarden Menschen, die ihre Gebete mit ihr sprachen. Noch bevor die Gebete begannen, standen viele, die in Rollstühlen gekommen waren, auf, um ihr zuzujubeln. Tumore bildeten sich zurück, grauer Star verschwand. Kameramänner kämpften sich auf der Suche nach spontan Geheilten durch die Menge. Ein Mädchen sagte, sie sei gekommen, um für ihre Mutter zu beten, ihre eigenen Zahnschmerzen seien bereits vergangen - deshalb sei sie überzeugt, dass ihre Mutter geheilt werden würde. Ein sterbender Mann sagte, er fühle sich erfrischt, als habe er unter einem kalten Wasserstrahl gestanden. Spruchbänder verkündeten »Ella, der Messias«. Auf Englisch, Hebräisch, Arabisch, Gudscharati, Chinesisch, Tibetisch. Alle Gläubigen, gleich welcher Religion, glaubten an eine Zweite Ankunft. Auf Spruchbändern stand »Ella wird uns erlösen«, »Spreche uns los von unseren Sünden, Ella«. In der Menge wurde von Levitationen geraunt, obwohl Ella fest auf dem Boden stand. Der Lärm der Helikopter über den Köpfen war ohrenbetäubend. Um 18 Uhr, als Ella in eine erschöpfte Trance gesunken war und in 295
sich zusammengesunken auf einem Stuhl im hinteren Bereich der Bühne saß, war die Rede von fünftausend Heilungen auf dem Gelände. Auf der ganzen Welt waren es Hunderte Male so viele. Eine Geschichte wurde wieder und wieder berichtet, denn sie verlieh dem Massenwunder ein Gesicht: In Philadelphia betete der fünfzig Jahre alte Simon Weinstein für die Seele seines Sohnes. Das Kind war vor fast dreißig Jahren an Blutkrebs verstorben. Wäre der Junge, Harry, in den Neunzigerjahren geboren worden, hätte er vielleicht eine Überlebenschance gehabt. In den Sechzigern hatte er keine. Er starb eine Woche vor seinem zweiten Geburtstag, und seine Eltern sprachen jede Woche Gebete für seine Seele und gedachten seiner. Nun war Simon seit acht Jahren Witwer, aber er hatte den Jungen nicht vergessen. Nach wie vor sprach er jede Woche ein Gebet für Harry und betete auch für die Seele seiner Frau. Simon trauerte umso mehr um Harry, weil er auch seinen jüngeren Sohn Michael verloren hatte. Mike und Simon hatten sich vor langer Zeit zerstritten. Sie hatten sich das letzte Mal bei der Beerdigung von Mikes Mutter gesehen, und es waren böse Worte zwischen ihnen gefallen. Worte, die man nicht vergaß. Und dann trat das Wunder ein. Mike rief Simon genau in dem Moment an, als dieser im Gedenken an Harry betete. Er sagte: »Dad. Ich habe die Gebete im Fernsehen gesehen. Ich möchte Frieden mit dir schließen.« Simon sagte: »Ja?« »Ich habe eine Frau, du kennst sie nicht, sie heißt Fleur, wir wohnen inzwischen in Oregon. Und wir haben einen Sohn. Dad, ich möchte, dass du etwas für uns tust.« Mike weinte, er schluchzte beim Sprechen in den Hörer, und obwohl Simon misstrauisch war, warum sein mit ihm zerstrittener Sohn aus heiterem Himmel Frieden schließen wollte, gleichzeitig aber um einen Gefallen bat, brachte er kein böses Wort heraus. Also sagte er nur: »Ja?« »Wir haben unseren Sohn Harry genannt.« »Schön.« »Findest du? Er hat diese Krankheit, an der dein Harry gestorben ist. Krebs. Im Blut. Er hat jede nur mögliche Behandlung bekommen und es wird nicht besser. In den letzten beiden Wochen hat sich sein Zustand stark verschlechtert. Er ist im Krankenhaus. Und am Dienstag, wenn 296
Gott ihm so viel Zeit zugesteht, wird er zwei Jahre alt. Dad, willst du mit uns beten? Für Harry beten? Bitte?« Simon betete. Er betete den ganzen Tag und die ganze Nacht für seinen Enkel, den er nie gesehen hatte. Am Morgen rief er bei einem lokalen Rundfunksender an und bat die Hörer, mit ihm zu beten. City TV griff die Geschichte auf. Dann das nationale Fernsehen. Am nächsten Tag zur Frühstückszeit, dem Tag vor Harry Weinsteins zweitem Geburtstag, betete ganz Amerika für das Kind. Es wurde zu einem Symbol für die Heilkraft von Gebeten - und für deren Kraft, eine zerbrochene Familie zusammenführen zu können. Eine Nation zusammenzuführen. Am Morgen seines zweiten Geburtstags, als er fast dem Tod auf der Schwelle gestanden hätte, war Harry Weinstein geheilt.
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KAPITEL 3 6
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us dem Observer's Life-Magazin, Sonntag, 12. Dezember. Das Foto auf der Titelseite zeigt eine Luftaufnahme des Herrenhauses, Bildunterschrift »Was im Ella Centre wirklich vorgeht«. Exklusiv international - zum allerersten Mal ein Bericht aus dem Innern der geheimen Welt der Ella Wallis und ihrer Jünger. ALISS HOLMES verbringt eine Woche hinter den verschlossenen Türen des Ella Centre mit unbeschränktem Zugang zu Direktor Peter Guntarson und bekommt eine Audienz bei der einsiedlerischen Wundertäterin selbst. Aliss in Ella-Land Niemand hatte mich vorgewarnt, dass Peter Guntarson zu dieser Party kommen würde, weil niemand es gewusst hat. Heutzutage erwartet er ganz selbstverständlich, überall Zutritt zu haben, wo immer es ihm beliebt, angezogen, wie immer es ihm gefällt, und herzlich aufgenommen und bedient zu werden. Wenn er wollte, könnte er zweifellos in seiner ledernen schwarzen Motorradkombi ins Parlament marschieren und die Hinterbänkler jeder Partei würden ihre Tagesordnung schwenken und eine Rede verlangen. Das ist keineswegs so weit hergeholt - schließlich ist Direktor Guntarson regelmäßiger Gast in Highgrove House geworden, besuchte dreimal das Weiße Haus und beehrte sogar Downing Street Nummer 10 mit seiner Anwesenheit. Und genau darum hatte niemand damit gerechnet, dass er bei der After-Show-Party einer West-End-Premiere auftauchen würde. Es warder 29. November, die Produktion war die neueste von Eric Osborne, und die Party versprach ein Test in Durchhaltevermögen zu werden, weil Eric sich nicht die Mühe gemacht hatte aufzukreuzen, weil jeder Langweiler östlich von Windsor eingeladen worden war und weil der Schauspieler, den ich eigentlich interviewen sollte, bereits stockbesoffen war. Und nun stellen Sie sich vor, für welches Aufsehen im Raum das Erscheinen eines Supermanns mit zerzaustem blondem Haar und kantigem Kinn in einem orangefarbenen Wettermantel sorgte. 298
Die eine Hälfte der Gäste muss zweimal hinschauen, um es zu glauben. Die andere Hälfte verrenkt sich den Hals, um zu sehen, ob er das Engelsmädchen mitgebracht hat. Ist es möglich? Sind sie tatsächlich in einem Raum mit Ella? Es ist natürlich nicht möglich. Sie geht nie mit ihm irgendwohin. Sie geht überhaupt nirgendwo hin. Seit Juni war sie nicht mehr draußen. Jeder weiß das. Und nichts ärgert den Direktor mehr als Leute, die enttäuscht sind, ihn zu sehen, weil sie hofften, Ella zu sehen. Ich sah nicht enttäuscht aus. Wer weiß, wie ich aussah, vielleicht schmolz sogar das Eis in meinem doppelten Martini. Weil Direktor Guntarson in natura zehn Mal hinreißender ist als auf Fotos, teils, weil er größer ist als gedacht, teils, weil er Macht ausstrahlt. Das Lächeln, die Haltung, der Händedruck, die Kleidung - alles kompromisslos. Er hat es nicht nötig, sich so zu verhalten, dass die Leute ihn mögen. Er ist gewohnt, angebetet zu werden. Er sorgte dafür, dass ich ihn ganz schön anbetungswürdig fand. Füllte mein Glas nach, flüsterte mir ein Geheimnis über einen der anderen Gäste zu, hörte meinem Geplapper aufmerksam zu. Verständlich, warum er vom ersten Tag an das Engelsmädchen um den Finger gewickelt hat. Später hörte ich mich selbst höchst albern hauchen: »Hat Ihnen schon einmal jemand gesagt, dass Sie unwiderstehlich sind?« Der Direktor übt diese Wirkung aus: logische, skeptische Gehirne verwandeln sich zu Gelee. Vielleicht ist das eine paranormale Kraft. Als ich ihn fragte, was er bei einer Theater-Party mache, sagte er: »Eine schöne Frau suchen.« Jeder andere hätte sich Martini von der Hemdbrust wischen müssen - der Direktor kam in den Genuss meines vor Verlegenheit hochroten Kopfes. Typisches »So ein Mist«-Verhalten. »Ich mag Frauen mit starker Psi-Kraft«, fügte er hinzu, und als ich protestierte, ich könnte noch nicht einmal in einem Swimmingpool schweben, ganz zu schweigen von levitieren, zeigte er mir, wie man Botschaften telepathisch übermittelt. »Schließen Sie die Augen und stellen Sie sich vor, Sie würden das Wort von einer verlassenen Insel zu einem Schiff am Horizont rufen. Passen Sie auf, ob Sie mich hören können.« Und wir schlossen die Augen, und er machte mir per Telepathie einen sehr unanständigen Vorschlag. Ich sagte sofort Ja. Es hätte auch Ja, Ja, Ja, oh Gott, Ja sein können. Und so kam es, dass ich in das Ella Centre eingeladen wurde. 299
Der Anflug mit dem Hubschrauber ist überwältigend, fast mystisch. Heißluftballone schwebten wie Positionsmarkierungen in der Luft. Wir brummten mit unserem fünfsitzigen Bell Jet Ranger zwischen ihnen hindurch und folgten dem in der Schlucht tief unter uns wie Stanniol glänzenden Fluss. Und dann tauchte vor uns schemenhaft die Hängebrücke von Brunei auf, die sich wie ein Band von Fels zu Fels spannt, und wir jagten weiter über den Wald, bis wir hinter einem großen Sandsteingebäude auf dem Hubschrauberlandeplatz, grau mit einem orangen H, aufsetzten. Zwei junge Leute liefen heraus, duckten sich unter die Rotorblätter und schoben für den Direktor die Tür auf. Er half mir mit übertriebener Ritterlichkeit heraus, als würde Raleigh Königin Elizabeth über eine besonders große Pfütze helfen. Die jungen Leute nahmen meine Taschen und liefen zurück in das Haus. Es war nicht so, wie ich erwartet hatte. Ich hatte natürlich keine Vorstellung davon, was mich erwartete - vielleicht Ella, die aus einem der Fenster im oberen Stockwerk herabschwebte, um den Gast zu begrüßen, Nonnenkolonnen, die durch den Garten marschieren, die gesenkten Köpfe hinter den Schleiern verborgen. Als ich dem Direktor durch den Wintergarten in den Gemeinschaftsraum folgte, lümmelten dort neun oder zwölf Teenager über Büchern und Zeitschriften. Ein paar sahen auf und sagten: »Hi.« Ein paar andere taten nichts dergleichen. Auf einem niedrigen Tisch stand nicht wie erwartet ein Fernsehapparat, sondern darauf lag ein Monopoly-Brett. Daneben standen mindestens ein Dutzend Computer samt Drucker. Auch an den Computern saßen Teenager, die jeden Tag Tausende E-Mails herunterluden. Der Direktor, mit einem Handy in jeder Hand, sauste ständig herein und wieder hinaus. Ich stand mitten im Raum und fragte mich, wo wohl meine Taschen gelandet waren. Niemand beachtete mich. »Hungrig?«, fragte er mich im Vorbeigehen. »Brooke kann dir Rühreier machen. Sie weiß genau, wie ich sie mag. Ich habe es ihr beigebracht. Brooke, kochen - sofort!« Eine Achtzehnjährige mit einem Mopsgesicht und kurvenreicher Figur machte sich auf den Weg - in die Küche, wie ich vermutete. »Wo ist mein Zimmer?«, fragte ich. »Wozu brauchst du ein Zimmer?« 300
Er führte mich eine breite Holztreppe hinauf bis zu einer Eichentür, hinter der sich das große Schlafzimmer, die Suite des Direktors, befand. Das Fenster ging auf die Anlagen und die Schlucht hinaus, aber der Rollladen war geschlossen. Zu beiden Seiten eines mächtigen, karmesinroten Bettes hing ein Kronleuchter. Nein, nicht karmesinrot - blutrot. Das Bett sah heiß aus. Und weich. Sonst war das Zimmer fast leer - bis auf einen passenden Kleiderschrank, einen Spiegel über einem Regal, einen kleinen Tisch mit einem Sony-Camcorder. Und einen Eisbärvorleger. »Aus Island, der Heimat meines Vaters. Ich habe ihn selbst geschossen. Nein, das war Scheiß - ich habe vergessen, dass du Journalistin bist. Spaße nie mit Journalisten, denn sie haben keinen Sinn für Humor. In Wahrheit habe ich ihn in Anchorage gekauft, als ich das letzte Mal dort war. Er ist seit Jahrzehnten tot, in den Dreißigern in die Falle gegangen. So politisch korrekt wie ein Pelz nur sein kann. Fass ihn an, er ist rauer als du denkst. Nichts Plüschiges an Eisbären. Setz dich.« Er setzte sich neben mich und fuhr neben meinem Oberschenkel mit den Fingern durch das Fell. »Du würdest dich wundern, wie dieser Vorleger scheuert. Auf nackter Haut.« »Warum hast du einen Camcorder?« »Oh, keine Ahnung. Für den Fall, dass Ella unerwartet etwas Wunderbares macht.« Ein eifriges Klopfen an der Tür, und das üppige Mädchen brachte unsere Eier. Zapplig stand sie in der Tür und wartete auf weitere Anweisungen, aber der Direktor entließ sie mit einem Fingerschnipsen. »Ihre Schwester Holly«, bemerkte er, »war mit Ella auf der Schule. Brooke Mayor. Sie kannte Ella also schon letztes Jahr. Und sie hat sie nicht mal von der Seite angesehen. Aber als ich Ella der Welt präsentierte, Wunder links, rechts und in der Mitte, konnte die arme Brooke nicht mehr an sich halten. Sie lebte praktisch draußen vor Ellas Haus, schlief auf der Straße, versuchte, einzubrechen, versuchte, Fotos durch das Fenster zu machen. Vollkommen besessen. Konnte nicht glauben, dass sie Ella gekannt hat. Somit war sie eine ideale Kandidatin, um hier im Centre zu leben und bei der Hauswirtschaft, der Korrespondenz und was sonst so anfällt zu helfen. Die Kids, die du unten gesehen hast, sind alle genauso. Rockstars haben Fans und Groupies. Ella und ich haben Jünger. 301
»Wo ist Ella?« »Beten«, antwortete er vage. »Wo?« »Für sich.« »Ich würde sie wirklich gern kennenlernen.« »Das wollen alle.« »Aber darum hast du mich hergebracht.« »Darum? Darum?« Einen Moment lang war er verstimmt; dann packte seine Hand so fest meinen Arm, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten, und spielerisch zwang er mich nach unten auf den Vorleger. »Darum habe ich dich hierher gebracht? In mein Boudoir?« »Du hast die Tür nicht abgeschlossen.« Ich versuchte (nicht sehr energisch), seinen Lippen auszuweichen. »Und? Willst du weglaufen? Du würdest nicht weit kommen. Draußen sind die Hunde los.« Also musste ich mich unterwerfen. Drei Tage bin ich nicht mehr aufgetaucht. Schließlich entriss mir der Hubschrauber den Direktor, und zum ersten Mal seit zweiundsiebzig Stunden konnte ich ohne Unterbrechung durchschlafen. Ich zog den Rollladen hoch und beobachtete, wie sich die Dämmerung über die Schlucht senkte. Jenseits des Rasens und der Mauer mit dem Stacheldraht hockten Fotografen in den Bäumen massige dunkle Schatten, wie Raben mit Zoomobjektiven. Ihre Digitalkameras konnten die Bilder direkt an die weltweit auf den Newsdesks wartenden Apple Macs übertragen. Flutlicht tauchte den Garten in bleiches Licht, Lichtbögen, die so weiß waren, dass sie zu sprühen und zu zischen schienen. Drei mächtige Mastiffs, Torpedos auf Pfoten, spazierten über das Gras. Am ganzen Leib bebend, blieben sie stehen, die Schnauzen ein paar Yards auseinander. Einer machte einen Schritt nach vorn und die anderen sprangen weg wie entmagnetisiert. Im Gemeinschaftsraum saßen vier Jünger mit gekreuzten Beinen rund um das Monopoly-Brett. »Hi«, grüßte mich der einzige Junge unter ihnen beflissen. Die Mädchen ignorierten mich. Er war der einzige Schwarze, den ich im Centre gesehen hatte. Er trug 302
ein Mutter-Teresa-T-Shirt und blinzelte durch eine John-Lennon-Brille - nicht so sehr ein Blinzeln, eher ein Zucken sämtlicher Gesichtsmuskeln. Seine zottigen Locken waren auf einer Seite kürzer als auf der anderen, ein klassischer Küchenscherenschnitt von zu Hause. »Ich bin Stewpot.« »Kein Mensch sagt Stewpot zu dir«, nuschelte eines der Mädchen. »Nur Stu.« »Meine Mutter hat mich immer so genannt.« »Ich sage Stewpot zu dir, wenn du magst«, bot ich an. Die Zeit war reif für einen Freund. »Wem gehören die Hotels in Mayfair?« »Mir«, gab er zu. Keine Überraschung. Die Mädchen machten einen zu gelangweilten Eindruck, um zu würfeln, vom Ausrechnen der Miete ganz zu schweigen. »Möchtest du mitspielen?« »Macht ihr das in eurer Freizeit? Monopoly spielen?« Eines der Mädchen sagte: »Pah!« »Was heißt >pah« »Freizeit«, sagte sie, ohne mich anzusehen. Sie hatte schimmernde, kräftige, kastanienbraune Haare, die über ihre Schultern fielen und ihr Gesicht verdeckten. »Was ist damit?«, fragte ich und dachte, die Marotte des Direktors, Jünger aus attraktiven Mädchen und vertrottelten Jungs auszuwählen, müsste ein gewisses sexuelles Ungleichgewicht in diesem Haus schaffen. »Wie viel Freizeit hattest du, seit du hier bist?« »Stimmt«, sagte ich, »ich bin total erledigt.« »Dann warte mal ab, bis er dir einen Sack Fotos zum Unterschreiben gibt und ein paar Tausend Umschläge zum Beschriften, und dann bist du mit dem Abwasch dran.« Ich erklärte, ich sei nicht zum Geschirrspülen gekommen. Sie erklärten, sie hätten sich auch etwas anderes vorgestellt. Man hätte sie geholt, um Gefährten für eine einsame Ella zu sein und als Juniormanager der Ella Foundation. Von Geschirrspülen sei keine Rede gewesen. »Warum geht ihr nicht?« »Warum gehst du nicht?«, entgegneten sie. Das war lächerlich. Ich konnte gehen, wann immer ich wollte. »Ach ja?«, sagte die Missmutigste, ein schwarzhaariger Teenager 303
namens Xenia. Wie die anderen Mädchen trug sie kein Make-up, keinen Schmuck, schlichte Kleidung, und sie sah gescheit aus. Keine wirkte geistlos. »Dann geh doch«, reizte sie mich. »So werdet ihr mich nicht los. Aber wenn ich wollte, müsste ich nur durch diese Tür da gehen.« »Und wirst von den Höllenhunden gefressen.« »Gut, dann greife ich halt zum Telefon.« »Welchem Telefon?« Ich hätte mein Handy dabei, sagte ich. Klar. Nur, ich hatte es nicht. »Er hat es mir abgenommen! Scheißkerl! Er hat mein Handy genommen! Scheißkerl!« »Niemand darf hier telefonieren«, erklärten sie mir. »Der Direktor kontrolliert alle Erklärungen, die aus dem Centre hinausgehen. Wir können nicht einmal E-Mails verschicken. Du kriegst dein Handy nicht zurück - er wird sagen, er habe es konfisziert, damit es keinem von uns in die Hände fällt.« »Aber ihr seid doch keine Gefangenen?« »Wir kommen aus den unterschiedlichsten Familien, aber hier sind wir alle Diener«, erläuterte Stewpot. Es schien ihn froh zu machen. »Der Direktor muss für Kontinuität sorgen. Deshalb müssen wir uns für ein langfristiges Engagement verpflichten.« »Ich bin keine Dienerin«, sagte ich steif. »Was bist du dann?«, wollte Brooke wissen. »Eine Sexsklavin?« Ich merkte mir vor, Brookes Rühreier das nächste Mal abzulehnen. Sie könnten vergiftet sein. Aber die Atmosphäre änderte sich, als ich ihnen sagte, dass ich für den Observer arbeite. »Glaubst du wirklich, der Direktor lässt dich etwas schreiben? Niemals, da wette ich.« »Er muss. Oder mein Verleger schickt die Luftlandetruppe, um mich einzusammeln«, sagte ich selbstgefällig. »Dann musst du die Wahrheit schreiben«, sagte Brooke. »Sie kennt die Wahrheit nicht«, sagte Tamara. »Wir sagen sie ihr«, sagte Xenia eifrig. »Kennst du Tim und Nick?« »Das waren die beiden, die deine Taschen reingetragen haben.« 304
»Wahrscheinlich sind sie dir gar nicht aufgefallen. Aber da ist auch noch Sadie.« »Sadie ist die Schlimmste. Sie ist das schwarze Schaf der Truppe.« »Wirst du das alles in deiner Zeitung schreiben?« Nein, werde ich nicht. Zum einen war ich nach wie vor von allem abgeschnitten und zum anderen war das alles unglaublich banal. Aber ich tat so, als wäre ich sehr interessiert, das war immer noch besser, als von allen gehasst zu werden. Alles, was man wissen muss, ist, dass der Direktor seine Jünger mit auf Eigennutz beruhender Grüppchenbildung in Trab hält. Jeder rangelt darum, Ella möglichst nahe zu sein. Da sind Tim und Nick, die ihr jeden Tag das Essen bringen. »Das sind nur Kellner!«, sagte Xenia. Dann ist da Sadie, die angeblich mit beiden Kellnern schläft. Und noch ein Junge, Daz, und nach seinen Worten zu urteilen, ist Brooke die wahre Schurkin des Ella Centre, weil sie, verdorben und triebhaft, wie sie ist, einen speziellen Einfluss auf den Direktor ausübt. Der Netteste aus dem ganzen Haufen schien Stewpot zu sein. Er war wirklich unglücklich, als er lange nach Mitternacht mit zwei Schachteln voller Farbfotos und einem Markerstift vor sich am Tisch saß. »Na ja, in gewisser Weise ist es ein Privileg«, meinte er, während er mit dem Marker exakt der Schablone folgte und auf jedes Foto malte: Frieden ... Harmonie ... Gesundheit... Liebe ... Ella. »Manchmal machen wir die Unterschriften maschinell, aber ich darf das nicht, weil das Ding immer kaputtgeht, wenn ich es anfasse. Natürlich kann Ella das nicht alles selbst unterschreiben. Sie muss beten. Der Direktor sagt, jedes Gebet rettet ein Leben. Und ich brauche zwanzig Sekunden, um ein Foto aus der Schachtel zu holen, es glatt zu streichen, zu beschriften, in einen Umschlag zu stecken, und dann noch mindestens vierzig Sekunden, um die Adresse zu entziffern und abzuschreiben. Insgesamt also eine Minute. Und ein Gebet dauert niemals eine Minute.« Er sagte das Vaterunser auf, ohne den Text durcheinanderzubringen und ohne irgendeine Bedeutung hineinzulegen. »Achtzehn Sekunden. Man kann es also von dieser Seite aus betrachten jedes Mal, wenn ich mit Ellas Namen unterschreibe, hat sie Zeit, drei Gebete zu sprechen. Und das sind drei Leben. Aber dann mache ich mir Gedanken, was die Leute denken würden, 305
wenn sie es wüssten? Sie bekommen Ellas Foto - es bedeutet ihnen wahrscheinlich viel. Sie glauben, dass Ella die Worte geschrieben, ihre Fingerabdrücke auf diesen Fotos hinterlassen hat - winzige, einzigartige Spuren von ihr. Vielleicht hilft ihnen dieser Gedanke, gesund zu werden. Also, in dieser Hinsicht komme ich mir ein bisschen vor wie ein Betrüger. Oder schlimmer noch. Was, wenn sich jemand wirklich auf diese Unterschrift verlässt? Sich richtig darauf konzentriert, versucht, Ellas Heilkraft daraus zu ziehen, nur dass es die gar nicht gibt, weil ich es geschrieben habe, weil meine Fingerabdrücke drauf sind. Vielleicht werden sie dann nicht geheilt. Oder wenn sie geheilt werden, dann vielleicht nur dank ihrer eigenen, durch ihren Glauben ausgelösten Heilenergien. Weil Ella dieses Bild nie berührt hat.« »Wenn die Leute nicht geheilt werden«, sagte ich, »dann weil Ella eine Betrügerin ist. Nicht du.« Stewpot schüttelte den Kopf. Dann lächelte er. »Sie ist echt. Soll ich sie dir zeigen? Willst du sie sehen? Okay, wir müssen ganz, ganz leise sein. Zum einen ist es nicht nett, sie zu stören. Zum anderen ist es mir nicht gestattet, zu ihrem Zimmer zu gehen. Das dürfen nur Tim und Nick. Sie bringen ihr das Essen und auch den Hund. Hast du Furbag gesehen? Ein Spaniel, der Direktor hat ihn Ella gekauft. Aber weil sie die ganze Zeit in ihrem Zimmer ist, langweilt sich der Hund. Außerdem braucht er Auslauf, und der Direktor will Ella nicht rauslassen. Für den Fall, dass sie fotografiert wird. Das hat alles mit Mystik zu tun. Dieser Hund, Furbag, hängt ziemlich an Tim, er muss ihn pflegen und füttern und so, und jeden Tag bringt er den Hund zu Ella. Ein paar Mal hat er versucht, ihn bei ihr zu lassen, aber er hat gewinselt und gekratzt, weil er zu ihm wollte. Er ist ein bisschen paranoid wegen der Killer-Rottweiler auf dem Gelände. Er muss aufpassen, wenn er mit ihm rausgeht, damit er sein Geschäft macht. Ich sollte Ella eigentlich nur sehen, wenn sie herunterkommt, so etwa alle sechs Wochen. Aber in den meisten Nächten schleiche ich hinauf. Deshalb bleibe ich so lange wach und beschrifte noch Fotos, bis alle eingeschlafen sind.« Er führte mich durch das Gemeinschaftszimmer, wo Daz auf einem Sofa schlief, die Füße in aufgeschnürten Reeboks. »Er ist ein Schlamper«, hauchte Stewpot. Auf dem Treppenabsatz im ersten Stock flüsterte er an jeder Tür den Namen: »Xenia. Licht aus. Nick. Licht aus, 306
vermutlich hört er mit Kopfhörern. Er ist Nirvana-Fan, überall Poster von Kurt Cobain.« Stewpot klang angewidert. »Das ist Tims Zimmer.« Gedämpftes Stöhnen hinter der Tür. »Tim und Sadie, denke ich. Ja, hier ist Sadies Zimmer, Licht aus, Tür offen.« Er schüttelte den Kopf wie eine Schlafsaalaufsicht der fünften Klasse, die den Blick abwendet, wenn es zu einem Bettentausch mit der sechsten kommt. »Okay, die Treppe hinauf, aber nicht auf die zweite Stufe treten. Sie quietscht.« Im zweiten Stock war es dunkler als in einem Burgverlies. Und kalt. Ich legte eine Hand auf Stewpots Schulter und ließ mich von ihm einen von eisiger Luft durchströmten Korridor entlangführen. Schweigend blieben wir stehen, Dunkelheit hüllte mich ein. Er schob eine kleine Klappe in der Wand beiseite, und ein schwacher Lichtschimmer leuchtete heraus, den er gleich mit seinem Gesicht verdunkelte. Er trat zurück und drückte mich wortlos gegen den Spalt. Und da war Ella. Das einzige Fenster des Zimmers war mit Brettern vernagelt. Die Lampe in der Ecke brannte nicht. Aber von dem Mädchen in der Mitte des Zimmers strahlte ein feines Leuchten aus, als würde tief in ihrem Innern etwas brennen. Sie hatte die Hände im Schoß gefaltet und kniete. Die Pose war mehr die eines kleinen Mädchens, das auf seine Gutenachtgeschichte wartet, als die einer Heiligen beim Gebet. Ihr herrliches, glänzendes Haar umfloss sie. Ihre Augen waren halb geschlossen - besser gesagt, ihr hohlwangiges Gesicht war in Ruhe. Die leuchtende Haut spannte sich über Stirn und Backenknochen, am Mund und unter den Augen war sie in Höhlen versunken. Sie sah abgezehrt und ätherisch aus und halb verhungert. Und natürlich levitierte sie. Ihr Körper war nach vorn geneigt, sodass die Knie dem Boden am nächsten waren, eine Handbreit darüber. »Sie ist wach«, zischte mein Freund. »Besser, wir gehen.« Ich warf einen letzten Blick in das Zimmer - keine Einrichtungsgegenstände, keine Bücher, ein weicher, grüner Teddy auf dem unberührten Bett - und schob die Klappe über das Guckloch. Wir kamen an Ellas Badezimmer vorbei, einem Kämmerchen mit einer Toilette und einer Dusche direkt neben ihrem Zimmer. Auf der Treppe begann Stewpot wieder zu flüstern. »Ich weiß, wann sie 307
schläft, weil sich dann das Licht ändert. Kannst du dich erinnern, wie sie gesagt hat, dass sie drei Lichtscheiben sah, die sich gedreht haben? Ich habe sie gesehen. Manchmal stand ich stundenlang da. Du frierst da fast fest, aber nach einer Weile vergisst du das. Ich habe sie beten sehen, und wenn sie sehr konzentriert ist, erscheint dieses Leuchten. Was du eben gesehen hast, ist gar nichts. Manchmal blendet es richtig, als würde das ganze Zimmer in Flammen stehen. Aber wenn sie entspannt ist, schweifen ihre Gedanken ein wenig ab, denke ich, und das Leuchten erlischt. Gerade eben war es so stark wie Glut. Sie wird bald schlafen. Ich wollte nicht, dass du sie störst. Nicht böse sein.« »Schon gut. Aber friert sie nicht? Ich bin nach fünf Minuten durchgefroren.« »Darüber habe ich nachgedacht. Ich glaube, sie zieht die Hitze in sich hinein. Nimmt Energie aus der Luft auf. Wenn du eine Weile da stehst, kannst du fast spüren, wie auch dir Energie entzogen wird. Sie trägt nie was anderes. Auch im Sommer immer Pullover, Hosen und so. Wir waschen sie von Hand mit Olivenölseife. Der Direktor sagt, sie dürfe sich von solchen Dingen nicht ablenken lassen, und wenn sie viele Kleider hätte, könnte sie eitel werden. Er hat ihr sogar ihre alten Kleider weggenommen, so Zeug mit Logos drauf. Sie betet nicht immer«, fügte er hinzu. »Ich habe sie auf der Bettkante sitzen und die Haare kämmen sehen. Mit großen, langen Strichen, von oben bis in die Spitzen. Da wollte ich nicht zusehen. Jeder braucht seine Privatsphäre.« »Würde es dir etwas ausmachen, wenn sie dich beobachten würde, während du schläfst?« »Sie weiß nicht einmal, wer ich bin! Sie hat mich vielleicht drei Mal gesehen, ganz im Hintergrund. Ich bin nur ein Lakai.« Er sagte das mit einem Lachen. »Also wenn ich da stand und stand und sie einschlafen sah, und dieses Leuchten, wie du es eben gesehen hast, ist nach und nach erloschen, bis das Zimmer völlig dunkel war - wenn du dann lange genug da stehst, erscheinen drei Lichtscheiben. Die sich drehen. Genauso, wie sie es beschrieben hat. Sie umkreisen einander auf der Wand, schneller und schneller, bis sie recht hell sind und miteinander verschmelzen. Dann trennen sie sich allmählich und werden langsamer. So geht das immer im Kreis. Drehen, verschmelzen, pulsieren, heller werden, voneinander trennen. Wie der Herzschlag eines 308
riesigen, unsichtbaren Wesens, ein sehr langsamer Herzschlag. Und du hast das starke Gefühl, dass es über sie wacht. Auf sie aufpasst. Manchmal tut sie mir leid. Aber, weißt du, die Hindus glauben, wir müssen leiden, bevor wir Glückseligkeit erlangen. Also wenn das stimmt, dann muss auf Ella jede Menge Glückseligkeit warten.« Ist der Direktor nicht da, tanzen die Mäuse. Und wenn sie tanzen, spielen sie Monopoly. Oder Sim City auf einem der Apple Macs. Und das war's. Ich habe niemanden fluchen gehört, niemanden rauchen oder Alkohol trinken sehen - alles, was sie brauchen, wird jeden zweiten Tag von einem Lieferwagen geliefert, die Jünger müssen mit dem auskommen, was man ihnen zuteilt. Sie haben gar keine Gelegenheit, sich schlechte Gewohnheiten zuzulegen, selbst wenn sie es wollten. Ich sagte einmal »Scheiße«, und man hat mich angesehen, als hätte ich während der heiligen Kommunion gefurzt. Was Sex anging, war ich mehr als bedient, aber es wäre ohnehin keiner der Jungs einen Flirt wert gewesen. Einer wie der andere komische Typen mit Sektenmentalität, und das ist noch das Netteste, was man über sie sagen kann. Von Körperhygiene ganz zu schweigen. Wenn Sadie tatsächlich mit Tim schlief, musste sie einen recht guten Magen haben. Stewpot mit seinem übereifrigen Fanatismus für jedes Detail der Existenz des Engelskinds hat meine Geduld auf eine harte Probe gestellt. Er war ein Astrologie-Narr und hat unentwegt versucht, mir beizubringen, dass Ella nicht unter einem der üblichen Sternzeichen geboren sein konnte. Um ihren Geburtstag herum, Mitte Dezember, nimmt die Sonne offenbar Urlaub vom Tierkreis und verkrümelt sich auf ein nahe gelegenes Sternbild namens Ophiuchus der Schlangenträger. »Es ist wirklich wichtig« - sagte er an die achtzehn Mal, »weil die Erde vor 2500 Jahren ihre Bahn verlassen hat, nachdem die Babylonier die Sternkarten aufgezeichnet haben. Und das bedeutet, Ellas Sternzeichen ist der Ophiuchus, das ist das Zeichen für positives Denken. Nicht der Sagittarius. Eines Tages werde ich ihr das erklären.« »Warum ihr das Leben noch schwerer machen, als es bereits ist?«, fragte ich, aber der arme Stewpot war völlig unzugänglich für Sarkasmus. Ich brachte es nicht übers Herz, ihm zu sagen, er solle mal 309
eine Sendepause einlegen und versuchte, das Beste daraus zu machen. Um selbst auch ein wenig Spaß zu haben, ließ ich ihn dieses Ophiuchus-Zeug wieder und wieder herunterleiern und sagte irgendwann: »Wenn ich es recht verstehe, ist sie also ein Zwilling, stimmt's?« Doch selbst diese aufrührerische Unterhaltung wurde letztlich langweilig. Und so kam es, dass ich zwei Tage lang Furbag streichelte und würfelte und dem gehässigen Geflüster zuhörte, über die, die gerade nicht im Zimmer waren. Dann kam der Direktor zurück, und ich konnte mit Ella sprechen.
