Kar! König
Einführung in die psychoanalytische Krankheitslehre
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
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Inhalt
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Kar! König
Einführung in die psychoanalytische Krankheitslehre
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
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Inhalt
Vorwort
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Einige Grundbegriffe
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Grundlagen
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme König, Kar!: Einführung in die psychoanalytische Krankheitslehre / Karl König. Göttingen: Vandenho~ck & Ruprecht, 1997 ISBN 3-525-45788-X
© 1997 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages u~zulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Text & Form, Pohle. Druck und Bindearbeiten: Hubert & Co., Göttingen.
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Ist die psychoanalytische Krankheitslehre nützlich? Konflikte und Entwicklungsstörungen Grundkonflikte Neurose und Psychose Psychoanalyse und Lerntheorie Entstehungsbedingungen für Symptome... Ich-Stärke und Einsatz von Abwehrmechanismen Depersonalisation und Derealisation Das Suizidsyndrom Somatische Entstehungsbedingungen psychogener Krankheiten......................... Krankenbeobachtung .
12 15 19 22 27 30 35 41 43
Störungen mit vorwiegend psychischer Symptomatik
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Charakterneurosen Narzißtische und schizoide Struktur Depressive Struktur Zwangsstruktur Angstneurotische und phobische Struktur Hysterische Struktur Borderline-Stärungen
48 52
55 59 65 79 86 101 106
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Inhalt Hypochondrie Sexuelle Appetenzstörungen Perversionen Anmerkungen zur Homosexualität Sadismus und Masochismus Exhibitionismus Störungen in der Paarbeziehung Substanzmißbrauch
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. . . . . .. . ..
111 114
117 120 121 123 123 128
Vorwort
Störungen mit vorwiegend körperlicher Symptomatik .......... 132 Konzepte Konversionssymptome Funktionelle oder psychovegetative Syndrome und somatische Störungen mit psychischer Mitverursachung Psychogene Schmerzen Kopfschmerzen Psychogener Schwindel Psychogene und psychoreaktive Schlafstörungen Sexuelle Funktionsstörungen Hypertonie Asthma bronchiale Adipositas Anorexia nervosa Bulimia nervosa Ulcus ventriculi und Ulcus duodeni Colon irritabile (Colica mucosa, Reizdarm) Colitis ulcerosa lleitis terminalis (Morbus Crohn) Neurodermitis (Endogenes Ekzem) Rheumatische Arthritis und Fibromyalgiesyndrom Coping
. 132 . 141 .. . . . . . . . .. . . . . . . . . ..
144 154 157 160 161 163 169 171 173 175 180 182 184 185 186 187 188 190
Glossar
198
Zitierte Literatur
206
Ergänzende Literatur.............................................................. 215 Register.................................................................................. 249
Dies Lehrbuch will zum Verständnis von Krankheiten hinführen, die psychisch verursacht oder mitverursacht sind. Darüber hinaus wird auch der Einfluß der Persönlichkeit auf die Bewältigung von Krankheiten behandelt. Die häufig vorkommenden Krankheitsbilder werden ausführlich dargestellt, einige seltene, schwer zu verstehende sind ebenfalls aufgenommen worden. Symptome sind in der Regel nicht nur einer einzigen Psychodynamik zuzuordnen, vielmehr können verschiedene Dynamiken zu einem bestimmten Symptom führen. Auch muß nicht jede Psychodynamik, die in der Analyse erkennbar wird, mit den Symptomen zu tun haben, derentwegen eine Patientin oder ein Patient therapeutische Hilfe suchen. Dennoch ist es sinnvoll, sich mit diesen Dynamiken zu befassen, da sie möglicherweise Erlebens- und Verhaltensstörungen bedingen, die bei der Verarbeitung psychogener wie somatisch bedingter Krankheiten hemmend oder fördernd wirken können. Dies Buch beruht auf eigenen und auf in der Supervision gewonnenen Erfahrungen im Krankenhaus für Psychogene und Psychosomatische Erkrankungen, Tiefenbrunn bei Göttingen, am Lou-AndreasSalome-Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie Göttingen, an der Abteilung für Psychiatrie, der Abteilung für Kinderpsychiatrie und der von mir geleiteten Abteilung für Klinische Gruppenpsychotherapie der Georg-August-Universität Göttingen. Weitere Erfahrungen konnte ich dadurch sammeln, daß Kolleginnen und Kollegen in Kliniken und psychotherapeutischen Praxen im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft für die Anwendung der Psychoanalyse in Gruppen, Göttingen, mir von ihren Patienten berichteten. Allen Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich Diagnostik und Therapie von Patienten diskutieren konnte, sei hier gedankt. Beson-
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Vorwort
ders erwähnen möchte ich meine Mitarbeiter JOACHIM BISKUP, FALK LEICHSENRING und HERMANN STAATS. Den größten Teil des Manuskripts hat ERIKA DZIMALLE geschrieben, einen kleineren ELISABETH WILDHAGEN, die mich auch beim Bearbeiten der Texte und beim Korrekturlesen unterstützte. Beiden danke ich für die angenehme Zusammenarbeit. Meiner Frau GISELA und meinem Sohn PETER danke ich wieder für Anregungen, Diskussionen und Geduld.
Einige Grundbegriffe
Die Psychoanalyse geht davon aus, daß sich die Psyche des Menschen im Aufeinandereinwirken von Anlage und Umwelteinflüssen entwickelt. Schon der Säugling verfügt über ein differenziertes Signalinventar im Umgang mit den Pflegepersonen und ist auch in der Lage, deren Signale zu entschlüsseln. Die meisten Einstellungen und Funktionen des späteren Erwachsenen entstehen in der Beziehung zu den Personen in der Primärfamilie, doch entwickeln Menschen sich auch später noch in der Familie, die sie selbst gründen, in Beziehungen am Arbeitsplatz und während der Freizeit. Die Beziehungen mit Menschen sind in unserer inneren Welt in Form von Erinnerungsspuren als innere Objekte gespeichert, die im aktuellen Umgang mit Menschen eine Modellfunktion haben - sie sind Muster dafür, was man von anderen und von sich selbst erwarten und befürchten kann. Diese Erinnerungsspuren gehen bis in die frühe Kindheit zurück. Auch Beziehungen oder Aspekte von Beziehungen, die bewußt nicht erinnert werden, haben unsere Sicht von Menschen beeinflußt und wirken sich in den aktuellen Beziehungen aus. Erinnerungen an frühe Zeiten unserer Entwicklung und an spätere Zeiten liegen gleichsam übereinander. In der Regression treten die früheren wieder in den Vordergrund und bestimmen dann das Erleben und Verhalten, so daß ein Erwachsener nun möglicherweise ähnlich erlebt oder sich ähnlich verhält, wie er das als Kind getan hat, freilich meist unter dem Einsatz der Mittel eines Erwachsenen, zum Beispiel seiner Sprache, seiner Geschicklichkeit und seiner Körperkraft. Unsere Beziehungserfahrungen dienen auch zum Aufbau dessen, was in der Psychoanalyse psychische Instanzen genannt wird. Mit
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Einige Grundbegriffe
Einige Grundbegriffe
diesem Ausdruck bezeichnen wir Teilbereiche der Persönlichkeit. Man spricht von einem Es, das als der Ort angenommen wird, an dem unsere Wünsche und Impulse entstehen. Diese Wünsche und Impulse sind im Es zunächst unbewußt. Sie können jedoch bewußt werden oder zwar unbewußt bleiben, dabei unser bewußtes Wunscherleben und unsere bewußten Impulse aber doch beeinflussen. Das Über-Ich ist der Ort des Gewissens. Handeln wir unserem Über-Ich zuwider, empfinden wir Schuldgefühle. Impulse, die aus dem Es aufsteigen, können dann Angst machen, wenn wir mit ihnen nicht sozialadäquat und im Einklang mit unserem Gewissen umgehen können. Das Ich hat eine Fülle von Funktionen. Es ist der Ort unserer Fähigkeiten und Kompetenzen, die mehr oder weniger gut ausgebildet sein können. In unserem Ich sind die Erinnerungen an frühere Beziehungen gespeichert, das Ich ist der Ort des Bewußtseins und der Außenwahrnehmung, aber auch der Wahrnehmung unseres Körpers und der aus dem Es in das Ich hineindrängenden oder hineingelangten Impulse. Das Ich wird als eine Instanz angesehen, die zwischen Es und Über-Ich ebenso vermittelt wie mit dem Ich-Ideal (das uns eher positiv vorschreibt, wie wir uns verhalten sollen, als daß es uns etwas verbietet) und der Außenwelt. Innerhalb der Instanzen und zwischen den Instanzen kann es zu Konflikten kommen. So können Impulse aus dem Es andrängen, und das Ich kann sie nicht haben wollen. Zwischen dem Es und dem bewußten Teil des Ich befinden sich die Abwehiforrnationen, die das Ich einsetzen kann, um störende Einflüsse aus dem Es zurückzuhalten oder nur in einer verstellten Form in das Bewußtsein zuzulassen. Versagt die Abwehrschranke, kommt es zu sogenannten Symptomen, die einen Kompromiß zwischen Impuls und Abwehr darstellen. Ein stark ausgebildetes Ich muß wenig abwehren, ein schwaches Ich muß viel abwehren. Es gibt aber auch Menschen, bei denen sich die Schwäche des Ich auch auf die Abwehrformationen erstreckt. Die Impulse werden dann relativ ungefiltert zugelassen und erzeugen im Ich Angst, Scham- oder Schuldgefühle. Während wir die Erinnerungsspuren an Menschen, mit denen wir umgegangen sind, die inneren Objekte, als Modelle dafür nehmen, was wir von Menschen erwarten und befürchten können und wie wir mit ihnen umgehen sollen, dient die Vorstellung, die wir von uns selbst haben, die sogenannte Selbstrepräsentanz, als Modell und Maßstab für die Selbsteinschätzung. So kann jemand die Phantasie von sich selbst entwickeln, viel oder wenig zu können, ein guter oder ein schlechter Mensch zu sein. Entspricht seinen eigenen Anforde-
rungen nicht, kann er sich verachten oder verurteilen. Entspricht er ihnen dagegen, fühlt er sich gut. Ein Krankheitssymptom kann, wie gesagt, ein Kompromiß zwischen Impuls und Abwehr sein. Man spricht dann von einer neurotischen Symptomatik. Ist das Ich sehr schwach entwickelt, treten jedoch Symptome auf, die man nicht mehr als einen Kompromiß zwischen Impuls und Abwehr ansehen kann. Zum Beispiel kommt es vor, daß ein Mensch, weil seine Ich-Funktionen für eine differenzierte Betrachtungsweise nicht ausreichen, unrealistische Vorstellungen von sich und von anderen Menschen entwickelt, die er zum Beispiel als gut oder nur böse ansieht, während doch tatsächlich kein Mensch nur ganz gut oder ganz böse sein kann. Hier handelt es sich um Folgen einer Entwicklungsstörung. Im Glossar am Ende des Buches (S. 198ff.) gebe ich eine Übersicht über weitere wichtige Fachausdrücke. Es soll auch beim Nachlesen der zitierten Literatur behilflich sein.
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Ist die psychoanalytische Krankheitslehre nützlich?
Grundlagen
Ist die psychoanalytische Krankheitslehre nützlich? Am Berliner Psychoanalytischen Institut galt vor dem zweiten Weltkrieg die Regel, daß man jeden Patienten »wie einen Eskimo« analysieren solle. Keiner hatte je einen Eskimo analysiert. Gemeint war, daß man keine Erfahnmgen aus dem Umgang mit Patienten in die Analyse anderer Patienten einbringen sollte. Dem entspricht in etwa die Maxime von BrON (1970), der Analytiker solle ohne Vorannahmen und ohne spezielle Absicht in die Analysestunden gehen. Wir wissen nun aber, daß eine solche Einstellung nicht möglich ist, da wir durch unsere Vorerfahrungen immer beeinflußt werden, ob wir es wollen oder nicht. Auch die von FREUD (1912, S. 377) postulierte »gleichschwebende Aufmerksamkeit« gibt es streng genommen nicht. Die Wahrnehmungseinstellung eines Psychoanalytikers ist schon dadurch beeinflußt, daß er mit der psychoanalytischen Theorie vertraut ist, und deshalb wird er immer anders zuhören als Angehörige anderer Berufe, etwa als Juristen oder als somatisch orientierte Mediziner, aber auch anders als ein Verhaltenstherapeut - selbst wenn sich alle bemühen würden, ganz vorurteilslos zuzuhören. Unsere Erfahrungen mit Patienten und deren Krankheitsbildern helfen uns dabei, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden und so aus einer Fülle von Material herauszufinden, was relevant ist. In einem Vergleich aus der somatischen Medizin könnte man es so sagen: Wenn jemand an mehreren Krankheiten leidet, muß jede Krankheit eigens behandelt werden. Zu einer sachgerechten Therapie gelangt man nur, wenn man jedes Krankheitsbild einzeln diagnostiziert und erst in einem zweiten Schritt Zusammenhänge zwischen
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den einzelnen Bildern erwägt und vielleicht überprüft. Zunächst geht es nur darum, die beobachtbaren Symptome den verschiedenen Krankheitsbildern zuzuordnen. Allerdings werden gelegentlich auch neue Krankheitsbilder entdeckt, auf die der Untersucher aufmerksam wird, wenn Symptome nicht so zusammenpassen, daß er eine bestimmte Diagnose stellen kann, oder wenn bisher unbekannte Symptome auftreten. Neue Krankheitsbilder können nur erkannt werden, wenn man die Beobachtungen an Patienten nicht um jeden Preis in das Prokrustesbett bereits bekannter Syndrome hineinzwängen will. In der Psychotherapie ist es ähnlich. Der erfahrene Kliniker sieht vieles, was er schon kennt, und gerade deshalb fällt ihm auf, was er nicht einordnen kann. Nicht immer hat er jedoch schon ein neues Krankheitsbild entdeckt, wenn er Unbekanntes findet. Manche Krankheitsbilder sind nur rudimentär ausgeprägt und wirken deshalb zunächst anders als das Vollbild der Krankheit. Der eben gebrauchte Vergleich mit der somatischen Medizin soll darauf hinweisen, daß es im Umgang mit Kranken bestimmte Grundprinzipien gibt, die auch auf eine analytische Psychotherapie angewendet werden können, ohne daß diese dadurch »medizinalisiert« werden muß. Hier wie dort kommt es darauf an, nicht immer wieder das Rad neu zu erfinden und dennoch für Neues offen zu sein. In der Psychoanalyse gibt es explizit fokussierende Verfahren, mit denen eine Therapie auf jenen Anteil der Psychodynamik eines Individuums ausgerichtet wird, der mit den Symptomen zusammenhängt, unter denen der Patient leidet. Man darf aber nicht übersehen, daß jede Psychoanalyse zumindest zeitweilig fokussierend verläuft. THOMÄ und KÄCHELE (1986) vertreten sogar die Auffassung, jede Analyse sei eine »Fokal therapie mit wechselndem Fokus«. Heute gibt es mehr verschiedene mögliche Foci einer Analyse als zu F'REUDs Zeiten - damals konzentrierte man sich hauptsächlich auf den Ödipuskomplex. Tatsächlich ist ein therapeutisches Vorgehen, bei dem nicht auf bestimmte für relevant gehaltene Konfliktbereiche und Entwicklungsstörungen fokussiert wird, sogar zur Seltenheit geworden. Es gibt kaum noch Analysen, die nicht in irgendeiner Weise »fremdfinanziert« werden, und um diese Finanzierung zu ermöglichen, muß der Therapeut Berichte verfassen und darin darlegen, welche Psychodynamik er bisher gefunden hat und wie er damit umzugehen gedenkt. Schon daß er dies getan hat, bleibt nicht ohne Einfluß
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Grundlagen
auf den späteren Behandlungsverlauf; es beeinflußt seine Wahrnehmung. Soll sich eine Therapie auf die derzeit symptornrelevanten Konflikte beschränken, wird man bei einem mehrfach determinierten Symptom eine Hauptdeterminante und Nebendeterminanten unterscheiden. Aus diesen folgen oft noch weitere, sekundäre Determinanten. Beispielsweise kann sexuelle Lustlosigkeit etwas damit zu tun haben, daß zwischen den Partnern Streit herrscht; das muß aber nicht die Hauptdeterminante sein. Der Streit ist vielleicht selbst erst eine Folge der sexuellen Lustlosigkeit und verstärkt sie wiederum. Der Auslöser des Problems kann aber etwas anderes sein, etwa eine Schwierigkeit beider, zwischen dem Partner und einem Elternobjekt zu unterscheiden. Arbeitet man nun therapeutisch am Streit, beschäftigt man sich zwar mit einer Determinante, die in der Pathodynamik sekundär ist; dennoch muß sie in der Therapie möglicherweise als erste bearbeitet werden, um die Zusammenarbeit der Partner in der Therapie verbessern zu können. Die Erfassung der verschiedenen Determinanten kann Entscheidungshilfen bei der Wahl des therapeutischen Settings geben. Im beschriebenen Fall könnte man sich etwa überlegen, ob hier zunächst eine Zeitlang Paartherapie angezeigt ist, an die sich vielleicht eine Einzeltherapie der Frau und des Mannes oder eine Therapie beider Partner in parallel laufenden Gruppen (KREISCHE 1990, 1992) anschließen sollte, in die beide die nötige Offenheit für die Therapie ihrer primären Schwierigkeiten mitbringen. Zu einem solchen Vorgehen entschließt man sich beispielsweise auch dann, wenn die Partner eine Problematik teilen, die bei dem einen offenen zu Tage tritt, während der andere sie bei sich selbst abwehrt und im Partner bekämpft. Der abwehrende Partner könnte dann die Therapie des anderen behindern, um die Problematik bei sich selbst nicht erkennen zu müssen (KREISCHE 1990). Eine breite Kenntnis der speziellen Neurosenlehre kann es erleichtern, wesentliche Konflikte zu erfassen. Ohne Kenntnis der Befunde anderer Therapeuten an ähnlichen Patienten, wie sie in der speziellen Neurosenlehre niedergelegt sind, hätte man diese Konflikte vielleicht übersehen, denn bei diesem Patienten werden entsprechende Befunde vielleicht erst im Verlauf einer Therapie zugänglich, oder man übersieht sie anfangs oder auch länger aus dem einen oder anderen Grund, etwa wegen einer Gegenübertragung, die sich auf die Wahrnehmung auswirkt.
Konflikte und Entwicklungsstörungen
IS
Die pathogene Relevanz eines Konflikts für eine bestimmte Symptomatik läßt sich auch nicht unbedingt immer am Einzelfall erkennen. Erst die an mehreren Patienten gewonnene Erfahrung, daß bei einer bestimmten Symptomatik immer wieder ein bestimmter Konflikt oder auch nur eine bestimmte Verhaltensweise auftritt, ermöglicht es schließlich, aus vielen möglichen und vorhandenen Verbindungen die relevanten herauszufinden. Erst die Untersuchung einer ganzen Reihe von Patienten führte mich dazu, ein insuffizient ausgebildetes steuerndes Mutterobjekt bei phobischen Patienten anzunehmen (KÖNIG 1981); hinweisend war der Umgang der Patienten mit äußeren Ersatzobjekten. Das insuffizient ausgebildete steuernde Mutterobjekt ist allen phobischen Patienten gemein, es unterscheiden sich aber die Konflikte, mit denen Patienten aus diesem Grund nicht adäquat umgehen können; beispielsweise kann das Ich mit heterosexuellen, homosexuellen oder aggressiven Impulsen im Konflikt stehen. Auch in der somatischen Medizin muß man im übrigen zur Aufklärung eines Krankheitsbildes zunächst immer herausfinden, welche krankhaften Veränderungen des Gesamtorganismus zur Symptomatik beitragen und welche nicht. Weiter ist herauszufinden, ob eine krankhafte Veränderung durch ein zentrales Krankheitsbild begünstigt wird, wie das zum Beispiel für die Arteriosklerose beim Diabetiker gilt. Diabetes begünstigt das Auftreten der Arteriosklerose; soweit man heute weiß, gilt das Umgekehrte nicht. Allerdings können Diabetes (Typ II) und Arteriosklerose gemeinsame begünstigende Ursachen haben, etwa Übergewicht. Ein voraussetzungsloses Vorgehen ist also nicht nur nicht möglich, sondern auch nicht unbedingt wünschenswert. Mißverständnisse sind dadurch entstanden, daß entsprechende Forderungen zu wörtlich genommen wurden. Aphorismen von FREUD, die nur einen Teil eines Sachverhalts berücksichtigen und gar nicht den Anspruch auf umfassende Gültigkeit erheben, erhielten die Dignität von Gesetzen.
Konflikte und Entwicklungsstörungen In der Psychoanalyse spielen die Begriffe Konflikt und Entwicklungsstörung eine große Rolle. Der Konflikt zwischen einem Wunsch und der Abwehr dieses Wunsches durch das Ich ist die häufigste Konfliktart. Aber auch zwei Wünsche können miteinander in Konflikt gera-
Grundlagen
Konflikte und Entwicklungsstörungen
ten; die Abwehr des Ich ist letztlich auch durch Wünsche motiviert, zum Beispiel durch den Wunsch, Angst, Schuldgefühle und Schamgefühle zu vermeiden oder schlicht den Wunsch, die eigene biologische und soziale Existenz zu erhalten - denn diese könnte durch Wünsche aufs Spiel gesetzt werden, die Leben, Gesundheit, Beziehungen oder die Stellung in der Gesellschaft gefährden. Andere Wünsche, die miteinander in Konflikt liegen können, sind der Wunsch nach Triebbefriedigung und der Wunsch, ein »reines Gewissen« zu behalten. Hier handelt es sich um einen Konflikt zwischen Es und Über-Ich. Die Erinnerung an Konflikte in der Kindheit kann sich mit Beziehungen in der Gegenwart verbinden. So kann einem Erwachsenen ein Wunsch unerlaubt erscheinen, gegen den die Eltern zwar einmal ein Verbot ausgesprochen haben, den ihm aber heute niemand mehr verbieten würde. Beispielsweise kann ein Erwachsener mit anderen Erwachsenen sexuellen Umgang haben, ohne das Inzesttabu zu verletzen. Dennoch kann ihm Sexualität verboten vorkommen, da die Eltern gegen die auf sie selbst gerichteten sexuellen Wünsche des Kindes ein Verbot gerichtet hatten, um das Inzesttabu zu wahren. Die Wünsche des Kindes waren nicht frei flottierend, sondern richteten sich auf reale oder phantasierte Personen. Spuren dieser Personen bleiben als bewußte oder unbewußte Erinnerung im Gedächtnis zurück. Wird eine solche Erinnerung nun mit einer Person im aktuellen Beziehungsfeld verknüpft, kommt es zur sogenannten Übertragung: Der Betreffende wird in gewissem Umfang so wahrgenommen wie die frühere Person. Damit werden Konflikte, die in der Beziehung zu dieser früheren Person eine Rolle spielten, reaktiviert und auf die neue Beziehungssituation übertragen. Das heißt, »übertragen« wird nicht nur das Bild einer Person, sondern auch die Art der Beziehung zu ihr. Es gibt nun mehrere Möglichkeiten. Es kann dem Übertragenden zum Beispiel unbewußt bleiben, daß er überträgt. Er weiß also nicht, daß er etwa eine Partnerin wie die Mutter sieht, oder eine Frau weiß nicht, daß sie den Partner wie den Vater sieht - nicht im Sinne einer psychotischen Verkennung, sondern in dem Sinne, daß sie oder er ihm oder ihr bestimmte Eigenschaften zuschreibt und ähnlich auf ihn oder sie reagiert wie früher auf Vater oder Mutter. Möglicherweise ist die Erinnerung an den Vater oder die Mutter aber auch bewußt. Der Betreffende weiß, daß er Frauen oder Männer
nach dem Modell von Mutter oder Vater einschätzt, daß er also zum Beispiel meint, Frauen seien letztlich wie die Mutter oder Männer seien letztlich wie der Vater. Er kann sie aber nicht anders sehen und ist davon überzeugt, daß Frauen und Männer so sind, auch wenn er weiß, warum er so denkt. Er nimmt Frauen und Männer nach dem Modell wahr, das er mit sich herumträgt, und geht mit ihnen entsprechend um. Es kommt vor, daß er sie in dem Sinn beeinflußt, daß sie sich so verhalten wie die Menschen, die ihm als Vorbild für seine Einschätzung dienen. Man nennt das Projektive Identifizierung (KÖNIG 1993a, SANDLER 1987). Projektive Identifizierung kann aus dem Unbewußten heraus stattfinden, aber - wenn jemand keine anderen Beziehungsformen kennengelernt hat - auch aus dem Bewußten heraus. Der Betreffende weiß allerdings nicht, daß er seine Mitmenschen zu einem bestimmten Verhalten bringt - er weiß allenfalls, wer das Vorbild ist für das Bild, das er sich von anderen macht. Als dritte Möglichkeit wäre zu nennen, daß der Betreffende die kausalen Zusammenhänge kennt und außerdem weiß, daß es andere Menschen und andere Beziehungsformen gibt, daß er aber dennoch »nicht anders kann«. Die eigene Geschichte ist stärker als das, was er in der Gegenwart wahrnimmt, selbst wenn es ihm gelingt, anderes wahrzunehmen als das, was ihm vertraut ist. Die Menschen, mit denen man im Lauf seiner Geschichte umgegangen ist, sind nicht nur als Konfliktpartner weiter präsent, vielmehr werden sie auf dem Wege der Identifizierung auch in das eigene Selbst integriert. Es gibt vorübergehende und dauernde Identifizierungen. Vorübergehende Identifizierungen dauern oft nur Minuten oder Tage, im Ausnahmefall vielleicht auch Wochen oder Monate. Eine dauernde Identifizierung findet nicht von selbst ein Ende. Wie wir uns als Männer oder Frauen sehen, hat viel mit unseren Identifizierungen mit den Eltern zu tun. Auch sogenannte Gegenidentifizierungen können auftreten: Man identifiziert sich mit einem Idealbild, das ganz anders ist als die Eltern, oft genau spiegelbildlich anders. Passen die Identifizierungen nicht in die aktuelle Beziehungssituation oder in die aktuelle gesellschaftliche Situation, kommt es zu Schwierigkeiten. Ein neurotisches Syndrom ist Ausdruck eines inneren, meist durch Erlebnisse aus der Kindheit mitbeeinflußten Konflikts, mit dem der nunmehr Erwachsene inadäquat umgeht. In einer Übertragung macht er den inneren Konflikt wieder zu einem interpersonellen, zwischenmenschlichen. Einer adäquateren Konfliktlösung steht oft entgegen,
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Grundlagen
daß Anteile des Konflikts unbewußt bleiben. Unter Umständen bleibt der gesamte Konflikt unbewußt. wirkt sich aber dennoch auf das aktuelle Erleben und Verhalten aus. Auf welchen Wegen das geschieht, läßt sich noch nicht sicher sagen. Entwicklungsstörungen des Ich, man spricht auch von ich-strukturellen Störungen, wirken krankmachend, nicht nur weil das unzureichend entwickelte Ich mit Konflikten nicht adäquat umgehen kann, sondern auch dadurch, daß die Störung Erleben und Ausdruck beeinflußt. Menschen mit ich-strukturellen Störungen können verschiedene Gefühle schlecht auseinanderhalten, können Angst, Scham- und Schuldgefühle nicht beschreiben und nicht benennen. Sie wissen zwar, daß es so etwas gibt, weil sie davon gehört oder gelesen haben, können dieses Wissen aber auf sich selbst und auch auf andere nicht anwenden. Die Wahrnehmung von Personen ist dadurch beeinträchtigt, daß jeder die Sinneseindrücke, die durch eine andere Person hervorgerufen werden, entsprechend den Modellen ordnet, die er in sich trägt. Bei entwicklungsgestörten Personen sind diese Modelle archaisch, es handelt sich etwa um »nur gute« oder »nur schlechte« Menschen, wie sie in Märchen vorkommen. Die Verarbeitung von Wahrnehmungen ist gestört, weil die Affekttoleranz gering ist. Gefühle werden als ~n erträglich empfunden. Sie unterscheiden sich quantitativ und quahtativ von den Gefühlen anderer Menschen und können nicht sozialadäquat handlungsleitend sein. Wenn Gefühle unerträglich wer~en, kommt es oft zu Impulshandlungen, beispielsweise zu aggressIven Handlungen oder zum Gebrauch von Suchtmitteln. Impulsdurchbrüche können dem Patienten Schwierigkeiten bringen. Er »eckt« an, auch weil er soziale Situationen schlecht einschätzen kann. Manche dieser Menschen ziehen sich dann zurück, weil sie in Beziehungen nicht zurechtkommen. Andere entwickeln die Fähigkeit, ihre Mitmenschen zu manipulieren, und kommen dann zumindest eine Zeitlang gut zurecht, oft auch ein ganzes Leben. Es ist wichtig, die krankmachenden Folgen von neurotischen und ich-strukturellen Störungen zu unterscheiden. In diesem Buch beschreibe ich ich-strukturelle Störungen zumindest so weit, wie es zur Differentialdiagnose erforderlich ist. Wer sich in seiner Arbeit mit ich-strukturell gestörten Patienten beschäftigen will, findet über die Angaben in diesem Buch heraus im umfangreichen Schrifttum weitere Informationen, zum Beispiel in den Arbeiten von KERNBERG (z.B. 1975, 1984, KERNBERG et al. 1989) oder in den Veröffentlichungen
Grundkonflikte
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von HEIGL-EvERS und anderen (z.B. HEIGL-EvERS et a1. 1993a, HEIGL-EvERS u. OTT 1994).
Grundkonflikte Vielen Formen psychischer und psychosomatischer Pathologie liegen Konflikte zwischen Abhängigkeitswünschen und Unabhängigkeitsbestrebungen des Selbst gegenüber den Objekten zugrunde. BALINT (1959) beschreibt den oknophilen und den philobatischen Persönlichkeitstyp. Der oknophile Persönlichkeitstyp bleibt nahe an den Objekten, möglicherweise klammert er sich sogar an sie. Der Philobat sucht die »freundlichen Weiten« auf, in denen er sich frei und gleichzeitig geborgen fühlt. Der Phantasie des Philobaten, sich nicht nur frei, sondern auch geborgen zu fühlen, liegt die Übertragung einer allzeit präsenten, aber nicht drängenden und nicht eindringenden Mutter auf jene »freundlichen Weiten« zugrunde; einer idealen Mutter, die Freiheit läßt und dennoch birgt und schützt. Eine solche Phantasie hat oft kompensatorischen Charakter, die wirkliche Mutter kann sich gerade gegensätzlich verhalten haben, kann einengend, zudringlich, eindringend und klammernd gewesen sein. Oknophile dagegen, die sich an den Objekten festklammern, haben vielleicht zu wenig bergendes und schützendes Mutterverhalten erlebt, so daß sie die Phantasie einer bergenden und schützenden Mutter entwickeln. Möglicherweise wurden sie häufig allein gelassen und sind gern bereit, dieses ungewünschte, oft als existenzbedrohend erlebte Alleingelassensein gegen die bergende Nähe eines Objekts zu tauschen, in dessen Gegenwart sie sich nicht mehr allein fühlen. Die beiden Persönlichkeitstypen müssen nicht unbedingt daraus entstehen, daß der Betreffende von dem, was er heute wünscht, in der Vergangenheit zu wenig bekommen hat; möglich ist auch, daß er zu viel davon bekommen hat. So hat jemand vielleicht gelernt, die Nähe der Objekte zu brauchen, weil ihm diese Nähe reichlich zur Verfügung gestellt wurde und er deshalb nicht motiviert war, eigene Aktivitäten zu entfalten; oder er hat gelernt, viel Freiheit zu brauchen, weil man sie ihm ließ. Die Entwicklung eines Kindes beginnt immer mit existentieller Abhängigkeit von der Mutter und zielt auf die Ablösung von ihr. Die
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Grundlagen
Selbständigkeit pflegt aber nicht vollständig zu sein, weil Mutterersatzfiguren an die Stelle der Mutter treten. Es gibt jedoch Menschen, die zumindest glauben, von anderen völlig unabhängig zu sein. Dies sind die Philobaten, die sich von anderen Menschen - und da besonders von Mutterobjekten - ganz unabhängig fühlen und nicht merken, daß für sie die »freundlichen Weiten« das Mutterobjekt bilden. Der Wunsch nach Freiheit muß mit dem Wunsch nach Geborgenheit, der Wunsch nach Funktionslust und Leistung muß mit dem Wunsch nach passivem Versorgtwerden in Konflikt geraten. Es gibt Menschen, die ein Gleichgewicht zwischen Geborgenheit und Freiheit finden, mit dem sie gut leben können. Anderen gelingt es nicht, ein solches Gleichgewicht zu finden, vor allem dann nicht, wenn die Phantasie besteht, die beiden gegensätzlichen Bedürfnisbereiche seien unvereinbar, ein Mensch könne entweder nur unabhängig oder aber nur geborgen sein. Es gibt derartig einseitige Situationen, etwa wenn jemand nach einem schweren Unfall im Krankenhaus liegt und zunächst gar nichts leisten muß. Im Erwachsenenleben sind solche Situationen jedoch selten.. Abhängigsein und Unabhängigsein bedeutet in verschiedenen Phasen der menschlichen Entwicklung Unterschiedliches. Ein Säugling, der nicht erbgenetisch oder durch perinatale Einflüsse geschädigt ist, zeigt früh Wünsche nach Aktivität, und er zeigt, daß er mit den Personen, die ihn betreuen, interagieren möchte. Wie Säuglingsbeobachtungen erwiesen haben (z.B. DORNES 1993a, 1993b), sind die Interaktionsmöglichkeiten des Säuglings von Anfang an sehr differenziert, und er verfügt auch über ein Signalsystem, auf das gesunde, unbeeinträchtigte Mütter ansprechen, selbst wenn sie es kognitiv nicht »verstehen«. So kann es sein, daß eine gesunde Mutter mit ihrem gesunden Säugling zweckmäßig umgeht, daß sie also seine Bedütfnisse befriedigt, ohne daß sie das gelernt hätte. Sie weiß nicht, »woher sie das hat«. Es scheint so zu sein, daß sie angeborene Verhaltensweisen mitbringt, die vom Kind aktiviert werden. Ein Säugling braucht die Mutter notwendig, und man kann auch sagen, daß die Mutter den Säugling »notwendig braucht«, weil sie kaum ohne ihn sein kann und sehr umuhig wird, wenn die Umstände sie einmal von ihm trennen. Allerdings kommt es auch hier schon zu Interessenkonflikten zwischen dem Kind und der Mutter. Das Kind möchte gefüttert werden, sobald es Hunger oder Durst verspürt, die Mutter möchte nachts nicht zu oft geweckt werden, und das gilt
Grundkonflikte
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natürlich auch für einen Vater, der das Kind mit versorgt. Unter den Experten gibt es immer wieder Streit darüber, was man den Müttern nun eigentlich empfehlen soll: »feeding on demand«, also Füttern nach Wunsch, oder das Einhalten eines festen Zeitschemas. Wenn das Kind laufen lernt, tritt die Mutter-Kind-Beziehung in eine neue Phase ein. Die Mutter sollte dem Kind jetzt die Möglichkeit geben, vieles auszuprobieren. Sie sollte es ertragen, daß das Kind hinfällt oder daß es auch dann laufen möchte, wenn es für die Mutter einfacher wäre, das Kind zu tragen oder zu fahren. Es gibt Mütter, die ihr Kind immer an der Hand führen wollen, und Mütter, die sich freuen, wenn das Kind bald selbständig läuft; es gibt Mütter, die Angst empfinden, wenn das Kind hinfällt, und andere, die ein Hinfallen des Kindes als notwendigen Bestandteil des Laufenlernen verstehen und keine Angst um das Kind haben (vorausgesetzt, der Boden, auf dem das Kind läuft und auf den es fällt, ist weich genug). MARGARET S. MAHLER (z.B. 1978) hat diese Entwicklungsphase ausführlich beschrieben. In der ödipalen Phase der Entwicklung kommt es zu einem weiteren Interessenkonflikt zwischen dem Kind und mindestens einem Elternteil. Ein Kind kann natürlich nicht real Partner der Mutter oder des Vaters sein, weder in sexueller Hinsicht noch in der Rolle des »Familienvaters« oder der »Mutter und Haufrau«. Das Verhalten zumindest eines Elternteils kann aber dazu führen, daß das Kind in der Illusion unterstützt wird, eigentlich Partner des Vaters oder der Mutter und damit von beiden nicht mehr kindlich abhängig zu sein. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn ein Vater sich von seiner Frau emotional vernachlässigt fühlt und sich deshalb der Tochter zuwendet, viel Zeit mit ihr verbringt, mit ihr schmust, sie auf ihrem Schoß sitzen läßt und ähnliches. In dieser Entwicklungsphase kommt es darauf an, daß die Eltern sich gegenüber dem Kind ihren Rollen in der Familie gemäß verhalten und die Generationengrenzen nicht auflösen. Zu einem guten Ausgang der ödipalen Entwicklungsphase gehört, daß das Kind einsieht, noch nicht Partner des Vaters oder der Mutter sein zu können. Gleichzeitig sollte es nicht die Hoffnung verlieren, später einmal soweit zu sein, daß es Partnerin oder Partner eines erwachsenen Mannes oder einer erwachsenen Frau sein kann, wenn es erst einmal »groß genug ist«. Die sogenannte Latenzphase - so genannt, obwohl kindliche sexuelle Phantasien in der Latenzphase nicht, wie man lange glaubte, völlig verschwinden - ist, wenn die vorangegangenen Entwicklungen
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Grundlagen
Neurose und Psychose
gut durchlaufen wurden, eine Periode des Lernens, überwiegend vom gleichgeschlechtlichen Elternteil. Erst in der Adoleszenz kann eine wirkliche Ablösung von den Eltern stattfinden. Wenn diese Phase gut bewältigt wird, kann nach anfänglicher Distanzierung eine Wiederannäherung auf einer neuen Ebene erfolgen, der Erwachsenenebene, so daß die Eltern und ihr Kind nun als Erwachsene miteinander umgehen können. Schlägt diese Entwicklung fehlt, bleibt die Distanzierung aus, und lebenslange innere, oft auch äußere Abhängigkeit von den Eltern ist die Folge. Reißt das Kind sich los oder werfen die Eltern es aus dem Haus, kommt es meist zu einer Pseudounabhängigkeit. Der Jugendliche erscheint, von außen betrachtet, unabhängig. Innerlich bleibt er aber an die Eltern gebunden und in seiner Persönlichkeitsentwicklung in der Adoleszenz stecken (KÖNIG 1994).
denen es letztlich jeder Mensch zu tun hat. Anders ist die Art des Umgangs mit diesen Konflikten. Das liegt wohl an aus Erbe und Umwelt resultierenden, unterschiedlichen Voraussetzungen. Bei den Patienten, die später eine Psychose entwickeln, liegt vermutlich eine Kombination ererbter disponierender Faktoren vor, die im Zusammenwirken mit aktuellen Umwelteinflüssen einen bestimmten Stil im Umgang mit den Grundkonflikten nahelegen: Der Realitätskontakt wird aufgegeben. Selbst bei Menschen, die man ohne weiteres als gesund bezeichnen würde, kommt es schon dadurch zu Realitätsverkennungen, daß man Erfahrungen mit prägenden Personen in der Primärfamilie auf Menschen überträgt, die man neu kennenlernt, ohne daß diese Erfahrungen ganz und gar passen. Es kann erheblicher Widerstand dagegen auftreten, die vertrauen Objektbilder als Modelle für den Umgang mit Menschen aufzugeben (KÖNIG 1982), so daß oft versucht wird, die Vergangenheit zu reinszenieren. Durch den interaktionellen Anteil der Übertragung (die projektive Identifizierung vom Übertragungstyp) werden Menschen dazu gebracht, sich wie Personen zu verhalten, die der projektiv Identifizierende früher kannte. Das alles muß dem projektiv Identifizierenden nicht auffallen, im Gegenteil, oft bedarf es erheblicher therapeutischer Arbeit, die Übertragungsverkennungen aufzulösen. Bei Patienten mit einer ausgeprägten Psychose ist die Verkennung der äußeren Realität dagegen meist offensichtlich und auch nicht unmittelbar einfühlbar. Gesunde können sich in Psychosekranke erst einfühlen, wenn sie sich mit deren besonderer Weise des Denkens und Fühlens vertraut gemacht haben. Im Umgang mit Psychosekranken treten oft Verwirrungsgefühle auf, die eine Folge projektiver Identifizierungen sind. Der Patient erzeugt per projektiver Identifizierung vom kommunikativen Typ (KÖNIG 1993) beispielsweise Gefühle im Therapeuten, die den Gefühlen des Patienten in verwirrtem Zustand entsprechen; ist also der Patient verwirrt, erlebt so auch der Therapeut ein Stück Orientierungslosigkeit. Allerdings hat man auch bei bestimmten neurotischen Krankheitsbildern Schwierigkeiten, Denkprozesse und Fühlen des Patienten nachzuvollziehen. So kann man sich nicht unmittelbar in das Fühlen und Denken eines Zwangskranken einfühlen. Am ehesten gelingt das noch bei Kontrollzwängen und bei Zwangsbefürchtungen. Zwangsimpulse ohne Motivationszusammenhang und Zwangsrituale können aber in der Regel nicht unmittelbar eingefühlt werden, dazu ist die Kenntnis der Symbolsprache des Patienten und der eingesetzten Ab-
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Neurose und Psychose Eine vergleichende Betrachtung von Neurose und Psychose erscheint mir nicht nur für das Verständnis der Psychosen fruchtbar. Sie ermöglicht vielmehr auch ein besseres Verständnis der Neurosen, die so in einen größeren Zusammenhang gestellt werden (nicht nur in einen Zusammenhang mit dem Gesunden, wie ich es zum Beispiel in der »Kleinen psychoanalytischen Charakterkunde« 1992 zu zeigen versucht habe). Obwohl die psychotische Symptomatik auf den ersten Blick fremdartig anmutet, erweist sie sich letztlich doch als verstehbar und wilit so ein neues Licht auf die existentiellen Aspekte jener Grundkonflikte, die in der Psychose deutlich zu Tage treten. Deshalb empfiehlt sich eine Beschäftigung mit der Psychodynarnik der Psychosen auch für diejenigen Psychotherapeuten, die keine Psychosekranken behandeln. Voraussetzungen für das Verständnis des oft sehr komplexen Einzelfalles können in diesem einführenden Lehrbuch nicht vermittelt werden; hier sei auf die spezielle Fachliteratur verwiesen (z.B. BENEDETTI 1984, 1987, MENTZOS 1991, 1992, 1995, ROSENFELD 1966). Das von MENTZOS (1991,1992, 1995) vorgeschlagene Verständnis der Psychosen als Fehlverarbeitungen allgemeiner menschlicher Grundkonflikte gestattet es, die Symptombilder von Psychose und Neurose miteinander zu verknüpfen. Beim psychotisch Kranken finden sich Probleme, mit denen es auch der neurotisch Kranke, mit
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wehrmechanismen nötig. Die Motive für das oft bizarr wirkende Handeln, Denken und Fühlen des Zwangskranken sind dem Untersucher häufig nicht nachvollziehbar. Da ist er allerdings oft in der gleichen Lage wie der Patient, dem seine Motive auch unzugänglich sind; der setzt den Abwehrmechanismus Isolierung aus dem Zusammenhang ein, wobei die Motive entweder mit dem Handeln unverbunden erscheinen oder verdrängt sind: Um welche menschlichen Grundkonflikte handelt es sich nun bei der Psychose? MENTZOS benennt bei Patienten mit einer Schizophrenie die »Bipolarität« zwischen selbstbezogenen und objektbezogenen (»also ... zwischen autophilen und heterophilen Tendenzen ... «, 1991, S. 10). Als pathologische Lösungen sieht MENTZOS (1995) den narzißtischen Rückzug oder die Auflösung der Ich-Grenzen und die Fusion mit dem Objekt an. Bei den affektiven Psychosen geht es nach MENTZOS um die »Bipolarität« von Selbstwertigkeit und Objektwertigkeit, als fehlgeleitete Lösungen nennt er ~.ie »absolute Herrschaft des archaischen, strengen, übermächtigen Uber-Ich« (Depression) oder das »Über-Bord-Werfen des Über-Ich, also die Herrschaft des Größenselbst ... «, wie sie bei der Manie vorkommt. Den von MENTZOS für die Schizophrenie angeführten Problemen begegnet man, wie im weiteren noch beschrieben werden wird, auch im Umgang mit schizoiden, nicht psychotischen Menschen. Auch sie empfinden den »Drang zum Objekt hin« (MENTzos 1991, S. 11), der gleichzeitig als Bedrohung der Selbstidentität, Kohärenz und Integrität erfahren wird. Objekte, die als ideal empfunden werden, laden zu einer Verschmelzung ein, die als ungefährlich erlebt wird. Das Selbst wird gern aufgegeben, wenn es zu einer Verschmelzung mit einem idealen Objekt kommen soll. Das kann auch eine idealisierte Gruppe sein, etwa eine religiöse Sekte. Von Objekten, die er als zudringlich, vom eigenen Selbst sehr verschieden oder in irgendeiner anderen Weise als »schlecht« empfindet, zieht der Schizoide sich zurück. Allerdings würde ich den Rückzug anders als MENTZOS ni~ht als narzißtisch bezeichnen, da er nicht in jedem Falle mit einer Uberbewertung des Selbst und einer Abwertung der Objekte einhergeht, wie das beim narzißtischen Menschen zu finden ist (KÖNIG 1992). Das spiegelverkehrte Gegenstück zur Überbewertung des Selbst und der Abwertung der Objekte ist das Verhalten depressiv strukturierter Menschen. Diese werten sich selbst ab, können ohne Objekte nicht sein und oft nur durch die Objekte hindurch leben; bei der altruistischen Abtretung etwa wird eigener Lebensgenuß in den ver-
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schiedensten Formen für den Depressiven selbst prinzipiell als unverdient oder ungehörig betrachtet und ist nur per Identifikation mit anderen Menschen möglich, für deren Wohlergehen der Depressive oft sorgt. Einen Konflikt zwischen der Bewertung des Selbst und der Bewertung des Objekts oder der Objekte sieht nun MENTzos als mitkonstituierend für die manisch-depressive Erkrankung an. Ein stabiles Gleichgewicht kann nicht gefunden werden, es kommt vielmehr zu extremen Ausschlägen zwischen einer Entwertung des Selbst mit Überschätzung der Objekte in der Depression und einer Überschätzung des Selbst mit Abwertung der Objekte in der Manie. In seinem Buch zu Depression und Manie (1995) dehnt MENTzos diese Konzeptualisierung auf das Ich-Ideal aus. In der Manie wird das Selbst zum Größenselbst, das sich nicht nur dem Über-Ich und dem Ich-Ideal überlegen fühlt, sondern allem und jedem. Entsprechend läßt sich die Selbstentwertung des Depressiven nicht ausschließlich als Auswirkung eines strengen und übermächtigen Über-Ich verstehen. Vielmehr sucht das Selbst durch Erfüllung der Forderungen des Über-Ich einen gewissen moralischen Wert zu gewinnen. Dies gelingt jedoch nicht - das Selbst ist den Forderungen des Über-Ich gegenüber insuffizient. Weil es sich nun nicht nur den Objekten gegenüber, sondern auch in dieser Hinsicht als insuffizient erlebt, wertet es sich weiter ab. Eine solche Problematik kann man bei der depressiven Persönlichkeitsstruktur und bei den neurotischen Depressionen noch gut nachfühlen, ebenso bei der hypomanischen Abwehr einer Depression; in der Manie und der Depression zeigt sich jedoch eine neue Qualität, wenn es zu Wahnvorstellungen kommt. Wie in der Schizophrenie scheint der Verzicht auf die Wahrnehmung der Welt in den Kategorien des Gesunden hier ein Anteil der »Lösung« zu sen. Wie auch in der Neurose ist bei der Psychose wohl eine Schwäche und schließlich ein Versagen der Ich-Funktionen als krankmachend anzusehen. Bei der Neurose werden sie durch den Einsatz von Abwehrmechanismen ersetzt, zum Beispiel tritt an die Stelle des Reizschutzes ein Leugnen der Umweltfaktoren, die unangenehme Gefühle hervorrufen könnten. In der Psychose werden auch Abwehrmechanismen eingesetzt, wie schonARLOw und BRENNER (1976) gezeigt haben. Anders als in der Neurose werden sie hier jedoch nicht mit dem Ziel eingesetzt, den Umgang mit der Realität zu verbessern (selbst wenn dazu gehört, daß die Realität nicht in allem richtig wahrgenommen wird, wie das etwa bei der Leugnung der Fall ist). Der psychoti-
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sche Patient gibt den Umgang mit der Realität in bestimmten Bereichen seines Erlebens und Handeins vielmehr völlig auf und ersetzt die Wahrnehmung der Realität durch psychotische Phantasien. Diese Phantasien sind von einem Gefühl der Gewißheit begleitet. Man weiß seit langem, daß manche Patienten mit einer Zwangsneurose später schizophren werden. Hier scheint der zwangsstrukturelleAnteil einen Modus des Umgangs' mit Empfindlichkeiten darzustellen, die mit einer Disposition zur Psychose zusammenhängen. Kliniker sprechen davon, daß die Zwangsstruktur den Patienten stabilisiert, weshalb es untunlich sei, zwangsneurotische Patienten mit starken schizoiden Persönlichkeitsmerkmalen mit einer aufdeckenden Therapie zu behandeln. 'fELLENBACH (1961) beschreibt die Persönlichkeitsstruktur manisch-depressiv Kranker zwischen den Phasen als zwanghaft. Auch hier könnte man annehmen, daß die Patienten durch ihren Zwangsstrukturanteil stabilisiert werden. Die bei der Zwangsstruktur zu findenden Abwehrmechanismen der Isolierung vom Affekt und der Isolierung aus dem Zusammenhang scheinen den Umgang mit Konflikten jeder Art zu erleichtern. Die Isolierung vom Affekt isoliert die Kognitionen von ihren affektiven Auswirkungen und neutralisiert damit deren Konfliktpotential. Die Isolierung aus dem Zusammenhang trennt die Komponenten eines Konfliktes voneinander, und zwar im kognitiven wie im affektiven Bereich. Was nicht miteinander in Berührung gerät, kann nicht konfligieren. Auch ein Teil der Patientinnen mit Anorexia nervosa (s. dazu den entsprechenden Abschnitt) wird schizophren. Ihre Verhaltensstörung (wenig Essen, Erbrechen, Abführmittel) führt zur Gewichtsreduktion. Die Motivation dazu hat - besonders, was das »Fasten« angehtasketische Aspekte, die v
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Psychoanalyse und Lerntheorie Vermutlich wird es künftig immer mehr zu den Aufgaben der psychoanalytisch orientierten Therapeuten gehören, die Differentialindikation zu einer Verhaltenstherapie zu bedenken, und zu den Aufgaben der Verhaltenstherapeuten, die Indikation zu einer analytischen Therapie zu überlegen. Schulstreitigkeiten zwischen den beiden großen psychotherapeutischen Richtungen erschweren zur Zeit eine um Objektivität bemühte Differentialindikation. Von seiten psychoanalytisch orientierter Therapeuten wird an Verhaltenstherapie am ehesten dann gedacht, wenn sich eine psychoanalytisch orientierte Therapie als unwirksam erwiesen hat und man den Patienten eine zweite Chance geben möchte. Der neu geschaffene Facharzt für psychotherapeutische Medizin kann bekanntlich mit den Schwerpunkten »psychoanalytisch orientierte Therapie« oder» Verhaltenstherapie« erworben werden. Von den psychoanalytisch orientierten Therapeuten werden Kenntnisse der Verhaltenstherapie verlangt und umgekehrt. Wie die Verhaltenstherapie geht die Psychoanalyse davon aus, daß bei der Entstehung und beim Fortbestehen psychischer Störungen Lernprozesse wichtig sind. Im Umgang mit Objekten schafft der Mensch sich Erinnerungsspuren an die Objekte und ihr Verhalten sowie an die Reaktionsweisen der eigenen Person. Die Lerntheorie stellt in diesem Zusammenhang eine Brücke zwischen Verhaltenstherapie und Psychoanalyse dar. Auch beim psychoanalytischen Konzept des sekundären Krankheitsgewinns spielt das Lernen eine wesentliche Rolle. Der Betreffende baut nach und nach seine Symptomatik in sein Leben ein, wobei über Versuch und Irrtum Lernprozesse stattfinden. Erhält zum Beispiel ein psychisch Kranker wesentlich mehr Zuwendung als vor Ausbruch seiner Krankheit, kann es sein, daß ein Symptom persistiert, das unter anderen Bedingungen von selbst verschwunden wäre. Vermutlich gibt es viele Symptome, die von den verursachenden Konflikten abgekoppelt sind und wegen ihrer Funktion für den Patienten fortbestehen, obwohl die Konflikte gelöst wurden oder an Bedeutung verloren haben. Die Frage, unter welchen Bedingungen Symptome persistieren oder verschwinden. ist noch Gegenstand der Forschung. Daß Lernprozesse hier eine Rolle spielen, wird wohl von niemandem mehr in Frage gestellt. Beim sogenannten Durcharbeiten, also beim Anwenden von Erfahrungen und Einsichten aus der Therapie im therapeutischen
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Setting und im Alltagsleben, finden Umlernprozesse statt. Neue Gewohnheiten müssen erlernt werden, alte werden langsam aufgegeben. Erhebliche Unterschiede zwischen Psychoanalyse und Verhaltenstherapie gibt es aber in den Auffassungen von der primären Entstehung eines Symptoms. Die Psychoanalyse nimmt innere Konflikte als verursachend an. Diese können ursprünglich interpersonelle Konflikte gewesen und durch Internalisierungsvorgänge zu inneren Konflikten geworden sein, oder sie sind Folgen von Entwicklungsstörungen. Im letzteren Fall wird die aktuelle Umwelt aufgrund von Entwicklungsstörungen des Ich unzutreffend wahrgenommen, es kommt zu interpersonellen Konflikten. Diese werden internalisiert und so zu inneren Konflikten umgewandelt, oder sie verschärfen die schon vorhandenen inneren Konflikte. Diesen komplexen Auffassungen, die meiner Meinung nach der klinischen WirkJichkeit gut entsprechen, stellt die Verhaltenstherapie vielfach erheblich einfachere Erklärungsmuster gegenüber, beispielsweise die Vorstellung, daß Angstanfalle durch Lernprozesse mit bestimmten äußeren oder auch inneren Situationen unmittelbar verbunden werden, wobei die Angstanfälle zufällig oder durch übertriebene Aufmerksarnkeitszuwendung zu normalen Körpervorgängen entstehen. Aus Sicht der Psychoanalyse ist festzustellen, daß diese Konzepte in manchen Fällen einen Erklärungswert haben, jedoch in der Anwendung weit überdehnt werden und auch dort angewendet werden, wo die Psychoanalyse plausiblere und klinisch bewährte Erklärungsmodelle zur Verfügung stellen kann. Viele Annahmen der Psychoanalyse lassen sich aber auch lerntheoretisch formulieren, beispielsweise läßt sich eine Entwicklungsstörung als defizientes Lernen in einer ungünstigen Umwelt und vielleicht auch bei ungünstigen konstitutionellen Voraussetzungen ansehen. In ihren Anfängen galt der Mensch den Verhaltenstherapeuten als eine »black box«, deren Reaktionen von außen beobachtet wurden, das Innere des Menschen spielte scheinbar keine Rolle. Im Rahmen der sogenannten Kognitiven Wende der Verhaltenstherapie ist das anders geworden. Zunächst wurden innere Fehlannahmen untersucht, die durch veränderte innere Einstellungen ersetzt werden sollten. Heute gibt es schon Verhaltenstherapeuten, die von Übertragung und inneren Konflikten sprechen - auch wenn sie diese Phänomene vielleicht anders bezeichnen.
Psychoanalyse und Lerntheorie
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Die Verhaltenstherapie hat sich zunächst mit der Angst als zentralem Faktor bei allen neurotischen Störungen beschäftigt. Die Psychoanalyse berücksichtigte zusätzlich Schuldgefühle; neuerdings werden Schamgefühle immer mehr einbezogen (SEIDLER 1995, WURMSER 1990). Vermutlich wird in der Verhaltenstherapie eine ähnliche Entwicklung stattfinden, ohne daß die Angst aus ihrer wichtigen Position verdrängt werden muß. Es kommen lediglich weitere Faktoren hinzu. Nach ursprünglicher verhaltenstherapeutischer Ansicht war die neurotische Angst eine gelernte emotionale Reaktion. Der Lernvorgang besteht nach dieser Auffassung darin, daß ein neutraler äußerer oder innerer Reiz mit einem zufällig gleichzeitig auftretenden, sonst aber völlig unabhängigen aversiven Reiz verbunden wird. Auch das autonome Nervensystem kann lernen, ebenso das mit diesem eng verbundene endokrine System. Das Immunsystem kann»lernen«, beispielsweise lernt es, auf Stoffe zu reagieren, die wiederholt zugeführt werden, wobei die Reaktionen nicht immer günstig sind; man denke nur an den anaphylaktischen Schock bei wiederholter Injektion tierischer Eiweiße vom gleichen Typ. Das Immunsystem kann auch konditioniert werden; ein Asthmakranker mit einer Überempfindlichkeit gegenüber dem Duft bestimmter Blumen kann beim Anblick einer Papierblume einen Anfall bekommen, wie es etwa von MARcEL PROUST berichtet wird. MARCEL PROUST war gegen Nelken allergisch. Daß er auch auf Papierblumen reagierte, kann als Ergebnis eines Lernvorgangs verstanden werden. Der Atemtyp des Asthmaanfalls wird durch die Papierblume ausgelöst. Seine Reaktion kann aber auch als eine gelernte Reaktion des Immunsystems verstanden werden, das allergisch reagiert, obwohl die Papierblume nur so aussieht wie eine echte Nelke. Es ist konditioniert worden. Die Wahrnehmung einer Nelke führt über Informationen, die durch das Nervensystem an das Immunsystem übermittelt werden, zu einer allergischen Reaktion und damit zu einem Asthmaanfall. Bei einer wirklichen Nelke erfolgt die Auslösung des asthmatischen Anfalls auf dem Wege über eine allergische Reaktion auf die Duftstoffe der Nelke.
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Entstehungsbedingungen für Symptome Eine Neurose äußert sich in psychischen oder körperlichen Symptomen. Zu den psychischen Symptomen gehören Erlebens- und Verhaltensweisen, deren Qualität oder Intensität aus der realen Situation heraus nicht verstehbar ist. Allerdings ist die Definition von »Qualität der Reaktion« nicht immer einfach. Selbst Unterschiede, die auf den ersten Blick qualitativ anmuten, lassen sich bei genauer Betrachtung oft als quantitativ erkennen. Jeder kann beispielsweise einmal unsicher sein, ob er die Haustür zugemacht hat. Er überprüft das dann und ist sich sicher. Menschen, die nach einmaligem Kontrollieren immer noch nicht sicher sind und noch einmal, eventuell sogar drei-, vieroder fünfmal oder häufiger nachprüfen, verhalten sich irrational. »Eigentlich« wissen sie, daß die Tür zu ist, sie sind sich aber nicht sicher (sie zweifeln an sich) und geraten in Angstzustände, wenn sie in diesem Zustand der Unsicherheit nicht weiterkontrollieren. Viele Menschen haben eine Aversion gegen Schlangen. Eine sogenannte Schlangenphobie liegt dann vor, wenn eine Angst vor Schlagen besteht, die irrational und nicht nachvollziehbar anmutet. Wenn allerdings jemand vor sehr vielen Dingen und Zuständen Angst hat, darunter auch vor Schlangen, muß er noch keine Schlangenphobie haben. Es kann sich um eine unspezifische, allgemeine Ängstlichkeit handeln. Ein Teil der sehr häufig vorkommenden Schlangenangst könnte evolutionspsychologisch erklärt werden; Menschen, die Angst vor Schlangen hatten, wurden seltener von Giftschlangen gebissen und überlebten deshalb häufiger als Menschen ohne Schlangenangst. Sie hatten so eine größere Chance, ihre Gene weiterzugeben. Die Schlangenphobie ist durch einen zusätzlichen irrationalen Anteil gekennzeichnet, denn die Schlange hat auch symbolische Bedeutung. So kann ein Mann, der homosexuelle Wünsche ablehnt, Angst vor Schlangen haben, weil sie den Penis anderer Männer repräsentieren; entsprechend kann die Schlangenphobie einer Frau verstehbar werden, wenn man annimmt, daß sie in der Sexualität von Männern eine destruktive Komponente erwartet. Manche Zwangssymptome sind bizarr, der Betreffende muß bestimmte Rituale ausführen. Innerhalb einer Religion würden solche Rituale vielleicht einen Sinn bekommen, hier fehlt aber der Zusammenhang zu einer Religion. Allenfalls besteht die Absicht, etwas »durch Zauberei« zu bewirken. Auch Menschen, die nicht an Zaube-
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rei glauben, können Zwangsrituale verrichten. Bei ihnen ist neben dem erwachsenen Denken eine Form des Denkens erhalten geblieben, wie sie bei Kindern vorkommt: das magische Denken. Es gehört dem sogenannten Primärprozeßdenken an; das erwachsene Denken folgt in unserer Kultur dem Sekundärprozeß, Im Krankheitsbild kann sich ein innerer Konflikt zwischen einem Wunsch und der Abwehr gegen diesen Wunsch darstellen. Beispielsweise gibt es einen hysterischen Zustand, in dem Frauen bei Bewußtseinstrübung ihren Kopf in das Kissen bohren und das Becken heben wobei die Beine geschlossen bleiben (»Are de cercle«). Man kan~ das als eine Kombination von sexuellem Impuls und Abwehr gegen ihn interpretieren. Von einer ich-strukturellen Störung spricht man, wenn die Struktur des Ich infolge ungünstiger Entwicklungsbedingungen insuffizient ist, so daß der Betreffende auch mit ubiquitären Konflikten nicht umgehen kann, die ein Gesunder ohne weiteres beWältigt. Solche Entwicklungsstörungen entstehen vor allem dann, wenn die Eltern (oder Pflegepersonen, die elterliche Funktionen übernehmen) nicht ausreichend präsent waren oder mit dem Kind grob inadäquat umgegangen sind. Wenn solche Störungen an der Grenze zwischen psychotischen und nichtpsychotischen Zustandsbildern liegen, spricht man von Grenzfällen oder von Borderline-Störungen. Die Borderline-Störungen liegen auf der nichtpsychotischen Seite der gedachten Grenzlinie zur Psychose, auch wenn gelegentlich psychotische Episoden auftreten können. Es gibt nun fließende Übergänge von der Borderline-Struktur zur neurotischen Struktur. Bei einem hohen Strukturniveau finden sich in der Regel keine Borderline-Symptome; es sei denn, der Mensch geriete in eine regressionsfördernde Ausnahmesituation. Stark regressionsfördernd sind Großgruppen, wie sie bei manchen politischen und religiösen Veranstaltungen vorkommen, aber auch bei Sportveranstaltungen (z.B. auf dem Fußballplatz). Menschen können versuchen, ihre psychischen Symptome durch Einnahme von Substanzen zu beeinflussen. So kann jemand, der Angst hat, sich Mut antrinken; jemand, der depressiv ist, kann sich durch Alkohol aufmuntern wollen; jemand, der nicht in der Lage ist, Erfreuliches in seinem Leben wahrzunehmen, kann sich durch Alkohol in euphorische Zustände versetzen, in denen er positiv erlebte Phantasien entwickelt. Belastende Lebenssituationen können auch ohne konstitutionelle
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oder psychodynamische Prädisposition zu depressiven Verstimmungen führen, wenn beispielsweise die äußere Lebenssituation den Charakter der Ausweglosigkeit hat und der betreffende Mensch sich deshalb hilflos fühlt (vgl. SELIGMAN 1986). Depersonalisations- und Derealisationserscheinungen können in belastenden Situationen auch bei Menschen auftreten, die vorher nie psychische Symptome gezeigt haben und nach Ende der betreffenden Belastung auch nie wieder zeigen. Solche Erscheinungen treten zum Beispiel bei Gefangnis- oder Konzentrationslager-Aufenthalten auf, und zwar besonders dann, wenn die Inhaftierung nicht vorauszusehen war und der Betreffende sich nun plötzlich »in einer anderen Welt«
Vermutlich gibt es alle möglichen Kombinationen aller denkbaren Abstufungen von somatischer und psychischer Verursachung. Für die Psychosomatosen gilt (wie wohl auch für andere Krankheiten, etwa Tuberkulose und Krebs), daß ihr Beginn und ihr Verlauf oft, jedoch nicht immer, durch psychische Faktoren beeinflußt werden. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, zwischen der Entstehung einer Krankheit und ihrem Verlauf zu unterscheiden. So ist es zum Beispiel denkbar, daß ein Mensch intensiv mit Tuberkelbazillen in Kontakt kommt und deshalb erkrankt. Bei der Erkrankung hätten dann psychogene Faktoren keine wesentliche Rolle gespielt. Dagegen können sie den Verlauf der Krankheit durchaus beeinflussen. Von psychischen Faktoren kann es abhängen, wie schnell der Betreffende die Krankheit - mit oder ohne Behandlung - überwindet. Sie haben wahrscheinlich auch Einfluß auf die Erkrankungswahrscheinlichkeit bei einem Kontakt mit wenigen Tuberkelbazillen. Für die meisten Krankheiten gilt offenbar, daß psychische Faktoren selbst dann noch eine wesentliche Rolle spielen können, wenn ein spezifisch wirkendes Medikament eingesetzt wird. Über die Merkmale einer konstitutionellen Disposition wissen wir heute noch wenig. Wir können aber hoffen, daß die biologische, insbesondere molekularbiologische und besonders die immunologische Forschung in den nächsten Jahren Aufschlüsse bringen wird. Die bakteriologische Forschung könnte einen Beitrag zum Verständnis der Krankheiten des Verdauungstraktes leisten, wie das ja schon im Fall des Helicobacter pylori geschehen ist. Die Frage der körperlichen Symptomentstehung greife ich im Buchteil »Störungel) mit vorwiegend körperlicher Symptomatik« noch einmal ausführlich auf. Konversionssymptome zeichnen sich dadurch aus, daß ihnen sehr unterschiedliche Konflikte zugrunde liegen können. Jemand kann beispielsweise eine Beinlähmung entwickeln, um sich nicht mit einer sexuellen Versuchungssituation auseinandersetzen zu müssen. Der primäre Krankheitsgewinn besteht dann in einer Vermeidung des Konflikts zwischen Es-Impuls und Über-Ich oder zwischen Es-Impuls und Ich (letzteres besonders dann, wenn negative Folgen in der Realität drohen). Eine Frau mit einer großen, irrationalen Angst, ihren Partner verlassen zu müssen, kann eine Beinlähmung entwickeln, die sie daran hindert, zu einer Party zu gehen, auf der ein Mann auftauchen könnte, der ihr gefällt. Dabei muß ihr nicht bewußt sein, daß der Mann ihr gefällt; es kann auch eine unbewußte Phantasie existie-
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wiederfindet. Es gibt also psychische Reaktionsformen, die potentiell in jedem Menschen vorhanden sind und durch verschiedene Außeneinflüsse ebenso zur Manifestation gebracht werden können wie durch innere Konflikte. Die Vorstellung, psychische Symptome könnten ausschließlich und in jedem Fall nur aus inneren Konflikten entstehen, ist heute als veraltet zu betrachten. »Veraltet« deshalb, weil es durchaus Zeiten gab, in denen man psychische und psychosomatische Symptome ohne eine Störung der persönlichen Entwicklung in der Kindheit nicht für möglich hielt. Das galt insbesondere für Psychiater, die die Psychoanalyse aus Büchern kennengelernt hatten. Bei der Begutachtung psychischer und vegetativ-körperlicher Symptome nach einem Konzentrationslageraufenthalt wurden viele Anträge auf Berentung abgelehnt, weil die Fachwelt nicht an die krankmachende Wirkung von Ereignissen im Erwachsenenleben glaubte. Das veranlaßte ErssLER (1963) zu einem Aufsatz mit der Überschrift »Die Ermordung von wie vielen seiner Kinder muß ein Mensch symptomfrei ertragen können, um eine normale Konstitution zu haben?« Viele funktionelle Körperstörungen haben eine psychogene Ursache oder sind durch psychische Faktoren mit beeinflußt. Wie hoch der Anteil von Psyche und Soma jeweils ist, ist noch ungewiß. FRANZ ALEXANDER (1950) nahm an, daß spezifische innere Konflikte schon an sich psychosomatische Krankheiten verursachen könnten; Konflikte, die diese und keine andere Krankheit verursachen und ohne die diese Krankheit nicht auftreten könnte. Das körperliche Entgegenkommen, die körperliche oder konstitutionelle Disposition, schätzteALEXANDER vergleichsweise gering ein. Inzwischen haben die Fortschritte der Medizin es ermöglicht, mehr von den körperlichen Faktoren kennenzulernen, die beteiligt sind.
