Einfach "Das" Ken Wilber
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Einfach "Das" Ken Wilber
Wenn jemand wie Ken Wilber, den viele für den "Einstein der Bewusstseinsforschung" halten, sein Tagebuch veröffentlicht, dann weckt er damit natürlich die Neugier seiner Leser. Sie erhoffen sich eine Antwort auf die Frage: Wie lebt ein Mensch, der sowohl in allen großen Disziplinen der Geistes- und Naturwissenschaften als auch in der westlichen sowie östlichen Mystik zu Hause ist? Wilber, der lange Jahre jegliche Öffentlichkeit gescheut hat, präsentiert sich in seinen persönlichen Notizen aus dem Jahre 1997 als ein spiritueller, vielseitiger, lebenslustiger, enorm kreativer Intellektueller, der in regem Austausch mit der geistigen und kulturellen Avantgarde Amerikas steht. Viele seiner bekannten Gedanken werden aufgegriffen und mit neuen Erkenntnissen und brillanten Formulierungen kommentiert. Gerade deshalb sind seine Eintragungen ein Einstieg in jene Welt des Geistes, in der sein Denken und Leben sich entfaltet. Verwoben mit dem intellektuellen Teil ist der "private" Wilber. Es sind genau diese Passagen, die das Buch für den Leser besonders interessant machen. Hier lernt man einen Ken Wilber kennen, der so gar nicht dem Bild entspricht, das die meisten Leser sich von ihm gemacht haben: Sie zeigen einen Theoretiker, der, wenn er nicht gerade schreibt und liest, die Annehmlichkeiten des Lebens zu schätzen weiß, gern Partys feiert, nach dem Tod seiner Frau eine neue Beziehung eingeht und Urlaub im angesagten "South Beach" in Miami macht.
Ken Wilber (geb. 1947) studierte Biochemie, kehrte aber einer akademischen Laufbahn den Rücken, um in intensivem Privatstudium Philosophie, Psychologie, die östlichen und westlichen Weisheitslehren sowie andere Disziplinen der Wissenschaften des Geistes zu erforschen, und widmete sich der Praxis von Zen und tibetischem Buddhismus. Er gilt heute als der wichtigste Theoretiker der transpersonalen Psychologie. Im Fischer Taschenbuch Verlag sind erschienen: 'Eros, Kosmos, Logos' (Bd. 14974), 'Eine kurze Geschichte des Kosmos' (Bd. 13397), 'Halbzeit der Evolution (Bd. 13210) und 'Meister, Gurus, Menschenfängen' (Hg., Bd. 13825). Unsere Adresse im Internet: www.fischer-tb.de
Keb Wilber
Einfach "Das" Tagebuch eines ereignisreichen Jahres
Aus dem Amerikanischen von Clemens Wilhelm
Fischer Tagebuch Verlag
Deutsche Erstausgabe Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main, September 2001 Die amerikanische Originalausgabe erschien 1999 unter dem Titel 'One Taste. The Journals of Ken Wilber' im Verlag Shambhala Publications, Boston © 1999 by Ken Wilber Deutsche Ausgabe: © Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2001 Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-596-15072-8
Inhalt An den Leser.......................................................................................1 Einfach "Das" ......................................................................................2 Januar ................................................................................................5 Donnerstag, 2. Januar 1997 ...........................................................5 Freitag, 3. Januar ..........................................................................5 Samstag, 4. Januar........................................................................5 Dienstag, 7. Januar........................................................................5 Mittwoch, 8. Januar .......................................................................5 Donnerstag, 9. Januar ...................................................................6 Dienstag, 14. Januar......................................................................6 Mittwoch, 15. Januar .....................................................................7 Freitag, 17. Januar ........................................................................7 Mittwoch, 22. Januar .....................................................................7 Donnerstag, 23. Januar..................................................................7 Freitag, 24. Januar ......................................................................10 Samstag, 25. Januar ....................................................................10 Montag, 27. Januar......................................................................10 Dienstag, 28. Januar....................................................................11 Mittwoch, 29. Januar ...................................................................11 Donnerstag, 30. Januar................................................................12 Februar.............................................................................................13 Samstag, 1. Februar ....................................................................13 Sonntag, 2. Februar.....................................................................13 Dienstag, 4. Februar ....................................................................13 Sonntag, 9. Februar.....................................................................14 Montag, 10. Februar ....................................................................14 Dienstag, 11. Februar ..................................................................15 Eine transformierende Spiritualität ..........................................15 Translation und Transformation..............................................15 Wer verlangt eigentlich nach einer Transformation?.................16 Weisheit und Mitgefühl ..........................................................17 Mittwoch, 12. Februar..................................................................19 Freitag, 14. Februar.....................................................................19 Freitag, 21. Februar, Boulder – New York......................................19 Sonntag, 23. Februar – New York.................................................19 Dienstag, 25. Februar – New York ................................................19 Mittwoch, 26. Februar – New York................................................20 Donnerstag, 27. Februar – New York ............................................20 März .................................................................................................22 Montag, 3. März, New York – Boulder ...........................................22 Dienstag, 4. März – Boulder .........................................................22 Mittwoch, 5. März ........................................................................22 Donnerstag, 6. März ....................................................................23 Freitag, 7. März ...........................................................................23 Samstag, 8. März.........................................................................27 Sonntag, 9. März .........................................................................27 Montag, 10. März ........................................................................28 Dienstag, 11. März ......................................................................28 Donnerstag, 13. März ..................................................................29 Freitag, 14. März, Boulder – San Francisco....................................30 Samstag, 15. März – San Francisco...............................................30 Montag, 17. März – San Francisco ................................................31 Mittwoch, 19. März – San Francisco ..............................................32 Donnerstag, 20. März, San Francisco – Boulder .............................32 Freitag, 21. März – Boulder ..........................................................32 Sonntag, 23. März .......................................................................33 Montag, 24. März ........................................................................33 Freitag, 28. März .........................................................................34 April .................................................................................................35 Mittwoch, 2. April ........................................................................35 Donnerstag, 10. April...................................................................35 Samstag, 12. April .......................................................................36 Sonntag, 13. April........................................................................37 Mittwoch, 16. April.......................................................................37 Donnerstag, 17. April...................................................................37 Freitag, 18. April..........................................................................38
Samstag, 19. April .......................................................................38 Montag, 21. April – Denver ..........................................................38 Dienstag, 22. April – Boulder........................................................39 Sonntag, 27. April........................................................................39 Mai ...................................................................................................42 Freitag, 2. Mai.............................................................................42 Montag, 5. Mai – Denver..............................................................43 Sonntag, 11. Mai – Boulder ..........................................................43 Montag, 12. Mai ..........................................................................43 Sonntag, 18. Mai – South Beach...................................................44 Dienstag, 20. Mai – South Beach ..................................................45 Sonntag, 25. Mai – Boulder ..........................................................45 Dienstag, 27. Mai ........................................................................47 Mittwoch, 28. Mai ........................................................................47 Donnerstag, 29. Mai ....................................................................48 Samstag, 31. Mai.........................................................................48 Juni ..................................................................................................50 Sonntag, 1. Juni ..........................................................................50 Montag, 2. Juni ...........................................................................51 Dienstag, 3. Juni .........................................................................51 Mittwoch, 4. Juni .........................................................................51 Donnerstag, 5. Juni .....................................................................51 Freitag, 6. Juni ............................................................................54 Samstag, 7. Juni..........................................................................54 Sonntag, 8. Juni ..........................................................................54 Donnerstag, 12. Juni....................................................................54 Freitag, 13. Juni ..........................................................................56 Samstag, 14. Juni........................................................................57 Sonntag, 15. Juni ........................................................................57 Dienstag, 17. Juni........................................................................57 Mittwoch, 18. Juni .......................................................................57 Freitag, 20. Juni ..........................................................................58 Dienstag, 24. Juni........................................................................58 Donnerstag, 26. Juni....................................................................61 Samstag, 28. Juni – Denver .........................................................61 Montag, 30. Juni..........................................................................61 Juli ...................................................................................................62 Dienstag, 1. Juli...........................................................................62 Anamnesis oder die Psychoanalyse Gottes...............................62 Mittwoch, 2. Juli ..........................................................................66 Freitag, 4. Juli .............................................................................66 Samstag, 5. Juli...........................................................................66 Sonntag, 6. Juli ...........................................................................69 Dienstag, 8. Juli...........................................................................69 Mittwoch, 9. Juli ..........................................................................70 Donnerstag, 10. Juli.....................................................................70 Freitag, 11. Juli ...........................................................................71 Samstag, 12. Juli .........................................................................71 Dienstag, 15. Juli.........................................................................72 Samstag, 19. Juli .........................................................................72 Montag, 21. Juli...........................................................................72 Dienstag, 22. Juli.........................................................................74 Mittwoch, 23. Juli ........................................................................75 Dienstag, 29. Juli.........................................................................75 August..............................................................................................78 Samstag, 2. August .....................................................................78 Sonntag, 3. August ......................................................................78 Montag, 4. August .......................................................................79 Dienstag, 5. August .....................................................................79 Mittwoch, 6. August.....................................................................81 Sonntag, 10. August ....................................................................81 Dienstag, 12. August ...................................................................81 Freitag, 15. August ......................................................................83 Samstag, 16. August – Denver .....................................................83 Montag, 18. August – Boulder ......................................................84 Dienstag, 19. August ...................................................................85 Der Weise des Jahrhunderts27.................................................85 Mittwoch, 20. August...................................................................86
Donnerstag, 21. August ...............................................................86 Montag, 25. August .....................................................................87 Freitag, 29. August ......................................................................87 Sonntag, 31. August ....................................................................87 Eine Fahrkarte nach Athen .....................................................87 September ........................................................................................92 Dienstag, 2. September ...............................................................92 Samstag, 6. September................................................................92 Mittwoch, 10. September .............................................................92 Freitag, 12. September ................................................................94 Montag, 15. September ...............................................................95 Mittwoch, 17. September .............................................................96 Donnerstag, 18. September .........................................................97 Samstag, 20. September..............................................................97 Sonntag, 21. September ..............................................................97 Montag, 22. September ...............................................................97 Dienstag, 23. September..............................................................98 Die neue personenzentrierte bürgerliche Religion ....................98 Mittwoch, 24. September ........................................................... 100 Freitag, 26. September .............................................................. 101 Montag, 29. September ............................................................. 101 Oktober .......................................................................................... 103 Mittwoch, 1. Oktober ................................................................. 103 Donnerstag, 2. Oktober.............................................................. 103 Freitag, 3. Oktober .................................................................... 103 Entwicklung und Regression................................................. 103 Sonntag, 5. Oktober – Denver .................................................... 105 Montag, 6. Oktober – Boulder .................................................... 105 Dienstag, 7. Oktober.................................................................. 105 Mittwoch, 8. Oktober – Denver................................................... 105 Freitag, 10. Oktober – Boutder ................................................... 106 Sonntag, 12. Oktober................................................................. 106 Dienstag, 14. Oktober................................................................ 106 Mittwoch, 15. Oktober ............................................................... 107 Entwicklung und Regression................................................. 107 Freitag, 17. Oktober .................................................................. 109 Dienstag, 21. Oktober................................................................ 109 Kunst und das Auge33 des Betrachters .................................. 109 Samstag, 25. Oktober ................................................................ 113 Sonntag, 26. Oktober................................................................. 113 Montag, 27. Oktober.................................................................. 114 Freitag, 31. Oktober .................................................................. 114 November ....................................................................................... 117 Sonntag, 2. November ............................................................... 117 Dienstag, 4. November .............................................................. 117 Freitag, 7. November ................................................................. 117 Unitas Multiplex ................................................................... 117 Dienstag, 11. November ............................................................ 118 Donnerstag, 13. November ........................................................ 119 Freitag, 14. November ............................................................... 119 Samstag, 15. November............................................................. 119 Sonntag, 16. November ............................................................. 119 Montag, 17. November .............................................................. 124 Dienstag, 18. November ............................................................ 125 Mittwoch, 19. November ............................................................ 125 Donnerstag, 20. November ........................................................ 125 Freitag, 21. November ............................................................... 126 Samstag, 22. November............................................................. 126 Sonntag, 23. November ............................................................. 126 Montag, 24. November .............................................................. 129 Donnerstag, 27. November ........................................................ 129 Samstag, 29. November............................................................. 129 Sonntag, 30. November ............................................................. 129 Dezember ....................................................................................... 133 Dienstag, 2. Dezember .............................................................. 133 Mittwoch, 3. Dezember .............................................................. 133 Freitag, 5. Dezember ................................................................. 133 Sonntag, 7. Dezember ............................................................... 134
Montag, 8. Dezember ................................................................ 134 Dienstag, 9. Dezember .............................................................. 135 Mittwoch, 10. Dezember ............................................................ 135 Die Geschichte vom verlorenen und wiedergefundenen Gott .. 135 Donnerstag, 11. Dezember......................................................... 140 Freitag, 12. Dezember ............................................................... 141 Samstag, 13. Dezember............................................................. 141 Montag, 15. Dezember .............................................................. 141 Dienstag, 16. Dezember............................................................. 142 Donnerstag, 18. Dezember......................................................... 142 Sonntag, 21. Dezember ............................................................. 148 Donnerstag, 25. Dezember......................................................... 148 Montag, 29. Dezember .............................................................. 149 Mittwoch, 31. Dezember – Denver.............................................. 150 Donnerstag, 1. Januar 1998 – Boulder ........................................ 150 Anhang ........................................................................................... 151 Abbildungsverzeichnis ................................................................ 151 Anmerkungen............................................................................ 152
An den Leser Ich habe bisher immer die Öffentlichkeit möglichst gemieden. Dies hat nichts mit Verschlossenheit oder Schüchternheit zu tun; mich reizt einfach das Rampenlicht nicht. Aber nachdem ich so viel über das innere Leben geschrieben habe, schien es mir irgendwann doch angebracht zu sein, etwas über das meinige mitzuteilen. Auf den folgenden Seiten findet der Leser daher recht viel Material, das man üblicherweise wohl als persönlich bezeichnen würde. Letztlich ist dies aber doch eher ein philosophisches als ein persönliches Tagebuch: Es handelt in erster Linie von Ideen, und zwar insbesondere von solchen Ideen, die um die Sonne der Philosophia perennis kreisen, den gemeinsamen Kern der großen Weisheitstraditionen der Welt. In einem Teilbereich jedoch ist dies ein überaus persönliches Tagebuch, nämlich dort, wo ich ausführliche Beschreibungen der Meditationspraxis und verschiedener mystischer Zustände auf der Grundlage meiner eigenen Erfahrungen gebe. (Wer darüber hinaus noch mehr Persönliches erfahren möchte, dem empfehle ich die Lektüre von Mut und Gnade). Weil es in diesem Buch also hauptsächlich um Ideen geht, habe ich mir bezüglich der Anordnung der Einträge einige Freiheiten gestattet. Einige theoretische Ausführungen wurden weiter vorn angeordnet, weil andere Einträge ohne diese nicht verständlich wären. Die Datierung ist in der Regel getreu, von einigen Ausnahmen abgesehen, wo ich kein Datum eingetragen habe: Diese Einträge habe ich jeweils an einer passenden Stelle eingefügt. Einige Naropa-Seminare fanden innerhalb weniger Tage statt; diese habe ich über einen größeren Zeitraum verteilt, um den Leser nicht mit zu viel Theorie auf einmal zu konfrontieren. Die Daten sind also nicht immer genau, aber an den Einträgen selbst habe ich nichts verändert. Jedenfalls sollte man sich immer vor Augen halten, dass diese Tagebuchnotizen nicht in erster Linie als detailgenaue Aufzeichnungen meines Privatlebens gedacht waren, sondern vielmehr als schriftliche Fixierung meiner weiteren Versuche, die Philosophia perennis zu vermitteln. Weil die theoretischen Eintragungen relativ kurz und in sich abgeschlossen sind (meist ein bis zwei Seiten, höchstens zwölf Seiten), wird das, was ich darstellen will, in "mundgerechten" Portionen dargeboten. Wenn man eine bestimmte Eintragung nicht interessant findet, weil es vielleicht um Politik, um Ökonomie oder Kunst geht, kann man diese ohne weiteres übergehen. Wenn man jedoch dieses Buch vor allem wegen seines theoretischen Inhalts liest, sollte man sich darüber im Klaren sein, dass jede Eintragung auf der thematisch vorangehenden aufbaut, weshalb selektives Lesen in diesem Fall weniger zu empfehlen ist. Wenn dieses Tagebuch ein Thema hat, dann ist es der Gedanke, dass Körper, Seele und Geist sich nicht gegenseitig ausschließen. Die Begierden des Fleisches, die Ideen des Geistes und die Erleuchtungen der Seele sind jeweils auf ihre Weise vollkommener Ausdruck des strahlenden Geistes, der allein in der Welt wohnt, sublime Gesten jener großen Vollkommenheit, die allein über der Welt leuchtet. Es gibt nur Einen Geschmack im ganzen Kosmos, und dieser Geschmack ist das Göttliche, ob es im Fleisch, in der Seele oder im Geist aufleuchtet. Wer in diesem Einen Geschmack ruht und so über das Irdische hinausgehoben ist, für den erhebt sich die Welt in reinster Freiheit und strahlender Befreiung; er ist glücklich bis in die Unendlichkeit, verloren in aller Ewigkeit und hoffnungslos im ursprünglichen Antlitz des unerbittlichen Mysteriums. Vom Einen Geschmack gehen alle Dinge aus, zum Einen Geschmack kehren alle Dinge zurück, und dazwischen, im Verrinnen dieses Augenblicks, gibt es nichts als den Traum – und manchmal den Albtraum, aus dem wir erwachen müssen. K. W., Boulder, Colorado, Frühjahr 1998
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Januar Der Seele Grenzen kannst du nicht ausfinden, und ob du jegliche Straße abschrittest, so tiefen Grund hat sie. Heraklit
Donnerstag, 2. Januar 1997 Habe den ganzen Morgen gearbeitet, recherchiert und gelesen und dabei dem Spiel des Sonnenlichts durch die fallenden Schneeflocken zugesehen. Die Sonne ist heute nicht gelb, sondern weiß wie der Schnee, und ich bin also von Weiß in Weiß, vom Einsamen im Einsamen eingehüllt. Wie reine Leerheit, wie weißes, klares Licht sieht alles aus, im melancholischen Monolog seinem eigenen Glanz hingegeben. Ich bin in diese Leerheit entlassen, und alles leuchtet an diesem klaren, hellen Tag.
Freitag, 3. Januar Vor einiger Zeit, irgendwann um den Thanksgiving-Day, habe ich mit der Arbeit an The Integration of Science and Religion: The Union of Ancient Wisdom and Modern Knowledge (dt. Naturwissenschaft und Religion. Die Versöhnung von Weisheit und Wissen, Frankfurt am Main: Krüger, 1999) begonnen. Das Buch ist jetzt fertig, und ich frage mich, was ich damit anfangen soll. Ich habe es eigentlich für ein ganz bestimmtes Publikum geschrieben, nämlich die orthodoxe, konventionelle Welt des Mainstreams, nicht für die New-Age-, Neues-Paradigma-Leute der Gegenkultur. Ich habe keine Ahnung, ob ich dieses Publikum erreichen werde, und ich weiß nicht recht, was mein nächster Schritt sein soll. Ich muss mir etwas überlegen, wie ich eine solche intensive Arbeit machen und trotzdem noch irgendwelche sozialen Kontakte haben kann. Balzac pflegte nach jedem Orgasmus zu sagen: "Jetzt kommt wieder ein Buch." Bei mir scheint es gerade umgekehrt zu sein. Nach Treyas Tod, der sich diesen Monat zum achten Mal jährt, hatte ich etwa ein Jahr keine Beziehungen mehr. Danach gab es ein paar nette Bekanntschaften, aber nichts Richtiges. Ich bin gespannt ...
Samstag, 4. Januar Einige Studenten haben mich zu einer Rave-Party eingeladen, wo also die ganze Nacht zu Techno-Musik getanzt wird und es gewisse, äh, unerlaubte Substanzen gibt. Die Kids – es sind wirklich Kids, alle in den Zwanzigern – nehmen kleine Mengen Ecstasy, eine Droge, die das Zusammengehörigkeitsgefühl steigert. Es geht dort kommunenhaft, asexuell oder vielleicht androgyn zu, und es herrscht eine sanfte, aber intensive Atmosphäre mit einem gewissen – ich will es mal so sagen – spirituellen Hintergrund. Die Musik (z.B. Moby und Prodigy) ist meist ohne Worte, d.h., es fehlt das Referenzielle, weshalb das symbolische Denken nicht zum Zug kommt, und dies ermöglicht ein gelegentliches Aufblitzen des Supramentalen. Klar, dass es auch jede Menge Inframentales gibt. Also, was Eltern auch darüber zetern mögen: Ich finde dies unendlich viel besser als das, was wir bei unseren Tanzabenden taten, nämlich eine Sechserpackung Bier trinken und uns dann über der Freundin erbrechen. Und wenn sich jetzt die Nachkriegsgeneration über Drogen aufregt – ach, hören Sie mir auf damit. Aber ich glaube doch, dass der Rave nicht unbedingt das Richtige für mich ist. Trotzdem: Lasst sie!
Dienstag, 7. Januar Dieses Wochenende findet in San Francisco die "Ken-Wilber-Konferenz" statt. Ich habe gehört, dass sie ausverkauft ist und dass man sich nach einem größeren Veranstaltungsort umsieht. Ich weiß nicht, ob ich das gut oder schlecht finden soll. Roger [Walsh]1 wird einer der Hauptredner sein. Ich bin gespannt, ob er seinen Neil-Armstrong-Witz erzählen wird, der wohl das Urkomischste ist, was man je gehört hat: Als Neil Armstrong seinen Fuß auf den Mond setzte, sagte er: "Ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein großer Sprung für die Menschheit." Und dann fügte er hinzu: "Machen Sie's gut, Mr. Gorsky." Welche Bewandtnis es damit hatte, wissen die wenigsten: Als Neil Armstrong ein kleiner Junge war, bekam er einmal einen hitzigen Wortwechsel mit, der aus dem Schlafzimmerfenster der Nachbarn drang. Mrs. Gorsky schrie ihren Mann an: "Oralsex kriegst du mal, wenn der kleine Nachbarsjunge über den Mond spaziert!"
Mittwoch, 8. Januar Heute kam wieder ein Brief von einer Frau, die mein Vorwort zu Frances Vaughans Buch [Shadows of the Sacred: Seeing Through Spiritual Illusions] gelesen hat. Ich habe schon so viele Briefe von Frauen bekommen, die sich mit den dort angesprochenen Problemen beschäftigen. Das Vorwort beginnt wie folgt: "Frances ist die weiseste der weisen Frauen, die ich kenne. Welch eine wunderbare Vorstellung: Eine Frau, die weise ist, die vielleicht mehr Weisheit hat als Sie und ich, eine Frau, die jede Begegnung mit einem besonderen Wissen, einer
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anmutigen Bewegung, einer heilenden Gegenwart erfüllt, für die Schönheit ein Mittel zu Erkenntnis und Offenheit eine besondere Stärke ist – eine Frau, die so viel mehr sieht, so viel mehr erfasst, Fürsorglichkeit ausstrahlt und sagt, dass alles gut werden wird. Eine solche Frau ist Frances: Eine Frau, die Weisheit in die Welt bringt und nicht einfach die Welt flieht, um irgendwo anders Weisheit zu finden. Eine Frau, die Individualität lehrt, aber diese in den weiteren und tieferen Kontext der Gemeinschaftlichkeit stellt: Der Gemeinschaft mit anderen, mit dem Körper, mit dem Geist, mit dem eigenen höheren Selbst, mit dem Geist, der sich in Beziehungen offenbart. Und vor allem ist Frances für mich dies: Eine weise Frau, die gesunde und aufrichtige Beziehungen lehrt, eine Frau, die uns in unsere tieferen Kontexte bringt, eine weise Frau, die zu kennen ich stolz bin." Die Verfasserin des heute eingegangenen Briefs, eine Therapeutin, schreibt ausführlich über die Tradition der weisen Frau und darüber, wie wichtig es ist, Psychotherapie mit Spiritualität zu vereinigen. Ich stimme dem in jeder Hinsicht zu. Aus dem letzten Teil des Vorworts: "In dem Übungsweg, an dessen Gestaltung Frances (und einige andere) arbeiten, tritt etwas ganz Entscheidendes in Erscheinung: Eine Wahrnehmung des Spirituellen und Transpersonalen, eine Wahrnehmung des Mysteriums der Tiefe, ein Kontext jenseits des isolierten Ichs, der jeden Einzelnen von uns berührt und uns über unser verstörtes und sterbliches Selbst hinaushebt, dieses In-SichZusammengezogen-Sein, und uns in die Hände des Zeitlosen und Göttlichen gebiert, uns sanft von uns frei macht. Wo Offenheit Abwehr dahinschmelzen und Verbundenheit die Seele gesunden lässt, wo Mitgefühl die Verhärtung des Herzens aufhebt und Zuwendung Verzweiflung überstrahlt: Eine solche Öffnung zum Göttlichen lehrt uns Frances. Eine von Frances' Klientinnen sagte einmal zu ihr, dass Frances ihr geholfen habe, ihre Seele zu gebären. Ich glaube, dass damit irgendwie alles gesagt ist. Das Göttliche gebären, das schon in jedem vorhanden ist, aber vielleicht noch nicht hell leuchtet, das jedem schon gegeben ist, aber vielleicht noch nicht richtig wahrgenommen wird, das der Welt schon fürsorglich zugewandt ist, aber in all der Hetze übersehen wird: Diese Öffnung zum Göttlichen lehrt uns Frances. Ergreifen wir, Sie und ich, die Hand der weisen Frau; wandern wir mit ihr durch das Land unserer Seele und lauschen wir, was sie uns zu erzählen hat. Eine sicherere Hand können wir in dieser Zeit nicht finden."
Donnerstag, 9. Januar Ruhm ist in Amerika eine Religion, die Menschenopfer verlangt – eine Religion, der ich nicht angehören möchte. Man fängt an, sich so wichtig zu nehmen. Ich habe dies erlebt, nachdem ich mit 23 mein erstes Buch geschrieben hatte. Ich hielt Vorträge und veranstaltete Seminare, die Leute sagten zu mir, wie großartig ich doch sei, und irgendwann fängt man an, ihnen zu glauben. Man muss sich dann genau die Frage gefallen lassen, die Oscar Levant einmal George Gershwin stellte: "Sag mal, George, wenn du alles noch einmal machen müsstest, würdest du dich dann wieder in dich verlieben?" Nachdem ich dies etwa ein Jahr mitgemacht hatte, stellte ich mir die Frage, ob ich weiter lehren sollte, was ich gestern geschrieben hatte, oder ob ich etwas Neues schreiben sollte. Ich entschied mich dafür, nicht mehr zu Konferenzen zu gehen, hörte auf zu lehren und gab keine Interviews mehr. Diesem Entschluss blieb ich die nächsten zwanzig Jahre praktisch ohne Ausnahme treu. Und jetzt sitze ich da und denke darüber nach, mit Naturwissenschaft und Religion geradewegs zu den größten Mainstream-Verlagen zu gehen, und finde diese Idee auch noch richtig gut. Ich glaube, ich bin nicht mehr ganz richtig im Kopf.
Dienstag, 14. Januar Frank Visser, mein niederländischer Übersetzer, hat nach der Teilnahme an der Ken-Wilber-Konferenz in San Francisco kurz bei mir vorbeigeschaut. Frank hat The Atman Project (dt. Das Atman-Projekt: Der Mensch in transpersonaler Sicht, Paderborn, 1990) und A Brief History of Everything (dt. Eine kurze Geschichte des Kosmos, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1997) übersetzt. Seine Arbeit wird sehr gelobt. "Was ist auf diesem Gebiet in Europa das heiße Thema?" "Wie regressiv in Amerika weitgehend Spiritualität aufgefasst wird. Die Schulen, die physische Empfindungen mit spirituellem Gewahren verwechseln, Bioenergetik, Erfahrungs-Dies-und-Das, Ökopsychologie, Gefühle und nochmals Gefühle, die regressiven Therapien, all das. Ich habe eine Arbeit darüber geschrieben. Sind Sie nicht auch der Meinung, dass ihr Amerikaner nach Regression verrückt seid?" "Ich fürchte ja. Hauptsächlich wohl deshalb, weil es jeder kann – inneres Wachstum ist schwer, Regression ist leicht." "Es ist Ihre allgegenwärtige Prä/Trans-Verwechslung." Frank bezieht sich hier auf einen Aufsatz mit dem Titel "Die Prä/Trans-Verwechslung", den ich vor fast zwanzig Jahren geschrieben habe. Es geht um einen relativ einfachen Sachverhalt: Weil sowohl prä-rational als auch trans-rational nicht-rational sind, wird beides leicht miteinander verwechselt. Und dann kann zweierlei geschehen, das eine so unerfreulich wie das andere: Entweder man verkleinert echte transrationale spirituelle Wirklichkeiten auf kindliche prärationale Zustände, oder man vergrößert kindliche prärationale Empfindungen zu transzendenter Herrlichkeit. Im ersten Fall leugnet man spirituelle Wirklichkeiten überhaupt, weil man sie für kindischen Quatsch hält. Im zweiten Fall glorifiziert man kindliche Mythenbildung und präverbale Impulse. Man ist so darauf versessen, die Rationalität zu transzendieren – was grundsätzlich in Ordnung ist –, dass man über das Ziel hinausschießt und sich für alles begeistert, was nichtrational ist, einschließlich vieler Dinge, die schlicht prärational und regressiv sind. Frank hat Recht: Vieles von dem, was man in Amerika eine "spirituelle Renaissance" nennt, ist in Wirklichkeit eine Rutschbahn ins Prärationale – narzisstisch, egozentrisch, selbstverherrlichend. "Das finden wir Europäer sehr beunruhigend."
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Mittwoch, 15. Januar Habe den ganzen Morgen für meine anscheinend unendliche Recherche für Band II der Kosmos-Trilogie (Sex, God and Gender) gelesen.2 Die Beziehung zwischen Mann und Frau: Agonie und Ekstase. Sie scheint beide Seiten zum Wahnsinn zu treiben. Es wird wohl jemand noch eine Aktualisierung von Bret Harte schreiben: The Outcasts of Testosterone Flat.3 Nehmen wir Aldous Huxleys Bonmot: "Es ist ein Naturgesetz: Mann minus Frau ist Schwein, Frau minus Mann ist Irrenhaus." Oder Gloria Steinern: "Eine Frau ohne Mann ist wie ein Fisch ohne Fahrrad." Woody Allen: "Gott gab den Männern einen Penis und ein Gehirn, aber immer nur genug Blut für eines von beiden." Billy Crystal: "Eine Frau braucht einen Grund für Sex, ein Mann eine Gelegenheit." Band 1 hatte 800 Seiten, und Band 2 wird bestimmt nicht dünner. "Wieder so ein elend dicker Wälzer! Immer fleißig am Kritzeln, was, Mr. Gibbon?"4
Freitag, 17. Januar Habe einen Brief von Alex Grey bekommen, zu dessen Buch Sacred Mirrors: The Visionary Art of Alex Grey (dt. Sacred mirrors. Die visionäre Kunst des Alex Grey, Frankfurt am Main, 1996) ich ein Vorwort geschrieben habe. In diesem Brief erinnert mich Alex an das Gespräch, das wir bei mir zu Hause führten und in dem es um das Wesen echter Kunst ging: "Zweck einer jeden wirklich transzendenten Kunst ist es, etwas auszudrücken, was man noch nicht ist, aber werden kann." Im Vorwort zu Alex' Buch habe ich daraufhingewiesen, dass jeder Mensch das Auge des Fleisches, das Auge des Geistes und das Auge des GEISTES besitzt. Dann kann man Kunst danach kategorisieren, auf welches Auge sie sich hauptsächlich verlässt. Realismus und Naturalismus stützen sich z. B. hauptsächlich auf das Auge des Fleisches; abstrakte, surrealistische und Konzeptkunst stützen sich auf das Auge des Geistes, und einige große Werke spiritueller Kunst wie z. B. tibetische Thangkas stützen sich auf das Auge der Betrachtung, das Auge des GEISTES. Jedes dieser Augen sieht eine andere Welt: Die Welt materieller Objekte, diejenige mentaler Vorstellungen oder diejenige geistiger Wirklichkeiten. Jedes Auge kann malen, was es sieht. Je höher das Auge ist, desto tiefer ist die Kunst. Alex steht stellvertretend für jene seltenen Künstler, die mit dem Auge der Kontemplation malen, dem Auge des GEISTES. Diese Art von Kunst ist nicht symbolisch oder metaphorisch; sie ist eine unmittelbare Darstellung von Wirklichkeiten, die aber nicht mit dem Auge des Fleisches oder demjenigen des Geistes gesehen werden können, sondern nur mit demjenigen des GEISTES. Das Wesen dieser Kunst ist nicht schlichte Anschauung, sondern Transformation: Sie stellt höhere oder tiefere Wirklichkeiten dar, die jedermann zugänglich sind, solange man weiter wächst und sich entwickelt. Und deshalb ist es "Zweck einer jeden wirklich transzendenten Kunst, etwas auszudrücken, was man noch nicht ist, aber werden kann".
Mittwoch, 22. Januar Ich soll mich dem Mainstream andienen. Und schuld ist nur Tony Schwartz. Ich begegnete Tony zum ersten Mal, als er What really matters (dt. Was wirklich zählt. Auf der Suche nach Weisheit und Lebenssinn heute, München, 1996) schrieb. Tonys Geschichte ist eine große Erfolgsstory: Er ist ein fähiger Journalist – er arbeitete für die New York Times, für die Zeitschrift New York und schrieb fast ein Dutzend Titelgeschichten für Newsweek –, und er hat gerade zusammen mit Donald Trump The Art of the Deal (dt. Trump, die Kunst des Erfolges, München, 1990) geschrieben, das prompt auf der Bestsellerliste der Times ganz oben stand und Tony in die Welt des Glamours und des großen Geldes katapultierte. Die Erfahrungen mit dieser extravaganten Welt von Donald Trump lehrten Tony, dass für ihn ein solcher materieller Überfluss doch die wirklich wichtigen Dinge im Leben nicht berühren würde. Mit dem Geld, das er mit dem Trump-Buch verdient hatte, konnte Tony die nächsten fünf Jahre auf der Suche nach Weisheit verbringen, wobei er Amerika kreuz und quer bereiste und mit über 200 Psychologen, Philosophen, Mystikern, Gurus, Therapeuten und Lehrern jeglicher Richtung sprach. Ein Kapitel in seinem Buch ist auch meiner Arbeit gewidmet, und wir wurden sehr gute Freunde. Nachdem Tony Was wirklich zählt abgeschlossen hatte, und weil er eine Familie ernähren musste, beteiligte er sich als Ko-Autor an Michael Eisners Autobiographie. Er übernahm also für den Chef des Disney-Imperiums im Prinzip dieselbe Aufgabe, die er auch für Donald Trump übernommen hatte, aber damit enden die Gemeinsamkeiten auch schon. Wie Tony sagt, ist Trump einfach Trump: Was draufsteht, ist auch drin. Das Buch ist relativ unkompliziert, wenn auch auf hohem Niveau. Bei Michael Eisner aber ging es um das ganze Walt-Disney-Imperium: Vergnügungsparks, Filme, Bücher, Städte, Fernsehen. Tony arbeitet jetzt seit drei Jahren an diesem Projekt. Was Tony als Nächstes in Angriff nehmen möchte, ist eine Arbeit über einen integralen Weg zu innerem Wachstum und Transformation, wie er ihn in Was wirklich zählt zusammenfasste und in meinem Werk (aber nicht nur dort) skizziert Findet. Er hat sich vorgenommen, diese integrale Botschaft einem größeren Publikum nahe zu bringen, und dies hat mir ins Bewusstsein gerückt, dass ich zumindest in gewissem Umfang dasselbe tun muss. Ja, es ist eindeutig alles Tonys Schuld.
Donnerstag, 23. Januar Bin mit Christopher Isherwoods tausendseitigem Tagebuch (Band 1!) fertig und war fast eine Woche lang sehr deprimiert – aus vielen Gründen. In Isherwood sind für mich mehrere sehr wichtige Stränge des Lebens ineinander verwoben. Dies betrifft zunächst einmal die ganze Verbindung zur Vedanta-Gesellschaft, zu der in unterschiedlicher Weise Aldous Huxley, Gerald Heard und Thomas Mann zu zählen sind (Letzterer hatte nur einen losen, aber dennoch bedeutenden Kontakt). Von Isherwood stammt in Zusammenarbeit mit Swami Prabhavananda (vgl. My Guru and His Disciple) eine der ersten und jedenfalls die lesbarste englische Übersetzung der Bhagavad Gita, von Patanjalis Yoga Sutras und meines Lieblingswerks, Shankaras Klassiker Das Kleinod der Unterscheidung.
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Isherwood schrieb schon 1941 in sein Tagebuch: "Versuchen, sein Ich auszulöschen, sein wahres Selbst in sich umherspazieren lassen, es die eigenen Arme und Beine, das eigene Gehirn und die eigene Stimme benutzen lassen: Das ist unglaublich schwer – und doch, wozu sonst ist das Leben da?" Deshalb konnte er auch etwas verstehen, was die reinen Abstiegsreligionen – von der Ökologie über die Gaia-Verehrung bis zur Ökopsychologie – überhaupt nicht verstehen: "Jede Bewegung, die ihre Ziele in der Zeit hat, greift unvermeidlich zu Gewalt." Diesen zutiefst spirituellen Strang würzte er dankenswerterweise mit einer kleinen Prise beißenden Humors: Er war entschlossen, sein Leben "mit Leidenschaft, mit aufrichtigem Engagement und mit tief empfundener Feindseligkeit" zu leben. Isherwood rang auf seine Weise immer um eine integrale Haltung, die Spiritualität mit einem Leben "mit beiden Füßen auf der Erde" vereinte, vielleicht deshalb, weil, wie er sagte, Sex und Geist in ihm stark ausgeprägt waren und oft miteinander in Widerstreit zu liegen schienen. Ich bewundere dieses aufrichtige Bemühen, an beidem festzuhalten, auch in Extremen. Die meisten Menschen kennen Isherwood, auch wenn sie es nicht wissen: Er war die männliche Hauptgestalt in Cabaret, das auf einer seiner Kurzgeschichten in Leb wohl, Berlin beruht ("Sally Bowles", zu der ihn die Sängerin Jean Ross inspirierte, der Isherwood 1931 in Berlin begegnete). Michael York spielte Christopher, und Liza Minnelli bekam einen Oscar für ihre Rolle als Sally. Das Stück ist brillant geschrieben, was schon Virginia Woolf erkannte, als sie in ihr Tagebuch schrieb: "Ich bin Isherwood auf der Türschwelle begegnet. Ein eher schmächtiger, wilder Bursche. Aber dieser junge Mann, sagte W. Maugham, 'hält die Zukunft des englischen Romans in Händen.'" Die Erzählung "Sally Bowles" (nebenbei bemerkt, der Nachname geht auf Paul Bowles zurück, den Komponisten und SartreÜbersetzer; Isherwood bewunderte seine Arbeit und benannte Sally nach ihm) war auch die Vorlage für das ältere Broadway-Stück I Am a Camera, das später mit Julie Harris verfilmt wurde. Der Titel stammt von einer berühmten Passage in diesem Buch, die oft zitiert und meist missverstanden wird: "Ich bin eine Kamera mit geöffneter Blende, ganz passiv, aufnehmend, ohne Gedanken. Ich zeichne auf, wie sich der Mann im Fenster gegenüber rasiert und die Frau im Kimono die Haare wäscht. Eines Tages wird all dies entwickelt, sorgfältig abgezogen und fixiert werden müssen." Isherwood wusste damals noch kaum etwas von den großen östlichen und westlichen Lehren über das wahre Selbst als dem reinen absichtslosen Zeugen, aber man sieht dies hier schon aufleuchten (und der Vergleich mit Emersons berühmtem "Durchscheinendem Augapfel" drängt sich auf: "Aller niedriger Egoismus schwindet. Ich werde zu einem durchscheinenden Augapfel; ich bin nichts; ich sehe alles."). Kritiker warfen Isherwood deshalb Gleichgültigkeit und mangelnde Zuwendung vor, aber damit wird man dieser Aussage nicht gerecht, wie Isherwood selbst erklärt: "Die Vorstellung, dass ich als Mensch überhaupt keine Beziehung zu demjenigen hätte, was um mich herum vorgeht, ist völlig falsch." Der wahre Zeuge lässt alles aufsteigen, was aufsteigen will: Leidenschaft, Gelassenheit, Engagement, Gleichgültigkeit, tief empfundene Feindseligkeit – was auch immer. Die Auffassung, dass dies eine tödliche Getrenntheit vom Leben sei, ist albern. Isherwood jedenfalls war nicht distanziert. Einer seiner besten Freunde war damals und praktisch während seines ganzen weiteren Lebens W. H. Auden, von dem man damals schon ahnen konnte, dass er einer der zwei oder drei größten Dichter des Jahrhunderts werden würde. Auden war Ende der zwanziger Jahre nach Berlin gegangen, hauptsächlich wegen des dekadenten Sex, und er hatte Isherwood überredet mitzugehen. Sie waren beide schwul, und die berühmten Schwulenkneipen, insbesondere das Cosy Corner, fesselten Isherwood und Auden einige Jahre an Berlin. Wilder Sex, vor allem als junger Mann: Dies wäre eine weitere Facette von Isherwoods Persönlichkeit. (Isherwood ist für die heutigen Schwulen so etwas wie ein Held, hauptsächlich wegen seines rückhaltlosen Bekenntnisses zu seiner Homosexualität, und ich teile diese Bewunderung. Ein Bewunderer war auch E. M. Forster; seinen sehr anrührenden und sehr schwulen Roman Maurice, den Forster aus begreiflichen Gründen zu Lebzeiten nicht veröffentlichen wollte, hinterließ er Isherwood. Wir verdrängen heute gern, dass noch vor kurzem in den meisten Ländern Homosexualität ein strafwürdiges Verbrechen war, das mit Gefängnis und teilweise auch mit dem Tod bedroht wurde. Eine besonders barbarische Haltung nahm England ein, wie das abschreckende Beispiel des Falls Alan Turing deutlich macht. Alan Turing war der Mann, der Enigma entschlüsselte, die Chiffriermaschine der Nazis, weshalb die Alliierten über alle Maßnahmen Hitlers informiert waren – eine Genieleistung, die vielleicht mehr als irgendetwas sonst zum Sieg über Deutschland beitrug. Dies lohnte man ihm, nachdem seine Homosexualität bekannt geworden war, mit Gefängnis und zwangsweisen Hormoninjektionen, die seine "Krankheit" heilen sollten. Er beging wenig später Selbstmord.) 1923 unternahm Hitler seinen Putschversuch; er kam ins Gefängnis und schrieb dort Mein Kampf. 1929 bekamen die Nationalsozialisten durch die verheerende wirtschaftliche Lage und die Verzweiflung der Bevölkerung starken Zulauf, und 1934 vereinigte Hitler nach dem Tod Hindenburgs die Ämter des Partei-, Regierungs- und Staatschefs als "Führer und Reichskanzler" auf sich. Isherwood kam 1929 nach Berlin und blieb bis 1933, genau während der entscheidenden Phase dieser schockierendsten Periode der Geschichte des Abendlandes, dem Aufbranden eines Irrsinns, wie man ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Er berichtet: "Es ist hier die reinste Hölle. Alle sind am Ende ihrer Kräfte. Es herrscht Kriegsrecht. In England kann sich kein Mensch auch nur im Entferntesten vorstellen, was hier los ist. An jeder Ecke steht ein massives Polizeiaufgebot, um jeden Versuch einer Demonstration im Keim zu ersticken. Die Straßen sind mit Bettlern verstopft ..." Deutschland, das hellste der philosophischen Lichter des Westens, Erbe Griechenlands, und so weit ist es gekommen durch einen Verrückten im Gewand eines Anstreichers aus Österreich. So kann man heute nicht an die Großen denken, Kant, Hegel, Marx, Fichte, Nietzsche, Einstein, Schopenhauer, Leibniz, Schelling, die ganze deutsche Geisteswelt, ohne nicht irgendwann auch an Auschwitz und Treblinka, Sorbibor und Dachau, Bergen-Belsen und Chelmno denken zu müssen. Mein Gott, es sind Namen wie von Menschen. Aber die kausale Verknüpfung der transzendenten Tradition Deutschlands mit den Todeslagern, die bei den postmodernen amerikanischen Naserümpfern über Meta-Erzählungen so verbreitet ist, ist einfach billig und vulgär, und falsch sowieso. Was in Deutschland geschah, ist – neben unzähligen anderen Ursachen – ein klassischer Fall der Prä/Trans-Verwechslung. Letztlich ist die ganze deutsche Tradition ein Lehrbeispiel für die Prä/Trans-Verwechslung, die zum einen einen Hegel und zum anderen einen Hitler hervorbringen konnte. Gerade weil die deutsche Tradition mit solchem Adel und solcher Intensität um den Geist rang, was ihr ewiges Verdienst bleibt, war sie umso anfälliger für die Verwechslung von prärationalen physischen und emotionellen Schwärmereien einerseits und transrationaler Erkenntnis und transrationalem Gewahren andererseits. "Blut und Boden", "Zurück zur Natur" und der "edle Wilde" – dies waren die großen Schlagworte unter dem Banner einer romantischen Rückkehr zum Geist, einer Wiedergewinnung des verlorenen Urgrunds, einer Rückkehr zum deus absconditus, einer mit Blut geschriebenen Offenbarung, die in das Fleisch derjenigen eingeschnitten wurde, die der Reinheit des "Volkskörpers" im Wege zu sein schienen. Und die Gaskammern standen als der stille Schoß der Großen Mutter bereit, die immer über solchen Vorgängen waltet, um all diejenigen aufzunehmen, die diese Reinheit zu schänden schienen. Nicht seine Rationalität oder Transrationalität richteten Deutschland zugrunde; vielmehr brachten seine reaktivierten prärationalen Impulse die Festung zum Einsturz. Also ein weiterer Strang: Gott und der Teufel zusammen im Berlin des Jahres 1933, und Isherwood war dabei.
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Dann die ganzen Verbindungen zu Huxley. Aldous Huxley war vielleicht der letzte Autor – und dies ist mit ein Grund für meine Niedergeschlagenheit –, der intensiv, tief und philosophisch über mystische und transzendente Themen schreiben konnte und zugleich von den Intellektuellen, den Medien, den liberalen Insidern, der Avantgarde ernst genommen wurde, der letzte Autor, der sich transzendenten Themen zuwenden und auch noch erreichen konnte, dass diese als "in" galten. Die Liberalen sind im Grunde Geisthasser, und die ativen stellen sich den Geist als ihren eigenen fundamentalistischen mythischen Gott vor. Beide sind weit von der Wahrheit entfernt, und beide würden Huxley heute weitgehend unverständlich finden. Wer könnte heute noch so etwas wie Die ewige Philosophie schreiben und damit auch noch außerhalb von Kalifornien begeisterte Rezensionen auslösen? Was heute als "Spiritualität" daherkommt, ist größtenteils (1) aufgewärmter Fundamentalismus, (2) New-Age-Narzissmus, (3) mythische Regression, (4) subtiler Gewebe-des-Lebens-Reduktionismus und (5) Flachland-Holismus. Huxley, Heard und Isherwood und auch Mann hätten das alles entsetzlich öde gefunden. Gerald Heard (Verfasser mehrerer großartiger Bücher, u. a. The Five Ages of Man, das die Grundlage für Jean Hustons überaus scharfsinniges Life-Force war, und wesentlich an der Gründung und Weiterentwicklung der Vedanta-Gesellschaft beteiligt) stellte Isherwood Huxley vor, kurz nachdem Ersterer sich mehr oder weniger dauerhaft in Los Angeles niedergelassen hatte. Er verdiente dort sein Geld wie gelegentlich auch Huxley (und nicht anders als Tennessee Williams, William Faulkner und F. Scott Fitzgerald – das waren noch Zeiten! – mit dem Schreiben von Drehbüchern); sie blieben Freunde bis zu Huxleys Tod im Jahre 1963. In Los Angeles wurde die Vedanta-Gesellschaft gegründet (in einem von deren Tempel hatte, wie ich glaube, Adi Da seinen ersten großen Durchbruch). Diese wurde zu einer der drei oder vier Hauptströmungen, mit denen östliche Weisheit in Amerika Eingang erlangte. Wenn Isherwood die literarische Stimme dieser Bewegung war, war Huxley ihr Gehirn. Wie Isherwood (und nicht nur er) bemerkte, war Huxley kein großer Romancier; seine Gestalten sind farblos. Er selbst gibt die schönste Erklärung hierfür: "Ich habe praktisch keine Vorstellung von mir selbst und möchte sie auch nicht haben, sogar grundsätzlich nicht, und ich improvisiere eine solche Vorstellung einfach, wenn jemand wie Sie mich danach fragt ..." Deshalb schrieb er stattdessen Romane über Ideen, auch wenn ihm durchaus bewusst war, wie groß die damit verbundenen Risiken waren: "Man muss nicht nur über Menschen schreiben, die Ideen haben; dies sind 0,01% der Menschen; Deshalb schreiben die echten, die geborenen Romanciers keine solchen Bücher. Aber ich habe auch nie behauptet, der geborene Romanschriftsteller zu sein." Dafür spielte er in großartiger, brillanter, manchmal atemberaubender und immer auch befreiender Weise mit Ideen. Sir Isaiah Berlin schreibt in seinen Memoiren: "Wie Literaten, angeführt von Voltaire, dem Haupt der Zunft, viele niedergedrückte Menschen im 18. Jahrhundert erlösten, wie Byron oder George Sand, Ibsen, Baudelaire, Nietzsche, Wilde und Gide und vielleicht sogar Wells oder Russell es seither getan haben, so halfen meiner Generation Romanschriftsteller, Dichter und Kritiker, die sich mit den zentralen Problemen ihrer Zeit befassten, zu sich selbst zu finden." Berlin stellt Huxley mit Ezra Pound und J. B. S. Haldane in eine Reihe mit den großen Emanzipatoren seiner Zeit. Sybille Bedford, eine von Huxleys Biographen, beleuchtet ebenfalls diese große emanzipatorische Tradition: Sie bestand aus "einer Reihe außerordentlich und vielfältig begabter Menschen, die größten Einfluss hatten. Was sie verband, war der brennende Wunsch, Wissen zu sammeln, zu vermehren und zu verbreiten, der Wunsch, das Los wie die Administration der Menschheit zu verbessern, ein Eintreten in die Verantwortung – l'intelligence oblige – und eine Leidenschaft, das große Wort ist angemessen, für die Wahrheit." Es war eine Zeit, in der solche Dinge nicht bloß für wichtig genommen, sondern als sinngebend betrachtet wurden. Dies war vor meiner Generation, deren Lehrer der Meinung sind, dass sie niemandem helfen könnten, etwas Konstruktiv-Schöpferisches zu tun, weshalb sie sich vor lauter Frust entschlossen haben, lieber alles niederzureißen, sodass nichts als das Lächeln der dekonstruktivistischen Cheshire-Katze in der Luft hängen bleibt. Und sie sind schockiert darüber, jawohl, dass überhaupt irgendjemand jemals eine Leidenschaft für die Wahrheit haben könnte, denn in ihrer fröhlichen Fehldeutung Foucaults ist Wahrheit nichts anderes als spärlich verhüllte Macht. Damit wollen sie sicherstellen, dass ja keiner ihrer Schüler nach der Wahrheit streben und sie vielleicht gar noch Finden und anfangen würde, echte Werke zu schaffen, aus denen Tiefe und Herrlichkeit leuchtet. Weil Huxley aber Verbindung zum Transzendenten hatte, hatte seine Prosa befreiende Kraft. Man muss ein Wissen davon haben, dass es tatsächlich irgendetwas Transzendentes gibt, wenn man irgendjemanden von irgendetwas befreien will. Wenn es jenseits des sinnlich Gegebenen nichts gibt, dann gibt es auch keine Freiheit vom Gegebenen, und jegliche Befreiung ist illusorisch. Unsere heutigen postmodernen Autoren, die sich dem sinnlich Gegebenen in die Arme werfen, am Offensichtlichen festhalten, sich an die Schatten klammem, das Oberflächliche feiern, haben sonst nichts, wohin sie sich wenden könnten, und deshalb ist Emanzipation das Letzte, was man von ihnen erwarten könnte. Es ist nicht verwunderlich, dass jahrzehntelang einer der besten Freunde Huxleys Krishnamurti war, der Weise, von dem ich meine spirituelle Muttermilch empfangen habe. Krishnamurti war ein großer Befreier, und in Büchern wie Einbruch in die Freiheit machte er deutlich, wie nichtduales absichtsloses Gewahren von den Fesseln von Raum, Zeit, Tod und Dualität befreien kann. Als Huxleys Haus mitsamt seiner Bibliothek abbrannte, waren die ersten Bücher, die er ersetzen ließ, Krishnamurtis Commentaries on Living. Yehudi Menuhin schrieb über Huxley: "Er war Wissenschaftler und Künstler in einem und repräsentierte damit alles, was wir in einer zersplitterten Welt am dringlichsten brauchen, in der jeder von uns ein verzerrendes Stück des zerbrochenen großen universellen Spiegels in sich trägt. Er sah es als seine Aufgabe an, diese Bruchstücke wieder zusammenzufügen, und zumindest in seiner Gegenwart waren die Menschen wieder ganz. Um wissen zu können, wo jeder Splitter seinen Platz haben könnte, muss man eine Vorstellung vom Ganzen haben, und nur ein Geist wie derjenige Huxleys, der so frei von persönlicher Eitelkeit war, der alles festhielt und wahrnahm und nichts für seine Zwecke missbrauchte, konnte ein so umfassendes Ziel erreichen." Ein Befreier wie Huxley ist für mich natürlich auch Thomas Mann, von dem ich einige Jahre alles verschlang, was ich von ihm und über ihn bekommen konnte. Seinen ersten Roman, die Buddenbrooks, schrieb er mit 25 und bekam hierfür den Nobelpreis. Wer könnte heute noch einen Zauberberg schreiben und dafür einen Verleger finden? Und ist nicht vielleicht Tod in Venedig die vollkommenste Kurzgeschichte, die jemals zu Papier gebracht wurde? Auch Mann hatte in Kalifornien Kontakt mit der Vedanta-Gesellschaft. Musil, Proust und Mann sind unter den unerbittlich intelligenten dieses Jahrhunderts meine Lieblingsautoren. Mann unterstützte anfänglich die retroromantischen und reaktionären faschistischen Bewegungen in Deutschland, wandte sich dann aber entsetzt und angewidert ab. Er vertrat einen humanistischen rationalen Pluralismus und erhob so laut und klar wie sonst kein Deutscher die Stimme gegen die Nazis. Er war vielleicht der größte humanistische Romanschriftsteller des Jahrhunderts. Er erkundete intensiv das innere Leben (Freud, Nietzsche, Schelling, Schopenhauer, Mystik), aber weil er schon einmal in einen prärationalen Faschismus abgeglitten war, fiel es ihm immer schwer, prärationale Regression von transrationaler Herrlichkeit zu unterscheiden. Trotzdem bleibt er eine der großen und kostbaren Stimmen dieses Jahrhunderts; er gehört ganz unzweifelhaft in das Pantheon derjenigen, die unzähligen sensiblen Seelen halfen, sich zu emanzipieren.
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Dies ist also ein weiterer Strang: Die große Tradition des emanzipatorischen Schreibens, der intellektuellen Klarheit im Dienste der Befreiung. Sie half mit, Unterdrückung zu beseitigen, Machtansprüche abzuwehren und der Seichtheit entgegenzuwirken, wie seltsam dies alles auch zeitgenössischen Ohren klingen mag. Heute ist diese edle Tradition in den Händen von Wissenschaftlern der Ratio wie z.B. Carl Sagan, die wacker gegen Elvis-Erscheinungen und UFO-Entführungen zu Felde ziehen, aber diese Tradition ist doch so viel edler als all das und spricht so viel Höheres, Tieferes und Wahreres in uns allen an. Ich fürchte, dass diese emanzipatorische Tradition mit Huxley zu Ende gegangen ist. Alle diese Stränge sind hier in einem Menschen vereint. Mit Christopher Isherwood ist es wie im "Kevin-Bacon-Spiel"5: Von ihm ausgehend gelangt man in höchstens sechs Schritten zu allem, was wichtig ist. Aber mein Gott, es ist so traurig, dass so wenige Menschen diese Schritte tun wollen. Und es deprimiert mich, seine Tagebücher zu lesen und jeden Tag daran erinnert zu werden.
Freitag, 24. Januar Habe Bound – Gefesselt ausgeliehen, den ich schon im Kino gesehen habe; klasse. Jennifer Tilly, Gina Gershon, Joe Pantoliano – die beiden Lesben machen Joe fertig, aber das Ganze so spannend, dass man sich die Fingernägel abbeißen könnte. Der Film ist in einem sinnlichen Noir-Stil gedreht, und so mag ich Kino. Die Filme ähneln sich nicht so sehr, aber ich musste doch an den hervorragend gemachten Seven denken. Mehrere Kritiker haben Seven blasiert von A bis Z verrissen (nun ja, in der ganzen Stadt schien es wirklich keine Oberlichter zu geben), weshalb ich mich freute, dass der Vorspann den International Design Award bekommen hatte. Kyle Cooper, von dem der Vorspann stammte, bezeichnete ihn als "düstere, aber verspielte Bücherstütze für den Schlechtfühl-Film des Jahres". Ich habe das ungute Gefühl, dass die Arbeit an Naturwissenschaft und Religion und dessen Veröffentlichung die düstere, aber verspielte Bücherstütze dieses Jahres sein wird. Was das "Schlechtfühlen" betrifft, wird man sehen.
Samstag, 25. Januar Verabredung mit einer Frau, deren Name hier verschwiegen werden soll; kein so großer Erfolg. Es stellte sich heraus, dass die meisten ihrer Beziehungen äußerst kurz waren. Eine ihrer Ehen dauerte nur ein paar Monate. Also, ich habe Sachen im Kühlschrank, die länger halten.
Montag, 27. Januar Sam [Bercholz] brachte The Eye of the Spirit (dt. Das Wahre, Schöne, Gute. Geist und Kultur im 3. Jahrtausend, Frankfurt am Main: Krüger, 1999) noch rechtzeitig zur Ken-Wilber-Konferenz heraus. Meine Belegexemplare kamen heute, etwas spät, aber Shambhala hat wie üblich vorzügliche Arbeit geleistet. In mancherlei Hinsicht ist dies eines meiner Lieblingsbücher, aber ich bin mir nicht sicher, ob es erfolgreich sein wird. Jacks großzügiges Vorwort. Jack [Crittenden] und ich kennen uns schon sehr lange, noch aus der Zeit in Lincoln, wo er mich einmal besuchte, nachdem er Das Spektrum des Bewusstseins gelesen hatte. Er wollte eine Zeitschrift herausbringen, ReVision, und ich half ihm, das Projekt auf die Beine zu bringen. Wir haben jetzt mit dieser Zeitschrift nichts mehr zu tun, aber Jack und ich sind gute Freunde geblieben. Er ist ein brillanter Theoretiker, ein hervorragender Schriftsteller. Er hat jetzt mit Patricia drei große Söhne; kaum zu glauben. Er hat Beyond Individualism (Oxford University Press) geschrieben und arbeitet jetzt mit wechselndem Eifer neben seiner Lehrtätigkeit in Arizona an zwei oder drei weiteren Büchern. Jack erläutert ganz hervorragend die Bedeutung von "integral" und die beklagenswerte Zersplitterung eines großen Teils dessen, was man heute "Wissen" nennt. Viele Menschen haben mir über Jacks Vorwort geschrieben, etwa in der Art: "Ah, jetzt begreife ich, was Sie in Ihren Büchern sagen wollen." Schön, dass es endlich mal jemand erklären kann. (In einigen weiteren Einträgen komme ich nochmals auf Jacks Vorwort zurück. Deshalb nachfolgend einige Auszüge daraus:) Dabei ist Wilbers Ansatz das Gegenteil von Eklektik. Er hat eine stimmige Vision vorgelegt, welche die Geltungsansprüche der unterschiedlichsten Fachgebiete zu einem nahtlosen Ganzen zusammenführt: Physik und Biologie, Ökowissenschaften, Chaostheorie und Systemwissenschaft, Medizin, Neurophysiologie und Biochemie, bildende Kunst, Dichtkunst und Ästhetik, Entwicklungspsychologie und ein weites Spektrum psychotherapeutischer Richtungen von Freud über Jung bis Piaget, die Theoretiker der Großen Kette von Platon und Plotin im Westen bis Shankara und Nagarjuna im Osten, die Modemisten von Descartes und Locke bis Kant, die Idealisten von Schelling bis Hegel, die Postmodernisten von Foucault und Derrida bis Taylor und Habermas, die weitere hermeneutische Tradition von Dilthey über Heidegger bis Gadamer, die Gesellschaftstheoretiker von Comte und Marx bis Parsons und Luhmann, und die kontemplativen und mystischen Schulen der großen östlichen und westlichen meditativen Traditionen in den großen Weltreligionen. Und dies ist nur eine Auswahl. Wer wollte sich also darüber wundern, dass diejenigen, die sich auf ein bestimmtes Fachgebiet spezialisiert haben, es nicht hinnehmen wollen, wenn dieses Gebiet nicht als der Angelpunkt des Kósmos6 dargestellt wird? Mit anderen Worten, für die Kritiker steht einiges auf dem Spiel, und man wird es mir an dieser Stelle nicht als Parteinahme auslegen, wenn ich sage, dass diejenigen, die sich ihr Lieblingsthema in Wilbers Ansatz herauspicken, bloß einen bestimmten Zweig am Ast seiner Darstellung attackieren. Wenn man aber stattdessen den ganzen Baum betrachtet, und wenn sein Ansatz grundsätzlich richtig ist, dann beinhaltet er mehr Wahrheit als jedes andere System in der Geschichte. Wie kommt das? Worin besteht letztlich Wilbers Methode? Sie besteht darin, dass er bei der Betrachtung eines jeden Fachgebiets einfach auf eine Ebene der Abstraktion zurückgeht, auf der eine Gemeinsamkeit zwischen den widerstreitenden Ansätzen sichtbar wird. Nehmen wir zum Beispiel die großen religiösen Traditionen der Welt: Stimmen sie darin überein, dass Jesus Gott ist? Nein. Also müssen wir dies über Bord werfen. Stimmen sie alle darin überein, dass es einen Gott gibt? Dies hängt davon ab, was man unter "Gott" versteht. Bejahen
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sie alle einen Gott, wenn man mit "Gott" einen Geist meint, der in vielerlei Hinsicht nicht beschreibbar ist, von der buddhistischen Leerheit bis zum jüdischen Geheimnis des Göttlichen? Ja, dies ist eine taugliche Verallgemeinerung, was Wilber eine "OrientierungsVerallgemeinerung" oder eine "profunde Schlussfolgerung" nennt. In derselben Weise setzt sich Wilber mit allen anderen menschlichen Wissensgebieten auseinander, von der bildenden Kunst bis zur Dichtkunst, vom Empirismus bis zur Hermeneutik, von der Psychoanalyse bis zur Meditation, von der Evolutionstheorie bis zum Idealismus. In allen Fällen extrahiert er eine Reihe profunder und verlässlicher, um nicht zu sagen unwiderleglicher OrientierungsVerallgemeinerungen. Er hält sich nicht mit der Frage auf – und dies sollten auch seine Leser nicht tun –, ob andere Fachgebiete die Schlussfolgerungen eines bestimmten Fachgebietes akzeptieren oder nicht; man sollte sich zum Beispiel nicht daran stören, wenn die Schlussfolgerungen des Empirikers nicht mit Schlussfolgerungen des Gläubigen übereinstimmen. Man trägt einfach die Orientierungs-Verallgemeinerungen zusammen, wie wenn jedes Gebiet außerordentlich wichtige Wahrheiten enthielte. Dies ist der erste Schritt in Wilbers integrierendem Verfahren, eine Art Phänomenologie allen menschlichen Wissens auf der Ebene von Orientierungsverallgemeinerungen. Mit anderen Worten, man nimmt alle Wahrheiten zusammen, die jedes Fachgebiet der Menschheit anbieten zu können glaubt. Man nimmt für einen Augenblick einfach an, dass sie wirklich wahr sind. Dann fügt Wilber diese Wahrheiten zu Ketten oder Netzen miteinander verknüpfter Schlussfolgerungen zusammen. Dabei wendet sich Wilber scharf von jeder bloßen Eklektik ab und versucht eine Synopsis. Dieser zweite Schritt in Wilbers Verfahren besteht darin, dass er alle Wahrheiten oder Orientierungs-Verallgemeinerungen, die er im ersten Schritt gewonnen hat, zusammennimmt und fragt: In welchem kohärenten System ließe sich die größtmögliche Zahl dieser Wahrheiten zusammenfassen? Das in Eros, Kosmos, Logos vorgelegte und auf den folgenden Seiten klar und einfach zusammengefasste System ist Wilber zufolge dasjenige, das die größtmögliche Zahl von Orientierungs-Verallgemeinerungen aus der größtmöglichen Zahl menschlicher Forschungsgebiete miteinander verbindet. Wenn also Wilbers Vision gültig ist, dann enthält und berücksichtigt, das heißt integriert sie mehr Wahrheit als jedes andere System in der Geschichte. Der Grundgedanke ist ganz einfach. Es geht nicht darum, welcher Theoretiker Recht hat und welcher Unrecht. Wilbers Gedanke ist vielmehr, dass jeder im Grunde Recht hat, und er möchte herausfinden, wie so etwas möglich ist. "Ich glaube nicht", so Wilber, "dass irgendein Mensch sich zu einhundert Prozent irren kann. Statt also zu fragen, welcher Ansatz richtig und welcher falsch ist, nehmen wir vielmehr an, dass jeder Ansatz wahr ist, aber nicht vollständig, und versuchen dann herauszufinden, wie viele Teilwahrheiten zusammenpassen und wie man sie integrieren kann, statt uns für eine von ihnen zu entscheiden und die anderen zu verwerfen." Der dritte Schritt in Wilbers Ansatz ist schließlich die Entwicklung eines neuen Typs einer kritischen Theorie. Sobald er sein Gesamtschema der größten Zahl von Orientierungs-Verallgemeinerungen fertig gestellt hat, kritisiert er damit die Begrenztheit der engeren Ansätze, ohne die grundlegenden Wahrheiten dieser Ansätze zu verwerfen. Er kritisiert also nicht ihre Wahrheiten, sondern nur ihre Unvollständigkeit. Diese seine integrale Sichtweise liefert letztlich die Erklärung für die polaren Reaktionen auf sein Werk, das heißt für die Auffassung einerseits, dass es zum Bedeutendsten zählt, was je geschrieben wurde, und die wütenden Angriffe des Chors der Entrüsteten andererseits. Die heftigste Kritik kommt fast ausnahmslos aus den Reihen der Theoretiker, die ihr eigenes Fachgebiet für das einzig wahre Fachgebiet und ihre eigene Methode für die einzig gültige Methode halten. An Wilber wurde bisher nie – ernst zu nehmende – Kritik deshalb geübt, weil er eines der Wissensgebiete, die er betrachtet, falsch verstanden oder falsch dargestellt hätte, sondern deshalb, weil er Gebiete berücksichtigt, die der Kritiker jeweils nicht für wichtig hält, oder einfach nur, weil sie sich von ihm nicht die Butter vom Brot nehmen lassen wollen. Die Freudianer sagen nie, dass Wilber Freud nicht verstanden hätte, aber sie finden, dass er die Mystik weglassen sollte. Die Strukturalisten und Poststrukturalisten sagen nicht, dass er ihr Fachgebiet nicht verstanden hätte, aber sie meinen, dass er all diese schrecklichen anderen Disziplinen weglassen sollte. Den Angriffen liegt immer dieselbe Haltung zugrunde: Wie können Sie es wagen zu sagen, dass mein Fachgebiet nicht das einzig wahre ist! Jedenfalls steht, wie gesagt, viel auf dem Spiel. Ich habe Ken Wilber einmal gefragt, wie er selbst seine Arbeit sieht, und er antwortete mir: "Sie ist vielleicht eine der ersten glaubwürdigen weltumspannenden Philosophien, eine wirkliche Zusammenfassung von Ost und West, Nord und Süd." Ganz in diesem Sinne äußerte sich vor kurzem der bekannte Religionswissenschaftler Huston Smith: "Niemand, auch nicht Jung, hat so wie Wilber die westliche Psychologie für die überdauernden Einsichten der großen Weisheitstraditionen der Welt sensibilisiert. Langsam, aber sicher, Buch um Buch, legt Wilber die Grundlagen einer echten westöstlichen Psychologie." Zugleich aber sagt Wilber auch: "Man sollte nicht zu viel Aufhebens davon machen. Es sind ja nur OrientierungsVerallgemeinerungen. Die Details kann jeder so ergänzen, wie es ihm gefällt." Anders ausgedrückt: Wilber will uns nicht in eine begriffliche Zwangsjacke stecken. Im Gegenteil: "Ich hoffe zu zeigen, dass es im Kosmos mehr Raum gibt, als man sich vielleicht vorgestellt hat." Eng wird der Raum lediglich für diejenigen, die ihre Pfründe retten wollen, indem sie den Kosmos auf ein bestimmtes Fachgebiet – selbstredend ihr eigenes – verkleinern und die Wahrheiten anderer Disziplinen ignorieren wollen. "Man kann den verschiedenen Methoden und Disziplinen nur gerecht werden", so Wilber, "indem man zeigt, wie sie zusammenpassen. Nur so kann eine echte Welt-Philosophie entstehen." Andernfalls hat man, wie er sagt, "Haufen", keine Ganzheiten, und so kommt gar nichts zu seinem Recht.
Dienstag, 28. Januar Zahnarzttermin. Alle Zahnärzte in Boulder sind "holistisch". Sie können keine Löcher füllen, aber sie sind gut für die Seele. Die Zähne sind kariös, aber man kann bei ihnen geistige Fortschritte machen.
Mittwoch, 29. Januar Ich habe langsam das Gefühl, dass ich für Naturwissenschaft und Religion einen Agenten brauche. Ich habe seit Jahren keinen Agenten mehr. Die letzten zehn Jahre habe ich sehr gut mit Shambhala Publications zusammengearbeitet, dessen Gründer mein alter Freund
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Sam Bercholz ist. Aber Sam hat Verständnis dafür, dass ich es diesmal mit einem der großen Publikumsverlage versuchen möchte, weshalb ich mich also mit seinem Segen in die große böse Welt des kommerziellen Verlagswesens stürzen werde. Aber wo findet man eigentlich Agenten? Agent World? Agents 'R' Us?
