Seewölfe Kosaren der Weltmeere Nr. 456
Fred McMason
Eisige Höhen Ein Seeabenteuer-Roman
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Wenn die Männer, die auf...
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Seewölfe Kosaren der Weltmeere Nr. 456
Fred McMason
Eisige Höhen Ein Seeabenteuer-Roman
2
Wenn die Männer, die auf der ›Estrella de Málaga‹ und der ›San Lorenzo‹ zurückgeblieben waren, gedacht hatten, ihr Gefangener sei an Leib und Seele gebrochen, so harten sie sich getäuscht. Luis Carrero brachte das Unwahrscheinliche fertig, von Bord der ›Estrella‹ zu fliehen. Dazu hatte er zwei Männer besinnungslos geschlagen: Luke Morgan und Jack Finnegan. Ihre Waffen hatte er mitgehen lassen. Und wenn er es schaffen sollte, Arica zu erreichen, dann waren Hasard und seine Männer, die nach Potosí aufgebrochen waren, verloren, denn Eilboten würden von Arica nach Potosí in Marsch gesetzt werden, um den Provinzgouverneur zu alarmieren. Es war die Idee der Zwillinge, Plymmie auf die Spur des Flüchtigen zu setzen und ihn zu jagen… Die Hauptpersonen des Romans: Philip Hasard Killigrew – muß feststellen, daß die Bergwelt noch mörderischer als die See ist. Pater Aloysius – ohne den Pater aus Tirol wären die Männer verloren. Edwin Carberry – kann sich auf seinen Maulesel Diego verlassen, der trotzdem seine Eigenheiten hat. Fred Finley – saust über eine Eisfläche und kann froh sein, daß sein Schädel heil bleibt. 1. 28. November 1594 Tacna. Das ›Unternehmen Potosi‹ begann um neun Uhr morgens, denn jetzt war die zwölf Mann starke Truppe komplett. Als Führer, der die Bergwelt der Kordilleren genau kannte, hatte man den Dominikanerpater Aloysius gewonnen. 3
Dieser Pater Aloysius entsprach überhaupt nicht der Vorstellung von einem ehrbaren Mönchlein oder gar Betbruder. Er war ein kraftvoller, sehniger Typ mit kühn geschnittenem Gesicht, sehr scharfblickenden Augen, breiten Schultern und schmalen Hüften. Er sah eher wie ein Bilderbuchpirat aus, und er verstand es meisterhaft, seine Fäuste einzusetzen, wenn ihm das der Herr im Himmel befahl. Und da Pater Aloysius einen guten Kontakt zum Herrn unterhielt, befahl der Herr das offenbar recht oft. Die Männer waren abmarschbereit. Auch die acht Maultiere, die sie von den Spaniern erbeutet hatten, als sie das Tacnatal überfielen, um Sklaven für Potosi zusammenzutreiben, waren bepackt und beladen. Da mangelte es an nichts mehr, es war an alles gedacht worden, denn in den eisigen Bergregionen der Kordilleren warteten Strapazen auf sie, die vorerst noch unvorstellbar für die meisten waren. Noch keiner von ihnen war in derartige Höhen aufgestiegen. Die Maultiere trugen Proviant, Trinkwasser, Wein in Schläuchen, Waffen, Decken, Zeltplanen, Pickel, Seile und Kleidung. Im Tal hing leichter Nebeldunst, den die Sonne langsam vertrieb. Die Mulis scharrten bereits ungeduldig mit den Hufen, als könnten sie den Aufbruch kaum noch erwarten. Hasard hatte eine allerletzte Kontrolle angeordnet, damit auch wirklich nichts vergessen wurde. Nein, da fehlte nichts, auch nicht die Kiste, die der Kutscher Smoky mitgegeben hatte, damit die Männer unterwegs auf ein ›heilsames Wässerchen‹ nicht verzichten mußten. In den eisigen Höhen konnte man es gut gebrauchen. Die Kiste hatte der Profos Edwin Carberry an seinem Maultier verstaut. Mit diesem Maultier hatte es ebenfalls eine besondere Bewandtnis, denn das war kein normales Halbeselchen, sondern schon mehr eine Art Kuriosum. Es hatte seine ganz besonderen 4
Vorstellungen und ließ sich nicht einfach kommandieren. Es entwickelte sozusagen Eigeninitiative, mal biestig, mal tückisch, dann wieder lammfromm. Und dann hatte dieses merkwürdige Vieh noch ein ›gewisses dämliches Grinsen‹ drauf, wie der Profos das ausdrückte. Es schob die Lefzen so hoch, bis alle Zähne zu sehen waren, und es schien wirklich, als würde sich das Maultier mitunter köstlich amüsieren. Es hatte ganz besonders den Profos auf dem Kieker, der zusammen mit Smoky schon einen Höllentanz mit diesem Biest hinter sich gebracht hatte. Alle beide waren dabei ganz erheblich ins Schwitzen geraten. Carberry hatte auch schon einen Namen für den Maulesel gefunden. Der hieß schlicht und einfach Diego, im Gedenken an den Wirt der ›Schildkröte‹ auf Tortuga. Der Profos behauptete allen Ernstes, der seltsame Maulesel stehe Diego an Schlitzohrigkeit und Durchtriebenheit in nichts nach. Seit der letzten Attacke, bei der Smoky in einem Baum gelandet und der Profos gegen den Stamm geschleudert war das Halbeselchen hatte kräftig zugelangt –, verhielt es sich lammfromm und friedlich. Nur das hinterhältige und boshafte Grinsen störte und irritierte Edwin Carberry noch ein wenig. Aber er hatte sich ausbedungen, diesen Maulesel beim Marsch nach Potosi zu führen und zu betreuen, denn es war ihm doch mächtig gegen den Strich gegangen, daß Dan O'Flynn fast spielerisch mit dem störrischen Vieh fertig geworden war. Jetzt aber verhielt sich Diego friedlich und hatte sich vom Profos geduldig alles aufpacken lassen. Aus den Hütten waren die Indios erschienen, um die Männer, deren Mission ihnen bekannt war, zu verabschieden. Auch die Mönche des Klosters standen wartend da, denn Pater Franciscus wollte jeden einzelnen des Potosi-Trupps noch segnen. 5
»Unsere guten Wünsche begleiten euch«, sagte Pater Franciscus. »Kehrt gesund zurück, wenn ihr eure Mission abgeschlossen habt. Gott sei mit euch.« Der Pater schritt die Front ab und segnete jeden Mann mit dem Kreuzzeichen. Aloysius, der kein Freund großer Abschiedszeremonien war, begann langsam ungeduldig zu werden. »Auf geht's«, verkündete er unternehmungslustig. Doch der Abschied verzögerte sich noch einmal. Grund war ein gewisser Diego, der immer so dämlich grinste und jetzt wieder mal seine eigenen Vorstellungen entwickelte. Dem Maultier schien das alles zu lange zu dauern, oder es wurde ganz einfach ungeduldig. Es schor aus der Reihe und trabte seelenruhig zum Rio de Tacna hinüber. »Mistvieh«, fluchte der Profos unterdrückt. »Geht der Affenzirkus schon wieder los!« Carberry rannte dem eigensinnigen Maultier nach und hängte sich fluchend an die linke Seite. Dann wollte er es aufhalten, doch zu seinem allergrößten Erstaunen schien das Vieh die Kraft von ein paar Ochsen zu haben. Es zog unerbittlich weiter. »Aber doch nicht mit mir, du Furzesel«, knurrte der Profos. Er setzte alle Kräfte ein, um das Vieh zu bremsen. Doch noch einmal erlebte der Profos staunend eine Überraschung. Er hatte wahrhaftig Kräfte wie ein Ochse, aber das Maultier hatte eben doch ein paar Kräfte mehr, wie er verblüfft feststellte. Das Vieh zog und zog, und ließ sich durch nichts aufhalten, um an den Rio de Tacna zu gelangen. Der Profos wurde mitgezogen, ob er wollte oder nicht. Vielleicht will Diego aber auch nur noch einmal Wasser saufen, dachte Ed, obwohl das Biest gerade vor kurzer Zeit unglaubliche Mengen Wasser gesoffen hatte. Noch einmal versuchte es Carberry mit roher Kraft und zerrte 6
an dem eigensinnigen Maultier. Es half nichts, der Bock zog stur und unbeirrbar weiter zum Fluß hin. Kurz vor dem Fluß sah der Profos einmal über die Schulter zurück. Natürlich lachten die Kerle wieder, auch der Pater Pancrazius, der dicke Mönch mit den rosigen Wangen, grinste bis zu den Ohren. Der Profos lief knallrot an, teils aus Wut, teils aus Ärger, weil er dieses Vieh nicht bremsen konnte und das Maultier ihn damit der Lächerlichkeit preisgab. Er fluchte erbittert und beleidigte das Halbeselchen mit den unflätigsten Ausdrücken. Dann war es endlich am Fluß und hielt an. Ed atmete erleichtert auf. Wenn er dem Vieh jetzt gut zuredete, würde es vielleicht wieder gütigst umkehren. Aber in Diego steckte der Teufel, oder der alte O'Flynn hatte es wieder verhext, wie Smoky schon einmal behauptet hatte. Vielleicht hexte er wieder von der Schlangen-Insel aus, um den Profos ein bißchen zu ärgern. Diego schwenkte fast elegant, aber sehr schnell, das Hinterteil vor, und wich gleichzeitig nach rechts aus» Für den Profos erfolgte der Schlag unerwartet und viel zu schnell. Er konnte auch nicht mehr ausweichen. Diegos Hinterteil traf ihn mit der Wucht einer Ramme. Carberry stieß vor Überraschung einen erstickten Schrei aus. Dann flog er mit ausgebreiteten Armen durch die Luft und landete im Wasser des Rio de Tocna. Für die anderen Männer sah das so aus, als hüpfe ein riesiger Frosch ins Wasser. Carberry landete mit einem lauten Aufklatschen im Fluß und ging unter. Er schluckte auch Wasser, tauchte prustend auf und stieß einen Fluch aus, der durch das ganze Tal hallte. Was ihn dabei noch zusätzlich ärgerte, war das Benehmen des dreimal verdammten Maultieres. Das stand am Ufer, hob wieder 7
die Lefzen, bleckte die Zähne und stieß ein schauriges Gemisch aus lautem Meckern, Lachen und Wiehern aus. Dazu nickte es boshaft mit dem Schädel. Dann drehte es sich um und trabte seelenruhig zurück. Kurz darauf stand es wieder auf seinem alten Platz in der Reihe. Die Männer des Potosi-Trupps lachten Tränen, die Padres krümmten sich vor Lachen, und die Indios hielten sich die Bäuche. Sie lachten am lautesten. »Mann, ist das ein Bild«, sagte Stenmark unter Tränen. »Das vergesse ich so schnell nicht.« »Er sah aus wie ein Riesenfrosch«, behauptete Gary Andrews, »der gerade zum Sprung ansetzt.« Mel Ferrow, Fred Finley, Matt Davies und die anderen konnten sich immer noch nicht beruhigen. Der Profos entstieg wie ein schnaubender Rachegott den Fluten des Rio de Tacna. Triefnaß, das Rammkinn wie einen Galeerensporn vorgeschoben und mit rollenden Augen kroch er ans Ufer. Er sah aus, als wolle er die ganze Welt ausrotten. Dazu klang ihm noch das laute Gelächter der Kerle entgegen, und er sah, wie Diego wieder die Lefzen hochzog und so dämlich grinste. So in Braß wie jetzt war der Profos schon lange nicht mehr gewesen. »Dem zieh ich die Haut in Streifen von seinem Eselsarsch!« brüllte er. Er walzte heran, der Profos, geladen bis zum Bersten, triefend wie ein narbiger Meergott, der jetzt seine Rache nahm. Das Halbeselchen hörte vor Schreck auf, ›so dämlich zu grinsen‹, und es nickte auch nicht mehr, als der Koloß stocksauer heranwalzte. Der kriegte es fertig und würde das Muli durchwalken. Hasard trat zwei Schritte vor und blieb dicht vor Carberry stehen. Auf seinem Gesicht lag noch die Andeutung eines Lächelns. Die anderen grinsten immer noch ganz offen, besonders Matt Davies, der sich mit der Hakenprothese dauernd auf die Schenkel hieb. 8
»Um den Abmarsch nicht noch länger zu verzögern«, sagte Hasard sanft, »schlage ich vor, daß du dir erst einmal trockene Klamotten anziehst. Du kannst dir die Plünnen ja schließlich nicht am Leib trocknen lassen. Vielleicht ist es auch ganz ratsam, wenn Dan das Maultier wieder übernimmt, der hat es ja gut im Griff.« »Im Griff?« schrie der Profos. »Gar nichts hat der im Griff! Das fasse ich als Degradierung auf, Sir, und es würde auch verdammt an meiner Ehre kratzen. Nein, nein, das Maultier behalte ich. Mein kleines Diegolein mag mich, das hat es schon oft bewiesen.« »Ja, gerade jetzt eben«, sagte Hasard ironisch. »Da hat es dir vor lauter Liebe ein Bad verordnet. Also gut, du behältst dein Diegolein, wenn es dich so mag.« Hasard steckte zurück, weil mit dem Profos über Tiere nicht zu reden war. Er kannte das ja von Sir John her. Wenn einer über das schimpfende und krakeelende Biest meckerte, dann reagierte der Profos meist sehr empfindsam. »Danke, Sir.« Matt Davies, der immer noch grinste, konnte es allerdings nicht lassen, und spielte auf den redseligen Papagei Sir John an. »Sei nur froh, daß Maultiere keine Papageien sind. Dein Diegolein würde sonst auch noch den ganzen Tag quatschen.« »Fängst du schrägkarierte Fockmastwanze jetzt auch noch an?« knurrte Ed. »Dich häng ich ins…« Der Profos verstummte, denn Diego reckte den Schädel hoch und stieß wieder dieses eigenartige Meckern aus, das an Gelächter erinnerte. Dann zuckten die Männer verstört zusammen, als eine donnernde Blähung erfolgte. Auch das war so eine Angewohnheit von dem Maultier Diego. Diesmal grinste der Profos etwas von oben herab. Er wischte sich das Wasser aus dem Gesicht und sagte trocken: »Diego hat nur über den blöden Witz von Mister Davies gelacht und gleich9
zeitig ausgedrückt, daß das der reinste Scheiß sei.« »Aber ein Maultier von ganz besonderer Art ist das schon«, meinte Karl von Hutten. »Es paßt zum Profos wie die Faust aufs Auge.« »Nun zieh dir endlich trockene Klamotten an«, sagte Hasard etwas ungeduldig. »Sonst stehen wir hier morgen noch herum. Im übrigen ist ein Kloster nicht der rechte Ort, um ellenlange Flüche abzuladen.« Während der Profos mit Padre Pancrazius im Kloster verschwand, um seine Sachen zu wechseln, holte Aloysius eine Handskizze hervor und überflog sie noch einmal. Gestern hatte er sie angefertigt und gab noch einmal für die Männer Erklärungen ab. »Wir werden schon sehr bald den Klimaumschwung spüren. Im Tiefland der Llanos herrscht bis in etwa tausend Yards Höhe noch ein volltropisches Klima. Deshalb nennt man diese Zone Tierra caliente, was soviel wie heißes Land bedeutet. In den Yungas dagegen herrscht bis etwa zweieinhalbtausend Yards Höhe noch subtropisches Klima. Diese Zone wird von den Dons Tierra templada genannt, ist also mäßig warm. Das nächste Hochland, das bis viertausend Yards reicht, ist die Tierra ria. Sie hat kühles Klima mit geringen Jahres-, aber sehr starken Tagesschwankungen. Wir stoßen bis weit über die Schneegrenze vor, in Regionen, die mehr als eisigkalt sind, das ist die frostige und eisige Zone der Tierra helada. Das ständig schneebedeckte Land noch darüber nennt man die Tierra nevada.« Hasard hatte sehr aufmerksam zugehört und nickte jetzt. »Zunächst ziehen wir also ostwärts am Rio de Tacna entlang. Dann steigen wir zum Tacora-Paß auf?« »Sehr richtig. Da haben wir schon eine Höhe von über viertausend Yards erreicht. Den Pico Tacora lassen wir links, also nördlich, liegen und bewegen uns weiter zwischen dem Sajama-Berg 10
und dem Lago de Chungara auf den Altiplano zu. Dann liegt vor uns die Puna eine öde, baumlose Ebene zwischen West- und Ostkordillere. Man sagt, daß es dort früher mal zwei ausgedehnte Binnenmeere gegeben habe, von denen heute nur noch der Titicacasee und der Poopösee übriggeblieben sind.« »Merkwürdige Namen«, sagte Stenmark. »Wenn das der Profos hört, dann grinst er wieder bis über beide Ohren.« »Die Namen stammen aus der Inka-Zeit«, sagte Aloysius lächelnd. »Sie klingen nur für unsere Ohren ungewohnt. Aber euer Profos wird ganz sicher bald eine Verballhornisierung dafür finden.« »Was für 'n Ding?« fragte Matt Davies. »Eine Art Verschlimmbesserung«, sagte der Padre. »Das ist abgeleitet von dem Lübecker Buchdrucker Johan Balhorn, dem man das wohl zu Unrecht unterschoben hat.« Dieser Padre mit dem kühnen Piratengesicht weiß gut Bescheid und kennt sich in allen Dingen aus, dachte Hasard. Er würde sie sicher durch die tückische Bergwelt der Kordilleren führen. Er und der Seewolf besprachen noch ein paar weitere Einzelheiten. »Den Altiplano werden wir in südöstlicher Richtung mit Zielpunkt südliche Spitze Poopösee überqueren«, sagte der Padre gerade, als der Profos zurückkehrte. Er trug trockene Sachen und hatte die nassen Klamotten als Bündel zusammengeschnürt. Er hörte gerade noch die letzten Worte des Padre, und schon grinste er wieder. »Wenn der See so aussieht, wie er heißt«, meinte er trocken, »dann hätte man ihn gleich Achtersteven-Teich nennen können.« »Na, was sagte ich«, meinte Aloysius lachend. »Bruder Edwin hat schon wieder einen Namen gefunden. Bist du schon gesegnet worden, Bruder?« »Ja«, sagte Ed, »gerade vorhin. Aber viel geholfen hat es nicht. 11
Diego hat mich trotzdem in den Fluß geschubst.« Die Männer verkniffen sich nur mühsam das Lachen. Selbst Pater Franciscus lächelte nachsichtig. Dem Abmarsch stand jetzt nichts mehr im Wege. Diego verhielt sich lammfromm und setzte sich gehorsam in Bewegung. Indios und Padres winkten dem zwölf Mann starken Trupp noch lange nach, bis sie sie aus den Augen verloren. Der Aufstieg in die Berge begann. 2. Von Tacna bis zum Tacora-Paß war die Strecke etwa vierzig Meilen lang vorausgesetzt, sie hätten geradeaus marschieren können. Aber auf diesem Weg mußte ein gewaltiger Höhenunterschied bewältigt werden, der etwa dreitausendsiebenhundert Yards betrug. Die Mulis trotteten dahin. Anfangs unterhielten sich die Männer noch miteinander, doch je höher sie aufstiegen, desto schweigsamer wurden sie. Nur hin und wieder wurden noch ein paar Worte gewechselt. Auch das Klima hatte es in sich. Schien die Sonne, dann brannte sie heiß vom Himmel, daß ihnen der Schweiß über die Gesichter lief. Verschwand die Sonne, wurde es fast übergangslos eiskalt. Die Berge wuchsen immer höher in den Himmel. Es sah so aus, als würden sie ins Unermeßliche wachsen. Um sie herum wurde die Stille fast greifbar. Da war nur das leise Scharren der Hufe und das Atmen der Männer zu hören. Carberry beobachtete die anderen Mulis. Die Tiere hatten die Köpfe gesenkt und trabten dahin. Diego schien es überhaupt nicht zu belasten, daß die Wege immer steiler wurden. Vollgepackt und beladen trottete er mit nickendem Schädel weiter, nur 12
hin und wieder bleckte er sein Gesicht, um ›dämlich zu grinsen‹. Der erste Tag ließ sich noch ganz gut an, auch der nächste verging ohne nennenswerte Ereignisse, obwohl die Luft spürbar dünner wurde. Am übernächsten Tag, es war der dreißigste November, sah Pater Aloysius die Männer unauffällig an, musterte sie aber trotzdem sehr genau, denn er hatte längst bemerkt, daß einige Mühe hatten. Jean Ribault, der Franzose, war es, bei dem es zuerst begann. Er atmete heftiger und schnappte gierig nach Luft. Vor seinen Augen begann die Bergwelt zu flimmern. Er fühlte sein Herz überlaut und schnell in der Brust schlagen. Dazu plagte ihn ein ständiger Kopfschmerz, und er hatte jeden Augenblick das Gefühl, als würde er stürzen. Sie waren jetzt fast zweitausendachthundert Yards hoch. Jetzt setzte zum ersten Mal die berüchtigte ›Soroche‹ ein. Pater Aloysius kannte diese Erscheinungen, die bei Ribault begannen. Der Franzose begann von einer Seite zur anderen zu taumeln. Ständig verschwamm vor seinen Blicken alles. Sein Herz klopfte noch rasender. Er griff nach dem Zügel des Maultieres, griff aber daran vorbei, weil er es nur undeutlich sah. »Halt!« rief Aloysius. »Der ganze Trupp halt!« Männer und Mulis blieben stehen. »Es hat Ribault erwischt«, sagte Karl von Hutten zu Hasard. »Offenbar ist ihm schlecht geworden.« Mel Ferrow, Fred Finley und der Profos waren schon bei ihm, um ihn zu stützen. »Mir ist verdammt schlecht«, sagte Ribault. »Ich sehe euch alle doppelt und dreifach.« Aloysius nahm eine Decke, breitete sie auf dem Boden aus und ließ Ribault darauf sitzen. »Ihr habt lange durchgehalten«, sagte der Padre, »ich hatte 13
schon früher mit der Soroche gerechnet.« »Aber Jean ist ein harter Kerl«, meinte der Profos, »den wirft doch sonst nichts um.« »Das hat damit nichts zu tun. Auch die Stärksten sind dieser Erscheinung nicht gewachsen. Man kann sich auch nicht übergangslos an dünnere Luft gewöhnen. Dazu braucht man eine Weile.« »Vielleicht hilft ein Schnaps dagegen oder zwei«, sagte der Profos, der gern alles mit Schnaps kurierte und gleich vorbeugend einen zur Brust nehmen wollte. Doch der Padre schüttelte den Kopf. »Nein, der hilft nicht. Wir sind jetzt fast dreitausend Yards hoch, es fehlen nur noch ein paar Yards. Und in dieser Höhe reicht der Sauerstoff nicht mehr zur Versorgung des Körpers aus. Da fehlt der Druck. Und das macht sich eben in Mattigkeit, Schwindelgefühl, Herzklopfen und Übelkeit bemerkbar.« »Wie können wir ihm denn helfen, Padre?« fragte der Seewolf. »Nur die Zeit kann ihm helfen und den anderen auch. Ich schlage vor, wir errichten weiter oben ein Biwak. Dort ist ein kleines Plateau, auf das dieser Bergpfad mündet. Wenn wir da ein oder zwei Tage bleiben, habt ihr euch alle besser eingewöhnt, und unserem Bruder Ribault wird es wieder besser gehen.« »Der Körper stellt sich also um?« fragte Dan O'Flynn. »Ja, er stellt sich um und gewöhnt sich daran. Ich litt auch mal unter dieser Bergkrankheit, als ich zu rasch in große Höhen aufstieg. Aber seither habe ich keine Probleme mehr.« »Einverstanden«, sagte Hasard, »dann biwakieren wir auf diesem Plateau. Für die anderen wird es wohl auch besser sein.« »Ganz sicher. Es ist nicht mehr weit bis dorthin. Wir werden unseren Bruder stützen, damit er nicht taumelt oder fällt. Wie geht es dir jetzt?« erkundigte er sich. »Ich ich hätte das nicht geglaubt«, sagte Jean. »Mir ist, als sei 14