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Ich-Stärke und Einsatz von Abwehrmechanismen
ren mit ihm eine sexuelle Beziehung anzufangen. Eine Beinlähmung kadn aber auch von jemandem entwickelt werden, der oder die sich um eine Stelle mit mehr beruflichen Möglichkeiten, aber auch mehr Verantwortung bewerben möchte; vielleicht kann diese Stelle auch seine oder ihre Befürchtung, den Vater beruflich zu übertreffen, wahrmachen; »Befürchtung«, weil das berufliche Überflügeln des Vaters mit dessen Tötung unbewußt gleichgesetzt wird. So können verschiedene Konfliktkonstellationen am Symptom »Beinlähmung« ursächlich beteiligt sein; auch hier ist konstitutionelles Entgegenkommen ebensowenig auszuschließen wie die Kombination mehrerer Kon-
Allerdings ist es durchaus möglich, daß Charaktersymptome, die keinen ursächlichen Zusammenhang mit der Symptomentstehung haben, entscheidend beeinflussen, wie jemand mit dem Symptom umgeht, unter dem er leidet. Man kann also davon sprechen, daß die Charaktersymptomatik das Coping mit einem psychogenen Symptom beeinflußt - wie sie auch den Umgang mit einem körperlich bedingten Symptom beeinflussen kann. Unter Coping versteht man die Bewältigung der Symptome durch den Patienten, aber auch durch seine Angehörigen. Der Charakter bestimmt die Art der Beziehungen zu den Angehörigen mit. Eine Charaktersymptomatik kann die Ressourcen des Ich einschränken. So wird jemand, der gewohnt ist, seine Probleme per Vermeidung zu lösen, früh und vollständig die Orte meiden, an denen Angst auftritt. Jemand, der gewohnt ist, die eigene Angst zu überwinden, und den es sehr kränkt, Angst zu haben, kann sich entgegengesetzt verhalten, kontraphobisch. Er wird die Orte aufsuchen, an denen er Angst hat, oft in der Hoffnung, die Angst zu überwinden, aber auch, weil er sich nicht vorwerfen möchte, ängstlich zu sein.
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flikte. Andererseits hat jeder Konflikt verschiedene Möglichkeiten, sich auszudrücken. Der konkrete Ausdruck hängt von der individuellen Biographie, der äußeren Lebenssituation und in manchen Fälle? sicher auch von einem konstitutionellen Entgegenkommen ab, die lil unterschiedlicher Intensität beim Vorgang der Symptombildung Einfluß nehmen. Ein Konflikt zwischen dem Wunsch, passiv versorgt zu werden und abhängig zu sein, und dem Wunsch, etwas zu leisten und unabhängig zu sein, kann sich in einer Störung der Magenfu~kti~n und sogar in anatomischen Läsionen des Magens äußern, nämlich lil ~a gengeschwüren oder auch in Zwölffingerdarmgeschwüren, wobeI d~r Helicobacter pylori beteiligt wäre. Beim Fehlen weiterer notwendiger Voraussetzungen können solche Störungen ausbleiben, was a~er nicht bedeuten muß, daß der Betreffende keine Symptome entwlkkelt. Vielmehr kann sich der beschriebene Konflikt dann in anderen Symptomen äußern, zum Beispiel in Angst vor Selbständigkeit oder im Vermeiden von Leistung. Bei der Symptomwahl können Veränderungen des eigenen Körpers und seiner Leistungsfähigkeit, Veränderungen im äußeren Umfeld und Möglichkeiten, die das äußere Umfeld anbietet, beteiligt sein. Zum Beispiel kann die Möglichkeit einer Rente die Symptomwahl beeinflussen. . Anfänger neigen dazu, jede Psychodynamik, die sie erkennen, mIt der Symptomatik, unter der ein Patient leidet, in Verbindung zu bringen, beispielsweise eine Psychodynamik, auf die sie beim Auswerten der Selbstschilderung des Patienten stoßen und die zu einem Charaktersymptom gehört, mit der Symptomatik, unter der ein Patient leidet. Das kann zutreffend sein, muß es aber nicht. Mehrere psychodynamische Konstellationen können zu einem einzigen Symptom gehören, aber auch zu mehreren Symptomen.
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Ich-Stärke und Einsatz von Abwehrmechanismen Abwehrmechanismen können der Abgrenzung von Ich und Es dienen, wie die Verdrängung. Sie können auch das Ich entlasten, wie die Projektion, die Verschiebung und die Vermeidung. Ohne Abwehrmechanismen wäre menschliches Leben nicht möglich. Das Ich würde von Impulsen aus dem Es überschwemmt, es könnte sich nicht von Konflikten entlasten, die Außenbeziehungen würden zerstört. Fast alle Abwehrmechanismen können nützen. Ich will das am Beispiel der Leugnung darstellen. Wir wissen, daß auf der Welt jederzeit Menschen im Sterben liegen, daß immer Menschen leiden; wir wissen, daß wir alle sterben müssen und daß die Wahrscheinlichkeit eines leichten Sterbens eher gering ist. Wenn ein Mensch Krebs hat, der erfolglos behandelt wurde, muß er daran sterben. Wenn ein Mensch Aids hat, muß er heute praktisch noch immer daran sterben. Wenn ein Mensch einen erhöhten Cholesterinspiegel hat, ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß er an einem Herzinfarkt oder einem Schlaganfall sterben wird.
Grundlagen
Ich-Stärke und Einsatz von Abwehrmechanismen
Wenn wir nun all dieses klar sähen und es uns in seinen Konsequenzen ständig präsent wäre, würde das unsere Lebensqualität stark einschränken. Es ist uns aber nicht immer präsent; weder denken Wlr dauernd an diejenigen, die sterben, während wir uns amüsieren, noch denkt ein Kranker dauernd daran, daß er an seiner Krankheit sterben kann. Leugnen heißt, etwas, das einem bekannt ist, nicht voll zu erleben. Es ermöglicht uns, diese Tatsachen beiseitezuschieben oder zu unterdrücken und unsere Aufmerksamkeit auf die Dinge zu richten, die am Leben schön sind, obwohl gleichzeitig furchtbare Dinge ge-
die eigene Auffassung zu vertreten. Das durfte er als Kind seinem Vater gegenüber nicht; als Erwachsener diesem Chef gegenüber dürfte er es. Er schreibt seinem Vorgesetzten Macht zu, die nur ein Vater über sein Kind hat, ein Vorgesetzter gegenüber seinen Mitarbeitern nicht. Andererseits könnten wir kaum mit Menschen umgehen, wenn wir nicht mit Menschen Erfahrungen sammelten und auf diese zurückgriffen. Wir greifen immer auch auf Vergangenes zurück. Dadurch entsteht beispielsweise das, was man Menschenkenntnis nennt. Ohne ein Minimum an Menschenkenntnis könnten wir uns in sozialen Beziehungen nicht bewegen. Es kommt aber darauf an, welche Erfahrungen man heranzieht, ob nur die Erfahrungen aus der Kindheit oder auch die Erfahrungen aus Beziehungen mit realistischer wahrgenommenen Erwachsenen. Die Modelle der Eltern können, bewußt oder unbewußt, die späteren Wahrnehmungen des Erwachsenen in seinen Beziehungen entscheidend beeinflussen. Der interaktionelle Anteil der Übertragung (oder der projektiven Identifizierung vom Übertragungstyp, KÖNIG 1982, 1992) veranlaßt die Beziehungspartner sogar, sich in gewissem Rahmen wirklich so zu verhalten wie die inneren Modelle der Person, die der andere überträgt (bzw. mit denen er den anderen projektiv identifiziert). Er macht keine wirklich neuen, breiten Erfahrungen im Umgang mit Menschen, sondern sieht und erlebt immer nur das, was zum Modell» Vater« oder »Mutter« paßt. Entsprechendes gilt natürlich für andere wichtige Beziehungspersonen der Kindheit. Modelle können auch von Großeltern, Geschwistern, Onkeln oder Tanten, Hausangestellten und Freunden der Familie stammen. Abwehrmechanismen halten Teile eines Modells unbewußt. Das wirkt sich meist schädlich aus. Manche Beziehungen werden nur deshalb als gefährlich erlebt, weil Aspekte früherer, aus der Kindheit stammender Beziehungen beigemengt sind; in solchen Beziehungen können Abwehrmechanismen die Wahrnehmungen weiter verzerren, zum Beispiel durch Verschiebung oder durch Vermeidung (vgl. »Störungen in der Paarbeziehung«). Ist das Ich zu schwach, um sich den Impulsen des Es zu stellen und sie in sozialadäquater Weise in Handeln umzusetzen oder sie auszuhalten, ohne sie in sozialinadäquates Handeln umzusetzen, wird es sich vielleicht durch eine Projektion aus den unbewußten Anteilen des Selbst heraus entlasten wollen. Ist das Über-Ich gegenüber dem Ich zu stark oder zu streng, kann das dazu führen, daß Verdrängungsmechanismen verstärkt gegen Es-Impulse eingesetzt werden, die
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schehen. Abwehrmechanismen (s. a. A. FREUD 1936, KÖNIG 1996) sind an der optimalen Lösung eines Konflikts beteiligt, oft sind sie aber auch Komponente einer suboptimalen Lösung eines Konflikts, die dann zu Krankheitssymptomen führt. MlTSCHERLlCH (1966) hat darauf hingewiesen, daß eine psychosomatisch mitverursachte Krankheit ein Moratorium ermöglichen kann, in dem neue Kräfte gesammelt werden und nach dem ein neuer, besserer Anfang möglich ist. Er dachte zum Beispiel an Infektionskrankheiten. In einer interpersonellen Krise erkrankt jemand an einer Infektionskrankheit, legt sich ins Bett und zieht sich dadurch aus einem interpersonellen »Kampffeld« zurück. Er ruht sich aus und kann dann interpersonelle und auch korrespondierende innere Konflikte mit frischen Kräften angehen. Sehr oft haben Krankheitssymptome aber weniger günstige Auswirkungen. Sie schränken die Lebensmöglichkeiten ein und verderben die Lebensqualität. Es wäre besser, das Ich würde sich den Konflikten offen stellen. Dazu ist es aber vielleicht nicht in der Lage und setzt deshalb Abwehrmechanismen ein. Eine psychoanalytische Therapie versucht dann unter anderem, zu einer besseren Lösung der Konflikte beizutragen, indem sie deren Ursachen untersucht. Möglicherweise zeigt sich dann, daß der betreffende Mensch Abwehrmechanismen deshalb einsetzen mußte, weil das Ich seine aktuellen Möglichkeiten nicht realitätsgerecht evaluieren konnte. Das ist häufig dann der Fall, wenn die betreffende Person in einer konfliktauslösenden Situation die aktuellen Beziehungen und Beziehungsmöglichkeiten falsch einschätzt, weil Erinnerungsspuren an frühere Objektbeziehungen, die im Ich gespeichert sind, die Wahrnehmung der aktuellen Objektbeziehungen modifizieren. Daraus resultiert eine anachronistische Wahrnehmung der Objekte und der Beziehungen zwischen der betreffenden Person und diesen Objekten. Jemand kann es sich beispielsweise nicht zutrauen, seinem Vorgesetzten gegenüber
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Ich-Stärke und Einsatz von Abwehrmechanismen
vom Über-Ich abgelehnt werden, oder daß es zu Projektionen kommt. Es kommt auch zu projektiven Identifizierungen, die einen inneren Konflikt in einen interpersonellen umwandeln oder zumindest neben einem inneren zusätzlich einen interpersonellen Konflikt erzeugen, auf den sich dann die Aufmerksamkeit richtet. Erkennt ein Mensch, daß er Abwehrmechanismen einsetzt, weil ihn seine früheren Erfahrungen die gegenwärtige Situation falsch einschätzen lassen, kann er meist darauf verzichten, vorausgesetzt, daß sein Ich stark genug ist, die realen Aspekte einer Konfliktsituation im Inneren oder auch in den Beziehungen zu Personen in der Außenwelt zu ertragen und konstruktiv mit ihnen umzugehen. Man spricht von Ichstärke. Damit ist gemeint, daß das Ich über Funktionen verfügt, die für einen solchen Umgang gebraucht werden. Dazu gehören zum Beispiel Angsttoleranz, Frustrationstoleranz, soziale Urteilsfähigkeit und Impulskontrolle. Diese Ich-Funktionen sind in uns angelegt. Sie müssen aber im Umgang mit einer adäquaten Umwelt entwickelt
bisherigen Entwicklungsbedingungen und auch mit der Art der auslösenden Situation zusammen. Das Ich ist nicht im Umgang mit allen Konflikten gleichermaßen schwach oder stark. So kann ein Ich durchaus imstande sein, aggressive Impulse zu erleben und sie in einer sozialadäquaten Weise umzusetzen, die darüber hinaus auch den Anforderungen des Über-Ich und des Ich-Ideals entspricht und Bedürfnisse des narzißtischen Regulationssystems berücksichtigt. Das gleiche Ich kann aber große Schwierigkeiten haben, sexuelle Impulse zuzulassen und sie in sexuelles Handeln umzusetzen. Die sexuellen Impulse wercen dann vielleicht mit Hilfe der Abwehrmechanismen ganz unterdrückt. In diesem Fall wäre der Einsatz von Abwehrmechanismen ein Zeichen von Schwäche. Sensibilität, die sich bei künstlerischen Tätigkeiten als Stärke auswirkt, kann andererseits die Möglichkeiten des Ich, mit Es-Impulsen umzugehen, einschränken oder das Ich veranlassen, bestimmte Impulse aus dem Bewußtsein auszuschließen, weil deren Existenz oder gar Verwirklichung zu starke Reaktionen auslösen würde. Sensible Menschen könnenunfähig sein, sich durchzusetzen, nicht nur weil sie die eigenen Reaktionen auf eine Niederlage fürchten, sondern ~uch weil sie die negativen Gefühle anderer Menschen im Fall von deren Niederlage zu stark mitempfinden. Bei phobischen Patienten kann die Stärke des Ich in ganz spezifischer Weise eingeschränkt sein. Unter dem Einfluß ungünstiger Entwicklungs bedingungen können sich die steuernden Aspekte des Mutterobjekts nicht ausreichend entwickeln (KÖNIG 1981). Bestimmte Es-Impulse, die in Handeln umgesetzt werden könnten, machen angst, und Situationen, die geeignet wären, solche Impulse zu verwirklichen, werden deshalb gemieden. Dabei kann das Ich im übrigen durchaus fähig sein, zwischen Es-Impulsen, dem Über-Ich und dem Ich-Ideal zu vermitteln; zum Beisiel kann eine Frau, die sich vor Begegnungen auf der Straße fürchtet, die zu einer sexuellen Interaktion führen könnten, durchaus sexuelle Phantasien haben, wenn sie sich im Schutz ihrer eigenen Wohnung befindet. Ihre Sexualität mit ihrem »legitimen« Partner kann ungestört sein. Problematisch sind nur sexuelle Wünsche in einer unübersichtlichen sozialen Situation. Ein Ich, das sich sicher sein kann, in jedem Fall die Gewalt über das eigene Handeln zu behalten, gleich welcher Qualität und Intensität die Impulse sind, die aus dem Es in das Ich aufsteigen, kann die »wüstesten« Phantasien zulassen. Vielleicht werden sie dann, bei entsprechender Begabung, in künstlerische Produktion umgesetzt, oder
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werden. Das gilt auch für die Abwehrmechanismen. Reife Abwehrmechanismen, etwa die Verdrängung, entwickelt nur jemand, dessen Umwelt die Möglichkeiten dazu bietet, indem die Menschen in dieser Umwelt mit dem Betreffenden in einer adäquaten Weise interagieren. Andernfalls wird er andere Abwehrmechanismen entwickeln, oder die sogenannten reifen Abwehrmechanismen wirken in einer das Ich eher schwächenden Weise zusammen. Das gilt für den viel diskutierten Abwehrmechanismus der Spaltung, von dem man heute mit Grund annimmt (LEICHSENRING 0.1., REICH 1995), daß er im Zusammenwirken mehrerer anderer Abwehrmechanismen entsteht. Spaltung wäre demnach eine pathologische Konstellation von Abwehrmechanismen, die bewirkt, daß Objekte und auch das Selbst als »nur gut« oder »nur böse« gesehen werden, weil das Ich zu schwach geblieben ist, um die Vorstellung eines Menschen aushalten zu können, der sowohl gut als auch böse ist. Völlig gute Objekte kann das schwache Ich aushalten; die »bösen« Anteile dieser Objekte werden anderen »aufgepackt«, auf sie verschoben. Weitere primitive Abwehrmechanismen sind die völlige Entwertung von Objekten sowie deren primitive Idealisierung. Insgesamt werden Menschen nicht so ges~ hen, wie sie sind, sondern eher wie Personen in einem Märchen, dIe »nur gut« oder »nur böse« sind. Wie stark ein Ich einem bestimmten Konflikt gegenüber ist, hängt mit der Art des Konfliktes, den erbgenetischen Voraussetzungen, den
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der betreffende Mensch genießt sie, ohne etwas von ihnen nach außen dringen zu lassen. Wenn aber das Über-Ich den Wunsch ebenso oder ähnlich bewertet wie die Tat, kann sich das Ich nicht damit begnügen, bestimmte Handlungen zu unterbinden, sondern muß schon die Wünsche ~~lbst aus dem Bewußtsein ausschließen, wenn es Frieden mit dem UberIch halten will. Was das Ich bewirken kann, hängst also auch immer von der Stärke der anderen Instanzen ab, so daß es unzweckmäßig wäre, die Stärke eines für sich allein betrachteten leh als Maß für seine Effektivität zu nehmen. Ob das Ich die Situation »in der Hand behält« und erfolgreich zwischen den Instanzen vermitteln kann, hängt von der Stärke der Es-Interessen, der Über-Ich-Interessen und der Ich-Ideal-Interessen ab wie auch von der Vorstellung, die der Betreffende von sich selbst hat; diese hängt mit dem idealen Selbst und mit dem narzißtischen Regulationssystem zusammen. Wenn das ideale Selbst stark vom realen Selbst abweicht, kann das Ich durch eine Konfrontation des realen Selbst mit dem idealen Selbst überfordert werden, möglicherweise so schwerwiegend überfordert, daß der Betreffende sich suizidiert. Der sogenannte Bilanzsuizid hingegen kann das Ergebnis einer optimalen Ich-Leistung sein (s. dazu den Abschnitt »Das Suizidsyndrom«). Beim Über-leh und beim Ich-Ideal muß man zwischen Strenge und Inhalt unterscheiden. Schon FREUD (1932) hat darauf hingewiesen, daß die Strenge des Über-Ich nicht direkt mit der manifesten Strenge der Eltern zusammenhängt. FREuD sah das Über-leh als Erben des Ödipuskomplexes, seine Strenge hing für ihn von der Intensität der inneren ödipalen Auseinandersetzung ab. Sicher spielen auch Einflüsse aus vorödipaler Zeit eine Rolle. Es kommt vor, daß ein Ich bei mächtigem Über-Ich selbst durchschnittlich stark ist; meist ist jedoch das Ich unterdurchschnittlich stark, wenn das Über-Ich mächtig ist. Das oft mächtige Über-Ich bleibt archaisch undifferenziert, und deshalb in seinen Ansprüchen radikal. Die gleichen Einflüsse, die dafür sorgen, daß das Über-Ich archaisch bleibt, verhindern, daß das Ich im Lauf der Entwicklung die Kompetenzen hinzugewinnt, die es ihm ermöglichen würde, hinreichend kompetent zwischen den Ansprüchen der verschiedenen Instanzen zu vermitteln. Die Stärke von Über-Ich und Ich-Ideal ist hier allerdings nur eine scheinbare. Sie ergibt sich aus ihrer Undifferenziertheit, die man sich durch das Zurückbleiben auf einer früheren Entwicklungsstufe erklä-
Depersonalisation und Derealisation
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ren kann. Das Archaische, Ungebändigte und Undifferenzierte des Über-Ich und des leh-Ideals ermöglichen, daß sich diese beiden Instanzen dem Ich gegenüber durchsetzen. Ihre »Stärke« wirkt sich ungünstig aus und kann zu einer Depression, zu Zwangssymptomen oder zu starken Ich-Einschränkungen im sozialen Bereich führen, ebenso wie zu einer extremen Reduzierung des Lebensgenusses, wenn die Es-Impulse zu einem großen Teil aus dem Bewußtsein ausgeschlossen sind. Manchmal werden sie in Symptomen manifest, dabei ist das Ich an der Entstehung der Symptome beteiligt; auch die Symptombildung ist eine Ich-Leistung, Symptome stellen jedoch immer nur die unter den bestehenden Voraussetzungen beste Konfliktlösung dar. Ein stärkeres leh hätte eine bessere Lösung finden können. Ein großer Teil der therapeutischen Arbeit besteht darin, den Einsatz bestimmter Abwehrmechanismen überflüssig zu machen; aus diesem Grund und weil der Einsatz bestimmter Abwehrmechanismen Hinweise auf die zugrunde liegende Dynamik gibt, ist ihre genaue Kenntnis für die praktische Arbeit nützlich. In diesem Kapitel wurden die Instanzen Es, Ich, Über-Ich und IchIdeal wie Personen dargestellt, die interagieren. Tatsächlich handelt es sich natürlich um Strukturkomponenten einer Persönlichkeit.
Depersonalisation und Derealisation Depersonalisation und Derealisation kommen bei Gesunden, bei Neurosekranken und bei Psychosekranken vor. Es handelt sich um allgemeine Reaktionsweisen, die in den Dienst der Abwehr gestellt werden können. Auf dem Kontinuum Gesund-Neurotisch-Borderline-Psychotisch finden sich die Derealisations- und Depersonalisationszustände gehäuft im Bereich der Borderline-Struktur, kommen aber auch bei Gesunden unter Extrembelastung vor (JACOBSON 1959). Sie haben Bezug zur Entstellung des Körperschemas bei Fettsucht und Magersucht und zu den sogenannten dissoziativen Störungen (vgl. dazu den Abschnitt zu den Konversionssymptomen). Auch bei Panikattacken kommen sie vor. J. MEYER (1957) sprach von Entfremdungserlebnissen. Der eigene Körper erscheint dem Patienten verändert und dadurch fremd. Es gibt Patienten, bei denen ein Gefühl der Unwirklichkeit im Vordergrund steht, das nicht allein aus Verän-
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derungen des Körperbildes abgeleitet werden kann. Ein Patient kan.n sich beispielsweise auch als »doppelt« empfinden: Er steht neben seInem Körper und beobachtet ihn. Von Derealisation spricht man, wenn die Umwelt verändert erscheint, wenn etwa die Menschen welt entfernt, in ihrer Größe verändert, andersfarbig zu sein scheinen. Depersonalisationserlebnisse kommen oft, aber nicht immer gemeinsam mit Derealisationserlebnissen vor. Diese Zustände werden von Patienten meist nur dann spontan angegeben, wenn sie einen von ihnen bemerkten Anfang hatten. Wahrscheinlich gibt es Menschen, die ihr ganzes Leben lang eine veränderte und - im Vergleich zu den Wahrnehmungen Gesunder - verz.~rrte Vorstellung vom eigenen Körper und von ihrer Umwelt haben. Ahnlieh selbstverständlich sind den Betroffenen Entstellungen des Körperschemas, wie sie bei der Magersucht auftreten. Die Magersü~hti gen erleben sich als zu dick und versuchen, durch Hunger~ elllen Zustand zu erreichen, der ihnen normal vorkommt. Fettsüchtige dagegen leugnen ihren Körperumfang und phantasieren sich dünner. Vermutlich hat die Depersonalisation eine ganze Reihe von Funktionen. Bei neurotischen Patienten habe ich sie eigentlich immer in der Funktion eines Abwehrmechanismus im Umgang mit Aggression gefunden. Sie treten gehäuft bei Phobien auf, ohne daß man. sich das überzeugend erklären könnte. Vielleicht dienen sie zur Mlllderung der in Verbindung mit Aggression auftretenden manifesten Angst, ähnlich wie bei phobischen Patienten Zwangssymptome auftreten, wenn die Angstabwehr zu versagen droht und es zu einer unaushaltbaren Verstärkung der Angstsymptomatik kommen könnte. Patienten mit Depersonalisationserscheinungen sollte man in der Regel nicht im Liegen behandeln. Meist ist die Tendenz zur Regression erhöht. Durch die Regression wird aber mehr von dem erzeugt, was abgewehrt werden muß. Wenn sie allerdings auf ein Entwicklungsstadium zurückführt, in dem Harmonie geherrscht ~at, kann ~s zu einem scheinbaren Verschwinden der DepersonalIsatIOnserscheInungen kommen, das aber keine Heilung darstellt, son~ern davon abhängig bleibt, daß die Regression weiterbesteht. MöglIcherweIse ist ein Teil der schwer beendbaren Analysen auf diese Erschemung zurückzuführen. In der Regel empfiehlt sich eine niederfrequente (ein bis zwei Wochenstunden) Therapie im Sitzen. Auch Maßnahmen, die die Vertrautheit mit dem eigenen realen Körper fördern, können nützlich sein, beispielsweise Sport. Manche Patienten mit einer Neigung zu Depersonalisationszuständen treiben Sport, um sich zu spüren.
Das Suizidsyndrom
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Auch Selbstverletzungen (SACHSSE 1994) können als schädliche »Eigentherapie« eingesetzt werden.
Das Suizidsyndrom Unter Suizidsyndrom verstehe ich einen Gemütszustand, in dem der eigene Tod gewünscht wird. Dieser Todeswunsch kann offen oder larviert sein. Bei einer larvierten Suizidalität phantasiert der suizidale Mensch etwa, an einer Krankheit oder einem Unfall zu sterben, mit deren Verursachung er selbst nichts zu tun hat. Die Tötung wird dabei an das Schicksal oder - etwa bei vielen phantasierten Verkehrsunfällen - an andere Menschen delegiert. Bei der Phantasie, selbst einen Unfall zu erleiden, ist der Übergang zu einem Suizidversuch in Gestalt eines bewußt herbeigeführten Unfalls etwa mit dem Auto fließend. Wahrscheinlich ist ein nicht unerheblicher Teil der tödlichen Verkehrsunfälle als bewußt oder unbewußt determinierte Suizidhandlung zu betrachten. Eine Vorstufe kann riskantes Fahren in einer bewußten oder unbewußten Konfliktsituation sein. Der Wunsch oder die Absicht zu sterben kann in der suizidalen Phantasie auch ganz fehlen. Der Betreffende phantasiert dann nur zu schlafen. Bei jüngeren Menschen (etwa zwischen 15 und 25 Jahren) hat Suizidalität häufiger einen kommunikativen Charakter als bei älteren und alten Menschen. Diese geraten eher in einen Zustand der Hoffnungslosigkeit. . Das suizidale Syndrom kann als Reaktion auf Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit oder Kränkung aufgefaßt werden. Bei der endogenen Depression ist das Suizidsyndrom häufig und führt auch oft zum Tod. Bei der neurotischen Depression ist das Suizidsyndrom meist weniger intensiv ausgeprägt und führt in einem geringeren Anteil der Fälle zum Tod; hier dali jedoch nicht übersehen werden, daß die neurotische Depression häufiger vorkommt als die endogene, so daß die absolute Anzahl von Suizidfällen nicht gering ist. Als Bilanzsuizid bezeichnet man einen Suizid, den man als Ergebnis rationaler Überlegungen nachvollziehen kann. Dajedoch verschiedene Menschen verschiedenes nachvollziehen können und als »gerechtfertigt« verstehen, hat die Subjektivität des Untersuchers bei der Diagnose Bilanzsuizid großen Spielraum. Ein Bilanzsuizid hat streng genommen keinen kommunikativen Aspekt. Darin gleicht er Suiziden bei endogenen Depressionen oder auch bei Schizophrenien.
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Verluste wichtiger Menschen und eine akute Disregulation des Selbstwertgefühls nach Kränkung können sehr rasch einen Suizid auslösen. Das Suizidsyndrom besteht nur kurze Zeit von der Entstehung bis zum Suizidversuch oder Suizid. Hoffnungslosigkeit entwickelt sich dagegen in der Regel über einen längeren Zeitraum. Bei Menschen mit einer depressiven Persönlichkeitsstruktur scheinen Verluste wichtiger Personen dem Suizidsyndrom häufiger zugrunde zu liegen als bei schizoiden und narzißtischen Personen, b~i . denen es sich meist nicht um eine Enttäuschung über den Verlust eInes Objekts handelt, sondern um eine Kränkung, die narzißtische Wut erzeugt. Suizid ist eine aggressive Handlung gegen die eigene Person. Dabei ist aber nicht immer nur die eigene Person gemeint. Wenn andere Personen gemeint sind, ist der Suizidwunsch ein durch Wendung gegen die eigene Person veränderter Tötungswunsch. Der aggressive Anteil des Suizids taucht bei depressiven Menschen in der präsuizidalen Phantasie meist in den Vorstellungen davon auf, wie wichtige Personen sich verhalten werden, wenn sie von dem Suizid erfahren. Es gibt etwa die Vorstellung, daß sie Schuldgefühle entwickeln. Suizidversuche haben dann einen latent kommunikativen Charakter, selbst wenn die Suizidabsicht ernst ist. Hier gibt es fließende Übergänge zu Suizidversuchen mit manipulativem Charakter, die andere Menschen unter Druck setzen sollen, sich zuzuwenden. Ein Suizidversuch aufgrund einer narzißtischen Regulationsstörung mit narzißtischer Wut enthält diesen Wunsch nach Verbindung meist nicht. Die Wut richtet sich oft nicht nur gegen den Kränkenden, sondern auch gegen andere. Sie breitet sich ohne feste personenbezogene Grenzen auf andere Menschen aus. So kann jemand mit seinem Auto gegen einen Brückenpfeiler fahren und dadurch andere Straßenbenutzer gefährden. Ich erinnere mich an einen Patienten, der in einem Zustand narzißtischer, gegen die eigene Person, aber auch gegen »alle Menschen« gerichteten Wut von einer Autobahnbrücke sprang, dadurch einen Serienunfall verursachte und überlebte. Das suizidale Syndrom kann auch Ausdruck einer Fusionsphantasie sein (HENSELER 1974). Der Betreffende möchte mit einem Mutterobjekt verschmelzen, das durch die Natur oder die Erde (»Mutter Erde«) symbolisiert wird. Der Suizid findet im Wald oder in einer schönen Landschaft oder im Meer statt, oder der Betreffende stürzt sich von einem Aussichtsturm auf die Erde.
Das Suizidsyndrom
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In Familien, in denen mehrere Suizide vorgekommen sind, ist auch weiterhin häufiger eine Selbstmordneigung festzustellen. Es ist noch unklar, ob hier die Suizidhandlung selbst als Lösung vorgelebt worden ist oder ob andere Faktoren, die Suizidhandlungen begünstigen, in der Familie tradiert oder gar vererbt werden. Suizidversuche ohne tödlichen Ausgang rufen bei den Angehörigen meist eher aversive Gefühle und Einstellungen gegenüber dem Suizid hervor. Wenn eine Suizidabsicht sich konkretisiert, wird alles, was Hoffnung geben könnte, zunehmend ausgeblendet. Entweder entsteht die Vorstellung, es gebe überhaupt keine Hoffnung, oder es bleibt nur die Hoffnung, durch eine tatsächlich ausgeführte Suizidhandlung könnte die Situation verändert werden. Daß er letzteres hofft, gesteht sich ein Mensch im Zustand des konkretisierten suizidalen Syndroms oft nicht ein. Im Zustand der tatsächlichen Hoffnungslosigkeit nehmen sich die suizidalen Menschen aus den Beziehungen zurück, da sie die Beziehungen und überhaupt das ganze Leben als sinnlos empfinden. Larvierte Todeswünsche, zum Beispiel der Wunsch, nur noch zu schlafen, gehen in Phantasien über, wie man sich umbringen könnte. Ist ein Entschluß gefaßt, tritt oft eine innere Beruhigung ein, die als Besserung mißverstanden werden kann. Der Wunsch zu schlafen betrifft nur die fusionäre Form der Suizidalität. Fusionsphantasien können aber auch abgewehrt sein, dann wird der Suizidwunsch als ein Bedürfnis erlebt, gerade nicht zu verschmelzen, sich von anderen Menschen nicht beeinflussen zu lassen und im Suizid über sich selbst zu bestimmen. Der Suizid als Akt der Freiheit wird oft von Menschen idealisiert, die sich diese Möglichkeit offenhalten wollen und meinen, in jeder Situation frei zu sein, in der ihnen der Ausweg des Suizids bleibt. Therapeuten müssen sich in diesem Zusammenhang klarmachen, daß zwischen einer bedrohlichen bis hoffnungslosen äußeren Situation, die auch von anderen Menschen so eingeschätzt würde, bis zu der Unfahigkeit, sich drängenden Schuldgefühlen zu entziehen, die von nicht suizidalen Menschen nicht nachvollzogen werden können, offenbar ein Kontinuum besteht. Bei einer endogenen Depression mit wahn haften Vorstellungen hat die reale gegenwärtige und vergangene Situation für das Verhalten des suizidalen Menschen keine wesentliche Bedeutung mehr; der Wahn steht ganz im Vordergrund. Es ist wichtig, bei einem Verdacht auf Suizidalität nach Suizidphantasien zu fragen; sie werden spontan oft nicht mitgeteilt. Wird die Frage mit einem Ernst gestellt, der dem Gegenstand angemessen
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Das Suizidsyndrom
ist, sprechen Menschen mit einem präsuizidalen Syndrom oft ohne weiteres von ihren suizidalen Phantasien. Steht der Entschluß zum Suizid hingegen schon fest, kann der Suizidwunsch aus taktischen Gründen geleugnet werden. Hilfe wird ohnehin nicht mehr erwartet; jemand, der von der Suizidabsicht erfährt, könnte jedoch versuchen, die Suizidhandlung zu verhindern. Dagegen haben spontane Äußerungen über eine präsuizidale Stimmung oft kommunikativen Charakter. So kann Hoffnungslosigkeit ausgedrückt werden (»Es wird immer so bleiben, wie es ist«, oder: »Wenn alles nur schon vorbei wäre«), auch Schuldgefühle (»Ich falle Ihnen zur Last« oder »Ich falle jedem zur Last«), aber auch Rachegefühle (»Meine Mutter, mein Partner etc. wird schon noch sehen«) und Anzeichen einer Pseudobilanz (»Mein Leben« oder »Das Leben der Menschen ist sinnlos«). Wenn jemand dagegen sagt, er möchte nur noch schlafen oder er wolle einfach Ruhe haben, kann das den Wunsch enthalten, der Untersucher möge ihn vor Belastungen schützen und dadurch eine Suizidhandlung verhindern. Die gleichen Äußerungen können aber auch Zeichen einer tiefen Resignation sein. Man darf nicht aus den Augen verlieren, daß eine demonstrative Komponente des suizidalen Syndroms eine ernste Suizidabsicht nicht ausschließt. Der kommunikative Wunsch kann nämlich die Zeit nach dem Suizid betreffen. Der Mensch im suizidalen Syndrom phantasiert sich, oft in Verbindung mit religiösen Vorstellungen, als jemand, der beobachten kann, wie sich die Hinterbliebenen grämen oder in Schuldgefühlen zerfleischen. Es ist auch deshalb falsch, geäußerte Suizidgedanken als nur kommunikativ motiviert, zum Beispiels auch als erpresserisch, abzutun, weil auch eine Suizidhandlung ohne ernsthaften Todeswunsch zum Tode führen kann, wenn unerwartete äußere Umstände hinzutreten. Wenn Menschen mit einem Suizidsyndrom die Beziehung zu anderen Menschen innerlich aufgegeben haben, ist es schwer, einen emotionalen Kontakt herzustellen. Leichter ist dies bei einem präsuizidalen Syndrom oder einem suizidalen Syndrom mit einer kommunikativen Komponente. Als Risikofaktoren gelten die erwähnten Suizide in der Familie, ein hohes Lebensalter in Verbindung mit einem Fehlen von Objektbeziehungen und schwere Belastungen in der äußeren Lebenssituation, etwa Arbeitslosigkeit oder der Verlust wichtiger Beziehungspersonen. Vorausgegangene Suizidversuche deuten ein erhöhtes Risiko an. Menschen mit depressivem oder narzißtischem Charakter sind sui-
zidgefährdeter als andere. Manifeste Depressionen und auch Schizophrenien beinhalten eine erhöhte Suizidgefährdung. Narzißtische Krisen können auch bei scheinbar völlig kompensierten Störungen des narzißtischen Regulationssystems plötzlich auftreten, wenn der äußere Anlaß gegeben ist. Dem Suizidsyndrom benachbart sind alle selbstgefährdenden und selbstschädigenden Verhaltensweisen, zum Beispiel Substanzmißbrauch jeder Art. Dagegen muß nicht schon jeder, der einen gefährlichen Sport betreibt, eine selbstschädigende Absicht haben. Solche Sportler phantasieren im Gegenteil, daß ihnen nichts passieren kann oder daß sie der erkannten Gefahr mit Mut begegnen werden, was natürlich nicht ausschließt, daß sie dennoch zu Tode kommen können (Rennfahren, extremes Bergsteigen, Paragliding). Aus den Informationen, die man im Querschnitt gewinnt, kann die suizidale Gefährdung oft schlecht eingeschätzt werden. Deshalb ist es üblich, auch bei einer als gering eingeschätzten suizidalen Gefährdung Sofortmaßnahmen einzuleiten, wie zum Beispiel die Aufnahme in eine Klinik. Tritt Suizidalität während einer Therapie auf, kann man das Ausmaß meist leichter einschätzen, weil man mehr Informationen hat. Andererseits können über längere Zeit entstandene Gegenübertragungsgefühle die diagnostische Einschätzung trüben. Eine stationäre Therapie ist nicht immer nötig. Viele Patienten haben die Erfahrung gemacht, daß ihnen niemand zuhört, wenn sie über ihre Probleme sprechen. Gerade bei Patienten mit einem Suizidsyhdrom, das eine stark kommunikative Komponente hat, ist das oft der Fall. Die Patienten schließen daraus, daß andere Menschen auch von ihren Suizidgedanken nichts hören wollen. Ernsthaftes Fragen und geduldiges Zuhören entlasten. Der sogenannte Suizidpakt, mit dem der Patient sich verpflichtet, innerhalb eines bestimmten Zeitraums keinen Suizidversuch zu machen und dann wieder einen Termin wahrzunehmen, bei drängenden Suizidgedanken auch schon früher anzurufen, kann eine ausreichende stabilisierende Wirkung haben. Jedoch ist diese Zusicherung im Rahmen des gesamten Patientenverhaltens eingeschätzt werden. Wichtig ist, wie der Patient auf diesen Pakt eingeht. Es kann beispielsweise sein, daß ein von einem Gespräch enttäuschter oder in einem Gespräch gekränkter Patient einen Suizidpakt schließt, um das Gespräch zu beenden und »seine Ruhe zu haben« oder um zu vermeiden, daß er am Suizid gehindert wird. Auch bei einem festen Suizidentschluß ist es also möglich, daß der Patient auf einen Suizidpakt eingeht.
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Tritt ein Suizidsyndrom während einer Therapie auf, hat man meist mehr Informationen; beim Erstkontakt mit einem Patienten, der sich schon in einem Suizidsyndrom befindet, kann man dagegen oft objektiver erleben, diagnostizieren und handeln. Ein zeitlich nicht klar begrenzt erscheinende Einsatz für einen Patienten kann in diesem die Illusion erzeugen, der Therapeut werde alle Beziehungswünsche des Patienten erfüllen und eine Veränderung des Selbst des Patienten werde deshalb überflüssig sein (vgl. KÖNIG 1991). Der Patient kann etwa wünschen, daß der Therapeut sich rund um die Uhr für den Patienten bereitstellt und auf dessen Wunsch hin sofort zur Verfügung steht, also vom Therapeuten ein Handeln erwarten, das dem Umgang einer Mutter mit ihrem ganz kleinen Kind entspricht. Dem kann wohl am besten durch das Setzen und Einhalten klarer zeitlicher Grenzen bei Einzel- und Gruppengesprächen entgegengewirkt werden. Dies schließt nicht aus, daß in einer Klinik, in der sich ein solcher Patient befindet, durch die Einrichtung eines ärztlichen Bereitschaftsdienstes tatsächlich immer ein Arzt erreicht werden kann. Es ist nur nicht immer derselbe, was dem Patienten deutlich macht, daß nicht alle seine Wünsche von einer einzigen Person erfüllt werden können. Die Illusion der Rund-um-die-Uhr-Bereitschaft einer einzigen Person kann suizidfördernd wirken. Irgendwann ist die Grenze der Belastbarkeit einer solchen Person erreicht, und die bereits fest etablierte Illusion wird jäh zerstört. Der Patient kann nun in eine tiefe Verzweiflung stürzen oder sich tödlich gekränkt fühlen. So ist es wichtig, daß jeder Therapeut und jede Therapeutin an die Möglichkeit denkt, selbst zum Verursacher suizidaler Handlungen zu werden. In Kliniken kann ein ganzes Team suizidfördernd reagieren. KIND (1992) hat das, und mehr, in einer empfehlenswerten Monographie dargestellt.
Somatische Entstehungsbedingungen psychogener Krankheiten Durch die Ergebnisse der Säuglingsbeobachtungen (dargestellt z.B. bei DORNES 1993a, 1993b) wird immer deutlicher, daß der Säugling mit einem ganzen Repertoire angeborener Fähigkeiten und erbgenetisch festgelegter Verhaltensweisen auf die Welt kommt. Die Ergeb-
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nisse dieses Forschungsbereichs machen es heute unmöglich, den Säugling als ein unbeschriebenes Blatt zu sehen, auf das die Umwelt schreibt. Vorher schon hatten Zwillingsuntersuchungen (z.B. HEIGLEVERS und SCHEPANK 1980, BRÄUTIGAM 1994) den Einfluß von ererbten Eigenschaften und Erlebens- und Verhaltensdispositionen in den Vordergrund gestellt. KERNBERG (1975) hat bei der Entstehung von Borderline-Störungen konstitutionell bedingte Eigenheiten bezüglich der Oralität und der Aggressivität angenommen. Natürlich liegen in der heutigen Tendenz, den Einfluß biologischer Gegebenheiten mehr zu betonen, auch Gefahren. Die wichtigste besteht darin, den Einfluß der Umwelt zu unterschätzen und die Therapie im Extremfall nur auf das medikamentös Beeinflußbare zu konzentrieren - eine Entwicklung, die in den Vereinigten Staaten schon zu einem Rückgang der Aufwendungen für Psychotherapie in Forschung und Praxis geführt hat. Zwar kann eine Pharmakotherapie bei einer ganzen Reihe von Patienten eine Psychotherapie erst ermöglichen, indem sie die Stimmung des Patienten aufhellt, Initiative bei ihm freisetzt, als Reizschutz dient. Es gibt jedoch viele Patienten, bei denen es besser ist, eine psychoanalytische Therapie ohne Psychopharmaka durchzuführen, und bei denen eine Pharmakotherapie sich eher schädlich auf den Verlauf einer Psychotherapie auswirkt. In den Vereinigten Staaten werden allerdings schon Patientenanalysen unter Psychopharmaka als Ausbildungsanalysen diskutiert (ROOSE u. STERN 1995). Der Einsatz von Psychopharmaka wird von Psychotherapeuten auch deshalb als unzweckmäßig angesehen, weil sie den Leidensdruck verminderten. Es ist jedoch darauf hinzuweisen (vgl. auch KöNIG 1994a), daß der Symptomleidensdruck zur Motivation für eine Psychotherapie, zumindest für eine Psychotherapie analytischer Art, nicht ausreicht und daß es bei der Vorbereitung einer Psychotherapie darauf ankommt, einen Leidensdruck freizulegen und zu fördern, der sich nicht nur auf die Symptome bezieht, sondern auch auf Erlebensund Verhaltensweisen, die mit den Ursachen der Symptome zusammenhängen. Vielleicht wird die weitere Entwicklung in der Pharmakotherapie es schließlich möglich machen, die Symptome, unter denen der Patient leidet, zu einem großen Teil oder vollständig zu unterdrücken. Das muß sich auf eine Psychotherapie nicht ungünstig auswirken, kann hingegen den Entschluß, eine Psychotherapie zu beginnen, behindern. Symptome fördern die Aufnahme einer Psychotherapie über
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die durch den Leidensdruck entstehende Motivation, den emotionalen, zeitlichen und materiellen Aufwand für eine Psychotherapie auf sich zu nehmen, während sie oft die Mitarbeit in der Psychotherapie behindern. Heute würde sicher niemand mehr die psychogenen Komponenten einer Migräne behandeln, ohne die Intensität und Häufigkeit der Migräneanfälle durch eine entsprechende Pharmakotherapie lindern zu wollen. Es gab jedoch eine Zeit, in der man es für ungünstig hielt, Medikamente zu geben, und das galt nicht nur für Schmerzmittel, bei denen ja Gewöhnungsgefahr besteht, sondern auch für Medikamente, die sich auf das Gefäßsystem auswirken und so die Anfallsbereitschaft und Anfallsintensität vermindern. Eine genaue Kenntnis der konstitutionellen Faktoren und der für ihre Erfassung nötigen diagnostischen Mittel kann zur Beurteilung der Prognose und der Indikationsstellung für ein bestimmtes therapeutisches Verfahren wichtig sein. Noch sind wir bei den meisten Krankheitsbildern nicht so weit, vielleicht könnte aber schon die Berücksichtigung der Möglichkeit, es handele sich bei einem schwer behandelbaren Patienten um ein konstitutionelles Problem oder der konstitutionelle Faktor sei sehr ausgeprägt, uns die Entscheidung erleichtern, sozialpsychiatrische Maßnahmen einzusetzen, statt den Patienten mit einer Therapie zu belasten, die wenig oder keine Aussicht auf Erfolg hat. Hier liegt aber die große Gefahr, daß überwindbare Hindernisse in einer Therapie auf das Konto der Konstitution gebucht werden, obwohl sie mit therapeutischen Mitteln beeinflußbar wären. Die Zwillingsuntersuchungen haben gezeigt, daß erbgenetische Faktoren bei einer Reihe von psychischen Krankheitsbildern beteiligt sein müssen, wir wissen aber noch nicht, welcher Art sie sind, und wir wissen nicht, wie groß ihr Einfluß beim einzelnen Patienten ist. Deshalb sind wir als Psychotherapeuten verpflichtet, die Möglichkeiten von Psychotherapie nach sorgfältiger Indikationsstellung auszuschöpfen, solange nach den traditionellen Beurteilungskriterien eine Besserung erwartet werden kann. Die Vernachlässigung ererbter Faktoren war nicht nur ein Problem der Psychoanalyse. In allen Sozialwissenschaften wurde auf das Ererbte wenig Wert gelegt. Selbst dort, wo man sich der Rolle des Ererbten nicht entziehen konnte, etwa bei der allgemeinen Intelligenz und bei bestimmten Begabungen, verhielt man sich vielfach so, als bedürfe es nur ausreichender Förderung, um aus allen Kindern intelligente und begabte Menschen zu machen. Diese hohe Bewertung der
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Umwelt spielte nicht nur in Westdeutschland eine Rolle, es gab sie in der ganzen westlichen Welt. Auch im Ostblock wurde der Einfluß der Umwelt überschätzt, wenngleich diese Überschätzung dort in anderen Formen auftrat. So gab es Erbforscher, die man als Neo-Lamarckianer bezeichnen könnte: Sie postulierten die Vererbung erworbener Eigenschaften. Das kam zwar später aus der Mode, war aber ein Indikator für die generelle Überschätzung der Umwelteinflüsse. In Deutschland wurde die Tendenz, erbgenetische Einflüsse zu vernachlässigen, durch die Erinnerung an den Nationalsozialismus verstärkt, der mit der Vorstellung der »Rassenhygiene« den Einfluß der Vererbung in einer ganz spezifischen, unseligen Weise überbetonte. Für den Psychotherapeuten spricht manches dafür, in seiner Betrachtung von Patienten die Einflüsse der Erbgenetik zugunsten der Psychogenese zu vernachlässigen. Die Einflüsse des Ererbten kann er nicht verändern, sein Einfluß beschränkt sich vielmehr auf eine Veränderung von menschlichen Eigenschaften, insbesondere von inneren Konflikten, die durch Faktoren der Umwelt hervorgerufen werden. Die Psychotherapie selbst ist ja ein Umwelteinfluß. Diese Überlegung trifft sogar für Schulrichtungen der Psychoanalyse zu, die Einflüsse der Umwelt zwar nicht leugnen, aber doch wenig berücksichtigen, wie etwa die Form der Psychoanalyse nach MELANIE KLEIN. Diese Schulrichtung nimmt an, daß bestimmte ubiquitäre kindliche Phantasien in sich pathogen seien. Heute wird auch von Vertretern dieser Richtung zunehmend der Einfluß der Umwelt in Rechnung gestellt. FREUD (1905a, S. 141) selbst hat ja die Einflüsse des Konstitutionellen in Rechnung gestellt. Er sprach von einer Ergänzungsreihe, in der man unterschiedliche prozentuale Anteile von Erbe und Umwelt einordnen kann, vom rein Ererbten bis zum rein Umweltbedingten. Dennoch liest sich ein großer Teil seiner Arbeiten so, als seien psychische Probleme ausschließlich umweltbedingt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in Deutschland vielfach vertreten, daß die »biologistischen« Aspekte der Theorien FREUDS mit dem medizinischen Wissenschafts verständnis seiner Zeit zusammenhingen, dem er sich nicht hätte entziehen können. Tatsächlich haben sich manche Annahmen FREUDS zur Rolle der Konstitution bei der Entstehung psychischer Krankheiten und bestimmter Verhaltensweisen von Patienten als falsch erwiesen. So nahm FREuD (1915) für die Liebesübertragung an, es handele sich um eine konstitutionell bedingte, vielleicht nicht ausreichend durch zivilisatorische Einflüsse
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Grundlagen
KJankenbeobachtung
modifizierte Grundtendenz von Patienten, die er als »Kinder der NatUf« bezeichnete. Deren Tendenz, nicht mit dem therapeutischen Angebot und der therapeutischen Rolle des Psychotherapeuten zufrieden zu sein, wirkte sich in der Therapie als Widerstand aus. Heute nimmt man eher Einflüsse der Umwelt an, die den Patientinnen bestimmte Entwicklungsschritte nicht ermöglichten, in denen sie die Ich-Kompetenzen erworben hätten, die notwendig sind, um auf eine unmittelbare Bedürfnisbefriedigung verzichten zu können. Insgesamt war FREUD aber sicher ein Psychotherapeut, der sowohl Umwelt als auch Erbe berücksichtigte.
müssen, ob sie noch körperlich »beieinander« sind. Es tritt aber auch bei Langeweile auf, etwa wenn jemand in der Position des Zuhörers eines Vortrags fixiert ist und das Zuhören ihn langweilt. Dann hat das seif-touching vielleicht die Funktion, Reize zu erzeugen, die in dem Vortrag, den der Betreffende anhört, nicht enthalten sind. Auch bei starker innerer Anspannung - die die verschiedensten Gründe haben kann - berührt sich der Betreffende vielleicht. Das seif-touching gehört dann zu den Verhaltensweisen, die eine solche innere Spannung zu mindern trachten. Zum Beispiel kann jemand versuchen, sich von inneren Gedanken und Bildern dadurch abzulenken, daß er Körpergefühle erzeugt. Bei Selbstverletzungen, dem sogenannten »Schnippeln«, also selbstbeigebrachten Schnittwunden, oft an den Armen, aber auch im Gesicht und am übrigen Körper, und selbstbeigebrachten Verbrennungen mit Zigaretten und anderem kann eine innere Spannung gemindert werden, indem Schmerz erzeugt wird. Aber auch eine innere Leere, die man sich als sehr unangenehm vorstellen muß, kann durch schmerzhafte Sensationen »gefüllt« werden. Die Selbstverletzung, demonstrativ oder heimlich, ist nicht häufig, gehört aber zu den am schwersten behandelbaren Syndromen. SACHSSE (1994) hat Psychodynamik und Behandlung dieser Patienten in einer eindrucksvollen Monographie beschrieben. Auch das pedantische und umständliche Verhalten von Menschen mit einer Zwangsstruktur gehört zum Beobachtbaren, wobei die auf Genauigkeit bedachte, umständliche Redeweise über den akustischen Kanal vermittelt wird. Manche Zwangsneurotiker weisen auch Rituale auf, die man beobachten kann, beispielsweise vermeiden sie es, auf die Fugen zwischen Steinen zu treten, andere gehen auf eine bestimmte, ritualisierte Weise. Solche Auffälligkeiten lenken auf die Diagnose hin, können aber eine sorgfältige Diagnostik nicht ersetzen. Hysterisches Verhalten betont den Geschlechtsunterschied und soll dadurch sexuell anziehend wirken, ohne daß der Betreffende das bewußt intendiert - oft sogar, ohne daß er es merkt. Es findet sich bei hysterischen Frauen und Männern und läßt die Diagnose hysterische Persönlichkeit vermuten. Fehlt es, kann dennoch eine hysterische Struktur vorliegen, denn hysterische Menschen können sich betont »cool« und sachlich verhalten, wenn sie wissen, daß das von ihnen erwartet wird. Zentral in der Diagnostik psychogener Krankheiten bleibt auf jeden Fall die verbale Ebene, auch wenn die nonverbale Ebene eben-
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Kiankenbeobachtung Ergebnisse von Krankenbeobachtungen sind mit Vorsicht zu interpretieren. Einem Patienten mit einer psychogenen Störung kann man die Störung oft nicht ansehen. Es gibt Patienten, die an einer schweren Neurose erkrankt sind und sich dennoch ganz unauffällig verhalten, so daß der Untersucher in einer somatischen Klinik »Psychisch unauffällig« auf seinen Untersuchungsbogen schreibt. Die Diagnose einer Depression wird sicher durch eine depressive Mimik, verlangsamte Gestik und verminderte affektive Ansprechbarkeit gestützt, jedoch müssen weitere Informationen hinzukommen. Das gilt besonders, wenn man den Patienten vorher nicht gekannt hat und deshalb nicht sein jetziges mit seinem früheren Verhalten vergleichen kann. Es wird auch auffallen und diagnostisch verwendet werden können, wenn ein schizoider Patient Blickkontakt vermeidet; aus der Vermeidung von Blickkontakt läßt sich aber noch keine Diagnose stellen, beispielsweise reagieren Menschen mit einer Sozialphobie ähnlich. Paranoische Schizophrene, die den anderen kontrollieren müssen, weisen oft eine erhöhte Tendenz zum Blickkontakt auf. Auch das sogenannte self-touching, also das Berühren des eigenen Körpers, meist am Kopf, am Hals und am Oberkörper, läßt mehrere Interpretationen zu. Es kommt bei schizoiden Menschen vor, die sich ständig ihrer Körpergrenzen versichern müssen, oder bei narzißtischen Menschen, wenn sie in einen leichten narzißtischen Erregungszustand geraten (etwa durch Berichte von persönlichen und beruflichen Erfolgen) und sich durch das seif-touching vergewissern
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Grundlagen
~alls
wichtige Hinweise liefert. Zur Diagnostik verweise ich auf andere Lehrbücher und Monographien (ARGELANDER 1970, KÖNIG 1991, 1994a). Die Auswertung nonverbalen Verhaltens bei der Diagnostik von Syndromen und Krankheiten sollte mit großer Vorsicht betrieben werden. Die Beobachtung des Patienten ist dagegen sehr wichtig, wenn man verstehen will, wie er bestimmte Gefühle beim Untersucher auslöst. Während des psychotherapeutischen Prozesses gewinnt das Nonverbale (z.B. HERDlECKERHOFF 1985, 1986, BUSCH 1995) eine zentralere Bedeutung. Ein Großteil der Gegenübertragung wird durch das nonverbale Verhalten eines Patienten ausgelöst. Im Rahmen der projektiven Identifizierung benutzt ein Patient oft nonverbale Signale, um den Therapeuten zu einem Verhalten zu bringen, das er erwartet und das ihn auf bestimmte Gefühle im Therapeuten rückschließen läßt. So kann ein masochistischer Patient den Therapeuten durch provozierendes nonverbales Verhalten, zum Beispiel durch betonte Langsamkeit, durch Zuspätkommen oder das Nicht-Bezahlen von Rechnungen dazu bringen, daß sein Verhalten eine aggressive Färbung annimmt, die der Patient dann als sadistisch interpretieren und masochistisch genießen kann. Auch negative Erfahrungen mit wichtigen Beziehungspersonen in der Kindheit, die prägend waren, ohne daß sie masochistisch verarbeitet wurden, kann ein Patient aus dem Therapeuten hervorlocken wollen, um sich eine Übertragungserwartung zu bestätigen (s.a. SANDLER 1992). Wenn der Therapeut merkt, auf welche Weise es dem Patienten gelingt, ihn zu ärgern - manchmal ärgert er sich, ohne den Anlaß zu erkennen -, ermöglicht ihm das, mit den Gefühlen, die der Patient in ihm erzeugt, besser umzugehen. Tatsächlich werden sie schon dadurch vermindert, daß ihre Entstehungsweise verstanden wird. Diagnostisch ist das besonders bei den sogenannten Übertragungsneurosen wichtig. Bei Borderline-Patienten sind die Auslöser meist offensichtlich. Hier hat man kein diagnostisches Problem, vielmehr besteht das Problem darin, die intensiven Gefühle zu beherrschen, die der Patient in einem erzeugt, obwohl man weiß, wie er das tut. Erst eine Kenntnis der Motivation des Patienten kann die Gefühle vermindern. Sie erlangt man jedoch nicht durch Beobachtungen, sondern durch Schlußbildungen, die Zeit beanspruchen. Bis dahin muß der Therapeut die Ich-Funktion der Impulskontrolle einsetzen, um sich nicht zu Handlungen verleiten zu lassen, die vom Patienten als volle Bestätigung seiner Erwartungen genommen werden können.
Störungen mit vorwiegend psychischer Symptomatik
Charakterneurosen Eine Charakterneurose liegt vor, wenn bestimmte Erlebens- und Verhaltensweisen deutlich von dem in einer Gesellschaft Üblichen abweichen und zu sozialen Schwierigkeiten oder zu Leiden des Betroffenen führen. Das Leiden kann abweichende Verhaltensweisen bedingen. Unter bestimmten Formen der Charakterneurose leidet der Betreffende, unter anderen seine Mitwelt und unter wieder anderen der Betroffene und seine Mitwelt, was wohl am häufigsten vorkommt. Diese Definition ist allerdings noch unzureichend. So kann zum Beispiel ein Künstler Bilder malen, die von der Gesellschaft, in der er lebt, nicht akzeptiert werden, wie es ja das Schicksal vieler kreativer Menschen ist, ihrer Zeit voraus zu sein. Beispiele sind nicht nur Maler, etwa die französischen Impressionisten, sondern auch Musiker wie BEETHOVEN oder Wissenschaftler wie GAULE! oder FREUD. Keiner wird wohl behaupten, daß diese Personen nur allein aus dem Grund, daß sie Dinge sagten oder taten, die zunächst nicht akzeptiert wurden, an einer Charakterneurose gelitten hätten. Diese Überlegungen machen deutlich, wie schwer eine Charakterneurose zu definieren ist. Für Menschen, die etwas Neues tun, sind soziale Schwierigkeiten oft unvermeidbar. Nicht nur Genies, die Neues schaffen, geraten in soziale Schwierigkeiten, auch ihren Anhängern geht es so, wie seinerzeit den Anhängern FREUDS. Das Problem kann größere Dimensionen annehmen, denn die Menschen, die etwas gesellschaftlich nicht Akzeptiertes tun, können sehr zahl-
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reich sein, man denke nur an die Christenverfolgungen und generell an die Verfolgungen Andersdenkender bis in die Gegenwart hinem. Wahrscheinlich tun sich Psychoanalytiker am leichtesten, wenn sie versuchen, sich mit dem Patienten unter Beachtung seiner Werte und Normen zu identifizieren und wenn sie das Leid des Patienten in Beziehungen als Kriterium dafür nehmen, ob eine Therapie angezeigt ist oder nicht. Zu den Aufgaben des Psychoanalytikers gehört es unter Umständen auch, ein Leiden, an das der Patient sich gewöhnt hat und das er für selbstverständlich nimmt, zu reaktualisieren, indem er es anspricht, um den Umgang damit in Frage zu stellen. HOFFMANN und HOCHAPFEL (1995, S. 150) bezeichnen als Charakter »... die Gesamtheit der stabilen und konsistenten psychischen Eigenheiten eines Individuums ... , mit denen es sich mit der Welt seiner Triebe und Emotionen einerseits und der seiner psychosozialen Gegebenheiten andererseits auseinandersetzt.« Diese Definition kann ich akzeptieren, würde aber die Worte »stabil« und »konsistent« durch das Wort habituell ersetzen, da es Charaktere gibt, zu deren Merkmalen es gehört, daß sie inkonsistent sind und in ihren Verhaltensweisen stark wechseln. Gerade Inkonsistenz und Instabilität können Charakterzüge sein. Die meisten Charaktertypen sind von eindeutig pathologischen Ausprägungen her beschrieben worden. Das schadet eigentlich nichts, nur hat es sich als ungünstig erwiesen, daß Charaktertypen Namen bekommen haben, die von den pathologischen Bildern abgeleitet sind (das gilt besonders für schizoid, depressiv, zwanghaft, phobisch und hysterisch). Bei der narzißtischen Struktur kann man nicht so recht sagen, wovon sie abgeleitet ist, worauf HOFFMANN und HOCHAPFEL (S. 154 f.) zu Recht hinweisen. Darüber hinaus gibt es auch Beschreibungen von Persönlichkeitstypen, die zwar einen Übergang zum Normalen zeigen, bei denen man aber zunächst nicht an die normalen Ausformungen denkt. Das gilt für die sogenannten paranoiden Persönlichkeiten, deren normale Ausprägungen sich vielleicht durch ein deutliches, aber noch »gesundes« Mißtrauen auszeichnen, und für Pessimisten, die von anderen Menschen immer das Schlechteste erwarten. Schizoide Persönlichkeiten werden an anderer Stelle in diesem Buch beschrieben, ebenso die hysterischen (histrionischen), depressiven, zwanghaften (anankastischen) und phobischen Persönlichkeits- beziehungsweise Charaktertypen.