Donnerstag, 30. Januar Morgen habe ich Geburtstag. Aber es ist "Ken Wilbers" Geburtstag, nicht der Geburtstag meines ursprünglichen Antlitzes, des Großen Ungeborenen, der großen weiten Leerheit, die von Datum und Dauer, Zeit und Tempus unberührt ist. Dieser unermessliche Ozean der Leichtigkeit, diese große Weite der Freiheit, dieses klare Meer der Stille: Dies bin ich im tiefsten Teil meiner selbst, der unendliche Schnittpunkt, in dem nicht ich bin, sondern nur der GEIST. Das Große Ungeborene, das niemals ins Dasein tritt, hat keinen Geburtstag, sondern ist die unendlich strahlende Soheit alles Seienden. Es gibt keine Geburtstagsfeier für den zeitlosen Augenblick, der vor der Geschichte und ihren Lügen, vor der Zeit und ihren hässlichen Schrecken, vor der Dauer und ihrer Plackerei ist. Es gibt keine Geburtstagsgeschenke für das große Ungeschaffene, die Quelle alles Seienden, das grenzenlose Meer der Gelassenheit, das den ganzen Kosmos umspült. Es gibt kein Geburtstagsständchen für das "Immer schon", die unendliche Freiheit, die herrlich jenseits von Geburt und Tod gleichermaßen liegt. Jedes fühlende Wesen kann wahrhaftig sagen: In meinem Wesen bin ich zeitlos, in meinem Wesen bin ich das All: Die Falten in meinem Gesicht sind die Risse im kosmischen Ei, Supernova lodern in meinem Herzen, Galaxien durchpulsen meine Adern, Sterne erleuchten die Neuronen meiner Nacht ... Und wer wird all dem ein Geburtstagsständchen darbringen? Wer wird die große Weite feiern, die ihre Lieder unverkündet in der Stille der Nacht singt?
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Februar Alle Buddhas und alle fühlenden Wesen sind nichts als Eine Geist, außer dem nichts existiert. Dieser Geist, der ohne Anfang ist, ist ungeboren und unzerstörbar. Er ist nicht grün und nicht gelb, und er hat weder Form noch Erscheinung. Er gehört nicht zu den Kategorien der Dinge, die existieren oder nicht existieren, noch kann man ihm Begriffe wie "neu" oder "alt" beilegen. Er ist weder lang noch kurz, weder groß noch klein, denn er geht über alle Grenzen, Maße, Namen, Spuren und Vergleiche hinaus. Erwache einfach zu diesem Einen Geist. Zen-Meister Huangbo
Samstag, 1. Februar Habe den ganzen Vormittag gearbeitet, war einkaufen, habe Lebensmittel besorgt. Unter meinem Dach hat sich in dem großen Abluftrohr meines Wäschetrockners ein Taubenpärchen eingenistet. Ich habe das Schutzgitter vom Rohr abgenommen, damit sie im Winter hereinkommen können; ihnen behagt die warme Luft aus dem Trockner. Heute habe ich festgestellt, dass sie zu dritt sind; sie haben gerade ein Junges bekommen. Die Menschen sollten sich lebenslang binden, wie die Tauben, die Pinguine und die Katholiken. Wobei freilich bei Tauben die Ehe niemals in wunderbarer Weise für nichtig erklärt wird.
Sonntag, 2. Februar Habe ein Belegexemplar von Andrew Harveys The Essential Gay Mystics erhalten, ein Buch, für das ich einen kurzen Klappentext schreiben durfte. ("Andrew Harvey hat hier einige der leidenschaftlichsten und eindringlichsten Werke der ganzen mystischen Literatur zusammengebracht – und die Verfasser sind alle schwul. Die Texte sprechen für sich: Das Göttliche spricht unmittelbar aus den Texten dieses Bandes, die im Herzen und im Verstand von Schwulen bewegt wurden und tief, beredt und wunderbar zum selben Göttlichen in uns allen sprechen. Der Mystiker sieht Gott nicht als Objekt, sondern ist in Gott als seinen Dunstkreis eingetaucht, und die hier gesammelten Werke sind ein leuchtendes Zeugnis dieses alles umfassenden Zustandes. Harvey hat uns mit einem Füllhorn mystischer Weisheit beschenkt, zart wie Tränen und sanft wie Nebeldunst, aber auch vom unerbittlichen Feuer des Göttlichen leidenschaftlich durchglüht.") Bevor Andrew mit diesem Buch begann, kam er mit seinem künftigen Ehepartner Eryk und mit Alec Tsoucatos zu einem kurzen Besuch bei mir vorbei (in der Kurzbiographie heißt es mit charakteristischem Charme: "Harvey studierte in Oxford. Mit 21 erlangte er die höchsten akademischen Würden Englands und wurde zum jüngsten Fellow of All Soul's College der Geschichte. Harvey ist Verfasser von über zehn Büchern, u. a. von Ins Innerste des Mandala: eine Reise zur Weisheit des Buddhismus. Zusammen mit Sogyal Rinpoche schrieb er den Bestseller Das Tibetische Buch vom Leben und Sterben. 1993 wurde Harvey die BBC-Dokumentation 'The Making of a Mystic' gewidmet. Er lebt heute in Paris."). Ich machte Pasta für sie, die wir draußen auf dem Balkon aßen, wo man einen weiten Blick über die Ebene von Denver hat. Als Romantiker muss Andrew zwischen Idealisierung des verlorenen Geliebten und Abscheu vor ihm schwanken, weshalb er auch eine Phase der Hassliebe zu Mother Meera durchlaufen hat, aber es scheint, dass er jetzt mit Eryk glücklich verheiratet ist, von dem er, wie er sagt, mehr über wahre Liebe gelernt hat als von jedem anderen Menschen. Ich hoffe, dass dies so ist; er scheint wirklich glücklich zu sein.
Dienstag, 4. Februar Ich mache mir Sorgen um Hustons Gesundheit [Huston Smith]. Manchmal glaube ich, dass er noch zehn oder zwanzig Jahre lebt, dann befürchte ich, dass er das nächste Jahr nicht mehr erlebt. Seit Treyas Tod versuche ich, den Menschen zu sagen, was sie mir bedeuten, bevor sie nicht mehr da sind, bevor es zu spät ist. Wir hatten die Gelegenheit, dies füreinander zu tun, aber ich habe es auch erlebt, wie es Menschen erging, die diese Gelegenheit nicht hatten. Das Erstaunliche an Huston ist, dass er schon über die Philosophia perennis arbeitete, als die meisten Menschen noch nie davon gehört hatten. Schon Jahre, bevor das Thema in Mode kam – multikulturelle Weisheitstraditionen, das religiöse Erbe der Welt, die hingebungsvolle Beschäftigung mit spiritueller Vielfalt und spiritueller Einheit –, bearbeitete Huston dieses Gebiet. Sein Körper ist jetzt fast durchscheinend, wie ein dünnes, schönes, feines Gewebe. Als ich ihn das letzte Mal sah, war er sehr zart und zerbrechlich, aber er leuchtete von innen heraus. Ich glaube wirklich, dass ein zarter Schimmer von ihm ausgehen würde, wenn man das Licht ausschaltete. Mein lieber Huston, es war wunderbar, dich zu sehen. Aber als du auf meine Frage nach deiner Gesundheit antwortetest: "Die Festung bröckelt", hatte dies eine nachhaltige Wirkung auf mich, die bis heute anhält. Ich wollte dir darüber schreiben. Je mehr die Leerheit mein Wesen ausfüllt, desto mehr öffnet sich mein Gewahren in eigentümlicher Weise nach zwei Seiten. Einerseits ist jedes einzelne Geschehnis, vom Allerbesten bis zum Allerschlechtesten, gleichermaßen die Ausstrahlung des Göttlichen. Ich nehme einfach keinen Unterschied zwischen ihnen war. Dies ist natürlich ein Geheimnis: dass Schmerz und Glück in diesem Gewahren gleich sind, dass die verworfenste und die göttlichste Seele in diesem Strahlen gleich sind, dass in diesem Glanz des Alldurchdringenden die untergehende und die aufgehende Sonne dieselbe Freude bringen, dass nichts wirklich in Bewegung ist. Und wenn ich Kontakt zu diesem Alldurchdringenden habe und höre, dass die Festung des lieben Huston bröckelt, dann ist es
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einfach so, wie es ist, und alles ist dennoch in Ordnung, alles ist gut, und alles strahlt die unendliche Herrlichkeit aus, die wir alle sind. Aber die andere Seite dieser Leerheit, die andere "Pforte" dieses Gewahrens ist, dass neben dem beständigen Leuchten dieses Augenblicks (oder parallel zu ihm) all die kleinen Augenblicke irgendwie nur umso mehr sie selbst sind. Trauer ist noch trauriger, Glück ist noch glücklicher, Freude ist noch fröhlicher, Schmerz ist noch schmerzlicher. Ich lache lauter und ich weine heftiger. Weil alles die reinste Leerheit ist, können alle relativen Erscheinungen umso intensiver sie selbst sein, weil sie nicht mehr mit dem Göttlichen rivalisieren, sondern sich einfach ausdrücken. Und wenn ich an dieser "Pforte" höre – wo der Schmerz schmerzlicher ist (weil er leer ist), und wo die Trauer trauriger ist (weil sie leer ist) –, dass die Festung des lieben Huston bröckelt, dann überfällt mich eine Traurigkeit, die ich kaum mitzuteilen weiß. Du hast so vielen so viel bedeutet, du hast mit Engelszungen daran erinnert, wer wir sind, du hast das Licht Gottes auf unser Antlitz scheinen lassen und uns gezwungen, uns zu erinnern, du warst das Leuchtfeuer in der dunkelsten Nacht unserer verwirrten und bösen Seelen, du warst unser eigenes tiefstes Sein, das wir nie vergessen dürfen. Dies warst du ohne Unterbrechung, mit Integrität und Brillanz, mit Bescheidenheit, Mut und Sorgfalt, und du hast eine Spur hinterlassen und hinterlässt sie immer noch, der wir alle folgen werden, und wir werden es mit mehr Dankbarkeit, Achtung und Liebe tun, als ich mit meinen Worten jemals sagen kann. So bin ich also ein göttlicher Schizophrener geworden. Ich habe immer zwei Auffassungen zugleich. In die Leerheit eingetaucht ist alles genau so, wie es sein muss, eine erstaunliche Geste der Großen Vollkommenheit. Zu genau derselben Zeit und in genau derselben Wahrnehmung bin ich aber bei dem Gedanken, dass du uns verlassen wirst, in Tränen aufgelöst. Es ist einfach unerträglich, es ist völlig inakzeptabel; ich werde gegen das Verlöschen dieses Lichts wüten, bis ich nicht mehr wüten kann, bis meine Stimme vom nutzlosen Anschreien gegen die Demütigung des Samsara brüchig geworden ist. Und doch ist eben dies Nirvana, nicht theoretisch, sondern einfach so und jetzt in diesem Augenblick: Leerheit. Beide Wahrnehmungen sind gleichzeitig; ich weiß, dass ich dir dies nicht zu sagen brauche; ich weiß, dass es bei dir so ist. Von dieser "Pforte" aus, die gegen den Verfall der Festung aufbegehrt, wollte ich dir einfach sagen, so gut ich es vermag, wie viel du uns allen bedeutet hast. Was mich ganz persönlich betrifft, warst du bei meiner ganzen beruflichen Entwicklung, Schritt für Schritt, niemals außer Sichtweite. Von jenem wunderbaren Brief, den du einem 2 5-Jährigen schriebst und in dem du dessen erstes Buch lobtest, über deine Bereitschaft, bei ReVision mitzuarbeiten (ich sagte zu Jack Crittenden, dass mir nicht wohl wäre, diese Zeitschrift zu machen, solange Huston nicht dabei wäre), bis zur Trauerrede bei Treyas Bestattung, die mich in Tränen versinken und ziemlich die Fassung verlieren ließ. An dieser Pforte wird es mir sicher nicht gut gehen, wenn die Festung Fällt. Du musst mir verzeihen, dass ich dich vorzeitig zu Grabe trage und rede, als ob dein Hinscheiden unmittelbar bevorstünde; so Gott will, wird es noch Jahrzehnte dauern, bis wir uns alle versammeln werden, um wirklich solche Worte laut auszusprechen, wenn deine Asche in den kosmischen Tanz und deine Seele dorthin zurückkehrt, von wo sie niemals ausgegangen ist. Aber wie ich oben vorsorglich gesagt habe – dieses "Die Festung verfällt" durchflutete mich mit einer solchen Trauer, dass ich das Risiko in Kauf nehmen musste, diese Worte vielleicht Jahrzehnte zu früh an dich zu richten. Vielleicht neige ich wegen Treya mehr als andere Menschen dazu, dass zu den verdammtesten Zeiten die Gefühle mit mir durchgehen. Verzeih mir also, dass ich jetzt schon diese Trauerrede auf dich halte, die doch nur eine Lobrede sein soll. Ich sende dir den größtmöglichen Teil der Liebe zurück, die du uns allen so großzügig gegeben hast und die du uns zu verkörpern aufgefordert hast. Deine eigene Liebe, Gottes Liebe – du hast uns gelehrt, dass sie dasselbe sind – biete ich dir wiederum an, meinem Mentor, meinem Seelenführer, meinem Freund, dem Menschen, den ich wohl von allen als Letzten vergessen werde. Immer dein Ken
Sonntag, 9. Februar Bevor ich mit der Arbeit an Eros, Kosmos, Logos [EKL] begann, fragten mich mehrere Dozenten am Naropa-Institut in Boulder, ob ich einmal zu ihnen und ihren Studenten kommen wolle. Normalerweise lehne ich Angebote für Vorlesungen oder Unterricht ab, was ich selber schade finde, weil es mir Spaß macht, aber in diesem Fall kamen wir zu einem Kompromiss. Wir vereinbarten, dass die Studenten in drei oder vier Gruppen zu jeweils dreißig bis fünfzig Personen zu mir nach Hause kommen sollten, wo wir ohne zeitliche Begrenzung über Themen diskutieren wollten, die sie interessierten. Während meines dreijährigen Einsiedlerdaseins (als ich an EKL arbeitete) ruhten diese Seminare, doch habe ich dieses Jahr eingewilligt, dies wieder aufzunehmen. Solange die Studenten zu mir nach Hause kommen, kann ich mir weismachen, den Grundsatz "keine öffentlichen Vorträge" nicht aufgegeben zu haben – ich halte ja keine Vorlesungen; es kommen bloß ein paar Studenten zum Plaudern. Heute hielten wir also wiederum ein Seminar ab. Ich habe zugesagt, diese Seminare etwa zweimal pro Woche durchzuführen, und zwar bis auf weiteres. Jemand machte den Vorschlag, diese Seminare auf Video aufzunehmen, und vielleicht machen wir das.
Montag, 10. Februar Letzte Woche kamen noch die letzten Besprechungen für Naturwissenschaft und Religion von einigen sehr liebenswürdigen Menschen, die sich meiner erbarmten. Ich habe daraus ein hübsches Paket gemacht und sie mit einem großmäuligen Brief an alle Agenten geschickt, die mir von Freunden und Verlegern empfohlen wurden. Inzwischen sind von allen Rückmeldungen gekommen. Es ist schon lustig: Ich veranstalte hier letztlich eine Versteigerung unter einem halben Dutzend Agenten; der Meistbietende versteigert mein Buch unter einem halben Dutzend Verlagen, und der Meistbietende von diesen wird schließlich mein Buch herausbringen. Zugleich ist mir nicht ganz wohl dabei, denn mehrere dieser Agenten betreuen auch erfolgreiche New-Age-Autoren. Ich schätze die Arbeit einiger dieser Leute, aber allzu oft habe ich das Gefühl, dass sie einen prärationalen und narzisstischen statt eines transrationalen und göttlichen Geistes verkünden. Weil diese Autoren meinen, dass Gott und die Göttin in der modernen Welt abwesend sind, haben sie beschlossen, deren Platz einzunehmen – und ihre Agenten halten die Hand auf: 15% von Gott für mich. Ich habe jetzt schon das Gefühl, dass dies weitaus mehr ist, als ich haben wollte.
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Dienstag, 11. Februar Eine transformierende Spiritualität Hal Blacker, der Herausgeber von What Is Enlightenment?7, hat das Thema der neuen Ausgabe dieser Zeitschrift wie folgt umrissen: Wir wollen uns einer sensiblen Frage zuwenden, mit der man sich aber auseinander setzen muss: der Oberflächlichkeit, die in einem großen Teil des spirituellen Diskurses im Westen herrscht, vor allem in den Vereinigten Staaten. Allzu oft wird in den Übersetzungen der mystischen Traditionen des Ostens (und nicht nur dieser) in das amerikanische Idiom ihre große Tiefe verflacht, ihr radikaler Anspruch verwässert und ihr Potenzial zu einer revolutionären Verwandlung ausgelöscht. Wie dies geschieht, bleibt oft rätselhaft, denn die Worte der Lehre sind oft dieselben. Und doch scheint durch irgendeine Manipulation, die am Kontext und damit letztlich an ihrem Sinn vorgenommen wird, die Botschaft der größten Lehren aus einem brüllenden Feuer der Befreiung in etwas anderes verwandelt zu werden, das eher dem beruhigenden Blubbern eines Whirlpools ähnelt. Es gibt Ausnahmen, aber die radikalen Implikationen gerade der größten Lehren gehen oft verloren. Wir möchten dieser Verwässerung der Spiritualität im Westen nachgehen und die Frage nach ihren Ursachen und Konsequenzen stellen. Ich möchte mich im Folgenden mit den wesentlichen Punkten von Hals Behauptung auseinander setzen und sie nach bestem Wissen kommentieren, denn diese Punkte werfen ein Schlaglicht auf den Kern der Krise in der amerikanischen Spiritualität.
Translation und Transformation In einer Reihe von Büchern (u.a. Der glaubende Mensch; Halbzeit der Evolution; Das Wahre, Schöne, Gute) habe ich versucht zu zeigen, dass Religion seit jeher zwei sehr wichtige, aber unterschiedliche Funktionen erfüllt. Zum einen wirkt sie sinnstiftend für das getrennte Ich: Sie bietet Mythen, Erzählungen, Geschichten, Berichte, Rituale und Erinnerungen, die in ihrer Gesamtheit dem getrennten Ich helfen, die Keulenschläge eines ungeheuerlichen Schicksals zu deuten und ihnen zu trotzen. Diese Seite der Religion bewirkt nicht unbedingt eine Veränderung der Bewusstseinshöhe eines Menschen; sie führt nicht zu einer radikalen Transformation. Sie bewirkt auch keine erschütternde Befreiung vom getrennten Selbst. Vielmehr tröstet, stärkt, verteidigt und fördert sie das Ich. Solange das getrennte Ich an die Mythen glaubt, die Rituale vollzieht, die Gebete spricht oder sich zum Dogma bekennt, wird das Ich, wie man voll Überzeugung glaubt, "erlöst" sein, entweder in dem großartigen Gefühl, von Gott erlöst bzw. von der Göttin begünstigt zu sein, oder aber in einem ewigen Leben in Seligkeit nach dem Tod. Zum anderen aber hat Religion immer auch – wenn auch nur für eine verschwindend kleine Minderheit – die Funktion einer radikalen Transformation und Befreiung erfüllt. Diese Funktion der Religion stärkt das getrennte Ich keineswegs, sondern zersprengt es – nicht Tröstung, sondern Verwüstung, nicht Selbstvergewisserung, sondern Leerheit, nicht Selbstzufriedenheit, sondern Explosion, nicht Behaglichkeit, sondern Revolution –, kurz, diese Art von Religion bildet nicht das herkömmliche Stützkorsett für das Bewusstsein, sondern transformiert und verwandelt es vielmehr an seinen Wurzeln. Diese beiden großen Funktionen der Religion kann man in verschiedener Weise beschreiben. Die erste Funktion, die sinnstiftende, ist eine Form horizontaler Bewegung, die zweite Funktion, die das Selbst transzendierende, eine Form vertikaler Bewegung (höher oder tiefer, je nachdem, welches Bild man bevorzugt). Ersteres habe ich Translation genannt, letzteres Transformation. Translation bietet dem Selbst einfach eine Möglichkeit, sich die Wirklichkeit anders vorzustellen. Das Selbst bekommt einen neuen Glauben: vielleicht eine holistische Haltung statt einer atomistischen, eine nachsichtige statt einer vorwurfsvollen, eine beziehungsorientierte statt einer analytischen. Dann lernt das Selbst, seine Welt und sein Wesen in den Begriffen dieser neuen Überzeugung, dieser neuen Sprache oder dieses neuen Paradigmas zu "transferieren", und diese neue und verzaubernde Translation lindert oder vermindert zumindest vorübergehend das Grauen im Herzen des getrennten Selbst. Bei einer Transformation dagegen wird der Prozess der Translation selbst in Frage gestellt, einer objektiven Betrachtung unterworfen, unterminiert und schließlich ausgelöscht. Das Wesen der Translation besteht darin, dass dem Selbst (oder Subjekt) eine neue Betrachtungsweise der Welt (oder von Objekten) angeboten wird; das Wesen einer radikalen Transformation besteht dagegen darin, dass das Selbst selbst erkundet, an der Gurgel gefasst und buchstäblich erdrosselt wird. Oder, um eine letzte Formulierung zu geben: Die horizontale Translation, die bei weitem verbreitetste Funktion der Religion, bewirkt vor allen Dingen, dass das Selbst zumindest vorübergehend glücklich ist mit dem, was es begreift, zufrieden ist in seiner Versklavung, selbstgefällig bleibt im Angesicht des schieren Grauens, das doch seine innerste Verfassung ist. Bei der Translation taumelt das Selbst schläfrig in die Welt, stolpert benommen und kurzsichtig in den Albtraum des Samsara, bekommt es eine mit Morphium überzogene Landkarte, mit der es sich in der Welt zurechtzufinden versucht. Genau dies ist der Allgemeinzustand einer religionszugewandten Menschheit, und genau diesen Zustand heben diejenigen auf, die den Weg einer radikalen und transformierenden spirituellen Auffassung gehen. Bei einer echten Transformation geht es nicht um irgendeinen Glauben, sondern um den Tod des Glaubenden, nicht um eine Translation der Welt, sondern eine Transformation der Welt, nicht darum, Trost zu Finden, sondern darum, auf der anderen Seite des Todes Unendlichkeit zu finden. Das Selbst wird nicht getröstet; es wird geröstet. Aber wiewohl ich nun offensichtlich die Transformation gepriesen und die Translation verworfen habe, ändert dies nichts an der Tatsache, dass in der Gesamtschau beide Funktionen unglaublich wichtig und völlig unverzichtbar sind. Der Mensch kommt in aller Regel nicht erleuchtet auf die Welt. Er wird vielmehr in eine Welt von Sünde und Leid, Furcht und Hoffnung, Verlangen und Verzweiflung hineingeboren. Er wird als ein Selbst geboren, das sich zusammenziehen möchte, ein Selbst, in dem Hunger, Durst, Tränen und Schrecken hausen. Er beginnt schon sehr früh, sich verschiedene Möglichkeiten der Translation seiner Welt anzueignen, sich einen Reim auf sie zu machen, ihr einen Sinn zu geben und sich gegen die Schrecken und Qualen zu wappnen, die ständig dicht unter der glatten Oberfläche des Selbst lauern. Aber wie sehr wir alle uns vielleicht wünschen, die bloße Translation zu transzendieren und zu einer echten Transformation zu gelangen, so ist und bleibt doch Translation ein unabdingbares und entscheidendes Element des größeren Teils unseres Lebens. Wem es nicht gelingt, in angemessener Weise und einem hohen Maß an Integrität und Genauigkeit zu transferieren, der gerät rasch in eine schwere Neurose oder sogar Psychose: Die Welt verliert einfach ihren Sinn – die Grenzen zwischen dem Selbst und der Welt werden
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nicht transzendiert, sondern beginnen sich vielmehr aufzulösen. Dies ist kein Durchbruch, sondern ein Zusammenbruch, keine Transzendenz, sondern ein Desaster. Aber irgendwann im Laufe unseres Reifungsprozesses bietet diese Translation, wie richtig und notwendig sie auch sein mag, plötzlich keinen Trost mehr. Keine neuen Überzeugungen, kein neues Paradigma, keine neuen Mythen und keine neuen Ideen vermögen die sich ausbreitende Angst mehr aufzuhalten. Der einzige noch verbleibende Weg ist nicht ein erneuerter Glaube an das Selbst, sondern die Transzendierung ebendieses Selbst. Die Zahl der Menschen, die diesen Weg zu gehen in der Lage sind, ist und war immer verschwindend klein und wird dies wohl auch bleiben. Bei den meisten Menschen wird der Glaube in jeglicher Form vor allem die Funktion der Tröstung haben: Er wird in einer neuen horizontalen Verschiebung bestehen, die inmitten einer monströsen Welt irgendeine Form von Sinn bereitstellt. Diese erstere Funktion hat der größte Teil der Religion immer erfüllt, und zwar mit gutem Erfolg. Ich benutze daher zur Beschreibung dieser ersten Funktion auch den Begriff Legitimierung (die horizontale Translation und Sinnstiftung für das getrennte Selbst). Es ist eine der bedeutendsten Aufgaben der Religion, eine Legitimierung für das Selbst bereitzustellen, eine Legitimierung für dessen Überzeugungen, Paradigmen, Weltsichten und seine Haltung in der Welt. Wie flüchtig, relativ, nichttransformativ und trügerisch diese Funktion der Religion für das Selbst und seine Überzeugungen auch gewesen sein mag – dies war doch immer die wichtigste und bedeutendste Funktion der großen religiösen Traditionen der Welt. Die Fähigkeit einer Religion, für das Selbst und seine Überzeugungen horizontalen Sinn, Legitimierung und Sanktionierung zu liefern, war historisch der bedeutsamste "soziale Kitt" einer jeden Kultur. An diesem grundlegenden Kitt, der Gesellschaften zusammenhält, sollte man sich nicht unbedacht zu schaffen machen. Sehr oft führt nämlich die Auflösung dieses Kitts, dieser Translation, wie wir gesagt haben, nicht zum Durchbruch, sondern zum Zusammenbruch, nicht zu einer Befreiung, sondern zum gesellschaftlichen Chaos (auf diesen entscheidenden Punkt werden wir gleich noch zurückkommen). Wie translative Religion Legitimierung bietet, so bietet transformierende Religion Authentizität. Die wenigen Menschen, die so weit sind – d.h., die das Leiden des getrennten Selbst leid sind und einer legitimierten Weltsicht nichts mehr abzugewinnen vermögen –, vernehmen den Ruf einer transformierenden Öffnung zu wahrer Authentizität, wahrer Erleuchtung, wahrer Befreiung immer eindringlicher. Je nach der individuellen Leidensfähigkeit wird man früher oder später dem Ruf der Authentizität, der Transformation, der Befreiung am verlorenen Horizont der Unendlichkeit folgen. Transformative Spiritualität versucht nicht, irgendeine aktuelle Weltsicht zu rechtfertigen oder zu legitimieren, sondern strebt nach wahrer Authentizität, indem sie eben das zertrümmert, was die Welt für legitimiert hält. Das legitimierte Bewusstsein wird vom Konsens sanktioniert, vom Herdentrieb privilegiert, von Kultur und Gegenkultur gleichermaßen akzeptiert und vom getrennten Selbst als die einzige Möglichkeit propagiert, in dieser Welt einen Sinn zu finden. Authentisches Bewusstsein aber schüttelt diese Bürde bald ab und macht sich stattdessen eine Sichtweise zu Eigen, die nur die leuchtende Unendlichkeit im Herzen aller Seelen sieht und nur den Äther einer Ewigkeit in ihre Lungen einsaugt, die so einfach ist, dass man es nicht glauben kann. Deshalb ist transformierende und authentische Spiritualität revolutionär. Sie legitimiert die Welt nicht, sondern zertrümmert sie; sie tröstet die Welt nicht, sondern röstet sie. Sie macht das Selbst nicht zufrieden, sondern sie macht es zunichte. Aus diesen Tatsachen ergeben sich mehrere Schlussfolgerungen.
Wer verlangt eigentlich nach einer Transformation? Die Auffassung ist weit verbreitet, dass der Osten transformierende und authentische Spiritualität im Überfluss besäße, während der Westen – historisch und mit dem heutigen "New Age" – wenig mehr als verschiedene Formen einer horizontalen, translativen, bloß legitimierenden und daher lauwarmen Spiritualität zu bieten habe. Hieran ist etwas Wahres, aber die Wirklichkeit sieht – für den Osten wie für den Westen – noch sehr viel düsterer aus. Erstens: Wiewohl man grundsätzlich sagen kann, dass der Osten mehr Menschen hervorgebracht hat, die eine echte Geistesschau erreicht haben, ist und war doch der tatsächliche Bevölkerungsanteil des Ostens, der sich einer echten transformierenden Spiritualität widmet, erbärmlich gering. Ich habe einmal Katagiri Roshi gefragt, bei dem ich meinen ersten Durchbruch hatte (hoffentlich keinen Zusammenbruch), wie viele wirklich große Chan- und Zen-Meister es in der Geschichte gab. Ohne Zögern gab er zur Antwort: "Vielleicht insgesamt 1000." Ich habe einen anderen Zen-Meister gefragt, wie viele wirklich tief erleuchtete japanische Zen-Meister heute lebten, und er sagte: "Höchstens ein Dutzend." Nehmen wir der Einfachheit halber einmal an, dass dies in etwa zutreffende Antworten sind, und rechnen wir. Selbst wenn man sagt, dass es in der ganzen Geschichte nur eine Milliarde Chinesen gab (eine viel zu niedrige Annahme), dann bedeutet dies trotzdem, dass nur eintausend von einer Milliarde Chinesen eine echte transformierende Spiritualität erreicht haben, und das sind (für diejenigen Leser, die keinen Taschenrechner haben) 0,0000001% der Gesamtbevölkerung. (Selbst wenn man eine Million statt eintausend annimmt, sind dies immer noch nicht mehr als 0,001% der Bevölkerung – ein kümmerlicher Tropfen auf einem heißen Stein.) Dies bedeutet wiederum, und daran ist nicht zu rütteln, dass der Rest der Bevölkerung im besten Fall verschiedenen Formen einer horizontalen, translativen und bloß legitimierenden Religion anhing und anhängt. Sie pflegten Zauberpraktiken, mythische Überzeugungen, egoistisches Bittgebet, magische Rituale usw., mit anderen Worten, translative Versuche, dem getrennten Selbst einen Sinn zu geben, eine translative Funktion, die, wie wir sagten, den wichtigsten sozialen Kitt der chinesischen Kultur (und aller anderen) Kulturen bildete und bis heute bildet. Ohne also die wahrhaft großartige Leistung der ruhmreichen östlichen Traditionen in irgendeiner Weise schmalem zu wollen, kommt man doch um eine schlichte Erkenntnis nicht herum: Radikal transformierende Spiritualität ist überall in der Geschichte und überall in der Welt extrem selten. (Die Zahlen für den Westen sind noch deprimierender.) Man kann also mit Recht beklagen, dass heute nur sehr wenige Menschen im Westen auf dem Weg einer echten und wirklich transformierenden Spiritualität sind; ein Fehler wäre es jedoch zu behaupten, dass dies in früheren Zeiten oder in anderen Kulturen wesentlich anders gewesen wäre. Gelegentlich war es etwas besser als jetzt hier im Westen, aber dies ändert nichts Grundsätzliches an der Tatsache, dass echte Spiritualität immer und überall außerordentlich selten war. Gehen wir also von der unbestreitbaren Tatsache aus, dass vertikale, transformierende, echte Spiritualität zu den kostbarsten Juwelen in der ganzen Menschheitsgeschichte zählt, einfach deshalb, weil sie wie alle kostbaren Juwelen außerordentlich selten ist. Wenn nun, zweitens, Sie und ich vielleicht zutiefst, davon überzeugt sind, dass unsere wichtigste Aufgabe nur darin bestehen kann, der Welt authentische transformierende Spiritualität anzubieten, dann müssen wir uns vordringlich darum kümmern, der Welt zunächst
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unschädlichere und hilfreichere Formen der Translation anzubieten. Mit anderen Worten, selbst wenn wir selbst authentische transformierende Spiritualität praktizieren, bleibt es trotzdem unsere erste Pflicht, möglichst vielen Menschen angemessene Hilfsmittel an die Hand zu geben, damit sie ihren Zustand transferieren können. Man muss mit hilfreichen Translationen beginnen, bevor man wirksame authentische Transformationen anbieten kann. Der Grund hierfür ist einfach der, dass eine übereilte oder abrupte Beendigung der Translation bei einem Menschen oder einer Kultur nicht zu einem Durchbruch, sondern zu einem Zusammenbruch führt. Lassen Sie mich hierfür zwei kurze Beispiele geben. Als Chögyam Trungpa Rinpoche, ein großer, wenn auch nicht unumstrittener tibetischer Meister, nach Amerika kam, war er dafür bekannt, dass er die Bedeutung von "Vajrayana" immer so erklärte: "Es gibt nur Ati." Mit anderen Worten, es gibt nur den Erleuchtungsgeist, wohin man auch blickt. Ich, Samsara, Maya und Täuschung – von all dem braucht man sich nicht zu befreien, weil es all diese Dinge nicht wirklich gibt: Es gibt nur Ati, es gibt nur Geist, es gibt nur Gott, es gibt nur nichtduales Bewusstsein. Praktisch niemand verstand dies. Niemand war für diese radikale und authentische Erkenntnis der "Immer-schon"-Wahrheit vorbereitet, weshalb Trungpa schließlich eine ganze Reihe "geringerer" Praktiken einführte, die zu dieser radikalen und endgültigen "keine Praxis" hinführten. Er führte die neun Yanas als Grundlage der Übung ein, mit anderen Worten, neun Stufen oder Ebenen der Übung, deren Höhepunkt das "Keine Praxis" des "Immer-Schon" – Ati war. Viele dieser Praktiken waren schlicht translativ, und manche waren, wie man sagen könnte, "niedrigere transformative Praktiken", Transformationen im Kleinformat, die den Körpergeist für die radikale Erleuchtung empfänglicher machten. Diese translativen und niedrigeren Praktiken mündeten in die "vollkommene Praxis" der Nicht-Praxis, d.h. die radikale, spontane, authentische Erkenntnis, dass von Anfang an nur Ati ist. Während also die höchste Transformation von Anfang an das Ziel und der allgegenwärtige Urgrund war, musste Trungpa translative und niedrigere Praktiken einführen, um die Menschen auf die Offensichtlichkeit des Seienden vorzubereiten. Dasselbe gilt auch für Adi Da, einen weiteren einflussreichen (und ebenso umstrittenen) Adepten (der jedoch Amerikaner ist). Er lehrte ursprünglich nur den "Pfad des Verstehens": keinen Weg zur Erleuchtung, sondern eine Auseinandersetzung mit der Frage, warum man überhaupt Erleuchtung erlangen will. Der Wunsch nach spiritueller Erleuchtung ist letztlich nichts als Ausdruck der besitzergreifenden Tendenz des Ichs selbst, weshalb das Streben nach Erleuchtung diese gerade verhindert. Die "vollkommene Praxis" besteht also darin, nicht nach Erleuchtung zu streben, sondern das Motiv für die Suche selbst zu hinterfragen. Offensichtlich sucht man ja nur, um der Gegenwart zu entgehen, aber nur in der Gegenwart allein ist die Antwort zu finden: Ewig zu suchen heißt ewig in die Irre zu gehen. Man ist immer schon erleuchteter Geist, und den Geist zu suchen heißt schlicht, den Geist zu leugnen. Man kann den Geist ebenso wenig erlangen, wie man seine Füße oder seine Lungen erlangen kann. Niemand verstand das. Weshalb Adi Da genau wie Trungpa eine Reihe translativer und niedrigerer transformativer Praktiken einführte, sieben Übungsstufen, auf denen man so weit gelangen konnte, dass man das Suchen aufgeben und sich für die immer schon vorhandene Wahrheit seiner eigenen ewigen zeitlosen Verfassung öffnen konnte, die von Anfang an vollständig vorhanden war, aber durch das hektische Suchen völlig aus dem Blick geraten war. Was immer man von diesen beiden Meistern halten mag, so bleibt doch die Tatsache, dass diese in Amerika wohl die ersten beiden großen Experimente bezüglich der Frage durchführten, wie man es den Menschen nahe bringen könnte, dass es nur den Geist gibt, weshalb die Suche nach dem Geist genau diese Erkenntnis verhindert. Und beide kamen zu der Erkenntnis, dass man, wie wach man auch immer für den Geist, für die radikale transformierende Wahrheit dieses Augenblicks sein mag, trotzdem praktisch immer auf translative und niedrigere transformierende Praktiken angewiesen ist, um zu dieser endgültigen und höchsten Transformation gelangen zu können. Der zweite wichtige Punkt ist also für mich, dass man nicht nur eine echte und radikale Transformation anbieten muss, sondern auch für die vielen hilfreichen Modi geringerer und translativer Praktiken sensibel sein und diese pflegen muss. Eine solche großzügigere Einstellung erfordert also eine "integrale Haltung" hinsichtlich der Gesamttransformation, eine Haltung, die auch niedrigere und translative Praktiken akzeptiert und einbezieht und so die physischen, emotionellen, geistigen, kulturellen und sozialen Aspekte des Menschen als Vorbereitung auf die höchste Transformation gelten lassen kann. Man kann also mit Recht die bloß translative Religion und alle niedrigeren Formen von Transformation kritisieren, aber man muss auch zur Kenntnis nehmen, dass ein integraler Ansatz hinsichtlich der Spiritualität das Beste aus einer horizontalen und vertikalen, einer translativen und transformativen, einer legitimierenden und einer authentischen Haltung miteinander verbinden muss. Konzentrieren wir also unsere Anstrengungen auf eine ausgewogene und nüchterne Betrachtungsweise der menschlichen Situation.
Weisheit und Mitgefühl Aber vertrete ich hier nicht eine furchtbar elitäre Haltung? Ah, das hoffe ich doch sehr. Wenn Sie zu einem Basketballspiel gehen, möchten Sie dann mich oder Michael Jordan spielen sehen? Wenn Sie zu einem Popkonzert gehen, wen möchten Sie dann hören, mich oder Bruce Springsteen? Wenn Sie große Literatur lesen wollen, ziehen Sie dann für den Abend ein Buch von mir aus dem Bücherschrank oder eines von Tolstoi? Wenn Sie 130 Millionen für ein Gemälde auszugeben bereit sind, möchten Sie dann eines von mir oder eines von van Gogh? Alles Hervorragende ist elitär. Und das gilt eben auch für hervorragende Spiritualität. Aber hervorragende Spiritualität ist eine elitäre Fähigkeit, zu der wir alle eingeladen sind. Natürlich richtet sich der Blick zuerst auf die großen Meister, auf Padmasambhava, die hl. Theresia von Avila, Gautama Buddha, Lady Tsogyal, Emerson, Meister Eckhart, Maimonides, Shankara, Sri Ramana Maharshi, Bodhidharma und Garab Dorje. Aber ihre Botschaft ist immer dieselbe: Lasse dieses Bewusstsein, das in mir vorhanden, ist, auch in dir reifen. Es beginnt immer elitär und endet immer egalitär. Dazwischen aber liegt die vom heiligen Zorn befeuerte Weisheit, die aus dem Herzen kommt: Wir alle müssen das Ziel der radikalen Transformation fest im Auge behalten. Deshalb gehört zu jeglicher integralen oder echten Spiritualität immer auch eine kritische, heftige und manchmal auch polemische Herausforderung aus dem transformativen Lager an die Adresse des bloß translativen Lagers. Wenn man einmal die Prozentzahlen des chinesischen Chan als einfaches Vergleichsbeispiel heranzieht, dann bedeutet dies, dass 0,0000001% der Bevölkerung tatsächlich eine echte Spiritualität erreicht haben und folglich 0,99999999% der Bevölkerung nicht transformierenden, nicht authentischen, bloß translativen oder horizontalen Glaubenssystemen anhängen. Und jawohl, dies bedeutet, dass die übergroße Mehrheit der "spirituellen Sucher" in Amerika (und anderswo) sich mit Dingen aufhält, die noch sehr weit von echter Authentizität entfernt sind. Dies war immer so, und es ist auch heute noch so. Amerika ist hier keine Ausnahme. Allerdings ist die Situation in Amerika heute insofern beunruhigend, als diese große Mehrheit der Anhänger einer horizontalen Spiritualität oft von sich behauptet, an der Spitze der spirituellen Transformation, des "neuen Paradigmas" zu stehen, das die Welt
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verändern soll, der "großen Transformation", deren Vorhut sie sind. Aber leider sind sie nur allzu oft keineswegs in einem tieferen Sinne transformativ, sondern bloß aggressiv translativ: Sie bieten keine wirksamen Mittel an, um das Selbst zu zertrümmern, sondern bloß Möglichkeiten, wie das Selbst anders denken kann. Keine Wege zur Transformation, sondern bloß Wege zur Translation. Was die meisten von ihnen propagieren, ist kein Übungsweg, kein Sadhana oder Sazang oder Shikantaza oder Yoga. Was sie anzubieten haben, ist meist bloß der Vorschlag: Lies mein Buch über das neue Paradigma. Dies ist zutiefst wirr und verwirrend. In den wirklich spirituellen Lagern weht also der Geist der großen transformierenden Traditionen, aber sie werden trotzdem immer zwei Dinge zugleich tun: einerseits die niedrigeren translativen Praktiken akzeptieren (von denen üblicherweise auch ihr eigener Erfolg abhängt) und andererseits mit donnernder Stimme verkünden, dass Translation allein nicht genügt. Deshalb müssen sich, wie ich glaube, all diejenigen, deren Seelen durch eine echte Transformation zutiefst aufgerüttelt wurden, der tiefen moralischen Verpflichtung stellen, der Stimme ihres Herzens klar und deutlich Ausdruck zu verleihen – vielleicht still und sanft, mit Tränen des Widerstrebens, vielleicht mit heftigem Feuer und dem heiligen Zorn der Weisheit, vielleicht durch langsame und sorgfältige Analyse, vielleicht durch ein unbeirrbares, öffentliches Beispiel. Jedenfalls beinhaltet Authentizität immer eine unabweisbare Forderung und Verpflichtung: Man muss sich nach besten Kräften äußern, am Baum der Spiritualität rütteln und sein starkes Licht in die Augen der Selbstgefälligen lenken. Man muss diese radikale Erkenntnis in seinen eigenen Adern vibrieren lassen und die Menschen in seiner Umgebung erschüttern. Wenn man dies nicht tut, begeht man Verrat an seiner eigenen Authentizität. Man verleugnet seinen wahren Stand. Man möchte andere nicht in Unruhe stürzen, weil man sein Selbst nicht in Unruhe stürzen will. Man handelt in schlechtem Glauben, und dies hat den Beigeschmack einer hegelischen "schlechten Unendlichkeit". Das Beunruhigende dabei ist ja, dass jede Erkenntnis der Tiefe mit einer schweren Bürde befrachtet ist: Wer in den Genuss der Erkenntnis kommt, ist zugleich mit der Pflicht beladen, diese Schau unmissverständlich mitzuteilen: Dies ist der Pakt. Der Blick auf die Wahrheit wurde unter der Bedingung gewährt, dass man diese anderen mitteilt. Dies ist die tiefste Bedeutung des BodhisattvaGelübdes. Wer gesehen hat, muss darüber reden: mit Leidenschaft, mit dem heiligen Zorn der Weisheit, geschickt taktierend – wie auch immer. Und dies ist wahrhaftig eine furchtbare Last, denn hier ist kein Platz für Ängstlichkeit. Die Möglichkeit, dass man sich irren könnte, gilt einfach nicht als Entschuldigung. Vielleicht verkündet man etwas Richtiges, vielleicht etwas Falsches – es kommt nicht darauf an. Worauf es ankommt, ist, wie Kierkegaard uns so unerbittlich klarmachte, dass die Wahrheit nur dann, wenn man seine Vision mit Leidenschaft vorträgt, letztlich das Sträuben der Welt überwinden kann. Nur die eigene Leidenschaft kann Klarheit darüber schaffen, ob man Recht oder Unrecht hat. Man hat die Pflicht, die Wahrheit zum Vorschein zu bringen, und deshalb hat man auch die Pflicht, die Wahrheit, von der man selbst überzeugt ist, mit aller Leidenschaft und allem Mut auszusprechen, den man in seinem Herzen finden kann. Man muss schreien, so gut man das immer vermag. Die vulgäre Welt schreit ja auch und veranstaltet einen solchen Tumult, dass wahrere Stimmen kaum mehr zu vernehmen sind. Die materialistische Welt ist voll von Verheißungen und Verlockungen, von Kommerz und Konsumterror, von Schleppern und Neppern. Ich möchte durchaus nicht gehässig sein, und wir müssen gewiss auch alle geringeren Bestrebungen würdigen, aber es kann niemandem verborgen geblieben sein, dass das Wort "Seele" heute in den Buchtiteln Hochkonjunktur hat – aber meistens ist "Seele" in diesen Büchern nichts als das verkleidete Ego. "Seele" bedeutet in diesem Irrsinn translativer Weltdeutung nicht dasjenige, was im Menschen zeitlos ist, sondern bloß dasjenige, was im Zeitlichen den größten Lärm veranstaltet, weshalb "Hinwendung zur Seele" unbegreiflicherweise nichts weiter beinhaltet als die intensive Beschäftigung mit dem eigenen getrennten Selbst. Ebenso ist der Begriff "spirituell" in aller Munde, aber in Wirklichkeit ist damit nichts weiter gemeint als ein beliebiges egoistisches Gefühl, wie auch "Herz" jede beliebige aufrichtige Empfindung der Selbstzusammenziehung bezeichnet. All dies ist natürlich nur das immer gleiche translative Spielchen, das für das Publikum aufpoliert wurde. Und dies wäre ja durchaus in Ordnung, wenn man nur nicht all dieses translative Blendwerk in aggressiver Weise "Transformation" nennen würde, während es sich in Wirklichkeit um nichts weiter als immer neue Variationen unterhaltsamer Translationen handelt. Mit anderen Worten, es steckt hinter all den Versuchen, irgendwelche neuen Translationen als die große Transformation zu verkaufen, eine tiefe Heuchelei. Und die ganze Welt, Ost oder West, Nord oder Süd, ist und war zum größten Teil vollkommen taub für dieses Elend. Glaubt also noch jemand, der echte Erkenntnisse hatte, dieser schwerhörigen Welt leise ins Ohr flüstern zu müssen? Nein, Leute, ihr müsst schreien. Schreit heraus, was ihr gesehen habt, schreit, so laut ihr könnt. Aber damit ist nicht gemeint, dass man nur drauflosschreien sollte. Lassen wir kleine Zellen radikal transformierender, authentischer Spiritualität ihre Anstrengungen bündeln und an ihren Schülern das Werk der Verwandlung verrichten. Dann werden diese Zellen langsam, verantwortungsvoll, bescheiden ihren Einfluss immer mehr geltend machen. Man muss dabei absolute Toleranz für alle Auffassungen wahren, aber trotzdem versuchen, eine echte, authentische, integrale Spiritualität zu vertreten, zum Beispiel durch persönliche Ausstrahlung, die Offensichtlichkeit der Befreiung, die Unverkennbarkeit der Erlösung. Diese Zellen der Transformation müssen die Welt und die in ihr wohnenden zögernden Selbste sanft überreden, ihre Legitimation in Frage zu stellen. Sie müssen ihre beschränkenden Translationen kritisieren und ein Erwachen im Angesicht der Betäubung anbieten, die auf der Welt lastet. Lassen wir dies jetzt in diesem Augenblick bei uns und bei unserer Verpflichtung beginnen, die Unendlichkeit zu propagieren, bis die Unendlichkeit die einzige Behauptung ist, die die Welt gelten lässt. Lassen wir eine radikale Erkenntnis aus unseren Gesichtern leuchten, aus unseren Herzen strahlen und aus unseren Gehirnen sich verkünden – diese schlichte, diese offensichtliche Tatsache: dass du in der Unmittelbarkeit deines gegenwärtigen Gewahrens wirklich die ganze Welt bist, in ihrem Schüttelfrost und ihrem Fieber, in ihrem Glanz und ihrem Elend, in ihren Triumphen und ihren Tränen. Du siehst die Sonne nicht – du bist die Sonne; du hörst den Regen nicht – du bist der Regen; du fühlst die Erde nicht – du bist die Erde. In dieser schlichten, klaren, unmissverständlichen Einsicht hört die Translation in allen Bereichen auf, und du hast dich in das Herz des Kosmos selbst transformiert. Dort, genau dort ist ganz einfach, ganz still alles ungeschehen gemacht. Erstaunen und Reue werden dir fremd sein, Selbst und andere werden dir fremd sein, und außen und innen werden keinerlei Bedeutung mehr haben. In diesem offensichtlichen Schock der Erkenntnis, in der mein Meister mein Selbst ist, in der dieses Selbst der ganze weite Kosmos und der Kosmos meiner Seele ist, wirst du ganz ruhig in den Nebeldunst dieser Welt hineingehen und diese vollständig verwandeln, indem du einfach nichts tust. Dann und nur dann wirst du endlich in klaren Lettern und mitfühlend sorgfältig in den Grabstein eines Selbst einmeißeln, das niemals existierte: Es gibt nur Ati.
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Mittwoch, 12. Februar Ich habe mich schließlich für Kim Witherspoon als Agentin entschieden, die ein Schützling meines alten Bekannten John Brockman ist. Wir haben die sieben "Mainstream"-Verlage ausgewählt, auf die wir hoffen: Random House, Simon and Schuster, Doubleday, Bantam, Broadway, Riverhead/Putnam und HarperSanFrancisco. Kim hat das Buch heute an alle abgeschickt. Wir warten also ab.
Freitag, 14. Februar Es gibt gute Neuigkeiten: Alle sieben Verlage haben Kim innerhalb von 48 Stunden geantwortet. Sie sagt, dass das Buch "absolut heiß" sei, aber in der hektischen Verlagswelt muss man abwarten, was das tatsächlich zu bedeuten hat. "Folgendes: Ann Godoff, Cheflektorin bei Random House – unsere erste Wahl –, möchte sich das Vorkaufsrecht sichern." "Wie viel?" "Ich weiß nicht – ich schätze, so etwa 500000 Dollar." "Du lieber Himmel. Das Problem ist nur, dass ich den anderen Verlagen versprochen habe, dass sie ebenfalls ein Angebot abgeben dürfen. Ich hätte kein gutes Gefühl dabei, sie jetzt nicht mehr mitmachen zu lassen." "Sie wollen alle dabei sein, vor allem, weil alle Ihre vierzehn Bücher noch im Buchhandel sind. Es sieht ganz nach einer Versteigerung aus, bei der es ziemlich heiß hergehen könnte. Es wäre vielleicht nicht schlecht, wenn Sie nach New York kommen würden." "Hm, okay." "Bald." "Hm, okay." "So etwa nächste Woche." "Hm, okay."
Freitag, 21. Februar, Boulder – New York Am frühen Morgen im Flugzeug nach New York, auf dem Weg zum Mainstream. Ich fühle mich sehr gespalten: Natürlich möchte ich, dass das Buch ein Erfolg wird; ich hoffe, dass es ein Riesen-Bestseller wird – aber ich möchte einfach nichts damit zu tun haben. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich die richtige Kleidung eingepackt habe. Ich brauche etwas, das Zögern ausstrahlt. Ich werde abwechselnd in Tony Schwartz' Haus und in einem Hotel in der Innenstadt sein. Ich freue mich darauf, Tony und seine Familie zu sehen, seine Frau Deborah und seine beiden prächtigen Töchter Emily und Kate. Für die Auktion muss ich aber näher am Ball sein, und dafür ist ein Hotel im Zentrum von Manhattan am besten. "Schnallen Sie sich an, es wird eine unruhige Nacht."
Sonntag, 23. Februar – New York Tony und Deborah haben ein wunderschönes Haus in Riverdale, einem – das gibt es – feinen Teil der Bronx nördlich von Manhattan. Ich bin am Freitag angekommen und kann mich einige Tage vor der Auktion entspannen, die morgen beginnt. Am ersten Abend vergaßen sie mir zu zeigen, wo der Thermostat war, und weil in New York Winter ist, wäre ich fast erfroren und war fast die ganze Nacht damit beschäftigt, ihre beiden Hunde dazu zu bewegen, zu mir ins Bett zu kommen, um mich nach Eskimoart ein bisschen zu wärmen. "Los doch, komm her zu mir, lieber Hund, braver Hund." Aber die Biester waren so erzogen, dass sie niemals auf Betten sprangen, und ich erreichte nicht mehr, als dass einer von ihnen zur Hälfte hereinkam; er beharrte darauf, die Hinterbeine auf dem Boden zu lassen und sich damit streng genommen nichts zuschulden kommen zu lassen. Ich glaube, sie erziehen diese Hunde mit Ochsenziemern. Also, morgen geht es los.
Dienstag, 25. Februar – New York Tony ließ seine Beziehungen spielen und brachte mich im Four Seasons unter, dem einzigen Hotel der westlichen Hemisphäre, das von I. M. Pei gebaut wurde. Es ist ausgezeichnet. Gestern und heute den ganzen Tag Besprechungen. Alle Verleger willigten freundlicherweise ein, hier im Restaurant des Four Seasons mit mir zusammenzukommen. Für jeden waren zwei Stunden eingeplant, von 10.00 bis 18.00 Uhr. Ich saß zwei Tage am selben Tisch, trank Tomatensaft und versuchte, sie zu beeindrucken und sie mich. Ich hasse Tomatensaft. Kim und mir war rasch klar geworden, dass das Buch helle Aufregung ausgelöst hatte, und die hielt an. Alice Mayhew, die große alte Dame von Simon and Schuster, die Bücher herausgebracht hatte wie All the President's Men, das Buch über die Watergate-Affäre, sagte, dass sie das Buch unbedingt haben wolle. Phyllis Grann, Leiterin von Putnam und u. a. Verlegerin von Tom Clancy, sagte: "Dies ist das erste Nonfiction-Buch, das ich wirklich herausbringen möchte." Irgendwie beunruhigen mich diese Reaktionen. Was ist hier eigentlich los? Vermutlich sind hier größere Strömungen wirksam, die jetzt mein Buch erfassen. Als ich mich mit Ann Godoff zusammensetzte – es war das letzte Gespräch heute Nachmittag –, sagte sie als Erstes: "In meiner ganzen beruflichen Laufbahn habe ich noch nie eine solche Aufregung wegen eines Nonfiction-Buchs erlebt." Du lieber Himmel. Wir redeten etwa zwei Stunden miteinander. Was mir an Ann noch mehr als das freundliche Kompliment gefiel, war ihre Reaktion, als ich sagte, dass ich in keiner Weise an der Werbung für dieses Buch mitwirken wollte: "Kein Problem." Die anderen Verleger waren sichtlich erschrocken über mein mangelndes Interesse an der Marketing-Seite des Geschäfts.
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"Hören Sie, Ann, wir müssen wirklich abwarten, was die anderen Verleger tun. Aber versuchen Sie bitte, Random House im Spiel zu halten." "Dafür sorge ich schon."
Mittwoch, 26. Februar – New York Die Auktion begann heute Vormittag, und es zeichnete sich sehr schnell eine mittlere Katastrophe ab. Kim las mir am Telefon die einzelnen Gebote vor. Um 13.00 Uhr näherten sich die Gebote der 400000-Dollar-Grenze. Das höchste Gebot von Random House lag jedoch bei 200000 Dollar, womit sie definitiv aus dem Rennen waren. Ich war entsetzt. Was ging hier vor? Was wir nicht wussten, war, dass Harry Evans, der Verlagschef von Random House, sich an diesem Morgen, als die Auktion begann, das Buch angesehen und entschieden hatte, dass alles über 200000 Dollar für ein akademisches Buch zu viel sei (ich neige dazu, ihm Recht zu geben). Dies bedeutete also eine schwierige Entscheidung. Ich könnte zwar das Geld gut gebrauchen, aber ich finde – und Kim bestärkte mich nachdrücklich darin –, dass der einzige Verlag, der speziell dieses Buch so betreuen kann, wie ich mir das vorstelle, Random House ist. Mitten im Verfahren teilte ich Kim meine Entscheidung mit, und sie brach die Auktion sofort ab, was rundum einigermaßen schockiert aufgenommen wurde. Aber ich bin sehr froh, Random House zu haben, vor allem Ann. Ich frage mich, wer es ihr sagen wird.
Donnerstag, 27. Februar – New York Ich treffe mit Ann in ihrem Büro zusammen. Sie hat gerade James Hillmans The Soul's Code an die Spitze der Bestsellerliste der Times gebracht, eine große Leistung. Und ihr Midnight in the Garden of Good and Evil ist Bestseller des Jahrzehnts. Ich habe ihr gestern Abend noch Blumen geschickt. Sie stehen auf ihrem Schreibtisch. "Harry ist hier irgendwo in der Nähe. Sie sollten ihn kennen lernen." Und schon kommt Harry herein, klein, drahtig, hellwach und weitschweifig. Harry liegt gut im Rennen um Eisners Buch8, weshalb es lustig ist, dass ich jetzt gerade bei Tony wohne. Es könnten also jetzt unsere beiden Herausgeber in diesem Zimmer sein. "Ken Wilber, schön, Sie kennen zu lernen! Ann, wann ... wann ... wann haben wir zum letzten Mal einen solchen Wirbel um ein Nonfiction-Buch erlebt?" "Nie, Harry." "Stimmt, noch nie. Das freut uns außerordentlich." Wir plaudern ein wenig, und dann verschwindet Harry ebenso schnell wieder, wie er aufgetaucht ist. Ann und ich reden noch etwa zwei Stunden miteinander – ich mag sie wirklich sehr –, dann kehre ich ins Four Seasons zurück. Ihre Bemerkung über den Wirbel, den das Buch verursachte, tat mir richtig gut, aber wahrscheinlich sagt sie das zu allen. Es ist fast auf den Tag genau fünf Monate her, dass ich mit der Arbeit an Naturwissenschaft und Religion begann. Und jetzt scheint plötzlich alles vorbei zu sein.
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März Unser normales Wachbewusstsein ist nur eine spezielle Form von Bewusstsein. Es ist, nur durch einen hauchdünnen Film getrennt, ringsum von ganz andersartigen potenziellen Bewusstseinsformen umgeben. Man kann durch das Leben gehen, ohne etwas von ihrer Existenz zu ahnen, aber sobald ein entsprechender Reiz verspürt wird, sind sie auf die leiseste Berührung in ihrer Gänze gegenwärtig ... Es gibt ein kosmisches Bewusstseinskontinuum, gegenüber dem unsere Individualität bloß akzidentielle Schranken errichtet und in das unser individuelles Bewusstsein wie in ein Urmeer oder ein Reservoir eintaucht. Keine Darstellung der Welt in ihrer Gesamtheit kann endgültig sein, die diese anderen Bewusstseinsformen völlig unberücksichtigt lässt. William James
Montag, 3. März, New York – Boulder Wieder im Flugzeug zurück nach Boulder, zurück in ein Leben, das irgendwie weit von sich selbst entfernt zu sein scheint. Ist dies ein Thema, dessen Zeit nun wirklich gekommen ist? Die Integration von Naturwissenschaft und Religion? Oder habe ich bloß ein cleveres Buch geschrieben, das momentan ein paar Leute beeindruckt hat und so schnell wieder verschwinden wird, wie es gekommen ist? Das Erscheinungsdatum ist auf Anfang 1998 festgelegt; dann werden wir es ja bald sehen.
Dienstag, 4. März – Boulder Habe den ganzen Morgen gearbeitet, Essen besorgt, Rechnungen bezahlt, zwei Videos angesehen. Zuerst Atom Egoyans Family Viewing (Familienbilder), einer seiner ersten Filme und auf eine eigenwillige Art brillant. Alle Filme Egoyans sind faszinierend; sein Exotica ist ganz erstaunlich. Ich hoffe immer noch, dass er bald den Durchbruch schafft. Das zweite Video war Hal Hartleys Amateur, mein Lieblingsfilm von ihm (neben Simple Men und Unbelievable Truth [Verdacht auf Liebe]). Hartleys Filme sind auf eine so gerissene Art witzig. Es fallen ein paar Schneeflocken, die im milden Sonnenlicht tanzen. Ich fühle mich sanft in eine Art leuchtende kosmische Decke eingehüllt.
Mittwoch, 5. März Naturwissenschaft und Religion beginnt mit einer kurzen Zusammenfassung der Philosophia perennis, des gemeinsamen Kerns der großen Weisheitstraditionen der Welt. Diese behaupten in je unterschiedlicher Weise, dass es verschiedene Daseinsebenen oder dimensionen gibt, die von der Materie über den lebenden Körper, den symbolischen Geist und die feinstoffliche Seele zum kausalen und nichtdualen GEIST reichen. Materie, Körper und Geist können wir modernen Menschen ohne weiteres akzeptieren; aber Seele und GEIST? Wo gibt es einen Beweis dafür, dass es Seele und GEIST wirklich gibt? Die Antwort ist, wie es scheint, an eine unmittelbare spirituelle Erfahrung gebunden, die wiederholbar, reproduzierbar, beweisbar sein muss. Dies versucht jedenfalls Naturwissenschaft und Religion aufzuzeigen. [Siehe Abbildung 1. Dies ist die sogenannte Große Kette des Seins, auch wenn diese Bezeichnung etwas irreführend ist. Jede höhere Ebene transzendiert und schließt die niedrigeren ein, d.h., es handelt sich eher um eine große Verschachtelung des Seins. Aus diesem Grund spricht man genauer nicht von einer Hierarchie, sondern von einer Holarchie, einer Aufeinanderfolge ineinander eingefügter Kugelschalen.] Die interkulturellen Befunde sind schlagend: Das menschliche Bewusstsein und die Identität des Menschen kann sich über das ganze Spektrum des Bewusstseins, vom Stoff über den Körper, den Geist und die Seele bis zum GEIST erstrecken. Weiterhin gibt es offensichtlich eine Entwicklung oder Evolution des Bewusstseins innerhalb dieses außerordentlichen Kontinuums. Auf jeder Ebene ändert sich dasjenige, was man als sein "Ich" bezeichnet, in dramatischer Weise. Wenn sich das Bewusstsein mit dem Vitalkörper identifiziert, hat man das Körper-Ich oder Körperselbst; man ist mit seinen Impulsen, seinen Gefühlen, seinen unmittelbaren physischen Empfindungen identifiziert. Wenn sich das Bewusstsein mit dem Geist identifiziert, hat man das Ich: die begriffliche, mentale, narrative Selbstempfindung, die mit der Übernahme von Rollen und der Einhaltung von Regeln verbunden ist. Wenn sich das Bewusstsein mit der feinstofflichen Ebene identifiziert, hat man die Seele: eine überindividuelle Selbstempfindung in einer Atmosphäre, die schon über das Konventionelle und Irdische hinausreicht. Und wenn sich das Bewusstsein noch weiter entwickelt und sich mit der nichtdualen Wirklichkeit identifiziert, hat man den GEIST selbst, das Ziel und den Urgrund der ganzen Verschachtelung des Seins.
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Abbildung 1 Die große Verschachtelung des Seins. Der GEIST ist sowohl die höchste Ebene (kausal) als auch der nichtduale Urgrund aller Ebenen. Der Beweis für dieses große Spektrum ist an jedem Punkt auf die unmittelbare Erfahrung gegründet, die von allen bestätigt oder widerlegt werden kann, die in ihrem Bewusstsein die inneren Experimente in angemessener Weise durchführen. Diese Experimente, die man gewöhnlich als Meditation oder Kontemplation bezeichnet, kann man nicht als "bloß subjektive" oder "innere" Wahrnehmungen abtun, denn schließlich ist auch die Mathematik "bloß subjektiv" und "innerlich", ohne dass wir sie deshalb als unwirklich, illusorisch oder bedeutungslos verwerfen würden. Die kontemplativen Wissenschaften haben eine außerordentliche Fülle phänomenologischer Daten, d.h. unmittelbarer Erfahrungen über die subtile und kausale Ebene (Seele und Geist) gesammelt. Und wenn man wissen will, ob diese Daten wirklich sind, braucht man lediglich das Experiment – in diesem Fall die Kontemplation – durchzuführen und sich selbst ein Urteil zu bilden. Die Mehrzahl derjenigen, die dies in angemessener Weise getan haben, kommt zu einer einfachen Schlussfolgerung: Man begegnet unmittelbar seinem wahren Selbst, seiner wirklichen Verfassung, seinem ursprünglichen Antlitz, und dieses ist nichts anderes als der GEIST selbst.
Donnerstag, 6. März Habe den ganzen Vormittag gelesen (neue Geschichtsschreibung, kulturelle Studien, kritische Rechtsuntersuchungen, neues Paradigma), das meiste sehr enttäuschend und dazu noch schlecht geschrieben. Ich erwarte ja wirklich nicht, dass die theoretischen Schriftsteller Sätze wie William James drechseln können. Als man Whitehead einmal fragte: "Warum schreiben Sie nicht klarer?", gab er zur Antwort: "Weil ich nicht klarer denke." In Ordnung. Aber man hat einfach das Gefühl, dass die meisten es nicht einmal versuchen ...
Freitag, 7. März Ein Postsack von Shambhala mit den Briefen des letzten Monats. Etwa ein Viertel der Briefe, die ich bekomme, beziehen sich immer noch auf Mut und Gnade; bisher habe ich über 800 Briefe erhalten. Ich versuche, möglichst viele von ihnen zu beantworten, weil sie immer so tief bewegend sind.9 Als ich Mut und Gnade schrieb, nahm ich an, dass vielleicht ein Jahr lang eine Flut von Briefen käme, die dann nachlassen würde. Aber die Briefe kommen nach wie vor, jeden Monat Dutzende, deren Inhalt mir sehr nahe geht. Ich bin inzwischen zu der Einsicht gekommen, dass dies wohl bis auf weiteres zu meinem Leben gehören wird. Ich akzeptiere das und gehe daher einmal im Monat die Briefe durch.
Lieber Ken, Ich heiße ... und habe gerade Mut und Gnade fertig gelesen. Bei mir wurde im Februar Brustkrebs diagnostiziert, und eine Freundin aus Zürich schickte mir und meinem Mann Ihr Buch. Ich dachte zuerst, dass es mich zu sehr deprimieren würde, aber schließlich wurde ich neugierig und begann doch zu lesen. Manchmal war es zu traurig für mich, sodass ich es weglegte. Dann aber las ich doch weiter, und irgendwann hatte ich keine Scheu mehr, es zu lesen. Im Gegenteil: Ich hatte das Gefühl, dass es mir half. Ich schätzte Ihre Aufrichtigkeit, mit der Sie über Ihre Rolle als betreuende Person schrieben, und ich fand es schön, Treya kennen zu lernen. Sie war ein bemerkenswertes und wunderbares Vorbild. Ich glaube, dass mich dieses Buch mehr über Liebe, Mitgefühl und Verzeihen gelehrt hat als alles, was ich bisher gelesen habe. Sie haben mir geholfen, wieder zu weinen und Verbindung mit mir selbst zu finden. Ich danke Ihnen. In Liebe .....
Sehr geehrter Herr Wilber,
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ich möchte Ihnen für Ihr Buch Mut und Gnade danken. Ich kaufte es zu Weihnachten 1994, nachdem meine Frau im September an einem furchtbaren Non-Hodgkin-Lymphom gestorben war. Über ein Jahr lang bekam sie in der Klinik eine Chemotherapie. Meine Frau stammte aus Laos und lebte dreißig Jahre in Thailand. Sechs Jahre war ich mit ihr glücklich verheiratet. Sie war Buddhistin. Ich gab meine Arbeit auf und blieb bei ihr in der Klinik. Tag und Nacht war ich an ihrer Seite. Damals kannte ich Ihr Buch noch nicht. Aber heute finde ich viel Wahres in dem, was Sie sagen. Meine Frau starb im Krankenhaus, weil sie ihr Bett nicht mehr verlassen konnte. Ich war darüber sehr traurig, aber wir mussten bleiben. Es wäre schön gewesen, wenn ich sie noch mit nach Hause hätte nehmen können. Aber es war nicht möglich. Als sie am Nachmittag starb, erhob sich ein schwerer Sturm mit heftigem Regen. Ich sah, wie sich eine große graue Wolke aus ihrem Körper erhob und durch das offene Fenster entschwand. Nach zwanzig Minuten war der Sturm vorüber. Eine Woche später brachte ich ihren Leichnam nach Thailand zurück. Ich ließ sie nicht in Deutschland einäschern. Eine innere Stimme sagte mir: Bringe sie nach Hause, und das tat ich auch. In den letzten Wochen habe ich Ihr Buch sechs- oder siebenmal gelesen. Jedes Mal finde ich etwas mehr für meinen Geist. Ich hoffe, dass viele Menschen Ihre Bücher lesen und versuchen werden, etwas in ihrem Leben zu ändern. Sie haben ein großartiges Buch geschrieben. Es wird eines der wichtigen Bücher in meinem Leben sein. Ich kann es wieder und wieder lesen. Und hierfür danke ich Ihnen sehr. Viele Grüße ..... Diese Geschichten sind so bewegend – sie zerreißen einem das Herz; dieser liebe Mensch, der seine Frau nach Thailand zurückbrachte. Nachfolgend ein die Gefühle weniger belastender Brief eines jungen Mannes:
Lieber Ken, ich habe soeben Mut und Gnade fertig gelesen. Irgendwie glaube ich, Treya zu kennen, oder vielleicht sollte ich sagen, sie zu spüren. Ich möchte Ihnen mitteilen, was geschah, als ich das Buch zu Ende las. Beim Lesen der letzten beiden Kapitel fühlte ich die Tränen aufsteigen. Ich weiß nicht, warum ich mit dem Weinen bis zum Ende wartete, aber es war so. Als ich dann die letzte Seite gelesen hatte, brachen die Tränen aus mir heraus, mein ganzer Körper wurde von einem unkontrollierten Schütteln erfasst. Ich dachte mir: "Was ist hier los?", und ich stand auf und ging im Haus umher, wie wenn ich es durch die Bewegung verstehen könnte. Ich erkannte plötzlich, wie kostbar das Leben ist, und hatte den intensiven Wunsch, nach oben zu rennen, meine schlafenden Eltern zu wecken und ihnen zu sagen, wie sehr ich sie liebe. Irgendetwas hielt mich zurück, vielleicht mein Ego, vielleicht die späte Stunde, ich weiß es nicht, aber was ich weiß, ist, dass ich sie nicht mehr in derselben Weise ansehen werde. Dann setzte ich mich und blieb einige Minuten ruhig sitzen. Keine Tränen, einfach Stille. Und eine Empfindung des Friedens. Ich danke Ihnen, Ken und Treya, für dieses besondere Geschenk. Die Botschaft des Buches und meine Botschaft ist Leben und Liebe. Frieden, .....
Lieber Ken, vergangenen August wurde bei mir Brustkrebs festgestellt. Es wurde eine Segmentresektion, eine Lymphknotenresektion und eine dreiwöchige Behandlung durchgeführt. Krebs auf allen Ebenen ist mein ständiger Begleiter. Vor einigen Wochen erzählte mir eine Freundin von Ihrem Buch, und es war mir klar, dass ich es lesen musste, auch wenn ich wusste, wie es ausging. Aber ich sagte mir: "Sie hatte eine andere, schwerere Form von Krebs." Was für eine Verleugnung! Tatsache ist, dass ich genau denselben furchtbaren Krebs habe wie Treya. Die Wahrheit ist, dass dieses Buch manchmal schockierend, aber außerordentlich befreiend war. Als ich Treyas Aufzeichnungen und Ihre Gedanken las, hörte ich meine eigene Stimme und diejenige der Menschen, von denen ich weiß, dass auch sie mich lieben. Derselbe Selbstmissbrauch, dieselbe Haltung des "Ich schaffe es schon, danke". Meine Freunde und Verwandten, die nicht verstehen können, warum ich nicht sehe, wie schön ich bin, wie sehr sie mich lieben und für wie vollkommen sie mich halten. Auch ich habe Jahre mit der Frage gerungen: "Was ist hier meine Arbeit, meine Aufgabe?" Auch ich bin bereit, loszulassen und in dem Wissen zu leben, dass das Leben kein Lohn und der Tod keine Strafe ist. Ich danke Ihnen, ich segne Sie für Ihren Mut und Ihre Aufrichtigkeit, mit der Sie Mut und Gnade geschrieben haben. Die beigefügte Musik ist ein Geschenk, mit dem ich mich bedanken möchte. Mögen Sie weiterhin geheilt und gesegnet sein. Frieden, ..... Sehr viele Frauen schrieben mir, wie sehr sie sich mit Treya identifizierten, dass ihre Sorgen und Ängste genau dieselben waren, mit denen sie auch in ihrem eigenen Leben rangen. Oft möchten Menschen einfach ihre Geschichte erzählen, ob sie etwas mit Krebs zu tun hat oder nicht.