ich geistig weggetreten. Aber mir ist immer noch übel.« Nach jedem noch so kleinen Satz mußte er eine Pause einlegen, weil ihm das Sprechen schwerfiel und er wieder an Kurzatmigkeit litt. Vor seinen Augen drehte sich immer noch alles. »Das wird sich bald ändern.« »Wie sieht es bei den anderen aus?« fragte Hasard. Pater David verspürte überhaupt nichts, auch der Profos, von Hutten und Dan O'Flynn nicht. Aber Stenmark und Gary Andrews hatten einen leichten Druck im Schädel, ein wenig Kopfschmerzen, wie sie sagten. Sie warteten noch eine Viertelstunde. Dann wurde Ribault von Finley und Mel Ferrow gestützt, und es ging weiter dem Plateau entgegen, wo sie eine längere Rast einlegen wollten. Der Bergpfad wurde schmaler. Sie mußten jetzt hintereinander gehen. Ringsum ragten die Felsen steil auf. Sie waren mit moosartigem Überzug bedeckt. Auf manchen fristeten Flechten oder kleine Krüppelpflanzen ihr kärgliches Dasein. Ein scharfer Wind blies ihnen in die Gesichter. Das Lüftchen wehte so ganz anders als in der Karibik, wie sie es gewohnt waren. Aber dafür knallte ihnen die Sonne heiß in die Gesichter. Die Landschaft um sie herum wurde immer urwüchsiger und gewaltiger. Die Bergwelt begann zu ›drücken‹, wie Stenmark sagte. »Ja, das erscheint anfangs so«, gab der Padre zu, »aber auch das ändert sich bald. Diese Region ist noch relativ harmlos. In den Punas wird es dann etwas ungemütlicher.« Aus der Terra caliente waren sie über die Yungas aufgestiegen und befanden sich jetzt schon oberhalb der Tierra templada. Aber ein sehr weiter Weg lag noch vor ihnen. Etwas später erreichten sie das Plateau. Über der einsamen Bergwelt kreiste in großer Höhe ein Kondor, der Herrscher der Lüfte, der ruhig und ohne Flügelschlagen 15
seine Kreise am Himmel zog. »Den juckt das Klima nicht«, sagte Ed, »und beim Aufstieg hat er auch keine Mühe. Flattert einfach los und hebt ab. Der ist direkt zu beneiden.« Auf dem Plateau ragten zwei Felswände wie große Nasen hervor. Pater Aloysius deutete auf die Stelle. »Dort werden wir die Zelte aufschlagen, der Platz ist einigermaßen geschützt. Wenn ihr den Mulis die Lasten abnehmt, vergeßt nicht, die Tiere in die groben Decken zu hüllen.« Das Abladen begann augenblicklich. Diego grinste wieder so dämlich, als der Profos ihn von seiner Last befreite. »Fang mir hier oben ja keinen Ärger an, du Trompeter«, mahnte der Profos. »Hier hört nämlich der Spaß auf, wenn man in einer Schlucht landet.« Diego nickte, als hätte er jedes Wort verstanden. Der Profos wurde das Gefühl nicht los, als sei dieser Halbesel irgendwann einmal im Zirkus aufgetreten, denn er benahm sich ganz anders als die anderen Maultiere. Vielleicht hatte ihn sein Vorbesitzer auch abgerichtet, möglich war das ja durchaus. Auf dem Plateau wuchs polsterartiges Grün, das sich jedoch als ziemlich dürr und trocken erwies. Überall war der Boden mit diesen Büscheln bedeckt. Die genügsamen Mulis fraßen auch das Zeug oder knabberten an Moosen und verkrüppelten Sträuchern herum. »Die Buckel am Felsboden sind Llareta-Polster«, erläuterte der Padre. »Es gibt sie auch noch in Massen am Altiplano. Die Polster eignen sich hervorragend zum Feuer entzünden und dienen den Indios als Brennmaterial.« Während abgeladen und die Zelte aufgeschlagen wurden, ging Hasard zu Jean Ribault hinüber, der auf einer Decke am Felsen saß. 16
»Geht es besser?« fragte er mitfühlend. »Nicht besonders, aber das Schwindelgefühl scheint sich langsam zu bessern. Daß ich einmal unter Höhenkrankheit leide, hätte ich mir nie vorgestellt.« »Das gibt sich schon bald wieder, Jean.« Hasard klopfte seinem alten Kampfgefährten aufmunternd auf die Schulter. Pater Aloysius kramte in einer Kiste und brachte einen irdenen Topf zum Vorschein. Er nahm den Holzdeckel ab und sah hinein. Der Topf war bis obenhin mit grauweißer Salbe gefüllt. »Hm, das riecht aber fein«, sagte Stenmark naserümpfend, »so nach Affenfett mit Schmierseife.« »Dann darfst du auch den Anfang machen«, sagte der Pater lächelnd. »Nimm etwas von der Salbe auf die Finger und reibe dir damit das Gesicht ein.« »Und wozu ist das gut?« erkundigte sich Stenmark mißtrauisch. Auch die anderen umstanden den Padre jetzt und hörten zu. »Das ist eine fettige Salbe, die die Gesichter vor Sonnenverbrennungen schützt.« Ein paar Männer lachten leise. Matt Davies schüttelte den Kopf. »Das haben wir doch nicht nötig, Padre. Uns scheint die Sonne jahrelang ins Gesicht. Sie kann uns nichts mehr anhaben.« »Oh, doch, sie kann und wird. Die Sonnenstrahlen, die aufs Meer fallen, sind nicht mit denen der Berge zu vergleichen. Ich kann euch nicht sagen, weshalb das so ist, aber es ist eine alte Erfahrung.« »Hört auf den Padre«, riet Hasard, »und motzt nicht herum. Er weiß es mit Sicherheit besser als wir alle zusammen. Oder war einer der Gentlemen schon einmal in derartigen Regionen?« Das mußten sie alle kleinlaut verneinen. Aber der Pater empfahl keine nutzlosen Sachen. Also gehorchten sie und fetteten sich nacheinander die Gesichter ein. Das Zeug roch auch nur am 17
Anfang so merkwürdig. Nach ein paar Augenblicken spürte man den Geruch nicht mehr. Pater David und Fred Finley rupften unterdessen etwas von dem polsterartigen Zeug aus und trugen es auf einen Haufen. Darüber wurde Holzkohle gestreut. Später, wenn es kälter wurde, sollte das Feuer entzündet und gleichzeitig das Essen gekocht werden. Die Sonne wanderte weiter und verschwand kurz darauf hinter einer Felsengruppe. Sie war noch nicht richtig verschwunden, als es fast übergangslos auch schon unangenehm kalt zu werden begann. Carberry zog fröstelnd die Schultern hoch. »Verdammt lausig kalt«, sagte er. »Da können wir heilfroh sein, daß unser guter alter Will die pelzgefütterten Segeltuchjacken mit den Kapuzen genäht hat. Auf unseren Will sollten wir einen kleinen Schluck trinken. Oder was tut man in den Bergen gegen die Kälte, Bruder?« wandte er sich fragend an Aloysius. »Man trinkt einen«, sagte der Padre trocken, »oder auch zwei. Mehr sollte man jedoch tunlichst vermeiden.« »Ha, da haben wir doch noch ein Wässerchen vom Kutscher. Wollen doch gleich mal sehen, ob das Zeug noch gut ist.« »Jetzt einen und einen, wenn es dunkel wird«, sagte Hasard. »Das wärmt dann noch einmal die Knochen auf.« Sie tranken einen auf Will Thorne, die gute Seele der Mannschaft, der an alles gedacht hatte. Später wurden zwei Laternen entzündet, die mit ihrem Flackerschein das Plateau gespenstisch erhellten. Es war still und ruhig, bis auf das ständige Heulen des Windes, der unermüdlich um die Felsen strich. Die Mulis waren dicht zusammengerückt und wärmten sich gegenseitig. Der Wind wurde eisiger, beißender und noch kälter. Und er orgelte und pfiff jetzt um die Felsen herum. 18
Nach dem Abendessen gab es kein langes Palaver mehr. Jeder trank noch einen Schnaps und suchte dann eins der beiden Zelte auf. Die Zeltplanen knatterten wie killende Segel, wenn der Wind böartig in sie hineinfuhr. Den Untergrund auf dem harten Gestein hatten sie mit Decken gepolstert, und mit den Felljacken deckten sie sich zu. »Richtig gemütlich«, sagte Dan O'Flynn, »wenn es draußen lausig kalt ist und der Wind pfeift.« Aber er erhielt keine Antwort mehr. Der Marsch hatte sie doch alle sehr mitgenommen. Sie waren solche Höhen nicht gewöhnt. Der einzige, der noch wach war und an dem alles anscheinend spurlos vorübergegangen war, war Pater Aloysius. Um Mitternacht stand er noch einmal auf und sah nach den Mulis. Bis auf das Orgeln des Windes herrschte eine fast majestätische Stille hier oben. Pater Aloysius sah sich um. Über den fast schwarzen Linien der Berge leuchteten nur wenige Sterne. Die Nacht war kalt und klar. Zwischen zwei Bergen, tiefer zum Horizont hin, stand als tröstliches Zeichen das helle Kreuz des Südens. * Da es auf eine Stunde mehr oder weniger nicht ankam, ließ Hasard die Männer ausschlafen, damit sie frisch und ausgeruht waren. Aloysius und Pater David waren schon seit längerer Zeit wach und hatten ein Feuer entzündet. Die Sonne war gerade aufgegangen, aber noch nicht zu sehen. Dafür leuchteten die Berge in unwahrscheinlichen Farben. Da gleißte es kupferfarben oder grellgelb, da blitzten kleine silbrige Kronen auf, deren strahlender Glanz fast unerträglich für die 19
Augen wurde. Die Bergwelt hüllte sich in ein Kaleidoskop aus prächtigen Farben. »Herrlich, so ein Sonnenaufgang«, sagte Pater David zu Hasard. »Unserem Freund geht es schon etwas besser. Er behauptet, seinetwegen könnten wir ruhig wieder weiterziehen. Aber Bruder Aloysius hat da noch Bedenken.« »Dann bleiben wir noch einen weiteren Tag«, sagte Hasard. »Mir ist es lieber, wenn alle Männer frisch, ausgeruht und gesund sind.« Aloysius hatte wieder dieses rätselhafte schnelle Lächeln drauf, das mitunter jedoch schlagartig aus seinem Gesicht verschwand. »Darum geht es nicht allein. Wir könnten ernsthafte Schwierigkeiten kriegen, wenn wir den Weg fortsetzen. Kurz nach der Mittagszeit dürfte es in den Bergen ein Höllenspektakel geben.« Hasard sah den Padre fragend an, denn er begriff nicht, was der mit dem Höllenspektakel meinte. »Ein Gewitter«, erklärte Aloysius, »ein Berggewitter. Ich fühle das, ich kann es fast riechen. Die Luft ist heute anders.« Hasard sah in den mattblauen Himmel, blickte auf die umliegenden Berge und sah nichts weiter als eine gigantische lautlose Explosion von Farben, die man nur sehr selten zu sehen bekam. Die Bergwelt schien zu brennen und in hellen Flammen zu stehen. »Ein Gewitter?« fragte er ungläubig. Die ersten Männer waren erwacht und betraten das Plateau. Als sie die höhersteigende Sonne sahen, schwiegen sie beeindruckt. Das Farbenspiel war noch gewaltiger als auf dem Meer. Da glitzerten in weiter Ferne weiße Schneehänge wie Kristall in allen Farben. Wie der Schein funkelnder Diamanten gleißte es herüber. »Ja, ein Gewitter. Es ist besser, wir bleiben auf dem Plateau, zumindest solange, bis es vorüber ist. Wenn es uns auf den 20
schmalen Wegen bei den Abgründen erwischt, kann es sehr gefährlich werden. Die Mulis keilen dann aus und spielen verrückt. Sie könnten in ihrer Angst Männer vom Pfad reißen.« Hasard konnte sich bei diesem Sonnenaufgang zwar immer noch kein Gewitter vorstellen, aber Aloysius schien ein Gespür dafür zu haben. Wenn sie auf See waren, konnten sie auch meist vorhersagen, ob der Wind drehen würde, oder ob es Sturm gab. So ähnlich mußte es auch der Padre in den Bergen spüren. Als die Sonne noch höher stieg und die ersten Strahlen auf das Plateau fielen, wurde es unvermittelt warm. Eine halbe Stunde später war es schon heiß und kaum noch zum Aushalten. »Das schafft den letzten Ochsen«, sagte Carberry. »Tagsüber diese Bullenhitze wie in der Karibik, und nachts friert einem glatt das Gehirn ein, wenn man nicht aufpaßt.« »Du mußt eben mehr denken«, sagte Dan, »dann bleibt da drin alles beweglich.« »Wie soll ich denn denken, wenn ich schlafe, was, wie?« »Indem du jede halbe Stunde aufstehst und scharf nachdenkst.« »So 'n Stuß! Das ist genau wie mit dem Gewitter. Wenn es heute Mittag ein Gewitter gibt, dann rupfe ich die Berge mitsamt den Wurzeln aus dem Boden.« »Die haben aber verdammt lange Wurzeln«, meinte Stenmark. »Da wirst du ganz schön rupfen müssen.« Gegen Mittag wurden die Mulis unruhig. Carberry ging zu seinem Diego hinüber und sah ihn an. Das Tier scharrte unruhig mit den Hufen. »Na? Heute ist dir wohl dein dämliches Grinsen vergangen?« fragte der Profos grinsend. Er streckte die Hand aus und kraulte Diego beruhigend den Hals. Das war auch so eine Sache, über die der Profos und die anderen sich jedes Mal köstlich amüsierten. Wenn der seltsame Zos21
sen am Hals gekrault wurde, dann stieß er laute Schnarchtöne aus, die ganz offensichtlich sein Wohlbehagen ausdrückten. Zog der Profos die Hand weg, dann hörte Diego mit dem Schnarchen auf und stieß Carberry auffordernd mit dem Maul an. Nochmals eine Stunde später hatte sich das Bild der Bergwelt gewandelt, und zwar erstaunlich schnell. Die Männer sahen sich an und grinsten versteckt, denn es sah ganz so aus, als würde sich Pater Aloysius' Voraussage bewahrheiten. Wie aus dem Nichts erschienen dicke, finstere Wolken, die rasch heranzogen und sich zusammenballten. Die Sonne schien noch, jedoch von heller eigenartiger Farbe. Es begann schwül zu werden. »Dann kannst du ja gleich anfangen und die Berge mitsamt den Wurzeln ausrupfen«, lästerte Matt Davies. »Es sieht tatsächlich nach einem Gewitter aus.« »Pah, was ist schon ein kleines Gewitter! Wenn es noch ein richtiges Seegewitter wäre, aber hier…« Der Profos winkte verächtlich ab, als sei das eine Bagatelle. »Dann kann dein Diego ja mit dem Gewitter um die Wette ballern«, meinte Fred Finley. Aloysius sagte gar nichts. Er hörte nur zu. Die meisten schienen das auf die leichte Schulter zu nehmen. Nun sie würden sich sicher noch wundern, wenn es erst einmal krachte. Die immer dunkler werdenden Wolken zogen so dicht über sie hin, daß man sie fast mit den Händen greifen konnte. Dabei wurde es zusehends dunkler und finsterer. Die Mulis drängten sich wieder zwischen den Felsnasen zusammen. Alle hatten die Köpfe gesenkt und warteten ergeben. Dann erfolgte unvermittelt der erste Schlag. Heiß und grell stach es aus den finsteren Wolken. Ein wildzuckender gleißender Blitz, der in den Augen weh tat, verschwand hinter einem Berg. Wie ein glühendes Schwert zuckte er aus dem Himmel. Drei, 22
vier Lidschläge lang blieb es geisterhaft still. »Sag bloß nicht, mein Vater hockt jetzt wieder auf der Schlangen-Insel und hext«, murmelte Dan, »der…« Ein so gewaltiges Krachen erfolgte, daß Dans weitere Worte hoffnungslos untergingen. Es klang, als würden die Felsen und Berge rings um sie her bersten und splittern. Selbst der Profos zuckte zusammen, als hätte ihn ein Hammer getroffen. Aber mit diesem einen gewaltigen Schlag war es noch längst nicht getan. Das Krachen verstärkte sich überlaut in den Bergen und kehrte als vielfältiges Echo von allen Seiten zurück. Es rollte und rumpelte, die Berge zitterten, und die Felsen schienen gefährlich zu wackeln. Das wilde Rollen war noch nicht verklungen, da hatte der Profos das Gefühl, als fliege in seiner unmittelbaren Nähe ein Pulvermagazin in die Luft. Diesmal duckte er sich schluckend. Geräusche drangen an seine Ohren, als hocke er selbst mitten in dem hochgehenden Pulvermagazin. Fred Finley und Stenmark flitzten ins Zelt, als ein paar dicke Regentropfen klatschend herabfielen. Matt Davies deutete auf seinen Haken und brüllte, er müsse ebenfalls im Zelt verschwinden, sonst würde der Blitz in seine eiserne Hakenprothese fahren und ihn rösten. Das war der Auftakt zu einem kleinen Inferno, das der Profos als Bagatelle abgetan hatte. Jetzt wurde er eines Besseren belehrt und zuckte immer wieder verstört zusammen. Nur diesen Bruder Aloysius, dachte er, den kann nichts erschüttern. Der hockte seelenruhig an der Felswand und zählte die Blitze, die da pausenlos herniederfuhren. Das tosende Krachen schien ihn nicht im Geringsten zu stören. Die Männer erlebten ihr erstes ausgewachsenes Berggewitter, das sie kolossal beeindruckte. Immer wieder schien sich die Welt in heller Glut zu verzehren. 23
Ein wildes grelles Aufblitzen, dann ein ekelhaft anzuhörendes Zischen, ein Flammenschwert zerhieb die Wolken, und dann gab es ein Spektakel, als fliege alles auseinander. Was war dagegen eine Breitseite oder ein explodierendes Pulverfaß? Hier feuerte der Himmel seine Breitseiten ab, und die waren so gewaltig, daß sie alles sprengten, zerfetzten oder zersplitterten, auch wenn es aus gewachsenem Fels war. Im wilden Aufleuchten eines langen gezackten Blitzes sahen sie, wie ein hoher Felsen gespalten wurde. Das glühende Schwert spaltete ihn in zwei Teile. Die eine Hälfte blieb unbeweglich stehen. Die andere kippte zur Seite, brach ab und polterte als eine pausenlos dröhnende Lawine über Hänge und Plateaus bis in die Schluchten hinunter. Zu diesem Zeitpunkt waren sie alle im Zelt und sahen dem eindrucksvollen Schauspiel durch einen schmalen Spalt zu. Hin und wieder klatschten ein paar große Tropfen herab, sonst blieb es trocken. Der Profos setzte immer wieder zum Sprechen an, doch niemand verstand auch nur ein Wort. Die Umgebung war erfüllt von berstenden Geräuschen, von Explosionen, die immer lauter wurden, und in denen es keine Pause gab. Das ging länger als eine Stunde so. Dann erst schwächte sich das wilde Tosen allmählich ab. Das Gewitter zog vorüber. Das Rollen in den Bergen blieb noch lange zu hören. Aloysius sah der gewaltigen finsteren Wolke nach, aus der der Herr im Zorn gesprochen hatte, und lächelte, als der Profos sich ihm näherte. Carberry wollte gerade sagen, wie sehr ihn das beeindruckt hätte, und daß es doch ein verdammter Unterschied zwischen einem Gewitter auf See oder einem in den Bergen wäre. Der Profos war sichtlich erschüttert und aufgewühlt. 24
»Zum Glück war es nur ein kleines Gewitterchen«, sagte Aloysius, »nicht einmal der Rede wert.« »Ja, was ein Glück«, murmelte Ed erschüttert. »Wie steht es denn bei einem großen Gewitter, Bruder?« »Oh, da muß man sich vorsehen, es kann tagelang dauern, und dann glaubst du, die Welt ginge unter. Ein Seegewitter ist da wohl wesentlich schlimmer, nicht wahr?« »Jaja äh natürlich, wesentlich schlimmer«, stammelte Ed, der immer noch schlecht hören konnte. »Hier ist man ja in den Bergen geschützt«, setzte er schlitzohrig hinzu, »während man sich auf See äh sozusagen nicht verstecken kann und den Kräften sinnlos ausgesetzt ist.« »Sinnlos?« »Ich ich meinte hilflos«, murmelte der Profos, der sich sehr anstrengen mußte, um Bruder Aloysius zu verstehen. »Na, dann geh mal wieder ins Zelt, Bruder Edwin. Das Gewitter kehrt nämlich gleich wieder zurück.« Völlig perplex starrte Ed den Padre an. Dann sah er der finsteren Wolke nach, aber die zog nicht mehr weiter. Sie war ›stehengeblieben‹, wie der Profos erstaunt feststellte. Tatsächlich kehrte sie gleich darauf zurück und verteilte sich wieder. Sehr seltsame Winde scheinen da im Spiel zu sein, überlegte Carberry. Nach ein paar Minuten ging das Getöse erneut und mit infernalischer Wucht los. Es krachte und donnerte, und die Blitze zuckten jetzt so oft über den Himmel, daß alles taghell erleuchtet wurde. Ganz in der Nähe schlug es zweimal hintereinander unter ohrenbetäubendem Krachen ein. Die Hammerschläge, die den Blitzen folgten, erschütterten wieder die Felsen. In den Felsen rollte und tobte es. In pausenloser Reihenfolge schienen Pulverfässer in die Luft zu fliegen. 25
Erst nach zwei weiteren Stunden verabschiedete sich das Gewitter mit einem Rollen und Donnern das an entfernten Kanonendonner auf See erinnerte. Als es endlich vorbei war, ging es Jean Ribault erstaunlicherweise viel besser. Seine Kopfschmerzen waren verschwunden, er litt nicht mehr unter Schwindelanfällen und konnte wieder frei atmen. »Es hat jetzt keinen Zweck mehr, noch aufzubrechen«, sagte Aloysius, »in ein paar Stunden wird es dunkel und kalt. Ich schlage deshalb vor, daß wir heute Nacht auf dem Plateau bleiben. Morgen steht uns ohnehin ein beschwerlicher Marsch bevor, denn es geht immer höher hinauf.« »Ja, wir bleiben hier«, stimmte Hasard zu. »Unnötige Risiken sollten wir nicht eingehen.« Kurze Zeit darauf erfolgte wieder der überraschende und unangenehme Wechsel von heiß auf kalt. Kaum war die Sonne verschwunden, zog eisige Kälte über das Plateau. Die Männer beeilten sich, ihre pelzgefütterten Jacken wieder anzuziehen und lobten im Stillen ihren Will Thorne. Am Abend tranken sie nochmals ein Schnäpschen auf ihn. Wenn der alte Segelmacher gewußt hätte, wie oft auf ihn schon getrunken worden war, dann würde er jetzt drei Tage lang total abgefüllt unter der nächsten Bank liegen. So jedenfalls behauptete das der Profos, und der mußte es ja wissen. * Am anderen Morgen es war der dritte Dezember setzte sich der Trupp wieder in Marsch. Die Maultiere waren bepackt. Über die Grate und Schroffen der Bergwelt tastete sich das mörderische Sonnenlicht, das ihnen kurz darauf brennend heiß in die Gesichter schien. Trotz der Salbe spannte sich bereits die Haut. 26