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KAPITEL 37
Observer, Sonntag, 19. Dezember. Titelseite der Life-Beilage zwei Wochen hintereinander - eine noch nie da gewesene Ehre. Auf dem Titel war nur ein Lichtstrahl von der rechten Ecke hinunter in die linke abgebildet: Aliss in Ella-Land, Teil zwei - Das Wunder Ella wurde als großzügige Geste dargebracht. Andere Männer fliegen mit der Geliebten über den Atlantik zum Sex in ein Fünf-SterneHotel oder schenken ihr einen grauenhaften, prätentiösen Edelstein. Peter Guntarson überreichte mir Ella. Gleich nach der Rückkehr des Direktors hatte ich begonnen, nach ihr zu fragen, und ich ließ die ganze Nacht nicht locker. Zur Mittagszeit sagte er nicht mehr: »Wir werden sehen«, sondern versprach: »Ja«. Zur Teezeit schien er sein Versprechen tatsächlich zu halten. Unter den Jüngern herrschte den ganzen Tag über eine aufgeregte Betriebsamkeit, sie putzten und wischten, räumten auf und richteten alles nett her. Elf Minuten nach elf, als bereits alle zu zweifeln begannen und fürchteten, ihre wohlgemut verrichtete Hausarbeit wäre umsonst gewesen, führte der Direktor Ella die Treppe herunter. Sie sah krank aus. Jetzt, da sie stand, sah ich zu meinem Entsetzen, wie dünn sie wirklich war. Das war nicht die Ella, die ich im Fernsehen gesehen hatte. Das ging über den Heroin-Chic hinaus, den zur Schau zu tragen ihr manche zum Vorwurf machen. Sie sah auch nicht aus wie ein ausgemergelter, aber gesunder Asket. Sie sah vernachlässigt und eindeutig krank aus, nach einer qualvollen Krankheit wie Magersucht oder Bulimie. Ihre Augen waren tief in die Höhlen gesunken und ohne Glanz. Ihr Mund war leicht geöffnet, ihre Lippen blass. Die Haut an ihren Händen sah durchsichtig und spröde aus. Sie klammerte sich fest an die große Hand des Direktors und ließ sie auch nicht los, als er sie zu einem Sessel führte und sie hineinsetzte. Er setzte sich mit gekreuzten Beinen neben sie auf den Boden. Wie gefordert, standen wir anderen in einer Reihe hintereinander mit dem Rücken zu den Doppeltüren, und einer nach dem anderen durften die 311
Jünger vor Ella niederknien und ihre Hand berühren. Ich musste mich diesem Ritual anschließen. Diskret schaltete ich mein Mini-Tonband ein. Ihre Hand war kalt, und ihr Gesicht verriet mir nichts. Sie wirkte entrückt, als hätte jemand den Stecker herausgezogen. Vielleicht hatte der Direktor ihre Gebete unterbrochen und ein erst halb gesprochenes Bittgebet hing noch in der Luft und wartete auf seine Vollendung. Die Jünger wurden weggeschickt. Ich bemerkte die sehnsüchtigen Blicke, die Stewpot über seine Schulter warf. Von allen Jüngern schien er der einzige, dessen Augen von Liebe zu der wahren Ella erfüllt waren und nicht zu der für die Ikone. Der Direktor sagte: »Die Dame ist gekommen, um mit dir zu sprechen. Sie ist eine besondere Freundin von mir. Ich wollte, dass sie dich kennenlernt und versteht, dass auch du etwas Besonderes bist.« Ella war nicht anzusehen, ob sie bei dieser kleinen Einleitung irgendetwas empfand. Ich wollte Mitleid mit ihr haben, aber in dieser Hülle von einem Mädchen war nichts, was für mich greifbar gewesen wäre. »Ich möchte dir ein paar Fragen stellen. Ist das okay für dich? Du bist nicht zu müde?« »Kann ich Furbag haben?« »Hund, Hund«, sagte der Direktor und schnippte mit den Fingern, »das ist ihr Hund.« Er sprang zur Tür und rief in den Flur hinaus: »Können wir diesen Fleabag da kriegen? Danke.« Der Hund wurde ihm gebracht; er gab ihn ihr. Anscheinend war auch der kleinste Kontakt zu Ella ein Geschenk, das völlig von der Gnade des Direktors abhing. Niemand kommunizierte beiläufig mit ihr, nicht einmal, um ihr den Hund zu bringen. »Gefällt es dir hier?« Ihre Hände streichelten den Spaniel vom Halsband bis zum Schwanz. Er lag schlapp auf ihrem Schoß und machte keinen übertrieben glücklichen Eindruck. Ich begann die Streichelbewegungen zu zählen - siebenundzwanzig, dann sagte sie: »Peter ist da.« »Ist das alles, was du willst?« »Nein.« Dreiunddreißig Streichelbewegungen lang überlegte sie, was sie sonst noch wollte. »Ich will beten.« »Beten kannst du überall.« »Peter sagt, hier stimmt die Energie.« 312
»Diese Klippen sind voller Bergkristall«, schaltete er sich ein. »Die Diamanten von Bristol, fantastisch zur Verstärkung der Psi- und Heilkräfte. Von hier werden Ellas Gebete nach draußen verbreitet wie durch eine Lautsprecheranlage. Und wir befinden uns auf einer Leyline, einer Autobahn des Bewusstseins, die lastwagenweise Lebenskraft durch dieses Haus pumpt. Das liegt an der Hängebrücke - sie ist ein Ort der Kraft geworden wie Stonehenge, das Glastonbury-Tor und natürlich die Pyramiden. Ein solcher Ort ist von entscheidender Bedeutung im natürlichen System der Lebenskraft.« »Und das hilft?« »Peter kann es erklären«, murmelte Ella. »Was ist mit der Schule?« »Wir haben laufend Privatunterricht«, sagte der Direktor. Bisher hatte das mir gegenüber noch niemand erwähnt. »Wir ziehen es vor, nicht darüber zu sprechen.« »Fehlt dir deine Familie nicht?« »Ich habe Peter. Und Furbag.« »Ein Hund ist nicht unbedingt ein Ersatz für deine Mum und deinen Dad.« »Bei ihnen durfte ich kein Tier haben. Jetzt habe ich dieses Fellbündel hier.« Ihre Hände versuchten, Furbag an ihr Gesicht zu ziehen, aber er entwand sich ihr und glitt zu Boden. »Und bei Peter bin ich ein besserer Mensch. Reiner.« »Wie reiner?« »Sie wissen es.« »Nein. Ich weiß es nicht.« »Ich ... blute nicht.« Einen Augenblick lang dachte ich, sie meinte Stigmata. »Sie wissen schon«, fügte dieses fünfzehnjährige Kind hinzu, »bluten. Jeden Monat.« »Du hast keine Periode?« »Nicht mehr. Einmal, aber dann kam ich hierher. Mein Onkel Robert sagte, die Jungfrau Maria hatte das nie. Deshalb fühle ich mich irgendwie besser, weil ich weiß, ich bin nicht so rein wie sie. Macht das Sinn?« Was redest du da? War die Heilige Mutter so blass und blutleer wie dieses Wesen? Sie sah nicht gesund genug aus, um zu menstruieren. 313
»Du siehst recht zart aus«, versuchte ich es. »Ich esse immer alles auf.« »Das sagen alle. Aber es scheint nicht recht anzuschlagen.« Der Direktor schaltete sich wieder ein: »Niemand bedenkt die Energie, die Ella verbrennt. Denk an die fantastischen Heilungen, sie übermittelt den Menschen die Kraft zum Selbstheilungsprozess. Tausende und Abertausende menschliche Leben bereichert sie. Und sie verlangt dafür nichts zurück. Wir tun selbstverständlich alles nutzen die Leyline, schenken ihr vollkommenen Frieden, schützen sie vor neugierigen Augen, erledigen alles Geschäftliche. Alles, um die Kraft, die sie hat, bis zum Höchstmaß zu steigern. Aber wir dürfen sie nicht bitten, sich zu schonen. Sie hat eine gewaltige Verantwortung. Es ist schmerzlich zu sehen, welchen Tribut dies von ihrem Körper fordert, aber ich weiß, die Macht, die ihr diese Heilkraft schenkt, beschützt sie. Wir sind nicht dazu bestimmt, Grenzen aufzustellen.« »Woran denkst du, wenn du betest?« »Es ist nicht gut, Ella eine solche Frage zu stellen. Sie ist intuitiver Natur. Sie denkt nicht, sie erlebt.« »Was also erlebst du beim Gebet? Oder sag mir-welche Gefühle hast du, jetzt, im Moment? Was möchtest du?« »Ich möchte Peter.« »Ich bin hier«, sagte er, »bei dir.« Doch dabei sah er mich an. Er wollte sehen, wie beeindruckt ich von seiner Wichtigkeit und Selbstlosigkeit war. »Sonst nichts? Das willst du, wenn du betest?« »Peter sagt, ich soll für den Weltfrieden beten.« »Was bedeutet das deiner Meinung nach?« »Peter erklärt es richtig.« »Na, komm schon, Ella. Sag es mir. Wenn du betest - was ist der Kern jedes Gebets?« »Ich will, dass es allen gut geht. Ich will nicht, dass es jemand so geht wie mir.« »Du fühlst dich nicht gut?« Sie schüttelte den Kopf. Der Direktor hob zu sprechen an, aber ihr Geflüster gewann an Festigkeit, und ich konnte sie gut verstehen. »Ich muss den Menschen 314
helfen, dass es ihnen besser geht. Darum geht es. Darum bin ich geboren worden. Das habe ich begriffen. Als ich gebetet habe. Ich hab herausgefunden, was ich fühle. Weil mein Dad nicht wollte, dass ich geboren werde. Weil er deshalb meine Mum heiraten musste. Und sie hat er auch traurig gemacht, und er ist fort und hat mein ganzes Geld ausgegeben.« Beim Wort »Geld« zuckte der Direktor zusammen. Ich habe es gesehen. »Ich habe geholfen, Frank gesund zu machen und andere Leute auch, damit sie nicht traurig sind. Meine Mum kann nicht mehr traurig sein, weil es Frank besser geht, und vielleicht hätte sie ihn nicht mehr, wenn es mich nicht gäbe. Peter sagt, sie sind nach Amerika gegangen, weil die Sonne dort Frank guttut, und das ist toll, wirklich, weil Frank immer gesagt hat, er will nach Disneyworld. Und wenn sie zurückkommen, dann kommen sie mich besuchen.« »Macht es dich nicht glücklich, dass es Millionen Menschen deinetwegen besser geht?« »Aber natürlich!«, erklärte der Direktor und schwang fröhlich die Arme. »Ella drückt sich manchmal nur schlecht aus, stimmt's?« »Ich bin nicht gut mit Worten. Peter erklärt es richtig.« »Ich möchte es von dir hören. Nicht von ihm.« »Ich .... es ist, als ob ich die schlechten Gefühle aller anderen hinunterschlucke. Wenn ich den Leuten helfe, dass es ihnen besser geht, dann ist das so, wie wenn ich ihnen die Traurigkeit wegnehme und in mir aufnehme. Als hätte ich eine riesige, schwere Last voller Traurigkeit hier drin.« Sie griff sich an den Bauch. »Komm schon.« Der Direktor tätschelte ihr leicht den Bauch. »Jeder sieht, dass da nicht viel drin ist. Du bist nur müde.« »Ich bin müde«, sagte sie. »Ich weiß, ich muss weiterbeten. Ich will, dass es den Leuten besser geht. Wirklich. Aber manchmal habe ich eine so große Traurigkeit in mir, da wäre ich am liebsten tot. Es wäre gut, wenn ich tot wäre.« »Komm schon. Nun komm schon«, sagte Peter Guntarson in scharfem Ton. »Das ist Unsinn. Das darfst du nicht sagen. Das war heute einfach zu viel. Ich hätte dich nicht so lange plappern lassen dürfen, das ist schlecht für dich. Auf jetzt. Schlafenszeit. Ruh dich aus.« Er brachte sie schleunigst aus dem Zimmer. 315
Als er nach kaum dreißig Sekunden mit grimmigem Gesicht wieder ins Zimmer hereinstürmte, lauteten seine ersten Worte: »Das Band!« Ich war vorbereitet. In höchster Eile hatte ich die Minikassette meines Geräts gegen eine leere ausgetauscht, und so war das Band, das ich gehorsam in die Hand des Direktors schnippte, nicht das mit dem kostbaren Interview, in dem sie ihren Todeswunsch zum Ausdruck gebracht hatte. »Das können wir natürlich nicht drucken. Ich hätte nie zulassen dürfen, dass sie deinetwegen so lange aufbleibt. Ich weiß, dein Chef will was haben. Wir werden ihm ein paar Zitate liefern. Keine Sorge. Wir werden Folgendes sagen. Das wird ihn zufriedenstellen - Geld und übernatürliche Kraft. Ella spricht über Geld und übernatürliche Kraft. Glaubst du, das macht ihm Appetit? Ich werde dir also einiges sagen, und du formulierst es dann so, als käme es aus Ellas Mund. In der Art eben, wie sie spricht und so weiter. Glaubst du, du kannst das?« »Sicher«, sagte ich. Warum streiten? »Okay.« Mit Daumen und Zeigefinger kniff er sich in die Schläfen. »Geld: Wir wollen, dass die Leute in das Ella Centre investieren. Sie kaufen unsere Anteile - ein Preis ist nicht festgesetzt, jeder schickt das, was er sich leisten kann. Aber die Leute müssen unbedingt in sich gehen, bevor sie den Scheck ausstellen. Wenn sie mit Ella gebetet haben und mit einem Wunder gesegnet wurden, wie viel ist dieses Wunder wirklich wert? Nur ein paar Pfund? Ein paar Dollar, ein paar Yen? Kann man das so leicht abtun? Oder hat es das Leben verändert, ist es ein Grund, dem Ella Centre für den Rest des Lebens dankbar zu sein? Eine Heilung, ein zweiter Frühling, bessere Gesundheit. Wenn nicht für einen selbst, dann für jemanden, den man liebt. Ist es das nicht wert, dafür etwas von unseren Ersparnissen zu opfern? Unser Testament zu ändern? Seien Sie nicht skeptisch - Sie wissen nie, wann Sie ihre Kraft für sich selbst brauchen werden. Und wenn das Wunder Ihr Kind, Ihren Vater oder Ihre Mutter, Ihren viel geliebten Ehemann, Frau, Bruder, Schwester, Ihren Freund gerettet hat - ist es dann nicht weit mehr wert als ein Wunder, das Ihnen das Leben gerettet haben könnte? Überlassen Sie die Spende nicht allein dem Menschen, der geheilt wurde. Betrachten Sie sich als den wahren Begünstigten, denn Sie haben einen gelieb316
ten Menschen behalten. Vergessen Sie nicht - der beste Weg Danke zu sagen ist, dazu beizutragen, dass das Wunder auch anderen geschieht. Was wollen wir mit dem Geld machen? Gebetskrankenhäuser. Ich stehe in ständigen Verhandlungen mit allen möglichen Gesundheitsgruppen, darunter dem National Health Service und den größten amerikanischen Versicherungsunternehmen, um eine weltweite Kette sogenannter Ella Miracle Care Centres aufzubauen. Denn nicht jede Heilung kann nur allein durch das Gebet erfolgen. Das möchten wir betonen. Wir möchten mit den etablierten Naturwissenschaften zusammenarbeiten. Wir werden niemals empfehlen, dass jemand eine konventionelle medizinische Behandlung abbrechen soll, nur weil er in das Ella Centre investiert und begonnen hat, mit Ella zu beten. Das muss alles Hand in Hand gehen. Die Wissenschaft und die Mystik, das Weltliche und das Übernatürliche. (Ich muss das sagen, ich muss das in jedem Interview sagen - das ist inoffiziell, okay? -, aber es ist sehr wichtig, die Bedeutung der Schulmedizin hervorzuheben, sonst, weiß der Himmel, werden wir von irgendeinem widerwärtigen Goldgräber verklagt.) Nun zur Kraft des Übernatürlichen. Kraft für Frieden. Ella sagt: >lch will Weltfrieden< es hört sich nur so unreif an. Ich habe versucht, es ihr zu erklären, und ich glaube, sie hat es wirklich verstanden. Folgendes möchte sie sagen: Ellas Medienpräsenz und die einzigartige Bedeutung, die sie für so viele Menschen hat, machen sie zu einem Objekt der Begierde für die Politik. Die Führer der Welt möchten mit ihr in Verbindung gebracht werden. Ich sage dir, ich kann zum Telefon greifen und jeden anrufen. Buchstäblich jeden. Und sie sprechen mit mir. Das ist Macht. Man sagt, Macht ist Verantwortung. Aber ich sage dir, was Macht wirklich ist - Glaubwürdigkeit. Darum bemühen wir uns für die Ella Foundation. Glauben an die Psi-Kraft. Menschen beten, Ella betet mit ihnen, und sie erleben, dass ihre Gebete erhört werden. Also glauben sie. Aber das reicht nicht. Sie müssen glauben, bevor sie beten. Bevor sich das Ergebnis einstellt. Das ist wahrer Glaube. Das ist der Glaube, den ich von jeder Person auf diesem Planeten verlange. An etwas zu glauben. Kein Gelächter mehr über übernatürliche Kräfte. Nie wieder. 317
Und ja: Ich hofiere die Führer der Welt. Weil sie für die Glaubwürdigkeit sorgen. Wir können verfeindete Staaten zusammen an einen Tisch bringen, sprechen, verhandeln. Das ist Glaubwürdigkeit. Wo die Führer hingehen, folgen zustimmend die Massen. Und wenn wir das nächste Mal ein Miracle In The Meadows veranstalten, wird der amerikanische Präsident dabei sein. Ich sage dir - das letzte Mal hat der Vatikan die Nummer zwei geschickt, irgendeinen Kardinal. Das nächste Mal wird der Papst kommen. Und die Queen. Das ist mein Ernst. Diesen Sommer haben sie gesehen, was wir vollbringen können. Jetzt wollen alle unbedingt mit an Bord. Das ist Glaubwürdigkeit, das ist Macht. Die Macht, die Ereignisse auf der Welt stark beeinflussen zu können. Wir können auf internationaler Ebene eine Rolle spielen. Wir tun es bereits. Und falls wir uns je entschließen sollten, eine politische Partei zu gründen - dazu nicht mehr im Moment. Du hast mich verstanden.« »Du willst Premierminister werden?«, meinte ich. »Ich will der Direktor sein. Warten wir ab, wie groß das wird, ja? Ein bisschen größer als bei meinem Vater ist es schon geworden - er ist Vorsitzender seiner eigenen Baufirma. Seine Aufträge haben sich dieses Jahr verdoppelt, dank meines Rufes. Er ist international tätig, aber ich glaube, wir sind ein bisschen internationaler, du nicht? Nur ein bisschen? Okay, das reicht. Putz das ein wenig heraus, bring es in Ellas Sprache und zeig es mir, wenn es fertig ist. Jedes einzelne Wort muss von mir genehmigt werden. Und jetzt, Schlafenszeit.« Er packte meine Hand und zog mich Richtung Treppe. Es gefiel mir nicht besonders. Plötzlich gefiel mir der Direktor nicht mehr besonders. Aber mit dem mit Ellas Worten besprochenen Band in meiner Tasche und dem unguten Gefühl, das ich seitdem verspürte, fühlte ich mich verwundbar. Ich folgte ihm und überlegte, ob ich meine Periode vorschützen sollte, um eine ungestörte Nacht zu verbringen. (Ich bekomme meine Periode; an mir ist nichts Heiliges.) An der Tür überlegte ich immer noch, doch dann sah ich, dass das Bett bereits besetzt war. Das Rühreier-Mädchen, die Mopsgesichtige, die KurvenreicheBrooke lag unter der Decke. Oder halb darunter, halb darüber. Der Direktor grinste. Erst zu Mopsgesicht, dann zu mir. Er sagte: »Amüsieren wir uns.« 318
Ich sagte, er solle mich gefälligst in Ruhe lassen, und schlief auf dem Sofa. Er warf mich raus, um acht Uhr am nächsten Morgen musste ich mit dem Lieferwagen an den scharfen Hunden vorbei und durch die Tore. Mein Handy hatte ich immer noch nicht zurück.