Sehr geehrter Herr Wilber, Grüße aus Polen. Ich habe gerade Ihr Buch Mut und Gnade gelesen, und der Eindruck wirkt immer noch nach. Das Buch hat mich im tiefsten Herzen angerührt. Solche Empfindungen hatte ich seit vielen Jahren nicht mehr. Vor vielen Jahren interessierte ich mich für Freuds psychoanalytische Theorie, aber als ich Kinder bekam, musste ich meine Interessen ändern. Auch wenn ich mit der Erziehung meiner Kinder und meiner Tätigkeit als Lehrerin sehr beschäftigt war, habe ich doch immer versucht, die Menschen in meiner Nähe bewusst wahrzunehmen. Aber ich bin sehr unglücklich, weil mein persönliches Leben nicht erfolgreich verlaufen ist, und manchmal stelle ich mir die Frage: "Warum ich?" Die Antwort lautet: "Warum nicht?", und
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dies habe ich auch in Ihrem Buch gefunden. Ich möchte das Leben in seiner ganzen Fülle leben, wie Ihre Treya, aber es ist so schwierig. Ihr Leben war so ungewöhnlich, dass es fast unwirklich erscheint. Manchmal glaube ich, dass es nur ein Traum war, nicht ein von Ihnen geschriebenes Buch. Ich habe gerade begonnen, nach meinem Daimon Ausschau zu halten, und ich glaube, dass sich etwas in meinem Leben ändern muss. Ich habe mir einige Anmerkungen zu Ihren anderen Büchern und auch zu den anderen Autoren und Philosophen gemacht, über die Sie in Ihrem Buch schrieben. Zum Schluss des Briefes möchte ich Ihnen sagen, dass das Buch über Ihre Frau Treya und Sie für mich das schönste Buch über Liebe und Opfer ist. Ich bin sehr froh, dass ich es gelesen habe. Es würde mich sehr freuen, wenn dieser Brief Sie erreichen würde. Mit den besten Grüßen aus dem sommerlichen Polen, Ihre .....
Sehr geehrter Herr Wilber, ich habe gerade Mut und Gnade gelesen. Ich habe mich so sehr mit Treya identifiziert. Sie kämpfte mit so vielen Dingen, mit denen ich auch kämpfe: der Versuch, den eigenen Daimon zu finden, die Erkundung von Spiritualität und Kreativität, Sein und Tun, männlich und weiblich, übertriebene Selbstkritik – genau dies sind die großen Fragen in meinem Leben. Ich ging völlig auf in der Lektüre dieses Buchs, und ich glaube, dass es immer bei mir bleiben wird. Ihre Offenheit bezüglich Ihrer Gefühle und derjenigen Treyas war sehr mutig und eindringlich. Meine Bewunderung für Sie beide und Ihre Offenheit bezüglich Ihrer Schwächen halfen mir, nicht mehr so streng mit mir selbst zu sein. Vielen Dank. Die Art, wie Treya ihren Krebs und die damit verbundenen Folgen akzeptierte und transzendierte, hat mich beeindruckt. Dies wurde für mich zum Ansporn, mich intensiver der Meditation zu widmen. Die Wörter, die mir bei der Lektüre von Mut und Gnade immer wieder in den Sinn kamen, waren "niederschmetternd" und "schön", es war niederschmetternd schön. Ich wollte Ihnen einfach danken. In Verbundenheit und Wertschätzung, .....
Lieber Ken, mein Mann und ich haben Ihr Buch Mut und Gnade gelesen. Es ist so voller Liebe und Gefühle, aber auch so lehrreich. Als wir das Buch lasen, hatten wir einen Kloß im Hals und konnten oft nicht weiterlesen, weil uns die Tränen in die Augen stiegen. Die Liebe, die sich darin äußert, ist so echt, wenn ich dies sagen darf. Meine Schwägerin macht eine Chemotherapie, und das Buch hilft uns zu verstehen, was sie fühlt und mitmacht. Mit freundlichen Grüßen, ..... Ich war überrascht darüber, wie viele Paare mir schreiben, dass sie das Buch einander laut vorlesen. Ich habe ja ausführlich aus Treyas Tagebüchern zitiert, um sie selbst zu Wort kommen zu lassen, und vielleicht wechseln sich deshalb die Paare beim Lesen ab. Ich hatte dies nicht erwartet, aber der Gedanke rührt mich, dass Liebende unsere gemeinsame Erfahrung und Treyas Tod benutzen, um einander ihre Liebe zu Lebzeiten auszudrücken – und nicht zu warten, bis es zu spät ist, die liebevollen Dinge zu sagen, die jetzt gesagt werden müssen.
Lieber Ken, ich schreibe Ihnen, auch wenn ich nicht weiß, ob Sie diesen Brief bekommen oder ob Sie überhaupt unverlangte Post lesen, um Ihnen aus tiefstem Herzen für Mut und Gnade zu danken. Es ist jetzt zehn Tage her, dass ich es ausgelesen habe, und ich bin immer noch so sehr von Ihrem Mut und Ihrer Liebe bewegt und angerührt, mit der Sie so eindringlich und aufrichtig über Ihre gemeinsame Zeit mit Treya geschrieben haben. Wie sehr müssen Sie ihre physische Gegenwart vermissen – und doch, andererseits, wie können Sie jemanden vermissen, der in einer solchen Fülle von Liebe so vollständig bei Ihnen ist? Auch ich kenne eine solche Liebe. Ich lernte ... 1988 kennen, und ein Jahr nach unserer Hochzeit wurde bei ihr ein schwerer Fall von Lyme-Krankheit festgestellt. Ich brauchte fast ein Jahr als Ganztagesbetreuer, bis ich erkannte, dass ich selbst dringend Hilfe brauchte. Diese fand ich bei einem großartigen Therapeuten, zu dem ich auch heute noch regelmäßig gehe. Das ist jetzt fünf Jahre her, und bei meiner Frau sind wenigstens die schwersten Symptome zurückgegangen, von ihren Rückenschmerzen abgesehen, die sie immer noch zwingen, die Hälfte bis zwei Drittel ihrer Wachzeit zu liegen. Auch wir haben all die Ebenen einer Krankheit und all die möglichen Ebenen der Heilung gründlich kennen gelernt. Und auch den Zorn und die Empörung über unsere New-Ageangehauchten Freunde, die es fertig bringen, solche Dinge zu sagen wie: "Ach, du hast Rückenschmerzen – was unterdrückst du?" Genug davon, Ken, ich wollte Ihnen einfach nur danken und Gottes Segen dafür wünschen, dass Sie mir und der Welt Ihre unglaubliche und fortdauernde Liebesgeschichte geschenkt haben. Als ich fertig gelesen hatte, weinte ich, wie ich seit vielen, vielen Jahren nicht mehr geweint habe, mit tiefen, traurigen und das Herz erleichternden Schluchzern und Tränen. In Liebe und Dankbarkeit, .....
Lieber Ken, ich schreibe Ihnen aus vollstem Herzen meinen Dank dafür, dass Sie die Geschichte von Mut und Gnade mit solcher Offenheit, Liebe, Aufrichtigkeit und Bereitwilligkeit gelebt haben. Ich habe Ihr Buch vor einigen Tagen aus den Händen gelegt, und die Geschichte durchzieht mein ganzes Wesen so eindringlich, obwohl Treyas Tod schon einige Jahre zurückliegt. Die Erfahrung war für mich eines jener wunderbaren mystischen Erlebnisse, die mich auf eine neue und bessere Art (und nicht ohne einige Tränenströme!) frei machen und verändern. Ich fühle eine große Verwandtschaft mit Treya, weil sich unsere Lebenswege auf so vielerlei Weise gekreuzt haben, weshalb ich eine ganz enge Beziehung zu ihr aufbauen konnte. Hätte ich dieselben Entscheidungen gefällt? Hätte eine solche verheerende Krankheit in mir eine edle Seele zum Vorschein gebracht?
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Ich bin ihr nie wirklich begegnet, aber ich bin Ihnen so überaus dankbar dafür, dass Sie mir ein so klares Bild von ihr vermittelt haben. Ihr Kampf und ihre schließliche Hinnahme des Inakzeptablen, ihre Entschlossenheit, bis zu ihrem physischen Tod in "leidenschaftlichem Gleichmut" durchzuhalten (ein Begriff, den ich voll und ganz annehmen kann), und ihre äußerste Menschlichkeit haben mich unermesslich bewegt. Ich habe ein so großes Verlangen nach weiblichen Vorbildern, die mich inspirieren können; so viele spirituelle Lehrer sind Männer, und für mich gibt es hier irgendwo eine Verständnislücke. Treyas Geschichte sprach mich in meinen Worten an, und man kann Ihnen nur dafür danken, dass Sie sie ihre Geschichte selbst erzählen ließen, mit ihren eigenen Worten, und nie an ihrer Stelle sprachen. Zutiefst berührte und bewegte mich auch Ihr Prozess, Ihr Ringen, Ihre Bereitschaft, ihr zu dienen, Ihre unbedingte Liebe. Ihre Hingabe an sie, auch nach dem Tod in jenen 24 Stunden – es geht mir so furchtbar nahe – Tränen – ich habe nie eine solche Liebe erlebt. Ich habe immer von einer solchen Tiefe geträumt, aber Schicksal, Karma, unbewusste Entscheidungen oder was auch immer haben mich nie erleben lassen, was Sie beide erlebt haben. Aber die bloße Tatsache, dass Sie und Treya eine solche Art von Liebe gefunden haben, wärmt mir das Herz. Ich bin nicht ganz verrückt! Es gibt so etwas doch. Ja, es gibt es. Es ist seltsam: Wenn man ein Buch schreibt, lässt man so viele Menschen in seine Seele herein, denen man niemals begegnet und von denen man niemals etwas hört. Ich wollte Sie einfach wissen lassen, dass Sie mir geholfen haben, dass das, was Sie erlebt haben, auf mich eine Wirkung gehabt hat. Ich danke Ihnen aus ganzem Herzen. In Liebe .....
Lieber Ken, vergangenes Jahr wurde bei mir Brustkrebs im fortgeschrittenen Stadium mit Metastasen festgestellt. Eine Freundin empfahl mir Ihr Buch Mut und Gnade, aber als ich fragte, wie es ausginge, sagte sie: "Sie starb." Lange Zeit hatte ich Angst vor diesem Buch. Aber jetzt habe ich es gelesen, und ich möchte Ihnen und Treya aus tiefstem Herzen danken. Ich weiß, dass ich auch sterben kann, aber irgendwie hat mir Treyas Geschichte die Angst genommen. Zum ersten Mal habe ich keine Angst mehr. Durch Ihre Beschreibungen höherer Bewusstseinszustände hatte ich zwei intensive Erfahrungen, Satori, wie ich glaube. Als Treya im Buch starb, hatte ich das Gefühl, auch zu sterben, weshalb ich jetzt unbesorgt sein kann. Ihnen nochmals vielen, vielen, vielen Dank. Ja, ich glaube, dass ich sterben werde, und ja, ich glaube, dass Treya bei mir sein wird. Mit freundlichen Grüßen, .....
Ich habe das Gefühl, dass ich bei diesen Menschen bin und dass sie bei mir sind. Leiden ist die unablässige Erinnerung an den Schmerz des Menschseins, aber auch eine der elementarsten Formen unserer Verbundenheit, weil wir alle irgendwo furchtbar leiden. Leiden ist nicht nur "negativ"; es ist auch ein Band, das uns alle miteinander verbindet. Leiden ist in Wahrheit die erste Gnade.
Lieber Ken, Mut und Gnade hat mein Leben mehr oder weniger zum Stillstand gebracht. Ich musste es fertig lesen oder, soll ich sagen, verschlingen, bevor ich wieder irgendetwas anderes tun konnte. Als ich die ersten Kapitel las, setzte ich mich hin und schluchzte lange Zeit hemmungslos. Ich kann mich jetzt kaum noch in die Intensität hineinversetzen, die ich verspürte. Ich war vollkommen überwältigt, wie wenn ein Sturzbach blockierter Emotionen losgebrochen wäre und sich in meinen Körper ergossen hätte. Sie kennen jenes Schluchzen, das ganz tief im Bauch beginnt und das ganze Wesen erschüttert. Ich war so tief berührt. Für mich war Mut und Gnade die schönste Liebesgeschichte, die ich jemals gelesen habe. Ich schluchzte wegen Ihrer Freude und wegen Ihres Verlusts, der Wonne, Von der ich nur eine Ahnung erhascht habe, des Schmerzes, den ich mir vielleicht gar nicht vorstellen kann. Und ich schluchzte wegen der Empfindung der Freude und der Verlorenheit, die das Buch in mir auslöste. Meine Freude entsprang der Erkenntnis, dass die Erfahrung einer solchen Verbundenheit, wie Sie sie so schön beschrieben haben, möglich ist, dass heilige Liebe eine konkrete Wirklichkeit und nicht einfach eine verrückte Phantasie ist, und dass ein Mensch von Ihrer intellektuellen Tiefe und Intensität zu einer solchen tiefen emotionellen Verbundenheit fähig ist. Ich glaube, dass ich diese Dinge wegen meines Vaters, eines hochintelligenten Menschen, der eigentlich nie richtig in seinem Körper war, ein ausgesprochener Kopfmensch, immer getrennt gehalten habe. Als das Schluchzen meinen Körper erschütterte, drang es zum ersten Mal in meinem Leben zu mir durch, dass es möglich ist, Körper, Seele und Geist in einer tief empfundenen Verbundenheit zusammenzubringen. Ich war traurig, denn wiewohl ich eine solche Verbundenheit einige Male flüchtig erahnen konnte, habe ich sie doch nie mit einem Mann erfahren, der bereit oder fähig gewesen wäre, eine solche Intensität über eine flüchtige Bekanntschaft hinaus durchzuhalten. Dies umso mehr, als dies die tiefste Sehnsucht meines Herzens ist, und ich, nachdem ich jahrelang in meinem Herzen gehofft hatte, nicht mehr an eine solche Möglichkeit geglaubt hatte. Nochmals, Ihre Worte gaben mir den Glauben an etwas zurück, von dessen Wahrheit ich in tiefster Seele überzeugt war, den Glauben daran, dass ich Recht habe, mich nicht mit weniger als der Tiefe zufrieden zu geben, die ich ersehne, und dass genau dies möglich ist. Ich weiß, dass Sie ein recht einsiedlerisches Leben führen, aber ich hoffe trotzdem, dass wir uns eines Tages begegnen. Mit großer Achtung, Bewunderung und Liebe, .....
Lieber Ken Wilber, ich bin vierzehn Jahre alt. Schon als kleines Mädchen hatte ich große Angst vor dem Sterben. Seit ich Treyas Geschichte gelesen habe, habe ich keine Angst mehr. Dies wollte ich Ihnen sagen. Mit freundlichen Grüßen, .....
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Treyas Tagebücher waren wirklich außerordentlich. Als ich sie einige Zeit nach ihrem Tod las, fiel mir eines ganz besonders auf: Es gab in ihnen keine Geheimnisse. Natürlich waren diese Tagebücher sehr intim und sehr persönlich, aber es stand nichts darin, worüber Treya nicht mit mir oder jemand anderem geredet hätte. Es gab bei ihr einfach keine Spaltung zwischen ihrem öffentlichen und ihrem privaten Selbst – beides war eine Einheit. Bei Treya wusste man immer genau, was sie dachte und fühlte; sie log einfach niemals oder unterdrückte die Wahrheit. Diese außerordentliche Integrität war es wohl, was sie für die Menschen so unwiderstehlich machte. Ich glaube, dass diese Aufrichtigkeit in meinem Buch deutlich wird, und die Menschen sind dankbar für ihre kompromisslos ehrliche Darstellung des Lebens – und Sterbens – mit einer furchtbaren Krankheit. Viele schreiben mir, weil sie eigentlich Treya danken wollen, und das ist in Ordnung; sie sagen mir nette Dinge, um Treya zu rühmen, und auch das ist in Ordnung. Aber es ist doch eigenartig. Ich hatte vorgehabt, Treyas Tagebücher zu vernichten, wenn sie sterben sollte, und ich hatte zunächst beschlossen, sie nicht zu lesen. Es gab zwar, wie ich dann feststellte, keine Geheimnisse in ihnen, aber Treya genoss die Zeit, wenn sie allein sein und in ihr Tagebuch schreiben konnte, und ich war entschlossen, dies heilig zu halten und die Bücher nicht zu lesen. Ich bin vielleicht ein neugieriger Mensch, aber diesbezüglich stand meine Entscheidung fest. Niemand sollte jemals ihre Tagebücher sehen. Dann aber, 24 Stunden bevor sie starb, und unmittelbar, bevor ich sie zum letzten Mal die Treppe hinauftrug, zeigte sie auf ihre Tagebücher und sagte schlicht: "Du wirst sie brauchen." Eine Woche davor hatte sie mich gebeten, über unseren Leidensweg zu schreiben. Drei Tage nach unserer Hochzeit wurde bei ihr Brustkrebs festgestellt. Sie hoffte, wie sie sagte, dass all das, was wir in so schmerzlicher Weise lernen mussten, anderen helfen könnte. Ich versprach ihr, das Buch zu schreiben. Und dieses "Du wirst sie brauchen" bedeutete: Du wirst meine Tagebücher brauchen, wenn du eine umfassende Darstellung unserer Geschichte geben willst. Da wurde mir klar, dass ich sie lesen würde, alle, von der ersten bis zur letzten Seite, und wie schwer mir dies wurde, brauche ich niemandem zu erklären. Der letzte Eintrag in diese Tagebücher, zehn Hefte insgesamt, dieser letzte Eintrag lautete: "Es braucht Gnade, ja – und Mut!"
Samstag, 8. März Joyce Nielsen ist die Verfasserin von Sex and Gender in Society – des vermutlich besten Buchs über den Feminismus. Es ist gründlich, fair, umfassend, sorgfältig. Nielsen ist neben Janet Chafetz, Carol Gilligan, Martha Nussbaum und anderen eine meiner bevorzugten feministischen Autorinnen. Ich war mir nie richtig dessen bewusst, dass sie an der University of Colorado, Boulder, lehrt. Als ich nach Hause kam, war eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter: "Wenn dies der Ken Wilber ist, der Eros, Kosmos, Logos geschrieben hat, und ich bin mir ziemlich sicher, dass er es ist, dann möchte ich mich gerne einmal mit ihm unterhalten. Ich lehre Soziologie an der University of Colorado und benutze Eros, Kosmos, Logos als Lehrbuch für meine höheren Semester. Ich habe mir gedacht, ob Sie nicht zu uns kommen könnten. Rufen Sie mich doch bitte unter der Nummer ... an." Ich griff zum Telefon, wählte ihre Nummer und hörte ihren Anrufbeantworter. "Wenn dies die Joyce Nielsen ist, die Sex and Gender in Society geschrieben hat, und ich bin mir ziemlich sicher, dass sie es ist, ich bin nämlich ein Fan von ihr ..." Ich glaube, sie wird zurückrufen.
Sonntag, 9. März Es hat fast eine Woche gedauert, bis sich wieder irgendeine Form von meditativem Gewahren einschließlich Wachträumen einstellte. Die ganze Zeit, während ich in New York war, war mir der Zugang zum reinen Zeugen völlig verloren gegangen, und es bestand keine Subjektpermanenz während des Traum- und Tiefschlafzustands. Ich war also, um dies anders auszudrücken, während des Traum- und Tiefschlafzustands nicht bei Bewusstsein; es handelt sich dabei um eine Art Strömung, die bei mir während der letzten drei bis vier Jahre immer wieder einmal vorhanden war. Dieses durchgängige oder konstante Bewusstsein während aller Zustände – Wachen, Träumen und Schlafen – tritt oft nach vielen Jahren der Meditationspraxis auf; in meinem Fall waren es 25 Jahre. Dieser Zustand ist ganz einfach zu erkennen: Man ist im Wachzustand bewusst, und wenn man dann einschläft und Träume einsetzen, bleibt man sich dieses Träumens bewusst. Dies ist mit luzidem Träumen verwandt, aber es gibt einen kleinen Unterschied: Normalerweise beginnt man beim luziden Träumen, den Traum zu manipulieren: Man träumt sich in Sexorgien hinein, in Schlemmermahlzeiten, in Flüge über Berge usw. Beim Bewusstsein des beständigen Bezeugens dagegen besteht kein Wunsch, irgendetwas zu verändern, das im Bewusstsein auftaucht; man ist einfach und unschuldig Zeuge. Es ist ein wunschloses Gewahren, ein spiegelähnliches Gewahren, das alles, was sich zeigt, gleichermaßen und unparteiisch wiedergibt. Man bleibt also im Traumzustand bewusst, ist dessen Zeuge und verändert nichts daran (auch wenn man dies könnte, wenn man wollte; meist will man dies aber nicht).10 Wenn man dann in den Zustand des traumlosen Tiefschlafs übertritt, bleibt man trotzdem bewusst, nur dass man jetzt nichts als die weite, reine Leerheit ohne jeglichen Inhalt gewahrt. Allerdings kann man hier eigentlich nicht mehr von "Gewahren" sprechen, weil dabei die Dualität aufhört. Es ist eher so, dass hier nur noch das reine Bewusstsein selbst ist, ohne Eigenschaften, Inhalte, Subjekte und Objekte, eine weite, reine Leerheit, die nicht "nichts" ist, aber trotzdem nicht qualifizierbar. Wenn man dann aus dem Zustand des Tiefschlafs heraustritt, sieht man, wie der Geist und der Traumzustand entstehen und Gestalt annehmen. Aus der kausalen Leerheit erhebt sich der feinstoffliche Geist (Träume, Bilder, Symbole, Begriffe, Visionen, Formen), und man ist Zeuge dieses Auftauchens. Der Traumzustand hält eine Weile an, und wenn man dann zu erwachen beginnt, sieht man, wie die ganze grobstoffliche, physische Welt – der eigene Körper, das Bett, das Zimmer, die Natur – direkt aus dem Zustand des feinstofflichen Geistes hervorgehen. Mit anderen Worten, man hat damit soeben in der aufsteigenden wie in der absteigenden Richtung (Evolution und Involution) die Große Kette des Seins (vom grobstofflichen Körper über den feinstofflichen Geist zum kausalen Geist) durchmessen. Wenn man einschläft, schreitet man vom grobstofflichen Körper (Wachen) über den feinstofflichen Geist (Träumen) zur kausalen Leerheit (Tiefschlaf) fort, und dies ist Evolution oder Aufstieg. Beim Erwachen geht man den umgekehrten Weg vom Kausalen über das Feinstoffliche zum Grobstofflichen, und dies ist Involution oder Abstieg. Jeder Mensch durchläuft diesen Zyklus alle 24 Stunden. Nur im
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Zustand des fortwährenden Bewusstseins oder ununterbrochenen Bezeugens bleibt man sich all dieser Zustandsveränderungen bewusst, selbst im traumlosen Tiefschlaf. Weil das Ich überwiegend im grobstofflichen Zustand beheimatet und im feinstofflichen Zustand nur noch in Resten vorhanden ist, sprengt man, sobald man sich mit dem konstanten Bewusstsein – oder demjenigen, was in allen drei Zuständen vorhanden ist – identifiziert, den Griff des Ichs, weil es im Feinstofflichen kaum und in der kausalen Leerheit (oder im Zustand des Tiefschlafs, der eine Form der Leerheit ist) überhaupt nicht vorhanden ist. Man hört auf, sich mit dem Ich zu identifizieren, und identifiziert sich mit dem reinen, formlosen Bewusstsein an sich, das farblos, raumlos, zeitlos, formlos ist – reine, klare Leerheit. Man identifiziert sich mit nichts Bestimmtem, und deshalb kann man alles annehmen, was zum Vorschein kommt. Man hat das Ich abgelegt und ist eins mit dem All. Man hat immer noch Zugang zum Ich des Wachzustands, aber man ist nicht mehr nur dieses. Vielmehr ist der tiefste Teil von einem selbst eins mit dem ganzen Kosmos in seiner strahlenden Herrlichkeit. Man ist einfach eins mit allem, was sich von Augenblick zu Augenblick zeigt. Man sieht nicht den Himmel, man ist der Himmel. Man berührt nicht die Erde, man ist die Erde. Man hört nicht den Regen, man ist der Regen. Das Universum und man selbst ist das, was die Mystiker "Ein Geschmack" nennen. Dies ist keine Poesie. Es ist eine konkrete Erkenntnis, so konkret wie ein Glas kaltes Wasser ins Gesicht. Ein großer Zen-Meister sagte nach seiner Erleuchtung: "Als ich den Klang der Glocke hörte, gab es keine Glocke mehr und kein Ich, nur den Klang." In diesem nichtdualen Klang ist der ganze Kosmos beschlossen, in dem Subjekt und Objekt zu Einem Geschmack werden und die Unendlichkeit bereitwillig ihre Geheimnisse preisgibt. Forscher von Aldous Huxley bis Huston Smith haben uns daran erinnert, dass der Eine Geschmack oder "kosmisches Bewusstsein" – die Empfindung des Einsseins mit dem Urgrund aller Schöpfung – den tiefsten Kern der praktisch universellen Gemeinsamkeit aller großen Weisheitstraditionen der Welt ausmacht. Der Eine Geschmack ist keine Halluzination, keine Phantasie und nicht das Produkt einer gestörten Psyche, sondern die unmittelbare Erkenntnis und das Zeugnis zahlloser Yogis, Heiliger und Weiser in der ganzen Welt. Er ist sehr einfach, sehr offensichtlich, sehr klar – konkret, greifbar, unmissverständlich.
Montag, 10. März Aldous Huxley hat bekanntlich ein berühmtes Buch geschrieben, Die ewige Philosophie, in dem es um den universellen Kern der großen Weisheitstraditionen der Welt geht. Huston Smiths Forgotten Truth ist nach wie vor die beste Einführung dazu. Für das Journal of Humanistic Psychology habe ich einen Aufsatz geschrieben, der wie folgt beginnt: "Diese Weltsicht, die als Philosophia perennis, 'ewige Philosophie' bezeichnet wird, weil sie in denselben Grundzügen in den verschiedensten Kulturen und in allen Zeitaltern auftritt, bildet nicht nur den Kern der großen Weisheitstraditionen der Welt, vom Christentum über den Buddhismus zum Daoismus, sondern auch der Lehren vieler der größten Philosophen, Wissenschaftlern und Psychologen in Ost und West, Nord und Süd. Diese Philosophia perennis (mit der ich mich gleich noch ausführlicher befassen werde) ist so überwältigend universell, dass sie Qentweder der größte Denkfehler ist, den sich die Menschheit in ihrer Geschichte je leistete, ein dermaßen weit verbreiteter Irrtum, dass man darüber tatsächlich an seinem Verstand verzweifeln müsste, – oder sie ist die getreueste Wiedergabe einer Wirklichkeit, die noch zutage treten wird."11 Was macht also diese ewige Philosophie aus? Ganz einfach: Die Große Kette des Seins, die im Einen Geschmack kulminiert – dies ist der Kern der Philosophia perennis. Damit will ich keineswegs sagen, dass alles, was über die Philosophia perennis zu sagen ist, in Stein gemeißelt oder in Gold eingraviert sei. Ich habe sogar eine Arbeit mit dem Titel "Die neue Philosophia perennis" geschrieben, in der ich ausführe, dass vieles davon aktualisiert und modernisiert werden muss.12 Trotzdem ist das Grundgerüst der großen Weisheitstraditionen der Welt ein Rahmen, den wir bei unseren eigenen Versuchen, den Kosmos zu verstehen, ernsthaft und respektvoll zurate ziehen sollten. Ihr Kern ist die Erfahrung des Einen Geschmacks: klar, offensichtlich, unverkennbar, nicht zu erschüttern.
Dienstag, 11. März Ich meine damit, durch weitere Übung nicht zu erschüttern. Ich bin immer neugierig zu erforschen, was diesen nichtdualen Strom unterbrechen kann, was das konstante Bewusstsein verdunkelt oder zerstört, was einen aus dem All herausbefördern und in die Klauen des getrennten Selbst schleudern kann, wo das Leiden wartet. Interessanterweise genügt in meinem Fall hierfür ein Glas Wein. Wenn ich ein Glas Wein getrunken habe, dann ist bei mir in dieser Nacht im Traum und im Zustand des Tiefschlafs die Bewusstseinskonstanz unterbrochen. Ich bin mir sicher, dass große Yogis trinken und trotzdem in allen drei Zuständen Bewusstseinskonstanz haben können, aber nicht ich. Stress dagegen stört diesen beständigen Strom üblicherweise nicht. Aber in New York habe ich die meiste Zeit tagsüber einige Gläser Wein getrunken, was allein schon als Erklärung für die Unterbrechung der Zeugenschaft ausreichen würde. Zudem war ich dort, um mich marktschreierisch anzupreisen, etwas, worauf ich mich nicht sonderlich gut verstehe – ich untertreibe oder übertreibe, einfach deshalb, weil es mir peinlich ist. Dass ich also praktisch keinen stabilen Zugang zum Zeugen mehr hatte, könnte daher einfach daran gelegen haben, dass ich mich eine Woche lang in den Klauen der egoistischen Selbstkontraktion befand. Letzte Nacht schien sich alles wieder einzurenken. Zunächst war ich nicht im Zustand des luziden Träumens, sondern ich träumte ganz normal: Eine Frau und ich saßen vor Sri Ramana Maharshi. Es waren viele Leute da, aber ich nahm sie kaum wahr. Die Frau erklärte, wie man Selbsterkundung praktiziert; man stellt sich dabei die Frage "Wer bin ich?" und versucht, sich zum Urgrund des Bewusstseins vorzutasten und so zum reinen und allgegenwärtigen Zeugen zu gelangen. Aus irgendeinem Grund erklärte die Frau dies aber völlig falsch; sie stellte es so dar, als ob dies das Ergebnis einer bewussten Anstrengung sei. Ich sah Ramana an und sagte: "Nein, man braucht keine Anstrengung, man stellt einfach fest, dass man schon gewahrt, und dieses Gewahren ist es, einfach so, wie es ist. Von Anstrengung ist keine Rede." Ramana lächelte, und mein Geist und sein Geist waren plötzlich eins. An diesem Punkt begann ich luzide zu träumen, aber es war mehr ein Bezeugen. Dieser Strom des Bezeugens, dieses durchgängige Bewusstsein ist nun schon seit einigen Tagen und Nächten vorhanden, und so ist es mit Unterbrechungen eigentlich schon seit einigen Jahren. Es ist ein faszinierender Prozess. Es ist reine Leerheit, ohne jede Bindung, strahlend, rein, frei, grenzenlos, jenseits von Licht und jenseits von Seligkeit, absolut ohne Eigenschaften. Ramana nannte dieses tiefe Bezeugen (oder konstante Bewusstsein) das Ich-Ich, weil dieses das kleine Ich oder das getrennte Selbst gewahrt. Ken Wilber ist nur eine grobstoffliche Manifestation dessen, was Ich-Ich wirklich bin, und dies ist keineswegs Ken, sondern einfach das All. Ken wurde geboren und wird sterben, aber das Ich-Ich tritt niemals
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in den Strom der Zeit ein. Ich-Ich bin das große Ungeborene, Ich-Ich bin das geheimnisvolle Unsterbliche; der ganze Kosmos existiert als das schlichte Gefühl meines eigenen Wesens. Und jedes fühlende Wesen im ganzen Universum kann dies von sich behaupten, solange es im Zustand des großen Ich-Ich ist, das überhaupt kein Ich ist. (Der Vedanta betont das Ich-Ich, der Buddhismus das Nicht-Ich [Atman], aber beide verweisen damit auf die reine, nichtduale, eigenschaftslose Leerheit [Shunyata oder Nirguna]. Dies ist die reine Soheit oder Seinsheit der ganzen Welt, und dies ist nichts anderes als das reine, natürliche, spontane, allgegenwärtige Bewusstsein, das unser eigener wahrer Zustand jetzt in diesem Augenblick ist – ein ununterbrochener nichtdualer Strom, der durch alle möglichen Zustandsveränderungen wie Wachen, Träumen und Schlafen hindurch beständig bleibt. In seiner reinen Form gießt sich der Zeuge in alles aus, was er bezeugt: Der Spiegel-Geist ist eins mit seinen Objekten, Leerheit ist eins mit aller Form. Deshalb ist, wie Vedanta und Buddhismus betonen, das reine Bewusstsein als solches nichtdual, leer und letztlich nicht qualifizierbar.) Wenn Meditierende beginnen, dieses konstante Bewusstsein zu entwickeln (oder vielmehr wahrzunehmen), stellt sich bei ihnen zunächst oft eine Art gespaltenes Gewahren ein. Einerseits entwickelt man die Fähigkeit zu einem ausgeprägten meditativen Gleichmut, eine Fähigkeit, Freude und Schmerz gleichermaßen ohne Zaudern, ohne Annehmen- oder Vermeiden-Wollen als Zeuge zu gewahren. "Der Vollkommene", sagte Zhuangzi, "benutzt den Geist wie einen Spiegel: Er nimmt an, ohne zu ergreifen, er empfängt, ohne festzuhalten." Je mehr sich dieses Spiegel-Geist-Gewahren durchsetzt, desto "traumartiger" wird der grobe Wachzustand, in dem Sinne, dass er die Macht verliert, einen zu überwältigen, zu erschüttern, einen glauben zu machen, dass flüchtige Empfindungen die einzige Wirklichkeit seien. Das Leben beginnt wie ein einziger großer Film auszusehen, und man ist der unbewegte Zeuge, der sich die Darbietung ansieht. Glück entsteht: Man ist sein Zeuge; Freude entsteht: Man ist ihr Zeuge; Schmerz entsteht: Man ist sein Zeuge; Trauer entsteht: Man ist ihr Zeuge. Immer ist man Zeuge, nicht eine flüchtige Oberflächenwelle weltlicher Eitelkeiten und Geschäftigkeiten. Im Auge des Hurrikans ist man sicher. Man wird von einem tiefen inneren Frieden erfüllt; man veranstaltet nicht mehr so leicht mit derselben Überzeugung einen Aufruhr. Aber dies bedeutet natürlich nicht, dass man Verlangen, Schmerz, Freude, Glück, Leid und Trauer nicht mehr empfinden würde. All dies empfindet man weiterhin, aber man ist davon nicht mehr existenziell berührt. Man kann wiederum den Vergleich mit einem Film heranziehen. Manchmal ist man tatsächlich so sehr von den Ereignissen auf der Leinwand gefesselt, dass man vergisst, dass es nur ein Film ist. In einem Horrorfilm regt sich vielleicht wirklich Gruseln; bei einem Liebesfilm beginnt man vielleicht wirklich zu weinen. Dann beugt sich der Freund herüber und sagt: He, nimm's nicht so tragisch, es ist doch bloß ein Film, es ist nicht echt! Und man kommt wieder zu sich. Erleuchtung ist: aus dem Film des Lebens zu sich zu kommen. Zu erwachen, den Traum abzuschütteln. Man ist und war schon immer im Kino, als der Zeuge. Wenn man jedoch das Leben ernst nimmt, wenn man den Film für wirklich hält, dann vergisst man, dass man der reine und freie Zeuge ist, und man identifiziert sich mit dem kleinen Selbst, dem Ich, wie wenn man Teil des Films wäre, den man doch nur betrachtet. Man identifiziert sich mit jemandem auf der Leinwand. Deshalb bekommt man Angst, deshalb weint man, und deshalb leidet man. Durch Meditation beginnt man, sich in seinem Sitz zu entspannen und den Film des Lebens einfach zu beobachten, ohne ihn zu beurteilen, ihm auszuweichen, ihn festhalten zu wollen, ihn beschleunigen oder ihn verlangsamen zu wollen. Man ist einfach sein Zeuge: Man beobachtet mit dem Spiegel-Geist, man ruht im einfachen, klaren, spontanen, anstrengungslosen, allgegenwärtigen Bewusstsein. Wenn man nun beharrlich und anstrengungslos den Blick auf das absichtslose Gewahren des Seienden richtet, dann beginnt sich irgendwann dieses Bewusstsein vom Wachzustand auf den Traumzustand auszudehnen. Das absichtslose Gewahren, der Spiegel-Geist, das konstante Bewusstsein bleibt auch dann noch vorhanden, wenn der Traumzustand eintritt. Man stellt fest, dass sich phänomenologisch die grobstoffliche Welt – der physische Körper, die sensomotorische Welt und das darauf errichtete Ich – in die feinstoffliche Welt der Bilder und der Schau auflöst. Dabei bleibt das Bewusstsein stets vorhanden. Nach weiterem Üben dehnt sich dieses absichtslose Gewahren über den Traumzustand hinaus auf den Zustand des traumlosen Tiefschlafs aus. Weil "man" immer noch gegenwärtig ist (nicht als Ich, sondern als Ich-Ich, als reines Bewusstsein ohne Objekt), entdeckt man eine noch viel tiefere und wahrere Identität: Man hat immer noch ein stilles Bewusstsein, wenn es keine Objekte, keine Subjekte und überhaupt keine Inhalte mehr gibt – kein Leiden, keinen Schmerz, keine Freude, kein Begehren, keine Ziele, keine Hoffnungen, keine Ängste. In diesem reinen formlosen Zustand entsteht nichts mehr, und doch ist man immer noch da, existiert man immer noch, aber nur noch als reines Bewusstsein. Es gibt keinen Körper, kein Ich, keinen Geist – und doch weiß man, dass man existiert, und deshalb ist man offensichtlich keiner dieser geringeren Zustände. Man ist nur man selbst – d.h., es gibt nichts als reine Ich-heit, reines nichtduales Bewusstsein, das so radikal frei, unbeschränkt, ungebunden und eigenschaftslos ist, dass man es streng genommen nur als "Leerheit" bezeichnen kann – und genau so "fühlt" es sich auch "an": eine unendliche Abwesenheit oder der Abgrund, und dies ist nur eine andere Bezeichnung für grenzenlose Freiheit.
Donnerstag, 13. März Habe gerade mit Mike Murphy telefoniert (unsere weitschweifigen Gespräche sind selten kürzer als zwei Stunden). Zusammen mit seiner Freundin Sylvia Tompkins arbeitet er zurzeit an einer Reihe von Projekten, u. a. einer CD-ROM und einem Buch, deren Thema eine integrale (oder ausgewogene) Spiritualität ist, eine aktualisierte, modernisierte Version der Philosophia perennis, in der auch meine Arbeit berücksichtigt werden soll. Sylvia wollte diese integrale Auffassung auf eine CD-ROM bringen, und sie taten sich schließlich mit James Redfield zusammen, dem Autor von Die Prophezeiungen von Celestine und Die zehnte Prophezeiung von Celestine, der dank seines außerordentlichen Erfolgs (über 15 Millionen Leser) diesen Projekten zu einem viel breiteren Publikum verhelfen könnte. Ich werde wahrscheinlich nach San Francisco gehen und am Fetzer-Institut sprechen, weshalb ich dort gleich mit Mike einen Termin vereinbart habe. Mike ist ein erstaunlicher Mensch. Er war nicht nur Mitbegründer des Esalen Institute, in dem das Human Potential Movement entstand, sondern seither immer an vorderster Front der psychologischen und spirituellen Entwicklungen zu finden. Er hat gerade die Arbeit an The Kingdom of Shivas Irons abgeschlossen, dem lang erwarteten Nachfolger seines Klassikers Golf und Psyche. Der Weg zum intuitiven Golf. Wie ich gehört habe, will Clint Eastwood Golf und Psyche verfilmen und zusammen mit Sean Connery darin auch selbst auftreten. Gott, das wird wohl Mikes Leben ruinieren; er wird keine ruhige Minute mehr haben.
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Freitag, 14. März, Boulder – San Francisco Am frühen Morgen im Flugzeug nach San Francisco. Das von John Fetzer gegründete Fetzer Institute ist eine der wenigen liberalen Organisationen, die echte spirituelle Projekte finanzieren. Liberale und Gott kommen nicht sonderlich gut miteinander aus, weshalb die ativen den Markt für das Reden über Gott in diesem Land für sich vereinnahmt haben. Beides ist zu beklagen. Deshalb ist Fetzer praktisch allein auf weiter Flur – eine liberale gemeinnützige Organisation, die keine Angst vor dem Geist hat. Sie haben z.B. Bill Moyers PBS-Serie über Gesundheit und Meditation finanziert. Rob Lehman ist heute Leiter von Fetzer, arbeitet jedoch eng mit einem Vorstand zusammen. Seine langjährige Vertraute Judith Skutch (Verlegerin von Ein Kurs in Wundern) saß lange Zeit in diesem Vorstand, und ihr ist es zu verdanken, dass weitere gute Leute wie z. B. Frances Vaughan in dieses Gremium kamen. Fetzer befindet sich derzeit in einer Umstrukturierung, und man hat mich bezüglich der weiteren Ausrichtung des Instituts um meine Mithilfe gebeten. Hier sitze ich nun, 12000 Meter über allem, und bald werde ich in raschem Sinkflug wieder mittendrin sein. Die Vorstandssitzung wird den ganzen Freitag und Samstag in Anspruch nehmen; ich soll nachmittags jeweils von 14 bis 17 Uhr sprechen und Fragen beantworten. Ich werde vom Flugzeug aus direkt zur Sitzung gehen, die in wenigen Stunden beginnen wird.
Samstag, 15. März – San Francisco Ich stellte mir vor, dass ich für die Darstellung eines integralen Weges zur Transformation zunächst ein oder zwei Stunden für einen Grundriss meiner Ideen verwenden müsste, wie er etwa in Eine kurze Geschichte des Kosmos zu finden ist. Als ich jedoch in den Besprechungsraum kam, hingen schon Diagramme der Kurzen Geschichte an der Wand, und alle unterhielten sich angeregt über all die Fachbegriffe. Aber ich glaube, dass ich dann etwas über das Ziel hinausschoss. In der ersten Pause sah ich in der Vorhalle Roger [Walsh], der als Berater dort war, und er flüsterte mir im Vorbeigehen zu: "Mach's nicht gar zu kompliziert!" Heute waren weitere Besprechungen angesetzt, und ich führte meine Darstellung am Nachmittag fort. Die Fragen – und meine Antworten bzw. meine diesbezüglichen Versuche – kreisten um das Wesen einer wahrhaft integralen oder holistischen Sichtweise und darum, wie man diese einzelnen Menschen oder der ganzen Kultur am besten anbietet. Die Begriffe "integral" und "holistisch" kann man auf vielerlei Weise erklären. Meist sagt man, dass sich dahinter ein Ansatz verbirgt, der Stoff, Körper, Geist, Seele und GEIST zu integrieren, d.h. die ganze große Verschachtelung des Seins einzuschließen versucht. Die Physik befasst sich mit der Materie, die Biologie mit dem lebenden Körper, die Psychologie mit der Psyche, die Theologie mit der Seele und die Mystik mit der unmittelbaren Erfahrung des Geistes, weshalb ein integraler Wirklichkeitsbegriff Physik, Biologie, Psychologie, Theologie und Mystik umfassen muss, um nur ein Beispiel zu geben (siehe Abb. 1). Dies wäre bereits ein guter Ansatzpunkt für die Definition von "integral". In meinen Büchern habe ich jedoch versucht, dieses Schema noch etwas zu verfeinern, und ich habe deshalb daraufhingewiesen, dass jede dieser Ebenen weiterhin mindestens vier wichtige Aspekte oder Dimensionen besitzt. Jede Ebene kann man von innen und von außen betrachten und besitzt eine individuelle und eine kollektive Form. So kann man z. B. das Bewusstsein von innen her betrachten, von der subjektiven Seite, vom eigenen Gewahren in diesem Augenblick; dies erfährt man in der ersten Person als "Ich" (all die Bilder, Antriebe, Begriffe und Wünsche, die in diesem gegenwärtigen Augenblick durch den Geist hindurchgehen). Weiterhin kann man das Bewusstsein auch in einer objektiven, empirischen, wissenschaftlichen Weise in der dritten Person als "Es" untersuchen (so enthält das Gehirn z.B. Acetylcholin, Dopamin, Serotonin usw., die sich sämtlich in einer objektiven Es-Sprache beschreiben lassen). Beides gibt es wiederum nicht nur in der "Einzahl", sondern auch in der "Mehrzahl", d.h. nicht nur als "Ich" oder "Es", sondern als "Wir". Diese kollektive Form besitzt wiederum eine Innen- und eine Außenseite: die kulturellen Werte, die man im Inneren gemeinsam hat (z.B. Moral, Weltanschauungen, kulturelle Bedeutung), und die konkreten äußerlichen gesellschaftlichen Formen, die man von außen sieht (z.B. Produktionsweisen, Technik, wirtschaftliche Basis, gesellschaftliche Einrichtungen, Informationssysteme). So hat also jede Ebene der Großen Kette ein Innen und ein Außen in einer individuellen und einer kollektiven Form, womit wir vier Dimensionen (oder "Quadranten") einer jeden Daseinsebene haben (Abb. 2 zeigt Details der vier Quadranten; die Begriffe werden im Laufe der weiteren Eintragungen erklärt werden). Weil die beiden rechten Quadranten objektive Es-heiten sind, kann man sie zusammenfassen, weshalb ich die vier Dimensionen oft auf drei vereinfache: Ich, Wir und Es, oder erste Person, zweite Person und dritte Person (dies ist ebenfalls in Abb. 2 angegeben).
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Abbildung 2 Die vier Quadranten Diese drei grundlegenden Dimensionen kann man sich sehr einfach merken. Das Schöne ist im Auge des Betrachters, das "Ich" des Betrachters. Das Gute bezieht sich auf die moralischen und ethischen Transaktionen zwischen Ihnen und mir, das "Wir". Das Wahre bezieht sich üblicherweise auf die objektiven empirischen Tatsachen, das "Es". Damit beziehen sich die drei grundlegenden Dimensionen des "Ich", "Wir" und "Es" auch auf das Wahre, das Gute und das Schöne. Oder, anders ausgedrückt, auf Kunst, Ethik und Naturwissenschaften. Eine wirklich integrale Sichtweise würde also nicht einfach nur von Stoff, Körper, Geist, Seele und GEIST sprechen, weil Jede dieser Ebenen auch eine Dimension der Kunst, der Ethik und der Wissenschaft besitzt, die ausdrücklich mit berücksichtigt werden muss. So gibt es z. B. die Kunst des stofflichen/physischen Reichs (Naturalismus, Realismus), die Kunst des psychischen Bereichs (Surrealismus, Konzeptkunst, abstrakte Kunst) und die Kunst des seelischen und geistigen Reichs (kontemplative und transformierende Kunst). Ebenso gibt es eine Ethik, die im sinnlichen Reich (Hedonismus), im geistigen Reich (Reziprozität, Fairness, Gerechtigkeit) oder im spirituellen Bereich wurzelt (universelle Liebe und Mitgefühl). Und so weiter. Die Verbindung dieser drei Dimensionen (Ich, Wir und Es oder Kunst, Ethik und Wissenschaft oder das Wahre, Schöne und Gute) mit den Hauptebenen des Daseins (Stoff, Körper, Geist, Seele und GEIST) liefert also eine viel integralere oder holistischere Repräsentation der Wirklichkeit (s. Abb. 3. Ausführlicher ist dieses Thema erörtert in Naturwissenschaft und Religion).
Abbildung 3 Ebenen des Wahren, Guten und Schönen Das Fetzer-Institut möchte eine integrale Haltung gegenüber der Welt unterstützen und fördern – in Bildung, Medizin, Spiritualität, wissenschaftlicher Forschung, der Erkundung des Bewusstseins usw. Die Mitglieder des Vorstands fanden meine Dimensionen und Ebenen für die Diskussion hilfreich, und das Gespräch drehte sich einige Stunden um diese Konzeptionen. Anscheinend war ich heute besser, denn niemand flüsterte mir in der Vorhalle dringende Ratschläge ins Ohr.
Montag, 17. März – San Francisco Heute bin ich vom Inn Above Tide in Sausalito, wo Fetzer uns alle untergebracht hat, in das Hyatt beim Union Square in Downtown San
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Francisco umgezogen. Ich sitze hier im 36. Stockwerk in einem Restaurant über dem Hotel mit Blick auf die schönste Stadt Amerikas. Zu meiner Linken die Golden Gate Bridge, die die beschwingte Stadt mit der grünen Halbinsel Marin verbindet, zur Rechten die Bay Bridge, die zum langweiligen Oakland hinüberführt, und genau vor mir die Gefängnisinsel Alcatraz, ein schroffes Monument männlicher Aggressivität. Ich liebe San Francisco. Ich würde hier leben, wenn ich es mir leisten könnte und wenn nicht das Haus in Boulder so ideal zum Arbeiten wäre. Ich werde ein paar Tage in der Stadt herumspazieren, bevor ich wieder in die Tretmühle der Recherchen für Band 2 zurückmuss. Mein alter Freund Mitch Kapor ist auch in der Stadt; er wohnt auf der anderen Straßenseite im Camptom Place, ist aber gerade ein paar Tage bei einem Meditationsretreat. Als er gestern wegfuhr, bat ich ihn, kurz bei Frances und Roger vorbeizuschauen, damit ich sie miteinander bekannt machen könnte. Frances und Roger sind das wichtigste Paar in meinem Leben, und zwar schon seit zwei Jahrzehnten, eigentlich mein ganzes Leben als Erwachsener. Irgendwie finde ich immer noch, dass wir so etwas wie ein Trio sind. Mein Leben wäre so viel ärmer ohne sie; wir haben unsere größten Höhen und Tiefen und den größten Teil von demjenigen, was dazwischen liegt, gemeinsam erlebt. Für mich sind sie in fast jeder Hinsicht der Idealtypus von Menschen: hilfsbereit, scharfsinnig, gescheit. Beide haben hervorragende Bücher geschrieben, und ich bin immer wieder Zeuge gewesen, wie sie zahllose Stunden für einen, man kann es nicht anders nennen, selbstlosen Dienst am Nächsten geopfert haben. Es ist ihnen furchtbar peinlich, wenn ich so etwas sage, aber es muss doch gesagt sein. Mitchell und ich haben uns in Lincoln kennen gelernt. Er hatte Das Spektrum des Bewusstseins gelesen und kam einige Male zu mir, um darüber zu sprechen. Ich mochte ihn sofort – Mitch hat einen außerordentlich scharfen Verstand, ohne jemals arrogant zu sein; er strahlt einfach etwas Liebenswürdiges aus. Er war damals mit Jack Crittenden befreundet, dessen Meditationslehrer er auch war. Jack und ich waren gerade mit der Gründung des ReVision Journal beschäftigt, und diese Aufgabe führte mich schließlich nach Boston, wo Jack und Mitch lebten. Mitch drückte inzwischen wieder die Schulbank, machte ein Wirtschaftsdiplom am MIT und gründete dann Lotus, die erfolgreichste Software jener Zeit. Schließlich verkaufte er Lotus für viele Millionen, gründete mit anderen die Electronic Frontier Foundation und rief Kapor Enterprises ins Leben. Es ist immer nett, Freunde miteinander bekannt zu machen, und so plauderten Mitch, Frances, Roger und ich einen angenehmen Nachmittag miteinander.
Mittwoch, 19. März – San Francisco Heute Morgen habe ich einen Wagen gemietet und bin nach Muir Beach hinausgefahren, zu Sam Keens Haus, wo Treya und ich nach unserer Hochzeit zunächst wohnten (wir hatten das Haus von ihm gemietet; heute war niemand da). Ich saß eine Stunde auf der Veranda, vielleicht zwei. Es ist nichts vergessen. Sie ist immer noch da. Die Trauer ist tastbar, Teil der dunstigen Atmosphäre über dem Strand, die das Atmen schwer macht. Etwa zwei Wochen lang war ich nach ihrem Tod im selben Zustand der Herrlichkeit und Gnade, in dem sie gestorben war. Es gab nichts als strahlendes Gewahrsein, ohne Subjekt und Objekt, und alles entstand in Schönheit einfach so, wie es entstehen sollte. Ich bin mir gewiss, dass wir in dieser Zeit beisammen waren. Dann kehrte die Selbstkontraktion zurück, wie es ihre Gewohnheit ist, und ich war die meiste Zeit wieder Ken. Ich lasse den Blick über den Strand schweifen, und Szenen unseres gemeinsamen Lebens tauchen aus den Wolken auf und suchen mich heim. Wenn ich an Treya und mich denke, sehe ich uns immer in diesem Haus. Wir lebten hier einige Monate, bevor der Krebs zuschlug; dies war die einzige krebsfreie Episode in unserer ganzen gemeinsamen Zeit. Hier sehe ich sie in ihrer ganzen atemberaubenden Schönheit, ein Strahlen, das mitten ins Herz ging und die Seele ergriff und das in Worten sprach, deren Zärtlichkeit man nicht wiedergeben kann. Hier tanzten und weinten wir, hier liebten wir uns und lachten wir, einander zugetan wie dem Leben selbst. Und hier sprach ich zum ersten Mal jene furchtbaren Worte: "Terry hat Krebs", als ich in jener ersten grausamen, niederträchtigen Nacht Freunde und Verwandte telefonisch benachrichtigte. Aber ich denke gar nicht mehr so oft an sie, weil sie ein Teil desjenigen ist, das denkt. Sie fließt in meinem Blut und schlägt in meinem Herzen, sie ist für immer Teil von mir, weshalb ich sie mir nicht vorzustellen brauche, um mich an sie zu erinnern. Sie ist auf dieser Seite meiner Haut, nicht auf jener, nicht irgendwo da draußen fern von mir. Treya und ich sind miteinander aufgewachsen und miteinander gestorben. Wir waren immer zwei Seiten derselben Person. Ich glaube, dass das immer so bleiben wird.
Donnerstag, 20. März, San Francisco – Boulder Im Flugzeug zurück nach Boulder. Habe mit Mike Murphy und Sylvia zu Abend gegessen. Wir sprachen über die Integral Transformative Practice Centers, die er und George [Leonard] zurzeit aufbauen. Mike hat das Stanford Center for Research in Disease Prevention für die Dokumentation des Fortschritts und der Wirksamkeit der Integralen Schulung gewonnen. Dies ist eine wirklich wichtige Arbeit, wie ich glaube. Sie wird helfen, einen völlig neuen Ansatz der psychologischen und spirituellen Transformation zu definieren, der das Beste alter Weisheit und das Klügste modernen Wissens einbezieht. Klar, dass Murphy wieder einmal in vorderster Linie steht.
Freitag, 21. März – Boulder Ein wunderbarer Morgen – Boulder kann sehr schön sein. War einkaufen, habe den Kühlschrank wieder aufgefüllt, habe begonnen, die Stapel von Post durchzuarbeiten, 62 Nachrichten auf dem Anrufbeantworter usw. Das Tagebuch/Andy Warhol fertig gelesen. Nun kennen wir wenigstens die Geschwindigkeit der Seichtheit. Aber irgendwie mag ich Warhol (und seine Kunst). Er ist der Flachland-Künstler par excellence, die Frucht eines Zweiges am Baum von Duchamp. Seine Werke sind nichts als klare und kraftvolle Oberfläche, alarmierend und elektrisch, und darunter verbirgt sich rein gar nichts. Ich mag Flachland nicht, aber man muss der Art Bewunderung zollen, wie er es repräsentiert. "Oberfläche war alles, was alle irgendwie bedeutsam fanden." Warhol ist wirklich ein großer Protagonist der aggressiven, virulenten, gnadenlosen Seichtheit der Postmoderne.
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Sonntag, 23. März Ich sitze auf der Veranda und betrachte den Sonnenuntergang. Aber es gibt keinen Betrachter, nur die langsam versinkende Sonne. Aus reinster Leerheit leuchtet strahlende Klarheit. Der Gesang der Vögel dort drüben. Wolken, einige wenige, über mir. Aber es gibt kein "Über", kein "Unter", kein "Da" und kein "Drüben", weil es kein "Ich" gibt, für das diese Richtungsangaben einen Sinn hätten. Es ist einfach Das. Schlichtes, klares, leichtes, müheloses, allgegenwärtiges Das. Ich erkannte die ganze Bedeutsamkeit der Meditationspraxis, als ich die folgende Zeile des großen Sri Ramana Maharshi las: "Was nicht im traumlosen Tiefschlaf gegenwärtig ist, ist nicht wirklich." Dies ist eine schockierende Aussage, weil im Zustand des traumlosen Tiefschlafs nichts, buchstäblich nichts ist. Und genau darauf wollte er hinaus. Die höchste Wirklichkeit (oder der GEIST) kann Ramana zufolge nicht etwas sein, das im Bewusstsein auftaucht und dann wieder verschwindet. Es muss etwas sein, das beständig und dauerhaft ist oder, technisch ausgedrückt, etwas, das zeitlos ist und deshalb zu jedem Zeitpunkt voll gegenwärtig ist. Deshalb muss die höchste Wirklichkeit auch im traumlosen Tiefschlaf voll gegenwärtig sein, und alles, was in diesem Zustand nicht gegenwärtig ist, ist nicht die höchste Wirklichkeit. Dies verunsicherte mich zutiefst, weil ich schon mehrere Kensho- oder Satori-ähnliche Erfahrungen (Erfahrungen des Einen Geschmacks) gehabt hatte, die aber alle auf den Wachzustand beschränkt gewesen waren. Und schließlich existierten die meisten Dinge, die mir lieb waren, im Wachzustand. Aber es ist auch klar, dass der Wachzustand nicht beständig ist. Er kommt und geht im Rhythmus von 24 Stunden. Und doch gibt es den großen Weisen zufolge etwas in uns, das immer bewusst ist, das jederzeit und in allen Zuständen, im Wachen, Träumen und Schlafen ganz buchstäblich bewusst ist und gewahrt. Und dieses allgegenwärtige Gewahren ist der GEIST in uns. Dieser zugrunde liegende Strom eines konstanten Bewusstseins (oder nichtdualen Gewahrens) ist ein unmittelbarer und ununterbrochener Strahl des reinen GEISTES selbst. Es ist unsere Verbindung zur Gottheit, unser direkter "Draht" zu Gott. Wenn man also seine höchste Identität mit dem GEIST erkennen will, muss man sich in diesen Strom eines konstanten Bewusstseins hineinbegeben und in allen Zustandsveränderungen – Wachen, Träumen, Schlafen – in ihm bleiben. Dadurch befreit man sich erstens von der ausschließlichen Identifikation mit einem dieser Zustände (dem Körper, dem Geist, dem Ich, der Seele), und zweitens kann man das erkennen, was in all diesen Zuständen konstant – oder zeitlos – ist, und sich mit ihm identifizieren, nämlich dem Bewusstsein als solchem, das nichts anderes ist als der zeitlose GEIST. Ich hatte schon etwa 20 Jahre lang recht intensiv meditiert, als ich auf diese Zeile Ramanas stieß. Ich empfing Unterweisung in Zen von Katagiri und Maezumi, in Vajrayana von Kalu und Trungpa, in Dzogchen von Pema Norbu und Chagdud, und ich hatte mich – mal kürzer, mal länger – mit Vedanta, TM, Kaschmir-Shaivismus, christlicher Mystik, Kabbala, Caodaismus, Sufismus und vielem anderem mehr befasst. Ich entdeckte Ramanas Aussage während eines intensiven Dzogchen-Retreats mit meinem wichtigsten Dzogchen-Lehrer, Chagdud Tulku Rinpoche. Rinpoche betonte ebenfalls, wie wichtig es ist, den Spiegel-Geist auf den Traum- und Tiefschlafzustand auszudehnen. Es gelang mir dann immer wieder, kurzzeitig diese Konstanz des nichtdualen Gewahrens in allen Zuständen zu erreichen, was mir Rinpoche bestätigte. Aber erst ein Jahr später kam dies während eines äußerst intensiven Zeitraums von elf Tagen zur Vollendung, in dem das getrennte Selbst offenbar in einer radikalen, tiefen und gründlichen Weise starb. Ich schlief während dieser elf Tage nicht, oder vielmehr: Ich war elf Tage und Nächte lang bei klarem Bewusstsein, obwohl Körper und Geist durch Wachen, Träumen und Schlafen hindurchgingen. Inmitten der Veränderungen war ich unverändert; es gab kein Ich, das sich hätte ändern können, nur unbewegtes leeres Bewusstsein, den leuchtenden Spiegel-Geist, den Zeugen, der eins mit allem Bezeugten war. Ich kehrte einfach zu demjenigen zurück, was ich bin, und so ist es seither mehr oder weniger geblieben. Sobald dieses konstante nichtduale Bewusstsein in einem Menschen zutage tritt, erwacht ihm inmitten der manifesten Welt eine neue Bestimmung. Man hat seinen eigenen Buddha-Geist, seine eigene Gottheit, seine eigene formlose, raumlose, zeitlose, unendliche Leerheit entdeckt, seinen eigenen Atman, der Brahman ist, seinen Kether, sein Christus-Bewusstsein, seine leuchtende Schechina – so viele Bezeichnungen für den Einen Geschmack. Dies ist unzweifelhaft so. Genau dies ist die eigene wahre Identität, reine Leerheit oder reines, eigenschaftsloses Bewusstsein als solches, und so wird man von allem Schrecken und allem Grauen befreit, das notwendigerweise entsteht, wenn man sich mit einem kleinen Subjekt in einer Welt kleiner Objekte identifiziert. Wenn man seine formlose Identität als Buddha-Geist, als Atman, als reiner GEIST oder Gottheit gefunden hat, begibt man sich mit diesem konstanten, nichtdualen, allgegenwärtigen Bewusstsein wieder in die geringeren Zustände, den feinstofflichen Geist und den grobstofflichen Körper hinein und belebt sie mit einem neuen Leuchten. Man bleibt nicht nur Formlosigkeit und Leerheit. Man entleert sich von der Leerheit: Man gießt sich in den Geist und die Welt aus, man erschafft sie dabei und begibt sich in sie alle gleichermaßen hinein, vor allem und insbesondere aber in jenen besonderen Geist und Körper, der "man" ist (und der in meinem Fall Ken Wilber heißt); dieses niedrigere Selbst wird zum Vehikel des GEISTES, der man ist. Dann entstehen alle Dinge einschließlich des eigenen kleinen Geistes und Körpers, der eigenen kleinen Gedanken und Gefühle in der großen Leerheit, die man ist, und sie befreien sich in diesem Entstehen zu ihrer eigenen wahren Natur, weil man sich mit nichts von all dem identifiziert, sondern all dies in der Leerheit und Offenheit, die man jetzt ist, spielen und entstehen lässt. Man erwacht als radikale Freiheit und singt die Lieder der leuchtenden Befreiung, strahlt eine Unendlichkeit aus, die zu offensichtlich ist, als dass man sie sehen könnte, und schlürft einen Ozean der Wonne. Man sieht den Mond als Teil des eigenen Körpers, verbeugt sich vor der Sonne als Teil des eigenen Herzens, und all dies ist "einfach so". In alle Ewigkeiten gibt es nur Das. Und doch hat man diese Freiheit nicht gefunden oder in irgendeiner Weise erlangt. Es ist einfach dieselbe Freiheit, die schon immer im Hause des reinen Zeugen wohnte. Man erkennt einfach das reine und leere Selbst an, das radikale Ich-Ich, das von Anfang an und immer schon das eigene natürliche Gewahren war, das man aber nicht bemerkte, weil man sich dem trunken machenden Film des Lebens hingegeben hatte.
Montag, 24. März Mit dem Erwachen des konstanten Bewusstseins wird man so etwas wie ein göttlicher Schizophrener, erfährt man, populär ausgedrückt, eine "Bewusstseinsspaltung", weil man Zugang zum Zeugen und zum Ich hat. In Wirklichkeit handelt es sich um eine "BewusstseinsVereinigung", aber es hört sich an wie eine Spaltung, weil man sich einerseits des konstanten Zeugen oder Geistes in einem bewusst ist, andererseits aber auch des Films des Lebens, des Egos und aller seiner Höhen und Tiefen. Man fühlt nach wie vor Schmerz, Leid und Trauer, aber sie können einen nicht mehr von ihrer Bedeutsamkeit überzeugen – man ist nicht mehr Opfer des Lebens, sondern dessen Zeuge.
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Es ist sogar so, dass man sich auf seine Gefühle viel intensiver einlassen kann, weil man keine Angst mehr vor ihnen hat. Der Film des Lebens wird lebhafter und bunter, weil man ihm weder nachjagt noch ihn vermeidet und nicht mehr versucht, ihn zu "verbessern". Man dreht die Lautstärke nicht mehr zurück. Es kann sogar sein, dass man heftiger weint, lauter lacht, höher springt. Wunschloses Gewahren bedeutet nicht, dass man seine Gefühle aufgibt; es bedeutet im Gegenteil, dass man bis in die tiefsten Tiefen der Unendlichkeit fühlt und lacht und weint und liebt, bis es wehtut. Das Leben springt geradewegs aus der Leinwand heraus, und man ist ganz eins mit ihm, weil man nicht mehr vor ihm zurückschreckt. Wenn man einen Traum hat und glaubt, dass er Wirklichkeit sei, kann dies sehr beängstigend werden. Nehmen wir an, man träumt, dass man auf einem Drahtseil über die Niagarafälle geht. Wenn man abstürzt, bedeutet dies den sicheren Tod. Man geht also sehr langsam und vorsichtig. Nehmen wir nun an, dass man luzide träumt und weiß, dass es nur ein Traum ist. Wie verhält man sich dann? Geht man noch vorsichtiger und langsamer? Nein, man beginnt vielmehr, auf dem Seil zu hüpfen, man macht Saltos, springt umher, man amüsiert sich, weil man weiß, dass es nicht wirklich ist. Wenn man erkannt hat, dass es ein Traum ist, kann man es sich leisten, zu spielen. Dasselbe geschieht, wenn man erkennt, dass das gewöhnliche Leben nur ein Traum ist, nur ein Film, ein Spiel. Man wird nicht vorsichtiger, ängstlicher, zurückhaltender. Man beginnt, umherzuhüpfen und Saltos zu machen, weil man weiß, dass es ein Traum ist, dass es reine Leerheit ist. Man fühlt sich nicht weniger, sondern mehr – weil man es sich leisten kann. Man hat keine Angst mehr vor dem Tod und deshalb auch nicht mehr vor dem Leben. Man wird radikal und wild, intensiv und lebendig, schockierend und töricht. Man lässt alles über sich ergehen, weil alles der eigene Traum ist. Das Leben gewinnt dann seine wahre Intensität, seine lebhafte Luminosität, seine radikale Glut. Schmerz ist schmerzlicher und Glück ist glücklicher, Freude ist freudiger und Trauer ist noch trauriger. Alles wird im Spiegel-Geist strahlend lebendig, dem Geist, der nichts erstrebt und nichts vermeidet, sondern einfach Zeuge des Spiels ist und es sich daher leisten kann, als Beobachter selbst zu spielen. Wo könnte noch eine Motivation entspringen, wenn man alles als den Traum des eigenen höchsten Selbst sieht? Wovon könnte man in dieser spielerischen Traumwelt noch bewegt werden? Alles im Traum ist auf einer sehr tiefen Ebene letztlich nur Spaß, mit einer Ausnahme: Wenn man sieht, wie Freunde leiden, weil sie den Traum für Wirklichkeit halten, dann möchte man ihr Leiden lindern, dann möchte man, dass auch sie erwachen. Sie leiden zu sehen ist kein Spaß. Deshalb entsteht im Herzen des Erwachten ein tiefes und heftiges Mitgefühl, und er sieht es als seine wichtigste Aufgabe an, andere zu erwecken, um sie von der Trauer und dem Bedauern, der Qual und dem Schmerz, dem Schrecken und der Furcht zu befreien, die dadurch entstehen, dass man den dummen Traum des Lebens so furchtbar ernst nimmt. Man ist ein göttlicher Schizophrener, man hat eine "Bewusstseinsspaltung" in dem Sinne, dass man mit dem reinen Zeugen und der Welt des Ich-Films gleichermaßen Kontakt hat. In Wirklichkeit bedeutet dies aber, dass man sein Bewusstsein ganz gemacht hat, weil diese beiden Welten in Wirklichkeit nicht-zwei sind. Das Ich ist nur der Traum des Zeugen, der Film, den der Zeuge aus seiner eigenen unendlichen Fülle einfach deshalb erzeugt, damit er sich etwas im Kino anschauen kann. An diesem Punkt entsteht das ganze Spiel innerhalb des eigenen konstanten Bewusstseins. Es gibt kein Innen und kein Außen, kein Hier und kein Dort. Das nichtduale Universum des Einen Geschmacks entsteht als spontane Geste der eigenen wahren Natur. Man kann die Sonne schmecken und den Mond verschlucken, und Jahrhunderte passen in die eigene Handfläche. Das reine Ich-Ich, die große Ich-bin-heit atmet in die Unendlichkeit und erschafft einen Kosmos als das Lied seines Selbst, und Ozeane des Mitgefühls rinnen als Tränen vom eigenen ursprünglichen Antlitz. Heute Nacht habe ich die Abspiegelung des Mondes auf einem kühlen, kristallklaren Teich gesehen, und sonst geschah gar nichts.
Freitag, 28. März Ein kleiner, sanft murmelnder Bach fließt hinter meinem Haus; wenn man mit den Ohren des Lichts hört, kann man ihn richtiggehend singen hören. Die Sonne spielt auf dem grünen Laub, lässt überall Smaragde aufsprühen, und der Geist spricht in solchen Zeiten etwas lauter. "Ich werde ein durchscheinender Augapfel; ich bin nichts, ich sehe alles." Es gibt hier nichts Festes; alles Harte zerfließt in Luft, alles Starre erweicht ins Durchscheinende, die Welt ist durchlässig, und zwar nicht dem Anschein, sondern dem Wesen nach. Ich verschwinde in der durchscheinenden Darbietung, und wir sind nichts als Licht in Licht, Bilder in Bildern und treiben mühelos auf einem Meer der heiteren Gelassenheit. Die Natur ist die äußere Form des Buddha, die Natur ist der stoffliche Leib Christi. Nehmt und esst, denn dies ist mein Fleisch; nehmt und trinkt, denn dies ist mein Blut. Die liebe arme Natur, Ausdruck des Wirklichen, Impuls des Unendlichen, Schauglas der Ewigkeit, ist nur eine leuchtende Oberfläche auf einem Meer unendlichen Geistes, das in der Tageshelle des Göttlichen tanzt und nur der Nacht des Nichtwissens verborgen bleibt. Wer das Zeitlose nicht kennt, hat nichts als die Natur; wer die Unendlichkeit nicht kostet, dem richtet die Natur das letzte Abendmahl. Wer nach Erlösung verlangt, dem gaukelt die Natur vor, dass sie allein wirklich sei. Für diejenigen aber, die Befreiung erlangt haben, ist Natur die leuchtende Schale, in der eine tiefere Wahrheit ruht. Deshalb: Natur, Seele und Geist, Nirmanakaya, Sambhogakaya und Dharmakaya, Grobstoffliches, Feinstoffliches und Kausales sind eine ewige Trinität im Gewebe des Kosmos, niemals verloren, niemals gefunden. Nur heute nicht, wo wir alle Licht im Licht und Bild im Bild sind, mühelos auf einem Meer der heiteren Gelassenheit dahintreibend.