Ohne die fettige Salbe hätten sie jetzt schon die Gesichter von Mumien gehabt, sagte der Pater. Der Tag verlief ereignislos. Sie kletterten, marschierten, hielten Rast und bewegten sich unermüdlich weiter auf den Tacora-Paß zu, vor dem sie am fünften Dezember standen. Die Bergwelt hatte sich verändert. In der Ferne waren schneebedeckte Gipfel zu sehen. Die Luft war noch dünner geworden, aber mittlerweile hatten sich die meisten daran gewöhnt. Hin und wieder litt einer unter Kopfschmerzen normale Anzeichen in den ungewohnten Höhen. Über viertausend Yards waren sie jetzt hoch, winzige Punkte in einer unwirtlichen Bergwelt, die sich langsam bewegten. Eine gewaltige Landschaft türmte sich vor ihnen auf. Im dunkelblauen Himmel glühten ostwärts Schneefelder und bläuliche Eiskämme in der grellen Sonne. Die Einsamkeit ringsum war total. Matt Davies behauptete, man könne die ganze Welt atmen hören. Hier wuchsen noch niedere Sträucher, harte Grasbüschel und hin und wieder ein völlig verkrüppelter und verwitterter Baum. Sehr tief unter ihnen gab es hin und wieder ein Rinnsal oder ein Bächlein, deren Ufer geschützter und nicht den eisigen Winden ausgesetzt waren. Dort wuchs dann etwas spärliches Grün. Hoch über ihnen, ebenfalls ostwärts, kreiste wieder ein mächtiger Kondor. Einmal sahen sie einen Schwarm hungriger Geier, die nach Raub ausspähten. Die Luft war glasig und dämpfte die Laute der Schritte oder das Trappeln der Hufe. Jetzt folgte dem breiteren Geröllweg ein schmaler Bergpfad. Links ragten gigantische Steilfelsen in den Himmel. Rechts ging es senkrecht steil ab in Tiefen, die kaum auszuloten waren. Man mußte schon gute Nerven haben, um an diesem zerklüfteten 27
Abgrund über einen äußerst schmalen Pfad zu marschieren. Die Männer hatten diese Nerven, sonst hätten sie das Unternehmen Potosi gar nicht erst in Angriff genommen. Sie waren schwindelfrei, wie man das von einem Seemann erwarten durfte, der einen Teil seines Lebens in luftigen Höhen und auf schwankenden Rahen verbrachte. Dennoch war das hier ein gewaltiger Unterschied, denn ein einziger Fehltritt brachte den sicheren Tod. Wer einmal abrutschte, der konnte sich an den Felswänden nicht mehr halten, der sauste unweigerlich in die furchtbare Tiefe, wo er zerschmettert wurde. An diesem Tag bewies Diego, daß er auch noch ganz andere Qualitäten hatte, als dämlich in die Welt zu grinsen. Sie mußten einer hinter dem anderen auf dem schmalen Pfad gehen. Vor Edwin Carberry ging Pater David. Er schritt ruhig und gelassen aus und konzentrierte sich auf den schmalen Pfad. Dem Profos folgte Stenmark, die Spitze hielt Pater Aloysius. Der Profos ging rechts von seinem Maultier, was ihm schon einmal einen mißbilligenden Blick des Paters eingebracht hatte, als der sich einmal umdrehte. Diego benahm sich lammfromm, als wüßte er genau, daß dieser Pfad lebensgefährlich wäre. Er schnaubte nur hin und wieder leise oder schlenkerte seinen Kopf, wie er das oft tat. Carberry war fast andächtig in den Anblick der himmelstürmenden Bergwelt versunken und blickte auf einen weit voraus liegenden Berggrat, der wie pures Gold im Sonnenlicht funkelte. Als er den Blick abwandte und sich wieder auf den Pfad konzentrierte, verschwamm für einen Augenblick alles vor seinen Augen. Das gleißende Licht hatte ihn doch etwas geblendet. Dieser kurze Augenblick genügte, um ihn straucheln zu lassen. Sein Oberkörper drehte sich zur Seite, und dann kippte der Pro28
fos ab in die unermeßliche Tiefe. Er war so geschockt, daß er nicht einmal mehr einen Schrei ausstoßen konnte. In diesem Augenblick wurden aus einem Lidschlag Ewigkeiten. Die Zeit schien still zu stehen. Noch im Abkippen und im Sturz sah er das fassungslose Gesicht von Stenmark, vernahm einen leisen unterdrückten Schrei und sauste weiter in die Tiefe. Dem eisenharten Profos gefror das Blut in den Adern. Er sah sich fallen, fallen und immer tiefer fallen, und er glaubte auch schon den Einschlag seines schweren Körpers zu spüren. Für den Profos, aus dessen eigener Sicht es keine Rettung mehr gab, änderten sich alle Bezugs- und Zeitabläufe. In diesem Augenblick des unausbleiblichen Todes befand er sich in einer anderen Welt. Bilder aus ferner Vergangenheit stiegen vor seinen Augen auf. Sie rasten in einem unwahrscheinlichen Tempo vorbei. Er sah den alten Carberry in seiner Schmiede am Amboß stehen. Dann befand er sich übergangslos auf der ›Golden Hind‹ unter Francis Drake. Er sah sich als Profos, wie er Doughty durch das Schwert richten mußte, und er sah, wie dessen abgeschlagener Kopf auf die Kuhl rollte. Rasend schnell zogen die Eindrücke vorbei. England, Weltumsegelung, Karibik, Tortuga alle Stationen seines Lebens schien er noch einmal zu durchlaufen. Sein letzter Eindruck war ein Tampen, der offenbar von einer Rah herabbaumelte und sich ganz dicht vor ihm befand. Wenn er diesen Tampen nicht ergriff, das wußte er mit absoluter Sicherheit, dann würde etwas Schreckliches passieren. Der Tampen war groß und gewaltig und schwang hin und her. Er streckte die Hände aus, aber der Tampen schwang wieder zurück. Es war wie ein fürchterlicher Alptraum. Unendlich langsam kehrte der Tampen wieder zurück, und er griff vorsichtig 29
mit beiden Händen danach. Für die anderen sah das alles wieder ganz anders aus. Außerdem ging es so blitzschnell, daß keiner es genau sah. Carberry stürzte, und noch während sein Körper zur Seite fiel, packten seine mächtigen Hände zu. Sie verkrallten sich um die Leine, die dem Maultier Diego von einer Art Sattelhorn hing. Das eine Ende hing frei vom Sattel herunter, während das andere Ende mit dem Auge um das Sattelhorn lag wie um einen Poller. Die paar Yards Leine gaben nach und rauschten unter dem Gewicht des Profos in die Tiefe. Der Ruck war so hart, daß er das Maultier schlagartig von den Beinen und mit in die Tiefe gerissen hätte. Aber das schlaue Halbeselchen schien wieder mal etwas zu ahnen oder es hatte den sechsten Sinn wie der alte O'Flynn. Es reagierte jedenfalls ebenso schnell wie der entsetzte Profos. Kaum verspürte Diego den Ruck am Seil, da neigte er sich etwas nach hinten und stemmte die Beine fest auf den Pfad. Er zitterte unter dem gewaltigen plötzlichen Ruck, stand aber wie eine Eins und unerschütterlich fest. Nur seine Augen quollen ihm vor Anstrengung etwas aus dem Schädel. Wie gesagt, das alles lief so rasend schnell ab, daß noch niemand reagierte und alle wie gelähmt in die Tiefe starrten. Diego schnaufte empört und nickte wieder. Dann glotzte er mit großen Augen in die Tiefe, als wollte er sagen: Paß doch besser auf, du Blödmann! Carberry riß dieser plötzliche harte Ruck fast die Arme aus den Gelenken. Aber ein Spruch des Profos' lautete: Was man einmal in den Pranken hält, das läßt man nicht mehr los. An den Spruch brauchte er sich erst gar nicht zu erinnern. Die Angst, in diesen gähnenden Abgrund zu stürzen, verkrampfte ohnehin seinen Körper, und so hielt er das Seil eisern fest. 30
Er blickte nach unten und schloß entsetzt die Augen. Jeder Blutstropfen war ihm aus dem Gesicht gewichen. Wenn er da hinuntersah, dann wurde ihm übel, denn er glaubte jeden Augenblick, das Seil würde nachgeben. Er schwang hin und her und hing wie ein riesiger Köder an der Angelleine. Der Profos hatte gute Nerven, und die brauchte er jetzt auch. Er öffnete die Augen wieder und starrte an die Felswand, an der er hin und herpendelte. Dann riskierte er einen weiteren schnellen Blick in die grauenhafte Tiefe. Seine Fäuste hatten sich so um das Seil verkrampft, daß sie schneeweiß waren. Er konnte im Augenblick einfach noch nicht klar denken. Ihn bewog nur eins: Hoffentlich läßt mich der lausige Furztrompeter nicht in die Tiefe sausen. Nein, korrigierte er sich, nicht der lausige Furztrompeter mein liebes gutes Diegoleinchen. Hoch über ihm stand das liebe Diegoleinchen immer noch wie eine Eins. Aber es zitterte am ganzen Leib, und seine Flanken bedeckten sich mit Schweiß. Das war der Zeitpunkt, an dem die anderen reagierten. Sie hätten gar nicht früher reagieren können, denn im Grunde genommen, war so gut wie keine Zeit vergangen. Vielleicht hätten die Augenlider ein paarmal gezuckt, wenn die Augen nicht vor Entsetzen so weit aufgerissen gewesen wären. Stenmark, der sich dicht hinter Carberry und Diego befand, sprang hinzu, griff nach dem Seil und begann daran zu zerren, um den schweren Profos nach oben zu hieven. Pater David drehte sich um und packte ebenfalls mit an. Unter ihnen pendelte der Profos immer noch wild hin und her. Pater David hatte erstaunliche Kräfte, und was der Schwede Stenmark einmal packte, das hielt er ebenfalls fest. »Halt dich gut fest!« brüllte Sten über den Abgrund. Klar, das war überflüssig, aber er mußte sich Luft verschaffen, 31
und prompt erfolgte auch die Antwort des Profos', der sich jetzt gefangen hatte und wieder Hoffnung schöpfte, als sie an dem Seil zerrten. »Wenn ihr unbedingt darauf besteht aber gern!« Er war eben doch unverwüstlich, obgleich es ihn jetzt fast den Hals gekostet hätte. Sie hievten ihn nach oben. Als er über der Kante erschien, packte der Pater hart zu und rollte ihn auf den Pfad. Der Profos hatte zwar schon wieder zu trockenen Worten gefunden, aber er rang noch immer nach Luft und war weiß im Gesicht. Und den Tampen hielt er immer noch mit beiden Fäusten fest, als er längst in Sicherheit war. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich seine gewaltigen Fäuste entkrampften! Gerade als er die Leine losließ, reagierte auch wieder das Maultier. Die Anstrengung preßte dem Halbesel die Luft aus dem Körper, aber die ging bei Diego offenbar nach achtern raus. Es donnerte laut, als wollte Diego dem geretteten Profos in seiner Rührung einen deftigen Salut schießen. Diego war erleichtert in des Wortes doppelter Bedeutung –, und die Männer waren es auch, als Carberry wieder auf den Beinen stand. Diego trompetete wieder und grinste dann. Aber diesmal war das kein ›dämliches Grinsen‹ wie der Profos ausdrücklich betonte, sondern ein liebevolles. »Das Kreuz hat also doch geholfen«, sagte Aloysius trocken. »Vor dem Fluß hat es dich nicht bewahrt, aber vor dem Abgrund. Davor hat dein Trompeter dich bewahrt.« Carberry war tief gerührt, aber er konnte doch hier dem Eselchen nicht vor allen Kerlen um den Hals fallen. Die hätten sonst vielleicht ›dämlich gegrinst‹. »Diego liebt mich eben«, verkündete er strahlend. »Ich wußte ja am Fluß schon, daß er Kräfte wie drei Ochsen hat. Da wollte er mir bloß beweisen, wie stark er ist. Ich konnte also ruhig in den 32
Abgrund fallen, solange er da ist.« »Na, wenn das nicht unbedingt logisch klingt«, meinte Dan O'Flynn, »dann ist nichts mehr logisch.« Sie alle lobten das Eselchen und klopften ihrem Profos auf das breite Kreuz. Himmel, das war noch einmal gutgegangen. Keiner vermochte sich vorzustellen, was gewesen wäre, wenn… Aber darüber mochten sie nicht einmal sprechen. Carberry streckte die noch etwas zitternde Hand aus und kraulte Diego wieder die Stelle unter dem Hals, die den ›Schnarch-Effekt‹ auslöste. Diego begann auch prompt zu grunzen oder zu schnarchen, oder wie immer man das nennen wollte. Jedenfalls hörte es sich sehr merkwürdig an. »Er schnarcht so ähnlich wie Matt«, erläuterte der Profos, »wenn der in der Koje liegt und einen gezwitschert hat.« Dann setzte er treuherzig hinzu: »Wenn ich jetzt abgestürzt wäre, hätte Bruder Aloysius des Heiligen Vaters Öl wieder zurückschleppen müssen.« Der so indirekt animierte Pater seufzte ergeben und kramte nach der Kruke mit dem scharfen Kräuterschnaps. »Du bist wie eine biblische Plage, Bruder«, sagte er, »immer wieder auftretend und durch nichts auszurotten. Hier nimm, und bedanke dich wenigstens für die wundersame Rettung bei deinem Herrn.« »Glaube mir, Bruder, das habe ich bereits getan, als ich wieder auf dem Pfad lag. Mir fehlten da zwar noch die Worte, aber die Gedanken waren da.« »Der Herr hört auch die stummen Gebete, Bruder. Hier, nimm noch einen, du weißt ja, daß einer allein nicht hilft.« »Und versprich uns, nicht wieder in den Abgrund zu fallen«, sagte Pater David, »sonst reicht der Schnaps nicht mal bis Potosi.« »Ich werde mich bemühen ich meine, nicht wieder in den 33
Abgrund zu stürzen. Zwei Schnäpse ist das sowieso nicht wert.« »Auf dem linken Ohr höre ich überhaupt nichts«, sagte Aloysius. Sie alle aber beglückwünschten ihren Profos noch, bevor sie den Weg fortsetzten, auch wenn es bei den zwei Schnäpsen blieb. »Der findet doch immer einen Weg, um dem Pater einen Schnaps aus dem Kreuz zu leiern«, sagte Matt zu Stenmark, »oder ist ein kleines Witzchen darüber nicht angebracht?« »Ed hat schwarzen Humor, das kannst du ruhig laut sagen.« Der Profos hatte das gehört und drehte sich um. Sie sahen ihn grinsen, aber so strahlend, als fühle er sich wie neugeboren. Und genau so ging es ihm auch. Er war so erleichtert wie schon lange nicht mehr in seinem Leben. Es ging immer höher hinauf. Vor ihnen der ansteigende schmale Pfad, links die himmelhochragenden Felsen, rechts der gähnende Abgrund. Schon bald stellten sich erneut bei einigen Kopfschmerzen ein. Jean Ribault litt wieder darunter, aber auch Fred Finley und Dan O'Flynn. Pater Aloysius behielt sie alle scharf im Auge. Solange es bei den Kopfschmerzen blieb, ging es ja noch, wenn sich aber wieder Schwindelgefühle einstellten, konnte es gefährlich werden. Verlor einer das Gleichgewicht, dann stürzte er unweigerlich ab wie der Profos. Es war nur fraglich, ob er dann auch das Glück hatte, nach einem Tampen greifen zu können. Aloysius teilte dem Seewolf seine Bedenken mit. »Ganz wohl fühle ich mich auch nicht«, gab Hasard zu. »Ich verspüre ständig einen leichten Druck im Schädel. Man kann sich wohl doch nur langsam an den Höhenunterschied gewöhnen. Was schlägst du also vor, Padre?« »Ein erneutes Biwak. Wir erreichen bald wieder ein kleines Pla34
teau, das noch geschützter liegt als das vorherige. Dort werden wir rasten und das Biwak errichten.« Hasard nickte zustimmend. »Spürst du keine Veränderungen, Padre?« »Nein, nicht die geringsten. Ich bin es gewohnt, in die Berge zu steigen. Schließlich stamme ich ja aus den Bergen und konnte früh genug damit beginnen.« Ein wahrhaft erstaunlicher Mann, dachte Hasard. Der war hart wie englische Eiche und schien über unerschöpfliche Kraftreserven zu verfügen. Für ihn war das anscheinend nicht mehr als ein ausgedehnter Spaziergang, während die anderen vor Anstrengung keuchten. Selbst der eisenharte Profos tat sich schwer in diesen Höhen, Zwei Stunden vergingen, dann erreichten sie das Plateau, luden den Maultieren die Lasten ab und schlugen die beiden Zelte auf. Greifbar nahe vor ihnen lag der Tacora-Paß, und doch war er noch weit entfernt, denn in der dünnen glasigen Luft ließen sich die Entfernungen nur schwer abschätzen. Auch daran mußte man sich erst gewöhnen. Aber sie sahen ihn vor sich und waren ihrem Ziel wieder ein Stück näher gerückt. »Wenn wir am achten Dezember morgens aufbrechen, können wir einen Tag später den Paß überschreiten«, sagte der Pater. »Das Bergmassiv, das ihr da drüben liegen seht, ist übrigens der Pico Tacora, der über sechstausend Yards hoch ist.« Sie blickten in die angegebene nördliche Richtung, wo sich der schneebedeckte riesige Berg einsam und majestätisch erhob. Pater Aloysius' Hand wanderte weiter und zeigte auf eine noch höhere Spitze, die alles überragte. »Das ist der Sajama, ein schneebedeckter Vulkan.« »Müssen wir etwa dort hinauf?« fragte Matt Davies entsetzt. »Da friert mir glatt die Hakenprothese ab.« 35
»Nein, zum Glück nicht. Wir steigen zwar sehr hoch, gehen aber auch wieder ein Stück hinunter, zum Beispiel, wenn wir die Puna erreichen. Unser Weg führt uns zwischen dem Vulkanberg und dem Lago de Chungara hindurch in Richtung auf den Altiplano.« Immer erdrückender, immer stiller und immer beeindruckender wurde diese Welt der Berge. Es gab nichts als Berge, Pässe, dazwischen Täler, steile Abgründe oder riesige schneebedeckte Flächen. Dazu pfiff der Wind ein monotones eisiges Lied, eine Melodie der Einsamkeit und des Todes. Aus Krüppelholz und Llareta-Büscheln wurde an einer geschützten Felsnische ein Feuer entzündet, über das Fred Finley etwas Holzkohle häufte. Gegen Abend blies der eisige Wind immer heftiger. Er orgelte und toste um die Felsen herum, fuhr über die Zelte und heulte den Männern um die Ohren. Nachts, als alle schliefen, ging Pater Aloysius noch einmal hinaus und sah in den Himmel. Es riecht nach Schnee, dachte er, aber er konnte sich auch täuschen. Es roch hier oben oft nach Schnee. Am achten Dezember brachen sie wieder auf und überquerten am nächsten Morgen den Paß. Seit ihrem Aufbruch aus dem lieblichen Tacna-Tal waren bereits zwölf Tage vergangen. Eine lange Zeit in der einsamen Bergwelt. 3. Die Strapazen steigerten sich. Die Männer wurden bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit geprüft. Als sie den Tacora-Paß endlich überquert hatten, war es Nachmittag. 36
Der Himmel war von grauweißer Farbe, der Wind blies so eisig, daß sie die Kapuzen tief in die Gesichter gezogen hatten. Jeder trug unter der Kapuze noch eine Wollmütze. Ihre Hände steckten in den dicken Handschuhen, die sie vom Tacna-Kloster hatten. Die gefütterten Pelz Jacken hielten die eisige Kälte ab, und im stillen schickte jeder der Männer einen Gruß an den alten Will Thorne. So eisigkalt und frostig hatten sie sich diese Regionen doch nicht vorgestellt. Pater Aloysius fand, daß es immer noch nach Schnee roch, nach einem Schneesturm vielleicht, obwohl die hier relativ selten waren. Aber er hatte ein Gespür dafür entwickelt. Selbst die Männer, die diese Regionen nicht gewöhnt waren, spürten, daß etwas in der Luft lag. Der Himmel hatte sich verändert. Aus dem Grauweiß war eine undefinierbare Farbe geworden, die an kalten Haferbrei erinnerte. Nicht lange danach tanzten ein paar feine Schneeflocken durch die Luft. Der orgelnde Wind packte sie und trieb sie waagrecht auf den Trupp zu. Es wurden immer mehr Flocken, schließlich betrug die Sicht bestenfalls noch fünfzig, sechzig Yards. Wie scharfe Eiskristalle fegten die Schneeflocken heran. Genau das hatte Pater Aloysius befürchtet. Wenn es hier einen Schneesturm gab, würde er die umliegende Bergwelt in eine brüllende Hölle verwandeln. Er überlegte, ob sie zurück aufs Plateau sollten, aber der Weg erschien ihm zu weit. Es war besser, wenn sie sich beeilten, denn weiter vorn gab es ein paar Höhlen in einem Felszug. Außerdem befand sich bei den Höhlen eine Pukara, eine noch ganz gut erhaltene Festungshütte der alten Inka. Als er diesmal sprach, hörten die Männer den besorgten Unterton deutlich heraus. Der kalte Wind wehte ihm fast die Worte von den Lippen, und er mußte laut brüllen. »Es wird noch schlimmer werden, Männer! Schneestürme sind 37
hier zwar selten, aber wir haben eben das Pech. Seilt euch jetzt hintereinander an und überprüft die Seilhalterungen, damit keiner verloren geht. Und dann Beeilung. Weiter voraus gibt es ein paar Felshöhlen. Die müssen wir erreichen, bevor die Schneeverwehungen den Pfad total versperren und unpassierbar werden lassen.« Hasard begann schon mit dem Anseilen. Der Pfad war hier zwar etwas breiter, aber rechts von ihnen befand sich immer noch eine tiefe Schlucht, die jetzt kaum zu sehen war, als der Schnee immer dichter heranfegte. Wenn das noch stärker wird, überlegte er, dann wird der Pfad schon allein durch die immer höher werdende Schneedecke unpassierbar. Der Pater hatte recht, wenn er jetzt zur Eile antrieb. Aloysius schob sich an den Männern vorbei, um die Spitze zu übernehmen. Inzwischen seilten sich auch die anderen jeweils am Vordermann an. Das Heulen und Tosen wurde stärker. Es jaulte in schrillen Tönen, pfiff und orgelte, daß die Männer fast umgeblasen wurden. Eine Verständigung war nur noch laut schreiend möglich. Der Schnee fiel jetzt so dicht und wurde so scharf herangeblasen, daß die Sicht nicht mal mehr auf den Vordermann reichte. Schritt um Schritt bewegten sie sich neben den Maultieren vorwärts. Pater Aloysius legte ein Tempo vor, daß selbst den abgebrühtesten Männern angst und bange wurde. Wirbelnder, eisiger Schnee, scharf wie Millionen spitzer Dolche bohrte sich in die Kleidung, fand seinen Weg durch die kleinsten Schlitze in der Kleidung und drang schmerzhaft in die Haut. Schon bald waren die Augenbrauen weißverkrustet, die Wimpern fast gefroren und die Barte voller Schnee. Sie tappten mehr, als sie gingen, blindlings ins Ungewisse, 38