Charakterneurosen
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Daß es die asthenische Persönlichkeit als Charaktertyp gibt, kann bezweifelt werden. Eine im Vergleich zum Durchschnitt geminderte Leistungsfähigkeit kann man in der Regel auf differenzierter beschreibbare Persönlichkeitsstörungen zurückführen. Für die dissoziale Persönlichkeit ist ein sozial unerwünschtes Verhalten charakteristisch; in »normaleren« Ausprägungen würde man sie vielleicht als unkonventionell bezeichnen. Menschen mit Persönlichkeitsstörungen (ICD-10) werden auch abnorme Persönlichkeiten genannt. Früher nannte man die Charakterneurosen in Deutschland Psychopathien; gelegentlich geschieht das heute noch. HOFFMANN und HOCHAPFEL gehen davon aus, daß die Charaktersymptome ich-synton sind, Symptome wie eine vom Individuum nicht begründbare Angst oder depressive Verstimmung aber ich-dyston. Dem ist einschränkend entgegenzuhalten, daß es Charaktersymptome gibt, unter denen der Betreffende wissentlich leidet. Wenn er sich entsprechend seinem Charaktersymptom verhalten hat, nimmt er sich vielleicht immer wieder vor, sich beim nächsten Mal anders zu verhalten. Das gilt zum Beispiel für Menschen, die nicht >Nein< sagen können oder zu vertrauensselig sind. Zwar sind dies Eigenschaften, die sozial positiv bewertet werden, das muß aber nicht bedeuten, daß sie auch ich-synton sind. Oft ist es allerdings die Aufgabe des Psychoanalytikers, die Ich-Syntonizität eines Verhaltens oder Erlebens in Frage zu stellen. Persönlichkeitsstörungen können psychoanalytisch oder verhaltenstherapeutisch behandelt werden. Es gibt Autoren, beispielsweise ARGELANDER (1970), die bezüglich der Möglichkeit, Charakterstrukturen durch Psychoanalyse zu verändern, ausgesprochen pessimistisch sind. WILHELM REICH (1933) dagegen hielt die Arbeit am Charakter bei jeder psychoanalytischen Therapie für zentral wichtig. Manchmal leiden Menschen unter einem Verhalten, das sie selbst zwar richtig finden, das aber von ihren Mitmenschen nicht akzeptiert wird, so daß sie in Beziehungen erhebliche Nachteile erleiden. Daraus ergibt sich noch keine optimale Motivation für eine Therapie, aber doch eine Motivation, die zunächst den Beginn einer Therapie möglich machen kann. Es gibt auch Charaktersymptome, deren ein Mensch sich schämt und die er deshalb als Patient ungern oder gar nicht erwähnt. Das ist ja auch mit anderen Symptomen so, zum Beispiel bei Zwängen oder
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bei der Erythrophobie. Auch Miktionsstörungen auf öffentlichen Toiletten werden so gut wie nie spontan angegeben. Was Menschen dem »hysterischen Elend« und was sie dem »gemeinen Unglück« (FREUD 1895 a, S. 312) zuschreiben, unterscheidet sich stark von Mensch zu Mensch. Viele Erlebens- und Verhaltensweisen werden von Patienten als ubiquitär eingeschätzt. Sie haben etwa die Vorstellung, daß jeder Mann Angst hat, beim Koitus zu versagen, und jede Frau sich vor einer Penetration durch den Penis des Mannes fürchtet. Wer das abstreite, lüge doch nur. Besonders Patienten mit einer diffusen Angstsymptomatik meinen offenbar häufig, jedem ginge es so wie ihnen, jeder hätte doch hin und wieder Angst, andere würden es nur vermeiden, das an die große Glocke zu hängen. Auch Wünsche, die etwas Ungewöhnliches an sich haben, werden oft als ubiquitär phantasiert. So sagte mir einmal jemand, jeder würde sich doch wünschen, einen Cadillac zu fahren. Er fügte hinzu: »Und wer das abstreitet, lügt.« Bei der Diagnose von Charakterneurosen und der Einschätzung ihrer Behandelbarkeit kann es sich lohnen, auf die Tendenz des Patienten zu achten, abweichendes Verhalten innerlich als ubiquitär einzuschätzen und dies auch zu vertreten, wenn die Rede darauf kommt. Auch bei Symptomneurosen kann dieses Phänomen wichtig sein. Oft bieten ich-syntone Wünsche oder Befürchtungen zunächst einen besseren therapeutischen Zugang als die Symptomatik selbst. Nicht selten stellt sich auch heraus, daß solche Wünsche und Befürchtungen einen dynamischen Zusammenhang mit der Symptomatik haben und die Arbeit an ihnen die Symptomatik positiv beeinflussen kann. Ein sorgfältige Diagnostik der habituellen Wünsche, Befürchtungen und Verhaltensweisen eröffnet dann den besten therapeutischen Zugang, vor allem natürlich bei Fokaltherapien, deren Erfolg wesentlich davon abhängt, welchen Fokus man zu Beginn der Therapie wählt. Am Beispiel der Zwangsneurose habe ich in diesem Buch weiter unten dargestellt, unter welchen Umständen es eher zu einer Charakterneurose und unter welchen Umständen es eher zu einer SymptomZwangsneurose kommt. WILHELM REICH (1933) war der Meinung, daß alle Neurosen »aus dem Charakter« stammen. Das ist in dieser Form sicher nicht lichtig, doch erkranken bestimmte Charaktere leichter an bestimmten Krankheiten, zum Beispiel Menschen mit einem phobischen Charakter an einer Phobie.
Narzißtische und schizoide Struktur
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Narzißtische und schizoide Struktur Wenn man heute von einer narzißtischen Neurose spricht, meint man eine Charakterneurose bei narzißtischer Persönlichkeitsstruktur, die ja in geringerer Ausprägung noch keinen Krankheitswert hat, sondern als Variante im Bereich des Normalen aufzufassen ist. Dies gilt auch für die übrigen in diesem Buch abgehandelten Persönlichkeitsstrukturen mit Ausnahme des Begriffes Borderline-Struktur, der ein Funktionsniveau bezeichnet, während sich die Charakterstrukturen durch unterschiedliche zentrale Beziehungswünsche (KÖNIG 1988, 1993) voneinander unterscheiden. FREUD (1916/1917, S. 435) hat noch die Psychosen als narzißtische Neurosen bezeichnet. Dieser Sprachgebrauch ist heute veraltet. Unter dem narzißtischen Regulationssystem versteht man ein Zusammenwirken psychischer Vorgänge, die das Selbstwertgefühl vermehren oder vermindern. Eine Kränkung kann das Selbstwertgefühl vermindern, Anerkennung oder Bewunderung können es erhöhen. Ein pathologisches narzißtisches Regulationssystem kann sich darin zeigen, daß der betreffende Mensch gegenüber Kränkungen besonders empfindlich ist und auf Anerkennung oder Bewunderung mit einer besonders starken Steigerung des Selbstwertgefühls reagiert. Eine Steigerung des Selbstwertgefühls kann dazu führen, daß der Betreffende sich in einem Ausmaß überschätzt, das sich sozial als nachteilig erweist. Beispielsweise kann jemand sich nach einem großen Erfolg »alles« zutrauen. Wer mit einem Vortrag gut angekommen ist, kann weitere Vortragsangebote annehmen, obwohl er dafür nicht genug Zeit hat; das ergibt noch relativ harmlose Probleme. Werden Menschen nach einem Erfolg so leichtsinnig, daß sie sich in Gefahr zu bringen drohen, kann Abwehr den narzißtischen Erregungszustand begrenzen. Das Selbstwertgefühl ist bei vielen Neurosen beeinträchtigt, etwa bei der neurotischen Depression und der Phobie. Bei den Krankheitsbildern, die man als narzißtische Neurosen bezeichnet, kann darüber hinaus auch das Selbstgefühl beeinträchtigt sein. Ein Patient sagt etwa, daß es in ihm leer sei. Das Leben, so sagt er, hat für ihn keinen Sinn. Er weiß nicht, wer er eigentlich ist und sein möchte. Der Patient fühlt sich nicht als Wer, sondern als Niemand. Man kann sich das so erklären, daß schon die Objektvorstellungen des Patienten »leer« sind, weil die Pflegepersonen mit dem Kind
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Narzißtische und schizoide Struktur
nicht so viel und in solcher Weise interagierten, daß sich in ihm Vorstellungen »gefüllter« Objekte hätten entwickeln können. Das Gefühl der eigenen Leere wird durch eine objektleere innere Welt erzeugt; ein belebtes inneres Selbst entsteht nur in der Interaktion mit belebten inneren Objekten, und diese Interaktionen haben gefehlt. Solche Menschen berichten oft über ein quälendes Gefühl der Langeweile. Sie können Interessantes in ihrer Umwelt nicht aufnehmen, weil sie die Umwelt nach dem Modell der entleerten Objekte in ihrer inneren Welt wahrnehmen. Nur stärkste Reize können sie anregen. Kompensatorische Phantasien unbegrenzter Leistungsfähigkeit und Intelligenz, die das vernachlässigte Kind entwickelt, führen zu einer hohen Kränkbarkeit, wenn der Betreffende mit der Realität (dem »realen Selbst«, KOHUT 1973) konfrontiert wird. Weil der Betreffende meint, die anderen müßten ihn so einschätzen wie er sich selbst in seinen kompensatorischen Phantasien, sieht er oft eine kränkende Absicht, wo keine vorhanden ist. Die Menschen gehen mit ihm nur um wie mit anderen. Ich fasse die narzißtischen Störungsbilder als das Resultat einer frühgenetischen Schädigung und eines kompensatorischen Adaptationsprozesses auf, der in Gang kam, weil der Betreffende als Kind vernachlässigt und gerade nicht anerkannt und geschätzt worden ist. KOHUT (1973) sprach vom fehlenden Glanz im Auge der Mutter. Obwohl ich das Theoriengebäude von KOHUT für meine eigene Arbeit nicht verwende, finde ich doch viele seiner klinischen Beschreibungen treffend. Mit dem »Glanz im Auge der Mutter« (und, wie ich ergänzen möchte, im Auge des Vaters) erfaßt KOHUT meines Erachtens wesentliche Voraussetzungen einer normalen Kindesentwicklung. Bei gesunden Eltern kann man immer wieder feststellen, daß sie ihr Baby als »das schönste auf der ganze Welt« empfinden und zum Beispiel Bilder von ihm herumreichen, während andere an dem Baby nichts Besonderes entdecken können. Diese Überschätzung des Babys durch die Eltern hat in extremen Fällen sicher auch etwas mit deren Narzißmus zu tun, im ganzen scheint sie aber eine wichtige Entwicklungsvoraussetzung zu sein, vielleicht auch als Bestandteil der primären Mütterlichkeit nach WINNICOTT (1960). Die Überschätzung des Babys gehört zum Umgang mit ihm wie die von FREUD (1905, S. 50) als »Sexualüberschätzung« bezeichnete Überschätzung des Partners in der Verliebtheit. Wahrscheinlich motiviert die Überschätzung des Babys auch zum Betreuen und Pflegen. Man kann an-
nehmen, daß das Selbstwertgefühl des Babys gesteigert werden kann, wenn man sich um es kümmert, und verringert, wenn man es vernachlässigt. Weil narzißtische Menschen nicht erfahren haben, »bewundert« zu werden, haben sie gleichsam kein ausreichend großes Reservoir ausgebildet, in dem sie narzißtische Bestätigung aufbewahren, auf die sie zurückgreifen könnten wenn narzißtische Bestätigung einmal ausbleibt. Sie sind deshalb auf eine kontinuierliche Zufuhr angewiesen, die ihren Bedürfnissen genau angepaßt sein muß. Zuviel narzißtische Bestätigung »überdehnt« gewissermaßen das Reservoir und verursacht unangenehme Gefühle, häufig Schamgefühle, oder führt in einen narzißtischen Erregungszustand, in dem der Betroffene Angst hat, »abzuheben«. Eine weitere Möglichkeit ist, daß die narzißtische Zufuhr gar nicht aufgenommen, sondern, da sie nicht vertragen würde, vorher zurückgewiesen oder durch unwilliges äußeres Verhalten oder ein prinzipielles Infragestellen (»das sagt der doch nur, weil .... «) entwertet wird. Die Kombination von dauerndem Hunger nach Anerkennung und einer Unfähigkeit, Anerkennung zu speichern, um in der Folgezeit darauf zurückgreifen zu können, findet sich bei allen Störungen des narzißtischen Regulaüonssystems. Sie muß nicht mit einer Überbewertung des Selbst und einer Entwertung der Objekte verbunden sein wie bei dem Zustandsbild, das ich als narzißtisch betrachte. Ein narzißtisches »Gräßenselbst« bedarf zu seiner ~tabilität äußerer Erfolge, die bestätigen, daß der Betreffende viel kann. Dazu gehört zum Beispiel auch, daß er es versteht, sich beliebt zu machen. Gelingt ihm nicht alles, reagiert er mit Selbsthaß. Die Identifizierung mit idealisierten Objekten stabilisiert das Selbstwertgefühl. Objekte, die dem narzißtischen Menschen nahe sind, können von ihm in der Regel nicht idealisiert werden. Das gelingt nur mit Objekten, die im wörtlichen oder übertragenen Sinne »weit weg« sind, sei es geographisch oder durch die Asymmetrie einer Beziehung, etwa zwischen Therapeut und Patient oder Vorgesetztem und Mitarbeiter. Falls ein Vorgesetzter versucht, mit dem Mitarbeiter auf gleicher Ebene umzugehen, kann das Mitarbeiter mit einem Bedürfnis, ihn zu idealisieren, sehr beunruhigen. MOSER (1976) beschreibt im Bericht über seine Lehranaiyse seine Idealisierung des eigenen deutschen Lehranalytikers und die noch stärkere Idealisierung des berühmten, in den USA lebenden Analytikers KOHUT. Geht ein idealisiertes Objekte verloren, sei es durch eine Trennung,
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sei es durch Entwertung, kann sich der narzißtische Mensch nicht mehr in der Beziehung zum idealen Objekt stabilisieren und ist wieder auf die Verteidigung des Größenselbst gegenüber der Realität und gegenüber den eigenen Idealen zurückgeworfen. Das Größenselbst muß sich ja gegenüber den Feedbacks aus der Realität, gegenüber der Wahrnehmung von sich selbst und gegenüber dem Ich-Ideal behaupten. Istßas Selbst dadurch »groß«, daß es moralische Forderungen aus dem Uber-Ich perfekt erfüllt, besteht eine Abhängigkeit auch gegenüber dieser Instanz. Das sind Menschen mit einem »heiligen ÜberIch«, d~~ selbst »heilig« werden wollen, indem sie die Forderungen dieses Uber-Ich erfüllen. Sie sind anderen gegenüber in Dingen der Moral oft tolerant, da sie davon ausgehen, daß die anderen einfach nicht die Kraft haben, so moralisch zu sein wie sie selbst. Nur von sich selbst verlangen sie viel. Anderen gegenüber erleben solche Menschen oft eine milde Verachtung. In der therapeutischen Arbeit ist es wichtig, zwischen Störungen des narzißtischen Regulationssystems, die auch bei Depressionen vorkommen, und der narzißtischen Lösung des Konflikts zwischen Selbstbewertung und Objektbewertung zu unterscheiden. So weisen HOFFMANN und HOCHAPFEL (1995) darauf hin, daß der Terminus narzißtisch im Sinne einer Störung des narzißtischen Regulationssystems unspezifisch ist und kein eigenes Krankheitsbild bezeichnen kann. Die narzißtische Persänlichkeitsstruktur dagegen ist der Ausdruck einer spezifischen Lösung des Konflikts zwischen Selbst- und Objektbewertung. Diese Persönlichkeitsstruktur ist auf bestimmte Umwelteinflüsse zurückzuführen, beeinflußt das Leben des betreffenden Menschen in einer spezifischen Weise und dekompensiert unter spezifischen Umständen, etwa wenn der Fluß narzißtischer Zufuhr unterbrochen wird. Die unterschiedslose Verwendung des Terminus »narzißtisch« hat schon zu viel Verwirrung geführt. Es ist aber deshalb nicht nötig, auf den breit eingeführten Ausdruck zu verzichten; es dürfte genügen, sich vor Augen zu halten, daß er verschiedene Sachverhalte bezeichnen kann. Viele Psychoanalytiker sehen die schizoide Persönlichkeitsstruktur als eine Form der narzißtischen Struktur. Ich selbst halte es für zweckmäßig, die schizoide Struktur von der narzißtischen zu unterscheiden.
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Eine schizoide Struktur ist die Folge einer Entwicklungsstörung, die labile Ich-Grenzen gegenüber der Außenwelt mit ihren Objekten bewirkt. Ein Mensch mit einer schizoiden Struktur sehnt sich nach der Verschmelzung mit einem Objekt. Häufig wird in diesem Zusammenhang auch von »narzißtischer Symbiose« gesprochen. Der Ausdruck kann irreführen, da Symbiose im ursprünglichen, biologischen Sinn ein Zusammenleben von zwei getrennten Individuen bezeichnet, die aufeinander angewiesen sind. Bei der schizoiden »Symbiose« handelt es sich jedoch nicht um das komplementäre Zusammenwirken zweier verschiedener Individuen, im Gegenteil wird gewünscht, die eigene Individualität aufzugeben. Gleichzeitig wird der Verlust der eigenen Individualität gefürchtet. Nähe erzeugt Angst, weil sie die gefürchteten eigenen Verschmelzungswünsche aktiviert. Die Angst ist geringer, wenn das andere Individuum dem Schizoiden sehr ähnlich erscheint oder wenn es idealisierbar ist, so daß der Schizoide hoffen kann, seine Individualität im Falle der Verschmelzung gegen eine bessere einzutauschen. In den Vereinigten Staaten bezeichnet der Terminus »schizoide« oder »schizotypische« Persönlichkeit jemanden, der sich extrem aus Beziehungen fernhält. Damit ist das Vermeideverhalten vieler Schizoider beschrieben. Die zugrunde liegende Dynamik wird aber ausgeklammert. Es gibt ja Schizoide, die aufgrund ihrer Verschmelzungswünsche die Nähe anderer suchen, dies besonders, wenn sie das Objekt - das sich auch aus mehreren Personen zusammensetzen kann, also etwa eine religiöse Sekte sein kann - idealisieren. Im ganzen läßt sich aber sagen, daß Schizoide weniger Kontakt suchen als andere, weil Kontakt für sie gefährlicher ist. Im Herstellen und Bewahren von Beziehungen sind sie sehr selektiv. Stellt sich heraus, daß der andere doch weniger »gleich« ist, als der Schizoide dachte, kann dieser die Beziehung unter Umständen abrupt beenden. So kann ein unterschiedliches Urteil zu einem Musikstück, einem Bild, einem Roman intensive ablehnende Gefühle erzeugen. Daß der andere verschieden ist, macht dem Schizoiden angst. Der Verlassene steht, wenn er entsprechende Reaktionen nicht von sich selbst kennt, vor einem Rätsel, ihm erschien der Meinungsunterschied geringfügig. Auch bei narzißtischen Menschen kommt es vor, daß sie sich trennen, wenn die eigenen Erwartungen nicht erfüllt werden, doch sind ihre Motive anders. Narzißtische Menschen funktionalisieren die Objekte und integrieren sie dann oft in ihre Vorstellung von sich selbst. Sie können auf den anderen angewiesen sein, wie man auf ein
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Depressive Struktur
Körperteil oder ein Organ angewiesen ist. Menschen, die den initialen Vorstellungen nicht entsprechen, werden dann plötzlich als fremd, »nicht zu einem gehörig« erlebt. Manche narzißtischen Menschen trennen sich dann - auch wenn es angst macht und weh tut -, so wie man ein krankes Bein amputieren läßt. Weil schizoide Menschen sich von anderen fernhalten, entwickeln sie oft wichtige soziale Kompetenzen nicht. Sie empfinden sich dann in sozialen Situationen als inkompetent, was ihnen einen weiteren Grund dafür liefert, sich von anderen fernzuhalten. Oft verfügen sie deshalb auch über wenig Menschenkenntnis. Menschen, die ihnen ähnlich sind, können sie oft gut beurteilen, weil sie sich selbst gut kennen. Während ihnen die Erfahrung mit anderen abgeht, haben sie während der Zeit, die andere Menschen in Gesellschaft verbringen, viel Gelegenheit zur Introspektion, in der sie oft hohe Kompetenz entwickeln. Auch hierin unterscheiden sie sich von narzißtischen Menschen, die mit anderen viel umgehen und sie manipulieren lernen, während sie sich selbst ungern in Frage stellen. Es fehlt ihnen dann auch an der Motivation, eigenes Erleben und Handeln zu hinterfragen, und damit zur Introspektion. Der mangelnde Realitätskontakt führt zu einer Zunahme der Phantasietätigkeit. Beobachtungslücken werden durch Phantasien ausgefüllt. Ähnlich wie bei Menschen mit einer hysterischen Struktur, der ihre eigenen Gefühle und Stimmungen zur Leitschnur ihres Handeins machen, allerdings aus anderen Motiven, wird die Informationsmenge, die von außen kommt, klein gehalten. Das geschieht aber nicht aus einem Mangel an Neugier oder aus der Illusion heraus, ohnehin schon »alles zu wissen«. Der Schizoide ist an seiner Umwelt meist interessiert, er kann sie aber wegen der Beeinträchtigung seines Reizschutzes nur in kleinen Dosen als Wahrnehmung in sich aufnehmen. So kann es sein, daß er sich von Menschen zurückzieht, obwohl er in bezug auf Menschen neugierig ist. Bei Psychoanalytikern führt das manchmal zu originellen, aber nicht validierbaren Theorien. Schizoide Menschen sind oft zum Abstrahieren motiviert, weil das eine Distanz zum eigenen Erleben schafft. Auch hier entwickeln sie oft gute Kompetenz. Narzißtische Menschen abstrahieren ebenfalls, allerdings aus anderen Gründen. Ihnen sind andere Menschen als Personen nicht so wichtig, sie rufen in ihnen deshalb auch keine starken Gefühle hervor und lassen sich mühelos in Denkschemata einordnen. Generalisierte Störungen des Körpergefühls ordne ich der schizoiden Struktur zu. Ebenso wie die Ich-Du-Grenzen des Schizoiden
unzureichend ausgebildet sind, ist auch das eigene Körperbild mit seinen Grenzen zwischen Körper und Umwelt mangelhaft ausgebildet. Zustände, wie sie sonst bei Depersonalisation und Derealisation (s. den entsprechenden Abschnitt) auftreten, können beim Schizoiden dauernd bestehen. In spezifischen auslösenden Situationen, jedoch auch bei relativ unspezifischen Belastungen wie Schlafentzug, körperlicher und geistiger Überlastung oder angesichts einer großen äußeren Gefahr können sich diese Zustände verstärken. Insgesamt läßt sich feststellen: Während die narzißtische Struktur eher als das Ergebnis eines Lösungsversuchs im Umgang mit insuffizienten Umweltbedingungen aufgefaßt werden kann, ist die schizoide Struktur eher das Ergebnis einer Entwicklungsstörung des Ich. Ich halte es bei den sogenannten Frühstörungen generell für wichtig, zwischen Entwicklungsstörung und Konfliktpathologie zu differenzieren. Diese Unterscheidung spielt in der psychoanalytischen Theorie mehr und mehr eine Rolle. So stellt man sich bei der Untersuchung frühgestörter Patienten oft die Frage, ob eine Ich-Funktion gar nicht entwickelt oder nur durch einen Konflikt gelähmt ist. Die Unterscheidung ist besonders dann schwierig, wenn die Lähmung lange gedauert hat und es zu einer Atrophie der Ich-Funktion gekommen ist. In diesem Fall bildet sie sich nach Bearbeitung des Konflikts meist nur langsam oder gar nicht wieder aus.
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Depressive Struktur Bei der Depression hat man schon lange zwischen psychogenen und Formen mit konstitutioneller Disposition, zwischen neurotisch und endogen, unterschieden. MENTZOS (1995) hat es unternommen, ein übergreifendes Verständnis der Depression und der Manie zu entwikkein, in dem somatische wie psychodynamische Faktoren berücksichtigt werden. Für die somatischen Faktoren nimmt er sowohl eine erbgenetische Entstehung als auch eine psychisch verursachte organische Veränderung im Gehirn an - analog den psychosomatischen Erkrankungen, bei denen psychische Faktoren somatische Veränderungen hervorrufen können. Nicht nur für Depressive gilt: Narzißtische Zufuhr, die gespeichert werden konnte, etwa in Form freundlicher Zuwendung guter Objekte, die in der inneren Welt des Menschen repräsentiert sind, bewirkt innere Stabilität gegenüber entwertenden Außeneinflüssen. MENTZOS
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Störungen mit vorwiegend psychischer Symptomatik
Depressive Struktur
spricht hier von einem intrapsychischen »Bankkonto« (oder Sparkonto). Ich spreche von einem Reservoir (KÖNIG 1992). Durch die Zuwendung der Eltern während der Kindheit wird das »Bankkonto« (Sparkonto) gefüllt, wenn die Eltern das Kind »bedingungslos« lieben und sich daran freuen, daß es überhaupt da ist. MENTZOS verweist auf die KOHUTschen Vorstellungen vom »Glanz in den Augen der Mutter«, der sich schon auf die Existenz des Babys bezieht und nicht erst auf dessen Leistungen. Wer nun nicht über ein wohlgefülltes »Bankkonto« verfügt, hat keine narzißtische Reserve. Er muß sich ständig bemühen, sein »laufendes Konto« (Girokonto) aufzufüllen. Es gibt mehrere Wege, dies zu erreichen, einer besteht in der peinlich genauen Befolgung der Anforderungen des eigenen »Gewissens«. Das Über-Ich gibt seine Anerkennung nur gegenüber bestimmten Leistungen, die in Arbeit oder im Befolgen moralischer Grundsätze bestehen. Entsprechend muß der Betreffende sich bemühen, den Anforderungen seines Ich-Ideals zu entsprechen. In einer Symbiose mit einem idealisierten Menschen kann gleichsam auf dessen »Bankkonto« zugegriffen werden. Ist das eigene Konto leer, kann die kompensatorische Phantasie unermeßlichen Reichtums entwickelt werden; im Extremfall in der Manie. Der manische Patient glaubt, über unbegrenzte Kräfte und oft auch über große Reichtümer zu verfügen. In reiferen Formen menschlicher Existenz werden ideale äußere Objekte als Leitbilder in das Ich und das IchIdeal integriert. Es entwickelt sich nicht ein kompensatorisches Größenselbst, sondern ein Selbst, das an der eigenen Funktion Freude hat und sich auch bestätigen kann; in Übereinstimmung mit Leitbildern als Inhalten eines reifen Ich-Ideals und mit dem eigenen Gewissen manchmal durchaus auch gegen die Leitbilder, zum Beispiel dann, wenn der Betreffende Ansichten vertritt, die ihn in Konflikt mit den Normen und Werten der Eltern und der Gesellschaft bringen. Während es bei der Manie zu einer »Aufblähung« des Größenselbst kommt, wobei Über-Ich und Ich-Ideal aufgegeben werden und sich der Betreffende fast ausschließlich von eigenen Wünschen und Phantasien leiten läßt, ist die Depression eine Reaktion auf eine Störung im narzißtischen Regulationssystem. Eine solche Störung kann durch einen Verlust an Vitalität hervorgerufen werden, zum Beispiel während einer Krankheit oder im Alter. Solche Ereignisse führen dann zu einer Störung des narzißtischen Regulationssystems, wenn das »Bankkonto« schlecht gefüllt ist. Ob es im Einzelfall zu einer Manie oder einer Depression kommt, scheint eher vom momentanen
Zustand der inneren Welt des Betreffenden abzuhängen als von äußeren Einflüssen. Im regressiven Rückzug verliert der Depressive die Fähigkeit, sein Selbstwertgefühl durch Leistung und kompetentes Eingehen auf die Forderungen des Über-Ich und des Ich-Ideals oder durch symbiotische Beziehungen aufzurichten. Dies verstärkt wiederum die Depression und damit die Passivität und schränkt die Leistungsfähigkeit weiter ein. Müssen Menschen, die zu einer Depression disponiert sind, eine Trennung verarbeiten, so kommt es bei ihnen zu Introjektionsvorgängen, um das Objekt als inneres Bild erhalten zu können. Der Verlust des Objekts ruft Enttäuschungswut hervor; diese wird nun auch gegen die innere Repräsentanz dieses Objekts gerichtet und kann damit depressive Affekte, insbesondere autoaggressive Impulse in Form von Selbstvorwürfen oder Suizidgedanken, auslösen. Die Introjektion ist ein verzweifelter Versuch, das Objekt zu erhalten. Im ganzen verstärkt sie jedoch die depressiven Reaktionen auf den Verlust des Objekts. Bei einer Unterwerfung unter die Anforderungen des Über-Ich mit dem Ziel, das eigene Selbstwertgefühl aufzurichten - man ist gut, weil man sich moralisch verhält - kommt es bei einem entsprechend angelegten Über-Ich zu Hemmungen aggressiver Gefühle, die der Betreffende gegen das eigene Selbst wendet, wenn es ihm nicht gelingt, sie zu blockieren. Gelingt ihm dies jedoch, so staut sich die blockierte Aggression und wird ebenfalls gegen das Selbst gerichtet, was den Betreffenden veranlaßt, sich dem eigenen Über-Ich noch stärker zu unterwerfen. Er darf nach außen hin noch weniger aggressiv sein. MENTZOS geht davon aus, daß psychische Zustände wie die Depression somatische Korrelate im Gehirn haben. Es bilden sich selbstverstärkende Zirkel, bei denen eine psychische Reaktion Auslöser weiterer Reaktionen wird, die wiederum die Depression erzeugenden Vorgänge verstärken. Das Erleben wirkt sich dann wiederum auf die somatischen Vorgänge aus. Diese Abläufe können sich verselbständigen und abgekoppelt von den ursprünglichen psychischen Ursachen weiterbestehen. Bewirkt der Depressive durch Mimik, Gestik und sonstiges Verhalten die Zuwendung anderer Menschen, besonders von Menschen, die ihm wichtig sind, stellt das einen sekundären Krankheitsgewinn dar, eier die Symptomatik verstärken und ihr Abklingen behindern kann.
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Ein circulus vitiosus kann auch darin bestehen, daß der Depressive den somatischen Ausdruck der Depression wahrnimmt, beispielsweise ein Gefühl der Müdigkeit und Mangel an Bewegungsinitiative, und darauf wiederum mit einem depressiven Affekt reagiert, der seinerseits die körperlichen Auswirkungen verstärkt. MENTZOS unterscheidet eher körperlich begründete Depressionen, etwa die Erschöpfungsdepression, die durch Pharmaka, beispielsweise eine Cortisonbehandlung, induzierte Depression und depressive Zustände nach schweren körperlichen Erkrankungen, von Depressionen, die Folge eines Konflikts sind, meist wohl eines Konflikts zwischen den Anforderungen des Über-Ich und den Anforderungen anderer psychischer Instanzen. Bei Depressionen, die Folge eines Konflikts sind, leidet der Patient unter dem Dilemma, daß den Anforderungen widersprechende Tendenzen in ihm vorherrschen. Der Konflikt ist nicht lösbar, weil der Betroffene sich für keine der vorhandenen Möglichkeiten entscheiden kann. Er gerät so in einen Zustand der Hilflosigkeit, wobei seine Chance darin zu bestehen scheint, daß er in der Depression gleichsam überwintert oder mit der Situation in einem manischen Zustand fertigzuwerden versucht, bei dem er den Kontakt mit der Realität verliert. MENTZOS entwickelt eine Reihe von Hypothesen zur Entstehung der einzelnen Formen von Depression unter Beteiligung des archaischen und des ödipalen Über-Ich, der Elternimagines, anderer Leitbilder und Ideal-Objekte und des Größenselbst, von Größenphantasien und des Ideal-Selbst in einem von ihm so genannten Dreisäulenmodell. Hierzu sei auf MENTZOS (1995) verwiesen, ein Buch, dessen Thesen zur Zeit in der Fachwelt diskutiert werden. In dem genannten Werk gibt er auch einen Abriß der Literatur zu Depression und Manie von FREUD bis zu den heutigen Autoren. Ich will im folgenden vor allem auf die neurotischen Depressionen eingehen und kliniknahe Beschreibungen und Interpretationen anbieten - immer mit der Maßgabe, daß die äußeren Faktoren und die innere Dynamik, die sich bei den neurotischen Depressionen finden, im Zusammenwirken mit somatischen Faktoren auch bei den sogenannten endogenen Depressionen eine Rolle spielen. Von Fall zu Fall werde ich auch Eigenheiten der depressiven Charakterstruktur darstellen. Seit bei neurotischen Krankheitsbildern eine konstitutionelle Disposition diskutiert wird und weil man zwischen neurotischen und endogenen Depressionen heute ein Kontinuum im Sinne einer }}Er-
gänzungsreihe« (FREUD) annimmt und darüber hinaus auch nicht genau bekannt ist, worin der »endogene Faktor« bei der endogenen Depression besteht, ist die Unterscheidung anhand dieses Faktors fragwürdig geworden. Insoweit kann wohl der Psychotherapeut, dessen Domäne die neurotischen Depressionen sind, mit der Bezeichnung »Major Depression« (DSM-IIIIR) für eine schwere, meist wohl endogene Depression einverstanden sein. Ich bin allerdings der Meinung, daß die Unterscheidung zwischen neurotischer und endogener Depression, wie sie im ICD-9 getroffen wurde, klinisch sinnvoller ist. Die generelle phänomenologische Ausrichtung des DSM-IIIIR (und ebenso des DSM IV, das zur Zeit noch nicht in deutscher Übersetzung vorliegt) und des ICD-lO läßt unterschiedliche Annahmen bezüglich der Entstehungsweise zu. Wie bei neurotischen Depressionen lassen sich auch bei manchen endogenen Depressionen auslösende Situationen für die Phasen erkennen. Eine jahreszeitliche Abhängigkeit der Phasen ist schon lange bekannt, mit Gipfeln im Frühjahr und im Herbst. Bei neurotischen Depressionen wird Psychotherapie eingesetzt, unterstützend gelegentlich Pharmakotherapie, bei endogenen Depressionen wirkt Pharmakotherapie, in manchen Fällen zusammen mit Psychotherapie. Es gibt einen Überschneidungsbereich, in dem entschieden werden muß, ob eine der beiden Therapieformen oder eine Kombination eingesetzt wird. Viele neurotische Depressionen werden ohne bleibenden Erfolg mit Psychopharmaka behandelt, leider gibt es aber auch endogene Depressionen, die über Jahre frustran mit Psychotherapie behandelt werden, bis man sich entschließt, Medikamente einzusetzen. Für eine endogene Depression sprechen Morgentief, Durchschlafstörungen, Verlust von Libido und Appetit. Jedes einzelne dieser Zeichen kann aber auch bei einer neurotischen Depression vorkommen. Relativ eindeutig ist die Diagnose eines endogenen Geschehens bei einer bipolaren Störung, bei der sich manische und depressive Phasen abwechseln. Ich empfehle Psychotherapeuten, die nicht selbst Psychiater sind, die Diagnose einer neurotischen Depression von einem erfahrenen Psychiater überprüfen zu lassen, der in seiner Ausbildung oder in seiner Praxis Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit psychodynamisch orientierten Psychotherapeuten gemacht hat. Ein Psychotherapeut, der Facharzt für Psychiatrie ist, wird die Differentialdiagnose meist allein stellen, aber auch hier wäre es in manchen Fällen günstig, einen Kollegen heranzuziehen, der auch eine eventuell notwendig werdende Pharmakotherapie übernehmen kann.
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Differentialdiagnostische Probleme gibt es auch gegenüber den Angstkrankheiten. Es gibt ängstliche, meist als agitiert bezeichnete Formen der endogenen Depression. Ob man ein Kontinuum zu den eindeutigen Neurosen mit Angstsymptomatik annehmen kann, muß zur Zeit noch offen bleiben (vgl. FROMMER 1996). Nur am Rande sei hier erwähnt, daß die Angabe eines Angstpatienten, er sei depressiv oder verspüre Depressionen, kritisch bewertet werden muß, weil das Wort »depressiv« in der Alltagssprache meist alle negativ getönten Stimmungen und Affekte bezeichnet, die keine unmittelbar erkennbare Ursache haben. Neurotische Depressionen sind häufig. In unterschiedlichen Inanspruchnahme-Klientelen überwiegen jeweils entweder die depressiven oder die Angststörungen. Die neurotische Depression tritt im Leben meist früher auf als die endogene. Im Unterschied zu den bipolaren Störungen, bei denen die Patienten zwischen den Phasen gesund, wenn auch meist zwanghaft, wirken, gibt es bei den neurotischen Depressionen wenige und oft unscharf abgegrenzte freie Intervalle. Ein schleichender Beginn scheint für neurotische Depressionen charakteristisch zu sein. Menschen mit einer depressiven Charakterstruktur leiden unter einem Mangel an Initiative und Interesse, der sich oft auch in einem Mangel an Aktivität ausdrückt. Ihr Selbstwertgefühl ist vermindert, daraus resultieren Selbstunsicherheit und Selbstzweifel. Der neurotisch Depressive hält andere für wichtiger als sicht selbst. Auch aus der real verminderten Leistungsfähigkeit entstehen Existenzängste, die auf Gegenwart und Zukunft gerichtet sind. Es kommen Selbstvorwürfe bezüglich des Verhaltens in der Vergangenheit vor, wie sie bei der endogenen Depression im Vordergrund stehen. Die depressive Persönlichkeit kann mit schizoiden, narzißtischen, zwanghaften, phobischen und hysterischen Persönlichkeitskomponenten kombiniert auftreten. Aus der Kombination mit einer hysterischen Persönlichkeitsstruktur ergibt sich meist eine lärmende und appellative Symptomatik. Im Unterschied zu den endogen Depressiven, bei denen sich Durchschlafstörungen finden, klagen die neurotisch Depressiven mehr über Einschlafstörungen. Auch sie haben oft keinen Appetit, jedoch kommt Hyperphagie häufiger vor als bei der endogenen Depression. Das Gewicht sinkt, oder die Patienten nehmen zu. Charakteristisch ist also eine Veränderung des Gewichts. Auch in dem Bestreben, sich die verminderte Leistungsfähigkeit zu
erklären, werden oft Körpersymptome vorgebracht, wobei man den Eindruck haben kann, daß der Patient auf seinen Körper mehr achtet als andere und Schwankungen im Befinden und in der Funktion der inneren Organe stärker empfindet. Es können auch Phantasien über Störungen von Körperorganen auftreten, die keine Basis in Beobachtungen haben, wie dies häufiger und intensiver bei der endogenen Depression der Fall zu sein scheint, ebenso bei schweren isolierten Hypochondrien. Es gibt endogene Depressionen, die sich nur in Klagen über Körperstörungen äußern (sogenannte larvierte endogene Depression). Neurotisch Depressive sind häufiger emotional schwingungsfähig als endogen Depressive. Es kommt aber vor, daß ein neurotisch Depressiver außer seiner depressiven Gestimmtheit wenig anderes empfinden kann und deshalb auf andere Menschen eingeengt und mit eingeschränktem Ausdrucksverhalten reagiert. Nemotisch Depressive können sich suizidieren, häufiger sind aber nicht zum Tode führende Suizidversuche, während die Suizidversuche endogen Depressiver in der Planung oft keinen Ausweg offen lassen, im ganzen entschlossener sind und deshalb häufiger zum Ziel führen. Man kann es sogar als einen der Unterschiede zwischen endogenen und neurotischen Depressionen auffassen, daß bei endogen Depressiven und bei bipolaren Krankheitsbildern zwischen den Phasen keine Suizidgedanken auftreten, während sie bei den neurotisch Depressiven fast immer, wenn auch in wechselnder Intensität, vorhanden sind. Das entspricht dem weniger scharf abgegrenzten Verlauf der neurotischen Depression im Unterschied zu den endogenen Depressionen, bei denen die Phasen plötzlicher auftreten und rascher wieder verschwinden. Bei allen Formen verminderten Selbstwertgefühls gibt es kompensatorische Phantasien. Eine der Möglichkeiten Depressiver, kompensatorische Größenphantasien umzusetzen, ist selbstverleugnender Einsatz für andere, der zu aufwertender Bestätigung führt. Oft spüren die Mitmenschen jedoch intuitiv den Anspruch nach Anerkennung, der sich unbewußt im Verhalten Depressiver ausdrückt. Das verhindert, daß ein Einsatz Depressiver für andere wirklich »aus vollem Herzen« anerkannt wird. Für andere etwas zu tun, hat aber nicht nur das Ziel, aufgewertet zu werden. Der Depressive fühlt sich vielmehr zu diesem Tun verpflichtet, sein strenges Über-Ich fordert von ihm, die Interessen anderer den eigenen Bedürfnissen überzuordnen. Hier finden sich Ähnlichkeiten
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zur Zwangsneurose, bei der ja auch ein strenges Über-Ich gefunden wird. Die Über-Ich-Inhalte unterscheiden sich jedoch: Bei Depressiven sind sie »altruistisch«, bei Zwanghaften dienen sie im wesentlichen der Abwehr von Willkür. Ordnung muß eingehalten und gefordert werden. Bei endogenen Depressionen manifestieren sich zwanghafte Persönlichkeitszüge zwischen den Phasen konstanter als bei den neurotisch Depressiven. Die Verbindung zwischen Depression und Zwangsstruktur ist in vielem ungeklärt und müßte noch weiter erforscht werden. Hier wären sicher auch transkulturelle Untersuchungen wichtig. In einem Land, in dem alles, was man für andere tut, seine Ordnung haben muß, werden bei Menschen, die etwas für andere tun wollen, vielleicht eher zwanghafte Verhaltensweisen auftreten als in Kulturen, in denen andere Verhaltensmerkmale für wichtiger gehalten werden. Bei neurotisch Depressiven ist die Einstellung gegenüber dem Selbst und den Objekten sehr ambivalent. Die Hochschätzung des Selbst wird jedoch unterdrückt, die aggressiven Impulse gegenüber den Objekten ebenfalls. In vielen Fällen beeinflussen die Hochschätzung des eigenen Selbst und die Abwertung der Objekte aber verdeckt das Verhalten. Der Betreffende fühlt sich bescheiden, fordert aber viel für sich. Er schätzt die Objekte hoch, verhält sich ihnen gegenüber jedoch abwertend. Deshalb halte ich es bei der Persönlichkeitsdiagnostik für besonders wichtig, zwischen dem Erleben des Patienten und seinem Verhalten zu unterscheiden. Das ist auch deshalb wichtig, weil diese Unterscheidung es erleichtert, mit Depressiven umzugehen. Bei naiver Betrachtung würde man sich von ihnen vielleicht getäuscht sehen und ihnen vorwerfen, daß sie sich anders verhalten, als sie vorgeben zu sein: Sie schreiben sich die Eigenschaften Bescheidenheit und Altruismus zu, sind aber tatsächlich in ihren Forderungen an andere unbescheiden und glauben überdies, mehr für andere zu leisten, als das tatsächlich der Fall ist. Dabei spielt die verdrängte, das Verhalten aber oft unbemerkt mitbestimmende orale Gier eine große Rolle. Man muß sich vorstellen, daß oral-aggressive Impulse im Sinne des aktiven Haben-Wollens nicht sozialisiert wurden. Sie sind nur in einer kindhaften Form vorhanden und würden, wenn sie das Verhalten des Erwachsenen offen bestimmten, ganz unangemessen erscheinen. Merkmal der depressiven Persönlichkeit ist vor allem die starke Abhängigkeit von Objekten. Der Depressive möchte geliebt werden, scheint es oft sogar zu fordern, ist aber pessimistisch bezüglich der
Aussichten auf Liebe und Zuneigung. Depressive »klammern« häufig (das kommt aber auch bei anderen Störungen vor, zum Beispiel bei Angststörungen, s. dazu den entsprechenden Abschnitt). Durch ihr klammerndes, scheinbar bescheidenes, tatsächlich jedoch forderndes Verhalten belasten neurotisch Depressive ihre Partner oft stark, was dazu führen kann, daß der Partner sich losreißt. Durch ein klammerndes Verhalten bewirken die Depressiven gerade das, was sie vermeiden möchten: den Verlust des geliebten Objekts. Bei der besonderen Wichtigkeit, die Objekte für den Depressiven haben, ist es nicht erstaunlich, daß Depressive große Angst vor dem Verlust von Objekten oder vor dem Verlust von deren Zuneigung haben. Objektverluste lösen oft eine Depression aus. Depressive, die ein Objekt verloren haben, »spielen« oft eine Situation, in der sie sich selbst »füttern«. Es kommt zu einer Hyperphagie mit Gewichtszunahmen. Manche dieser Menschen, besonders Frauen, erbrechen, um eine Gewichtszunahme zu verhindern. Das ist eine der vielen pathogenen Konstellationen der Bulimie (s. dazu den entsprechenden Abschnitt). Vielessen kann aber auch bei Menschen auftreten, die niemanden haben, der sie liebt oder sie so liebt, wie sie es sich wünschen. Immer vorhanden ist bei ihnen vermutlich die Phantasie eines spendenden Objekts. Ein Bezug zur Realität kann fehlen, es können aber auch Personen, die Essen zubereiten oder in einer Gaststätte an den Tisch bringen, als spendende Objekte erlebt werden. Analog ist die Tendenz Depressiver zu sehen, Kleidungsstücke einzukaufen. Die Verkäuferinnen geben den Kunden (freilich gegen Geld, das wird aber ausgeblendet) etwas, das sie schmückt und dadurch aufwertet. Manchmal hat man bei Depressiven den Eindruck, daß die Kraft fehlt, in die Zukunft zu denken. Für andere kann der neurotisch Depressive dies eher als für sich selbst. Aus intensiver Arbeit für andere bezieht er Selbstbestätigung, wenngleich oft nur vorübergehend. Bei extremen Formen der Depression findet man oft eine Gefühlsleere, unter der die Patienten leiden. Es fällt ihnen auf, daß sie sich nicht freuen können, das Gefühlsleben wirkt wie anästhesiert. Bei neurotischen Depressionen ist das seltener der Fall, aber auch diese Patienten klagen darüber, daß sie außerstande sind, sich über Dinge zu freuen, die anderen offensichtlich Spaß machen. Bei endogenen Depressionen gilt das auch für die Sexualität, während bei neuroti-
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schen Depressionen die Sexualität häufig erhalten ist und manchmal sogar den einzigen Kommunikationsweg mit den Objekten zur Verfügung stellt. Die besondere Bedeutung der Sexualität bei leichten neurotischen Depressionen und ganz allgemein bei der depressiyen Persönlichkeit hat vielleicht etwas damit zu tun, daß in der Sexualität Geben gleichzeitig auch Nehmen sein kann. Wer den anderen streichelt, tut das nicht nur, um dem andern etwas Gutes zu tun. Der Körper des anderen, den er berührt, wirkt sexuell erregend, ebenso wie die Reaktionen des Partners oder der Partnerin auf das Streicheln. Das Problem des Depressiven, daß er etwas für andere tun muß und für sich nichts tun darf, wird auf diese Weise umgangen. Freilich gibt es auch Depressive, die alle eigenen Wünsche zurückstellen und sich nur um die Erregung des anderen kümmern, was zu Störungen im sexuellen Zusammensein führen kann. Eine andere Möglichkeit, etwas zu genießen, obwoW das Über-Ich Genuß verbietet, findet sich beim Essen. Depressive erleben oft eine medizinisch indizierte Diät, die den Genuß ja einschränkt, als Bemühung anderer um sie. Die Diät wird sorgfältig zubereitet, meist sorgfältiger als ein gewöhnliches Essen. Eine Diät, die von vornherein eingeschränkt ist, kann der Depressive sich schmecken lassen, ohne daß die unterdrückte orale Gier manifest wird (vgl. auch den Abschnitt über Ulcera des Magens und Zwölffingerdarms). Haben Depressive eine starke Zwangsstrukturkomponente, kann es sein, daß das Ausüben von Macht ihre depressive Stimmung aufhellt. Liegt eine hysterische Strukturkomponente vor, kann es die Stimmung aufhellen, als Frau oder Mann von Männern oder Frauen bewundert zu werden. Schon lange ist bekannt, daß Menschen mit einer endogenen Depression ihr Selbstwertgefühl indirekt dadurch anheben können, daß sie sich als besonders schlecht erleben und darstellen. Wer sich als den Schlechtesten überhaupt, als den letzten Menschen, den größten Verbrecher sieht, ist eben einzigartig und kann eine nur scheinbar paradoxe Selbstbestätigung aus dieser Phantasie beziehen. In abgemilderter Form findet sich ähnliches bei neurotisch Depressiven. Scheinbar paradoxerweise sind neurotisch Depressive mit negativen Größenphantasien meist kränkbarer als psychotisch Depressive. Vermutlich schafft die Vorstellung, wirklich der allerschlechteste Mensch zu sein, eine unangreifbare Position. Im negativen Sinne steht der Betreffende über allen anderen, er ist nicht erreichbar. Wird
er schlecht behandelt, steht das im Einklang mit dieser Position und bestärkt sie. Wenn sich jemand dagegen für schlecht hält, gleichzeitig aber hofft, als gut anerkannt zu werden, fehlt das Einzigartige des Schlechtseins. Behandelt man einen solchen Menschen schlecht, vermindert das sein Selbstwertgefühl, und er leidet unter der schlechten Behandlung, sie wertet ihn nicht auf. Entsprechend sind neurotisch Depressive oft sehr kränkbar. Endogen Depressive ohne die wahnhafte Vorstellungen, der schlechteste Mensch zu sein, sind ebenfalls sehr kränkbar. Depressive leiden besonders, wenn sie nicht gebraucht werden. Das gilt in erster Linie für neurotische Depressive. Bei schweren Formen der neurotischen Depression und bei den meisten endogenen Depressionen ist das Positive an der Erfahrung, gebraucht zu werden, dagegen meist durch eine Konfrontation mit der eigenen eingeschränkten Leistungsfähigkeit und der reduzierten Fähigkeit überlagert, anderen nützlich zu sein. Wegen der Defizite macht sich der Depressive Vorwürfe. Da Depressive häufig erleben, daß andere sich ihnen gegenüber nicht so verhalten, wie sie es erwarten, sind sie oft enttäuscht und gekränkt. Enttäuschungs- und Kränkungsaggression richten sich aber meist nicht nach außen, vielmehr wird die Aggression gegen das Selbst gerichtet. Die depressive Verstimmung verstärkt sich dadurch. Seit FREUD (1916) erklären Psychoanalytiker sich das dadurch, daß es zu einer teil weisen Integration des Mutterobjekts in das Selbst kommt, so daß Aggressionen gegen das Mutterobjekt das Selbst mitbetreffen. Darüber hinaus hat der Depressive jedoch auch große Angst, ein Objekt zu verlieren, wenn er es seine Aggressionen erkennen und spüren ließe. Dies ist ein Motiv dafür, den Abwehrmechanismus der Wendung der Aggression gegen das Selbst einzusetzen. Ein anderer Abwehrmechanismus, der hier zum Zuge kommen kann, ist die Verschiebung, oft auf ein fernes Objekt. So kann ein depressiver Patient in einem Krankenhaus, in dem Assistenten und Oberärzte sich ihm nicht so zuwenden, wie er es sich wünscht, den Chef des Krankenhauses verantwortlich machen, der - so denkt der Patient - Anordnungen erläßt, die bewirken, daß Assistent und Oberarzt »gar nicht anders können«. Für Depressive gilt in besonderem Maße, was auch für andere Menschen in geringerem Maße gilt: Man schont vor allem die Personen, mit denen man häufig Kontakt hat. Ich sehe die depressive Persönlichkeitsstruktur in gewissem Sin-
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ne als Gegenstück zur narzißtischen Störung, bei der das Selbst wichtig genommen wird und die Objekte der personalen Bedeutung beraubt sind. Beide Störungen haben wohl etwas mit der Art der Mutter-Kind-Beziehung oder der Beziehung zu sonstigen Pflegepersonen zu tun. Hier können vermutlich Säuglings- und Kleinkind-Beobachtungen weiterführen. Man muß sich jedoch darüber im klaren sein, daß wohl überwiegend solche Mütter an derartigen Untersuchungen teilnehmen, die sich im Umgang mit ihrem Kind »sehen lassen« können, und Mütter, die ihre Rolle als Mutter ernst nehmen. Es kommt zu einer Autoselektion, die dazu führen muß, daß es wenige beobachtete Mutter-Kind-Paare geben wird, bei denen ein Verhalten stattfindet, von dem man vermuten kann, daß es narzißtische oder depressive Störungen hervorruft. Schon früh wurde beobachtet (z.B. SPITZ 1968), daß bei Kindern in Heimen, in denen die Pflegepersonen schon wegen des ungünstigen Zahlenverhältnisses zwischen zu betreuenden Kindern und Personal im Umgang mit Kindern insuffizient sein müssen, erhebliche psychische Störungen auftreten. Bei depressiven Störungen scheint sich ein unempathisches Füttern, wahrscheinlich auch ein durch strikte Regeln bestimmtes Fütterungsverhalten auszuwirken. Zwischenfeeding on demand, also dem Füttern immer dann, wenn das Kind schreit, und einem rigiden, zeitlich festgelegten Fütterungsschema, gibt es ein Kontinuum, auf dem an bisher unbekannter Stelle das Optimum liegt. Beimfeeding on demand kann dem Kind auch Nahrung aufgedrängt werden, wenn es etwas ganz anderes will, zum Beispiel gewärmt oder gekühlt werden will. Tatsächlich findet man heutzutage, nach Jahrzehnten der Tendenz in Richtung feeding on demand, bei Depressiven oft, daß sie anscheinend den Eindruck haben, man gebe ihnen nicht das Richtige, während früher eher der Eindruck vorherrschte, sie bekämen nicht genug und müßten »schreien«, um überhaupt etwas zu bekommen. Die Unterschiede zwischen einer narzißtischen und einer depressiven Persönlichkeitsstruktur lassen sich vielleicht am besten an der Dekompensation im Alter darstellen. Narzißtische und depressive Menschen dekompensieren auf verschiedene Weise. Die narzißtische Zufuhr nimmt im Alter in der Regel ab. Die Leistungsfähigkeit wird geringer, die physische Attraktivität läßt nach. Es kommt zu einem Abnehmen äußerer Anerkennung, wobei das Alter, in dem das eintritt, für Frauen und Männer dann gleich ist, wenn beide ihre Anerkennung im wesentlichen aus ihrer Berufstätigkeit beziehen.
Bei depressiven Persönlichkeiten kommt es unter dem Verlust von Lebensmöglichkeiten, um die nicht getrauert werden kann, sondern der ein Gefühl der Hilflosigkeit erzeugt, oft zu manifesten Depressionen, sogenannten Involutionsdepressionen. Derartige Depressionen können jedoch auch Ergebnis der Dekompensation einer narzißtischen Charakterneurose sein, wobei der Selbsthaß der narzißtischen Struktur von der Depression der depressiven Struktur zu unterscheiden ist, sich phänomenologisch aber überschneidet. Menschen mit einer depressiven Struktur werden nicht in erster Linie durch Anerkennung stabilisiert, sondern durch den Nutzen, den sie für andere Menschen haben. Durch den Einsatz des Abwehrmechanismus der altruistischen Abtretung, die es dem Depressiven ermöglicht, Lebensmöglichkeiten an andere abzutreten und daran zu partizipieren, daß es den anderen gut geht, kann sich der Depressive oft stabilisieren. Tatsächlich findet man Depressive in hohem Alter, die mit sich und der Welt zufrieden wirken, weil sie ihren Lebensstil auch im Alter aufrechterhalten können. Eine abnehmende Leistungsfähigkeit können sie häufig durch gesteigerten Einsatz kompensieren. Sie fühlen sich gut, wenn sie für andere arbeiten. Der narzißtische Mensch dagegen möchte auf andere wirken, ohne sich so anstrengen zu müssen, nämlich aus einer Kraft heraus, die er sich zuschreibt und die im Extremfall als die Kraft einer omnipotenten Person phantasiert wird. Solche Phantasien werden durch das Abnehmen der physischen und geistigen Kräfte im Alter in Frage gestellt. Menschen mit narzißtischer Persönlichkeitsstruktur, die auch im Alter noch viel Anerkennung erhalten, werden dennoch kritikempfindlicher und brauche mehr narzißtische Zufuhr als in jüngeren Jahren, weil ja auch die eigene, negativer werdende Selbsteinschätzung durch positive Fremdeinschätzung kompensiert werden muß. Allgemein läßt sich jedoch sagen, daß äußere Anerkennung vor narzißtischer Dekompensation schützt. Das macht auch die sogenannte Ehrsucht der Greise verständlicher. Darunter versteht man, daß viele alte Menschen in einer übersteigert wirkenden, oft ans Lächerliche grenzenden Weise nach äußerer Anerkennung streben oder immer wieder von den Zeiten erzählen, als sie anerkannter waren als heute. Die Therapie der neurotischen Depression ist meist schwierig. Mit Kurztherapien kann man in der Regel wenig erreichen. Die Patienten lassen sich auf eine Beziehung nicht ein, die offensichtlich begrenzt
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ist, wie sie sich ja auch sonst auf Objektbeziehungen nicht einlassen, deren Ende abzusehen ist. Beziehungen können sie häufig nur dann eingehen, wenn sie das Ende leugnen, das ja spätestens mit dem Tod eines der Beziehungspartner kommen wird. Auf eine Kurztherapie werden sich depressive Patienten noch am ehesten einlassen, wenn man von vornherein klarmacht, daß auch das Ergebnis begrenzt sein wird. Damit hilft man dem Patienten, seine Enttäuschung am Ende der therapeutischen Beziehung zu ertragen; eine Enttäuschung, die nicht nur mit den in einer Kurzzeittherapie naturgemäß begrenzten Ergebnissen zu tun hat, sondern auch damit, daß ein Mensch, der sich um sie bemüht, sich arn Ende der Therapie von ihnen trennt. Die von MANN und GOLDMAN (1982) vorgeschlagene Kurzzeittherapie von 12 Sitzungen beschäftigt sich von Anfang an mit dem Ende der Therapie, sie konzentriert sich gewissermaßen darauf. Wie gut die Belastungen der Therapie eines Depressiven ausgehalten werden, hängt natürlich von der Persönlichkeit des Therapeuten ab. Therapeuten mit einer stärkeren depressiven Komponente, die gut durchgearbeitet worden ist, scheinen noch am ehesten in der Lage zu sein, die Belastungen zu ertragen und bei Depressiven gute Therapien zu machen. Es kann aber auch sein, daß gerade depressive Therapeuten ihre eigenen, nicht genügend bearbeiteten oral-aggressiven Phantasien auf die Patienten projizieren und sich deren oraler Gier noch mehr ausgesetzt fühlen, weil zu der schon vorhandenen oralen Gier des Patienten nun die projizierte latente orale Gier des Therapeuten hinzukommt. In einer Klinik verteilen sich die Wünsche des depressiven Patienten meist auf mehrere Personen und sind schon deshalb leichter auszuhalten. In der ambulanten Praxis nehmen Therapeuten nach der Praxisgründung oft schwer neurotisch depressive Patienten in Behandlung (zunächst werden den neu Niedergelassenen ja meist die besonders schwierigen Fälle überwiesen). Der Behandtungsverlauf, oft mit einem unbefriedigenden Ergebnis, schreckt sie dann von weiteren Therapien depressiver Patienten ab. Die Gegenübertragungsprobleme bei der Langzeittherapie eines depressiven Patienten können wohl, wie meist auch sonst, am besten über ein Verstehen des Krankheitsbildes in seiner individuellen Ausprägung beWältigt werden.