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April Nun will ich euch das Wesen dieses absoluten Zeugen erläutern. Wenn ihr dieses erkennt, dann werdet ihr von den Banden des Nichtwissens befreit sein und Befreiung erlangen. Es gibt eine aus sich selbst seiende Wirklichkeit, die die Grundlage unseres Ichbewusstseins ist. Diese Wirklichkeit ist der Zeuge der Zustände des Ichbewusstseins und des Körpers. Diese Wirklichkeit ist der beständige Zeuge in allen drei Bewusstseinszuständen – Wachen, Träumen und traumloser Tiefschlaf. Sie ist euer wirkliches Selbst. Diese Wirklichkeit durchzieht das Universum. Sie allein leuchtet. Das Leuchten des Universums stammt von dieser Wirklichkeit. Ihr Wesen ist zeitloses Gewahren. Sie erkennt alle Dinge, bezeugt alle Dinge, vom Ich bis zum Körper. Sie ist der Zeuge von Lust und Schmerz und der Sinnesobjekte. Dies ist dein wirkliches Selbst, das Höchste Wesen, der Alte. Sie erfährt unaufhörlich unendliche Befreiung. Sie ist unbewegt, sie ist der Geist selbst. Shankara
Mittwoch, 2. April Als der formlose Zeuge zu verweilen, bringt sowohl eine radikale Befreiung als auch eine unabweisbare Verpflichtung mit sich. Eine Befreiung, insofern man frei ist von der Versklavung an die Welt der Objekte, die bloß leben und sterben und dabei leiden müssen, und eine Verpflichtung, insofern aus diesem unendlichen Raum der Befreiung der Antrieb erwacht, anderen auf dem Weg zur selben Erlösung zu helfen, die nur ihr eigenes wahres Selbst und ihre ursprüngliche Verfassung ist: reine Leerheit, reiner Geist, reine Gottheit. Das höchste metaphysische Geheimnis liegt darin, dass es keine anderen gibt, die man erlösen müsse; das Problem liegt darin, dass diese das nicht wissen, und dieses Nichtwissen ist letztlich der Motor des unbarmherzigen Karussells von Geburt und Tod und unsäglichem Leid. Patanjali mahnt uns: "Nichtwissen ist die Identifikation des Sehers mit den Instrumenten des Sehens." Statt Zeuge des Körpers zu sein, identifizieren wir uns mit ihm. Statt Zeuge des Ichs zu sein, identifizieren wir uns mit ihm. Statt Zeuge des Leidens zu sein, identifizieren wir uns mit ihm. Und es ist klar, dass man von demjenigen beherrscht wird, mit dem man sich identifiziert, dass man von demjenigen gequält wird, was man nicht transzendiert hat. So ketten wir uns an den Marterpfahl des Elends, und so liefern wir uns der willkürlichen Tyrannei von Raum und Zeit aus. Ein Dichter kleidete die Botschaft des Buddha in die folgenden Worte: Du leidest an dir selbst; kein anderer zwingt dich. Kein anderer hält dich, der du lebst und stirbst und auf dem Rad umherwirbelst, seine Speichen der Qual umarmst und küsst, seinen Radkranz der Tränen, seine Nabe des Nichts.
Donnerstag, 10. April Alec Tsoucatos ist ein alter Freund von Treya und jetzt auch ein guter Freund von mir. Er lehrt an verschiedenen Colleges der Gegend Wirtschaftswissenschaften, und hin und wieder leitet er eine Ken-Wilber-Studiengruppe. Er kam mit seiner Gruppe zu mir, und ich lud noch einige weitere Freunde ein, u. a. Kate Olson, eine Regisseurin beim Sender PBS, und Phil Jacobson, Director of Continuing Education am Naropa-Institut. Irgendwann am Abend kam das Gespräch auf Meditation und die dabei auftretenden Veränderungen von Gehirnwellen. Ein junger Mann, der Psychiatrie studiert, bat mich, ein Video zu zeigen, auf dem ich bei der Meditation zu sehen bin, während ich an ein EEGGerät angeschlossen bin. Er glaubte nicht, dass Meditation die Gehirnwellen deutlich verändern könne, und wollte einen "Beweis" dafür. Auf dem Video bin ich an ein EEG-Gerät angeschlossen, das Alpha-, Beta-, Theta- und Delta-Wellen in der linken und rechten Gehirnhälfte aufzeichnet. Alpha-Wellen entsprechen dem wachen, aber entspannten Bewusstsein, Beta-Wellen intensivem und analytischem Denken. Theta-Wellen entstehen normalerweise nur im Traumzustand und manchmal in Zuständen intensiver Kreativität, und Delta-Wellen sind normalerweise nur im Zustand des traumlosen Tiefschlafs zu beobachten. Alpha- und Beta-Wellen sind also dem grobstofflichen Reich zugeordnet, Theta-Wellen dem feinstofflichen und Delta-Wellen dem kausalen Reich. Man könnte auch sagen, dass Alpha- und Beta-Wellen Ich-Zustände anzeigen, Theta-Wellen Seelen-Zustände und Delta-Wellen Geist-Zustände. Delta-Wellen haben vermutlich etwas mit dem Zustand des reinen Zeugen zu tun, den die meisten Menschen nur im traumlosen Tiefschlaf erleben. Am Anfang des Videos bin ich an der Maschine zu sehen; ich befinde mich im normalen Wachbewusstsein, weshalb man in beiden Hemisphären eine große Alpha- und Beta-Aktivität sieht. Außerdem sieht man aber auch sehr viele Delta-Wellen; in beiden Hemisphären liegen die Delta-Anzeigen im Maximum-Bereich, was vermutlich auf den Zustand der konstanten oder stabilen Zeugenschaft zurückzuführen ist. Dann versuche ich, in eine Art Nirvikalpa-Samadhi – vollständiges Erlöschen der Geistestätigkeit – einzutreten, und innerhalb von vier bis fünf Sekunden gehen alle Anzeigen des Geräts vollständig auf null zurück. Es sieht so aus, als ob derjenige, der da angeschlossen ist, absolut hirntot sei. Keine Alpha-, keine Beta-, keine Theta-Wellen; nur die Delta-Wellen sind noch im Maximum. Nach einigen Minuten dieses Zustands beginne ich mit einer Mantra-Visualisierungstechnik, der Yidam-Meditation, die für mich seit jeher eine Übung der feinstofflichen Ebene ist, und schon werden neben den weiter im Maximum bleibenden Delta-Wellen viele ThetaWellen sichtbar. Die Tatsache, dass bei einer völlig wachen Versuchsperson Theta-Wellen auftreten, was normalerweise nur im Traumzustand der Fall ist, und Delta-Wellen, die normalerweise nur im Tiefschlaf auftreten, scheint auf eine Gleichzeitigkeit von grobstofflichem, feinstofflichem und kausalem Zustand hinzuweisen (z.B. Turiyatita). Auf alle Fälle ist dies ein auffälliger Befund.
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Ich zog also das Video heraus, und wir sahen es uns gemeinsam an. Sam meinte, dass ich mich mit dieser Vorführung absolut lächerlich mache, dass es eine alberne Selbstbeweihräucherung sei. Mag sein, aber für mich ist es einfach ein objektives Ereignis. Schade, dass die Versuchsperson kein anderer ist, denn die Ergebnisse sind für den durchschnittlichen Betrachter verblüffend. Sie wecken Interesse, und zwar viel mehr als meine Bücher. Das Video überzeugte auch den angehenden Psychiater, nicht anders als praktisch alle Wissenschaftler, denen ich das Band vorführe. Ich hatte mit diesen Videos – Eintritt in verschiedene Formen meditativer Zustände und Aufzeichnung der damit verbundenen Gehirnwellen mittels EEG – im Rahmen der Erarbeitung eines integralen Ansatzes zur Untersuchung höherer Zustände und Ebenen des Bewusstseins begonnen, um eine Korrelation zwischen Oben Links (subjektives Bewusstsein) und Oben Rechts (objektives Gehirn) herzustellen. Ich habe dabei festgestellt, dass es tatsächlich markant unterschiedliche Gehirnwellenmuster für verschiedene Formen und Ebenen der Meditation gibt. Zumindest könnte dies als einfaches Pilotprojekt für fundiertere und kontrollierte Studien dienen. Charles Alexander und die TM-Leute führen natürlich solche Forschungen mit einem viel raffinierteren Instrumentarium durch, und ich bin ein großer Fan ihrer Arbeit. Die meisten meiner Freunde, die dieses Video gesehen haben – Roger Walsh, Frances Vaughan, Mike Murphy, Tony Schwartz und Lex Hixon –, haben die Nützlichkeit eines solchen allgemeinen Forschungsansatzes sofort erkannt. Jedenfalls werden die meisten nach der Vorführung dieses Videos sehr ernsthaft, und zwar, wie ich glaube, in einem guten Sinne. Es zeigt ihnen, dass hier wirklich etwas sehr Tiefgreifendes geschieht, dass das ursprüngliche Gewahren nicht einfach eine Idee ist, die man auswendig lernt, sondern das Ergebnis konkreter Praxis, die den Menschen wirklich in seinem Inneren verändert. Manche Menschen werden hierdurch entmutigt, weil sie glauben, dies nicht zu können; die meisten Menschen werden jedoch ermutigt, und zwar zu einem echten spirituellen Übungsweg, bei dem sie den Strom des konstanten Bewusstseins durch alle drei Zustände, Wachen, Träumen und Tiefschlaf, verfolgen und so den konstanten Strahl des GEISTES finden können, der alles und jeden in einer unzweifelhaften Weise anspricht.
Samstag, 12. April Sam will morgen zu einem kurzen Besuch vorbeikommen. Ich habe deshalb Reb Zaiman Schacher-Shalomi und seine Frau Eve eingeladen, um sie mit Sam bekannt zu machen. Zaiman ist ein schöner, heiligmäßiger Mann mit einer großen Ausstrahlung. Er steht an der Spitze des Jewish Renewal Movement und ist ein großer Gelehrter, ein profunder Kenner der Kabbala und der jüdischen Mystik. Er ist auch derjenige, der Michael Lerner zum Rabbi gemacht hat. Michael ist für mich ein vollkommenes spirituelles Ebenbild von Zaiman – sie haben beide dasselbe Zwinkern in den Augen. Michaels neues Buch, The Politics of Meaning, ist ein bedeutender Versuch, Liberalismus und Spiritualität zusammenzubringen (wie auch seine Zeitschrift Tikkun). Als Michael jedoch das letzte Mal in Boulder war, erzählte er mir, dass er keine Freude mit dem Buch hatte, weil es einschneidend redigiert werden musste, um es "gemeinverständlicher" zu machen (diesbezüglich ist er mit seinem vorigen Buch glücklicher, Jewish Renewal). Michaels Geschichte ist ein abschreckendes Beispiel dafür, wie die liberalen Medien in den Vereinigten Staaten mit allem "Spirituellen" umgehen. Meine eigene Haltung könnte man wohl als postativ und postliberal bezeichnen. Ich arbeite an mehreren Büchern zu genau diesem Thema. Liberalismus und ativismus haben ihre Stärken und Schwächen, und es kommt heute darauf an, ihre Stärken miteinander zu verbinden und ihre Schwächen über Bord zu werfen. Die große Stärke des Liberalismus liegt darin, dass er die individuellen Rechte des Menschen bekräftigt. Seine große Schwäche ist seine krasse Scheu vor dem Geist. Der moderne Liberalismus entstand während der Aufklärung hauptsächlich als – völlig berechtigte – Gegenströmung zur mythischen Religion. Dann aber wurde der Liberalismus Opfer der klassischen Prä/Trans-Verwechslung: Er vertrat die Auffassung, dass alle Spiritualität nichts als prärationaler Mythos sei, und verwarf deshalb auch gleich alle transrationale Spiritualität, was eine absolute Katastrophe war (Reagan hätte gesagt: Er schüttete das Kind mit dem Abwasch aus). Der Liberalismus versuchte, Gott zu töten und den transpersonalen Geist durch einen egoistischen Humanismus zu ersetzen, und wie sehr ich in meinen sozialen Werten Liberaler bin – dieser Horror vor allem Göttlichen ist die unschöne Kehrseite des Liberalismus. Eine der Stärken des typischen ativismus andererseits ist seine Hinwendung zum Geist; eine seiner Schwächen liegt darin, dass dieser "Geist" praktisch immer prärational, mythisch, fundamentalistisch und egozentrisch ist. Deshalb sind ative ein wenig zu begierig, einem ihre Überzeugungen und ihre "Familienwerte" aufzudrängen, und weil sie Gott auf ihrer Seite haben, fühlen sie sich in ihrer Haltung sehr sicher. Wo das ative Lächeln etwas intensiver wird, ist es nicht mehr weit bis zu den Hexenjagden. Es käme also darauf an, das Beste von beidem zu nehmen, das heißt individuelle Menschenrechte und eine spirituelle Orientierung, indem man liberale humanistische Werte in einem transrationalen, nicht prärationalen Geist aufzufinden versucht. Eine solche Spiritualität wäre transliberal, evolutionär und progressiv, statt präliberal, reaktionär und regressiv. Sie wäre auch im weitesten Sinne politisch, indem ihre größte Motivation, das Mitgefühl, in soziales Handeln umgesetzt wird. Allerdings wird eine postative, postliberale Spiritualität nicht zu einem Zwangs-Instrument für die Allgemeinheit umfunktioniert (transrationale Spiritualität behält die rationale Trennung von Kirche und Staat sowie die liberale Forderung bei, dass der Staat keine bestimmte Version des "rechten Lebens" fördern oder bevorzugen darf). Diejenigen, die die Welt "transformieren" wollen, indem sie uns allen ihr neues Paradigma, ihren jeweiligen Gott oder ihre jeweilige Göttin, ihre Version von Gaia oder ihre Lieblingsmythologie aufzwingen wollen, sind per definitionem im schlimmsten Sinne reaktionär und regressiv. Sie sind präliberal, nicht transliberal, weshalb sie ihre jeweilige Version einer Hexenjagd notfalls immer noch für legitim halten. Eine wahrhaft transliberale Spiritualität hat die Form eines kulturellen Anreizes, eines Hintergrund-Kontexts, der nichts verhindert und nichts erzwingt, sondern vielmehr einfach einer echten Spiritualität Freiraum gibt (eine weitere Erörterung dieses Themas siehe unter dem Eintrag vom 10. Dezember). Michael Lerner arbeitet an diesem überaus wichtigen Thema, und ich unterstütze ihn nachdrücklich. Seine Organisation wollte EKL ihren Ethik-Preis verleihen, aber ich komme kaum aus dem Haus, weshalb wir Überlegungen anstellen, ob ich vielleicht eine Kolumne für Tikkun schreiben könnte. Ich weiß nicht, ob ich das schaffe, aber es würde mich sehr reizen. Die abschreckende Geschichte: Michael ist mit Bill und Hillary13 befreundet, und seine "Politics of Meaning" wurde vor allem von Hillary unterstützt. Die liberale Presse entdeckte dies und hatte ihr gefundenes Fressen: "Sankt Hillary", "Michael war Hillarys Guru" usw. Das traf Michael sehr. Die Presse hielt sich die Sache noch eine ganze Weile warm, bis – ausgerechnet Jean Houston die Wogen erneut hochschlagen ließ. Aus einer einfachen Visualisierungstechnik, wie sie Tausende von Therapeuten jeden Tag anwenden, wurde plötzlich, dass Hillary Eleanor Roosevelt "gechannelt" habe, während sie nichts weiter als eine kreative Visualisierung durchgeführt hatte. Aber alles Innere ist der liberalen Presse so grotesk fremd, dass sie das Thema nicht ohne Kichern und Glucksen erörtern kann.
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Deshalb ist Naturwissenschaft und Religion ein wichtiger Testfall, zumindest aus meiner Sicht. Ich habe bei der Abfassung ausdrücklich die Ängste der Liberalen berücksichtigt und versucht, sie bei dieser Geisterbahnfahrt, wie sie es sehen müssen, fürsorglich bei der Hand zu nehmen. Im letzten Kapitel betone ich ausdrücklich, wie wichtig es ist, die Errungenschaften der liberalen Aufklärung zu bewahren. Ich skizziere dort eine transliberale, nicht antiliberale Auffassung, deren Ziel die Verbindung der Aufklärung des Westens (politische Freiheit) mit der Aufklärung des Ostens (spirituelle Freiheit) ist. Mit "Aufklärung des Ostens" ist natürlich jede echte spirituelle Transformation gemeint, ob sie aus Ost oder West, Nord oder Süd kommt. Ziel muss es sein, die rechtlichen, politischen und bürgerlichen Freiheiten des modernen Westens als schützende Plattform zu nutzen, auf der eine transformierende spirituelle Verwirklichung (und das damit verbundene Mitgefühl) gedeihen können. Deshalb ist für mich Naturwissenschaft und Religion, das mit dieser Botschaft endet, ein Testfall, wie weit sich Liberale in Richtung einer transrationalen Spiritualität bewegen können.
Sonntag, 13. April Gestern Abend bin ich mit einer sehr netten, sehr schönen Frau ausgegangen, Marci Walters. Wir gingen in ihr Lieblingsrestaurant, Mataam Fez (marokkanisch), saßen auf dem Fußboden, aßen mit den Fingern, und ich versuchte, mich nicht zu bekleckern. Sie ist graduierte Studentin am Naropa-Institut und hat zwei Jobs nebenbei (sie arbeitet mit Behinderten). Sie wurde nach Beendigung der Schule in das Peace Corps aufgenommen. Sie meditiert viel, macht Krafttraining und hat an über einem Dutzend Marathonläufen und sechs Triathlons teilgenommen. Ich glaube, wenn ich mich nicht benehme, wird sie mich durch die Mangel drehen.
Mittwoch, 16. April Der normale Tagesablauf spielt sich wieder ein. Ich werde zwischen drei und fünf Uhr morgens wach, meditiere ein oder zwei Stunden, setze mich dann sofort an den Schreibtisch und arbeite bis ein oder zwei Uhr nachmittags. Welche Meditation ich durchführe, ist unterschiedlich, doch ist die Grundform die "Morgenübung" oder das "Yoga des höchsten Gurus", wobei dieser höchste Guru die wahre Natur des eigenen Geistes ist. Die Übung geht wie folgt: Nach dem Erwachen bzw. nach dem Übergang vom Traumzustand in den Wachzustand blicke direkt in deinen Geist, suche direkt nach der Quelle des Bewusstseins selbst. Frage: "Wer bin ich?", wenn du willst, oder übe, direkt den Betrachter zu betrachten. Bei dieser Suche nach dem Selbst verschwindet das Selbst; es löst sich in radikale Leerheit auf, und das Bewusstsein bleibt als absolute Freiheit zurück, ungebunden und unbegrenzt, ungeboren und unsterblich, ungesehen und unerkannt. In dieser großen Leerheit taucht die feinstoffliche Seele auf, aber das bist du nicht. In dieser großen Leerheit taucht das grobstoffliche Ich auf, aber das bist du nicht. In dieser großen Leerheit tauchen der grobstoffliche Körper, die Natur und die Materie auf, aber auch das bist du nicht. Du bist der strahlende Ich-Bin, der vor allen Welten ist, die du mit einem einzigen Blick umfasst, aber du bist nicht von diesen geschieden. Deine Gnade wird die Sonne aufgehen lassen, der Mond wird deine Herrlichkeit widerspiegeln, und du wirst überhaupt nicht existieren in dieser großen weiten Leerheit, die allein ist.
Donnerstag, 17. April In diesem transzendenten Zustand sind die Delta-Wellen vermutlich auf einem Maximum, und wenn man beim Übergang in den Wachzustand einen gewissen Zugang zu diesem Spiegel-Geist oder stabilen Bezeugen beibehalten kann, werden vermutlich auch die Delta-Wellen weiterhin aktiv bleiben. Dies scheint auf dem Video der Fall zu sein. Jedenfalls ist dies ein fruchtbares Forschungsgebiet. Wenn man aus diesem kausalen oder nichtmanifesten Zustand heraustritt (dem Zustand des reinen Erlöschens: der traumlose Tiefschlaf, Nirvikalpa-Samadhi, Ayn, Jnana-Samadhi oder reines Gewahren ohne Objekt, um nur einige Variationen zum Thema zu geben), kann man das Auftauchen des subtilen und mentalen Reichs unmittelbar beobachten, und es ist offensichtlich, dass diese feinstofflichen Reiche eine Art Kondensierung, Kristallisation oder Zusammenziehung des kausalen Reichs sind. Das subtile Reich fühlt sich wie eine Geste des kausalen Geistes an, wie etwa die geballte Faust eine Geste der Hand ist. Tritt man aus dem feinstofflichen Zustand heraus (Savikalpa-Samadhi, archetypische Erleuchtung, Traumzustand, schöpferische Schau, um nur einige Varianten zu nennen) und bleibt der Zeuge wach, kann man unmittelbar das Auftauchen des grobstofflichen Reichs beobachten, des Reichs des physischen Körpers, der Materie, der Natur und des grobstofflich reflektierenden Ichs, das in dieser sensomotorischen Welt erscheint. Diese grobstofflichen Reiche fühlen sich wiederum wie eine Geste des Feinstofflichen an, wie etwas, das das Feinstoffliche tut. Aus diesem Involutionsbogen (bei dem sich der kausale Geist zur feinstofflichen Seele und die feinstoffliche Seele zur grobstofflichen Welt des Ichs und der Natur zusammenzieht) folgt, dass die ganze manifeste Welt eine Geste des eigenen ursprünglichen Gewahrens, des eigenen Geistes, der eigenen Gottheit, des eigenen ursprünglichen Antlitzes ist. Alles und jedes im Kosmos ist damit eine Manifestation der großen Vollkommenheit, eine Manifestation der ursprünglichen Reinheit in all ihrer unendlichen Wonne. Manifestation ist keine Sünde, wohl aber, sich in der Manifestation zu verlieren. Wir glauben, dass das Ich und die Natur die einzigen Wirklichkeiten des ganzen Kosmos seien, aber gerade hier liegt unsere Sünde und unser Leiden. Wir haben uns im grobstofflichen Film des Lebens verirrt, und wir haben vergessen, dass der Projektor, das Licht und die Leinwand nichts als Formen des höchsten Einen Geschmacks sind, leuchtende Kräuselungen auf der luminosen Leerheit. Wenn man den Spiegel-Geist oder die Fähigkeit zu einem stabilen Bezeugen auch nur in geringem Maße reaktiviert und eine noch so kleine Kontinuität zwischen den Zuständen herzustellen vermag (sodass man nicht immer das Bewusstsein verliert, wenn man von einem Zustand in den anderen übergeht wie z. B. vom Wachen zum Tiefschlaf), dann beginnt deutlich zu werden, dass alle Zustände und Ebenen – heilige und profane, seichte und tiefe – tatsächlich die glühende Manifestation des eigenen ursprünglichen Geistes sind. Damit aber sind alle anscheinend "niedrigeren" Ereignisse, die die Orthodoxen als "Sünde" betrachten würden, keine Abirrungen vom Geist, sondern vielmehr Feste der überströmenden, wilden, allgegenwärtigen Kreativität des Geistes. Dies ist natürlich genau das, was der Tantra sagt: Jede "Befleckung" – Zorn, Neid, Habgier, Unwissenheit, Eifersucht – besitzt in ihrem Kern eine transzendente Weisheit: Klarheit, Gleichheit, Offenheit, Unterscheidungskraft. Tantra beruht auf einer kompromisslosen
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Erkenntnis: Es gibt nur Gott. Es gibt nur Geist. Es gibt nur die Göttin. Es gibt nur Dao. Nicht metaphorisch, sondern buchstäblich. Im Zen heißt es: "Wovon man abweichen kann, das ist nicht das wahre Dao." Man kann von ihm nicht abweichen, weil es nur dieses gibt – jede "Abweichung" davon ist nichts als dieses. (Weshalb Bücher, die uns einreden wollen, wie weit wir von der Göttin, vom Dao oder vom Wahren Weg abgewichen sind, selbst meilenweit "danebenliegen".) Dies ist die Erfahrung des Einen Geschmacks, in dem jedes einzelne Ding und jedes einzelne Ereignis im Kosmos, sei es hoch oder niedrig, heilig oder profan, denselben Geschmack hat, denselben Duft, und dieser Duft ist göttlich. Alle Gesten sind von Gott, d.h., es sind Gesten der eigenen ursprünglichen Vollkommenheit, Manifestationen der eigenen strahlenden Leerheit, Wellen des eigenen nichtdualen Bewusstseins. Das ganze Universum passt in die hohle Hand: Man kann den Mond mit zwei Fingern festhalten, man kann die Sonne als Weihnachtsgeschenk geben, und in Wirklichkeit geschieht überhaupt nichts.
Freitag, 18. April Die Sonne leckt die letzten Schneereste unter den dunkelgrünen Kiefern an meinem Haus fort. Dies alles geschieht in der leuchtenden Lichtung der Leerheit, der Geräumigkeit der Gottheit, der eigenschaftslosen Weite des Alls, das nichts weiter ist als das eigene absichtslose Gewahren von Augenblick zu Augenblick. Es gibt nur dies. Es schleudert mich in die Unterwerfung, nimmt mir den Atem, zwingt mich, mich meinem eigenen tiefsten Zustand zu unterwerfen, in dem ich in der Schönheit des Alls völlig ausgelöscht bin. Aus diesem Grund hat Schönheit eine so tiefe Bedeutung. In diesem absichtslosen Gewahren, in der äußersten Schlichtheit des Einen Geschmacks nehmen alle Reiche, von der kausalen Formlosigkeit über die subtile Luminosität bis zum grobstofflichen Körper, zum Geist und zur Natur, eine schmerzliche Schönheit an, eine wahrhaft schmerzliche Schönheit. Ästhetik gewinnt hier auf allen Gebieten eine völlig neue Bedeutung, demjenigen der Schönheit des Körpers, der Schönheit des Geistes, der Schönheit der Seele, der Schönheit des GEISTES. Wenn alles so, wie es ist, als vollkommener Ausdruck des GEISTES betrachtet wird, dann nimmt alles eine tiefe, schmerzliche Schönheit an. Gestern saß ich Stunden in einem Einkaufszentrum und beobachtete die Vorübergehenden, und sie alle waren so kostbar wie grüne Smaragde. Die gelegentliche Freude in ihren Stimmen, öfter aber der Schmerz auf ihren Gesichtern, die Trauer in ihren Augen, ihr schwerer, schleppender Gang: Nichts davon nahm ich wahr. Ich sah nur die Herrlichkeit grüner Smaragde, und überall gingen Buddhas. Es gab aber kein Ich, das all dies gesehen hätte, und doch waren die Smaragde da. Der Schmutz auf dem Bürgersteig, die Steine auf der Straße, das vereinzelte Rufen von Kindern – ein Paradies in einem Einkaufszentrum, wer hätte dies je erwartet?
Samstag, 19. April Habe soeben wieder einen außerordentlichen Brief von Joyce Nielsen (der Verfasserin von Sex and Gender in Society) bekommen. Sechs Seiten, einzeilig beschrieben, und geistreich vom Anfang bis zum Ende. Sie befasst sich darin insbesondere mit dem Kapitel "Integraler Feminismus" in Das Wahre, Schöne, Gute. In diesem Kapitel führe ich aus, dass es mindestens ein Dutzend feministischer Schulen gibt und dass das Einzige, worüber sie sich einig sind, die Tatsache ist, dass es Frauen gibt. Im Übrigen vertreten sie höchst divergierende Auffassungen darüber, was den Feminismus (und das Weibliche überhaupt) ausmacht. Mit Hilfe eines alle "Quadranten" und alle Ebenen berücksichtigenden Ansatzes versuche ich zu zeigen, dass jede dieser Schulen aus einem anderen Quadranten/einer anderen Ebene hervorgeht bzw. diese in den Vordergrund stellt. Damit würden sie uns sämtlich etwas sehr Wichtiges, wenn auch in seiner Gültigkeit Begrenztes sagen, und der einzig vernünftige Ansatz sei ein "integraler Feminismus", der die jeweiligen Stärken einbezöge und die parteiischen Auffassungen verwerfe. Ein wirklich integraler Feminismus würde also alle vier Quadranten einschließen, den intentionalen, den verhaltensmäßigen, den kulturellen und den sozialen, die jeweils wiederum eine präkonventionelle, konventionelle und postkonventionelle Ebene haben. So würde ein wirklich mehrdimensionaler Feminismus entstehen, kein FlachlandFeminismus, der sich auf einen einzigen Quadranten und eine einzige Ebene beschränkt. Dies versuche ich in Das Wahre, Schöne, Gute darzulegen, und Joyce sagt, dass sie diesen umfassenden Ansatz grundsätzlich gutheißt. Dennoch ist Joyce der Meinung – und hier liegt der wichtigste Auffassungsunterschied, den sie zum Anlass für ihren Brief nahm –, dass biologische Faktoren für die Erklärung der Geschlechtsunterschiede vernachlässigt werden können, und dass man darüber hinaus auch zu einer solchen Schichtung beiträgt, wenn man wie ich solche Ideen vertritt. Ich kann ihre Bedenken verstehen, aber ich bin nicht ihrer Meinung. Darüber hinaus glaube ich, dass sie die Rolle plakativ übertreibt, die ich den biologischen Geschlechtsunterschieden beimesse. Natürlich halte ich diese Unterschiede definitiv für wichtig (dass Frauen z. B. schwanger werden, hat einen sehr großen Einfluss auf die Rolle von Männern und Frauen im Produktionsprozess agrarischer Gesellschaften, und die Tatsache der Schwangerschaft ist kein gesellschaftliches Konstrukt). Ich glaube aber nicht, dass die Biologie der einzige oder auch nur der wichtigste Faktor ist. Neben den biologischen Unterschieden zwischen den Geschlechtern (Oben Rechts) gibt es auch soziale Kräfte (Unten Rechts), individuelle Unterschiede (Oben Links) und kulturelle Hintergrundwerte (Unten Links). Kulturell konstruierte Werte spielen eine außerordentliche Rolle für die Schichtung der Geschlechter – ich betone dies ausdrücklich –, aber ich weigere mich mit den Konstruktivisten, alle übrigen Quadranten auf diesen Quadranten zu reduzieren. Alle vier sind gleichermaßen wichtig. Vielleicht könnte ich Joyce bitten, Band 2 der Trilogie (Sex, God and Gender: The Ecology of Men and Women) durchzusehen, wenn ich ihn einmal schreibe. Sie könnte mich vielleicht davor bewahren, mich zu blamieren – aber das wäre wohl sehr viel von ihr verlangt.
Montag, 21. April – Denver Marci und ich haben das Wochenende in Denver im Oxford Hotel verbracht. Es liegt in einer Gegend namens LoDo (LOwer DOwntown), was ganz bewusst SoHo nachgebildet ist. Ich liebe diese Stadt, und ich liebe dieses altertümliche Hotel. Der alte Bahnhof der Union Railroad, acht Stockwerke hoch und einen halben Block lang, liegt gleich auf der anderen Straßenseite. Um die Ecke ist eine Filiale der Buchhandelskette Tattered Cover, die mehrere Zeitungsvereinigungen als die beste Buchhandlung der Welt bezeichnet haben. Mein Freund Dave Query, der zwei Jahre Küchenchef auf Malcolm Forbes' Yacht war, hat gleich nebenan vor kurzem das
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Restaurant Jax eröffnet. Es gibt hier Dutzende von Galerien, Warenhäusern, Cafes, Bars, Restaurants ... Es ist wirklich wie ein kleiner Querschnitt von SoHo. Seit fünf oder sechs Jahren interessiere ich mich ganz besonders für Ästhetik, für Schönheit in jedem Bereich, was ich unmittelbar auf die meditative Praxis zurückführe. Die großen kontemplativen Traditionen hassten die Welt nicht; sie bemühten sich vielmehr nach Kräften, sie mit Schönheit (wie auch mit Mitgefühl, Klarheit und Fürsorge) auszustatten. Man denke nur an die großartigen Zen-Gärten, die wunderbaren illuminierten Manuskripte der mittelalterlichen Mystik oder die überwältigende architektonische Schönheit von Denkmälern und Tempeln wie Tadsch Mahal oder Angkor Wat. Die wahren nichtdualen Mystiker verabscheuen diese Welt keineswegs, sondern feiern sie. Thomas von Aquin sagte einmal, dass Anmut die Natur nicht auslöscht, sondern sie vervollkommnet. Physische Schönheit ist einfach eine der Formen, in denen der Geist in der sensomotorischen Welt aufleuchtet. Viele Menschen kommen, wie Thomas Mann schrieb, der Schönheit des Göttlichen nie näher, als wenn sie etwas physisch Schönes sehen. Dieses ist eine verkleinerte Ausgabe, eine Miniaturversion der unendlichen Schönheit des strahlenden Antlitzes Gottes. Es ist eine verkürzte Version, aber es ist doch ein Strahl des Göttlichen. Platons Gastmahl ist natürlich die exemplarische Erinnerung daran, dass man diesen Strahl physischer Schönheit dazu benutzen kann, um den Weg zurück zu einer Schau des Guten, der höchsten Schönheit, zu finden. Aber hier in Amerika haben wir diese traurige, aggressive, puritanisch reine Aufstiegs-Auffassung, dass ästhetische Schönheit – in der Architektur, am Menschen, in der Kleidung – irgendwie eine Sünde ist. Wie traurig ist dies doch. Und natürlich gibt es auch das Gegenteil. Für viele Menschen in diesem Land gibt es nichts als physische Schönheit. Man kann sich keine größere Schönheit vorstellen: die Schönheit einer geistigen Schau, die überwältigende Schönheit einer archetypischen Erleuchtung, die selig-schmerzliche Schönheit der wahren und strahlenden Seele, die Schönheit jenseits aller Schönheit des unendlichen Nichtmanifesten. Und deshalb liegen wir Models zu Füßen. Und immer heiraten sie Rockstars oder Sportidole – du lieber Himmel, hat der Abstieg nie ein Ende? Ich liebe LoDo einfach aus ästhetischen Gründen; es ist einfach schön dort, und man behält schöne Erinnerungen daran. Marci und ich haben die Zeit dort überaus genossen – Galerien, Buchhandlungen, sorglose Cappuccinos, nackte Körper in der Nacht. Marci brauchte neues Makeup und ging zu Dior, wo ich mit der Verkäuferin ein Gespräch darüber anknüpfte, warum der Brite John Galliano Dior übernommen habe und nicht Jean-Paul Gaultier. Ich war für Gaultier, sie für Galliano – aber schließlich arbeitet sie ja da. Martinis in der Cruise Bar, riesige Salatteller bei Jax. Wenn man so viel am Schreibtisch sitzt, sind dies einfach wunderbare Genüsse.
Dienstag, 22. April – Boulder Sam rief an und sagte mir, dass Shambhala ab nächstes Jahr meine gesamten Werke herausbringen wolle. Ich glaube, dass alle Bände auf einmal erscheinen sollen. Nachfolgend der voraussichtliche Inhalt: Bd. Bd. Bd. Bd. Bd. Bd. Bd. Bd.
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Das Spektrum des Bewusstseins und Wege zum Selbst Das Atman-Projekt und Halbzeit der Evolution Der glaubende Mensch und Die drei Augen der Erkenntnis Psychologie der Befreiung und verschiedene Aufsätze (u. a. The Holographic Paradigm und Quantum Questions) Mut und Gnade Eros, Kosmos, Logos (Bd. 1 der Kosmos-Trilogie) Eine kurze Geschichte des Kosmos und Das Wahre, Schöne, Gute Naturwissenschaft und Religion und verschiedene Aufsätze
Sonntag, 27. April Ein weiteres Naropa-Seminar bei mir zu Hause. Diese Seminare dauern meist drei bis vier Stunden und laufen in der Weise ab, dass ich Fragen beantworte. Meist bin ich froh um die Fragen der Studenten, weil sie mir Hinweise geben, welche Punkte ich in meinen Schriften noch behandeln muss. Sie machen auch Probleme deutlich, die sie mit meiner Arbeit haben, was mir hilft, klarer zu formulieren. Diesmal waren die Studenten vor allem am Zeugen interessiert. Wir zeichnen jetzt diese Seminare auf Video auf. Nachfolgend einige Auszüge. !!! Ich habe ja schon darüber gesprochen, wie das Zeugen-Gewahrsein durch die Zustände des Wachens, Träumens und des Tiefschlafs hindurch anhält. Aber der Zeuge ist in jedem Zustand vollständig verfügbar, auch jetzt in diesem Augenblick, in Ihrem eigenen gegenwärtigen Bewusstseinszustand. Ich möchte versuchen, mit Hilfe so genannter "hinweisender Anleitungen" Ihnen diesen Zustand klarzumachen. Es geht also nicht darum zu versuchen, Sie in einen anderen Bewusstseinszustand, einen veränderten oder außergewöhnlichen Bewusstseinszustand zu bringen. Ich möchte einfach auf etwas verweisen, das schon jetzt in Ihrem gegenwärtigen, gewöhnlichen, natürlichen Zustand geschieht. Beginnen wir einfach damit, dass wir die uns umgebende Welt gewahren. Schauen Sie hinaus auf den Himmel und entspannen Sie Ihren Geist; lassen Sie es geschehen, dass Ihr Geist und der Himmel sich miteinander vermischen. Beobachten Sie, wie die Wolken am Himmel vorüberziehen. Beachten Sie, dass hierfür keinerlei Anstrengung Ihrerseits notwendig ist. Ihr gegenwärtiges Bewusstsein, in dem diese Wolken vorüberziehen, ist sehr einfach, sehr leicht, mühelos und spontan. Sie stellen einfach fest, dass es ein müheloses Gewahren der Wolken gibt. Dies gilt ebenso für die Bäume, die Vögel und die Steine da draußen. Sie sind einfach und anstrengungslos deren Zeuge. Wenden Sie sich jetzt den Empfindungen in Ihrem eigenen Körper zu. Sie können die unterschiedlichsten körperlichen Empfindungen gewahren: vielleicht Druck an der Stelle, wo Sie sitzen, vielleicht Wärme in Ihrem Bauch, vielleicht eine Anspannung am Nacken. Aber selbst wenn diese Empfindungen hartnäckig und intensiv sind, können Sie sie ohne weiteres gewahren. Diese
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Empfindungen entstehen in Ihrem gegenwärtigen Bewusstsein, und dieses Bewusstsein ist ganz einfach, mühelos, spontan. Man ist einfach und mühelos ihr Zeuge. Betrachten Sie dann die in Ihrem Geist aufsteigenden Gedanken. Sie entdecken vielleicht verschiedene Bilder, Symbole, Vorstellungen, Wünsche, Hoffnungen und Ängste, die alle spontan in Ihrem Bewusstsein aufsteigen. Sie steigen auf, verweilen kurz und verschwinden wieder. Diese Gedanken und Empfindungen entstehen in Ihrem gegenwärtigen Bewusstsein, und dieses Bewusstsein ist sehr einfach, mühelos und spontan. Sie sind einfach und mühelos ihr Zeuge. Halten wir also fest: Sie sehen die Wolken vorüberziehen, weil Sie nicht diese Wolken sind: Sie sind der Zeuge dieser Wolken. Sie können körperliche Empfindungen fühlen, weil Sie nicht diese Gefühle sind – Sie sind der Zeuge dieser Gefühle. Sie können das Vorüberziehen von Gedanken beobachten, weil Sie nicht diese Gedanken sind: Sie sind der Zeuge dieser Gedanken. Spontan und natürlich entstehen alle diese Dinge von selbst in Ihrem gegenwärtigen anstrengungslosen Bewusstsein. Wer sind Sie also? Sie sind nicht die Objekte da draußen, Sie sind nicht die Gefühle, Sie sind nicht die Gedanken: Sie gewahren all dies mühelos, also sind Sie dies nicht. Wer oder was sind Sie dann? Sie können es so ausdrücken: Ich habe Empfindungen, aber ich bin nicht diese Empfindungen. Wer bin ich? Ich habe Gedanken, aber ich bin nicht diese Gedanken. Wer bin ich? Ich habe Wünsche, aber ich bin nicht diese Wünsche. Wer bin ich? So kommen Sie zur Quelle Ihres eigenen Gewahrens. Sie tasten sich zum Zeugen zurück, und Sie ruhen im Zeugen. Ich bin nicht Objekte, nicht Gefühle, nicht Wünsche, nicht Gedanken. Aber dann machen die Leute meist einen großen Fehler. Sie glauben, dass sie, wenn sie im Zeugen ruhen, etwas sehen oder fühlen würden, etwas Wunderbares und Besonderes. Aber Sie werden gar nichts sehen. Wenn Sie etwas sehen, dann ist es nur wieder ein Objekt: ein Gefühl, ein Gedanke, eine Wahrnehmung, ein Bild. Dies alles aber sind Objekte, und dies alles sind Sie nicht. Wenn Sie nun im Zeugen ruhen und wissen: Ich bin nicht Objekte, ich bin nicht Empfindungen, ich bin nicht Gedanken, dann werden Sie nichts weiter wahrnehmen als eine Empfindung der Freiheit, der Befreiung, der Erlösung. Es ist eine Erlösung von der schrecklichen Beschränkung, sich mit diesen kümmerlichen endlichen Objekten, Ihrem kleinen Körper, Ihrem kleinen Geist und Ihrem kleinen Ich identifizieren zu müssen. All dies sind Objekte, die man sehen kann, und sie sind daher nicht der wahre Seher, das wirkliche Selbst, der reine Zeuge, der Sie in Wirklichkeit sind. Sie werden also nichts Besonderes sehen. Alles, was aufsteigt, ist gut so: Wolken ziehen am Himmel vorüber, Gefühle durchziehen den Körper, Gedanken durchziehen den Geist, und man kann mühelos dessen Zeuge sein. All dies entsteht spontan in Ihrem gegenwärtigen mühelosen Bewusstsein. Dieses bezeugende Bewusstsein selbst ist nicht etwas Bestimmtes, das man sehen könnte. Es ist einfach eine weite Hintergrundempfindung der Freiheit, der reinen Leerheit, und in dieser reinen Leerheit, die Sie sind, entsteht die ganze manifeste Welt. Sie sind diese Freiheit, Offenheit und Leerheit, nicht irgendeine Belanglosigkeit, die in ihr entsteht. Beobachten Sie, wenn Sie so in diesem leeren, freien, leichten, mühelosen Bezeugen ruhen, dass die Wolken im weiten Raum Ihres Gewahrens entstehen. Die Wolken entstehen in Ihnen, und zwar so konkret, dass Sie die Wolken schmecken können, dass Sie eins mit den Wolken sind. Es ist, wie wenn die Wolken auf dieser Seite Ihrer Haut sind, so nahe sind sie. Der Himmel und Ihr Bewusstsein sind eins geworden, und alle Dinge am Himmel ziehen mühelos durch dieses Ihr Bewusstsein. Sie können die Sonne küssen, den Berg verschlingen, so nahe sind sie. Im Zen heißt es: "Verschlucke den Pazifischen Ozean mit einem einzigen Schluck", und dies ist das Einfachste der Welt, wenn außen und innen nicht mehr getrennt sind, wenn Subjekt und Objekt nicht zwei sind, wenn Betrachter und Betrachtetes Ein Geschmack sind. Ist dies nicht offensichtlich?
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Mai Schon in meiner Kindheit war ich oft, wenn ich ganz allein war, im Zustand einer Art Wachtrance. Dies geschah üblicherweise, wenn ich meinen Namen zwei- oder dreimal still für mich wiederholte; dann schien sich plötzlich, gewissermaßen aus der Intensität des Bewusstseins der Individualität, ebendiese Individualität aufzulösen und im grenzenlosen Sein zu verschwimmen. Das ist kein verwirrter Zustand, sondern vielmehr der klarste und gewisseste, den man sich denken kann ..., völlig unaussprechlich, wobei der Tod eine fast lächerliche Unmöglichkeit war und der Verlust der Persönlichkeit (so er denn eingetreten war) nicht als Auslöschung erschien, sondern als das einzig wahre Leben. Alfred Lord Tennyson
Freitag, 2. Mai Das Sonnenlicht spielt mit den Regentropfen und verwandelt sie in bunte Diamanten, die beim Auftreffen auf die Erde sprühend zerplatzen. Sie reden miteinander, während sie fallen, denke ich bei mir, aber gleich mache ich mir klar, dass ich es schließlich besser weiß. Das Wahre, Schöne, Gute war das erste Mal nach Psychologie der Befreiung, dass ich mich wieder dem Gebiet der Entwicklungspsychologie und der Spiritualität zuwenden und meine Arbeit auf den neuesten Stand bringen (und dabei mit vielen wichtigen und neueren Beiträgen anderer vergleichen) konnte. Es gab mir auch die Gelegenheit, ausführlicher über mein eigenes spirituelles Leben zu schreiben und wieder einmal zu versuchen, das Strahlen der immer schon gegenwärtigen Wahrheit zu vermitteln. Außerdem nahm ich Kapitel über Philosophie, Anthropologie, Epistemologie, Meditation und Feminismus auf, die ich jeweils aus einer integralen Perspektive behandelte. Schließlich enthält das Buch auch einen langen Essay über Kunst und Kunstinterpretation, der mir vielleicht von allen meinen Schriften am liebsten ist. Er hat eine interessante Entstehungsgeschichte. Ich arbeitete schon einige Zeit über Hermeneutik, die Kunst und Wissenschaft der Interpretation, d.h. über die Frage, wie wir die Bedeutung einer Aussage herausfinden: die Bedeutung des Traums der vergangenen Nacht, die Bedeutung von Mathematik, eines Kunstwerks, eines Theaterstücks, eines Films oder überhaupt von allem. Oder was bedeutet jetzt ganz konkret dieser Satz? Es ist gar nicht so leicht, sich hierüber Klarheit zu verschaffen. Eine erstaunliche Fülle von Faktoren macht unsere Fähigkeit aus, Bedeutung irgendwelcher Art zu erfassen und damit das Leben, Gott, Literatur oder auch einander zu verstehen. Ich hatte eine Möglichkeit gefunden, oder so schien es mir wenigstens, Signifikanten (das geschriebene Wort), Signifikat (dessen innere Bedeutung), Syntax (dessen formale Regeln) und Semantik (dessen kulturellen Hintergrund) zu einer integralen Sichtweise von symbolischer Bedeutung und Interpretation zusammenzuführen.14 Dies führte auch zu gewissen spezifischen Schlussfolgerungen bezüglich Kunst und ihrer Interpretation. Etwa um dieselbe Zeit waren einige bislang unbekannte Gemälde von Andrew Wyeth im Besitz eines anonymen Kunstsammlers aufgetaucht, und es wurde zeitgleich mit den Olympischen Spielen von Atlanta eine große Ausstellung geplant. Ich wurde gebeten, den Kunstessay für den Ausstellungskatalog zu schreiben, und willigte gerne ein.15 Ich glaube, dass man mich um diesen Beitrag bat, weil man einfach von der üblichen postmodernen "Theorie" genug hatte, die über alles Mögliche redet, nur nicht über das eigentliche Kunstwerk. Ich wählte also einen für einen Kunsttheoretiker eigenwilligen und neuartigen Ansatz und schrieb über Kunst. Zuerst gab ich einen kurzen historischen Überblick über die wichtigsten Schulen der Kunst und Kunstinterpretation, die repräsentationale, die intentional-expressivistische, die symptomatische, die formalistische und Rezeption und Reaktion. Dann versuchte ich mit Hilfe der Konzeption von Holons16, des Spektrums des Bewusstseins und der vier Quadranten zu zeigen, dass sich alle diese Schulen auf eine ganz bestimmte Weise integrieren ließen. Darüber hinaus vertrat ich die Auffassung, dass die Interpretationswerkzeuge aller dieser Richtungen einen sinnvollen Platz im Repertoire der integralen Interpretation eines Kunstwerks haben könnten. Meine Schlussfolgerung lautete: Wenn uns die Naturwissenschaft das objektiv Wahre oder das "Es" des Geistes und die Ethik uns das Gute oder das "Wir" des Geistes gibt, dann hilft das Schöne – das im Auge des Betrachters ist –, uns für das "Ich" des Geistes zu öffnen. Der Essay endete wie folgt: Stelle dir den schönsten Menschen vor, den du kennst. Stelle dir den Augenblick vor, als du ihm oder ihr in die Augen blicktest und für eine flüchtige Sekunde gebannt warst: Du konntest die Augen nicht von dieser Vision losreißen. Die Zeit blieb stehen, und du starrtest gebannt in diese Schönheit. Stelle dir jetzt vor, dass dieselbe Schönheit dir aus jedem einzelnen Ding im ganzen Universum entgegenstrahlt: jedem Stein, jeder Pflanze, jedem Tier, jeder Wolke, jedem Menschen, jedem Gegenstand, jedem Werk, jedem Bach, ja selbst aus den Müllhaufen und gescheiterten Träumen – all dies strahlt diese Schönheit aus. Du bist stumm in der sanften Schönheit von allem erstarrt, was um dich geschieht. Du bist frei von Begehren, frei von der Zeit, frei von Vermeiden, ganz in das Auge des GEISTES entlassen, in dem du die unendliche Schönheit des Kunstwerks betrachtest, das die ganze Welt ist. Diese alles durchdringende Schönheit ist keine Übung in schöpferischer Phantasie. Sie ist die tatsächliche Struktur des Universums. Diese alles durchdringende Schönheit ist wahrhaftig jetzt in diesem Augenblick die wirkliche Natur des Kosmos. Sie ist nichts, was man sich vorstellen müsste, weil sie schlicht die tatsächliche Struktur der Wahrnehmung in allen Bereichen ist. Wenn man im Auge des GEISTES bleibt, ist jedes Objekt ein Objekt strahlender Schönheit. Wenn die Tore der Wahrnehmung aufgestoßen sind, ist der ganze Kosmos dein verlorener und wiedergefundener Geliebter, das ursprüngliche Antlitz der ursprünglichen Schönheit, von Anbeginn und in alle Ewigkeit. Im Antlitz dieser betäubenden Schönheit wirst du mit schwindenden Sinnen in deinen eigenen Tod versinken, und nie mehr wird man von dir etwas hören und sehen, außer in jenen sanften Nächten, in denen der Wind sacht über die Hügel und Berge geht und leise deinen Namen ruft.
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Montag, 5. Mai – Denver Marci und ich verbrachten das Wochenende wiederum in Denver. Wiedersehen mit LoDo, dem Oxford Hotel, einer Art ästhetischem Wunder. Ich verfolge die Popkultur recht genau – Musik, Literatur, Kino, Mode(-torheiten). Erstens, weil sie mir gefällt, und zweitens, um dem Zeitgeist auf der Spur zu bleiben, der allgemeinen kognitiven Struktur, die als Hintergrund die durchschnittliche Wahrnehmung organisiert – und dies ist eben nur möglich, wenn man die Popkultur verfolgt. Der allgemeine Trend ist heute ein allmählicher Übergang von der modernen rationalen zur postmodernen aperspektivischen Haltung, und dies sieht man nirgendwo klarer als in der Popkultur, insbesondere der Mode. Giorgio Armani z. B. ist ein reiner Modemist: elegant, sparsam in seinen Mitteln, schön, oft mit Wiederholungen. Versace und Gaultier andererseits sind quintessenziell postmodern: wild, überschwänglich, pluralistisch, chaotisch, vielfältig bis zur Zersplitterung, um eine Einheit bemüht, dem Auseinanderfallen nahe. Die zentrale kognitive Struktur der Postmoderne hat man integral-aperspektivisch genannt (was ich auch Schau-Logik nenne): "aperspektivisch", weil keine bestimmte Perspektive bevorzugt wird, und "integral", weil trotzdem irgendein Zusammenhang gefunden werden muss, damit nicht alles auseinander fällt. Hier besticht zum Beispiel Frank Gehry. Er ist ein großartiges Genie der Postmoderne; er liefert grandiose Beispiele der integral-aperspektivischen Sichtweise. Seine architektonischen Entwürfe sind eine Ansammlung geschwungener, gewundener, pluralistischer Stücke, die kurz vor dem Auseinanderfliegen zu stehen scheinen, und doch sind sie in einer ebenso unvermeidlichen wie wunderbaren Weise zu einer Form von erlesener Ganzheit zusammengefügt. Dies ist eine wahrhaft integral-aperspektivische Schau, eine wahre "Einheit in der Vielfalt". Das Problem bei einem großen Teil der Postmoderne liegt darin, dass sie so sehr mit der Vielfalt beschäftigt ist, dass sie die Einheit ganz vergisst und deshalb einfach in lauter kleine Stücke zerfällt, die dann in ihrer eigenen isolierten kleinen Welt umherzappeln. Dies ist einfach eine pathologische Form der integral-aperspektivischen Vision, eine Krankheit, die ich aperspektivische Verrücktheit nenne – lauter Vielfalt, keine Einheit: schizophrene Fragmente. Fast alles, was heute der Postmoderne zuzuordnen ist, ist bislang wenig mehr als aperspektivische Verrücktheit und wartet auf das Auftauchen wirklich großer Genies – wie Gehry, aber auch auf anderen Gebieten –, die die Bruchstücke zusammenfügen, das Unverbundene verbinden, das Gewebe einer Wirklichkeit neu weben, die von den gedankenlosen Vielfalt-Bewegungen in Fetzen gerissen wurde. Ach, zum Teufel damit: Ich glaube, ich bin dabei, mich zu verlieben.
Sonntag, 11. Mai – Boulder Muttertag. Habe sie angerufen. Mama ist so ein lieber Mensch, aber jetzt sie ist wütend über Tony Schwartz' Kapitel über mich in Was wirklich zählt, weil Tony einige angelegentliche freudianisch-ödipale Bemerkungen über sie gemacht hat. Sie hofft, dass das Buch ein Flop wird und nicht einen einzigen Käufer findet. Ansonsten geht es ihr gut. Nachdem ich meine Eltern letztes Jahr besucht hatte, machen jetzt beide Hanteltraining – sie sind in den Siebzigern. Ich nahm sie damals mit in ein Fitnessstudio, und jetzt sind sie mit Begeisterung dabei. Habe einen Essay von Michael Zimmerman bekommen, dem großen Heidegger-Gelehrten; ein wunderbarer Mensch, klug, scharfsinnig, aufrichtig. Er sprach voriges Jahr in San Francisco auf der Ken-Wilber-Konferenz, und wie man mir sagte, war er der Publikumsliebling. Sein Essay hat den Titel "Heidegger und Wilber über die Grenzen der spirituellen Tiefenökologie". Michael ist ein überaus kenntnisreicher und wohlwollender Theoretiker der Ökologie, wie er mit seinem Buch Radical Ecology bewiesen hat. Andererseits ist er sich aber auch der gravierenden Beschränkungen der meisten Formen "spiritueller Ökologie" bewusst. Aus dem Essay: "Meiner Meinung nach leistet Wilber mit seiner Analyse der Moderne, der Retroromantik und der ökologischen Krise sehr viel. Es gelingt ihm einerseits, vieles von demjenigen einzubeziehen, was von Heideggers Auffassungen bezüglich des transzendenten Reichs brauchbar ist, und andererseits lässt er die antimodernistische Gestimmtheit beiseite, die Heidegger auf politische Irrwege geraten ließ [seine Sympathien für die Nazis]. Darüber hinaus berücksichtigt Wilbers Sichtweise des Transzendenten wesentliche Aspekte spiritueller Traditionen, die Heidegger entweder verwarf oder aber nur in einer Rumpfversion übernahm. Wilbers Auffassung, dass Modernisten und Umweltschützer gleichermaßen der materialistischen Weltanschauung der modernen Wissenschaft anhängen, erlaubt ihm den Schluss, dass wohlmeinenden Bestrebungen zur 'Resakralisierung' der Natur kein Erfolg beschieden sein kann, solange nicht zuerst die transzendente Dimension der Natur, der Menschheit und des Göttlichen wiederentdeckt und wieder bekräftigt wird." So freundlich dies alles ist, so stürzt es mich heute doch nur in Zweifel und Traurigkeit. "Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass Wilber einen enormen Beitrag zur zeitgenössischen Diskussion über das Göttliche, die Natur und die Menschheit geleistet hat. Insbesondere hat er eine wichtige Botschaft an die Modernisten einerseits und die Tiefenökologen andererseits: Der Weg zur Überwindung der ökologischen Krise führt nur über die Lösung der Sinnkrise, die durch eine eindimensionale materialistische Ontologie [d.h. Flachland] ausgelöst wurde. Wilber macht deutlich, dass diese Krise nicht durch einen krampfhaften lebensfeindlichen Transzendentalismus und durch Jenseitssehnsucht überwunden werden kann, sondern nur durch die Entwicklung einer mehrdimensionalen [d.h. Integralen] nichtdualen Ontologie, die demjenigen Raum gibt, das schon so lange ausgeschlossen wird. Eine echte spirituelle Tiefenökologie muss die Tiefendimension der Wirklichkeit anerkennen, statt zu behaupten, dass sich die unendlichen Dimensionen des Göttlichen im System der stofflichen Natur, dem 'Gewebe des Lebens' erschöpfen. Wilber spielt für die Herausbildung einer solchen wirklich spirituellen Tiefenökologie eine wichtige Rolle." Es macht mich einfach traurig. Aus irgendeinem Grund habe ich jetzt in diesem Augenblick keinen anderen Gedanken, als dass all dies praktisch nichts bewirken wird. Nicht nur meine Arbeit, sondern auch diejenige der wirklich integralen Autoren: Zimmermans eigene gute Arbeit, diejenige von Roger, Frances, Tony, Jack, Murphy und anderen; es scheint da draußen alles so leer zu sein. Ich bin in der LEERHEIT ganz und gar zu Hause, aber die Leere zieht bloß hinab.
Montag, 12. Mai Marci und ich haben aus einer augenblicklichen Laune heraus beschlossen, einen Kurzurlaub zu machen. Ich hatte schon seit Jahren
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keinen richtigen Urlaub mehr. In Manhattan und San Francisco war es schön, aber dort musste ich arbeiten, und entspannt habe ich mich dabei ganz gewiss nicht. Ich schreibe im Augenblick an nichts Bestimmtem, sondern wühle mich durch Literatur für meine Recherche hindurch, und es macht mir ganz und gar nichts aus, wenn ich das alles ein paar Tage nicht habe. Wir suchen einen Ort, der mehrere schwierige Voraussetzungen erfüllt. Marci und ich lieben beide Sonne, Sand und Strand. Weil ich aber die meiste Zeit allein und fern von Menschen arbeite, möchte ich auch einmal richtig im Gewühl sein, in der Menge treiben und angerempelt werden. Beide lieben wir Kultur ebenso sehr wie Natur, weshalb eine größere Stadt in der Nähe sein sollte. Ich möchte nicht nur in der Sonne liegen, ich will auch Autoabgase riechen und von Leuten angepöbelt werden. Und wie kann ein Urlaub Spaß machen, in dem nicht die konkrete Möglichkeit besteht, dass man erschossen oder nicht mindestens ausgeraubt wird? Und weil Marci und ich schließlich den ganzen Tag über Tiefe studieren, möchten wir zur Abwechslung auch einmal etwas absolut Oberflächliches, Mondänes, Schickes und Seichtes. Also keine Frage: Wir gehen nach Miami South Beach.
Sonntag, 18. Mai – South Beach Es ist einfach herrlich. Was für ein Getümmel. In unserem wirklichen Leben ist South Beach genau das, was wir nicht wollen, mit anderen Worten: Es ist perfekt. Und es ist wirklich sehr, sehr schön. South Beach ist etwa die zwanzig südlichsten Blocks von Miami Beach; es war früher ziemlich heruntergekommen und verfallen, aber in den letzten zehn Jahren hat es hier dank des Jet-Sets, der Model-Agenturen, der Filmstars und der Superreichen eine spektakuläre Entwicklung gegeben. Madonna gehört das Restaurant im Hotel Delano, Sly Stallone hat eine Diskothek, Michael Caine betreibt die Brasserie, und Versaces Haus am Ocean Drive sieht aus wie eine Botschaft. Es gibt über zwei Dutzend renovierte Artdeco-Hotels, ganz in knalligstes Neon und weichste Pastelltöne gehüllt – einfach hinreißend. Die Hotels liegen zum Meer, das gleich auf der anderen Straßenseite beginnt, und der Strand ist feinsandig, ohne Steine und Muscheln, an denen man sich die Fußsohlen aufreißen könnte. Das Meer ist, anders als sonst der Atlantik, nicht kalt, stahlgraublau, sondern herrlich aquamaringrün und türkis; der bloße Anblick macht mich glücklich. Es flimmert und flirrt durchscheinend, unstoffliche, leuchtende Schwingung, glänzende Ornamente des ursprünglichen Gewahrens. Geist und Welt sind nicht-zwei, hier am Rande der Welt. Wir steigen im Cavalier ab, dem hippen Hotel am Ocean Drive, und es ist einfach irre cool. Jeder in South Beach ist schwul, Model oder Schauspieler oder alles zusammen. Die Hotels wechseln mit erlesenen, großartigen Restaurants ab; die meisten von ihnen haben eine Cafeterrasse, sodass man sich draußen hinsetzen und den halb nackten Körpern beim Flanieren zusehen kann. Marci, die allmählich in Fahrt kommt, lässt sich den Nabel piercen. Jetzt gehört sie offiziell zur Generation X. Wir liegen abwechselnd am Strand und sitzen in Restaurants, bummeln durch Bars und Boutiquen oder gaffen einfach nur. Wir sind beide entschlossen, jeden Tag eine Flasche Wein zu trinken: sie einen kernigen Triathlon-Roten, ich einen schlappen, trockenen Weißwein. Tschüs Zeuge, Hi grausame Welt. Jeden Tag gehen wir etwa um elf Uhr vormittags an den Strand und bleiben etwa bis vier Uhr nachmittags. Es ist wirklich einer der herrlichsten Strande, die ich jemals gesehen habe. Der Sand ist vom Feinsten – man kann unendlich weit hinausgehen, ohne jemals auf einen Stein oder eine Muschel zu treten, die Wassertemperatur ist perfekt, so um die 26°, sodass man niemals friert, wie lange man auch im Wasser bleibt. Und ich bin wirklich jeden Tag etwa drei Stunden im Wasser, genau bis zum Hals, auf den Zehenspitzen umhertänzelnd, sodass ich gerade noch das Gleichgewicht halte. Marci, wettkampferfahrene Schwimmerin, schwimmt im Kreis um mich herum. Wo versteckt bloß diese Frau ihre Muskeln? Sie hat doch viel zu viele Kurven, um so sportlich zu sein. Haben TriathlonWettkämpfer nicht 0% Körperfett? Oder sind sie nicht gar im negativen Fett-Raum? Schulden sie nicht gar der Welt etwas Fett? Angesichts unseres Weinkonsums hatte ich fest damit gerechnet, jeglichen Zugang zum Zeugen zu verlieren. In der ersten Nacht und am ersten Tag war es auch so. Aber der Aufenthalt im Wasser brachte nicht nur den Zeugen zurück, sondern schien sogar die Auflösung des Zeugen im nichtdualen Einen Geschmack erleichtert zu haben, zumindest zeitweise. (Der Zeuge, das reine gewahrende Bewusstsein, scheint im Kausalen zu liegen, da üblicherweise der Rest einer Dualität von Subjekt und Objekt zurückbleibt: Man ist gleichmütiger Zeuge der Welt als einem durchscheinenden und schimmernden Objekt. Aber es gibt noch einen weiteren Entwicklungsschritt, bei dem der Zeuge selbst in allem Bezeugten aufgeht; Subjekt und Objekt werden zu Einem Geschmack, zu schlichter So-heit, und dies ist der nichtduale Zustand. Es ist, kurz gesagt, der Weg vom Ich über die Seele und den reinen Zeugen zum Einen Geschmack.) So genieße ich es, angenehm überrascht, hier im Blut der Natur zu schwimmen, in den Einen Geschmack eingetaucht zu sein, der in diesem Fall köstlich salzig ist. In diesem Zustand gibt es keine Zeit, auch wenn die Zeit in ihm abläuft. Wolken ziehen am Himmel vorbei, Gedanken ziehen im Geist vorbei, Wellen ziehen im Meer vorbei, und ich bin all dies. Ich betrachte nichts davon, denn es gibt kein Zentrum, um das die Wahrnehmung organisiert ist. Es ist einfach so, dass alles von Augenblick zu Augenblick entsteht, und ich bin all dies. Ich sehe nicht den Himmel: Ich bin der Himmel, der sich selbst sieht. Ich fühle nicht das Meer: Ich bin das Meer, das sich selbst fühlt. Ich höre nicht die Vögel: Ich bin die Vögel, die sich selbst hören. Nichts ist außerhalb von mir, nichts ist innerhalb von mir, weil es kein Ich gibt – dies alles ist einfach, und so ist es seit jeher. Nichts zieht mich, nichts schiebt mich, weil es kein Ich gibt; es gibt einfach nur dies alles, und so ist es seit jeher. Mein Knöchel schmerzt vom Tanzen gestern Abend, aber der Schmerz tut nicht "mir" weh, weil es kein "Ich" gibt. Da ist einfach der Schmerz, der wie alles andere entsteht, wie Vögel, Wellen, Wolken, Gedanken. Ich bin nichts davon, ich bin alles davon, es ist alles derselbe Eine Geschmack. Dies ist keine Trance und keine Herabdämpfung des Bewusstseins, sondern vielmehr eine Intensivierung: nicht unterbewusst, sondern überbewusst, nicht infra-rationai, sondern supra-rational. Es besteht ein kristallklares Gewahren all dessen, was sich von Augenblick zu Augenblick vollzieht, aber dies ist nicht etwas, was irgendjemandem geschieht. Es ist auch keine außerkörperliche Erfahrung; ich bin nicht irgendwo oben und blicke nach unten, sondern ich blicke überhaupt nicht. Ich bin nicht oberhalb oder unterhalb von irgendetwas – ich bin alles. Es ist einfach all dies, und ich bin das. Vor allen Dingen ist der Eine Geschmack äußerste Einfachheit. Bei mystischen Erfahrungen im subtilen und kausalen Reich besteht oft eine Empfindung der Großartigkeit, der ominösen Ehrfurcht, des numinosen Überwältigtseins, von Licht und Seligkeit, von Dankbarkeit und Freudentränen. Das ist beim Einen Geschmack nicht so, der außergewöhnlich gewöhnlich und vollkommen einfach ist: Einfach dies. Ich bin drei Stunden lang bis zum Hals im Wasser. Wie viel Zeit davon ich als Ich, als Zeuge oder als Ein Geschmack zubringe, weiß ich nicht. Beim Einen Geschmack hat man immer die Empfindung, dass man ihn nie verlassen hat, gleichgültig, in welche Verwirrung
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man gerät, und deshalb gibt es auch nie wirklich die Empfindung, dass man in diesen Zustand eintreten oder ihn verlassen würde. Es ist so, immer und für alle Zeit, auch jetzt, und bis zum Ende der Welt. Aber in diesem bestimmten Augenblick ist es doch Zeit für ein frühes Abendessen, und ich muss mich dem garstigen Geschäft widmen, diesen bestimmten Körpergeist von einem Ort zum anderen zu bewegen. Außerdem habe ich das Gefühl, dass sich Marci noch irgendwas anderes piercen lassen will, und niemand – ich, Seele oder Gott – möchte das verpassen.
Dienstag, 20. Mai – South Beach Der Abwechslung halber ziehen wir vom Cavalier ins Casa Grande; beide sind großartig. Das Cavalier ist heiß und hip, das Casa Grande elegant. Beide sind aber keine Mega-Hotels wie das Hyatt oder das Four Seasons; es sind wie die meisten Hotels in South Beach relativ kleine Art-deco-Gebäude, höchstens drei oder vier Stockwerke hoch, und von einem altmodisch-heimeligen Charme. Gestern bummelten wir durch die Boutiquen. Uns beiden gefiel es bei Nicole Miller besonders gut, aber es gibt hier noch ein Dutzend weiterer phantastischer kleiner Läden. Heiße Diskussionen mit den Verkäuferinnen, wer der interessanteste neue Designer sei. Ich war für Tom Ford, der die spießige alte Firma von Gucci übernommen hat und einem (insbesondere einem Amerikaner) ein ganz besonderes Gefühl gibt. Seine Kollektionen, sowohl für Damen wie für Herren, sind sensationell, sexy, schnittig und elegant. Sie, die Närrinnen, waren für Galliano. Marci mag Isaac Mizrahi, weil wir Unzipped gesehen haben und sie ihn phantastisch findet (und seine Farben "irre gut"). Schade, dass Hollywood Armani zu einem Gemeinplatz gemacht hat, denn es geht nach wie vor nichts über ihn; er ist ein Genie der Moderne, ein Bollwerk gegenüber den dämlicheren Elementen der Postmoderne bei La Croix, Gaultier, Versace und Dolce & Gabbana, auch wenn ich viele ihrer Kreationen durchaus mag. Aber die Postmoderne muss ihr Genie in der Mode erst noch hervorbringen, wie es in der Architektur Gehry geworden ist, wenn auch Gaultier schon nahe dran ist; und wer weiß, vielleicht schaffen es Galliano oder McQueen noch. Ein herrliches Abendessen, irgendeine Fischsorte, kann mich nicht mehr genau erinnern, ich weiß nicht warum – ach ja, der Wein. Gestern Abend standen wir vor Versaces Haus und kamen dort mit einem wirklich netten Paar ins Gespräch. Wir gingen gemeinsam zum Essen. Im Laufe des Abends kam die Rede darauf, dass die Frau – es waren sehr intelligente und wache Leute, aber etwas ativ – sich tätowieren lassen wollte. Je mehr sie trank, desto fester wurde ihr Entschluss. Wir gingen gemeinsam dorthin, wo sich Marci den Nabel piercen ließ. Ich glaube, es ist so eine Art Allround-Verstümmelungsladen. Verunstaltungen Are Us, oder so. Marci stachelte die Frau übermütig an: "Schauen Sie mal, dieser großartige amerikanische Adler", und zeigte auf ein Bild in der Größe eines Tellers. Mir wurde etwas angst um die Frau. "Oh nein, sehen Sie nur dieses hübsche kleine Herzchen" – etwa so groß wie eine Erbse. Sie entschied sich für das Herz, und zwei Minuten später war die Sache erledigt. Am Montag wieder am Strand, aber diesmal nichts vom Zeugen und vom Einen Geschmack, nur ein leicht verkatertes Ich. Aber das Wasser ist phantastisch, und wir essen Sandwiches, trinken Bier und lassen uns an diesem Oben-ohne-Strand von der Sonne braten. Marci geht nicht nur oben ohne, sondern sie findet sich immer mehr in den Geist von South Beach hinein, d.h. also überhaupt keinen Geist – einfach übermütig und strahlend und gewöhnlich und schlampig. An diesem Abend beschließt sie, sich beide Brustwarzen piercen zu lassen. Ich appelliere sehr ernsthaft an ihre Vernunft, und dann rennen wir hinüber zu Verstümmelungen Are Us. Einhundert Dollar später – und einige Bilder, die ich so bald nicht vergessen werde – hat Marci zwei Warzenringe, die sich mir wie zwei Handtuchhalter entgegenrecken (wenn ich so etwas der Nachkriegsgeneration erzähle, sind sie schockiert und leicht angeekelt, während alle Generation-X-ler sagen: "Cool!"). Morgen fliegen wir zurück, aber es war eine echte Sause. Und Marci ist eine wunderbare Reisegefährtin. Sie ist nie wütend, sie ist ehrlich glücklich mit ihrem Leben, und sie ist sehr aufrichtig, aber nicht im mindesten ernsthaft. Im Flugzeug schaue ich hinunter auf das Meer, das in der Leerheit schimmert, ein wunderbarer Traumurlaub – ja, ganz buchstäblich ein Traum.