jeden Augenblick daran denkend, daß ein Fehltritt den sicheren Tod bedeuten konnte. Die Schneebrillen konnten sie jetzt nicht aufsetzen, denn sonst sahen sie gar nichts mehr. Stenmark versuchte es einmal, doch er gab es gleich wieder auf, als sich der Schnee darauf festsetzte. Aus den Kapuzen sahen nur noch schmale Schlitze hervor. Die Augen dahinter waren zu einem winzigen Spalt verkniffen. Trotz der warmen Kleidung begann die Kälte durchzudringen und sich festzusetzen. Unter ihren Stiefeln knirschte und krachte der Schnee, als würden sie ständig über zersplittertes Glas laufen. Der Wind heulte noch stärker und trieb ihnen Unmengen Schnee entgegen. Hasard folgte dem Pater wie blind. Es war ihm schleierhaft und unbegreiflich, wie dieser Mann zielstrebig durch die weiße Hölle aus Eis, Schnee und brüllendem Sturm den Weg fand. Zudem zog der Padre wie ein Ackergaul an dem Seil und riß die anderen mit. Hasard gab vor sich selbst zu, daß er längst die Orientierung verloren hatte. Er sah nichts mehr, nicht einmal mehr den Pfad, auf dem die Schneedecke immer höher wurde. Und doch rannte der Mann vor ihm fast. Dabei ging er elastisch, leicht federnd und doch so zielsicher, als liege heller Sonnenschein auf dem Weg und als gäbe es nicht die geringste Sichtbehinderung. Die Schneedecke wurde höher. Sie wuchs beängstigend schnell. Dazu war der Schnee trocken wie Schießpulver. Sie marschierten durch ein brüllendes, tosendes Inferno und mußten sich nach vorn beugen, um nicht umgeweht zu werden. Hin und wieder sah Hasard dicht vor sich einen Schatten, der auf und niederschwebte wie ein unwirklicher grauer Schemen. Der Schatten hatte es immer eiliger. Er kannte keine Müdigkeit, keine Erschöpfung. Er zog und zog, als hätte er den ganzen Trupp im Schlepp. Sie selbst waren gegen diesen bergerfahrenen harten Tiroler 39
Mönch bestenfalls ›Flachland-Tiroler‹, die das Tempo kaum mithalten konnten. Der Schatten brüllte etwas, das Hasard nicht verstand. Aber es klang so ähnlich, daß sie es bis zum Abend vermutlich geschafft haben würden, falls sie das Tempo beibehielten. Bis zum Abend! Schon jetzt war es fast dunkel. Der beißende Höllensturm war wie eine Wand, gegen die sie immer wieder anrannten und die nur mit Mühe und Kraft zu durchdringen war. Hinter Hasard ging Pater David, der riesenhafte Mann, der selbst den Seewolf und Carberry noch überragte. Auch er hatte zu kämpfen und war schon außer Puste. Dem Profos erging es nicht anders. Verdammt, dachte er, wenn dieser mistige Pfad wenigstens eben wäre, aber es ging immer noch bergauf, als wollten sie den Himmel stürmen. Und ein Ende dieser eisigen Tortur war vorerst noch nicht abzusehen. Jetzt konnte man schon die Männer auf der ›Estrella de Málaga‹ und die der ›San Lorenzo‹ beneiden. Die hockten geschützt an Bord, tranken kühles Bier und klönten. In diesen Höhen wäre ihnen das Bier sicher schnell gefroren. Hier half ein ›Wässerchen‹ wesentlich mehr und wirkte wahre Wunder. Carberry wäre gern einmal stehengeblieben, um an jeden Mann einen wärmenden Schluck zu verteilen. Doch an der Spitze schien ein ausgewachsener Elefant zu traben, der mühelos alles hinter sich herzog und ein Tempo vorlegte, daß einem die Luft wegblieb. Der Profos fluchte verhalten, doch der fauchende und brüllende Schneesturm riß ihm die Worte von den Lippen. Nicht mal der Hintermann verstand andeutungsweise, daß er fluchte. Die Luft wurde immer knapper, der Wind noch eisiger, und der brüllende Schneesturm nahm noch an Heftigkeit zu. 40
Zu sehen war nichts mehr, absolut nichts. Nicht mal die eigene Hand sah man mehr vor den Augen. Der peitschende Schnee hüllte alles ein, deckte alles zu, webte ein riesiges Leichentuch über die Berge und Pfade und ließ es vereisen. Da schmerzten die Beine, stachen die Lungen, jagte das Herz, da drohte der Schädel zu zerspringen, und da war die eisige Kälte, die sich immer tiefer in die Knochen fraß. Hinzu kam das heftige Prickeln der Schnee- und Eispartikel, die immer wie nadelspitze Dolche heranfegten und alles durchbohrten. Diese brüllende und eisige Hölle schien nie mehr ein Ende zu nehmen. Mechanisch setzten sie Fuß vor Fuß und folgten dem jeweiligen Vordermann, mit dem sie durch das Seil verbunden waren. Ohne dieses Seil passierte es, daß ein Mann strauchelte. Sobald es dann einen Ruck gab, stemmten die anderen die Beine fest in den Schnee. Jeder fragte sich beklommen, ob es diesen fürchterlichen Abgrund neben ihnen noch gab, der jetzt durch das Schneetreiben nicht mehr zu sehen war. Befanden sie sich noch auf dem Pfad, oder war der längst breiter geworden? Außer Aloysius konnte keiner diese Frage beantworten. Sie folgten ihm blind und mußten sich auf ihn verlassen. Um die Führung beneidete ihn niemand. Die kannte nur ein Mann halten, der diese kalten Regionen der Tierra helada wie seine Hosentasche kannte. Aloysius schien selbst durch dicke Schneewände noch sehen zu können. Der Profos streckte einmal die Hand nach links aus. Sie stieß an harten Fels. Dann bückte er sich im Gehen und tastete weiter nach rechts hinüber. Da war nichts, wie er entsetzt feststellte. Also befanden sie sich noch auf diesem lebensgefährlichen Ziegenpfad, den er beinahe für immer verlassen hätte. Von vorn erklang lautes Brüllen. Aloysius ließ das Seil etwas 41
durchhängen, damit Hasard merkte, daß er anhielt, und er nicht auf ihn aufprallte. Das hätte den ganzen Trupp ins Schleudern gebracht. So blieb einer nach dem anderen stehen. Der Pater drehte sich um und legte die Hände trichterförmig an die Lippen: »Der Steilpfad ist hier zu Ende! Wir bewegen uns jetzt gleich über ein riesiges Hochplateau! Dort erreichen wir einen Felszug und damit die Höhlen in den Bergen! Bitte weitersagen!« Hasard brüllte die eben gehörten Worte weiter nach achtern. Der letzte Mann verstand immer noch nichts, und so gingen die Worte wie ein Lauffeuer von Mann zu Mann, bis sie endlich auch den letzten erreichten. Die zweite Anordnung lautete, daß jeder am Seil bleiben und keiner es lösen sollte, weil das Hochplateau ebenfalls seine ganz besonderen Tücken hätte. »Mich kann nichts mehr erschüttern!« brüllte der Profos. »Viel mehr Tücken als dieser Mistpfad kann es auch nicht haben!« Niemand verstand, was er sagte, aber mehr oder weniger dachten doch alle das gleiche. Sie brauchten nicht mehr so dicht am Abgrund zu gehen, und das war schon eine Erleichterung. Das Plateau erwies sich jedoch ebenfalls als recht tückisch. Über die gewaltige Hochfläche pfiff der Wind noch stärker. Hier konnte er ungebrochen seine volle Kraft entfalten, und das tat er auch mit einer geradezu bestialischen Wut. Er pfiff, röhrte und orgelte wie auf hoher See, wenn ein wilder Orkan losbrach. Ganze Schneewände trieb ihnen der Wind gegen die erschöpften Körper. Dazu ging es wieder leicht bergan auf einem tückischen Untergrund, der stark vereist war. Hier mußten sie sich regelrecht vorwärtskämpfen, mit aller Kraft, die sie noch hatten. Sie krochen fast über den Boden, sonst hätte der wildjaulende Sturm sie umgeblasen. Es mußte jetzt gegen Abend sein, wie sie vermuteten. Zu sehen 42
war immer noch nichts. Sie hatten nicht einmal eine ungefähre Vorstellung von der Fläche, über die sie sich bewegten. Ihre Dimensionen blieben vorerst unbekannt. Sie hatten nur gehört, daß es ein gewaltiges Hochplateau wäre. Aber hier war alles gewaltig, hier war alles Superlativ, gigantisch, unermeßlich hoch oder unauslotbar tief. Einmal schlug Dan O'Flynn der Länge nach hin. Er rutschte auf der glatten Fläche ein Stück zur Seite, bis ihn die anderen abfingen. Dann glitt Gary Andrews fluchend aus, etwas später erging es dem Seewolf und Ribault ebenso. Und immer noch pfiff und heulte der Sturm sein nicht endenwollendes eisiges Lied. Mit Urgewalten orgelte er heran, hob die Schneemassen hoch und schleuderte sie ihnen entgegen. Die eisigen Regionen prüften die Eindringlinge auf Herz und Nieren, und wer ihnen nicht standhielt, den brachten sie gnadenlos um oder warfen ihn in klaffende Abgründe und ließen ihn einfach liegen. Der eisige Schnee wob sein Laken darum. Man konnte sehr schnell aufgeben in dieser gnadenlosen Bergwelt der eisigen Tausender. Wer einmal vom Weg abkam, war verloren, er würde im peitschenden Schneesturm nicht lange überleben. Das wußten sie alle, sie erfuhren es mit jedem Augenblick, daß die Berggiganten kein Erbarmen kannten, und so kämpften sie sich mit letzter Kraft weiter. Ewigkeiten vergingen im Geheul des Sturmes, Minuten zogen sich endlos in die Länge und wurden zur körperlichen Qual. Dann ließ der heftige Sturm unvermittelt etwas nach. Auch das Schneetreiben war nicht mehr so dicht. Pater Aloysius blieb stehen. Die Umrisse seines Körpers waren wieder einigermaßen erkennbar. »Wir sind gleich da!« rief er. »Links von uns befindet sich der Felszug mit den Höhlen! Nur ein paar Minuten noch!« 43
Den Männern klang es wie liebliche Musik in den Ohren. Sie waren total ausgelaugt, erschöpft, erledigt, durchgefroren und kaum in der Lage, ein Bein vor das andere zu setzen. Den Rest der Strecke stolperten sie mehr, als sie gingen. Aber sie bewunderten insgeheim den Padre, dem man nichts von den Strapazen ansah. Der kletterte immer noch leichtfüßig wie eine Gemse bergan und schien frisch und munter zu sein. Der Schnee wehte jetzt in größerer Höhe über sie hinweg. Hoch über ihren Köpfen heulte und jaulte es in schrecklichen Tönen. Dann tauchte der im Windschatten liegende Bergzug vor ihnen auf. Carberry zuckte zusammen, als sein Diego unvermittelt einen trompetenähnlichen Ton ausstieß. »Klar, du freust dich auch auf die Höhlen«, sagte er, aber er kannte seinen Diego offenbar doch noch nicht richtig, denn der drückte keineswegs seine Freude aus. Es war nur ein Schrei der Angst, und ein Schrei, der die anderen warnen sollte. Noch ehe jemand richtig begriff, was geschah, schoß aus einer der kleineren Höhlen im Fels ein langgestreckter grauer Schatten. Der blitzschnell durch die Luft jagende Schemen stieß ein wildes Fauchen aus und brüllte laut auf. Dann sprang der Schatten eins der erbärmlich schreienden Maultiere an und riß es mit einem Satz zu Boden. Ein Puma! Und er schien sehr hungrig zu sein, so hungrig, daß er sich an den Männern nicht störte. Hasard und seine Männer reagierten nicht einmal halb so schnell wie Pater Aloysius. Sie begriffen im ersten Augenblick auch gar nicht, was hier passierte. Sie sahen nur den langgestreckten Schatten, der das Maultier umgerissen hatte und jetzt fauchend und brüllend nach dem Tier hieb. Pater Aloysius fuhr blitzschnell herum. Noch während er den fauchenden und brüllenden Puma fixierte, riß er einen scharfge44
schliffenen Dolch aus dem Gürtel, eine Art Hirschfänger, der jedoch ganz spitz zulief. Der Puma schlug mit der Pranke nach dem Muli, das am Boden lag und wild mit den Hufen um sich keilte. Die anderen Mulis waren verängstigt ein paar Schritte auf die Höhle zugelaufen. Ihre Flanken zitterten vor Angst. Da war der Padre mit ein paar mächtigen Sätzen heran. Er rannte direkt auf die sich wie wild gebärdende Raubkatze zu, in der Rechten das lange Messer, die Linke abwehrend von sich gestreckt. Der Puma fuhr fauchend herum, als er den Mann sah. Aber er wollte auch seine Beute nicht loslassen. Die rechte Pranke fuhr rasend schnell durch die Luft, als wolle sie den Mann hinwegfegen. Pater Aloysius warf sich auf die fauchende Bestie. Mensch und Tier bildeten für Augenblicke ein wildes Knäuel. Ein Prankenhieb streifte den Padre an der linken Schulter. Die Raubkatze versuchte zu beißen, doch Aloysius schob den Arm wie eine gewaltige Ramme vor und stach mit aller Kraft zu. Sofort danach stach er noch einmal zu. Ein wildes heiseres Fauchen erklang. Der Puma bäumte sich auf, fiel auf den Rücken und schlug mit den Pranken um sich. Dann begannen die Pranken wild zu zucken. Die Muskeln erschlafften, das Tier rollte auf die Seite, zuckte noch einmal und lag dann still. Das Muli erhob sich und rannte wie verrückt in die große Höhle. »Dort geht es hinein«, sagte Aloysius und zeigte auf den dunklen Eingang der Höhle. »Dort sind wir vorerst in Sicherheit. Den Puma werde ich später aus dem Fell schlagen.« Die Männer starrten ihn an wie einen Geist. Der Pater schien über nie versiegende Kraftreserven zu verfügen. So ganz neben45
bei erledigte er auch noch eine fauchende und hungrige Wildkatze. »Alle Achtung«, sagte Hasard erschöpft. »So schnell hätte von uns keiner mehr reagiert.« »Man gewöhnt sich an alles«, erwiderte Aloysius trocken. »Ich konnte doch nicht zulassen, daß er das Maultier niederreißt. Schließlich haben wir ja nur diese acht.« Vier Höhlen gab es insgesamt, und weiter oben befand sich eine Pukara, direkt an den Hang gebaut. Aber in die ehemalige Festungshütte der Inkas wehte der Schnee. Außerdem war sie teilweise verfallen. In einer der kleinen Höhlen hatte der Puma gelauert. Aloysius verspürte noch jetzt deutlich den Geruch der Raubkatze, als er die Höhle vorsichtig untersuchte und ableuchtete. Es war ja möglich, daß der Puma nicht allein war. Es gab jedoch keine weiteren Raubtiere in den Höhlen. Die Maultiere wurden ›gelöscht‹, wie Carberry sagte. Er lud seinem braven Diego die Klamotten ab und packte sie auf den Boden. Die große Höhle war so geräumig, daß im angrenzenden Teil alle Mulis bequem Platz hatten. Dann wollte er Diego den Hals kraulen, aber das Maultier war diesmal nicht sehr begeistert darüber. Der Schreck über den Puma steckte ihm noch in den Knochen. Und das andere Maultier, das der Puma fast gerissen hätte, stand verloren und verstört ganz im Hintergrund und scharrte mit den Hufen. Hoch über ihnen orgelte der Schneesturm. Er stürmte aus voller Kraft, aber sie befanden sich gewissermaßen in Lee, denn diese Stelle konnte der brüllende Sturm nicht erreichen. Die Felsen boten hervorragenden Schutz. Der Profos tastete sich mit einer Fackel hinaus und suchte im Windschatten der Felswände nach Krüppelholz, das der Wind zusammengeblasen hatte. Auch von dem trockenen Gras fand 46
sich eine ganze Menge. Etwas später half ihm Matt dabei. Sie sammelten eine Menge zusammen, breiteten Decken aus und entzündeten in der Nähe des Eingangs ein Feuer. Dann wärmten sie sich erst einmal die erstarrten Hände. Carberry kramte die Kiste hervor und brachte ›Wässerchen‹ zum Aufwärmen. Die wärmten von innen und taten es noch schneller als das Feuer. Sie explodierten fast im Magen. Wohlige Wärme breitete sich aus. Auch die beiden Padres hielten mit. »Nachher gibt's noch was Feines«, verkündete Dan O'Flynn. »Wir bereiten heißen Wein und gießen ein Schnäpschen hinein. Das vertreibt dann endgültig die Kälte aus den Knochen.« Zunächst aber wurden zwei Kessel über das Feuer gehängt. Es gab Bohnen mit Speck und indianisches Maisbrot. Die Männer, immer noch ausgelaugt und müde, langten kräftig zu. »Jetzt ist es richtig gemütlich hier«, sagte von Hutten. »Da draußen hätte ich es keine zwei Stunden mehr ausgehalten. Das gebe ich ganz ehrlich zu. Es ist eine einzige Strapaze.« »So ein Schneesturm kann mitunter ganz unangenehm sein«, sagte auch Aloysius. Er hatte auf einer Decke Platz genommen und sah so aus, als sei er frisch und ausgeruht. Seine gefütterte Jacke hatte er ausgezogen. Jetzt langte er kräftig in die Bohnen mit Speck. Auch die Mulis waren inzwischen versorgt worden. Die Männer hatten den einen Kessel mit Schnee gefüllt und ihn über dem Feuer geschmolzen. Das Wasser, das die Mulis dann soffen, war lauwarm. Sie schlürften es mit sichtlichem Behagen und fraßen Mais dazu. Als Dan O'Flynn sein heißes Weingebräu ansetzte, sah er, daß Fred Finley, Gary Andrews und Mel Ferrow schon schliefen. Sie hatten sich an die Felswand gelehnt, die Decken ins Kreuz gesteckt und pennten einen weg. 47
Kein Wunder, auch die anderen waren hundemüde, aber auf das heiße Gesöff wollten sie dennoch nicht verzichten. Inzwischen ging Aloysius hinaus und kehrte kurz darauf mit dem erlegten Puma zurück, den er einfach hinter sich herzog. »Bist du nicht müde, Padre?« fragte Hasard erstaunt. »Nun, ich möchte mir das duftende Gebräu auch nicht entgehen lassen, und ehe ich herumsitze und die Hände in den Schoß lege, kann ich ja den Puma aus dem Fell schlagen. Es ist ein herrliches Fell.« Draußen kreischte, tobte und heulte es, als stünde der Weltuntergang unmittelbar bevor. Hier drin war es richtig anheimelnd. Da brannte das Feuer, da blubberte der heiße würzige Wein in dem Kessel, und da hockte Aloysius am Boden und zog der Katze das Fell über die Ohren. Den Kadaver warf er nach draußen in den Schnee, denn das Fleisch der Raubkatzen schmeckte nicht, wie er sagte. Der Profos lehnte an der Wand und grinste vor sich hin, während er vorsichtig an dem heißen Wein nippte. Jetzt müßte Paddy Rogers hier sein, dachte er, der hätte sich um das Fell des Pumas den Teufel gekümmert, aber nicht um das Fleisch. Der hätte vermutlich die ganze Raubkatze über dem Feuer geröstet und auch allein gefressen, so hungrig wie er immer war. »So ähnlich verfahre ich auch immer«, sagte er schläfrig. »Aber bei mir ist das schwieriger.« »Wovon redest du, Bruder?« »Davon, daß ich hin und wieder manchen Rübenschweinen die Haut in Streifen von ihren Affenärschen abziehe. Bei einem Puma habe ich das noch nicht versucht.« Der Padre lachte verhalten, dann drehte er sich zu Ed um. Aber der lehnte bereits an der Wand und schlief. Auch die anderen nickten schnell ein. Selbst der Seewolf vermochte kaum noch die Augen offen zu halten. 48
Pater Aloysius hatte dafür volles Verständnis. Diese Höhen schafften selbst die härtesten Kerle. Er ging zu jedem einzelnen Mann hinüber, nahm eine Decke und hüllte ihn darin ein. Er selbst legte sich erst dann schlafen, als er das Pumafell restlos gesäubert hatte. Sie schliefen den Schlaf der Erschöpfung bis weit in den Morgen hinein. »Wir werden heute noch hier bleiben müssen«, sagte der Pater. »Der Schneesturm hat sich zwar gelegt, aber es weht immer noch Schnee heran. Es ist auch besser, wenn sich alle noch einmal gründlich ausruhen. Man gewöhnt sich dann besser an die Höhenunterschiede.« Hasard sah das natürlich ein, denn immer noch waren einige von ihnen von Kopfschmerzen geplagt. »Wie du meinst, Padre. Dann brechen wir morgen auf. Das wäre dann der elfte Dezember, wenn ich richtig gerechnet habe.« »Richtig. Morgen ziehen wir dann weiter.« »Wenn ich hier ständig leben müßte«, sagte Hasard, »dann wäre ich nur; noch ein halber Mensch. Wie halten die Indios das eigentlich aus?« »Sie sind der dünnen Luft angepaßt, genau wie auch die Tierwelt. Die Quechua-Indianer haben beispielsweise einen sehr breiten Brustkorb. Ihr Herz ist wesentlich größer als das unsere und pumpt dementsprechend auch mehr Blut durch den Körper als ein normales Herz. Wir haben in der Puna einmal ein totes Vicuna gefunden. Das Tier ist ganz besonders flink und schnell, und so haben wir es aus Neugier aufgeschnitten. Wir fanden ein übergroßes Herz und eine ungewöhnlich große, Lunge in seinem Körper, viel größer als die der normalen Tiere. Der Herr da oben hat das wunderbar durchdacht.« »Ja, das hat er.« Carberry linste zu dem Pater hinüber und grinste schief. 49
»Eins hat der Herr aber vergessen«, sagte er. »Fang aber nicht wieder mit dem Öl des Heiligen Vaters an«, warnte Aloysius. Der Profos schüttelte den Kopf und strich über seinen Bart. Sie alle hatten tagealte Bärte und ließen sie wachsen. »Man müßte sich mal gründlich waschen können«, sagte Ed. »Ich fühle mich bereits wie ein Rübenschwein, ein ungewaschenes. Da hätte der Herr doch schon mal in der Nähe ein Bächlein fließen lassen können, damit sich seine Schäfchen den Dreck abspülen können.« Aloysius verschränkte die Arme über der breiten Brust. Sein Lächeln war diesmal unergründlich. »Vielleicht läßt er eins fließen, Bruder. Du weißt ja, der Herr hat ein Ohr für alle Wünsche.« »Und du hast einen besonders guten Kontakt zum Herrn, Bruder. Vielleicht kannst du ihn daraufhin mal ansprechen.« »Mal sehen«, erwiderte Aloysius trocken. »In einer stillen Stunde werde ich mit ihm reden.« Er lächelte immer noch so unergründlich. Ed musterte ihn, aber er konnte das Lächeln nicht deuten. Fast erschien es ihm etwas schlitzohrig. Aber er wollte dem guten Padre um Himmelswillen nichts unterstellen. Den Tag verbrachten sie in oder vor der Höhle. Der Sturm heulte immer noch und trieb den Schnee über die Berghänge. Das Schlimmste war jedoch vorüber. 4. Am elften Dezember zogen sie weiter. Von den zurückliegenden Strapazen hatten sie sich gut erholt. Die zwei Tage der Ruhe und Entspannung hatten sich bestens ausgewirkt. Unermüdlich wurde nun marschiert, bis die Dunkelheit hereinbrach. Dann wurden die Zelte aufgeschlagen, das Biwak errich50