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Zwangsstruktur Die zwanghafte Persönlichkeitsstruktur kommt häufig vor; im Vergleich dazu sind Symptomzwangsneurosen seltener. In ihrer Felduntersuchung fanden SCHEPANK und Mitarbeiter (1987, S. 115) Zwangsgedanken bei 23,3 Prozent und Zwangshandlungen bei 21,7 Prozent der symptombehafteten Probanden. In psychiatrischen Kliniken sind Zwangsneurosen häufiger als in psychotherapeutischen. Das hängt vielleicht damit zusammen, daß die Symptomatik dem psychodynamisch nicht geschulten einweisenden Arzt oft bizarr erscheint und ihn an eine Psychose erinnert. Beim Zwangscharakter treten Charaktersymptome auf, also Verhaltensweisen, die in irgendeiner Weise extrem sind, in einer geringeren Ausprägung aber als normal eingeschätzt würden. Entsprechendes gilt für viele Formen der Zwangssymptomatik, man denke nur an die Kontrollzwänge. Bei jedem Menschen kommt es gelegentlich vor, daß er sich nicht sicher ist, ob er eine Tür abgeschlossen hat. Hin und wieder bleibt man selbst dann unsicher, wenn man das einmal überprüft hat; dazu kommt es zum Beispiel, wenn man sich intensiv mit einer wichtigen Angelegenheit beschäftigt. In der Regel ist man aber nach dem ersten Überprüfen sicher. Wird regelmäßig mehr als einmal kontrolliert, ist das schon als pathologisch zu werten. Bei Kontrollzwängen wird die Möglichkeit phantasiert, daß etwas Unangenehmes passiert. Der Wunsch, dieses Unangenehme heraufzubeschwören, ist zwar vorhanden, wird aber nicht erlebt. Kontrolliert ein Kranker mehrmals, ob die Tür verschlossen ist, phantasiert er vielleicht die Willkür eines Einbruchs in seine Wohnung, was oft auch die symbolische Bedeutung eines Einbruchs in den Körper hat, zum Beispiel im Sinne einer Penetration. Er verhindert also auf einer symbolischen Ebene, daß eine Penetration zustande kommt. Der primäre Krankheitsgewinn (FREUD 1905b, S. 202-205) besteht durchweg darin, daß eigene Willkürimpulse im Symptom gefangengehalten sind und nicht ausgeführt werden. Das gilt für Zwangsgedanken ebenso wie für Zwangsimpulse, für Kontroll- und Waschzwänge, auch für Zwangsrituale. Der Wunsch, die Willkür anderer zu kontrollieren, muß nicht immer die Gestalt eines Zwangssymptoms annehmen. Der Zwanghafte kann auch einen Beruf wählen, in dem es zu seinen Aufgaben gehört, Ordnung zu schaffen; zum Beispiel kann er Polizist werden. Ordnung
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muß in vielen Berufen geschaffen und aufrechterhalten werden. So muß ein Stationsarzt in einer psychotherapeutischen Klinik auf die Hausordnung achten. Er kann sie nun aber auch so streng anwenden, daß das bei den Patienten Protest hervorruft. Sein Handeln stellt eine Versuchungssituation für Willkür dar, indem es Willkür provoziert. Entsprechendes gibt es im Umgang von Eltern mit ihren Kindern. Daß jemand auf Reinlichkeit achtet, ist normal. Ein Wasch- oder Reinlichkeitszwang liegt dann vor, wenn das Waschen oder Säubern deutlich über das hinausgeht, was man in einer bestimmten Kultur erwartet. Nicht die absolute Häufigkeit oder Intensität der Reinigungsvorgänge ist also entscheidend, sondern ihr unübliches Ausmaß. Ein unübliches Reinigungsverhalten kann etwas symbolisieren, zum Beispiel die Angst vor starken eigenen Impulsen, zu beschmutzen, Leute zu vergiften oder sie mit einer Krankheit anzustecken. Die Angst vor Penetration nimmt gelegentlich auch die Gestalt einer Angst vor Bakterien an, die in den Körper eindringen und dort Schaden anrichten können, während die Angst, andere anzustecken, etwas damit zu tun haben kann, den anderen zu penetrieren und von innen heraus zu schädigen oder zu vernichten. Je nachdem, ob diese unbewußten Ängste eine stärker präödipale oder stärker ödipale Färbung haben, handelt es sich um ein frühkindliches Vergiftet-Werden durch die Mutter, um ein Penetriert-Werden durch die »phallische« Mutter oder um ein Penetriert-Werden durch den Vater oder Vaterersatzfiguren. Bei den sexuellen Phantasien wird der aggressive Aspekt in den Vordergrund gestellt. Der Kranke fürchtet die eigene Aggression oder die Aggression anderer. Er fürchtet auch jedes ungeordnete Verhalten, weil daraus Schaden entstehen kann. Wer die Tür nicht sorgfältig abschließt, bahnt Einbrechern den Weg, die in das Haus eindringen könnten. Die ursprünglichen Impulse sind bei der Zwangssymptomatik durch Abwehrmechanismen entstellt. Der Abwehrmechanismus Isolierung aus dem Zusammenhang, oft in Kombination mit Verdrängung, verhindert, daß die motivationalen Zusammenhänge deutlich werden. Meist treten Impulse ohne adäquaten Affekt auf. Zum Beispiel kann eine Mutter den Zwangsimpuls verspüren, ihr Kind mit einer Schere in die Fontanelle zu stechen, ohne daß sie dabei das geringste aggressive Gefühl empfindet. Statt dessen ist sie entsetzt. Es kommt also hier unter Einsatz von Abwehrmechanismen zu einem Komprorniß zwischen dem Impuls und dem Widerstand dagegen, den Impuls mit seinen kausalen Verknüpfungen und dem entspre-
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chendenAffekt bewußt werden zu lassen. Die genannte Mutter müßte sicher starke Schuldgefühle erleiden, wenn ihre klar würde, daß sie ihr Kind haßt. Für diesen Haß kann es viele Gründe geben; vielleicht stammt das Kind von einem abgelehnten Vater, oder es schränkt die beruflichen Möglichkeiten der Mutter stark ein. Die Schuldgefühle würden aus einem strengen Über-Ich entstehen, wie man es bei zwanghaften Menschen regelmäßig findet. Eine gesunde Mutter mit einem Über-Ich, das nicht in einem archaischen Entwicklungsstadium steckengeblieben ist, kann manchmal durchaus den Impuls und den Wunsch empfinden, ihr Kind, das nachts schreit, »an die Wand zu klatschen«, um Ruhe zu haben. Auch weil sie sicher ist, daß sie das Kind dennoch liebt und es nicht tun wird, kann sie es sich gestatten, einen solchen Impuls zu empfinden. Verhaltenstherapeuten ignorieren diese doch sehr durchsichtigen psychodynamischen Zusammenhänge und erklären das Entstehen von Zwangssymptomen allein aus dem sekundären Krankheitsgewinn - beispielsweise aus der Macht, die eine Frau genießt, die mit einem Waschzwang die ganze Familie tyrannisiert, die sich ihren Waschritualen anpaßt und sich vielleicht auch selbst entsprechend den Direktiven der Kranken waschen muß. Zwangskranke können auf dem Wege über ihre Zwangssymptome Macht ausüben. Diese streben sie aus verschiedenen Motiven an, zum Beispiel weil sie als Mächtige die Willkür anderer Personen kontrollieren können. Eine weiteres wichtiges Motiv ist, daß sie in allen sozialen Interaktionen eine vertikale Struktur wahrnehmen. Es gibt für sie keine Alternative zu einer Aufteilung in »Oben« und» Unten«, ein sozialer Umgang auf gleicher Ebene ist Menschen mit einem Zwangscharakter fremd. Das Oben-Sein wird oft in sadistischer Weise genossen, das Unten-Sein kann in masochistischer Weise genossen werden. Der Zwangskranke läßt sich dann durch einen anderen kontrollieren, zum Beispiel durch einen Arzt während einer Therapie. Wenn die Therapie fortdauern soll, darf sie keinen wirklichen Erfolg haben, nur gerade so viel, daß der Therapeut sie nicht abbricht. Der Patient läßt sich durch den Therapeuten kontrollieren und kontrolliert gleichzeitig den Therapeuten, indem er ihn geschickt dazu btingt, die Therapie trotz des Fehlens wesentlicher Erfolge fortzusetzen. Zwanghafte möchten keine Fehler machen. Von Zwanghaften hört man oft, daß sie »alles richtig machen möchten«, wie auch allgemein die Begriffe »richtig« und »falsch« eine große Rolle bei ihnen spielen. Zwanghafte tun sich schwer damit einzuräumen, daß es für einen
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Problem mehrere gleich brauchbare Lösungen geben kann. Sie fragen, ob nicht eine Lösung doch »richtiger« ist als die anderen. In einer Hierarchie fühlen Menschen mit einem zwanghaften Charakter sich oft wohl. Dort wird ihnen gesagt, was sie machen müssen. Die Verantwortung dafür, ob das eigene Handeln »richtig« ist, wird ihnen abgenommen. Es bleibt ihnen nur die Verantwortung dafür, das umzusetzen, was »von oben« als richtig vorgegeben wurde. Zu dem starken Bedürfnis, alles richtig zu machen, kommt eine starke Tendenz, sich Fehler vorzuwerfen. Beides zusammen bringt Zwangskranke dazu, ein Arbeitsergebnis nicht nur ein- oder maximal zweimal, sondern fünfmal oder zehnmal nachzuprüfen, so daß ihre Arbeitsproduktivität leidet, weil sie, im ganzen gesehen, wenig zustande bringen. In schwacher Ausprägung ist diese Art von Arbeitsstörung sehr häufig. Zwanghaften Wissenschaftlern fällt es oft schwer, etwas, das sie erdacht oder erforscht haben, zu veröffentlichen. Alles muß mehrmals abgesichert sein. Es wird dann ganz wenig oder überhaupt nichts veröffentlicht. Gleichzeitig sprechen diese Wissenschaftler kritisch über Autoren, denen das Veröffentlichen leichter fallt. Die Arbeitsproduktivität zwanghafter Menschen ist auch dann eingeschränkt, wenn sie nicht durch Kontrollieren Zeit verlieren. Sie haben Schwieligkeiten, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden (Isolierung aus dem Zusammenhang und die Unfähigkeit, etwas »fallenzulassen«, eine aus dem analen Bereich stammende Problematik). Eigene Ansätze zur Kreativität unterdrücken sie, weil man bei einern kreativen Denken und Handeln nie genau weiß, was dabei herauskommt. Zwangssymptome können schon allein durch ihren quantitativ übersteigerten Aspekt etwas Groteskes bekommen. Das ist bei starken Ordnungszwängen und KontrollZWängen so. Aber auch die Zwangsbefürchtung, jemanden geschädigt zu haben, kann groteske Ausmaße annehmen. Manche Zwangssymptome sind in ihrer Qualität grotesk. Es handelt sich dann um Zwänge, die einen Impuls nicht in seiner ursprünglichen Form darstellen, sondern symbolisch. Besonders häufig ist das der Fall, wenn der Abwehrmechanismus des Ungeschehen-Machens eine Rolle spielt. So erinnere ich mich an einen Zwangskranken, der sich nicht anders fortbewegen konnte als immer zwei Schritte voran und einen zurück zu machen, was außerordentlich bizarr wirkte. Berichtet wurde mir von einem Patienten, der sich um eine Stelle be-
warb. Für ihn war das Überschreiten einer Schwelle zum Betreten eines Zimmers aufgrund von Phantasien, die etwas mit Penetrieren, mit Neubeginn und dem Eindringen in das elterliche Schlafzimmer zu tun hatten, fast unmöglich. Beim Vorstellungsgespräch wußte er sich nicht anders zu helfen, als einen Anlauf zu nehmen und in das Zimmer zu springen, in dem sich der Personalchef befand. Er hatte so seine Angst durch die kinetische Energie des Laufens überwunden. Der Personalchef war natürlich verwundert und erschreckt, der Patient bekam die Stelle nicht. Alle ausgeprägten Zwangshandlungen sind ich-dyston. Der Kranke sieht ihre Unsinnigkeit ein, kann sich aber nicht anders verhalten. Manche Zwangskranke mit Reinlichkeitszwängen haben in ihrer Wohnung einen Ort, an dem es unordentlich oder schmutzig zugeht. Das kann eine Schublade mit alten Papieren sein, es kann aber auch der Kühlschrank sein, in dem Nahrungsmittel verderben. Das liegt auch daran, daß es Menschen mit Zwangsstruktur und Zwangskranken schwerfällt, etwas wegzuwerfen, hauptsächlich aber daran, daß die Realisierung der zerstörerischen und verderbenden Impulse doch gewünscht und hier in einem umschriebenen Areal verwirklicht wird. Weil Affekte immer zu willkürlichem Handeln führen können, erscheinen sie dem Zwanghaften suspekt. Er erlebt oft wenig Affekte, weil er vom Affekt isoliert. Nur in geschützten Situationen kann er Gefühle zulassen, zum Beispiel im dunklen Kinosaal, wo es niemand merkt, wenn ihm Tränen in die Augen treten. Solche Zwanghafte vermeiden es oft, in Begleitung ins Kino zu gehen, denn diese könnte ja seine Affekte bemerken. Der Zwanghafte möchte sich auch nicht durch die Affekte und Stimmungen anderer anstecken lassen, deshalb redet er sich ein, andere nicht zu brauchen, und meidet Menschen, die starke Affekte zeigen und ihn damit zum affektiven Reagieren bringen könnten. Die Disposition zur Phobie und die zur Zwangsneurose entstehen im gleichen Lebensabschnitt (dazu KÖNIG 1981), jedoch gehen Menschen mit einer Zwangsneurose und Phobiker verschieden mit Willkürbedürfnissen um (vgl. dazu den Abschnitt zur Phobie). Viele Zwangskranke sind im Stadium des magischen Denkens steckengeblieben oder dahin regrediert. Magisches Denken gibt es auch bei Gesunden (vgl. KÖNIG 1996). In schwierigen Lebenssituationen können Menschen, die in ihrem Denken und Handeln im allgemeinen durch Rationalität bestimmt sind, in magisches Denken verfallen. Ein Beispiel sind Schwerkranke, bei denen die Schulmedizin
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versagt und die sich Wunderheilern zuwenden, obwohl sie sich als Gesunde über Menschen lustig gemacht haben, die zu Wunderheilern gingen. Zu den magischen Einstellungen gehört auch die Vorstellung, Gedanken könnten wahr werden, der Gedanke etwa, jemand werde sterben, könne bewirken, daß der Betreffende stirbt. Die Disposition zur Symptomzwangsneurose wird nicht nur erbgenetisch weitergegeben, sondern auch durch Verhalten. Bei Patienten mit Zwangsneurosen finden sich oft zwanghafte Eltern, die auf kindliche Willkür mit Verbot und Bestrafung reagieren. QUINT schreibt dazu: »Beim Zwangsneurotiker fehlt eine ausreichend positive Beurteilung des ausprobierenden Handeins« (QUINT 1988, S. 23). Das gilt oft auch für seine Eltern. Die Frage, bei welchen Menschen es zu einer Zwangsneurose und bei welchen es mir zur Entwicklung einer Zwangsstruktur kommt, beantworte ich auf der Basis vieler klinischer Beobachtungen so: Mit Regelmäßigkeit findet sich bei Symptomzwangsneurosen ein Elternteil, das sich eher zwanghaft verhält, und ein Elternteil, das sich eher willkürlich verhält, etwa unter dem Einfluß von Alkohol oder aufgrund eines habituellen Jähzorns. Das Kind identifiziert sich mit beiden Elternteilen, dadurch entsteht eine innere Spannung. Die Impulse werden zum Teil bewußt, müssen aber auch abgewehrt werden. Die Identifizierung mit dem willkürlichen Elternteil bewirkt den Drang nach Willkür, die Identifizierung mit dem zwanghaften Elternteil die Abwehr von Willkür. Dabei können durchaus beide Eltern Zwangscharaktere sein, auch der sich willkürlich verhaltende. Es gibt Zwangscharaktere, die ihr Willkürhandeln nicht unterbinden, sondern rationalisierend rechtfertigen, etwa wenn sie sich als Polizisten willkürlich verhalten, »um das Verbrechen zu bekämpfen« oder wenn sie sich im Umgang mit Kindern rigide und deshalb unangepaßt, also willkürlich verhalten, um diese zu »erziehen«. Eine Symptomzwangsneurose entsteht durch Versagen der Abwehr. In der Art und Weise der Sauberkeitserziehung drückt sich der Umgang der Eltern mit Willkür und Kontrolle aus, ihre Einstellung dazu wird in diesem Bereich sehr direkt vermittelt. Die Entstehung der Zwangsstruktur ist aber vermutlich nicht nur auf die »anale Phase«, die Zeit um das zweite und dritte Lebensjahr, beschränkt. Das gilt besonders für die Disposition zur Symptomzwangsneurose. Die Zwangsneurose galt lange Zeit und gilt auch heute noch als eine Domäne der psychoanalytischen Therapie. Die Ergebnisse sind aber oft unbefriedigend. Von einem Therapeuten, der Zwangskranke
behandelt, wird ein hohes Maß an Geduld und Monotonietoleranz gefordert. Zwangskranke neigen dazu, das Erreichte ungeschehen zu machen, weil es eine riskante Veränderung mit sich bringen könnte und weil sie das gemeinsam mit dem Therapeuten Erarbeitete immer wieder bezweifeln. Insofern gleicht die Therapie Zwangskranker einer Sisyphusarbeit. Bei der Indikationsstellung für eine Therapie sollte zwischen den Zwangssymptomen, die einen Kompromiß zwischen dem ursprünglichen Impuls und seiner Abwehr darstellen und denjenigen, bei denen es um die symbolische Darstellung und häufig auch um ein gleichzeitiges Ungeschehen-Machen des Impulses geht, unterschieden werden. Patienten mit einer guten Fähigkeit zur Symbolisierung haben in der Regel die bessere Prognose. Mit der symbolischen Darstellung kann in der Therapie zunächst auf der Symbolebene umgegangen werden. QUINT (1988) macht aufgrund seiner therapeutischen Erfahrungen genauereAngaben zur Indikationsstellung.lch selbst kann sagen, daß den Patienten, die keine reine Zwangsstruktur haben, mit einer Psychoanalyse gut geholfen werden kann, insbesondere Mischstrukturen mit einer hysterischen Komponente. Viele Zwangskranke erreichen Behandlungserfolge 'in Gruppen. Der Therapeut muß es sich jedoch mit Rücksicht auf die anderen Gruppenmitglieder überlegen, ob er einen Zwangskranken in die Gruppe aufnimmt. Die Tendenz der Zwangskranken, um jeden Preis zu bewirken, daß alles beim Alten bleibt, weil jede Veränderung Willkür freisetzen könnte, wirkt sich in der Gruppe im sogenannten Immobilisieren aus, Der Patient versucht, Fortschritte auch der anderen Gruppenmitglieder zu behindern. Ich halte es für notwendig, bei jedem Fall von Zwangsneurose, von dem man annimmt, daß keine Indikation für eine analytische Langzeittherapie besteht, die Differentialindikation zwischen einer auf die symptonrrelevanten Konflikte zentrierten und einer nur auf das Coping konzentrierten niederfrequenten analytisch orientierten Therapie mit begrenztem Behandlungsziel und einer Verhaltenstherapie zu erwägen. Auch eine medikamentöse Behandlung sollte erwogen werden, eventuell in Kombination mit einer konfliktorientierten Therapie. Bei einer psychoanalytischen Therapie wirken sich die Isolierung vom Affekt und die Isolierung aus dem Zusammenhang besonders schädlich aus. Die Isolierung vom Affekt bewirkt, daß Erkenntnisse
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für das Handeln unwirksam bleiben, weil der Affekt als Auslöser zur Umsetzung fehlt. Eine Umsetzung von Einsichten in der Therapie wird oft durch den Einsatz des Abwehrmechanismus der Isolierung aus dem Zusammenhang verhindert. Die analytische Therapie zielt ja darauf ab, Zusammenhänge herzustellen, wobei auch Unbewußtes mit Bewußtem verknüpft wird. Ein wesentliches Hindernis in der psychoanalytisch orientierten Therapie ist die Schwierigkeit vieler Zwangskranker, mit Analogien zu arbeiten. Triebe, Wünsche, Phantasien, Gedanken und anderes, aus dem sich Konflikte ergeben könnten, sollte getrennt gehalten werden. Das geschieht nicht nur durch den Einsatz des Abwehrmechanismus der Isolierung aus dem Zusammenhang, sondern auch durch eine bestimmte Ausrichtung der Aufmerksamkeit, wie sie Zwangskranken eigen ist. Der Zwanghafte achtet vorwiegend auf Unterschiede und sieht weniger das Gemeinsame. Das Gemeinsame zu sehen, würde Verbindungen zwischen Unterschiedlichem herstellen und damit die Gefahr von Konflikten erhöhen.
Solange man die körperlichen Faktoren nicht zum Verschwinden bringen kann, bleibt die Therapie auf eine Psychotherapie oder eine Pharmakotherapie beschränkt, wobei die Psychotherapie der Pharmakotherapie voraus hat, daß sie Angstanfälle ganz zum Verschwinden bringen kann, während die Pharmaka meist nur wirken, solange sie gegeben werden. Insofern wäre die Pharmakotherapie eine symptomatische und die Psychotherapie eine kausale Behandlung. Eine Sonderstellung nimmt die Hyperventilationstetanie ein. Durch forcierte Atmung wird so viel Kohlensäure ausgeatmet, daß das Blut alkalisch wird. Damit verliert das Calcium im Blut seine antitetanische Wirkung, und es kommt zu Krampfanfällen, wobei die Hände in Pfötchenstellung gehalten werden; Mißempfindungen (»Ameisenlaufen«) treten auf. Eine Erhöhung des Kohlensäurespiegels durch Rückatmung, etwa indem in eine Plastiktüte geatmet wird, kann den Anfall unterbrechen. Der Anfall kann aber auch mit einem Anxiolytikum oder durch die Injektion von Calcium unterbrochen werden. Zwar ist die Wirkung von Calcium im alkalischen Milieu eingeschränkt, jedoch bewirkt die höhere Konzentration nach einer intravenösen Spritze, daß es wirkt. Man kann die Hyperventilationstetanie als Angstäquivalent interpretieren, obwohl Menschen, die Angst haben, in der Regel nicht so stark hyperventilieren, daß es zu einem Pfötchenkrampf kommt. Vielleicht kommt die extreme Hyperventilation dadurch zustande, daß mit der Hyperventilation kausal verbundene Affekte nicht abgeführt und nicht beendet werden können. BACH (1968) hat herausgearbeitet, daß bei den von ihm untersuchten Patienten angstmachende Tötungsimpulse eine Rolle spielten. Es ist auch denkbar, daß nicht Angst, sondern unbewußte Aggression den Atemrhythmus verändert. Als Angstneurose wird meist eine anfallsweise, nicht situationsoder objketgebunden auftretende Angst bezeichnet. Von manchen Fachleuten werden auch diffuse Angstzustände hierzu gerechnet. FREUD (1895b, S. 318) nannte nicht objekt- oder situationsgebundene Ängste »frei flottierend«. Die Angst muß vom Patienten nicht immer als solche erkannt werden. Manchmal wird sie nicht als eindeutiger Affekt erlebt. Es kommt nur zu einer diffusen, sehr unangenehmen inneren Unruhe. In der Klassifizierung des DSM-IIIIR werden Angstattacken mit freien Intervallen (Panikstörung) von einem durchgehend erhöhten Angstpegel (generalisierte Angststörung) unterschieden.
Angstneurotische und phobische Struktur Angst warnt vor einer Gefahr. Angst kann überlebenswichtig sein. Auf Angst regieren Menschen und Tiere mit Kampf oder Flucht, »fight or flight«. Angst muß aber nicht immer einer realen Gefährdung entsprechen. In einer Panikattacke, die somatische Ursachen haben kann, läuft die Angst gewissermaßen leer. Sie wird dann vom Körper ohne erkennbare Ursache eingeschaltet; man weiß noch nicht genau, wie das geschieht. Bei der Panikstörung kann heute eine konstitutionelle Disposition als wahrscheinlich gelten. Die bisherigen psychodynamischen Auffassungen von einer psychogen entstehenden pathologischen Angst sind dadurch keineswegs veraltet. Ich nehme ein Kontinuum an zwischen nicht realitätsbezogener Angst, die rein psychogen ausgelöst wird, und nicht realitätsbezogener Angst, die rein somatisch ausgelöst wird. Ob es eine neurotische Angststörung ganz ohne konstitutionelle Disposition gibt und ob es Angststörungen gibt, die ausschließlich körperlich ausgelöst werden, weiß man noch nicht. Pharmakologisch wirksame Substanzen, beispielsweise Koffein, begünstigen offenbar das Auftreten von Panikattacken.
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In der von SCHEPANK (1987) und seinen Mitarbeitern durchgeführten Felduntersuchung zeigte sich, daß fast 4 Prozent der Personen in einer Großstadtbevölkerung an Angstneurosen litten. Das entspricht in der Größenordnung den Ergebnissen aus anderen Untersuchungen. FREUD (1895) hat die Symptomatik im wesentlichen schon beschrieben. Zu ihr gehören Reizbarkeit, Überempfindlichkeit gegenüber Umweltreizen, Schlaflosigkeit, eine ungerichtete ängstliche Erwartung, AngstanfäUe mit und ohne Tachykardie oder Hyperventilation und andere vegetative Symptome wie Schwitzen oder Zittern. Freßattacken und Durchfälle können auftreten. Manche Patienten schrecken nachts auf. Schwindel tritt ebenso auf wie Übelkeit, Brechreiz, Durchfälle und Harndrang. FREUD nahm ursprünglich an, daß nicht abgeführte Libido sich in Angst umwandelt. Diese Annahme hat er später zugunsten seiner »zweiten Angsttheorie« (FREUD 1926) verworfen. Sie besagt, daß Impulse Angst auslösen, die aber meist nicht bewußt wird, weil sie bereits als »Angstsignal« Abwehrmechanismen auslöst, die den Impuls stoppen. Bedürfnisstauungen aller Art werden bei Menschen, deren Aktivität durch Angst oder auch nur durch Angst vor einem möglichen Angstanfall eingeschränkt ist, natürlich häufiger und stärker auftreten als bei Menschen, die freier handeln können. Angst wird von den Patientinnen und Patienten mit Angstanfällen schlecht ertragen. Man spricht von eingeschränkter Angsttoleranz. Diese Aussage ist jedoch problematisch, da man die erlebte Angst eines Menschen nicht messen kann. Die Intensität vegetativer Erscheinungen ist kein direktes Maß dafür. Ich selbst habe nicht nur bei Phobikern, sondern auch bei Patienten mit frei flottierender Angst eine Besserung des Zustandes gefunden, wenn Personen anwesend waren, die als »steuernde Objekte« (KÖNIG 1981) oder »Schutzfiguren« (HOFFMANN und HOCHAPFEL 1995) fungieren konnten. Äußere steuernde Objekte oder Schutzobjekte werden gesucht, wenn die steuernden Aspekte des inneren Mutterobjekts unzureichend ausgebildet sind. Eltern, die ihren Kindern alles aus der Hand nehmen oder sie überfordern, behindern das Lernen nach Versuch und Irrtum und bewirken so, daß das Kind auf die Eltern angewiesen bleibt. Die äußeren steuernden Objekte schützen das Kind und später auch den Erwachsenen vor äußeren Versuchungen und vor der aus dem Inneren kommenden Gefahr, sich willkürlich und damit sozial schädlich zu verhalten, sobald nicht ausreichend sozialisierte Wün-
sehe aus dem Unbewußten in das bewußte Ich eindringen und das Verhalten der Person bestimmen. Wenn in einer auslösenden Situation der Triebdruck zu stark wird, versagt die Abwehr. Das steuernde Ersatzobjekt kann, wenn es überhaupt anwesend ist, die Versuchungssituation nicht ausreichend entschärfen und könnte in der unbewußten Einschätzung des Angstpatienten das Durchbrechen der Willkürimpulse und ihr Umsetzen in sozial unakzeptables Handeln nicht mehr verhindern. Die durch die WiUkürimpulse erzeugte Angst bricht in das Bewußtsein durch. STUDT (1984) fand bei Patienten und Patientinnen mit frei flottierender Angst einen größeren Anteil von Frühstörungen als bei gebundener Angst. Die Kindheitsbelastungen sind bei den Patienten mit frei flottierender Angst größer. Bei frühgestörten Patienten mit Störungen der Ich-Entwicklung kommt es vermutlich auch zu Störungen beim Aufbau der inneren Objekte. Wenn beispielsweise die Eltern nicht zutreffend und differenziert in ihrem realen Verhalten wahrgenommen werden konnten, wirkt sich das auch auf die Entwicklung eines inneren steuernden Objekts aus. Bei Patienten mit einer allgemeinen Ich-Schwäche können die äußeren Anlässe für ernen Angstanfall gering sein. Manchmal reichen schon Phantasien oder Erinnerungen, die mit Aggression oder sexuellen Wünschen verbunden sind. Daß der Anlaß für einen Anfall entweder in ohne äußeren Einfluß entstehenden unbewußten Phantasien oder in zu Phantasien anregenden Außenereignissen liegen kann, läßt sich immer wieder nachweisen. Auffallend häufig fand ich Patienten mit einem ersten Angstanfall vor dem Fernseher, ohne daß immer erinnert werden konnte, was gerade zu sehen oder zu hören war, ob es sich etwa um sexuelle oder aggressive Themen gehandelt hat. Situations- oder objektgebundene Angst nennt man Phobie. Wenn die angstmachenden Situationen oder Objekte vermieden werden, können die Patienten angstfrei sein. Doch ist diese Vermeidung nicht immer möglich, die Patientinnen und Patienten müssen zur Arbeit oder zum Einkaufen. Während sich das Einkaufen noch delegieren läßt, ist das mit dem Weg zur Arbeit nicht möglich. Meist kann die Arbeit auch nicht zu Hause erledigt werden. Das Vermeiden bringt eine Einschränkung der Lebensmöglichkeiten (ANNA FREUD sprach 1936 in andern Zusammenhängen von Ich-Einschränkung). Daß jemand nicht auf die Straße geht und, wäh-
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rend er den ganzen Tag zu Hause sitzt, eine Begabung entdeckt und entwickelt, die er sonst nicht entdeckt hätte, dürfte zu den seltenen Ausnahmen gehören. ANNA FREUD erwähnt den Fall eines Jungen, der im Sport Probleme hatte, sich aus dem Sport zurückzog und seine schöngeistigen Begabungen entwickelte. Er wurde später Philologieprofessor. Vermutlich ist es vernünftig, eine Betätigung zu meiden, die einem nicht liegt und zu der einem vielleicht auch die konstitutionellen Voraussetzungen fehlen. Der Unterschied zum Vermeiden des Phobikers liegt darin, daß dieser Situationen vermeidet, in denen sich seine Krankheit manifestieren könnte. Bei den Herzangstsyndromen, die auch als Herzphobie oder Herzneurose bezeichnet werden, liegen die Dinge verwickelter (s. weiter unten in diesem Abschnitt). Die Phobien kann man zu mehreren Krankheitsgruppen zusammenfassen. So haben die Agoraphobie, soziale Phobien und objektgebundene Phobien wie Tierphobien viel gemeinsam. Krankheitsphobien sind etwas erheblich anderes. Zwar werden bei der Krankheitsphobie Situation vermieden, von denen der Patient glaubt, daß sie ihn krank machen oder seine phantasierte Krankheit verschlimmern könnten, die Angst kann dadurch aber nicht oder nur vorübergehend beseitig werden. Auch bei der Herzphobie gibt es keine erfolgreiche Vermeidung. Getrennt zu betrachten sind Phobien, die man auch den Zwangssymptomen zurechnen könnte. Zum Beispiel kann ein Patient die Phantasie entwickeln, er würde sich mit einer schlimmen Krankheit anstecken, wenn er Türklinken anfaßt. Zwar ist das nicht unmöglich; die sogenannten Erkältungskrankheiten werden, wie man heute weiß, durch Händedruck und vermutlich auch durch Anfassen einer Klinke übertragen, auf der eine erkrankte Person Erreger hinterlassen hat. In der Regel ist die Befürchtung, durch das Anfassen einer Türklinke erheblich zu erkranken, aber unbegründet. Phobien können nicht dadurch erklärt werden, daß jemand schlechte Erfahrungen mit einer Situation, einem Tier oder einem Gegenstand gemacht hat, daß die Angst also eine reale Ursache habe und deshalb durch einen einfachen Lernvorgang erklärt werden könne. Sicher ist es richtig, daß jemand der von einem Hund gebissen, wurde, vor Hunden künftig mehr Angst haben wird als jemand ohne ein solches Erlebnis. Die klinische Erfahrung zeigt aber nicht, daß alle Menschen mit Tierphobien in irgendeiner Weise von Tieren angegriffen oder geschädigt worden sind.
Ich halte es für problematisch, die Phobien nach äußeren und inneren Angstauslösern einzuteilen, weil beides zusammenwirkt. Phobiker fürchten immer eine Gefahr, die aus dem Inneren kommt und die oft, zum Beispiel bei der Agoraphobie, mit einem Mangel an sozialer Kompetenz zusammenhängt. Nur wenn man den Begriff »Angstauslöser« sehr eng faßt, nämlich eine Situation oder ein Objekt darunter versteht, ohne die die Angst nicht auftreten würde, könnte die Straße zutreffend als Angstauslöser bezeichnet werden. Während bei Patienten mit frei flottierender Angst eine allgemeinere Störung der Ich-Entwicklung vorliegt, können umschriebene Fehlentwicklungen des inneren steuernden Objekts zu einer Phobie führen. Tierphobien treten meist schon bei Kindern, gelegentlich jedoch erst im ErwachsenenaIter auf. Kindergarten- und Schulphobien treten im Kindergarten- und Schulalter auf. Soziale Phobien beginnen am häufigsten in der Adoleszenz, wenn der Jugendliche die Erwachsenenrolle übernehmen muß und sich darin unsicher fühlt. Daß die Agoraphobie oft erst im dritten Lebensjahrzehnt oder später auftritt, könnte damit zusammenhängen, daß in diesem Alter die Bindung an das Elternhaus in der Regel schon gelockert ist und die jetzt entstandenen Freiräume Angst verursache. Auch im Umgang mit dem anderen Geschlecht ist der Erwachsene nun mehr auf sich gestellt. Agoraphobie heißt wörtlich: Angst vor freien Plätzen. Sie kann überall außerhalb der eigenen Wohnung auftreten. Dieser Phobie können psychodynamisch verschiedene Ängste zugrunde liegen. Es kann sich um Angst vor heterosexuellen Kontakten handeln, um Angst vor homosexuellen Kontakten, um Angst davor, in eine aggressive Auseinandersetzung, vielleicht eine Schlägerei verwickelt zu werden. Gemeinsam ist die unzureichend ausgebildete Steuerungsfähigkeit von Impulsen, die negative soziale Folgen haben können. Eine soziale Rolle kann vor dieser Angst schützen. Ich erinnere mich an einen Polizisten, der die unbewußte Angst hatte, in eine Schlägerei verwickelt zu werden, zum Beispiel in einer Gaststätte. Wenn er jedoch in Uniform eine Gaststätte betrat, blieb die Angst aus. Ein Polizist darf sich nicht in der gleichen Weise an einer Wirtshausprügelei beteiligen wie die anderen Beteiligten. Der unbewußten Angst, in eine Schlägerei verwickelt zu werden, liegt oft noch anderes zugrunde, beispielsweise homosexuelle Phantasien im aggressiven Ringen mit Männern. Bei latent homosexuellen Männern wird
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ein sexuelles Zusammensein mit einem Mann im Traum oft durch eine Ringkampf dargestellt. Manche Agoraphobien haben nichts mit dem zu tun, was auf der Straße passieren könnte, sondern mit der Versuchung, nicht nach Hause zurückzukehren und sich an einen ganz anderen Ort zu begeben. Die Straße könnte zum Beispiel zu einem Bahnhof oder einem Flughaften führen. Ich erinnere mich an eine Patientin, die in einem Wartesaal saß, in dem die Abfahrt der Züge durchgesagt wurden. Als ein Zug nach Mailand durchgesagt wurde, erlitt sie ihren ersten Angstanfall. Diese Patientin hatte Weglauftendenzen. Sie wollte an ihrem Wohnort alles stehen und liegen lassen, die Familie und den Arbeitsplatz verlassen, und nach Italien fahren, wo sie ein leichtes Leben phantasierte. Diesen Wunsch ließ sie nicht bewußt zu. Bei der Klaustrophobie werden kleine Räume als bedrängend erlebt. Die Angst ist besonders groß, wenn nicht sicher ist, daß der Kranke den engen Raum jederzeit wieder verlassen kann. Aber auch eine Immobilisierung durch soziale Regeln und soziale Ängste kann klaustrophobe Zustände auslösen. Das gilt zum Beispiel für eine Warteschlange an einer Kasse. Es ist nicht üblich, sich vorzudrängen; wer sich vordrängt, muß mit Reaktionen der anderen Wartenden rechnen. Es ist aber auch auffällig, wenn jemand aus einer Schlange mit einem Warenkorb weggeht. Besonders Patienten mit einer Tendenz zur sozialen Phobie haben große Angst davor, was die Beobachter denken könnte. Sie fühlen sich in der Schlange immobilisiert. Entsprechendes kann für Theater- und Konzertaufführungen gelten, wo jemand, der seinen Platz verläßt, andere zum Aufstehen auffordern muß und auffällt. Klaustrophobe Kranke sitzen deshalb gern an einem Eckplatz, von dem sie leichter wegkommen. Der Höhenphobie (Akrophobie) liegen vermutlich narzißtische Flugphantasien zugrunde. CHURCHILL (nach KOI--IUT 1973) berichtet, daß er, von Kameraden, die ihn tätlich angreifen wollten, verfolgt, in eine Schlucht hinuntersprang, in der ein Baum stand. Er hatte die Erwartung, sicher landen zu können, indem er sich an den Ästen eines Baumes festhielt. Die Folge waren Knochenbrüche. Hier liegt eine Omnipotenzphantasie vor, die beim Akrophoben unbewußt bleibt. Die Höhenangst hindert ihn daran, seine Phantasie zu verwirklichen. Akrophobe Patienten berichten auch oft, daß sie das Gefühl haben, von der Tiefe angesogen zu werden. Das hat wahrscheinlich etwas mit der Phantasie zu tun, sich mit der Mutter Erde zu verbinden. Es handelt sich um eine schizoide Verschmelzungsphantasie, während
die Flugphantasie eher der narzißtischen Persönlichkeit zuzuordnen ist. Wenn ein Patient angibt, daß er Angst vor den Menschen an einem bestimmten Ort hat, etwa in einem Kaufhaus, oder wenn er der Angst eine bestimmte, metaphorisch ausgedrückte Befürchtung zuordnen kann, ist an die Kombination einer Agoraphobie mit einer sozialen Phobie zu denken. Wenn jemand sagt, die Menschen in einem Kaufhaus könnten ihn erdrücken, meint er das in der Regel nicht wortwörtlich. Er empfindet die Menschen in seiner Phantasie vielmehr als konfluierend, wie ein großes Globalobjekt, das ihn an die Wand drükken und zerquetschen oder ersticken könnte. Dies ist ein großer Unterschied zu der Befürchtung, von einer Person angesprochen zu werden und der Versuchung zu erliegen, mit ihr eine sexuelle Beziehung anzufangen. Natürlich sind auch Kombinationen denkbar. Bei einer sozialen Phobie oder Soziophobie wird der Kontakt mit Menschen gefürchtet. Dabei kann es sich um konkrete, anwesende Personen handeln oder um Personen, die man irgendwo anzutreffen erwartet. Patienten mit einer sozialen Phobie haben oft Angst, im Umgang mit Menschen negativ beurteilt zu werden, sich eventuell zu blamieren. Eine soziale Phobie kann sich auch auf Tätigkeiten beziehen, die man vor den Augen anderer Menschen ausübt, wie Essen, Trinken oder Schreiben, ohne daß man diese anderen kennen müßte. Eine häufige soziale Phobie ist die Erythrophobie. Sie besteht nicht darin, daß der Betreffende errötet, das wäre eine normale Reaktion, sondern darin, daß er Angst davor hat zu erröten. Er befürchtet, daß andere auf das dem Erröten Zugrundeliegende schließen könnten. Bei Erythrophobie tritt Erröten häufig ohne bewußten äußeren Anlaß auf, es muß nur der Kontakt mit Menschen gegeben sein. Ich halte es für ungeklärt, ob nicht doch bestimmte Handlungen des Gegenüber das Erröten auslösen, vielleicht schon das bloße Anblicken des Erythrophoben. Bei vielen erythrophoben Patienten konnte ich feststellen, daß sie mit einer wichtigen Beziehungsperson, meist einem Elternteil, identifiziert waren und fürchteten, es könnte ihnen unterlaufen, sich ebenso zu verhalten wie diese Person, oder man könnte ihnen unterstellen, daß sie eines solchen Verhaltens fähig seien. Meist handelt es sich bei den Verhaltensweisen der Eltern um ein sogenanntes Familiengeheimnis, etwa um Alkoholkrankheit oder praktizierte »Doppelmorai«. Ein Patient berichtete, daß sein Vater, der Pastor war, in seiner Bibliothek pornographische Bücher hatte, und zwar
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in den gleichen schwarzen Einbänden wie seine theologischen Fachwerke. Erythrophobie tritt vor allem bei Menschen auf, die zusätzlich zum phobischen Strukturanteil aufgrund ihrer sonstigen Strukturanteile ein großes Problem mit Scham haben. Meist sind es narzißtische Persönlichkeiten, die sich anders phantasieren, als sie wirklich sind. Ein erythrophober Waldarbeiter mit einem Intelligenzquotienten von 80 vertraute mir an, daß er sicher Professor werden könnte. Die Phantasien, »groß rauszukommen« werden von den meisten erythrophoben Patienten ungern mitgeteilt, oft erst spät in der Behandlung. Die Dysmorphophobie - eine Ablehnung bestimmter äußerer Eigenschaften des eigenen Körpers unter dem Aspekt, was andere Leute darüber denken könnten - fasse ich als eine besondere Form der sozialen Phobie auf. Ich finde sie bevorzugt bei schizoiden Patienten. Diese Patienten zeichnen sich oft dadurch aus, daß sie Gemeinsames eher sehen als Unterschiede. So sagte mir ein Patient, dessen Nase zwar wohlgeformt war und zu seinem Gesicht paßte, aber groß war, die Leute könnten denken »Wie Nase des Mannes, so ist sein Johannes«. Er glaubte, jeder, der seine Nase sehe, müsse zwingend an seinen Penis denken. Diese Befürchtung war mit latenten homosexuellen Wünschen verknüpft. Auch die Angst vor der Angst kann einen Bezug zur sozialen Phobie haben. Der Patient fürchtet, in einem Angstanfall in eine hilflose Situation zu geraten oder lächerlich zu wirken. Vor allem, wenn der Angstanfall mit Schwindel verbunden ist und er befürchtet, hinzufallen oder gar das Bewußtsein zu verlieren, fürchtet und wünscht er wohl auch, sich im Angstanfall anderen auszuliefern. Bei den sozialen Phobien hat die Vermeidung Erfolg. Wer sich nicht in die Gesellschaft von Menschen begibt, braucht zum Beispiel keine Angst davor zu haben, zu erröten und dabei von anderen beobachtet zu werden. Diese Art der Vermeidung wirkt jedoch sehr einschränkend.
vermutlich das Haftende, Einwickelnde, Immobilisierende überfürsorglicher Mütter, die als bedrängend erlebt werden. Auffällig ist das häufige gemeinsame Vorkommen einer Spinnenphobie und einer Klaustrophobie. Im Unterschied zur Schlange repräsentiert die Maus das männliche Genitale und den Mann in einem allgemeinen Sinn, nicht nur unter aggressiven und destruktiven Aspekten. Ich habe den Eindruck, daß die Angst der Frauen vor Mäusen abgenommen hat. Wahrscheinlich hängt das direkt mit einer veränderten Bewertung von Sexualität zusammen. Es gibt Tiere, bei denen es auf den ersten Blick schwerfällt, festzustellen, welche Gemeinsamkeiten sie mit den Personen haben, die sie symbolisieren. Das gilt zum Beispiel für Vögel - Menschen können ja nicht fliegen. Man denke jedoch nur an Hitchcocks »Vögel«, an Adler, denen man früher zuschrieb, daß sie Babys entführen, und an Greifvögel, die Hühner schlagen. Insgesamt steht der Vogel wohl für eine Person, die unerwartet aggressiv wird. Das Picken des Vogels kann an Koitusbewegungen (»vögeln«) erinnern. Tiere symbolisieren nicht nur eine äußere Gefahr, sondern auch eine innere, nämlich die Gefahr, aggressiv zu werden und dafür bestraft zu werden. Ein Gegenstück zum phobischen Verhalten stellt das kontraphobische Verhalten dar. Situationen, die Angst machen, werden gerade deshalb aufgesucht. Ich erinnere mich an einen Nachtwächter mit Dunkelangst. Vermutlich handelt es sich hier um eine narzißtische Problematik: Es wird als kränkend empfunden, Angst zu haben. Die Kränkung wirkt stärker als die Angst. Daß jemand die Angst überwindet, steigert sein Selbstwertgefühl. Bei der Herzangstneurose handelt es sich um eine Neurose mit Angstsymptomatik, die auch als Herzphobie (BRÄUTIGAM 1964) oder Herzneurose (RICHTER u. BECKMANN 1973) bezeichnet wird. Im ICD-lO wird die Herzangstneurose als »somatoforme kardiovaskuläre Funktionsstörung« bezeichnet. Ein Patient mit Herzangstneurose hat nicht Angst vor seinem Herzen, sondern um sein Herz. Letztlich hat er aber Angst um sich selbst; wenn das Herz versagt, stirbt der Patient. Weil Herzinfarkt ein Ereignis ist, das über eine Störung der Herzfunktion zum Tode führen kann, haben die Patienten oft Angst, einen Herzinfarkt zu bekommen. Während diese Angst dauernd vorhanden ist, tritt im Anfall eine sehr viel intensivere Angst quasi in frei flottierender Form auf. Es kommt
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Tiere können Personen oder Teile einer Person symbolisieren. Besonders deutlich ist das bei Schlangen, die oft als Symbol für den männlichen Penis betrachtet werden. Bei der Spinne ist wohl wichtig, daß Spinnen klebrige Netze bauen, in denen man sich verfangen kann und· die dann schwer abzustreifen sind, und daß sie ihre Beute umwickeln und immobilisieren. Ein Tier, der einen Menschen symbolisiert, muß mit ihm bestimmte Eigenschaften gemeinsam haben, und hier ist es
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Angstneurotische und phobische Struktur
zu starken vegetativen Begleiterscheinungen von Angst, vor allem zur Tachykardie. Im Gegensatz zur paroxysmalen Tachykardie mit über 160 Schlägen pro Minute und plötzlichem Beginn ist die Frequenz bei der Herzangst-Tachykardie niedriger und der Beginn durch einen allmählicheren Anstieg gekennzeichnet. Druck- und Schmerzgefühle am Herzen lassen sich nicht direkt als Angstäquivalent auffassen. Wahrscheinlich wird hier ein Herzinfarkt phantasiert, zumal die Schmerzen auch als in den linken Arm ausstrahlend empfunden werden können wie bei einem Herzinfarkt oder einem Anfall von Angina Pectoris. Schweißausbrüche lassen sich als Begleitsymptom von Angst auffassen, während Schwindel mehr im Zusammenhang mit Todesangst zu sehen ist. Eine positive Diagnose ergibt sich oft aus dem dramatisierend-kommunikativen Verhalten des Patienten und aus den zwischen den Anfällen geäußerten Befürchtungen, die übersteigert wirken. Dennoch muß man auch bei Patienten mit bekannter Herzangstneurose eine Koronarsklerose ausschließen. Diese kann ja zusätzlich vorliegen. Durch den adrenergen Erregungszustand kommt es gelegentlich auch zu Extrasystolen, die auf den Patienten besonders bedrohlich wirken. Eine Herzangstneurose ohne Anfalle bezeichnet man als He rzhypochondrie. Diese Patienten hatten zwar noch nie einen Anfall von Pseudo-Angina pectoris oder Pseudo-Herzinfarkt, befürchten aber, daß mit ihrem Herzen etwas nicht in Ordnung sei und beobachten Herzfrequenz und Schlagfolge. Extrasystolen können als Zeichen einer vegetativen Übererregbarkeit relativ harmlos oder als Zeichen einer Koronarsklerose gravierend sein. Da die Patienten das meist aus ihrer Lektüre wissen, lassen sie sich schwer beruhigen. Beim Mitralklappenprolaps handelt es sich um eine Ausstülpung der Mitralklappe im Herzen. Daß er allein eine Herzangstneurose »verursachen« kann, darf als unwahrscheinlich gelten. Es ist aber möglich, daß ein Mitralklappenprolaps Tachykardien oder Extrasystolen auslösen kann; das ist noch umstritten (EGLE et a1. 1988, RA] et a1. 1990). HOFFMANN und HOCHAPFEL (1995) messen der Fehlverarbeitung enterozeptiver Reizwahrnehmungen eine besondere Stellung bei der Entstehung der herzangstneurotischen Symptomatik bei. Ebenso wie die Angst Herzklopfen auslöst, kann auch Herzklopfen Angst auslösen. Dabei kann schon ein geringes Herzklopfen genügen oder eines, das eindeutig mit einer körperlichen Anstrengung zusammenhängt. Die Patienten beobachten sich ängstlich und bringen von
ihnen empfundene Angst mit den Körperwahrnehmungen in Zusammenhang. Wenn die Anfälle des Patienten nicht zu häufig und zu intensiv und damit zu belastend sind, verstehen sich Herzneurotiker oft gut mit ihren Partnern. Harmonie scheint zu henschen, Aggressionen werden unterdrückt. Beim Patienten äußern sie sich in der Herzsymptomatik, beim Partner oder der Partnerin in unterschiedlicher Weise, je nach der Persönlichkeitsstruktur, zum Beispiel durch eine psychosomatische Krankheit. Herzneurosekranke wirken oft partiell regrediert. Ist ein Herzneurosekranker mit einer Frau verheiratet, die selbst keine Herzneurose hat und die er als Mutterobjekt erlebt, kann die Sexualität in der Beziehung ganz aufhören, oft in gegenseitiger Übereinkunft. Sexualität ist mit einer Mutter-Sohn-Beziehung nicht vereinbar. Die Inzestphantasie beider Partner bleibt meist unbewußt. Erlebt der Mann mit Herzneurose die Sexualität aber als eine besondere Form mütterlicher Zuwendung ohne inzestuöse Beimengungen, kann es sein, daß nur die Frau unter dem Eindruck steht, Sexualität passe nicht in die Beziehung. Es kann dann sein, daß der Mann Sexualität fordert und »einen Herzanfall« bekommt, wenn er sie nicht erhält. RICHTER und BECKMANN (1973) fanden, daß Patienten mit Herzneurose ihr Herz in auffälliger Weise so beschreiben, wie sie auch die Mutter beschreiben. Vermutlich findet eine wechselseitige Symbolisierung zwischen Herz und Mutterobjekt statt. Das Mutterobjekt kann auf eine andere Beziehungsperson übertragen oder verschoben werden, zum Beispiel auf die Partnerin oder den Partner. Aggressionen gegen die Partnerin oder den Partner richten sich dann gleichzeitig gegen das eigene Herz. Nach STUDT (1984) werden die Mütter teils als verwöhnend, teils als bestimmend, die Väter als streng und aggressiv enthemmt geschildert. Ich vermute, daß die Identifizierung mit den beiden Eltern nicht zu einer Synthese gebracht wird. So wird die Entwicklung einer eigenen Identität erschwert und damit auch die Übernahme der Erwachsenenrolle behindert. Dabei scheint mir besonders der Kontrast zwischen dem aggressiv ungehemmten Vater und der verwöhnenden, aber nicht aggressiven Mutter von Belang zu sein. Es kommt zu einer inneren Spannung. Die Verhältnisse liegen ähnlich wie bei der Symptomzwangsneurose, jedoch ist die Symptomwahl eine andere, vermutlich wegen eines phobogenen Mutterverhaltens.
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Herzangstanfälle treten auf, wenn das Mutterobjekt sich zu entziehen versucht oder sich tatsächlich entzieht und damit seine Funktionen, die in der unbewußten Phantasie denen des Herzens entsprechen, aufzugeben droht oder aufgibt. Wahrscheinlich kommt es aus einer Enttäuschungsaggression heraus zu aggressiven Impulsen gegen das Mutterobjekt, die sich wegen der wechselseitigen Symbolisierung gleichzeitig gegen das Herz richten. Erlebt wird nur die Gefährdung des Herzens, wobei Art und Ursache dieser Gefährdung unbekannt bleiben. Diese Lücke wird dann durch Vorstellungen aufgefüllt, die zu einem Erwachsenen passen, der an einer Erwachsenenkrankheit sterben könnte, zum Beispiel an einem Herzinfarkt. Von den weiteren Persönlichkeitszügen hängt es wahrscheinlich ab, wie jemand mit der Herzangstneurose umgeht. Patienten könnten die Neurose zu leugnen suchen oder sie in den Vordergrund stellen, sie können Situationen meiden, die sie für auslösend halten, oder gerade diese Situationen aufsuchen und jedesmal verzweifelt sein, wenn die Symptomatik erneut auftritt. Hier zeigt sich wieder, daß unterschiedliche Aspekte eines Krankheitsbildes nicht immer nur etwas mit der Grunddynamik zu tun haben müssen, sondern durch die gesamte Persönlichkeit beeinflußt werden. Es gibt ja fast keine reinen Charakterstrukturen, auch keine rein phobischen. Es sind immer auch noch andere Strukturanteile vorhanden, die das Coping mit der psychogenen Erkrankung beeinflussen. Somatisch ausgerichtete Ärzte werden durch Patienten mit Herzangstneurose überfordert. Sie finden entweder »nichts« oder vieldeutige Befunde, die sie den Patienten mitteilen, um zu zeigen, daß sie sich bemüht und etwas gefunden haben. Oft glauben sie selbst, daß in diesem Befund die Ursache zu suchen sei. Damit kann der Patient von einer Psychotherapie abgehalten werden. An der Herzangstneurose zeigt sich auch das Problem, daß auch heute noch viele Ärzte die Neurosen nicht für wirkliche Krankheiten halten, sondern nur zwischen »wirklich krank« und »eingebildet krank« unterscheiden. Wenn sie den Patienten vermitteln, daß diese sich die Symptome nur einbilden, verlieren sie diese Patienten. Die gehen dann zum nächsten somatisch orientierten Arzt. Statt dessen wäre eine Überweisung an einen Psychotherapeuten sinnvoll. Viele Ärzte verordnen auch Medikamente, die nicht indiziert sind. Es kommt vor, daß eine Herzneurose mit Digitalis, häufiger noch mit koronarerweiternden Medikamenten behandelt wird. Das ist unsin-
nig. Dagegen ist es manchmal sinnvoll, Betablocker zu geben, wenn das nicht die einzige Behandlung bleibt. Anxiolytika sind problematisch, weil sie zur Sucht führen können. Phobie und Zwangsneurose, phobische Struktur und Zwangsneurose haben miteinander gemein, daß es um den Umgang mit Willkürimpulsen geht (vgl. KÖNIG 1981). Die Eltern der zwanghaften Patienten sind mit den Willkürimpulsen des Kindes und seinen Tendenzen zum Ausprobieren mit Verbot und Bestrafung umgegangen, während Eltern von Kindern, die später phobisch werden, eher mit Angst auf die Initiativen des Kindes reagierten und versuchten, ihm alles abzunehmen, womit das Kind »Unheil anrichten« konnte. Ich spreche dabei von einem Mutterverhalten vom Typ A (»anklammernd«). Davon unterscheide ich ein Mutterverhalten vom Typ D (»distanziert«). distanzierte Mütter oder Pflegepersonen erwarten von dem Kind Fortschritte, die es noch nicht gemacht haben kann, und entmutigen es so. Das Kind vermeidet dann aus diesem Grund das Lernen nach Versuch und Irrtum und erwirbt deshalb bestimmte Kompetenzen nicht. Weil die Eltern ihm entweder nichts zutrauen oder aber es überfordern, unterschätzt sich das Kind bezüglich der tatsächlich vorhandenen Kompetenzen. Diese Unterschätzung hält bis in das Erwachsenenalter an. Ich halte es nicht für sinnvoll, eine Phobie aus der Abwesenheit oder dem Verlust einer Bindungsfigur zu erklären, wie das beispielsweise BOWLBY (1975) tut. Der Agoraphobe erlebt die Straße als Versuchungssituation. In dieser Versuchungssituation wäre ein steuerndes Objekt oder eine Schutzperson hilfreich. Die äußeren steuernden Objekte sind im Umgang mit der Krankheit sehr wichtig. Interessanterweise muß es sich bei ihnen nicht um starke Menschen handeln, ein Säugling kann genügen. Kinder können den Erwachsenen zwar nicht vor Angreifern schützen, sind jedoch in der Lage zu verhindern, daß der betreffende Erwachsene seinen Impulsen folgt und sich in gefährliche Situationen bringt (vgl. dazu ausführlicher KÖNIG 1981). Macht man sich klar, daß die Schutzobjekte vor inneren Impulsen oder vor Situationen schützen, die eine Versuchung beinhalten könnten und in denen der Patient seinen inneren Willkürimpulsen folgen könnte, so wird verständlich, daß sogar Gegenstände, die man nicht ohne weiteres wegsteIlen kann, etwa ein Fahrrad, angstmindernd wirken können. Wenn eine Frau allerdings angibt, daß sie durch ihre Handtasche beruh.igt wird, hat das meist etwas damit zu tun, daß sich darin ein Medikament be-
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Hysterische Struktur
findet. Gegenstände können natürlich Personen symbolisieren und dadurch angstmindernd wirken. In sozialen Gefahren macht es einen großen Unterschied, welche Charakterstruktur jemand neben der phobischen hat. Ein narzißtischer Mensch kann Angst vor der Blamage haben, ein depressiver Angst vor dem Verlust von Objekten oder die Angst, ausgeschlossen zu werden. Bei Menschen mit einer phobischen Struktur finden sich oft zwanghafte und hysterische Anteile, bei der Höhenphobie narzißtische oder schizoide. Nicht alle Phobien sind behandlungsbedürftig. Viele Tierphobien schränken das Leben des Patienten wenig ein, wenn es sich beispielsweise um Tiere handelt, die im alltäglichen Lebensraum des Patienten nicht vorkommen. Das gilt in der Regel für Schlangen, die man meist nur im Urlaub antreffen kann. Auch eine Hundephobie muß keine erhebliche Relevanz haben, da sich Hunde im allgemeinen meiden lassen, es sei denn, man kann ihnen beruflich nicht aus dem Wege gehen, etwa als Briefträger. Pferde wird man im allgemeinen leicht meiden können. Dagegen ist die Angst vor Straßen, offenen Plätzen, Menschenansammlungen oder geschlossenen Räumen viel gravierender, weil sie sich im Alltagsleben schwer vermeiden lassen. Die Angststörung ist eine Domäne des Fachpsychotherapeuten. Sie sollte nicht in der psychosomatischen Grundversorgung behandelt oder betreut werden. Die Differentialindikation zwischen psychoanalytisch orientierter Therapie und Verhaltenstherapie wird bei den Angststörungen besonders häufig diskutiert, weil die Verhaltenstherapie bei vielen Angststörungen gute Erfolge aufzuweisen hat. Das gilt aber auch für die analytische Psychotherapie. Bei der Wahl des Behandlungsverfahrens ist auch die Präferenz des Patienten zu berücksichtigen. Meist wird der Therapeut jedoch das Verfahren anbieten, in dem er kompetent ist. Es sollte heute nicht mehr geschehen, daß ein Therapeut einen Patienten zurückweist, weil er annimmt, daß dieser Patient für das von ihm angebotene Verfahren ungeeignet ist (man beachte die Richtung dieser Formulierung), ohne den Patienten auf weitere existierende Behandlungsmöglichkeiten hinzuweisen. Leider geschieht das aber doch. Statt einen Patienten zum Verhaltenstherapeuten zu schicken, damit dieser die Behandlungsmöglichkeiten abklärt, schickt ihn der analytisch orientierte Therapeut zum Psychiater in dessen »Betreuung«. Mutatis mutandis gilt dies auch für den Verhaltenstherapeuten.
Heutzutage scheut man sich weniger als noch vor ein oder zwei Jahrzehnten, bei schweren Angststörungen Antidepressiva oder Anxiolytika einzusetzen. Bei Anxiolytika ist wegen der großen Suchtgefahr besondere Vorsicht geboten. Bei jeder analytischen Therapie eines Angstsyndroms ist zu beachten, daß der Therapeut unweigerlich die Funktion eines steuernden Objekts übernimmt, sei es zu Beginn oder im Laufe der Therapie. Manchmal wird versäumt, den Zustand des Patienten auf dem Hintergrund der Tatsache zu beurteilen, daß der Therapeut in der Funktion des steuernden Objekts etwas für den Patienten tut, was er nach dem ~nde der Behandlung nicht mehr tun wird. Auch bei sorgfältiger Uberprüfung des Behandlungserfolges geschieht es oft, daß die Patienten nach Beendigung der Therapie wieder in Angstzustände geraten. Dies muß nicht unbedingt daran liegen, daß die Therapiezeit zu kurz war, vielmehr wurde möglicherweise nicht rechtzeitig darauf geachtet, die Delegation von steuernden Funktionen durch den Patienten zu bearbeiten und dem Patienten diese nach und nach zurückzugeben. Weitere Hinweise zu Diagnostik und Behandlungstechnik der Angstkranken finden sich in meinem Buch »Angst und Persönlichkeit« (KÖNIG 1981,5. Aufl. 1996).
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Hysterische Struktur Im Rahmen einer hysterischen Neurose können die unterschiedlichsten Krankheitsbilder auftreten. Die Beschwerden wirken oft übertrieben. Nicht umsonst wird die hysterische Neurose im DSM-IIIJR als »histrionische Störung« bezeichnet, wobei »histrionisch« als »dramatisch« oder »theatralisch« zu verstehen ist. Mit der Psychoanalyse hat der Begriff Hysterie eine Ausweitung erfahren, weil viele auf die ödipalen Konflikte zurückgeführte Krankheitsbilder als hysterisch bezeichnet wurden. Heute stellt sich jedoch heraus, daß einige dieser Krankheitsbilder nur in geringem Maße oder gar nicht mit ödipalen Konflikten zusammenhängen. Ein wesentlicher Aspekt der ödipalen Entwicklung besteht darin, daß das Kind in eine Erwachsenenrolle zu gelangen wünscht, die es nicht ausfüllen kann. Es möchte sozusagen »erwachsen spielen«, nämlich als Partner des gegengeschlechtlichen Elternteils (positiver Ödipuskom-
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Hysterische Struktur
plex) oder des gleichgeschlechtlichen Elternteils (negativer Ödipuskomplex). Manchmal wird die Phantasie des Kindes, die Erwachsenenrolle ausfüllen zu können, von einem Elternteil oder beiden gefördert. Es entsteht dann die ödipale Illusion, ohne die Fähigkeiten eines Erwachsenen als Erwachsener reüssieren zu können, was im Erwachsenenalter meist zu erheblichen Arbeitsstörungen und beruflichen Schwierigkeiten führt. Die Krankheitsbilder, die bisher in der Kategorie »Hysterische Neurose« zusammengefaßt wurden, werden in der revidierten Fassung des des DSM-III (DSM-IIIJR) bestimmten Untergruppen zugeordnet, in deren Bezeichnung das Wort »hysterisch« nicht mehr vorkommt. Ob die Diskriminierung der Patientinnen und Patienten, die hysterische Symptome aufweisen, durch die Vermeidung des Wortes »hysterisch« vermindert werden kann, bleibt abzuwarten. Die diskriminierende Wirkung ist ja letztlich auf die aversiven Reaktionen zurückzuführen, die ein theatralisches Verhalten auslösen kann, und wenn man unter »histrionisch« vorwiegend theatralische Formen der Hysterie versteht, wird der Begriff »histrionisch« bald eine negative Bedeutung bekommen. Eine weitere Kategorie im DSM-IIIJR ist »Somatisierungsstörung mit rasch wechselnden körperlichen Symptomen«. In Deutschland spricht man bei diesen Patienten von psychovegetativen Störungen oder funktionellen Syndromen; man rechnet sie nicht der Hysterie zu. Die Diagnose einer hysterischen Persönlichkeit wird bei Frauen anscheinend häufiger gestellt als bei Männern. Wahrscheinlich hängt das mit Weiblichkeits- und Männlichkeitsstereotypen zusammen. Die traditionelle weibliche Rolle gibt mehr Raum für ein histrionisches Verhalten. Tendenzen von Männern, sich »histrionisch« zu verhalten, werden oft unterdrückt, weil sie nicht im Einklang mit der männlichen Rolle stehen. Hysterische Menschen zeigen oft eine gewisse Naivität. Sie ist von der Naivität der Schizoiden zu unterscheiden, die sich meist auf bestimmte Bereiche des praktischen Lebens beschränkt. Die hysterische Struktur disponiert zu einer allgemeinen Einschränkung des Neugierig-Seins, weil Neugierig-Sein unbewußt mit Neugier auf verbotenes Sexuelles gleichgesetzt wird. Es handelt sich um ein Residuum des Ödipuskomplexes. Naivität zeigt sich besonders in der Beurteilung sozialer Situationen, in denen es letztlich um Sexualität geht. So können hysterische Frauen überrascht sein, wenn sie die Einladung eines Mannes, um ein
Uhr nachts auf sein Zimmer zu kommen, um etwas zu trinken, als Vorbereitung zum Geschlechtsverkehr erkennen müssen. Hysterische Männer neigen weniger dazu, sexuelle Wünsche anderer auszublenden, sondern sie im Gegenteil auch da wahrzunehmen, wo sie nicht vorhanden sind. Ausgeblendet wird hier die Selektivität von Frauen in der Partnerwahl und der Wunsch vieler Frauen nach einer Sexualität, die auf der Basis einer Dauerbeziehung stattfindet. Solche Männer können dann überrascht sein, wenn eine Frau ihnen sagt, sie sei davon ausgegangen, der Mann würde sie lieben und heiraten. Bei hysterischen Persönlichkeiten fällt oft auf, daß sie sich in sexueller Symbolik ausdrücken, ohne es zu merken. So sprach in einer therapeutischen Gruppe, die vor lernenden Psychotherapeuten demonstriert wurde, eine Patientin von Pflaumen, die an einem Baum hingen und mit einem Stock geschlagen wurden, damit sie herunterfielen. Nicht nur die im Kreis um die Gruppe sitzenden Psychotherapeuten, sondern auch die Mitpatienten in der Gruppe erkannten die sexuelle Bedeutung, die schon entschlüsselt werden kann, wenn man daran denkt, daß das Wort »Pflaume« eine volkstümliche Bezeichnung für das weibliche Genitale darstellt und daß die Bedeutung länglicher Gegenstände als Symbole für den Penis in unserer Kultur allgemein bekannt ist. Ebenso kann sich Sexuelles im motorischen Ausdrucksverhalten (Mimik, Gestik) ausdrücken, ohne daß die Patienten das bemerken. Fühlt sich ein Mann von einer hysterischen Frau zu sexuellem Tun eingeladen und handelt er entsprechend, reagiert sie unter Umständen mit Abscheu und Ekel. Ein solches Verhalten kornmtjedoch nicht nur bei Frauen vor, es gibt auch Männer, deren Verhalten als sexuell einladend interpretiert werden kann, ohne daß sie selbst das merkten. Auf die sexuellen Störungen gehe ich im Abschnitt »Störungen in der Paarbeziehung« ein. Die hysterische Persönlichkeit kann faszinieren und verführen, wobei diese Faszination später oft in Ablehnung umschlägt. Ein hysterischer Mann oder eine hysterische Frau kann sich jemandem mit großer Intensität zuwenden, so daß dieser den Eindruck bekommt, es bestünde ein starkes Interesse an ihm. In der Folgezeit kann sich herausstellen, daß das intensive Interesse zwar vorhanden war, aber bald wieder abklang. Wenn etwa KUIPER (1992) mit der hysterischen Persönlichkeit die Ausdrücke Infantilität, Egozentrik, Unechtheit und Geltungssucht verbindet, drück sich darin wohl eine aggressive Reaktion auf diese Patienten aus.
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Hysterische Struktur
Hysterische Menschen können sich mit anderen gut identifizieren und diese auf oft erstaunliche Weise nachahmen. Das ist eine Basis für die Tätigkeit des Schauspielers. Der französische Schauspieler JEAN LOUIS BARRAULT erzählte 1952 in einem Vortrag anläßlich eines Gastspiels am Deutschen Theater in Göuingen, daß er als Kind immer Schulkameraden mit ihren Ticks und Idiosynkrasien nachahmte, was seine Eltern beunruhigte und befremdete. Krankheiten können ebenfalls nachgeahmt werden. Meines Erachtens ist noch ungeklärt, ob dabei Identifizierungen oder nur Imitationen stattfinden. Bei einer starken Identifizierungsneigung ist an Frühstörungen mit einer Identitätsdiffusion zu denken. Bei solchen Patientinnen und Patienten ist kein eigenes kohärentes Selbst entstanden. Sie übernehmen deshalb gleichsam das Selbst anderer und fühlen sich dann besser. GREENSON (1967) berichtet von einer psychosenahen Patientin, die Nichtraucherin war, in der zweiten Konsultation aber rauchte, und zwar dieselbe Zigarttenmarke wie GREENSON. Im Prinzip kann eine Hysterie aUe Krankheitsbilder imitieren. Das zeigt sich nicht nur in pseudoneurologischen Erscheinungen, sondern auch in der sogenannten Pseudopsychose. Hysterische Patientinnen und Patienten, die in einer psychiatrischen Einrichtung behandelt werden, zeigen oft »psychotische« Symptome, die zwar atypisch sind, diagnostisch aber oft auf eine Psychose zurückgeführt werden. Menschen mit einer hysterischen Struktur haben Schwierigkeiten im planenden Denken. Manche von ihnen empfinden das als einen Mangel, andere halten sich viel auf ihre »Spontaneität« zugute. Sie handeln erst und denken dann. Sie können auch andere zu einem Handeln bringen, das sie im Nachhinein bedauern. Oft sind hysterische Menschen in der Lage, eine ganze Krankenstation, eine Abteilung in einem Betrieb oder eine ganze Familie »aufzumischen«. Im übrigen ist es für hysterische Personen charakteristisch, daß sie sich zwar wenig informieren, aber doch eine feste und energisch vertretene Meinung haben können, die auf besser Informierte naiv wirkt. Das hat seine Entsprechung auch im Arbeitsstil: Sie halten eine Arbeit für fertig, die von anderen keineswegs als abgeschlossen wahrgenommen wird, beispielsweise meinen sie, schon der erste Entwurf für eine Arbeit oder ein Projekt könne als endgültige Fassung akzeptiert werden. Insofern stellen sie ein Gegenstück zum Zwanghaften dar, der eine Arbeit nicht aus der Hand geben kann, weil er immer noch verbessern muß, um sicher zu sein, daß alles »richtig« ist.
Hysterische Menschen verfahren andererseits oft nach dem Motto »Ich bin so, wie Du mich haben willst«. Sie können dabei auch stark erscheinen, möchten jedoch nicht in dieser Stärke ernst genommen werden. Sie suchen die Rolle des oder der Hilflosen und Kindlichen auf, wenn sie in ihrer scheinbaren Stärke beansprucht werden. Die Position der Schwäche wird oft auch zur Gewissensentlastung eingenommen, die Betreffenden stellen sich dann gleichsam als unzurechnungsfahig dar. Die erbgenetische Komponente bei der Hysterie ist zur Zeit noch unerforscht. Der vermutlich stark überwiegende umweltbedingte psychogene Anteil läßt sich zunächst auf Probleme in der ödipalen Entwicklungsphase zurückführen, jedoch kommen häufig Kombinationen mit Entwicklungsstörungen aus früherer Zeit vor. Man spricht entsprechend von narzißtisch-hysterischen, depressiv-hysterischen und schizoid-hysterischen Strukturen. Die meisten Menschen haben nur lückenhafte Erinnerungen an ihre Kindheit. Bis zum Schulalter werden oft nur einzelne Ereignisse oder Szenen erinnert. Die Erinnerung kann bis zum Schulbeginn ganz fehlen, die erste Erinnerung ist dann häufig der erste Schultag mit der Schultüte. Daß die Erinnerung so spät einsetzt, habe ich bisher nur bei hysterischen Persönlichkeiten gefunden. Wahrscheinlich hängt dieses Phänomen mit einer Verdrängung konflikthafter Beziehungen in der ödipalen Phase zusammen. Auch in der späteren Kindheit, im jugendlichen und im erwachsenen Alter kommen »Gedächtnisstörungen« vor, die etwas damit zu tun haben, daß Unangenehmes nicht erinnert werden soll. Hier gibt es Übergänge zu einfacheren Fehlleistungen wie dem Nicht-Erinnern eines Namens, wenn ein interpersoneUer, aber zur Zeit verdrängter oder auch nur unterdrückter Konflikt mit der betreffenden Person besteht. Aus all dem geht hervor, daß die Verdrängung bei den hysterischen Neurosen eine große Rolle spielt. Daneben finden sich praktisch alle anderen Abwehrmechanismen, besonders aber die Verleugnung, aber auch die Affektualisierung (um den anderen zu erreichen, werden Gefühle viel intensiver ausgedrückt, als sie tatsächlich erlebt werden). Es gibt Hysteriker mit guter und mit schlechter Prognose, worauf wohl am deutlichsten ZETZEL (1970) hingewiesen hat. Hysterische Strukturen mit einer erheblichen Frühstörungskomponente sind oft ausgesprochen schwer zu therapieren. Besondere Probleme machen ihre Neigung zum Agieren, ihre Ungeduld und ihre eingeschränkte Frustrationstoleranz.