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KAPITEL 38
S
ie hörte ihn durch die geschlossene Tür, durch die geschlossenen Läden und durch die Fußbodendielen. Er schrie. Sie steckte die Finger in die Ohren, drückte ganz fest die Augen zu und biss die Zähne zusammen, aber sie hörte ihn immer noch. Toben und fluchen und schreien. Jemand musste Peter sehr wütend gemacht haben. Ella hatte Angst, sie könnte es gewesen sein. Sie würde alles tun, um ihn glücklich zu machen - alles würde sie auf sich nehmen, das allerschwerste Unglücklichsein, wenn Peter es wollte. Aber wenn schon - es war nichts wert. Sie war nutzlos. Sie schien ihm nie Freude zu machen, und jetzt hatte sie auch noch etwas getan, was ihn wütend machte. Sie wusste nicht einmal, was. So dumm war Ella. Sie wusste es nicht einmal. Hätte er ihr doch geglaubt, als sie ihm gleich zu Anfang gesagt hatte, dass sie nutzlos war und dumm. Jeden Augenblick würde er die Treppe heraufstürmen. Den Korridor entlangmarschieren. Ihre Tür aufreißen. Sie anschreien. Sie presste ihre Hände gegen ihr Kinn. Sie wusste nicht, ob sie es ertragen würde, wenn Peter sie anschrie. Peter riss die Tür auf. Er warf ihr etwas über den Kopf. Es war dunkel in Ellas Zelle. Das einzige Fenster war verbarrikadiert, die Lampe war aus, und im Flur draußen brannte auch kein Licht. Guntarson tastete neben der Tür nach dem Lichtschalter. Ella kauerte auf dem Boden, das Gesicht auf den Knien, und wartete auf einen Schlag über den Rücken oder in die Rippen, wie sie es von ihrem Vater kannte. Als der Schlag nicht kam, öffnete sie zaghaft ein Auge. Guntarson lehnte an der Wand, hatte die Augen zur Decke gedreht und hielt eine zerknüllte Zeitung in den Händen. Der Rest der Zeitung lag zu einem Ball zusammengepresst auf Ellas Bett. Es war der Observer. »Steh auf«, befahl er. »Los, steh auf.« »Es tut mir leid«, sagte sie. »Leid? Was denn?« »Es ist meine Schuld. Tut mir leid.« 320
»Du redest wie deine verdammte Mutter. Es hat nichts mit dir zu tun. Ich war es. Wenn ich einen unausrottbaren Fehler habe« -, er ließ sich an der Wand zu Boden gleiten, bis er ihr gegenübersaß - »dann meine Unfähigkeit, einen Charakter zu beurteilen. Ich scheine in allen Menschen nur die guten Seiten zu sehen und bin blind den schlechten gegenüber, bis es zu spät ist. Du müsstest eigentlich gut darin sein, in andere hineinzusehen. Du bist bei Weitem intuitiver - ich verlasse mich zu sehr auf meine Intelligenz. Sag mir - was hast du von dieser Journalistin gehalten, vor ein paar Wochen? Du warst müde - erinnerst du dich?« »Ich mochte sie nicht.« »Ah! Warum nicht?« »Weil du gesagt hast, sie wäre was Besonderes.« »Du wusstest, dass sie eine unangenehme Zeitgenossin ist, nur weil ich sie geschätzt habe? Ist mein Urteilsvermögen tatsächlich derart offenkundig hundsmiserabel? Oder meinst du, dass du gemerkt hast, wie sie sich eingeschmeichelt hat? Ja, ich glaube, ich war viel zu gutgläubig.« Ella sagte nichts. Sie erinnerte sich genau, Aliss gehasst zu haben, weil sie fürchtete, Peter fände die ältere Frau attraktiv. Der Gedanke war natürlich abwegig. Diese Journalistin sah aus wie dreißig. Es war natürlich sehr unrecht gewesen von Ella, Peter insgeheim einen Vorwurf zu machen, denn am Morgen war die Frau fort gewesen. Ella hatte sich gezwungen, mit dieser Journalistin zu reden und zu reden als Strafe für ihre Dummheit. Und sie war so dumm, dass sie der Journalistin und ihrem Tonband auch noch die falschen Sachen gesagt hatte. »Diese Zeitung haut uns in die Pfanne.« »Ich werde sie nicht lesen.« »Gut. Solange sie unsere Namen richtig schreiben, ist es immer gut für uns, was? Wenigstens bleiben so deine Gedanken rein für die Gebete. Ich bin nicht böse mit dir, Ella.« »Ehrlich?« »Ehrlich.« Er war großzügig, nachsichtig und freundlich. Ella hatte einen Freund wie ihn nicht verdient. »Ich bin wütend. Du bist wahrscheinlich der einzige Mensch auf der Welt, auf den ich nicht wütend bin, und ich versuche, es nicht an dir 321
auszulassen, Ella. Ich bin in Rage wegen diesem Trottel, wie nennt er sich doch? Stewpot! Wie kann man sich so einen Namen geben? Wie kann man so jemandem gegenüber nachsichtig sein - du lässt sie fünf Minuten mit einer Journalistin allein, und sie fangen an, Führungen zu veranstalten. Ich werde es an ihm auslassen. Stewpot! Am liebsten würde ich ihn in die Schlucht werfen.« »Ich mag ihn.« »Du kennst ihn nicht mal. Du kannst nicht jeden mögen, Ella.« »Er kommt und sieht nach mir. Wie Frank früher. Er sagt nichts, er hat zu große Angst.« »Und mit welchem Recht stört er dich beim Beten?« »Er stört mich nicht, ehrlich. Ich sehe ihn nicht mal. Ich spüre nur, wenn er an die Tür kommt.« »Das wird er mir büßen. Wie soll ich kontrollieren, was die Leute über dich denken, wenn andere andauernd ihren Senf dazugeben? Es kommt ganz wesentlich darauf an, dass es in Bezug auf dich nur eine Position gibt, Ella, eine einzige globale Meinung. Gefällt dir das? Der Gedanke, diese ... diese Denunziantin ... diese Journalistin mit dir zusammenzubringen.« Vor Wut brachte er kaum einen zusammenhängenden Satz heraus. »Sie sollte alles positiv darstellen. Die Mühe, die ich mir gemacht habe, um sie auf unsere Seite zu ziehen. Ich dachte, ich hätte sie. Ich habe ihr sogar diktiert, was sie schreiben muss. Und sie hat es verdreht. Alles im denkbar schlechtesten Licht dargestellt. Der Schaden ... der Schaden. Gott sei Dank, dass Leute, die ein bisschen Gespür haben, kein Wort glauben werden, sie lesen zwischen den Zeilen. Und es war so schlecht geschrieben - nahezu unlesbar. In der ersten Woche war es furchtbar, in der zweiten Woche ist es ganz einfach voller grober Fehler. Aber die, die es unbesehen glauben - was denken die wohl von mir in erster Linie? Dass ich ein übler Perverser bin? Ich bin immer noch Single, das lass dir gesagt sein!« Guntarson stieß beide Zeigefinger in Richtung Ella. »Was ich privat tue, ist keine Sache von öffentlichem Interesse! Jesus! Ich fände es eigentlich noch perverser, wenn ein Mann in meiner internationalen Position keinen gesunden Trieb hätte.« Endlich bemerkte er die ängstliche Verwirrung auf Ellas Gesicht. »Vor dir muss ich mich nicht rechtfertigen, oder?«, fragte Guntarson ruhiger. »Na gut. Zu unserem Glück erinnern sich die Leute einen Tag spä322
ter schon nicht mehr an das, was sie am Tag davor in der Zeitung gelesen haben. Einwickelpapier für Chips.« Er griff nach der zerknüllten Zeitung und wollte sie gerade mit Schwung in die Ecke werfen, als er innehielt. Die leuchtenden Farben auf der Rückseite zogen seinen Blick magisch an. Er glättete sie über seinen Knien und betrachtete sie eingehender. Es war die Anzeige eines Reiseveranstalters - drei Könige auf Kamelen zogen hinter einem leuchtenden Stern an den Pyramiden von Giseh vorbei. Guntarson legte die Seite sacht auf den Boden. Es folgte ein langes Schweigen, und Ella wartete darauf, dass er ging. »Wir brauchen einen neuen Anfang«, sagte er. »Wir müssen die globale Position neu ausrichten. Eine reale Verschiebung der Blickachsen. Mit anderen Worten, wir müssen umziehen. Wo möchtest du leben, Ella, wenn du es dir aussuchen kannst?« Sie sah verwirrt und hoffnungsvoll zugleich aus. »Da, wo es heiß ist? Wo es schön ist? Am Meer? In den Bergen? Vermutlich spielt das für dich keine so große Rolle, weil du immer abgeschieden leben wirst und beten. Du brauchst nur dein kleines abgedunkeltes Zimmer und du bist glücklich, eh? Aber ich bin sicher, du fühlst deine Umgebung. Und ich werde immer bei dir sein, und du möchtest doch, dass ich irgendwo lebe, wo es schön ist, nicht wahr? Also, was sagst du, wohin sollen wir gehen?« »Zu Frank. Zu Frank und meiner Mum und meinem Dad.« »Deine Mutter ist in Florida. Das ginge, denke ich, aber für unsere Zwecke ist es doch ein wenig überlaufen. Viel Prominenz wohnt dort. Ein Medien-Treffpunkt. Dir würde wahrscheinlich das Klima in Florida gefallen. Oder willst du nach Disneyworld? Du kannst da nicht einfach einen Besuch machen, das weißt du. Das würde einen Aufruhr geben. Du willst doch nicht, dass jemand deinetwegen verletzt wird. Aber vielleicht machen sie es für dich ganz allein auf, wenn wir genug zahlen. Ich weiß nicht ... nein, nicht Florida, denke ich.« »Ich will doch nur mit meiner Mum und meinem Dad leben.« Guntarson lachte. »Zurück in die Nelson Road, meinst du? Ja, toll. Ernsthaft - wir müssen einen neuen Anfang machen.« Er sprang auf die Füße und ragte hoch über ihr auf. »Vielleicht täte dir ein bisschen Sonne gut. Wir wollen doch, dass du bei bester Gesundheit bist. Sonst schenken die Leute diesem unverantwortlichen Unsinn über Blässe 323
und Traurigkeit und Anorexie noch Glauben. Ella Wallis - magersüchtig! Das beweist nur, dass diese Leute nichts von dir wissen. Nichts. Und wir dürfen nicht zulassen, dass sie das Bild, das die Welt sich von dir macht, zeichnen. Ein neuer Anfang. Du wirst darüber nachdenken und ich auch.« Energisch machte er die Tür hinter sich zu und ließ Ella allein auf dem Boden ihrer leeren Zelle sitzen. Ein paar Sekunden später kam er noch einmal kurz ins Zimmer zurück. Erwartungsvoll blickte sie auf. »Entschuldigung«, sagte er und knipste das Licht aus. Als er die Tür zum zweiten Mal zuschlug, lag das Zimmer in völliger Finsternis. Wo die Grenze zwischen Gebet und Schlaf war, wusste Ella nicht mehr. Sie betete sich in die Bewusstlosigkeit, und wenn sie das Bewusstsein wiedererlangte, hatte sie die nicht zu Ende gesprochenen Gebetzeilen noch auf den Lippen. Wenn sie träumte, dachte sie, sie müsste eingeschlafen sein. In ihren Träumen betete sie nicht. Die Träume waren lebendig, ein weit fürchterlicheres Erlebnis als die monotone Wiederholung von Gebeten in ihrem abgedunkelten Zimmer. Gebete sprach sie, wenn sie wach war - Gebete waren die Wirklichkeit. Die Träume waren unwirklich. Das war zumindest ein Trost. Der Traum vom Ertrinken kam und ging wie die Gezeiten. Manchmal schien er sie wieder und wieder zu überfluten, sechs- oder achtmal hintereinander, bevor sie aufwachte. Manchmal verebbte er, und andere Träume traten an seine Stelle. Nachdem Peter das Licht ausgemacht hatte, begann der Traum vom Ertrinken an ihr zu lecken wie eine kleine auslaufende Welle. Sie kämpfte nie dagegen an - der Kampf begann erst, wenn sie die Hand spürte, die ihren Knöchel umklammerte, und die Finger, die sich in ihre Sehnen schlugen und an ihrem Bein zerrten, während die Wellen über ihrem Gesicht zusammenschlugen. Sie kämpfte, um ihren Fuß aus diesem gnadenlosen Griff zu befreien, und sie kämpfte, um an die schwache Hand des Kindes heranzukommen, das sie nicht retten konnte. Aber sie kämpfte nicht gegen den Traum an. Auch dieses Mal spürte Ella den eisernen Griff an ihrem Knöchel und die dünne, schwache Hand um ihre Handgelenke, aber dieses 324
Mal war Ella nicht diejenige, die ertrank. Ella blickte auf die Szene hinab. Ella war der Engel. Sie sah das von den Haaren umflutete Gesicht der blonden Frau unter Wasser. Ella hatte ihre panische Angst, das entsetzliche Einströmen des kalten Wassers in die Lunge und diesen qualvollen Griff an ihrem Bein sehr oft gefühlt. Aber jetzt wusste sie nicht, ob sie tatsächlich selbst diese Ertrinkende war. Sie sah nicht aus wie Ella. In ihrem Traum schwebte Ella über der Szene so - das hatte man ihr erzählt - wie die Seele eines toten Menschen über seinem Körper. Die Gestalt des Kindes, das hilflos ins Wasser griff und seine Mutter nicht retten konnte, konnte sie nicht erkennen. Aber auch das Kind war blond und hatte ein sternförmiges Muttermal auf dem Oberkopf. Ella wollte zu ihr gelangen und streckte sich, um das Gesicht unter den schmutzigen Wellen zu berühren. Ein großer Schatten lag unter der Ertrinkenden. Ella fühlte, wie sie vor Intensität strahlte, erfüllt von dem Licht, das sie schon so oft gesehen hatte. So fühlte es sich an. Ein Engel sein. Daily Express, Montag, 20. Dezember: Wie Direktor Peter Guntarson gestern bekannt gab, wird Ella Wallis Großbritannien verlassen und ihre globale Gebetsmission nach Israel verlegen. Ihre übernatürlichen Kräfte hätten sich bedingt durch »Negativität«, die noch aus ihrer oft unglücklichen Kindheit resultiere, abgeschwächt, sagte er. Die Entscheidung erzeugte Schockwellen in Regierungskreisen, denn die Politiker halten die Folgen, die die Verlagerung eines internationalen Netzwerks in eine der instabilsten Regionen der Welt mit sich bringen, für unabsehbar. In einer knappen Erklärung sagte Direktor Guntarson: »Ella möchte, dass ich ihre Milliarden Anhänger dahingehend informiere, dass sie den größten Beitrag zum Weltgebet nicht mehr leisten kann, wenn sie in ihrer Heimatstadt Bristol bleibt. Die Entscheidung ist ihre, allein ihre, und ihr voraus ging ein Höchstmaß an Kontemplation. Auf Ellas akuter übersinnlicher Sensibilität las325
tet das Gewicht einer schwierigen Kindheit und zahlreicher unglücklicher Beziehungen, die mit Bristol und England im Allgemeinen zusammenhängen. Für ein heiliges Kind ist das Heilige Land Israel die einzig adäquate Heimat. Israel mit seinem unermesslichen religiösen Erbe kann sich als Sprachrohr für die friedliche, unbesiegbare Stimme der Gebete Ellas erweisen. Israel ist es, das die Erde mit Frieden überfluten wird, sobald der Konflikt mit der arabischen Welt gelöst ist. Und Israel ist es, wo die Ella Foundation sesshaft werden wird, und dies, wie eine mitunter zynische Welt zur Kenntnis wird nehmen müssen, auf ewig. Ellas erklärte Absicht ist es, über den verschiedenen Religionen zu stehen. Ihre Präsenz in Israel wird keinesfalls eine Verpflichtung für das Judentum, Christentum oder den Islam bedeuten, wenn sie auch die Stärke der bedeutenden Religionen akzeptiert und ehrt. Sie hofft inbrünstig, ihre Präsenz im Nahen Osten wird den Friedensprozess beschleunigen, den die Welt so dringend braucht.« Ellas Entscheidung wird nach zehn Tagen heftiger Spekulation, ausgelöst durch den ersten Bericht über das Leben im Ella Centre, der ein Regime strikter Geheimhaltung und interner Querelen enthüllte, bekannt gegeben. Dennoch reagierten Beobachter irritiert auf diesen Ortswechsel. Ein Wechsel in die Vereinigten Staaten oder Guntarsons Heimat Kanada wurde in der Vergangenheit bereits häufiger prophezeit, doch trotz der teilweise jüdischen Abstammung des Direktors gab es bisher keine Hinweise auf eine Verbindung zu Israel. Ein Experte sagte gestern Abend: »Es scheint eine seltsame Entscheidung. Vielleicht hat Ella die Absicht, sich völlig von der Vergangenheit zu lösen, um eine unabhängige, in sich geschlossene Gebetseinheit zu werden. Aber sie sollte sich darüber im Klaren sein, dass sie sich selbst völlig von der Kultur, die sie kennt, abschneidet. Der vor Kurzem veröffentlichte Bericht macht Andeutungen über Einsamkeit und Heimweh, beides eine mögliche Ursache für eine Depression, ein Umstand, den ein Weggang von Großbritannien noch steigern könnte.« »Ich will nicht in Israel leben.« »Warum nicht? Israel ist schön.« 326
»Weiß nicht.« »Das ist keine Antwort.« »Da bin ich nicht zu Hause. Ich war noch nie dort.« »Ella, du bist noch nie irgendwo gewesen. Und in gewisser Weise ist es deine Heimat, denn es ist das Heilige Land. Möchtest du denn nicht gerne Bethlehem sehen, wo das Jesuskind geboren wurde?« »Ich will da nicht hin.« »Warum denn nicht?« »Es ist kalt.« »Natürlich nicht. Das ist der Nahe Osten. Schön und heiß. Stell dir vor, was du für eine Farbe kriegst.« »Da sind keine Leute.« »Wo hast du das denn her? Haben sie dir in der Schule nichts beigebracht? Natürlich sind da Leute, Israel ist voller Leute. Die Familie meiner Mutter lebt dort, weißt du.« »Meine Mum nicht.« »Sie kann dich besuchen. Seien wir ehrlich, sie hat dich hier auch nicht besucht. Okay, tut mir leid. Ich sorge dafür, dass sie so oft kommt, wie du möchtest. Ich bezahle ihre Tickets, erster Klasse, aus eigener Tasche. Und die für Frank. Was sagst du dazu?« »Ich will nicht.« »Ella. Du hast mir nie etwas verweigert.« »Und?« »Magst du mich nicht mehr? Ella?« »Yeah.« »Yeah was?« »Klar mag ich dich.« »Also, dann vertrau mir. Es ist das Beste für dich. Okay?« »Peter?« »Hmm? Was? Was möchtest du mir sagen? Hab keine Angst. Du weißt, du kannst mir alles sagen. Sieh mal, ich warte nur darauf, ich sitze da und du sagst es mir, wenn du so weit bist... Na, komm schon, Ella, ich habe noch was anderes zu tun, weißt du. Okay. Entschuldige. Ich wollte dich nicht anfahren. Ich gehe jetzt runter und du sagst es mir, wenn ich wieder da bin.« »Peter?« »Ja-a?« 327
»Ist schon nächstes Jahr?« »Was? Nein, es ist noch Dezember.« »Nächstes Jahr werde ich sechzehn.« »Na ja, wenn es um ein Geschenk oder so was geht, Weihnachten ist vorher.« »Kann man nicht an Weihnachten machen.« »Was denn? Was machen, Ella?« »Heiraten.« »Heiraten? Wen denn? Oh Ella, ich meine, also komm schon ... Ella, das ist sehr schmeichelhaft und es ist sehr lieb von dir, so etwas zu denken. Jetzt sieh mal. Ich möchte, dass du alle diesbezüglichen Gedanken für den Moment vergisst. Du bist nicht sechzehn, du bist erst fünfzehn, und obendrein noch recht kindlich für eine Fünfzehnjährige. Es gibt Gesetze, das weißt du, und es gibt Gründe für diese Gesetze. Und wenn die Leute glauben würden, wir würden uns verhalten wie, du weißt schon, wie ein verheiratetes Paar, wo du doch erst fünfzehn bist, dann könntest du mich in große Schwierigkeiten bringen. In ganz große.« »Ich will keine Schwierigkeiten machen.« »Okay. Aber ich danke dir, dass du den Mut aufgebracht hast, es mir zu sagen. Und ganz besonders dafür, dass du überhaupt daran gedacht hast. Wenn wir in Israel sind, haben wir, denke ich, weit mehr Zeit füreinander. Und wir lernen einander besser kennen. Und wer weiß? Warten wir ab, bis du sechzehn bist.« »Wirst du öfter mit mir zusammen sein? Wenn wir nach Israel gehen?« »Ich verspreche es. Und wenn du sechzehn bist - wer weiß?« »Ehrlich?« »Ehrlich, ehrlich, ehrlich.« »Gib mir deinen Stein.« »Was?«, sagte er. »Du weißt schon, deinen Stein. Den, den du immer in der Tasche hast. Ich bewahre ihn auf. Als Pfand. Dann musst du oft mit mir zusammen sein, weil ich deinen Stein habe.« »Meinst du den?« Er griff in sein Jackett und zog die lange Spitze aus klarem Kristall aus dem Seidenfutter. Ella hielt die Hand auf. »Er gehört mir«, sagte er. »Er ist sehr wichtig für mich.« »Ich will ihn.« Guntarson blickte in den Stein. In seinen enttäuschten Augen war er 328
leblos wie immer. Er reichte ihn Ella. »Ich schenke ihn dir nicht. Ich vertraue ihn dir an. Hast du verstanden?« Sie starrte in den funkelnden Kristall und nickte heftig. Guntarson hatte den Verdacht, dass das Nicken keine Antwort auf seine Frage war, sondern etwas galt, das sie in den Facetten des Steines sah. Sie schob den Kristall unter ihr Bettzeug. »Peter?« »Ah-hmm?« »Was ist mit Furbag, Peter?« »Tja, er kann nicht mit, er wäre eine zu große Belastung beim Flug. Und dann die Quarantäne und all das.« Er wusste, dass es eine Lüge war, in Israel gab es keine Quarantäne, aber es war eine Notlüge. Er konnte sich nicht auch noch mit einem elenden Hund herumärgern. »Es ist viel besser, er bleibt hier.« »Ich gehe nicht.« »Oh Ella.« »Furbag gehört mir, er ist mein Hund, du hast ihn mir geschenkt. Ich habe ihn gerade mal ein paar Monate, er hat sich erst an mich gewöhnt.« »Ella, er ist lieber bei Ti..., nein, ist er nicht, du hast recht, er ist dein Hund. Aber er ist noch sehr jung, er wird schnell neue Freunde finden.« »Das ist sein Zuhause. Das ist nicht fair, nur weil er ein Hund ist. Ich gehe nicht.« »Ella, in Israel gibt es wunderbare Tiere. Du kannst ein Kaninchen haben oder ein anderes Tier.« »Ich will kein Scheiß-Kaninchen.« »Ella.« »Ich gehe nicht nach Israel! Ich hasse es!« »Gut. Gut. Du willst den Hund - mal sehen, was ich machen kann. Ich kümmere mich darum. Das ist ein Versprechen.« »Furbag kann mit?« »Wie gesagt. Ich werde eine Lösung finden.« Sie flogen am Tag vor Weihnachten. Ella hatte das Datum nicht erwähnt, und Guntarson vermutete, sie wäre froh, es ignorieren zu können. Weihnachten, das bedeutete wahrscheinlich Stunden in einer kalten Kirche, der Bruder ihres Vaters vor dem Fernseher und ihre Mutter vor der Teezeit betrunken. Im Ella Centre war Weihnachten ohnehin verpönt. 329
Verwandtenbesuche konnten keinesfalls erlaubt werden, und momentan wäre der denkbar schlechteste Zeitpunkt, um die Leute vom Centre nach Hause zu schicken. Jeder, der vom neuen Leben in Israel nicht gerade begeistert war, könnte die Chance nutzen, sich aus dem Staub zu machen. Und den sakrosankten Keine-Enthüllung-Vertrag vergessen und ihre Story verkaufen. Deshalb hatte sich der Direktor genötigt gesehen, eine ernste kleine Warnung vor dem heidnischen Ursprung von Weihnachten auszugeben und vor den Gefahren auf dem Pfad zur Hexerei. Tim führte Ella die Treppe hinunter. An diesem Morgen hatte er ihr Furbag nicht gebracht. Tim war ein junger Mensch mit langen Locken und winzigen Pusteln zwischen den Bartstoppeln. Seine Augen waren wässrig und die Lider entzündet. Heute Morgen wich er Ella nicht von der Seite und sah ihr zu, wie sie ihr Frühstück verschlang. Als er sie zum Direktor brachte, wirkte sie unwohl und unruhig - er hatte ihr keine Möglichkeit gelassen, sich zu erbrechen. An der Tür blieb sie stehen. Die Tasche, die Kleidung zum Wechseln und den grünen Teddy enthielt, hatte sie unter den Arm geklemmt. Vor Monaten, als Frank gerade geheilt war, hatte sie die Naht am Rücken des weichen Spielzeugs aufgetrennt und ein Foto darin versteckt. Ein Foto von Frank, als er noch ein Baby war, mit ihrer Mutter. Es war etwas zum Liebhaben. Peter hatte die Arme verschränkt und die Schultern hochgezogen. Wie zur Verteidigung richtete er die Ellenbogen nach vorn. Er machte keinen Schritt auf sie zu, um sie zu begrüßen. »Es tut mir leid wegen des Hundes, Ella«, sagte er. Ella sah ihn verständnislos an. »Du hast gesagt, er kommt mit. Du hast es versprochen. Er muss mit.« Die kalten Augen des Direktors richteten sich auf den langhaarigen Jungen neben Ella. »Hast du es ihr nicht gesagt?« Tim versuchte zu antworten, aber seine Stimme brach. »Ich habe dir befohlen, es ihr zu sagen.« Tim hob verzweifelt die Hände und wandte sich von Ella ab. »Wo ist Furbag? Warum kommt er nicht?« »Ella, Ella. Na, komm schon. Ich kaufe dir einen anderen. Furbag ist letzte Nacht rausgegangen.« »Er würde nie weglaufen.« 330
»Jemand hat die Tür offen gelassen.« »Ich gehe nirgendwohin, solange er nicht zurück ist.« »Ella, es tut mir leid, er kommt nicht zurück.« »Wir suchen nach ihm. Er kann nicht weg sein - wegen der Mauer. Er versteckt sich nur.« »Ella, einer der großen Hunde hat ihn gesehen. Er hat ihn angefallen.« »Darum versteckt er sich.« Sie starrte in Guntarsons Gesicht. »Er wurde nicht verletzt, oder?« »Er hat nicht viel gelitten.« Der Direktor streckte die Arme aus, um sie zu trösten, aber zum ersten Mal wollte sie nicht umarmt werden. Stattdessen drückte sie ihr Gepäck an die Brust. »Der arme Furbag, ich habe mich furchtbar aufgeregt.« »Er ist nicht tot! Er ist doch noch ein Hündchen. Die großen Hunde, die würden ihm nichts tun. Das war ein anderer Hund.« »Komm schon, Ella, wie sollte hier ein anderer Hund hereinkommen?« »Also«, sagte sie. »Er wird nicht mitkommen nach Israel.« »Ich wünschte, er könnte es.« »Du hast es versprochen.« »Ich konnte doch nicht wissen, dass das passiert. Es ist tragisch«, fügte er hinzu. »Noch nie hat jemand die Tür offen gelassen.« »Das war wirklich großes Pech.« »Und warum ist er überhaupt rausgelaufen?« »Vielleicht hat er ein Kaninchen gesehen und wollte es jagen. Verstehst du? Dann ist er zum Schluss noch glücklich gewesen.« »Hier gibt es keine Kaninchen mehr. Die großen Hunde haben sie erwischt.« »Ella, mach mich nicht ärgerlich. Es war nicht ich, der den Hund rausgelassen hat.« »Wer war es dann?« »Ich weiß nicht. Ich werde es herausfinden.« »War es Tim? Wolltest du deshalb, dass er es mir sagt?« »Ja. Ich weiß nicht. Ich verspreche dir, ich kaufe dir einen anderen.« »Du hast mir Furbag versprochen.« »Himmel! Ella, es ist ein Hund. Du stehst hier herum und streitest 331
mit mir über Hunde, anstatt Gebete zu sprechen, die das Leben von Babys retten. Kleinen Babys! Was ist wichtiger - Hunde oder Babys? Um Himmels willen. Benimm dich mal deinem Alter gemäß. Du bist jetzt fünfzehn. Sieh mal, draußen steht der Hubschrauber. Ein schöner brandneuer weißer R44, ein Viersitzer. Ist das nicht großartig? Wir werden einen schönen, aufregenden Hubschrauberflug genießen, und anschließend gehen wir an Bord eines Flugzeugs. Und ich werde die ganze Zeit neben dir sitzen. Ich werde nicht lesen und nicht arbeiten, ich werde die ganze Zeit mit dir reden, wenn du möchtest. Wenn du Angst hast, halte ich deine Hand. Hört sich das gut an? Jetzt komm, gib mir deine Tasche.« In dem Moment, als Guntarson ihr die Tasche aus den Armen riss, erklang ein schriller Ton - ein Singen, wie wenn man mit der Fingerspitze auf dem Rand eines feuchten Glases herumfährt, immer im Kreis, fester und schneller. Er ignorierte es. Der Ton begleitete ihn, als er über den Rasen schritt und die Tasche hinter das Cockpit des Piloten warf. Als er Ella am Handgelenk über den Rasen zog, blickte sie sich ständig um auf der Suche nach einem Anzeichen, wo ihr Hund gestorben sein könnte. Die Pilotin, ein Mannweib mit kurz geschnittenen hennagefärbten Haaren, drehte sich um, um die Ursache des Geräuschs zu finden. »Da spielt etwas verrückt«, rief sie. »Ignorieren Sie es.« »Haben Sie elektrische Geräte in dieser Tasche?« »Das ist nur so eine Ella-Sache«, wiegelte Guntarson ab und zog das Mädchen neben sich auf den Passagiersitz. Er griff über sie, um sie anzugurten. Die Temperaturanzeige ging nach oben, als habe man einen Schalter umgelegt. Die Pilotin starrte darauf. Die Nadel stieg in den maximalen roten Bereich, dort verharrte sie bebend, bevor sie wieder auf null sprang. Guntarson folgte ihrem Blick. »Das ist nur Ella. Das ist keine Absicht, sie ist nur ängstlich.« Eine Packung M+Ms flog zwischen ihren Schultern hindurch, krachte gegen das Glas und ergoss ihren Inhalt über die Instrumente. Das schrille Singen wurde lauter, pulsierte. 332
»Mir egal, ob das Absicht ist.« Die Pilotin nahm die Kopfhörer ab. »Mit ihr an Bord werden wir nicht starten.« »Wenn Sie Ihren Job morgen noch haben wollen, starten wir.« Mit einem Knall, als habe ein Windstoß dagegen geschlagen, begann das Cockpit zu vibrieren. »Keine Chance, Mr. Guntarson. Sie können nicht erwarten, dass ich unter solchen Umständen fliege.« »Ella ist Ihre Chefin. Sie werden sich nicht weigern.« »Zu ihrer Sicherheit ebenso wie zu meiner. Und auch zu Ihrer. Ich muss mich auf die Instrumente verlassen können.« Guntarson hob die Stimme über den pulsierenden Ton. »Das ist Ihre letzte Chance. Das sage ich Ihnen.« Eine Faustvoll Steine donnerte gegen den Boden der Maschine, ein kleiner Brocken krachte in die Tür. Im Cockpit herrschte kurz Stille, bis ein weiterer Stein so heftig einschlug, dass er das Metall beschädigte. »Das war's. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Ich steige jetzt aus und komme nicht wieder, ehe ihr beide nicht draußen seid. Raus aus meinem Heli, bevor ihr ihn schrottet.« »Gut! Ich habe Sie gewarnt!« Fast stieß Guntarson Ella zur Tür hinaus und sprang hinter ihr her. »Sie werden nie wieder fliegen! Ich lasse Ihnen die Lizenz entziehen. Sie bekommen Startverbot - Sie glauben, das könnte ich nicht? So mache ich das!« Er schnippte über seinem Kopf mit den Fingern. »Warum fliegt sie denn nicht von selbst weg?«, schrie die Pilotin und versuchte, eine Delle aus ihrem Hubschrauber zu reiben. »Sie werden schon sehen! Ich werde es Ihnen zeigen!« Der Direktor stolzierte zum Haus, Ellas Tasche in der linken Hand, mit der rechten deutete er auf Stewpot. »Du! Ruf einen Wagen! Sofort! Wir fahren. Beweg dich!« Er wandte sich wieder an Ella, die in der vagen Hoffnung, Furbag zu entdecken, über den Rasen schnürte, und warnte sie: »Das war hoffentlich keine Absicht.« Das Kreischen, das über ihr hing, erhob sich plötzlich in die Luft und schlug wie ein Peitschenhieb vom Haus über den Rasen zu den Mauern. Fensterscheiben zerbrachen, ein Regen aus Glas ergoss sich vor das Haus, und Kameraobjektive und Brillen zersprangen. Die Fotografen auf den Leitern außerhalb des Grundstücks waren schlagartig so gut wie blind. Ihre Kameras konnten nichts mehr erkennen. Aber darauf kam es nicht 333
an. Sie hatten ihre Bilder von Ella, die ersten seit Monaten. Sie hatten Bilder von Peter Guntarson, der fuchsteufelswild vor seinem kleinen Engel gestikulierte. Diese Bilder würden um die Welt gehen. Sie waren ein Jahr des Wartens wert - sie waren drei Jahresgehälter wert. Schluss mit der Warterei. Als sie ihre Ausrüstung in ihre Wagen luden, waren die Fotos bereits unterwegs zu den Presseagenturen. Keiner war mehr da und sah, wie Guntarson mit Ella in einem Bentley mit schwarz getönten Scheiben durch die Tore glitt und über die Hängebrücke davonfuhr.