tet und ein Feuer entzündet. Inzwischen wucherten ihre Bärte weiter. Die Gesichter waren von der intensiven Sonneneinstrahlung tiefbraun geworden. Am sechzehnten befanden sie sich zwischen dem Sajama Berg, dem riesigen schneebedeckten Vulkan der Westkordillere und dem Lago de Chungara. Hier mußten sie eine steil bergan führende Eisfläche überwinden. Der Wind stieß wieder hart und eisig in ihre Gesichter. Wenn sie diese Eisfläche hinter sich hatten, erstreckte sich vor ihnen der gewaltige Altiplano, das bolivianische Hochland zwischen den Ketten der Anden. Dort begann auch die Puna, jene rauhe und sturmgepeitschte Landschaft, in der die Nächte bitterkalt waren und neun Monate im Jahr kein Regen fiel. Aber noch war es nicht soweit. Zuerst mußte diese eisige steile Fläche in Angriff genommen werden. Diese Fläche war tückisch. Der eisige Wind hatte Schneewehen dahin getragen. An vielen Stellen war der Schnee gefroren und bildete eine harte Kruste. Hin und wieder aber war er noch pulverig. Die eisglatte Fläche darunter war nicht zu sehen. Sie arbeiteten sich mit Eispickeln und Haken immer weiter hinauf, bis sie fast die Hälfte erreicht hatten. Da rutschte plötzlich Fred Finley aus. Unter dem knochentrockenen Pulverschnee war spiegelglattes Eis. Er wollte sich an dem Eispickel festhalten, doch der rutschte ab und sauste über den glatten Hang nach unten. Matt Davies, der auf Eispickel verzichten konnte er hieb immer seine Hakenprothese in den Untergrund –, versuchte noch nach Fred zu greifen, doch er griff ins Leere. Auch Pater David konnte Finleys Sturz nicht mehr bremsen. Es ging alles viel zu schnell. Finley sauste ab, wie aus einer Kanone geschossen. Der Länge nach raste er mit ausgebreiteten Armen über das Eis, suchte 51
immer wieder krampfhaft nach Halt und fand keinen. Seine sausende Talfahrt wurde immer rasender, immer schneller. Sie alle hatten bemerkt, was passiert war, doch sie mußten hilflos mit ansehen, wie Finley unaufhaltsam über die Eisfläche sauste. Zum Glück gab es da unten keine Schlucht, in die er hätte stürzen können. Aber es gab dicke Wülste im Eis und am Fuß des Hanges nochmals eine Eisbarriere. In die sauste Fred Finley hinein, mit den Füßen voran. Sein Sturz wurde jäh gebremst, und er blieb stöhnend liegen. »Verdammt noch mal«, sagte Hasard. Er sah, daß Fred Finley bewegungslos liegenblieb, und schluckte schwer. Jean Ribault preßte die Lippen zusammen. »Hoffentlich ist ihm nichts passiert«, murmelte er betroffen. »Wir gehen vorsichtig nach unten«, sagte Aloysius. »Vielleicht ist er nur bewußtlos.« Hasard, Ribault und Aloysius begannen unverzüglich mit dem Abstieg auf der glatten Fläche. Die anderen Männer standen wie erstarrt da und blickten hinunter. Als Pater David ihnen folgen wollte, winkte Hasard ab. »Drei Mann genügen, David«, sagte er. »Die anderen sollen vorsichtig nach oben steigen. Wir erledigen das schon.« »Oben gibt es eine Felsenhöhle!« rief Aloysius. »Geht dort hinein und bereitet ein Lager in der Nische neben der Höhle!« Pater David nickte beklommen. Vorsichtig arbeiteten sie sich weiter nach oben, während die drei anderen Männer weiter nach unten stiegen, bis sie die Eisbarriere erreichten. Hasard drehte Fred Finley behutsam auf den Rücken und sah in ein vor Schmerzen grau verzerrtes Gesicht. Finley stöhnte leise. Unendlich erleichtert ging Jean Ribault in die Knie und beugte sich über Finley. Gott sei Dank, er lebte, aber er schien unerträg52
liche Schmerzen zu haben. »Kannst du aufstehen?« fragte Ribault. »Nein, ich kann nicht. Irgend etwas ist mit meinem rechten Bein. Der Schmerz zieht mir bis in den Schädel.« »Ihn hier zu untersuchen, hat keinen Zweck«, sagte Aloysius. »Vermutlich hat er sich was gebrochen oder verstaucht. Wir ziehen ihn nach oben und bringen ihn in die Felsnische. Dort können wir in aller Ruhe nachsehen.« Zwei Seile wurden zusammengeknotet und Fred Finley unter die Achseln geschoben. Hasard und Jean zogen ihn vorsichtig nach oben. Aloysius stieg dicht hinter Fred auf, um ihn abzufangen, falls einer der beiden Männer abrutschen sollte. Es war eine mühsame Plackerei, bis sie ihn endlich oben hatten. Dort warteten schon die anderen, um ihn in Empfang zu nehmen. »So ein Mist«, sagte Finley, »mir ist was ins linke Auge geflogen, und dann war ich plötzlich blind. Leider habe ich nur das eine.« Das rechte Auge bedeckte eine schwarze Klappe. Finley hatte es in einem Jahre zurückliegenden Kampf gegen Piraten verloren. »Nur ruhig«, sagte Hasard. »Reden kannst du später. Wir werden erst einmal sehen, was dir fehlt.« Vorsichtig trugen sie ihn zu der Felsnische hinüber, die direkt an eine mittelgroße Höhle in den Felsen anschloß. Die Männer hatten bereits Decken ausgebreitet und einen weichen Untergrund geschaffen. Sie alle sahen besorgt auf Finley, dessen Gesicht immer noch vor Schmerzen verzerrt war. »Hoffentlich hat er sich nichts gebrochen«, murmelte Ribault. »Das wäre nicht auszudenken.« »Es scheint aber doch so, Jean«, meinte Karl von Hutten. 53
»Allein der Gesichtsausdruck sagt alles.« Pater David und Pater Aloysius, die sich am besten auf ärztliche Kunst verstanden, nahmen sich Fred Finley vor. Als sie ihm den rechten Stiefel auszogen, bäumte sich Fred hart auf und fiel stöhnend auf die Decken zurück. Die beiden Padres warfen sich einen besorgten Blick zu, sagten aber vorerst kein Wort. Besorgt standen die anderen herum. Sie wußten nicht, was sie tun sollten, und starrten auf die beiden Padres, als würden die die Erlösung bringen. »Er hat sich den rechten Knöchel gebrochen«, sagte Aloysius in die Stille hinein, nachdem er das Bein abgetastet hatte. Der Riese David bestätigte das. »Ja, ein Knöchelbruch, kein Zweifel. Er ist sehr hart in die Eisbarriere geprallt.« »Kann es nicht doch eine Verstauchung sein?« fragte Jean Ribault hoffnungsvoll. »Leider nein.« »Knöchelbruch«, sagte Hasard tonlos, »auch das noch. Weiter hat uns auch nichts gefehlt.« »Es hätte schlimmer ausgehen können«, sagte Aloysius. »Er hätte auch mit dem Schädel aufs Eis prallen und sich einen Schädelbruch zuziehen können. Alles in allem kann man noch von einem Glücksfall sprechen.« Beklommenes Schweigen folgte seinen Worten. Fred Finley richtete den Oberkörper ein wenig auf, doch der Padre drückte ihn sofort auf das provisorische Lager zurück. »Laßt mich hier liegen«, flüsterte er, »ich bin euch auf dem Marsch nur hinderlich. Wenn ihr mir etwas Verpflegung da laßt und etwas zu trinken, halte ich es hier wochenlang aus. Ich will nicht, daß der Trupp meinetwegen behindert wird.« Carberry schwoll bei diesen Worten sogleich der Kamm. Er 54
schob das Rammkinn vor, das jetzt mit dem Bart noch wilder und gröber wirkte, und donnerte los: »Glaubst denn du krummbeiniger Zitteraal, daß wir dich hier einfach liegen lassen, was, wie? Für was hältst du uns, du Rahenschwenker? Liegen lassen? Pah! Damit dich der nächste hungrige Puma frißt oder dir Eisblumen aus den Ohren wachsen? So was will ich nicht noch einmal hören, sonst hast du links auch gleich noch einen Knöchelbruch und kannst auf dem Bauch nach Potosi rutschen.« Die Spannung löste sich unter leisem Gelächter, weil der Profos wieder mal so liebliche und freundliche Vergleiche zur Hand hatte. Fred Finley lächelte schwach und wollte etwas sagen. Da geschah etwas, was die Männer total verblüffte und selbst den Profos zusammenzucken ließ. Die rechte Faust von Pater Aloysius zuckte kurz und hart vor. Sie kam so schnell, daß die Bewegung kaum zu sehen war. Er hatte nicht lange gefackelt und zugeschlagen, noch bevor Fred Finley begriff, was überhaupt geschah. Aloysius schlug ›eine mächtige Kelle‹, wie das auch der Profos respektvoll ausdrückte, und hinter seinem Schlag saß die Kraft eines ausgewachsenen Ochsen. Diese Kelle traf Fred Finley wie eine lautlose Explosion an der Schläfe. Finleys Gesichtsausdruck verklärte sich, als hätten soeben die Englein für ihn gesungen. Schlaff und entspannt fiel er auf das Lager zurück und rührte sich nicht mehr. Im Gesicht des Profos zuckte es. Dann räusperte er sich einmal und strich wieder über seinen stoppeligen Bart. »Das mußte sein«, sagte Aloysius trocken. »Ich mußte ihn betäuben, damit wir den Fuß richten und schienen können. In wachem Zustand hätte er sich die Kehle heiser gebrüllt. Gerade bei einem Knöchelbruch sind die Schmerzen unerträglich.« 55
Jetzt konnten sie in aller Ruhe an die Arbeit gehen. Alle beide Padres verstanden sich hervorragend darauf. Aloysius tastete noch einmal alles ab. »Glück im Unglück«, sagte er lakonisch, »der Knöchel ist nicht so gebrochen, daß Splitter die Haut durchstoßen haben. Es ist ein glatter, sauberer Bruch, und daher auch nicht weiter kompliziert. Er kann eben nur eine Zeitlang nicht mehr auftreten.« Sie richteten das Bein aus und schienten es mit kleinen harten Brettern, die sich in Aloysius Arznei-Kiste befanden. Beide arbeiteten flink und geschickt. Sie standen dem Kutscher in nichts nach. »Fertig«, sagte David. »Das wird glatt und sauber verheilen, braucht aber leider seine Zeit. Unter Umständen können das Wochen sein.« »Und was wird jetzt?« fragte Hasard. »Wir müssen ihn tragen.« Das Lächeln des Paters war recht sparsam. »Ja, aber nicht lange. Wir befinden uns vor der Puna. In zwei Tagesmärschen, dicht am Rande der Puna, lebt eine Indio-Familie, die ich gut kenne. Sie sind sehr hilfsbereit und werden ihn aufnehmen, bis wir aus Potosi zurückgekehrt sind.« Der Profos schüttelte staunend den Kopf. »Bei allem heiligen Respekt, Bruder, aber du hast immer zur rechten Zeit etwas auf der Pfanne«, sagte er anerkennend. »Das sind meine bescheidenen Kontakte zum Herrn, dessen Wege unerforschlich sind«, sagte Aloysius lächelnd. Die anderen grinsten bis über die Ohren, als sie das hörten. Aloysius war so ganz nach ihrem Geschmack. Ohne ihn hätten sie sich in der Bergwelt nicht mehr zurechtgefunden, und Probleme wie die mit Fred Finley wären nur schlecht zu bewältigen gewesen. »Bei dieser Indio-Familie sehe ich die einzige Möglichkeit«, sagte der Pater. »Es ist die beste und vernünftigste Lösung, denn 56
wir können ihn nicht nach Potosi mitnehmen. Es gibt allerdings auch noch eine andere, aber das muß Sir Hasard entscheiden. Zwei Männer könnten Finley auf einer Tragbahre über Stock und Stein nach Tacna zurückschleppen. Was ist dir lieber, Sir?« Hasard brauchte wahrhaftig nicht lange zu überlegen. Diese Möglichkeit schied von vornherein aus. »Damit wäre der Potosi-Trupp um drei Mann geschwächt. Drei Männer würden ausfallen, die wir vielleicht dringend brauchen. Nein, Pater Aloysius, die Lösung mit der Indio-Familie ist wirklich die beste. Es bleibt dabei. Wir müssen nur noch eine Tragbahre zusammenbauen, und das wird ein kleines Problem.« Aber Aloysius hatte auch da eine Lösung, zumindest hatte er für alle Fälle weitblickend vorgesorgt. Er ging zu dem einen Maultier hinüber und nahm aus der Packtasche eine längliche derbe Plane heraus, die er Hasard zeigte. »Das Problem ist schon gelöst, weil man mit derartigen Unfällen in den Bergen immer rechnen muß. Ich habe sie selbst angefertigt. An den Längsseiten sind die Nähte so groß, daß man bequem links und rechts zwei Zeltstangen hindurchschieben kann, und schon ist die Tragbahre fertig. Wenn man sie nicht mehr, braucht, dann faltet man sie einfach zusammen.« Hasard sah den Pater nachdenklich an. Dann lachte er leise. »Hast du nicht Lust, auf meinem Schiff zu segeln, Padre?« Der Padre grinste jetzt auch ein wenig. »Schon, schon, wirklich. Aber ich kann meine Brüder in Tacna nicht im Stich lassen. Außerdem würde mir auf den hohen Rahen immer schwindlig werden.« »Das glaube ich unbesehen«, sagte Ed. »Ihm wurde ja auch hier dauernd übel, sobald es bergan ging, was, wie, Bruder?« »So ist es.« Fred Finley kam wieder zu sich und sah sich verständnislos um. »Was ist passiert?« fragte er erstaunt und blickte auf sein 57
rechtes Bein, das jetzt geschient war. »Ich war ganz plötzlich weg. Muß wohl ohnmächtig geworden sein.« »Das war mehr eine himmlische Ohnmacht«, sagte der Profos. »Bruder Aloysius hat dir eine geplättet.« »Geplättet?« fragte Fred verständnislos. »Mann, das war ein Hammer der besten Sorte. Da konnte man direkt neidisch werden. Das ging zack zack, und schon warst du weg. Wegen der Schmerzen, verstehst du?« »Verstehe«, murmelte Fred. »Meinen herzlichsten Dank, Padre.« »Schon erledigt. Tut mir leid, wenn ich zuschlagen mußte, aber es war besser so.« »Selig sind, die da hart zuschlagen«, dozierte der Profos, »denn sie vollbringen wahre Wunder. So ähnlich steht's in der Bibel.« »Na, die Stelle mußt du mir unbedingt mal zeigen«, sagte der Pater trocken, »die habe ich anscheinend übersehen.« »Ja, ich auch«, meinte Pater David lächelnd. »Aber du mußt zugeben, daß der Profos eine sehr poetische Ader hat, Bruder.« »Und eine sehr blumige Ausdrucksweise. Er greift da in einen schier unerschöpflichen Quell hinein. Das hat auch schon Bruder Franciscus anklingen lassen.« Die Tragbahre war fertig. Ein paar Handgriffe hatten dazu genügt. »Gary und ich tragen die erste Strecke«, sagte Ed. »Und dann tragen wir umschichtig weiter. Wir müssen unser Freddylein nur noch schön in warme Decken hüllen, damit er sich nichts abfriert.« »Wie kann ich das nur wieder gutmachen?« fragte Fred. »Jetzt müßt ihr euch auch noch abschleppen.« »Indem du dein Maul hältst«, sagte der Profos grob. »Im Übrigen kannst du dich ganz wie ein Sänften-Bubi fühlen. Sei froh, daß wir dich Spillerhering tragen. Wenn ich auf dem Ding liegen 58
würde, hättest du mit dem Schleppen nicht viel Freude.« »Das ist allerdings wahr«, murmelte Finley. Der Marsch ging weiter. Fred Finley lag auf der Tragbahre und blickte ergeben zum jetzt wieder blauen Himmel. Einmal sagte er leise: »In Potosi werde ich für euch ein großes Hindernis sein.« Ed ließ vor Verblüffung fast die Holme fallen. »Ach du weißt ja noch gar nicht, daß deine Reise zu Ende ist, Mann. Warst da ja noch bewußtlos. Glaubst du etwa, wir schleppen dich bis nach Potosi und stellen dich da an der Piazza ab? Das würde die Dons doch recht nachdenklich stimmen. Dein Potosi-Unternehmen ist übermorgen zu Ende. Da erreichen wir nämlich einen Indiohof, wo sie kleine bolivianische Rübenschweine züchten. Denen wirst du so lange Gesellschaft leisten, bis wir wieder zurück sind. Inzwischen ist deine Steuerbordgräte verheilt, und wir nehmen dich wieder mit. Alles klar, Mister?« »Alles klar«, murmelte Fred verblüfft. »Das habe ich nicht gewußt. So ein Zufall, daß da Indios sind.« »Das ist kein Zufall. Das haben wir den guten Kontakten des Herrn äh des Herrn Paters, ach verdammt, des Paters zum Herrn zu verdanken.« Zwei Tage später erreichten sie die Puna. * Die eigentliche Kernlandschaft Boliviens, der bis über viertausend; Yards hohe Altiplano, lag vor ihnen. Das war der westlichste Teil des Punablocks. Dieses achthundert Meilen lange und zweihundertfünfzig Meilen breite abflußlose Hochland ist eine Auffüllungssenke. Nord-südlich verlaufende Gebirgszüge zergliedern das Hochland in einzelne Beckenlandschaften. In der Puna ist es am Tage in der Sonne warm, aber der Boden 59
im Schatten bleibt meist gefroren. Die Umwelt wirkt auf den ersten Blick äußerst lebensfeindlich, und doch gibt es gerade hier Leben, wenn auch nicht in allzu vielfältigen Formen. Immerhin leben hier Echsen, Nager und Vögel. Hier weiden das flinke Vikuna und die Guanakos. Aber in den Hoch weiden der Anden finden sich auch noch Andenhirsche, verschiedene Fuchsarten, Chinchillas und Viscachas. Von Zeit zu Zeit stellen sich im öden Hochland sogar Kolibris ein, dann nämlich, wenn der stachelige Puyas blüht, der Riese unter den Pflanzen der Puna, der über hundert Jahre alt werden kann. Dann erst, mit rund hundert Jahren, blüht der Puyas und entfaltet eine unvorstellbare Pracht. Über all dem aber schwebt der mächtigste Vogel der Anden, der majestätisch dahingleitende Kondor, von dem die Indios behaupten, er schlafe auch im Fluge. Diese Landschaft lag jetzt vor dem Potosi-Trupp. »Endlich hat die Kraxelei ein Ende«, sagte Matt Davies. »Jetzt geht es wenigstens mal geradeaus.« »Vorerst noch«, sagte Hasard einschränkend. »Durch die Puna liegen noch rund hundertfünfzig Meilen Fußmarsch vor uns. Dann geht's wieder in die Berge, denn wir müssen, wenn wir nach Potosi wollen, noch die Cordillera de los Frailes überqueren.« »Eine verdammt lange Strecke.« »Du sagst es, Matt. Aber verglichen mit der bisherigen Etappe wird der Marsch jetzt leichter werden.« »Was heißt Frailes?« fragte Matt neugierig. »Bezeichnenderweise Mönche«, sagte Aloysius lächelnd. »Aber nach mir ist es nicht benannt worden, obwohl ich schon ein paarmal drüben war.« Fred Finley wurde diesmal von Stenmark und Mel Ferrow getragen. Später lösten sich Ribault und Karl von Hutten ab, 60
dann Dan O'Flynn und Pater David. So kam jeder immer umschichtig an die Reihe, und dann begann es von neuem. Noch am Vormittag sahen sie einen geschützt liegenden Hof vor sich. Es gab ein paar Adobehütten, Behausungen aus luftgetrockneten ungebrannten Ziegeln. Die Dächer waren strohgedeckt. Um den Hof herum wurde Landwirtschaft betrieben. Sie hatten gerade einen Blick auf den Indiohof geworfen, als auch schon zwei Männer, zwei Frauen und ein paar Kinder erschienen und dem Trupp neugierig entgegensahen. Drei Hunde rannten ihnen kläffend entgegen. »Das ist die Familie, von der ich sprach«, sagte Aloysius. »Unser Freund ist hier in den besten Händen.« »Und wie verklaren wir den Leuten, was wir wollen?« fragte Ed. »Ich kann, kein Wort Indonesisch, oder wie das heißt.« »Das sind Quechua. Ich beherrsche ihre Sprache ganz gut. Es wird nicht die geringsten Schwierigkeiten geben.« »Was kannst du eigentlich nicht, Bruder?« stöhnte Ed. »Spricht auch noch Kwetschba oder so. Dagegen sind meine Kontakte direkt miserabel, Bruder.« »Du bist ja auch noch nicht lange hier.« Die drei Hunde sprangen an ihnen hoch und winselten und jaulten, als wollten sie Männer und Mulis begrüßen. Der einzige, der sich daneben benahm, war wieder mal Diego, denn der donnerte einen in den Wind, daß die Hunde verstört die Schwänze einkniffen. »Das ist die Begrüßung«, sagte Ed. »Diego hat wenigstens Anstand.« Zwei Männer standen noch unschlüssig herum, als wüßten sie nicht, wie sie den Trupp einzuordnen hätten. Sie schienen mißtrauisch zu sein und dachten wohl an Spanier, aber dann hatten sie offenbar Pater Aloysius erkannt, denn jetzt löste sich ihre Starre, und sie gingen dem Trupp entgegen. 61
Hasard stellte erstaunt fest, daß es eine recht herzliche Begrüßung zwischen dem Padre und den Indios gab. Sie schnatterten auf ihn ein, lachten und zeigten dann auf die Tragbahre, auf der Fred Finley lag und freundlich grinste. Außer Aloysius verstand niemand die Sprache. Der Pater unterhielt sich jedoch fließend und übersetzte auch gleich, damit die anderen wußten, wovon gesprochen wurde. »Wir hatten einen kleinen Unfall«, sagte Aloysius zu den Indios mit den ledergegerbten Gesichtern. Viele Falten waren in diesen Gesichtern, und sie sahen älter aus, als sie waren. Die Indios bedeuteten ihnen, auf den Hof zu folgen. Dort schnatterten sie wieder auf den Padre ein. Die Kinder blickten aus großen dunklen Augen auf die fremden Männer. Auch von den Frauen wurden sie gemustert. »Sie haben uns eingeladen. Wir sollen hier übernachten«, übersetzte der Padre. »Die Frauen bereiten gleich etwas zu essen.« Hasard bedankte sich. Die Frauen musterten ihn verstohlen von der Seite. Auch auf Karl von Hutten blieb ihr Blick eine ganze Weile hängen. Beim Anblick des freundlich grinsenden Profos' schienen sie jedoch etwas Furcht zu empfinden. Der sah jetzt mit seinem wilden Bart noch schlimmer aus, wenn auch die Narben größtenteils verdeckt waren. »Diese Männer sind Engländer«, sagte Aloysius. Darunter konnten die Indios sich jedoch nichts vorstellen, und der Pater versuchte es zu erklären. Aber England war für sie trotzdem so unbekannt wie der Mond. Der Trupp wurde genötigt, in einer der Hütten Platz zu nehmen. Eine der Frauen schleppte einen großen Krug herbei und stellte Schalen auf den Tisch. »Seit langer Zeit haben wir wieder mal ein Dach über dem Kopf«, meinte Ribault. »Das ist wirklich fast ein unbekanntes 62