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Hysterische Menschen suchen jedoch nicht nur in einer privaten Partnerschaft, sondern auch in einer Therapie einen verläßlichen und Sicherheit gebenden Partner (dem sie dann allerdings oft Biederkeit und Langeweile vorwerfen). In der Regel ist es falsch, bei hysterischen Patienten Ausnahmen vom therapeutischen Setting zuzulassen. Ein Überziehen der Stunde sollte verhindert, ein Zuspätkommen angesprochen werden. Oft entwickeln sich Auseinandersetzungen um das Ausfallhonorar, in denen man fest bleiben sollte. Eine Liebesübertragung, an der sich ödipale Konflikte gut bearbeiten lassen, entwickelt sich meist erst, wenn die Patienten sich versichert haben, daß sexuelle Phantasien, auch wenn sie ausgedrückt werden, keine sexuellen Handlungen zur Folge haben. Dies leiten sie aus der allgemeinen Zuverlässigkeit des Therapeuten ab. Solche Patienten können dann sexuelles Handeln dennoch fordern. Es ist aber so, daß sexuelle Phantasien viel leichter ins Bewußtsein gelangen, wenn Patienten mit vernünftigen Gründen erwarten können, daß der Therapeut ihren Wünschen nicht nachgibt. Liebesübertragungen gleich zu Beginn einer Behandlung sind problematisch. Meist haben sie mit Frühstörungsanteilen zu tun oder mit dem Bestreben hysterisch-zwanghafter Patientinnen, vermittels erotischer Angebote Macht über den Therapeuten zu erlangen. Bei den hysterischen Patientinnen und Patienten spielt der Geschlechtsunterschied eine große Rolle. Der Ödipuskonflikt ist ja ohne Geschlechtsunterschied kaum denkbar. Nach meinen Erfahrungen in der Supervision sind ödipalen Liebesübertragungen von der Geschlechtszugehörigkeit der Therapeuten abhängig, nicht jedoch präödipale Übertragungen oder andere Aspekte der ödipalen Übertragung.
gibt psychotische Episoden, aber keinen bleibenden Übergang in die Psychose. Daraus ist schon zu schließen, daß es sich hier nicht nur um ein auf einem Kontinuum liegendes Syndrom handelt, das sich nach der einen oder anderen Richtung hin entwickeln könnte, sondern um ein Krankheitsbild, das an der Grenze zur Psychose bleibt und sie nicht auf Dauer überschreitet. Bisher besteht keine Einigkeit darüber, welche Symptomatik ein Borderline-Syndrom ausmacht. Das DSM-III/R nennt Instabilität hinsichtlich des Selbstbildes, der zwischenmenschlichen Beziehungen und der Stimmungen als hauptsächliche Merkmale. In Deutschland haben sich die Beschreibung und die zugrundeliegenden theoretischen Annahmen von KERNBERG am weitesten durchgesetzt. KERNBERG (1975, 1984, KERNBERG et a1. 1989) hält eine unspezijisehe Ich-Schwäche, besonders bezüglich der Angsttoleranz, der Impulskontrolle und der Sublimierungsfähigkeit, weiter primärprozeßhaftes Denken und spezifische A.bwehrmechanismen, besonders die Spaltung, für charakteristisch. Die Patienten haben keine kohärente Identität, KERNBERG spricht von Identitätsdiffusion. Andere Symptome können dazukommen, etwa Depersonalisationserscheinungen und wechselnde psychoneurotische Symptome, beispielsweise Phobien. Der ständige Wechsel der Symptomatik ist das charakteristische. Selbstrepräsentanz und Objektrepräsentanzen sind unzureichend differenziert und oft nicht deutlich gegeneinander abgegrenzt, teilweise sind Selbst- und Objektrepräsentanzenjeweils doppelt vorhanden, und zwar einmal mit den guten Aspekten des Selbst und der Objekte, ein weiteres Mal mit ihren »bösen« Aspekten. »Gut« und »Böse« oder »Gut« und »Schlecht« können nicht in einer Person zusammengebracht werden, weder in den anderen, den Objekten, noch im Borderline-Patienten selbst, in seiner Selbstrepräsentanz. KERN BERG ist der Auffassung, bei der Spaltung handele es sich primär um das Versagen der Integrationsmöglichkeiten des Ich, sekundär werde dann das Resultat dieses Versagens zu Abwehrzwecken eingesetzt. Diese Ansicht ist auf Kritik gestoßen, insbesondere wird erwogen, ob es sich bei der Spaltung nicht um eine Art des Umgangs der erwachsenen Persönlichkeit mit den infantilen Aspekten des eigenen Selbst handelt; ob also nicht der Erwachsene die archaischen, sich als extrem gut und extrem böse darstellenden Eigenschaften der Objekte und des Selbst voneinander isoliert, indem er sie gleichsam den beiden Gruppen »Gut« und »Böse/Schlecht« zuordnet. Solche Überlegungen wurden unter anderem von DORPAT (1993a, 1993 b)
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Borderline-Störungen Die diagnostische Kategorie Borderline-Syndrom kommt aus den Vereinigten Staaten zu uns; die deutsche Bezeichnung »GrenzlinienSyndrom« hat sich nicht eingebürgert. Mit »Borderline« ist hier die Grenzlinie zwischen Neurose und Psychose gemeint. Jedoch handelt es sich nicht einfach um Krankheiten, die an der Grenze zwischen Neurose und Psychose liegen. Man könnte dann erwarten, daß die Patienten oft psychotisch werden und bleiben. Tatsächlich werden Borderline-Patienten in der Regel nicht auf Dauer psychotisch. Es
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geäußert, der die Spaltung als Resultat von Leugnungsvorgängen auffaßt (vgl. auch REICH 1995). Nach KERNBERG werden von Borderline-Patienten neben der Spaltung die Abwehrvorgänge der Idealisierung, der Entwertung und der omnipotenten Kontrolle eingesetzt. Bei letzterer geht der Patient mit der Angst, die Objekte bei ihm hervorrufen, so um, daß er versucht, sie zu kontrollieren, das heißt, in seine Macht zu bringen. Das Über-Ich eines solchen Patienten ist oft in einem archaischen Zustand. Bei manchen BorderIine-Patienten ist es abgekapselt, so daß beim Untersucher der Eindruck entstehen kann, sie hätten gar kein Über-Ich. Diese Menschen wirken dissozial. Da die Wahrnehmung und die Wahrnehmungsverarbeitung sehr weitgehend durch Spaltungsvorgänge beeinflußt sind, haben Borderline-Patienten es schwer, sich in andere einzufühlen, die ja nicht immer nur gut oder böse, schwarz oder weiß sind, sondern in vielen Schattierungen vorkommen, die der Borderline-Patienten dann den beiden Kategorien »Gut« und »Böse und Schlecht« zuordnet. Das Fehlen eines eigenen kohärenten Identitätsgefühls schränkt die soziale Wahrnehmung weiter ein. Verschiedene Identifizierungen existieren relativ unverbunden nebeneinander. Der Betreffende kann nicht als ganze Person zusammenhängend über die Zeit reagieren, sondern »mal so, mal so«. Aus jeder Identität heraus erlebt er die Menschen seiner Umgebung jeweils anders. Es handelt sich hier aber nicht um eine sogenannte Multiple Persönlichkeit. Der Patient erinnert sich an sein Handeln in seinen anderen Identitäten, selbst wenn er es nicht mehr einfühlen kann. Charakteristikum der Multiplen Persönlichkeit sollja sein, daß die einzelnen Identitäten nichts voneinander wissen. Wahrscheinlich ist die Multiple Persönlichkeit eine Spielart der Borderline-Störungen. Sie stellt, wenn man so will, eine Extremform der Identitätsdiffusion nach KERNBERG dar. Vermutlich sind Abwehrmechanismen wie Leugnung und Isolierung aus dem Zusammenhang beteiligt, möglicherweise sogar der klassische Abwehrmechanismus Verdrängung. In den Vereinigten Staaten sollen etwa 1.000 Multiple Persönlichkeiten bekannt sein (HOFFMANN u. HOCHAPFEL 1995). Ich selbst habe noch keinen einzigen solchen Patienten gesehen (s.a. den Abschnitt zum Konversionssyndrom). Die Therapie von BorderIine-Patienten ist aufwendig, und sie führt wohl selten oder nie zu völliger Gesundheit. In diesem Zusammenhang sei an die Pennsylvania-Studie (LUBORSKY et al. 1988) erinnert, in der gezeigt wurde, daß das Ausmaß der Besserung bei einer analy-
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tischen Psychotherapie mit der Schwere des Krankheitsbildes abnimmt. Weil in einer solchen Psychotherapie auch der Patient arbeiten und seine Ressourcen einsetzen muß, haben Menschen schlechtere Bedingungen, die infolge ihrer Krankheit weniger Ressourcen entwickeln konnten als andere. Auch bei guter Therapiemotivation müssen die Aussichten in der Regel vorsichtig eingeschätzt werden. Ein großer Teil, man spricht von einem Drittel, der Patienten bricht die Therapie ab. Dennoch ist eine Therapie von Borderline-Patienten sinnvoll. Psychotherapeuten sind bezüglich der Behandlungserfolge, die sie erwarten, verwöhnt. Eine Besserungsrate von einem Drittel und gar eine Heilungsrate von ebenfalls einem Drittel können bei vielen Krankheitsbildern der Inneren Medizin nicht erreicht werden. Viele Krankheiten sind heute noch unheilbar, zum Beispiel der Diabetes, die Arteriosklerose, die Leberzirrhose. Bei vielen BorderIine-Patienten ist die Therapie in der Lage, ihre Lebensqualität zu verbessern und auch zu bewirken, daß die Umwelt weniger unter ihnen leidet. Unter Alkoholkranken und sonstigen Suchtkranken findet man neben Angstkranken und neurotisch Depressiven auch viele Borderline-Patienten. Der Suchmittelgebrauch ist als eine Art Selbstmedikation anzusehen. Die Patienten sollen damit ihre unterträglichen inneren Spannungen vermindern. Hier sei auf die von HEIGL-EvERs et al. herausgegebenen Sammelbände verwiesen (l993b, 1995), in denen das Suchtkrankenverhalten unter dem Aspekt der Frühstörung dargestellt wird. Zu der Frage, welche therapeutischen Verfahren anzuwenden sind, gibt es zwei Meinungen. Ein Teil der Therapeuten ist der Ansicht, daß Borderline-Patienten keine Deutungen verwerten können, weil ihnen die reifen inneren Objekte fehlen, auf die sie beim Auflösen der Übertragung als» Vergleichsmuster« zurückgreifen können. Die innere Welt der Patienten sei von unreifen, verzerrten Objekten bevölkert (so etwa HEIGL-EvERS et al. 1993a, HEIGL-EvERS u. OTT 1994). Andere, besonders Psychoanalytiker der MELANIE-KLEIN-Schule, behandeln selbst psychotische Patienten mit deutender Psychoanalyse. Vermutlich adaptieren sie ihre Methode, mehr als sie es beschreiben, an die Besonderheiten dieser Patienten. Möglicherweise übernehmen die von ihnen gebrauchten Deutungs-Metaphern (Brust, Mutterleib, Penis etc.) in der inneren Welt des Patienten vorübergehend die Funktion von Objekten oder ordnen die inneren Objekte auf handhabbarere Weise, indem sich Objekt- und Selbstrepräsentanzen mit bestimmten Metaphern verbinden.
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Hypochondrie
OITO KERNBERG versucht die Auffassungen MELANIE KLEINS mit der Nordamerikanischen Ich-Psychologie zu vereinigen (KERNBERG et al. 1989). Er empfiehlt ein therapeutisches Vorgehen, das man als psychoanalytisch orientierte Therapie bezeichnen könnte. Er verwendet Deutungen, praktiziert aber eine besondere Technik, zu deren Merkmalen es gehört, daß der Analytiker auf der durch den Patienten verkannten Realität besteht. Er sagt zum Beispiel, daß er nicht so sei, wie der Patient ihn sehe, und daß man darüber sprechen solle, welche Aspekte seines Verhaltens ihn zu dieser Sichtweise gebracht hätten. Dieses Vorgehen hat eine gewisse Ähnlichkeit mit den Empfehlungen von GILL (1982), der rät, immer wieder auch die Verhaltensweisen des Therapeuten ins Gespräch zu bringen, an denen sich eine Übertragung festmacht. Weiter empfiehlt KERNBERG, die ich-schwächenden Abwehrmechanismen, allen voran die Spaltungsmechanismen, anzusprechen und dem Patienten zu sagen, warum er sie vermutlich einsetzt. Zur Behandlung von Borderline-Patienten ist eine besondere Stabilität des Therapeuten erforderlich, gepaart mit viel Einfühlungsvermögen. Diese Kombination findet sich nur bei einem Teil der Therapeuten. Weiter ist ein entsprechender institutioneller Rahmen erforderlich, da beispielsweise die Hilfe eines Sozialarbeiters notwendig werden kann. KERNBERG setzt auch Pharmaka, vor allem Neuroleptika, ein und empfiehlt, es einem Pharmakotherapeuten zu überlassen, die Pharmaka nach eigenem diagnostischen Urteil zu verordnen. Es gibt jedoch, vor allem in England, auch Therapeuten, die es auf sich nehmen, Borderline-Patienten ambulant und ohne die Hilfe stationärer Psychotherapie zu behandeln, die dort allerdings auch kaum zur Verfügung steht. Von solchen Therapien berichten KHAN (1974, 1983) und ROSENFELD (1979). HOFFMANN und HOCHAPFEL (1995) empfehlen eine stationäre Intervallbehandlung. Zumindest solle eine Therapie stationär eingeleitet werden, in einem Teil der Fälle sei dann ambulante, niederfrequente psychoanalytisch orientierte Therapie mit maximal einer Stunde pro Woche geeignet. An Pharmaka empfehlen sie Neuroleptika in kleinen Dosen. Bei gründlicher Ausbildung im Spezialgebiet der Behandlung von Borderline-Patienten können die Therapien sehr interessant und, wenn man seine Ziele nicht zu hoch steckt, befriedigend verlaufen. Ich habe solche Therapien durchgeführt und dabei erhebliche Besse-
rungen erreicht, selbst bei scheinbar endgültig lebensunfähigen Patienten. Allerdings mußte ich mich damit versöhnen, daß Menschen, die mit diesen Patienten nach deren Therapie umgingen, dachten und gelegentlich auch sagten: »Der bräuchte eigentlich Psychotherapie«. So erinnere ich mich an einen Patienten, der als Student gänzlich arbeitsunfähig war, später aber sein Studium und auch noch ein zweites mit sehr guten Ergebnissen abschloß und am Ende auch geheiratet hat, aber auffällig blieb. Ich erinnere mich auch an Patienten, die nach einem Teilerfolg abgebrochen haben. Rückblickend denke ich, daß einige von ihnen sich so viel Therapie genommen haben, wie sie brauchten und ertragen konnten. Vielleicht sind sie später noch einmal weitere therapeutische Schritte gegangen. Ich halte es im übrigen hier, wie auch sonst, für ungut, wenn der Therapeut sich als der große Heiler sieht, der selbst den am schwersten gestörten Patienten völlig gesund machen will. Für den Verlauf der Therapie und letztlich auch für ihre Ergebnisse ist eine solche Einstellung eher kontraproduktiv.
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Hypochondrie Der Hypochonder ist der klassische »eingebildete Kranke«, wie er schon von MouERE dargestellt wurde. Nach HOFFMANN und HOCHAPFEL (1995) sind ein übertriebenes Interesse an Fragen der Gesundheit, die Befürchtung, an einer Krankheit zu leiden oder in Zukunft an einer zu erkranken, eine Neigung, aus Krankheit einen äußeren oder inneren Gewinn zu ziehen, und ein bestimmter Stil der ArztPatient-Beziehung für die hypochondrische Störung kennzeichnend. Diese Merkmalsbeschreibung entspricht der schlechten Abgrenzbarkeit des Krankheitsbildes, wie man sie auch in der diagnostischen Praxis erfährt. Das Interesse an Fragen der Gesundheit ist stark kulturabhängig und kann die verschiedensten Ursachen haben, von sehr realitätsgerechten Überlegungen bis zu paranoiden Ängsten. In Deutschland ist heute das allgemeine Interesse an Fragen der Gesundheit groß - von der Frage des Cholesteringehalts der Nahrung über die Auswirkungen der Atomkraftwerke, der Luftverschmutzung, des Ozons, der Zusatzstoffe zu Lebensmitteln bis hin zu den gentechnisch veränderten Lebensmitteln. Dies Interesse ist zum Teil realistisch, da Gefahren tatsächlich vorhanden sind. Wie jemand jedoch
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Hypochondrie
mit den Gefahren, von denen überall die Rede ist, in seinem Alltagsleben umgeht, hängt stark von seiner oder ihrer Persönlichkeit ab. Die Abgrenzung zu einem normalen Interesse an Gesundheit ist schwierig, zumal man zwischen Idealnorm und Durchschnittsnorm unterscheiden muß. Hat jemand, der regelmäßig zu den Vorsorgeuntersuchungen geht, auf eine gesunde Ernährung achtet und sich politisch für saubere Luft einsetzt, ein normales Interesse an Fragen der Gesundheit, oder ist es schon übersteigert? Ist es gut, wenn jemand Angst hat, daß er an Krebs erkranken könnte, und sich darüber beständig Sorgen macht, so daß er zuverlässig zu den Vorsorgeuntersuchungen geht und ein Krebs bei ihm früh erkannt werden kann, oder ist es gesünder, nicht an diese Gefahr zu denken, dann aber vielleicht auch die Vorsorgeuntersuchungen zu »vergessen«? Die Neigung, aus Krankheit äußeren und inneren Gewinn zu ziehen, scheint mir ebenso verbreitet zu sein wie das Gegenteil, ein Leugnen von Krankheit. Sehr deutlich wird beides bei Untersuchungen an Patienten nach einem Herzinfarkt. BISKUP (1982) hat Patienten und ihre Partnerinnen mit Koronarsklerose untersucht und gefunden, daß es hauptsächlich zwei einander entgegengesetzte Formen des Umgangs mit der Krankheit gibt: Ausgesprochen krankheitsbesorgten und klagsamen Paaren stehen andere gegenüber, die jede Einschränkung und Gefahrdung zu leugnen suchen und zu leben versuchen, als ob nichts vorgefallen wäre. Bei schweren Fällen von Hypochondrie, die den Patienten selbst, aber auch die Ärzte zur Verzweiflung bringen, stellt sich kein diagnostisches Problem. Schwierig sind die Grenzfälle. Der Hypochonder hat keine diffuse Angst, sondern Befürchtungen und Besorgnisse, die sich an jedem Körperorgan festmachen können. Die Patienten können von der Erkrankung eines bestimmten Organs oder auch wechselnder Organe hartnäckig überzeugt sein. Es gibt Patienten, die ein anders Organ »drannehmen«, wenn sie sich der Überzeugungskraft negativer organischer Befunde nicht mehr entziehen können. Um die Krankheits-Eigendiagnose zu stützen, werden normale Körperwahrnehmungen fehlinterpretiert, auf die ein Gesunder im allgemeinen nicht achtet. So erinnere ich mich an einen Patienten, der fürchtete, seine Augen seien krank. Als Beweis dafür galten ihm visuelle Phänomene, die zum normalen Funktionieren des Auges gehören, im allgemeinen aber in der Wahrnehmung ausgeblendet werden.
Patienten können sich kognitiv oder emotional auf den Kampf um die Anerkennung ihrer Krankheit einengen. Es kränkt die Kranken natürlich auch, wenn man sie für eingebildet Kranke hält. Die Entstehung der Hypochondrie halte ich für noch ungeklärt. Sicher kann man schwere Hypochondrien als Symptomatik einer sogenannten Frühstörung betrachten. In den Patienten-Schilderungen der Krankheiten und in den Hypothesen zur Krankheitsentstehung kann man neben phantastischen auch rational begründbare und nachvollziehbare Wahrnehmungen und Annahmen finden. Wenn ein Patient beispielsweise sagt, daß auch Dreißigjährige einen Herzinfarkt bekommen können und daß ein Herzinfarkt nicht in jedem Fall diagnostiziert werden kann, so sagt er damit nichts Falsches. Allerdings sind die Krankheitshypothesen oft ohne Realitätsbezug, sogar mit Übergang zum Wahn. Bei nichtpsychotischen Patienten, die man meist der Borderline-Gruppe zuordnen wird, hat man manchmal den Eindruck, daß primärprozeßhaftes Denken sich im Bereich des Umgangs mit dem Körper konzentriert, während die Patienten sonst ganz rational urteilen können. Möglicherweise ist darin eine Entlastungsfunktion zu sehen; zumindest rechtfertigt eine Beschäftigung mit Krankheiten den Rückzug von anderen Menschen. Der Patient verschanzt sich gleichsam in seinem Körper. In anderen Zusammenhängen hat KUTIER (1981, 1984) die Möglichkeit dargestellt, daß der Patient seinen Körper als Objekt betrachtet. Es ist auch daran zu denken, daß eine diffuse Angststimmung gebessert werden kann, wenn sich die Angst an irgend etwas heftet. Die hypochondrischen Vorstellungen können darüber hinaus etwas mit Selbstbestrafungstendenzen zu tun haben - das ist aber wohl nur ein akzessorischer Faktor. Hypochondrie entsteht nicht aus einem Wunsch nach Selbstbestrafung. Deutlich wird dies, wenn ein hypochondrischer Patient in eine Situation gerät, in der er sich Vorwürfe macht, etwa den Vorwurf, durch verspätete Einleitung einer ärztlichen Behandlung den Tod eines Angehörigen verschuldet zu haben. Es kommt dann zu einer Exazerbation der hypochondrischen Symptome, die von den Schuldgefühlen ablenken und von ihnen entlasten, indem der Patient sich sagen kann, daß jemand, dem es so schlecht geht, den Anforderungen des täglichen Lebens eben nicht nachkommen kann. Zusätzlich kann der Patient sich dann sagen: »Es geschieht mir recht, daß ich so krank bin. Ich bin eben ein ganz untauglicher Mensch, der sich durch seine Inkompetenz schuldig macht.« Hier handelt es sich um ein Negativ der Einstellung: »Weit
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Sexuelle Appetenzstörungen
ich krank bin, kann man von mir nicht das verlangen, was man von einem Gesunden verlangen könnte«. Neben den erwähnten hypochondrischen Patienten mit relativ stabilem Realitätsbezug, die gleichsam das Organ wechseln, wenn sie von negativen organischen Befunden überzeugt werden, gibt es auch Patienten, die ohne eine solche Überzeugung die Organe »wechseln«. Man muß dann verstärkt an eine Borderline-Struktur denken. Der Wechsel der Organe entspricht hier dem Symptomwechsel bei einer Borderline-Struktur mit einer neurotischen Polysymptomatik. Bei einer Labilität des Ich ohne ausreichend ausgebildete Ich-Funktionen und ohne Struktur, die das Ich von der Außenwelt solide und gleichzeitig elastisch abgrenzt, hängt die Symptomwahl stark von aktuellen inneren Zuständen und äußeren Einflüssen ab. Es wäre zu überlegen, inwieweit eine Hypochondrie in solchen Fällen als symbolische Darstellung des Ich in seinem Entwicklungszustand aufzufassen ist auch im Hinblick auf die Anforderungen, die unsere Gesellschaft an einen Erwachsenen stellt, denen die Patienten aber nicht genügen können. In solchen Fällen hätte die Hypochondrie eine symbolischdemonstrative Komponente. Der Terminus Neurasthenie ist in das ICD-l 0 erneut aufgenommen worden, nachdem er jahrelang aus der diagnostischen Praxis verschwunden war; seine Erscheinungsformen hatte man längst anderen Krankheitsbildern zugeordnet, etwa der Depression. Ich halte die erneute Aufnahme nicht für glücklich, denn es handelt sich im Grunde um eine Sammelbezeichnung für Krankheitsbilder, bei denen der Untersucher nicht weiß, was vorliegt. In solchen Fällen halte ich es für günstiger, keinen diagnostischen Terminus zu verwenden, der den Eindruck erweckt, eine klare Diagnose sei gestellt.
Unstimmigkeiten zwischen den Partnern können eine vorübergehende oder länger andauernde Störung der sexuellen Appetenz bewirken, vor allem, wenn aggressive Impulse unterdrückt werden. Bei längerdauernden Störungen kann eine Psychotherapie zur Unterstützung der Lösung interpersoneller Konflikte angezeigt sein. Eine Minderung der sexuellen Appetenz, die in einer Partnerbeziehung entstanden ist, kann sich generalisieren und zu einer vollständigen Alibidinie führen - dies vor allem dann, wenn man davor zurückschreckt, »fremdzugehen«. Im Vergleich zur sekundären Alibidinie, die auftritt, nachdem zuvor sexuelle Wünsch erlebt worden sind, ist eine primäre Alibidinie als die schwerere Störung aufzufassen, oft breit in der Persönlichkeit verwurzelt und mit gravierenden Charaktersymptomen vergesellschaftet. Sie wird bei Frauen häufiger gefunden als bei Männern, wird von diesen Frauen allerdings oft als unwichtig betrachtet. Frauen mit primärer Alibidinie können einen Koitus mit dem gewünschten Partner zulassen, ohne viel dabei zu empfinden. Oft kommt es allerdings zu einer Dispareunie, also einem schmerzhaften Koitus, weil die Lubrikation ausbleibt. Die gesellschaftliche Einstellung gegenüber der Sexualität von Frauen hat sich geändert. Heute wird mangelndes sexuelles Empfinden häufiger als vor dreißig Jahren als eine Anomalie angesehen, die auch die Eignung zur Partnerschaft einschränkt. Dagegen wurde es in früheren Zeiten sogar von manchen begrüßt, wenn eine Frau kein besonderes Interesse am Geschlechtsverkehr hatte. Männer empfinden Alibidinie bei sich selbst ohne weiteres als Anomalie. Der alibidinöse Mann fühlt sich »nicht wirklich als Mann«, wenn er nicht hilfreiche Rationalisierungen findet, die bis zu Ideologisierungen gesteigert werden können. Männer ohne Libido fürchten oft, homosexuell zu sein, und tatsächlich kann eine Alibidinie - bei Männern wie bei Frauen - manchmal auf die Unterdrückung homosexueller Wünsche bei teilweisem oder vollständigem Fehlen heterosexueller Wünsche zurückgeführt werden. Darüber hinaus können auch Verschmelzungsängste, etwa bei schizoiden Patienten, das Auftreten sexueller Wünsche realen Partnern gegenüber einschränken; sexuelle Phantasien werden dann jedoch meist erlebt. Spannungen in einer Paarbeziehungen (s. dazu das entsprechende Kapitel) führen nicht immer zu einer Minderung des sexuellen Verlangens, vielmehr ist bei vielen Partnern die Sexualität der einzige Bereich, in dem sie sich noch gut verstehen; die Beziehung wird
Sexuelle Appetenzstörungen Schwankungen der sexuellen Appetenz kennt wohl jeder aus eigener Erfahrung. Körperliche und seelische Überlastung können die sexuelle Appetenz mindern. Ist eine Person ständig überlastet, kann eine Psychotherapie sinnvoll sein, um zu klären, weshalb jemand sich überlastet und ob er oder sie an der Motivation, sich zu überlasten, etwas zu ändern bestrebt ist. Manche Überlastung ist unvermeidlich, manche nicht.
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Störungen mit vorwiegend psychischer Symptomatik
Perversionen
durch Geschlechtsverkehr immer wieder stabilisiert. Es kommt auch vor, daß Partner sich im allgemeinen gut verstehen, der sexuelle Bereich bei ihnen aber »eingeschlafen« ist. Findet dieses »Einschlafen« bei beiden Partnern statt, können Ehen viele Jahre lang ohne Sexualität gelebt werden, ohne daß die Partner etwas wesentliches vermissen. Besonders ältere Paare ordnen dann die Sexualität der Vergangenheit zu, einer Zeit, »als wir noch jünger waren«. Das Schwinden der sexuellen Wünsche hängt oft auch mit der Geburt eines Kindes zusammen. Frauen haben dann unter Umständen Schwierigkeiten, die Rolle der Geliebten des Mannes und die der Mutter miteinander zu verbinden. Das ist besonders schwierig, wenn die Frau sich nur auf einen einzigen Menschen emotional einlassen kann (dyadische Fixierung, KÖNIG 1995a). Allerdings kehren die sexuellen Wünsche der Frau meist zurück, wenn das Kind älter wird. Zu einer dyadischen Fixierung kommt es durch ein Steckenbleiben in dyadischen Stufen der Entwicklung; dazu kann das Fehlen einer dritten Person im entsprechenden Entwicklungsstadium beitragen. Dyadisch fixierte Menschen können immer nur eine einzige anwesende Person als wichtig erleben. Nur scheinbar anders verhält es sich, wenn in ihrer Phantasie mehrere Personen zu einer einzigen konfluieren, wie das oft in therapeutischen Gruppen vorkommt, in denen die anderen Gruppenmitglieder zusammen mit dem Therapeuten wie ein einziges Objekt erlebt werden. Mit der Schwangerschaft und der Geburt eines Kindes wird eine Frau Mutter, was beim Mann das Inzesttabu aktivieren kann. Sexualität ist dann verboten oder »gehört sich nicht«. Auch bei Frauen kann das Inzesttabu eine Alibidinie verursachen. Sie haben Schwierigkeiten, mögliche Partner vom Vater zu differenzieren (s. dazu den Abschnitt über Störungen in der Paarbeziehung). Solche Frauen suchen sich häufig Partner, die sich vom Vater sehr stark unterscheiden, etwa aus einer anderen Kultur stammen oder auch anders aussehen als Männer aus dem eigenen Kulturkreis. Wenn der Partner sich stark vom Vater unterscheidet, kann Sexualität ungestörter gelebt werden. Alibidinie kann nicht nur die Folge interpersoneller Spannungen sein, sondern auch deren Ursache. Menschen mit Alibidinie brechen in manchen Fällen Streitigkeiten mit ihren Partnern vom Zaun, so daß sie einen Vorwand dafür haben, keine Sexualität mit ihnen zu leben. Das Verschwinden der sexuellen Wünsche wird auf den Streit zurückgeführt.
Im Unterschied zu den sexuellen Funktionsstörungen bei vorhandenen sexuellen Wünschen, die in der analytisch orientierten Psychotherapie wie auch in der Verhaltens therapie überwiegend eine günstige Prognose haben, sind die psychotherapeutischen Ergebnisse bei einer Alibidinie ungünstiger. Eine primäre Alibidinie erfordert meist einen größeren therapeutischen Aufwand als eine sekundäre. Es gibt jedoch auch Fälle, in denen die sekundäre Alibidinie sich nicht nur auf den aktuellen Partner bezieht, sondern in die Beziehung »mitgebracht« wurde, zum Beispiel eben in Form der Schwierigkeit, in länger dauernden Beziehungen zwischen Vater und nichtverwandtem Partner zu unterscheiden. In diesen Fällen ist auch mit erheblichem therapeutischem Aufwand zu rechnen. Es gibt natürlich Aversionen, die mit den Persönlichkeitseigenschaften des Partners zusammenhängen. Dann ist die sekundäre Alibidinie Ausdruck einer ungeeigneten Partnerwahl. Wenn die Partner noch jung sind und noch keine Kinder haben, kann es Aufgabe der Psychotherapie sein, den Partnern die Trennung zu ermöglichen und mit ihnen größere Klarheit über die bewußten und unbewußten Determinanten ihrer Partnerwahlen zu erarbeiten, damit sie beim nächsten Mal eine bessere Wahl treffen. Sind Kinder vorhanden, wird meist eher versucht zusammenzubleiben. Die Lösung, daß sich jeder der Partner einen anderen Sexualpartner außerhalb der Paarbeziehung sucht, erscheint zwar auf den ersten Blick attraktiv, funktioniert jedoch nur selten, unter anderem, weil der Partner außerhalb der primären Paarbeziehung meist bald weitergehende Ansprüche stellt. Die Lösung, wechselnde Sexualpartner zu suchen, ist im Zeitalter von Aids gefährlich geworden und meist auch nur bis zu einem gewissen Lebensalter zu verwirklichen.
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Perversionen Alle Angaben über die Prävalenz von Perversionen sind mit großer Vorsicht zu betrachten. Diese Angaben stammen entweder aus der therapeutischen Praxis, wobei jedoch offensichtlich ist, daß die Inanspruchnahme-Klientel eines Therapeuten oder einer therapeutischen Institution eine selegierte Population ist, oder aus Felduntersuchungen (z.B. SCHEPANK 1987), in denen ein Großteil der Menschen mit einer Perversion nicht motiviert werden kann, sie dem Untersucher anzugeben.
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Perversionen
Perversionen kommen fast nur bei Männern vor. Eine Perversion bei einer Frau wird im allgemeinen für publikationswürdig gehalten, wenn ein Psychotherapeut auf sie stößt. Es gibt seltene, bizarre, im Grunde aber harmlose Perversionen, wie die Sodomie (sexueller Umgang mit Tieren) und sehr gefährliche Perversionen wie die Pädophilie (sexueller Umgang mit Kindern). Exhibitionismus stellt eine grobe Belästigung dar, die zu Recht bestraft wird. Die Gefahr, die ein Exhibitionist für Frauen und Mädchen darstellt, ist jedoch gering im Verhältnis zu der Gefahr, die ein Pädophiler für Kinder darstellt. Sadismus und Masochismus (s. dazu den entsprechenden Abschnitt) scheinen verbreitet zu sein, wie man aus dem großem Umfang der entsprechenden pornographischen Literatur erschließen kann, die anscheinend ihre Leser findet. Dabei ist allerdings zu bedenken, daß Menschen mit einer Perversion oft wenig Gelegenheit haben, sie auszuleben. Vermutlich behelfen sie sich häufiger als andere mit Masturbation unter Zuhilfenahme pornographischer Texte und Bilder. Sadismus als sexuelle Perversion scheint bei Frauen selten zu sein. Anders, als man vielleicht annehmen könnte, ist bei ihnen offenbar auch der Masochismus selten; häufig leiden Frauen jedoch an moralischem Masochismus (s. dazu den Abschnitt zu Sadismus und Masochismus). Abweichendes sexuelles Handeln wird von Frauen häufig in einer verdeckten Form ausgelebt. Das gilt zum Beispiel für den sexuellen Mißbrauch der eigenen Kinder. Manche Mütter baden ihre vierzehn- oder sechzehnjährigen Söhne noch und drücken ihnen die Mitesser am Rücken aus. Ein solches Verhalten kann unter Ausblendung seiner sexuellen Komponente als Pflegeverhalten rationalisiert werden. Die Entstehung der Perversionen halte ich für ungeklärt. Es gibt zahlreiche Hypothesen und nur wenige Anhaltspunkte, die geeignet sind, eine Hypothese für angemessener zu halten als andere. Möglicherweise gibt es verschiedene Entstehungsweisen. Mir leuchtet noch am meisten ein, daß eine sadistische oder masochistische Perversion entstehen kann, wenn die intensivsten Beziehungen zwischen Eltern und Kindern etwas damit zu tun hatten, daß den Kindern Schmerzen zugefügt wurden, wenn beispielsweise ein Vater oder eine Mutter das Kind in der Wut zu schlagen pflegten, sich ansonsten aber wenig um das Kind kümmerten. Für die Validität dieser Hypothese könnten Erfahrungen in der Gruppentherapie sprechen; hier genügt es nämlich in leichteren Fällen, daß dem Patienten andere Beziehungsformen vorgeführt werden, damit er sie ausprobiert und übernimmt.
Beim Transvestitismus wird aus dem Anlegen von Kleidern des Gegengeschlechts ein Lustgewinn gezogen. Er scheint dem Fetischismus, der wohl harmlosesten Perversion, verwandt zu sein, bei der die sexuelle Erregung an bestimmte auslösende Gegenstände gekoppelt ist, oft an Schuhe, Lederartikel oder Gummigegenstände. Um das zu erklären, hat man komplizierte Theorien entwickelt. Wahrscheinlich handelt es sich um das Ergebnis einer Entwicklungsstörung, in deren Rahmen frühe Koppelungen sexueller Erregung an Körperteile oder Qegenstände persistieren. Bei der Transsexualität ist die Geschlechtsidentität gestört. Körperliche Korrelate konnte man bisher nicht finden. Operative Geschlechtsumwandlungen werden von den Betroffenen mit großer Hartnäckigkeit angestrebt, die Ergebnisse sind aber oft zweifelhaft. Die Geschlechtsumwandlung vom Mann zur Frau ist leichter möglich als die Geschlechtsumwandlung von der Frau zum Mann, da chirurgisch kein funktionsfähiger Penis hergestellt werden kann. Es gibt auch Pseudo-Transsexuelle, die sich von einer Geschlechtsumwandlung die Lösung von Problemen versprechen, für die sie irrtümlich eine Diskrepanz zwischen dem anatomischen und dem psychischen Geschlecht anschuldigen. Solche Kandidaten und Kandidatinnen für eine Geschlechtsumwandlung erinnern an psychisch Kranke, die sich von einem Berufswechsel oder von einem Wechsel des Partners eine Besserung versprechen, die dann meist nicht eintritt. Möglicherweise gibt es auch eine gewisse Zahl von Menschen mit einer sogenannten Identitätsdiffusion (s. dazu den Abschnitt zu den Borderline-Störungen), die ihre Geschlechtsidentität als pars pro toto nehmen und deshalb über eine Geschlechtsumwandlung ein Identitätsgefühl zu erlangen hoffen. Es gibt jedoch auch Transsexuelle, die mit den Ergebnissen der operativen Geschlechtsumwandlung zufrieden sind und danach besser leben als vorher. Einleuchtende psychodynamische Hypothesen, die eine Indikation zur Geschlechtsumwandlung bei genuinen Transsexuellen klären helfen könnten, sind noch nicht entwickelt worden. Gerade die psychodynarnische Unauflösbarkeit des Motivationszusammenhangs scheint ein Merkmal der genuin Transsexuellen zu selll. Die therapeutischen Erfolge bei ausgeprägten Perversionen sind schlecht. Dagegen gehen leichte Perversionen in der Therapie oft zurück, auch wenn der Patient nie über sie gesprochen hat. Hier wird der Perversion die Basis entzogen, die etwa darin besteht, daß eine sado-
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masochistische Beziehungsform dem Patienten als die einzig mögliche erscheint; neue Beziehungsmöglichkeiten werden entdeckt, erlernt und genutzt. Bei Patienten mit einer Perversion scheint, wie schon erwähnt, eine Gruppentherapie günstig zu sein, weil ihnen dort verschiedene Beziehungsmöglichkeiten vorgelebt werden, die Alternativen darstellen können. In der intimen Situation der Gruppe können sie sich mit diesen Alternativen vertraut machen.
Anmerkungen zur Homosexualität Die Homosexualität von Männem und Frauen wird heute vielfach nicht mehr als Störung angesehen. Weder im ICD-lO noch im DSMIIIIR ist sie als Störung aufgeführt. Offensichtlich gibt es eine Neigung zur Homosexualität, die auf genetische oder pränatale Faktoren zurückzuführen ist, und eine Nothomosexualität, die auftritt, wenn Menschen keinen Zugang zu gegengeschlechtlichen Partnern haben, wie das etwa in Gefängnissen der Fall ist. Es gibt vermutlich auch eine Vermeidungshomosexualität, beispielsweise wenn ein Mann Angst vor Frauen hat und deshalb den sexuellen Umgang mit Männem vorzieht; wahrscheinlich gilt entsprechendes für Frauen. Anscheinend gibt es zwischen Homosexualität und Heterosexualität ein Kontinuum. Bisexualität wird oft als Vorteil phantasiert. Bei den bisexuellen Männern und Frauen, mit denen ich sprechen konnte, hatte ich jedoch den Eindruck, daß sie weder ihre Homo- noch ihre Heterosexualität intensiv leben konnten. Es handelte sich um Männer und Frauen aus einer Psychotherapie-Inanspruchnahmeklientel, also um keine repräsentative Stichprobe. Psychoanalytiker sehen es heute im allgemeinen nicht mehr als ihre Aufgabe an, homosexuelle Männer und Frauen »umzupolen«. Anders liegt der Fall, wenn ein Patient das Gefühl hat, noch nicht die richtige Orientierung gefunden zu haben, und darunter leidet. Im Verlauf einer Psychotherapie kann sich dann herausstellen, ob die gelebte Orientierung richtig war oder nicht. Heterosexualität kann ebenso unterdrückt werden wie Homosexualität, wenngleich die sozialen Verhältnisse eher das Unterdrücken der Homosexualität begünstigen. In der Inanspruchnahmeklientel heterosexueller Therapeuten sind männliche homosexuelle Patienten in der Regel unterrepräsentiert, dagegen kommen homosexuelle Frauen eher in einer Anzahl in Therapie, die ihrem Anteil in der Bevölkerung entsprechen dülfte.
Sadismus und Masochismus
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Sadismus und Masochismus Beim Masochismus als Perversion werden körperlicher oder seelischer Schmerz (etwa Demütigungen) in gewisser Weise genossen. Davon abzuheben ist der sogenannte moralische Masochismus, der häufig im Zusammenhang mit der Depression gesehen wird. Es gibt Scheinformen des Masochismus. Hat jemand unter einem Objekt gelitten, das er gleichzeitig lebensnotwendig brauchte, und war er mit diesem Objekt sehr vertraut, so daß er mit ihm besser umgehen konnte als mit anderen Menschen, kann es vorkommen, daß er per projektiver Identifizierung versucht, ein Objekt mit den Eigenschaften jenes Objekts zu aktualisieren, unter dem er gelitten hat. Man hat wohl bisher die große motivierende Bedeutung der Suche nach Vertrautheit, nach Familiarität unterschätzt. Familiarität liefert ein Heimat- oder Geborgenheitsgefühl (KÖNIG 1982, 1992, 1993) und bringt Sicherheit (SANDLER 1960), die phantasiert oder real sein kann, letzteres dann, wenn die Fähigkeit, mit den »bösen« Objekten umzugehen, besser entwickelt ist als die Kompetenz, mit guten oder »gemischten« Objekten umzugehen. Jemand, der aus entsprechenden Motiven ein Objekt aufsucht, unter dem er leidet, wird häufig als masochistisch angesehen. Ich habe auf diesen Sachverhalt immer wieder hingewiesen; SANDLER (1992) hat praktisch die gleiche Annahmen vertreten. Es gibt auch den Fall, daß jemand Objekte aufsucht, unter denen er leidet, und Lebensarrangements trifft, die das ermöglichen, ohne daß der Wunsch, Vertrautes wiederzufinden, eine Rolle spielt. Das Leiden, das dieser Mensch sich bereitet, kann die Funktion haben, das Gewissen zu beruhigen, indem es eine Strafe darstellt. Der Betreffende empfindet dann anders als der Depressive keine Schuldgefühle. Davon zu unterscheiden sind verdrängte Schuldgefühle, die vor allem bei Menschen mit einem extrem archaischen Über-Ich vorkommen - dies muß gleichsam abgekapselt werden, damit der Betreffende sich aushalten kann. Der psychische Masochismus wird vom Masochismus als Perversion unterschieden. Faktisch sind die Grenzen jedoch nicht scharf. Man kann nämlich beobachten, daß Menschen mit einer masochistischen Perversion Lebenssituationen konstellieren, in denen man gewissermaßen auf sie einschlägt. Sie delegieren die Bestrafung. Rein phänomenologisch wird man das als eine Fonn des psychischen Ma-
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sochismus auffassen können. Praktizieren diese Menschen dann im Rahmen sadomasochistischer ritualisierter Interaktionen Masochismus als Perversion, nimmt die Tendenz, solche Lebenssituationen zu konstellieren, ab oder verschwindet ganz - es sei denn, sie ist auch durch einen Wunsch nach Familiarität motiviert und bleibt aus diesem Grund erhalten. Der sogenannte moralische Masochismus kann auch das Agieren einer Perversion im engeren Sinne sein, wobei seelisches Gequältwerden das körperliche ersetzt. Die negative therapeutische Reaktion ist ein Problem der Behandlungstechnik. Ich weise hier nur darauf hin, daß sie einem Strafbedürfnis entsprechen kann, aber nicht muß. Ausführlicher bin ich auf dies Problem in meinem Buch »Praxis der Psychoanalytischen Therapie« (KÖNIG 1991) eingegangen. Der Sadismus ist das Negativ des Masochismus. Untersucht man einen Patienten mit einer sadistischen oder masochistischen Perversion genauer, trifft man meist auf beides, doch steht eines im Vordergrund. Wer gequält werden möchte, will auch quälen - und umgekehrt -, und er tut es oft, ohne es bewußt zu intendieren. Wie es einen moralischen Masochismus gibt, gibt es auch einen moralischen Sadismus, der häufig als legitimer Bestrafungsakt verkleidet wird. Es werden viele Erklärungsmuster zur Entstehung diskutiert, darunter eine Einschränkung intensiver elterlicher Zuwendung auf Bestrafungsakte, wobei das Kind sich dann entweder mit den Eltern identifiziert (sadistische Position) oder in der Rolle des geschlagenen Kindes bleibt. ANNA F'REUD (1922) hat eine berühmte Arbeit über Schlagephantasien geschrieben, die ich zum Nachlesen empfehle, auch wenn sie sicher nur einen Teil der masochistischen Phantasien im Kindesalter erfassen und erhellen dürfte. Ähnliches gilt für die Theorie MORGENTHALERS der »Perversion als Plombe« (MORGENTHALER 1984). Patienten mit Perversionen kommen selten in Therapie; sie entwikkeIn häufig keinen Leidensdruck. Die Therapie unter dem Druck einer gerichtlichen Auflage hat meist wenig Aussicht auf Erfolg. So sammeln Therapeuten auch wenig Erfahrungen im Umgang mit solchen Patienten. Eine Spezialklinik mit großem Einzugsgebiet, die Portman-Poliklinik in London, lange von dem bekannten Psychoanalytiker ADAM LIMENTANI geleitet, berichtet über Erfolge (EsTELLA WELLDON 1992), wobei Gruppentherapie eingesetzt wird.
Störungen in der Paarbeziehung
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Exhibitionismus Exhibitionisten lauern Frauen und Mädchen auf und zeigen ihnen ihr nacktes Genitale, meist mit erigiertem Penis. Oft masturbieren sie beim Exhibieren oder kurz danach. Es befriedigt den Exhibitionisten, die Frau mit seinem Genitale zu beeindrucken oder zu erschecken. Diese Befriedigung verweist auf eine sadistische Komponente dieser Form des Exhibitionismus. Daß Frauen ihr Genitale zeigen, wenn Männer zusehen, die damit nicht von vornherein einverstanden sind, kommt in unserer Kultur in dieser Form nicht vor. In manchen anderen Kulturen zeigen Frauen Männern ihr nacktes Genitale, um sie zu beleidigen. Exhibieren der verdeckten primären und der bedeckten oder entblößten sekundären Geschlechtsmerkmale kommt in unserer Kultur bei Frauen und Männern vor, ist bei Frauen aber weiter verbreitet und soll anziehend wirken. Allerdings reagieren manche männlichen Theaterbesucher aversiv, wenn nackte Frauen in einem Theaterstück auftreten, in dem das nicht zu erwarten war. Striptease-Vorführungen dagegen werden von Männern aufgesucht, weil sie nackte Frauen sehen wollen. Neuerdings gibt es auch Striptease-Vorführungen für Frauen. Es scheint eine wesentliche Rolle zu spielen, ob Zuschauer vorbereitet und einverstanden sind. Sind sie das nicht, wirkt das Zeigen des nackten Genitale als Provokation. Gesellschaftlich ist bei Frauen in den westlichen Industrieländern das Exhibieren der sekundären Geschlechtsmerkmale akzeptiert, während Männer sich dadurch leicht lächerlich machen. Es gilt auch nicht als anstößig, daß Frauen bei gesellschaftlichen Anlässen mehr von ihrem Körper zeigen als Männer.
Störungen in der Paarbeziehung Die Diskussionen um das Single-Dasein (vgl. JAEGGI 1992) nehmen zu und werden von den Medien aufgegriffen. Dabei vermischt sich eine bedauernde Haltung gegenüber Alleingebliebenen oder AlleinZurückgelassenen mit Neid auf die materiellen Vorteile und die Freiräume eines Lebens als Mensch ohne Paarbeziehung. Solange diese Freiräume genutzt werden können - was jedoch in
Stärungen mit vorwiegend psychischer Symptomatik
Störungen in der Paarbeziehung
vielem nur jungen Leuten möglich ist (Partnerwechsel, ungebundene Fernreisen) -, scheinen für viele Singles tatsächlich die Vorteile zu überwiegen. Mit einem gewissen Recht wird heute den früher anpassungswilligen Frauen empfohlen, Freiräume in Beziehungen zu nutzen (»Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse überall hin«, EHRHARDT 1994), während im vorigen Jahrhundert bis weit in unser Jahrhundert hinein die Freiräume des Mannes bedeutend größer waren und wohl oft auch genutzt wurden. Wenn Frauen ihre Freiräume nutzen, kann das natürlich dazu führen, daß Männern eine Partnerschaft, in der sie auf die Wünsche und Bedürfnisse der Partnerin Rücksicht nehmen sollen, wenig attraktiv erscheint. Sind erst einmal Kinder da, sind die Freiräume der Frau, heute zunehmend auch des Mannes, weiter eingeschränkt. Der Wunsch nach Freiheit ist in der Regel um so größer, je geringer die kreativen Möglichkeiten in einer beruflichen Tätigkeit sind; das gilt für die außer Haus Berufstätigen ebenso wie für die Hausarbeit, bei der ein großes Angebot an Hilfsmitteln die Arbeit erleichtert, aber auch eintöniger macht. Als eines der Motive, keine Dauerpartnerschaft einzugehen oder zumindest nicht den Alltag miteinander zu teilen, wird oft Angst vor Nähe genannt. Dabei wird häufig an Verschmelzungsängste gedacht, wie sie bei der schizoiden Persönlichkeitsstruktur auftreten. Tatsächlich leiden Menschen, die Nähe vermeiden, oft unter ihren latenten oder nur undeutlich bewußten Verschmelzungswünschen beziehungsweise unter der Angst vor den Gefahren, die mit solchen Wünschen verbunden sind. Diese Menschen können keine feste Grenze zwischen Ich und Du aufrichten und erleben beispielsweise auch das Leid anderer mit, als wäre es ihr eigenes. Nähe kann aber vieles bedeuten. Depressive Menschen haben oft Angst, durch andere »aufgefressen« zu werden. Sie projizieren ihre eigenen gierigen, aggressiven oralen Wünsche und erleben den anderen als anspruchsvoll, fordernd und aussaugend. Weil sie darüber hinaus andere Menschen für wichtiger halten als sich selbst, können sie sich oft vor dem imaginierten oder tatsächlichen Ausgenutztwerden nicht schützen. Sie fürchten, eine Beziehung könnte zerstört werden, wenn sie sich bezüglich der Bedürfnisse des anderen abgrenzen. Jedoch wirft der Depressive dem Partner oft vor, daß er den Depressiven aussauge. Das führt oft zu Spannungen in der Beziehung. Der Partner oder die Partnerin fühlt sich dann ungerecht behandelt. Der Depressive beurteilt darüber hinaus die eigene Leistung für den
anderen nicht nach deren Auswirkungen, sondern nach der Anstrengung, die sie von ihm verlangt. Da er sich häufig sehr anstrengt, hat er auch das Gefühl, viel für den Partner getan zu haben, unabhängig davon, ob das für den Partner effektiv war oder nicht. Depressive können nicht ohne nahe Beziehungen sein und haben Angst, andernfalls emotional zu »verhungern«. Deshalb möchten sie bestehende Beziehungen nicht gefährden. Gerade ihr anklammerndes Verhalten führt jedoch häufig zum Abbruch von Beziehungen durch andere. Narzißtische Menschen haben weniger Angst vor Beziehungen als schizoide und depressive Menschen. Das hängt damit zusammen, daß sie ihre Mitmenschen funktionalisieren, was ihnen oft sehr gut gelingt, weil sie es ihr Leben lang geübt haben. Jedoch sind sie von Beziehungen abhängig, denn sie brauchen den anderen als Bewunderer oder als jemanden, den sie gleichsam in ihre Selbstrepräsentanz integrieren können und der Funktionen für sie übernimmt, wie ein inneres Organ oder eine Gliedmaße. Den Verlust einer Beziehung können sie als so gravierend empfinden wie den Verlust eines Körperteils. Menschen, die Bewunderung und Anerkennung wünschen, brauchen diese oft von mehreren Personen, so daß ein Partner oder eine Partnerin nicht ausreichen (vgl. den Abschnitt zur narzißtischen Struktur). Davon zu unterscheiden ist ein normales, aber nicht erfülltes Bedürfnis nach Anerkennung. So wird ein Mann, der den größten Teil des Tages beruflich eingespannt ist und nur wenig Zeit mit seiner Familie verbringt, vielleicht auch ganz normale Wünsche seiner Partnerin nach Anerkennung und Bewunderung kaum erfüllen. Zwanghafte Menschen können sich Beziehungen auf gleicher Ebene nicht vorstellen, sondern meinen, es müsse immer einer »oben« und einer »unten« sein. Sie fürchten Beziehungen, weil es in einer Beziehung dazu kommen könnte, daß sie »unten« sind. Zu Kompromissen sind sie im täglichen Umgang wenig geneigt. Der anderen soll sich nach ihren Vorstellungen richten. Oft werden sozial unterlegene Partner oder Partnerinnen gewählt. Scheinbar paradoxerweise wird diesen dann häufig der Vorwurf gemacht, uninteressant zu sein und nicht genug Widerpart zu bieten. Dem Zwanghaften fehlt dann die Möglichkeit, sich zu bewähren und zu siegen, so daß er eindeutig »oben« ist. Beziehungen mit häufigen Auseinandersetzungen zwischen zwei Menschen, die beide dominieren möchten, sind aber wenig stabil, weil sich die Partner im Streit erschöpfen.
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. Störungen mit vorwiegend psychischer Symptomatik
Störungen in der Paarbeziehung
Keiner kann akzeptieren, daß der andere stärker ist. Nur wenn der Stärkere sehr viel Macht, Einfluß und Geltung erwirbt, kann es schließlich doch dazu kommen, daß der Partner es befriedigend findet, sich in eine dienende Rolle zu begeben und dadurch den prominenten Partner zu fördern. Phobische Menschen brauchen den Partner als steuerndes Objekt (KÖNIG 1981), das sie vor eigenen Willkürimpulsen schützt. Empfinden sie die Abhängigkeit von ihrer Schutzperson als zu stark, rebellieren sie. Sie haben große Angst, der Partner oder die Partnerin könnte sich anderen Menschen zuwenden. Das würde sie der Funktionen des Partners berauben, die für sie zentral wichtig sind. Manche Frauen mit einer phobischen Persönlichkeitsstruktur wünschen sich unbedingt ein Kind, das sie als Alleinerziehende aufziehen möchten. Kinder sind ja auf die Mutter lange Zeit angewiesen und ihr insofern sicher. Bei Menschen mit einer sogenannten hysterischen Struktur sind die ödipalen Konflikte aktiv und bestimmend geblieben. Für eine Frau bedeutet dann die Beziehung zu einem Mann etwas ähnliches wie eine Beziehung zum Vater. Wegen des Inzesttabus darf die Beziehung keine sexuelle sein, oder die Frau darf keine sexuellen Empfindungen erleben, wenn es zum Koitus kommt. Es besteht oder entsteht eine Alibidinie oder zumindest eine Anorgasmie, vor allem dann, wenn die Partner in eine gemeinsame Wohnung ziehen. Dann werden der Mann oder die Frau in der Wohnung wie der Vater oder die Mutter wahrgenommen, denn »Mann und Frau in derselben Wohnung« war ein Merkmal der Eltern. Beim Mann kommt es meist zu sexuellen Funktionsstörungen oder auch zu einer Alibidinie. Viele hysterische Menschen lassen keine Dauerbeziehung entstehen. Es kann ihnen genügen, wenn andere sie in ihren Geschlechtseigenschaften bewundern. Gerade diese Bewunderung nimmt aber meist ab, wenn man den Alltag miteinander teilt und die erste Verliebtheit vorbei ist. Auch bei hysterischen Menschen spielt es eine große Rolle, wer »oben« und wer »unten« ist, allerdings aus anderen Gründen als bei zwanghaften Menschen. Frauen mit einer phallisch orientierten Persönlichkeitsstruktur sind stärker mit dem Vater identifiziert als mit der Mutter. Sie möchten sein wie der Vater, der in der Beziehung zu ihnen »oben« war. Ähnlich möchten sie Männern gegenüber »oben« sein, weshalb sie oft sehr weiche oder jungenhaft wirkende Männer wählen, die, wenn schon nicht wie eine Tochter, so doch wie ein Sohn wirken.
Andererseits möchten sie die Beziehung zum Vater, in der sie »unten« waren, auch wiederholen. Eigentlich bräuchten solche Frauen zwei Männer. Die Beziehung zu einem Mann, in der sie »unten« sind, müßte asexuell sein, die Beziehung zu einem Mann, dem gegenüber sie »oben« sind, kann sexueller Natur sein. Scheinbar paradoxerweise werfen sie dem Mann, der »unten« ist, dies dann aber häufig vor, was zu Paarkonflikten führt (s. auch KÖNIG u. KREISCHE 1991, KöNIG 1991, 1992).
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Menschen mit einer Borderline-Struktur haben in Beziehungen große Schwierigkeiten. Oft bleiben sie allein, oder die Beziehungen halten nur ganz kurze Zeit. Der Partner wird entweder idealisiert oder verteufelt, oft abwechselnd. Meist sind mehrere Ich-Funktionen von einer Entwicklungsstörung betroffen, zum Beispiel Affekttoleranz, Frustrationstoleranz und Impulskontrolle. Manche dieser Menschen gebrauchen Suchtmittel, um Gefühle zu dämpfen, die sie nicht aushalten können, und sich von äußeren Reizen abzuschirmen, die unangenehme Gefühle erzeugen können. Der eigene Reizschutz ist oft mangelhaft ausgebildet. Wenn Menschen mit einer Borderline-Struktur im Beruf Schwierigkeiten bekommen oder ganz scheitern, wirkt sich das auf die Paarbeziehung ungünstig aus. Seit FREUD (1914, S. l54ff) unterscheidet man zwei Typen der Partnerwahl: die Wahl vorn Anlehnungstyp und die nach dem Ähnlichkeitsprinzip. Partnerschaften, die auf der Grundlage des Ähnlichkeitsprinzips zustande gekommen sind, werden oft als langweilig empfunden. Partnerschaften vorn Anlehnungstyp sind oft voller Spannungen. In einer Kollusion findet man eine Ähnlichkeit in den zentralen Beziehungswünschen (s. a. KÖNIG 1988, 1992), aber eine Asymmetrie insofern, daß der eine Partner die progressive, der andere die regressive Position einnimmt, oder, anders ausgedrückt, die Elternbeziehungsweise die Kind-Position (nach KÖNIG u. KREISCHE 1991). Es gibt auch Kind-Kind-Kollusionen; es besteht dann eine Abhängigkeit von Elternobjekten. Das ist oft bei Menschen der Fall, die sich in einem Krankenhaus, Kurheim oder ähnlichem kennenlernen. ElternEltern-Kollusionen bleiben nur dann stabil, wenn das Paar Kinder im eigentlichen oder im übertragenen Sinn hat. Hat ein Paar keine »Kinder« außerhalb der eigenen Familie (das können etwa Klienten oder Patienten sein), und gehen die eigenen Kinder aus dem Haus, wird die Beziehung instabil. Manchmal wird die Beziehung dadurch stabi-
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Störungen mit vorwiegend psychischer Symptomatik
Substanzmißbrauch
lisiert, daß einer der Partner die Kind-Rolle ubernimrnt, etwa wenn er krank und pflegebedürftig wird. Besonders problembehaftet sind die gekreuzten Kollusionen. Die Partner haben ein gemeinsames Problem, zum Beispiel den Umgang mit eigener innerer, zurückgehaltener Willkür oder mit der Willkür anderer, etwa des Partners. Ein Partner, der auslebt, was der andere unterdrückt, ermöglicht es diesem, die eigenen abgewehrten Impulse bei dem Partner zu genießen. Natürlich gelingt das nur in Grenzen. Verläuft die Entwicklung günstig, begrenzt der Willkürliche seine Willkür, wenn er merkt, daß er den Partner damit nicht mehr fasziniert, sondern zunehmend belastet, und der Partner wird gegenüber eigener und fremder Willkür etwas toleranter, die Partner nähern sich also einander an. Die Partner einer gekreuzten Kollusion können sich aber auch auseinanderentwickeln, wenn beispielsweise der Willkürliche immer willkürlicher wird und der Partner immer stä.rker versucht, diese Willkür zu kontrollieren, wogegen wiederum der willkürliche Partner mit zunehmender Willkür rebelliert. Solche Entwicklungen sind häufig. Oft kommt es zur Trennung, wenn nicht rechtzeitig beratende oder therapeutische Hilfe gesucht und gefunden wird. Am wichtigsten im Umgang mit Partnerschaftskonflikten ist, sie rechtzeitig ernstzunehmen. Sicherlich lösen sich manche Konflikte von selbst, wenn sich die Partner erst einmal »zusammengerauft« haben. Leider geschieht das aber nicht immer.
Wahrscheinlich ließe sich der Alkoholmißbrauch am leichtesten bekämpfen, wenn es gelänge, die initialen psychischen und sozialen Ursachen zu beeinflussen. Wer Alkohol nicht mäßig trinken kann, sollte am besten ganz darauf verzichten. Das Behandlungsziel, kontrolliert trinken zu lernen, ist meist illusorisch. Patienten mit einer Borderline-Struktur können häufig keine prägnanten Gefühle erleben. Prägnante negative Gefühle enthalten aber eine spezifische Handlungsaufforderung, etwas zu tun, um sie zu beenden (zum Beispiel: »Kämpfe« oder »Fliehe«). Kann man derartige Gefühle nicht klar wahrnehmen, so fehlt diese Handlungsanleitung, und die Gefühle persistieren. Mit einem Suchtmittel können sie gedämpft werden. Ein Suchtmittel kann auch als Reizschutz dienen, so daß unangenehme Emotionen gar nicht erst entstehen. Diese spezielle Entwicklungsstörung des Ich kann durch besondere, auf sie abgestimmte Verfahren, etwa durch die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie nach HEIGL-EvERS und HEIGL (vgl. HEIGL-EvERS und OTT 1994) behandelt werden. Anderen Alkoholkranken wird am besten durch ein Bearbeiten ihrer Konflikte geholfen. Bei Angstkranken liegt oft eine Ich-Schwäche vor, die es ihnen unmöglich macht, mit den Konflikten umzugehen. Können sie die Konflikte jedoch in einer geschützten Situation, etwa in einer Therapie, erleben, können sie auch lernen, mit ihnen umzugehen. Depressive Verstimmungen kann man in der Regel nicht durch die Arbeit an den leh-Funktionen allein beeinflussen, vielmehr müssen auch die zugrundeliegenden Konflikte bearbeitet werden. Soziale Phobien, bei denen Angst im Umgang mit Menschen auftritt, scheinen bei der Entstehung des Alkoholmißbrauchs eine herausragende Rolle zu spielen. Viele Menschen mit einer sozialen Phobie »trinken sich Mut an« und fühlen sich dann im Umgang mit anderen lockerer. Oft bringen erst Schwierigkeiten in der Familie und im BerufAlkoholkranke dazu, Hilfe zu suchen. Nicht selten ist es zur Bewältigung der beruflichen Schwierigkeiten dann schon zu spät. Schwierigkeiten in der Familie werden von Alkoholkranken oft lange Zeit geleugnet; an diesem Leugnen haben die Angehören nicht selten einen großen Anteil. Wiewohl es viele Menschen gibt, die Alkohol kontrolliert trinken, ist die Zahl der Menschen, die zu viel trinken, doch erheblich. Mehrere zum Tode führende Krankheiten werden durch Alkohol gefördert oder verursacht, darunter die Leberzirrhose. Die Gefahr einer Leberschädigung besteht, wenn ein Mann täglich mehr als 50 g, eine Frau
S ubstanzmißbrauch In den alten Bundesländern sterben jährlich 20.000 Menschen an den Folgen des Alkoholabusus (in den neuen Bundesländern dürften die Verhältnisse ähnlich sein). Das sind zehnmal so viele letale Ausgänge wie im Bereich des Gebrauchs illegaler Drogen. Der Beginn eines Alkoholabusus hat oft den Charakter einer Selbstmedikation. Angst oder Depression werden mit der anxiolytisehen und euphorisierenden Wirkung des Alkohols »therapiert«. Nicht nur Angst oder Depression als Symptome psychogener oder endogener Krankheiten, sondern auch eine reaktive Depression oder eine reale Angst, etwa vor Verlust des Arbeitsplatzes, können zu erhöhtem Alkoholgebrauch führen.