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KAPITEL 39
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eter Guntarson lief hin und her, und dabei machten ihm zwei Geräusche Sorgen. Unter seinen Füßen knisterte zerbrochenes Glas. Und im Zimmer nebenan schluchzte Ella. Sie hatte die Fenster des Apartments zerbrochen, eines nach dem anderen. Nicht absichtlich keine ihrer Gewalttaten geschah absichtlich. Hätte sie die Scheiben mit den Fäusten zertrümmert, hätte er sie aufhalten können. Aber das Glas war herausgesprengt worden, Scheibe für Scheibe. Es regnete scharf gezackte Splitter über jeden Brokatsessel, jedes Himmelbett, jeden bestickten Vorleger und jeden Mosaikboden in sämtlichen acht Räumen, und sie schien es nicht einmal gemerkt zu haben. Jedes Fenster explodierte mit dem Knall einer Granate. Eine Menschenmenge hatte sich versammelt und starrte zu dem Penthouse im achten Stock hinauf. Die Polizei, Krankenwagen und das Bombenräumkommando trafen ein, weil man dachte, ein Terrorist hätte eine Bombe gezündet. Das Gebäude wurde evakuiert, und Männer in bombensicherer Schutzkleidung marschierten in das Apartment. Ella kauerte wimmernd in einem Sessel, den Körper zusammengerollt. Die Polizisten reagierten zugleich ehrfürchtig, verwirrt und misstrauisch. Sie sahen, dass das Glas niemanden verletzt hatte. Sie sahen, dass Ella unendlich unglücklich war. Sie zogen wieder ab, wenn auch nur zögernd. Stewpot ging gebückt im Zimmer herum und sammelte Glas in einem Eimer. Er war der Erwählte, der den Direktor und Ella nach Israel begleiten durfte. Die anderen Jünger mussten in Bristol bleiben, während das neue Ella Centre aufgebaut wurde. Die Wahl war auf Stewpot gefallen, weil der Direktor meinte, Ella würde ihm vertrauen, aber hauptsächlich, weil er im Augenblick der Entscheidung in Guntarsons Blickfeld aufgetaucht war. Und weil sein Pass nicht abgelaufen war. Von dem Moment, als der Bentley aus dem Grundstück gefahren war, hatten um Ella neue Phänomene getobt. Es war, als würden aus ihrer Reisetasche, weil sie ihnen zu klein geworden war, winzige Dämonen herausklettern und sich in die Lüfte hinaufschwingen. Der Direktor hatte Ella wieder und wieder befohlen, sie solle sie in den Griff bekommen, 335
und sie flüsterte dauernd, sie versuche es ja. Eingeschüchtert und verängstigt, saß sie fast regungslos im Fond der Limousine, trotzdem wurden die unkontrollierbaren Ausbrüche immer explosiver. Gegenstände erschienen, sausten um ihre Köpfe und verschwanden wieder. Stewpot, die Augen geschlossen und leidenschaftlich betend, klammerte sich an seinem Sitz fest. Im Wagen wüteten Geräusche - das Zerreißen von Stoff, seltsame Stimmen und zerbrechendes Porzellan. Der Fernsehapparat ging an, aus, an, aus. Die Walnussholzverkleidung wurde vom Armaturenbrett gerissen. Der Fahrer weigerte sich, sich umzudrehen oder zu sprechen; in Heathrow stieg er aus dem 250000-Pfund-Wagen, ging weg und ließ ihn einfach in der Kurzzeit-Parkzone stehen. Das Wimmern nahm kein Ende. Als Guntarson versuchte, Ella zu hypnotisieren, schwoll es wütend an. Als er sie durch die Sicherheitsschleuse in den VIP-Bereich und zu ihrer gecharterten DC-9 führte, begann es zu hämmern. Als die beiden Motoren gestartet wurden, stieg es zu einem ohrenbetäubenden Pfeifen an. Ella krümmte sich, Stewpot saß schweigend neben ihr. Das Kinn auf den Knien und die Finger in den Ohren, starrte Ella kläglich zur Decke. Sie hatte noch nie in einem Flugzeug gesessen. Über dem Kontinent setzte ein beständiges Hämmern gegen die Außenhaut des Flugzeugs ein, als würde eine Faust gegen die Tür schlagen. Aber auf der Instrumententafel tat sich nichts, und Guntarson versuchte, dem Captain und dem Ersten Offizier einzureden, diese Geräusche seien völlig normal: »Wenn ich diesen Radau höre, weiß ich, dass Ellas Kräfte tipptopp sind. Ehrlich.« Ein Krug zersplitterte in zwei Teile, und Eiswürfel kullerten über den Boden. Aus einer Besteckschublade neben dem Ellenbogen der Stewardess flogen die Messer, allesamt verbogen, bis in sechs Reihen weiter entfernte Sitze. »Es sieht schlimmer aus, als es ist. Nach einer Weile finden Sie das ganz normal. Niemand wurde je verletzt«, versicherte er der sprachlosen Stewardess. Sie lief, um dem Captain Bericht zu erstatten. Am Ben-Gurion-Flughafen wurden sie von einem Mäzen erwartet. In seinem grauen Mercedes führen sie auf Umwegen vom Terminal nach Tel Aviv. Der Mann, zuerst hocherfreut, Ella zu sehen, geriet durch das unaufhörliche Wimmern, die unvermittelt auftretenden Lichtblitze und die ihm um den Kopf fliegenden Gegenstände, angesichts von Ellas ske336
lettartiger Zerbrechlichkeit und ihre beständig gemurmelten Bitten, Frank und Juliette sehen zu dürfen, rasch in Panik. Der Mäzen, ein nervöser Mann, hatte Valium bei sich. Er bot Guntarson die Packung an. Sie versuchten, Ella das Beruhigungsmittel zu verabreichen. Stewpot hielt sie sanft bei den Schultern, während Guntarson versuchte, ihr den Mund zu öffnen. Sie schien sich nicht zu widersetzen, aber sobald eine Tablette ihre Lippen berührte, schienen sie versiegelt. Ihre Zuflucht war ein luxuriöses Penthouse im obersten Stockwerk eines Apartmenthauses in Tel Aviv. Sieben, um die Ecken geschwungene Panoramafenster starrten wie riesige Augen über das Mittelmeer. Der Mäzen war überglücklich, sein Heim Ella zur Verfügung stellen zu dürfen, und hatte bei Freunden Unterschlupf gesucht. Er hatte die Eingangshalle noch nicht verlassen, als seine Fenster explodierten. Er drehte sich nicht um. Peng. »Jesus, Ella!« Glasstückchen hüpften wie Reiskörner über den Boden. »Bitte, Ella, das ist zu viel.« Peng. »Ella, ich weiß, du kannst das beenden, wenn du nur willst.« Jedes Mal, wenn eine Scheibe detonierte, schrak Guntarson zusammen. Ella stand nur da, mitten im Wohnzimmer, murmelte vor sich hin und hatte die Hände gefaltet. Stewpot starrte sie an. Als er ihre nach oben verdrehten Augen sah, packte ihn das Grauen. »Ella, betest du?«, fragte der Direktor entschieden. »Ella, ich dulde das nicht. Da fehlt die Kontrolle. Es muss Kontrolle geben.« Peng. »Psi-Kraft ist nicht sinnlos. Sie hat Intelligenz. Das hier hat keine Intelligenz. Wenn du betest, bete darum, dass es aufhört. Was sagt sie?« Die letzten Worte schrie er zu Stewpot hinüber. »Immer dasselbe.« Peter, der immer noch bei jeder Explosion, die Ella nicht einmal zu hören schien, zusammenzuckte, neigte den Kopf und brachte sein Ohr dicht an ihre Lippen. »Ich will zu meiner Mum. Ich will zu meiner Mum. Wo ist meine Mum? Ich will zu ihr. Wo ist Frank? Ich will zu ihm. Wo ist meine Mum?« »Ella, du weißt, dass es nicht möglich ist.« Peng. »Wenn deine Mum gerne hier wäre, dann wäre sie hier.« 337
Peng. »Gut. Jesus Christus, schon gut. Ich tue, was ich kann.« Peng. »Ich sagte, ich tue ... Okay, sie kann kommen. Du wirst sie sehen. Ich bringe sie her.« Ella seufzte. Schlagartig klirrte kein Glas mehr, und erst jetzt wurde Peter bewusst, wie durchdringend das aus einer unsichtbaren Quelle kommende Wimmern inzwischen geworden war, es kreischte wie eine elektrische Rückkopplung. »Ella, bitte, beruhige dich.« »Haben Sie sie jetzt im Griff?« »Ich dringe noch nicht durch, aber bald.« Peng. Die letzte Glasscheibe war kaputt. »Ja, ja, jetzt ist aber gut. Wenn es das gebraucht hat.« »Und Frank auch.« »Frank natürlich auch, glaubst du, ich hätte ihn vergessen? Besser jetzt?« Das Wimmern begann zu ersterben. »Gott, ich wünschte, das wäre mir früher eingefallen. Fang an, aufzuräumen, ja?«, fuhr er Stewpot an. »Nein, setze sie zuerst in einen Sessel. Sie soll sich hinsetzen. Sieh dir das an.« Er trat an eines der zerbrochenen Fenster. Sirenengeheul erklang und näherte sich. »Gott, sieh dir das an. Halb Tel Aviv ist da, um sich das anzugucken. Wir können nicht hierbleiben. Und dabei war es perfekt, absolut perfekt. Alles ruiniert. Kaputt.« Er starrte über die Straße auf den arabischen Häuserblock auf der anderen Straßenseite - am einen Ende stand eine graue Steinvilla, die an eine Moschee erinnerte, mit Bögen und Veranden. Nahezu unberührt seit den Tagen von Palästina. Ein hoher, rostiger Zaun umgab das Grundstück. Die Polizei traf ein. Als die Polizisten wieder weg waren und Guntarson Ella ein wenig beruhigt hatte, starrte er wieder zu der verlassenen arabischen Villa mit den geschlossenen Fensterläden hinüber. Ein Gedanke durchzuckte ihn. Das Katharinenkloster auf dem Sinai. Das wäre nicht weit vom neuen Hauptquartier der Stiftung, es wäre abgelegen und sicher, und es würde den richtigen Eindruck von Heiligkeit und Hingebung vermitteln. Viel besser, als das Penthouse eines Geschäftsmannes. In der Zwischenzeit könnten sie in einem Hotel Quartier beziehen. Guntarson sah zu Ella hinüber. Sie hatte die Knie vor das Gesicht ge338
zogen, und ihr Körper bebte unter Tränen. Aber das Katharinenkloster würde ihr gefallen. Sie war dafür bestimmt. Die Entscheidung für Israel war keineswegs ein schrecklicher Fehler gewesen. Es war die einzige Möglichkeit, die Kontrolle zu behalten. Daran zweifelte Guntarson keine Sekunde. Das Katharinenkloster war geehrt, Ella Zuflucht gewähren zu dürfen. Sie bekam eine Klosterzelle zugewiesen, und da sie sich überhaupt nicht mehr bewusst zu sein schien, wo sie sich aufhielt, war dieser Ort für sie so gut wie jeder andere. Aber ehe sie ins Katharinenkloster gebracht wurde, sah sie ihre Familie wieder.
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KAPITEL 4 0
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us der Welt, die Ella kannte, waren nacheinander alle, einer nach dem anderen, verschwunden, während sie höher und höher schwebte. Eltern, Schulfreunde, Lehrer, Bruder. Zuhause, Nachbarn. Nun hatte sie sogar ihr Heimatland hinter sich gelassen. Guntarson hatte dafür natürlich kein Bedauern übrig. Es war ihr Schicksal und das seine. Etwas, das von weit mehr Wichtigkeit war als ihr Glück. Und vorher war sie wohl auch schwerlich glücklich gewesen, das durfte man schließlich nicht vergessen. Auf dem Sofa in ihrer Doppelsuite im Hilton in Tel Aviv griff er nach ihrer Hand. Sie lag eiskalt in der seinen. »Juliette ist bestimmt bald hier«, versprach er. »Was willst du mehr, der erste Weihnachtsfeiertag, ich habe eigens diese Zimmer gemietet und ich habe die Tickets persönlich gebucht, um sie herzubringen. Es ist nicht leicht, innerhalb von vierundzwanzig Stunden Tickets für den 25. Dezember zu bekommen, aber ich habe es für dich getan. Weil ich es versprochen habe. Ist das nicht ein tolles Weihnachtsgeschenk?« Ella begann zu weinen. Als die Schluchzer einsetzten, dachte er, sie würde gleich anfangen zu niesen, und er fragte sich, ob sie vielleicht auf etwas allergisch reagierte, als die Tränen über ihre Wangen strömten. »Ich will weg.« »Bevor deine Mutter kommt?« »Mit ihr.« Guntarson widersprach ihr nicht. So langsam hatte er Angst, Ella zu widersprechen. Sie warteten. Das Wimmern, das seit der Landung auf dem Flughafen Ben-Gurion nie ganz aufgehört hatte, klang inzwischen weiter entfernt, als wäre es weitergezogen und hätte sich von Ella gelöst. Auch Ellas Schluchzer verebbten. Einmal murmelte sie: »Wenn heute Weihnachtsmorgen ist, müssen wir in die Kirche.« »Wir sollten beten«, pflichtete ihr Guntarson bei. Sie beteten. Es half, die Zeit zu vertreiben. Guntarson wagte nicht, von ihrer Seite zu weichen. Er fühlte eine Katastrophe herannahen. Um 340
elf Minuten nach elf klopfte es an die Tür. »Los geht's«, flüsterte Guntarson. Er schloss die Tür auf. Der glänzende Kopf von Dr. José Dóla lugte herein. »Das richtige Zimmer«, verkündete er. Guntarson schlüpfte auf den Korridor hinaus und knallte die Tür hinter sich zu. Obwohl er Ella äußerst ungern auch nur einen Moment alleine ließ, war er keineswegs gewillt, Dóla wieder Zutritt zu ihr zu verschaffen. Neben Dóla stand Juliette. Kein Frank. Guntarson nahm aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr und schaute den dämmrigen Korridor hinunter. Da stand Frank mit seinem Vater, Ken, und seinem Onkel Robert. »Nein«, sagte Guntarson. »Nein, nein, nein.« »Mein lieber Direktor.« Dóla schnappte seine Hand. »Wie wär's, sollten wir nicht besser eintreten?« Guntarson schüttelte Joe Dóla ab und ergriff Juliette am Arm. »Mrs. Wallis kann hereinkommen. Auch Frank, wenn er möchte. Ihr anderen könnt verschwinden.« »Lass meine Frau los, Kumpel.« Ken marschierte auf ihn los. »Ich wette, du hast nicht vergessen, was passiert ist, als du mir das letzte Mal in die Quere gekommen bist. Möchtest noch ein bisschen mehr, was?« »Und diesmal ist der große Bruder dabei«, knurrte Onkel Robert. »Jungs, Jungs.« Dóla hob die Hände. »Ihr habt es versprochen.« »Tut mir leid«, murmelte Juliette, »Sie wissen ja, er ist immer noch mein Mann.« »Niemand hat die beiden eingeladen«, sagte Guntarson zu Dóla. »Oder Sie.« »Ich habe sie eingeladen«, protestierte der Doktor. »Und Mrs. Wallis hat mich eingeladen. Also wirklich, müssen wir im Flur herumzanken? Ist Ella allein hinter dieser Tür? Machen Sie sich keine Sorgen? Was glauben Sie, was in ihr vorgeht?« Frank hatte sich an seiner Familie vorbeigeschlängelt und presste ein Auge an das Schlüsselloch. »Ich kann sie nicht sehen«, verkündete er. Guntarsons Lippen zuckten. Das Mädchen in seiner gegenwärtigen Stimmung mit ungesicherten Fenstern und sämtlichen Riegeln auf ihrer Seite der Tür allein zu lassen - das war gefährlich. Und diesem Pöbel wieder Zutritt zu ihrem Leben zu verschaffen - das war Wahnsinn. 341
»Mrs. Wallis, Frank, ja. Ihr anderen - nach euch hat Ella nicht gefragt. Sie ist nicht Ihre Klientin, Dóla, und Ken Wallis, sie ist nicht mehr Ihre Tochter.« »Ein Scheißdreck«, schnarrte Ken. »Und was immer sie für dich ist, Kumpel, dafür kommst du in den Knast.« »Bringen Sie ihn hier weg«, fauchte Guntarson. »Ich glaube eigentlich nicht«, sagte der Doktor sanft, aber gehässig, »dass er gehen möchte.« »Okay. Ich rufe die Polizei.« Der Direktor nahm sein Handy. »Ella würde das vielleicht nicht gefallen«, meinte Dóla. »Ihre ganze Familie ist da an Weihnachten, und Sie lassen sie verhaften. Und denken Sie an die Publicity.« »In dieser Hinsicht haben Sie sicher bereits alles unter Dach und Fach gebracht, denke ich?« »Sie sollten sich freuen, Direktor. Ich bin sicher, Sie freuen sich. Die berühmteste Familie der Welt, Ellas eigene Familie, geheilt von Gebeten am Weihnachtsfeiertag. Sie überraschen mich, Peter. Ich hätte Ihr Timing nicht für zufällig gehalten.« »Es ist Weihnachten geworden«, sagte Guntarson, der die Tür nach wie vor mit seinem Rücken versperrte, »weil Ella an Weihnachten darum gebeten hat. Sie hat nach ihrer Mutter und ihrem Bruder gefragt. Sie hat vorher nie nach ihnen gefragt, und sie hat nie darum gebeten, ihren Vater zu sehen. Oder den Exorzisten.« »Ich sehe sie immer noch nicht«, erklang Franks Stimme vom Schlüsselloch. Guntarson hätte am liebsten den Kopf des Jungen gegen den Türgriff geknallt. Das Sofa müsste sich in seinem Blickfeld befinden - warum war Ella nicht da? »Ihr geht rein«, entschied er, »und wenn Ella möchte, dass einer von euch wieder geht, dann verschwindet derjenige sofort. Ist das klar?« »Mach die Tür auf«, sagte Ken. Er schob seinen Sohn beiseite und öffnete selbst. Ella stand am Fenster und blickte siebzehn Stockwerke hinab. Über ihr waren nur das Dach mit dem Hilton-Signet und der blaue Himmel. Noch nie war sie in einem so hohen Gebäude gewesen. Den Leuten im Garten unter ihr, die unter Sonnenschirmen Kaffee trinkend an runden, weißen Tischen saßen, und den Badenden und den Ruderern in weißen 342
Booten, die auf Wellen mit goldenen Kämmen tanzten, musste Ella so winzig erscheinen wie sie ihr. Aber sie waren sich ihrer Anwesenheit nicht bewusst. Sie konnte sie sehen. Sie betete für sie. Frank brüllte: »Ella« und stürzte quer durch das Zimmer zu ihr hin. Sie ließ ihn ihre Hände halten. Er sah sie an. Seine Augen befanden sich fast auf einer Höhe mit den ihren, und sein Körperbau war kräftiger geworden. Sie flüsterte: »Du bist gewachsen.« Juliette stand wie angewurzelt in der Tür und brachte nur ein: »Oh mein Gott. Mein Gott« heraus. Im Licht, das hinter ihr durch das Fenster fiel, war Ella fast durchsichtig. Alles an ihr war zerbrechlich, nur ihr endlos scheinendes Silberhaar war immer noch prachtvoll. Vor dem Glanz des Sonnenlichts war Ellas dünne Gestalt nur verschwommen erkennbar. »Du bist nicht gesund«, hauchte Juliette. »Verhungerst du hier?«, verlangte Ken zu wissen. »Jetzt verstehe ich Ihr Zögern«, bemerkte Dóla. »An Ihrer Stelle wäre ich auch nicht begierig darauf, dass andere Leute sie sehen. Könnte sein, dass man Ihnen Fragen wegen Kindesmissbrauchs stellen würde.« Ella sagte: »Ich bin okay.« »Tut mir leid, aber so siehst du nicht aus.« »Ich habe gebetet. Es zehrt an meinen Kräften. Sagt Peter.« »Dann musst du aufhören zu beten«, erklärte ihre Mutter. Ella sah sie an. Zögernd streckte Juliette die Hände aus. Dankbar für die Umarmung, ging Ella quer durch das Zimmer zu ihr. »Ich habe mir Mühe gegeben, nicht so viel zu trinken«, flüsterte Juliette. »Aber ohne meine Tochter gibt es nicht so viel Grund, um gut zu sein. Jetzt, wo du zurück bist, werde ich nicht mehr trinken. Das ist ein Versprechen.« Ella blickte auf. »Du hattest Frank.« »Dank dir für Frank«, sagte Juliette und drückte ihre Tochter an sich. Noch nie hatte sie Ella so viel ehrliches Gefühl entgegengebracht wie in dieser Umarmung. Ohne Ella wäre Frank tot. Dr. Dólas Kamera blitzte. Guntarson hechtete vor, verfehlte ihn aber. »Film her«, schnappte er. »Ich glaube nicht«, lächelte Dóla. »Immerhin, die erste Umarmung. Die Wiedervereinigung, Mutter und Tochter. Sie können doch nicht 343
ernsthaft die Erinnerung an einen solch freudigen Augenblick zerstören wollen?« »Geben Sie ihn her«, wiederholte Guntarson. Es klopfte, und sofort danach ging die Tür auf, die Guntarson nicht verriegelt hatte. Er stemmte den Fuß dagegen. »Ich bin's, Stewpot«, meldete sich eine Stimme draußen auf dem Korridor. Guntarson vergewisserte sich, dass er es war, und ließ ihn ein. »Ja?«, fragte er. Stewpot sah sich um. »Sie sind alle gekommen«, stellte er fest. »Richtig. Wolltest du was?« »Der Empfang hat angefragt, ob wir das Weihnachtsdinner haben möchten. Ich habe es für mich bestellt, ist das okay?« »Bestell's für uns alle«, redete Ken dazwischen. »Wir sind zu sechst. Mach sieben draus, dein Ella-Schatz braucht eine doppelte Portion.« Stewpot sah ihn unsicher an. Er hatte schon einiges über Ellas Vater gehört. »Geh und ruf an«, befahl Guntarson. »Sie können essen, und wenn sie gegessen haben, können sie gehen.« Aber Stewpot ging nicht in seine eigene Suite. Er schlüpfte in das angrenzende Schlafzimmer und benutzte das dortige Telefon. »Fototermin«, rief Dóla. »Los, alle zusammen. Die ganze Familie auf das große Sofa. Ella, du musst in der Mitte sitzen. Die krönende Mitte. Und Juliette, Sie werden reizend aussehen neben ihr. Sie könnten Schwestern sein - wer käme auf die Idee, dass Sie Mutter und Tochter sind?« Guntarson, die Lippen verächtlich geschürzt, sah dem Treiben zu. Ella hielt immer noch die Hand ihrer Mutter umklammert. Sie schien wirklich froh, dass sie da war. »Frank, am besten nimmst du Ellas andere Hand. In gewisser Weise hast du das in Gang gebracht, diese ganze Gebetsgeschichte.« »Tapferer Bursche«, lobte sein Vater. »Ken und Robert, ihr seid die Hüter zu beiden Seiten. Rückt enger zusammen. Ihr passt nicht alle ganz drauf.« »Frankie«, schlug Onkel Robert vor, »kann auf meinem Schoß sitzen.« »Nicht nötig«, sagte Dóla hastig, »ganz und gar nicht. Setzen Sie sich auf die Sofalehne, das betont Ihre Statur.« 344
Ken am anderen Sofaende, überzeugt, dass er die gleiche Statur hatte wie sein Bruder, setzte sich ebenfalls auf die Lehne. »Ich sollte hinter der Gruppe stehen«, erklärte Guntarson. »Das wirst du nicht«, sagte Ken. »Das ist ein Familienfoto, bitte lächeln«, sagte Dóla und hob die Kamera. »Direktor«, rief er, »Sie haben die Aufnahme ruiniert.« Guntarson war ins Bild gelaufen, als der Doktor auf den Auslöser drückte. »Verschwinde«, knurrte Onkel Robert, packte Guntarson am Revers und stieß ihn nach hinten. Guntarson hob die Fäuste, besann sich aber eines Besseren. »Bitte, lassen Sie uns doch unser Familienfoto machen«, bat Juliette. »Ellas Familie ist inzwischen die ganze Welt«, antwortete Guntarson, »und ich bin der höchste Repräsentant dieser Familie.« »Du bist ein verdammter Spinner, das bist du«, sagte Ken. »Bitte, es tut mir leid, aber das sagt man nicht, wirklich«, meinte Juliette und deutete auf ihren Sohn. »Einer musste ihm das sagen«, nickte Onkel Robert. »Und das bin ich«, sagte Ken und stand auf. Guntarson holte wieder sein Handy hervor. »Einen Schritt weiter, und ich rufe die Polizei.« »Du bist eine Leiche, Spinner, bevor die hier sind.« »Das glauben Sie. Dieses Mal bin ich vorbereitet«, antwortete Guntarson und hob die Fäuste wie ein Student im Boxunterricht. »Und egal, wie es ausgeht, Sie landen in einem israelischen Gefängnis.« »Ich täte der Welt einen Gefallen, wenn ich sie von dir befreie.« Ella flüsterte: »Hört auf zu streiten. Hört auf zu streiten.« Niemand beachtete sie. Onkel Robert äffte Guntarsons Haltung nach, Füße auseinander, Fäuste hoch. »Aufknüpfen sollte man diesen schmutzigen kleinen Perversling, was, Kennie?« »Oh ja, er wird hübsch aussehen an einem Laternenpfahl.« »Richtig«, sagte Guntarson und begann zu wählen. Ken Wallis machte zwei flinke Schritte, packte Guntarsons Handgelenk und drehte es um. Das Handy fiel zu Boden, und Ken schielte nach unten, um es mit seinem Absatz zu zertreten. 345
Guntarsons Faust schoss mit dem sauberen Aufwärtshaken eines Schuljungen nach vorn, und aus Kens Nase floss Blut. Ken brüllte auf und warf sich nach vorn, doch Guntarson war bereits zur Seite ausgewichen. Auch Onkel Robert hechtete vor, und Dóla, der erst unsicher geschwankt hatte, entschloss sich einzugreifen, ging dazwischen und streckte die Hände abwehrend nach den Oberkörpern der beiden Männer aus. Sein Scheitel reichte ihnen kaum bis zur Kehle, aber seine Geste genügte, um sie zu bremsen. »Es reicht jetzt.« »Wenn wir dich heute nicht umlegen«, schrie Ken, »nehmen wir Ella mit. Und ich komme ein andermal zurück und bringe es hinter mich.« Guntarson stand mit dem Rücken zur Ecke, acht Fuß von der Tür entfernt und nur knapp außer Kens Reichweite. »Geben Sie mir Ihr Handy«, befahl er Dóla. »Ich glaube kaum, dass sich das bewerkstelligen lässt«, sagte Dóla, der sich bemühte, die Wallis-Männer in Schach zu halten. Juliette drängte sich zwischen sie, und Frank schob sich neben seinen Vater. Das Gesicht des Jungen war vor Angst und Wut verzerrt. »Geben Sie uns meine Schwester zurück!« Guntarson konnte nicht an Ellas Familie vorbei zum Sofa sehen, auf dem sie kauerte. »Sie kümmern sich nicht um sie«, klagte Juliette ihn an. »Du hast sie genug gemolken! Du hast genug Geld aus meinem Mädchen herausgeholt! Wir sind gekommen, um sie sicher nach Hause zu holen.« »Nein«, protestierte Dóla, »deshalb sind wir nicht hier. Wir sind gekommen, damit es an Weihnachten eine schöne Wiedervereinigung der Familie gibt, und es tut mir leid, das sagen zu müssen - Robert, spucken Sie nicht nach ihm, denken Sie an Ihre Position in der Gemeinde -, es tut mir leid, aber bis jetzt haben wir immer noch kein einziges brauchbares Foto.« »Ich werde dafür sorgen, dass es dir leidtut, auch nur einen Finger an mein Mädchen gelegt zu haben.« »Sie haben sie geschlagen!«, brüllte Guntarson zurück. »Sie haben sie geschlagen und verprügelt und mit dem Gürtel auf sie eingedroschen. Und ich habe sie in ein Objekt internationaler Liebe und Verehrung verwandelt. Wer also hat sie besser behandelt?« 346
»Hat sie sich etwa gut entwickelt?«, fragte Juliette. Ihre Stimme klang unnatürlich laut. »Sieht sie gut aus? Bei uns sah sie wenigstens so aus, als ob sie gegessen hätte.« »Er gibt ihr nichts zu essen, Julie. Er lässt sie verhungern. Er ist böse.« »Das«, rief Dóla und ruderte zwischen ihnen mit den Armen, »ist nicht der Grund, warum wir hier sind. Aber da sich anscheinend alle darum streiten wollen, warum fragen wir nicht das Mädchen selbst?« »Sie macht das, was ich ihr sage«, schnappte Ken. »Ich schwöre bei Gott«, brüllte Guntarson und dabei blitzten seine Augen blau auf in seinem aschfahlen Gesicht, »nach dem heutigen Tag wird keiner von euch sie je Wiedersehen.« »Wir werden sie fragen.« Dóla stampfte mit dem Fuß auf. »Möchte sie eine Gefangene bleiben? In einem fremden Land? Oder möchte sie lieber bei ihrer Mutter sein?« Er blickte sich nach ihr um. »Wo ist sie denn?« »Ella? Ella?« Guntarson nutzte den Moment der Verwirrung und kam aus seiner Ecke heraus. Er duckte sich hinter das leere Sofa. »Sie ist im Badezimmer.« Aber da war sie nicht. Ella war nirgendwo.