Gefühl.« Die Männer schenkten sich von dem Getränk ein. Als der Profos den ersten Schluck nahm, verklärte sich sein Blick. »Bier«, sagte er fassungslos, »echtes, richtiges Bier, und nicht so dünn wie das normale Bier. Woher wußten die, daß ich hier aufkreuze?« »Sie bauen Hirse, Kartellen und Gerste an«, erklärte der Paare. »Und aus Gerste braut man bekanntlich Bier. In der anderen Eike ist Fruchtsaft drin, Bruder.« »Fein«, sagte Ed sofort, ,nun haben die anderen ja wenigstens auch etwas zu trinken.« Während die Frauen wieder verschwanden, blieben die beiden Männer bei dem Potosi-Tnra und schwatzten mit Aloysius. Die Kinder standen verschämt an der' Tür und musterten die Männer. »Was ist mit dem Mann passiert?« wollte der eine Indio wissen »Er ist einen Abhang hinuntergerutscht und hat sich den Knöchel gebrochen. Er muß liegen und braucht Ruhe, damit der Bruch heilen kann. Ich wollte euch bitten, ob ihr ihn hierbehalten könnt, bis; wir wieder zurück sind.« Für die Indios war das ganz selbstverständlich. Sie nickten ernst, als der Pater seine Bitte vortrug. »Wohin führt euch der Weg Padre?« »Wir wollen nach Potosi.« Als der Name fiel, zuckten die beiden Männer zusammen und sahen sich unbehaglich an. Potosi war gleichbedeutend mit Sklaverei, Elend, Hunger und Tod. »Nach Potosi?« »Ja, wir haben vor, den Spaniern ans Leder zu gehen, damit die Sklaverei endlich ein Ende hat. Diese Männer sind gut gerüstet, an den Spaniern eine Schlappe beizubringen.« Jetzt war die Verblüffung groß, aber auch die Freude, denn die 63
Dons wurden von den Indios wie die Pest gehaßt aus gutem Grund. »Wir wollen versuchen, die gefangenen Indios zu befreien, um die Silberminen am Cerro Rico lahmzulegen.« Diese paar Worte rissen die Indios hoch. Sie erzählten es sogleich ihren Frauen, dann den Kindern. Gleich darauf begannen sie vor Freude zu hüpfen. »Sie waren schon ein paarmal hier«, erzählte der eine. »Wir konnten jedoch immer rechtzeitig in die Berge flüchten, sonst wären wir heute auch in den Minen von Potosi.« Eine der Frauen sagte, sie hätte eine Schlafstätte für den Verletzten bereitet, und man möge ihn hinübertragen. Sie würden für ihn sorgen und ihn pflegen. Es sei ihnen sogar eine Ehre, diesen Mann im Haus zu haben. Fred Finley war also in den besten Händen. Hasard stand auf und ging hinaus. Als er zurückkam, überreichte er den Indios eine Axt und ein Entermesser, was unbeschreibliche Freude auslöste. Dann trugen sie Fred in einen Raum, in dem Felle und Matten auf dem Boden lagen. »Du hast es gut«, sagte Stenmark. »Wirst gehätschelt und gepflegt und kannst schon jetzt den Helden spielen. Die Leute freuen sich wie verrückt, daß sie dich hierbehalten können.« »Ich bin auch heilfroh, daß diese Leute so nett und hilfsbereit sind. Gar nicht auszudenken, wenn es diese Familie nicht gäbe.« Etwas später trugen die Frauen Essen auf. Da die Schüsseln und Kummen für das Dutzend Männer nicht ausreichten, holten sie das eigene Geschirr. Die Sitzgelegenheiten reichten ebenfalls nicht aus. Ein Teil von ihnen hockte sich auf den Boden. Es gab große dampfende Kartoffeln mit scharfer Soße. In einem anderen Topf befanden sich Picantes, ein stark gepfeffertes Gericht aus kleinen Schoten mit Huhn. 64
Alle Mann langten zu, als hätten sie tagelang nichts mehr gegessen. Das war mal etwas anderes als das schnelle Abkochen beim Biwak. Inzwischen unterhielt sich Aloysius mit den Indios. Der eine hielt liebevoll die Axt im Arm, der andere konnte sich nicht mehr von dem Entermesser trennen und betrachtete es immer wieder mit verzückten Blicken. »Sie möchten, daß wir noch ein paar Tage bleiben«, sagte Aloysius, »aber ich habe ihnen gesagt, daß jeder Tag ein verlorener Tag wäre, denn inzwischen müßten sich ihre Landsleute zu Tode schuften.« »Haben sie es eingesehen?« »Ja, natürlich. Aber die Leute sind überaus gastfreundlich. Sie werden Finley verwöhnen, daß der gar nicht mehr zurück will. Nehmen wir wenigstens das Angebot an, über Nacht zu bleiben? Drüben steht eine Hütte, in der Stroh liegt. Dort könnten wir schlafen.« »Das nehmen wir dankend an«, sagte Hasard. Aloysius besprach noch etwas mit den Indios. Hasard sah, daß die Männer lachten und sich amüsierten. Aloysius drehte sich um und sah den Profos an, der gerade eine große Kartoffel mampfte und sich die scharfen Schoten genüßlich in den Rachen schob. »Ist was?« fragte er kauend. »Sagtest du nicht vor ein paar Tagen, der Herr hätte etwas vergessen? Da war doch die Rede von einem ungewaschenen Rübenschwein, für das der Herr schon mal ein Bächlein hätte fließen lassen dürfen, damit sich gewisse Schäfchen den Dreck abspülen können.« »Stimmt, das sagte ich.« Aloysius lächelte hintergründig. »Der Herr hat ein Ohr für alle Wünsche, Bruder Edwin. Ich 65
habe gesagt, daß er vielleicht eins fließen läßt.« Carberry entsann sich und auch daran, daß der Padre so unergründlich dabei gelächelt hatte. Er hatte noch auf seine Kontakte zum Herrn angespielt, worauf der Pater versprochen hatte, er würde mal in einer stillen Stunde mit ihm reden. »Heißt das, hier gibt es ein Bächlein, Bruder? Nun, wenn es hier eins gibt, dürfte das Wasser aber lausig kalt sein.« »Steh auf, Bruder, dann werde ich dir etwas zeigen, natürlich auch den anderen.« Zwischen den Hütten rannten Hühner umher. Auf einer Wiese, die zum Erstaunen der Männer ziemlich grün war, weideten Schafe. Die drei Hunde folgten ihnen kläffend. Aloysius ging zielstrebig auf eine der letzten Hütten zu. Davor lagen Adobeziegel. Offenbar sollte noch eine weitere Hütte errichtet werden. Etwa dreihundert Yards hinter der letzten Hütte befand sich eine Bodensenke, aus der leichter Dunst aufstieg. Wie Nebel sah das aus. Der Profos blieb schluckend stehen. Auch die anderen sahen verblüfft in die Senke, wo alle paar Lidschläge ein Wasserstrahl aus dem Boden schoß. Ein kleiner See war dort, der einen unsichtbaren Abfluß hatte. Aus dem Wasser schoß immer wieder ein breiter Strahl zischend und gluckernd in die Höhe und ergoß sich wie eine Riesenbrause in den kleinen See. »Das hat der Herr hier fließen lassen«, sagte der Pater genüßlich, »damit sich die Schäfchen den Dreck abspülen können. Das ist ein Geysir, Bruder, mit herrlich warmen Wasser. Du siehst, der Herr hat nichts vergessen und an alles gedacht.« »Ja, er denkt wirklich an alles«, sagte Ed schluckend, als hätte er einen dicken Kloß im Hals stecken. »Man hat den Hof ganz bewußt in der Nähe dieses Geysirs 66
gebaut. Das ist äußerst praktisch. So kann man selbst in der kältesten Jahreszeit baden und hat immer warmes Wasser. Deshalb wächst an dieser Stelle auch alles so prachtvoll.« »Oh, Bruder, deine Kontakte zum Herrn sind wirklich von himmlischer Qualität. Wenn ich dieses Wässerchen sehe, gelüstet es mich nach einem Bad. Ob unsere Indiofreunde das wohl gestatten?« »Selbstverständlich, sie haben es ja gleich angeboten. Sie können sich durchaus sehr gut in unsere Lage nach dem langen Marsch versetzen.« Der Profos grinste fast lüstern, trat einen Schritt vor und tauchte die Hand ins Wasser. Dabei verdrehte er entzückt die Augen. Stenmark und Matt Davies taten es ihm nach. Matt Davies war so perplex, daß er seinen Eisenhaken ins Wasser tauchte und es erst merkte, als der Profos ihn anranzte. »Doch nicht den Haken, du aufgegeiter Wanzenfänger! Die Hand mußt du nehmen.« »Ich spür das auch mit dem Haken«, versicherte Matt. Dann tauchte er aber doch die linke Hand ins Wasser und stöhnte wohlig. »Herrlich warm ist das«, schwärmte Stenmark. »Das ist ja wie ein Geschenk des Himmels, ist das.« »Ist es auch«, sagte der Padre still. »Hm, da könnte man sich gleich die Stoppelchen aus dem Gesicht kratzen«, erklärte der Profos. »Die wachsen bis Potosi ja doch wieder nach. Ist überhaupt ungewohnt, mit so einer Matte herumzulaufen.« Jetzt erschienen auch die anderen mit dem zweiten Indio, der sie freudestrahlend heranführte und stolz auf den sprudelnden Geysir zeigte. In den Gesichtern malte sich Verblüffung, ausgerechnet hier auf einen sprudelnden Geysir zu treffen. 67
»Das ist gar nicht so ungewöhnlich«, sagte Aloysius. »Die Puna ist im Osten und Westen von mächtigen Massiven gesäumt, die meist vulkanischen Ursprungs sind. Das hier ist auch nicht der einzige Geysir, es gibt weit verstreut noch ein paar kleine.« Die Männer empfanden Dankbarkeit, daß sie endlich einmal aus den Klamotten kamen und sich waschen konnten. Und dann auch noch unter einer warmen Brause! Das war wirklich wie ein Geschenk. Eine knappe halbe Stunde später grunzte der Profos vor Wohlbehagen wie ein Büffel und tummelte sich mit Dan O'Flynn, Stenmark, Matt und Gary Andrews in dem hüfthohen Wasser. Die anderen wollten anschließend baden. Immer wieder tauchten sie prustend unter und konnten ihr Glück gar nicht fassen. Auf dem langen Marsch waren sie bescheiden geworden, und jetzt erfüllte sie ein warmes Bad mit unbeschreiblicher Freude. Als die anderen den Tümpel wieder verlassen hatten, sprang der Profos immer noch auf und nieder. Dabei stieß er Töne aus, die an das Röhren eines Hirsches erinnerten. Die meisten rasierten sich und nahmen die Barte ab. Danach fühlten sie sich wie neugeboren. Die Indios versorgten auch die Maultiere und führten sie auf die Weide, wo die Schafe grasten. Dabei sahen die Männer, daß die Familie auch Weizen, Mais und Bohnen anbaute. Hier, in der Nähe des kleinen Geysirs war die Erde wärmer und der Boden auch im Winter nicht gefroren. Am Abend gab es wieder Kartoffeln und stark gewürzte Anticuchos, die mit Zwiebeln und Pfefferschoten gereicht wurden. Die Anticuchos waren kleine Hammelfleischstücke, die auf einen langen Spieß gesteckt wurden. Als die Indios herausgefunden hatten, daß die Männer gern Bier tranken, schenkten sie uner68
müdlich ein. Sie wurden schon wie Helden gefeiert, als hätten sie die Silberminen von Potosi längst lahmgelegt. Nach dem Essen unterhielten die Indios sie mit Musik von einer Art, wie noch keiner der Männer sie gehört hatte. Es waren fremde, aber wohlklingende Töne, meist etwas schwermütig. Der eine blies auf der Panflöte Sicus, die aus einem Dutzend Pfeifen bestand, die unten geschlossen und in Reihen miteinander verbunden waren. Der andere blies auf der blockflötenartigen Kena, die aus sieben Grifflöchern bestand und das Lieblingsinstrument der bolivianischen Indios war. Später wechselte er das Instrument gegen ein Bajon aus, ein Mundstückinstrument aus Baumrinde und gebranntem Ton. Aus der Musik klang die Einsamkeit der Puna, das harte und entbehrungsreiche Leben der Indios. Die Töne waren harmonisch, ein bißchen wehmütig und fast elegisch. Einer der Indios sang später mit heller klarer Stimme, während der andere ihn auf der Sicus begleitete. »Sie besingen die Puna, die Berge und den Kondor«, erklärte der Pater. Inzwischen war es längst dunkel geworden. Über der Puna blies der kühle Wind sein monotones Lied. Nach diesem Tag hatten die Seewölfe ein ganz anderes Bild von den Indios mit ihrer alten Kultur. Stolz waren sie, aber ihr Stolz wurde von den Spaniern gebrochen. Sie wurden verschleppt, gefoltert, mit Bluthunden gejagt und versklavt. Und ihre Frauen wurden vergewaltigt. »Wenn ich noch einmal von einem lausigen Don höre«, sagte Ed grimmig, »daß er von Indioaffen spricht, dann breche ich ihm das Genick, so wahr ich Edwin Carberry heiße. Wird höllisch Zeit, daß wir den Dons in die Silberminen spucken. Ich kann es kaum noch erwarten.« »Ja, sie behandeln diese Leute wie Vieh«, sagte Hasard. »Aber 69
wir werden bald Gelegenheit haben, unseren Plan durchzuführen. Wir brechen morgen gleich nach Sonnenaufgang auf.« In dieser Nacht schliefen sie auf Stroh und brauchten keine Zelte aufzuschlagen. Hier gab es auch keinen Wind, der ihnen eisigkalt in die Knochen fuhr. Sie schliefen so gut wie schon lange nicht mehr. 5. Am nächsten Morgen brachen sie auf und sahen noch einmal nach Fred Finley, der lebhaft bedauerte an dem Unternehmen nicht teilhaben zu können. »Auf dem Rückweg holen wir dich wieder ab«, versprach Ribault. »Bis dahin ist dein Knöchel sicher geheilt. Und keine Sorge, Fred: Die Leute hier werden sich fürsorglich um dich kümmern.« »Mast- und Schotbruch«, murmelte Finley gerührt. »Und bestellt den Dons einen Gruß von mir, aber einen kräftigen.« Das versprachen sie alle grinsend. Dann beluden sie ihre Maultiere und verabschiedeten sich von der Indiofamilie. Alle guten Wünsche begleiteten sie. Aloysius bedankte sich und erklärte noch einmal, daß das Bein von Finley in Ruhestellung bleiben müsse, so wie es jetzt geschient war, damit es heile. Aber darauf verstanden sich die Indios selbst. Etwas später brach der Trupp auf. Die drei Hunde begleiteten sie noch ein Stück, dann kehrten sie um. Vor ihnen lag die trostlose Weite der Puna. Einhundertfünfzig Meilen Fußmarsch. Aber jetzt würde der Marsch leichter sein als vorher. Immer öfter war jetzt der Andenkondor zu sehen, wenn er in unglaublich großen Höhen seine einsamen Kreise zog. Es sah 70
aus, als begleite er die Männer auf ihrem langen Marsch. Immer wieder sahen sie gebannt zu. Der Anblick des großen Vogels war faszinierend. Die Tage in der Puna waren wieder heiß. In den Nächten dagegen wurde es bitterkalt. Sie kamen jedoch gut voran und konnten stramm ausschreiten. Das Land war rauh, vom Sturm gebeutelt. Nur ganz selten mal gab es einen Baum. Auch Großtiere fehlten. Es gab zwar den Puma, den Berglöwen, und das Huemul, einen geweihtragenden Hirsch, aber sie bekamen in den ersten beiden Tagen keines dieser Tiere zu sehen. Einmal sahen sie ein Vikuna, aber das kniff bei ihrem Anblick in langen Sätzen aus und verschwand hinter einer Mulde. Auch die Vegetation war karg und dürftig. Meist gab es nur verschiedene Gräser, die von den Indios mit dem Sammelnamen ›Ichu‹ bezeichnet wurden. Die Halme der Ichugräser waren nadelartig und boten der trockenen Luft kaum eine Angriffsfläche. So hielt sich ihr Wasserverlust in geringen Grenzen. Dann gab es ein flaches distelähnliches Gewächs. Die anderen Mulis verschmähten es, aber Diego blieb jedesmal stehen und fraß es bis zum Boden ab. »Du bist vielleicht ein komisches Vieh«, sagte Ed. »Nachher hast du das ganze Maul voller Stacheln.« Diego nickte und mampfte ungerührt weiter. Am späten Nachmittag des ersten Tages deutete Dan O'Flynn voraus. »Was ist denn das für ein Gebilde?« fragte er. »Das sieht aus wie ein Baumstamm, der in der Mitte eine stachelige Perücke trägt.« »Vielleicht erleben wir das Wunder der Puna«, sagte Aloysius. »Ich habe es bisher nur einmal gesehen, aber es ist überwältigend.« 71
»Ein Baumstamm mit Perücke soll überwältigend Sein«, meinte Ed. »Das ist höchstens merkwürdig.« »Laß dich überraschen, Bruder.« »Sind ja nur noch zwei, drei Meilen«, schätzte Gary Andrews. »Mindestens acht bis neun«, sagte der Padre. »In der Entfernung kann man sich gewaltig verschätzen, denn hier ist die Luft absolut staubfrei, und was man glaubt, mit Händen greifen zu können, ist noch sehr weit weg.« Er hatte recht. Es dauerte noch eine Ewigkeit, bis sie das eigenartige Gebilde erreichten. Dann aber waren sie tatsächlich überwältigt und staunten nur noch, daß es in dieser Einöde so etwas gab. Das Gewächs stand etwas geschützt an einem sanft ansteigenden Hang. Niemand sprach ein Wort, alle starrten das Ding an. Es war etwa acht bis neun Yards hoch und von faszinierender Schönheit. Unten trug es ein dicker Stamm, dem die ›Perücke‹ folgte. Darüber hinaus wuchs ein riesiger, einem Maiskolben ähnlicher Stamm, der aus Tausenden von Blüten bestand. Und um diese Blüten schwirrten aufgeregt winzige Kolibris, die ihre langen Schnäbel immer wieder in die Blüten tauchten, um den Nektar herauszusaugen. »Ich werd' glatt verrückt«, sagte Ribault. »Hier, in dieser Einöde, wächst so eine phantastische Pflanze? Und dann gibt es hier auch noch Tropenvögel? Was ist das überhaupt, Bruder?« Aloysius stand andächtig davor. »Das ist die Puya, die allen Gesetzen des Absterbens trotzt. Man sagt, sie wuchs schon hier, als dieses Land noch flach und sumpfig war. Offenbar hat sie sich bei der Entstehung des Gebirges angepaßt und an immer größeren Höhen gewöhnt. Diese Puya ist etwa hundert Jahre alt, erst dann bildet sie ihre Blüten aus. Es ist mit Sicherheit die einzige, die wir sehen werden, wenn 72
sie in voller Blüte steht. Leider stirbt sie nach dem Blühen ab, aber vorher tut sie noch einmal alles, um ihre Art zu erhalten und zu verbreiten. Die Kolibris fliegen von tief unten aus den Yungas herauf, wenn die Puya blüht, und laben sich an dem süßen Saft der Blüten. Ist sie nicht ein Wunder?« Das wurde ausnahmslos und staunend bestätigt. Selbst in der öden Puna gab es immer noch etwas zu entdecken, und eine Überraschung folgte der anderen. In dieser Nacht kampierten sie in einer geschützten Mulde in ihren Zelten und hüllten sich dick in die Decken ein, denn die Nacht war wieder eisigkalt, und der Wind pfiff scharf heran. Gleich in der Frühe des anderen Morgens gab es die nächste Überraschung, und sie erhielten ungewöhnlichen »Besuch«. Die Mulis waren bepackt, und die Truppe setzte sich in Bewegung, als Dan O'Flynn aufgeregt nach oben zeigte. »Ein Kondor«, sagte er. Aber das schreckte die anderen längst nicht mehr auf. Sie waren den Anblick der Riesenvögel bereits gewohnt. Aber dieser Kondor war offenbar sehr neugierig, denn er ging immer tiefer hinunter, in der eindeutigen Absicht, genau auf die Männer zuzufliegen. Verblüfft starrten sie nach oben. »Der Geier wird doch uns nicht holen wollen«, murmelte Gary, »der scheint keine Angst zu haben.« Selbst der Padre hatte Ähnliches wohl noch nie erlebt, denn er blickte ebenfalls fassungslos auf den Vogel, der immer größer und immer gewaltiger wurde. Jetzt war er bestenfalls noch fünfzig Yards hoch und sehr deutlich zu erkennen. Fast schwerelos schwebte er heran, immer noch auf die erstaunten Männer zu, denen es langsam mulmig wurde. Da waren weitausladende mächtige Schwingen, die jetzt einmal kraftvoll und rauschend durch die Luft schlugen. Der riesige 73
Kondor verdeckte mit seinen Flügeln fast den Himmel. Aus der Nähe betrachtet, wirkte er längst nicht mehr so elegant und majestätisch. Jetzt schwebte er mit mächtigem Flügelschlag höchstens noch zehn Yards hoch über den Männern. Deutlich war der Wind zu spüren, den seine riesigen Schwingen verursachten. Der Kondor war hager, seine Nähe beunruhigend und erschreckend. Er hatte einen abstoßenden Kopf mit nackten Kehllappen, einen furchterregenden riesigen Schnabel und großen Hautfalten um die Augen. Diese Augen sahen kalt und berechnend auf die Männer, als handele es sich um leichte Beute. Der Glanz der Augen war böse und wirkte einschüchternd. Der Vogel schien unheimlich gut sehen zu können. Immer noch schlug er wild mit den Schwingen auf und ab. Dann umkreiste er die Gruppe. Als der Profos hochsprang und dabei in die Hände klatschte, traf ihn ein eiskalter Blick, der ihm durch und durch ging. Das Geklatsche störte den Riesenvogel nicht im Geringsten. Er flog eine weite Schleife, stieg dann höher hinauf und ließ sich von dem Wind in die Höhe tragen. Als er genau über den Männern stand, unternahm er den zweiten Anflug und stürzte nochmals bis auf sechs, sieben Yards hinunter. Alle duckten sich instinktiv. Dieser Neuweltgeier war zwar ein Aasfresser, aber vielleicht hatte er heute seinen hungrigen Tag. Er schien jeden einzelnen der Gruppe genau zu mustern, legte den Kopf schief und sah von einem zum anderen. Erst dann strich er mit wildem Flügelschlag ab. Er ging in Schräglage, nutzte den Aufwind aus und schwebte zu den fernen Bergen hinüber. Dort schraubte er sich langsam in die Höhe, und nach einer Weile sah er wieder elegant und majestätisch aus. »Das habe ich auch noch nicht erlebt«, sagte Aloysius. »Der hat 74