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Störungen mit vorwiegend psychischer Symptomatik
Substanzmißbrauch
täglich mehr als 20 g Alkohol zu sich nimmt. Die Arteriosklerose, aber auch Krebs, wird durch Alkohol gefördert. Da Alkohol pro Gramm 7 Kilokalorien enthält, kann er auch zu Übergewicht füh- ren, zumindest zu Beginn des Alkoholmißbrauchs. In fortgeschrittenen Stadien ist der Appetit oft reduziert, so daß die Patienten abnehmen. Illegale, sogenannte »harte« Drogen können in der Regel nicht kontrolliert gebraucht werden, deshalb ist schon ein Probieren gefährlich. Über die Gefährdung durch Haschisch oder Marihuana als Einstiegsdroge gibt es zur Zeit noch heftige Diskussionen. Ich meine, daß sie in manchen Fällen, jedoch nicht immer, als Einstiegsdroge wirken. Häufig übersehen wird, daß sie auch als Einstiegsdroge für Alkohol wirken können. Bei den sogenannten »harten« Drogen wie Heroin und Kokain sind die sozialen Schäden zu einem großen Teil auf die Beschaffungskriminalität zurückzuführen. Deshalb wird versucht, mit der Gabe nicht euphorisierender Ersatzdrogen die Beschaffungskriminalität zu vermindern. Die Arbeit mit Heroin- oder Kokain-Abhängigen ist ein Spezialgebiet der Psychotherapie und der Psychiatrie. Der interessierte Leser sei auf die Spezialliteratur verwiesen. Eine Form des Substanzmißbrauchs, die ähnlich verbreitet ist wie der Mißbrauch von Alkohol, ist der Medikamentenmißbrauch. Oft beginnt er mit einer Verschreibung, häufig jedoch auch mit der Einnahme rezeptfreier Mittel. Menschen, die Medikamente mißbrauchen, versuchen, ähnlich wie oben für den Alkoholgebrauch beschrieben, auf dem Wege der Selbstmedikation bestimmte Symptome zu mindern, also etwa Schmerzen zu dämpfen oder Ängste zu vermindern. Der Schmerzmittelgebrauch dient nicht nur der Schmerzdämpfung, sondern auch der »Therapie« unangenehmer, körperlich empfundener diffuser Emotionen, da neben den Opiaten auch viele andere Schmerzmittel einen direkten Einfluß auf die Stimmung haben. Es gibt Störungen, für die das »richtige« Medikament noch nicht entwickelt wurde. Patienten hoffen dann oft, durch die Erhöhung der Dosis eines anderen Medikaments die angestrebte Wirkung zu erzielen. Es gibt auch Medikamente, die mit der Zeit ihre Wirkung verlieren und deshalb immer höher dosiert werden. Zum Medikamentenmißbrauch disponieren Schmerzmittel in besonderem Maße. Es gibt Schmerzzustände (s. dazu den entsprechenden Abschnitt) als Konversionssymptom oder als Ausdruck einer Entwicklungsstörung des Ich, bei denen es den Patienten nicht mög-
lich ist, zwischen körperlichem und seelischem Schmerz zu unterscheiden. Anxiolytika werden bei Angstzuständen genommen, für die sie auch entwickelt wurden. Ihr Suchtpotential ist jedoch groß, wenn sie länger als drei Wochen gegeben werden, sie eigenen sich deshalb nicht zur Dauermedikation. Besonders bei Angstkrankheiten sind Antidepressiva besser geeignet. Bei Neuroleptika ist das Suchtpotential geringer als bei den Analytikern, allerdings auch ihre Wirkung bei Angstzuständen. Wird die Dosis wegen zu geringer Wirkung gesteigert, kann es zu extrapyramidalen Symptomen kommen. Es gibt Ärzte, die aus falsch verstandener Gefälligkeit zu viele Medikamente verschreiben. Andere können es nicht ertragen, Patienten mit psychogenen Krankheiten nicht helfen zu können. Sie verschreiben dann Medikamente, um überhaupt etwas getan zu haben. Die Medikamente helfen jedoch oft nur wenig. Die Patienten verschaffen sich zusätzliche Medikamente, wenn die vom Arzt verschriebene Dosis nicht mehr ausreicht oder wenn dieser die Medikation wegen der Gefahr der Gewöhnung oder Abhängigkeit beendet. Man kann sagen, daß eine unzureichende Ausbildung der Ärzte im Erkennen und fachgerechten Behandeln psychischer Krankheiten bei ihren Patienten suchtfördernd wirkt. Wird das Medikament bei Medikamentenabusus abgesetzt, kommt es oft zu schweren Entzugserscheinungen~ Das gilt besonders für Anxiolytika. Ein Entzug ist meist nur stationär möglich. In seinen Anfängen ist Substanzmißbrauch durch Psychotherapie allein beeinflußbar, wenn der Psychotherapeut sich auf die besondere Situation des Suchtkranken einstellt (BILITZA 1993, WURMSER, in Vorb.). Ist der Substanzmißbrauch schon weit fortgeschritten, muß die Psychotherapie mit sozialpsychiatrischen Maßnahmen kombiniert werden. Patienten mit Substanzabusus kommen in manchen Fällen zum Psychotherapeuten, um Depressionen, Angstzustände oder ähnliches behandeln zu lassen. Sie spielen ihren Substanzmißbrauch eher herunter, bei manchen ist er völlig ich-synton. Das gilt besonders für den Alkoholabusus.
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Konzepte
Störungen mit vorwiegend körperlicher Symptomatik
Konzepte FREUD nahm zwei Entstehungsmöglichkeiten für körperliche Symptome an: die Konversion (1895a) und die Bildung »toxischer Stoffe« bei Sexualabstinenz (z.B. 1895b, S. 333-339). Die »toxischen Stoffe« erzeugten nach FREUD Angst, die von vegetativen Symptomen begleitet war. Die Psychoanalyse konnte über einen Umweg wirksam werden. Beruhte die Sexualabstinenz auf psychogenen Hemmungen, konnte man diese psychoanalytisch behandeln. Die psychoanalytischen und die von der Psychoanalyse akzeptierten Erklärungsversuche der Entstehung von Krankheiten mit Körpersymptomatik bieten heute noch ein buntes Bild. Manche Konzepte wie das der Konversion können als in ihren Grundzügen geklärt gelten. Strittig ist aber der Anwendungsbereich. Man diskutiert darüber, bei welchen Krankheitsbildern es sich um eine Konversion handelt, bei welchen nicht. VON UEXKÜLLS (1990) Konzept der Bereitstellungskrankheit entspricht im wesentlichen den Vorstellungen von ALEXANDER (1950). Basale Reaktionen auf eine Gefahrensituation wie Kampf oder Flucht werden durch Emotionen wie Angst oder Wut ausgelöst beziehungsweise umfassen diese. Werden die Emotionen nicht bewußt, laufen die begleitenden vegetativen Körperreaktionen, wie sie bei Angst und Wut auftreten, dennoch ab und bewirken körperliche Funktionsstörungen, die sich bei entsprechender Intensität und entsprechendem somatischem Entgegenkommen schließlich in anatomischen Veränderungen niederschlagen können. Fehlt das somatische Entgegenkommen, entstehen keine oder nur geringfügige Veränderungen.
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Man kann dies gut an den Krankheitsbildern Colica mucosa und Colitis ulcerosa illustrieren. Man findet bei vielen Patienten mit Colica mucosa ganz ähnliche Konflikte wie bei Patienten mit Colitis ulcerosa. Diese Konflikte müssen nicht zu einer somatischen Symptomatik führen. Oft führen sie jedoch zu einer psychovegetativen Symptomatik, einer Funktionsstörung ohne anatomische Veränderungen. Es entsteht zum Beispiel die Colica mucosa. Bei andersgeartetem somatischem Entgegenkommen, vielleicht auch bei längerer Dauer und stärkerer Intensität der im Organismus entstehenden und auf den Organismus einwirkenden, ins Bewußtsein aber nicht vordringenden Emotionen, kann es zur Colitis ulcerosa kommen. Als Bereitstellungskrankheiten kann man sowohl die psychovegetativen Störungen als auch die psychosomatischen Krankheiten im klassischen Sinn, wie etwa die Colitis ulcerosa, bezeichnen. Nach M. SCHUR (1955) findet bei psychosomatischen Krankheiten eine Resomatisierung statt. Im Laufe der Entwicklung des Kindes kommt es zunehmend zu einer Desomatisierung. Emotionen und Körperreaktionen können getrennt wahrgenommen werden. Jemand, der Angst hat, kann unterscheiden, daß sein Herz schnell schlägt und daß er Angst hat. Konflikte können nun einen Regressionsvorgang auslösen, der auf ein Stadium in der Entwicklung zurückführt, in dem körperliche Reaktion und Emotion noch nicht unterschieden werden konnten. Der Konflikt drückt sich dann körperlich aus und wird auch körperlich wahrgenommen. SCHURS Konzept ist unvermindert aktuell, zumal wir immer mehr über Entwicklungsstörungen des Ich erfahren, die bis in das Erwachsenenleben persistieren. Es gibt heute Therapieformen, bei denen es unter anderem darum geht, Patienten beim Erkennen und Benennen von Gefühlen zu helfen und ihnen zu ermöglichen, daß sie das lernen. Als Beispiel ist die psychoanalytisch-interaktionelle Psychotherapie zu nennen (zusammenfassend dargestellt in HEIGL-EvERS et a1. 1993a). Sie ist psychoanalytisch konzeptualisiert, in mancher Hinsicht aber der Verhaltenstherapie nahe, weil sie Lernprozesse in den Vordergrund stellt, bei denen der Therapeut insofern als Modell und Lehrer dient, als er Hilfs-lch-Funktionen übernimmt und dem Patienten beispielsweise sagt, was dieser in einer bestimmten Situation empfinden könnte (zur Problematik dieser Methode s. KÖNIG u. LINDNER 1992, STAATS 1992). Meiner Meinung nach sollte das SCHURsehe Konzept der Resomatisierung von dem Konzept der Bereitstellungskrankheiten nach VON
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Störungen mit vorwiegend körperlicher Symptomatik
Konzepte
UEXKÜLL deutlich abgegrenzt werden. Wahrscheinlich werden verschiedene Krankheitsgruppen mit den Konzepten beschrieben. Das schließt nicht aus, daß beide Entstehungsweisen bei einem Patienten zusammenwirken können. Wenig durchgesetzt hat sich das Konzept der zweiphasigen Verdrängung von ALEXANDER MITSCHERLICH (1966). Er sieht die psychosomatische Symptombildung als Al,Isweichen vor einer gravierenden Konfliktsituation an. Seiner Ansicht nach versucht der Organismus zunächst, eine neurotische Symptombildung herzustellen, die den Konflikt bewältigt. Gelingt das nicht, kommt es zu einer, wie MITSCHERLICH es nennt, zweiten Phase der Verdrängung. MITSCHERLICH sieht die Resomatisierung unter dem Aspekt der Verdrängung, SCHUR sieht sie unter dem Aspekt der Regression. Regression läßt sich jedoch auch als Abwehrvorgang verstehen. Zwar sind die beiden Konzepte ähnlich, jedoch ist das von SCHUR weiter gefaßt, da er offen läßt, welche Funktion die Resomatisierung hat. Möglicherweise kommt sowohl die Resomatisierung im Sinne eines gerichteten Abwehrvorgangs - der dann durch ein Aufheben der »zweiten Phase der Verdrängung« wieder rückgängig gemacht werden kann - als auch die Resomatisierung durch Regression vor. Es gibt darüber hinaus die Möglichkeit, daß eine Entwicklungsstörung persistiert. Ein Zustand, in dem Psyche und Soma nicht getrennt und differenziert wahrgenommen werden können, würde dann nicht erst durch Regression hergestellt, sondern von vornherein bestehen. Daran hat MITSCHERLICH bei seiner Annahme, daß einer organischen Symptombildung in jedem Fall ein Konfliktlösungversuch mit psychischen Mitteln vorangeht, anscheinend nicht gedacht. VIKTOR VON WEIZSÄCKER hat sich um die Ausbreitung der psychosomatischen Medizin in Deutschland verdient gemacht. Da seine Vorstellungen heute jedoch zum Teil durch andere Konzepte ersetzt worden sind und da sich in ihnen psychoanalytische, philosophische und soziologische Überlegungen in nicht immer nachvollziehbarer Weise mischen, sei hier nur seine Auffassung erwähnt, daß die Krankheit im Leben des Kranken einen Sinn hat. Schon hier setzen Schwierigkeiten im Verständnis ein, da man sich ja nicht leicht einig wird, was als Sinn des Lebens aufgefaßt werden soll; und das wäre wohl eine Voraussetzung dafür, daß man über den Sinn einer Krankheit im Leben eines Menschen diskutieren kann. Ich denke, daß hier auch primärer und sekundärer Krankheitsgewinn vermengt werden. Eine Krankheit, die im Leben eines Menschen sekundär einen Sinn ge-
winnt, muß nicht entstanden sein, weil sie diesen Sinn gewinnen konnte. Dieser Einwand schließt aber nicht aus, daß es den Zustand eines Menschen bessern kann, wenn seine Krankheit für ihn einen Sinn bekommt und wenn ein Therapeut ihm dabei hilft, einen solchen Sinn zu entdecken. FRANKL (z.B. 1994) hat mit der Logotherapie eine Form der Psychotherapie entwickelt, bei der die Sinnfrage zentral ist. Er sieht einen wirklichen oder scheinbaren Verlust des Lebenssinns als krankmachend für d~s Individuum an. Das trifft sicher für manche Patienten zu, vor allem für Depressive, bei denen das Erleben des Sinnverlusts aber auch ein Symptom der Krankheit ist. Die französische psychosomatische Schule (MARTY u. DE M'UZAN 1963) beschreibt eine Persönlichkeitsstruktur, die zur Entstehung psychosomatischer Krankheiten disponiert. Die Patienten zeigen nach NEMIAH und SIFNEOS (1970) eine Alexithymie, das heißt, sie können Emotionen nicht wahrnehmen oder schlecht einordnen oder nicht benennen. Solche Patienten phantasieren wenig, ihre Symbolisierungsfähigkeit ist eingeschränkt. Die Objektbeziehungen wirken sachlich, Emotionen spielen bei ihnen eine geringe Rolle. Das gilt auch für die Arzt-Patient-Beziehung. Ähnlich wie SCHUR nimmt die französische psychosomatische Schule eine regressive Resomatisierung an, räumt jedoch auch die Möglichkeit einer Entwicklungsstörung ein, durch die der Patient nie über einen Zustand mangelnder Differenzierung zwischen Psyche und Soma hinausgelangt ist. In Deutschland haben VON RAD (1983) und AHRENS (1987) sich intensiv mit dem Phänomen Alexithymie beschäftigt. Es kann kaum bezweifelt werden, daß es »alexithyme« Menschen gibt. Alexithymie findet sich jedoch nicht nur bei psychosomatisch Kranken und auch nicht bei allen psychosomatisch Kranken. Man kann sie deshalb nicht als spezifisch für die Entstehung psychosomatischer Krankheiten auffassen. Dennoch kann sie bei einem Teil der Patienten eine Voraussetzung zur Entstehung des psychosomatischen Krankheitsbildes darstellen. Im Sinne einer multifaktoriellen Genese können bei verschiedenen Personen unterschiedliche Faktoren beteiligt sein oder im Vordergrund stehen. Das Streßmodell nach SELYE (1956) besagt, daß unter von außen oder von innen verursachten Belastungen, die bewußt erlebt werden, unter Umständen aber auch unbewußt ablaufen, eine gut beschreibbare und abgrenzbare Reaktion des Organismus auftritt. Der Streßreaktion kann man die Funktion zuschreiben, den Körper in einen Alarm-
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Konzepte
zustand zu versetzen. Die Leistungsfähigkeit erhöht sich vorübergehend, dann tritt ein Erschöpfungszustand ein. Es können persistierende Schäden resultieren. Bei der Streßreaktion handelt es sich um ein Bündel allgemeiner Körperreaktionen. Die krankmachenden Einflüsse sind weniger spezifisch als bei den Bereitstellungslaankheiten, so daß konstitutionelle Eigenschaften und eventuell auch vorausgegangene Schädigungen die Organwahl bedingen müßten. ZANDER (1978, 1989) hat den StreB, der aus inneren Konflikten entsteht, als »Strain« bezeichnet; die Bezeichnung »Streß« reserviert er für Einflüsse von außen. Diese Terminologie erscheint mir sinnvoll, sie hat sich jedoch bisher kaum durchgesetzt. Nach dem Streßmodell kommt es zu einer vegetativen Dysregulation, weil der Organismus Einflüssen ausgesetzt wird, mit denen er nicht gut umgehen kann. Insofern unterscheidet sich dies Modell von dem Konzept der Bereitstellungskrankheiten, in dem davon ausgegangen wird, daß die durch Konflikte ausgelösten Emotionen nicht bewußt werden und deshalb nicht zu Handlungen führen können, die Bereitstellung beenden. Beim Streß ist in erster Linie an direkte Einflüsse von außen zu denken, die nicht erst auf dem Wege über die Folgen innerer Konflikte wirksam werden. Mit Psychoneuroimmunologie bezeichnet man eine Forschungsrichtung, die sich mit Einflüssen der Psyche auf das Immunsystem befaßt. Man kann heute davon ausgehen, daß sich alle Emotionen auf das Immunsystem auswirken, besonders die langdauernden und intensiven Emotionen, gleich ob sie in der Form eines erlebten Gefühls bewußt ablaufen oder ob sie nicht in das Bewußtsein gelangen, sondern sich nur in unbewußten Bereichen des Ich manifestieren. Das Immunsystem hat die Aufgabe, körperfremde Substanzen, und da besonders Krankheitserreger, unschädlich zu machen. Körpereigene Substanzen können als körperfremd erscheinen. Das Immunsystem greift dann den eigenen Organismus an. Es ist auch möglich, daß das Immunsystem die Differenzierungsfähigkeit zwischen körpereigenen und körperfremden Strukturen verliert. Wie und wann das geschieht, ist noch Gegenstand der Forschung. In Konfliktsituationen können Infektionskrankheiten auftreten, die etwas damit zu tun haben, daß ein Konflikt sich hemmend auf das Immunsystem auswirkt. Man kann dann den Eindruck haben, die Krankheit sei ein Lösungsversuch für den Konflikt (MITSCHERLICH 1966). Das stimmt aber wahrscheinlich nicht (s.o.). Die innerpsychi-
schen und interpersonellen Vorteile einer solchen Krankheit würde ich als sekundär auffassen. Man kann nicht sagen, daß jemand sich eine Infektionskrankheit zulegt, um einer bestimmten Situation auszuweichen. Das wäre wohl ein ähnlicher Fehlschluß, wie FREUD ihn hinsichtlich des Kriegsverletzten beschrieben hat, der (ohne soziales Netz) auf das Betteln angewiesen ist. Es wäre Unsinn, von ihm zu sagen, er habe sich ein Bein abschießen lassen, um betteln zu können (FREUD 1926, S. 126). Die Hemmung des Immunsystems durch· psychische Belastungen gilt heute als nachgewiesen. Es wird bereits diskutiert, ob es über eine Hemmung des Immunsystems zur Entstehung von Krebs kommen kann. Dabei geht man davon aus, daß Krebszellen im Organismus immer wieder entstehen, vom Immunsystem aber abgetötet werden, versagt das Immunsystem, haben die Krebszellen Gelegenheit, sich zu vermehren. Man diskutiert auch, ob die inadäquate Immunantwort bei Autoimmunkrankheiten durch psychische Faktoren hervorgerufen sein kann. Die Psychoneuroimmunologie ist eine junge Wissenschaft und befindet sich in einer lebhaften Entwicklung. Je weiter diese fortschreitet, desto deutlicher wird, daß man sich hier auf ein sehr komplexes Gebiet begibt, das mit den heutigen Forschungsmethoden noch schwer zu erfassen ist (RUDOLF et al. 1995). Das Konzept der Konversion hat sich bewährt. Gemeint ist die Umwandlung (conversio) seelischer Konflikte in körperliche Phänomene. Dadurch verschwinden die Konflikte nicht, sie werden sogar ausgedrückt (VON UEXKÜLL 1990), ohne daB der oder die Betreffende davon weiß. Eine Entlastung der inneren Konfliktlage ist anzunehmen. Wie die Entlastung im einzelnen zustande kommt, können wir nicht sagen. Der Ausdruck geschieht auf dem Wege von Störungen im Bereich der Willkürmuskulatur (der quergestreiften Muskulatur) und aller Wahrnehmungsorgane. Es kann also zu Störungen der Motorik und zu Störungen der sensorischen Reizorgane kommen. Dadurch entwickeln sich Lähmungen oder Sensibilitätsstörungen im Bereich der Haut, hysterische Blindheit oder hysterische Taubheit. Auch Störungen des Gleichgewichtssinnes, die einen Schwindel zur Folge haben, können durch Konversion entstehen. Was der Patient ausdrückt, wird von ihm selbst nicht verstanden und kann auch von einem Gegenüber nicht direkt verstanden, sondern nur erschlossen werden. Früher war man der Auffassung, daß
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Konzepte
Konversion nur bei der Hysterie vorkommt, inzwischen nimmt man jedoch an, daß Konversionsphänomene bei allen Persönlichkeitsstrukturen auftreten können (vgl. RANGELL 1969), allerdings sind sie bei der hysterischen Struktur wohl am häufigsten. Das Konversionsphänomen stellt einen Kompromiß zwischen Impuls und Abwehr und zugleich eine Symbolisierung des Konflikts dar. Ein solcher Konflikt könnte beispielsweise darin bestehen, daß man jemanden tätlich angreifen, dies jedoch gleichzeitig auch unterlassen möchte, weil es mit den Forderungen des Über-Ich oder des Ich-Ideals nicht vereinbar ist oder weil es den Betreffenden in soziale Schwierigkeiten bringen oder eine wichtige Beziehung gefährden könnte. So kann jemand, der zuschlagen möchte, eine Armlähmung bekommen, die eine Abwehr dieses Impulses darstellt. Konversion gibt es auch als Ausdruck prägenitaler Konflikte und Entwicklungsstörungen. Die Konversion galt vielen Psychoanalytikern lange Zeit als typisches Beispiel für eine körperliche Symptomatik, die rein psychogene Ursachen hat. Der Einfluß körperlicher Faktoren verlor in der Diskussion zunehmend an Bedeutung. Im Unterschied zu anderen FREuDschen Positionen hat man FREUDS Auffassung von der Ergänzungsreihe organischer und psychogener Faktoren (FREUD 1905a) bei der Entstehung der Konversion eine Zeitlang kaum noch beachtet. Ob es Konversion im Einflußbereich des vegetativen Nervensystems geben kann, ist meines Erachtens noch eine offene Frage. HENNINGSEN (1995) geht davon aus, daß auch nach der Ausreifung des Nervensystems neuronale Vernetzungen erfahrungsabhängig veränderlich sind. Häufige oder intensive Aktivierung bestimmter neuronaler Verbindungen führt zu einer strukturalen Veränderung dieser Verbindungen, was Synapsenzahl, Leichtigkeit der Impulsübertragung und ähnliches angeht. Das stellt natürlich die Unterscheidung zwischen »funktionell« und »strukturell« in Frage. Die Frage, ob eine Symptomatik psychogen oder somatisch bedingt ist, wird von HENNINGSEN aus einer kategorialen Betrachtungsweise (Entweder/Oder) in eine dimensionale (Mehr oder weniger das eine oder das andere) überführt. Der psychogene Anteil kann bei einem vorgegebenen Ausmaß somatischer Disposition eine notwendige Bedingung sein. Die somatische Disposition kann so stark sein, daß zur Auslösung kein psychogener Faktor erforderlich ist; sie kann aber auch schwächer sein und
dann nur in Kombination mit einem zusätzlichen psychogenen Faktor zu einer Erkrankung führen. Es ist auch zwischen ubiquitären und nur selten auftretenden psychogenetischen Faktoren zu unterscheiden. Es ist denkbar, daß ein psychogener Faktor zwar bei der Entstehung eines bestimmten Symptoms in jedem Fall beteiligt sein muß, aber auch in jedem Fall wirksam wird, weil er ubiquitär ist und somit jeder Mensch mit ihm zu tun kommt. Ubiquitäre psychische Faktoren werden manchmal auch dadurch krankmachend, daß sie in einer spezifischen Weise interpretiert werden. Ubiquitäre Ereignisse, beispielsweise Trennungssituationen, denen jeder Mensch ausgesetzt ist, wirken dann krankrmichend, wenn Vorerfahrungen eine Interpretation nahelegen, die aus der Trennung die Wiederholung eines früheren Ereignisses von traumatischer Qualität macht. Eine durch eine Bereitstellungskrankheit nach VON UEXKÜLL verursachte Läsion kann ebenfalls sekundär einen Bedeutungsgehalt und einen Ausdruckscharakter gewinnen. Jemand mit einem Ulcus des Magens kann beispielsweise phantasieren, daß er böse Dinge geschluckt hat, jemand mit einer Colitis ulcerosa, daß er seine Körpersubstanz nicht bei sich behält und daß ihn das schädigt. Die Bewertung psychogener Faktoren ist demnach komplexer, als reduktionistische Konzepte nahelegen, die von krankmachenden Auswirkungen von Belastungssituationen ausgehen, ohne ihre Symbolbedeutung und ihren Wiederholungscharakter zu berücksichtigen. Das Konversionskonzept hat etwas Verführerisches. An der Entstehung eines Symptoms sind Impuls und Abwehr beteiligt und die Symptome ergeben einen Sinn. Wenn man nur lange genug nach symbolischen Bedeutungen sucht, kann man fast alles durch Konversion erklärbar machen. Natürlich ist es möglich, sich die Schleimsekretion beim Asthmatiker als Weinen der Bronchien vorzustellen oder das Ulcus als Folge eines Bisses der inneren Objektrepräsentanz Mutter in die Magenwand. Die Frage ist, ob damit etwas Richtiges über die Entstehung pathologischer Zustände ausgesagt wird. FREUD (1988) hat ja schon GRODDECK, dessen Konzept der Entstehung körperlicher Krankheiten als Prototyp einer unkritischen Anwendung des Konversionsbegriffes gelten kann, davor gewarnt, seiner Phantasie allzu freien Lauf zu lassen. RANGELL (1969) hat für eine sorgfältig überlegte und um Validiemng bemühte, eingeschränktere Anwendung des Konversionskon-
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zeptes plädiert. HOFFMANN plädiert für eine erweiterte Anwendung des Konversionsbegriffs, allerdings ebenfalls im Zusammenhang mit einem Bemühen um Validierung. So hält er das Konversionsmodell bei vielen psychogenen Schmerzzuständen für anwendbar (EGLE u. HOFFMANN 1993). ALEXANDER (1950) hat Krankheiten als psychosomatisch bezeichnet, bei denen die somatischen Faktoren unbekannt oder erst teilweise bekannt waren und bei denen sich psychische Konflikte fanden, deren Bearbeitung eine Besserung zur Folge hatte und bei denen eine Beteiligung an dem Entstehen der Krankheitserscheinungen von ihrem Inhalt her plausibel war. Über den tatsächlichen Stellenwert psychischer und somatischer Faktoren kann so aber noch nichts ausgesagt werden. Somatische Faktoren können vorhanden, aber noch nicht entdeckt sein. Das gilt auch für Krankheiten, bei denen ein oder mehrere somatische Faktoren bekannt sind. Es kann weitere somatische Faktoren geben, die bisher unentdeckt geblieben sind. Entsprechendes gilt auch für die psychischen Faktoren. Es könnte sich herausstellen, daß die Entstehung von Infektionskrankheiten wie zum Beispiel die Tuberkulose oder der sogenannten Erkältungskrankheiten, von Krankheiten also, bei denen die Erreger bekannt sind, stärker auf psychische Faktoren zurückzuführen ist als beispielsweise das Auftreten von Asthma oder des Zwölffingerdarmgeschwürs. Es könnte sich also herausstellen, daß Krankheiten, die bis jetzt als überwiegend somatisch angesehen werden, weil die somatischen Faktoren besser bekannt sind, in Wahrheit überwiegend psychisch bedingt sind, und umgekehrt, daß Krankheiten, die man als psychosomatisch aufgefaßt hat, überwiegend somatisch bedingt sind. Die Zukunft der Psychosomatik liegt im Spektrum aller Erkrankungen. Sowohl das Auftreten eines psychischen Konfliktes als auch die Zunahme dieses Konfliktes kann den Ausschlag dafür geben, daß sich eine psychosomatische Krankheit manifestiert. Es können aber auch körperliche Faktoren auslösend sein, beim Entstehen einer Allergie beispielsweise das Hinzutreten eines erstmalig aufgenommenen Nahrungsbestandteils oder Lebensmittel-Zusatzstoffes. Eine Krankheit kann zum Verschwinden gebracht werden, indem man einen der beteiligten Faktoren behandelt. Beim Ulcus kann das die Magensäure sein - man gibt dann säurebindende Mittel oder Hemmer der Säureproduktion - oder das Bakterium Helicobacter
pylori - man gibt dann ein Medikament, das dies Bakterium bekämpft, etwa Antibiotika oder Wismutsalze. Als Helicobacter pylori im Magen von Ulcuskranken entdeckt worden war, glaubten manche, »die Ursache« für Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüre entdeckt zu haben. Sie verfielen dem Fehler, einen der Faktoren, die zum Manifestwerden der Ulcuskrankheit beitragen, als den in jedem Falle ausreichenden Faktor anzusehen. Analoge Fehler haben Psychoanalytiker gemacht, die spezielle Formen des Autonomie-Abhängigkeits-Konflikts als alleinige Ursache für die Entstehung einer Ulcuskrankheit ansahen. Tatsächlich ist jedoch bei der Entstehung psychosomatischer, aber auch »psychogener« Krankheiten mit verschiedenen prozentualen Mischungsverhältnissen verschiedener Faktoren zu rechnen. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß bei Krankheiten, die man als psychosomatisch ansieht, die Bedeutung des somatischen Entgegenkommens unterschätzt wurde. Jedoch wurden und werden auch psychische Faktoren unterschätzt, die einen Einfluß auf die Entstehung von Krankheiten haben, bei denen ein somatischer Faktor identifiziert worden ist. Wenn im folgenden psychische Konflikte bei Krankheiten mit überwiegend körperlichen Erscheinungsformen beschrieben werden, sollte der Leser im Auge behalten, daß die beschriebenen Konflikte nicht in jedem Falle ein notwendiger Faktor sein müssen. Sie können aber bei einem bestimmten Individuum ein notwendiger Faktor sein, wenn körperliche Faktoren allein nicht ausreichen, um das Krankheitsbild entstehen zu lassen.
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Konversionssymptome Bei Konversionsstörungen kommt es zu Lähmungen, Sensibilitätsstörungen oder Störungen der Wahrnehmung. Unter den neurologischen Erscheinungen sind Absencen, psychomotorische Anfälle und Tics wohl am häufigsten. Meist ist es leicht, somatische Ursachen auszuschließen. Davon unabhängig ist eine positive Diagnose wünschenswert. Hysterische Lähmungen sind in der Regel schlaff, nicht spastisch. Hysterische Gangstörungen können, wenn sie nicht erkannt werden, sogar zu chronischer Bettlägerigkeit führen, sekundär kann dann die
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Muskulatur atrophieren, die Gelenke können versteifen. Steh- und Gangunfähigkeit (Astasie und Abasie) kommen vor. Psychogene Dysphonie (z.B. Heiserkeit) und Aphonie (Stimmlosigkeit) sind Konversionsstörungen. Auch der Torticollis ist ein Konversionssymptom. Seine psychodynamischen Zusammenhänge sind oft leicht zu entschlüsseln. Ich erinnere mich an einen Arbeiter, der in einer Fabrikhalle zusammen mit Kollegen arbeitete, die er überhaupt nicht mochte. Die Kollegen arbeiteten links von ihm, der Patient entwickelte einen Torticollis nach rechts. Neben psychogener Blindheit kommen auch GesichtsJeldeinschränkungen VOr. Psychogene Taubheit oder Schwerhörigkeit ist von einem Hörsturz zu unterscheiden, der als körperliche Reaktion auf Streß aufgefaßt wird. Hysterische Übelkeit mit hysterischem Erbrechen kommt ebenfalls vor. Hier ist der Ausschluß einer organischen Ursache wichtig. EmpJindungsstörungen im Rahmen einer Konversion sind nicht inuner nur Negativ-Symptome, bei denen eine bestimmte Wahrnehmung fehlt, es können vielmehr auch Mißempfindungen auftreten, etwa in der Form des »Ameisenlaufens« oder des »Globus hystericus«, eines Druckgefühls, das so wirkt, als habe man einen »Kloß im Hals«. Der »Globus hystericus« ist jedoch nicht pathognomonisch für die hysterische Persönlichkeit, er kann auch bei Patientinnen und Patienten auftreten, bei denen andere Strukturkomponenten im Vordergrund stehen. Veränderte Bewußtseinszustände wie die Fugue, bei der jemand aus seiner gewohnten Umgebung flieht und dabei zwar mit den praktischen Dingen zurecht kommt, jedoch nicht weiß, wer er ist und sich nicht an seine Vergangenheit erinnert, hysterische Dämmerzustände, Trancen und Ohnmachten kommen selten vor. Das schränkt die diagnostische Erfahrung des einzelnen Psychotherapeuten ein. Deshalb sollten bei solchen seltenen Krankheitsbildern auf jeden Fall auch somatische Untersuchungen angestellt werden, selbst wenn man eine positive Diagnose gestellt zu haben meint. Ebenso wie es neurotische Symptome gibt, die unter dem Gewand körperlicher Symptome auftreten, gibt es ungeklärte körperliche Zustände, die Symptome verursachen, bei denen man fälschlicherweise zunächst an eine psychogene Entstehung denkt. Ich erinnere mich an eine Patientin, die in Dänunerzustände verfiel und während dieser Dämmerzustände mit dem Becken Koitusbewegung ausführte. Man dachte zunächst an einen hysterischen Anfall,
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die weitere somatische Abklärung zeigte jedoch, daß der Blutzucker in den Anfällen stark erniedrigt war. Zugrunde lag ein Inselzelladenom des Pankreas, das Insulin produzierte. Die Patientin wurde operiert und blieb anfallfrei. Daß sie in den Anfällen in der Klinik, in der sie sexuell abstinent lebte, Koitusbewegungen produzierte, war nicht als pathologisch aufzufassen. Sexuelle Wünschen kamen in dem durch Hypoglykämie hervorgerufenen Dänunerzustand ZUr Darstellung. RÜGER (1987) hat auf die Bedeutung einer Differentialdiagnose zur somatischen Verursachung auch bei scheinbar eindeutig psychogenen Krankheitsbildern hingewiesen. Ein klassisches Konversionssymptom ist der Arc de cercle, in dem sowohl der Wunsch nach einem Koitus wie auch die Abwehr dagegen gleichsam pantomimisch dargestellt werden. Von epileptischen Anfällen ist der Arc de cercle schon durch Beobachtung zu unterscheiden. Es gibt davon aber Ausnahmen, zum Beispiel in den seltenen Fällen, in denen sich die Patientin in die Zunge beißt oder einnäßt, wie das sonst im epileptischen Anfall geschieht. Da der Arc de cercle in Westeuropa kaum noch vorkommt, haben viele Ärzte und Psychotherapeuten ihn noch nie gesehen. Außerhalb der westlichen Industriegesellschaften scheint er häufig zu sein. Vielleicht ist er in der westlichen Zivilisation, in der die Psychoanalyse breiten Eingang in das alltägliche Denken gefunden hat, zu leicht interpretierbar geworden, was seine Funktion beeinträchtigt, einen nicht unmittelbar als solchen erkennbaren Komprorniß zwischen Trieb und Abwehr darzustellen. Ein Phänomen, das man der hysterischen (histrionischen) Persönlichkeit zuordnen muß, ist die sogenannte Pseudopsychose bei Patientinnen und Patienten, die in einer psychiatrischen Einrichtung psychotische Krankheitsbilder kennengelernt haben und sie nun nachahmen. Dieses Krankheitsbild ist nicht ganz selten. Es gibt viele Arten psychogener Anfälle. Das macht die Unterscheidung von somatisch bedingten Anfällen nicht einfacher. Vorübergehende Bewußtseinstrübungen können wie psychomotorische Anfälle bei epileptischen Patienten wirken. Auch ein Stupor kann manchmal ein Konversionssymptom sein, und es gibt Bewußtseinsverluste bis zur Ohnmacht, während die Patientinnen im Arc de cercle noch angesprochen werden können. Psychogene Lähmungen stellen kein diagnostisches Problem dar. Eine neurologische Störung kann leicht ausgeschlossen werden. Wenn es bereits zu Atrophien und Gelenkversteifungen gekonunen
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ist, kann die Diagnostik schwieriger sein. Ähnliches gilt für die psychogene Dysphonie oder Aphonie, die jedoch meist durch Ausschluß organischer Urschen diagnostiziert werden können. Von der Konversion können alle Sinnesorgane betroffen sein. Eine Empfindungsstörung der Haut, die nicht den Nervensegmenten folgt (strumpfartig, handschuhartig), ist meist durch eine einfache neurologische Untersuchung zu diagnostizieren. Die hysterische HalbseitenUnempfindlichkeit etfaßt das Genitale mit, während sie bei organischer Verursachung das Genitale ausspart. Ein Teil der Schmerzsyndrome (s. dazu den entsprechenden Abschnitt) ist vermutlich als Konversionssymptom aufzufassen. Auch hier kann es weitetführen, darauf zu achten, wie der Patienten den Schmerz lokalisiert. Allerdings sind die Fähigkeiten zur Lokalisierung von Schmerzen nicht nur entlang der Zeitachse der Entwicklung unterschiedlich - kleine Kinder können Schmerzen nicht gut lokalisieren -, sondern auch transkulturell verschieden. Patientinnen und Patienten mit Konversionssymptomen kommen selten in psychotherapeutische Praxen oder Klinken. Weil die Störungen sich körperlich manifestieren, werden diese Patienten in der Regel in die Neurologie eingewiesen. Dort arbeitet man in erster Linie mit suggestiven Maßnahmen, wenn eine organische Ursache ausgeschlossen ist. Da die Hysterie sich im Gewande der verschiedensten Krankheiten darstellen kann, kommen solche Patientinnen und Patienten zum Beispiel auch in internistische oder in Frauenkliniken.
Verursachung oder Mitverursachung zu enthalten, und den weiteren Vorteil, nicht den Eindruck zu erwecken, mit der Zuordnung zu diesem Terminus sei diagnostisch schon alles getan. Häufig wird der Begriff»Vegetative Störung« jedoch für eine Symptomatik verwendet, deren Ursache nicht gefunden wurde. Wenn es nicht der Körper ist, so wird dann angenommen, muß es eben die Psyche sein. Ob man die Ursachen für eine Gesundheitsstörung findet, hängt aber von den angewandten Methoden ab. So kann es passieren, daß körperliche Erkrankungen zunächst als funktionelles Störungsbild fehldiagnostiziert werden, bis der Erstuntersucher den Patienten schließlich zum Spezialisten überweist. Ärzte, die ausschließlich auf den Stationen eines Krankenhauses ausgebildet werden, bekommen die psychovegetativen Störungen selten zu sehen, mit denen es praktische Ärzte, Internisten, Orthopäden, Frauenärzte und Urologen in den Praxen häufig zu tun haben. Wenn diese Ärzte nach ihrer Krankenhauszeit eine Praxis eröffnen, sind sie für den Umgang mit solchen Störungen nicht gerüstet. Aber selbst Ärzte, die an Polikliniken ausgebildet werden, deren Inanspruchnahmeklientel zu 40 bis 50 Prozent psychovegetative Störungen aufweist, erhalten meist nicht die zusätzliche Ausbildung, die für den adäquaten Umgang mit diesen Patienten nötig wäre: eine psychotherapeutische Weiterbildung. Sie begnügen sich mit der Verordnung von Medikamenten, die Symptome dämpfen. Allerdings könnte kein Arzt alle Patienten, die ihn mit psychovegetativen Störungen aufsuchen und denen durch eine Psychotherapie geholfen werden könnte, selbst behandeln. Würden alle Patienten, deren Störungen durch eine Psychotherapie wesentlich gebessert werden können, auch tatsächlich eine solche Therapie erhalten, bräuchte man ein Vielfaches der tatsächlich arbeitenden Psychotherapeuten. Die Weiterbildung der Ärzte zur psychosomatischen Grundversorgung kann die Versorgungslage verbessern, bringt aber auch die Gefahr mit sich, daß der Allgemeinarzt Patienten selbst behandelt, denen man durch eine Fachpsychotherapie besser helfen könnte. Der Ausdruck »Psychosomatische Grundversorgung« ist meines Erachtens irreführend. Man sollte vielmehr in erster Linie eine Weiterbildung in psychosomatischer Diagnostik anstreben. Dabei ist natürlich nicht ausgeschlossen, daß einige der Patienten dann auch in Gesprächen behandelt werden können. So wie die psychosomatische Grundversorgung jetzt vielfach aufgefaßt wird, könnte sie zum Verschleppen von Krankheiten beitragen.
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Funktionelle oder psychovegetative Syndrome und somatische Störungen mit psychischer Mitverursachung Mit dem Begriff Vegetative Dystonie werden in Deutschland immer noch Körperbeschwerden ohne diagnostizierbare körperliche Ursache belegt, beispielsweise Schwitzen, Frösteln oder hypotone Kreislaufdysregulation. Früher wurden auch nosologisch abgrenzbare Syndrome wie die Herzneurose und mildere Formen von Konversionssymptomen so bezeichnet. Eine bessere Bezeichnung hat DELIUS mit der Psychovegetativen Störung eingeführt (DELIUS u. FAHRENBERG 1966). Sie hat den Vorteil, einen Hinweis auf die psychische
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Patienten mit funktionellen Störungen wechseln oft mehrfach d~n Arzt, bis sie resignierend meinen, daß ihnen wohl nicht geholfen werden kann und daß sie sich mit ihren Symptomen abfinden müssen. Andere vertrauen ihrem Hausarzt und gehen davon aus, daß er schon wissen wird, wie er sie behandeln muß. Trotz der Informationskampagnen in den Medien tun sich heute noch viele Patienten schwer, Psychotherapeuten aufzusuchen. Das ist natürlich um so mehr der Fall, wenn sie die Symptome, unterstützt durch den Arzt, als eine rein körperliche Angelegenheit auffassen. Funktionelle Beschwerden in einem engeren Sinne, wie ERMANN (1987) sie untersucht und dargestellt hat, finden sich bei vielen Menschen, ohne daß diese sich für behandlungsbedürftig halten. Der Stellenwert, den eine Körperstörung für den Betroffenen hat, ist entscheidend. ERMANNs Untersuchungen haben ergeben, daß eine psychisch bedingte Aufmerksamkeitszuwendung zu harmlosen Körpererscheinungen diese erst zu einer wirklichen Störung machen kann, die Krankheitswert hat. Der Faktor Aufmerksamkeitszuwendung muß in seinen Determinanten untersucht und, wenn möglich, therapeutisch beeinflußt werden. Einfache Hinweise auf die Harmlosigkeit der Störung haben meist keine oder nur eine vorübergehende Wirkung. Funktionelle Syndrome nehmen mit dem Alter ab. Das hängt möglicherweise mit der im Alter geringer werdenden allgemeinen Reaktionsbereitschaft des Körpers zusammen, die sich auch im sensorischen Bereich, zum Beispiel im Bereich des Geschmackserlebens, zeigt. Zudem wenden ältere Menschen ihre Aufmerksamkeit häufig degenerativ bedingten Erkrankungen zu, etwa ihren Gelenkschmerzen bei Arthrose. Auch für diese Schmerzen gilt im übrigen, daß die somatischen Veränderungen nicht direkt mit dem Krankheitserleben korrelieren. Das ist bereits lange bekannt. Ich selbst habe viele Röntgenbilder von Halswirbelsäulen beschwerdefreier Patienten gesehen, auf denen schwere degenerative Veränderungen erkennbar waren. Klagen korrelierten dagegen mit einer sogenannten Steilstellung der Wirbelsäule, die auf muskuläre Verspannungen zurückzuführen ist. Ganz in der Regel ist auch heute noch die Diagnose »Psychovegetative Stönlllg« eine Ausschlußdiagnose, wenn keine organische Ursache gefunden wird. Man sollte sich als Psychotherapeut jedoch bemühen, eine positive Diagnose zu stellen. Oft ist das nicht schwer, weil viele Patienten mit funktionellen Störungen, wenn man sie dazu auffordert, ohne besondere Schwierigkeiten von Problemen in der Familie oder am Arbeitsplatz sprechen. Auch die Frage nach einer
Selbstschilderung bringt Aufschlüsse. Hier kann eine Weiterbildung im Sinne der psychosomatischen Grundversorgung nützlich sein. Es gibt viele funktionelle Syndrome. Zum Teil handelt es sich um vegetative Begleiterscheinungen von Emotionen (Stimmungen und Affekten), die auch erlebt werden. In anderen Fällen treten nur die vegetativen Erscheinungen auf, Emotionen werden nicht erlebt. In wieder anderen Fällen sind die Emotionen diffus und können nicht benannt werden. Leichte Angst wird beispielsweise häufig als diffuser Spannungszustand eingeordnet. Vegetative Begleiterscheinungen von Emotionen, die nicht ins Bewußtsein vordringen, finden sich auch bei den sogenannten Bereitstellungskrankheiten nach VON UEXKüLL (1990; s. den Abschnitt »Konzepte«). Von psychovegetativen Störungen sind das kardiovaskuläre und das gastrointestinale System wohl am häufigsten betroffen. Es kann aber jedes Organ funktionelle Beschwerden machen. HOFFMANN und HOCHAPFEL (1995) führen unter anderem die folgenden Störungen auf: - Funktionelle Störungen des oberen Gastrointestinaltraktes: Globusgefühl, Schluckstörungen, Luftschlucken, Schluckstörungen mit Erbrechen, Appetenzstörungen, funktionelles Magensyndrom (nervöser Reizmagen). - Funktionelle Störungen des unteren Gastrointestinaltraktes: Obstipation, Diarrhöe, Colon irritabile. - Funktionelle Störungen des respiratorischen Systems: Hyperventilationstetanie, nervöses Atemsyndrom, kardiorespiratorischer Symptomenkomplex. - Funktionelle Störungen des kardiovaskulären Systems: Paroxysmale Tachykardie, supraventrikuläre/ventrikuläre Extrasystolie, synkopale Zustände, Da-Costa-Syndrom, Effort-Syndrom, Herzangstneurose. - Funktionelle Störungen des urogenitalen Systems: Pollakisurie, Dysurie, abakterielle Prostatitis, Adnexitis, Sexualstörungen. - Funktionelles Kopjschmerzsyndrom: Vasomotorischer Kopfschmerz, Migräne. - Funktionelle Syndrome als Begleitsymptomatik bei anderen Grundkrankheiten. - Funktionelle, diffus wechselnde, nicht dauernd an einem Organ lokalisierte Syndrome; nachstehend eine unvollständige Aufzählung der dabei geklagten Beschwerden: Schlafstörungen, Schweiß-
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ausbrüche, Heißhunger, Schwindel, leichte Ermüdbarkeit und Erschöpfbarkeit, Zittern, Blässe, Erröten, Herzklopfen, Unruhe, Nervosität, Mundtrockenheit, Lidflattern, Ängstlichkeit, Unkonzentriertheit etc. Keine Psychotherapie sollte ohne medizinische Durchuntersuchung begonnen werden. Der Stellenwert psychovegetativer Befunde sollte dann vom Psychotherapeuten in einem Gespräch mit dem Somatiker abgeklärt werden. Vergleicht man die Häufigkeit bestimmter Krankheitsbilder in einer Inanspruchnahmeklientel mit den Ergebnissen einer Felduntersuchung, kann man erkennen, daß die Patienten beimArzt andere Angaben machen als dem Interviewer gegenüber, der nicht fragt, weshalb die Untersuchten kommen - sie wurden ja nach dem Zufallsprinzip ausgewählt -, sondern ausführlich nach den vorhandenen Beschwerden fragt. In den Interviews wird über Unruhe, Alkoholabusus, Nikotinabusus, Depressionen, verschiedene Ängste gesprochen. Beim Arzt werden dagegen Beschwerden angegeben, die sich auf ein bestimmtes Organ oder eine bestimmte Körperregion beziehen oder leicht zu benennen sind, zum Beispiel Schlafstörungen. Aber auch umschriebene Körperstörungen führen nicht immer zum Arzt. So werden funktionelle Magen-Darm-Störungen oft ein Leben lang mit Hausmitteln behandelt, die vorübergehend auf die Symptome wirken. SCHNABL (1966) hat die Symptomhäufigkeit nicht organisch begründeter Beschwerden bei 2000 ambulanten und stationären Patienten ermittelt. Er fand Schlafstörungen bei 35 Prozent der Patienten, Kopfschmerzen bei 34 Prozent, Herzbeschwerden bei 29 Prozent, Allgemeine Schwäche und Mattigkeit bei 23 Prozent, Magen- und Darmbeschwerden bei 23 Prozent, Angstzustände bei 21 Prozent, Schwindel und Ohnmacht bei 21 Prozent, Sexualstörungen bei 15 Prozent, Depressive Verstimmungen bei 12 Prozent, Atembeschwerden bei 12 Prozent, Kreuz- und Rückenschmerzen bei 10 Prozent, Affektinkontinenz (affektives Überreagieren) bei 10 Prozent, Appetitlosigkeit bei 9 Prozent,
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Gewichtsabnahme bei 8 Prozent, Gliederschmerzen bei 7 Prozent, Erbrechen bei 7 Prozent, Tremor und Zittern bei 6 Prozent, Konzentrations- und Gedächtnisschwäche bei 6 Prozent und Sonstige Beschwerden bei 26 Prozent der Patienten. Bei seiner Felduntersuchung fand SCHEPANK (1987, S. 115) Allgemeine innere Unruhe bei 33,0 Prozent der »symptombehafteten Probanden«, die ihrerseits 26 Prozent der Gesamtstichprobe ausmachten, Suchtverhalten bei 32,2 Prozent, Depressi ve Verstimmungen bei 31,2 Prozent, Ermüdung und Erschöpfung bei 26,2 Prozent, Ängste bei 24,5 Prozent, Kopfschmerzen bei 23,5 Prozent, Konzentrations- oder Leistungsstörungen bei 23,5 Prozent, Zwangsgedanken bei 23,3 Prozent, Schlafstörungen bei 22, 7 Prozent und Zwangshandlungen bei 21,7 Prozent der »symptombehafteten Probanden«. Untersucht wurde die Prävalenz der letzten sieben Tage. Nur 26 von 600 Personen hatten in diesem Zeitraum keine Beschwerden. Im gleichen Zeitraum hatten 41 Prozent der Probanden Symptome von primär somatischen Erkrankungen (Skelett, Nervensystem, MagenDarm, Herz, Infekte). In diesem Buch habe ich auf die Angabe von Zahlen meist verzichtet. Hier hielt ich es jedoch für wichtig, konkrete Zahlen anzuführen, weil die Häufigkeit psychovegetativer Störungen in der Bevölkerung oft unterschätzt wird. In allen medizinischen Fachgebieten spielen die Auswirkungen psychischer Faktoren eine Rolle. Bei der Anästhesie ist es die Angst vor der Narkose und vor der Operation, deren Ausmaß die sogenannte Prämedikation (die Gabe von Medikamenten vor Einleitung der Anästhesie oder Narkose) mitbestimmt. In der Chirurgie ist es die psychische Unfallneigung, hervorgerufen durch unbewußte Schuldgefühle, durch Wendung der Aggression gegen das Selbst, durch riskantes Verhalten aufgrund von Omnipotenzphantasien und durch kontraphobisches Verhalten.
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Syndrome und Störungen mit psychischer Mitverursachung
Im Bereich der Kinderheilkunde spielen die psychogenen Eßstörungen, das Einnässen und Einkoten, Verdauungsstörungen verschiedener Art, psychogene Schlafstörungen und die Verarbeitung von Geburtsschäden eine große Rolle. Im Bereich der Dermatologie spielen neben dem endogenen Ekzem und der Psoriasis, die beide durch psychische Faktoren beeinflußt werden, überstarkes Schwitzen und das Auftreten von juckenden Ausschlägen mit Quaddelbildung eine Rolle. Das Erröten selbst stellt kein Krankheitszeichen dar, kann aber phobisch verarbeitet werden (Erythrophobie). Juckreiz ohne Hauterscheinungen spielt in der Dermatologie ebenso eine Rolle wie in der Gynäkologie in Form des Pruritus vulvae und des Pruritus ani; letzterer kommt auch bei Männern häufig vor. Bei Störungen der Menstruation werden psychische Einflüsse angenommen. Unter psychischen Einflüssen kann die Menstruation unregelmäßig auftreten, stärkere Beschwerden als üblich machen oder ganz ausbleiben. Auch bei verschiedenen Formen von Ausfluß aus der Scheide werden psychische Einflüsse angenommen. Bei chronischen Entzündungen der Eileiter und der Eierstöcke (chronischen Adnexitiden) werden psychische Einflüsse ebenfalls diskutiert. Eine Ablehnung des Kindes oder dessen freudige Erwartung haben beide Einfluß auf den Geburtsverlauf, wobei auch eine nicht erlebte Ablehnung des Kindes sich in Störungen des Geburtsverlaufs äußern kann. Der Zeitpunkt des Wehenbeginns steht ebenfalls unter psychischem Einfluß. Die Beeinflussung der Konzeption durch psychische Einflüsse gilt als gesichert und gewinnt im Rahmen der Reproduktionsmedizin zunehmend an Bedeutung. Die Neurologie ist ein Bereich, in dem sich vor allem psychogene Lähmungen und Sensibilitätsstörungen äußern, aber auch hypochondrische Befürchtungen wie etwa die, trotz Fehlens jeglicher Anzeichen an einem Hirntumor zu erkranken. Zum Neurologen kommen oft auch die Patienten mit Schmerzsyndromen und die Patienten mit psychogenem Schwindel. Dieser muß von organisch bedingtem Schwindel abgegrenzt werden. Die Behandlung von Rückenschmerzen und Ischias teilen sich Neurologie und Orthopädie; hier sind ebenfalls psychische Einflüsse wirksam. Der Hals-Nasen-Ohrenarzt sieht ebenfalls Patienten mit psychogenem Schwindel. Der Hörsturz und sonstige Störungen des Hörens können durch die Psyche beeinflußt sein oder als Konversionssymptom ein psychogenes Körpersymptom darstellen. Psychische Einflüsse werden auch bei Ohrgeräuschen diskutiert. Psychogene Hei-
serkeit und Verlust der Stimme als Konversionssymptome kommen vor. Auch psychogene Gesichtsschmerzen sieht der HNO-Arzt oft als erster, nicht selten in Differentialdiagnose zu Schmerzen, die von den Zähnen ausgehen. Im Bereich der Zahnmedizin sind eine als krankhaft zu bewertende Angst vor dem Zahnarzt und das nächtliche Zähneknirschen wichtige psychische Symptome Im Bereich der Augenheilkunde werden Sehstörungen, zum Beispiel Augenflimmern, gelegentlich auch Doppelbilder, periodisches Schielen und konversionsbedingte Blindheit oder ebensolche Gesichtsfeldeinschränkungen gefunden. Im Bereich der Urologie gibt es Beschwerden im Bereich der Prostata ohne körperlichen Befund. Manche Störungen beim Wasserlassen sind auf psychische Einflüsse zurückzuführen. Auch Patienten mit Einnässen können den Urologen aufsuchen. Funktionelle Sexualstörungen des Mannes werden häufig vom Urologen behandelt, dem auch die Aufgabe zufällt, sie von somatisch bedingten Störungen abzugrenzen. Die größte Vielfalt von Erkrankungen, bei denen der Einfluß psychischer Faktoren eine Rolle spielt, findet sich in der Inneren Medizin. Einigen dieser Erkrankungen sind in diesem Buch eigene Abschnitte gewidmet. Jedes Organsystem kann betroffen sein. Generell kann man sagen, daß alle medizinischen Fachgebiete es mit psychogenen Krankheitsfaktoren zu tun bekommen, wobei der psychogene Anteil an der Krankheitsentstehung und an der Unterhaltung der Krankheit in großem Ausmaß variiert. Streß kann den Zustand des gesamten Körpers und damit die Disposition zu fast jeder Krankheit verändern. Innere Konflikte (nach ZANDER 1978, 1989: Strain) können sich ebenfalls auf den allgemeinen Körperzustand auswirken. Streß und Strain beeinflussen das Immunsystem. Hier sei noch einmal festgehalten, daß es über den psychischen Anteil an der Entstehung und Unterhaltung einer Krankheit zunächst wenig aussagt, ob ein oder mehrere somatische krankheitsverursachende und krankheitsunterhaltende Faktoren entdeckt worden sind oder nicht. Psychische Faktoren können immer auch zusätzlich wirksam sein. Welchen Stellenwert die verschiedenen krankheitsauslösenden und krankheitsunterhaltenden Faktoren haben, muß, so weit möglich, in jedem Einzelfall gesondert abgeklärt werden. Das gilt auch für Krankheiten, die gemeinhin als rein somatisch verursacht aufgefaßt werden.
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Manche psychovegetativen Beschwerden verschwinden wieder, ehe ein Arzt aufgesucht wird. Andere persistieren. Wechselt eine Vielzahl von Symptomen ab, bezeichnet man das nach DSM-III/R als Somatisierungssyndrom. Die rasch verschwindenden vegetativen Störungen sind gesundheitspolitisch wenig relevant und beeinträchtigen den Patienten auch nicht wesentlich, sofern sie nicht unmittelbar oder bald von einem neuen Symptom gefolgt werden. Nach CREMERIUS (1968) wird jedoch etwa ein Drittel der psychovegetativen Störungen chronisch. Das kann damit zusammenhängen, daß die Krankheitserscheinungen nicht richtig diagnostiziert und behandelt werden. Es kann aber auch daran liegen, daß die Störungen psychotherapeutisch nicht behandelbar sind, weil die Motivation des Patienten nicht zu wecken ist oder weil die persönlichen Voraussetzungen für eine Psychotherapie nicht gegeben sind. Es kann auch sein, daß primärer oder sekundärer Krankheitsgewinn zu hoch sind. Eine Spontanheilung kann durch einen bestimmten Teufelskreis verhindert werden: Angst, die jedoch unbewußt bleibt, verursacht ein psychovegetatives Symptom. Das Symptom selbst macht nun angst; durch diese wird das Symptom verstärkt, dadurch die Angst, und so weiter. Es gibt die Behauptung, daß die psychovegetativen Symptome in neuerer Zeit häufiger geworden sind. Es ist jedoch noch offen, ob sie wirklich häufiger auftreten, ob Ärzte sie häufiger zu sehen bekommen oder ob sie häufiger diagnostiziert werden. Aussagen über die Häufigkeitsentwicklung von Krankheiten sind schwer möglich, da man aus früheren Zeiten keine verläßlichen Statistiken hat. Häufigkeiten in der Gesamtbevölkerung können nur durch sorgfältige Felduntersuchungen festgestellt werden. Aus einer Inanspruchnahmeklientel sind Rückschlüsse auf die Gesamtbevölkerung nicht möglich. Die Selbstselektion einer Inanspruchnahmeklientel und der Einfluß überweisender Vorbehandler lassen sich kaum einschätzen. Das wird oft nicht beachtet. Der in den westlichen Industriegesellschaften zu beobachtende Rückzug auf die eigene Person, die Vorrangstellung der Selbstverwirklichung und damit auch die Hinwendung zum eigenen Selbst könnte jedoch auch die Hinwendung zum eigenen Körper intensivieren und damit den oben erwähnten krankmachenden Faktor verstärken. Psychovegetative Störungen haben oft einen Ausdrucksgehall.
Dieser muß jedoch nicht damit zusammenhängen, daß der Kranke unbewußt etwas darstellen will, sondern eher auf Beobachtungen zurückzuführen ist, die in die Alltagshermeneutik eingegangen sind. So weij] man eben, daß seelische Belastungen beim Menschen auf den Magen schlagen können. Jemand kann etwas »zum Kotzen finden«; aber hier handelt es sich um nichts anderes als um eine Beschreibung körperlicher Reaktionen in Verbindung mit psychischen Zuständen. Natürlich ist es möglich, daß bei Menschen mit rasch wechselnden Affektzuständen, wie sie bei hysterischen Persönlichkeiten häufig sind, auch rasch wechselnde Körpersymptome auftreten. Nicht damit zu verwechseln ist das Phänomen, daß einzelne Körperteile beziehungsweise einzelne Organe Objekte repräsentieren, wie das etwa RICHTER und BECKMANN (1973) für die Herzneurose herausgearbeitet haben (vgl. den Abschnitt zu den Angstneurosen und Phobien). Die Funktion der Organe kann durch die Art der Beziehung, die das Selbst zu diesen Personen hatte oder hat, beeinflußt werden. Das kann schon dadurch geschehen, daß die Aufmerksamkeitszuwendung zu diesem Organ, aber auch die Bewertung von Beschwerden dieses Organs sich verändert, wenn es als Repräsentanz eines Objekts eine zweite Bedeutung bekommt. HOFFMANN und HOCHAPFEL (1995, S. 212) geben prägnante Beispiele für ein anthropomorphisierendes Erleben von Organen: »Der Darm wird zum >Kerl, der mich nicht in Ruhe läßt<, der Magen >kneift mich, als ob er sauer wäre<, das Herz >schlägt wie toll, als ob es einen drüber gekriegt hätte«<. Solche Redeweisen werden vor allem bei chronifizierten psychovegetativen Störungen gefunden. Wahrscheinlich braucht es eine gewisse Zeit, bis der Patient mit seinen Organen in der neuen, anthropomorphen Bedeutung vertraut wird und die neue Art ihrer Bedeutung in Worte fassen kann. Im Umgang mit dem psychovegetativ Kranken ist es unerläßlich, die Symptomatik ernst zu nehmen. Die französische Autorin MARIE CARDENAL beschreibt in ihrem Roman »Schattenmund« eine Psychoanalyse. Sie läßt den Psychoanalytiker der Patientin, die mit starken gynäkologischen Blutungen zu ihm kommt, zu ihr sagen, daß diese Blutungen ihn nicht interessieren. Wenn eine solche Äußerung bei einer Patientin mit einem beunruhigenden Körpersymptom tatsächlich einmal stattfindet, kann eine Therapie wohl nur dann in Gang kommen, wenn sich eine idealisierende Übertragung herausgebildet hat, die die Patientin annehmen läßt, der Analytiker werde schon wissen, was er tue.
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Störungen mit vorwiegend körperlicher Symptomatik
Allerdings steckt in einer solchen Aussage auch ein wahrer Kern: Kein Patient kann von einer analytischen Psychotherapie profitieren, wenn er nur über sein Symptom spricht. In der Regel wird man aber mit dem Patienten zunächst über das Symptom sprechen müssen und sich genau erkundigen, wie und wann es auftritt und was bisher medizinisch untersucht worden ist. Man wird vielleicht eine weitere Untersuchung bei einem kompetenten Arzt veranlassen. Man wird aber auch versuchen, Anhaltspunkte für eine Psychotherapie zu finden, die nicht unmittelbar mit den Körpersymptomen zusammenhängen. Wenige Patienten mit psychovegetativen Beschwerden finden direkten Zugang zum Psychotherapeuten. In der Regel kommen solche Patienten auf Überweisung, häufig von einem Arzt, der nicht weiter weiß, gelegentlich auch von einem Arzt, der in psychosomatischer Grundversorgung ausgebildet ist und erkennt, daß er den Patienten selbst nicht behandeln kann. Spontan kommt eine positive Auslese von Patienten mit funktionellen Symptomen zum Psychotherapeuten - positiv im Sinne der Voraussetzungen für eine Therapie. Sie sind meist aufgeklärt und gut motiviert. Von somatischen Ärzten wird dagegen oft eine Auslese besonders schwieriger, meist chronifizierter Patienten überwiesen. Auch von daher wird es verständlich, daß der Psychotherapeut nicht mit allen Patienten, die Somatiker ihm überweisen, eine Psychotherapie durchführen kann. Es ist im Einzelfall notwendig, das gegenüber dem überweisenden Arzt ausführlich zu begründen; ein Brief mit drei Zeilen reicht in der Regel nicht. Nach Möglichkeit sollten dem Patienten, aber auch dem Arzt Hinweise auf das weitere Vorgehen gegeben werden. All das erscheint selbstverständlich, findet aber häufig nicht statt. Besonders wichtig ist eine Beratung des psychiatrisch nicht aus gebildeten Arztes bezüglich der etwa zu verordnenden Psychopharmaka.
Psychogene Schmerzen Man geht heute davon aus, daß es Schmerzen gibt, die ausschließlich seelische Ursachen haben. Nicht damit zu verwechseln sind die vielen Schmerzsyndrome, die in erster Linie aufgrund einer konstitutionellen Bereitschaft entstehen und zu deren Manifestation neben den
Psychogene Schmerzen
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somatischen Faktoren nicht bei allen Menschen zusätzliche psychische Einflüsse nötig sind (Beispiel: Migräne). Manche Menschen können, wie bereits erwähnt, seelischen und körperlichen Schmerz nur schwer unterscheiden; ebenso gibt es manche Menschen, die Schmerz nicht an seiner Quelle lokalisieren. Bei Kleinkindern ist das in der Regel so. Kinder erleben auch Angst häufiger in Form von Schmerzen, als das bei Erwachsenen vorkommt. Selbst ein schlechtes Gewissen tut ihnen körperlich weh; dabei sind die Schmerzen oft im Abdomen lokalisiert. Schmerz, der als psychogen eingeordnet wird, hat in der Regel keinen Nutzen im Sinn einer Signalfunktion. In sozialen Beziehungen kann er Hilfsbereitschaft erzeugen, aber auch bewirken, daß andere sich von einem abwenden, wenn sie meinen nicht helfen zu können oder glauben, nicht helfen zu dürfen, etwa wenn ein Arzt davon ausgeht, daß er bei einem bestimmten Patienten die Opiatdosis nicht weiter erhöhen darf. Schmerz kann einem Strafbedürfnis entsprechen. Bei der Perversion Sadismus weckt der Schmerz des anderen sexuelle Erregung, beim Masochismus der eigene Schmerz. In einer Beziehung kann die Abwendung des Partners oder sein Tod sowohl seelisch als auch körperlich »wehtun«. Offenbar führt seelischer Schmerz bei einer ganzen Anzahl von Menschen, die man als normal einstufen würde, zu körperlichen Schmerzen, die meist im Thorax oder im Abdomen lokalisiert werden. Selbst psychogene Schmerzen von geringer Intensität können durch die Beunruhigung, die sie auslösen, einen hohen Stellenwert erlangen. Die Patienten verlangen dann nach eingreifenden Maßnahmen, zum Beispiel Operationen, und der Chirurg hat Mühe zu verstehen, weshalb jemand mit Beschwerden, die mit Sicherheit gering sind, das Risiko und die Schmerzen eines operativen Eingriffs ertragen will. Hat Schmerz die Funktion einer Selbstbestrafung, ist es möglich, daß die Bestrafung an den Chirurgen delegiert werden soll. Schmerz kann ein Affektäquivalent sein - anders als anaolog bei der Angst, bei der Herzklopfen Anteil eines somatopsychischen Zustandsbildes ist. Es gibt jedoch auch Menschen, die nicht zwischen seelischem und körperlichem Schmerz unterscheiden können. Eine solche Unfähigkeit findet man am häufigsten bei den sogenannten Frühstörungen mit Entwicklungsrückständen des Ich. Schmerz kann auch ein Konversionssymptom sein. Schmerz kann das Selbstwertgefühl erhöhen, etwa wenn der Schmerzkranke als Patient wichtig wird.