Sonntag, 25. Mai – Boulder Ein weiteres Naropa-Seminar. Die Themen, über die die Teilnehmer sprechen wollten, betrafen u. a. das Verhältnis zwischen Mitleid und idiotischem Mitleid, die Prä/Trans-Verwechslung, Meditation und Neurose, und die verblüffende Aggressivität mancher Theoretiker, wenn man ihnen mit einer integralen Sichtweise kommt. Einige Auszüge: Teilnehmer: Ich habe mit anderen Studenten über eine integrale Sichtweise diskutiert, und sie warfen mir vor, dass es mir an echtem Mitgefühl mangele, weil ich Urteile falle. Ich sehe das nicht so. KW: Ja, dies ist ein Thema, das in spirituellen Kreisen besonders viel Verwirrung anrichtet. Das Problem besteht im Grunde in der Verwechslung zwischen Mitleid und idiotischem Mitleid, wie Trungpa Rinpoche dies genannt hat. Wir haben es hier in Amerika – und insbesondere in New-Age-Kreisen – mit einer Form von fader Gleichmacherei und Political Correctness zu tun, der zufolge keine Auffassung besser ist als eine andere, weshalb man alle Auffassungen gleichermaßen schätzen müsse, und dies soll ein Zeichen reicher Vielfalt sein. Nur wenn man keine qualitativen Urteile Fällt, würde man wirkliches Mitgefühl zeigen. Wir haben also auf der einen Seite eine urteilende, auf der anderen eine mitleidsvolle Haltung, und dies ist die allgemeine Auffassung. Aber sehen Sie, in einer solchen Haltung steckt ein massiver innerer Widerspruch. Einerseits sagt man, dass alle Ansichten gleichwertiger Bestandteil einer reichen Vielfalt seien, weshalb keine Auffassung besser als eine andere sein könne. Andererseits aber behauptet man mit Nachdruck, dass eben diese Auffassung besser sei als die Alternativen. Dieses "Mitgefühl" sagt also, dass keine Auffassung besser sei als eine andere, ausgenommen die eigene, die in einer Welt, in der es doch angeblich keine Überlegenheit gibt, überlegen ist. Es ist eine Hierarchisierung, die keine Hierarchie haben will, und ein Urteil, dass alles Urteilen schlecht ist. Diese Haltung ist ja oft gut gemeint, aber sie ist trotzdem heuchlerisch, weil sie genau das tut, was sie bei allen anderen Menschen verurteilt. Diese Heuchelei hat nichts mit wirklichem Mitgefühl zu tun, sondern es ist ein idiotisches Mitgefühl. Idiotisches Mitgefühl hält sich für menschenfreundlich, aber in Wirklichkeit ist es grausam. Wenn ein Freund Alkoholiker ist und man weiß, dass ein einziges Glas mehr sein Tod sein könnte, wäre es dann wirklich mitleidsvoll, es ihm zu geben, wenn er einen inständig darum bittet? Es ist doch menschenfreundlich, jemandem etwas zu geben was er haben möchte, oder etwa nicht? Wie kommt man denn dazu, ihm die eigenen Auffassungen aufzudrängen? Ihm Alkohol zu geben wäre doch mitleidsvoll, nicht wahr? Nein, eben nicht.
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Zu echtem Mitgefühl gehört auch der Verstand, und man fällt also ein fürsorgliches und verantwortungsbewusstes Urteil, das einem sagt, dass manche Dinge gut und manche Dinge schlecht sind. Man wird sich bei seiner Entscheidung von seinem gesunden Menschenverstand und von Zuwendung leiten lassen. Einem schweren Alkoholiker einen Karton Whisky zu geben, weil er ihn gerne haben möchte und man menschenfreundlich sein will, ist keineswegs menschenfreundlich. Man zeigt damit idiotisches Mitgefühl, kein echtes Mitgefühl. Zen nennt dies den Unterschied zwischen "Großmutter-Zen" und "wirklichem Zen". Um aus dem Traum des Samsara zu erwachen, muss man dem Ego selbst auf die Sprünge helfen, und zwar manchmal recht kräftig. Andernfalls spielt man bloß weiter seine Lieblingsspielchen. Großmutter-Zen ist keine Herausforderung. Großmutter-Zen ist lieb und lässt einen ein wenig länger schlafen, wenn man will, die Meditation vorzeitig beenden, wenn es nicht so geht, wie man es sich vorgestellt hat, und es einem in einem selbst wohl sein. Aber richtiges Zen nimmt einen sehr großen Stock, und es wird sehr viel geschrien. Manchmal gibt es auch gebrochene Knochen, und ganz gewiss wird das Ego zerbrochen. Echtes Mitgefühl versetzt einem einen Tritt in den Hintern und nimmt einem den Namen weg, und an manchen Tagen ist es nicht lustig. Wenn man dieses Feuer scheut, dann muss man sich einen lieben, netten, mit sanfter Stimme sprechenden und ewig lächelnden New-Age-Lehrer suchen, der einem hilft, sein Ego mit einem spirituell klingenden neuen Etikett zu überkleben. Man sollte aber denjenigen aus dem Weg gehen, die wirkliches Mitgefühl praktizieren, denn da gibt es Zunder. Die meisten Menschen meinen mit "Mitgefühl": Bitte sei nett zu meinem Ego. Das Ego ist aber gerade der schlimmste Feind, den man hat, und wer nett zu ihm ist, verhält sich keineswegs mitleidsvoll. Nun sind wir aber alle keine vollendeten Meister, weshalb wir nicht immer wissen, was echtes Mitgefühl ist und was nicht. Aber wir müssen wenigstens anfangen zu lernen, echtes Mitgefühl statt idiotisches Mitgefühl zu praktizieren. Wir müssen lernen, qualitative Unterscheidungen zu treffen. Und dies sind hierarchische Urteile, die Werte in eine Reihenfolge bringen. Wenn man Hierarchie nicht mag, dann ist dies eben die persönliche Hierarchie: Man schätzt Nicht-Hierarchien hierarchisch mehr als Hierarchien. Man kann das von mir aus tun, solange man nur ehrlich sagt, was man eigentlich tut. Wenn man keine Wertehierarchie will und diese vermeiden will, dann ist dies eben die eigene Wertehierarchie, und dies ist eine Hierarchie, die persönliche Hierarchie. Man sollte da wenigstens ehrlich sein. Man kommt nicht darum herum, dass man bei Werten eine Rangordnung vornehmen muss, weshalb man es wenigstens bewusst und aufrichtig tun und mit der Heuchelei aufhören sollte, dass man "nicht urteilend" sei, was selbst ein massives Urteil ist. Teilnehmer: Aber ist denn nicht absichtsloses Gewahren ohne Urteil? KW: Absichtsloses Gewahren akzeptiert einfach alles, was zum Vorschein kommt, also auch Urteilen und Nicht-Urteilen. Sehen Sie, nicht zu urteilen ist ja schon wieder eine Entscheidung zwischen zwei Gegensätzen, Urteilen und Nicht-Urteilen, d.h., "Nicht-Urteilen" ist keineswegs dasselbe wie absichtsloses Gewahren. Absichtsloses Gewahren ist der absolute Spiegel, der ohne Anstrengung alles wiedergibt, was auftaucht – es versucht in keiner Weise, das Nicht-Urteilen gegenüber dem Urteilen zu bevorzugen. Mit "absichtslosem Gewahren" ist letztlich dasjenige gemeint, was im Buddhismus endgültiger Bodhichitta oder Leerheit heißt, während Urteile zu fällen vordergründiger Bodhichitta oder Mitgefühl heißt. Damit ist natürlich echtes Mitgefühl, nicht idiotisches Mitgefühl gemeint, und echtes Mitgefühl bedient sich bei seinen Entscheidungen des Verstandes. Aber in beiden Fällen ist "nichturteilend" keine kluge Haltung. Im endgültigen Erleuchtungsgeist ruht man in der Leerheit, der es gleichgültig ist, ob man Urteile fällt oder nicht, weil beides gleichermaßen aus der reinen Leerheit entspringt. Im vordergründigen Erleuchtungsgeist fällt man Urteile auf der Grundlage der Klugheit und des Mitgefühls, und solche Urteile beruhen auf qualitativen Unterscheidungen und Wertehierarchien. Wenn also jemand sagt, dass er Hierarchien und Urteile verabscheue, dann sollte man schleunigst das Weite suchen. Man muss lernen, ganz bewusst qualitative Unterscheidungen zu treffen. Wir müssen Urteile fällen, die von einer abgestuften Tiefe ausgehen. Das idiotische Mitgefühl hat hier schon erheblichen Flurschaden angerichtet und letztlich einen echten spirituellen Fortschritt sehr erschwert. Teilnehmer: Diese Leute überschütteten mich mit Vorwürfen, weil ich qualitative Urteile fällte, und taten sehr scheinheilig ... KW: Es ist eben ein großer Unterschied, ob man qualitative oder gehässige Urteile fällt. Ich würde also folgenden Rat geben: Wenn man in eine solche Situation kommt, sollte man zuerst seine eigene Haltung und seine eigene Motivation prüfen. Es nützt uns ja nichts, wenn wir auch scheinheilig tun. Wir haben schließlich das echte Mitgefühl und diese Trottel das idiotische. Natürlich kann uns dies allen passieren, und ich weiß, dass es auch mir passiert. Es ist ein Urteilen ohne eine rechte Urteilsfähigkeit, und dies ist einfach furchtbar. Man muss hier also aufpassen. Aber Sie sagten, dass Sie angegriffen wurden, weil Sie für eine integralere Sichtweise eintraten? Teilnehmer: Ja. KW: Das ist noch ein anderes Problem. Über den Daumen gepeilt kann man sagen, dass die meisten Menschen nicht bereit sind, ihre gegenwärtigen Auffassungen jeweils um mehr als etwa 5% zu ändern. Wenn man sie also mit einer völlig neuen Sichtweise überrumpelt, dann kann es leicht geschehen, dass sie sich verschließen. Vielleicht werden sie wütend und ausfällig; sie sagen, dass man kein Mitgefühl hätte, dass man arrogant sei und dergleichen mehr. Wenn man sie dann weiter bedrängt, hat man letztlich selbst ein Problem. Vielleicht hat das eigene Ego Spaß daran, diese Leute zu bekehren? Ich weiß, dass ich dies gelegentlich auch selbst schon versucht habe, aber es führt zu nichts. Wenn man wirklich helfen will – echtes Mitgefühl –, dann gibt man nicht mehr auf den Löffel, als jemand schlucken kann, okay? Man darf auch nicht vergessen, dass Glaubenssysteme nicht bloß Überzeugungen sind: Sie sind die Heimat des Ego, die Heimat der Selbstzusammenziehung. Selbst holistische Auffassungen wie das Gewebe des Lebens geben immer dem Ego eine Heimat, weil Überzeugungen bloß mentale Formen sind, und wenn man das Supramentale noch nicht entdeckt hat, dann werden alle mentalen Konstruktionen zum Sitz eines hartnäckigen Ichs. Wenn man ein Glaubenssystem in Frage stellt, dann erfährt das getrennte Selbst dies als tödliche Bedrohung, und dies aktiviert sämtliche Überlebensinstinkte. Man diskutiert hier nicht bloß über die Wahrheit oder Falschheit einer Theorie, sondern man führt einen Kampf auf Leben und Tod. Wenn man so etwas versucht, treibt man sich und andere gefährlich in die Enge – Vorsicht ist also geboten. Teilnehmer: Warum ist idiotisches Mitgefühl so weit verbreitet? KW: Einfach deshalb, weil es so harmlos ist. Es ist in vielen spirituellen Kreisen deshalb so verbreitet, weil das Ego nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden will. Es will ein Großmutter-Zen. Das Ego gibt also eine Menge Geld für einen WochenendWorkshop aus, der dem Ego seine "Macht" zurückgibt, auf dem es erfährt, dass es wirklich Gott oder die Göttin ist. Es bekommt eine neue Konzeption vorgesetzt, über die es nachdenken und die es "Geist" nennen darf. Es wird in das "Gewebe des Lebens" eingebunden, und von dieser bloß mentalen Vorstellung wird ihm die höchste Einheit versprochen. Letztlich liegt dem riesigen Markt der EsoterikLiteratur nur ein drängendes Motiv zugrunde: Die Leute wollen hören, dass ihr Ego Gott ist, dass ihre Selbstbezogenheit der Geist ist. Die Selbstbezogenheit bekommt einfach das Etikett "heilig" übergeklebt, und Großmutter-Zen lächelt gütig dazu. Aber um dies klarzustellen: Ich meine überhaupt nicht, dass diese Ansätze schlecht oder bösartig oder so etwas seien. Ich meine einfach, dass sie nicht ganz durchdacht sind. Ich meine, dass die Leute keine ausreichende Landkarte des Kosmos haben und deshalb
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bei ihrem edlen Streben etwas auf Abwege geraten. Ich hoffe also, dass eine integralere Sichtweise dazu beitragen wird, diese Verwirrung etwas zu verringern. Teilnehmer: Warum empfinden so viele Menschen eine integrale Sichtweise als so bedrohlich? KW: Nun, sie verlangt praktisch immer eine Veränderung der bisherigen Überzeugungen um mehr als 5%, und dazu sind die wenigsten bereit. Teilnehmer: Mich hat die Wut schockiert, die mir entgegenschlug. KW: Ja, das ist schade. Ich habe mir das immer so vorgestellt: Wenn man zeigt, dass Auffassung A, Auffassung B und Auffassung C alle gleich wichtig sind, dann müssten einem alle zutiefst dankbar sein. Aber in Wirklichkeit werden die Anhänger von Auffassung A, B und C sehr, sehr wütend, weil man soeben gezeigt hat, dass ihr Gebiet nicht das einzige Gebiet ist, das zählt. Sobald man sagt, dass Freud, Piaget und Buddha für das Verständnis des Bewusstseins wichtig sind, dann sagen die Buddhisten: Warum ziehen Sie so über den Buddhismus her? Sobald man zeigt, dass die grobstoffliche Natur, die feinstoffliche Seele und der transzendente Geist gleichermaßen wichtig sind, sagen die Umweltschützer: Wieso hassen Sie die Natur? Aber ich möchte auch nicht vergessen hinzuzufügen: Manche Menschen reagieren vielleicht deshalb negativ auf eine integrale Sichtweise, weil sie falsch ist. Es könnte ja sein, dass diejenigen unter uns, die einer integraleren Sichtweise anhängen, sich einfach irren, und dann ist es klar, dass verständige und vernünftige Menschen hierauf negativ reagieren. Man muss also immer auch diese Möglichkeit berücksichtigen. Es muss nicht zwangsläufig so sein, dass sie sich bedroht fühlen, weil wir Recht haben und sie Unrecht – es könnte auch umgekehrt sein.
Dienstag, 27. Mai Habe den ganzen Morgen gearbeitet, nichts als gelesen. Marci und ich haben Lebensmittel besorgt und dann miteinander trainiert. Das Paar, das miteinander Eisen stemmt... bleibt zusammen? Oder landet gemeinsam in der Notfallaufnahme?
Mittwoch, 28. Mai Vor kurzem erschien die Sondernummer der Noetic Sciences Review zum zehnjährigen Erscheinen der Zeitschrift. Ich wurde gebeten, eine Zusammenfassung und Übersicht über das letzte Jahrzehnt der Bewusstseinsstudien zu schreiben. Diesem Beitrag ließ man Antworten von Alwyn Scott, Duane Eigin, Jeanne Achterberg, Peter Russell und Will Keepin folgen. Es waren durchwegs kluge und durchdachte Antworten, und ich glaube, dass das ganze Heft sehr gut gemacht war, vor allem dank der Bemühungen der Chefredakteurin Barbara McNeill und der leitenden/stellvertretenden Redakteure David Johnson, Carol Guion, Christian de Quincey und Keith Thompson. Die Herausgeber gaben folgende Einführung zu dieser Diskussion: "In einer Übersicht über das Gebiet der Bewusstseinsstudien, die Ken Wilber speziell für unsere Jubiläumsnummer geschrieben hat, stellt er zwölf Schlüsselelemente eines wirklich integralen Ansatzes hinsichtlich dieses drängendsten Themas unserer Zeit vor." Die zwölf großen Schulen in dieser Zusammenfassung waren Kognitionswissenschaft, Introspektionismus, Neuropsychologie, Individualtherapie, Sozialpsychologie, klinische Psychiatrie, Entwicklungspsychologie, psychosomatische Medizin, außergewöhnliche Bewusstseinszustände, östliche und kontemplative Traditionen, Quantenbewusstsein und die Erforschung feinstofflicher Energien. Der entscheidende Punkt war: "Was mir auf dem Gebiet der Bewusstseinsstudien (und nicht nur dort) auffällt, ist die Tatsache, dass Bewusstseinsforscher sich oft zu einem sehr frühen Zeitpunkt ihrer beruflichen Laufbahn für einen oder zwei dieser Ansätze entscheiden, meist unter dem Einfluss eines Mentors, einer Organisation oder eines akademischen Fachbereichs. Und wie die menschliche Natur nun einmal ist, fällt es ihnen dann außerordentlich schwer, die Existenz anderer Ansätze wahrzunehmen oder überhaupt nur zur Kenntnis zu nehmen. Befunde, die ihre eigene Position stützen, werden eifrig gesammelt; Befunde, die ihr zu widersprechen scheinen, werden ignoriert oder für ungültig erklärt. Aber versuchen wir es noch einmal mit der folgenden Annahme: Der menschliche Geist ist unfähig, zu 100% Falsches hervorzubringen. Mit anderen Worten, niemand bringt es fertig, sich die ganze Zeit zu irren. Das würde doch schlicht und einfach bedeuten, dass jeder dieser zwölf Ansätze unmöglich nur Falsches enthalten kann; positiv ausgedrückt: Jeder von ihnen kann uns etwas überaus Wichtiges und Wertvolles sagen. Dies bedeutet aber unausweichlich, dass wir unseren Fortschritt in Richtung einer wahrhaft integralen Ausrichtung daran messen müssen, inwieweit es uns gelingt, alle diese zwölf bedeutsamen Ansätze in einer Synthese zusammenzufassen und zu integrieren. Gewiss ist dies eine gewaltige Herausforderung; andererseits ist klar, dass darunter ein 'integraler Ansatz' nicht zu haben ist." Nach einer ausführlichen Erörterung dieses Themas schließt der Essay wie folgt: "Wie weit sind wir auf diesem integralen Weg inzwischen gekommen? In den letzten zehn Jahren hatten wir, von einigen bedeutsamen Ausnahmen abgesehen, meist zwölf Stücke, die alle für sich in Anspruch nahmen, der ganze Kuchen zu sein. In einer Reihe von Büchern (insbesondere Das Wahre, Schöne, Gute) habe ich versucht, eine Version einer integralen Theorie des Bewusstseins zu formulieren, die diese zwölf großen Ansätze ausdrücklich einschließt. Das Entscheidende ist aber nicht meine persönliche Version einer integralen Sichtweise, sondern es kommt vielmehr darauf an, dass wir jetzt in diesen außerordentlichen Dialog über die grundsätzliche Möglichkeit eines integralen Ansatzes eintreten, der – man kann dies in ganz unterschiedlicher Weise ausdrücken – das Nüchtern-Kühle mit dem Empfindsam-Zarten verbindet, die Naturwissenschaften mit den poetischen Wissenschaften, objektive Wirklichkeiten mit subjektiven Wirklichkeiten, das Empirische mit dem Transzendenten. Hoffen wir also, dass in einem weiteren Jahrzehnt jemand in der Bewusstseinsforschung einen großen Trend wahrzunehmen vermag, nämlich den wahrhaft integralen Ansatz, und lassen wir alle, denen uns Holismus, Einschließung, Synthese, Integration ein Anliegen ist, diesen Trend einleiten, genau hier und genau jetzt. Aber ist eine wahrhaft integrale Theorie des Bewusstseins überhaupt möglich? Nun, dies ist meine Frage, die ich an Sie alle richten möchte, und dies wäre meine Herausforderung. Wie groß ist unser Dach? Wie weit und wie tief können wir unser Netz des guten Willens auswerfen? Wie viele Stimmen wollen wir in diesem Chor des Bewusstseins zulassen? Wie viele Antlitze des Göttlichen werden unseren Bemühungen zulächeln? Wie viele Farben wollen wir in unserer Regenbogen-Koalition wirklich anerkennen?
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Und wenn wir bei all diesen Forschungen einen Augenblick innehalten und die Theorie beiseite lassen, wenn wir uns in den Urgrund unseres eigenen inneren Gewahrens entspannen, was werden wir dort finden? Wenn der Zaunkönig freudig am Anbruch eines klaren Morgens jubiliert, wo ist dann unser Bewusstsein? Wenn das Sonnenlicht von der Herrlichkeit eines schneebedeckten Berggipfels herableuchtet, wo ist dann das Bewusstsein? An dem Ort, den die Zeit vergaß, in diesem ewigen Augenblick ohne Datum und Dauer, im geheimen Palast des Herzens, in dem Zeit und Ewigkeit sich berühren und der Raum nach der Unendlichkeit ruft, wo Regen auf das Tempeldach fällt und jeder Tropfen die Schönheit des Göttlichen verkündet, wo sich das Mondlicht in einem Tautropfen spiegelt und uns daran erinnert, wer wir sind, und wenn im ganzen Universum nichts ist als das Geräusch eines einsamen Wasserfalls irgendwo im Dunst, der sanft deinen Namen ruft – wo ist dann das Bewusstsein?"
Donnerstag, 29. Mai Die Welt entsteht heute Morgen sehr still, auf einem leuchtenden Meer durchscheinender Leerheit schimmernd. Es gibt nur dies: weit, offen, leer, klar, in lichtvoller Blöße. Alle Fragen lösen sich in dieser einen Antwort auf, alle Zweifel verschwinden in diesem einzigen Schrei, alle Besorgnisse sind ein Kräuseln auf diesem Meer des Gleichmuts. Dieser Eine Geschmack ist mit jeder und allen Welten verträglich, aber er ist am glücklichsten, wenn er das Lied der holistischen Einschließung singt. Deshalb auch muss es das vordringliche Anliegen einer integralen Theorie des Bewusstseins sein, alle Ebenen in allen Quadranten zu berücksichtigen und zu integrieren, oder, anders ausgedrückt, alle Ebenen in der großen Dreiheit Ich, Wir und Es, oder die Darstellungen des Bewusstseins in der ersten, der zweiten und der dritten Person. Heute tobt ein heftiger Krieg zwischen der Auffassung der ersten Person, der introspektiven Sichtweise (die die unmittelbare Introspektion der Bewusstseinsinhalte betont, wie sie sich dem individuellen Gewahren darbieten), und den Auffassungen der dritten Person, der objektiven/naturwissenschaftlichen Darstellung, die das ganze Bewusstsein in objektive Entitäten oder "Es-heiten" überführen möchte, die von der empirischen Wissenschaft aufgefunden werden können. Beide übersehen aber die Bedeutung der Darstellungen der zweiten Person, des intersubjektiven Bereichs sprachlicher Strukturen, ethischer Kontexte, gemeinsamer Semantik und kultureller Hintergründe, ohne die ein "Ich" oder ein "Es" überhaupt nicht erkannt werden können. Dafür wiederum betonen die Human- und Kulturwissenschaften nur den kulturellen Hintergrund, wobei sie versuchen, alles subjektive Gewahren (des "Ichs") und alle objektive Erkenntnis (von "Es"-heiten) auf nichts als kulturelle Konstrukte (des "Wir") zu reduzieren. Alle drei Ansätze sind falsch, weil alle drei richtig sind, und alle drei müssen im Ringen um die Integration einbezogen werden. Ich kenne niemanden, der einen ähnlichen integralen Ansatz verfolgt, der das Reich der ersten, der zweiten und der dritten Person gleichermaßen einschließt, mit Ausnahme natürlich des gescheitesten Menschen auf dem Antlitz des Planeten, Jürgen Habermas. Habermas berücksichtigt allerdings die transrationalen, transpersonalen Bereiche nicht, weshalb er zwar alle Quadranten, aber nicht alle Ebenen zulässt, wenn ich ihn richtig verstanden habe. Jedenfalls habe ich diesen Ansatz ausdrücklich in Das Wahre, Schöne, Gute und mehr fachspezifisch in meinem Aufsatz "An Integral Theory of Consciousness" dargelegt, der im Journal of Consciousness Studies veröffentlicht wurde. Dies ist eine außerordentliche Zeitschrift, die es erst seit vier Jahren gibt, aber bereits jetzt zum zentralen Forum für diese wichtigen Diskussionen geworden ist. Für sie schreiben so erleuchtete Geister wie John Searle, Daniel Dennett, Francisco Varela, John Eccies, Roger Penrose, David Chalmers, die Churchlands usw. Auf der Titelseite der betreffenden Nummer steht: "Taxonomy or Taxidermy?", was höchst treffend ist: Muss man das Bewusstsein als wirklich (Taxonomie) akzeptieren und kategorisieren, oder ist es totes Fleisch, das nur für die Taxidermie taugt?
Samstag, 31. Mai Bei der Meditation heute Morgen ruhte ich nicht im absichtslosen, klaren, allgegenwärtigen Gewahrsein – einer Standard-"Nicht-Übung" –, sondern führte eine alte Yabyum-Visualisierung (technisch Anuttaratantra-Yoga) durch. Alt deshalb, weil ich diese Übung, bei der es um die Transformation sexueller Energie in strahlende Wonne und mitleidsvolle Einschließung geht, sehr oft durchgeführt habe. Es geht dabei hauptsächlich um Übungen auf der feinstofflichen Ebene (sie beginnen im Psychischen, führen zum Feinstofflichen und lösen sich gelegentlich im Kausalen auf. Nur selten gelangen sie bis zum nichtdualen Einen Geschmack oder Sahaja, aber sie sind exemplarische Übungen für die Entwicklung des psychischen und feinstofflichen Bereichs). Der Kern dieses Übungstyps wird oft zusammengefasst als "Seligkeit, die die Leerheit erkennt, entsteht als Mitgefühl". Die Übung geht wie folgt: Bei der Meditation visualisiert man sich selbst in der sexuellen Vereinigung mit seiner Partnerin. Man visualisiert sich selbst und seine Gefährtin als Gott oder Göttin, Engel oder Bodhisattva, Buddha oder Heiliger, oder was auch immer man als Symbol seiner eigenen tiefsten oder höchsten Natur verwenden möchte. Wichtig ist dabei, dass man sich selbst und seine Gefährtin sehr intensiv und sehr klar als durchscheinende, strahlende Gottheiten im Liebesspiel vorstellt. Dabei entsteht echte sexuelle Erregung, die man mit dem Atem koordiniert: Beim Einatmen atmet man Licht an der Vorderseite des Körpers zu den Genitalien hinab, zum Sitz des Lebens; beim Ausatmen atmet man Leben über die Rückseite des Körpers, längs der Wirbelsäule in das Licht im und oberhalb des Scheitels. (Dies ist nur eine weitere Version der Involution/Evolution, der Hereinführung des Höheren in das Niedrigere und der Rückführung des Niedrigeren in das Höhere, wodurch ein großer Kreislauf absteigender und aufsteigender Energie entsteht. Wenn man diese Übung mit einem wirklichen Partner durchführt, kann man den Atem aufeinander abstimmen.) Lustgefühle, die im Genitalbereich entstehen, werden beim Ausatmen die Wirbelsäule hinaufgeleitet und in das Licht am Scheitel entlassen. Man atmet einfach alle Lustempfindungen im Körper unmittelbar in den Scheitel, den Sitz unendlichen Lichts und unendlicher Befreiung. Dann atmet man beim Einatmen Licht direkt nach unten und in den Körper, vor allem über die Vorderseite, vom Gesicht über die Kehle, Brust und Magen zu den Genitalien. So baut sich ein Kreislauf auf, bei dem man himmlisches Licht nach unten und in das irdische Leben bringt und Leben wieder zum Licht emporträgt; so verbindet man mit jedem Atemzug abwärts gerichtete Agape und aufwärts gerichteten Eros, Abstieg und Aufstieg, Mitgefühl und Weisheit. Wenn der ganze Körpergeist von kreisender Lust und Seligkeit erfüllt ist, setzt man gezielt alle vorhandene Wonne für die Meditation über die Leerheit ein, über das absolute Mysterium des Daseins, über die schlichte Durchscheinendheit der Welt, über Gott als eigenschaftslose Ausdehnung – was auch immer einem am besten gelingt. In der Praxis geschieht dies auf einfache Weise, indem man als Ich-Ich ruht, als der große Seher, der selbst nicht gesehen werden kann, der reine Zeuge, der völlig offen und leer ist. So im
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Ich-Ich ruhend lässt man Seligkeit sich in diesen offenen und leeren Raum ausdehnen, der man jetzt ist, die Unendlichkeit des Ich-Ich füllen, das man ist. Der Himmel des eigenen Gewahrens wird mit der Seligkeit der göttlichen Vereinigung ausgefüllt, die man jetzt ist. In diesem Zustand der weiten Seligkeit der Seinsheit, der unendlichen Erfülltheit ohne Begierden und ohne Wünsche lässt man eine sanfte kleine Kräuselung eines Gedankens entstehen: Ich gelobe, alle fühlenden Wesen in diesen freien und offenen Raum zu erlösen. Damit erhebt sich aus diesem weiten Ozean der Seligkeit eine Kräuselung des Mitgefühls. Dieses Mitgefühl ist buchstäblich aus dieser unendlichen leeren Seligkeit zusammengesetzt, es besteht aus ihr, wie die Wellen aus dem Ozean bestehen. Mitgefühl ist tätig gewordene unendliche leere Seligkeit. Seligkeit, die die Leerheit erkennt, nimmt als Mitgefühl Gestalt an. Mit anderen Worten, Seligkeit, die ihren eigenen göttlichen Grund (Geist oder Leerheit) erkennt und wieder Verbindung mit ihm aufnimmt, verspürt den Antrieb, diese befreiende und ekstatische Gnade auf alle Wesen auszudehnen, und nimmt daher als Mitgefühl im Dienste anderer Menschen Gestalt an. Ich stehe aus dem Bett auf, mache Frühstück und gehe wieder an die Arbeit.
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Juni Warum bist du so unglücklich? Weil 99,9% von allem, was du denkst, und von allem, was du tust, für dich selbst ist – und es gibt kein Selbst. Wei Wu Wei
Sonntag, 1. Juni T George Harris und Kate Olson waren gerade bei mir zu Besuch. Kate, Regisseurin der "Jim Lehrer News Hour" des Senders PBS, ist für einige sehr gute spirituelle Sendungen verantwortlich, wie z.B. diejenigen über Pater Thomas Keating, den Dalai Lama usw. Kate ist eine wunderbare Frau – intelligent, attraktiv, selbst auf einem spirituellen Übungsweg – weshalb wir zusammensitzen, sooft es geht. T George ist gerade dabei, eine neue Zeitschrift über Spiritualität herauszubringen. Ich glaube, wenn es irgendjemand schafft, dann er. Er ist der Begründer von Psychology Today, das, solange er es leitete, ein hervorragendes Blatt war. Alle schienen es zu lesen; für viele von uns war es geradezu lebenswichtig. Das war vor zwanzig Jahren; ich habe noch viele der alten Exemplare. Dann brachte George das Magazin American Health heraus, und jetzt arbeitet er an Spirituality and Health. Er ist in den Siebzigern und wie Huston Smith ein Vorbild für alle, die sich vom Älterwerden nicht einschüchtern lassen. Wir sitzen auf dem Balkon, Blick auf die Ebene. Ich habe ein kleines Mittagessen gerichtet. Das Standardthema zwischen T George und mir ist die Frage, wie man eine Zeitschrift lesbar und für alle zugänglich machen kann, die zugleich einigen Tiefgang und intellektuellen Anspruch haben soll. Es ist das übliche kaufmännische Dilemma – je mehr Tiefe das Produkt hat, desto kleiner ist üblicherweise das Publikum. Mein lahmer Vorschlag lautet, die Zeitschrift in mehrere Abteilungen zu gliedern und das meiste davon zugänglich zu machen, den Rest anspruchsvoll. Ein lahmer Vorschlag, denn wie macht man so etwas? Jedenfalls ist George noch damit beschäftigt, Mittel zu beschaffen; er sagt, dass er im Augenblick gerade mit Time Warner verhandelt. Ich hoffe, dass etwas daraus wird, denn wir brauchen wirklich ein landesweites Forum für eine authentische Spiritualität. Dann führen wir ein langes Gespräch über die Prä/Trans-Verwechslung. Diese Konzeption, die ich im Atman-Projekt eingeführt und in einem Essay mit dem Titel "Die Prä/Trans-Verwechslung" (auch in Das Wahre, Schöne, Gute enthalten) ausgearbeitet habe, ist recht einfach. Sie besagt, dass prä-rational und post-rational oft miteinander verwechselt werden, weil beides nicht-rational ist. Dann können zwei Dinge geschehen, das eine so schlimm wie das andere: Entweder werden reife, spirituelle, transrationale Zustände auf infantile, prärationale Zustände reduziert, oder infantile, narzisstische, prärationale Zustände werden zu einer transrationalen Herrlichkeit erhöht. Reduktionismus einerseits, Elevationismus andererseits. Freud z. B. war ein typischer Reduktionist, weil er versuchte, tiefe, nichtduale, mystische Zustände auf einen primären Narzissmus und eine infantile ozeanische Verschmelzung zu reduzieren: die Zukunft einer Illusion. Jung wiederum war ein typischer Elevationist, der dazu neigte, prärationale Mythen zu transzendenter Größe zu erhöhen. (Ein Mythos ist eine Geschichte, die seine Anhänger weitgehend für buchstäblich und in einem konkreten Sinne für wahr halten: Moses hat wirklich das Rote Meer geteilt, Jesus wurde wirklich von einer biologischen Jungfrau geboren usw. Wenn andererseits "Mythos" bewusst in einem allegorischen, symbolischen oder interpretativen Sinne gebraucht wird, werden hierfür höhere kognitive Fähigkeiten von Vernunft bis Schau-Logik benötigt, und in diesem Modus sind gelegentlich Ahnungen des Transpersonalen möglich. Wenn nichts anderes angegeben ist, meine ich mit Mythos konkretwörtliche Mythen, die im Allgemeinen prärational sind.) Früher einmal waren die Reduktionisten eine echte Bedrohung für die spirituellen Studien, doch ist inzwischen eine noch größere Bedrohung aus der New-Age-Bewegung aufgetaucht, nämlich die Elevationisten. Diese Leute, denen man gewiss auch gute und vernünftige Absichten nachsagen kann, bezeichnen einige kindische, infantile, egozentrische Zustände als "heilig" oder "spirituell", nur weil sie "nichtrational" sind, und hier liegt ein echtes Problem. Wirkliches Wachstum vollzieht sich vom Prärationalen über das Rationale zum Transrationalen, vom Unbewussten über das Selbstbewusste zum Überbewussten, vom Präkonventionellen über das Konventionelle zum Postkonventionellen, vom Präpersonalen über das Personale zum Transpersonalen, vom Es über das Ich zu Gott. Aber unter dem Irrtum der Prä/Trans-Verwechslung wird "prä" oft zu "trans" erhöht, und eine narzisstische Versenkung, ins Ego tritt an die Stelle des anspruchsvollen Prozesses eines echten Wachstums und einer echten Transformation. Leider verbirgt sich, wie ich meine, unter einem großen Teil der "spirituellen Renaissance", die angeblich Amerika erfasst hat, in Wirklichkeit eine prärationale Regression, nicht transrationales Wachstum. Dies kann man nur außerordentlich bedauern. Prärationales Ausagieren wird mit transrationalem Gewahren verwechselt; präverbale Gefühle und Triebe werden zu trahsverbaler Erkenntnis erhöht; prämoralische Ich-Willkür wird mit dem transmoralischen Selbst verwechselt; präkonventionelle Natur wird zu postkonventionellem Geist verklärt, und das prärationale Es wird mit dem transrationalen Gott verwechselt. Das Etikett "spirituell" beschert heute Verlagen und Buchclubs erstaunliche Umsätze. Aber dass wir heute tatsächlich auf dem Weg in eine "integrale Kultur" oder eine "spirituelle Erneuerung" sind, ist, wie ich fürchte, keineswegs ausgemacht. William Irwin Thompson schätzte, dass etwa 80% dieser "spirituellen" Renaissance prärational und weniger als 20% transrational sind. Ich stimme ihm zu, nur dass es in Wirklichkeit noch viel schlimmer ist. Meine eigene Analyse ergibt, dass das wirklich Transrationale weniger als 1% der Bevölkerung zugänglich ist.17 Studien zeigen regelmäßig, dass der Anteil derjenigen, die die höchsten Stufen der personalen Entwicklung erreichen, unter 5% liegt. Man kann sich leicht ausrechnen, wie wenige noch darüber hinaus in den Bereich der transpersonalen Entwicklung vorstoßen. Jedenfalls ist dies ein Marketing-Dilemma, und darüber diskutieren T George, Kate und ich. Wenn der "spirituelle Markt" prärationale Magie und Mythologie bevorzugt, wie kann man dann die kleine Gruppe derer erreichen, die wirklich den mühevollen, anstrengenden Weg zu transrationaler Spiritualität gehen? Die Schwierigkeit liegt darin, dass beide Märkte als "spirituell" bezeichnet werden, doch vertragen sich diese beiden Lager nicht sonderlich gut miteinander. Das eine Lager ist überwiegend translativ, das andere überwiegend transformativ, und sie schätzen einander üblicherweise nicht. Wie bekommt man also beide in eine Zeitschrift, ohne beide zugleich zu verfälschen? Daneben hat ein großer Teil derjenigen, die auf prärationalen Pfaden wandeln, den echten Wunsch, sich für authentische transpersonale und transrationale Zustände zu öffnen, weshalb es sehr wichtig ist, Raum für alle zu schaffen. T George ist
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diese Problematik sehr bewusst, und dies ist gut, denn dies wird die Marketing-Schwierigkeit in Zusammenhang mit der Spiritualität der Nachkriegsgeneration sein.
Montag, 2. Juni Am frühen Morgen steigt die rote Sonne langsam auf und ergießt ihren Schein in leerer, leuchtender Klarheit. Der Geist und der Himmel sind eins; die Sonne erhebt sich im weiten Raum des ursprünglichen Gewahrens, und da ist einfach dies. Yasutani Roshi sagte einmal, dass Satori die kostbarste Erkenntnis der Welt sei, weil alle großen Philosophen erfolglos versucht hätten, die höchste Wirklichkeit zu verstehen, während im Satori, im Erwachen, alle tiefsten Fragen die endgültige Antwort finden: Es ist einfach dies.
Dienstag, 3. Juni Müssen wir uns tatsächlich Sorgen über den Zustand der Kunst in der postmodernen Welt machen? Aus der Zeitschrift 5280: "In einem Beitrag der Sendung '60 Minutes' über die lächerliche Welt der postmodernen Kunst führte Morely Safer einen zweieinhalb Meter großen Aschenbecher, der mit echten Zigaretten- und Zigarrenstummeln gefüllt war, als eines der dreistesten Beispiele dafür an, was heute als Kunst durchgeht. Als Postskriptum merkte Safer an, dass das gute Stück vor kurzem vom Denver Art Museum für 60 000 Dollar erworben wurde." Müssen wir uns tatsächlich Sorgen über die Ethik in der heutigen Geschäftswelt machen? Aus Men's Health: "Am Arbeitsplatz erwünschte Qualitäten. An erster Stelle: Loyalität. In einer vor kurzem unter Führungskräften durchgeführten Umfrage sagten 86%, dass sie diese Eigenschaft bei ihren Untergebenen am meisten schätzten. Letzter Platz: Integrität. Nur 3% schätzten diese Eigenschaft am meisten."
Mittwoch, 4. Juni Habe den ganzen Vormittag gearbeitet. Beschloss, hinter meinem Haus joggen zu gehen. Ruht man im Zeugen, während man läuft, bewegt man sich nicht, sondern der Boden bewegt sich. Als der Zeuge ist man unbeweglich, oder genauer gesagt, man hat überhaupt keine Eigenschaften, keine Merkmale, keine Bewegung und Regung, weil man in der großen Leerheit ruht, die man ist. Man gewahrt die Bewegung, weshalb man als der Zeuge nicht in Bewegung ist. Wenn man läuft, fühlt es sich daher so an, als ob man sich überhaupt nicht bewegen würde – der Zeuge ist frei von Bewegung, aber auch von Unbewegtheit –, weshalb sich einfach der Boden bewegt. Es ist, wie wenn man im Kino reglos auf seinem Sitz säße und zusähe, wie sich das ganze Schauspiel um einen herum entfaltet. (Das kann man auch sehr gut ausprobieren, wenn man im Auto fährt. Man kann sich einfach zurücklehnen, entspannen und so tun, als ob man sich nicht selbst bewegen würde, sondern nur die umgebende Welt. Dies genügt oft schon, um jemanden schlagartig in den Zustand des Zeugen zu versetzen, in dem man einfach als absichtsloses Gewahren ruht und die Welt unbewegt an sich vorüberziehen lässt. Dieser unbewegte Mittelpunkt des eigenen kleinen Gewahrens ist letztlich der Mittelpunkt des ganzen Kosmos, das Auge des Ichich, des kosmischen Wirbelsturms. Dieser unbewegte Mittelpunkt – es gibt nur einen in der ganzen Welt, und er ist für alle Wesen gleich, der Kreis, dessen Mittelpunkt überall und dessen Umfang nirgendwo ist – ist auch der Schwerpunkt der eigenen Seele.) Deshalb heißt es im Zen: "Ein Mann in New York trinkt Wodka, ein Mann in Los Angeles wird betrunken." Derselbe Große Geist ist zeitlos und raumlos an beiden Orten gegenwärtig. Ob man in New York trinkt oder in Los Angeles betrunken wird, ist für den bewegungslosen, raumlosen Zeugen dasselbe. Deshalb heißt es im Zen: "Gehe nach New York ohne dich zu bewegen!" Die Antwort: "Ich bin schon da." Als der Zeuge gehe Ich-Ich nicht durch die Zeit; die Zeit geht durch mich hindurch. Wie Wolken am Himmel vorbeiziehen, so zieht die Zeit durch den offenen Raum meines ursprünglichen Gewahrens hindurch, und Ich-Ich bleibe von Zeit und Raum und ihren Beschwerden unberührt. Ewigkeit heißt nicht, unendlich in der Zeit zu leben – eine eher erschreckende Vorstellung –, sondern im zeitlosen Augenblick zu leben, vor der Zeit und all ihren Wirren. Ebenso bedeutet Unendlichkeit nicht einen sehr großen Raum, sondern Raumlosigkeit. Als der Zeuge bin Ich-Ich raumlos. Als der Zeuge bin Ich-Ich zeitlos. Ich-Ich lebe in Ewigkeit und bewohne die Unendlichkeit, einfach deshalb, weil der Zeuge frei von Zeit und Raum ist. Und deshalb kann ich in New York Wodka trinken und in Los Angeles betrunken werden. Also bin ich heute Vormittag joggen gegangen, und ich habe mich nicht bewegt, nur die Landschaft im Film meines Lebens.
Donnerstag, 5. Juni Wie Gelehrte von Ananda Coomaraswamy bis Huston Smith erklärt haben, ist der Kern der Philosophia perennis die Große Kette des Seins, die Große Verschachtelung des Seins. Man weiß heute jedoch, dass die Große Kette, wie sie traditionell verstanden wurde, in mindestens vier Punkten unzulänglich ist, und um sie in die moderne und postmoderne Welt hinüberzuretten und einen wahrhaft integralen Ansatz zu entwickeln, muss man sich mit diesen Mängeln sorgfältig auseinander setzen. Die Große Kette umfasst traditionell Stoff, Körper, Geist, Seele und GEIST. (S. Abb. 1.) Viele Traditionen nehmen hier eine wesentlich feinere Gliederung vor. So wird die Seele oft in eine psychische und feinstoffliche Ebene und der Geist in eine kausale und nichtduale Ebene unterteilt. Eine erweiterte Große Verschachtelung würde also Stoff, Körper, Geist, Seele (psychische und feinstoffliche) und GEIST (kausaler und nichtdualer) umfassen. So weit, so gut. Aber nun wird behauptet, dass diese Ebenen die ganze Wirklichkeit umfassen sollen. Wir haben aber gezeigt, dass sie sich zum größten Teil nur auf den oberen linken Quadranten beziehen, das Spektrum des inneren Bewusstseins, und hier liegt die erste Unzulänglichkeit. Wie ich also schon des Öfteren darzulegen versucht habe, müssen die vertikalen Ebenen der Großen Kette in vier horizontale Dimensionen (vier Quadranten) aufgegliedert werden. Neben dem subjektiven Spektrum des Bewusstseins brauchen
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wir also auch objektive Korrelate (der obere rechte Quadrant), intersubjektive kulturelle Hintergründe (Unten Links) und kollektive soziale Systeme (Unten Rechts) (s. Abb. 1, 2 und 3). Andernfalls ist die Große Kette der heftigen Kritik nicht gewachsen, die die Moderne (zu Recht) gegen sie erhoben hat. So wussten z. B. die großen Traditionen in den seltensten Fällen etwas davon, dass Bewusstseinszustände (Oben Links) Korrelate im organischen Gehirn (Oben Rechts) haben – eine Tatsache, die unsere Auffassungen in der Psychopharmakologie, der Psychiatrie und in der Bewusstseinsforschung revolutioniert hat. Ebenso fehlte in den Traditionen die Einsicht in die Tatsache, dass individuelles Bewusstsein (Oben Links) nachhaltig sowohl von den im Hintergrund wirkenden kulturellen Weltsichten (Unten Links) als auch von den technisch-wirtschaftlichen Produktionsweisen (Unten Rechts) geprägt wird, in denen es sich vorfindet. Damit war die Große Verschachtelung einer verheerenden Kritik u. a. seitens der modernen Biologie, der Marxisten und der Kultur- und Geschichtswissenschaften preisgegeben, die aufzeigten, dass Bewusstsein nicht einfach ein körperloses transzendentes Noumenon ist, sondern vielmehr fest in den Kontext objektiver Tatsachen, kultureller Hintergründe und gesellschaftlicher Strukturen eingebettet ist. Die Theoretiker der Großen Kette hatten diesen Angriffen nichts Glaubwürdiges entgegenzusetzen. Erst dann, wenn man Körper, Geist, Seele und GEIST in die vier Quadranten (oder einfach die "Großen Drei") differenziert, lassen sich diese Einwände entkräften.18 Die zweite Unzulänglichkeit besteht darin, dass die Ebene des Geistes (mind) nach Maßgabe von dessen früher Entwicklung untergliedert werden muss. Hier hat die westliche Psychologie einen entscheidenden Beitrag geleistet. Kurz gesagt, durchläuft der Geist selbst vier Hauptstufen des Wachstums: magisch (2 bis 5 Jahre), mythisch (6 bis 11 Jahre), rational (ab 11 Jahre) und integralaperspektivisch oder Schau-Logik (Erwachsenenalter). Nimmt man all diese östlichen und westlichen Erkenntnisse zusammen, dann umfasst eine vollständigere Große Verschachtelung des Seins die nachfolgenden zehn Ebenen oder Sphären, die ihre Vorgänger im Entwicklungsprozess jeweils wie folgt einschließen: 1. Sensomotorisch: Der physische Körper, die materielle Ebene, die Physiosphäre. 2. Emotionell-sexuell: Triebe, Empfindungen, Wahrnehmungen, Gefühle, Lebensenergie, Élan vital, Libido, Prana, Bioenergie. 3. Magisch: Die Frühform des Geistes ("präop" oder frühe Symbole und Begriffe), eine Stufe, auf der Subjekt und Objekt noch kaum differenziert sind. Ihre Kennzeichen sind Egoismus, Artifizialismus, Animismus, Anthropozentrik und Wortmagie. Wegen dieser mangelnden Differenzierung werden physischen Objekten egoistische menschliche Antriebe beigelegt. Ebenso glaubt das narzisstische Ich, dass es die Welt direkt und in magischer Weise verändern könne. Kinder-Cartoons sind ganz auf diese magische Struktur abgestellt: Superhelden können Berge mit einer Handbewegung versetzen, sie können fliegen, Eisen zum Schmelzen bringen, Feinde wegzappen und in sonstiger Weise die Welt durch ihre Zauberkraft manipulieren. Kurz, weil Subjekt und Objekt noch nicht klar differenziert sind, behandelt das magische Ich die Welt als Verlängerung seiner selbst und legt ihr seine eigenen Merkmale bei. Es herrschen Narzissmus und Egoismus. 4. Mythisch: Eine Zwischenstufe des Geistes ("konop", der konkrete Regel/Rolle-Geist), auf der die magische Kraft vom Ich auf eine Heerschar mythischer Götter und Göttinnen übertragen wird; wenn das Ich die Welt nicht in wunderbarer Weise nach Belieben verändern kann, dann können es die Götter und Göttinnen. Auf der magischen Stufe hat das Ego selbst immer die Fähigkeit, Wunder zu vollbringen; auf der mythischen Stufe ist die Fähigkeit, Wunder zu wirken, immer im Besitz eines großen Anderen, und zwar auf eine sehr konkrete und buchstäbliche Weise (so hat Jehova z. B. das Rote Meer wirklich geteilt). Die magische Stufe bedient sich also des Rituals, um ihre eigene wundertätige Kraft zu zeigen; die mythische Stufe bedient sich des Gebets, um Gott oder die Göttin dazu zu bewegen, das Wunder an ihrer Stelle zu wirken. Andererseits ist die mythische Stufe der Beginn der Erkenntnis, dass das Ich die Welt nicht in magischer Weise manipulieren kann; dies bedeutet eine Verringerung des Narzissmus, einen Rückgang des Egoismus. 5. Rational: Eine stark differenzierte Funktion des Geistes ("formop", formal-reflexiv), die konkret-buchstäbliche Mythen verwirft und stattdessen versucht, ihre Bedürfnisse durch Prüfung des Augenscheins und Einsicht zu befriedigen. Weder egozentrische Magie noch mythische Göttergestalten greifen jetzt noch in wunderbarer Weise in den Lauf der kosmischen Ereignisse ein, um die individuellen egoistischen Wünsche zu befriedigen. Wenn man etwas vom Kosmos haben möchte, muss man ihn aus dessen eigenen Gesetzmäßigkeiten verstehen. Dies bedeutet die Geburt einer echten wissenschaftlichen Haltung und eine weitere Abschwächung des Narzissmus. 6. Schau-Logik: Die höchste Funktion des grobstofflichen Geistes – ein synthetisierender, vereinheitlichender Erkenntnismodus. Schau-Logik erreicht die Einheit nicht durch die Ausblendung von Unterschieden, sondern gerade durch deren Hereinnahme. Sie ist integral-aperspektivisch und gelangt zum universellen Pluralismus und zur Einheit in der Vielfalt. 7. Psychisch: Die erste Stufe der transpersonalen, überindividuellen oder spirituellen Reiche. Diese Ebene ist oft durch eine intensive mystische Vereinigung mit dem ganzen grobstofflichen Reich gekennzeichnet, dem Reich der Natur, Gaia, der Weltseele. Hier ist die Naturmystik beheimatet. 8. Subtil: Das subtile Reich im engeren Sinne ist die Heimat nicht der mythologischen, am eigenen Ich ausgerichteten Götter- und Göttinnengestalten des grobstofflichen Reichs, sondern diejenige der unmittelbar erkannten, intensiv lebhaften und ontologisch wirklichen Formen der eigenen Göttlichkeit. Dies ist der Bereich der echten Gottheitsmystik. 9. Kausal: Das kausale Reich an sich, das formlose Nichtmanifeste, Nirvikalpa, Nirvana, reine Leerheit, der Abgrund, Ayn. Der Grund des Zeugen. Das Reich der formlosen Mystik. 10. Nichtdual: Dies ist sowohl das höchste Ziel aller Stufen als auch der allgegenwärtige Urgrund aller Stufen. Die Einheit von Leerheit und Form, GEIST und Welt, Nirvana und Samsara – Ein Geschmack, Sahaja-Samadhi, Turiyatita. Der Bereich der integralen oder nichtdualen Mystik. Dies ist eine sehr viel vollständigere Große Kette, ein sehr viel vollständigeres Spektrum des Bewusstseins (ein vollständigerer oberer linker Quadrant).19 Jede dieser Ebenen besitzt wiederum vier Dimensionen oder Quadranten, aber schon in ihrer Grobstruktur erlaubt es uns diese vollständigere Große Verschachtelung, mit verschiedenen großen Irrtümern aufzuräumen: "
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Der Erhöhung von "magisch" und "mythisch" zu "psychisch" und "subtil". Diese Erhöhung des magischen Narzissmus zu einem transzendenten Bewusstsein ist wohl das Kennzeichen eines großen Teils der New-Age-Bewegung, wie gut die dahinter stehenden Absichten auch sein mögen. Der Verwechslung mythologischer Erzählungen mit unmittelbarem transpersonalen Gewahren. Diese Erhöhung des Mythos zu subtiler Erleuchtung ist vor allem in der Spiritualität der Gegenkultur verbreitet. Der Verwechslung von magischer Indissoziation mit holistischer Schau-Logik: Diese Erhöhung des magischen Erkenntnismodus, der das Ganze mit dem Teil verwechselt, in den Status der Schau-Logik, die das Ganze und den Teil integriert, herrscht
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insbesondere im Öko-Primitivismus (d.h. dem Glauben, dass Sammler-Stämme Selbst, Kultur und Natur integriert hätten, während sie dies – wie Theoretiker von Lenski über Habermas bis Gebser gezeigt haben – überhaupt noch nicht klar differenziert hatten). Der Verwechslung von Biosphäre, Bioenergie und Prana (Ebene 2) mit der Weltseele (Ebene 7). Diese Erhöhung der Ökologie zur Weltseele ist vielfach eines der kennzeichnenden Merkmale der Ökopsychologie, des Ökofeminismus und der Tiefenökologie. Sie hängt oft ebenfalls der obigen Verwechslung an, derjenigen von Magie mit Schau-Logik, indem sie eine rückwärts gewandte Übernahme der Weltsichten der Sammler und Gartenbauer empfiehlt.
Diese Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Es soll hier genügen zu sagen, dass man jedenfalls mit Hilfe einer vollständigeren Großen Holarchie des Seins die regressive Natur vieler Bewegungen aufzeigen kann. Die großen Weisheitstraditionen helfen uns also, wenn man sie um die westliche Psychologie ergänzt, auf unserem Weg nach vorwärts, nicht nach rückwärts. Das Problem, das durch die westliche Entwicklungspsychologie beseitigt werden kann, liegt in Folgendem: In der traditionellen Darstellung der Großen Kette (z.B. Stoff, Körper, Geist, psychische, subtile, kausale und nichtduale Stufe) bezeichnete die Ebene des Geistes (mind) praktisch immer die Fähigkeit des logischen und rationalen Denkens, und alles Nichtrationale musste auf die höheren, transrationalen Ebenen verlagert werden, weil man von den früheren prärationalen Entwicklungsstufen praktisch noch nichts wusste. Diese frühen, prärationalen Ebenen werden nur durch eine intensive Erkundung der kindlichen und frühkindlichen Entwicklung sichtbar, und dies ist der entscheidende Beitrag des modernen Westens. Deshalb musste und muss die traditionelle Große Verschachtelung (im Christentum, Hinduismus, Buddhismus, Sufismus, Daoismus, Heidentum, Göttinnen-Verehrung usw.) einer schweren Prä/Trans-Verwechslung erliegen, weil sie magisch und mythisch nicht von psychisch und subtil unterscheiden konnte – alles wurde in den transpersonalen/transrationalen Bereich eingeordnet. Diese unglückliche Verwechslung war in hohem Maße dafür verantwortlich, dass die westliche Aufklärung die Spiritualität so vollkommen verwarf, weil diese (und die Große Kette) völlig von dogmatischer Magie und Mythologie beherrscht war. Der Westen schüttete offiziell das Badewasser der Prärationalität aus, aber leider damit auch das transrationale Kind. Eine dritte Unzulänglichkeit: Weil die Theoretiker der traditionellen Großen Kette kaum etwas über die frühkindlichen prärationalen Entwicklungsstufen des Menschen wussten, konnten sie auch die Psychopathologien nicht verstehen, die oft durch Komplikationen in diesen frühen Stadien entstehen. Man weiß heute z. B., dass Psychosen oft aus Problemen im Stadium 1 und 2 resultieren, Borderlineund narzisstische Störungen aus solchen im Stadium 2 und 3 und Neurosen aus solchen im Stadium 3 und 4.20 Die westliche Tiefenpsychologie hat diese Pathologien und ihre Genese mit überzeugender Klarheit aufgezeigt, und die Große Kette muss dringend um diese Befunde erweitert werden. Wenn die Theoretiker der Großen Kette mit einem Fall von Wahnsinn zu tun hatten, mussten sie, weil sie noch nichts von den prärationalen Stadien wussten, annehmen, dass dies ein unbeherrschbarer Abstieg des transrationalen Gottes sei, während es sich in aller Regel um das erschreckende Auftauchen eines prärationalen Es handelte. Diese armen verwirrten Menschen waren in den seltensten Fällen von der Gottheit berauscht, sondern sie waren Borderline-Fälle. Sie als von Gott erfüllt zu betrachten, fällt in dieselbe Kategorie wie die heiligen Kühe und kann den Argwohn der Moderne durchaus nicht beseitigen, dass jegliche Spiritualität bloß eine Verrücktheit sei. Und wenn stammelnde Idioten und Kühe erleuchtet sind, warum sollte man dann auch einen Meister Eckhart, eine Theresia und einen Rumi ernst nehmen? Die vierte Unzulänglichkeit der traditionellen Großen Kette besteht darin, dass ihr der Gedanke einer Evolution fremd ist, einer Konzeption, die ebenfalls ein fast ausschließlicher Beitrag des modernen Westens ist. Das Interessante ist nur – worauf viele Theoretiker hingewiesen haben –, dass, wenn man die Große Kette um 90° dreht und sich in der Zeit entfalten lässt, die Umrisse der Evolution bereits sichtbar werden. Plotin in die Zeitachse gedreht = Evolution. Mit anderen Worten, die Evolution hat heute – seit dem Urknall – etwa drei Fünftel der Großen Kette in genau der vorhergesagten Reihenfolge entfaltet: von der unfühlenden Materie über lebende Körper zum begrifflichen Denken (oder von der Physiosphäre über die Biosphäre zur Noosphäre). Man braucht lediglich den Übergang zu der Vorstellung zu vollziehen, dass die Große Kette nicht etwas vollständig Gegebenes und statisch Unveränderliches ist, sondern sich vielmehr über große Zeiträume entwickelt, wobei jeweils die höheren Ebenen durch die (nicht aus den) niedrigeren emergieren. Tatsache ist, der Großsprecherei westlicher Biologen zum Trotz, dass niemand wirklich zu erklären vermag, wie in der Evolution höhere Stufen aus niedrigeren hervorgehen. Die einzige Erklärung ist Eros, der Geist-in-Aktion. Evolution im kulturellen Bereich ist natürlich nicht politisch korrekt, woraus man beruhigt schließen kann, dass eine solche Annahme richtig ist. Zahlreiche Theoretiker sind letztlich zu dieser Auffassung gelangt. In neuerer Zeit haben die kulturelle Evolution auf je unterschiedliche Weise Jürgen Habermas, Gerald Heard, Michael Murphy, W. G. Runciman, Sisirkumar Ghose, Alastair Taylor, Gerhard Lenski, Jean Houston, Duane Eigin, Jay Earley, Daniel Dennett, Robert Bellah, Erwin Laszio, Kishore Gandhi und Jean Gebser vertreten, um nur einige wenige zu nennen. Die Pionierarbeit von Jean Gebser kann hierfür beispielhaft angeführt werden: Für ihn entwickeln sich kulturelle Weltsichten – in seinen Worten – über die Stufenleiter archaisch, magisch, mythisch, mental und integral. Klingt das nicht vertraut? Der entscheidende Punkt ist, dass die Große Kette, sobald man sie mit einer evolutionären Sichtweise verbindet, sehr gut mit dem Gott des modernen Westens, nämlich dem Evolutionsgedanken, verträglich ist.21 Darüber hinaus gibt man damit einer faszinierenden Möglichkeit Raum: Wenn die Evolution bisher die ersten drei Fünftel der Großen Kette hervorgebracht hat, muss man dann nicht annehmen, dass sie weitergehen und auch noch die höheren zwei Fünftel hervorbringen wird? Wenn dem so ist, dann liegt Gott noch vor uns, Finden wir den GEIST im Voranschreiten, nicht im Zurückgehen, liegt der Garten Eden in der Zukunft, nicht in der Vergangenheit. Die Große Kette des Seins weist vier Unzulänglichkeiten auf, die es bisher verhindert haben, dass sie von der Moderne akzeptiert werden konnte: Sie umfasst nicht die vier Quadranten, sie lässt die frühe prärationale Entwicklung außer Acht und ist daher anfällig für schwere Prä/Trans-Verwechslungen, sie weiß nichts von frühkindlichen Pathologien, und sie kennt den Evolutionsgedanken nicht. Andererseits kann – und, wie ich glaube, wird – die Beseitigung dieser Mängel die große Holarchie vollständig mit den modernen Forschungsergebnissen und dem heutigen Informationsstand in Einklang bringen und so das Beste alter Weisheit mit dem Scharfsinnigsten moderner Erkenntnisse verbinden. Dies ist letztlich der Kern des integralen Ansatzes. Ich muss hier wieder an Huston denken. Die Große Kette ist sein Vermächtnis, und niemand hat so wie er dafür gekämpft, dass diese Idee wieder Eingang in die moderne Welt fand. Wenn aber die Große Kette wirklich überleben soll, dann kann dies nur in der hier skizzierten aktualisierten und integralen Form geschehen.
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Freitag, 6. Juni Bei der Darstellung der Großen Verschachtelung (in obigem Eintrag) wird mir wiederum klar, wie unerfreulich es ist, über die Bewusstseinsebenen in der Es-Sprache der dritten Person zu schreiben. Dies ist gewiss nützlich und notwendig, aber irgendwie trotzdem verfehlt. Ich werde eine Arbeit schreiben – vielleicht mit dem Titel "Anamnesis" –, in der jede Ebene von innen beschrieben wird, in einer Ich-Sprache der ersten Person. Darin soll nicht geschildert werden, wie jede Ebene aussieht, sondern wie die Welt von jeder Ebene aus aussieht.
Samstag, 7. Juni Habe den ganzen Morgen gearbeitet, Einkäufe erledigt, mit den Hanteln trainiert. Wieder am Schreibtisch, sehe ich meinen kleinen Freund, den Fuchs. Er hat sich unter meiner Veranda häuslich niedergelassen, und ich verwöhne ihn ab und zu mit ein paar Eiern. Vor einigen Monaten habe ich entdeckt, dass er eine Freundin hat. Ich saß bei der Arbeit, als sie sich beide vor mein Fenster setzten. Ich sah auf, und sie sahen mich an. Sie waren köstlich; sie sahen wie Zwillinge aus. Ich habe die Füchsin aber seit längerem nicht mehr gesehen; ich frage mich, wo sie ist.
Sonntag, 8. Juni An diesem Morgen – nur weite Leerheit. Nur Ich-Ich ist, all-ein mit dem All-einigen, alles in der Allheit. Fülle drängt mich aus der Existenz, das Leuchtende macht mich blind für die Dinge dieser Welt, ich sehe nur unendliche Freiheit, und das heißt: Ich sehe nichts. Es ist ein Kampf, die Seele wiederzubeleben, das Bewusstsein wieder in das Feinstoffliche hineinzutreiben, es in Ich und Körper herunterzuziehen und so überhaupt aus dem Bett zu kommen. Aber die Freiheit ist immer noch da in dieser kleinen Morgendämmerung, und Erlösung durchzieht selbst die kleinste Unternehmung, um diesen glorreichen Zustand zu manifestieren.