sich sehr ausgiebig für uns interessiert.« »Er musterte jeden einzelnen von uns«, sagte Hasard. »Dabei interessiert er sich doch nur für Aas.« »Vor ein paar Tagen hätte ich das ja noch verstanden«, sagte der Profos, »da haben wir noch wie die Schweinchen gestunken. Aber jetzt sind wir frisch gebadet.« Dann legte er den Zeigefinger an die Nasenspitze und fügte hinzu: »Vielleicht war's doch Old O'Flynn, der nur mal sehen wollte, wie es uns so geht. Der hatte genau den gleichen Blick wie dein Alter drauf, Dan, wenn er jemanden mustert. Dann stiert er auch immer so scharfäugig.« »Himmel, redest du wieder einen Stuß«, sagte Dan. »Das mit meinem Alten ist dir wohl nicht auszutreiben, was? Glaubst du Riesenhirsch denn etwa, der kann sich in einen Kondor verwandeln? Der hat so ein Vieh ja noch nie gesehen.« »Old O'Flynn kann fast alles«, erklärte Ed, und dann verstieg er sich gleich zu einer weiteren Behauptung, die bei den anderen Kopf schütteln auslöste. »Irgend etwas stimmte mit dem Geier jedenfalls nicht. So benimmt sich kein Kondor.« »Woher weißt du denn, wie sich ein Kondor benimmt?« »Vielleicht war's ein spanischer Spion, den sie von Potosi geschickt haben, um hier die Gegend zu überwachen. Sie können ihn ja dressiert haben, so wie man das mit Albatrossen macht oder wir mit den Brieftauben auf der Schlangen-Insel.« Der Seewolf griff sich verzweifelt an den Kopf. »Laß das bloß keinen hören, Ed. Ein Kondor als spanischer Spion! Und der fliegt jetzt zurück und verklart den Dons, daß ein Dutzend Engländer unterwegs ist, um Potosi anzugreifen.« »Warum nicht«, sagte Ed ungerührt. »Das ist eben meine Theorie.« »Und du glaubst, er spricht spanisch mit den Dons?« fragte Dan höhnisch. 75
Die Antwort haute ihn fast um. »Ich hab noch keinen Kondor quatschen hören. Aber sie können ihm ja beigebracht haben, daß er beispielsweise so und so oft mit den Flügeln schlägt. Ein Stummer quasselt ja auch nicht, sondern drückt sich durch Gesten aus.« Hasard lachte verhalten. Mitunter entwickelte der Profos Theorien, die himmelschreiend waren. »Erst war's der alte O'Flynn«, sagte er lachend, »und als das nicht zog, wurde ein spanischer Spion daraus, der sich durch Flügelschlagen verständigt.« »Lacht nur«, maulte Ed beleidigt. »Ein normaler Kondor war das jedenfalls nicht, sonst hätte er nicht so geglotzt.« Darin mußten sie ihm allerdings recht geben. Das Verhalten des Vogels war recht ungewöhnlich gewesen. »Vielleicht war's Sir John«, sagte Matt grinsend, »der Kreischgeier hat sich in einen Kondor verwandelt und wollte mal sehen, wie's dem lieben Herrn und Meister so geht. Deswegen hat er dich auch besonders genau gemustert.« »Meinst du?« fragte Ed zweifelnd. »Davon bin ich überzeugt.« Pater Aloysius amüsierte sich köstlich. Die Kerle führten so erbauliche Dialoge, daß keine Langeweile aufkam. Er fühlte sich in ihrer Gesellschaft ausgesprochen wohl. In dieser Nacht kampierten sie wieder in einer der zahlreichen Mulden, die etwas vor dem beißenden Wind geschützt waren. Dann begann der dritte Tag ihres Marsches durch die Puna. * Hasard hatte grob gerechnet, daß sie pro Tag etwa dreißig Meilen zurücklegten. Es gab keine Hindernisse mehr und so konnten sie stramm und zügig marschieren. 76
Am Vormittag wurde Dan O'Flynn auf ein paar winzige Punkte aufmerksam, die die anderen noch nicht bemerkt hatten. Sie waren auch noch sehr klein und kaum zu bemerken. »Da bewegt sich etwas«, sagte Dan. Er ging zu dem Maultier hinüber und nahm ein Spektiv aus der Satteltasche. Langsam zog er es auseinander und blickte gespannt hindurch. »Eine langgezogene Kolonne«, murmelte er. »Sie bewegt sich in östlicher Richtung.« »Soldaten?« fragte Hasard. »Ja, Soldaten, Maultiere und gebeugte Gestalten. Offenbar Gefangene Indios.« »Sklaven für Potosi«, sagte Hasard hart. »Das ist eine logische Schlußfolgerung. Die Trupps aus Arica sind mal wieder am Werk gewesen, um menschliches Arbeitsvieh zu beschaffen. Da steigt mir die Galle hoch. Das sind jene Trupps, die auch die Padres von Tacna vereinnahmen wollten.« »Wenn ihr nicht eingegriffen hättet, wären wir jetzt sicher auch schon in Potosi«, sagte Aloysius grimmig. Hasard deutete auf die kaum sichtbaren Punkte und wandte sich fragend an den Padre. »Ist das die Route Arica-Potosi?« »Ja, das ist sie«, bestätigte Aloysius. »Sie verläuft vom Westen her.« »Was tun wir, Sir?« fragte Ed kampflustig. »Den Dons eins auf die Ohren hauen?« »Zuerst gehen wir in jener Mulde dort in Deckung, damit wir nicht gesehen werden. Dann beratschlagen wir.« Er warf auch noch einen Blick durchs Spektiv und nickte grimmig. »Ja, kein Zweifel, es sind Gefangene.« Die Mulde bot guten Sichtschutz. In aller Eile verbargen sie 77
sich mit den Maultieren darin. »Ich bin dafür, daß wir die Gefangenen befreien«, sagte Hasard. »Ist jemand anderer Meinung?« »Ich ganz bestimmt nicht«, versicherte Ed. »Diesen Menschenschindern gehört ordentlich was aufs Maul.« Die beiden streitbaren Padres waren ebenfalls dafür, und auch die anderen stimmten sofort zu. »Gut, dann pflocken wir jetzt die Maultiere an und überprüfen unsere Waffen«, sagte der Seewolf. »Einer muß bei den Tieren zurückbleiben. Wer übernimmt das?« Keiner meldete sich. Der Profos blickte in eine andere Richtung, als könne er mit der Frage niemals gemeint sein. »Hm, dann lassen wir das Los entscheiden.« Das Los fiel schließlich auf Gary Andrews, der in der Mulde bei den Tieren zurückbleiben mußte. Die Mulis wurden angepflockt, dann überprüften sie ihre Pistolen und steckten auch die Entermesser ein. »Wir bleiben immer in Deckung der Mulden«, sagte Hasard. »Also in südöstlicher Richtung. Dort werden wir die Kolonne abfangen.« Gary Andrews blickte ihnen nach, als sie von Deckung zu Deckung eilten. Er wäre gern mit dabei gewesen, aber das Los hatte nun mal anders entschieden. 6. Kurz nach Mittag näherte sich der traurige Zug. Hasard hatte mit seinen Männern zwei Hügel besetzt, zwischen denen der Trampelpfad nach Potosi sichtbar war. Was sich jetzt da näherte, war ein Zug des Elends, der Angst und der Verzweiflung. Er biß sich auf die Lippen, als er das sah. Zwölf Soldaten unter einem Teniente begleiteten den traurigen 78
Zug. Sie waren mit Peitschen ausgerüstet, die sie wahllos und äußerst brutal einsetzten. Schon jetzt war das Schreien und Stöhnen Verzweifelter zu hören, die sich unter den unbarmherzigen Schlägen ihrer Peiniger angstvoll duckten. Hasard zählte zu seinem Entsetzen genau sechzig Indios. Je sechs waren an einen Baumstamm gefesselt, den sie zwischen sich mitschleppen mußten. Er knirschte mit den Zähnen, als er das sah. Neben ihm schob Carberry sein Rammkinn vor. »Schweinehunde«, flüsterte er. »Sieh dir nur diese armen Teufel an, Sir. Sie schleppen völlig nutzlos zehn Baumstämme von Arica nach Potosi und werden dafür auch noch geprügelt.« »Ja, eine raffinierte und höllische Methode der Dons. Damit sind sie sicher, daß keiner der Indios entwischen kann.« Sie lagen zu fünft auf dem Hügel. Fünf andere Männer befanden sich auf dem gegenüberliegenden Hügel. Die Kolonne mußte genau zwischen den beiden Hügeln hindurch. Hasard sah verzweifelte, verängstigte Gesichter und dachte an die stolze Familie, deren Obhut sie Fred Finley anvertraut hatten. Es hätten auch die Männer vom Hof dabei sein können. Er dachte an die Kunstwerke, die die Vorfahren dieser Indios geschaffen hatten, an die alte Kultur, die von Pizarro unbarmherzig und für immer ausgelöscht worden war. Und er dachte an die Frauen und Kinder, die hilflos zurückblieben und zusehen mußten, wie sie mit dem Leben fertig wurden. Und das alles geschah im Namen Seiner Allerkatholischsten Majestät, damit die Schatullen gefüllt wurden und die Dons weiter Kriege führen konnten, um noch mehr Menschen zu unterjochen und auszubeuten. Verdammte Bluthunde, dachte er angewidert. Diese gefangenen Indios konnten mit ihrem Leben abschließen. Sie würden auf immer in den Silberminen verschwinden, gepeinigt, geschlagen 79
und entwürdigt. Der Teniente, der den traurigen Zug führte, schien ein ganz besonderes Früchtchen zu sein, oder er hatte einfach seinen Spaß daran, die wehrlosen Indios zu schlagen. Die Gefangenen schleppten an ihren schweren Baumstämmen und konnten sich unter der schweren Last nicht schneller bewegen, aber dem Kerl ging das offenbar alles zu langsam. Er ließ die Peitsche durch die Finger gleiten und holte grinsend aus. Als er zuschlug, wand sich einer der Indios schreiend unter dem wilden Schlag. Seine Haut platzte auf, und er fiel wimmernd auf die Knie. Dabei riß er zwangsläufig die anderen an den Baumstamm gefesselten Männer mit sich. Jetzt traten die zwölf Soldaten in Aktion. Wie die Irren schwangen sie die Peitschen und schlugen wahllos auf die am Boden liegenden Männer ein, die der Baumstamm fast unter sich begrub. Ihre Schreie klangen entsetzlich laut und waren in der klaren Luft meilenweit zu hören. Mit aller Gewalt wurden sie hochgepeitscht, bis ihr Schreien in Wimmern erstickte. Und dann schlich dieser Hund von Teniente an einen Mann heran und zog ihm von hinten eins mit der Peitsche über. Hasard konnte es kaum noch erwarten, bis der Zug heran war. Diese prügelnden Kerle hatten keine Gnade zu erwarten. Wer andere so erniedrigte, schindete und halbtot schlug, hatte die Konsequenzen zu tragen. Die Indios waren wieder auf den Beinen, unbarmherzig weitergetrieben mit klatschenden Peitschenhieben. Das Gesicht des Seewolfs war hart und kalt. In seinen blauen Augen stand der Frost. Der Profos dicht neben ihm sah zum Fürchten aus. Alle Männer hatten die Hähne ihrer Pistolen gespannt. Die sollten zuerst eingesetzt werden, dann die Entermesser. 80
Der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Die Bewacher prügelten weiter auf die gebeugten und geschundenen Kreaturen ein. Dicht vor den Hügeln kriegte der Teniente wieder einen Tobsuchtsanfall. Er schlug immer von hinten und genoß sichtlich das wilde Aufschreien und Zusammenzucken der Männer, wenn die Peitsche sie unvorbereitet traf. Der Mann brach wieder schreiend zusammen und hielt sich die linke Hand vor das Gesicht. Die Peitsche hatte ihn von hinten über den Kopf ins Gesicht getroffen. Durch das Zusammenbrechen geriet der Zug ins Stocken und hielt an. Als sich der Teniente über den zusammengebrochenen Mann beugte und zuschlagen wollte, fiel Hasards Schuß. In der Stille klang er entsetzlich laut. Der Teniente ließ die Peitsche fallen und griff sich an den Hals. Dann kippte er lautlos zur Seite und blieb liegen. Die Indios starrten furchtsam auf ihren Peiniger, als sei der vom Blitz getroffen worden. Die Soldaten griffen zu ihren Waffen. Von den beiden Hügeln stiegen Pulverwölkchen auf. Die Luft war von peitschenden Schüssen erfüllt. Immer wieder blitzte es auf. Ein Soldat nach dem anderen fiel unter den Schüssen. Die erste Salve fegte neun Spanier von den Beinen. Hasard zog sein Entermesser und stürmte in langen Sätzen den Hügel hinunter, gefolgt von den anderen. Es waren nur noch drei Dons übrig. Den einen sprang Carberry an, mit einer solchen Wildheit, daß der Spanier schreiend zurückwich. Er war schon tot, noch bevor er den rasenden Kerl richtig erkennen konnte. Der zweite Don wehrte sich gegen Matt Davies, der auf ein Entermesser verzichtete und sich ganz auf seine eiserne Hakenprothese verließ. Unter einem wilden Hieb fiel gleich darauf 81
auch der zweite Don. Nur einer war noch übrig, den Ribault mit dem Entermesser anging. Dann war auch das vorbei. Auf dem kühlen Boden der Puna lagen dreizehn tote Spanier. Die gefesselten Indios waren anfangs erschrocken, als es knallte und ein Don nach dem anderen umfiel. Sechzig aufgerissene Augenpaare starrten die Männer verstört an. »Befreit sie von diesen verdammten Fesseln!« rief Hasard. Mit dem Entermesser in der Faust zerschnitt er die ersten Fesseln. Die Baumstämme polterten einer nach dem anderen zu Boden. Pater David und Pater Aloysius kümmerten sich um die armen Kerle, die vor Dankbarkeit auf die Knie fielen, als sie endlich von den Marterwerkzeugen befreit waren. Sie konnten immer noch nicht so richtig fassen, was hier vorgefallen war. Viele der Indios waren von den Peitschenhieben verwundet, blutüberkrustet und zerschunden. Die Männer waren halbverhungert und hatten auch Durst leiden müssen. Den Dons war es egal, in welchem Zustand sie die Sklaven ablieferten. Früher oder später würden sie ohnehin sterben müssen. Die Hauptsache für sie war, daß überhaupt Sklaven nach Potosi kamen Nachschub, wie sie es nannten, menschliches Arbeitsvieh oder Indioaffen. »Seht bei den Maultieren nach«, sagte Hasard, »sie sind mit Proviant, Wasser und allem Nötigen beladen. Verteilt den Proviant an die Männer und gebt ihnen zu trinken.« Vierzehn Mulis waren es, die der Trupp mit sich geführt hatte. Die Tiere standen verstört herum, offenbar durch die Schüsse erschreckt. Dann wurde der Proviant gesichtet, und den Tieren Wein- und Wasserschläuche abgenommen. Das alles wurde unter den sechzig Indios verteilt. »Was tun wir mit den Maultieren?« fragte Aloysius, der gerade 82
einen bei sonders schlimm gezeichneten Mann verarztete. »Sag ihnen, Padre, sie können die Mulis behalten und unter sich aufteilen, auch den Rest an Proviant und was alles dazugehört. Sie sollen auch die Waffen der Spanier mitnehmen, damit sie besser gerüstet sind, wenn die Sklaventreiber wieder auftauchen.« »In Ordnung, Sir.« Der Pater übersetzte das, und wieder fielen die Indios vor Dankbarkeit auf die Knie. Diese Männer hatten sie vor einem entsetzlichen Tod bewahrt, und so kannte ihre Dankbarkeit keine Grenzen mehr. Als alle Indios versorgt waren, ihren Hunger und Durst gestillt hatten, schickte Hasard Matt Davies los, um Gary Andrews mit den Maultieren zu holen. »Die Leute sind alle versorgt«, sagte Hasard. »Sie werden sich freuen, so schnell wie möglich zu ihren Familien zurückkehren zu können. Wir sollten sie daher auch nicht länger aufhalten, sonst bedanken sie sich noch den ganzen Tag, und das ist mir peinlich. Sie können also beruhigt losziehen.« Als der Padre das verklarte, leuchtete es in den Augen der Männer auf. Sie waren wieder frei und im allerletzten Augenblick der Sklaverei entgangen. Sie zogen mit den Mulis westwärts, aber sie drehten sich alle Augenblicke um und winkten, bis sie als winzige Punkte am Horizont verschwanden. »Sechzig Sklaven weniger«, sagte Hasard. »Immerhin ist das ein Erfolg. Diese sechzig Männer fehlen Old Philipp von Spanien in den Silberminen.« »Und dreizehn Dons fehlen ihm ebenfalls«, setzte der Profos trocken hinzu. »Die können keine Sklaven mehr zusammentreiben.« Inzwischen waren Gary Andrews und Matt Davies mit den 83
eigenen Maultieren erschienen. Gary staunte nur, als er das sah. Er hatte auch den Trupp Indios abziehen sehen. »Wir müssen alle Spuren verwischen«, sagte Hasard, »denn auf dieser Route kreuzen sehr oft die Dons auf. Das ist der berüchtigte Trampelpfad nach Potosi. Wenn die Dons etwas merken, ist das ganze Unternehmen gefährdet.« Von Hutten nickte. »Das heißt, wir müssen die Spanier beerdigen, damit keine Spuren zurückbleiben.« »Ja, das müssen wir tun. Aber nicht nur das. Die Baumstämme sind ebenfalls verräterisch. Auch sie müssen verschwinden, sonst weiß jeder Spanier, daß hier Indios geflohen sind. Sind aber alle Spuren verwischt, so können sie lange rätseln, wo der Trupp geblieben ist. Er hat sich einfach in Luft aufgelöst.« »Wir spalten die Baumstämme und stecken sie in Brand«, schlug Gary Andrews vor. »Das geht nicht. Das Holz ist zu feucht.« »Dann müssen wir sie wohl oder übel unter dem Boden in einer der Senken verscharren. Vielleicht da drüben, weil dieser Pfad ja oft gegangen wird.« »Dann fangen wir an. Spaten und Hacken haben wir im Gepäck.« Sie fackelten nicht lange und gingen sofort an die Arbeit. Pater David schnappte sich einen Spaten und ging zu der anderen Senke hinüber, wo er sich suchend umsah. Hier kam niemand hin, das war jedenfalls nicht anzunehmen. Und wenn, dann fand er nichts mehr. Die toten Spanier wurden zu der Mulde gebracht. Pater Aloysius vergewisserte sich bei jedem einzelnen, daß er auch wirklich tot war und sie nicht einen Schwerverletzten begruben. Aber es lebte niemand mehr. Eine breite Grube wurde ausgehoben. Als sie fertig war, stand den Männern der Schweiß auf der Stirn. 84
»In diesen Höhen fällt sogar eine leichte Arbeit schwer«, sagte Stenmark. »Wie kann man da noch in Silberminen schuften! Das hält ja nicht mal ein Ochse aus.« »Die armen Kerle müssen es aushalten«, sagte Hasard, »aber irgendwann brechen sie zusammen.« Selbst dem hünenhaften Pater David stand der Schweiß auf der Stirn, als die Grube ausgehoben war. Er schnaufte, genau wie der Profos, der überrascht war, daß er bei einer leichten Arbeit schon kurzatmig wurde. Einer nach dem anderen wurde in die Grube gelegt. Dann wurde Erde darüber geschüttet und die restliche Erde im Umkreis so verteilt, daß keine Spuren mehr zu erkennen waren. »Jetzt noch zehn Baumstämme«, stöhnte der Profos, »das wird noch mal eine üble Plackerei.« »Das geht aber nicht anders, Ed. Wenn die Stämme hier liegenbleiben, ist das genauso verräterisch, als hätten wir die Dons hier liegen lassen.« »Stimmt, Sir. Also ran an die Arbeit. Wohin mit den Dingern?« »Zur anderen Seite in die kleine Senke.« Als sie die Baumstämme zu der kleinen Mulde schleppten, schüttelte der Profos den Kopf. »Die sind für sechs Mann fast zu schwer. Stell dir vor, Dan, wir wären an die Dinger gefesselt und müßten sie von Arica bis nach Potosi schleppen. Da bricht man ja unterwegs schon zusammen.« »Und dann kriegst du noch ständig die Peitsche ins Kreuz«, sagte Dan grimmig. »Das mußt du dir noch dazu vorstellen, dann weißt du, wie einem Indio zumute ist.« »Und nach dieser Plackerei ist dein Leben so gut wie zu Ende, denn dann landest du in den Minen, ausgelaugt und halbtot. Und dort prügeln sie weiter auf dich ein.« Diese Vorstellung darf man gar nicht zu Ende denken, über85
legte Dan, sonst kann einem übel werden. Wieder wurde eine breite, aber nicht sehr tiefe Grube ausgehoben. Die beiden Padres standen vor dem Grab der Soldaten und sprachen ein kurzes Gebet. »Möge der Herr im Himmel, euch armen Sünder die Schandtaten verzeihen, die ihr hier auf Erden angerichtet habt«, sagte Pater Aloysius mit seiner tiefen Stimme. »Amen«, fügte Pater David hinzu. Als auch die Baumstämme unter der Erde verschwunden waren, war es bereits Nachmittag. Sie überzeugten sich noch einmal gründlich davon, daß alle Spuren verwischt waren. Es gab nichts Auffälliges mehr zu sehen. »Dann ziehen wir weiter«, sagte Hasard. »Es besteht jetzt natürlich die Möglichkeit, daß wir wieder auf Spanier stoßen. Wir müssen also immer gut aufpassen.« Carberry vergewisserte sich inzwischen, ob sein »Diegolein« auch gut bepackt war, damit die Lasten nicht an seinem Kreuz scheuerten. Er fand alles in Ordnung bis auf das dämliche Grinsen, das der Halbesel wieder drauf hatte. Er grinste Carberry regelrecht an und nickte dazu ständig. Aber er hatte sich in den letzten Tagen lammfromm verhalten und war auch nicht mehr so tückisch. »So, jetzt geht's weiter, Du Furztrompeter«, sagte Carberry. »Benimm dich auch in Zukunft anständig.« Diego nickte immer noch, dann erfolgte wieder das sattsam bekannte Donnern, das die Männer zusammenzucken ließ. Ein recht merkwürdiges Vieh war das schon, das konnte niemand abstreiten. Es ging weiter über die ›Straße‹ nach Potosi, ein kaum erkennbarer Pfad, der im harten Untergrund kaum sichtbar war. 86
Einmal sahen sie an diesem Tag drei junge Vicunas, die in einer Mulde standen und ästen. Die Tiere waren völlig überrascht worden, aber jetzt jagten sie los, die Hälse vorgestreckt, die Ohren ganz zurückgelegt. Feingliedrige, graziöse Tiere waren das, die aus der Ferne wie kleine Kamele aussahen. Sie rasten meilenweit in einem höllischen Tempo und verschwanden schließlich hinter einer Senke. Als sie wieder auftauchten, waren sie mindestens drei bis vier Meilen entfernt. »So müßte man rennen können«, sagte Stenmark, »dann wären wir gleich in Potosi. Wie lange wird das noch dauern?« fragte er dann Pater Aloysius. »Fünf bis sechs Tage ganz sicher noch.« »Und über die Berge müssen wir auch noch einmal?« »Ja, über die Cordillera de los Frailes. Wenn wir in dem Tempo weitermarschieren, dürften wir sie übermorgen erreichen.« Stenmark legte die Stirn in Falten und dachte nach. »Übermorgen ist das nicht ein besonderer Tag?« »Weihnachten«, sagte der Padre andächtig. »Der Tag der Geburt des Gottessohnes, 'ein ganz besonderer Tag.« »Na, Wein zum Feiern haben wir ja«, sagte Sten. »Und ein Schlückchen vom Öl des heiligen Vaters«, setzte Carberry hinzu. »Ich hoffe, du wirst da etwas großzügiger sein, Bruder. In letzter Zeit hast du arg damit geknausert.« »Es ist auch nicht mehr viel da, deshalb.« »Und übermorgen?« »Das ist etwas anderes.« »Hoffentlich ist bald übermorgen«, murmelte Ed. »Ich kann es kaum noch erwarten.« »Wir werden heute eine Stunde länger marschieren«, sagte Hasard. »Dann haben wir die Puna auch bald hinter uns. Oder hat einer etwas dagegen?« Keiner hatte Einwände. Sie alle brannten darauf, bald in Potosi 87