Störungen mit vorwiegend körperlicher Symptomatik
Kopfschmerzen
Dabei handelt es sich aber wohl nur um einen sekundären Krankheitsgewinn. Der Schmerzpatient kommt wohl immer zunächst zum Organmediziner. Findet dieser nichts, kann er eine psychogene Verursachung annehmen. Das heißt aber noch nicht, daß er dann eine Psychotherapie veranlaßt, vielmehr wird dem Patienten häufig auch gesagt, da sei nichts, er solle sich beruhigen, solle nicht an den Schmerz denken und sich ablenken. Diese Empfehlung ist nicht sinnlos, aber schwer umzusetzen. Dem geschulten Untersucher kann bereits an der Art der Schmerzschilderung etwas auffallen. Schmerzen, die nicht so recht zu einem bekannten Krankheitsbild passen und die mit großem Nachdruck und viel Ausdruck vorgetragen werden, sind eher psychogen als Schmerzen, bei denen der Patient in der Beschreibung sachlich bleibt und die zu einem Krankheitsbild passen. Eine Diagnose ist aus diesen Beobachtungen aber nicht zu stellen, denn es gibt durchaus Menschen, die jede Art von Beschwerden in einer demonstrativen Form darstellen; vielleicht deshalb, weil sie meinen, nur als Leidende wichtig zu sem. Die Schmerzpatienten sagen in der Regel, daß sie außer dem Schmerz keine Probleme haben. Wenn der Arzt sich mit der Psyche des Patienten befaßt, nimmt dieser das oft als einen Hinweis darauf, daß der Arzt die Schmerzen für »eingebildet« hält. Somatische und psychotherapeutische Diagnostik müssen zusammenwirken. Viele Ärzte sind den Schmerzen des Patienten gegenüber hilflos. Medikamente in einer Dosis, die für unschädlich gehalten wird, helfen oft nicht. Häufig werden dann über längere Zeit höhere Dosen verschrieben. Das führt zu einem iatrogen eingeleiteten Medikamentenabusus. Psychogener Schmerz muß nicht die Krankheit selbst sein, er kann vielmehr auch auf eine Krankheit hinweisen, zum Beispiel auf eine Depression. Auch Schizophrenien können so beginnen. Je länger man einen Patienten ausschließlich somatisch und daneben nur mit Ermunterung und Tröstung behandelt, desto schlechter wird die Gesamtprognose. Wer sich mit der häufig schwierigen und oft undankbaren Behandlung von Schmerzkranken beschäftigen will, sollte sich die entsprechenden Kompetenzen verschaffen. In der Monographie von EGLE und HOFFMANN (1993) finden sich Hinweise auf das Vorgehen bei der Behandlung. Sonst ist es besser, die Patienten in der Schmerzambulanz eines großen Klinikums vorzustellen, die
meist auch über Namen und Adressen von Therapeuten verfügt, die in ambulanter Schmerzbehandlung erfahren sind.
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Kopfschmerzen Unter den Krankheiten mit Schmerzsymptomatik, an denen psychische Faktoren wesentlich beteiligt sein können, nehmen die Kopfschmerzen eine herausgehobene Stellung ein, und zwar nicht nur wegen ihres häufigen Vorkommens, sondern auch, weil sich hinter Kopfschmerzen ernste Erkrankungen wie ein Hirntumor, Hypertonie, Störungen des Stoffwechsels, wie etwa bei Niereninsuffizienz, und andere Krankheiten verbergen können. Nur durch gründliche neurologische und internistische Untersuchungen kann abgeklärt werden, ob Kopfschmerzen Symptom einer ernsten körperlichen Erkrankung sind - es sei denn, sie gehören zur Symptomatik einer vorübergehenden Erkrankung (Infektionskrankheiten) oder Intoxikation (zum Beispiel mit Alkohol) und verschwinden, wenn die Erkrankung oder die Intoxikation abgeklungen ist. Unter Migräne versteht man einen anfallsweisen Halbseitenkopfschmerz, oft mit Sehstörungen, Übelkeit und Erbrechen, wobei ein Teil der Symptome den Kopfschmerzen als Aura vorausgehen kann. Die Migräne ist eine ernste Krankheit, die den Patienten stark beeinträchtigt. Sie hat ein klares funktionelles Substrat; Veränderungen der Durchblutung sind meßbar. Eine erbgenetische Disposition gehört wohl zu den Voraussetzungen. Viele Ärzte gehen deshalb mit der Migräne so um, als spielten psychische Faktoren keine Rolle. Das ist unzutreffend; psychische Faktoren sind oft an der Auslösung der Anfälle beteiligt. Entfallen diese psychischen Faktoren, werden die Anfälle in vielen Fällen seltener, treten weniger intensiv auf und sind von kürzerer Dauer. Es gibt auch Patienten, bei denen die Anzeichen einer echten Migräne nach einer Psychotherapie überhaupt nicht mehr auftreten. Natürlich kann die Disposition zur Migräne von diesen Patienten dennoch weitervererbt werden. Es ist keinesfalls notwendig, die medikamentöse Behandlung bei einer Migräne zu unterbrechen, damit eine Psychotherapie durchgeführt werden kann. Migräne erzeugt einen ausgesprochenen Symptomleidensdruck, der nur in geringem Maße zu einer analytischen Psychotherapie motiviert. Eine analytische Psychotherapie kann
Störungen mit vorwiegend körperlicher Symptomatik
Kopfschmerzen
auch dann durchgeführt werden, wenn die Anfälle durch Medikamente unterdrückt oder wesentlich gemildert werden; sie setzt nicht am Symptom, sondern an der Persönlichkeit an. Es gibt mehrere Persönlichkeitseigenschaften, die bei entsprechender Veranlagung zu einer Migräne disponieren. Eine einheitliche Migränepersönlichkeit konnte nicht nachgewiesen werden. Viele Migränekranke sind offenbar sehr ehrgeizig und strengen sich bei ihrer Arbeit sehr an. Anfallauslösend wirken, allgemein gesprochen, starke Affekte, die nicht oder nur zu einem Teil bewußt erlebt werden. Bei Menschen ohne Migränedisposition würden sie keine Kopfschmerzen auslösen. Eine Psychotherapie kann bewirken, daß der Patient mit den anfallauslösenden Situationen anders umgeht, daß er beispielsweise die Gefühle, die in diesen Situationen auftreten, nicht mehr unterdrückt. Dabei handelt es sich anscheinend besonders häufig um aggressive Gefühle, die insbesondere dann auftreten, wenn sich der oder die Betreffende nicht durchsetzen kann. Die Phantasie, sich in jeder Situation durchsetzen zu können, vor allem, wenn man selbst im Recht ist, verbindet sich mit einer Hemmung der Aggressivität. Narzißtische und zwanghafte Strukturanteile wirken zusammen. Die narzißtischen Strukturanteile sind für den Omnipotenz voraussetzenden Anspruch verantwortlich, sich jederzeit durchsetzen zu können. Die zwanghaften Strukturanteile verstärken das Gefühl, man müsse sich doch durchsetzen können, wenn man im Recht ist, bewirken aber auch eine Hemmung der Aggressivität. In Charaktermerkmalen, die oft schon durch eine Selbstschilderung zu Tage kommen, drücken sich narzißtische und zwanghafte Wünsche und Konflikte aus. Da sie meist für den Patienten nachteilig sind, erzeugen sie schon für sich betrachtet einen Leidensdruck - allerdings meist erst dann, wenn man sie in einer vorbereitenden Psychotherapie ich-dyston gemacht hat.
zunächst der Meinung, hier könnte eine Allergie gegen Zigarettenrauch beteiligt sein, bis ich herausfand, daß die Patientin in anderen Situationen, zum Beispiel auf Parties, Zigarettenrauch ohne weiteres tolerierte. Die Wut darüber, daß sie sich nicht hatte durchsetzen können, wurde nur zum Teil erlebt; der unterdrückt gebliebene Anteillöste den Anfall aus. Ebenso wie für die meisten anderen psychosomatischen Krankheiten gilt wahrscheinlich auch für die Migräne, daß psychogene Faktoren bei starker konstitutioneller Disposition wenig oder auch gar nicht beteiligt sein können. Ein Versuch mit Psychotherapie sollte jedoch immer erwogen werden. Allerdings ist es in der organmedizinischen Praxis eher die Ausnahme, daß man einem Patienten mit Migräne eine Psychotherapie empfiehlt; meist geschieht dies tatsächlich nur, wenn der Patient psychisch auffällig erscheint. Da aber die wenigsten Migräniker psychisch auffällig sind - meist wirken sie sozial sogar besonders gut angepaßt -, sind solche Überweisungen selten, und viele Patienten, denen eine Psychotherapie helfen könnte, werden nie auf diese Möglichkeit hingewiesen. Auch bei Menschen, die nicht zur Migräne disponiert sind, können Kopfschmerzen psychisch veranlaßt werden. Vermutlich ist die zugrundeliegende Psychodynamik ähnlich: Aggressive Impulse werden unterdrückt und wirken sich auf das Vegetativum aus. Es resultiert der sogenannte vasomotorische Kopfschmerz. Diese Kopfschmerzen sind beidseitig, unterschiedlich lokalisiert und von variabler Dauer; insgesamt ist das Bild wechselhafter und weniger prägnant als bei der Migräne, die Kopfschmerzen sind meist weniger intensiv. Auch Muskelverspannungen können an der Entstehung von Kopfschmerzen beteiligt sein. Bekanntlich wird der Muskeltonus unter anderem durch die Psyche beeinflußt; dies drückt sich beispielsweise auch in der Körperhaltung Depressiver aus (vgl. ZANDER 1989). Psychogene Muskelverkrampfungen treten meist dann auf, wenn Handlungsimpulse nicht bewußt werden, sich aber in einer Bereitstellung der Muskulatur äußern, die unter eine Art Vorspannung gesetzt wird. Auch ein Konflikt zwischen dem Wunsch, »den Kopf hochzutragen«, und der Befürchtung, dies könne nachteilige interpersonelle Folgen haben, kann sich in Muskelverspannungen ausdrücken. Eine Selbstschilderung hilft diagnostisch oft weiter. Manchmal führen Verspannungen im Bereich der Nackenmuskulatur auch zu Schmerzen im Bereich der Schultern und Arme. Dabei
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Auch eine Disposition zur Allergie kann an der Anfallauslösung beteiligt sein; die Allergene können durch den Verdauungskanal oder durch die Atemwege aufgenommen werden. Von Patienten und Ärzten werden allergische Mechanismen allerdings oft zu Unrecht angeschuldigt. Ich erinnere mich an eine Technische Assistentin, die dagegen war, daß im Labor geraucht wurde, weil sie befürchtete, Zigarettenasche könne auf das Untersuchungsgut fallen und es verunreinigen. Wenn eine Kollegin im Labor rauchte und die Patienten sie nicht daran hindern konnte, erlitt sie einen Migräneanfall. Ich war
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Psychogene und psychoreakti ve Schlafstörungen
können starke Schmerzen auftreten, ohne daß die Wirbelsäule auf dem Röntgenbild anatomisch verändert erscheint.
Nicht immer ist es möglich, die Entstehung eines Schwindels ohne organische Verursachung in seinen psychodynamischen Zusammenhängen aufzuklären. Schwindel kann auch unspezifisch sein, zum Beispiel in Belastungs- oder Erschöpfungszuständen, jedoch kann er in diesem Zusammenhang auch den Wunsch ausdrücken, sich hinzulegen und zu schlafen und sich so aus einer belastenden Situation zurückzuziehen. Patienten betonen jeweils verschiedene Aspekte des Schwindels. Für einen Patienten ist die Desorientiertheit und Verwirrung besonders wichtig, für einen anderen die Gefahr des Hinfallens. Manchmal führt es weiter, sich zu überlegen, was Verwirrung oder Hinfallen bei einem bestimmten Patienten in einer bestimmten Lebenssituation bedeuten könnten. Die Menieresche Krankheit, die mit Schwindel einhergeht, hat vermutlich auch eine psychogene Komponente; darüber ist jedoch noch wenig bekannt. Meist wird sie an die Seite der Migräne gestellt. Bei Borderline-Patienten wie bei Psychosekranken symbolisiert ein Schwindel manchmal das Lebensgefühl und die geringe »Standfestigkeit«, die mit der allgemeinen Ich-Schwäche zusammenhängt.
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Psychogener Schwindel Psychogener Schwindel kommt häufig vor. Er ist vom somatisch bedingten Schwindel zu unterscheiden, dem häufig schwere körperliche Erkrankungen zugrunde liegen, etwa Tumore. Bei Patienten, die an Schwindel leiden, sollte vor Beginn der Therapie eine organische Verursachung ausgeschlossen werden. Das gilt auch dann, wenn ein Krankheitsbild vorliegt, zu dem häufig Schwindel gehört, zum Beispiel eine Agoraphobie. Das gleiche gilt, wenn Schwindel während einer Therapie neu auftritt. Wie bei allen Symptomen, die unmittelbar körperlich verursacht sein können, reicht es für den Ausschluß einer organischen Verursachung oder Mitverursachung nicht aus, daß die Entstehung des Symptoms Schwindel psychodynamisch verstehbar erscheint. Beim Drehschwindel haben die Erkrankten den Eindruck, daß sich die Umgebung dreht, und zwar auch dann, wenn sie die Augen schließen. Es gibt auch ein Schwindelgefühl, bei dem sich die Umgebung nicht dreht, das vielmehr den Eindruck vermittelt, nicht fest stehen zu können und gleich umzufallen. Im deutschen Sprachraum bezeichnet Schwindel auch einen Betrug. HOFFMANN und HOCHAPFEL (1995) haben bei ihren Patienten gefunden, daß Schwindel als Drehschwindel und Schwindel als Betrug häufig assoziativ verknüpft sind. Schwindel als Leitsymptom ist nach MAGNUSSON et al. (1977) und nach meinen eigenen Erfahrungen häufig ein Konversionssymptom. Er kann eine existentielle Verunsicherung ausdrücken: Der Patient hat keinen festen Stand mehr. Das kann zum Beispiel der Fall sein, wenn das Unternehmen, in dem der Patient arbeitet, in Schwierigkeiten gerät. Auch der drohende Verlust einer stabilisierenden Partnerschaft kann zu Schwindel führen. Schwindel kann aber auch einen Affekt substituieren, vor allem Angst. Manche Agoraphobe empfinden auf der Straße nur Schwindel, jedoch keine Angst. Andererseits kann Schwindel auch Angst machen. Ebenso kann ein Gefühl der Verunsicherung durch Schwindel ersetzt werden, beispielsweise die Angst, die bei einem Depersonalisationssyndrom auftreten kann.
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Psychogene und psychoreaktive Schlafstörungen Man unterscheidet Einschlafstörungen und Durchschlafstörungen. Darüber hinaus kann auch die gesamte Schlafdauer verkürzt oder verlängert sein. Weiter kann es zu Verschiebungen des Tag-NachtRhythmus beziehungsweise des Wach-Schlaf-Rhythmus kommen. Bestimmte Schlafphasen können gestört sein, zum Beispiel der REM-Schlaf (Rapid Eye Movement). Allgemein gilt, daß die meisten Menschen nicht mit weniger als sieben Stunden Schlaf auskommen. Wer tagsüber schläft, braucht nachts weniger Schlaf. Ältere Menschen schlafen nachts kürzer, nicken jedoch tagsüber ein oder halten einen Mittagsschlaf. Schlafstörungen sind häufig, wobei ältere Menschen öfter über Schlafstörungen klagen als jüngere. Unter bewußter seelischer Belastung kann der Schlaf gestört sein; wenn die Belastung aufhört, kann die Schlafstörung sich ganz zurückbilden. In selteneren Fällen hält sie nach Ende der Belastung weiter an.
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Sexuelle Funktionsstörungen
Patienten mit erheblichen Schlafstörungen sollten neurologisch untersucht werden, um eine organische Verursachung auszuschließen. Patienten klagen manchmal über Schlafstörungen, die objektiv nicht als solche zu bezeichnen sind. Es gibt Menschen, die glauben, daß sie wenig schlafen, obwohl das nicht der Fall ist, wie sich zeigt, wenn man sie in einem Schlaflabor untersucht. Andere wiederum wissen nicht, wieviel Schlaf notwendig ist. Das läßt an Kinder denken, die zu früh zu Bett gebracht werden, weil die Eltern abends ihre Ruhe haben wollen. Die Eltern versuchen, dem Kind einzureden, daß es müde sei, während dieses ganz anders empfindet. Schließlich fügt es sich vielleicht, bleibt so lange im Bett, bis es einschläft, schläft dann aber flach und unruhig. Es »verbraucht« aber die gesamte von den Eltern für notwendig gehaltene Schlafzeit. Endogene und neurotische Depressionen verursachen ebenso wie Angst Schlafstörungen. Grübeln hindert am Einschlafen. Manche Menschen sind abends so »aufgekratzt«, daß sie schwer ins Bett finden. Das kommt auch bei depressiven Menschen vor, die meinen, tagsüber noch nicht genug erlebt zu haben, und denken, der Tag müsse ihnen noch etwas Schönes bringen. Menschen können Angst vor ihren Träumen haben und deshalb nicht einschlafen. Andere meinen, noch nicht müde sein zu dürfen, und gehen deshalb zu spät ins Bett. Schlafen ist, abgesehen von den Träumen, mit einem Verlust des Bewußtseins verbunden, den manche Menschen fürchten. Sie haben Angst, sich dem Schlaf zu überlassen, weil sie nicht wieder aufwachen könnten. Es kommt zwar vor, daß jemand im Schlaf stirbt, Menschen mit einer »Schlafphobie« überschätzen jedoch die Wahrscheinlichkeit dieses Ereignisses. Vermutlich ist ein gewisses»Urvertrauen« nötig, um sich ohne Angst dem Schlaf überlassen zu können. Manche Menschen können nicht in Gegenwart anderer schlafen, und zwar nicht nur, weil diese Geräusche machen, die sie am Einschlafen oder Durchschlafen hindern könnten, sondern auch weil die oft unbewußte Phantasie eine Rolle spielt, der andere könnte ihnen im Schlaf etwas tun, auch wenn das faktisch unwahrscheinlich ist. Während FREUD (1900) annahm, der Traum sei der Hüter des Schlafes, geht man heute (z.B. GREENSON 1967) davon aus, daß der Schlaf der Hüter des Traums ist. Die Träume finden während des
REM-Schlafs statt. Weckt man Menschen in der REM-Phase, beeinträchtigt sie das erheblich mehr als ein Wecken während anderer Schlafphasen. Die einfachste Behandlung einer Schlafstörung besteht in der Verordnung eines Schlafmittels, und tatsächlich werden die meisten Patienten auch so behandelt. Daraus kann ein Medikamentenrnißbrauch entstehen. Das gilt besonders für Diazepine. Ihr Suchtpotential ist groß, und sie verlieren mit der Zeit ihre schlaffördernde Wirkung. Antidepressiva sind weniger suchtgefährdend. Hier wirkt nicht nur die sedierende Komponente vieler Antidepressiva, sondern in den Fällen, in denen die Schlafstörung Symptom einer mäßiggradigen Depression ist, auch deren antidepressive Wirkung. Bei einer »Major Depression« wird man ohnehin Antidepressiva geben. Die Möglichkeit einer psychoanalytischen Therapie sollte eigentlich immer diskutiert werden. Sie kann wirksam sein, wenn die persönlichen Voraussetzungen vorhanden sind, keine endogene Depression vorliegt (vgl. aber MENTZOS 1995) und die Motivation ausreicht.
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Sexuelle Funktionsstörungen Es gibt Schwierigkeiten beim Geschlechtsverkehr, die man nicht den psychovegetativen Störungen zuordnen kann, sondern die allein auf mangelnder Information beruhen. Manche elementare Fakten sind Patienten wie Ärzten nicht bekannt. So wissen viele nicht, daß das weibliche Äquivalent der Erektion in einem funktionellen Sinn die Transsudation von Flüssigkeit in die Vagina ist. Der Erektion des Penis entsprechend ermöglicht die sogenannte Lubrikation den Koitus, zumindest erleichtert sie ihn. Es würde kaum einer Frau einfallen, einen Koitus mit einem Mann zu versuchen, dessen Penis nicht erigiert ist. Dagegen gibt es viele Männer, die eine Immissio versuchen, obwohl sich noch keine Transsudation gezeigt hat. Der Koitus ist dann schmerzhaft, für die Frau meist mehr als für den Mann. Aus solchem unzweckmäßigen Verhalten kann sich eine Dispareunie entwickeln. Die Frau hat Angst vor dem Koitus, die Transsudation findet schon deshalb nicht statt. Hier kann Aufklärung helfen. Es kann sich aber auch herausstellen, daß eine Frigidität oder eine selek-
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Sex ueUe Funktionsstörungen
tiveAversion der Frau gegen den Partner vorliegt oder daß der Partner unbewußt mit dem Vater »verwechselt« wird, so daß das Inzesttabu in Kraft tritt (mehr dazu in den Abschnitten über Störungen der sexuellen Appetenz und der Paarbeziehung). Frauen wissen oft nicht, daß bei Männern nach dem Orgasmus eine Refraktärphase einsetzt, eine aktive Hemmung der sexuellen Erregung. Die Refraktärphase dauert unterschiedlich lange, von zwanzig Minuten bis zu mehreren Tagen. Die Dauer hängt vor allem vom Alter, aber auch von der Konstitution des Mannes ab. Würde er den Koitus fortzusetzen versuchen, wäre das für ihn unangenehm bis schmerzhaft. Eine Frau, die das nicht weiß, hält den Mann, der den Koitus nicht bis zu ihrem Orgasmus fortsetzt, für rücksichtslos und entwickelt vielleicht eine Aversion dagegen, mit ihm zu schlafen. Unzutreffende Vorstellungen bestehen oft auch über die Dauer des Koitus. Tatsächlich ist es durch Üben nach der »Stop-and-Go«-Methode möglich, die Ejakulation so weit zu steuern, daß ein Koitus über eine Stunde oder sogar über mehrere Stunden ausgedehnt werden kann. Aber nicht alle Männer können lernen, ihren Orgasmus zu kontrollieren. Neben konstitutionellen Faktoren spielen wohl auch bewußte und unbewußte psychische Faktoren eine Rolle. Manche Frauen und Männer lehnen es ab, daß der Mann seinen Erregungsablauf steuert. Alles soll »spontan« ablaufen. Man versucht die meist längere Reaktionszeit der Frauen durch manuelle oder orale Reizung des weiblichen Genitale auszugleichen. Das wirkt auf viele jedoch künstlich. Die idealisierende Vorstellung, daß auch der sexuelle Erregungsablauf zweier Partner zueinander passen müsse, wenn die beiden zueinander passen und sich lieben, ist verbreitet. Der Übergang von einer fehlenden Einstimmung und Abstimmung mit der Partnerin zum vorzeitigen Samenerguß, der Ejaculatio praecox als Krankheitsbild, ist fließend und unbestimmt. Die Ejaculatio praecox wird von den Fachleuten verschieden definiert, die sich nur darüber einig sind, daß eine Ejakulation des Mann kurz nach der Immissio oder »ante portas«, also vor der Immissio, als Zeichen einer funktionellen Störung aufzufassen ist. Wie lange es bis zum Orgasmus des Mannes aber wirklich dauern soll, ist strittig. Manche amerikanischen Autoren sind der Meinung, es liege immer dann eine Ejaculatio praecox vor, wenn die Frau nicht zum Orgasmus kommt, weil der Koitus nicht lang genug dauert. Es ist jedoch schwer festzustellen, ob ein längerer Koitus wirklich zu einem Orgasmus geführt hätte.
Bei einem Paar, das mir zur Diagnostik geschickt wurde, hatte der Arzt eine Ejaculatio praecox diagnostiziert, ohne zu fragen, wie lange der Koitus dauere. Mir gegenüber wurden von Mann und Frau etwa acht Minuten angegeben. Diese Dauer reicht vielen Frauen aus, um zum Orgasmus zu gelangen. Tatsächlich stellte sich dann heraus, daß bei der Frau eine Anorgasmie vorlag. Viele Frauen erleben beim Masturbieren einen Orgasmus, aber nicht beim Koitus. Das wird oft auf eine ungenügende Reizung beim Koitus zurückgeführt, kann aber auch andere Gründe haben. Ein Orgasmus in intimer Nähe des Partners ist etwas anderes als ein Orgasmus, bei dem der Partner nicht anwesend ist. Die Bewußtseinseinschränkung beim Orgasmus in Gegenwart eines anderen erfordert ein gewisses Maß an Vertrauen, das nicht alle Frauen bei jedem Mann aufbringen. Manche Frauen schämen sich in Gegenwart des Partners sexuell zu reagieren. Andere »gönnen« dem Partner nicht, daß er sie zum Orgasmus bringt. Wenn man nach dem genauen Erregungsverlauf fragt, hört man oft, daß die Erregung ansteige, dann ein Plateau erreiche und längere Zeit in gleicher Intensität bestehen bleibe. Andere Frauen geben an, daß die Erregung ansteigt und dann »abstürzt«, sie geht innerhalb von Sekunden zurück. Solche Schilderungen legen nahe, daß eine Orgasmusstörung vorliegt. Die Gründe für eine Orgasmusstörung der Frau sind vielfältig. Es kann sich schlicht auch um Angst vor einer Schwangerschaft handeln, die es der Frau schwer macht, »loszulassen«, weil sie sich vorstellt, daß sie dann eher schwanger wird. Ein Bild, das der Ejaculatio praecox gleichen würde, gibt es bei Frauen nicht. Bei Frauen fehlt die Refraktärphase, was es vielen ermöglicht, mehrere Orgasmen hintereinander zu haben, wenn die Reizung lange genug anhält. Die Entsprechung zum verzögerten oder ganz fehlenden Orgasmus der Frau ist der verzögerte oder ganz fehlende Orgasmus des Mannes (Ejaculatio retardata sive nulla). Die psychodynamischen Hintergründe können ähnlich sein wie bei der Frau. So kann ein Mann Angst haben, eine Frau zu schwängern, was sich auf den Erregungsablauf hemmend auswirkt. Viel häufiger aber liegt auch beim Mann der Angst vor dem Orgasmus eine Angst vor der Bewußtseinseinschränkung im Orgasmus und vor» Verschmelzung« zugrunde. Für Männer spezifisch ist die Angst vor einem Substanzverlust. Das Ejakulat wird als wertvolle Körpersubstanz phantasiert, von der ein Mann nur eine gewisse begrenzte Menge produzieren kann. Sol-
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che Männer haben dann Angst, sie könnten sich durch Ejakulationen schwächen oder ihren Vorrat aufbrauchen und danach impotent werden. Meist handelt es sich dabei um Männer mit einer zwanghaften . Struktur. Ihre Einstellung gegenüber der eigenen Körpersubstanz entspricht der eines Kindes, das die Faeces als wertvolle Körpersubstanz phantasiert. Diese Phantasie wird auf das Ejakulat ausgedehnt. Die häufigste Störung beim Mann neben einer Appetenzstörung ist wohl die erektive Impotenz. Eine Erektion kommt nicht zustande oder geht rasch wieder zurück. Dabei kann bei der Masturbation der Erregungsablauf ungestört sein. Befürchtungen, die Frau zu verletzen, und Ängste, die den in bezug auf den Orgasmus genannten Ängsten gleichen, können hier eine Rolle spielen. Entsprechend können Frauen Angst haben, verletzt zu werden. Das ist besonders beim Vaginismus der Fall. Frauen mit Vaginismus phantasieren, daß sie ein ganz kleines Genitale haben, etwa so groß wie das Genitale des ödipalen, also etwa vier- bis fünfjährigen Mädchens. Auch bei der gynäkologischen Untersuchung reagieren sie mit einem Scheidenkrampf, wenn der Arzt versucht, einen Finger oder ein Spekulum einzuführen. Bei Männern wie Frauen kommt es vor, daß der sexuelle Funktionsablauf zwar ungestört erscheint, daß jedoch nicht viel dabei empfunden wird. Man spricht von lmpotentia satisfactionis. Sie ist mit der Isolierung vom Affekt verwandt. Eine Isolierung vom Affekt, die oft durch Angst vor aggressiven Impulsen oder vor einer Auflösung der Ich-Grenzen beziehungsweise Selbst-Grenzen in Gang gesetzt wird, kann sich generalisieren und auf alle Gefühle ausdehnen, einschließlich des Gefühls der sexuellen Erregung. Männer und Frauen versuchen dann oft, Qualität durch Quantität zu ersetzen. Auch Partnerwechsel werden vollzogen in der Erwartung, daß es mit anderen Partnerinnen oder Partnern besser geht. Das kann dann der Fall sein, wenn ein Partner dem anderen »nicht gegönnt« hat, daß der ihn in einen Zustand der sexuellen Erregung bringen kann. Sexualität ist zweifellos ein Element der Lebensfreude; für viele Menschen stellt sie wohl den intensivsten Lebensgenuß dar. Sexualität kann im übrigen bei Depressiven die einzige intensiv erlebte Emotion sein. Bei anderen Patienten mit Depression kann sie dagegen völlig darnieder liegen. Sexualität kann eingesetzt werden, um andere Menschen zu beeindrucken - etwa die Partnerin oder Menschen, denen man davon erzählt -, um materielle oder andere Vorteile zu erlangen oder um den Partner davon abzuhalten, die Beziehung aufzuge-
ben. Besonders adoleszente Mädchen, die eigentlich noch nicht bereit sind, eine sexuelle Beziehung einzugehen, tun dies häufig dennoch, weil sie fürchten, sonst den Partner zu verlieren. Zu einer reifen Sexualität gehört Liebe oder zumindest Sympathie. Manchen Menschen ist es aber nicht möglich, Sexualität mit denen zu leben, die sie lieben. Gerade die Menschen, die sie lieben und achten, erleben sie als sexuell tabuisiert. Das hängt mit einer Gleichsetzung von Mutter und Partnerin oder Vater und Partner zusammen. Die Mutter darf nicht durch Sexualität »entwertet« werden. Menschen mit Angst vor einer Fusion mit dem Partner und gleichzeitigem latenten Wunsch nach einer solchen Fusion fürchten, durch einen Koitus mit jemandem, den sie lieben, in einen Erregungszustand zu geraten, der sie überwältigt und eine nicht wieder rückgängig zu machende Fusion bewirkt, durch die sei ihre Identität verlieren könnten. Damit sexuelle Vollzüge ungestört ablaufen können, ist es notwendig, darauf zu vertrauen, daß man aus seinem Erregungszustand wieder herausfindet. Alle Menschen finden nach einem Orgasmus wieder aus dem Erregungszustand heraus, Männer rascher, Frauen allmählicher. Die geschilderte Phantasie kann jedoch unabhängig von diesen Fakten bestehen. Erektionsstörungen könr1en körperliche Urschen haben, die in der Durchblutung des Genitale oder in Störungen der peripheren Nervenleitung zu suchen sind. Organische Krankheiten verschiedenster Art, besonders Stoffwechselkrankheiten, auch manche Medikamente können sich auf die sexuellen Vollzüge störend auswirken. Deshalb sollte eine gründliche körperliche Untersuchung durchgeführt und eine Medikamentenanamnese erstellt werden, ehe eine Psychotherapie begonnen wird. In der Inanspruchnahmeklientel von Urologen und urologischen Polikliniken sind organisch bedingte Störungen häufig, was wohl mit dem hohen Altersdurchschnitt dieser Klientel zusammenhängt. Wenn Sexualität in der Ursprungsfamilie tabuisiert war, muß das noch keine sexuellen Störungen bewirken. Das Verbotene ist ja oft besonders interessant. Etwas anderes ist es, wenn Sexualität verachtet wurde; das betrifft in der Regel das sexuelle Verhalten von Frauen mehr als das sexuelle Verhalten von Männern. Wer ein allgemein strenges Gewissen hat, das sich gegen jede Art von Lebensgenuß richtet, wird natürlich auch Gewissensbisse bekommen, wenn er seine Sexualität auslebt. Alle sexuellen Funktionsstörungen können sowohl mit analytisch
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orientierter Psychotherapie als auch mit Verhaltenstherapie behandelt werden. Die Verhaltenstherapie wirkt besonders rasch, bei der analytischen Psychotherapie werden die der Störung zugrunde liegenden Persönlichkeitseigenschaften mit in Behandlung genommen. So findet man bei Patienten mit Ejaculatio praecox, daß sie nicht nur in der Sexualität sehr »schnell« sind, sondern auch im übrigen Leben. Ein Patient, der in einer Klinik den Stationsarzt auf dem Korridor anspricht, um ihm einen Traum zu erzählen, tut das am falschen Ort und zur falschen Zeit - man könnte von einer »Ejaculatio ante portas« sprechen. Männer, die Angst vor einem Verlust ihres Ejakulats haben, sind auch im übrigen oft geizig. Männer, die Angst haben, die Frau zu verletzen, zeigen sich oft auch außerhalb einer sexuellen Situation ängstlich im Umgang mit ihrer Partnerin. Ejaculatio praecox wird verhaltenstherapeutisch entweder nach der »Stop-and-Go«-Methode behandelt, was aber oft nicht ausreicht, oder nach dem sogenannten Squeeze-Verfahren. Die Frau komprimiert die Peniswurzel, die Erektion geht zurück, das Paar wartet, bis wieder eine Erektion da ist, setzt den Koitus fort, und vor der Ejakulation des Mannes komprimiert die Frau erneut die Peniswurzel. Die Partner können so in Zusammenarbeit eine Kontrolle der Ejakulation erreichen. Später ist der Mann nicht mehr auf das Squeezing angewiesen, sondern lernt die Ejakulation mental zu steuern. Auch Orgasmusstörungen können mit Verhaltenstherapie behandelt werden. Ob das möglich ist, hängt aber von den zugrunde liegenden unbewußten Phantasien und Befürchtungen ab. Schwierig ist oft die Therapie von Appetenzstörungen bei Frau und Mann. Ich weise hier auf die Möglichkeiten einer Verhaltenstherapie hin, weil sie - vor allem in den USA - häufig und mit Erfolg angewandt wird. Patienten fragen danach. Manche Sexualtherapeuten, zum Beispiel KAPLAN (1974, 1979), kombinieren psychodynamische und verhaltenstherapeutische Behandlungsverfahren. In manchen Fällen ist wohl nur eine psychoanalytische Therapie wirksam - vor allem dann, wenn eine breitere Persönlichkeitsstörung vorliegt.
Hypertonie
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Hypertonie Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) nennt Grenzwerte von 160 mm Hg systolisch und 95 mm Hg diastolisch. Eine Hypertonie liegt dann vor, wenn dieser Wert bei mehrfachen Blutdruckmessungen über einen längeren Zeitraum überschritten wird. Psychogene Faktoren diskutiert man bei der essentiellen Hypertonie. Sie wird somatisch diagnostiziert. Alle bekannten somatischen Faktoren, die eine Hypertonie erzeugen können, sollten ausgeschlossen werden. Solche Faktoren sind beispielsweise Parenchymkrankheiten der Nieren, eine Verringerung der Nierendurchblutung oder endokrine Erkrankungen wie der Morbus Cushing, eine Hyperfunktion der Nebennierenrinde. Veränderungen an den Blutdruckrezeptoren können ebenfalls die Ursache sein. Es gibt aber auch Veränderungen an diesen Rezeptoren als Sekundärfolge einer Hypertonie, die andere Ursachen hat (LAMPRECHT 1981). Streß kann so zu Blutdruckerhöhungen führen, die nicht mehr reversibel sind. Es gibt Stressoren, auf die so gut wie jeder Mensch anspricht, beispielsweise starker Lärm. Die Reaktion auf viele Stressoren hängt jedoch von der Persönlichkeit ab. Unbewußte Konflikte können ebenso wie bewußte Konflikte zu Streßreaktionen führen oder die Reaktionen synergistisch verstärken. Eine Übersicht über die neuere Literatur zur Hypertonieforschung findet sich bei LAMPRECHT (1994). Eine Hypertonie kann viele Jahre lang ohne Beschwerden bestehen. Sie wird häufig nur zufällig festgestellt, meist bei Blutdruckmessungen im Rahmen der Diagnostik wegen einer anderen Krankheit. Im fortgeschrittenen Stadium bestehen die Beschwerden in Kopfschmerzen, Atemnot, Nasenbluten und in cerebralen Erscheinungen. Erhöhter Blutdruck fördert die Entwicklung von Gefäßverengungen. Vermutlich handelt es sich bei den psychogenen verursachenden oder mitverursachenden Faktoren bei der essentiellen Hypertonie am ehesten um Auswirkungen bestimmter Charakterzüge, die durch Umweltfaktoren aktiviert werden können. Hypertoniepatienten gelten als aggressiv gehemmt. Das bedeutet, daß Aggression in Situationen, die Ärger oder Wut auslösen, nicht erlebt wird oder nicht zu aggressivem Handeln führt. Ein Affekt, der gleichsam in der Abwehrschranke stekkenbleibt, kann aber zu vegetativen Reaktionen führen, wozu auch eine Steigerung des Blutdrucks gehören mag. Bei erwachsenen Hy-
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pertonikern findet man manchmal Jähzornanfalle in der Kindheit, die aber im Verlauf der Adoleszenz aufbören. Vermutlich setzt die Abwehr dann ein, wenn Aggression im Übergang zum Erwachsenenalter gefahrlicher wird. Einem Erwachsenen verzeiht man Aggression nicht so leicht wie einem Kind. Hypertonie-Patienten gelten als leistungsorientiert. Sie kontrollieren ihr Verhalten, um nicht unangenehm aufzufallen und die Beziehungen zu erhalten. Die Unterdrückung von Aggression wurde von einer ganzen Reihe von Untersuchern bestätigt (Lit. bei SOMMERSFLANAGAN u. GRINBERG 1989). Ähnlich wie Depressive stellen Hypertoniker ihre eigenen Bedürfnisse zurück; ähnlich wie viele Ulcuskranke streben sie danach, wegen ihrer Leistungen anerkannt und gemocht zu werden. Sie konkurrieren ungern direkt, sondern arbeiten eher vor sich hin, um allein aufgrund ihrer Leistung voranzukommen. In der Arzt-Patient-Beziehung halten sich die Patienten mit Kritik zurück, sie »vergessen« jedoch leicht das Einnehmen der Antihypertonika. Opposition bleibt im Gespräch latent, wirkt sich aber auf das Verhalten aus. Hypertonie-Patienten fühlen sich meist schuldig, wenn sie den Anordnungen des Arztes nicht Folge leisten. Ein Konfliktbewußtsein besteht meist nicht, nur wenige Patienten sind überhaupt für eine Psychotherapie zu motivieren. Antihypertensiva sind wirksam, haben aber Nebenwirkungen. Solange die Hypertonie keine Beschwerden macht, werden sie auch deshalb leicht »vergessen«. Macht die Hypertonie dann Beschwerden, bestehen oft schon Sekundärfolgen, die nicht mehr rückgängig zu machen sind. Die Medikamente können aber ein weiteres Fortschreiten der Sekundärfolgen bremsen. Kommt ein Hypertoniepatient aus Gründen, die nicht mit dem Hypertonus zusammenhängen, in Psychotherapie, fällt dem Therapeuten die Aufgabe zu, Widerstände des Patienten gegen das Einnehmen von Medikamenten mit zu bearbeiten. Psychotherapeuten, die von Medikamenten aller Art wenig halten, Jällt das oft schwer. Sie sollten sich vor Augen halten, daß es sich bei der medikamentösen Behandlung der Hypertonie um eine vitale Indikation handelt. Gleichzeitig ist es wichtig, sich darüber im klaren zu sein, daß den Patienten mit essentieller Hypertonie durch Psychotherapie geholfen werden kann. Der Zugang zu Patienten, die neben der Hypertonie weitere psychogene Symptome aufweisen, ist im allgemeinen leichter als bei einer monosymptomatischen essentiellen Hypertonie.
Asthma bronchiale
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Asthma bronchiale Beim Asthma bronchiale kommt es zu Anfällen von Atemnot, wobei das Ausatmen schwerer fällt als das Einatmen. Beim Abhören findet man charakteristische Geräusche, das sogenannte Giemen. Beim Asthma bronchiale handelt es sich um eine anfallsweise auftretende Störung. Die Anfälle können tagelang dauern. Die Luftröhre und die Bronchien reagieren stark auf Reize verschiedenster Art, darin besteht die konstitutionelle Prädisposition. Eine Hyperreagibilität des Bronchialsystems hat man auch bei Menschen ohne Asthmaanfälle gefunden. Als Ursache des Asthma bronchiale werden neben dieser konstitutionellen Hyperreagibilität und weiteren erbgenetischen Einflüssen allergische, autoimmunologische, entzündlich-infektiöse und psychische Faktoren angenommen. Luftverschmutzung scheint das Auftreten von Anfällen zu begünstigen. In den Fällen, in denen eindeutig Allergene, etwa Hausstaub oder Pollen, als Auslöser des Asthma nachgewiesen sind, kann der psychische Anteil gering sein oder auch einmal fehlen. Psychogene Faktoren werden eher beim sogenannten intrinsischen Asthma angenommen (intrinsisch: von innen kommend). Dazu gehört das Infektasthma, also ein Asthma im Gefolge einer Bronchitis. Auch psychogene Faktoren werden als von innen kommend aufgefaßt, können aber durch Vorgänge in den Beziehungen des Patienten beeinflußt werden. ALEXANDER (1950) nahm eine nicht gelöste Mutterbindung als psychogenetisch wirksam an. Die Asthmapatienten seien von ihrer Mutter abhängig, durch die sie beschützt werden wollen. Die Mütter von Asthmakranken werden als überprotektiv und dominierend oder als zurückweisend beschrieben. Das Überprotektive bewirkt Unselbständigkeit und eine :ßindung aus dem Gefühl heraus, allein nicht existieren zu können. Distanzierungstendenzen weisen auf ein Defizit an mütterlicher Zuwendung hin. Die Abhängigkeit kann auf Mutter-Ersatzobjekte übertragen werden. Frühere Psychoanalytiker bezeichneten den Asthmaanfall als »Schrei nach der Mutter«. Die Anklammerungs- und gleichzeitigen Distanzierungswünsche kann man als Arzt im Umgang mit vielen Asthmakranken im Anfall gut beobachten. Sie mächten Hilfe und Schutz, stoßen den Arzt aber nonverbal zurück. Frühe antinomische Bedürfnisse und Ängste persistieren, weil sie
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in der Beziehung zu den Eltern nicht abgearbeitet werden konnten. Natürlich gibt es, wie bei allen psychosomatischen Krankheiten, beim Asthma bronchiale einen sekundären Krankheitsgewinn. Dieser hat bei Kindern andere Gestalt als bei asthmakranken Erwachsenen, kann aber immer unter den Begriff »Zuwendung« subsumiert werden. Es kann auch vorkommen, daß Zuwendung das Symptom Asthmaanfall stabilisiert. Dieses tritt dann häufi-ger auf, etwa immer dann, wenn der Patient eine Distanzierung wichtiger Beziehungspersonen fürchtet, die er durch einen Asthmaanfall zumindest in der Vergangenheit wieder heranholen konnte; auch im Erwachsenenalter gelingt das oft (KÖHLER 1989). Eine Asthmapersönlichkeit konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Man kann nur sagen, daß Asthmapatienten Probleme mit dem Äußern von Aggressionen haben. Dieses Problem teilen sie aber mit vielen anderen Menschen, Patienten und Nicht-Patienten, und gerade auch mit Patienten, die an psychosomatischen Erkrankungen leiden (z.B. Colitis ulcerosa, Hypertonus). Die Arbeitsgruppe um ZANDER (1989) konnte bei Asthmapatienten einen Anstieg des Atemwiderstandes nachweisen, wenn in einem semistrukturierten Gespräch Abgrenzungskonflikte angesprochen wurden. Solche Befunde haben einen Einfluß von Konflikten auf Teilaspekte der Erkrankung zumindest wahrscheinlich gemacht. Die Angst vor Nähe, die man bei vielen Asthmakranken beobachten kann, wird häufig als Ausdruck einer schizoiden Persönlichkeitskomponente betrachtet. Ich meine aber, daß es sich auch um die Angst vor einem Dominiertwerden in engen Beziehungen handeln kann. Angst vor Nähe ist vielfältig verursacht, und es wäre sicher unzulässig, sie immer von vornherein auf Verschmelzungsängste zurückzuführen. Wenn der Patient Beziehungsangebote zurückweist, kann das den Therapeuten kränken. Wenn der Therapeut versteht, warum der Patient das tut, kann er das besser aushalten. Ein Arzt, dem ein solches Verständnis nicht zur Verfügung steht, reagiert oft mit Rückzug. Aufdeckende Therapien werden bei Asthmapatienten nur selten durchgeführt. DETER (1986) betont, daß eine kombinierte internistische und Psychotherapie mehr Besserung bringen kann als eine internistische Therapie allein.
Adipositas
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Adipositas Es gibt verschiedene definierende Kriterien für Übergewicht. Meist nimmt man ein behandlungsbedürftiges Übergewicht an, wenn das Idealgewicht um 30 %, das Normalgewicht um 20 % überschritten ist. Übergewicht kommt - zumindest in den westlichen Industriegesellschaften - in der Unterschicht häufiger vor. Viele Eltern von Fettsüchtigen hatten ebenfall Übergewicht; das kann für einen Anlagefaktor, aber auch für die Weitervermittlung des Umgangs mit Essen oder der Einstellung zum Dicksein sprechen. In manchen Familien geht man davon aus, daß die Kinder gut gedeihen, wenn sie dick sind, während in anderen früh darauf geachtet wird, daß die Kinder kein Übergewicht entwickeln. Ein erbgenetischer Faktor wird heute im allgemeinen angenommen. Diskutiert werden Störungen des Sättigungsgefühls und der Fettverbrennung (PuDEL 1982). Auch Familienstile können jedoch die Entwicklung von Übergewicht fördern. Das gilt besonders für die Maxime»Was auf den Teller kommt, muß aufgegessen werden«. Hunger und Appetit spielen unterschiedliche Rollen. Menschen, die sonst nicht viel zu genießen haben, essen oft viel, um den Genuß des Essens möglichst lange erleben zu können. Wer in seinem Leben auch andere Gelegenheiten zum Genießen hat, wird das weniger tun. Qualität kann durch Quantität ersetzt werden. So wird das Fehlen eines positive Geschmackserlebnisses durch Mehr-Essen kompensiert_ Bulimisches Eßverhalten gibt es nicht nur bei Frauen, sondern auch bei Männern_ Nur Freßdurchbrüche mit anschließendem Erbrechen sind in unserer heutigen Kultur geschlechtsspezifisch (s. den Abschnitt zur Bulimia nervosa). Essen eignet sich auch als Ersatzbefriedigung und als Kompensation unangenehmer Affekte und Stimmungen wie Ärger und Langeweile. Einsamkeitsgefühle können durch Essen beeinflußt werden. Vermutlich phantasieren sich Menschen, die viel essen, in eine Situation des Gefüttertwerdens durch die Mutter. Sogenannte Daueresser (FREYBERGER u. KARK 1958) essen ähnlich, wie andere ständig rauchen müssen. Hier handelt es sich meist um »Eigentherapien« von Dauerstreß. Jede Art der Unzufriedenheit kann zum Essen als Ersatzbefriedigung anregen. Manche Frauen essen aus Kummer über das Älterwerden. Die Neigung, Essen als Ersatzbefriedigung zu nutzen, ist ver-
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mutlich stärker, wenn jemand als Kind erfahren hat, daß ihm immer etwas in den Mund gesteckt wurde, wenn er Kummer hatte. »Nachtesser« nach FREYBERGER essen abends oder nachts. Der Grund ist wahrscheinlich darin zu suchen, daß bei ihnen nach der Arbeit des Tages ein Defizit an sinnvolleren Aktivitäten besteht. Nach meinen Beobachtungen handelt es sich dabei oft um Depressive, die sich häufig zweierlei zuführen: Nahrungsmittel und Fernsehprogramme. Essen aus unglücklicher Liebe, unter dem Eindruck des Verlustes eines Liebesobjekts und generell von Trennungen ist häufig. In diesem Zusammenhang gehört auch der sogenannte Leichenschmaus, die gemeinsame Mahlzeit nach einer Beerdigung, wie er heute in manchen ländlichen Gegenden noch üblich ist. Zuneigung durch das Angebot von Lebensmitteln auszudrücken, ist in unserer Gesellschaft weit verbreitet. Man hört immer wieder von Patienten, daß' sie bei einem Besuch bei den Eltern von diesen Nahrungsmittel zugesteckt bekommen. Häufig können oder wollen die Patienten nichts mit diesen Nahrungsmitteln anfangen, und es ist ihnen lästig, sie nach Hause zu transportieren, um sie vielleicht dort wegzuwerfen. Eltern, die Nahrungsmittel zustecken, sind meist auf konkrete Sympathiebeweise eingeschränkt. Sie können nicht mit Worten sagen, was sie durch Schenken von Lebensmitteln ausdrükken. Entzieht man übergewichtigen Menschen die Ersatzbefriedigung, die Essen für sie darstellt, treten unangenehme Gefühl in Erscheinung, die durch die angenehmen Gefühle beim Essen verdeckt oder am Entstehen gehindert werden sollten. Jedoch ist nicht auszuschließen, daß auch die körperliche Umstellung einen Einfluß auf den Affekt- und Stimmungshaushalt hat. Die meisten Fettsüchtigen, unter ihnen besonders die Frauen, leiden sehr unter ihrem Übergewicht. Vielfach ziehen sie sich von anderen Menschen zurück, weil sie Angst davor haben, negativ bewertet zu werden. Es gibt jedoch auch Frauen, die zwar unter ihrem Dicksein leiden, es aber als positiv empfinden, daß Männer sich nicht für sie interessieren. Hier handelt es sich oft um Frauen mit Problemen in der Sexualität. Ihre Aussehen schützt sie vor Männern. Andere Fettsüchtige berichten, daß sie das Fett als einen Schutzwall empfinden. Einzelne Fettsüchtige, meist Männer, sind auch stolz auf ihr Gewicht. Gelegentlich findet man grotesk Fettsüchtige, die nicht an ihrem Übergewicht leiden. Das schränkt die Aussicht n einer Psychothera-
pie erheblich ein. Allerdings ist eine Psychotherapie bei Adipositas ohnehin nicht immer erfolgreich. Bei der Indikationsstellung ist besonders auf eine Neigung zu Regression und Ersatzbefriedigung auch in anderen Bereichen als dem Essen zu achten. Eine Gewichtsreduktion nur durch Psychotherapie sollte man nicht erwarten. Das zum Übergewicht führende Eßverhalten ist erlernt worden und hat meist eine gewisse Unabhängigkeit von den Konflikten gewonnen. Hier muß umgelernt werden. Gezielte Anweisungen zur Diät und zur körperlichen Aktivität sind notwendig. Anscheinend kommt es durch körperliche Aktivitäten zu einer Aktivierung des Stoffwechsels. Sozialer Druck durch Selbsthilfegruppen kann wirksamer sein als Psychotherapie. Das erinnert an die Verhältnisse in der Therapie von Alkoholikern und gilt besonders für diejenigen Übergewichtigen, bei denen das Essen Suchtcharakter hat. Vermutlich ist bei den meisten Übergewichtigen eine Kombination von erträglicher Diät, körperlicher Bewegung und Psychotherapie am wirksamstem, wobei die Patientinnen und Patienten oft für eine Diät leichter zu motivieren sind als für eine Psychotherapie. In diesem Zusammenhang müssen die Patienten darauf hingewiesen werden, daß der Stoffwechsel sich durch bessere Nahrungsverwertung auf ein reduziertes Nährstoffangebot einstellen kann, so daß bei einer wiederholten Diät stärkeres Hungern erforderlich wird. Eine bleibende Gewichtsreduktion kann nur durch eine dauerhafte Umstellung des Eßverhaltens erreicht werden. Treten während einer Abmagerungskur unangenehme Affekte auf, kann das einen Leidensdruck erzeugen, der die Patienten für eine Psychotherapie geneigter macht. Ihnen ist dann natürlich nicht Psychotherapie als Alternative anzubieten, vielmehr muß im Gegenteil das Durchhalten der Diät als Vorbedingung für das Gelingen einer Psychotherapie verstanden werden; darüber sollte der Patient aufgeklärt werden.
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Anorexia nervosa Bei der Anorexia nervosa handelt es sich um eine Verhaltensstörung auf psychogener Grundlage, die sich auf den Körper auswirkt. Das Krankheitsbild konunt vorwiegend bei Mädchen und jungen Frauen vor (das Verhältnis Frauen:Männer beträgt 20:1). Das auffallendste
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Anorexia nervosa
Merkmal ist die drastische Gewichtsreduzierung der Patientinnen. Einige Patientinnen reduzieren ihr Gewicht durch Hungern, andere durch Hungern in Kombination mit Erbrechen oder dem Einnehmen von Laxantien oder mit beidem. Gelegentlich werden auch Diuretika zur Gewichtsreduktion genommen. Patientinnen, die ein Hungergefühl wahrnehmen - das kommt nicht bei allen vor -, essen oft große Nahrungsmengen und erbrechen sie wieder. In Kliniken und Wohngemeinschaften stehlen sie Nahrungsmittel aus den Kühlschränken. Die Anorexie-Patientinnen, bei denen Freßanfälle mit anschließendem Erbrechen auftreten, unterscheiden sich von Patientinnen mit Bulimie (s. dazu den entsprechenden Abschnitt) dadurch, daß sie nicht ein Normalgewicht, sondern ein starkes Untergewicht einstellen wollen. Fast regelmäßig besteht eine sekundäre Amenorrhöe. Nur bei Anorexien, die sehr früh einsetzen, tritt eine primäre Amenorrhöe auf. Früher hat man die Amenorrhöe als primär hormonell bedingt aufgefaßt, inzwischen nimmt man jedoch an, daß es sich um Folgen des Hungerns handelt. Patientinnen, die wenig essen und keine Abführmittel einnehmen, sind oft chronisch obstipiert, und als Reaktion des Körpers auf die geringe Nahrungsmittelzufuhr kann der Grundumsatz vermindert sein. Die Körpertemperatur ist dabei erniedrigt. Gefährlich sind die Verschiebungen der Elektrolyte, wobei Kalium und Calcium eine besondere Rolle spielen. Körperlich sind die Patientinnen ganz entgegen ihrer schlechten körperlichen Verfassung oft sehr aktiv. Ihre Magerkeit halten die Patientinnen für normal, sie entspricht ihrem idealen Körperschema. Dabei sehen sie sich aber als dicker, als sie wirklich sind. Depressive Verstimmungen habe ich selten gefunden, doch kann die Krankheit mit einer Zwangsneurose kombiniert auftreten. Ein Teil der Patientinnen stirbt ohne Behandlung, aber auch eine Therapie garantiert nicht das Überleben aller Patientinnen. Ein kleiner Teil der Patientinnen wird schizophren. Der Beginn in der Pubertät kommt in dem Begriff »Pubertätsmagersucht« zum Ausdruck; es gibt aber auch einen Krankheitsbeginn bei jungen Frauen über zwanzig. Natürlich kommen selbst Frauen, die erheblich älter sind, wegen einer Magersucht in Behandlung, die aus der Adoleszenz persistiert. Ein genetischer Faktor ist aufgrund von Zwillingsstudien wahrscheinlich geworden (SCHEPANK 1991). Das Krankheitsbild bietet der Patientin neben dem primären Krankheitsgewinn weitere Vorteile. Beispielsweise werden vermehrt
Endorphine ausgeschüttet, und die Patientin gewinnt durch ihre Krankheit Macht über ihre Umgebung. Der intensive Eindruck, den die kachektische Frau oder das kachektische Mädchen in der Umgebung erzeugt, befriedigt latente sadistische Wünsche. Hier handelt es sich um einen sekundären Krankheitsgewinn, der aus der extremen Magerkeit gezogen wird. HERZOG (1993) hat katamnestisch Anorexie mit Freßanfällen und Erbrechen, Laxantienabusus, prämorbide Fettsucht und charakterneurotische Symptome als Faktoren festgestellt, die für einen ungünstigen Verlauf sprechen. Es gibt geringer ausgeprägte Krankheitsbilder, sogenannte anorektische Reaktionen, die in der Regel spontan ausheilen. Auslösende Situation ist häufig die Pubertät mit ihrem Triebschub und den Veränderungen des Körpers zur erwachsenen Frau hin, also kein Außeneinfluß, sondern der Entwicklungsprozeß zur Erwachsenen, für den der Patientin die psychischen Voraussetzungen fehlen. Die Ausprägung der weiblichen Körperformen wird als »Zunehmen« gesehen. Die erwachenden sexuellen Triebwünsche widersprechen einem Askeseideal, das wahrscheinlich auch die Funktion hat, Sexualität als Bestandteil des Erwachsenenlebens abzulehnen. Äußere Einflüsse, die in manchen Fällen wirksam werden, sind von einer Art, die man als ubiquitär bezeichnen kann, zum Beispiel erste Kontakte mit dem anderen Geschlecht. Daß die Anorexie bei Frauen häufiger auftritt als bei Männern, liegt vermutlich daran, daß die männlichen sekundären Geschlechtsmerkmale nicht »weggehungert« werden können, während eine Frau, die hungert, eher knabenhafte Körperformen behält oder sich auf solche Körperformen reduziert. Mit dem Dickwerden durch Essen sind manchmal Schwangerschaftsphantasien verbunden. Indem die Patientin Essen in sich hineinnimmt, wird sie dicker. Eine Schwangerschaft kommt ja auch dadurch zustande, daß die Frau etwas in sich hineinnimmt. Darüber hinaus müssen Mädchen sich von der Mutter trennen, um zur Frau zu werden. Sie meinen, dazu noch nicht imstande zu sein. In Familien wird manchmal gesagt: »IB, damit du groß und stark wirst«. Groß und stark zu werden, also zu essen, bedeutet auch, nicht mehr von der Familie abhängig zu sein, in die Welt hinauszugehen. Weitere Faktoren wie Selbstbestrafungstendenzen oder eine Identifizierung der Nahrung mit dem Mutterobjekt stehen vermutlich gegenüber den bisher genannten eher im Hintergrund. Ein Teil der Be-
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fürchtungen von Anorexie-Patientinnen ist bewußt, ein anderer ist unbewußt, kann aber in Therapie bewußt werden. Während die Patientinnen das Erwachsenwerden ablehnen, streben sie andererseits nach Unabhängigkeit. Sie wollen besonders von der Nahrungszufuhr unabhängig sein. Oft werden mit den Eltern, und da wieder besonders mit der Mutter, heftige interpersonelle Konflikte ausgetragen, in denen es um Selbstbestimmung geht. Hier handelt es sich wahrscheinlich auch um Merkmale einer schizoiden Struktur, die aus Angst vor Verschmelzung mit den unzureichend abgetrennten Objekten Autarkie anstrebt. Überanpassung kann vorausgegangen sein. Bei den Beziehungsmustern in der Primärfamilie von MagersuchtPatientinnen sollte zwischen Mustern, die eine Entstehung von Anorexie fördern, und Mustern, die eine Folge der Anorexie sind, unterschieden werden. Das ist nicht immer leicht. Wenn eine Zwangsneurose vorhanden ist, die möglicherweise die Funktion gewinnt, die Stabilität des Ich der Patientin aufrechtzuerhalten, ist der Umgang der Patientin mit den Angehörigen oft durch einen zwanghaften Verhaltensstil geprägt. Bei manchen Anorexiepatientinnen ist es deutlich, daß sie Macht ausüben wollen. Ich erinnere mich an eine schon 35jährige verheiratete Anorexiepatientin, bei der die Anorexie im übrigen erst nach der Geburt eines Kindes aufgetreten war. Sie pflegte in Restaurants eine lange Reihe guter und teurer Speisen zu bestellen, sie dann aber nicht anzurühren. Damit trieb sie ihren Mann zur Verzweiflung, was sie mit einer gewissen heimlichen Schadenfreude registrierte. In der Patient-Therapeut-Beziehung, und natürlich auch in den Beziehungen zum sonstigen therapeutischen Personal, zum Beispiel zu den Krankenschwestern und -pflegern, kommt es zu ähnlichen Interaktionen wie in der Familie, beispielsweise zu Machtkämpfen. Anorexiepatientinnen können die Mitarbeiter einer Station »zur Verzweiflung treiben«. Im Lauf der Therapie kommen aber auch positive Beziehungswünsche auf. Manche Anorektikerinnen verlieben sich in ihren Therapeuten, was sie ihm selbst gegenüber nicht erkennen lassen, aber in manchen Fällen den Krankenschwestern mitteilen. Die Liebe ist meist platonisch und gewinnt ihren Wert für die Patientin auch durch den Verzicht auf das Phantasieren einer sexuellen Beziehung. Eine schwierige Situation für das therapeutische Personal entsteht dadurch, daß die Patientinnen auf eine Art und Weise nach Selbstbe-
stimmung streben, mit der sie sich letztlich umbringen können. Das therapeutische Personal kann die Eigenständigkeit der Patientin nicht so weit tolerieren, daß sie in einen lebensbedrohlichen Zustand gerät. Manchmal ist es am besten, wenn eine Patientin, die sich in einen solchen Zustand gebracht hat, durch Sondenfütterung wieder »aufgepäppelt« wird. Sie kann es eher tolerieren, daß ihr Nahrung aufgezwungen wird, als daß sie freiwillig einwilligt zu essen. In der Regel verstehen die Patientinnen offenbar, daß der Therapeut sie nicht sterben lassen möchte, auch wenn ihm keine andere Möglichkeit dafür bleibt als solcher Zwang. Ich halte es darüber hinaus für richtig, wenn der Therapeut zu seiner Einstellung offen steht und der Patientin nicht vorgaukelt, daß er eine unbegrenzte Autonomie dulden wird. Manche Patientinnen erleben die Therapie als ein Ringen mit dem dominierenden Therapeuten. Die Patientin kann hier dennoch aus der Position der Gezwungenen heraus therapeutische Fortschritte machen. In gewisser Weise entlastet es sie sogar, daß sie die Fortschritte als aufgezwungen erlebt; dementsprechend ist die Abbruchrate von Anorexie-Patientinnen in stationärer Behandlung auch gering. Sie ist wesentlich geringer als beispielsweise die Abbruc/u-ate von Angstpatienten, die in der Klinik von einem unerträglichen »Heimweh« erfaßt werden, bei dem es sich jedoch faktisch um Angstzustände handelt, die auftreten, wenn sie von ihrer gewohnten Umgebung und ihren heimischen steuernden Objekten getrennt sind. Wenn Angehörige der Patientin versuchen, in die Therapie einzugreifen, und die Gefahr besteht, daß die Therapie dadurch scheitert, muß der Therapeut deutlich machen, daß er in gewisser Weise Verbündeter der Patientin gegen ihre Angehörigen ist. Gleichzeitig ist es auch Aufgabe des Therapeuten, seine Strategien gegenüber den Familienangehörigen so überzeugend wie möglich zu vertreten. Weiter ist es notwendig, sich in die Eltern hineinzuversetzen, die oft in besonderer Weise an ihrer Tochter hängen - in einer pathologischen Weise, die aber gerade deshalb schwer aufzugeben ist und deren Aufgeben reales Leid verursacht. Solange es nötig ist, Nahrung in irgendeiner Weise gegen den Willen der Patientin zuzuführen, kann man keinen »offiziellen« Behandlungsvertrag schließen. Es besteht dann aber oft ein »heimlicher Behandlungsvertrag«, den die Patientin sich selbst und erst recht dem Therapeuten nicht eingestehen kann. Im Zustand des Hungerns kann es, wie schon erwähnt, zu einer Ausschüttung von Endorphinen kommen (MARAZZI u. LUBY 1986)_
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Bulimia nervosa
Dem entsprechen auch die Berichte von Erwachsenen, die aus Gründen der Gewichtsreduktion in einem vertretbaren Rahmen eine Nulldiät oder eine stark kalorienreduzierte Diät einhalten.
Eine Bulimie scheint die gemeinsame Endstrecke verschiedener psychischer Störungen zu sein. Dazu gehören Störungen, die mit der weiblichen Rolle zu tun haben, und Störungen, die den sogenannten Impulsneurosen verwandt sind, also Charakterneurosen, die durch Störungen der Impulskontrolle gekennzeichnet sind, so daß es zu »Freßdurchbrüchen« kommt. An einer Bulimie stirbt niemand, Bulimiepatientinnen werden auch nicht schizophren, und sie erkranken in der Regel nicht an einer Zwangsneurose. Der Unterschied in der Auftretenshäufigkeit bei den Geschlechtern ist meines Erachtens noch nicht ausreichend erklärt. Er weist jedoch darauf hin, daß die Symptomatik etwas mit dem Frau-Sein zu tun hat. Insofern ist sie durch die Geschlechtsrolle mitbestimmt, muß aber nicht ausschließlich ein Geschlechtsrollenproblem sein. Sicher hängt Bulimie auch mit Unbeherrschtheit zusamm:en. Diese äußert sich bei Frauen anders als bei Männern. Ungesteuertes Verhalten bei Männern nimmt meist die Form von Aggression an. Gewaltverbrechen sind der Kriminalstatistik zufolge bei Frauen seltener als bei Männern. Bei Frauen kommen Diebstähle häufiger vor, bei Männern Raub. So könnte es sein, daß sich in der Bulimie die unterschiedlichsten Konflikte geschlechtsrollenspezifisch ausdrücken, und zwar in einem Verhalten, das niemandem schadet außer der Patientin selbst. Sie übt keine Gewalt gegen andere aus. Im Viel-Essen ist unter anderm ein oral-aggressiver Akt zu sehen, der durch das Erbrechen in allen Folgen ungeschehen gemacht wird. Bei »dicken Mädchen«, die zu viel essen, ohne zu erbrechen, äußert sich die autoaggressive Komponente anders. Die Mädchen werden dick und dadurch unattraktiv. Weil die der Bulimie zugrundeliegenden Konflikte unterschiedlich sind, lassen sich nur schwer allgemeine Therapieempfehlungen geben. Für manche Patientinnen ist eine Analyse das beste, für andere eine tiefenpsych'ologisch fundierte Therapie. Meist kommt wohl eine niederfrequente analytische Therapie in Betracht. Beratung allein ist meist nicht ausreichend. Als Übersichts arbeiten können empfohlen werden: DIEBEL-BRAUNE (1991), REICH (1992) und YAGER (1985).