Donnerstag, 12. Juni Interview mit Scott Warren. Scott ist ein graduierter Student von Michael Mahoney, dem Verfasser des ausgezeichneten Human Change Process und Hunderter weiterer Veröffentlichungen. Scott praktiziert außerdem seit langem Zen und ist transpersonaler Psychologe, weshalb ich gerne in ein Interview einwilligte. Nachfolgend einige Auszüge: SW: Wie sieht Ihr typischer Tagesablauf aus? KW: Ich wache etwa um drei oder vier Uhr morgens auf, meditiere ein oder zwei Stunden und bin dann um fünf oder sechs Uhr am Schreibtisch. Ich arbeite dann praktisch ohne Unterbrechung etwa bis zwei Uhr nachmittags. Anschließend mache ich etwa eine Stunde Hanteltraining. Danach gehe ich einkaufen und um fünf Uhr gibt es Essen. Dann gehe ich aus, meist ins Kino, oder ich sehe mir zu Hause einen Film an, bin bei Freunden, erledige Korrespondenz und lese leichte Lektüre, telefoniere und gehe etwa um zehn ins Bett. Wenn ich zu jemandem zu Besuch gehe, verbringen wir den Abend miteinander. SW: Wenn Sie sagen, dass Sie bis zwei Uhr arbeiten, was machen Sie genau? KW: Nun, das hängt davon ab, ob ich recherchiere oder schreibe. Wenn ich recherchiere, sind es einfach ganz altmodische "Hausaufgaben": Ich lese und lese und lese. Meist versuche ich, zwei bis vier Bücher täglich zu bewältigen, d.h., ich lese sie "quer" und mach mir jeweils Notizen. Wenn mir das Buch sehr wichtig zu sein scheint, dann lese ich langsamer und verwende eine Woche oder mehr darauf und mache umfassendere Notizen. Wirklich gute Bücher lese ich sogar drei- bis viermal. Wenn ich schreibe, ist es etwas anders. Ich arbeite sehr schnell, in einer Art veränderter Bewusstseinszustand, in dem ich Informationen ungeheuer schnell verarbeite. Manchmal gibt es auch Fünfzehn-Stunden-Tage. Natürlich ist dies sehr anstrengend, physisch anstrengend, und das ist der Hauptgrund, warum ich mit Hanteltraining begonnen habe. SW: Wie lange schreiben Sie an einem Buch? KW: Meist ist es so, dass ich ein Jahr lang einige hundert Bücher lese, und dabei entsteht ein Buch in meinem Kopf; ich schreibe das Buch in meinem Kopf. Dann setze ich mich hin und tippe es in meinen Computer, was meist zwei bis drei Monate dauert. SW: Sie haben also alle Ihre Bücher in einigen wenigen Monaten geschrieben? KW: Ja, ausgenommen EKL. Für dieses Buch habe ich drei Jahre gebraucht, und es waren außerordentlich harte Jahre. Aber das eigentliche Schreiben dauerte dennoch relativ kurz, einige Monate. SW: Warum waren diese Jahre so hart? KW: Nun, wenn man einmal Bücher wie Spektrum und Das Atman-Projekt nimmt, dann waren dies auch schon schwierige Bücher, weil es darum ging, Dutzende verschiedener psychologischer Schulen miteinander in Einklang zu bringen. Aber diese Bücher betrafen nur den oberen linken Quadranten. Bei EKL versuchte ich dagegen, Dutzende von Fachdisziplinen in allen vier Quadranten
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zusammenzubringen, und das war ein Albtraum, der einfach nicht enden wollte. Ich habe mich also wirklich auf mich selbst zurückgezogen und drei Jahre lang genau das Leben geführt, das ich nach Meinung der meisten Menschen die ganze Zeit führe, d.h., ich wurde Einsiedler. Abgesehen davon, dass ich einkaufen ging und solche Dinge, habe ich in diesen drei Jahren genau vier Menschen gesehen. Es wurde tatsächlich so etwas wie ein traditioneller dreijähriger Rückzug in das Schweigen. Es war bei weitem das Härteste, was ich je freiwillig auf mich genommen habe. SW: Sind Sie durchgedreht? KW: Am schlimmsten war es etwa im siebten Monat meiner Klausur. Ich stellte fest, dass mir nicht so sehr Sex und nicht so sehr das Gespräch fehlte, sondern Hautkontakt – schlichte menschliche Berührung. Ich sehnte mich nach menschlicher Haut, ich litt unter, wie ich es nannte, "Hauthunger". Mein ganzer Körper schien vor Hauthunger zu brennen, und etwa drei oder vier Monate lang setzte ich mich jeden Tag, wenn ich mit der Arbeit fertig war, hin und heulte einfach los. Etwa eine halbe Stunde lang; es tat wirklich weh. Aber was kann man in solchen Fällen tun, außer alles als Zeuge zu betrachten? So entwickelte sich schließlich so etwas wie meditativer Gleichmut gegenüber diesem Hauthunger, und schließlich verschwand dieses tiefe Bedürfnis, zumindest in gewissem Maße, und zwar eben wegen der Aufmerksamkeit, die ich ihm widmen musste. Danach gab es in meiner Meditation einen Quantensprung: Wenig später stellten sich die ersten Ansätze eines konstanten Bewusstseins, eines Spiegel-ähnlichen Gewahrens ein, das in den Traumzustand und den Zustand des Tiefschlafs hinein anhielt. All dies konnte, wie ich glaube, deshalb gelingen, weil ich keine Möglichkeit hatte, etwas gegen diesen Hauthunger zu tun; ich war gezwungen, ihn wahrzunehmen, ihn in mein Bewusstsein hereinzulassen, ihn zu bezeugen, statt ihn einfach auszuagieren. Dieser Hauthunger ist ein sehr ursprünglicher Typ des Besitzergreifens, ein sehr tiefes Verlangen der subjektiven Identität, und indem ich dessen Zeuge wurde, es zu einem Objekt machte, hörte ich auf, mich mit ihm zu identifizieren. Ich transzendierte es in gewisser Weise, und das befreite mein Bewusstsein von diesem ursprünglichsten aller biologischen Triebe. Aber einige Zeit war ich schon auf einem heftigen Schleuderkurs. SW: Gut, nun einige theoretische Fragen. Auf der Grundlage umfassender interkultureller Untersuchungen haben Sie die transpersonale oder spirituelle Entwicklung in vier höhere "Wellen" oder "Reiche" untergliedert, die Sie das Psychische (dessen Mittelpunkt der grobstoffliche Wachzustand ist), das Subtile (dessen Mittelpunkt der subtile Traumzustand ist), das Kausale (dessen Mittelpunkt der tiefe formlose Zustand ist) und das Nichtduale nennen (das diese alle integriert). Daraus ergeben sich auch vier verschiedene Formen spiritueller Erfahrung: Naturmystik, Gottheitsmystik, formlose Mystik und nichtduale Mystik. KW: Ja, das ist grundsätzlich richtig dargestellt. Worauf es aber ankommt, ist, dass dies alles ins Bewusstsein gebracht werden muss, sodass eine grundlegende Wachheit und ein absichtsloses Gewahren in allen Bereichen des Lebens – Wachen, Träumen, Schlafen – herrscht. Einen solchen Menschen nennt man – passenderweise – einen Erwachten, und dies bedeutet ganz schlicht: Einfach das. SW: Ich kenne viele transpersonale und spirituelle Therapeuten, die Ihr Material in einer sehr intellektuellen Weise benutzen. Sie sagen, dass man nichts weiter zu tun brauche, als Ihre höheren Stufen auswendig zu lernen. Sie meinen, dass spirituelle Übung wie Zen, Yoga oder zentrierendes Gebet unnötig seien, weil Sie ja schon die Ergebnisse gegeben haben. KW: Sie üben nicht mehr, unter Berufung auf mich? Du lieber Himmel, das ist genau das Gegenteil dessen, was ich wollte ... Ich betone immer wieder, dass man einen Übungsweg gehen muss, dass man eine Injunktion annehmen muss, damit man diese höheren Entwicklungsstufen tatsächlich sieht und versteht. Also bitte: Das ist doch nicht Ihr Ernst? SW: Doch, sie meinen im Ernst, dass sie nur alle Ihre Stadien auswendig lernen müssen, um ein guter transpersonaler Therapeut zu sein. KW: Also das ist meiner Meinung nach völlig verkehrt. Es ist so, wie wenn man sagen würde: Ich habe eine schöne Landkarte von den Bahamas gezeichnet, also braucht niemand mehr tatsächlich auf den Bahamas Urlaub zu machen, sondern man kann sich einfach in sein Wohnzimmer setzen und die Landkarte anschauen. Das ist doch absurd. Man kann nicht Reiseführer auf den Bahamas sein, wenn man noch nie dort gewesen ist. SW: Die übliche Praxis scheint, soweit man es feststellen kann, in einer Art physischer Zentrierung und sensorischem Gewahren zu bestehen. Dieses sinnliche Körpergewahren scheint mit spirituellem Bewusstsein verwechselt zu werden. KW: Ja, dies ist in der Tat häufig, und es ist ein Fehler. Sensorisches Körpergewahren ist sehr wichtig, aber es ist nicht dasselbe wie spirituelles Bewusstsein. Zunächst einmal ist nichtduales oder spirituelles Gewahren ein "Fallenlassen des Körpergeistes"", d.h., man hört auf, sich ausschließlich mit dem Körpergeist und seinen Gedanken und Empfindungen zu identifizieren. Diese sind nach wie vor vorhanden und in ihrer Funktion nicht eingeschränkt, aber man entdeckt darüber hinaus eine umfassendere Identität mit allem Manifesten – und dies ist mit einer ausschließlichen Konzentration auf den Körper definitiv nicht erreichbar. SW: Diese Therapeuten sagen aber, dass die physische Fokussierung in denselben Zustand führt wie Erleuchtung. KW: Du liebe Güte. Natürlich beginnt Meditation oft mit Körpergewahren – den Atem verfolgen, Konzentration auf verschiedene physische Wahrnehmungen und Empfindungen –, aber sie bleibt niemals dabei stehen. Meditatives Bewusstsein – die Fähigkeit, alles, was auftaucht, gleichmütig als Zeuge zu beobachten – hält schließlich einige Minuten bis einige Stunden und in intensiven Phasen über den größten Teil des Tages an. Wenn man einmal so weit ist, dass man dieses Bezeugen über den größten Teil des Tages stabil halten kann, dehnt sich dieses spiegelartige meditative Bewusstsein in den Traumzustand und eine Art luzides Träumen hinein aus und von dort aus in den Zustand des traumlosen Tiefschlafs. Dann kann man schließlich Turiya entdecken, den "vierten Zustand", denjenigen des reinen Zeugen über und jenseits der drei Zustände Wachen, Träumen und Schlafen. Das letzte ist Turiyatita, "jenseits des Vierten", d.h. der Eine Geschmack oder das allgegenwärtige Gewahren, das konstante Bewusstsein, die grundlegende Wachheit oder das absichtslose Gewahren, das über alle möglichen Zustände hinausgeht und diese einschließt und deshalb auf keinen von ihnen beschränkt ist. Dies ist kein Zeuge mehr, sondern ein nichtduales Bewusstsein, das nichts anderes ist als der radikale Geist selbst. Zu behaupten, dass all das durch eine wachbewusste physische Fokussierung erreichbar sein soll, ist einfach völlig absurd. Nichts von diesem konstanten Bewusstsein ist im Übrigen in den Werken der Tiefenökologie, des Ökofeminismus, des Neuheidentums, der Jungianer, des Gewebes des Lebens, der Ökopsychologie oder der Theoretiker des neuen Paradigmas zu finden, unabhängig davon, was diese Leute ansonsten leisten – einen großen Teil ihrer Arbeit schätze ich sehr! Aber sie wissen nichts vom konstanten Bewusstsein, vom Spiegel-Gewahren oder vom allgegenwärtigen nichtdualen Geist. SW: Das bringt mich zu meiner nächsten Frage. Spirituelle Therapie wird oft auch im Sinne eines systemtheoretischen Denkens verstanden (Gaia, Ökopsychologie, Gewebe des Lebens usw.). Der Gedanke ist, dass es einem schon besser geht, wenn man nur holistisch denkt. Und letztlich soll Gaia oder das Gewebe des Lebens der Geist selbst sein. KW: Aber sehen Sie, das Gewebe des Lebens ist bloß eine Konzeption, bloß ein Gedanke. Die höchste Wirklichkeit ist nicht dieser Gedanke, sondern der Zeuge dieses Gedankens. Erkunden Sie diesen Zeugen. Wer gewahrt die analytischen und die holistischen Konzeptionen? Wer oder was in Ihnen gewahrt jetzt in diesem Augenblick alle diese Theorien? Man muss einfach sehen, dass die Antwort in Richtung dieses Zeugen liegt, nicht in Richtung all dieser Gedankenobjekte. Ob diese richtig oder falsch sind, ist gar nicht
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das Entscheidende. Das Entscheidende ist das Selbst, der Zeuge, der letztlich reine Leerheit ist. Wenn eine analytische Vorstellung entsteht, sind wir deren Zeugen; wenn eine holistische Vorstellung entsteht, sind wir deren Zeugen. Die höchste Wirklichkeit liegt im Zeugen, nicht in den Konzeptionen, seien sie richtig oder falsch. Solange man auf der Ebene der Gedanken, Konzeptionen, Ideen und Bilder bleibt, erfasst man niemals das Wesentliche. SW: Reines Bewusstsein ist reine Leerheit? KW: Ja, das radikale Bewusstsein ist ohne Eigenschaften, was man metaphorisch in die Formel kleiden kann, dass reines Bewusstsein reine Leerheit ist. Aber ich wiederhole es, Leerheit ist keine Konzeption; es ist einfaches und direktes Gewahren. Sehen Sie, jetzt in diesem Augenblick nehmen Sie verschiedene Farben wahr: Dieser Baum ist grün, die Erde da drüben ist rot, der Himmel ist blau. Sie sehen die Farben, d.h., Ihr Bewusstsein selbst ist farblos. Es ist wie die Hornhaut des Auges, die durchsichtig ist: Wenn die Hornhaut rot wäre, könnten wir Rot nicht sehen. Man sieht Rot, weil die Hornhaut "rotlos" oder farblos ist. Aus demselben Grund sieht Ihr gegenwärtiges Bewusstsein Farben und ist deshalb selbst farblos. Man sieht den Raum, weshalb das gegenwärtige Bewusstsein raumlos ist. Man gewahrt die Zeit, weil das Bewusstsein zeitlos ist. Man sieht Formen, weil das Bewusstsein formlos ist. Das grundlegende, unmittelbare Bewusstsein – nicht die Objekte des Bewusstseins, sondern das Bewusstsein selbst, das bezeugende Gewahren – ist farblos, formlos, raumlos, zeitlos. Mit anderen Worten, das grundlegende und ursprüngliche Bewusstsein ist nicht qualifizierbar. Es ist leer von Form, Farbe, Raum und Zeit. Das Bewusstsein ist jetzt in diesem Augenblick reine Leerheit, aber dies ist zugleich eine Leerheit, in der die ganze Welt entsteht. Der blaue Himmel existiert in Ihrem Bewusstsein jetzt in diesem Augenblick. Die rote Erde existiert in Ihrem Bewusstsein jetzt in diesem Augenblick. Die Form dieses Raums existiert in Ihrem Bewusstsein jetzt in diesem Augenblick. Die Zeit vergeht in Ihrem Bewusstsein jetzt in diesem Augenblick. Die ganze Welt der Formen entsteht also genau jetzt in Ihrem eigenen formlosen Gewahren. Mit anderen Worten, Leerheit und Form sind nicht-zwei. Sie sind beide in diesem Augenblick Ein Geschmack. Und Sie selbst sind es. Ohne Abstriche. Leerheit und Bewusstsein sind bloß zwei Namen für dieselbe Wirklichkeit, nämlich diese große Offenheit und Reinheit, in der das ganze Universum von Augenblick zu Augenblick entsteht, eine Leerheit, die das eigene ursprüngliche Gewahrsein genau jetzt ist, eine Leerheit, die nichts anderes ist als der radikale GEIST selbst. Hinzu kommt noch – und dies ist ein ganz anderes Problem – die Frage nach dem eigentlichen Wesen der manifesten Welt. Ich persönlich hänge der Überzeugung an, dass sie ein Netzwerk einander durchdringender Prozesse oder Holons ist, und dies ist in der Tat ein holistisches Modell. Aber die Wahrheit dieses Modells – und die Wahrheit der manifesten Welt – wird durch Untersuchung der manifesten Welt festgestellt. Die Wahrheit des Geistes wird durch Untersuchung des inneren Ich-Ich festgestellt. Dass sie letztlich nichtzwei sind, ist richtig, aber man kann zu dieser Wirklichkeit nur gelangen, indem man dem inneren Ich-Ich folgt, nicht dadurch, dass man in der objektiven Welt umherläuft und nach dem Gewebe des Lebens sucht. Wenn man dies tut, geht man in die Irre. Und wenn man darauf beharrt, dann geht man beharrlich in die Irre. SW: Was wäre also für Sie die Rolle eines spirituellen Therapeuten? Wir haben über das gesprochen, was falsch ist: Auswendiglernen der höheren Stufen ohne sie zu praktizieren, die Verwechslung von physisch-sinnlichem Bewusstsein mit spirituellem Bewusstsein, die Verwechslung vom Gewebe des Lebens und Ökopsychologie mit unmittelbarem spirituellem Gewahren. Was wäre richtig? KW: Ich glaube da eine phantastische Idee zu haben [lacht], weshalb sich natürlich kein Mensch dafür interessiert. In der Medizin gibt es ja die wunderbare Einrichtung der Hausärzte. Diese sind in der Allgemeinmedizin ausgebildet, aber nicht in der Fachmedizin. Sie können keine chirurgischen Eingriffe am Gehirn vornehmen, komplizierte Differenzialdiagnosen stellen oder Laborarbeit machen – aber sie kennen Spezialisten, die das können, und sie sind entsprechend ausgebildet, sodass sie einen Patienten gegebenenfalls an einen dieser Spezialisten überweisen können. Ich glaube, dass spirituelle Therapeuten Allgemeinärzte des Geistes sein sollten. Sie sollten zumindest theoretisch mit allen Ebenen des Spektrums des Bewusstseins vertraut sein: Stoff, Körper, Geist (magisch, mythisch, rational und integral-aperspektivisch), Seele (psychisch und subtil) und GEIST (kausal und nichtdual). Sie sollten mit den Pathologien vertraut sein, die auf jeder dieser Ebenen auftreten können. Sie sollten in den allgemeinen niedrigeren Techniken der physischen Fokussierung und der mentalen Interpretation ausgebildet sein. Sie sollten wissen, wie man mit Problemen der Persona, des Schattens und des Ichs umgeht. Und sie sollten selbst in einer spezifischen höheren oder kontemplativen Praxis erfahren sein. Aber sie sollten auch gelernt haben, bestimmte Pathologien aus dem ganzen Spektrum des Bewusstseins zu diagnostizieren. Die Fälle, die sie selbst nicht behandeln können, sollten sie an Spezialisten überweisen, vielleicht in Zen, Vipassana, Taiji, Vedanta, TM, christliches Zentrierungsgebet, sufistischer Dhikr, jüdisches Hitbodedut, Diamond-Approach, Yoga am oberen Ende, und am unteren Ende Hanteltraining, Aerobic, Ernährungsberatung, Rolfing, Bioenergetik oder was auch immer. Ich meine, sie sollten nicht versuchen, selbst Gehirnoperationen vorzunehmen. Ihre Hauptaufgaben sind erstens: Durchführung der allgemeinen Psychotherapie und teilweise der transpersonalen Therapie bei Klienten; zweitens: wenn nötig, Überweisung an Spezialisten, und drittens Koordination der verschiedenen Transformationswerkzeuge des Klienten. Aber sie können nicht alle Therapien selbst durchführen. Heute glauben noch allzu viele transpersonale und spirituelle Therapeuten, dass sie alles selbst machen können und müssen, womit sie aber ihren Klienten keinen Gefallen tun. Das ist also meine bescheidene Vorstellung, mit der sich anscheinend niemand anfreunden kann.
Freitag, 13. Juni War in Children of the Revolution, hauptsächlich wegen Judy Davis, die ganz erstaunlich ist. Sie war hysterisch in Woody Allens Ehemänner und Ehefrauen und hinreißend als George Sand in Verliebt in Chopin, um nur zwei ihrer Filme zu nennen. Children of the Revolution ist eine schwarze Komödie, die man trotz eines unentschiedenen Stils, der zwischen Strictiy Ballroom und Daniel schwankte, als einigermaßen gelungen bezeichnen kann. Davis ist jedenfalls hinreißend. Das Drehbuch macht sehr schön deutlich, dass der Marxismus-Leninismus eine Religion war, eine fundamentalistische, bibelverteufelnde Religion für Abermillionen von Menschen in der ganzen Welt. Sie war die erste wirklich große moderne Religion, die versuchte, den wissenschaftlichen Materialismus, den Naturalismus des grobstofflichen Reichs und den Flachland-Holismus zu einem frei machenden Gott zu erheben, zu einem Gott der rechtsseitigen Welt, zu dem Gott und der Göttin von Flachland. Diesbezüglich war er der Vorläufer vieler reiner Abstiegs- und Flachlandreligionen der heutigen Welt, wie z.B. eines großen Teils der Tiefenökologie, des Ökofeminismus, der Gaia-Verehrung, des Neuheidentums und des Gewebes des Lebens. Je flacher die Religion, desto glühender ist der Fanatismus.
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Samstag, 14. Juni "Probleme bekomme ich, wenn die klügeren Bären und die dümmeren Besucher aufeinander treffen." – Steve Thompson, Wildhüter im Yosemite Park.
Sonntag, 15. Juni Random House hat mich um einen literarischen Titel für Science and Religion22 gebeten (und ob ich die Wörter "Seele" oder "Geist" oder etwas Ähnliches einbauen könnte?). Aber ja. Ich dachte an Oscar Wildes berühmtes Zitat "Nichts kann die Seele heilen als die Sinne, gerade wie nichts die Sinne heilen kann als die Seele" und schlug verschiedene Variationen vor. Man entschied sich für The Marriage of Sense and Soul: Integrating Science and Religion. Ja, dies ist der Titel. Und da wettere ich gegen den inflationären Gebrauch der Begriffe "Seele" und "Geist"... so ist der Gärtner zum Bock geworden.
Dienstag, 17. Juni Fast zwanzig Jahre lang bestand meine sportliche Betätigung hauptsächlich in Hatha-Yoga. Vor fünf Jahren begann ich zusätzlich mit Hanteltraining, das sich auf mein Schreiben, meine Meditation und mein Immunsystem überaus positiv ausgewirkt hat – ein klarer Erfolgsbeweis für die integrale Praxis. Ich bin jetzt 48, und ich kann mich nicht erinnern, mich jemals in meinem Körper so wohl gefühlt zu haben. Dies hat mir die Erfahrung gebracht, dass man einen Körpergeist, den man stark und gesund erhält, statt ihn asketisch auszumergeln und zu verachten, gerade umso leichter loslassen und transzendieren kann. Es ist ganz einfach: Wenn mit dem Körpergeist alles in bester Ordnung ist und er nicht von Wehwehchen abgelenkt wird, dann muss sich das Bewusstsein auch nicht dauernd mit ihm beschäftigen. Man kann den Körpergeist leichter vergessen und eher zum Zeugen oder sogar zum Einen Geschmack gelangen. Natürlich legt man in den höheren Zuständen weder das Ich noch den Körper ab. Sie sind immer noch da und erfüllen immer noch ihre üblichen Funktionen. Wenn man seinen Namen rufen hört, antwortet man. Man weiß, wo der Körper anfängt und wo er aufhört – es geht hier nicht um psychotische oder Borderline-Indissoziationen. Es ist einfach so, dass die persönliche Identität nicht mehr ausschließlich auf diese ihre niedrigeren Träger beschränkt ist. Wenn diese Träger reibungslos arbeiten und nicht das quietschende Rad sind, das nach dem Öl des Bewusstseins verlangt, ist das Bewusstsein frei, sich in tiefere und höhere Bereiche zu begeben. Natürlich ist dies praktisch unter allen Umständen möglich, aber einen starken, gesunden Körpergeist kann man leichter fallen lassen, um so zu entdecken, dass er im Ozean der Unendlichkeit schwimmt, seiner wahren Heimat.
Mittwoch, 18. Juni Apropos integrale Praxis: Diese wird sicher der nächste Megatrend auf dem Spiritualitätenmarkt sein, aber dieser "Trend" wird Bestand haben, zumindest bei dem einen Prozent, dem es mit der Transformation ernst ist. Man kann sich unter "integraler Praxis" Verschiedenes vorstellen. Der Begriff "integraler Yoga" wurde zuerst von Aurobindo (und seinem Schüler Chaudhuri) benutzt. Bei diesen stand er für eine Praxis, die den aufsteigenden und den absteigenden Strom im Menschen miteinander verbindet; es ging dabei nicht nur um eine Transformation des Bewusstseins, sondern auch des Körpers (umso betrüblicher ist es, dass es im von Chaudhuri gegründeten California Institute of Integral Studies heute praktisch keine integrale Praxis mehr gibt, weshalb ich es zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht empfehlen kann). Mike Murphys Future of the Body (dt. Der QuantenMensch. Ein Blick in die Entfaltung des menschlichen Potentials im 21. Jahrhundert, Wessobrunn, 1996) ist ein hervorragendes Kompendium einer integralen Sichtweise, ebenso Tony Schwartz' Was wirklich zählt. Meinen eigenen integralen Ansatz habe ich in Das Wahre, Schöne, Gute dargestellt. Murphy und Leonards The Life We Are Given ist ein praktischer Führer zu einer bestimmten Form integraler Praxis und ist unbedingt zu empfehlen. Aber jeder darf sich seine eigene integrale Praxis "stricken". Wichtig ist einfach, dass alle wesentlichen Ebenen und Dimensionen des menschlichen Körpergeistes gleichzeitig geschult werden, die physischen, emotionalen, mentalen, sozialen, kulturellen und spirituellen. Lassen Sie mich aus den vier Quadranten als Beispiele die folgenden Ebenen und Fähigkeiten nebst einigen repräsentativen Praktiken angeben: OBERER RECHTER QUADRANT (INDIVIDUELL, OBJEKTIV, VERHALTENSMÄSSIG) Physisch Ernährung: Pritikin, Ornish, Atkins; Vitamine, Hormone. Bewegungsapparat: Hanteltraining, Aerobic, Wandern, Rolfing usw. Neurologisch Pharmakologisch: Verschiedene Medikationen, soweit erforderlich. Gehirn/Geist-Maschinen: Herbeiführung von Theta- und Deltazuständen. OBERER LINKER QUADRANT (INDIVIDUELL, SUBJEKTIV, INTENTIONAL) Emotionell Atem: Taiji, Yoga, Bioenergetik, Kreisenlassen von Prana oder emotioneller Energie, Qigong. Sex: Tantrische sexuelle Gemeinschaft, selbsttranszendierende Ganzkörpersexualität. Mental Therapie: Psychotherapie, Kognitionstherapie, Schattenarbeit.
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Schau: Entwicklung einer bewussten Lebensphilosophie, Visualisierungen, Affirmationen. Spirituell Psychisch (Schamane/Yogi): Schamanisch, naturmystisch, einfaches Tantra. Subtil (Heiliger): Gottheitsyoga, Yidam, kontemplatives Gebet, fortgeschrittenes Tantra. Kausal (Weiser): Vipassana, Selbsterkundung, reine Aufmerksamkeit, Zeugenschaft. Nichtdual (Siddha): Dzogchen, Mahamudra, Shaivismus, Zen usw. UNTERER RECHTER QUADRANT (SOZIAL, INTEROBJEKTIV) Systeme: Wahrnehmung verantwortlicher Aufgaben gegenüber Gaia, Natur, Biosphäre und geopolitischen Infrastrukturen auf allen Ebenen. Institutionen: Wahrnehmung edukatorischer, politischer und bürgerlicher Pflichten gegenüber Familie, Gemeinde, Staat, Welt. UNTERER LINKER QUADRANT (KULTURELL, INTERSUBJEKTIV) Beziehungen: zu Familie, Freunden, fühlenden Wesen im Allgemeinen; Beziehungen in das eigene Wachstum einbeziehen, das Selbst dezentrieren. Dienst an der Gemeinschaft: Freiwillige Tätigkeiten, Obdachlosenasyle, Hospizarbeit usw. Ethik: Eintritt in die intersubjektive Welt des Guten, tätiges Mitgefühl mit allen fühlenden Wesen. Das "Rezept" für die integrale Praxis ist also recht einfach: Man nehme eine Grundpraxis aus jeder Kategorie oder aus so vielen Kategorien wie praktisch machbar ist, und übe diese gleichzeitig – "alle Ebenen, alle Quadranten". Je mehr Kategorien man sich zuwendet, desto größer ist der Synergie-Effekt (weil sie alle als Aspekte des eigenen Wesens miteinander verknüpft sind). Wenn man beharrlich übt und alle Kräfte anspannt, um die verschiedenen Potenziale des Körpergeists zu entwickeln, wird sich dieser Körpergeist schließlich in die Leerheit entfalten, und die ganze Reise ist nur eine undeutliche Erinnerung an einen Ausflug, der gar nicht stattfand.
Freitag, 20. Juni Mit der Post kommen laufend Neuerscheinungen von Freunden. M. Scott Peck – alle nennen ihn "Scotty" – hat Denial of the Soul geschickt. "Ich beschäftige mich nicht mit zu vielen Dingern, schreibt er, "aber die Frage der Sterbehilfe oder der Hilfe zur Selbsttötung halte ich für sehr wichtig." Er vertritt in seinem Buch die Auffassung, dass die Sterbehilfebewegung, die doch so vernünftig und sinnvoll zu sein scheint, oft nur ein geschicktes Ausweichen vor den Erfahrungen darstellt, die ein bewusster Umgang mit dem Tod und mit dem Sterben beinhalten können. Er unterstützt ebenso wie ich die Hospizbewegung, die vor allem versucht, den Schmerz so weitgehend wie möglich auszuschalten (mit Medikamenten, die das Bewusstsein nicht herabdämpfen), sodass der Mensch dem Tod bewusst und im Kreise seiner Familie und Freunde entgegengehen kann. Ich bin hier ganz seiner Meinung. Michael Crichton hat seinen Roman Airframe (dt. Airframe, München, 1997) mit einer Widmung geschickt: "Wenn du nächstes Mal im Flugzeug etwas zum Lesen brauchst." Ich musste lachen, denn es gibt eine Geschichte dazu: Nachdem ich sein Travels (dt. Im Kreis der Welt, Reinbek bei Hamburg, 1994) gelesen hatte, wo er am Ende eines Kapitels schreibt, dass er am Strand von Hawaii saß und Wilber las, schickte ich ihm ein Exemplar von EKL, dem 800-seitigen Wälzer, mit der Widmung "Wenn du nächstes Mal am Strand sitzt". So ziemlich das Einzige, wozu man diesen Zehnpfünder am Strand brauchen könnte, wäre, einen angreifenden Hai zu erschlagen; es dort zu lesen, würde etwa genauso viel Spaß machen wie ... Airframe während eines Flugs zu lesen. (Airframe handelt von den buchstäblich einer Million Arten, wie ein Flugzeug vom Himmel fallen kann.) Dann kam noch ein Vorausexemplar von Mike Murphys The Kingdom of Shivas Irons. Ein absolutes Lesevergnügen. Es ist kaum zu fassen, wie viel geballte Mystik Murphy damit in das Golfregal sämtlicher Buchhandlungen Amerikas bringen wird: nicht bloß ab und zu eine kleine Andeutung, sondern wirklich auf jeder einzelnen Seite. John Updike hatte über Golf in the Kingdom (dt. Golf und Psyche. Der Weg zum intuitiven Golf, München, 1999) gesagt: "Wenn es einen Golf-Klassiker gibt, dann ist es dieses Buch", und es sieht so aus, als ob Shivas Irons nahtlos an den Erfolg des Vorgängers anknüpfen könnte. Ich freue mich wirklich für Mike. All dies hilft, den steinigen Boden der Ungastlichkeit des pragmatischen Amerika gegenüber allen transzendenten Bestrebungen aufzubrechen. Surya Das' Awakening the Buddha Within (dt. Der achtfache Pfad. Lehrbuch zur Erleuchtung, Frankfurt am Main, Krüger, 1999) gefällt mir recht gut. Diejenigen von uns, die die Entstehung des Buchs mitverfolgten, hatten zunächst Bedenken, weil es etwas zusammenhanglos war, aber Surya hat noch ein geschlossenes Ganzes daraus gemacht. Es ist eine Weile her, dass ich Surya gesehen habe. Voriges Jahr war er mit Sharon Salzberg, Mitch Kapor und Mitchs Sohn Adam im Sommer bei mir vier Tage zu Besuch. Ich habe großen Respekt vor dem, was Surya sich vorgenommen hat: Er möchte tibetisches Dzogchen für die amerikanische Kultur zugänglich machen, was sowohl die meisten Amerikaner als auch die meisten Tibeter in einige Unruhe versetzt. Das Buch wird wohl einen guten Start haben, wenn sich alle möglichen Größen von Richard Gere bis Alan Dershowitz für es stark machen. One Spirit Book Club und Tommy Boy Records haben einen Teil der Promotion übernommen. Tommy Boy wurde von Tom Silverman gegründet, als er noch ein Junge war (daher der Name); wir nennen ihn jetzt Tommy Man. Er und Susan Pivat, eine Meditationsschülerin von Sam, schauten kürzlich einen Nachmittag lang bei mir vorbei. Tom und ich fachsimpelten die meiste Zeit über Hanteltraining. Er hat einen Ableger von Tommy Boy gegründet, Upaya, um einem größeren Publikum eine spirituelle Orientierung nahe zu bringen. Er brachte Deepak ins Programm von MTV, initiierte eine Tonbandaufnahme von Andrew Weil usw. Deshalb wurde er selbst zum Thema in W's "Der Gottrausch: Ist die neue Spiritualität in New York und Hollywood ein von Gott gesandter oder bloß ein göttlicher Irrsinn?". Tom und Susan kennen meine Skepsis hinsichtlich der Möglichkeit einer "Pop-Spiritualität", die nicht dünn und verwässert ist, aber man sollte es auf alle Fälle versuchen, und vielleicht regt man ja den Appetit eines größeren und hungrigen Publikums an.
Dienstag, 24. Juni Es gibt vier oder fünf große Hindernisse für eine integrale Orientierung und Praxis. Es geht mir hier nicht um den Hauptstrom,
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atheistische Liberale und fundamentalistische ative, die die integrale Spiritualität ohnehin ignorieren. Es geht mir vielmehr um Bedrohungen aus der avantgardistischen, gegenkulturellen, alternativen spirituellen Gemeinde selbst. Das erste Hindernis – wie ich es jedenfalls sehe – bilden die bloß translativen Lager, die sich auf neue Ideen oder neue Paradigmen bezüglich der Wirklichkeit konzentrieren. Einige dieser Konzeptionen und Ideen sind in der Tat bedeutungsvoll, und ich bin oft mit ihnen einverstanden. Aber dadurch, dass man sich eine neue Konzeption aneignet, gelangt man noch nicht zu einem konstanten nichtdualen Bewusstsein: Dies erreicht man nur durch intensive und ausdauernde Übung. Zu diesem translativen Lager gehören in weiten Teilen die Systemtheorie, die Ökopsychologie, der Ökofeminismus, die Theoretiker des Gewebes des Lebens, das Neuheidentum, Astrologie und Neoastrologie, Tiefenökologie und die Verehrung der Göttin/Gaia. Es gibt einige beachtliche Ausnahmen, aber in aller Regel sind diese Ansätze sehr weitgehend der grobstofflichen sensomotorischen Welt verhaftet, der abgestiegenen Welt von Flachland. Sie bieten einfach neue Arten der Translation dieser Welt an, keine Möglichkeiten der Transformation des Bewusstseins in die subtilen, kausalen und nichtdualen Reiche. Im besten Fall gelangen sie auf die psychische Ebene der Naturmystik und der Weltseele, was schon eine Menge ist, aber die transpersonalen Reiche beginnen hier erst. Natürlich behaupten sie oft, dass diese höheren Reiche die Erde verleugnen und unterdrücken würden, aber dann sind dies pathologische Formen der höheren Zustände. Die gesunden höheren Zustände transzendieren die niedrigeren und schließen sie ein, d.h. der GEIST transzendiert die Natur und schließt sie ein, statt sie zu verleugnen. Aber es ist nicht zu bestreiten, dass gewisse spirituelle Pfade die niedrigeren Bereiche in der Tat unterdrücken, und diese Pfade stellen das zweite große Hindernis für eine ausgewogene und integrale Praxis dar. Dies hat folgenden Hintergrund: Während der so genannten Achsenzeit (um das 6. Jh. v. Chr.) gelang der wachsenden Elite der sich entwickelnden Menschheit ein gewaltiger Durchbruch: Einige Weise (Parmenides, Krishna, Jesus von Nazareth, Gautama Buddha, Laozi) entdeckten, dass sie dem Bewusstsein bis zu seiner Quelle nachspüren konnten, wo die Kommunion mit dem GEIST auf der psychischen Ebene und die Vereinigung mit dem GEIST auf der subtilen Ebene in eine Identität mit dem GEIST auf der kausalen Ebene übergeht: Der Atman, der Brahman ist, "Ich und der Vater sind eins", das getrennte Selbst löst sich in der Leerheit auf, das Bewusstsein findet zum eigenschaftslosen Einen. Dieser Durchbruch – von den höchsten Formen des Bewusstseins (subtile Ebene) zum reinen formlosen Bewusstsein (kausale Ebene) – war eine ungeheure Errungenschaft, die bislang größte Bewusstseinsmutation, deren Zeugungskraft praktisch alle der großen Weisheitstraditionen der Welt hervorbrachte, die heute noch lebendig sind. (Die Geschlechterproblematik in diesem Zusammenhang zu thematisieren, führt bloß in Verwirrung. Die kausale Ebene ist ein konkreter Zustand, der beiden Geschlechtern zugänglich ist. Er ist als solcher geschlechtsneutral. Dass während der Achsenzeit nur Männer diesen Zustand erreichen konnten, war nach heutigen Standards unglücklich, nach denen jener Zeit aber unvermeidlich. Es ist schlicht die agrarische Struktur, die die männliche Wertsphäre im Durchschnitt für Unternehmungen außerhalb des Heims selektiert, wozu auch strenge religiöse Abgeschiedenheit gehört, in der sich die meisten dieser Durchbrüche ereigneten. Im Rahmen unserer heutigen industriellen und postindustriellen Gesellschaftsstruktur, in der eine solche Schichtung der Geschlechter nicht notwendig ist, können wir beginnen, gleichberechtigten Zugang zu diesen Reichen zu schaffen; als Vorspiel dazu die Männer zu beschimpfen, ist ganz und gar unnötig.) Die Kehrseite dieser Entdeckungen der Achsenzeit war, dass das Streben nach dem Formlosen jenseits der Welt der Formen zu einer Verachtung der ganzen Welt der Formen führte. Man wollte ein vom Nirvana getrenntes Samsara finden, einen Himmel, der nicht von dieser Erde ist, ein Königreich, das nicht von dieser Welt ist, ein Eines, das die Vielen ausschließt. Das Paradigma, das Musterbeispiel dieser axialen Ansätze war Nirvikalpa-Samadhi, Ayn, Nirodh, mit anderen Worten, reines Verlöschen, reine formlose Auslöschung. Das Ziel war, kurz gesagt, der kausale oder nichtmanifeste Zustand. Es war ein rein aufsteigender und jenseitsorientierter Weg, und praktisch alles, was mit "dieser Welt" gleichgesetzt wurde – Sex, Geld, Natur, Fleisch, Begierde –, wurde zu Sünde, Unwissenheit und Illusion erklärt. In einem gewissen Sinne steckt darin natürlich viel Wahres. Wenn man nur den Dingen dieser sinnlichen Welt nachjagt, wird man keine höheren oder tieferen Wirklichkeiten entdecken. Aber: Wenn man über das Ziel hinausschießt und diese Welt leugnet oder unterdrückt, wird man keineswegs zum nichtdualen, radikalen Zustand gelangen, der das Eine und die Vielen, Jenseits und Diesseits, Aufstieg und Abstieg, Leerheit und Form, Nirvana und Samsara, als gleichberechtigte Gesten des Einen Geschmacks umschließt. Die Achsenzeit begann in Ost und West um das 6. Jh. v. Chr. Die höher entwickelten Religionen jener Zeit waren durchwegs geprägt vom yogischen Rückzug, reinen Aufstiegspraktiken, Weitabgewandtheit, Askese, Entsagung und dem "Weg nach oben". Sie waren praktisch ohne Ausnahme zutiefst dualistisch: Der Geist stand dem Körper gegenüber, Nirvana dem Samsara, das Formlose der Form. Um das 2. Jh. n. Chr. jedoch wurden die Beschränkungen eines kausalen und dualistischen Nirvana offensichtlich, und dort, wo das Bewusstsein am weitesten fortgeschritten war, setzte eine große Bewegung über das kausale Nichtmanifeste hinaus ein, eine Bewegung, die den kausalen Abgrund transzendierte, aber zugleich einschloss. Mit anderen Worten, der GEIST begann seine eigene nichtduale Verfassung zu erkennen, und dies geschah exemplarisch in zwei außerordentlichen Seelen, Nagarjuna im Osten und Plotin im Westen. "Die Form ist nichts anderes als Leerheit, und die Leerheit ist nichts anderes als Form" – dies ist die wohl berühmteste Zusammenfassung des nichtdualen Durchbruchs (das Zitat stammt aus dem Herz-Sutra, einem der bedeutendsten Sutras des Mahayana-Buddhismus). Nirvana und Samsara, das Eine und die Vielen, Aufstieg und Abstieg, Weisheit und Mitgefühl, der Zeuge und alles Bezeugte – all dies ist nicht-zwei, nichtdual. Diese Nichtdualität ist jedoch keine Vorstellung, kein Begriff, sondern eine unmittelbare Erkenntnis. Wenn man hieraus eine Vorstellung oder eine bloße Überzeugung macht, dann gibt es dafür nichts außer einem kräftigen Stockhieb des Zen-Meisters. Aus diesem Grund wird Nichtdualität oft auch als "Nicht-zwei, Nicht-eins" bezeichnet, um zu verhindern, dass man daraus einen bloß begrifflichen Monismus, eine Theorie im Sinne des "Gewebes des Lebens" oder eines Flachland-Holismus macht. Was für die reinen Aufstiegswege Befleckung, Sünde oder Täuschung war, wurde jetzt zu einer strahlenden Geste des GEISTES selbst; hierin lag die Revolution. Wie Plotin sagte, sind die Vielen nicht vom Einen getrennt, sondern die Vielen sind eine Manifestation des Einen (und zwar nicht als Theorie, über die man mit dem Auge des Geistes nachdenkt, sondern als unmittelbare Wahrnehmung mit dem Auge der Kontemplation). Spirituelle Praxis bestand also jetzt nicht mehr darin, das Manifeste zu leugnen, sondern vielmehr darin, alles auf dem spirituellen Weg einzuschließen. Dem Tantra zufolge, einer weiteren Blüte der nichtdualen Revolution, enthält selbst die schlimmste Sünde in ihrem Innersten verborgen das Leuchten ihrer eigenen Weisheit und Erlösung. Inmitten des Zorns ist Klarheit; inmitten der Wollust ist Mitgefühl; im Kern der Furcht ist Freiheit. Dies alles beruht auf einem einfachen Prinzip: Das Höhere transzendiert das Niedrigere und schließt es ein, nicht aus. Der GEIST transzendiert die Seele und schließt sie ein, diese den Geist, dieser den Körper, dieser den Stoff. Deshalb müssen alle Ebenen auf dem
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wahren spirituellen Weg eingeschlossen und verwandelt werden. Dies ist im Grunde dieselbe Große Kette wie diejenige der Aufstiegsschulen; der Unterschied liegt darin, dass sie jetzt nicht als Fluchtplan aus dem Kerker des Fleisches aufgefasst wurde, sondern als Diagramm der ewigen Umschließung aller Manifestation durch den GEIST. So begann die nichtduale Revolution. Im Westen wurde sie von der großen neuplatonischen Tradition mutig vorangetragen, aber sie stieß überall auf den Widerstand der Kirche, deren Führer dem aufsteigenden Pfad den Treueid geschworen hatten: "Mein Reich ist nicht von dieser Welt", "Gebt dem Kaiser ...", aber für diejenigen, die Augen hatten zu sehen und Seelen zu hören, wurde die neuplatonische Strömung im ersten und zweiten Jahrtausend zum strahlenden Leitstern der Nichtdualität. Als man erkannte, dass sich die Große Verschachtelung tatsächlich in der Zeit entwickelt, entstanden aus der neuplatonischen Tradition die großen idealistischen Visionen eines Fichte, Schelling und Hegel, die das Weltganze als Ergebnis einer evolutionären Entwicklung des GEISTES betrachteten, eine Hervorbringung des Geistes-in-Aktion. Allerdings ist von dieser aufregenden Vision heute nichts weiter geblieben als die naturwissenschaftliche Evolutionstheorie, ein wahrer, aber blasser und blutleerer Abkömmling großartiger Eltern. Im Osten führte die nichtduale Revolution zur Entstehung von Mahayana-Buddhismus, Vedanta, Neukonfuzianismus, dem KaschmirShaivismus und Vajrayana-Buddhismus, Strömungen, die man grob unter dem Oberbegriff "Tantra" zusammenfassen kann. Die große Blütezeit des nichtdualen Tantra war im 8. bis 11. Jahrhundert in Indien, von wo aus er sich nach Tibet, China, Korea und Japan ausbreitete. Als man auch im Osten erkannte, dass die Große Kette eine zeitliche Entwicklung hat, verkündete der große Aurobindo diese Auffassung mit unerreichter Genialität. Wir leben heute in einem besonderen Augenblick der Geschichte, in dem sich diese beiden großen nichtdualen Strömungen zu vereinigen beginnen. Die neuplatonischen und idealistischen Strömungen des Westens mit ihrem naturwissenschaftlichen Ableger der Evolutionslehre wachsen heute mit den großen nichtdualen und tantrischen Schulen des Ostens zusammen, die ebenfalls über hoch stehende Entwicklungslehren verfügen. Das Ergebnis ist der allgemeine integrale Ansatz, an dem heute in seinen verschiedenen Formen weltweit Hunderte von Forschern mitarbeiten. Der besondere Beitrag des modernen Westens zu diesem integralen Ansatz ist die Entwicklung der Tiefenpsychologie. Dieser integrale Ansatz steckt noch in den Kinderschuhen, aber seine Entwicklung schreitet erfreulich voran. Wenn das erste Hindernis für den integralen Ansatz Flachland ist (oder die reinen Abstiegsschulen), so ist das zweite Hindernis, wie eben erwähnt, der umgekehrte Fehler, der reine Aufstiegsweg. Zu diesem Ansatz, einem Überrest aus der Achsenzeit, zählen Theravadin-Buddhismus, einige Formen des Vedanta (nämlich diejenigen, die beim Nirvikalpa- oder Jnana-Samadhi stehen bleiben und nicht bis zu Sahaja vorstoßen) und viele Formen des Asthanga- und Hatha-Yoga (insoweit ihr Ziel ausschließlich das mentale Verlöschen ist). Dabei gilt wiederum, dass diese Ansätze nicht falsch sind: Sie müssen lediglich um den Pfad des Abstiegs ergänzt werden, sodass eine nichtduale Haltung entstehen kann. Ein drittes Hindernis ist die Schule des "spirituellen Bypasses", die besagt, dass man nur den GEIST oder die Göttin in seinem höheren Selbst zu finden brauche, und dann regele sich alles Übrige von selbst. Arbeit, Beziehungen, Familie, Gemeinschaft, Geld, Ernährung, Sex – alles wird frei von aller Beschwerlichkeit sein. Das Traurige daran ist nur, dass es meist zehn bis zwanzig Jahre dauert, bis man entdeckt, dass dies keineswegs der Fall ist, und dann fragt man sich, womit man eigentlich sein Leben zugebracht hat. Die erste Hälfte verbringt man auf einem Irrweg, die zweite in Bitterkeit. Dieser Ansatz des "spirituellen Bypasses" kann vor allem und ironischerweise gerade dann gefährlich werden, wenn man sich den höchsten nichtdualen Schulen zuwendet. Der Eine Geschmack ist ein allgegenwärtiges Bewusstsein (er ist der natürliche und spontane Geist in seinem gegenwärtigen Zustand: Wenn sich der Leser dieser Buchseite jetzt in diesem Augenblick bewusst ist, sind 100% dieses höchsten Bewusstseins voll gegenwärtig). Weil dieser Eine Geschmack "immer schon" gegenwärtig ist, erlangen viele Menschen einen schnellen und dabei überaus eindrücklichen Blick auf diesen höchsten Zustand, wenn ihnen ein fähiger Lehrer den Weg dorthin weist. Viele der großen nichtdualen Schulen wie z.B. Dzogchen und Vedanta besitzen ausführliche Texte, die solche "unterweisenden Darlegungen" enthalten (ein Beispiel hierfür siehe im Eintrag vom 27. April). Wenn ein Schüler von diesem "Immer-Schon"-Bewusstsein getroffen wird, können bestimmte unerfreuliche Dinge geschehen. Einerseits ist man in einer tiefen Weise von den Verhaftungen der niedrigeren Ebenen des Körpergeistes befreit. Andererseits heißt dies aber nicht, dass es auf diesen niedrigeren Ebenen keine Bedürfnisse und Probleme mehr gäbe, auch wenn sie relativ sind. Man kann das Bewusstsein des Einen Geschmacks haben und trotzdem Krebs bekommen, in seiner Ehe scheitern, arbeitslos werden, ein Ekel bleiben. Die Erlangung einer höheren Entwicklungsstufe bedeutet nicht, dass die niedrigeren Ebenen wegfallen (Buddhas müssen immer noch essen), noch ist man dadurch automatisch Herr über diese niedrigeren Ebenen (Erleuchtung bedeutet nicht zwangsläufig, dass man die 100 Meter unter 10 Sekunden schafft). In Wirklichkeit bedeutet dies oft eher das Gegenteil, weil man vielleicht anfängt, die niedrigeren Ebenen zu vernachlässigen oder gar zu ignorieren. Man bildet sich vielleicht ein, dass man sie für sein Wohlbefinden nicht mehr brauchte, während sie in Wirklichkeit nur die Möglichkeit schaffen, sein Wohlbefinden auszudrücken, und Vehikel des GEISTES sind, der man jetzt ist. Die Vernachlässigung dieser Vehikel ist "Spiritozid" – man lässt seine eigenen heiligen Manifestationen zu Tode verwahrlosen. Es kommt aber noch etwas hinzu. Um die orale Phase der psychosexuellen Entwicklung zu überwinden, braucht man kein großer Küchenchef zu werden. Um das Transverbale zu entdecken, muss man kein Shakespeare sein. Mit anderen Worten, man braucht keineswegs eine niedrigere Stufe vollkommen zu beherrschen, bevor man auf eine höhere Stufe gelangen kann: Es genügt eine gewisse vage Kompetenz. Dies bedeutet aber, dass man eine sehr hohe Entwicklungsstufe erreichen und trotzdem auf den niedrigeren Entwicklungsstufen alle möglichen Probleme haben kann. Die bloße Tatsache, dass man Kontakt zu einer höheren Stufe erreicht hat, bedeutet nicht notwendigerweise, dass alle Probleme auf den niedrigeren Stufen verschwinden.23 Dies macht den "Immer-Schon"-Schulen sehr zu schaffen, denn so mancher, der den Einen Geschmack einmal erreicht hat, verliert jegliche Motivation, die Schäden in seinem psychologischen Unterbau zu reparieren. Vielleicht hat man eine tiefe und schmerzliche Neurose – aber man kümmert sich nicht mehr darum, weil man die Identifikation mit seinem Körpergeist verloren hat. Natürlich ist dies alles in gewisser Weise richtig. Trotzdem ist dies eine schwere Verletzung des Bodhisattva-Gelübdes, mit dem man versprochen hat, den Einen Geschmack allen fühlenden Wesen in einer Weise zugänglich zu machen, die alle Menschen befreien kann. Vielleicht glaubt man, mit seiner Neurose ganz gut leben zu können, aber die ganze Umgebung sieht, dass man bloß ein neurotischer Wichtigtuer ist. Wenn man dann verkündet, dass man doch im Einen Geschmack ruht, dann löst dies nur eine Reaktion aus: Bloß diesen Zustand vermeiden! Vielleicht ist man selbst ganz glücklich mit seinem Einen Geschmack, aber man versteht es in keiner Weise, diesen in einer verständlichen Form mitzuteilen, weil man nicht auch an den niedrigeren Ebenen gearbeitet hat, über die man seine Erkenntnis mitteilen muss. Es ist eben eines, wenn man grob ist, weil man aus der Haltung zorniger Weisheit oder des Dharma-Gefechts spricht, und etwas ganz anderes, wenn man bloß ein neurotischer Kriecher ist. Der Eine Geschmack kommuniziert mit nichts, weil er alles ist. 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ist vielmehr so, dass man seine Errungenschaft mit Seele, Geist und Körper, mit seinen Worten, Handlungen und Taten mitteilt, und wenn diese chaotisch sind, dann kann daraus nichts Gutes entstehen. Um es zu wiederholen: Es ist nicht so, dass die Schulen des Einen Geschmacks oder Sahaja Unrecht hätten. Sie sind in Kontakt mit dem höchsten vorstellbaren Zustand, aber sie müssen um die Einsicht ergänzt werden, dass man auch an den niedrigeren Ebenen und geringeren Stufen arbeiten kann und muss (u. a. Psychotherapie, Sport und Ernährung, Beziehungen, Lebensunterhalt usw.), damit eine wirklich integrale Orientierung entstehen kann. Nur so kann man den Einen Geschmack allen fühlenden Wesen mitteilen, die hauptsächlich in den unteren Reichen leben und daher eher auf gesunde Botschaften ansprechen, die sich an diese niedrigeren Bereiche richten, als auf höhere Botschaften, die durch Neurosen und Brüche auf den unteren Ebenen entstellt sind. Das letzte große Hindernis für einen wirklich integralen Ansatz, wie ich ihn sehe, ist die New-Age-Epidemie, die ... nun ja, zum Beispiel Magie und Mythos auf die psychische und subtile Ebene erhebt, Ich und höchstes Selbst verwechselt, prärational als transrational verherrlicht, präkonventionelle Wunscherfüllung mit postkonventioneller Weisheit verwechselt, das Ich auf ein Podest stellt und es Gott nennt. Ich wünsche diesen Leuten nichts Böses, bloß eines: Mögen ihre Wünsche so schnell wie möglich in Erfüllung gehen, damit sie selbst sehen, wie wenig damit gewonnen ist. Dies sind also für mich die Haupthindernisse für einen integralen nichtdualen Ansatz: Das abgestiegene Flachland und seine bloß translativen Schulen, die ausschließlich aufsteigenden Wege mit ihrer Weltverachtung, spirituelle "Bypass-Techniken", Selbstgenügsamkeit im Einen Geschmack, die Unerleuchtete unerleuchtet sein lässt, und der Elevationismus des New Age. Nimmt man noch die konventionelle Welt im Allgemeinen hinzu, liberale Atheisten ebenso wie ativ-mythische Fundamentalisten, dann sind wir also noch meilenweit von einer integralen Selbstverwirklichung entfernt. Und dies kann nur bedeuten, dass der GEIST dieser Runde des kosmischen Versteckspiels durchaus noch nicht müde geworden ist, denn er versteckt sich nach wie vor gerade an den verwünschtesten Orten.
Donnerstag, 26. Juni Ram Dass geht es wieder besser, und es besteht die Hoffnung, dass er wieder weitgehend genesen wird. Ich sah ihn zum letzten Mal bei Rogers Party zu dessen fünfzigstem Geburtstag. Frances und ich hatten dieses Fest als unser Geschenk an Roger geplant. Wir waren uns einig, dass wir ihm nichts Besseres schenken konnten als eine Zusammenkunft all der Menschen, die ihn lieben. Und Roger ist ein Mensch, den man wirklich gern haben muss. Huston Smith, Stan und Christina Grof, Jack Kornfield, Jim Fadiman, Miles Vieh, Bryan Wittine, John O'Neil, Robert McDermott, Keith Thompson, Philip Moffet, Ram Dass ... über fünfzig Leute, und wir feierten im Campton Place, in der Nähe des Union Square in San Francisco. Ram Dass und ich saßen mit Roger und Frances zusammen, und er war so voller Leben, so voller Geist. Als ich dann in New York war, hatte Frances eine Nachricht auf Tonys Anrufbeantworter hinterlassen: Ram Dass hatte einen schweren Schlaganfall erlitten. Er war fast vollständig gelähmt und konnte nicht mehr sprechen. Frances war die Erschütterung deutlich anzuhören; zwischen ihr, Roger und Ram Dass hatte sich in den letzten Jahren eine enge Freundschaft entwickelt. Ram Dass kann jetzt wieder ein wenig sprechen, und mit einer entsprechenden Therapie wird er in zwei Jahren vielleicht wieder weitgehend hergestellt sein. Ich hoffe sehr, dass diese Krankheit für ihn auch etwas Gewinnbringendes haben wird. Ich weiß aus eigener schmerzlicher Erfahrung, dass das Leben einem urplötzlich die Beine wegschlagen kann, wenn man nicht Acht gibt und, niederschmetternder noch, auch dann, wenn man Acht gibt – gleichgültig, wie weit man auf seinem spirituellen Pfad fortgeschritten zu sein glaubt.
Samstag, 28. Juni – Denver Zum Abendessen in Denver mit zwei meiner besten Freunde in der Gegend, Warren Bellows und Willy Kent, und ich bin traurig, weil sie wegziehen: nach Sonoma County, nördlich von San Francisco. Warren habe ich durch Treya kennen gelernt; sie waren einander in Findhorn begegnet. Warren habe ich in Mut und Gnade erwähnt: Er gehörte als Einziger nicht zum Familienkreis, der bei Treyas Tod anwesend war. Warren und ich haben uns in diesen letzten Wochen um sie gekümmert, und er war wirklich ein Geschenk Gottes. Sein langjähriger Lebenspartner Willy ist ein begnadeter Arzt; ich habe sie beide sehr gern. Warren ist eher spirituell orientiert, insbesondere in seiner Praxis als Akupunkteur, während Willy eher der skeptische Naturwissenschaftler ist. Ich fühle mich sehr stark zu beiden Lagern hingezogen, weshalb wir immer gern etwas miteinander unternahmen. Ich hatte selbst nie homosexuelle Erfahrungen, aber ich habe mich in der Schwulenkultur immer sehr wohl gefühlt, vermutlich wegen des ästhetischen Feingefühls dieser Menschen. Bei heterosexuellen Männern ist der ästhetische Sinn im Allgemeinen nur gering ausgeprägt. "Du bist wirklich traurig, dass sie weggehen, nicht wahr?", fragte Marci. "Ja, natürlich. Warum fragst du?" "Nun, ich dachte, du würdest einfach deine Gehirnwellen auf null absenken und es nicht so tragisch nehmen." "Leerheit bedeutet, dass man mehr Zuneigung empfinden kann, nicht weniger. Ich bin sehr traurig." "Ja, ich weiß. Ich bin froh darüber."
Montag, 30. Juni Leerheit, nichts als Leerheit, mit einem Hauch ganz schwacher, aber leuchtender Seligkeit. So fühlt sich das Subtile an, wenn es aus dem Kausalen hervorgeht. So war es heute am frühen Morgen. Wenn der grobstoffliche Körper aus dieser feinstofflichen leuchtenden Seligkeit auftaucht, weiß man zunächst nicht, wo genau seine Grenzen sind. Man hat einen Körper, das weiß man, aber der Körper fühlt sich an wie die ganze materielle Welt. Dann nimmt das Schlafzimmer feste Formen an, und langsam, ganz langsam, akzeptiert das Bewusstsein die Konventionen der grobstofflichen Welt, die verfügen, dass dieser Körper in diesem Zimmer ist. Und so ist es. Also steht man auf. Und so nimmt die Involution wieder einmal ihren Lauf. Aber die Leerheit bleibt, immer.
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Juli Siehe! Ich bin Gott; siehe! Ich bin in allen Dingen; siehe! Ich tue alle Dinge; siehe! Ich nehme niemals meine Hände von meinem Werk, und ich werde es in aller Zeit niemals tun; siehe! Ich führe alle Dinge zu dem Ende, das ich ihnen aus dem Anfangslosen bestimmt habe, mit derselben Macht, Weisheit und Liebe, mit der ich sie gemacht habe. Wie sollte irgendetwas verkehrt sein? Juliana von Norwich
Dienstag, 1. Juli Anamnesis oder die Psychoanalyse Gottes 1 Vor rück aus ... Vor rück aus ... Vor rück aus ... Vor rück aus ... Vor rück aus ... Vor rück aus ... Vor rück aus ... Vor rück aus ... Vor rück aus ... Vor rück aus ... Vor rück aus ... Vor rück aus ... Vor rück aus ... Vor rück aus ... Vor rück aus ... Vor rück aus ... Vor rück aus ... Vor rück aus ... Vor rück aus ... Vor rück aus ... Vor rück aus ... Vor rück aus ... Vor rück aus ... Vor rück aus ... Vor rück aus ... Vor rück aus ...
2 Sehnsucht, Sehnsucht. Hunger, Durst, Hunger hier. Schluckend, schlucken. Will haben, will haben, will haben. Gehe hin, laufe fort. Angst, Angst, Angst hier. Zorn, Wut, explodieren, schlucken, packen, Schrecken.
3 Ich sehe, höre, fühle. Ich bin nicht allein. Andere sind auch da, von meinem Blut. Wir sind eins gegen die anderen. Die Natur schläft mit uns, steht mit uns auf, und manchmal sind wir voller Freude, manchmal verängstigt durch diese Macht über uns. Unser starkes Wollen ist oft nicht stark genug. Erde, Luft, Feuer, Wasser gehorchen keiner Bahn; manchmal helfen sie, manchmal tun sie weh. Das Leben ist kurz und geht den Weg allen Fleisches auf der Erde. Es sind noch andere hier; einige sind hell, andere dunkel. Die von meinem Blut sind, sind mit mir. Die es nicht sind, nicht. Der Tod ist mit uns, und wir bringen Tod über diejenigen, die nicht mit uns sind. Verwandte sind Blutsverwandte, und sie sind mit uns. Ich bin vier mit dieser Verwandtschaft. Achtzehn Sonnen haben mich hierher gebracht. Jetzt bringt der Mond Tod über mich. Der Mond, die Schlange, das Wasser – sie sind eins. Alle Dinge berühren alle Dinge. Es gibt keine Trennung hier auf der Erde. Ein Ding zu berühren heißt, dieses Ding zu sein; ein Ding zu essen heißt, dieses Ding zu sein. Wir berühren nicht das Andere, wir essen nicht das Andere. Das Leben ist auf dieser Seite, in unserem Blut. Der Tod ist auf der anderen Seite, das Andere. Wir berühren das Andere nicht, wir essen nicht das Andere. Jetzt bringt der Mond den Tod über mich, weil die Schlange, der Mond und das Wasser eins sind. Als die Schlange biss, kam der Mond in mich, und jetzt kommt der Tod in mich. Ich habe diese Dinge von den Wissenden gelernt. Mein Stamm wächst weiter, unser Blut, das sich mit dieser Erde vermischt hat.
4 Junge und Mädchen werden zusammen getötet; wir braten und essen sie bedächtig, denn sie sind von der Mutter. Blut ist von der Mutter, und wir opfern ihr Blut, das als unsere Speise zurückkehrt. Ich bin Tiamat, vom fünften Haus, Säerin der Samen, die uns von unseren Vorfahren in den Tagen gebracht wurden, bevor die Zeit begann. Mein Blut ist von der Mutter, meine Knochen sind von der Mutter, mein Herz schlägt im Rhythmus der Zeit, die uns zur Mutter ruft. Mein Körper vermischt sich mit der Erde, die die Mutter ist. Wenige verstehen die Mutter. Sie ist das Leben, ihr Blut schafft Leben. Wir opfern ihr Blut, der Junge und das Mädchen werden miteinander getötet, und wir essen sie für die Mutter, da die Samen sonst nicht aufgehen werden. Alle vier Monde opfern wir für die Mutter, und das Opfer kehrt als unsere Speise zurück. Wenn wir nicht opfern, werden wir alle zugrunde gehen. Ich, Tiamat, weiß dies von den Ahnen, die uns die Samen in den Tagen brachten, bevor die Zeit begann.
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5 Der Vater meines Vaters ist vom Schöpfer herabgestiegen, dessen Reich nicht hier ist, sondern der Himmel, und seine Wege sind unerforschlich. In unserer Stadt haben die Priester Mittel, um Verbindung mit unserem Vater herzustellen, aber meine Verwandten verstehen sie nicht. Der Vater meines Vaters verstand den himmlischen Vater, denn sie waren miteinander verwandt, aber wir haben es vergessen. Es spielt aber keine Rolle, denn unser Leben ist in seiner Hand. Es gibt viele Götter und Göttinnen, und er ist manchmal der Anführer von ihnen allen, auch wenn wir nicht wissen, in welcher Weise. Die Priester sagen uns, dass es eine Zeit gab, in der unsere Ahnen beim himmlischen Schöpfer weilten, aber dann geschah etwas Schreckliches. Wir beten zweimal täglich, um in die Zeit vor dem Vergehen zurückversetzt zu werden. Ich bete inständig, aber das letzte Mal, als ich inständig betete, starb meine Schwester trotzdem. Mein Onkel sagt, dass ich inständiger beten muss; der Fehler muss also bei mir liegen. Ich lerne Töpfer, denn ich bin sehr geschickt mit meinen Händen. Mein Bruder war Töpfer; mein anderer Bruder pflügt. Eine meiner Schwestern starb; was mit meiner anderen Schwester geschah, wollen sie mir nicht sagen. Wir sind vermögend, denn wir haben ein festes Haus. Der Vater meines Vaters wurde nämlich vom Schöpfer herabgesandt. In dem blutigen Kampf, in dem diese Stadt den anderen entrissen wurde, kämpfte meine Familie gut, und auch deshalb haben wir dieses Haus. Der Tag des Opfers ist der beste Tag, denn alles kommt vom Schöpfer, und wir müssen ihm etwas davon zurückgeben. Meine Familie opfert schöne Vögel, die wir hierfür züchten. Es gibt seltsame Gerüchte darüber, was im Tempel geschieht, aber ich schenke ihnen keinen Glauben. Wir sehen die Opfer hier mit den Vögeln. Das Blut des Vogels kehrt zur Erde zurück. Blut ist das Leben, das uns gegeben wurde, und deshalb geben wir es zurück. Eine Sache zu essen heißt, diese Sache zu sein; wenn also der Vogel vom Priester gesegnet wurde, essen wir ihn, denn jetzt ist es Essen von den Göttern, und die Götter sind in ihm. Dadurch werden wir stark, und die Elemente lassen uns in Ruhe. Und doch, als ich das letzte Mal für meine Schwester betete, starb sie trotzdem; es muss also mit mir etwas nicht in Ordnung sein.
6 Diese Welt hat offensichtlich einen Sinn. Und ich stehe ständig in der Auseinandersetzung mit denjenigen, die das Licht der Rationalität unter den Scheffel der Täuschung stellen wollen. UFOs, Astrologie, Alchemie, Astralreisen, östliche Mystik ... Was für ein Kuddelmuddel. Die meisten dieser Menschen scheinen, wie gut ihre Absichten auch sein mögen, nicht zu sehen, dass sie in einer relativ sicheren und geschützten Welt leben, und dass sie dies ausschließlich den rationalen Wissenschaften und ihren Früchten verdanken: Medizin, Zahnheilkunde, Physik, ökonomisch orientierter Produktion und dem Überfluss, der Verdoppelung der durchschnittlichen Lebenserwartung von dreißig auf siebzig Jahre. Die Kritiker verurteilen gerade das, was ihnen Sicherheit gibt. Ich habe über drei Jahrzehnte als Elektrotechniker gearbeitet, weil es funktioniert, weil es überprüfbar ist, mehr Lebensqualität schafft. Es gibt eine wirkliche Welt da draußen, die echte Wahrheit enthält, und es ist wirklich harte Arbeit, diese zum Vorschein zu bringen. Man kann nicht einfach seinen Nabel betrachten und hoffen, dabei irgendetwas von Wert zu finden. Die Festung der Wissenschaft: ja, so stelle ich mir das vor. Sie wird niemals fallen, und sie wird immer wieder auf den neuesten Stand gebracht werden. Jedenfalls so lange, wie die antirationalen Insassen nicht die Anstalt übernehmen. Vielleicht sollte ich nicht wütend werden, aber ich werde doch wütend. Seit mein Sohn voriges Jahr bei einem Autounfall umkam, war es nicht so leicht für mich. Aber zu einem eingebildeten Gott zu laufen bringt überhaupt nichts. Wir Menschen sind, ob es uns passt oder nicht, die einzigen existierenden Götter, die einzige Kraft rationalen Strebens und guten Willens. Und wir werden uns erretten, wenn wir überhaupt errettet werden können. In einem Punkt hat die Bibel Recht: Die Wahrheit wird uns frei machen. Und die Naturwissenschaft ist der einzige Weg zur Entdeckung der Wahrheit. Was sollte es denn sonst geben? Ich zerbreche mir darüber jedenfalls nicht den Kopf. Na gut, hin und wieder kann ich nicht schlafen. Ich liege wach und starre verwundert in die Dunkelheit.
7 Alles hängt mit allem zusammen. Als ich als junges Mädchen, ich war vielleicht vierzehn, diese Erkenntnis hatte, änderte das mein ganzes Leben. Später erführ ich, dass es Namen hierfür gab – Holismus usw. –, aber damals wusste ich nichts weiter, als dass alles mit allem verbunden und verknüpft ist. Zwanzig Jahre, zwei Ehemänner, keine Kinder, drei Jobs und einen Literaturpreis später glaube ich immer noch fest daran! Mein Buch Das Gewebe neu weben ist eine ausführliche Darstellung dieser holistischen Auffassung. Ich stütze mich dabei nicht nur auf die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse, und es gibt ja wirklich eine ganze Menge! Von der Chaostheorie über die Quantenphysik und die Komplexitätstheorie bis zur Systemtheorie – also mir wird ganz wirr im Kopf, es ist ja so aufregend! Aber wir haben ja auch noch den Holismus der Urvölker in der ganzen Welt, die alle diese Dinge ja schon lange wussten, bevor die moderne Wissenschaft darauf stieß. Die große Göttin kehrt wieder! Gaia lebt! Alles ist mit allem verknüpft! Ist das nicht wunderbar? Jetzt, da die Wissenschaft auch zu dieser holistischen, vernetzten Auffassung gelangt – und ich habe doch schon vor Jahren darüber geschrieben! –, werde ich als eine Art Vorläuferin betrachtet. Ich bin also zu einer richtigen Heldin geworden, stellen Sie sich nur vor! Man hat mich gebeten, in diesem und jenem Ausschuss mitzuwirken, für alle möglichen Zeitschriften zu schreiben, an dieser und jener Konferenz teilzunehmen. Ich! Denken Sie nur! Ach, ich habe noch etwas vergessen. Es sind ja nicht nur die Überzeugungen der Urvölker, sondern auch noch die östliche Mystik. Alle sagen dasselbe über das Gewebe des Lebens, alle Dinge und alle Dinge und all dies und so weiter. Ich weiß bloß nicht, warum mich diese Zen-Leute dauernd belästigen und fragen, ob ich meditiere. Ich gebe ihnen immer zur Antwort: Ist das denn so wichtig? Wenn man glaubt, dass alles mit allem verbunden ist, was braucht man dann noch? Ihr macht es auf eure Art, nämlich Meditation, und ich mache es auf meine Art, nämlich holistisches Denken. Sie haben gesagt, dass dies bloß eine Idee sei, und ob ich ihnen diese Einheit jetzt in diesem Augenblick zeigen könne? Das habe ich überhaupt nicht verstanden. Sie sind einfach garstig, glaube ich; wie wenn sie alles wüssten! So etwas!
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8 Die Bergwanderung mit meinem Verlobten war mein einziger Wunsch. Bis über beide Ohren verliebt, leicht verrückt – wir waren zwei stammelnde Narren. Wie Kinder, ja, aber was machte es aus? Eine Stunde lang hatte John brav den Rucksack mit den Picknicksachen getragen und mich die ganze Zeit geneckt, dass es nur recht und billig sei, wenn er das Essen für die verantwortliche Geschäftsführerin von Digital Data Corporation trüge, und ich sagte: "Nein, es ist nur recht für einen Sklaven der Liebe, und das bist du." Und ich hatte diesen Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als ich mich plötzlich auflöste, und da war nur noch die Landschaft vor mir, und John, und dieser Körper ... Aber kein Ich mehr, oder ... Nun, ich weiß nicht so recht. Ich war irgendwie eins mit dieser ganzen Szenerie, eins mit dem Berg, eins mit dem Himmel. Es war erhebend, ein wenig unheimlich, aber ganz friedlich, wie ein Heimkommen. Ich habe nie mit jemandem darüber geredet, weil ich am Montag wieder im Büro war, in meinem Chefsessel, und wer hätte mir überhaupt geglaubt? Es geschah nie wieder. Manchmal lese ich über solche Dinge, Einssein und so, kosmisches Bewusstsein, aber keiner der Begriffe scheint mir auf dasjenige zu passen, was ich erlebt habe. Man sagt, dass manche Menschen permanent in diesem Zustand bleiben können, aber ich kann mir das nicht vorstellen; ich glaube es nicht. Man würde ja jegliche Orientierung verlieren. Nun ja, es ist mir eben zugestoßen. Und je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr glaube ich, dass es wohl eher so etwas wie ein kleiner Anfall war. Ich hatte eigentlich die ganze Zeit nicht den Eindruck, aber jetzt scheint es mir doch so. Und im Ernst: Was hätte es denn sonst sein können?
9 Es ist noch nicht so lange her, ich kann mich noch daran erinnern, wie wenn es jetzt in diesem Augenblick geschehen würde, so lebhaft, elektrisierend, unheimlich war es. Ich saß allein zu Hause, und es war schon spät, etwa um Mitternacht. Ich hatte das ausgeprägte Gefühl, dass jemand oder etwas im Haus war – Sie kennen dieses Gefühl? Zuerst hatte ich richtiggehend Angst. Schließlich nahm ich mich zusammen und ging durch das ganze Haus, um nachzusehen. Als ich mich wieder setzte, geschah es. Eine strahlende Feuerkugel, ich weiß nicht, wie ich es sonst nennen soll, materialisierte sich plötzlich vor mir, mitten im Wohnzimmer. Ich weiß, das klingt verrückt, aber mir ist nie zuvor so etwas zugestoßen; ich bin wirklich kein Gespensterseher. Aber es war nicht einfach irgendetwas Elektrisches. Ich weiß, dass es verrückt klingt, aber es war lebendig. Also ich will es einfach aussprechen: Es war Liebe. Es war ein lebendiges Feuer aus Liebe und Licht. Ich weiß dies so gewiss wie ich hier sitze. Es wanderte oben auf meinen Kopf, dann wieder vor mich, dann wieder auf meinen Kopf. Als es auf meinem Kopf war, begann meine ganze Wirbelsäule zu vibrieren, und elektrische Ströme schössen zu meinem Scheitel hinauf. Ganz schön verrückt, nicht? Und sobald ich wusste, dass es Liebe war, verschwand es wieder, einfach so. Es ging einfach wieder weg, aber es hätte mich fast um den Verstand gebracht. Oder nein, eigentlich nicht, ich meine, ich hatte nicht wirklich Angst. Es gab mir ein Gefühl vollkommener Sicherheit; ich habe noch nie etwas Derartiges empfunden. Also, ich habe ja auch schon davon gehört, von diesem Licht am Ende des Tunnels. Nur war ich nicht tot. Aber ich weiß, was ich weiß, und ich weiß, dass Liebe etwas ist, was es da draußen gibt. Mein ganzer Körper fühlte sich irgendwie anders an. Meine Wirbelsäule tat weh, wie wenn sie jemand an die Steckdose angeschlossen hätte, oder wie soll ich sagen ... Aber die Wahrheit ist da draußen. Ich weiß es. Oh ja, und ich habe zu beten begonnen, um zu danken.
10 Die Natur zieht sich von ihrem Gott zurück, das Licht kehrt in seine eigene Heimstatt ein. Dies und nichts als dies denke ich die ganze Zeit, während ich in diese außerordentliche Weite eintrete. Ich gehe hinein und hinauf, hinein und hinauf und habe überhaupt keine physischen Empfindungen mehr. Ich weiß nicht einmal mehr, wo mein Körper ist, oder ob ich überhaupt einen Körper habe. Ich gewahre nichts als eine Aufeinanderfolge schimmernder Hüllen leuchtender Seligkeit, immer weicher und doch fester, immer strahlender und doch matter, immer intensiver und doch schwieriger wahrzunehmen. Vor allen Dingen bin ich Fülle. Ich bin erfüllt bis zur Unendlichkeit in diesem Ozean des Lichts. Ich bin erfüllt bis zur Unendlichkeit in diesem Ozean der Seligkeit. Ich bin erfüllt bis zur Unendlichkeit in diesem Ozean der Liebe. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich etwas möchte, etwas begehre, etwas haben will. Ich kann nicht mehr in mir fassen als das, was schon da ist: erfüllt bis zur Unendlichkeit. Ich bin jenseits meiner selbst, jenseits dieser Welt, jenseits von Schmerz und Leid und Selbst, und ich weiß, dass dies die Heimat Gottes ist, und ich weiß, dass ich in Gottes Gegenwart bin. Ich bin unzweifelhaft eins mit der göttlichen Gegenwart. Es ist gewiss, dass ich eins mit Gott bin, dass ich eins mit dem GEIST bin. Ich werde niemals mehr etwas begehren, denn hier ist Gnade im Überfluss, hier im leuchtenden Dunst der Unendlichkeit. An den Rändern dieser Liebe und Seligkeit sind zarte Tränen, die leise Erinnerung daran, dass ich dies so sehr wollte, so sehr danach verlangte, mich so verzweifelt danach sehnte, bis ans Ende des Universums gesättigt, voll und frei und am Ziel zu sein. All die Jahre, all mein Leben lang, habe ich nur dies gesucht, darum gebebt und gebangt. Jetzt stehen die zarten Tränen am Rande meiner Unendlichkeit und erinnern mich daran. Aus diesem Licht und dieser Liebe gehen alle Dinge hervor – das weiß ich jetzt sicher, denn ich habe es mit dem Auge meiner eigenen wahren Seele gesehen. In dieses Licht und diese Liebe werden alle Dinge zurückkehren – dessen bin ich jetzt gewiss, denn ich habe es mit dem Auge meiner eigenen wahren Seele gesehen. Und ich bin mit einer Botschaft zurückgekehrt: Friede sei mit euch, meine Brüder und Schwestern unter den Menschen, und Friede sei mit euch, meine Brüder und Schwestern unter den Tieren, und Friede sei mit euch, meine unbelebten Brüder und Schwestern – denn alles ist gut, und alles ist gut, und alle Dinge werden gut sein. Wir sind alle vom selben Licht und von derselben Liebe, dessen bin ich jetzt gewiss, denn ich habe dies mit dem Auge meiner eigenen wahren Seele gesehen.