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KAPITEL 41
S
ie kann nicht einfach fort sein«, sagte Onkel Robert, als er aus dem Schlafzimmer herausmarschierte. Er hatte unter der Matratze und in den Schränken nach seiner Nichte gesucht. »Doch, sie kann«, meinte Juliette. »Wohin denn?«, wollte Ken wissen. »Wenn sie das absichtlich gemacht hat ...« »Sie dematerialisiert sich nicht absichtlich«, brauste Guntarson auf. »So nennst du das? Sie hat nicht einfach die Flatter gemacht?« »Das letzte Mal ist sie zu mir gekommen«, jammerte Juliette. »Wo ist sie denn jetzt hin?« »Vielleicht zurück nach Bristol? Ruf Tante Sylvie an, Mum, ruf Tante Sylvie an«, schrie Frank. »Ja. Ja. Das ist es. José, rufen Sie bitte an.« »Sie kann sich nicht einfach in Luft aufgelöst haben«, wiederholte Onkel Robert. »Das wäre vielleicht das Beste, was das liebe Kind tun könnte«, murmelte Dóla. »Ihre Atome zerstreut im Universum - oder die Leute würden das wenigstens glauben -, das wäre die befriedigendste Lösung für beide, das Mädchen und ihre Bewunderer.« Guntarson sagte: »Ich bringe sie zurück.« »Nur, wenn Sie sie finden, Direktor.« Stewpot schob sich ins Zimmer. »Direktor. Dringend, Direktor. Das Telefon. Gleich.« Die Wallis', die auf der Suche nach Ella die Kissen umdrehten, achteten nicht darauf, dass Guntarson das Zimmer verließ. Dóla sah ihm misstrauisch nach, folgte ihm aber nicht. »Sie ist oben, Direktor«, sagte Stewpot draußen auf dem Flur. »Ich habe mitbekommen, dass alle miteinander gestritten haben, und Ella hat sich furchtbar aufgeregt. Sie begann, sich in sich zurückzuziehen, Sie verstehen, was ich meine? Deshalb habe ich sie gepackt. Ich brachte sie hinaus, als sich alle um Sie geschart haben.« »Ella ließ sich von dir hinausbringen? War sie in Trance? Ich glaube nicht, dass sie überhaupt weiß, wer du bist.« 348
»Es ist so, Direktor«, gestand Stewpot, und seine dunkle Haut half ihm, die aufsteigende Röte zu verbergen, »ich glaube, ich beginne so etwas wie ein harmonisches Verhältnis zu Ella aufzubauen.« »Das harmonische Verhältnis überlässt du mir, Kumpel. Wo hast du sie gelassen?« »Auf dem Dach.« »Was hast du?« Als sie Ella sahen, stand sie reglos wie eine Säule neben dem scharlachroten summenden Hilton-Neonzeichen, vor ihr erstreckte sich das stahlblaue Meer bis zum Horizont. Daily Post, Dienstag, 28. Dezember: Von Monty Bell, Korrespondent für paranormale Phänomene Das sonnenhungrige Medium Ella Wallis checkte gestern in das heiligste Hotel der Welt ein - in dem Mönche als Zimmermädchen fungieren -, so lange, bis ihr brandneues Prayer Centre mitten in der Wüste bezugsfertig ist. Guru Peter Guntarson hat das weltberühmte Katharinenkloster als zeitweiliges Refugium für seine Wundertäterin ausgewählt. Das Kloster in den Bergen, eines der ältesten der Christenheit, liegt spektakulär am Berg Sinai - wo der Legende nach Gott Moses die Zehn Gebote übergeben hat. Gestern Abend übergab Direktor Guntarson den Menschen ein strenges Elftes Gebot. »Du sollst nicht spionieren.« Die Ella-Beobachtungs-Welle stieg letzte Woche wieder kräftig an, nachdem bekannt wurde, dass die auf die Kraft des Gebets bauende Priesterin Großbritannien ein für alle Mal den Rücken kehrt und sich im Heiligen Land niederlässt. Und als gestern die Bilder von Ellas Wiedervereinigung mit ihrer Familie am Weihnachtsfeiertag erschienen, erreichten der weltweite Ella-Wahn und die Gier nach neuen Informationen über ihren Gesundheits- und Gemütszustand einen neuen Höhepunkt. Seit dem alarmierenden Bericht über eine traurige, untergewichtige und verwirrte Ella in der Vorweihnachtszeit liefen die Spekulationen aus dem Ruder. Direktor Guntarson beharrte gestern Abend darauf, sein Engel im Westentaschenformat befände sich in Topverfassung und sei eifrig darauf 349
bedacht, den Turnus ihrer internationalen Gebete bald wieder aufzunehmen. Sie lese mit großem Interesse die Tausende Bitten um heilige Hilfe, die sie seit ihrem Abflug von Heathrow per E-Mail und Post erreicht haben. Doch er fügte hinzu: »Es ist keine Frage, dass dieses makabere Interesse an ihrer Figur sie sehr aufregt. Ich finde es jämmerlich, einem jungen Mädchen, dessen Güte unendlich viele Menschen so viel Gutes zu verdanken haben, diesen Dank so zu vergelten - ihren Körper zu kritisieren. Etwas Grausameres kann ich mir nicht vorstellen.« Experten zweifeln nicht daran, dass die Mönche den heiligen Auftrag haben, ihren Gast herauszufüttern. Die Ernährungsexpertin Dr. Hillary Stoop sagte gestern Abend: »Dieses Ausmaß an Askese kann nicht einmal für eine Heilige gesund sein. Sogar Jesus ließ sich von Zeit zu Zeit Brot und Fische schmecken.« Das Katharinenkloster befindet sich auf ägyptischem Staatsgebiet, obwohl es auf der Seite des Sueskanals liegt, die zum Nahen Osten gehört. Erste Anzeichen deuten daraufhin, dass auch das Prayer Centre in Ägypten errichtet wird, tief in der Wüste Sinai am Fuß des Berges Moses'. In den frühen Morgenstunden des zweiten Weihnachtsfeiertags fuhren mit Bau- und Zaunmaterialien beladene Lastwagen und Jeeps in langem Konvoi in die Wüste. In politischen Kreisen ging gestern Abend das Gerücht um, der ägyptische Präsident Mubarak habe im Austausch gegen seine raschen Genehmigungen das Versprechen erhalten, dass die Ella Foundation auf eigene Kosten einen internationalen Flughafen bauen lässt. In Verbindung mit einem Astrodome-Projekt mit 125000 Sitzplätzen, in dem die betenden Pilger in großer Zahl Ella nahe sein können, könnte dieser Flughafen den Tourismus in Ägypten neu beleben, der gegenwärtig aufgrund der Überfälle von Terroristen auf Busse und wegen des Massakers im Tal der Könige nahe Luxor eine schwere Krise durchmacht. Wird dieser Plan umgesetzt, könnte innerhalb von fünf Jahren eine spirituelle Version von Las Vegas aus dem kargen Wüstensand gestampft werden mit Hotelkomplexen, Herbergen, Restaurants und Unterhaltungsstätten. 350
Der Direktor, ein ehemaliger Reporter der Daily Post, hat Andeutungen gemacht, weiteren übersinnlich begabten jungen Menschen bei der Entwicklung ihrer Psi-Kräfte helfen zu wollen. Ellas Vater, der Druckereiarbeiter Ken Wallis, kam letzte Nacht mit dem Flugzeug aus Tel Aviv zurück und behauptete: »Guntarson hält meine Tochter gefangen.« Der zornige evangelische Prediger erklärte: »Sie sieht halb verhungert aus und hat sich ständig an ihre Mutter geklammert, bis Guntarson sie mithilfe seiner Jünger auf geheimnisvolle Weise hat verschwinden lassen. Sie sollte wieder im Schoß der Familie leben, die sie liebt, und ich werde vor Gericht bis in die letzte Instanz darum kämpfen, sie zurückzubekommen.«
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KAPITEL 42
G
untarson trat zurück, um die aneinandergereihten Holzhütten zu überblicken, die nun Ellas neue Heimat waren. Er schob die Hände in die Aufschläge seiner Schaffelljacke. Er hatte nicht erwartet, dass es auf dem Sinai kalt war. Vom starken Rückgang der Temperatur am Abend bekam er Kopfschmerzen. Nun brach die Dunkelheit herein, und er spürte, wie die Hitze sich verflüchtigte wie Wasser, das zwischen die Felsen rinnt. Das behelfsmäßige Centre glich einer Baustelle. An den Wänden der Hütten lehnten Bretter, und Balken lagen scheinbar willkürlich verstreut auf dem Boden herum. Doch trotz des Provisoriums war das neue Centre auch selbst ein bisschen ein Wunder. Sechs Tage von der Planung bis zum Bezug, ein kleines Universum, regiert von Guntarson. Von dem Moment an, als er sich für diese Lage entschlossen hatte, hatte er nicht mehr geruht. Er hatte den Präsidenten auf seine Seite gezogen, das Land fur 111 Jahre gepachtet, Konstrukteure und Arbeiter engagiert und die Materialien besorgt, alles scheinbar in ein paar Stunden. Es fehlte an fließendem Wasser, aber im Vorratslager stapelten sich mit Wasser gefüllte Aluminiumbehälter. Strom wurde dringend gebraucht, aber erst einmal mussten Kerzen und Decken genügen. Holz kostete ein Vermögen auf dem Sinai - es gab keine Wälder -, und die Arbeitskosten waren ebenfalls immens. Beduinen mit ihren Kamelen mussten herangezogen werden, nur sie ertrugen die Knochenarbeit unter der sengenden Sonne. In gewisser Weise bedauerte er, dass sein Blick nicht auf eine Reiseanzeige für Südostasien oder Mittelamerika gefallen war, aber schließlich - warum sollte er seine Launen dem Geiz opfern? Geld war sehr leicht zu beschaffen. Und dank Geld, Genialität und Entschlossenheit hatte er Ella in die heiligste aller Wüsten gebracht. Gott allein wusste, was sie hier vollbringen könnte. In ein oder zwei Tagen würden die Jünger eintreffen und am Neujahrstag die technischen Geräte. Klimaanlagen, Satellitenschüsseln, Videorekorder, Decoder, Bildschirme, Empfänger und Funkantennen, Verstärker, Generatoren, ein unbegrenzter Vorrat an Videobändern, PCs mit schnellen Modems für den Internet-Zugang - das verschaffte 352
ihm die Möglichkeit, jedes einzelne Wort, das im Fernsehen und im Rundfunk, in den Zeitungen und wo sonst noch über Ella geschrieben und gesprochen wurde, zu archivieren. Der Presse-Ausschnittdienst musste jeden Artikel in eine Datenbank einscannen, und er verlangte, dass diese Datenbank weitergeführt und gesichert wurde. Tagtäglich. »Ich will zurück.« Die ewige Litanei aus ihrer Zelle im Katharinenkloster. Ella wiederholte sie wieder und wieder. Guntarson hatte sie in den letzten fünf Tagen jeden Morgen besucht. Die Mönche sorgten gut für sie. Sie sprachen freundlich mit ihr. Guntarson wusste, er konnte sich auf ihre Diskretion verlassen. Er hatte betont, wie wichtig es sei, dass keine anderen Besucher zu ihr vorgelassen würden. Besonders nicht ihre Familie. Sie war zu schwach. »Ich will zurück.« Er war froh gewesen, sie für ein paar Tage der Obhut der Mönche anvertrauen zu können, und es nervte ihn, dass er sie hatte mitnehmen müssen in die Einsamkeit des provisorischen neuen Ella Centres. Diese endlose Litanei ging ihm auf den Wecker. Das Kloster am Fuß des Berges Sinai, den die Mönche Jebel Musa oder Berg Moses nannten, war außerordentlich symbolträchtig. Guntarson hatte in der mystischen Geschichte geschwelgt und Ella aufgefordert, diese in sich aufzunehmen und Kraft daraus zu ziehen. Er erzählte ihr, Kaiser Justinian habe den Bau vor fünfzehn Jahrhunderten angeordnet an dem Ort, wo Gott sich Moses als brennender Dornbusch offenbart hatte. Die Gebeine der hl. Katharina, deren Verehrer glaubten, sie wäre von Engeln in den Himmel getragen worden, ruhten in einem Marmorschrein in der Basilika. Der Ort war drei Religionen heilig. Es gab dort auch eine Moschee, und das Pferd des Propheten Mohammed, Boraq, war vom Berg Moses in den Himmel aufgestiegen. Als er das Pferd erwähnte, hatte Ella einen Anflug von Interesse gezeigt. Das Ella Centre brauchte neue Leute, frisches Blut. Dieses Stadium der Mission musste glatt verlaufen. Gleich nach Neujahr musste er ein paar erstklassige Jünger auftreiben. Nicht einfach irgendwelche dahergelaufenen Leute, sondern solche, die ein wenig von seinem eigenen Talent hatten. Natürlich nur ein wenig - nicht zu viel, damit sie nicht zu einer Bedrohung wurden. 353
»Ich will zurück.« Sie leierte es unter Tränen. Wie konnte sie beten, wenn das alles war, was sie zu sagen hatte? In den momentan acht Hütten gab es so gut wie nichts außer leeren Regalen und Kojen, nur in einer war eine Art Küche untergebracht. Der Direktor stieß die Tür auf und überprüfte die Speiseschränke. Auf den Brettern stapelten sich, wie von ihm bestellt, gigantische Pakete mit Trockennahrung, Tausende Konservendosen und Hunderte Schachteln mit Vitaminen. Bevor die Pilger nicht ordentlich untergebracht werden konnten, war keine Rede von täglich gelieferten frischen Lebensmitteln - das hätte nur Schaulustige angezogen. Die Umgrenzungszäune würden die meisten Fotografen und verrückten Pilger auf Distanz halten. Für den Fall, dass jemand einzudringen wagte, waren bereits Überwachungsvideokameras mit Infrarotsensoren installiert worden. Die Wachtürme waren mit israelischen und ägyptischen Kommandoeinheiten bemannt - das erste Mal, dass die beiden Armeen kooperierten. Die Monitore im Ella Centre entdeckten Eindringlinge lange, bevor sie einen Blick auf Ella erhaschen konnten. Und allzu viele würden kaum den Sinai durchqueren, nur um ein paar Hütten anzustarren. Das Ganze entbehrte nicht der Ironie, das war ihm bisher noch gar nicht aufgefallen - dieses Mädchen, das nicht einmal ein Bruchstück irgendwelcher Nachrichten hatte sehen wollen aus Angst, sich selbst im Fernsehen zu sehen, dieses Mädchen von Bildschirmen umlagert zu verstecken, um auch wirklich jedes Wort, das über sie gesendet wurde, zusammenzutragen. »Ich will zurück.« Wahrscheinlich murmelte sie das jetzt in ihrer Koje. Heute Nachmittag hatten Stewpot und der Direktor sie aus ihrer Zelle geholt. Sie kam unterwürfig mit, ohne jede Begeisterung, und reagierte nicht einmal, als Guntarson ihr erklärte, sie habe eine ganze Hütte für sich allein, mit einem Schlafzimmer und einem Wohnzimmer und einer eigenen kleinen Küche. Sie hatte den grünen Teddy dabei, der immer bei ihr saß, wenn sie betete. Sonst nichts. Keine Kleidung, keine Besitztümer. Ihre Reisetasche war in dem glasübersäten Apartment in Tel Aviv abhandengekommen. Ella verließ sich darauf, dass andere für ihre Wäsche sorgten. Es war ihr egal, was sie trug. 354
»Wo ist mein Kristall?«, fragte er, und sie zeigte ihm den aufgetrennten Rücken des Teddys. In der Füllung steckten das zerknitterte Foto von Frank und Juliette, ihr Kamm und der Bergkristall. Bei Einbruch der Dunkelheit hatte der Direktor Ella zu ihrer Hütte gebracht. Sie musste etwas essen, und er rechnete nicht damit, dass sie sich gleich für die Geheimnisse ihrer kleinen Küche interessieren würde. Guntarson spielte mit einem Päckchen Truthahnsuppe herum. Er hatte diesen Dreck ganz sicher nicht für seinen eigenen Verbrauch bestellt. Sein Helikopter würde ihm besseres Essen von einem FünfSterne-Hotel am Golf von Akaba bringen. Aber jetzt musste er etwas essen. Es wäre eine nette Geste, Ella etwas davon zu bringen. Er würde ihr sagen, es wäre fast schon Neujahr. Vielleicht ermunterte sie das, wieder zu beten. Der Direktor goss Wasser aus einem Krug in den Zinnkessel und zündete einen Campingkocher an. »Suppe«, rief er ihr zu und fragte: »Warum bist du nicht in deinem Zimmer?« Sie hockte ein Dutzend Schritte von ihrer Tür entfernt auf dem harten Boden. Aus irgendeinem Grund erinnerte sie ihn an eine Schachfigur. Sie saß auf kiesigem Sand und schwarzem Fels, und diese Formation hatte eine entfernte Ähnlichkeit mit einem Schachbrettmuster. Los, erheb dich, dachte er. »Komm rein, es ist zu kalt draußen«, sagte der Direktor. Er warf einen flüchtigen Blick durch die Tür ihrer Hütte. Ihre Koje brannte. Die weiche, rote Decke stand in Flammen, die bereits auf die Bettpfosten übergegriffen hatten. »Himmel, Ella«, schrie er, »was hast du getan?« Sie rührte sich nicht. Ihr grüner Teddy lag neben ihr. Als Guntarson in die Hütte rannte, wiederholte Ella: »Ich will zurück.« Er versuchte, das Feuer mit einem Schuh auszuschlagen. In seiner Verzweiflung schüttete er das Wasser aus dem Krug auf das Bett, aber er hatte keine Chance, die Flammen zu löschen. Das teuere, importierte Holz fiel von den verbogenen Trägern wie Fleisch von einem Gerippe. Ella saß mit dem Rücken zu der lodernden Hitze, ohne sie zu spüren. »Los, Ella«, bat er sie, »gib mir die Streichhölzer. Du kannst nicht das ganze Lager abfackeln.« »War ich nicht«, sagte sie. Erst glaubte er ihr nicht. Aber als er Stunden später am Fenster saß 355
und auf den schemenhaften Umriss in der Dunkelheit starrte, der Ella war, kam ihm in den Sinn, dass sie ihn noch nie angelogen hatte. Das Feuer war keine Absicht gewesen. Es war schließlich nicht der erste Brand, der in ihrer direkten Umgebung aufgeflammt war. Und er hatte sie ins Heilige Land gebracht, in diese Wüstenbatterie, damit sie ihre übersinnliche Energie neu aufladen konnte. Zwangsläufig mussten erst einmal Nebenwirkungen auftreten. Natürlich würde sie von nicht beeinflussbaren übernatürlichen Erschütterungen heimgesucht werden. Vielleicht war es besser, sie blieb draußen. Bis sich alles beruhigt hatte. Sie schien die Kälte ohnehin nicht zu spüren. Und sie widersetzte sich, als er versuchte, sie nach drinnen zu zerren. Also legte er ihr eine Decke über die mageren Schultern und ließ sie zurück, auf dem Boden hockend und immer dieselben Worte flüsternd. Er ließ sie die ganze Nacht da sitzen. Am Morgen war sie weg.
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KAPITEL 43
V
on Panik erfasst, blickte sich Peter Guntarson nach allen Seiten um. Er rief nach Ella. Seine Rufe weckten Stewpot, der aus seiner Hütte stolperte. Sie liefen zu dem Trampelpfad, der zum Berg hinaufführte. War es möglich, dass sie zu Fuß unterwegs ins Katharinenkloster war? Oder nach Hause? Oder war sie auf dieselbe Weise verschwunden wie damals in Oxford? Erst als er zurücklief, um sein Handy zu holen, kam er auf die Idee, aufzublicken. Sie hatte sich, immer noch hockend und den Teddy in ihrem Schoß umklammernd, über die Hüttendächer erhoben. Sie war entsetzlich weit weg - nicht mehr als ein kleiner schwarzer Fleck vor der schwachen Sonne. Aber Guntarson erkannte, dass sie nichts weiter getan hatte, als senkrecht von ihrem Platz vor ihrer in Schutt und Asche liegenden Hütte nach oben zu steigen. Vielleicht war es passiert, als sie eingeschlafen war. Zweifellos hatte sie mit dieser nervigen Litanei aufgehört. Er rief, aber sie konnte ihn nicht hören. Er hatte keine Möglichkeit, zu ihr hinauf zu gelangen, er konnte nur warten. Vielleicht würde der Wind sie abtreiben. Vielleicht würde sie langsam erschlaffen, vielleicht würde sie auch fallen wie ein Stein. Vielleicht kam sie überhaupt nicht mehr herunter. Nie mehr. Es wäre amüsant gewesen, wenn es keine sinnlose verdammte Zeitverschwendung gewesen wäre. Er machte sich Sorgen, dass die Wunder versiegen könnten. Ihre Kraft war hier offensichtlich sehr stark, aber was, wenn sie zu sehr zunahm und nicht mehr brauchbar war? Sie verlor die Kontrolle über ihre Kräfte. Brachen sie aus ihrem Medium heraus? Der Direktor saß fast direkt unter Ella - nur ein wenig seitlich versetzt, falls sie herabstürzte - und es zerfraß ihn innerlich. Er hatte ein neues Handy, aber wen sollte er anrufen? Wen konnte er fragen: »Haben die Gebete noch Erfolg?« Journalisten? Kaum. Jünger? Unmöglich. Politiker? Wahnsinn. Freunde? Er hatte keinen einzigen. Als die Levitation endete, schien Ella nicht zu fallen. Mit einem Flackern kam sie aus der Luft auf die Erde zurück.
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Als Stewpot am 3. Januar mit den Jüngern zurückkam, die er abgeholt hatte, war Ella am Boden festgebunden wie ein Opfer, das den Krähen zum Fraß vorgeworfen worden war. Guntarson hatte die ganze Nacht neben ihr gesessen und ihr laut Briefe vorgelesen. Er hatte ihr eine Seilschlinge, die er an einem Balken festgebunden hatte, um die Taille gelegt. Zwei dünnere Spannseile hielten ihre Fußknöchel. Die Halteseile schienen ihren Zweck zu erfüllen. Ella levitierte, sie schwebte etwa sechs oder acht Inches hoch in der Luft, aber eine größere Entfernung erlaubten die Seile nicht. Sie sah lächerlich aus, aber sie schien sich durchaus wohl zu fühlen. Ganz anders Guntarson, der bleich und zittrig war. Seine Finger und Lippen hatten sich blau gefärbt. »Sie wollte nicht rein«, zischte er den Ankömmlingen zu. »Sie wollte keine Decke, sie wollte nicht essen. Und sie wollte verdammt noch mal nicht mit mir reden.« Tim und Stewpot banden Ella los, die anderen führten den Direktor in die Hütte, um ihm tassenweise Suppe zu kochen, die seine Lebensgeister wieder wecken sollte. Sanft geleiteten die Jungen Ella zu einer Hütte. Sie stand auf und ging hinaus. Sie brachten sie zurück, und sie leistete keinen Widerstand, aber als sie sie hinsetzten, stand sie auf und ging wieder hinaus. Um sie aufzuhalten, hätten sie die Tür verbarrikadieren müssen. Damit sie in der Hütte blieb, hätten sie sie festbinden müssen. Also konnte man sie genauso gut an dem Ort fixieren, den sie sich selbst ausgesucht hatte. Und so ließen sie sie wieder hinaus. Weder sprach sie mit ihnen, noch aß sie. Sie errichteten ein Dach über ihr, um sie vor der tagsüber sengenden Sonne zu schützen. Und im Kreis um sie herum entzündeten sie Kerzen. Das schien ihr zu gefallen, die Flammen loderten heftig auf und schickten Spiralen aus wachsigem Rauch hinauf. Ella bekam ordentlich Hitze und Rauch ab, doch die Kerzen mussten nur einmal am Tag erneuert werden, und nicht einmal ein kräftiger Wind blies sie aus. Ein acht Fuß hoher Zaun wurde um sie herum gezogen, bestehend aus Stahlpfosten in Betonfundamenten und Stahlrahmen mit Kettengeflecht. Die Halterungen, an denen Ella befestigt war, ließen sie nicht über Zaunhöhe steigen. Das einzige Zugangstor war mit einem doppelten Vorhängeschloss versehen. Der zweite Zaun, der das ganze Lager begrenzte, war bereits fertig.