B ulimia nervosa Wie die Anorexie ist die Bulimie ein Krankheitsbild, das überwiegend beim weiblichen Geschlecht auftritt, und zwar vorwiegend bei jungen Frauen zwischen zwanzig und fünfunddreißig Jahren. Freßattacken werden von Erbrechen gefolgt. Es besteht Angst vor dem Dickwerden. Angestrebt wird kein Untergewicht, sondern Normalgewicht oder Idealgewicht. In manchen Fällen werden Laxantien und Diuretika genommen, um eine Gewichtszunahme zu verhindern. Anorexiepatientinnen werfen sich vor, daß sie überhaupt essen, Bulimiepatientinnen werfen sich vor, daß sie so viel essen. Die Angst vor der Gewichtszunahme haben bulimische Frauen mit den Anorektikerinnen gemeinsam. In den Gedanken der Frauen, die an Bulimie leiden, spielt das Essen eine überwertige Rolle, was sogar zu Arbeitsstörungen führen kann, weil die überwertigen Gedanken die Konzentration auf eine Tätigkeit verhindern. Die körperlichen Folgeschäden sind geringer als bei der Anorexie. Zahnschäden können auftreten, weil der erbrochene Magensaft die Zähne angreift. Gehäuftes Erbrechen kann zu Elektrolytverschiebungen führen. Während die Anorektikerinnen unter ihrem Krankheitsbild nicht leiden und der Meinung sind, sich richtig zu verhalten, wissen die Frauen mit Bulimie, daß sich in ihrem Verhalten eine psychische Störung ausdrückt. Sie schämen sich der Tatsache, daß sie den Impulsen, übermäßig zu essen, nachgeben, und sehen das als Schwäche. Das Erbrechen wird manchmal als entlastende Selbstbestrafung erlebt. Eine Bulimie kann sich an eine Anorexie anschließen, tritt jedoch in den meisten Fällen ohne anorektische Vorphase auf. Wahrscheinlich gibt es für die Bulimie zahlreiche verschiedene psychische Ursachen. Zum Teil handelt es sich einfach um »dicke Mädchen«, die ein Normalgewicht erreichen wollen. Sie hungern, erleiden dann einen Freßdurchbruch und heben diesen durch das Erbrechen wieder auf. Bei anderen hat das Essen Suchtcharakter, die Freßanfälle erinnern an eine Intoxikation mit Alkohol nach Abstinenz.
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Störungen mit vorwiegend körperlicher Symptomatik
Ulcus ventriculi und Ulcus duodeni Ulcera im Magen oder Zwölffingerdarm sind Gewebedefekte, meist von runder Form. Sie gehen unterschiedlich tief, im Extremfall perforieren sie die Magenwand. Sie können heftig bluten. Aus ihnen kann sich auch ein Carcinom entwickeln. Zwölffingerdarmgeschwüre kommen doppelt so häufig vor wie Magengeschwüre, Männer werden doppelt so häufig befallen wie Frauen. An der Entstehung des Ulcus ist der Magensaft beteiligt. Man nimmt an, daß auch das Bakterium Helicobacter pylori gemeinsam mit anderen Faktoren zur Ulcusentstehung beiträgt. Ein Teil der Menschen, die dieses Bakterium im Magen und Zwölffingerdarm beherbergen, erkrankt an einem Ulcus. Wird das Bakterium chemotherapeutisch abgetötet, heilen die Ulcera aus. Nach dem derzeitigen Kenntnisstand handelt es sich vermutlich um eine nicht ausreichende und wohl auch nicht notwendige Bedingung für das Entstehen von Geschwüren im Magen und im Zwölffingerdarm. Wahrscheinlich gibt es Formen des Magenulcus oder auch des Zwölffingerdarmgeschwürs, die unter starkem Streß entstehen, ohne daß das Bakterium beteiligt ist. Der Ulcusschmerz ist krampfartig, drückend oder kneifend. Oft begleitet ihn ein Hungergefühl. Wenn der Patient ißt, magensaftneutralisierende Medikamente nimmt oder erbricht, werden die Schmerzen geringer. Von Mitternacht bis zum frühen Morgen kann beim Ulcus duodeni ein sogenannter Nachtschmerz auftreten. Der Magen ist leer, und die Magensäure kann den Zwölffingerdarm leichter angreifen, weil sie nicht durch Nahrungsmittel abgepuffert wird. Allerdings gibt es auch Ulcera, bei denen die beschriebenen Symptome fehlen. Man hat Ulcera ohne Schmerz nachgewiesen. Die psychischen Faktoren bei der Entstehung der Ulcera in Magen und Zwölffingerdarm sind recht gut bekannt. Auslösend wirken Situationen, die einen Geborgenheitsverlust mit sich bringen, oder Situationen, in denen sich Beziehungen gravierend ändern, etwa bei einer Beförderung. Nach ALEXANDER (1950) leiden die Ulcuskranken an einem Konflikt zwischen Abhängigkeitswünschen und einem Wunsch nach Unabhängigkeit. Der Wunsch, passiv zu sein und versorgt zu werden, muß verdrängt werden, weil er mit dem Wunsch nach Unabhängigkeit konfligiert. Das unabhängige Verhalten von Ulcuskranken wirkt oft übertrieben.
Ulcus ventriculi und Ulcus duodeni
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Der aktive Ulcustyp ist meist im Beruf erfolgreich. Er strebt Verantwortung an, wirkt ehrgeizig und konkurriert. Der passive Ulcustyp hat seine passiven oralen Wünsche weniger stark verdrängt. Er erlebt sie und drückt sie aus, sie werden ihm aber nicht ausreichend erfüllt. Personen, die dem sogenannten aktiven Ulcustyp entsprechen, kommen auch ohne Ulcus vor. Man könnte nun vermuten, daß solche Menschen bisher noch nicht in eine Situation gekommen sind, die einen Ulcus ausgelöst hätte. Es ist aber auch denkbar, daß die konfligierenden Wünsche dieser Menschen nur dann zu einem Ulcus führen , wenn somatische Faktoren wie Helicobacter pylori hinzukommen. Nach meinen Erfahrungen gibt es auch Ulcuskranke vom aktiven Typ, die nicht aktiv konkurrieren, sondern gerade im direkten Konkurrieren gehemmt sind. Sie konkurrieren durch Leistung und erwarten, daß man ihre Leistung zur Kenntnis nimmt und sie deshalb fördert. Das tritt oft auch ein, manchmal hingegen nicht. Dies kann als auslösende Situation wirken. Die spezielle Diät stellt für viele Ulcuskranke einen willkommenen Kompromiß zwischen Zuwendung und Versagung dar. Sie wird sorgfältig zubereitet, was der Patient als Zeichen der Zuwendung werten kann; der Genuß steht aber" nicht an erster Stelle, also »lockt« eine Diät die abgewehrten oralen Wünsche nicht zu sehr. Viele Ulcuskranke sagen, daß ihnen die Diät nicht besonders schmeckt, daß sie sie aber dennoch gern essen. Seit es effektive Magensäureblocker gibt und nachdem eine Chemotherapie des Helicobacter pylori möglich geworden ist, wird bei Ulcuskranken kaum noch eine Psychotherapie durchgeführt. Vor zwanzig Jahren war das noch anders. Da die Psychodynamik dieser Patienten einen Einfluß auf die Arzt-Patient-Beziehung haben kann, sind Kenntnisse der Psychodynamik wichtig für den Arzt. Ulcera des Magens oder des Zwölffingerdarms können zusammen mit anderen Symptomen auftreten, die eine psychotherapeutische Behandlung rechtfertigen. In diesem Fall wird die Psychotherapie auch die Ulcera günstig beeinflussen und Rezidive verhindern können. Auf eine Psychotherapie bei Patienten, die nur an einem Ulcus leiden und keine weiteren Symptome haben, kann man sonst um so leichter verzichten, als monosymptomatische Neurosen (HEIGL 1987) im allgemeinen eine ungünstige Psychotherapieprognose haben. Wenn also die gründliche Untersuchung durch den Psychotherapeuten keine weitere Symptomatik ergibt oder wenn eine Charakter-
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Störungen mit vorwiegend körperlicher Symptomatik
Colitis ulcerosa
symptomatik unbeeinflußbar ich-synton ist, muß man die Prognose einer analytischen Psychotherapie ohnehin als schlecht ansehen. Eine gute Übersicht findet sich bei PLATZ et al. (1993).
Colitis ulcerosa
Colon irritabile (Colica mucosa, Reizdarm) Beim Colon irritabile kommt es zu Durchfallen, zu Verstopfung oder beidem abwechselnd. Mit dem Stuhl wird oft Schleim abgesetzt, weshalb das Krankheitsbild auch Colica mucosa genannt wurde. Es gibt jedoch auch ein Colon irritabile ohne Schleim. Verschiedengestaltige Bauchschmerzen treten auch zwischen den Stuhlgängen auf. Beim Colon irritabile handelt es sich um eine chronische Störung, die bei Frauen häufiger auftritt als bei Männern. Eine Colitis ulcerosa sollte immer ausgeschlossen werden. Nach meinen Erfahrungen ist die Psychodynamik von Patienten mit Colon irritabile und mit Colitis ulcerosa ähnlich. Vielleicht handelt es sich bei beiden Krankheiten nur um verschiedene Arten des somatischen Entgegenkommens. Patienten mit Colon irritabile sind meist leistungsorientiert, bei vielen findet man wie bei der Colitis ulcerosa einen Abhängigkeits-fUnabhängigkeitskonflikt. Die Patienten haben oft auch Schwierigkeiten mit dem Behalten und Hergeben. Vielleicht handelt es sich zum Teil auch um ein Angstäquivalent, zumal das Colon irritabile bei Panikstörungen überdurchschnittlich häufig vorkommt (LYDIARD et a1. 1993). Es ist noch nicht lückenlos aufgeklärt, wie das Syndrom zustande kommt. Vielleicht ist es eine Folge veränderter Motilität unter psychischer Belastung. Eine Veränderung der Darmmotilität bewirkt, daß Nahrungsmittelfrüher oder später im Colon ankommen; sie sind dann nicht in einem Verdauungszustand, für den das Colon eingerichtet ist. Mir ist nicht bekannt geworden, daß ein Patient allein wegen eines Colon irritabile allein eine Psychotherapie gemacht hätte. Meist kommen die Patienten aus anderen Gründen zum Psychotherapeuten. Die Symptomatik kann sich bessern, wenn man dieselben psychodynamischen Bereiche bearbeitet wie bei der Colitis ulcerosa. Eine medikamentöse Mitbehandlung ist angezeigt.
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Die Colitis ulcerosa befällt das Colon (den Dickdarm) und das Rektum (den Enddarm), wobei der Befall sich auf bestimmte Abschnitte beschränken kann. Auch das Ileum (der untere Dünndarm) kann beteiligt sein. Es kommt zu häufigen, schmerzhaften Stuhlentleerungen. Der Stuhl enthält Blut und Schleim. Eiter kann abgesetzt werden. Auch zwischen den Stuhlentleerungen treten Schmerzen auf, meist Ia-ampfartig, im Unterbauch lokalisiert. Das gesamte Abdomen ist druckschmerzhaft, auch der Oberbauch. Der Appetit ist oft beeinträchtigt, Übelkeit und Erbrechen kommen vor. Das Allgemeinbefinden kann reduziert sein und Fieber kann auftreten. Die ErIa-ankung kann durch bestimmte Nahrungsmittel (etwa Milch oder Eier) verschlimmert werden. Die Ulcera können perforieren. Die veränderte Schleimhaut kann karzinomatös entarten. Die Therapie ist nicht nur medikamentös, sondern oft auch chirurgisch. Die Schübe werden häufig durch emotionale Belastungen ausgelöst. Meist geht es um Trennungen oder die Labilisierung von Beziehungen, aber auch um Leistungsanforderungen und um das Selbständigwerden. Ohne Behandlung verläuft die Krankheit chronisch rezidivierend. Eine medikamentöse Behandlung kann diesen Verlauf meist nicht grundsätzlich ändern. Wahrscheinlich handelt es sich um eine AutoimmunerIa-ankung. Bei der Indikation zu einer Psychotherapie ist zu beachten, daß Schübe durch Trennungen ausgelöst werden können. Bei Patienten, die besonders trennungsempfindlich sind, sollte auf eine Kurzzeittherapie verzichtet und eine Langzeittherapie nur gemacht werden, wenn die Erfolgsaussichten insgesamt gut sind, um ein Rezidiv durch Trennung nach erfolgloser Therapie zu vermeiden. Man sollte allerdings vermeiden, zu vorsichtig zu sein und dem Patienten die Chance einer Psychotherapie nur deshalb vorzuenthalten, weil es bei Beendigung der erfolgreichen Therapie zu einer vorübergehenden Verschlechterung kommen kann. Man findet oft ein strenges Über-Ich. Die Patienten sind aggressiv gehemmt. Verschmelzungswünsche sind latent häufig vorhanden. Die aggressive Hemmung und die Angst vor Verlusten weisen in die anale Phase der Entwicklung. Auch wegen der Lokalisierung der körperlichen Krankheitserscheinungen denkt man an die anale Entwicklungsphase. Die bei den verschiedensten Konflikten auftretende
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Neurodermitits (Endogenes Ekzem)
Angst könnte eine direkte Rolle spielen, zum Beispiel als Auslöser von Veränderungen der Darmmotilität (vgl. ZANDER 1989). Die Patienten weisen Zeichen einer Zwangsstruktur auf. Sie isolieren vom Affekt; wie weit sie Emotionen lediglich nicht ausdrücken, aber dennoch erleben, ist meines Erachtens noch nicht ausreichend untersucht. Eine oft beschriebene Tendenz zur sozialen Anpassung ist mit der überangepaßten(nicht der rebellischen) Form der Zwangsstruktur zu vereinbaren. Nach ENGEL (1955, 1956, 1958) gibt es Anhaltspunkte dafür, daß die Patienten, die sich von anderen Menschen sehr abhängig machen und Hilflosigkeit erleben, wenn die Beziehung gestört ist. Dies kann depressive Affekte auslösen (vgl. SELIGMAN 1986). Der depressive Anteil des Störungsbildes muß aber nicht nur reaktiv sein. Ich erinnere mich dagegen an einen Colitiskranken, der während eines Schubs auf der Bettschüssel saß, Zeitung las und immer wieder blutige Stühle absetzte, so daß er Transfusionen erhalten mußte. Ein solches Verhalten könnte man als Pseudounabhängigkeit deuten (»nichts kann mir etwas anhaben«); man könnte es aber auch als Folge einer Isolierung vom Affekt in einer Gefahrensituation sehen. Eine Heilung durch Psychotherapie ist nicht möglich, doch können in Verbindung mit internistischer Therapie Häufigkeit und Schwere der Schübe beeinflußt werden.
Erbgenetische Faktoren werden diskutiert. Vermutlich handelt es sich um eine Autoimmunkrankheit, deren Verlauf durch innere und äußere Faktoren beeinflußt wird. Beim Morbus Crohn ist der Stellenwert psychogener Ursachen noch umstritten. Doch scheint zumindest gesichert zu sein, daß psychische Faktoren Schübe auslösen können. KÜCHENHOFF (1993) sieht ähnlich wie bei der Colitis ulcerosa Abschied und Verlust als pathogen an. Pseudounabhängigkeit kommt häufiger vor als bei der Colitis ulcerosa, Aggressionsgehemmtheit wird ebenso gefunden wie dort, doch seien die Crohn-Kranken weniger auf Harmonie bedacht als Patienten mit einer Colitis ulcerosa. Sie seien auch eher bereit, sich von einem Objekt zu trennen. Meine eigenen Erfahrungen stimmen mit der Annahme überein, daß es keine deutlichen qualitativen Unterschiede zwischen der Psychodynamik eines Morbus Crohn und einer Colitis ulcerosa gibt, so daß die Organwahl möglicherweise auf einer unterschiedlichen Art des somatischen Entgegenkommens beruht. Somatische Einflüsse in der Genese scheinen, ebenso wie bei der Colitis ulcerosa, die Disposition zum Morbus Crohn zu verstärken. Die Erfahrungen mit der psychotherapeutischen Behandlung von Patientinnen und Patienten mit Morbus Crohn sind geringer als bei der Colitis ulcerosa. Die Indikationsstellung ist schwierig. Wenn in der ambulanten Praxis eine aufdeckende Therapie überlegt wird, würde ich eine Vorstellung des Patienten in einer Poliklinik empfehlen, die zu einer psychotherapeutischen Abteilung gehört, wo man Erfahrungen mit der B.ehandlung von Morbus Crohn hat und den Patienten oder die Patientin erforderlichenfalls zwischendurch aufnehmen kann.
Ileitis terminalis (Morbus Crohn) Der Morbus Crohn ist hauptsächlich im unteren Dünndarm lokalisiert (im terminalen Ileum), befallt aber auch die oberen Abschnitte des Verdauungstraktes und kann bis zur Mundhöhle reichen. Ebenso kann das Colon mit befallen sein. Durchfalle sind das Leitsymptom, der Stuhlgang ist jedoch nicht so schmerzhaft wie bei der Colitis ulcerosa. Schleim und Blut fehlen oft. Bauchschmerzen, Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust, Fieber und eine starke Ermüdbarkeit treten in Verbindung mit dem entzündlichen Prozeß auf. Es kann zu Fistelbildungen kommen. Wird der befallene Darmabschnitt entfernt, tritt in über der Hälfte der Fälle ein Rückfall in den verbliebenen Darmabschnitten ein. Das Karzinomrisiko ist eher gering.
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Neurodermitis (Endogenes Ekzem) Das endogene Ekzem juckt, hauptsächlich darin besteht die Belastung der Patienten. Bei längerem Bestehen der Krankheit kann es darüber hinaus zu Entstellungen kommen. Die Haut durchläuft eine Lichenifizierung, sie wird dicker und weist rautenförmige Furchen auf. Kratzwunden können sich infizieren. Die Krankheit ist am häufigsten im Gesicht, am Hals, in den Ellenbeugen, den Kniekehlen, an den Händen und an den Handgelenken lokalisiert. Ekzemschübe werden oft durch Veränderungen im Beziehungsfeld ausgelöst (vgl. BOSSE u. HÜNECKE 1984). Interpersonelle Konflikte
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Rheumatische Arthritis und Fibromyalgiesyndrom
spielen eine Rolle, wobei sich auch Konflikte zwischen anderen Beziehungspersonen auswirken können, zum Beispiel Spannungen zwischen den Eltern, wenn jemand noch im Elternhaus wohnt oder die Eltern häufig besucht. Trennung von Beziehungspersonen, etwa bei Ortswechsel, und schon eine vorübergehende Distanzierung von der Familie, zum Beispiel durch eine Reise, können auslösend wirken. Im Krankenhaus heilen Ekzeme gut aus. Hier kann eine gewisse Distanzierung von den Konflikten im Beziehungsfeld erreicht werden, ohne daß der Patient ganz auf sich gestellt wäre. ALEXANDER (1950) hatte noch angenommen, daß das chronische Ekzem spezifische psychische Ursachen haben könne; dies wird jedoch heute bezweifelt. Ich nehme an, daß bei einem frühen Auftreten des endogenen Ekzems die Mutter-Kind-Beziehung erheblich belastet wird und gestört sein kann, was sich sekundär auf die psychische Entwicklung auswirkt. Psychotherapie kann diese sekundären Veränderungen bessern und damit das Coping erleichtern. Bei entsprechenden Persönlichkeitsveränderungen kann eine analytische Psychotherapie wirksam sein. Sie erreicht oft eine Besserung der Krankheit (weniger und kürzere Schübe, weniger Jucken, weniger Kratzen trotz Jucken). Zum Coping mit dem endogenen Ekzem gehört auch der Umgang mit den Einschränkungen, die durch die Hauterkrankung im Kontakt mit Menschen verursacht werden, besonders auch im Intimkontakt. Probleme des Sich-Zeigens und Sich-Verbergens spielen bei Hautkranken eine besondere Rolle. Nach dem heutigen Wissensstand ist kein Entstehungszusammenhang mit inneren Konflikten nachgewiesen, auf jeden Fall kann aber der bewältigende Umgang mit den Hautveränderungen durch eine Bearbeitung des Konflikts zwischen Zeigen und Verbergen verbessert werden.
Bildung dieses Immunglobulins hängt anscheinend mit einem erbgenetischen Faktor zusammen. Die Krankheit entwickelt sich langsam. Erste Symptome sind Steifwerden und Schmerzhaftigkeit bestimmter Gelenke, vor allem morgens. Auch die Muskeln tun weh. Die Gelenke schwellen an. Die Krankheit beginnt oft in den Fingergrundgelenken, befällt aber auch andere kleine Gelenke, daneben das Sprunggelenk und das Kniegelenk. Die Hauttemperatur über den befallenen Gelenken ist meist erhöht, die Haut gerötet. Es kommt zu Gelenkergüssen. Müdigkeit, Schweregefühl, Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust. Subfebrile Temperaturen können auftreten. Die Krankheit führt mit der Zeit zu einer Deformation und Bewegungseinschränkung der Gelenke. Sie verläuft in Schüben. Das Fibromyalgiesyndrom ist eine weichteilrheumatische Erkrankung. Es kommt zu spontanen und durch Druck auslösbaren Schmerzen, meist gleichzeitig in vielen Regionen des Bewegungsapparats. Die Lokalisation des Druckschmerzes an bestimmten Punkten und sein Fehlen an anderen Punkten bestätigen die Diagnose. Auch hier sind Frauen häufig betroffen. Der Einfluß emotionaler Belastungen, vor allem in zwischenmenschliche Beziehungen, bei der Entstehung der rheumatischen Arthritis wurde s,?hon oft nachgewiesen. Da es sich um eine Fehlfunktion des Immunsystems handelt und der Einfluß psychischer Faktoren auf das Immunsystem heute als wahrscheinlich gilt, ist eine Beeinflussung des Krankheitsverlaufs auf diesem Wege vorstellbar. Wie bei der Arthrose korreliert das Schmerzerleben bei der rheumatischen Arthritis nur schwach mit den anatomisch faßbaren Veränderungen. Patienten, die ihrem Körper viel Aufmerksamkeit zuwenden, leiden mehr als solche, die sich ablenken oder ablenken lassen. In manchen Fällen entlastet der Schmerz auch das Über-Ich; diesen Patienten geht es subjektiv besser, wenn sie Schmerzen haben. Eine Arthritis-Persönlichkeit gilt nicht als nachgewiesen. Insbesondere läßt sich schwer trennen, welche Persönlichkeitsmerkmale der prämorbiden Persönlichkeit und welche den Folgen des chronischen Schmerzeriebens zuzuordnen sind. Störungen des sexuellen Erlebens werden mehr mit dem chronischen Schmerz, weniger mit der Psychodynamik in Zusammenhang gebracht. Viele Arthritispatienten neigen dazu, ihre Krankheit zu bagatellisieren. Über die Fibromyalgie weiß man heute noch wenig. Neben somatischen Faktoren wird ein konversionsneurotischer Entstehungsme-
Rheumatische Arthritis und Fibromyalgiesyndrom Bei der rheumatischen Arthritis handelt es sich um eine Autoimmunkrankheit, bei der körpereigenes Gewebe durch das Immunsystem angegriffen wird. Diese Erkrankung zeigt sich im wesentlich an den Gelenken, jedoch finden sich auch Veränderungen an der Skelettmuskulatur. Frauen erkranken häufiger als Männer. Ein bestimmtes Immunglobulin (IgM) findet sich bei 70 Prozent der Kranken. Die
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Coping
chanismus angenommen. Wie bei allen unklaren Schmerzuständen muß man auch an eine sogenannte larvierte Depression denken, also an eine Depression, die sich vorwiegend im Körpererleben und weniger in einer depressiven Verstimmung äußert. RÜGER und SCHÜSSLER (1994) fanden im Vergleich zu Arthritiskranken ein stärkeres Schmerzerleben, auch mehr subjektiv erlebte andere Beschwerden wie Schlafstörungen und Konzentrationsstörungen. Im Vergleich zu den Patienten mit rheumatischer Arthritis wurden mehr depressive Störungen und Angststörungen gefunden. Insgesamt fanden sich bei fast zwei Drittel der Fibromyalgiepatienten psychische Störungen, während sie bei den Arthritiskranken mit etwa 25 bis 30 Prozent nicht häufiger waren als in der Gesamtbevölkerung (nach SCHEPANK 1987). Biographische Risikofaktoren fanden sich häufiger als bei der Vergleichsgruppe. Die Konfliktkonstellationen waren sehr unterschiedlich. Eine psychotherapeutische Bearbeitung der verschiedenen Konflikte könnte, meine ich, sinnvoll sein. Im ganzen richtet sich die Psychotherapie bei der rheumatischen Arthritis heute eher auf eine Verbesserung des Umgangs mit der Krankheit. Man geht nicht davon aus, die Ursachen der Krankheit zu beeinflussen. Eine Psychotherapie wird meist ich-stützenden Charakter haben. Da die Belastung durch eine chronische Gelenkerkrankung mit bevorstehender oder schon bestehender Invalidität mit Abhängigkeit von anderen Menschen groß ist, kann eine Psychotherapie hier wesentliches leisten. Auch die langwierigen Schmerzzustände wirken belastend. Man muß sich gut überlegen, ob man ein Bagatellisieren oder auch Leugnen der Erkrankung aufdeckend bearbeiten soll. Bagatellisieren und Leugnen wirken sich nicht immer ungünstig aus, vielmehr können sie die psychische Belastung reduzieren, die aus der Krankheit erwächst.
Manche Krankheiten können nicht behandelt werden, sie schreiten unbeeinflußt fort, etwa die inoperablen und auch mit Bestrahlung und Chemotherapie nicht erreichbaren Krebskrankheiten und die erworbene Immunschwäche Aids. Schon die HIV-Infektion selbst ohne manifeste Erkrankung stellt natürlich eine schwere Belastung dar. Unfallfolgen können ebenfalls psychisch sehr belasten, man denke an die Folgen einer Hirnquetschung, an den Verlust von Extremitäten oder an eine Querschnittslähmung. Psychotherapeuten sind für den Umgang mit solchen Patienten in der Regel nicht gerüstet. Sie verstehen zwar Motive von Menschen und können auch Probleme beim Coping, die sich aus der Persönlichkeit ergeben, begreifen und dem Patienten dieses Verständnis vermitteln. Was aber oft fehlt, sind genauere Kenntnisse des zu erwartenden Krankheitsverlaufs. Solche Kenntnisse sind nicht in jedem Fall notwendig, etwa nicht bei den Endfolgen eines Unfalls, bei denen eine Veränderung nicht mehr zu erwarten ist; hier geht es darum, daß der Patient die psychischen Belastungen bewältigt und sein Leben entsprechend umstellt, was schwer genug ist, weil der Patient ja gleichsam eine neue Identität finden muß (BrsKuP u. BANDELOW 1996). Bei Karzinomerkrankungen, bei Aids und bei der Multiplen Sklerose sind jedoch Kenntnisse des Krankheitsverlaufs unentbehrlich. Der zugezogene Psychotherapeut muß sich Gedanken darüber machen, ob er eine partielle Leugnung der Krankheitsfolgen ansprechen und bearbeiten soll. In vielen Fällen, aber keineswegs in allen, wird die Lebensqualität durch den Einsatz von Leugnungsmechanismen insgesamt verbessert. Sogar die Prognose bezüglich des Rezidivs einer Krebserkrankung kann auf dem Weg über das Immunsystem durch die psychische Belastung verschlechtert werden, die ein volles Wissen um den voraussichtlichen Verlauf darstellt. Die psychischen Belastungen können zu pathologischen Reaktionen führen und psychogene Syndrome auslösen, zum Beispiel eine Depression, die den Antrieb lähmt und so die Bewältigung der Krankheit erschwert. Wie eine Krankheit verarbeitet wird, hängt von der Persönlichkeit, der Lebenssituation und den aktuellen und früheren Beziehungen ab. Psychotherapeuten machen sich nicht immer klar, daß reale Belastungen neurotische Reaktionen auslösen können, obwohl ihnen das in Teilbereichen selbstverständlich ist, zum Beispiel bei der Trennung von wichtigen Beziehungspersonen. Es gibt Belastungen, auf die auch der gesunde Mensch mit bleiben-
Coping Psychotherapeuten, die mit Organärzten zusammenarbeiten, werden zunehmend bei Problemen der Krankheitsbewältigung (des Coping) konsultiert. Insbesondere Krebskranke sind durch das Wissen um die Grundkrankheit und durch die Behandlungsfolgen wie verstümmelnde Operationen, schwächende Bestrahlungen, Übelkeit oder Verlust der Haare bei Chemotherapie schwer belastet, und der Psychotherapeut soll bei der Bewältigung dieser Belastungen helfen.
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den psychischen Schäden reagiert. Dazu gehören die Spätschäden bei Folteropfern und KZ-Häftlingen. Die Art des beratenden Vorgehens, das mit einem Stück Therapie gekoppelt sein kann, hängt wesentlich davon ab, ob das Erleben und Verhalten des betreffenden Patienten von sogenannten externalen oder von internalen Kontrollüberzeugungen geleitet wird. Ein Mensch mit externalen Kontrollüberzeugungen fühlt sich passiv äußeren Gewalten ausgeliefert. Das kann er nun einfach hinnehmen, oder er kann von anderen Menschen Hilfe erwarten, etwa von den Ärzten oder von der Primärfamilie oder der selbst gegründeten Familie. Dagegen erlebt sich ein Mensch mit internalen Kontrollüberzeugungen als jemand, der für sein Geschick mit verantwortlich ist und es beeinflussen kann. Aber auch solche Menschen brauchen oft soziale Unterstützung, nicht nur von den Angehörigen, sondern auch von professionellen Helfern. Der psychische Zustand des Betreffenden ist so von seinem sozialen Netz abhängig. Über den psychischen Zustand wirkt das soziale Netz auch auf die Grundkrankheit ein, bis hin zu einer Beeinflussung der Lebenserwartung. Natürlich hängt es auch vom Patienten ab, was er aus einer sozialen Unterstützung macht, ob er sie annehmen kann und nutzt oder ob er sie zurückweist oder nichts mit ihr anfangen kann. Inkompetenz im Umgang mit sozialer Unterstützung kann vom Psychotherapeuten mit dem Patienten bearbeitet werden, obgleich man da von therapeutischen Interventionen nicht zu viel erwarten darf. Oft handelt es sich ja um Lebens- und Verhaltensweisen, die sich aus der Grundpersönlichkeit ergeben, welche nur in langen Psychoanalysen wesentlich verändert werden könnte. Hier geht es oft mehr darum, die richtige Unterstützung zu geben und Hilfs-IchFunktionen zu übernehmen. Zu den Aufgaben des Therapeuten gehört auch eine Beschäftigung mit der Krankheitsverarbeitung in einer Paarbeziehung und in der Familie. So fällt es beispielsweise auf, daß Paare gemeinsam leugnen oder gemeinsam klagen (BISKUP 1982, BISKUP U. BANDELOW 1996). Das Verständnis einer Krankheit wird ganz wesentlich von subjektiven Krankheitstheorien bestimmt, auf die die Persönlichkeitsstruktur einen wesentlichen Einfluß hat. So kann ein Schizoider eine Krankheit positiv bewerten, weil sie ihn des Umgangs mit Alltagsproblemen enthebt, mit denen er nie gern umgegangen ist; sie interessierten ihn gar nicht. Ein narzißtischer Mensch kann das Krank-
sein als Kränkung empfinden, ein zwanghafter als Kontrollverlust, oder er kann sich in einem gut geführten Krankenhaus, wo alles »wie am Schnürchen klappt« gesichert und gut aufgehoben fühlen; ein phobischer Patient empfindet das Kranksein vielleicht als eine Gelegenheit, sich lenken und leiten zu lassen, ohne Scham oder Protest empfinden zu müssen; ein hysterischer Mensch kann die freundlich-neutrale Zuwendung von Ärzten und medizinischem Personal seiner persönlichen, geschlechtsgebundenen Attraktivität zuschreiben. Frühere Erfahrungen mit Krankheiten spielen ebenfalls eine Rolle. Das Verhalten von Ärzten und medizinischem Personal wird aufgrund von Eifahrungen mit Ärzten und medizinischem Personal beurteilt, wobei die ersten, prägenden Erlebnisse oft bis in die Kindheit zurückreichen, so daß es sinnvoll sein kann, nicht nur danach zu fragen, welche Krankheiten jemand hatte, sondern auch danach, wie das für ihn war und wie seine Umgebung damit umging. Coping wird immer auch vom Unbewußten beeinflußt, von Erinnerungen und Erfahrungen, die gemacht wurden, dem Bewußtsein aber nicht zur Verfügung stehen und dennoch wirksam werden. Bei fast jedem Copingverhalten sind auch Abwehrmechanismen beteiligt. Manchmal gelingt es Patienten, einen Umgang mit der Krankheit durch Abwehr von unbewußten Einflüssen freizuhalten. Das gelingt zum Beispiel durch eine gründliche Isolierung vom Affekt, die bewirkt, daß unbewußte Faktoren zwar bewußt werden können - und das sogar leichter als bei anderen Menschen -, daß sie aber wegen des fehlenden Affekts keinen oder nur sehr begrenzten Einfluß gewinnen. Ein Wissen um die Krankheit kann nicht nur in seinem Stellenwert geleugnet werden, so daß der Kranke sich so verhält, als verfüge er nicht über dieses Wissen. Es kann auch verdrängt werden, so daß der Kranke besten Gewissens sagt, er sei nie über die Krankheit aufgeklärt worden. Gerade bei der Aufklärung kommt es oft zu tendenziösem Mißverstehen, besonders bei zwanghaft strukturierten Menschen, die auch sonst diejenigen mißverstehen, die Einfluß auf sie nehmen wollen. Eine gute Krankheitsbewältigung ist nicht dadurch gekennzeichnet, daß der Betreffende in einem dauernden Kampf mit der Krankheit liegt und sich für nichts anderes mehr interessieren kann, daß also der Umgang mit der Krankheit zu seinem einzigen Lebenszweck wird. Vielmehr gelingt es im günstigen Fall, das Interesse auch an anderen Dingen zu erhalten, wobei durchaus Leugnungsmechanis-
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men mit Nutzen eingesetzt werden können, wenn die Beschäftigung mit der Krankheit sonst überhand nimmt. Geleugnet werden können am ehesten Krankheiten, die sich nicht ständig, etwa durch Schmerz, bemerkbar machen. Es kann erforderlich sein, daß man bestimmte Aufgaben für den Patienten übernimmt, die er als Gesunder bewältigen könnte, die ihm aber als Kranken zu viel Anstrengung oder sogar Leiden verursachen würden. Gleichzeitig ist die Mobilisierung der Ressourcen des Patienten wichtig, vor allem, wenn es sich um Krankheiten handelt, die nicht zum Tode führen. Wie weit nur Hilfe zur Selbsthilfe gegeben wird, entscheiden die Helfer meist aufgrund berufsbildbezogener Ideologien und eigener subjektiver Einstellungen. Die sind dem Einzelfall nicht immer angemessen. Es macht allerdings oft mehr Arbeit, Hilfe zur Selbsthilfe zu geben, als Aufgaben kurzerhand selbst zu erledigen. Es ist ja auch leichter, einem Kind einen Apfel zu geben, der auf dem Tisch liegt, als einen Hocker heranzuschieben, den das Kind verwenden kann, um den Apfel auf der Tischplatte zu erreichen, und das Kind dabei zu beobachten für den Fall, daß es herunterzufallen droht. Entsprechendes gilt für die Entscheidungen, die etwa ein Sozialarbeiter treffen muß, wenn es darum geht, welche Art von Hilfe man einem Patienten angedeihen lassen will. Es ist aber auch zu berücksichtigen, daß viele Patienten nach Mitteilung einer Diagnose und besonders der Mitteilung, die Krankheit könne nicht geheilt werden' und der Patient müsse sie behalten oder gar daran sterben, in einen regredierten Zustand geraten, der die eigenen Ressourcen lähmt. Bei den meisten Menschen ist dieser Zustand zumindest zum Teil reversibel. Übernimmt man bei einem solchen Patienten viele Funktionen, kann man ihn in einem regredierten oder zumindest regressionsähnlichen Zustand fixieren. Der Patient erlebt, daß er so eingeschränkt bleiben wird wie direkt nach der Mitteilung von Diagnose und Prognose und erwartet kein Auftauchen aus der Regression mehr. Manche Patienten tauchen dennoch aus der Regression wieder auf, wie das dem natürlichen Spontanverlauf entspricht, bleiben aber in ihrem Verhalten »regrediert«, weil sie sich daran gewöhnt haben, daß man ihnen viel abnimmt. Das übertriebene Anbieten von Hilfe kann im übrigen auch die Regression fördern. Der Patient bekommt den Eindruck, er müsse doch recht krank sein, wenn man ihm schon so wenig zutraut.
Das Zurückhalten direkter Hilfe kann den Patienten andererseits auch überfordern und von ihm als sadistisch empfunden werden. Da kann er sogar teilweise recht haben; es gibt auch sadistische Impulse, die einen Helfer motivieren, Patienten »zappeln zu lassen«. Zum Tod und seiner Einstellung dazu könnte der Therapeut dem Patienten auch etwas sagen, aus seiner eigenen, aber durch sein Wissen um die Psychodynamik von Menschen beeinflußten Position. Eigentlich ist dies mehr die Aufgabe des Klinikseelsorgers; von manchen Patienten wird die Hilfe des Seelsorgers jedoch zurückgewiesen. Möglicherweise sprechen diese Patienten mit dem Psychotherapeuten, wenn sie Gelegenheit dazu erhalten. Auch die Angst vor dem Tod hat einen Einfluß auf die Krankheitsverarbeitung. Sie wirkt vermutlich auf das Immunsystem, von dem wir noch wenig wissen (RuDOLF et al. 1995). Die körperlichen Folgen von Operationen, zum Beispiel einer Entfernung der weiblichen Brust oder einer teilweisen Entfernung wichtiger Organe wie des Magens oder des Darms (häufig mit künstlichem Darmausgang, Anus praeter), sind bei den Krebserkrankungen oft besonders gravierend. Das gilt auch für Entstellungen durch Chemotherapie und Radiotherapie. Die Verarbeitung dieser Entstellungen hängt natürlich wesentlich von der vitalen Prognose ab. Patienten, die erwarten, wieder gesund zu werden, werden sich möglicherweise eher damit befassen, wie sie und gegebenfalls ihre Partnerinnen und Partner die Entstellungen ertragen und mit ihnen umgehen können. Ist die Prognose infaust, können Entstellungen entweder wenig beachtet werden (»es ist sowieso alles egal«), oder sie können zusätzlich belasten. Überraschend viele Menschen beschäftigt es, in welchem Zustand sie begraben werden. Ein Patient, bei dem das Einsetzen einer Hüftgelenksprothese anstand, sagte mir: »Was wird wohl Petms sagen, wenn ich mit Ersatzteilen ankomme?« Es kann für Menschen auch beruhigend sein, wenn sie wissen, an welchem Ort sie begraben werden. Der Therapeut sollte solche Überlegungen eines Patienten nicht als unwesentlich abtun. Damit würde er zeigen, daß er den Patienten nicht versteht, und dessen Vertrauen verlieren. Bei Organmedizinern besteht die Tendenz, die psychische Betreuung ihrer schwerkranken Patienten entweder ganz zu behalten oder ganz an externe Fachleute zu delegieren. Letzteres kann man verstehen, denn viele Ärzte sind im Umgang mit sterbenden Patienten aus-
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gesprochen hilflos. Das gilt besonders für junge Ärzte. Die älteren sind meist Oberärzte oder Chefärzte und haben mehrere Stationen zu betreuen. Es fehlt ihnen an Zeit, sich selbst mit einzelnen Patienten zu beschäftigen. Der Liaisondienst mit Anwesenheit des Psychotherapeuten auf einer Station ist wohl noch am besten geeignet, eine gute psychische Betreuung schwerkranker Patienten in Zusammenarbeit mit den Organmedizinern zu geWährleisten. Es ergeben sich Aufgaben im Coping-Bereich, die eine volle psychotherapeutische Kompetenz erfordern, wenn sie optimal bewältigt werden sollen. Deshalb sollte auf die Mitarbeit von Psychotherapeuten an allen somatischen Krankenhäusern, auch an kleineren, hingewirkt werden. Die Teilnahme der Patienten an Selbsthilfegruppen kann unterstützend wirken. Wahrscheinlich funktionieren Selbsthilfegruppen zum Coping am besten, wenn sie sich in gewissen zeitlichen Abständen von Fachpsychotherapeuten beraten lassen. Das ist jedoch häufig nicht der Fall. Doch auch dann können sie immer noch stützend wirken und vor allem Hilfe bei der Bewältigung praktischer Probleme leisten, die mit der Krankheit zusammenhängen Coping spielt auch im Umgang mit psychisch verursachten Krankheiten eine Rolle. Die Psychoanalyse hat bisher ihr Augenmerk vor allem auf die Heilung oder zumindest Besserung von Krankheiten gerichtet. Psychogene Erkrankungen - zu denen man auch Krankheiten rechnen muß, bei denen ein konstitutionelles Entgegenkommen in mehr oder weniger starkem Maße beteiligt ist - wurden bislang zwar unter dem Aspekt des Coping betrachtet, wenn es darum ging, welche Funktion die Symptomatik im Leben der Patienten gewann und welche Vorteile ein Patient aus seiner Symptomatik ziehen konnte. Dies geschah aber vorwiegend unter dem Aspekte der Prognose und Indikation oder - nach Beginn der Behandlung - unter dem Aspekt der Widerstandsbearbeitung. Erschien eine Psychotherapie nicht angezeigt oder hatte eine Psychotherapie nicht zum Erfolg geführt, hielt der Psychotherapeut seine Aufgabe in der Regel für beendet. Er überwies den Patienten dann zum Psychiater zur Pharmakotherapie und zur sozialpsychiatrischen Betreuung, sofern er es nicht für angezeigt hielt, ihn an einen Kollegen zu überweisen, der vielleicht besser in der Lage sein könnte, ihm mit Psychotherapie zu helfen. Den Umgang mit psychisch kranken Patienten, denen kausal nicht zu helfen ist, sahen Psychotherapeuten in der Regel nicht als eine Aufgabe an, für die sie gerüstet und zuständig sind.
Mit der Einführung des Facharztes für psychotherapeutische Medizin dürfte es mehr als bisher zum Aufgabenbereich des Psychotherapeuten, der nicht selbst Psychiater ist, gehören, das Umgehen mit einer unbehandelbaren psychischen Krankheit zu fördern und zu unterstützen. Freilich ist ein Therapeut, der bei einem Patienten mit Psychotherapie keinen Erfolg hatte, aus Gründen der Gegenübertragung oft nur eingeschränkt in der Lage, das Coping optimal zu fördern und zu unterstützen; vor allem dann nicht, wenn er sich in der Prognose geirrt hatte. Er ist vielleicht gekränkt oder enttäuscht. Viele Psychotherapeuten wissen zwar, daß man mit Psychotherapie in der Regel nicht mehr als zwei Drittel der behandelten Patienten wesentlich helfen kann (bei sorgfältiger Indikationsstellung höchstens 80 Prozent). Aber sie verhalten sich und reagieren oft so, als ob ein Erfolg bei jedem Patienten möglich wäre, bei dem sie eine Indikation für eine Psychotherapie gestellt haben. Auch die Patienten haben oft magisch überhöhte Erwartungen an den Psychotherapeuten, was nicht immer Gegenstand der Bearbeitung wird. Ein Wissen des Psychotherapeuten um die Gegenübertragungsprobleme, die aus diesen Umständen resultieren, könnte helfen, mit ihnen adäquater umzugehen und das Coping des Patienten zu fördern und zu unterstützen, sofern er sich nicht entschließt, den Patienten einem anderen Kollegen für sozialpsychiatrische Maßnahmen zu überweisen, vielleicht mit einem zwischengeschalteten stationären Aufenthalt in einer entsprechenden Fachklinik.
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Glossar
Glossar
Es werden hier nicht nur Fachtermini kurz erläutert, die in diesem Buch verwendet werden. Das Glossar soll auch beim Lesen der zitierten Literatur Verwendung finden können. Abwehrmechanismen: Abwehrmechanismen begrenzen den freien Austausch zwischen dem Es und dem Ich. Sie gehören dem Ich an und werden durch unangenehme Affekte wie Angst, depressive Affekte und vermutlich auch durch Schamgefühle ausgelöst, und zwar schon, während diese Gefühle noch so gering ausgeprägt sind, daß sie nicht ins Bewußtsein treten. Man spricht von Signalaffekten. Ohne Abwehrmechanismen würde das bewußte Ich des betreffenden Menschen durch Impulse und Gefühle überschwemmt. Manche Abwehrmechanismen sind notwendig, um sachlich denken zu können; andere haben die Funktion, die innere Welt des Menschen von unerträglichen Konflikten zu entlasten. Letzteres ist zum Beispiel bei der Projektion der Fall. Sie bewirkt, daß eigene Gefühle, die Angst, Schuldgefühle oder Schamgefühle erzeugen würden, wenn sie als eigene erkannt würden, anderen Personen zugeschrieben werden, ehe sie ins Bewußtsein treten können. In diesen anderen Personen können diese Gefühle dann bekämpft werden. Die Verdrängung hält einen Impuls oder einen Affekt ganz unbewußt. Die isolierung vom Affekt läßt nur die inhaltliche Vorstellung zu, nicht das zugehörige Gefühl, während bei der Verdrängung sowohl Inhalt als auch Gefühl unbewußt gemacht beziehungsweise gehalten werden. Abwehrmechanismen haben die Funktion, Unlust zu minimieren. Sie werden nicht immer zweckmäßig eingesetzt. Erinnerungen an frühere Beziehungserfahrungen, die in der Gegenwart keine Gültigkeit mehr haben, können Impulse blockieren, die der erwachsene Mensch zulassen und umsetzen könnte. Abwehrmechanismen dienen auch dem Umgang mit dem Verlust wich-
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tiger Personen. Die wichtigen Personen werden gleichsam in das eigene Selbst inkorporiert, so daß sie wenigstens als innere Bilder nicht verloren gehen können, wobei sie zu Bestandteilen der eigenen Persönlichkeit werden. Das hat auch Nachteile; so werden Vorwürfe, die man eigentlich der Außenperson machen möchte - beispielsweise, weil sie einen verlassen hat -, gegen die eigene Person gerichtet; in der Folge treten zum Beispiel unerklärliche Schuldgefühle auf. Man nennt das Wendung der Aggression gegen das Selbst. Kann ein Mensch es nicht aushalten, gleichzeitig gute und böse Aspekte zu haben, spaltet er sein Selbst in Gut und Böse auf und erlebt immer nur das eine oder das andere. Ebenso kann mit den inneren und äußeren Objekten umgegangen werden. Es wird die Vorstellung entwickelt, eine Person der Vergangenheit sei nur gut oder nur böse gewesen. Das gleiche ist bei der Wahrnehmung von Personen möglich, mit denen der Mensch aktuell umgeht. Das vereinfacht den Umgang mit anderen, was den inneren Aufwand angeht, stört aber die gelebten Beziehungen. Die gleiche Person kann in einem Augenblick als nur gut erlebt werden, kurze Zeit später als ganz böse oder schlecht. Alle Abwehrmechanismen schränken die Wahrnehmung und Beurteilung äußerer oder innerer Realität ein. Für die äußere Realität gilt das besonders bei der Leugnung, bei der Sachverhalte zwar wahrgenommen werden, ihnen aber keine wesentliche Bedeutung zugemessen wird. Zum Beispiel kann eine Gefahr geleugnet werden. Menschen, die wissen, daß sie bald sterben müssen, können sich so verhalten, als wüßten sie es nicht. Das kann die Lebensqualität vorübergehend erhöhen. In einer Psychotherapie sollen Abwehrmechanismen nur dann in Frage gestellt werden, wenn der Betreffende es voraussichtlich aushalten kann, einen Sachverhalt ohne Wahrnehmungseinschränkung oder Relativierung seiner Bedeutung wahrzunehmen, oder wenn der Betreffende in der Lage ist, mit seinen Reaktionen auf den Sachverhalt situationsadäquat umzugehen. Einige Abwehrmechanismen können in abgestufter Intensität eingesetzt werden. Das ist zum Beispiel bei der Leugnung der Fall, auch bei der isolierung vom Affekt, die unsere Gefühlsreaktionen einschränkt, teilweise auch durch das isolieren aus dem Zusammenhang, zum Beispiel durch das Isolieren einer Vorstellung von Motivationszusammenhängen, von denen der betreffende Mensch nichts wissen will. Im Unterschied hierzu wirkt die Verdrängung total: Weder Vorstellung noch Affekt sind im Bewußtsein vorhanden. Manchmal wird auch nur der Affekt in das Ich zugelassen, nicht der betreffende Inhalt. Das ist zum Beispiel bei manchen Angstkrankheiten der Fall, auch bei depressiven Verstimmungen. Man könnte von einer Isolierung des Affekts vom Inhalt sprechen.
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Glossar
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Einige Abwehrmechanismen haben die Funktion, eine bestimmte Beziehung oder das ganze interpersoneJle Feld von Aggression frei zu halten. Zum Beispiel bewirkt das die Wendung der Aggression gegen das Selbst. Dieser Abwehrmechanismus kann, wie alle Abwehrmechanismen, unspezifisch und habituell eingesetzt werden.
vom Bewußten abgegrenzt ist und Impulse aus dem infantilen Unbewußten so verändert, daß sie in sozialadäquaterer Form empfunden und umgesetzt werden können.
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Ajfekttoleranz: Ich-Funktion; Fähigkeit, Gefühle zu ertragen. Altruistische Abtretung: Menschen, die sich zum Beispiel Genuß nicht gönnen können, weil sie ihn für sündhaft halten oder weil sie glauben, daß er ihnen nicht zusteht, leben durch die Identifizierung in der altruistischen Abtretung Genuß mit, den andere Menschen empfinden. Anal: Auf den Anus bezogen. Entwicklungsphase, in der die Sauberkeitserziehung eine zentrale Bedeutung hat, oder: zu dieser Entwicklungsphase gehörig. Angsttoleranz: Ich-Funktion; die Fähigkeit, ein gewisses Maß an Angst auszuhalten. Antizipationsfähigkeit: Ich-Funktion; die Fähigkeit, wahrscheinliche Folgen sich vorzustellen und zu erwarten. Bewußt: Zur Zeit im Bewußtsein befindlich, bewußt verfügbar. Deskriptiv Unbewußtes: Alles nicht Bewußte: Vorbewußtes oder Gegenwartsunbewußtes und Unbewußtes oder infantiles Unbewußtes. Dyadische Beziehung: Beziehung zwischen zwei Personen, wird meist als ausschließlich gewünscht, unter Ausschluß anderer. Ersatzbefriedigung: Triebimpulse, die sonst nicht umgesetzt werden können und eine Bedürfnisspannung erzeugen, werden dadurch besänftigt, daß Bedürfnisse aus einem anderen Bereich übererfüllt werden. Es: Teil der Persönlichkeit, in dem die Triebwünsche entstehen. Auch Ort des Verdrängten. Familiarität: Vertrautheit, meist mit Personen der Primärfamilie oder nach diesem Muster gestaltet. Fixiert: Stehengeblieben, steckengeblieben. Bezieht sich auf Entwicklungsphasen, in denen der Mensch partiell steckenbleiben kann, oder auf Personen, an die jemand fixiert, also zu sehr gebunden, sein kann. Frustrationstoleranz: Ich-Funktion; die Fähigkeit, Enttäuschungen auszuhalten und zu überwinden. Gegenwartsunbewußtes: Vorbewußtes, das durch eine Zensurschranke
Ich: Teil der Persönlichkeit, der zwischen den Triebwünschen, die aus dem Es kommen, den Anforderungen des Gewissens (Über-Ich), den Vorstellungen davon, wie man idealerweise sein sollte (Ich-Ideal) und den Anforderungen der Außenwelt vermittelt. Das Ich hat bewußte und unbewußte Anteile. In ihm sind die Selbstrepräsentanz und die Objektrepräsentanz gespeichert und wirksam. Ich-Ideal: Teils bewußte, teils unbewußte Vorstellung davon, wie man sich idealerweise verhalten sollte. Ich-Funktionen: Ich-Funktionen sind Funktionen des Ich, die dem Umgang mit äußerer und innerer Realität dienen. Manche Psychoanalytiker zählen auch die Abwehrmechanismen dazu, die ja eine adaptive Funktion haben; das heißt, daß sie der Anpassung an innere oder äußere Realitäten oder dem Umgang mit ihnen dienen. Zu den Ich-Funktionen gehören die Realitätsprüfung, also die Unterscheidung zwischen Vorstellung und Wirklichkeit, die Impulskontrolle, das heißt, das Sich-Beherrschen bezüglich des eigenen HandeIns, die Ajfekttoleranz, das heißt, die Fähigkeit, Gefühle zu ertragen, die Frustrationstoleranz, also die Fähigkeit, Versagungen zu ertragen, die Fähigkeit zur Beurteilung sozialer Situationen, die Fähigkeit, Beziehungen aufzunehmen und zu unterhalten. Eine wichtige Ich-Funktion ist auch die Introspektion. Man braucht sie als Patient bei psychoanalytischen Therapien, aber auch als Therapeut besonders beim Analysieren der Gegenübertragung, also der eigenen Gefühlsreaktionen und antwortenden Phantasien, die durch den Patienten ausgelöst werden, in ihrer Art und Intensität aber immer auch etwas mit der eigenen Persönlichkeit zu tun haben. Ich-Psychologie: Schulrichtung der Psychoanalyse, die Funktionsweisen des Ich in den Mittelpunkt der diagnostischen Betrachtung und therapeutischen Beeinflussung stellt. Idealisierung: Die Idealisierung kann Abwehrzwecken dienen, zum Beispiel, indem man aggressive Gefühle einem anderen Menschen gegenüber vor sich selbst durch Idealisierung verdeckt. Bei der Identifizierung mit einem idealen Objekt kann der sich Identifizierende auch sich selbst erhöhen. Jede Idealisierung läuft Gefahr, bei einer Konfrontation mit der Realität zusammenzubrechen. Ist das Selbstwertgefühl von der Identifizierung mit einem idealisierten Menschen abhängig, wird es durch die Konfrontation mit der Realität dieses idealisierten Menschen oft gefährdet.
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Identifizierung: Prozeß, in dessen Verlauf man sich in die Lage eines anderen versetzt, um wie dieser zu denken und zu empfinden. Die Identifizierung mit einer anderen Person kann das eigene Selbst entlasten. Man verhält sich wie der andere und schreibt ihm einen Teil der Verantwortung dafür zu, daß man sich so verhält.
Ödipuskomplex, negativer: Entwicklungsphase, in der das Kind Partner des gleichgeschlechtlichen Elternteils sein möchte und den gegengeschlechtlichen Elternteil als Rivalen empfindet.
Impulskontrolle: Ich-Funktion; die Fähigkeit, sich beim Handeln zu beherrschen. Infantiles Unbewußtes: Unbewußte Erfahrungen und Impulse aus den ersten fünf Lebensjahren. Isolieren aus dem Zusammenhang: s. Abwehrmechanismen. Isolierung vom Affekt: s. Abwehrmechanismen. Leugnung: s. Abwehrmechanismen. Masochismus: Lustgewinn durch das Erleiden von Demütigungen oder Schmerzen. Moralischer Masochismus: Selbstquälerisches Verhalten unter Zuhilfenahme moralischer Grundsätze. Narzißtisch: Auf die eigene Person und ihre Bedeutung konzentriert. Objekt: »Das Gegenüber«, psychoanalytische Bezeichnung für Person. Objektbeziehungstheorie: Die Objektbeziehungstheorie richtet ihr Augenmerk auf die zwischenmenschlichen Beziehungen und ihre Auswirkungen. Sie betrachtet die innere Welt eines Menschen, in der Erinnerungsspuren von Personen existieren, mit denen man bisher umgegangen ist und zur Zeit umgeht. Objektimago: Vorstellung von einem Objekt, das innere Bild eines Objekts. Objektrepräsentanz: Erinnerungsspuren an ein Objekt und die Beziehung zu ihm.
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Ödipuskomplex, positiver: Entwicklungsphase, in der das Kind Partner des gegengeschlechtlichen Elternteils sein möchte und den gleichgeschlechtlichen Elternteil als Rivalen empfindet. Passiv-feminin: Verhalten eines Mannes, der mit anderen Männern in Konkurrenz steht, aber nicht kämpft, sondern sich ihnen unterwirft und dadurch eine gute Beziehung zu ihnen herzustellen sucht. PhaLLisch-narzißtisch: Entwicklungsphase, in der die Anerkennung der Geschlechtseigenschaften wichtig wird, sich das ödipale Beziehungsdreieck aber noch nicht ausgebildet hat. Eine Fixierung in dieser Phase bedingt ein Verhalten, das man als »phallisch« oder »phallisch-narzißtisch« bezeichnet. »Narzißtisch« bedeutet in diesem Zusammenhang, daß narzißtische Zufuhr (Bewunderung) bezüglich der eigenen Geschlechtseigenschaften angestrebt wird. Projektion: s. Abwehrmechanismen. Projektive Identifizierung: Kombinierter innerpsychischer und interpersoneBer Vorgang, in dem bewußte, vorbewußte oder unbewußte Eigenschaften des inneren Bildes von einem selbst (oder des inneren Bildes von einem Objekt) durch unbewußt motivierte Manipulation in einer Außenperson erzeugt werden. Projektive Identifizierung kann dazu dienen, Vertrautes wiederzufinden (Familiarität, projektive Identifizierung vom Übertragungstyp) oder die eigene innere Welt von Konflikten zu entlasten, indem ein innerpsychischer Konflikt zu einem interpersonellen gemacht wird. Sie kann auch der Kommunikation dienen, wenn beispielsweise der Analytiker die gleichen Gefühle haben soll wie der Patient, damit er ihn besser versteht. Die projektive Identifizierung vom Abgrenzungstyp macht den anderen zu einem unempathischen Objekt und verhindert, daß Verschmelzung gefürchtet werden muß.
Objektspaltung: s. Abwehrmechanismen.
Reaktionsbildung: In der Reaktionsbildung werden ursprüngliche Gefühle und Impulse durch ihr Gegenteil zugedeckt, zum Beispiel werden sadistische Impulse durch Mitleid verdeckt.
Ödipal: Zur ödipalen Phase gehörig (etwa 3. bis 5. Lebensjahr), dem Entwicklungsabschnitt, in dem die Beziehungen zu den Eltern wesentlich durch die Geschlechtsunterschiede bestimmt sind.
Realitätsprüfung: Ich-Funktion; Fähigkeit, zwischen Vorstellung und Wirklichkeit zu unterscheiden.
Ödipaler Triumph: Dem Kind gelingt es, den gleichgeschlechtlichen Elternteil beim gegengeschJechtlichen auszustechen, zum Beispiel, indem ein Sohn von der Mutter dem Vater vorgezogen wird.
Regression: Reaktualisierung früherer Erlebensformen, Phantasien und Handlungsimpulse. Repression: Verdrängung.
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Sadismus: Lustgewinn wird erreicht, indem andere gedemütigt werden oder ihnen Schmerzen zugefügt werden.
Einfluß von Änderungen der Lebensverhältnisse überflüssig werden. Das Unbewußte beeinflußt bewußtes Erleben und Verhalten, umgekehrt scheint es aber auch Beeinflussungen unbewußter Anteile des Selbst und von Objektrepräsentanzen durch bewußtes Erleben zu geben.
Selbst: Die eigene Person mit bewußten und unbewußten Anteilen. Selbstrepräsentanz: Erinnerungsspuren an die eigene Person und ihre Entwicklung. Spaltung: s. Abwehrmechanismen. Steuerndes Objekt: Eine innere Struktur, die meist in der Beziehung zur Mutter entsteht und das realitäts- und sozialadäquate Verhalten eines Menschen steuert. Personen in der Außenwelt können ein mangelhaft entwikkeltes inneres steuerndes Objekt substituieren. Entwicklungsstörungen des steuernden Objekts spielen bei Phobien eine Rolle. Sublimationsfähigkeit: Die Fähigkeit, Triebimpulse nicht in der ursprünglichen Form zu befriedigen, sondern in einer ähnlichen, sozial aber höher bewerteten Form. Von der Sublimation ist die Ersatzbefriedigung zu unterscheiden (s. dort). Symbiose: Beziehungsform im Nicht-Getrenntsein. Triade: Drei Personen, die miteinander in Beziehung stehen. Triangulierung: Dreiecksbildung. Überführung einer Zwei-Personen-Beziehung in eine Drei-Personen-Beziehung. Über-Ich: Gewissen. Hat bewußte und unbewußte Anteile. Übertragung: Wir übertragen Erfahrungen im Umgang mit Menschen auf andere Personen, die wir neu kennenlernen. Dabei sind die Erfahrungen aus den ersten fünf Lebensjahren besonders wichtig, aber auch spätere Erfahrungen können eine große Bedeutung erlangen. Jeder Mensch möchte Neues kennenlernen, aber auch Vertrautes wiederfinden. Vertrautes wiederzufinden gibt ein Sicherheitsgefühl. Man weiß, wie man zu reagieren hat und was man erwarten kann. Den Wunsch, Vertrautes wiederzufinden, bezeichne ich als den Wunsch nach Familiarität. Projektive Identifizierung (s. dort) kann dazu dienen, daß sich die Übertragungserwartungen zu erfüllen scheinen, weil andere Menschen sich entsprechend den übertragungsbestimmten Erwartungen verhalten. Man kann auch im anderen etwas von sich selbst wiederfinden wollen. Da man sich selbst gut kennt, vermittelt dies ein Gefühl der Sicherheit. Projektive Identifizierung ist mit dem Selbst oder mit Anteilen von ihm und mit Objekten oder Anteilen von ihnen möglich. Unbewußtes: Dem Bewußtsein nicht zugänglich. Unbewußtes kann nur bewußt werden, wenn Abwehrmechanismen bearbeitet oder unter dem
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Unterdrückung: Unterdrückung ist von Verdrängung zu unterscheiden (im Englischen suppression, im Unterschied zu repression, Verdrängung). Unterdrückung erfordert einen Willensakt; zum Beispiel kann ein Therapeut sich zwingen, an den vorangegangenen Patienten nicht mehr zu denken, wenn er eine neue Stunde anfängt, oder er kann sich zwingen, nicht an Probleme und Sorgen zu denken, die sein Privatleben betreffen, damit die Arbeit mit dem Patienten nicht gestört wird. Manchmal schaffen sich aber die unterdrückten Vorstellungen und Impulse durch Fehlleistungen Bahn. Verdrängung: s. Abwehrmechanismen. Verschiebung: Verschiebung verlagert Aggression von der Person, der sie eigentlich gilt, auf eine andere, die nicht so wichtig ist oder bei der es nicht so gefährlich ist, wenn man sie attackiert. Vorbewußtes: Zur Zeit nicht bewußt, aber bewußtseinsfähig. Manche Psychoanalytiker bezeichnen als vorbeuwßt alles, was jederzeit durch einen Willensakt bewußt gemacht werden kann; andere nehmen einen zweiten Zensor zwischen dem Yorbewußten (Gegenwartsunbewußten) und dem Bewußten an. Wendung der Aggression gegen das Selbst: s. Abwehrmechanismen.
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Ergänzende Literatur
Von wenigen Ausnahmen abgesehen wird neuere Literatur zitiert. Zu den früheren Publikationen findet der Leser Zugang über die Literaturverzeichnisse der angegebenen Zeitschriftenartikel und Bücher. In verschiedenen Bereichen wird mit unterschiedlicher Intensität geforscht und publiziert. Das Forschungsinteresse der letzten Jahre hat sich in besonderem Maß auf »Angst, Hunger und Liebe« gerichtet. Angststörungen sind verbreitet, Störungen der sexuellen Ausrichtung und Appetenz und der sexuellen Funktion ebenfalls. Verhaltensstörungen, die zu körperlichen Folgen führen, wie viel essen und hungern, viel essen und erbrechen, sind ebenfalls häufig. Das gilt auch für depressive Störungen, über die aber weniger publiziert wird. Lesern, die zunächst zusammenfassende, ausführlichere Monographien konsultieren möchten, sei für die Erkrankung mit psychischer Symptomatik das Lehrbuch von RUDoLF (2. Auf!. 1995) empfohlen. Dort findet sich auch weitere ergänzende Literatur. Es ist aus psychoanalytischer Sicht geschrieben. Das Kompendium von SCHÜSSLER (1995) bemüht sich um eine schulenübergreifende, psychoanalytisch akzentuierte Sichtweise. Die Angaben in dem Buch sind kurz, es werden aber alle im ICD-lO genannten Bereiche berücksichtigt. Auch Fragen der Compliance und der Krankheitsbewältigung werden angesprochen. Das Buch richtet sich vorwiegend an Studenten, kann aber auch dem Psychotherapeuten als Orientierung dienen. Das Lehrbuch von ERMANN (1995) stellt die Krankheitsbilder aus psychoanalytischer Sicht dar, berücksichtigt die Klassifizierung nach dem ICD-I0 und ist ebenfalls vorwiegend für Studenten gedacht. Auf das schon klassisch zu nennende, aber auf den gegenwärtigen Stand gebrachte und sehr verbreitete Lehrbuch von HOFFMANN und HOCHAPFEL (5. Auf!. 1995) wurde im Text an mehreren Stellen Bezug genommen. Wer Ausführlicheres über psychosomatische Krankheitsbilder erfahren will, sei schließlich auch auf das von VON UEXKÜLL (1990) herausgegebe-