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11 Wie lange genau ich Licht war, kann ich nicht sagen. Wie lange genau die Idee existierte, weiß ich nicht. Wie lange ich keines von beiden war, weiß ich nicht. Auf der anderen Seite des Lichts war der Abgrund. Auf der anderen Seite der Liebe war der Abgrund. Wie lange, kann ich nicht sagen. Einst war ich ein Stein, daran erinnere ich mich, und Vor rück aus, daran erinnere ich mich. Ich durchstreifte das Universum meiner selbst in schlummernder Vergessenheit, und um die Wahrheit zu sagen, es war immer ein Spaß. Einst war ich eine Pflanze, dann ein Tier, und ich erinnere mich an Hunger und Durst. Ich eilte den Formen meiner eigenen Lust entgegen und lief vor ihnen davon. Ich irrte umher, getrieben, hungernd, sterbend. Aber, um die Wahrheit zu sagen, es hat immer Spaß gemacht. Einst erwachte ich als der Mensch und trat in die Schule meines eigenen Werdens ein. Zuerst verehrte ich mich selbst in der Gestalt meines Anderen, ich verehrte mein schlummerndes Selbst. Ich bewegte mich auf meine eigene Haut zu, die liebe Natur, und ich näherte mich mir einmal mit Erstaunen, einmal mit Erschrecken. Mit unendlichem Zittern und rituellem Flehen versuchte ich, dem Schrecken zu begegnen, den ich durch meinen eigenen Schlaf erregte. Aber um die Wahrheit zu sagen, es hat immer Spaß gemacht. Einst erwachte ich als der Mensch auf der Suche nach mir selbst als himmlischem Anderem, in meiner eigenen Form als nebliges mythisches Mysterium. Ich opferte Aspekte meines noch schlummernden Selbst, um den Schrecken zu mildern, den meine eigene Dämmerung immer noch hervorrief. Aber wenn ich auf einmal ganz erwacht wäre, wäre das Spiel an dieser Stelle beendet gewesen. Und um die Wahrheit zu sagen, es hat immer Spaß gemacht, auch wenn ich mich ins eigene Fleisch schnitt. Bald erwachte ich als die Menschenwesen, die bei ihrem Streben, für sich selbst ein Licht zu sein, sich auf der Spur des Lichts vorwärts tasteten, das ich bin, auch in meinem Anderssein. In einem einzigen großen Schritt hörte ich auf, da draußen nach mir selbst zu suchen. In einem einzigen großen Schritt erwachte ich zu einem Bewusstsein des Lichts. In einem einzigen großen Schritt wandte ich mich nach innen oder fing jedenfalls damit an, und ich konnte spüren, dass dieses Spiel uninteressant wurde, weil ich jetzt auf der Spur des Ich war. Aber um die Wahrheit zu sagen, es hat Spaß gemacht, auch als es zu Ende ging. Eines Tages, als ich allein in meinem Anderssein war, sah ich mich als eine Kugel des Lichts und der Liebe, und ich wusste, dass das große Erwachen nahe war. Beim nächsten Schritt in der Schule meiner selbst trat ich als diese Liebe und dieses Licht selbst in das Ich ein, und ich war beim Ich in Unendlichkeit. Und dies erkannte ich mit einem Mal, mit einem Atemhauch, der allen Raum in sich einhüllte, und einem Lichtblitz, der alle Zeit in sich schloss. Und schließlich: der Abgrund jenseits aller Jenseitigkeiten. Manche nennen ihn radikale Freiheit, unendliche Befreiung, die große Erlösung, grenzenloses Sein. Ich kann dazu nichts sagen, denn es gibt kein Ich zu erkennen, in keiner heiligen oder weltlichen Form, sondern nur diese radikale Formlosigkeit, die ihre eigene Randnotiz bleibt. Es ist nicht Seligkeit, es ist nicht Gott, es ist nicht Liebe. Es ist nicht ganzheitlich, es ist nicht die Göttin, es ist nichts irgendwie miteinander Verwobenes. Es ist nicht unendlich, es ist nicht ewig, es ist kein Begriff, kein Objekt und kein Zustand. Ich-Ich bin nicht Licht, nicht Liebe, nicht Geist, nicht Seligkeit. Ich-Ich bin nicht gebunden, nicht frei, nicht unwissend, nicht erlöst. Aber dieses Eine kann man sagen: Wo nicht diese Leerheit ist, da ist nur Leiden. An all dies erinnere ich mich in der Schule meiner selbst. All dies habe ich erlebt in der Geschichte meiner Selbstentdeckung. Von all dem singe ich jetzt vor dem Publikum meiner selbst. All dies verspreche ich anderen, die die Formen meines eigenen Schlummers sind. All dies werden andere ebenfalls sehen, wenn sie aus ihrem Anderssein erwachen und aus ihrem schlummernden Selbst in die Erwachtheit zurückkehren, die im Herzen dessen, was sie sind, immer existiert hat, unverkürzt und unbeschädigt. Wie lange ich genau Licht war, kann ich nicht sagen. Wie lange die Idee existierte, kann ich nicht sagen. Wie lange ich keines von beiden war, kann ich nicht sagen. Auf der anderen Seite des Lichts ist der Abgrund. Auf der anderen Seite der Liebe ist der Abgrund. Wie lange, kann ich nicht sagen. Aber ich weiß, dass ich auch diese Leerheit noch entleeren und daher einen Kosmos haben werde, dass ich mich als die Welt der Form inkarniere und in Wachheit zu den Kindern meines eigenen Gewahrens kommen werde.
12 Um das Meer der Leerheit ein zarter Saum von Wonne. Um das Meer der Leerheit ein Flackern von Mitgefühl. Zarte Erleuchtungen erfüllen den Raum des Gewahrens, Wenn strahlende Formen zu Bewusstsein zusammenfließen. Eine Welt nimmt Gestalt an, Ein Universum wird geboren. Ich-Ich atme die subtilsten Muster aus, Die zu den dichtesten Formen kristallisieren. Mit physischen Farben, Dingen, Objekten, Prozessen, Die dem Gewahrsein in der Dunkelheit seiner Nacht entgegeneilen, Um sich als glorreiche Sonne zu erheben, Die strahlende Erinnerung an ihren Ursprung, Und als schlummernde Erde, die Wohnstätte der Abkömmlinge des GEISTES.
13 Das Telefon klingelt. Ich eile hin und nehme den Hörer ab. "Ja?" "Hallo, hier ist Marci." "Hallo, Liebes. Was gibt's?"
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"Ich finde, wir sollten Urlaub machen, einfach so, einfach spontan weg." "Ja, äh, weißt du, ich habe gerade so viel zu tun, es ist ..." "Ach was, es wird dich nicht umbringen, wenn du dir ein paar Tage freinimmst." "Okay, okay ... Wir waren noch nie in South Beach, und wir wollten dort doch schon immer mal hin, also könnten wir das doch jetzt machen, ja?" "Ja!" Zwei Wochen später sind wir in South Beach, Miami – ausgerechnet. Im Ozean liegend, in das Meer eingetaucht, finde ich überall den Abglanz des Einen Geschmacks. Leerheit, Klarheit und Zuwendung sind die Namen dieses gegenwärtigen Augenblicks, wie er jetzt und jetzt und jetzt entsteht. Die Körper des Buddha, die Hände des Christus, die Antlitze des Krishna, die Brüste der Göttin, die Aspekte dieses gegenwärtigen Augenblicks. Ich weiß, dass all dies irgendwie mit dem Versprechen zu tun hat, das ich tief im Innersten meiner Seele gegeben habe, und wie und wo dies genau geschah, spielt eigentlich keine Rolle. Denjenigen, die sich an den Weg ihres eigenen Bewusstseins erinnern – vom Mineral zur Pflanze und zum Tier, vom Magischen zum Mythischen über das Mentale zum Supramentalen, vom Körper über das Ich, die Seele und die Leerheit zum radikalen Einen Geschmack –, wird etwas Zusätzliches abverlangt, nämlich mitzuteilen, was sie gesehen haben, woran sie sich erinnern und was sie entdeckt haben – was jedes Ich in der Schule des Ich entdeckt hat, das zu sich selbst zurückkehrt, leuchtend und frei, leer und klar, berufen und fürsorglich, einfach so, einfach so. Und um die Wahrheit zu sagen, es war immer ein Spaß.
14 Marci schwimmt. Ich trinke meine Cola und esse mein Sandwich. Es ist Mittag. Der Himmel ist klar, das Meer ist blau, die Wellen laufen am Strand aus und benetzen den feinen weißen Sand.
Mittwoch, 2. Juli Habe den ganzen Morgen gelesen, einige dringende Anrufe beantwortet, eine Stunde lang die wöchentliche Büchersendung ausgepackt und einsortiert. Bücher – wer braucht eigentlich Bücher? Viele Menschen glauben, dass erweckt zu sein bedeutet, dass man alles verstehen müsse, aber es bedeutet in Wirklichkeit genau das Gegenteil: Man versteht überhaupt nichts. Es ist alles ein absolutes Geheimnis, ein wirres Stammeln von unendlichem Unsinn. Erleuchtung ist nicht All-Wissen, sondern Nicht-Wissen, die völlige Befreiung vom Krampf des Wissens, das sich immer auf die Welt der Form bezieht, während man in Wahrheit nichts als formlos ist. Nicht die Wolke des Wissens, sondern die Wolke des Nichtwissens. Nicht göttliche Erkenntnis, sondern göttliche Unkenntnis. Der Seher kann nicht gesehen werden, der Erkennende kann nicht erkannt werden, der Zeuge kann nicht bezeugt werden. Man ist daher einfach ein freier Fall in göttliches Nichtwissen, eine große Freiheit von allen Dingen, die man erkennen, sehen, hören und fühlen kann, eine unendliche Freiheit auf der anderen Seite des Erkennens, eine Ewigkeit der Erlösung auf der anderen Seite der Zeit. Wissen ist in der herkömmlichen, relativen Welt unverzichtbar, und ich packe gerne diese Bücher aus und versuche, durch Bücher etwas mitzuteilen, weil in dieser Welt bestimmte Gelübde und Pflichten gelten. Aber dies alles ist wirklich nur eine Aneinanderreihung von Ornamenten auf dem ursprünglichen Gewahren, ein Muster von Abspiegelungen im leeren Spiegel. Ken Wilber ist nur eine Hautschuppe auf meinem ursprünglichen Antlitz, und heute Morgen schnippe ich sie weg wie ein kleines Insekt und verschwinde wieder im unendlichen Raum, der meine wahre Heimat ist. Aber dieser unendliche Raum ist in heftiger Bewegung. Er singt sein Lied der Manifestation, tanzt den Tanz der Schöpfung. Aus diesem schieren, reinen, hauchfernen Nichts erhebt sich in einem ewigen Nun diese majestätische Welt, ein Zwinkern und ein Kopfnicken des strahlenden Abgrunds. So packe ich also diese Bücher aus und widme mich weiter den Geschäften dieses Morgens.
Freitag, 4. Juli Habe ein Exemplar des Newsletter der Association for Transpersonal Psychology erhalten und stoße auf diese Notiz: "Die American Medical Writers Association of New England hat dem Textbook of Transpersonal Psychiatry and Psychology (Basic Books, 1996) der Psychiater Bruce Scotton, Allan Chinen und John Battista ihren Award in Excellence in Medical Communication verliehen." Sie haben es verdient; sie haben mit diesem Buch großartige Arbeit geleistet. Sie baten mich, ein Vorwort zu schreiben, was ich gerne tat, und dies sollte sich für uns alle in unerwarteter Weise lohnen: Ich setzte mich hin, um den Text zu schreiben, schrieb mich in Eifer, und fünfzig Seiten später hatte ich einen phantastischen Artikel – aber für ein Vorwort viel zu lang. Damit konnten sie unmöglich etwas anfangen. Also schrieb ich nochmals ein angemessen kurzes vierseitiges Vorwort, mit dem sie sehr zufrieden waren, und aus dem langen Aufsatz wurde eine meiner Lieblingsarbeiten: "Ein integrales Verständnis des Wahren, Schönen, Guten", das jetzt die Einleitung zu Das Wahre, Schöne, Gute bildet. So hat letztlich jeder doch noch von meiner anfänglichen "Themaverfehlung" profitiert. Aber abgesehen davon: Das wirklich Außergewöhnliche und Erstaunliche ist, dass das erzative medizinische Establishment von New England ein Buch über spirituelle und transpersonale Psychiatrie ausgezeichnet hat. In einem letztlich politischen Akt legt die klinische Psychiatrie in diesem Land fest, welche Bewusstseinszustände "wirklich" und welche "pathologisch", "krank" und "eingebildet" sind. Und man glaubt es nicht: Es wäre tatsächlich denkbar, dass Gott keine Geisteskrankheit mehr ist.
Samstag, 5. Juli Vielleicht noch einige Erläuterungen zu "Anamnesis". Ich habe hier zu beschreiben versucht, wie die einzelnen Hauptebenen des Bewusstseins "von innen" aussehen, aus der Sichtweise der ersten Person, des "Ich". Weil man in wissenschaftlichen
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Veröffentlichungen immer gezwungen ist, eine objektive Es-Sprache zu benutzen, wollte ich zur Abwechslung einmal in einer IchSprache sprechen. Einer der Hauptgründe, warum Verfasser von religionswissenschaftlichen Schriften eine Es-Sprache gebrauchen, liegt natürlich darin, dass sie dies der Mühe enthebt, ihr Bewusstsein (das Ich) zu transformieren, um solche Dinge zu sehen. Statt auf die Bermudas zu reisen, lesen sie Bücher über die Bermudas und reden über die Bücher! Sehr eigenartig. Für die niedrigeren Ebenen (bis Nummer 9) habe ich Kurzgeschichten geschrieben, die die Welt auf den einzelnen Ebenen darstellen sollen. Ab Nummer 10 sind die Einträge phänomenologisch: der Eintritt in die verschiedenen Zustände, Wiedergabe der Erfahrung. So entstanden recht willkürlich vierzehn Abschnitte der "Anamnesis", und da ich üblicherweise von zehn Hauptebenen des Bewusstseins spreche, ergeben sich folgende Zuordnungen: " " "
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Nummer 1 ist die sensomotorische Welt (Ebene 1), die Welt der Materie und Physik. Meine Darstellung ist sicher nicht sehr phantasievoll, aber es ist ein Versuch. Nummer 2 ist die pranaische oder emotionell-sexuelle Welt (Ebene 2). Ebenfalls nicht sonderlich phantasievoll, aber man erkennt, was gemeint ist. Nummer 3 ist die magische Welt (Ebene 3). Im magisch-animistischen Denken werden Subjekte mit ähnlichen Prädikaten oft gleichgesetzt und Ganze mit Teilen verwechselt, weshalb hier Verdichtungen und Verschiebungen an der Tagesordnung sind.24 Dennoch ist dies auf ihre Weise eine der schöneren Weltsichten, und die ihr zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten von Metapher (Gleichsetzung von Dingen mit ähnlicher Agenz) und Metonym (Gleichsetzung von Dingen mit ähnlicher Kommunion) sind wichtige Wurzeln der Sprache und nach wie vor wesentliche Merkmale der Dichtkunst. Es ist leicht zu verstehen, warum die Romantiker die Konturen dieser Welt nicht klar sehen konnten. Nummer 4 und 5 sind die mythische Welt (Ebene 4), wobei ich eine Auftrennung in die Mythologie der Gartenbauern (Nr. 4), die oft matrifokal ist, und in die Mythologie der Ackerbauern (Nr. 5) vorgenommen habe, die praktisch immer patrifokal (patriarchal) ist. Historisch trat der Übergang von der älteren magischen Kultur der Jäger und Sammler zur mythologischen Kultur der Ackerbauern mit der Entdeckung der Technik des Pflanzens auf. In Gartenbaugesellschaften geschah das Pflanzen mit Hilfe eines einfachen Grabstocks oder einer Handhacke. Weil dies mit mäßigem Kraftaufwand geschehen kann, konnten auch Schwangere diese Arbeit leisten, weshalb in Gartenbaugesellschaften 80% der Nahrungsmittel von Frauen erzeugt wurden. Aus diesem Grund hatten etwa ein Drittel aller Gartenbaugesellschaften ausschließlich weibliche Gottheiten (die Große Mutter), etwa ein Drittel kannte männliche und weibliche Gottheiten und ein weiteres Drittel nur männliche Gottheiten. (Mit Ausnahme von einigen Seevölkern stehen alle Gesellschaften, die eine Große Mutter verehren, auf der Grundlage des Gartenbaus.) Als man entdeckte, dass Tiere einen großen und schweren Pflug ziehen konnten, konnte viel mehr gepflanzt werden, aber diese Arbeit war körperlich sehr anstrengend. Frauen, die sich an der schweren Arbeit des Pflügens beteiligen, erleiden signifikant mehr Fehlgeburten; es ist also ihr darwinscher Vorteil, sich vom Pflügen fern zu halten. Daher ruhte praktisch die gesamte Nahrungsmittelerzeugung in Händen der Männer, und dementsprechend gab es in über 90% der Ackerbaugesellschaften überwiegend männliche Gottheiten.
Was an den matrifokalen Gartenbaugesellschaften besonders auffällt, war die gelegentliche Praxis des Menschenopfers. Die große Mutter Erde verlangte nach Blut, um neue Feldfrüchte hervorbringen zu können, und das Aufkommen der matrifokalen Gartenbaugesellschaften (etwa um 10000 v. Chr.) war in vielen Fällen, wie Joseph Campbell gezeigt hat, von einer "Opfer-Raserei" gekennzeichnet. Auch wenn die Praxis der Opferung in einigen Fällen in späteren Kulturen noch schlimmere Ausmaße annahm, scheint festzustehen, dass sie hier begann. Ich habe ein besonders plastisches und gut dokumentiertes Beispiel von Campbell benutzt, bei dem ein Junge und ein Mädchen während der Kopulation getötet und ihre Körper gebraten und verzehrt werden. Diese mit blutigen Opfern gepaarte Verehrung der Erde ist typisch für Religionen der Großen Mutter. Das Aufkommen der patrifokalen Ackerbaugesellschaften war vielfach durch einen scharfen Bruch mit den Menschenopfern gekennzeichnet, doch wurde dieses Thema oft in symbolischer oder abgeschwächter Form beibehalten (wie z.B. in der katholischen Messe: "Nehmt und esst, dies ist mein Leib; nehmt und trinkt, dies ist mein Blut"). Die patriarchalen mythischen Religionen betrachteten sich hauptsächlich deshalb, weil sie das Menschenopfer ächteten, als ethisch höher stehend als die älteren heidnischen Religionen. Diese mythische Ebene wird von der jungianischen Psychologie oft mit den transrationalen spirituellen Bereichen verwechselt. Sie hat gewiss ihre eigene reizvolle Schönheit, aber sie ist prärational, nicht transrational. Trotzdem haben wir zu all diesen früheren Ebenen noch einen gewissen Zugang, und wenn man sie richtig einordnet, kann man von ihrer Lebendigkeit und Bildkräftigkeit viel profitieren. Worauf es mir aber ankommt, ist, dass weder die Mythologie des Gartenbaus noch diejenige des Ackerbaus – noch überhaupt irgendeine Mythologie – in der modernen und postmodernen Welt als echte transrationale spirituelle Richtschnur dienen kann. "
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Nummer 6 ist die rationale Welt (Ebene 5). Die Fähigkeit zu einer rationalen Perspektive und einem pluralistischen Denken bringt einen solchen Zuwachs an Gutem, Wahrem und Schönem mit sich und lässt das Licht des Verstandes so viel heller leuchten, dass es nicht erstaunt, dass man dieses Zeitalter schon sehr bald dasjenige der "Aufklärung" nannte. Andererseits steht die Rationalität immer in der Gefahr der Hybris; nur gelegentlich kommen – in der Tragödie – Erstaunen und Reue an die Oberfläche. Nummer 7 betrifft die Schau-Logik oder die integral-aperspektivische Welt (Ebene 6). Bei dieser Geschichte habe ich mir etwas die Zügel schießen lassen; ich wollte die typische Überschwänglichkeit der Anhänger des New Age und des neuen Paradigmas karikieren, die die wichtigen Wahrheiten der Schau-Logik und des Holismus akzeptiert, aber diese durch eine Reihe von Verwechslungen verzerrt: Die Systemtheorie enthüllt nicht dasselbe "Gewebe des Lebens", das die magische Welt sieht (Systemtheoretiker glauben nicht, dass der Vulkan explodiert, weil er auf sie persönlich böse ist); holistisches Denken ist nicht dasselbe wie östliche Kontemplation (Ersteres ist mental, Letzteres supramental); Gaia ist nicht dasselbe wie die Göttin (Erstere ist endlich, Letztere unendlich). Die Heldin dieser Geschichte wird letztlich Opfer der Trugschlüsse, denen so viele Anhänger des New Age und des Neuen Paradigmas erliegen, dem Flachland-Holismus (nur rechte Seite), der Retroromantik, dem reinen Abstieg, der Biozentrik, zahlreichen Prä/Trans-Verwechslungen usw. (ich nenne dies das "'415-Paradigma", weil dessen Zentrum die Bay Area und Einrichtungen wie das CIIS25 sind. Ich habe dieses "415-Paradigma" scharf kritisiert, und viele ihrer Anhänger haben ebenso scharf geantwortet. Eine ausführlichere Darstellung und Kritik dieser Auffassung siehe unter dem Eintrag vom 23. September). Aber es gibt auch keinen Zweifel, dass die tiefere Wahrheit, die sich dahinter verbirgt, die Schau-Logik und die integral-aperspektivische Sichtweise ist.
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Nummer 8 stellt eine Erfahrung auf der psychischen Ebene dar (Ebene 7). Insbesondere ist das ein klassisches Beispiel für kosmisches Bewusstsein oder die vorübergehende Empfindung des Einsseins mit dem ganzen grobstofflichen Reich. Man beachte, dass dies keine dauerhafte Erfahrung ist, die auch die höheren subtilen und kausalen Reiche nicht erreicht – mit anderen Worten, es ist ein klassischer Fall von Naturmystik. Dies ist die höchste Form von Mystik, die Tiefenökologen, Ökopsychologen, Neuheiden, Ökofeministinnen, Gaiasophen und Verehrer der Großen Mutter üblicherweise anerkennen – aber dies ist erst die niedrigste der mystischen Sphären, diejenige der Weltseele oder des ökonoetischen Selbst. Dennoch ist dies eine tiefe und eindrückliche Dimension des Bewusstseins, die, wenn man sie einmal erreicht hat, ein Leben unwiderruflich verändern kann. Die Gestimmtheit bei dieser Erfahrung auf der psychischen Ebene (derjenigen der Naturmystik) ist immer diejenige einer tiefen Verehrung, eine Empfindung der Ehrfurcht vor dem Dasein, eine Wahrnehmung der Bedeutungslosigkeit des Menschen im Allgemeinen und der eigenen Person im Besonderen. Nummer 9 ist eine weitere Erfahrung auf der psychischen Ebene (Ebene 7), wie sie sich auf dem Weg der Schamanen/Yogis einstellt, nämlich die Erweckung der psychischen Ströme, die man als Kundalini bezeichnet. Diese Strömungen beginnen beim ätherischen Körper (dem emotionell-sexuellen Körper), werden aber üblicherweise auf der psychischen Ebene bewusst (wie in dieser Geschichte) und bleiben bis in die subtile Ebene hinein erhalten. Der Betreffende erlebt eine Kundalini-Erweckung, und da er sie nicht beherrschen kann, erlebt er sie als ein äußeres Anderes, das nur langsam wieder in die Strömungen seines eigenen Körpergeistes zurückkehrt. Psychische Erfahrungen dieses Typs sind oft die Pforte zur nächsten Ebene, der subtilen. Im KundaliniYoga lenkt der Übende diese physischen Strömungen zu ihrer Quelle im Sahasrara-Chakra, dem strahlenden Licht über dem Scheitel (Repräsentation des hohen Subtilen). Die Gestimmtheit bei solchen Erfahrungen beginnt oft mit Ehrfurcht (wenn die heilige Kraft als ein großes Anderes externalisiert wird), geht dann aber in Machtgefühle über, wenn erkannt wird, dass die heilige Kraft eine innere Strömung des eigenen inneren Körpergeistes ist. Traditionell heißt es, dass auf dieser Ebene die Macht leicht missbraucht werden kann (Darth Vader, Castaneda). Nummer 10 ist eine typische Erfahrung auf der subtilen Ebene (Ebene 8), wie sie auf dem Weg der Heiligen erlangt wird. Die grobstoffliche Welt wird vorübergehend zurückgelassen, sodass sie oft nicht einmal mehr wahrgenommen wird. Die Energieströme des Körpergeistes kehren zu ihrem Ursprung im Subtilen zurück (insbesondere in das Sahasrara-Chakra, die Unendlichkeit des Lichts und der Seligkeit, die über aller grobstofflichen Orientierung liegt. Oft wird dieser Zustand der Heiligkeit durch einen Nimbus symbolisiert). Bei diesen Meditationstypen ist die Empfindung immer eine solche des "Hinein und Hinauf", und zwar im wörtlichen, nicht im metaphorischen Sinne. Das Licht und die Seligkeit eines unendlichen Oben wird unmittelbar als solche erfahren; dies ist die Form der Gottheit, die zugleich die eigene tiefste Struktur ist. Dies ist der Sambhogakaya, das Ziel der Gottheitsmystik, die Vereinigung von Gott und Seele. Die Gestimmtheit bei diesen Erfahrungen ist üblicherweise ekstatisch, visionär, apokalyptisch, friedlich und prophetisch. Nummer 11 ist die kausale Ebene (Ebene 9), die auf dem Weg der Weisen erreicht wird. Dies ist die Heimat (die ursprüngliche Quelle) des Zeugen, des Bewusstseins ohne Objekt, des reinen Verlöschens, des klassischen Nirvana und Nirvikalpa, des Ayn, des Nichtmanifesten, des Formlosen, des Großen Ungeborenen, der Gottheit, des Urgrundes, des Dharmakaya, der reinen Leerheit. Wenn die psychische Stufe die Kommunion von Seele und Gott und die subtile Stufe die Vereinigung von Seele und Gott beinhaltet, so beinhaltet die kausale Stufe die Identität von Seele und Gott in der ursprünglichen Gottheit. Wenn das Bewusstsein zur Unendlichkeit des subtilen Lichts und der subtilen Seligkeit aufsteigt, d.h. in das Reich des Subtilen, dann "fällt" sie an einem bestimmten Punkt in das kausale Herz, und die Empfindung des getrennten Selbst wird endgültig in der radikalen Leerheit, Nirguna Brahman oder der eigenschaftslosen Gottheit ausgelöscht (das kausale Herz rechts darf nicht mit dem Herz-Chakra verwechselt werden, das ein feinstoffliches Zentrum der Liebe auf dem mittleren Meridian ist; Ersteres ist reine Leerheit oder absolutes Bodhichitta, Letzteres ist Mitgefühl oder relatives Bodhichitta; vgl. Sri Ramana Maharshi).
Bei allen niedrigeren mystischen Zuständen besteht immer die Empfindung, in diesen Zustand einzutreten bzw. aus diesem wieder herauszutreten, die Empfindung, dass etwas anderes geschieht (die Wahrnehmung von Licht, die Empfindung von Liebe, die Erkenntnis der Gottheit, die Erlangung von Frieden usw.). Irgendwann aber tritt bei diesen aufsteigenden oder absteigenden Strömungen – die immer grobstoffliche oder feinstoffliche Erfahrungen sind – plötzlich der Zustand auf, dass man alles, was sich zeigt, als Zeuge betrachtet, und man verspürt keinen Antrieb mehr, irgendwelche Erfahrungen erreichen zu wollen. Man verlässt die Bahn des Aufstiegs oder Abstiegs (der ja als solcher Samsara ist) und steht in der Freiheit des bezeugenden Herzens. Statt hinter Objekten herzujagen – heiligen oder profanen, hohen oder niedrigen, irdischen oder himmlischen –, ruht man einfach im Spiegel-Geist, in dem alle Objekte gleichermaßen und neutral widergespiegelt werden. Man bewegt sich nicht mehr zum unendlichen Licht nach oben oder zur Lebenskraft nach unten – man ist einfach Zeuge aller Bewegungen. Damit tritt man aus dem großen Kreis des Aufstiegs (Eros) und Abstiegs (Agape) heraus, und wiewohl beide Bewegungen vollkommen im Zeugen eingeschlossen sind, motivieren sie das Bewusstsein selbst nicht mehr. Als Bewusstsein, als der leere Zeuge, ist man der unbewegte Beweger. Die unteren Zentren des grobstofflichen Lebens (d.h. die unteren Chakras) sind selbst eine Verdichtung des oberen subtilen Lichts (der höheren Chakras), und das höchste Chakra selbst (Sahasrara) ist einfach die manifeste Widerspiegelung des Nichtmanifesten: Es leuchtet durch die Kraft des kausalen Herzens, auch wenn das kausale Herz selbst nicht das Licht ist (und keine anderen manifesten Eigenschaften besitzt). Mit anderen Worten, der endgültige Ursprung aller aufsteigenden und absteigenden Strömungen liegt im kausalen Herzen, das selbst nichts anderes ist als diese Strömungen – und deshalb kann der Zeuge neutral alle Manifestation bezeugen, während er selbst von der ganzen Darbietung völlig unabhängig ist. (Der Zeuge selbst jedoch weist wesensbedingt noch die letzten Reste der Getrenntheit, des Selbst und der Dualität auf, und zwar in Gestalt der Spannung zwischen dem Zeugen und allem Bezeugten, der Spannung – und der Trennung – zwischen dem Nichtmanifesten und dem Manifesten, zwischen Nirvana und Samsara, zwischen Leerheit und Form. Diese letzte Dualität löst sich auf, wenn der kausale Zeuge selbst sich in dem nichtdualen Einen Geschmack auflöst, in dem die Leerheit alle Form aufnimmt, Nirvana und Samsara nicht-zwei sind und der Zeuge alles Bezeugte ist.) In diesem Abschnitt habe ich Erinnerungen an frühere Wachstumsstufen dargestellt. Wie ein Mensch mit einer Nahtoderfahrung eine Rückblende seines ganzen Lebens "sieht", so könnte man nach dem kausalen Tod auch eine Rückblende der ganzen kosmischen Geschichte "sehen", die ja nur die Geschichte der Entfaltung des eigenen tiefsten Selbst ist (eine solche Erfahrung, die ich mit 27 hatte, wurde zum Anlass für Halbzeit der Evolution). Diese "Rückblende" ereignet sich nicht im Kausalen – im Kausalen existiert nichts –, sondern vielmehr zu beiden Seiten davon (beim Hineingehen und Herausgehen). Die Gestimmtheit des Kausalen ist diejenige des Steins. Es ist unbewegt und unbeweglich, ein großer Berg des Nichtmanifesten; zugleich aber besteht die Empfindung der Weite, der Freiheit, des Raums, der Befreiung. Aber – und dies lässt sich kaum mit Worten
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erklären – keine dieser "Gestimmtheiten" hat noch etwas vom Wesen einer Erfahrung. Erfahrungen kommen und gehen, aber der große Spiegel ist der weite Raum, in dem alle Erfahrungen kommen und gehen, und hat selbst überhaupt nichts von einer Erfahrung. "
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Nummer 12 ist der Abstieg vom Kausalen zum Subtilen oder der Beginn der Involution, der Emanation oder Manifestation selbst. Nummer 1 bis 11 sind die Geschichten des Aufstiegs oder der Evolution des Bewusstseins von der Materie über Körper, GEIST und Seele zum kausalen Geist. Wenn das Bewusstsein einmal zu seinem Ursprung im kausalen Herzen eingekehrt ist, dann kann ein bewusster Abstieg, eine bewusste Involution vom GEIST über Seele, Geist und Körper zum Stoff stattfinden. Natürlich gibt es ständig Variationen zu diesem Zyklus, der durch einen streng holonischen Raum hindurchgeht (Evolution und Involution ereignen sich mit jedem Atemzug und selbst in jeder Mikrosekunde. Das Entscheidende ist einfach, dass am Punkt der Rückkehr zum kausalen Herzen der ganze Zyklus bewusst erkundet und seine Faszination durchschaut und gebrochen werden kann). Nummer 12 bis 14 sind sehr kurz gefasste Darstellungen einer solchen Involution aus der Perspektive dieses besonderen Körpergeistes (d.h. von KW). Die meisten Menschen "erfahren" diesen Übergang jede Nacht, wenn sie vom Zustand des Tiefschlafs (eine Version des Kausalen) in den Traumzustand (eine Version des Subtilen) wechseln, nur erinnern sie sich nicht daran. Eines der Ziele der Meditation ist es, alle diese Übergänge bewusst zu machen, damit man für den Ursprung der Bewegung selbst transparent werden kann. Nummer 13 ist die Fortsetzung des Abstiegs vom Subtilen zum Grobstofflichen, womit der Zyklus der Evolution und Involution abgeschlossen ist (was Plotin Reflux und Efflux nannte). Wenn eine Kontinuität des Bewusstseins durch alle drei Reiche oder Zustände (kausal, feinstofflich, grobstofflich) im aufsteigenden und absteigenden Bogen besteht, dann wird der eine Zustand und der Eine Geschmack aller Reiche auf eine ebenso erschütternde wie einfache Weise offensichtlich.
Die Gestimmtheit des Einen Geschmacks – und der Pfad der Siddha – wird traditionell auf zwei verschiedene Weisen beschrieben, die beide oft Verwirrung stiften. Das Erste ist die Gestimmtheit äußerster Langeweile, ein großes Gähnen im Antlitz der ganzen Welt. Der Grund hierfür ist, dass der Eine Geschmack der Geschmack von allem Existierenden ist, und wenn man diesen gekostet hat, dann hat man alles gekostet. Gesehen, abgehakt. Deshalb werden z. B. im Dzogchen-Buddhismus Adepten traditionell mit einem unendlich gelangweilten Gesichtsausdruck dargestellt. Das Zweite ist die blasierte, fast rotznasige Respektlosigkeit. Als Bodhidharma nach der Natur der Wirklichkeit gefragt wurde, sagte er: "Große Leerheit; nichts Heiliges." Mit anderen Worten, nichts, worüber man keine Witze reißen dürfte. Wenn alles gleichermaßen GEIST ist, dann bleibt kein Raum für Pietät. Wo der psychische Schamane/Yogi große Macht verkörpert, wo der subtile Heilige eine Ausstrahlung des Friedens verkörpert, wo der kausale Weise ehernen Gleichmut verkörpert, verkörpert der nichtduale Siddha grenzenlosen Humor. Ein großes Gelächter schallt zurück, Leichtigkeit umgibt alle Handlungen. Unnötig zu sagen, dass nicht jeder, der Sinn für Humor hat, schon den Einen Geschmack hat; Humor hat meist eine egoistische Wurzel. Es ist einfach so, dass man alles leicht nimmt, wenn nichts heilig ist. "
Was diesen beiden Gestimmtheiten gemeinsam ist, ist die gnadenlose Gewöhnlichkeit. Nichts Besonderes. Es ist einfach das, nichts weiter (Nummer 14).
Sonntag, 6. Juli Phil Jacobson – sein vollständiger Name lautet Philip Rubinov-Jacobson, ein alter und hoch geachteter russisch-jüdischer Name – ist gerade von einem einmonatigen Aufenthalt in Wien bei Ernst Fuchs zurückgekehrt, dem Begründer der Wiener Schule des Phantastischen Realismus und Haupterben von Salvador Dali. Weil ich auch viel über Kunst und Ästhetik geschrieben habe, schicken mir immer wieder Künstler aus aller Welt ihr Material und bitten um Rat, wie sie damit an die Öffentlichkeit gelangen können. Deshalb mache ich mir seit längerem Gedanken darüber, wie man in dieser Situation helfen kann. Ich überlegte mir, dass es ein guter Anfang sein könnte, ein modernes Museum für transpersonale oder spirituelle Kunst zu schaffen. Phil schien mir ein guter Projektkoordinator für dieses Museum zu sein, und er erklärte sich bereit, sich dieser Aufgabe zu widmen. Die Frage war nun, wo das Museum seinen Standort haben sollte und wie man es finanzieren könnte. Phil ging also nach Wien. Es stellte sich heraus, dass Fuchs sich selbst schon mit dem Gedanken eines Museums für spirituelle Kunst getragen hatte, und als Phil unsere gemeinsame Idee erwähnte, war Fuchs so begeistert, dass sie nach Wien gingen und Fuchs gleich ein Gebäude kaufte. Fuchs sucht jetzt ein Schloss, in dem die Künstler selbst arbeiten können, während in dem Haus in Wien die Archive, ein Informationsnetzwerk usw. untergebracht werden sollen. Wie es jetzt steht, wird Phil etwa ein halbes Jahr nach Wien gehen, um die Eröffnung des Museums vorzubereiten; dann wird er wieder nach Amerika zurückkehren, hier eine Zweigstelle gründen und dann seine Zeit zwischen den Vereinigten Staaten und Europa aufteilen. Das Haus in Wien ist ein Barockpalast, wie man hört, sehr schön und sehr groß. Das Schloss – es werden derzeit die Kaufverhandlungen geführt – war die Sommerresidenz von Franz Joseph. Es ist schon erstaunlich: Wenn alles nach Wunsch geht – und der Teufel steckt natürlich immer im Detail –, dann wäre dies wirklich ein Segen für die transpersonalen Künstler in aller Welt.26
Dienstag, 8. Juli Der Regen peitscht, und eine große Pfütze bildet sich auf dem Balkon. Alles schwebt in der Leerheit, in reinster Durchscheinendheit, und niemand ist da, der es beobachtet. Wenn es ein Ich gibt, dann ist es alles, was genau jetzt in diesem Augenblick zum Vorschein kommt. Meine Lungen sind der Himmel; diese Berge sind meine Zähne; die weichen Wolken sind meine Haut; der Donner ist mein Herz, das der Zeitlosigkeit die Stunde schlägt; der Regen selbst sind die Tränen unseres kollektiven Zustands, hier, wo nichts wirklich geschieht.
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Mittwoch, 9. Juli Sam ist mit seiner Tochter Sara zu Besuch gekommen. Es ist immer ein besonderes Erlebnis, wenn ein kleines Mädchen, das man sein ganzes Leben gekannt hat, plötzlich eine junge Dame geworden ist. Sara ist jetzt 18, und sie ist einfach eine Schönheit. Dazu ist sie klug, mit einem überaus wachen Intellekt, und sie möchte – ausgerechnet – Philosophie studieren. "Sara wollte mit dir darüber reden, auf welches College sie gehen soll." "Ja", sagte sie, "ob ich hier gehen soll, auf das Sarah Lawrence oder Brown, oder vielleicht nach Kanada oder noch woandershin." "Das Problem mit den geisteswissenschaftlichen Fächern in den Vereinigten Staaten ist, dass meine Generation sie zu einem Lotteriespiel gemacht hat, wie ich zu meiner Schande sagen muss. Die extreme Postmoderne ist im Schwange, und das Problem mit der extremen Postmoderne liegt darin, dass sie in vielerlei Hinsicht von Nihilismus und Narzissmus durchtränkt ist. Mit anderen Worten, sie glaubt an nichts, außer an sich selbst. Allzu viele geisteswissenschaftliche Abhandlungen stammen von der Nachkriegsgeneration, die ihre moralische Überlegenheit damit demonstrieren möchte, dass sie alle bisherigen Leistungen in Kunst, Wissenschaft, Literatur und Philosophie schlecht macht. So sind die Kulturwissenschaften in vielen Fällen zu einer Selbstwerttherapie für die Nachkriegsgeneration geworden, die sich auf Kosten aller profilieren möchte, die vor ihnen waren." Harte Worte, aber ich habe an einen vor kurzem in Lingua Franca: The Rewiew of Academic Life erschienenen Artikel von Professor Frank Lentricchia gedacht, in dem er den epidemischen Nihilismus und Narzissmus bloßlegt, der heute an amerikanischen Universitäten als Literatur- und Kulturwissenschaft durchgeht. Er "entspringt der Empfindung, dass man den Schriftstellern moralisch überlegen sei, die man angeblich vorstellt. Diese Pose der Überlegenheit" sagt er, behandelt alles, was bisher war, "als Senkgrube, die der Literaturkritiker zum Wohle der Menschheit aufdeckt". Dann bringt er die Sache auf den Punkt: "Die grundlegende Botschaft ist selbstgerecht, und sie lautet wie folgt: 'T. S. Eliot ist homophob und ich nicht. Deshalb bin ich ein besserer Mensch als Eliot.' Worauf es nur eine richtige Antwort gibt: 'Aber T. S. Eliot konnte schreiben, und ihr nicht.'" Entsprechend fällt Lentricchias Fazit über den gegenwärtigen Zustand der Geisteswissenschaften in Amerika aus: "So viel ist klar: Es ist unmöglich, das Ausmaß der heroischen Egoinflation der akademischen Literatur- und Kulturkritik zu übertreiben." Oh weh. "Haben die postmodernen Bewegungen nicht auch etwas Gutes?", wollte Sara wissen. "Ja, natürlich. Meine Kritik richtet sich gegen die Extremisten. Die Postmoderne an sich hat drei, wie ich glaube, sehr wichtige Wahrheiten eingeführt: Konstruktivismus, Kontextualismus und Pluralismus. Konstruktivismus bedeutet, dass die Welt, wie wir sie wahrnehmen, uns nicht einfach gegeben ist, sondern teilweise von uns konstruiert wird. Viele – nicht alle – Dinge, die wir für universell gegeben hielten, sind in Wirklichkeit sozial und historisch konstruiert und sehen deshalb in jeder Kultur anders aus. Der Kontextualismus verweist darauf, dass Bedeutung kontextabhängig ist. So bedeutet z. B. der 'Tau auf dem Gras' und das 'Tau eines Schiffs' in den beiden Sätzen jeweils etwas anderes; die Bedeutung hängt vom Kontext ab. Dies weist der Interpretation (auch Hermeneutik genannt) eine Schlüsselrolle für unser Weltverständnis zu, weil wir die Welt nicht einfach wahrnehmen, sondern interpretieren. Pluralismus schließlich bedeutet, dass wir, weil Bedeutung und Interpretation kontextabhängig sind – und es immer verschiedene Kontexte gibt – bei unserem Bemühen um Verständnis nicht einen bestimmten Kontext bevorzugen sollten (dies bezeichnet man auch als integralaperspektivisch, Schau-Logik oder Netzwerk-Logik). Diese drei Wahrheiten bilden also den Kern der verschiedenen postmodernen Bewegungen, und ich unterstütze diese Wahrheiten voll und ganz. In diesem Sinne bin ich definitiv ein Postmoderner. Das Problem ist nur – wie bei jeder Bewegung –, dass man diese Wahrheiten auch dermaßen aufblähen kann, dass sie selbstwidersprüchlich werden. Die extremen Postmodernisten sagen also nicht nur, dass manche Wahrheiten sozial konstruiert und relativ sind, sondern vielmehr, dass dies für alle Wahrheiten gilt, weshalb es so etwas wie universelle Wahrheit nicht geben könne. Trotzdem behaupten sie aber, dass ihre Wahrheit sehr wohl universell sei. Sie nehmen sich also selbst von dem Anspruch aus, den sie gegenüber allen anderen geltend machen, und dies meine ich mit dem Narzissmus, der ihrem Nihilismus zugrunde liegt." "Wir müssen also", sagte Sara, "weniger die Postmoderne zurückweisen als vielmehr die extreme Postmoderne." "So sehe ich das. Leider haben aber die Extremisten heute in den geisteswissenschaftlichen Fakultäten der meisten amerikanischen Universitäten das Sagen." Ein weiterer Artikel kommt mir in den Sinn, von Richard A. Posner in The New Republic: "Die postmoderne Linke definiert sich aus ihrer Ablehnung der Werte, der Überzeugungen und der Kultur des 'Westens', wobei der 'Westen' das Reich der gesunden heterosexuellen weißen Männer europäischer Abkunft und ihre ost- und westasiatischen 'Nachahmer' sind wie z.B. die Japaner (Hitlers 'Ehren-Arier') und die Juden. Die postmoderne Linke ist radikal multikulturell, aber das ist noch nicht alles, denn der 'Westen', den sie verurteilt, ist historisch vielschichtig: Er umfasst Liberalismus, Kapitalismus, Individualismus, die Aufklärung, Logik, Naturwissenschaft, die Werte der jüdisch-christlichen Tradition, den Begriff des persönlichen Verdienstes und die Möglichkeit objektiver Erkenntnis." Mit anderen Worten, dies ist eine nihilistische Ablehnung aller Werte außer den eigenen: Nihilismus und Narzissmus. Und die traurige Schlussbemerkung: "Die postmoderne Linke ist an den amerikanischen Universitäten fest etabliert." "Also wo bekommt man dann eine gute geisteswissenschaftliche Ausbildung?", wollte Sara wissen, die jetzt doch einigermaßen beunruhigt war. "Nun, ein einziger guter Professor kann fast jede Universität zu einer guten Adresse machen. Es gibt genügend davon in den Vereinigten Staaten – sieh dich einfach um." "Ich habe an verschiedene Universitäten in Kanada gedacht, wie z. B. Victoria." Nun meldete sich Sam wieder zu Wort: "Und es gibt natürlich immer noch Cambridge und Oxford." "Was meinst du, Sara?" "Ich werde dieses Jahr London besuchen, also werde ich sie mir vielleicht ansehen." "Der große Vorteil von Universitäten wie Oxford oder Cambridge ist, dass man dort wirklich das studieren kann, was man studieren möchte, sodass man eine echte multikulturelle Ausbildung bekommt, die das Beste aus West und Ost, Nord und Süd umfasst, und man sich nicht den massiven ideologischen Vorurteilen und der Borniertheit der extremen Postmoderne aussetzen muss. Wir kommen in den Vereinigten Staaten allmählich in diese Richtung, aber bis dahin ..."
Donnerstag, 10. Juli Sam arbeitet derzeit an einem Projekt, das sehr vielversprechend klingt; ich arbeite als Berater mit. Es handelt sich um eine Dokumentarsendung mit dem Titel Pilgrimage, die aus sechs jeweils einstündigen Folgen besteht. Jeder Teil handelt von einem
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Menschen, der eine Pilgerreise an einen bedeutenden religiösen Ort unternimmt. Die sechs Orte sind vorläufig Sri Lanka (Hinduismus), Bodhgaya (Buddhismus), Grönland (Inuit), Konya (islamische Derwische), Australien (Aborigines) und Jerusalem (Christentum/Judaismus/ Islam). Der Film soll weltweit im Fernsehen und im Kino gezeigt werden. Rudy Wurlitzer schreibt das Drehbuch und Philip Glass die Musik. Man hat sich für diese Serie vorgenommen, den "anthropologischen Tourismus" eines Sonderhefts des National Geographic zu vermeiden und stattdessen das subjektive Erlebnis der Reise gleichberechtigt neben die objektive Darstellung des Wallfahrtsorts zu stellen. Jeder Pilger soll über seine Hoffnungen, Ängste, Wünsche und Befürchtungen während der Reise sprechen. In dieser Weise sollen prächtige Aufnahmen des äußeren Orts mit einem ganz persönlichen Bericht über eine spirituelle Suche verbunden werden. Vor allem aber sollen die großen Traditionen nicht als Relikte einer verniedlichten Vergangenheit, sondern vielmehr als Einladung gezeigt werden, sich selbst einer wirklichen spirituellen Praxis zu widmen und sich damit für die Herrlichkeit einer großartigen Zukunft zu öffnen.
Freitag, 11. Juli Party für Alex Grey bei mir zu Hause. Dabei sind u. a. Marci, Sam, Sara, Tammi, Kate, Phil usw. Alex ist ein bemerkenswerter Mensch. Er ist ja nicht nur ein großartiger und bahnbrechender Maler. Er hat ein goldenes Herz und strahlt eine Güte aus, die nicht das Zeichen von Schwäche, sondern gerade von großer Kraft ist. Er besitzt auch die Fähigkeit, andere Menschen fast ekstatisch zu loben, was in unserer Kultur der Ironie schmerzlich selten geworden ist. Ich wusste, dass Alex schon seit einiger Zeit an einem Buch über Kunst arbeitete; jetzt überraschte er mich mit einem ersten Entwurf. Ein Begleitband enthielt Dutzende seiner großartigen Kunstwerke. Sam bot ihm an, beide Bände zu veröffentlichen, und Alex war völlig perplex. Er brachte kein Wort heraus. Ich freue mich so sehr für Alex. Ich glaube, dass der Durchbruch zu internationaler Anerkennung nicht mehr lange auf sich warten lässt. Wenn doch alle Partys so viel Spaß machen würden und zugleich so tief befriedigend wären!
Samstag, 12. Juli Am Naropa-Institut soll demnächst eine Konferenz über Ökopsychologie abgehalten werden. Die Ökopsychologie hat vieles, was für sie spricht. Unter anderem versucht sie, die Dissoziation zwischen dem erkennenden menschlichen Subjekt und der erkannten objektiven Natur zu heilen. Sie möchte eine gewisse anmaßende Anthropozentrik beenden; sie will die Umwelt nicht als "Anderes", sondern als Teil unseres eigenen tiefsten Selbst schützen; sie sieht die Neurose des Menschen in einem untrennbaren Zusammenhang mit der (vermeidbaren) Zersplitterung von Organismus und Umwelt, und sie versucht, viele unserer großen Leiden durch die Überwindung dieser (anmaßenden) Spaltung zwischen Mensch und Natur zu heilen. So weit, so gut. Aber ich habe die Befürchtung, dass sich die Ökopsychologie, die ein wahrhaft holistischer Ansatz sein will, in Wirklichkeit in die bloß abgestiegene Welt von Flachland (einen "Flachland-Holismus") verirrt, ein Vorwurf, den auch Michael Zimmerman erhebt (siehe 11. Mai). Nachfolgend meine Bedenken (die letztlich für alle Formen der Ökophilosophie gelten wie z. B. Tiefenökologie, Ökofeminismus, Neuheidentum, Neuastrologie und Ökopsychologie): 1. Die Ökopsychologie befasst sich bestenfalls mit der Weltseele, Gaia, oder dem öko-noetischen Selbst, oder wie auch immer man dies nennen mag (Ebene 7). Mit anderen Worten, sie ist im besten Fall eine echte Naturmystik des grobstofflichen Reichs. Die Gottheitsmystik des feinstofflichen Reichs, die formlose Mystik des kausalen Reichs und die integrale Mystik des Nichtdualen lässt sie jedoch völlig außer Acht (manche Buddhisten haben eine Schwäche für die Ökopsychologie, aber es sollte ihnen klar sein, dass sich diese nur mit dem Nirmanakaya befasst und den Sambhogakaya, den Dharmakaya und den Svabhavikakaya völlig ignoriert). 2. Auch wenn sich also die Ökopsychologie im besten Fall auf die Weltseele oder das ökonoetische Selbst richtet, verwechselt sie immer noch die Biosphäre (Ebene 2) mit der Weltseele (Ebene 7). Aufgrund dieser Prä/Trans-Verwechslung scheint sie nicht zu begreifen, dass die Weltseele dasjenige ist, was die Physiosphäre (Stoff), die Biosphäre (Leben) und die Noosphäre (Geist) transzendiert und daher dies alles einschließt und integriert. Sie versucht stattdessen einfach, alles auf die Biosphäre zu reduzieren (was viele Kritiker als Ökofaschismus bezeichnet haben). 3. Selbst diejenigen Ökopsychologen, die die eigentliche Natur der Weltseele erfasst haben, haben in aller Regel keine innere Transformationstechnik, d.h. keine Injunktionen, Schulbeispiele oder Paradigmen für eine echte Transformation des Bewusstseins auf die Ebene der Weltseele. Sie haben ein Ziel im Auge, haben aber keinen Weg dorthin. Dadurch reduziert sich die Ökopsychologie auch im besten Fall auf Flachland-Landkarten und Systemtheorie – bloß mentale Konzeptionen, die nicht zum Transmentalen hinführen können. 4. Die magische Welt der Jäger und Sammler wird oft mit einem holistischen Erreichen der Schau-Logik verwechselt. So wird ein regressiver Öko-Primitivismus mit einer Flachland-Systemtheorie zu einem "neuen Paradigma" destilliert, und das ist, sagen wir mal, problematisch. Kurz, nur einige wenige Ansätze der Ökopsychologie scheinen das Wesen der Weltseele oder des ökonoetischen Selbst wirklich zu erfassen, und von denjenigen, die es tun, haben wiederum nur wenige eine reproduzierbare Technik, mit der man wirklich ans Ziel gelangt. Praktisch alle Richtungen der Ökopsychologie verwechseln die Biosphäre mit der Weltseele, wodurch sie die inneren Dimensionen des Bewusstseins verflachen, die Menschen daran hindern, sich auf einen wirklich transformierenden Übungsweg zu begeben, eine Regression auf die bloß sinnliche Welt fördern und einer Abstiegsund Flachland-Sichtweise das Wort reden, die wesentlich für die Plünderung der Ökosphäre mitverantwortlich ist. Diese Kritik habe ich in EKL in mehreren ausführlichen Anmerkungen und wiederum in Eine kurze Geschichte des Kosmos vorgebracht. Die meisten Ökophilosophen haben es jedoch vorgezogen, diese Kritik zu ignorieren, und sich stattdessen auf zwei belanglose Punkte in EKL gestürzt, die die Interpretation von Emerson und Plotin betrafen. Bei Emerson habe ich in einem langen Zitat das Wort "Natur" durch eine Ellipse ersetzt, weil Emerson dieses Wort auf mindestens drei verschiedene Weisen benutzt, und dies wird später völlig klar (die Fundstelle des ursprünglichen Zitats habe ich angegeben, damit jeder Gelehrte dies selbst überprüfen kann; trotzdem gebe ich gerne zu, dass ich dies noch deutlicher hätte tun sollen).
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Bei Plotin habe ich angegeben, dass alle Übersetzungen von William Inge stammten, soweit nichts anderes angegeben ist; dann zitierte ich "das Göttliche in uns schreitet zum Göttlichen in Allem fort", was auf Karl Jaspers' Übersetzung zurückgeht, nicht diejenige Inges, und dies habe ich nicht erwähnt. Dies waren kleinere, wenn auch bedauerliche Fehler, die in allen späteren Auflagen berichtigt wurden, obwohl dies an den Schlussfolgerungen nicht das Geringste änderte. Aber wenn sich Ökotheoretiker heute mit EKL befassen, reden sie von nichts anderem als davon, wie ich Emerson und Plotin "verfälscht" hätte (eine haltlose Anschuldigung, auf die ich in Das Wahre, Schöne, Gute, Kapitel 11, Anmerkungen 1, 2 und 3 ausführlich geantwortet habe), und als Beweis dafür führen sie nichts weiter als diese Belanglosigkeiten an. Das Bedauerliche daran ist, dass sie damit nicht nur meine substanzielle und gewichtige Kritik ignorieren, sondern auch diejenige, die Emerson und Plotin selbst gegen die Naturmystik vorbrachten (und wohl heute auch gegen praktisch alle Formen der Ökopsychologie, der Tiefenökologie, des Ökofeminismus und des Neuheidentums vorbringen würden). Nachfolgend eine Zusammenfassung der allgemein akzeptierten Interpretation von Emersons Auffassung (aus Das Wahre, Schöne, Gute): (1) die Natur ist nicht GEIST, sondern ein Symbol des GEISTES (oder eine Manifestation des GEISTES), (2) die sinnliche Wahrnehmung als solche enthüllt den GEIST nicht, sondern verdunkelt ihn, (3) nur eine Aufstiegsströmung kann den GEIST enthüllen, (4) der GEIST kann nur verstanden werden, wenn die Natur transzendiert wird (mit anderen Worten: Der GEIST ist der Natur immanent, aber er enthüllt sich nur vollständig in einer Transzendierung der Natur; kurz, der GEIST transzendiert die Natur, aber schließt sie ein). Und diese Punkte werden von Emerson-Gelehrten nicht bestritten. Auch Plotin hätte diesen Punkten vollkommen zugestimmt. Auf meine persönliche Kritik dieser Öko-Bewegungen kommt es also gar nicht an: Emerson ebenso wie Plotin würde praktisch alle Formen der Ökopsychologie, der Gaia-Verehrung, des Neuheidentums, der Tiefenökologie und des Ökofeminismus verwerfen, weil sie zwar wahr, aber unvollständig und daher nicht wirklich holistisch sind. Meine Einwände kleiden lediglich die Kritik dieser beiden in andere Worte. Viele Ökophilosophen versuchen aber, diese für sie recht verheerenden Einwände durch die Behauptung zu entkräften, dass EKL diese Pioniere "verfälsche". Der Hauptgrund, warum ich dies erwähne, liegt darin, dass die Ökopsychologie als profunder Versuch, die Weltseele zu fassen, ihr spirituelles Projekt bis zu den wirklich transpersonalen Bereichen des Subtilen, Kausalen und Nichtdualen vorantreiben könnte, wenn sie ihr Vorhaben nur konsequenter verfolgen würde. Hierzu muss sie sich aber von der Auffassung verabschieden, dass die grobstoffliche sensomotorische Welt die einzige Wirklichkeit von Bedeutung im Kosmos ist. Es gibt tiefere Bereiche, höhere Sachverhalte, umfassendere Wahrnehmungen – von grobstofflich über subtil und kausal bis nichtdual –, die denjenigen zugänglich werden, die über die Weltseele hinaus vordringen und ihren Zeugen und von dort aus den Einen Geschmack finden. Dann könnte die großartige Verheißung der Ökophilosophien im Einen Geschmack ihre Erfüllung und ihr Ziel finden, der oft ihre eigene, bewunderswürdige, anfängliche Intuition war.
Dienstag, 15. Juli Mein Gott, Gianni Versace wurde heute Morgen vor seinem Haus in South Beach erschossen. Zunächst vermutete man als Tathintergrund mögliche Verbindungen zur Mafia; es kursierten seit Jahren Gerüchte, dass Versace als Geldwäscher fungiert habe. Jetzt sieht es eher so aus, als ob er ein Opfer von Andrew Cunanan geworden sei, der schon mehrere Morde an Homosexuellen auf dem Gewissen hat. Dies ist für die Welt der Popkultur ein schwerer Verlust, und es ist traurig, wie sinnlos er sterben musste. Es gibt keinen schönen Tod, aber viele Menschen werden im Augenblick einer Transzendenz, der Klarheit, der Zuwendung oder eines mit Würde ertragenen Leidens erlöst. Aber bei Versace waren es nichts als zwei Kugeln im Kopf, keine Würde, keine Herrlichkeit, nur plötzliche Finsternis. Dies ist umso trauriger, als Versace – neben den aufregenden Inspirationen, die er der Mode schenkte – eine wesentliche Rolle für die Erneuerung von South Beach spielte. Ein Fernsehkommentator nannte einmal Versaces Haus "das berühmteste Haus an der berühmtesten Straße im berühmtesten Urlaubsort der Welt". Nun, ein wenig Übertreibung hat noch nie geschadet. Aber Versace gelang es immerhin, die Welt des Entertainmens und diejenige der Mode zusammenzubringen – "Rock und Roll" –, und der Verlust eines solchen Menschen wiegt wirklich schwer. Zugleich kann ich den Gedanken daran nicht abweisen, wie seicht die Popkultur ist, war und wohl immer bleiben wird. Wenn die Ästhetik des grobstofflichen Reichs bewusst in subtiler oder kausaler Tiefe verankert wird, dann wird jede sinnfällige Gestaltung in Mode und Formgebung zu einem echten Ausdruck des GEISTES statt bloß zu einem matten Abklatsch. Aber so ist die Popkultur eben – ein Meer von Ersatzbefriedigungen, von Versuchen, dem Körper einen Genuss abzutrotzen, der nur in der Fülle des GEISTES zu finden ist, ein Meer von Begierden, die nach Ewigkeit dürsten, ein Meer von Sehnsucht nach dem All, die aber nur das karge Almosen einer kurzzeitigen Befriedigung bekommt – ein Orgasmus hier, eine Viertelstunde Ruhm da, elegante Mode hier, eine Spur Kokain da, alles von den Lieferanten schimmernder, mondäner Oberflächen, von denen heute einer brutal ermordet wurde. Es ist schaurig, den Bericht im Fernsehen zu sehen, denn Versace wurde genau an der Stelle erschossen, an der Marci und ich sein Haus bewunderten, auf der Treppe unmittelbar vor dem eisernen Tor. Dort, wo wir standen, ist jetzt eine Blutlache.
Samstag, 19. Juli Roger und Frances sind für zwei Tage da, bevor sie zum Fetzer-Institut gehen, wo Frances eine Konferenz über "Spirituelle Intelligenz" organisiert hat. Morgen kommt Tony, um sich von Eisner und Aspen zu erholen, weshalb es hier etwas voll werden wird, aber ich freue mich darauf.
Montag, 21. Juli Roger und Frances sind zum Fetzer-Institut abgereist, sodass nur noch Tony da ist. Tony praktiziert und fördert seit Jahren den Diamond-Approach, eine von Hameed Ali gegründete Methode für psychospirituelles Wachstum. In seinem Was wirklich zählt gab Tony
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dem Diamond-Approach eine der höchsten Bewertungen. Mittlerweile sieht er diesen Ansatz etwas differenzierter, wiewohl er ihn nach wie vor schätzt. (In Das Wahre, Schöne, Gute habe ich eine dreizehnseitige Kritik über den Diamond-Approach geschrieben – siehe Kapitel 11, Anm. 11. Ich glaube, dass diese Lehre ein sehr wichtiger Schritt in Richtung einer Integration von Psychologie und Spiritualität ist. Andererseits aber enthält sie verschiedene Prä/Trans-Verwechslungen, durch die sie in eine gefährliche Instabilität gerät, und das bringe ich in meiner Kritik deutlich zum Ausdruck. Tony nimmt inzwischen eine ähnliche Haltung ein.) Um dies stark vereinfacht zu erklären: Der Diamond-Approach behauptet, dass wir alle als Kinder Kontakt mit unserer spirituellen Essenz haben und dass im Prozess des Heranwachsens diese Essenz unterdrückt oder erstickt wird. Durch diese Verdrängung der Essenz entstünden in unserem Wesen verschiedene "Löcher", verschiedene Symptome, Abwehrmechanismen und Beeinträchtigungen. Mit Hilfe psychologischer Techniken könnte diese Verdrängung aufgehoben und der Kontakt mit der verlorenen Essenz wiederhergestellt und damit ein spirituelles Bewusstsein verwirklicht werden. Der Diamond-Approach versucht also, Psychotherapie und Spiritualität zu einem System zusammenzuführen. Er findet heute immer mehr Anhänger. "Aber du bist der Meinung, dass der Diamond-Approach an einer Prä/Trans-Verwechslung krankt", sagte Tony. "Ja, unbedingt. Er verwechselt prä-egoische Impulse mit trans-egoischer Essenz, nur weil beide nicht-egoisch sind. Dies ist ein klassischer Irrtum." "Aber der Diamond-Approach sagt doch in etwa Folgendes: Wenn man kleine Kinder beim Spielen beobachtet, dann sieht man, dass sie tatsächlich Kontakt mit der essenziellen Freude haben. Sie sind spontan, lebendig, strahlend und glühend vor reiner Freude. Und wenn sie dann älter werden, verlieren sie den Kontakt mit dieser reinen Freude, sie ..." "Halt, halt. Du mogelst hier etwas hinein, indem du das Wort 'rein' vor 'Freude' benutzt. Wer sagt, dass dies 'reine' Freude ist, im Sinne einer reinen spirituellen Freude? Sie ist weder rein, noch ist sie spirituell. Sie ist einfach impulsiv. Dies ist ein großer Unterschied." "Warum?" "Wie du weißt, tritt in der psychologischen Entwicklung etwa zwischen dem sechsten und achten Lebensjahr eine entscheidende Wende ein, wenn die Kinder lernen, sich in die Rolle eines anderen hineinzuversetzen. Es gibt eine Reihe berühmter Experimente, die dies zeigen: Wenn man eine Kugel nimmt, die auf der einen Seite grün und auf der anderen rot ist, und man dem Kind die grüne Seite zudreht, dann gibt es auf die Frage 'Welche Farbe siehst du?' die richtige Antwort 'Grün'. Wenn man es aber fragt 'Welche Farbe sehe ich?', dann sagt es ebenfalls 'Grün'. Es kann nicht in die Schuhe des anderen hineinschlüpfen, es kann sich nicht in die Rolle des anderen hineinversetzen." "Ja, das weiß ich. Und etwa ab dem achten Lebensjahr geben Kinder die richtige Antwort. Sie beginnen, sich in die Rolle des anderen zu versetzen." "Ja, und das bedeutet, dass das Kind von einer egozentrischen zu einer soziozentrischen Haltung fortgeschritten ist, von einem Ich zu einem Wir, von Narzissmus zu sozialem Miteinander, zu einem Sich-Hineinversetzen in die Rolle anderer. Dies ist eine gewaltige Transformation des Bewusstseins, die man auch als den Übergang vom präkonventionellen zum konventionellen Bewusstsein bezeichnet. Im Jugendalter tritt ein weiterer Übergang vom konventionellen zum postkonventionellen Bewusstsein ein, was bedeutet, dass das Bewusstsein nicht mehr auf 'meine Gruppe' oder 'meinen Stamm' oder 'mein Volk' beschränkt ist, sondern sich zu einem universellen, globalen, weltzentrierten Bewusstsein erweitert, in dem man allen Menschen mit Gerechtigkeit und Fairness gegenübertritt, ungeachtet ihrer Rasse, ihres Geschlechts oder ihrer Religion. Und wie du weißt, ist in meinem System dieses globale, weltzentrierte Bewusstsein die Pforte zu echten spirituellen Zuständen." "Ja", sagte Tony. "Und was hat dies nun mit dem Diamond-Approach zu tun?" "Nun, um bei unserem Beispiel zu bleiben: Der Diamond-Approach verwechselt präkonventionelle, narzisstische, egozentrische Freude mit postkonventioneller, weltzentrierter, spiritueller Freude. Er verwechselt 'prä' und 'trans'." "Aber was genau ist der Unterschied?", fragte Tony. "Freude ist erst dann spirituelle Freude, wenn sie auch die Freude anderer Menschen mit einbeziehen kann. Freude, die ausschließlich auf das eigene Ich beschränkt ist, kann Freude sein, aber es ist keineswegs spirituelle Freude, Essenz der Freude oder irgendetwas Derartiges. Sie ist selbstzentriert, selbstversunken, selbstverherrlichend – und wenn man eine solche Vorstellung vom GEIST hat, dann hat irgendwer ganz schwere Probleme." "Die Freude tut also was? Entwickelt sich zu höheren Formen?" "Ja, genau. Wie die meisten anderen Merkmale entwickelt sich auch Freude von präkonventionellen über konventionelle und postkonventionelle zu spirituellen Formen." "Und wie würde Freude auf der konventionellen Ebene aussehen?" "Wenn erwachsene Menschen glücklich sind, genießen sie dies meist erst dann richtig, wenn sie diese Freude mit jemandem teilen können, insbesondere jemandem, den sie lieben, einem Partner oder Freund. Es ist keine 'Ich'-Freude, sondern eine 'Wir'-Freude, keine egozentrische, sondern eine soziozentrische Freude. Man ist nicht glücklich, wenn man nur allein glücklich ist – man möchte auch, dass Freunde und Verwandte glücklich sind, und man leidet darunter, wenn dies nicht so ist. Wenn auf dieser Ebene Freude rein ichbezogen bleibt, dann hat dies doch sicher etwas Krankhaftes." "Und Freude auf der postkonventionellen Ebene?" "Wenn sich die globalen und weltzentrierten Bewusstseinsmodi entwickeln, dann kann man nur glücklich sein, wenn man zumindest die Absicht hat, dieses Glück und diese Freude auf alle anderen Menschen auszudehnen. Man wird idealistisch im besten Sinne des Wortes, weil man den Wunsch hat, das Leiden aller Menschen zu lindern – und die Freude zu vergrößern, nicht nur diejenige der eigenen Familie, der eigenen Freunde, des eigenen Stammes, der eigenen Religion oder des eigenen Volkes, was bloß soziozentrisch und ethnozentrisch wäre, sondern wirklich aller Menschen, ungeachtet ihrer Rasse, ihres Geschlechts oder ihres Glaubens. Zumindest in einem gewissen Maße hat man das Gefühl, dass man nicht wirklich und aufrichtig glücklich sein kann, wenn irgendwo irgend-jemand leidet. Der Gedanke, dass andere leiden, drängt sich störend ins Bewusstsein, zuerst nur ein wenig, dann immer mehr. Es ist ein nagender Gedanke, der sich wie ein Schatten auf die eigene Freude legt, und man fühlt sich mehr oder weniger stark getrieben, das Los der Menschheit je nach seinen Gaben und Mitteln nach Kräften zu lindern. Man ist nicht wirklich glücklich, wenn nicht alle anderen an diesem Glück teilhaben können." "Du drückst dies immer so aus", sagte Tony, "dass man sich an diesem Punkt für die wirklich spirituellen Modi des Glücks öffnet und alle fühlenden Wesen einbezieht. Das wäre also das Bodhisattva-Gelübde." "Ja, das meine ich. Und hier erst kommen wir zur essenziellen Freude, zur wahren spirituellen Freude – und nicht schon auf der narzisstischen und egozentrischen Stufe! Die Verwechslung dieser beiden Stadien ist wirklich ein Albtraum und selbst zutiefst narzisstisch. Es ist eine Travestie, wenn diese narzisstischen Modi zu spiritueller Herrlichkeit erhöht werden."