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Auf Ellas Gesicht war keine Regung abzulesen. Ihre Lippen bewegten sich nicht, ihre Augen waren die meiste Zeit offen und starrten zwischen den Flammen hindurch in die glühende Wüste. In der Hitze sah ihr weißes Gesicht rot und ihr silbernes Haar golden aus. Die Jünger, die ihr Schüsseln mit klumpigem, feuchtem Trockenpulver brachten, konnten nicht sagen, ob sie betete. Manchmal ja. Ihre Gebete waren freudlos, pflichtschuldigst zwischen den Zähnen hervorgepresst, und sie wusste nicht, ob überhaupt jemandem noch daran lag. Sie bekam kaum einen der Tausenden Bitt- und Dankbriefe zu sehen, die Mütter kranker Kinder und die Kinder im Sterben liegender Eltern an sie schickten. Ella betete, weil sie wusste, es musste einen Grund dafür geben, dass sie am Leben blieb. Sie weigerte sich zu essen. Sie schien nicht einmal zu trinken, abgesehen von dem Wasser, dass ihr Stewpot manchmal auf die Lippen sprengte. Die schiere Tatsache, dass sie weiterlebte, wurde für die Jünger zu einem Wunder. Brooke und Xenia versuchten, Vitamin- und Eiweißpillen zwischen Ellas Zähne zu schieben, doch die Tabletten zergingen auf ihrer Zunge. Schließlich entschied der Direktor, sie müsse zwangsernährt werden. Aber der Schlauch, den sie ihr zwischen die Lippen trieben, klebte zusammen und ließ nichts durch. Oft gab sie tagelang kein Lebenszeichen von sich. Sie bewegte sich nicht, zitterte nicht - sie atmete kaum. Nur die nicht voraussagbaren Phänomene zeigten wie Barometer ihre Kräfte an. Nach kalten Nächten kamen nur schwache Reaktionen. An den heißesten Tagen entlud sich plötzlich etwas Zerstörerisches, über ihr bauten sich übernatürliche Energien auf, die Funken auslösten. Flammen erschienen am Himmel. Kreischende oder tiefe Töne durchzogen die Luft und waren im Lager zu hören. Viele der Beduinen ergriffen die Flucht. Die anderen saßen stundenlang regungslos da und beobachteten sie. Ella, bereits mager, ohne dabei zu leiden, wurde noch magerer. Wenn sich der Hitzedunst gegen Abend legte, erhaschten die Kameras von jenseits des Zauns manchmal einen flüchtigen Blick auf sie. Die Fotos schienen zu beweisen, dass Ella tatsächlich verhungerte. Der Direktor sah sich gezwungen, zu verkünden, sie faste für den Weltfrieden. Ihre übernatürliche Energie war nicht geringer geworden. Die Kerzen loderten beständig, manchmal antworteten ihnen in Flammen 359
stehende Hütten oder Feuer in der Wüste. Im März brannten zwei weitere Hütten nieder. Die Jünger hatten Probleme mit ihren elektronischen Geräten. Anfangs lebten die Jünger wie in England in Angst vor dem Direktor, und sie gaben sich Mühe, nichts falsch zu machen. Aber mit der Zeit wurde deutlich, dass er längst nicht mehr die Kontrolle über alles besaß, und das schwächte ihn. Ellas Schwäche spiegelte sich im Verlust der Entschlusskraft des Direktors. Dass sie sich komplett entzogen hatte, schien seinen scharfen Verstand größtenteils lahmzulegen. Seine Willenskraft war erschöpft, und die Entscheidung für die Wüste, die wie eine Lösung der Probleme ausgesehen hatte, hatte sich plötzlich ins Gegenteil verkehrt. Sporadisch verfolgte er noch Pläne. Sein Plan, neue Ellas zu entdecken, beschäftigte ihn nur ein paar Tage - Teenager mit vermeintlich übernatürlichen Kräften wurden in das Centre gebracht, dann interessierte sich keiner mehr für sie, sie blieben sich selbst überlassen und streiften umher, wie es ihnen gefiel. In plötzlichen Anfällen von Aktivität gab er Presseerklärungen heraus, in denen er sich stets als den ultimativen medialen Ermöglicher bezeichnete, aber Katalysator schien er nur für Ella gewesen zu sein, mit niemandem sonst gelang es ihm. Inzwischen war er nicht einmal mehr Ellas Katalysator - lediglich ihr Spiegel. Stieg ihr Barometer, sprang er im Lager umher, gab Erlasse heraus, plante spektakuläre Demonstrationen, telefonierte in die Büros der Führer der Welt. Er bezeichnete sich als Friedensstifter und verglich sich mit Mandela, mit Gandhi. Fiel ihr Barometer, lähmte Lethargie den Direktor. Er verließ seine Hütte nicht. Er schlief tagelang pausenlos. Er wollte keine Artikel sehen, und wenn er sie doch las, versank er in Verzweiflung. Ein Hochleistungsreißwolf wurde angeschafft, und manchmal stand er tagelang davor und fütterte ihn mit Zeitungen. Draußen in der Welt war Ella inzwischen interessanter wegen ihrer totalen Zurückgezogenheit und weniger wegen ihrer übernatürlichen Kräfte. Guntarson, der stundenlang neben Ellas stets schwebender Gestalt saß, bat sie, um bessere Berichterstattung durch die Medien zu beten. Ihr Einfluss beginne zu schwinden, immer mehr Leute übten die Macht der Gebete selbst aus. Sie müsse sich neu aufbauen, sich neu erfinden. Darum beten. Aber sie reagierte nicht. 360
Für die Jünger, die ein Jahr lang praktisch von den Medien ferngehalten worden waren, war es eine Überraschung, dass die Berichterstatter häufig feindselig gegenüber Ella und besonders der Ella Foundation eingestellt waren. Viele Reporter bezeichneten die Wohltätigkeit als Blutsaugerei, den Direktor als Dieb und Ella als Betrügerin. Eine Betrügerin, die levitieren konnte, aber immerhin eine Betrügerin. Wo waren die Krankenhäuser, die Guntarson versprochen hatte? Manche Kommentatoren nannten ihn einen Manipulator, einen Svengali. Andere meinten, er wäre nur eine Marionette der skrupellosen, machthungrigen, einsiedlerischen Ella. Das Ella Centre beantwortete weiterhin die eingehende Post mit einem Formbrief und einem zweifelhaften Autogramm. Im April änderte sich das: Nun bestand die Antwort in einem Formbrief, einem großen Foto des Direktors mit dem amerikanischen Präsidenten und einem kleinen Foto von Ella mit maschineller Unterschrift. Hartnäckig hielten sich Gerüchte, Ella wäre gestorben. Die Gestalt, die von Fotografen in der Entfernung hinter Zäunen und von Kerzen umringt eingefangen worden wäre, wäre in Wahrheit ein Fotomodell. Ella hätte sich umgebracht, wäre von einem UFO entführt worden, an einer außerirdischen Krankheit verstorben oder in ein neues, fabelhaftes Leben in Reichtum in Indonesien abgetaucht. Aber trotz allem, was geredet und geschrieben wurde - es gab immer noch Millionen, die hingebungsvoll an Ella glaubten. Aber die Fotografen rückten immer näher heran, und die Jünger wurden immer nachlässiger, und nun tauchten neue Beweise ihrer Existenz auf. Mit versteckter Kamera gelangen Bilder aus der Nähe - die ersten seit achtzehn Monaten. Sie zeigten ein Mädchen mit einer Haut wie Wachs, mit blicklos nach oben verdrehten Augen und Haaren, die an ihrem Kopf klebten. Von ihrem Strahlen war nichts mehr zu sehen. Ihre Haut schien das Licht der züngelnden Flammen ihrer Kerzen in sich aufzusaugen. Sie aß nie - es war, als würde sie von diesem Licht leben. Wenn Guntarson weg war, rebellierten die Jünger. Im Gegenzug für Geschenke - frische Lebensmittel, Alkohol, eine Mitfahrgelegenheit nach Tel Aviv oder Kairo und zurück - erlaubten die Jünger Besuchern, die Tore zu durchschreiten und sich mit Ella fotografieren zu lassen. Sie durften sich hinhocken oder sich neben ihren schwebenden Körper stellen, sie aber nur berühren, wenn sie Heilung suchten. Manche 361
schnitten Haarsträhnen ab als Souvenir. Wenn Stewpot Dienst hatte, bestand er darauf, die Besucher mit einem Metalldetektor abzutasten - einem Relikt von Ellas Tests am Christ Church in Oxford. Manche Besucher, bei denen der Detektor anschlug, kamen mit Plastikscheren zurück. Eine Haarsträhne von Ella brachte 10000 Pfund, obwohl der Markt von Fälschungen voll war. Im Internet prahlten die Jünger mit ihrem Lebensstil. Sie gaben Interviews. Brooke kam so gut rüber, dass sie von einer Fernsehgesellschaft unter Vertrag genommen und nach Houston, Texas, geflogen wurde, um eine Talkshow zu moderieren. Nick lernte ein Mädchen aus Jerusalem kennen und zog bei ihr ein. Die anderen kamen und gingen. Stewpot war zuverlässig jeden Abend und jeden Morgen da, um warmes Essen für Ella hinzustellen, das sie nicht anrührte, und um zu penetrante Besucher zu verscheuchen. Ella schien nichts, was um sie herum vorging, zur Kenntnis zu nehmen, aber das Barometer stieg besonders stark, wenn die Jünger ihr von neuen wunderbaren Heilungen berichteten. Daraufhin machte sich Stewpot Notizen von den besten Gebetsgeschichten, die auf Websites erschienen, und nahm die anrührendsten Briefe an sich. Nachts ging er hinaus und las sie ihr im Kerzenschein vor. Er hoffte, es würde ihr Kraft geben. Eines Morgens im Dezember schien sie munterer zu sein als sonst. Ihre Pupillen waren zu sehen, und beim Atmen hoben und senkten sich ihre Schultern. Sie drehte den Kopf ein wenig, als er zu ihr hinüberging. »Hallo, Ella«, sagte Stewpot. »Ich wollte dich vor dem Frühstück sehen.« Das sagte er immer. »Ich habe dir Wasser mitgebracht.« Bei diesen Worten drückte er ein paar Tropfen aus einem Schwamm auf ihre trockenen Lippen. Ellas Lippen schürzten sich, als würde sie ein oder zwei Tröpfchen schlucken. »Gut«, sagte Stewpot, »das ist gut. Möchtest du noch ein bisschen?« Sie nickte. Das war das erste Mal in diesem Jahr, dass sie mit einem anderen Menschen in Verbindung trat. Vorsichtig hantierte Stewpot mit dem Schwamm. Er wollte sie keinesfalls mit hektischen Bewegungen aufregen. Er zog sich ein wenig zurück und sagte: »Ich bin gleich wieder da, geh nicht weg.« Sie war an drei Balken festgebunden. 362
Stewpot musste seine ganze Selbstbeherrschung aufbringen, um nicht laut schreiend zu Guntarsons Hütte zu laufen. Als er an der Tür stand, wusste er, was er zu sagen hatte. Er half Ella am meisten, wenn er ruhig blieb. »Herein!«, rief der Direktor, der aufgestanden war und sich vor seinem Spiegel die Stoppeln eines blonden Viertagebarts abrasierte. »Morgen, Stewpot! Ein schöner Tag heute. Ein Tag für Neuanfange. Ich bin zuversichtlich - so gut ging es mir schon lang nicht mehr.« Das ergab Sinn - Ella war wieder zum Leben erwacht und mit ihr kehrten auch die Lebensgeister des Direktors wieder zurück, als ob sie zwei Teile ein- und desselben Organismus' wären. »Ella ist wach«, sagte Stewpot vorsichtig. »Was meinst du mit >wach« »Sie hat ein bisschen Wasser getrunken, und sie scheint bei Bewusstsein. Sie hat nicht gesprochen, aber ich habe das Gefühl...« Seine sorgfältig vorbereiteten Worte gerieten ins Stocken. »Ja? Was für ein Gefühl?« »Sie möchte Sie vielleicht sehen.« »Natürlich will sie mich sehen. Aber sie wird mich nicht«, fügte der Direktor hinzu und fuhr mit dem Elektrorasierer um seinen Unterkiefer, »halb rasiert sehen wollen. Okay. Sehen wir mal, auf welchem Planeten sie sich befindet.« Er marschierte in die Sonne hinaus. »Ella! Ella, hörst du mich?« Das ganze Lager hörte ihn. Die Jünger hingen aus den Fenstern, um zuzusehen, wie sich Guntarson unter Ellas Sonnendach setzte. »Stewpot sagt, du bist wach«, sagte er leiser. Inzwischen schockierte ihn ihr Anblick jedes Mal. »Kannst du mich hören?« Sie schwebte, aber das war schon so alltäglich, dass Guntarson es gar nicht mehr bemerkte. Sie schwebte immer. Es war nicht mehr wunderbar, nicht mehr interessant und nicht mehr komisch. An diesem Morgen befand sie sich auf dem höchsten Punkt, den sie mit ihren Halteseilen erreichen konnte. Vermutlich war das ein gutes Zeichen. Sie richtete ihre tiefliegenden, abwesenden Augen auf ihn. »Ich möchte dich etwas fragen«, flüsterte sie.
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KAPITEL 44
I
hre Stimme war rau und verzerrt, es war eine Stimme, die fast elf Monate nicht gesprochen hatte. Guntarson sagte ernst: »Ich werde versuchen zu antworten.« »Ist es schon nächstes Jahr?« »Nächstes Jahr? Was meinst du? Es ist dieses Jahr. Weißt du, Ella, es ist immer dieses Jahr, so, wie es immer heute ist.« »Hatten wir«, fragte sie langsam, »hatten wir schon Weihnachten?« »Nein. Wir haben Anfang Dezember. Warum?« »Wie alt bin ich?« »Du bist ... ich muss kurz nachdenken ... du bist fünfzehn.« »Nicht schon sechzehn?« »Spielt das eine Rolle?« »Ich weiß nicht.« Es herrschte Schweigen, und Guntarson überlegte, wie er seinen Vorteil ausnutzen konnte. »Ich verstehe, Ella«, sagte er schließlich. »Du bist hier nicht glücklich. Das ist nicht die richtige Umgebung. Ich spüre es selbst. Es hätte wundervoll sein sollen, wir standen kurz davor, das Zentrum einer spirituellen Revolution zu werden. Die Leute wären von der ganzen Welt hierher gekommen, um von mir unterrichtet und in der Entwicklung ihrer Energien angeleitet zu werden. Und um von dir inspiriert zu werden. Aber ich verspreche dir - es kann immer noch so werden.« Ella flüsterte: »Wenn ich sechzehn bin ...« »Was dann? Was, wenn du sechzehn bist? Es sind nur noch ein paar Tage.« »Nichts.« »Möchtest du eine Party oder so was?« »Nein.« »Der ganze Planet sollte eine Party für dich geben. Global. Aber die Menschheit ist sehr undankbar. Sie benutzte unser Wunder und kehrte zu ihrem normalen Leben zurück, als wäre nichts gewesen. Ich kann es nicht glauben. Unsere Namen sollten zu jeder Minute an jedem Tag auf allen Lippen sein. Wir sollten das unvergessliche Wunder des Univer364
sums sein. Wir haben die übernatürliche Kraft des Gebets bewiesen, und niemand, absolut niemand kann das leugnen, aber versetzt sie das in Erstaunen? Nicht mehr. Sie haben sich an uns gewöhnt. Gebete sind inzwischen längst allen vertraut. Alle machen sie es heute für sich. Alle beten und heilen sich gegenseitig, Ella. So undankbar.« Er verstummte. Die Kerzen loderten auf. Guntarson starrte lange in die hohe Flamme einer Kerze. Mit den Fingern klopfte er an seine Stiefel. Ella blickte starr über die Kerzen hinweg in die Wüste. »Ella, wir müssen etwas Wunderbares tun. Etwas, um der Menschheit die Augen zu öffnen. Wir erwecken den Planeten, Ella. Wir haben es einmal getan. Wir können es wieder tun. Wir müssen uns etwas überlegen, Ella. Träum dir etwas zusammen. Ja. Rüttle sie wach. Bring sie um den Verstand. Das Wunder darf nicht zum Erliegen kommen, das dürfen wir nicht zulassen. Ich erlaube das nicht.« Ella sagte: »Wirst du mich heiraten?« »Wow. Da hätten wir eine Presse. Du meinst, eine große Hochzeit, die Führer der Welt zu Gast, satte Angebote für die Fotorechte? Vielleicht - ja, das ist gut -, vielleicht könnten wir anstelle von Flitterwochen ein Massengebet veranstalten.« »Wenn ich sechzehn bin, kannst du mich heiraten, ja?« »Ich denke schon, theoretisch.« Guntarson kamen plötzlich Bedenken. »Eigentlich ist das nicht wirklich paranormal, oder? Eine Hochzeit. Tolle Neuigkeit, aber nichts Übersinnliches.« »Willst du mich heiraten?« »Fragst du mich das im Ernst? Warum? Willst du das denn?« »Darauf habe ich gewartet«, sagte Ella. »Sechzehn. Darauf habe ich gewartet.« Guntarson legte eine Hand auf einen der Balken. Der Balken summte vor Energie. »Du hast so etwas wie einen Winterschlaf gehalten«, sagte er. »Deine Energie erneuert. Auf deinen sechzehnten Geburtstag gewartet. Der ist, ja, in fünf Tagen.« Er starrte sie an und versuchte, sie so zu sehen, als wäre es wirklich und wahrhaftig das erste Mal, und nicht mit der verächtlichen Vertrautheit, die seinen Blick trübte. »Du kannst alles, nicht wahr? Es übersteigt meine Vorstellungskraft. Ich muss, ja, ich muss mich zwingen, mir das vorzustellen. Du könntest ... du könntest eine Auferstehung vollbringen. Jemanden ins Leben zurückholen. Das Leben in seinen Körper zurückbeten. 365
Du könntest das, ja? Niemand außer Jesus hat das je getan. Keiner der Heiligen, niemand. Aber du könntest es. Könntest du es?« »Heiratest du mich dann?« »Dich heiraten ... also weißt du, wir wollen die Dinge auseinanderhalten. Eine Heirat ist eine große Sache, wir sind beide noch sehr jung. Du weißt, dass ich dich liebe, und ich bin sicher, dass du mich liebst, aber das heißt nicht zwangsläufig heiraten.« Die Kerzen flackerten plötzlich wie bei einem leichten Windzug. »Ich sage nicht Nein«, erklärte Guntarson hastig. »Das war keine Ablehnung. Lass es uns einfach mal durchsprechen.« Die Flammen beruhigten sich langsam wieder. »Es geht um zwei Punkte. Du wirst sechzehn, okay. Aber vorher müssen wir die Welt in Erstaunen versetzen. Hör mir zu. Eine Auferstehung - bist du wirklich so stark? Können deine Gebete den Tod rückgängig machen? Ich glaube, sie können es - denk an die Heilungen, die du zustande gebracht hast. Krebsgeschwüre verschwinden, Herzen bekommen neue Kraft, Hirngewebe regeneriert sich. Ist es tatsächlich ein so großer Schritt, ein Herz wieder schlagen zu lassen? Vielleicht nicht, wenn keine so große körperliche Schädigung vorliegt? Keine Kugelwunden oder Opfer von Autounfällen - eher eine tödliche Injektion. Vielleicht kommen wir an die Leiche eines Mörders heran, den der Staat zum Tode verurteilt hatte, und wir beten ihn zurück ins Leben. Aber der Mörder wurde aus einem bestimmten Grund hingerichtet. Die Leute würden nicht für ihn beten wollen. Kommt noch hinzu, wenn er wieder lebt, ist er doppelt berühmt, als Mörder und als Auferstandener. Nein, ein Mörder ist nicht der Richtige. Mitleid. Die Leiche muss Mitleid wecken. Ein Kind. Ein totes Kind. Doch auch da erhebt sich wieder die Frage der Berühmtheit. Dieses Kind hätte für den Rest seines Lebens den Nimbus des Wunders. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stünde das wiederauferstandene Kind, nicht wir. Das Wunder, nicht die Wundertäter. Wir können es uns nicht leisten, die Mitte der Bühne anderen zu überlassen. Das ist unsere absolute Hauptrolle.« Er verstummte. Ein Gedanke hatte sich eingeschlichen, den er nicht laut auszusprechen wagte. Ella hörte ihn. Sie sagte: »Ich glaube, dass ich das kann.« »Du meinst ... ?« 366
»Wenn wir heiraten.« »Ist das der Preis? Du machst also ein Geschäft.« Ella sagte: »Ja.« »Du vollbringst das wundersamste übernatürliche Experiment, das je stattgefunden hat. Du lässt meine Leiche wiederauferstehen.« Das war der Gedanke, den er nicht auszusprechen gewagt hatte. »Du holst mich wieder ins Leben zurück. Und wenn du mir das Leben geschenkt hast, erhebst du Anspruch auf mich als deinen Ehemann.« Ella sagte: »Ja.« Peter nickte unentwegt. »Ich bin nicht...«, sagte er. »Ich bin nicht... weißt du ... tot. Ich lebe noch. Zuallererst müsste ich - sterben. Und dann heiraten. Du bist noch nicht einmal sechzehn, wenn du älter wirst, wirst du verstehen. Eine Heirat ist eine ungeheure Verpflichtung. Du glaubst jetzt, dass du das möchtest, aber ... Meine Mutter hat einen Fehler gemacht. Als sie meinen Vater geheiratet hat. Sie haben sich beide geirrt. Zu jung, den falschen Partner geheiratet und es bereut.« Er streckte die Hand nach ihrem staubigen Teddy aus und hob ihn von den Wüstensteinen auf. »Ist mein Bergkristall noch drin?« Er zog den Kristall aus der Füllung. »Willst du hineinsehen? Ich sehe nie etwas. Vielleicht findest du hier drin eine Antwort.« Ella nahm den Stein. »Ich kann ein Bein sehen«, flüsterte sie langsam. »Es ist ein Bein, es ist unter Wasser, und da ist eine Hand, die es festhält.« »Oh Jesus. Jesus, oh Jesus.« Sie reichte ihm den Kristall, aber er wollte ihn nicht anfassen und ließ ihn zwischen die Steine fallen. »Ich sollte dir erzählen«, sagte Guntarson, »wie ich an diesen Stein gekommen bin.«
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KAPITEL 45
I
ch war dreizehn. Meine Mutter und ich wohnten in einem Häuschen am See. Ich beobachtete oft die Schiffe, die hereinkamen. Meistens Motoryachten, dreißig oder vierzig Fuß, aber auch einige Frachter mit Holz und Häuten. Und Fischerboote. Sie alle mussten nah an unserem Haus vorbei, weil der See an dieser Stelle am schmalsten ist. Schmal und felsig und seicht. Viele Boote sind aufgelaufen und mussten wieder flottgemacht werden, damit hat der Freund meiner Mutter seinen Lebensunterhalt verdient.« Guntarson sprach ruhig und sah weder Ella noch den Stein an, der auf dem Boden lag. Die Hitze in der Wüste nahm zu. »Eines Tages kamen Fischer von Toutes Aides ganz oben am See herunter, und ihr Boot lief auf Grund. Ich beobachtete sie. Sie versuchten, von den Felsen wegzukommen und abzudrehen, aber das Boot kenterte. Es ging sehr schnell unter. Die Fischer sprangen von Bord, aber anstatt ans Ufer zu schwimmen, zögerten sie und traten Wasser dicht bei dem versunkenen Schiff. Sehr gefährlich. Zuerst dachte ich, sie wären verrückt. Doch dann hörte ich das Rufen. In meinem Kopf. Es war etwa eine Meile weit weg, aber ich hörte den Ertrinkenden rufen, als wäre er nicht weiter von mir entfernt als diese Hütten da. Telepathie, verstehst du. Außersinnliche Wahrnehmung. Er muss gewusst haben, dass er ein Medium ist - er wusste, wie man überträgt. Ob er wusste, dass ich ihn empfing, das konnte ich nicht sagen. Aber diese Schreie kamen bei mir an - »Gefangen! Gefangen! Hilfe! Zu Hilfe! Mann gefangen!«, er befand sich unter dem kieloben liegenden Schiff in der Falle, und das Wasser strömte in den Bootsraum. Ich wusste, dass ich telepathisch Nachrichten empfangen konnte. Meine Mutter hat ständig damit experimentiert. Aber damals war ich kein so guter Sender. Mein Geist war weniger diszipliniert. Ich versuchte, ihm zu übermitteln: »Hilfe kommt«, und lief los, um meinen Onkel Clarence zu suchen. Clarences Motorbarkasse fuhr als erste zum Wrack, und ich stand im Bug. Vor uns lag noch eine halbe Meile, als ich die letzten Gedanken 368
des Eingeschlossenen empfing. Es war eine Botschaft an seine Kinder, ein Wort der Liebe für seine Frau - und ein Versprechen an mich. Etwas war in seiner Reisetasche. Etwas Wertvolles. »Hol die Tasche. Bring sie in Sicherheit. Der Schlüssel liegt darin. Rette ihn, und er gehört dir.« Das waren die letzten Worte, die er mir schickte. >Er gehört dir.< Ich höre sie heute noch. Ich habe sie nie vergessen. Sie bargen seine Leiche aus dem Rumpf, aber nicht seine Reisetasche. Und es ließ mir keine Ruhe. Jahre später spürte ich seine Familie mithilfe seines ID-Armbands auf, und seine Leute sagten mir, der Ururgroßvater dieses Mannes sei ein Einwanderer aus Ägypten gewesen, der beim Bau der Brücke von Brunei in Bristol gearbeitet habe - er buddelte diesen Schlüssel, was immer da war, aus den Klippen, und so kam er in die Familie. Damals, als das Boot sank, hatte ich davon keine Ahnung. Ich hatte nur seine Botschaft. Die in meinem Kopf angekommen war. Ich bat Clarence, mich zum Wrack zurückzubringen, aber er weigerte sich. Es müsste alles so bleiben, wie es ist, bis die Bergungsmannschaft käme, sagte er. Deshalb bat ich meine Mutter. Und um ihre Neugierde anzustacheln, sagte ich, vielleicht könne sie erkennen, was sich in der Reisetasche des toten Seemanns befand. Das, was so wertvoll war. >Etwas Edelsteinartiges<, sagte sie. Das sagte ihr ihre übersinnliche Wahrnehmung. Ein Edelstein, eingewickelt in Wolle. Wir waren beide aufgeregt. Und meine Mutter konnte mir nie etwas abschlagen. Wir nahmen Clarences Beiboot, und wir suchten uns einen schlechten Nachmittag dafür aus. Es hatte schon den ganzen Morgen leicht geregnet, und nach dem Essen goss es in Strömen. Der Pegel des Sees stieg. Wegen der Strömungen waren wir sehr vorsichtig in der Engstelle, aber zwei-, dreimal kratzte der Schiffsboden über die Felsen. Bei diesem miserablen Wetter rauszufahren, war verrückt. Meine Mutter machte am Bug des Wracks fest und zog ihren Badeanzug an. Wir wussten, dass in dem kieloben liegenden Rumpf ein Loch war, weil wir dabeigewesen waren, als Clarence und die Bergungsmannschaft sich den Weg zu dem Ertrunkenen gebahnt hatten. Meine Mutter ließ sich vorsichtig aus dem Beiboot gleiten. Das Wasser war bitterkalt, und der Regen tat richtig weh, er peitschte auf uns ein. Das Wasser strudelte, schlammige Strömungen drehten sich wirbelnd. Meine Mutter nahm einen tiefen Atemzug und verschwand unter der Wasseroberfläche. 369
Sie war nach einer Minute noch nicht wieder aufgetaucht. Durch das dunkle Wasser konnte ich sie unmöglich sehen. Ich suchte im Geist nach ihr, ich versuchte, sie im Rumpf aufzuspüren. Sie war eine sehr gute Schwimmerin, aber so lange hätte sie nicht unten bleiben dürfen. Was, wenn sie eingeschlossen wäre? Würde sie in dem lichtlosen Rumpf den Weg zum Loch nach draußen finden? Sie könnte sich irgendwo angeschlagen haben und bewusstlos geworden sein. Bewusstlosigkeit würde erklären, warum ich keine telepathische Nachricht empfing. Ich versuchte zu übertragen: >Bist du okay, bist du okay?<, aber am liebsten wäre ich ins Wasser gesprungen und hätte sie gesucht. Fast zwei Minuten verrannen. Plötzlich tauchte sie mit einem Freudenschrei auf. Sie hielt eine blaue, durchweichte Masse in den Händen. »Ich hab' es, ich hab' es«, schrie sie und schwenkte das tropfnasse Bündel über ihrem Kopf. Mit einem Ruck verschwand sie wieder im Rumpf. Fünf Yards von mir entfernt schrie sie gellend auf, ein furchtbarer Laut, und verschwand unter der Wasseroberfläche, als würde sie gezogen. Als ihr Gesicht wieder zum Vorschein kam, war es verzerrt und der Mund zum Schrei geöffnet. Sie schrie: >Mein Fuß, mein Fuß.< Sie war durch das Metall getreten, und die zackigen Kanten hatten in ihren Knöchel geschnitten. Das Metall hielt sie mit seinen Zähnen fest. Ihr Kopf war über Wasser, aber das blaue Bündel zog sie hinab. Ich paddelte mit dem Boot zu ihr, nahm ihr das Ding ab und warf es neben meinen Sitz. So hatte sie etwas mehr Bewegungsfreiheit, ich streckte meine Hände nach ihr aus. Aber als sie sich drehte, um sich an mir festzuhalten, gab das Metall erneut nach, und sie wurde hinabgezogen. Sie kämpfte sich zurück an die Oberfläche, aber ihre Lippen und ihre Nase kamen kaum aus dem Wasser. Sie rief und schluckte Wasser. Ich geriet in Panik. Ich sprang voll bekleidet ins Wasser und vergeudete fast eine Minute damit, mich unter Wasser auszuziehen, sonst wäre ich ebenfalls ertrunken. Ich tauchte hinab und versuchte, ihr Bein zu befreien. Ich trieb die Metallzähne nur noch tiefer hinein. Ich konnte nichts sehen. Ich musste alles nach Gefühl machen. Durch fünf Fuß Wasser konnte ich meine Mutter schreien hören. Ich musste hinauf. Der Regen war noch stärker geworden, und das erschwerte ihr das Atmen zusätzlich. Und der See stieg - man sah am 370
Rumpf des Wracks, wie schnell er stieg. Sie schaffte es, tief einzuatmen, den Atem anzuhalten und zu tauchen. Als sie wieder hochkam, keuchte sie: >Biege das Metall mit deinem Geist. Biege es. Hol mich raus.< Wieder tauchte ich, und ich konnte spüren, dass sich ein paar der Metallzähne leicht gelockert hatten. Sie hatte das mit Willenskraft geschafft, mit Psi-Kräften. Mit den Händen konnte sie es nicht gemacht haben. Das Metall war zu dick, und es schnitt zu tief in ihr Bein. Ich versuchte es. Ella, der Herrgott weiß, dass ich es versucht habe. Ich konzentrierte mich auf dieses Metall, und ich sagte: >Biege! Biege! Biege!< Das Leben meiner Mutter hing davon ab. Ich hatte noch nie zustande gebracht, einen Teelöffel zu verbiegen, und nun musste ich diese eiserne Hand aufstemmen. Und ich konnte es nicht. Ich konnte es einfach nicht. Ich tauchte und tauchte, bis meine Mutter nicht mehr kämpfte, und dann tauchte ich immer noch und befahl diesem Metall: >Biege! Biege dich, verdammt noch mal! Biege!< Ich war total konzentriert, wahrscheinlich in Panik, aber total konzentriert. Ich nahm nichts anderes wahr. Und dann merkte ich, dass sie sich nicht mehr bewegte, weil sie tot war. Ich versuchte, sie zu beatmen. Ich wusste, manchmal kamen Menschen, die man bereits ertrunken geglaubt hatte, rasch wieder zu sich, wenn sie Sauerstoff in die Lunge bekamen. Deshalb sog ich tief die Luft ein, drückte den Mund meiner Mutter auf, und Wasser floss hinein, weil der See ständig gestiegen war und weiter stieg und sie nun völlig unter Wasser war. Ich ließ meine Luft in ihren Mund strömen, und sie stieg in Blasen wieder auf. Und dieser Lebenskuss, wenn man ihn so nennen kann, war der letzte Kuss, den ich meiner Mutter gab. Ich legte einen Arm um ihre Taille, die andere Hand an das Boot und zog und zog. Ich versuchte, ihr Gesicht über Wasser zu halten, damit ich sie beatmen konnte. Hätte ich sie mitsamt dem Wrack aus dem Wasser heben können, hätte ich es geschafft. Aber ich war erst dreizehn. Ich gab nicht auf, ich weiß nicht, wie lange ich weitergemacht habe. Erst als es dunkel war, gab ich mich geschlagen. Ihr ausdrucksloses, weißes Gesicht unter der Wasseroberfläche leuchtete zu mir herauf und ihr blondes Haar umfloss ihr Gesicht wie ein Heiligenschein. Ehe ich mit Clarences Boot zurück ans Ufer fuhr, warf ich das Bündel über Bord, zurück in den See. Noch in derselben Nacht bargen die Männer ihre Leiche. Aber eine Woche später ging ich zurück. Ich hätte 371
das Bündel nicht in den See werfen dürfen, verstehst du. Das machte ihren Tod nur noch sinnloser. Ich war dafür bestimmt, das an mich zu nehmen, was in dieser Tasche war. Der Regen hatte eine Menge Schlamm in die Wasserstraße geschwemmt, der sich auf dem Grund abgesetzt hatte, und das Wasser war ein wenig flacher und sehr viel klarer. Es war kein Problem, zu dem Wrack hinunterzutauchen und das Bündel zu holen. Als ich mich umdrehte, um zur Oberfläche zurückzuschwimmen, sah ich, dass etwas wie ein Pfosten die Stelle markierte, an der meine Mutter ertrunken war. Ihr Bein. Es war ihr Bein. Die Männer, die ihre Leiche bargen, hatten es unterhalb des Knies abgehackt. Ihr Bein war immer noch im Rumpf gefangen. Neben diesem grauenvollen Ding hatte das blaue Bündel gelegen. Es war ein zusammengebundener Pullover, in den dieses Stück Bergkristall eingewickelt war. Dieser Schlüssel war mir bestimmt. Aber er hat mir nie gesagt, der Schlüssel wofür? Der Schlüssel wofür?« Guntarson nahm den Kristall von den Wüstensteinen. Er hatte die ganze Zeit in der Sonne geglitzert, solange er gesprochen hatte, und nun lag er glühend heiß in seiner Hand. Er schob ihn wieder in die Füllung von Ellas Teddy.