zu sein. An diesem Tag marschierten sie bis in die Dunkelheit hinein. Über der Puna stand als fahler Ballon der Mond. Er schien in trüben Dunst eingehüllt zu sein. »Wird wieder lausig kalt werden, heute nacht«, sagte Aloysius. »Immer wenn der Mond diese sonderbare Färbung annimmt, wird es in der Nacht bitterkalt.« »Man spürt es jetzt schon in allen Knochen«, meinte Dan. »Wir werden uns eine besonders tiefe Senke suchen.« Eine Stunde später fanden sie einen geeigneten Platz. Der Wind strich scharf und kalt über die Einöde. »Hier bleiben wir«, sagte Hasard, »hier sind auch die Mulis gut vor dem Wind geschützt.« Wieder begann das lang eingeübte Ritual des Abladens. Gefressen hatten die Mulis schon unterwegs, und an einem winzigen Rinnsal hatten sie ihren Durst gestillt. Jetzt wurden ihnen wieder wärmende Decken über die Körper gelegt. Die anderen schlugen inzwischen die beiden Zelte auf und sicherten sie gegen den immer stärker wehenden Wind. Er war eisigkalt und brachte Frost mit. Als alles fertig war, hatten sie trotz der Handschuhe klamme Finger, und die Kälte fraß sich bis in die Knochen. Die Maultiere standen dicht zusammengedrängt und schützten sich gegenseitig mit ihren Körpern. Carberry legte ihnen noch weitere Decken auf, damit sie nicht froren. Über die Puna jaulte der Wind in grellen disharmonischen Tönen. In dieser Mulde war es noch einigermaßen geschützt, aber trotzdem verspürten sie die beißende Kälte. 7. Den Tag über marschierten sie. Sie hatten sich an das Tempo 88
und die tagelangen Fußmärsche gut gewöhnt. Auch von der Höhenkrankheit war nichts mehr zu spüren. Niemand hatte Kopfschmerzen oder litt an Übelkeit und Schwindel. Der Bergzug, den sie zu überqueren hatten, die Cordillera de los Frailes, war klar und deutlich zu erkennen. Er lag fast greifbar nahe vor ihnen, und doch war er noch einen guten Tagesmarsch entfernt. Sie würden ihn erst am Heiligen Abend erreichen, wie Pater Aloysius schon gesagt hatte. Diesmal marschierten sie wieder länger in die Nacht hinein, und kampierten erst dann, als der Mond schon längst am Himmel stand. »Die letzte Etappe liegt vor uns«, sagte Hasard am 24. Dezember. »In ein paar Stunden beginnt der Aufstieg, und die Puna liegt achteraus. Wie sieht es da oben mit Höhlen aus, Padre?« »Wenn wir fleißig aufsteigen, haben wir bis zum Abend eine Höhle erreicht. Wir müssen aus einer Schlucht aufsteigen und befinden uns dann unterhalb eines Felsenkammes, wo es eine gute Höhle gibt.« »Dann nichts wie los.« Etwas später begann der Aufstieg in die Berge. Wieder waren Pfade, eisige Höhen und gefährliche Wege zu überwinden. Dieser Tag stimmte sie friedlich, erwartungsvoll, obwohl es nicht mehr zu erwarten gab als eine kalte Nacht. Aber trotzdem war heute alles anders feierlicher, wie der Profos sagte. Noch vor Einbruch der Dunkelheit, sie stiegen jetzt gerade aus der Schlucht auf, zeigte Pater Aloysius nach oben. »Links neben dem Felskamm ist die Höhle.« »Dann sind wir noch früher da, als wir gedacht haben.« »Es wird gerade dunkel werden, bis wir oben sind.« Sie stiegen jetzt etwas schneller auf. Ribault wunderte sich, daß ihn keine Kopfschmerzen mehr plagten. Er fühlte sich himmlisch wohl, wie er sagte. 89
Diesmal stand der Mond so hinter den Bergen, daß er nur einen schwachen Abglanz auf die Umgebung warf. »Da ist die Höhle.« Aloysius zeigte auf ein gähnend schwarzes Loch in der dunklen Felswand. »Ich werde aber erst einmal nachsehen, ob sich auch kein unliebsamer Besuch darin niedergelassen hat wie vor ein paar Tagen.« Carberry folgte ihm in die Höhle. Sie hatten inzwischen eine Fackel entzündet und leuchteten vorsichtig hinein. Ed blickte noch einmal zu Diego, aber der stand ganz ruhig da und rührte sich kaum. Bisher hatte er immer rechtzeitig gewarnt, wenn etwas in der Nähe war. Die Höhle war leer und verlassen. Sie sah aus, als wäre seit Jahrtausenden niemand hier gewesen. »Dann bereiten wir uns einen gemütlichen Abend«, sagte der Padre, nachdem sie alles abgesucht hatten. »Mit einem heiligen Wässerchen«, setzte Ed prompt hinzu. Das Ritual nahm seinen Anfang. Die Höhle war so geräumig, daß auch die Mulis wieder Platz darin hatten und nicht im eisigen Zug des Windes stehen mußten. Dann wurde eingeräumt, Decken ausgebreitet und gekocht. Aloysius hatte einen feierlichen Blick drauf. Auch Pater David wirkte heute ganz anders als sonst. Die Männer waren gelöster, entspannter. Nach dem Essen setzten sie sich in die Runde und genossen den lieblichen Duft des heißen Weines, der aus dem Kessel drang und die Höhle bis in den letzten Winkel erfüllte. Aloysius verteilte ein paar Zinnbecher, nahm die Schöpfkelle und goß die Becher voll. Dann reichte er jedem das heiße Getränk. Behaglich schlürfend hockten sie auf den weichen Unterlagen. Sie hoben die Becher und tranken sich zu. »Friede sei mit euch«, sagte Pater David. »Wenn ihr mögt, dann 90
zitiere ich die Weihnachtsgeschichte.« »Natürlich wollen wir«, sagte der Profos. Er wirkte heute so friedfertig, wie nur selten. Sein Gesicht war entspannt, und obwohl er seit ein paar Tagen nicht mehr rasiert war, schienen sich auch seine Bartstoppeln friedlich geglättet zu haben. »Erzähle die Geschichte, Pater«, wurde er von allen Seiten ermuntert. Hasard lehnte sich entspannt zurück und beobachtete seine Männer. Eigenartig ist dieser Weihnachtszauber, dachte er. Die Kerle sehen alle so friedfertig und entspannt aus, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Und der Profos, der andächtig und mit leuchtenden Augen dahockt, sieht aus wie ein Kind, obwohl er doch wirklich und wahrhaftig ein Rabauke und Poltermann ist. Aber sie alle dachten in diesem feierlichen Augenblick auch an ihre Kameraden und fragten sich, was die jetzt wohl tun mochten. Auch an Fred Finley dachten sie, der mit gebrochenem Fuß bei den Indios in der Hütte lag. Der Pater begann mit dem Erzählen der Weihnachtsgeschichte. »Es begab sich also zu der Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschätzt würde.« Bis auf seine Stimme war alles ruhig. Die Männer hörten gebannt zu, als der Pater mit seiner tiefen Stimme sprach. Sie kannten die Weihnachtsgeschichte alle, und doch war sie jedes Mal wieder neu und schlug sie in ihren Bann. Eine ganze Weile ging das so. Da war der Pater an der Stelle angelangt, an der der Engel sprach: »Fürchtet euch nicht…« Aus dem hinteren Teil der Höhle war ein leises Schnauben zu vernehmen, dann scharten Hufe, und dann folgte der unausbleibliche donnernde Knall, der den Männern durch Mark und Bein fuhr. Diego hatte wieder seine Drehbasse abgefeuert. »Jetzt muß dieses Stinktier schon wieder anfangen«, sagte der 91
Profos unwillig. »Dem verdammten Furzaffenarsch ist aber auch gar nichts heilig.« »Er kennt die Geschichte eben noch nicht«, sagte der Pater trocken. Das Halbeselchen, der verdammte ›Furzaffenarsch‹, wie Carberry ihn tituliert hatte, benahm sich aber auch weiterhin mehr als ungebührlich. Er schnaubte empört, scharrte wütend mit den Vorderhufen und drängte sich an den Männern vorbei, als wolle er ins Freie. Dort donnerte er wieder weiter, wobei er den Achtersteven aus der Höhle streckte. »Wenigstens hat er Anstand«, sagte Stenmark lachend. »Da gibt es gar nichts zu grinsen«, knurrte der Profos. »Der Pater hat so schön vom Christuskind erzählt, und da muß dieser Trompeter ihn dauernd unterbrechen.« »Laß ihn doch schnarchen«, schlug Dan vor. »Du kraulst ihn ein wenig unter dem Kinn, und schon pennt er ein. Dann haben wir wenigstens Ruhe.« »Ein guter Vorschlag.« Der Profos war jetzt echt sauer, aber Dan hatte recht. Wenn er Diego kraulte, dann gab das Biest vielleicht Ruhe. Unwirsch stand er auf und verließ seinen Platz. Diego scharrte immer noch am Eingang mit den Vorderhufen, hob und senkte blitzschnell den Schädel und bleckte die Zähne, als Ed heran war. »Laß bloß dein dämliches Grinsen, du Affenarsch«, sagte Ed. »Das paßt heute überhaupt nicht hierher.« Er streckte die Hand aus, um Diego zu kraulen, doch der liebe 'Diego erwies sich als recht kratzbürstig und eigensinnig. Er drängte noch weiter in die kalte Nacht hinaus. »Dir werde ich es schon zeigen.« Carberry ging hinaus und packte den Zügel. Als er Diego 92
zurückziehen wollte, warf er mehr zufällig einen Blick in östliche Richtung. Da war leichter Flackerschein zu erkennen, der zweifellos von einem Feuer stammte. Verblüfft stellte er fest, daß sie in der Einsamkeit der Berge nicht mehr allein waren. Der Profos stierte sich die Augen aus, konnte aber in der Ferne nur das leise Flackern sehen. Es schien auf und nieder zu hüpfen wie ein Elmsfeuer. »Und das hast du bemerkt?« fragte er ungläubig den Halbesel. Der nickte wieder wie zur Bestätigung. Sehr nachdenklich kehrte der Profos zurück. Pater David wollte gerade weiter zitieren, als Ed ihn unterbrach. »Tut mir leid, Leute, aber da draußen ist etwas. Im Osten scheint ein Feuer zu flackern. Oder gibt's Elmsfeuer auch in den Bergen?« Hasard sprang auf die Beine, Dan O'Flynn ebenfalls. Auch die anderen standen auf. »Elmsfeuer in den Bergen habe ich hoch nicht gesehen«, sagte der Seewolf. Der Profos lauschte wieder. Durch die klare Luft waren Töne zu hören, sehr dünn zwar, aber es klang wie Gesang. »Da singen welche«, sagte er fassungslos. »Aber das hört sich nicht nach weihnachtlichem Gesang an, wie es dem heutigen Abend angemessen wäre. Nein, da grölen ein paar Kerle.« Jetzt gingen sie alle zum Ausgang und blickten in die von Ed angegebene Richtung. »Tatsächlich«, sagte Dan. »Da flackert ein Feuer. Aber man sieht nur den Widerschein an einer Felswand. Offenbar befindet sich dicht davor eine Mulde.« Dann lauschten sie mit angehaltenem Atem in die Finsternis. Ja, das war Grölen, aber kein Gesang. Ein paar Kerle sangen wüst durcheinander, ohne auf die Harmonie zu achten. 93
»Das muß ich mir ansehen«, sagte Hasard. »Du gehst mit, Ed, und Pater Aloysius auch, wenn er möchte.« »Aber sicher doch. Ich hatte schon immer eine Schwäche für grölende Musikanten.« Hasard, Carberry und der Pater pirschten los. Der Pater übernahm fast automatisch die Führung. Jetzt waren sie doch neugierig geworden und wollten sich das ansehen, was Diego als erster gewittert hatte. Carberry klopfte seinem Maultier noch schnell den Hals. »Braves Diegoleinchen«, sagte er anerkennend. Etwa dreihundert Yards weit pirschten sie sich vorwärts. Dann blieben sie unter einer Felsennase stehen und sahen in eine tiefere Felsmulde. Dort flackerte ein Feuer, dessen Schein von den Felswänden zurückgeworfen wurde. Auf und nieder hüpfte es, und verzerrte die Gestalten um das Feuer immer wieder ins Riesenhafte. »Ich krieg mich nicht mehr ein«, flüsterte Ed, »das sind ja wieder mal liebe Dons. Und stockbesoffen sind sie auch noch.« Es waren acht Soldaten, die um ein Feuer hockten. Sieben Maultiere hatten sie dabei, die nahe an einer Felswand standen. »Sogar ein Capitán ist dabei«, sagte Hasard erstaunt. »Und der säuft am meisten«, sagte Ed fast neidisch. Die acht Spanier waren stark angetrunken. Sie reichten sich gegenseitig Weinflaschen zu und soffen, was das Zeug hielt. Wenn sie die Buddeln absetzten, fingen sie an zu grölen. Dem Text nach handelte es sich um reichlich zotige und unanständige Lieder, die sie da in die Nacht brüllten. Neben den Maultieren standen längliche Holzkisten, die der Profos mit einem leisen Schauern musterte. »Die haben Särge dabei«, sagte er leise, »da, neben den Mulis stehen sie an der Wand. Richtig unheimlich ist das.« »Särge? Was sollten die hier wohl mit Särgen?« 94
»Weiß ich nicht. Vielleicht pennen sie darin, wegen der Kälte und so. Die Dons kriegen das fertig.« Aloysius lächelte sparsam und schüttelte den Kopf. »Das sind keine Särge. Ich kenne diese typischen Holzkisten und weiß, was sie enthalten. Silberbarren aus Potosi befinden sich darin, die Ausbeute aus dem Cerro Rico, unterwegs nach Arica. Empfänger, so der Herr im Himmel will, ein gewisser geldgieriger Philipp, seines Zeichens König von Spanien.« »Damit ist der Himmel ganz bestimmt nicht einverstanden, sonst hätte er uns nicht geschickt«, sagte Hasard grimmig. »Der liebe Philipp wird wohl auf diese Ladung verzichten müssen.« »Recht so«, knurrte Ed, »soll es ihn schmerzen. Diese Silberladung kriegt er nicht. Was meinst du, Bruder?« Aloysius sagte nichts. Er stand nur da, beobachtete die saufenden Spanier und grinste über sein scharfes Piratengesicht. »Zurück«, erklärte Hasard. »Sagen wir es den anderen. Und du bist ganz sicher, Padre, daß in den Kisten Silber ist?« »Natürlich, ich weiß es genau. Sie haben immer einen Capitán dabei, weil die Ladung so wichtig ist.« »Das werden wir ihnen versalzen.« Sie warfen noch einen Blick in die Mulde. Der Capitán tönte groß herum und fing dann wieder an zu grölen. Die Weinflaschen gingen von einem zum anderen, die Kerle soffen weiter und sangen ihre unanständigen Lieder. »Die werden bald nüchtern werden«, brummte Ed, »nämlich dann, wenn der Heilige Geist über sie kommt.« In der Höhle wurden sie sofort von den anderen umringt. Hasard erzählte, was sie angetroffen hatten. »Spanier«, sagte Dan andächtig, »und sie leiten einen Silbertransport. Ist doch herrlich.« »Nehmt eure Entermesser«, sagte Hasard. »Die beiden Padres und Sten können in der Höhle bleiben. Dann steht es acht gegen 95
acht.« »Ich soll zurückbleiben?« fragte Aloysius. »Es ist besser so, Padre, glaube mir. Du sollst an einem Tag wie heute nicht dein Gewissen belasten müssen. Außerdem wären wir dann in der Überzahl, was unfair wäre.« »Davon steht aber nichts in der Bibel«, knurrte Aloysius. Doch dann fügte er sich. Als Hasard sah, daß alle Männer bewaffnet waren, nickte er ihnen kurz zu. »Leise anpirschen, bis wir dicht vor der Mulde sind. Dann nichts wie mitten zwischen die Dons. Wir werden ihnen erklären, daß die Silberkisten beschlagnahmt seien.« »Das wird sie aber mächtig jucken«, meinte Ed. »Sie werden sich wehren, und dann geht es zur Sache.« Sie verließen die Höhle und schlichen sich wieder an, bis sie die Mulde erreichten. Die acht Dons soffen immer noch. Wenn eine Flasche leer war, feuerten sie sie unter lautem Gelächter gegen die Felswände oder warfen sie die Schlucht hinunter, die dreihundert Yards steil in die Tiefe führte. »Vorwärts«, sagte Hasard. Mit ein paar Sätzen sprangen sie in die Mulde, die Entermesser in den Fäusten. Die Dons rissen fassungslos die Mäuler auf und starrten sie an, als seien sie soeben vom Himmel gefallen. »Buschräuber«, lallte der Capitán, »Buschräuber mitten in den Bergen.« Er konnte es nicht fassen und stierte immer noch. Na ja, dachte Hasard, ein bißchen nach Buschräubern mochten sie ja aussehen mit den Bartstoppeln im Gesicht und der tiefbraunen Hautfarbe, dazu noch die Entermesser in den Fäusten. »Die Silberkisten sind beschlagnahmt«, erklärte er kühl. »Oder haben die ehrenwerten Señores etwas dagegen? Wenn ja, dann 96
müssen Sie schon etwas dafür tun, wie es sich für die Wächter eines so wertvollen Transportes gehört.« Die Spanier glotzten immer noch verblüfft und fassungslos. Der Capitán stierte Hasard perplex an. »Das Silber wollt ihr?« schrie er dann. »Genau das«, erklärte Hasard kalt. »Hier habt ihr euer Silber, ihr Buschräuber!« Der Capitán sprang auf und riß seinen Degen hervor. Die sieben Soldaten folgten seinem Beispiel. Zischend fuhr der Degen durch die Luft. Hasard sprang zurück, um die Kerle aus der Mulde zu locken. Sie stürmten auch sofort brüllend hinterher. Da langte Carberry schon zu. Ein wilder Hieb fegte einen Don von den Beinen, der sich zweimal überschlug und mit lautem Geschrei in dem tiefen Abgrund verschwand. Inzwischen hatte Hasard den Capitán so weit vor sich her getrieben, daß er auch dicht vor dem Abgrund stand. Der Kerl fuchtelte wild mit dem Degen und stach immer wieder zu. Aber er kämpfte gegen einen Schatten, der immer wieder auswich. Dann stürmte der Schatten vor. Im schwachen Mondlicht blitzte einmal der Stahl auf. Der Capitán fiel zurück und verschwand in dem finsteren Abgrund. Die anderen räumten inzwischen ebenfalls auf. Ribault hatte seinen Gegner erledigt, von Hutten trieb einen anderen Don mit blanken Fäusten in die Finsternis, und dem nächsten fuhr Dans Messer ins Herz. Mel Ferrow, Gary Andrews und Matt Davies kämpften noch, aber dieser Kampf war schon bald entschieden. Neben der Mulde lagen drei tote Spanier, die fünf anderen hatte die unergründliche Finsternis der Schlucht geschluckt. »Werft sie in die Schlucht.« Die Toten wurden in die Schlucht geworfen. Es dauerte lange, bis man das Aufschlagen ihrer Körper hörte. Dreihundert Yards 97
ging es hier in die Tiefe. »Was tun wir mit dem Silber?« fragte Dan, »das sind immerhin vierzehn Kisten. Wollen wir die etwa nach Potosi schleppen, oder lassen wir sie hier zurück bis zu unserer Rückkehr?« »Weder das eine noch das andere. Es geht mir nicht um das Silber«, sagte Hasard. »Es geht mir nur darum, daß die Dons sich nicht daran bereichern, um noch mächtiger zu werden. Für dieses Silber sind vielleicht eine Menge Indios gestorben. Werft den ganzen Krempel mitsamt den Kisten hinterher. Dort mag es bis zum Jüngsten Tag liegen bleiben. Es wird nie wieder einer nach oben holen.« »Klar, was sollen wir auch damit«, sagte Ed. »Aber da sind noch die sieben Mulis.« »Die nehmen wir selbstverständlich mit und auch alles das, was sie noch bei sich haben.« »Hopp auf«, sagte der Profos, »hinunter mit den Särgen.« Die erste Silberkiste wurde hochgehoben und in die Schlucht geworfen. Als sie aufprallte, gab es einen berstenden Knall, ein Splittern und Krachen. Die Kiste flog auseinander und verstreute ihren kostbaren Inhalt nach allen Seiten. Die nächsten Kisten folgten, krachend, zerberstend, laut polternd, als würden ganze Bergzüge einstürzen. Das Echo warf die Geräusche tausendfältig zurück. Dann war die letzte Kiste an der Reihe. Ein unvorstellbares Vermögen donnerte in die Schlucht und er goß sich über die toten Spanier. Die Männer kehrten zurück und nickten den anderen zu. Die sieben Maultiere hatten sie mitgebracht. »Ich glaube, wir können jetzt doch noch die Weihnachtsgeschichte hören«, sagte Hasard. »Jetzt herrscht hier wieder Ruhe.« »Und vergiß des heiligen Vaters Öl nicht, Bruder«, sagte Ed. 98
»Du hast es schließlich versprochen.« »Ich werde daran denken.« In dieser Nacht saßen sie noch lange beisammen, tranken den würzigen heißen Wein und genossen des Heiligen Vaters Öl, das der Pater großzügig spendierte. Am Morgen brachen sie kurz nach Tagesanbruch auf und warfen einen Blick in die Schlucht. Dort funkelte und gleißte es. Geprägtes und ungeprägtes Silber war nach allen Richtungen verstreut. Es bedeckte die Körper der Männer, die da unten lagen und vermutlich ewig dort unten liegen würden, Am 27. Dezember war ihr Zielort erreicht. Da stand die Truppe vor Potosi und kampierte in einem verlassenen Stollen auf der Südseite des Cerro Rico. Die Stadt war von hier aus noch nicht einzusehen, aber sie hatten den Berg erreicht, in dem Blut und Tränen flossen und das Wimmern und Stöhnen der Sklaven zum Alltag gehörte… ENDE
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Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 457
Am Silberberg von Davis J. Harbord
Die Welt ging unter. Über die felsige Halde auf der Südseite des Silberbergs stach ein grellweißer Blitz, der meilenweit zu reichen schien und für Bruchteile von Sekunden aus der Dunkelheit die Konturen einer bizarren Mondlandschaft erscheinen ließ. Gleichzeitig zerriß ein berstender Donnerschlag die Nachtstille. Der Berg schien zu wanken, eine Druckwelle raste fauchend an der Höhle vorbei, obwohl sie mit der Südseite des Cerro Rico gewissermaßen in Lee lag. Aus der Höhlendecke lösten sich Steinbrocken. Hasard, Carberry und Dan O'Flynn zogen die Köpfe ein. Draußen vor der Höhle prasselte ein Trümmerhagel nieder, Steine zerplatzten beim Auftreffen auf felsigen Grund…
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