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KAPITEL 46
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lla wusste, diesen Traum würde sie nie mehr träumen. Nun wusste sie, kein Bereich von Peters Seele blieb ihr verschlossen. In ihren Träumen hatte sie die hohe, steile Wand überwunden, die sie nicht durchbrechen konnte, wenn sie bei Bewusstsein war, und hatte sein Geheimnis gesehen. Es hatte nie ein Geheimnis zwischen ihnen gegeben. Nicht wirklich. Und nun hatte sie Einblick in seinen gesamten Geist. Es ergab für sie weniger Sinn denn je. Sie dachte, vielleicht ergab es auch für Peter keinen Sinn mehr. Wenn er sie heiraten würde, könnte sie vielleicht etwas daran ändern. Sie wusste nicht, wie sie ihm helfen konnte. Aber sie könnte ihn besänftigen. Vielleicht. Ella hatte keine Ahnung, ob etwas Gutes entstehen würde, wenn Peter sie heiratete. Aber sie wünschte es sich schon so lange. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, dachte sie. Und jetzt, wo sie so dicht dran war, wo sie durchgehalten hatte, bis sie fast sechzehn war - jetzt würde sie ihr Ziel nicht aufgeben. Sie würde ihm alles geben, aber dafür musste er sie heiraten. In dieser Nacht schlief Ella nicht. Sie hielt ihren Teddy in den Armen, sah den in der Dunkelheit flackernden Kerzen zu und lauschte den Geräuschen der Wüste, die sie zuvor noch nie bemerkt hatte, weil sie zu schwach gewesen war. Sie konzentrierte sich auf jeden Atemzug. Sie betete nicht. Sie brauchte ihre Energie jetzt für sich selbst, sie musste wieder zu Kräften kommen. Sie hatte sich fast buchstäblich zu einem Schatten ihrer selbst heruntergebetet. Noch vier Tage bis zu ihrem sechzehnten Geburtstag. So lange musste die Welt ohne ihre Gebete auskommen. Ella sah einen Mann neben einer Flamme knien, und sie wusste, dass sie nicht träumte, aber sie wusste auch, das, was sie sah, existierte nicht wirklich. Es war real, aber nicht im körperlichen Sinn. Ella war sich nicht gleich bewusst, dass sie ihn beobachtete. Er wiegte sich neben der Kerze, und sie hoffte, die Flamme spende ihm Wärme. Sie wünschte sehnlichst, er käme näher zu ihr heran. 373
Die Gestalt war fast nackt. Die Dezembernacht war eiskalt, aber er trug nichts als ein schmutziges Tuch, das er um die Hüfte gewickelt hatte. Seine Arme und seine Brust waren dunkel vor Dreck. Die Haare fielen ihm über die Schultern, und sein Bart bedeckte seine Kehle. Von seinem schmutzigen Körper ging ein süßer Duft aus wie der Geruch von Bäumen im Sommer. Ella zog an ihren Halteseilen, um der Gestalt eine Hand entgegenzustrecken. Der Schein der Flammen fiel auf sein Gesicht. Es war ein faltiges, braunes Gesicht mit weit offenen Augen und einer geraden Nase. Sie hatte es Tausende Male gesehen, aber sie wusste nicht, wer es war. »Bist du gekommen, um mich zu sehen?«, fragte Ella. »Ich bin schon lange hier bei dir«, antwortete er. »Wie heißt du?« Er sah sie an und lächelte, und Ella empfand eine solche Zuneigung zu diesem Mann, dass unwillkürlich ein Schluchzen aus ihrer Kehle brach. Sie liebte ihn dafür, dass er sie anlächelte, liebte ihn voller Dankbarkeit, ohne mehr zu verlangen. Ihre Leidenschaft für Peter, eine stets fordernde Liebe, Liebe, die nach Aufmerksamkeit lechzte, Liebe, die keine Erfüllung fand. Die unvermutet über sie hereingebrochene Woge der Liebe, die sie überschwemmte, als dieser Fremde lächelte, war nichts dergleichen. Es war eine Liebe, um die sie einst gebetet hatte, bevor sie vergessen hatte, darauf zu hoffen. Bedingungslose Liebe. So, wie ihrer Vorstellung nach die Liebe eines Hund zu ihr. »Du bist Er, nicht wahr?«, sagte sie. Die Gestalt drehte sich im Kerzenlicht um und sah sie an. Und sie sah, dass der dunkle Dreck auf seinem Körper geronnenes Blut war, das aus uralten Wunden in seinen Händen und der Seitenwunde seines Körpers geflossen war. »Du bist Ella«, sagte der Mann. »Fürchte dich nicht, meinen Namen auszusprechen.« »Du bist Jesus.« »Und ich liebe dich, Ella. Bald wirst du von deinen Fesseln erlöst sein.« Lange starrte sie die Erscheinung an. Sie fragte sich, ob er die Kraft haben würde aufzustehen. »Warum bist du hier?« 374
»Ich bin immer da, wenn du es möchtest. Ich glaube, du wolltest, dass ich da bin.« »Warum?« »Das musst du dich selber fragen.« Seine Antworten waren freundlich. Sie traute sich, sich selbst die gleichen Fragen zu stellen wie ihm. »Ich bin nicht tot, oder?«, sagte sie. »Nein.« »Aber eines Tages werde ich es sein. Komme ich dann in die Hölle? Ich bin nicht gut gewesen.« »Liebst du mich, Ella?« »Ich will dich lieben, wirklich, sehr sogar.« »Dann kommst du nicht in die Hölle.« Er lächelte, aber nicht spöttisch. Es war nicht Peters Lächeln. »Kann ich ein Engel werden?« »Die Engel sehen dich bereits als einen der ihren.« »Ehrlich, im Ernst?« »Frag sie.« »Ich habe noch nie Engel gesehen.« »Wenn Engel sprechen, Ella, hören nicht alle das Gleiche. Du solltest nicht mit deinen Ohren hören. Engel reden Unsinn für die Ohren der Menschen. Horche hinein. Horche in dein Herz.« »Ich weiß nicht, wie.« »Ella, es ist das Einzige, was du je gewusst hast.« Sie dachte lange darüber nach. »Ich möchte dir das geben. Es ist alles, was ich habe, aber dir soll man alles geben. Nicht wahr?« Sie streckte ihm die Hand mit dem Teddy, in dem Guntarsons Kristall steckte, entgegen. Er streckte ihr seine Hand entgegen. Als er das Spielzeug entgegennahm, berührten seine Finger die ihren. »Die Lichter. Die drei Lichter, die sich drehen. Sind das auch Engel?« »Die drei Lichter sind alle in deinen Gebeten, Ella. Denk an die Worte, die deine Gebete beschließen.« »Ich sage immer >Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes<.« »Der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Die drei Lichter.« Lange beobachtete Ella die neben der Flamme kauernde Gestalt, bis 375
ihr Bewusstsein allmählich schwand. Sie bemerkte nicht, wann genau er fort war, aber irgendwann sah sie nur noch die Kerze und drei Lichter, die sich am Fuß der Kerze drehten. Am Morgen kam Peter zu ihr. Er merkte nicht, dass der Teddy fort war. Ella sagte: »Ich werde versuchen, alles, was du von mir verlangst, zu tun. Aber du musst mir versprechen, dass wir so bald wie möglich nach meinem Geburtstag heiraten werden.« »Alles?« »Alles. Und du musst es versprechen.« »Gut«, sagte Peter. »Ich werde dich heiraten. Gleich, nachdem du mich hast auferstehen lassen.«
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KAPITEL 47
The Times, Freitag, 8. Dezember: Letzte Nacht kämpfte sich eine Medienkarawane durch die Wüste Sinai und lieferte sich ein Rennen, um Zeuge der bizarrsten Publicity-Sensation zu werden, die je erdacht wurde. Trotz internationaler Verurteilung, trotz eines Aufschreis aus dem Vatikan und des anhaltenden Verdachts, alles erweise sich letztendlich als ein ungeheurer Scherz auf Kosten der ganzen Welt, strömten aus allen Himmelsrichtungen Kamerateams und Reporter im Konvoi mit Geländewagen zum Prayer Centre der Ella Foundation am Fuße des Bergs Sinai. Die außergewöhnliche Ankündigung, die der Direktor gestern bei CNN via Satellit aus dem Prayer Centre machte, schien eher ein Akt unkontrollierter Megalomanie denn eines gut entwickelten Sinns für Humor. Er behauptete, sich ertränken lassen zu wollen - in ein Wasserbecken versenkt zu werden und darin auszuharren bis zum Tod -, damit ihn sein Schützling, Ella Wallis, durch die Kraft der Gebete auferstehen lassen kann. Offenbar gab man dem Ertränken den Vorzug, da es eher den Charakter eines Selbstmordes hat als üblichere - und weniger langwierige - Exekutionsmethoden wie Erhängen, Todesspritze, Tod durch elektrischen Strom oder Erschießung durch ein Exekutionskommando. Sein Versprechen, gleich nach seiner Rückkehr ins Leben eine weitere, die Welt erschütternde Ankündigung zu machen, die ihn und Ella gemeinsam betreffe, betrachteten viele schlicht als eine weitere Unmäßigkeit. Der TV-Mediziner Dr. Hillaire Stoop warnte gestern Abend, selbst wenn Ella über genügend Kräfte verfügen sollte, um sich an diesem Wunder zu versuchen, sei es unwahrscheinlich, dass sie die gewaltigen chemischen Veränderungen rückgängig machen könne, die sofort nach dem Hirntod eintreten, auch bei einem Opfer, das einen offensichtlich so »harmlos« scheinenden Tod wie Ertrinken erleide. 377
Und ergänzend zu dieser Warnung äußerte er sich auch zu der allgemeinen Besorgnis über Ellas ausgezehrte Erscheinung: »Wenn jemand eine Auferstehung nötig hat, dann sie. Monatelanges Fasten oder Hungern wird ihre inneren Organe stark angegriffen haben, da sich ihr Körper hauptsächlich von sich selbst ernährt, um am Leben zu bleiben. Sogar im Trancezustand, wie er sich in ihren Levitationen zeigt, wird sie weit mehr Energie verbraucht haben, als ein gesunder Körper bereitstellen kann. Ich glaube, sie hat nur noch ein paar Wochen zu leben.« Die Journalistin Aliss Holmes, die den Direktor und Ella vor zwölf Monaten interviewt hat, meinte: »Offen gesagt, er ist verrückt genug dazu. Sein krankhaftes Streben, dieses arme Mädchen zu vergöttlichen, scheint unstillbar. Damit verglichen, ist das Evita-Phänomen geradezu winzig, es übertrifft sogar noch die Obsession mit den Kennedys. Ich würde nur zu gerne wissen, warum eigentlich? Wir alle wissen, Ellas Gebete können Berge versetzen. Sie hat uns dazu gebracht, dass wir uns bittend an Gott wenden. Was will sie damit beweisen? Dass wir alle ewig leben werden? Ella besiegt den Tod? Was sie angeht, so muss ich sagen, sie war krank, als ich sie traf, und nun macht sie einen noch weit kränkeren Eindruck. Es würde mich überraschen, wenn sie die Kraft hätte, eine Augenbraue zu heben, ganz zu schweigen davon, den Tod aufzuheben.« Miss Holmes' Stimme war gestern nicht die einzige, die einen Hauch von Zynismus verbreitete. Beobachter der internationalen Politik behaupten, zwischen Guntarson und dem ägyptischen Präsidenten Mubarak müsse es eine persönliche Vereinbarung zu dieser Demonstration gegeben haben. Da aber ranghohe Vertreter aller bedeutenden Religionsgemeinschaften lautstark verlangen, den Direktor zu verurteilen, und da es gegen ägyptisches Recht verstößt, sich selbst zu ertränken, ist es nur schwer vorstellbar, dass der Präsident dazu seinen Segen gegeben hat. Eine mögliche Erklärung wäre, dass Guntarson vorhat, nur so zu tun, als würde er sterben. Houdini hat vor acht Jahren bewiesen, dass man bis zu einer halben Stunde lang festgebunden in einem Becken unter Wasser ausharren kann. Eine Installationsfirma aus Tel Aviv hat das Becken in fast überirdischer Geschwindigkeit entworfen und gebaut. Vier verstärkte Flachglas378
platten in Kupferrahmen mussten auf einen Marmorboden montiert werden. Im Boden wurden zwei eiserne Fußringe eingelassen und eine Ringleitung mit vier Zulaufen verlegt, die an ein Fünfhundert-GallonenReservoir angeschlossen ist. Das Wasser muss mit Hubschraubern eingeflogen werden, da sich der Anschluss des Prayer Centres an die Kanalisation selbst für eine Stiftung mit solch beträchtlichen Reserven als zu teuer erwiesen hat. Die vier Zuläufe im Boden führen jedem der hohlen Rahmen Wasser zu. Aus Röhren in der Mitte und oben an den Wänden wird das Wasser mit fünfzig Gallonen pro Minute in den Behälter eingelassen. Bis die vollen dreihundert Gallonen geschafft sind, wird es sechs Minuten dauern - sechs lange, langsam verstreichende Minuten, sofern der Direktor wirklich vorhat, seinen letzten Atemzug zu tun, wenn ihm das Wasser bis zum Kinn steht. Seine Füße werden an den Marmorboden gefesselt, mehr zum Schutz seines Körpers vor Verletzungen beim Treiben im Wasser, als um das Entkommen zu erschweren. Das Wasser wird von einer automatischen Uhr um zwanzig Uhr mitteleuropäischer Zeit eingelassen - achtzehn Uhr in London und ein Uhr in New York. Im Unterschied zu Houdini, der mit einem draußen stehenden Helfer ein Signal abgesprochen hatte, ihn aus dem Wasser zu holen, wenn sein Trick misslingt, erklärt Guntarson, er habe keine diesbezügliche Vorsorge getroffen, sollte er seine Meinung beim Ertrinken ändern. Falls Trickserei im Spiel sein sollte, würde Guntarson schnell ertappt, und Ellas Ruf würde den nachfolgenden Skandal wohl kaum überstehen. Ihre Levitationen, stets in Anwesenheit Guntarsons, waren für viele der einzige Beweis ihrer übernatürlichen Kräfte - da die außergewöhnlichen Phänomene, die ihre Fernsehauftritte begleiteten, im Allgemeinen spontan und nicht wissenschaftlich untermauert waren. Und da die unbestreitbaren Wunder, die aus ihren Ermahnungen zum Gebet resultierten, inzwischen als Manifestationen der mentalen Energie der Massen gelten und nicht allein Ella Wallis zugeschrieben werden, wäre ihre einst unangefochtene Position als der Welt größtes Medium ernsthaft gefährdet, wenn Guntarson des Betrugs überführt werden würde. 379
Mit anderen Worten: Wenn Direktor Peter Guntarson heute Abend nicht tot ist, dann steht Ellas Ruf auf dem Spiel. Sie kamen aus Kairo, aus Tel Aviv, aus Port Said, aus Sues, aus Akaba, aus Larnaca, aus jedem Hafen und jeder Stadt im Nahen Osten, von wo aus auch nur eine halbwegs realistische Chance bestand, rechtzeitig auf dem Sinai zu sein. Ihre LandCruiser und LandRover donnerten über die Straßen von Eilat und Port Taufiq, beladen mit Wasser, Benzin, Sendegeräten und Journalisten. Anfänglich hatten sie die Absicht gehabt, diese kranke, traurige Sensationsdarstellung zu ignorieren, doch dieser Hochmut war vergessen, nachdem die C N N bekannt gegeben hatte, das Ganze live zu übertragen. Nicht nur den Versuch der Auferstehung, sondern auch das Ertrinken an sich. Live, von dem Moment an, an dem die Wasserhähne geöffnet würden, bis zu dem Moment, wo der Leichnam aus dem Wasser geholt werden würde. Wenn C N N übertrug, übertrugen alle. Wer würde sich zeitgleich eine andere Sendung ansehen? In Bristol würden Ken und Robert Wallis zusehen. Und auch Tante Sylvie. Und aus ihrem Gehege würde Ella zusehen. Sie war da wie immer, umringt von einem Stahlzaun mit Kettengeflecht und einem Dutzend brennender Kerzen, mit einem ramponierten Sonnendach über sich und einem Jünger neben sich. Fast neben sich - Stewpot saß auf dem Boden, und Ella schwebte in der Luft. Ihre Halteseile waren nicht straff, sondern hingen schlaff an den Balken. Das gläserne Becken, zehn Fuß hoch auf schwarzem Marmorsockel, stand jenseits ihres Zauns. Entworfen von Josef Kiriaty, einem auf Unterwasserbeobachtungsstationen spezialisierten Architekten aus Eilat, und gebaut von einem Team von Aquariumexperten und Installateuren. Das Gelände war grell ausgeleuchtet, die Scheinwerfer der dreihundert Kamerateams waren nichts gegen die Stadionflutlichter und die Flughafen-Pistenbefeuerung, die Guntarson überall verteilt hatte installieren lassen. Das Licht war am Nachthimmel noch 150 Meilen weit entfernt zu sehen. Neben dem Behälter stand ein einsames Mikrofon. Tausende Journalisten hatten sich in einiger Entfernung versammelt. 380
Drei Minuten vor acht stolzierte Guntarson von seiner Hütte zum Becken. Er hatte sich in einen blauen Frotteebademantel gehüllt und die Kapuze aufgesetzt wie ein Boxer. Auf seiner Brust leuchtete das goldene Monogramm des Ella Centre. Auf dem Gelände herrschte eine Atmosphäre wie in einem Sportstadion vor einem großen Spiel. Nichts hätte weiter entfernt sein können von einem spirituellen Mysterium. Rockmusik wäre die passende Begleitung für den Direktor gewesen, als er mit einem Nicken zu den Kameras und einem Winken zu Ella zum Mikrofon marschierte - aber den Soundtrack lieferte ausschließlich das Gemurmel der Reporter und das Bellen der Hunde, das Rattern der Hubschrauber und das Surren der Kameras. Gebieterisch ließ er den Blick wandern, bis das auch das letzte Gemurmel erstarb. Die Stille auskostend, griff Guntarson nach dem Mikrofonständer und legte eine Kunstpause ein, bevor er zu reden begann: »Sie haben sich heute hier versammelt, um Zeugen der Vereinigung des Bekannten mit dem Unbekannten zu werden. Ich stehe kurz davor, in das Unbekannte einzutreten. Wenn ich zurückkomme, werde ich von Stolz erfüllt preisgeben, welche Geheimnisse mir zur Kenntnis gelangt sind. Das, was ich heute mache, wurzelt im Glauben. Im Glauben an Wunder und an eine Wundertäterin. Ella, zart, aber brennend mit einem unauslöschbaren inneren Feuer, wird mich in die geheimnisvolle Ebene eintreten sehen, die wir Leben nach dem Tode nennen. Und mit leidenschaftlichen Gebeten wird Ella mich zurückholen. Ich bitte Sie alle, ihr zu helfen. Sie, die Sie heute hier sind, und Sie, die rund um den Globus zuschauen. Verstärken Sie mit Ihren Gebeten Ellas Gebete. Ich bitte Sie, für meine sichere Rückkehr zu beten. Aber furchten Sie nicht um mich. Fürchten Sie sich nicht, denn meine Seele ist mit Ella.« Er drehte sich um, zog den Bademantel von den Schultern und warf ihn auf den Wüstenboden. Die Kamerateams schoben sich unter Ellenbogeneinsatz vor und die Hundeführer gaben ihren scharfen Tieren ein bisschen mehr Leine. Nackt, den muskulösen Körper dem Scheinwerferlicht ausgeliefert, kletterte Peter Guntarson die Aluminiumsprossen zum Becken hinauf und schwang ein Bein über den Rand. Vorsichtig tastete sein Fuß nach einem Halt, dann begann sein Abstieg in das Becken. 381
Mit Blick auf Ella stand er im Becken, und er kniete nieder, um die beiden mit drei zusätzlich sichernden Bolzen in den Boden eingelassenen Stahlringe um seine Knöchel zu schließen. Guntarson erhob sich und faltete die Hände auf Brusthöhe. Drei oder vier Schweigesekunden lang starrte er zu einem Punkt am Himmel hoch über Ella. Die Düsen öffneten sich. Das Wasser war warm. Unter der Sinai-Sonne in einem offenen Bottich stehend, wäre es angenehm lauwarm gewesen. Vier kräftige Wasserstrahlen schlugen von den Seiten auf seinen Körper ein, vier weitere prasselten von oben auf seinen Kopf. Sofort waren seine Haare nass. Er blies das Wasser von seinen Lippen und hielt das Gesicht in das herabströmende Wasser. Schon spürte er, wie das Wasser seine Füße überspülte. Er schloss die Augen. Das Wasser auf der nackten Haut machte die Hitze der Lampen erträglicher. Er verkniff es sich nur mit Mühe, seine Kopfhaut mit den Fingerspitzen zu massieren, wie er es unter der Dusche tat. Das banale Bild seiner morgendlichen Dusche ließ ihn schaudern. Setzte er diese kleinen Vergnügungen und auch die großen Freuden des Lebens aufs Spiel? Nicht nur das großartige Leben auf der internationalen Bühne, sondern auch die kleine Herrlichkeit von Seifenschaum auf seiner Haut? Und eine schnelle Fahrt auf seiner Kawasaki 1100? Eine anständige Tasse Kaffee? Waren diese Dinge wirklich kostbar, und wenn ja, warum hatte er bis zu diesem Moment noch nicht daran gedacht? Sie waren kostbar. Und er musste auf Ella vertrauen, dass sie sie ihm zurückgab. Sie musste erkennen, dass sie für beide betete, für den ehrwürdigen Direktor Guntarson und für den jungen, begabten, lebenslustigen Peter. Das Wasser ging ihm bis an die Knie. Er scharrte mit den Füßen. Die Scheinwerfer taten ihm in den Augen weh, und er senkte den Blick, doch das grelle Licht reflektierte im Becken. Bis zu den Oberschenkeln im Wasser angekettet, sah er sich selbst plötzlich total verletzlich in seiner Nacktheit. Bald erreichte das Wasser seinen Penis, lächerlich und unkontrollierbar würde er über dem Wasser tanzen, bis er untergetaucht wurde. Hatte Ella, jungfräulich und behütet, hatte sie irgendeine Vorstellung 382
davon, was er, Peter Guntarson, bereit war zu opfern? Er legte ihr seine sexuelle Energie, seine übersinnliche Energie, seine Lebenslust zu Füßen. Konnte er ihr das begreiflich machen? Konnte er sie erreichen? Er schloss fest die Augen und rief in Gedanken: »Ich lebe. Ich lebe. Ella, Leben.« Seine Gedanken konnten nicht klar und deutlich formulieren. Wie könnte er es ihr verständlich machen? Er begann, in Panik zu geraten. Er hatte diese chaotische Aufwallung schon einmal gespürt. Als seine Mutter ertrank und er getaucht war, um ihren Fuß aus den Metallklauen zu befreien. Sie hatte es empfunden, und er hatte es wie ein Echo vernommen. Und nun erfuhr er es am eigenen Leib. Das Wasser berührte seine Lippen. Die Düsen in der Mitte der Rahmen befanden sich inzwischen unter Wasser und pumpten stoßweise Gallonen von Wasser in das Becken. Er musste dafür sorgen, dass auch Ella es spürte. Den Wert des Lebens. Sie musste wissen, wofür sie betete. Sie musste wissen, dass er sein Leben unbedingt zurückhaben musste. Schwer atmend suchte Guntarson nach Worten. Er wollte ihr sagen: »Rette mich! Hilf mir! Stell es ab! Hol mich raus!« Aber so weit war die Panik noch nicht gediehen. Er würde sich nicht von seinem Ziel abbringen lassen. Er würde sterben und wieder leben. Dafür gab es ein Wort - Resurgam. Und sie würde das nicht verstehen. Wer würde es verstehen? Warum sollte unter all den dumpfen und geistlosen Hirnen, die geopfert werden könnten, ausgerechnet sein brillantes schöpferisches Gehirn das Opfer sein? Es war sinnlos. Wusste die Menschheit, was sie riskierte, wenn sie dies zuließ? Das Wasser war an seiner Brust. Es schien schneller zu steigen als bisher. Ließen sie ihn das zu Ende bringen? Diese makabre Zirkusvorstellung vor diesen Voyeuren mit ihren Kameras, Mikros und Scheinwerfern, die ihn umringten wie ein Rudel wilder Hunde? Waren sie so abgestumpft, dass sie dem Spektakel tatenlos zusahen? Käme es nicht einem in den Sinn, das Wasser abzustellen? Nein. Er konnte das nicht tun. Niemand konnte das von ihm verlangen. Er musste raus. Das Wasser trug ihn, als er sich nach hinten lehnte und nach den Sprossen der Leiter griff, aber sein Gesicht geriet dabei fast bis zu den Augenbrauen unter Wasser. Die Ketten um die Knöchel hielten ihn fest. 383
Er musste sich befreien. Er musste raus. Er war am Ertrinken. Er musste die Füße aus den Stahlringen bekommen. Die Ringe hatten eine Ratsche. Sobald er zog, verengten sie sich automatisch. Guntarson stieß sich von der Leiter ab, schwamm aufrecht und sog zweimal tief Luft in die Lunge. Dann krümmte er sich nach unten und griff nach seinen Knöcheln. Hektisch kratzten seine Finger über die Ratschen. Die Ringe bissen in sein Fleisch. Da war kein Abstand, er bekam nicht einmal die Spitze eines Fingers dazwischen. Keine Chance, sie aufzustemmen. Von allen Seiten hell angestrahlt, war es wie ein Bad in einem Prisma. Konnten sie ihn deutlich sehen? Merkten sie nicht, dass er versuchte, sich zu befreien? Machten sie keine Anstalten, ihn zu retten? Guntarson fummelte an den Fußringen herum, bis seine Lunge brannte und zu platzen drohte, dann verlagerte er seine Anstrengungen auf die Bolzen. Das hätte er gleich probieren sollen. Wie fest sie wohl saßen? Bestimmt könnte ein ordentlicher Ruck sie lösen. Er stellte seine Füße flach auf den Marmorboden, legte beide Hände um den Bolzen an seinem rechten Knöchel und zog. Er spürte, dass etwas nachgab. War der Bolzen gelockert, oder dehnten sich die Verbindungen? Guntarson zog wieder. Momente aus seinem Leben zogen in Bildern vor seinem inneren Auge vorbei. Er sah sich selbst, hinabgetaucht zu den Füßen seiner ertrinkenden Mutter und an dem Metall zerren, das sie festhielt. »Biege! Biege! Biege!« Und dann küsste er ihr lebloses Gesicht. Seine Lunge war kurz vor dem Platzen. Er brauchte Luft. Er stieß sich zur Oberfläche hin ab. Sie war außerhalb seiner Reichweite. Er spürte das Trommeln des Wassers an seiner Stirn, die Luft konnte nur ein paar Millimeter weit weg sein. Wenn er seinen Kopf nach hinten bog, dann würde seine Nasenspitze ... Nein. Er war unter Wasser. Wenn er jetzt ausatmete, würde er wieder einatmen müssen. Und wenn er einatmete, ertrank er. Er musste seine Füße freibekommen. Guntarson zog, um sein Leben zu retten. Ein Bolzen brach heraus. 384
Ein Fuß tanzte wild im Wasser. Nun der andere. Er packte die Verbindungskette und zog jeden Muskel an. Der Bolzen hielt. Noch einmal nahm er alle Kraft zusammen. In einer großen, silbernen Blase entwich die Luft aus seinem Mund. Seine Lunge schrie nach Luft. Er durfte nicht einatmen, er durfte nicht einatmen. Benommen tastete er wieder nach der Kette. Er hatte kaum noch Kraft. Der Bolzen gab kein bisschen nach. Die fehlende Luft: in seiner Lunge brachte ihn um den Verstand. Zornig und widerwillig schluckte sein Mund Wasser. Das Wasser würgte ihn, wieder und wieder schnappte er nach Luft. Wasser drang in seine Nase, in seine Kehle und in seinen Magen. Ein Schmerz wie ein Schwerthieb durchschnitt seine Stirn über den Augen. In seiner Panik fanden seine Hände nicht einmal den Bolzen, der ihn festhielt. Stattdessen ertastete er einen der vier Zuläufe, die Wasser unter der Wasseroberfläche hereinpumpten. Verzweifelt presste er die Hände dagegen, um den Zustrom abzustellen. Hände, Gesicht und Schulter gegen die Seite des Beckens gedrückt, den linken Fuß am Boden festgekettet, verlor Peter Guntarson das Bewusstsein und starb.
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KAPITEL 48
D
as erste Gesicht, das an Ellas Zaun erschien, als die Absperrkette der Sicherheitskräfte nachgab, war das von Dr. Dóla. »Ella«, zischte er durch das Kettengeflecht, »Ella, deine Mutter und Frank sind hier.« Stewpot torkelte auf die Beine. Er hörte Dr. Dólas Stimme, aber er konnte seine Augen nicht von der verkrümmten, vom Wasser überspülten Leiche Peter Guntarsons abwenden. Der Direktor durfte noch nicht herausgeholt werden. Er hatte Anweisung gegeben, dass er zwölf Stunden nicht berührt werden dürfte, damit sein Tod absolut sicher sei. »Ella!«, brüllte Dr. Dóla, um sich Gehör zu verschaffen, denn er war von Presseleuten umringt. Von überallher ertönten Schreie. »Ella, glaubst du, du kannst ihn retten? Wie ist deine emotionale Verfassung, Ella? Bist du zuversichtlich? Brachtest du es fertig, dabei zuzusehen? Glaubst du, er hat noch versucht, sich zu befreien? Hat er dir eine letzte Botschaft übermittelt?« Ella ignorierte sie. Sie liefen überall herum, strahlten sie mit ihren Lampen an und verdeckten ihr die Sicht auf das Becken mit dem Direktor. »Ella, können Gebete den Tod überwinden? Wie geht es dir gesundheitlich, Ella? Ella, warum schwebst du nicht mehr?« Überrascht drehte sich Stewpot um. Der Reporter hatte recht. Ella war auf dem Boden. Zum ersten Mal, seit man sie auf den Sinai gebracht hatte. »Ella, du starrst hinauf ins Weltall - was siehst du? Den Himmel? Kannst du in den Himmel sehen, Ella?« »Ich sehe seine Seele aufsteigen«, sagte Ella ruhig. »Was? Wie war das bitte? Würdest du das bitte wiederholen für unsere Zuschauer, die es vielleicht nicht gehört haben?« Sie krallten sich in den Zaun und rüttelten am Kettengeflecht. Ella sagte nichts mehr. Stewpot sprang auf. »Gehen Sie zurück, gehen Sie zurück, bitte? Man bekommt richtig Angst hier drin, ich will nicht, dass Ella sich fürchtet.« Er entdeckte Dólas Gesicht. »Sorgen Sie dafür, dass diese Leute sich etwas von ihr fernhalten«, befahl Stewpot. 386
»Okay, Leute, okay, entspannt euch«, rief Dóla mit hoher, durchdringender Stimme. »Vergesst nicht, wir befinden uns in einem Kreis. Wir alle filmen uns gegenseitig. Zuschauer auf der ganzen Welt sehen uns zu, und ich denke, wir können einen besseren Eindruck machen als gerade eben. Ein bisschen Disziplin. Alle drei Schritte zurück. Und noch drei. Ja. Gut gemacht, Leute. So, nun rufe ich Namen auf, einer nach dem anderen stellt seine Fragen.« »Was bist du, Joe, bist du jetzt Ellas Agent?« »Okay, nein, bin ich nicht, aber jemand muss sich ja um sie kümmern. Ich bin der Agent von Ellas Mutter, und ich glaube, die erste Frage, die wir stellen sollten, lautet: Ella, möchtest du deine Mutter bei dir haben?« Ella sagte: »Okay.« »Gibt es einen Schlüssel?«, murmelte Dóla zu Stewpot. »Sie kommen nicht herein, wenn ich dieses Tor öffne«, warnte Stewpot. »Niemand kommt herein. Nur Ellas Mutter. Einverstanden?« Er wartete, bis Juliette nah am Tor war, dann öffnete er das Vorhängeschloss. Sie schob Frank durch den Spalt und drückte sich nach ihm herein. Fast sofort schlug das Tor zu. Juliette kniete neben ihrer Tochter. »Geht es dir gut?« »Es geht mir ... ja. Besser.« »Wie, besser?« »Weiß nicht. Ich spüre nicht mehr so viel Druck. Im Kopf.« »Der Druck ist weg. Wann?« »Jetzt eben. Als Peter ... als seine Seele in den Himmel aufstieg. Das ist schön, nicht wahr, Mum?« »Natürlich.« Frank legte eine Hand auf Ellas Schulter. »Er möchte, dass ich ihn zurückhole.« »Ich glaube nicht, dass du das tun solltest.« »Er möchte, dass ich sehr eindringliche Gebete für ihn spreche.« »Vielleicht ist es besser, er bleibt, wo er ist, Ella.« »Wann habe ich Geburtstag?« »Gott, Ella, ich weiß nicht. Morgen, glaube ich. Ja, morgen früh.« »Und wie alt werde ich?« »Komm schon, Ella, solche Sachen musst du wissen. Woher soll ich das wissen? Sechzehn. Ja, sechzehn.« 387
»Wenn Peter zurückkommt, heiratet er mich.« »Ella, er kommt nicht zurück.« »Er kann zurückkommen, wenn ich eindringlich genug bete. Und dann heiraten wir.« »Gott, Ella, als hätten wir nicht schon genug Probleme.« Dóla ließ die Journalisten ein paar Fragen stellen, aber als Ella sie ignorierte, hob er Schweigen gebietend die Hände. Die meisten Mikrofone waren so ausgerichtet, dass sie die Unterhaltung des Mädchens mit seiner Mutter mithörten. »Ella, möchtest du weg von hier?« »Nein. Ich lebe hier. Peter ist hier.« »Nicht direkt hier. Peter ist ... im Himmel. Oder wo auch immer.« »Ich werde ihn hierher zurückbringen.« »Okay, willst du reingehen?« »Nein. Ich hab' es doch gesagt. Ich lebe hier.« »Nicht draußen. Das ist zu kalt.« Ella antwortete nicht. Stewpot trat zu ihr. »Ella, können wir dich losbinden? Ist es jetzt sicher?« Sie zuckte die Achseln: »Ja.« Stewpots Finger mühten sich mit dem ein Jahr alten Knoten ab, an dem Seil, das ihre Taille umspannte. Ihre Taille war nicht dicker als sein Handgelenk. Frank half ihm, und dann zog er das Gesicht seiner Schwester zu sich heran und küsste sie. »Ella«, fragte Juliette. »Möchtest du etwas essen? Ich habe jetzt Hunger.« »Dann iss was, Mum.« »Aber du, du bist so dünn, du musst was essen.« Frank zog den Reißverschluss seiner Hüfttasche auf und nahm einen weichen, unförmigen Mars-Riegel heraus. Er hatte ihn seit Florida immer dabei gehabt und inständig gehofft, Ella ihre Lieblingssüßigkeit geben zu können. Sie nahm den Riegel, wickelte ihn aber nicht aus. »Ich esse nicht, Mum. Ich habe verstanden. Wenn ich nicht esse, muss ich mich nicht übergeben. Es ist leichter so.« »Du wirst sterben, wenn du nicht isst.« »Ich biete ihr jeden Tag etwas zu essen an, Mrs. Wallis«, sagte Stewpot. »Viermal am Tag. Manchmal trinkt sie ein bisschen Wasser, erst kürzlich.« 388
Juliette beachtete ihn nicht. Es missfiel ihr, dass dieser Junge so großes Interesse an ihrer Tochter zeigte. »Ella«, rief ein Reporter, »möchtest du reden über das, was heute Abend passiert ist?« »Nein«, sagte Ella. »Ich möchte über gar nichts reden.« »Okay, Leute, ich glaube, das war's«, rief José Dóla. »Das ist die erste öffentliche Erklärung dieser jungen Frau seit, ich glaube, fast zwei Jahren, und wir sollten sie jetzt ausruhen lassen. Sie möchte heute Abend nicht reden.« Am Morgen wurde die Leiche des Direktors aus dem Becken geborgen. Die Totenstarre hatte sich inzwischen gelöst, der Leichnam lag wie ein Betrunkener zusammengesackt in einer Ecke. Tim, nackt bis auf eine Speedo-Badehose, tauchte hinab, und die Kameras beobachteten ihn. Er schlang ein Seil unter die Arme des Direktors, damit er und Stewpot die Leiche herausziehen konnten. Diese unrühmliche Bergungsaktion wurde live übertragen, die Kameras beobachteten das Becken, sie beobachteten Ella, sie beobachteten Juliette, und sie beobachteten einander. Für das Entleeren des Behälters war nichts eingebaut worden, deshalb installierten die Jünger eine Absaugvorrichtung, bevor die Glasplatten abmontiert wurden. Unter der Dezembersonne hatten die Jünger einen Altar errichtet, sodass der Direktor auf purpurrotes Leinen und Blumen gelegt werden konnte. Sie streckten seine Gliedmaßen und bedeckten seine Lenden mit einem Tuch. Um die Leiche arrangierten sie Blumen, aus Kairo eingeflogen, zu religiösen und mystischen Symbolen. Die Reporter wurden von Männern mit Hunden und der ägyptischen Grenzpolizei immer weiter zurückgedrängt. Das Tor zu Ellas Gehege wurde aufgesperrt. Stewpot und Juliette führten sie heraus und stützten sie beim Gehen auf jeder Seite, Frank achtete auf ihren Rücken. Ella war lange nicht gegangen. Ihre Beine zitterten. Sie hielt die Augen auf Guntarsons nacktes, feuchtes, weißes Fleisch gerichtet. Vier Ärzte traten vor - Guntarsons eigener, je einer von C N N und der BBC sowie ein erfahrener Mann von der Wallis Unit aus Texas, wo einhundertundsieben Todesurteile vollzogen worden waren. Nacheinander untersuchten sie die Leiche auf Puls, Atmung, Reaktion der Pu389
pillen und Körpertemperatur. Peter Guntarsons Körpertemperatur betrug 26 Grad Celsius. Peter Guntarson war tot. Es folgte die Bekanntgabe: Direktor Guntarson war klinisch tot. Ella ging sehr langsam weiter. Durch die Kamera gesehen wirkten ihre Schritte wie eingebunden in eine feierliche Symbolik, die rund um den Erdball Spannung erzeugte. Sie beabsichtigte das nicht. Sie ging einfach zu Peters Leiche und gleichzeitig nahm sie sich zurück. Sie hatte Angst, ihn zu berühren. Das kalte, weiße Ding auf dem Altar hatte keine Ähnlichkeit mit ihrem lebendigen Peter. Sie blieb stehen und blickte angespannt. Dieser Blick erschien auf einer Milliarde Fernsehbildschirme. In jedem Land gab es zahllose Gläubige, die wussten, dass die Kraft ihres Blickes den Tod besiegen konnte. Die Welt beobachtete Ella und hielt es für möglich, dass sie mit ihrer Willenskraft den Direktor ins Leben zurückholen würde. Sie berührte Guntarsons Hand. Sie berührte seine Stirn. Peter Guntarson begann sich zuerst zwei, dann drei Inches von seiner Marmorplatte zu heben. Ellas leises Keuchen ging im Schreien und Kreischen der Journalisten unter. Die Sicherheitsleute gaben ihren Hunden die lange Leine, und als die Tiere bellten und die Menschen brüllten, schien sich plötzlich der Lärm der Hölle in der Wüste zu entladen. Guntarsons Körper, wieder kalt, weiß und regungslos, sank zurück. Sein Arzt sprang vor und wiederholte seine Tests - kein Puls, keine Pupillenreaktion und ein übler Gestank über der Leiche. Der Arzt drehte sich um, verschränkte die Arme und ließ sie wieder herabhängen und wartete, bis der Lärm abebbte. »Nur Luft«, rief er. »Nur Winde, fürchte ich. Sehr häufig bei Wasserleichen. Luft aus dem Bauch entweicht, und das hat physische Reaktionen zur Folge, die man leicht mit Bewegungen aus eigenem Antrieb verwechseln kann. Mr. Guntarson ist tatsächlich tot, fürchte ich. Wenn Miss Wallis jetzt vielleicht mit ihren Gebeten beginnen möchte ...« Ella kniete vor dem Altar. Immer noch blickte sie auf Peters Leichnam. Sie konnte beten. Sie kannte fast nichts anderes. Sie konnte beten und beten für den Rest ihres Lebens. Einfach hier knien. Peter hatte ihr gesagt, bete, und die ganze Welt betet mit dir. Sie glaubte nicht, dass das für sie galt und nur für sie. Es galt für jeden. Wenn ein Mensch betete, dann hörte Gott das Gebet, als bete die ganze Welt. 390
Aber wenn Peter wieder ins Leben zurückkehrte - was dann? Er hatte versprochen, sie zu heiraten. Sie wusste, er wollte es nicht, aber sie könnte ihn dazu bringen, wenn sie weiter und weiter darauf bestand. Sie wusste, sie könnte es, wenn sie es wirklich wollte. Aber hätte sie dann noch die Energie, sein Herz zu ändern, nachdem sie so enorm viel verbraucht hatte, um es wieder schlagen zu lassen? Das Summen der Kameras war Teil der Stille der Wüste geworden wie das Summen der Hitze. Die ganze Wüste und die ganze Welt sah Ella beten, ohne zu wissen, dass sie um Anleitung betete - kein Gebet um übermenschliche Kraft über den Tod, sondern ein einfaches, menschliches Gebet der Schwäche, eine Bitte um göttliche Hilfe. Ella blickte auf Peter und beneidete ihn. Er musste sich nicht plagen, er lag einfach da. Keine Fragen im Kopf. Keine Journalisten, die ihn anschrien. Niemand drängte ihn zu essen, zu beten, zu reden. Nicht nötig, ihn an Eisenstangen festzubinden. Könnte sie ihn ins Leben zurückholen, indem sie die Plätze tauschten, dann würde sie es tun. Peter lebendig, Ella tot. Aber das wäre so selbstsüchtig. War es nicht Unrecht, Neid zu empfinden? Wie konnte sie ihn gleichzeitig lieben und wünschen, er bekäme ihr Leben, nur damit sie seinen Tod bekäme? Sie liebte ihn. Sie wollte ihm zeigen, wie sehr sie ihn liebte. Es gab eine Möglichkeit, eine gute Möglichkeit. Nicht zu beten. Nicht zu beten, ihn nicht zurückzuholen, ihn nicht auferstehen zu lassen. Ihn zu lassen, wo er war. Im Himmel. All dies ging Ella durch den Sinn, während sie mit gesenktem Kopf vor dem Altar kniete, für die ganze Welt ein Kind, tief im Gebet versunken. Dies war die Antwort, eine Antwort, die sie in ihrem Herzen hörte. Vielleicht war es eine Antwort der Engel. Eine Antwort von dem Mann, der ihre Finger berührt hatte, als sie ihm ihren Teddy gab. Ella hob den Kopf und sah sich um. Am Horizont ragte schemenhaft der Berg Sinai auf. Sie flüsterte ihrer Mutter zu: »Da hinauf möchte ich gehen.« Unter den Kamerateams brach hektische Verwirrung aus. Als Ella in einen der LandRover des Centres gesetzt wurde und zwischen Juliette, Frank und Stewpot kauerte und der Wagen in einer Staubwolke in die 391
Wüste rumpelte, stürzten sich alle auf Joe Dóla. Wohin fuhr Ella, warum fuhr sie weg, was war das Problem, hatte der Direktor noch eine Chance, war alles schrecklich schief gelaufen, hatte Ella je geglaubt, sie könnte wirklich Tote auferstehen lassen, war es Blasphemie, war es unmöglich, war es geplant, würde sie zurückkommen, würde sie bei ihrer Mutter leben, hatte sie ohne Guntarson ihre Kräfte verloren, hat sie deshalb nicht mehr levitiert, hatte Guntarson das nicht rechtzeitig bemerkt, hatte er es in letzter Minute erkannt, hatte Ella ihn ausgetrickst, was nun? Was nun? Und Joe Dóla wusste es einfach nicht. Aber er denke, die Zeit werde es erweisen, und er sei sicher, Ella werde bei Juliette leben, die natürlich seine Klientin sei, und sicher könne er zu einem späteren Zeitpunkt ein paar Interviews arrangieren, die alles klären würden. Und so lange könnten sie ja diesem LandRover hinterherfahren. Tim war mit dem Landrover so weit wie möglich den Berg hinaufgefahren, aber der Aufstieg vom Kloster aus konnte nur zu Fuß bewältigt werden. Generationen von Mönchen hatten vom Katharinenkloster zu einem Amphitheater, den Seven Elders of Israel, 3750 Stufen in den Sinaifels gehauen. Von diesem Amphitheater führten weitere 750 Stufen zu der Kapelle der Heiligen Dreifaltigkeit ganz oben auf dem Gipfel des Berges. Diesen Pfad wollte Ella erklimmen. Stewpot, eine Kamera um den Hals gehängt, sagte: »Soll ich dich tragen?« »Ich kann gehen«, sagte Ella. »Mir geht es gut. Ehrlich. Lass mich gehen, ganz allein. Ein bisschen voraus.« Und mit einer Kraft und Geschmeidigkeit in den Beinen, die Stewpot erstaunte, lief sie los. Er hatte sie sich nie schneller bewegen sehen als mit einem langsamen Humpeln - und ein ganzes Jahr lang war sie überhaupt nicht gelaufen. Und nun stieg sie vor ihm und Tim hinauf und ließ Juliette keuchend zurück. Ihr leichter Schritt war voller Leben, und nur Frank konnte mit ihr mithalten. Stewpot gehorchte einem Impuls, als er die Kamera einschaltete. Hinter diesen raschen Schritten steckte eine Absicht, die er nicht erahnen konnte, aber das Geheimnis elektrisierte ihn. Da war Ella, eine Ella, die tat, was sie wollte. Eine Ella, die Kontrolle übernahm. Das musste er aufzeichnen, obwohl es ihn Mühe kostete, mit einem Auge am Sucher sicheren Tritt zu fassen. 392
Formationen aus braunem Fels zogen sich zur Wüste hinunter wie ein Vorhang, der die Welt dahinter verbarg. Sie kletterten höher und höher, auf zweitausend Fuß, dann auf viertausend. Auf diesem Berg hatte Gott Moses durch einen Felsspalt einen kurzen Blick auf Seinen Rücken offenbart. Juliette blieb mit Tim weit zurück. In dieser Höhe brannte die Sonne nicht weniger heiß, und die Luft war dünner. Zwei oder drei Kamerateams, die sich gefährlich um den besten Blickwinkel stritten, waren Juliette dicht auf den Fersen, aber Ella war schon so weit voraus, dass man sie kaum noch sehen konnte. Ihre lebhafte, federleichte Gestalt flog fast von Steinstufe zu Steinstufe, und mit jeder vergrößerte sich der Abstand zwischen ihr und ihren Verfolgern. Zwei Bögen, das Tor des heiligen Stephanos und das Tor des Glaubens, spannten sich über den Pfad. Und am zweiten blieb Ella stehen und streckte die Hand nach ihrem Bruder aus. Das Licht, das um ihre Hände strahlte, schlug Funken und flammte auf, als sich ihre Finger einen Augenblick lang ineinander verflochten. Frank ließ sie los und trat zurück. Auf seinem Gesicht glitzerten Tränen. Und Ella wandte sich ab und entfernte sich vom Weg. Obwohl Stewpot fast rannte, lag er zwanzig Yards zurück. Er versuchte, die Videokamera auf Ella zu richten, die über die zerklüfteten Felsen neben den Stufen kletterte. Der Griff ihrer Hände war kraftvoll, und ihre Tritte waren sicher. Diese schwächliche Bergsteigerin schien keine Angst zu haben abzurutschen. Stewpot rief ihr nach: »Wo gehst du hin? Ella! Was ist da oben? Soll ich hinterher?« Ella bedeutete ihm mit einer Armbewegung, auf dem Pfad zu bleiben. Sie streckte ein Bein auf das flache Dach des Tors des Glaubens, zog sich hinüber und ganz hinauf. Rings um sie herum stürzte der Berg jäh ab. Und plötzlich trat sie vor. Hinaus in die Luft. Juliette in der Ferne schrie auf. Aber Ella fiel ohne einen Laut. Ihre Leiche wurde nie geborgen. Sie wurde nie gefunden. Mutmaßungen gingen davon aus, sie könnte zwischen den Felsen verkeilt sein, unmöglich zu entdecken hinter einer Felszunge. Oder sie könnte von Luftströmungen weggetragen worden sein, so federleicht, wie sie war, in eine geheime, unbekannte Höhle geweht worden sein. Viele glaubten, ihr Körper sei wie der der heiligen Katharina zwei Jahrtausende 393
zuvor von Gesandten Gottes in den Himmel hinaufgetragen worden. Oder ihre Knochen seien so zart gewesen sind, dass der Wind und der Staub sie auflösten. Eine Kamera hatte ihren Fall festgehalten. Auf dem Video schien sie einen winzigen Augenblick lang nicht zu stürzen, sondern nach vorn zu fliegen. Ella schnellte in weniger als einer Sekunde aus dem Bild, eine Sekunde, die die Uhr im Display der Kamera automatisch festgehalten hatte. Die Zahlen waren in die obere rechte Ecke des Bildes eingebrannt - 11:11:11. Die Einzelbildfolge wurde in Labors auf jedem Kontinent genauestens analysiert. Das letzte Bild unterschied sich von denen davor. Ella schien von einem Lichtkristall umhüllt. Feine goldene Kanten bildeten deutlich sichtbar fünf Wände um sie, die sich zu ihrem Kopf und ihren Füßen hin zu einer Spitze verjüngten. Wissenschaftler versuchten zu demonstrieren, dass Sonnenlicht, das sich auf dem Objektiv brach, diesen Effekt erzeugt haben könnte. Andere nannten den Kristall einen Schlüssel, einen Schlüssel, der in die Schlösser des Himmels passte. Ein paar Zyniker meinten, sie habe sich wohl in Sicherheit levitiert. Viele fromme Bewunderer glaubten, ihr Körper existiere nicht mehr in dieser Welt, er habe sich dematerialisiert, sich in eine andere Dimension bewegt und werde eines Tages wiederkehren, wenn die Welt sie am dringendsten brauche. Stewpot hatte sie fallen sehen. Und er blieb unverändert dabei, dass Ella Wallis in dem Moment, in dem sie den Pfad verlassen habe, Flügel gewachsen seien und sie als Engel in den freien Raum geflogen sei.
»Denn bei dem Herrn ist die Gnade und viel Erlösung bei ihm.« PSALM, KAPITEL 130, VERS 7
Es ist aber der Glaube eine gewisse Zuversicht, das man hoffet, nicht zweifelt an dem, was man nicht siehet. BRIEF AN DIE HEBRÄER, KAPITEL 11, VERS 1
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ANMERKUNG DES AUTORS
W
o ich bei der Schilderung paranormaler Phänomene nicht auf persönliche Erfahrungen zurückgreifen konnte, habe ich ausführlich in verschiedenen Quellen recherchiert.
Eine der fesselndsten war die Monografie des Jesuitenpriesters Herbert Thurston, The Physical Phenomena of Mysticism (Burns Oates, 1951). Beginnend mit Dutzenden Berichten von Levitationen, fährt er detailliert fort mit allen möglichen unheimlichen und wunderbaren Dingen. Ein Kapitel ist unglaublicher als das andere, und alle basieren auf zuverlässigen Beweisen von Augenzeugen. Das Phänomen von Ellas Heiligenschein hat sich daraus entwickelt. Die besten und überzeugendsten Beschreibungen von Levitation schildert Madame Homes rosarote Biografie über ihren Ehemann: DD Home, His Life And Mission, herausgegeben von Sir Arthur Conan Doyle (Kegan Paul, Trench, Trubner und Co., 1921). Ebenfalls eine ergiebige Quelle ist Nandor Fodors An Encyclopaedia of Psychic Science (erstmals erschienen 1934; mein Exemplar war eine Neuauflage von Citadel Press, Secaucus, New Jersey, 1966). Und in Verbindung mit diesem Buch gibt es eine Geschichte, die zu glauben Ihnen vielleicht schwerfällt, denn ich kann sie fast selbst kaum glauben. In der Nacht, als ich Ella beendete, lehnte ich mich in meinem Sessel zurück und griff nach etwas zu lesen. Meine Hand fiel auf Fodors Enzyklopädie. Vielleicht, weil ich gerade die Arbeit an meinem eigenen Buch beendet hatte, schlug ich die letzte Seite auf, und zum ersten Mal las ich Fodors letzten Eintrag. Er betraf ein pubertierendes Mädchen in Rumänien nach dem Ersten Weltkrieg, das im Mittelpunkt von Poltergeistphänomenen stand. Gegenstände bewegten sich und flogen herum, und Stigmata zeigten sich - ihre Hände, Füße und das Gesicht bluteten, als litte sie an den gleichen Wunden wie Christus bei der Kreuzigung. 395
Ihre Familie und die Nachbarn glaubten, sie sei vom Teufel besessen, und ließen sie in einer Irrenanstalt einsperren. Und ihr Name? Ihr Name war Ella - genauer gesagt, Eleonore Zügun. Die Kraft des Gebetes stößt inzwischen auch auf ernsthaftes wissenschaftliches Interesse; in klinischen Versuchen in den USA wird erforscht, ob Patienten rascher gesund werden, wenn für sie Gebete gesprochen werden. In einem CNN-Bericht äußerte Dr. Herbert Benson von der Harvard Medical School in Boston, USA, seine Überzeugung, der Glaube an sich könne heilen. In der Ausgabe des The International Journal of Psychiatry In Medicine enthüllte Dr. Harold Koenig einen Zusammenhang zwischen regelmäßigem Gottesdienstbesuch und guter Gesundheit. Seine Studie mit mehr als 1700 Personen in North Carolina ergab, dass sechzig Prozent mindestens einmal in der Woche in die Kirche gingen - und diese hatten mit doppelter Wahrscheinlichkeit ein stärkeres Immunsystem als ihre weniger frommen Nachbarn. Dr. Koenig schloss daraus: »Es wird viel Negatives über Religion gesagt, aber in Bezug auf mentale und physische Gesundheit scheint sie große Vorteile mit sich zu bringen.« Psychokinetische Tests nach dem Zufallsgenerator in der Princeton University, New Jersey, von Professor Robert Jahn durchgeführt, bewiesen abschließend, dass normale Menschen die Wiederkehr bestimmter Zahlen bestimmen können - einfach durch Konzentration ihrer Gedanken auf den Computer. Tausende dieser Mindpower-Experimente mit Hunderten Versuchspersonen wurden aufgezeichnet. »Es scheint sich um eine allgemein verbreitete Fähigkeit zu halten«, sagte Professor Jahn. Die Chancen, dass Jahns Ergebnisse Zufallstreffer waren, wurden mit eins zu 1000 Milliarden beziffert. Der Psalm 130, das De Profundis, ein Auszug daraus schließt Ellas Geschichte, ist eine der schönsten und am stärksten nachhallenden Passagen der Bibel. Das Buch der Psalmen ist eine Sammlung von Gebeten, Juden und Christen gleichermaßen heilig. Meine Enzyklopädie bezeichnet Psalm 130 als Appell an göttliche Gnade und Reinheit des Herzens, sehr bewegend inspiriert durch die Gewissheit, dass Gott hören und antworten wird. Nichts könnte Ellas Geist prägnanter beschreiben, 396
trotzdem wählte ich das Zitat ohne Vorbedacht: Meine Bibel öffnete sich auf dieser Seite und mein Blick fiel auf diesen Vers. Manche meiner Bücher und eine Menge weiterer unglaublich interessanter Informationen und Bilder stehen auf meiner Website www.urigeller.com. Und eine letzte Anmerkung: Nachdem Sie Ella gelesen haben, kann sich die Zahl elf in Ihrem Leben immer wieder in unterschiedlicher Form zeigen. Ihre Aufmerksamkeit wird um genau 11:11, 11:01, 10:11, 10:10, 10:01 und 01:01 auf Uhren gelenkt werden. Wenn Sie mehr Informationen über dieses Phänomen erhalten möchten, so gibt es sie auf meiner Website unter dem Stichwort »If your eyes are attracted to 11:11«. Meiner Meinung und meiner Intuition nach stellt diese endlose Wiederholung der Zahl 11 in irgendeiner Weise eine positive Verbindung oder einen Zugang zu den Geheimnissen des Universums und darüber hinaus dar. Ich wünsche Ihnen Gesundheit, Glück und Seelenfrieden und schicke Ihnen viel positive Energie und Liebe. Uri Geller
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