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"Gut, aber gestehst du zu, dass die Freude des kleinen Kindes unterdrückt und erstickt werden kann?" "Ja natürlich, absolut. Selbstverständlich kann man die Freude der Kindheit auslöschen, aber dies ist eine präkonventionelle, keine postkonventionelle Freude." "Und es war doch immer dein Argument, dass die Verdrängung der ersteren die Entwicklung der letzteren unwahrscheinlicher macht", fügte Tony hinzu. "Ja genau. Wenn man auf eine Eichel tritt, beschädigt man sie, und sie wird kaum noch zu der Eiche heranwachsen können, die sie werden sollte. Aber was man verletzt und unterdrückt, ist die Eichel; man tritt nicht auf die Eiche, weil sie sich noch nicht entwickelt hat: Es gibt noch keine Blätter, Zweige, Wurzeln usw., auf die man treten könnte. Man kann also durchaus die Freude auf jeder ihrer Wachstumsstufen unterdrücken oder beschädigen, wodurch es weniger wahrscheinlich wird, dass die essenzielle Freude auf einer späteren Entwicklungsstufe zum Vorschein kommen wird. Aber diese Essenz ist eine herabkommende Emergenz, nicht ein wiedergefundener kindlicher Zustand. Sie ist der herabsteigende Gott, nicht das aufsteigende Es." "Ja, dem stimme ich zu", sagte er. "Aber die Anhänger des Diamond-Approach würden sagen, dass sie über Erfahrungsdaten verfügen, die ihre Ansicht beweisen. Wenn man den Weg des Diamond-Approach beschreitet, beginnt man zunächst damit, dass man die 'Löcher' fühlt oder erlebt, die man möglicherweise hat: die Empfindung der Leerheit, der Langeweile, der Erregung usw. Wenn man seine Abwehrmechanismen loslässt und einfach dieses 'Loch' fühlt, dann wird früher oder später die entsprechende Essenz zum Vorschein kommen, und das Loch wird von einer positiven Wärme und Weisheit ausgefüllt werden. Dies beweist, sagen sie, dass man den Kontakt mit der in der Jugend verdrängten Essenz wiedergefunden hat." "Das beweist nichts dergleichen. Hier geschehen zwei völlig verschiedene Dinge, die sie völlig miteinander verwechseln. Zunächst einmal: Wenn man einen präkonventionellen Impuls – sagen wir: frühkindliche Freude – verdrängt, dann ist diese Verdrängung eine Mauer, die nicht nur die nach oben drängenden niedrigeren Impulse abriegelt, sondern auch die nach unten drängenden höheren Impulse. Mit anderen Worten, eine massive Abwehr gegen das Es wird auch Gott blockieren, und zwar einfach deshalb, weil sowohl das Es als auch Gott eine Bedrohung des Ichs darstellen können, und eine Abwehr gegen das eine ist auch eine Abwehr gegen das andere. Wenn man also die Barriere der Verdrängung lockert – einer Verdrängung, die erst gegen einen niedrigeren Impuls eingesetzt wurde, als man vielleicht zwei oder drei Jahre alt war –, kann man sich damit gleichzeitig auch noch für die Herabkunft eines höheren Impulses öffnen, der aber niemals in der Vergangenheit unterdrückt wurde, sondern jetzt überhaupt erst zum ersten Mal zum Vorschein kommt. Essenz ist eine Emergenz, nicht ein kindliches Heraufwürgen. Es ist richtig, dass Essenz etwas Zeitloses hat, wodurch die Empfindung einer Wiederverbindung entsteht, aber es ist eine Wiederverbindung mit der Tiefe der zeitlosen Gegenwart, nicht ein Ausgraben einer kindlichen Vergangenheit. Indem man die Verdrängung präkonventioneller Impulse aufhebt und wirkungslos macht, kann man sich leichter für postkonventionelle und spirituelle Modi öffnen. Aber die Verwechslung dieser beiden Dinge ist eine klassische Prä/TransVerwechslung."
Dienstag, 22. Juli "Ich glaube zwar immer noch", nahm Tony den Gesprächsfaden wieder auf, "dass der Diamond-Approach ein nützlicher Weg ist, aber er scheint unzweifelhaft in diesen Prä/Trans-Verwechslungen befangen zu sein. Ich fürchte allmählich auch, dass er, wie viel auch die Rede von der Heilung frühkindlicher Traumata ist, diese frühen Traumata nicht wirklich erreicht, geschweige denn heilt. Aber dieses Problem gilt dann praktisch für alle spirituellen Ansätze, soweit ich dies beurteilen kann." "Wie meinst du?", fragte ich. "Du sagtest, dass der Abbau der Verdrängungen, mit denen das Es unterdrückt werden soll, auch dem GEIST den Weg nach unten frei macht. " "Ja. Es gibt noch weitere Abwehrmechanismen, die oft gegen den GEIST aufgeboten werden, und mit diesen muss man sich getrennt auseinander setzen. Aber es ist richtig, dass die frühen Abwehrreaktionen gegen einen niedrigeren Impuls auch eine Abschottung gegenüber dem Höheren bilden, und dann ist eine Regression im Dienste der Transzendenz durchaus notwendig." "Man muss also zurückgehen und diese frühen Verdrängungen auflösen, damit ein höheres Wachstum eintreten kann. Hier bin ich ganz deiner Meinung. Das Problem dabei ist, dass die allerwenigsten Ansätze weit genug oder wirksam genug in die Kindheit zurückgehen, um diese ursprünglichen Verdrängungen und Abwehrmechanismen wirklich aufzulösen und zu beseitigen. Ich glaube jedenfalls nicht, dass der Diamond-Approach dies leistet. Und weil die meisten anderen Formen des spirituellen Wachstums dieses Problem nicht einmal erkennen, leisten sie dies ebenfalls nicht." "Richtig, die einzigen Schulen, die sich wirklich mit diesen frühen Traumata befassen, sind diejenigen der Objektbeziehungen – wie z. B. Kernberg – und der Selbstpsychologie – wie z. B. Kohut – und die vergleichbaren Ansätze von Masterson, Stone usw. Der Diamond-Approach nutzt diese Quellen zur theoretischen Begründung, was eine gute Sache ist, bedient sich aber nicht der leistungsfähigen Werkzeuge dieser Ansätze, was sehr schlecht ist." "Du hast völlig Recht. Die Lockerung der frühen Abwehrmechanismen, die beim Diamond-Approach auftritt, ist deshalb sehr kurzlebig. Ich habe einmal Diamond-Übungen intensiv zu Ende geführt und war zwei Stunden lang im Zustand der essenziellen Freude – es war großartig. Aber dann verschwand diese Freude, und ich habe diesen Zustand seither nie mehr erreicht. Es ist, wie wenn man die Tür öffnet, und sie schlägt wie von einem Gummiband gezogen wieder zu. Der Diamond-Approach kann das Gummiband eine kurze Zeit dehnen, aber es schnellt immer wieder zurück", schloss Tony. "Und wie du eben sagtest, Tony, sprechen praktisch alle Formen des spirituellen Wachstums dieses Problem nicht einmal an; sie versuchen nicht einmal, diese frühen Abwehrmechanismen zu verstehen und aufzulösen, und deshalb dehnen sie das Gummiband überhaupt nicht. Das Ergebnis ist, dass der individuelle Körpergeist nicht zu einem geräumigen Fahrzeug des GEISTES werden kann. Man ist in seinem inneren Wesen zu abgeschlossen, zu abweisend, zu abgeschottet, zu starr, als dass man sich wirklich ganz für das Göttliche öffnen könnte." "Nach deinem System", sagte Tony, "befasst sich der Diamond-Approach vor allem mit Ebene 7 und 8, den Ebenen der Seele." "Ja, so sehe ich das. Und dies ist ja im Grunde sehr beeindruckend. Auch nimmt Hameed wenigstens die Fülle theoretischer Arbeiten zur Kenntnis, die auf Ebene 1, 2 und 3 bisher geleistet wurden, die frühen Objektrelationen und primitiven Abwehrmechanismen. Aber der Diamond-Approach scheint, wie schon gesagt, nicht über die Werkzeuge zu verfügen, um diese frühen Schädigungen des Bewusstseins erreichen und heilen zu können. Aber es ist für mich sehr ermutigend, dass die umfassenden
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Forschungsarbeiten über diese frühen Ebenen zur Kenntnis genommen werden, und ich stelle dies in meiner Besprechung auch ausdrücklich heraus." Dann erzählte ich Tony von meiner Idee der "spirituellen Hausärzte", umfassend ausgebildeter Therapeuten, die vielleicht nicht selbst alle Therapieformen durchführen können, aber befähigt sind, die Herkunft von Problemen auf den verschiedenen Ebenen des Bewusstseinsspektrums zu lokalisieren und ihre Patienten entsprechend an Therapeuten, spirituelle Lehrer, Yogis, Psychiater usw. überweisen können, die auf der spezifischen Ebene arbeiten, auf der das Problem des Patienten liegt. Tony gab eine Antwort, die für ihn typisch war: "Ich fragte Hameed einmal, was er tut, wenn Schüler des Diamond-Approach wirklich eine Psychotherapie brauchen, und er sagte: 'Oh, wenn sie es brauchen, dann empfehlen wir einen Therapeuten.' Ich sagte: 'Aber sie brauchen es alle.' Und es ist so."
Mittwoch, 23. Juli Habe eine E-Mail von Leo Burke aus Peking bekommen. Leo ist der Leiter des Teams an der Motorola-Universität, das für die Weiterbildung von etwa 20000 Managern in der ganzen Welt verantwortlich ist. Management ist einer derjenigen Bereiche, mit denen ich mich in letzter Zeit beschäftigt habe, und Leo hatte wesentlichen Anteil daran, dass ich mich hierfür zu interessieren begann, weil er mir vor zwei Jahren ein hochinteressantes Fax mit einer brillanten Analyse des Zustands der heutigen Business-Welt schickte. In den Kursen an der Motorola-Universität arbeiten sie mit EKL. Seit Leos Fax lese ich die Korrespondenz mit größerem Interesse, die mich von Geschäftsleuten aus aller Welt erreicht, und ich nehme an, dass dieses Interesse mit der Arbeit an Band 2 noch zunehmen wird, der sich insbesondere mit der technisch-wirtschaftlichen Basis der gesellschaftlichen Evolution befasst, dem "Business" im weiteren Sinne. Leo schreibt: "Ich bin an einem interessanten Punkt meiner eigenen Reise angelangt. Bei einer Besprechung im Santa Fe Institute am Freitag stellte ich die Frage: 'Welche Rolle spielen Betriebe der Geschäftswelt, insbesondere multinationale Gesellschaften, für die Evolution unserer Art? Und welches Potenzial, wenn überhaupt, besitzt die Business-Welt, um eine Sichtweise des Menschen zu unterstützen, die Geist, Seele und Körper auf der individuellen, institutionellen und gesellschaftlichen Ebene integriert?' Es kamen keine Antworten, aber es ist ja schon ein kleiner Schritt vorwärts, wenn man solche Fragen in einem Business-Kontext überhaupt stellen kann. Aber jede Übung zur Betrachtung solcher Fragen ist natürlich eine Farce, wenn der Fragende nicht selbst entschieden an seiner eigenen Transformation arbeitet. Letztlich ist damit nicht die Verpflichtung zu häppchenweisen Fortschritten in der Selbstentwicklung, sondern zu einer echten Selbst-Transzendenz verbunden." Wie wahr.
Dienstag, 29. Juli Roger ist jetzt in eine landesweite Diskussion über Astrologie verwickelt. Ich finde dies köstlich, denn bisher war ich immer derjenige, der von den New-Age-, Neues-Paradigma-Leuten unter Beschuss genommen wurde, und jetzt kriegt Roger volles Rohr. Herrlich. Was die guten Leute von der New-Age-Szene oft nicht zu verstehen scheinen, ist, dass es in diesem Land nicht zwei große Gruppen gibt, die Rationalen (denen sie misstrauen) und die Nichtrationalen (die ihre Helden sind). Vielmehr gibt es drei große Gruppen: die Prärationalen, die Rationalen und die Transrationalen. Und die große Mehrheit der New-Age-Ansätze stürmt mit Begeisterung in das prärationale Lager. Hinzu kommt noch, dass das transrationale Lager, in dem auch Roger steht, mehr Gemeinsamkeiten mit dem rationalen als dem prärationalen Lager hat (auch wenn es natürlich das Ziel sein muss, alle drei zu integrieren). So ist also die New-Age-Clique überrascht, verletzt und wütend, wenn ein echter transrationaler Mystiker wie Roger sie plötzlich kritisiert, wo doch "wir nichtrationalen Mystiker" eigentlich im selben Boot sitzen und wider das rationale, konventionelle und antispirituelle Böse streiten. Die Transrationalen Mystiker bekämpfen aber insbesondere die prärationale Regression und erst in zweiter Linie die Rationalität, wobei sie versuchen, beide für eine echte transrationale Haltung zu gewinnen. Nun hat sich also Roger in die Schusslinie begeben. Er geht mit seinem Angriff auf die Astrologie in die Öffentlichkeit. Roger behauptet, dass er zu seiner Schlussfolgerung – dass nämlich praktisch die ganze traditionelle Astrologie mehr oder weniger Humbug ist – durch eine systematische Sichtung der großen Fülle sorgfältig kontrollierter Studien zu diesem Thema gelangt ist. Er möchte ein Buch mit dem Titel Der Schwindel des Jahrhunderts oder Der größte Bluff aller Zeiten oder so ähnlich schreiben (er hat es sich inzwischen anders überlegt). Die Noetic Sciences Review hat Roger und Will Keepin eingeladen, dieses Thema in ihrem Heft zu diskutieren. Will ist ein sehr intelligenter Mann, der treffend zu formulieren und fundiert darzustellen versteht. Der gelernte Physiker, der ursprünglich die Astrologie als absoluten Humbug betrachtete, wurde später zu einem überzeugten Anhänger der Astrologie, und zwar just aus demselben Grund, den Roger anführt: der Evidenz. Will vertritt dieses Thema mit großer Eloquenz; er kam in der Titelgeschichte des Magazins Life ausführlich als Theoretiker zu Wort und überzeugte den Journalisten von der Wahrheit der Astrologie. Dies verspricht ein ganz heißes Match zu werden, ein echter Thrilla in Manila. Ich bekomme die Beiträge nach der Abfassung, und im Augenblick ist der Stand folgender: Roger eröffnete die erste Runde mit einer Zusammenfassung des aktuellen Forschungsstandes: "Die meisten Menschen sind erstaunt zu hören, wie viele experimentelle Untersuchungen bereits über die Astrologie durchgeführt wurden. Es gibt über einhundert Studien, die teilweise von Astrologen oder in Zusammenarbeit mit Astrologen durchgeführt wurden. Damit haben wir quantitativ und qualitativ einen ausreichenden Fundus an Forschungsmaterial, der eine stichhaltige Bewertung der Gültigkeit astrologischer Behauptungen erlaubt." Und welches sind die Befunde? Ich zitiere aus Rogers Beitrag: Die Forscher haben fünf Merkmale untersucht, die nach Ansicht der Astrologen für die Gültigkeit der Astrologie grundlegende Bedeutung haben. " Die erste Gruppe von Studien untersuchte den Grad der Übereinstimmung in der Beurteilung von Geburtshoroskopen durch verschiedene Astrologen. Die Ergebnisse sind eindeutig: Es besteht praktisch keinerlei Übereinstimmung in der Deutung desselben Geburtsbildes durch verschiedene Astrologen. Dieser Befund zeigt sich in allen Studien, in denjenigen, die mit
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Fachastrologen durchgeführt wurden, denjenigen, die Astrologen selbst durchführten, und diejenigen, die Astrologen gemeinsam mit Wissenschaftlern erarbeiteten. Dieser Befund allein ist schon verheerend und führt jegliche Behauptung einer Zuverlässigkeit oder Gültigkeit astrologischer Deutungen ad absurdum. Ein Kritiker kam zu dem Schluss: "Wenn sich Astrologen nicht einmal darauf einigen können, was ein Geburtshoroskop bedeutet, dann ist ihre ganze Arbeit eine Farce." Die Inhaber astrologischer Geburtsbilder sind nicht in der Lage, ihre eigene Deutung unter anderen, zufällig ausgewählten Profilen herauszufinden. Mit anderen Worten, die Inhaber halten das Profil einer anderen Person für ebenso zutreffend wie ihr eigenes Profil. Untersuchungen von über dreitausend astrologischen Vorhersagen haben gezeigt, dass sie nicht besser waren als Zufallstreffer oder beliebige Vermutungen. Über drei Dutzend Studien zeigen, dass astrologische Deutungen nicht besser als mit Zufallswahrscheinlichkeit mit gut abgesicherten psychometrischen Persönlichkeitstests korrelierten. Dieser Befund zeigte sich selbst dann, wenn die Astrologen hoch angesehene Fachleute waren, an der Auslegung der Studie mitarbeiteten, die Studie als guten Maßstab für ihre Fähigkeiten akzeptierten und angaben, großes Vertrauen in ihre Deutungen zu haben. Astrologen behaupten meist, dass das Geburtshoroskop als Ganzes genauer ist als einzelne Faktoren. Die Untersuchungen bestätigten jedoch weder die Genauigkeit einzelner Faktoren noch diejenige von Deutungen im Ganzen.
"Kurz", so Rogers Schlussfolgerung, "die Forschungsergebnisse liefern keinerlei Anhaltspunkte für die Zuverlässigkeit oder Gültigkeit astrologischer Deutungen." Oh, oh, oh, das ist schweres Geschütz. Einige wuchtige Geraden zum Schädel, die den frühzeitigen K. o. bedeuten könnten – aber es gibt ja noch die außerordentlichen Studien von Gauquelin. In den 50er Jahren begann der französische Forscher Michel Gauquelin mit einer sich über Jahrzehnte hinziehenden umfassenden Auswertung statistischer Daten über die Astrologie. "Zu seiner Überraschung", so Roger, "ergab die Analyse geringfügige, aber doch signifikante Entsprechungen zwischen besonderen Leistungen in verschiedenen Berufen und der Stellung bestimmter Planeten bei der Geburt. So standen zum Beispiel bei hervorragenden Wissenschaftlern, Journalisten und Sportlern die Planeten Saturn bzw. Jupiter bzw. Mars zum Zeitpunkt ihrer Geburt am Horizont bzw. im Zenit. " Oh, oh, oh, nun verspricht es spannend zu werden, und Will nutzt seine Chance sofort. Er verweist zunächst darauf, dass mehrere skeptische wissenschaftliche Organisationen erfolglos versuchten, die Arbeiten von Gauquelin zu widerlegen. Hans Eysenck, der renommierte statistische Psychologe, hat zusammengefasst, was dies bedeutet: "Gefühlsmäßig wäre es mir lieber, wenn die Ergebnisse Gauquelins nicht stichhaltig wären, aber rational muss ich akzeptieren, dass sie es sind ... Es lassen sich keine wesentlichen Kritikpunkte gegen die Schlussfolgerung, die Methode oder die Statistik vorbringen. Man kann nicht so tun, als ob es sie nicht gäbe, weil sie uns nicht passen oder weil sie nicht im Einklang mit den Gesetzen der heutigen Naturwissenschaft sind ... Vielleicht muss man wirklich ohne Wenn und Aber einräumen, dass hier die Geburtsstunde einer neuen Wissenschaft schlägt." Wow! Ein satter linker Haken mit dem Schlussgong der ersten Runde. Aber erstaunlicherweise zuckt Roger nicht einmal mit der Wimper. Er eröffnet die zweite Runde damit, dass er die Ergebnisse Gauquelins schlicht akzeptiert. Aber er wendet ein, dass alles eine Frage der Interpretation ist: "Erstens stimmen Gauquelins Deutungsmuster nicht mit den Deutungsmustern der traditionellen Astrologie überein." Mit anderen Worten, wenn die Befunde richtig sind, und wenn Gauquelins Studie die einzige Studie ist, die für eine Gültigkeit der Astrologie spricht, dann muss man den größten Teil der traditionellen Astrologie verwerfen, weil für deren Richtigkeit praktisch keine Beweise gefunden wurden. "Zweitens gelten Gauquelins Befunde nur für hervorragende Menschen. Bei Menschen, die es nicht zu überragenden Leistungen bringen – mit anderen Worten, der großen Mehrzahl von uns –, besteht keine Korrelation mit dem Stand der Gestirne zur Geburtszeit." Wieder muss die traditionelle Astrologie einen schweren Treffer hinnehmen. "Drittens sind die Korrelationen mit 0,05 extrem gering, d.h., sie repräsentieren weniger als 1% der Variabilität." Das bedeutet zum Beispiel, bedeutende Athleten haben nur eine um 5% höhere Wahrscheinlichkeit, dass Mars in ihrem Geburtsbild an einem wichtigen Platz steht. Es mag eine Wirkung da sein, aber sie ist äußerst gering. Für Roger ist dies "für astrologische Deutungen oder Vorhersagen bei weitem zu wenig". Oh, oh, oh. Das ist der Stand am Ende der zweiten Runde. Was auch immer jetzt noch gesagt werden kann, die traditionelle Astrologie hat schwere Prügel bezogen. Die einzigen Arbeiten, die beide Seiten anführen können und die unbestritten Respekt verdienen, sind diejenigen von Gauquelin. Aber andererseits sind gerade diesen Ergebnissen zufolge die Behauptungen der herkömmlichen Astrologie in weiten Teilen nicht zu halten. Will stürzt sich darauf, dass einige der Ergebnisse stichhaltig sind, aber beide sind sich einig, dass die Sonnenzeichenastrologie und die Zeitungsastrologie tot sind. Aber Roger setzt noch einen harten rechten Haken drauf: "Sie, Will, sind der Meinung, dass Gauquelins Befunde die traditionelle Astrologie westlichen Stils unterstützen, während ich aus verschiedenen Gründen der Meinung bin, dass diese Befunde in keiner Weise zur Rechtfertigung spezifischer Behauptungen der traditionellen Astrologie geeignet sind. Abgesehen von einigen ganz allgemeinen Prinzipien, für die er eine Bestätigung fand (so ist z. B. der Meridian wichtig), ließ Gauquelin selbst keinen Zweifel daran, dass seine Befunde nicht die Vorgehensweise der traditionellen Astrologie stützen." Dann zieht Roger eine vermutlich gesicherte Schlussfolgerung, zumindest an diesem Punkt: "Ich betone mit Nachdruck, dass man unbedingt zwischen den Befunden Gauquelins und der traditionellen Astrologie unterscheiden muss" – weil viel für Erstere, aber nur wenig für Letztere spricht. Aber selbst dort, wo Gauquelin Zusammenhänge mit den Gestirnen festgestellt hat, ist ihre Beweiskraft äußerst schwach. Und Roger ist der Meinung, dass damit das Schicksal der Astrologie besiegelt ist. Will hält jedoch dagegen, dass diese Einflüsse eine Tatsache sind, was Roger nicht bestreitet, und daher nach einer Erklärung verlangen. Will schlägt unter Berufung auf einige meiner Ideen einen entsprechenden Weg vor. "Die Ergebnisse (der Arbeiten von Gauquelin) sind verblüffend. Wenn ich einmal auf Konzeptionen von Ken Wilber zurückgreifen darf, verweist die Astrologie auf eine große 'Holarchie', die nicht nur Physiosphäre, Biosphäre und Noosphäre einschließt, wie Wilber postuliert, sondern sich auch auf einen umfassenderen himmlischen Kontext erstreckt, der das System Gaia 'transzendiert, aber einschließt'. Wenn man weiter in die Tiefe vordringt, findet man eine umfassendere lebendige 'kosmische' Holarchie, in der die Erde nur eines von vielen höheren planetarischen 'Superholons' ist. Die astrologischen Transite korrespondieren mit den Wirkungen dieser himmlischen Superholons, insofern sie die Unbestimmtheit der darunter liegenden Holons begrenzen, d.h., sie greifen in die Wahrscheinlichkeitsstrukturen irdischer Ereignisse ein. Dieser ganze Prozess ist nicht mechanistisch kausal, sondern ähnelt mehr einem einigenden Prozess, der sich holographisch auf mehreren Holon-Ebenen zugleich entfaltet; hierin liegt die Begründung für die beobachteten zeitlichen Korrelationen."
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Will bedient sich meiner Terminologie korrekt, was mich beeindruckt, und ich meine, dass seine Theorie etwas für sich hat. Ich glaube jedoch, dass es im Rahmen des "wilberschen Denkgebäudes" noch eine andere Erklärung gibt, die mehr Sinn macht. Die Frage lautet, ob man mit einer Aufwärts- oder einer Abwärts-Kausalität arbeitet. Entstehen diese schwachen Gestirnseinflüsse auf der Ebene der Weltseele ("himmlische Superholons") und werden sie dann den vorgeordneten Holons der einzelnen Menschen durch eine "Abwärts-Kausalität" oder einen "Abwärts-Einfluss" aufgeprägt, wie Will meint? Oder operieren sie nur auf der physischen Ebene in Form einer Einwirkung physischer Planeten auf den physischen menschlichen Körper, und haben sie von dort aus einen leichten "Aufwärts-Einfluss" auf das Auftauchen der höheren Ebenen wie z. B. der Emotionen und des Geistes? Ich bin sehr davon überzeugt, dass Letzteres der Fall ist, und zwar aus verschiedenen Gründen. Erstens sind diese Einflüsse, wie Roger und Will übereinstimmend festhalten, äußerst schwach. Dies lässt in der Regel eher auf einen Aufwärts-, nicht einen Abwärts-Einfluss schließen. Abwärts-Einflüsse sind oft sehr ausgeprägt, fast kausal. Wenn z. B. das höhere Holon "Ich" beschließt, das niedrigere Holon "mein Arm" zu bewegen, dann setzen sich alle Moleküle in meinem Arm sofort in Bewegung. Es ist nicht so, dass 5% den Dienst verweigern – sie bewegen sich brav alle mit. Zweitens ist ein sehr interessanter Punkt, dass die von Gauquelin festgestellten Gestirnwirkungen nicht für Kaiserschnitte oder eingeleitete Geburten gelten. Ein kosmisches Superholon, das sich nicht gegen einen Kaiserschnitt durchsetzen kann, ist nicht recht überzeugend. Drittens sind diese Gestirnwirkungen nur bei hervorragenden Menschen zu beobachten. Dies ist außerordentlich bedeutsam und für mich der entscheidende Punkt. Dieser Befund lässt sich kaum begründen, wenn die Einflüsse von der Ebene der Weltseele stammen sollen. Wenn die Weltseele oder das kosmische Superholon ohne weiteres in die Wahrscheinlichkeiten der tieferen Holons eingreift, warum sollte sie das dann auf die Prominenten, die Mächtigen und Berühmten beschränken? Dagegen ergeben diese Korrelationen, mit den Gestirnen einen Sinn, wenn sie von der physischen Ebene ausgehen und ihren relativ schwachen Aufwärts-Einfluss auf die höheren Ebenen der Emotion und der Seele (und der charakterlichen Merkmale) geltend machen, weil man nur von den stärksten dieser schwachen Kräfte erwarten kann, dass sie überhaupt einen beobachtbaren Einfluss haben. Nur die wirklich starken Einflüsse können sich gegen die Dämpfung durchsetzen, die bei einem Aufwärts-Einfluss immer auftritt: Das Niedrigere muss eine erhebliche Anstrengung aufbieten, um das Höhere zu überwinden oder entscheidend zu beeinflussen. Beim Durchschnittsmenschen, der vermutlich kaum solche Gestirnwirkungen empfängt, fallen diese schwachen Einflüsse vollkommen weg. Am Ende der dritten Runde muss ich also sagen, dass Roger die übliche Astrologie auf die Bretter geschickt hat. Ich selbst nehme zu diesem Thema seit langem eine agnostische Haltung ein und finde Rogers Argumente weitgehend überzeugend. Will räumt ein, dass die Sonnenzeichenastrologie, die Zeitungsastrologie und die Astrologie der äußeren Planeten erledigt sind. Also ein klarer K. o. für alle diese Formen der üblichen Astrologie. Beide gestehen jedoch zu, dass die von Gauquelin gefundenen Zusammenhänge mit den Gestirnen Tatsache sind, wenn auch sehr schwach ausgeprägt: 0,05 ist keine Zahl, von der man viel Aufhebens machen müsste. Trotzdem ist diese Anomalie, wie Will (und Eysenck) deutlich machen, für jede Weltsicht äußerst störend, die hierfür keine Erklärung anbieten kann. Ich bin mit Will einer Meinung, dass zumindest nach dem gegenwärtigen Stand dies nur eine irgendwie holonische (oder holarchische) Konzeption leisten kann. Früher glaubte ich, dass man eine solche Erklärung auf der Ebene der Weltseele (des Superholons der psychischen Ebene) suchen müsse, aber ich neige jetzt eher zu der Meinung, dass die wahrscheinlichste Erklärung von einer Wechselwirkung auf der physischen Ebene ausgehen muss, einer Wirkung von physischen Planeten auf physische menschliche Körper. Diese Wirkung erstreckt sich als AufwärtsEinfluss während der Entwicklung auf die höheren Ebenen der Empfindungen und der Seele, möglicherweise durch Schwerkraft/hormonelle Einflüsse, geomagnetische/neuronale Interaktion oder eine Kombination von beidem, wobei nur die stärksten der relativ schwachen Kräfte in beobachtbarer Form als besondere Leistungen auf verschiedenen Gebieten überleben. Mein Sonnenzeichen ist Wassermann, wiewohl ich versuche, dies rechtsgültig ändern zu lassen. Aber noch kurz ein Blick in mein Horoskop für den heutigen Tag: "Das schöne Geschöpf, auf das ich ein Auge geworfen habe, scheint sich in eine Genusssüchtige zu verwandeln. Es herrscht eine berauschende, sinnliche Atmosphäre. Die Luft ist zum Bersten mit Pheromonen erfüllt. Aber zugleich herrscht auch eine unverkennbar heilige Stimmung. Die Annahme ist nicht abwegig, dass Wassermann unter dem Einfluss der Lust alle bisherigen Rekorde in spirituellem Wachstum brechen wird." Ich nehme alles zurück: Ich glaube ab sofort wieder an die Sonnenzeichen.
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August Was ist die Welt? Ein ewiges Gedicht, Daraus der Geist der Gottheit strahlt und glüht, Daraus der Wein der Weisheit schäumt und sprüht, Daraus der Laut der Liebe zu uns spricht. Hugo von Hofmannsthal Wenn der neue Geist bewusster wird, wird er immer mehr fähig, die Augenblicke der Kontemplation in einen einzigen Augenblick zu verwandeln, in eine beständige Schau. Piet Mondrian
Samstag, 2. August "Hallo Ken, hier ist Frances." "Ah, hallo, Frances. Genießt du gerade deinen Freiraum, weil Roger bei seinem monatelangen Meditationsretreat ist?" "Dazu habe ich hier viel zu viel zu tun. Ich komme gerade von der Jahreskonferenz der Association for Transpersonal Psychology zurück." "Man hat dich gebeten, dort den Abschlussvortrag zu halten." "Ja. Ich kam einen Tag vorher an und traf alte Freunde, was sehr schön, sehr nostalgisch war. Meine erste Konferenz dort liegt 32 Jahre zurück! Es war ein einschneidendes Erlebnis in meinem Leben; es hat wirklich mein Leben verändert. Huston Smith, Jim Fadiman – die alte Garde. Jedenfalls kam diesmal jemand auf mich zu, und ich habe mich so gefreut, diesen Menschen nach all diesen Jahren wieder einmal zu sehen. Es war Laura Huxley." "Das ist nicht dein Ernst." "Sie muss schon über achtzig sein; eine kleine und zerbrechliche Person, aber sehr lebhaft. Sie sagte mir, wie sehr sie meine Arbeit schätzte, und ich antwortete ihr, wie sehr ich die ihre bewunderte. Es war sehr nett." "Wie ging es mit dem Vortrag?" "Ich habe über Kreativität gesprochen; es ging ganz gut." "Ich wette, dass es besser war als 'ganz gut'." "Kreativität kann eine Möglichkeit sein, Kontakt mit seiner spirituellen Intelligenz zu bekommen, und hierüber sprach ich. Es war ganz gut." "Wie kommt das World Forum voran?" Das State of the World Forum ist eine bemerkenswerte Organisation, die von James Garrison und Michail Gorbatschow gegründet wurde und der neben Hunderten anderer u. a. Desmond Tutu, Elie Wiesel, James Baker, Jehan Sadat und Ted Turner angehörten. Das diesjährige Forum wird vom 4. bis 9. November in San Francisco stattfinden. Frances wurde gebeten, die Sitzung zum Thema Intelligenz und Evolution" zu organisieren, das sie in drei Teilthemen gliederte: menschliche Intelligenz und Evolution, Praxis und innere Arbeit und das Vermächtnis der Weisheit. Für die ersten beiden Themen hat sie lauter Stars gewonnen, während sie beim letzten, bei dem Ältere über die Bedeutung von Tradition und Vermächtnis diskutieren sollten, noch Schwierigkeiten hat. "Alles läuft gut, bis auf das Vermächtnis der Weisheit. Einige der vorgesehenen Teilnehmer wie z. B. Ram Dass sind krank, und andere wie Huston sind klug genug, nicht zu kommen. Sie besitzen zu viel Weisheit, um an einer Weisheits-Show teilzunehmen, und jetzt sitze ich in der Klemme!" Aber Frances wird das Problem lösen. Wie immer.
Sonntag, 3. August Die meisten Menschen fühlen sich im Leben, im Universum gefangen, weil sie glauben, im Universum zu sein, weshalb dieses Universum sie zerdrücken könne wie eine Wanze. Aber das ist falsch. Man ist nicht im Universum: Das Universum ist in einem. Typischerweise orientiert sich der Mensch wie folgt: Mein Bewusstsein ist in meinem Körper (hauptsächlich in meinem Kopf); mein Körper ist in diesem Zimmer; dieses Zimmer ist im umgebenden Raum, dem Universum selbst. Dies ist aus der Sichtweise des Ego richtig, aber aus der Sichtweise des Selbst völlig falsch. Wenn ich im Zeugen ruhe, dem formlosen Ich-Ich, dann wird sofort klar, dass ich nicht in meinem Körper bin, sondern dass der Körper in meinem Bewusstsein ist. Ich gewahre meinen Körper, und deshalb bin ich nicht mein Körper. Ich bin der reine Zeuge, in dem mein Körper jetzt auftaucht. Ich bin nicht in meinem Körper, sondern mein Körper ist in meinem Bewusstsein. Deshalb ist es das Bewusstsein, was zählt. Wenn ich als der Zeuge ruhe, das formlose Ich-Ich, dann wird jetzt in diesem Augenblick offenkundig, dass ich nicht in diesem Haus bin, sondern dass dieses Haus in meinem Gewahrsein ist. Ich bin der reine Zeuge, in dem dieses Haus jetzt entsteht. Ich bin nicht dieses Haus, dieses Haus ist in meinem Bewusstsein. Deshalb ist es das Bewusstsein, das zählt. Wenn ich aus diesem Haus auf die Umgebung schaue – vielleicht ein großes Stück Erde, einen großen Flecken Himmel, andere Häuser, Straßen, Autos –, wenn ich also, kurz gesagt, auf das Universum vor mir schaue, und wenn ich als der Zeuge ruhe, das formlose Ich-Ich, dann wird jetzt in diesem Augenblick klar, dass ich nicht im Universum bin, sondern dass das Universum in meinem Gewahren ist. Ich bin der reine Zeuge, in dem dieses Universum jetzt entsteht. Ich bin nicht im Universum, sondern das Universum ist in meinem Bewusstsein. Deshalb ist es das Bewusstsein, das zählt. Es ist richtig, dass der physische Stoff eines Körpers innerhalb des Stoffs des Hauses und der Stoff des Hauses im Stoff des Universums ist. Aber man ist nicht bloß Stoff und Materie. Man ist auch Bewusstsein als solches, und die Materie ist bloß dessen äußere Haut. Das Ich nimmt den Standpunkt der Materie ein und bleibt daher ständig in der Materie gefangen, von physischem Schmerz gequält. Aber auch der Schmerz entsteht im eigenen Bewusstsein, und man kann entweder im Schmerz sein, oder aber Schmerz in sich
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finden, sodass man den Schmerz umgibt, größer ist als der Schmerz, den Schmerz transzendiert, indem man in der großen Weite der reinen Leerheit ruht, die man in einem tiefen und wahren Sinne ist. Was sehe ich also? Wenn ich mich auf das Ego zusammenziehe, dann habe ich den Eindruck, im Körper eingeschlossen zu sein, der im Haus eingeschlossen ist, das wiederum im großen umgebenden Universum eingeschlossen ist. Aber wenn ich als der Zeuge ruhe, als das weite, offene, leere Bewusstsein, dann wird offensichtlich, dass ich nicht im Körper bin, sondern der Körper in mir, dass ich nicht in diesem Haus bin, sondern das Haus in mir, dass ich nicht im Universum bin, sondern das Universum in mir. All dies entsteht im weiten, offenen, leeren, reinen, leuchtenden Raum des ursprünglichen Bewusstseins, genau jetzt, genau jetzt und für immer genau jetzt. Deshalb ist es das Bewusstsein, das zählt.
Montag, 4. August Mitch ist gerade von der Konferenz über Spirituelle Intelligenz am Fetzer-Institut zurück, die von Frances organisiert wurde. Er findet, dass sie in vielerlei Hinsicht interessant und nützlich war, aber doch etwas mehr kritischen und skeptischen Geist vertragen hätte. Frances wusste, dass Mitch – unser "glorreicher Skeptiker", wie Kate Olson ihn nennt – dieser Meinung war, weshalb sie ihn am letzten Tag einlud, seine Kritik vorzutragen. "Und, wie war es?", fragte ich ihn am Telefon. "Stan Grof war da. Er sprach über sein neuestes Buch, The Cosmic Game (dt. Kosmos und Psyche. An den Grenzen menschlichen Bewußtseins, Frankfurt am Main: Krüger, 1997). Er sagte, du hättest ihm dabei geholfen." "Nun ja, nicht ganz. Er schickte mir das Manuskript, und es zeigte sich, dass hier eigentlich zwei Bücher miteinander vermischt waren, weshalb ich ihm empfahl, sie zu trennen; Das tat er auch, und jetzt verlegt Suny das erste davon. Es ist wirklich ein überaus wichtiges Werk und eine weitere Version der Großen Kette des Seins, die hier mit modernen Techniken entwickelt wird. Aber wie ging es denn am letzten Tag, mit deiner Skepsis und so?" "Einige von uns sprachen das Thema der UFO-Entführungen an, und manche Leute möchten einfach nicht, dass ihre Überzeugungen in Frage gestellt werden. Ein Teilnehmer sagte: 'Jedes Jahr wird von über eintausend Entführungen berichtet. Glauben Sie denn, dass alle diese Menschen dies einfach erfinden?' 'Ja natürlich', gab ich zur Antwort. Das kam nicht so gut an." "Kann ich mir vorstellen." "Ich bin vielleicht manchmal zu skeptisch, aber einigen dieser Leute scheint diese Fähigkeit überhaupt abzugehen. Das ist schlimm, denn dieses Gebiet ist auch ohne UFO-Entführungen schon verrückt genug. Und wenn man diesen Leuten nicht glaubt, dann halten sie einen für krank, für antispirituell oder sonst was. Aber die Tatsache, dass zehntausend Menschen behaupten, entführt worden zu sein, ist ja nun das Letzte, das man als Beweis gelten lassen kann." "Völlig richtig", sagte ich. "Allein letztes Jahr haben fünfzehnhundert Menschen behauptet, Elvis gesehen zu haben. Das soll also wohl bedeuten, dass Elvis gesund und munter ist und alle diese Leute besucht. Das ist kein Beweis." Nachdem wir noch Pläne für seinen Besuch gemacht hatten, legten wir auf. Also UFO-Entführungen. Ich habe John Mack in einer Talkshow mit einigen "Entführten" gesehen. Diese Leute wurden alle "entführt", physisch untersucht, der obligatorischen Analuntersuchung unterworfen, und schließlich wurde ihnen Sperma bzw. ein Ei entnommen. Dann wurden ihnen – dies war die Urszene, der dunkle Kern des Wahns – ihre Söhne und Töchter gezeigt, die durch Befruchtung ihres Spermas/ihrer Eizellen mit denjenigen der Aliens entstanden waren. Mit anderen Worten, diese Menschen waren die Väter und Mütter des neuen Geschlechts, das die Erde bevölkern soll. Und hier wird wohl der Narzissmus allzu offensichtlich. Ich möchte ja nicht gemein sein, aber man muss sich einfach denken: Wenn diese Leute die Ahnen des neuen Geschlechts sind, dann wehe uns. Man weiß doch, was herauskommt, wenn die Eltern miteinander verwandt sind. Wenn jemand die Erfahrung gemacht hat, "entführt" worden zu sein, dann bezweifle ich nicht, dass dem Betreffenden diese Erfahrung als absolut wirklich erscheint (die meisten würden einen Test am Lügendetektor bestehen). Und phänomenologisch ist es tatsächlich eine Erfahrung, aber nicht ontologisch, weil sie keine objektive Wirklichkeit hat. Wir haben also auf der einen Seite die phänomenoiogische Erfahrung, auf der anderen die Interpretation dieser Erfahrung. Und für diese Interpretation muss man – wie für alle Interpretationen – das ganze Instrumentarium verfügbarer Erfahrung heranziehen, und genau dies tun diejenigen nicht, die an solche Erfahrungen glauben. Vor allem Mack nicht, wie es scheint. Kann es überhaupt UFO-Erfahrungen geben, die eine höhere Wirklichkeit repräsentieren? Theoretisch ist es möglich, dass einige dieser Erfahrungen von der psychischen oder subtilen Ebene des Bewusstseins stammen (Ebene 7 und 8) und dass diese Menschen, weil sie in ihrer Entwicklung diese Ebenen nicht konkret erreichen, diese als etwas "anderes" erfahren. Statt auf ihre eigene tiefere und höhere Natur projizieren sie sie als Aliengestalt nach außen. Selbst wenn dem so ist, dann leiden diese Menschen jedenfalls an einer dissoziativen Störung. So oder so ist dies nichts, womit man in der Öffentlichkeit hausieren gehen muss. Das Verräterische ist wie üblich der Narzissmus. Der Komiker Dennis Miller brachte es auf den Punkt: "Nur der Mensch ist narzisstisch genug zu glauben, dass eine hoch entwickelte fremde Kultur Milliarden von Lichtjahren durch das All reisen würde – eine Gruppe von 'Aliens', die so intelligent, so sorgenfrei sind und so weit über allem stehen, dass sie nicht einmal das Bedürfnis haben, ihre Raumfahrzeuge mit Fenstern zu versehen, damit sie auf all diese himmlische Schönheit schauen können – und dann hätten sie nach der Landung nichts Wichtigeres zu tun, als irgendeinem Simpel mit einer Taschenlampe in den Arsch zu leuchten." Was möchten Menschen wirklich, wenn sie über UFOs nachdenken? Wonach sehnen sie sich bei ihren Phantasien über etwas Außerirdisches? Nun, sie möchten etwas, das größer ist als sie selbst. Sie möchten das Bewusstsein haben, dass es im ganzen großen außerordentlichen Kosmos noch etwas anderes gibt als ihr klägliches Ego. Nun, das gibt es.
Dienstag, 5. August Einfach das begrüßt mich heute Morgen; einfach das, seine eigene Anmerkung; einfach das, es gibt kein anderes; einfach das, das Geräusch einer klatschenden Hand – das Geräusch des Einen Geschmacks; das Subtile und das Kausale können so überwältigend numinos und heilig sein; der Eine Geschmack ist so jämmerlich offensichtlich und einfach.
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Maureen Silos hat mir ihre Doktorarbeit geschickt, "Ökonomische Bildung und die Wissenspolitik in der Karibik" – sie hat so eben ihren Doktortitel an der University of California, L.A., erhalten. Maureen und ich stehen seit vorigem Jahr in brieflichem Kontakt, als sie mir schrieb, dass sie meine Arbeit auf "Entwicklungsprobleme in der Dritten Welt" anwandte. Ich stellte unter anderem für sie den Kontakt mit Michael McDermott her, der in Swasiland ein ähnliches Projekt verfolgt. Maureen ist in der Karibik geboren und aufgewachsen, und als Schwarze bringt sie ideale Voraussetzungen mit, sich mit diesen schwierigen, sensiblen, hartnäckigen Problemen auseinander zu setzen. Ursprünglich hatte sie sich mit einer gelinden Empörung über die antievolutionäre, implizit reaktionäre Haltung ihrer angeblich "liberalen" und "progressiven" Promotionskommission an mich gewandt. Diese Haltung ist freilich im postmodernen Flachland die Norm, und vor allem an Universitäten, wo die Haltung eines faden Egalitarismus (den nur eine geistige Elite pflegt!) im individuellen und kulturellen Bereich bloß die Entwicklung des inneren Bewusstseins hemmt, das allein so viele dieser Missstände lindern kann. Maureen geht diese Probleme entschlossen an, auch auf der Grundlage meiner Arbeiten, aber sie geht mit eigenen Hinzufügungen und Anwendungen um einiges darüber hinaus. Die Ergebnisse sind beeindruckend. Sie stellt zunächst fest, dass "Evolution in der Anthropologie und progressiven Kreisen der Gesellschaftswissenschaften tabu ist, [und zwar] aufgrund einer spezifischen Reaktion innerhalb progressiver Kreise des Westens auf den Sozialdarwinismus, Kolonialismus, Rassismus, den Holocaust und ähnliches Gedankengut, das Menschen als 'niedriger' oder 'höher' einstuft. Diese Reaktion ist zwar verständlich, aber das Ergebnis ist für die Gesellschaftstheorie verheerend, weil wir es heute mit einer massiven Feindseligkeit gegenüber der kulturellen Evolution zu tun haben." Kann man wohl sagen. Sie fährt fort: "Die sozialen Wurzeln der pauschalen Ablehnung des Begriffs einer kulturellen Evolution durch progressive westliche Gesellschaftstheoretiker müssen von Gelehrten der Karibik und der übrigen Dritten Welt wahrgenommen werden, wenn sie solches Gedankengut übernehmen, weil diese Haltung, wie gut sie auch gemeint sein mag, eine äußerst bizarre Situation schafft, indem sie 'einen groben Keil mitten durch den Kosmos treibt: Alles Nichtmenschliche unterliegt der Evolution, alles Menschliche nicht.' Mein Anliegen ist es daher, eine Unterscheidung zwischen den gültigen und ungültigen Aspekten des Begriffs der Kulturevolution zu erarbeiten, weil dies der einzige Ansatz ist, der mir die Möglichkeit bietet, sowohl das Wesen des Zusammenpralls der Weltsichten in der Karibik zu verstehen als auch die These einer vertikalen Dimension der Kultur- und Bewusstseinsentwicklung auf der Grundlage des Entwicklungsgedankens der kontemplativen Traditionen des Ostens und des Westens zu vertreten." Hervorragend. Maureen fährt fort: "Der Gedanke einer Evolution von Kulturen, von Bewusstsein und Weltsichten ist notwendig, weil andernfalls kein Weg an der Auffassung vorbeiführt, dass die Menschheit mit dem Auftreten der liberalen, demokratischen Industriegesellschaften des Westens das Ende der Geschichte erreicht habe. Dies ist für mich inakzeptabel. Gibt es eine bessere Möglichkeit, und wie finden wir sie?" Dem ist nichts hinzuzufügen. Ihr Argument lautet also, dass im Gegensatz zur vorherrschenden postmodernen Flachland-Auffassung Kulturevolution kein ethnozentrischer oder eurozentrischer Begriff ist, sondern vielmehr der einzige Ausweg aus dem versteckten Ethnozentrismus der meisten "progressiven" Kreise der westlichen Gesellschaftswissenschaft (die in der Tat die Kulturevolution ablehnen, die allein über die Ethnozentrik hinausführen würde). Mit anderen Worten, ungeachtet ihres ehrenwerten Bestrebens, Unterdrückung zu bekämpfen, sind die Gegner der Kulturevolution selbst Teil jenes Übels, das sie so heftig beklagen. Nun muss man aber zwischen gültigen und ungültigen Theorien der Kulturevolution unterscheiden, und hier beruft sie sich auf meine Arbeit: "Um also der Kulturevolution den Weg zu ebnen, um für Möglichkeiten eintreten zu können, in der Welt zu sein und in der Welt Wissen zu sammeln, die höher stehend und besser sind als das derzeitige hegemonische Modell, brauchen wir 'gewisse Grundaussagen, die Fortschritt und Rückschritt, gute Nachrichten und schlechte Nachrichten, das Auf und Ab eines evolutionären Impulses erklären können, der im Menschen ebenso wirksam ist wie im übrigen Kosmos'. Ken Wilber erörtert fünf solcher Grundaussagen in seinem Buch Das Wahre, Schöne, Gute. Dies sind die Dialektik des Fortschritts, die Unterscheidung zwischen Differenzierung und Dissoziation, der Unterschied zwischen Transzendenz und Verdrängung, der Unterschied zwischen natürlichen und pathologischen Hierarchien und die Tatsache, dass höhere Strukturen unter die Kontrolle niedrigerer Impulse geraten können." Dann führt Maureen eine kluge, teilweise brillante Analyse der kulturellen Bedingungen und der Zukunft der Karibik durch. Sie sagt: "In diesem Semester halte ich an der Universität von Los Angeles zwei Kurse ab, einen über die 'Soziologie der Bildung' und einen über 'Identität, Agenz und soziale Transformation in der afrikanischen Diaspora'. Letzteres basiert auf Ihrer Arbeit, Ken. Die Studenten sind mit Begeisterung dabei. Einige haben lediglich ein Problem damit, dass Sie den Islam oder die afrikanische Philosophie kaum erwähnen. Die Bevorzugung der östlichen Religionen ist etwas frustrierend ..." Da hat sie nicht ganz Unrecht. Ich muss vielleicht etwas klarer herausstellen, dass ich sehr wohl die afrikanische und islamische Religion berücksichtigt habe, insbesondere den Sufismus und den afrikanischen Schamanismus. In der Vergangenheit habe ich oft vereinfacht, indem ich vom "Besten des Westens" (hauptsächlich in Gestalt der Neuplatoniker) und vom "Besten des Ostens" gesprochen habe, wie es hauptsächlich in Gestalt des Hinduismus und Buddhismus verwirklicht ist. Aber natürlich wäre es nicht schlecht, wenn ich die vielen verschiedenen Quellen etwas ausführlicher nennen würde, auf die ich mich stütze. "Ich habe mir die Aufgabe gestellt, afrikanisches Gedankengut so in Ihr Schema einzuordnen, dass dadurch zum einen eine Aufwertung des Rassismus und zum anderen ein Abgleiten in eine romantische Verklärung des vorkolonialen Afrika vermieden wird." Mit anderen Worten, sie möchte einen Kurs zwischen Verdrängung einerseits und Regression andererseits halten, und wie man beides vermeidet, ist ein Hauptthema meiner Arbeit. "Mein erster Versuch, dies in der Öffentlichkeit zu tun, ist eine Vorlesung, die ich unter dem Titel 'Religion, Spiritualität und gesellschaftliche Transformation in der afrikanischen Diaspora' halten werde. Das Ganze ist ein bisschen aufregend, weil ich mich hier sehr kritisch mit Versuchen auseinander setzen werde, die Wurzeln der afrikanischamerikanischen Identität im altägyptischen Denken zu suchen. Weiterhin werde ich eine evolutionäre Auffassung des Bewusstseins und der Spiritualität und des Zusammenhangs mit gesellschaftlicher Transformation vorlegen." Da macht endlich mal jemand Nägel mit Köpfen. "Mein nächstes Projekt ist ein postdoktorales Forschungsstipendium am Center for Pacific Rim Studies an der Universität Los Angeles, wobei ich mein Karibik-Projekt auf die aufstrebenden Ökonomien Ostasiens übertragen werde, um die Theoriebildung bezüglich des komplexen Zusammenhangs zwischen kulturellem Kontext (Bewusstsein) und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit voranzutreiben. Ich hoffe, 1998 Indonesien, Taiwan und Malaysia besuchen zu können, um mit führenden Persönlichkeiten aus der Wirtschaft, mit Geschäftsleuten und Policy makers Interviews zu machen." Viel Erfolg, Maureen Silos.
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Mittwoch, 6. August William S. Burroughs ist gestorben. Mit seinem Tod gibt es das Beat-Triumvirat – Kerouac, Ginsberg, Burroughs – nicht mehr. Ginsberg war am Ende Schüler von Trungpa Rinpoche; wir begegneten uns hin und wieder, insbesondere im Naropa-Institut, dessen neues Bibliotheksgebäude nach ihm benannt wurde. Sooft er mich sah, bat er mich, mir über den rasierten Schädel fahren zu dürfen; ich sagte immer ja, und er strich mir glücklich über die Glatze. Was ich an Allen besonders liebte, waren nicht seine Gedichte – für mich Blasphemie –, sondern die Art, wie er seine Gedichte las; ein unendliches Vergnügen. Er war ein Wirbelwind verspielter Energie, der das Publikum immer zu entzücken wusste. Was ich an den Beatniks liebte, waren weniger ihre Schriften als die Art ihrer Selbstzelebration, die selbst für die 60er Jahre ungewöhnlich war. Ihr Leben war ein unendliches Drama manchmal vergnüglicher, manchmal grotesker Performance-Art. Es begann schon damit, dass Burroughs versehentlich seine Frau umbrachte, als er versuchte, ihr ein Glas vom Kopf zu schießen. Dann kam Kerouacs grauenvoller Todeskampf als ausgebrannter Alkoholiker, und es endete damit, dass Ginsberg sich einer Religion zuwandte, deren zentrales Ziel es ist, das ichhafte Auftreten zu unterminieren und die, wenn sie konsequent praktiziert wird, seine Raison d'être ruiniert hätte. Es war eine Show, wie wir sie so bald nicht wieder erleben werden. Nachdem auch Timothy Leary tot ist – und Ram Dass einen Schlaganfall erlitten hat –, fürchte ich, dass meine Generation jetzt offiziell zu ihrer eigenen Totenwache angetreten ist. In den letzten Jahren gab es eine Flut von fünfzigsten Geburtstagen und den Beginn einer Welle von Todesfällen. Wir sind in einen langen, langsamen Sinkflug zur letzten Ausfahrt eingetreten, zumindest für dieses Dasein. Werden wir das Große Ungeborene finden, den Schoß der Heiligen und Weisen und Bodhisattvas, oder werden wir bloß uns selbst finden?
Sonntag, 10. August Es ist noch sehr früh am Morgen, vielleicht drei Uhr. Ich gleite an der Grenze zwischen der kausalen Formlosigkeit des Tiefschlafs und der subtilen Formhaftigkeit des Traumzustands dahin. Aus der reinen, unendlichen, formlosen Schwärze, die doch lebendig, still bewusst, eine strahlend klare Leerheit ist, erhebt sich die subtilste Form, manchmal als leuchtende, blauweiße, geblähte Wolke, manchmal als winziger Impuls zartester Seligkeit. Seltsam, dass diese Seligkeit doch ein Schritt nach unten ist. Zugleich aber existiert sie gemeinsam mit der Leerheit; sie ist an diesem Punkt die Idee der Leerheit. Hinter allem und schon auf dem ganzen Weg ist nur das.
Dienstag, 12. August Ein weiteres Naropa-Seminar. Das beherrschende Thema, das mehrere Studenten diskutieren wollten, war der Antiintellektualismus, der heute in vielen spirituellen und gegenkulturellen Einrichtungen überhand nimmt. "Erfahrungsmäßig" wird in Gegensatz zu "intellektuell" gesetzt; Ersteres wird geschätzt, Letzteres verachtet. Wenn man für irgendetwas eine verstandesmäßige Erklärung gibt, wird man, wie ein Student es ausdrückte, "sofort fertig gemacht". Das Erfahrungsmäßige ist angesagt, nicht das Verstandesmäßige, Abstrakte oder Begriffliche. Man muss vom Herzen her handeln, nicht vom Kopf her, der Mittelpunkt muss im Körper, nicht im Geist sein. Erfahrungsmäßig heißt spirituell, und das ist gut; das Verstandesmäßige ist das Ego, das analytisch, spaltend und irgendwie ganz "furchtbar schlecht" ist. Ich gab hierauf zur Antwort, dass all dies auf einer völlig falschen Auffassung von "erfahrungsmäßig" und "spirituell" beruht. Einige Auszüge: KW: Wir haben vom Erfahrungsmäßigen gesprochen. Erfahrung ist im Grunde nur ein anderes Wort für Gewahren. Wenn ich meinen Körper erfahre, dann bedeutet dies, dass ich ihn gewahre. Man kann sich seines Körpers bewusst sein, ihn gewahren, aber dies gilt auch für den eigenen Geist [mind]: Man kann jetzt in diesem Augenblick all die Gedanken, Ideen und Bilder registrieren, die vor dem inneren Auge des Geistes vorüberziehen. Mit anderen Worten, man kann sein Denken erfahren, sich seines Denkens bewusst sein. Es ist sehr wichtig, dass man seinen Geist direkt, unmittelbar, intensiv erfahren kann, weil nur dieses beobachtende Gewahren des Geistes die Möglichkeit schafft, dass man den Geist transzendieren und sich von seinen Beschränkungen frei machen kann. Wenn dies geschieht, üblicherweise auf dem Wege der Meditation oder Kontemplation, kann man zu noch höheren Erfahrungen gelangen, zu spirituellen und mystischen Erfahrungen: Satori, Kensho, Samadhi, Unio mystica usw. Man könnte sagen, dass man sogar den GEIST gewahren und erfahren kann, wiewohl dies eher in einer nichtdualen Weise geschieht. Man kann also Körper, Geist und GEIST erfahren. All dies sind Erfahrungen. Damit sollte klar sein, warum es ein so schwerer Fehler ist, Erfahrung nur auf den Körper zu reduzieren oder auf körperliche Empfindungen, Gefühle, Emotionen, Triebe usw. Dies ist ein äußerst unglücklicher Reduktionismus. Er verleugnet die höheren Erfahrungswirklichkeiten des Geistes und des GEISTES: Er verleugnet Verstand und Buddhi, geistige Schau, Bilder und Träume, höhere rationale Urteilsfähigkeit, vorausschauendes Handeln und moralische Tiefe, höheres formloses Gewahren und tiefe kontemplative Zustände. Sehen Sie, der Körper ist grundsätzlich narzisstisch und egozentrisch. Physische Empfindungen betreffen nun einmal nur den eigenen Körper. Punkt. Die Empfindungen des Körpers können sich nicht in einen anderen hineinversetzen – dies ist eine geistige Fähigkeit –, und deshalb kann auch die sinnliche Wahrnehmung des Körpers nicht auf die Stufe der Zuwendung, des Mitgefühls, der ethischen Verantwortlichkeit und einer Ich-Du-Spiritualität gelangen: Hierfür ist ein kognitives, geistiges, verstandesmäßiges Gewahren erforderlich. Solange man "in seinem Körper bleibt" und "anti-intellektuell" ist, so lange bleibt man im Dunstkreis seines eigenen Narzissmus. Dies ist also der erste Fehler bei dieser Ablehnung des Verstandesmäßigen zugunsten des Erfahrungsmäßigen, die alle erfahrungsmäßigen Modi auf physische Erfahrungen beschränkt, was eine ausgeprägte Egozentrik nach sich zieht. Der zweite Fehler besteht darin, dass spirituelle Erfahrungen auf körperliche Erfahrungen reduziert werden. Man meint, dass man, wenn man auf seinen Körper, seine Gefühle zentriert bleibt, damit den Königsweg zur Spiritualität gefunden hätte, weil die Gefühle den Geist transzendieren. Aber physische Empfindungen, Wahrnehmungen und Emotionen sind nicht transrational, sondern prärational. Wenn man nur im Körper
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bleibt, ist man nicht über, sondern unter dem Geist. Dies ist keine Transzendenz, sondern Regression, und durch eine solche Konzentration auf seine eigenen Gefühle wird man immer narzisstischer und egozentrischer. Und dies kann echte spirituelle Erfahrungen bloß verhindern, denn eine echte Spiritualität ist "Fallenlassen des Körpergeistes", d.h., man hört auf, sich ausschließlich mit den Empfindungen des Körpers und den Gedanken des Verstandes zu identifizieren, und dies ist einfach nicht möglich, wenn man bloß "im Körper bleibt". Wenn Ihnen jemand also eine "erfahrungsmäßige" statt einer "verstandesmäßigen" Haltung nahe legt, können Sie ziemlich sicher sein, dass der Betreffende diese beiden einfachen, aber entscheidenden Fehler begeht. Er behauptet, dass nur die physischen Erfahrungen wirklich sind, ausgerechnet diejenigen der niedrigsten der drei Erfahrungsebenen Körper, Seele und Geist, und reduziert auch noch spirituelle Erfahrungen auf körperliche Erfahrungen. Beides ist äußerst unglücklich. Aber das ist leider noch nicht alles. Man kann zwar von körperlichen, mentalen und spirituellen Erfahrungen sprechen, aber die allerhöchsten spirituellen Zustände sind nicht einmal mehr Erfahrungen. Erfahrungen sind ihrem Wesen nach temporär: Sie kommen, verweilen kurz und gehen vorüber. Der Zeuge aber ist keine Erfahrung. Er ist derjenige, der die Erfahrungen hat, kann aber selbst in keiner Weise eine Erfahrung sein. Der Zeuge ist die große Lichtung und Freiheit, in der Erfahrungen entstehen und durch die Erfahrungen hindurchgehen. Der Zeuge selbst aber tritt niemals in den Strom der Zeit ein – er gewahrt die Zeit nur – und befindet sich daher niemals im Strom der Erfahrungen. Also ist es auch in dieser Hinsicht eine schwere Verzerrung, wenn man sagt, dass der GEIST erfahrungsmäßig (im Gegensatz zu verstandesmäßig) sei, weil der GEIST keine vorübergehende Erfahrung, sondern der formlose Zeuge aller Erfahrung ist. In der Erfahrung zu bleiben heißt, in Unkenntnis des GEISTES zu bleiben. Student: Aber der Körper enthält doch "gefühlte Bedeutungen", die wichtig sind. KW: Selbstverständlich, und diese müssen auch in Geist und GEIST integriert werden. Aber diese physischen Empfindungen für sich genommen als "Spiritualität" zu bezeichnen ist eine Travestie. Student: Warum ist diese Auffassung so verbreitet? KW: Weil jeder diese physische Fähigkeit schon hat. Zugang zum Körperbewusstsein hat man schon als Kind. Jeder kann den Körper erfahren, weshalb "Körperzentrierungsarbeit" eine hohe Erfolgsrate garantiert. Will man aber einen Workshop über "Kontaktaufnahme mit dem Nirvikalpa-Samadhi" abhalten, der ein echter spiritueller Zustand ist, dann nimmt das beim Durchschnittsmenschen mindestens fünf Jahre in Anspruch. Also mit einem Wochenend-Workshop ist es hier nicht getan. Diese echten transpersonalen Reiche lassen sich nicht so leicht vermarkten, wohl aber schnelle veränderte Bewusstseinszustände, die nicht von Dauer sind, oder einfache körperliche Erfahrungen, die jedem relativ einfach zugänglich sind. Und wenn man eine Einrichtung betreibt, die von Kursen leben will, dann wird man nicht sehr viel verdienen, wenn man sich auf echte subtile, kausale und nichtduale Bewusstseinszustände spezialisiert – man kann ja nicht fünf oder zehn Jahre warten, bis der Erfolg da ist und man sein Geld bekommt. Es besteht also ein latenter, aber ausgeprägter Druck, diese geringeren, ja sogar regressiven Zustände als "Spiritualität" anzubieten und loszulegen. Damit hat man eine Erfolgsrate von fast einhundert Prozent, weil mehr oder weniger jeder irgendeine physische Emotion oder Empfindung auffinden kann, während nur die allerwenigsten auf der Stelle Satori demonstrieren können. Also sind es alle zufrieden, alle sind "erfahrungsmäßig", "kommen aus dem Herzen" und "nicht aus dem garstigen Verstand", und so darf sich jeder "spirituell" nennen. Oje. Student: Braucht man also das Körperbewusstsein nicht? KW: Oh, diesen Eindruck wollte ich keineswegs erwecken. Es ist durchaus wichtig, Kontakt zum Körper zu haben, was man vielleicht in der folgenden Weise erklären kann. In der menschlichen Entwicklung ist das Bewusstsein zunächst weitgehend mit dem Körper identifiziert, mit dem vitalen und sensomotorischen Bereich. Um das dritte oder vierte Lebensjahr beginnt sich das bewusste Denken zu entfalten, und um das siebte oder achte Lebensjahr beginnt sich das Bewusstsein mit der erweiterten Perspektive zu identifizieren, die der Verstand bereitstellt. Der sinnliche Körper ist, wie schon gesagt, präkonventionell und egozentrisch, weshalb er sich nicht in die Rolle eines Anderen versetzen kann. Mit der Entwicklung der Verstandesfähigkeiten kann das Bewusstsein von einer egozentrischen zu einer soziozentrischen Haltung übergehen, d.h. den Entwicklungsschritt vom "Ich" zum "Wir" vollziehen. Der Geist transzendiert den Körper und schließt ihn ein, weshalb er sich des "Ichs" ebenso bewusst sein kann wie des "Wir". Im Falle einer pathologischen Störung aber – und hier sind Freuds Beiträge von großer Bedeutung – transzendiert der Geist den Körper nicht nur und schließt ihn ein, sondern unterdrückt ihn, verleugnet ihn, entfremdet und dissoziiert ihn. Genauer gesagt, irgendeine geistige Konzeption, eine Idee oder ein Über-Ich unterdrückt oder verleugnet eine körperliche Empfindung oder einen Trieb, oft Sex oder Aggressivität, oder manchmal die physische Vitalität im Allgemeinen. Diese Unterdrückung des Körpers durch den Geist bringt verschiedene Formen von Neurose, emotionalen Störungen, Entfremdung des Körpers und Empfindungslosigkeit gegenüber dem Leben mit sich. Eines der ersten Dinge, das man bei einer Therapie tut, jedenfalls bei so genannten Aufdeckungstherapien, ist die Aufhebung der Verdrängungsschranke, damit man es wieder zulassen kann, seinen Körper, seine Gefühle und seine Emotionen zu spüren. Dadurch wird der Weg zu der Erkenntnis frei, warum man sie überhaupt unterdrückt hat. Dann macht man seinen Frieden mit diesen untergegangenen Gefühlen und integriert sie wieder in das mentale Ich, um so ein vollständigeres und zutreffenderes Selbstbild zu schaffen. Wenn man nun in dieser Weise wieder Kontakt zum Körper und seinen Gefühlen gefunden hat und sich lebendig und voller Energie fühlt, dann ist das höchst aufregend; dies hat man erhofft. Man ist wieder an seinen organischen Wurzeln, an seinem élan vital. Aber viele Menschen ziehen daraus den falschen Schluss, dass die physischen Empfindungen als solche irgendwie eine höhere Wirklichkeit seien als das geistige Ich, und dies ist völlig falsch. Sie glauben dies, weil sie sich nach der Wiederherstellung des Kontakts zum Körper so viel besser fühlen. Aber dieser Kontakt zum Körper ist nicht deshalb notwendig, weil er eine höhere Wirklichkeit wäre, sondern weil er eine niedrigere ist, die von einer höheren schrecklich misshandelt wird. Man regrediert also vorübergehend auf die physischen Empfindungen, von denen man sich entfremdet hat – "Regression" bedeutet einfach ein Zurückgehen auf eine niedrigere Ebene in der Bewusstseinshierarchie –, und man integriert diese untergegangenen Gefühle wieder. Dies ist eine Regression im Dienste eines höheren Wachstums. Das Ergebnis dieses höheren Wachstums ist dann die Integration von Körper und Geist, was ich den Zentauren nenne, weil hier menschlicher Geist und animalischer Körper eins sind. Viele Körpertherapeuten verwechseln aber diese integrierte Einheit von Geist und Körper mit dem Körper allein. Eine solche Verwechslung findet man z.B. bei Autoren wie Alexander Lowen, Ida Rolf und Stanley Keleman. Sie erhöhen den Körper zum Status des Zentauren, und man kann wohl sagen, dass dies deshalb geschieht, weil vom Geist als solchem praktisch keine Rede ist, vom Geist als Geist – keine Rede von rationaler Ethik, von Perspektivismus, von postkonventioneller Moral, von gegenseitigem Verständnis usw. Was sie die Einheit des Körpergeistes nennen, ist in Wirklichkeit bloß
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eine Ansammlung rein körperlicher Empfindungen. Dies ist eine Prä/Trans-Verwechslung im kleinen Maßstab, eine Verwechslung des postkonventionellen Zentauren mit dem präkonventionellen Körper, und dies ist typisch für die meisten körpertherapeutischen Schulen. Klar ist, dass Meditation und Therapie oft zunächst beim Körper und dem Körperbewusstsein ansetzen, weil die meisten Menschen tatsächlich den Kontakt zu ihren Wurzeln verloren haben. Aber weder eine wirksame Therapie noch eine echte Meditation bleiben auf der Ebene des Körperbewusstseins. Bei einer wirksamen Therapie muss man irgendwann zu einer kognitiven und mentalen Erfahrung übergehen und zu erkennen lernen, warum man den Körper und einige seiner Empfindungen überhaupt erst unterdrückt hat. Therapeutische Fortschritte sind erst dann möglich, wenn man aufhört, seine entfremdeten Impulse auf einer physischen Ebene auszuagieren, und vielmehr diese in mentale Einsicht verwandelt. Dasselbe gilt für eine echte Meditation. Sie beginnt zwar oft beim Körperbewusstsein, indem man sich z. B. auf den Atem oder physische Empfindungen konzentriert, aber sie geht bald zu einer Erkundung der geistigen Erfahrung und des Geistesstroms selbst über. Sie schreitet vom grobstofflichen Körper und der sensomotorischen Welt zur mentalen und subtilen Welt fort. Nur durch die Erkundung der subtilen Kontraktionen im Geistesstrom – und insbesondere der subtilen Kontraktion, die man als die "Empfindung eines getrennten Selbst" bezeichnet – kann sich die eigene Identität vom Körpergeist auf den GEIST selbst ausdehnen. Die persönliche Identität mit dem Organismus wird durch eine Identität mit dem All ersetzt. Der Körper wird also niemals ausgeklammert. Er wird vielmehr vom Geist transzendiert und eingeschlossen, der wiederum vom GEIST transzendiert und eingeschlossen wird. Der Körper ist die Grundlage und der Ausgangspunkt. Wenn man aber auf dieser Stufe bleibt, sabotiert man Geist und GEIST. Man gelangt an den Nirmanakaya (formhafter Körper), nicht aber an den Sambhogakaya (subtiles Reich), den Dharmakaya (kausale Leerheit) und den Svabhavikakaya (nichtduale Soheit). Sobald man aber den Körper mit diesen höheren Stadien und Reichen in Verbindung bringt, können diese eine Wirksamkeit nach unten entfalten und den physischen Körper ganz buchstäblich verherrlichen. Weshalb man, wer weiß, vielleicht sogar im Dunkeln zu leuchten beginnen könnte. Der Körper nimmt jedenfalls eine eigentümliche, überwältigende Schönheit an, und jedenfalls wird der Körper zum durchscheinenden Träger des ursprünglichen GEISTES, der man in Ewigkeit ist.
Freitag, 15. August Richard G. Young, einer der Direktoren des Center for Contemplative Christianity und Herausgeber von Pathways: A Magazine of Psychological and Spiritual Transformation, hat für diese Zeitschrift eine Besprechung von Das Wahre, Schöne, Gute geschrieben. Ich musste lachen, denn mitten im Text heißt es: "Warum bin ich ein solcher Verehrer dieses ungreifbaren Bilderstürmers, der niemals Vorträge hält oder Retreats leitet, nur selten Interviews gibt und sich konsequent dagegen verwahrt, als spiritueller Lehrer betrachtet zu werden? Ganz einfach: Ich möchte ihm Schuldgefühle bereiten, damit er Pathways endlich ein Interview gewährt." Ich habe Pathways ein Fax geschickt: "Okay, okay."
Samstag, 16. August – Denver Marci und ich waren einen Tag in Denver bummeln, Schuhe für sie einkaufen, die Leichtigkeit des Seins genießen. Marci ist eine bewundernswürdige, außergewöhnliche Seele. Sie arbeitet Tag für Tag mit Behinderten. Ich habe gesehen, wie sie mit diesen Unschuldigen umgeht, die liebevoll und spontan sind, aber die schreckliche Welt der Zivilisation nicht begreifen können und deshalb Betreuung brauchen. Sie sabbern über Marci, sie klammern sich an sie, sie verlangen ihre Aufmerksamkeit, sie weinen und schreien und brüllen, und niemals wendet sie sich ab. Sie hält sie und sagt ihnen, dass alles in Ordnung ist, und sie glauben ihr; sie kommen zu ihr, sie vertrauen ihr, und zu Recht: Sie ist immer für sie da, und sie wissen es. Sie wurde in das Friedenscorps aufgenommen, in das sie nächsten Februar eintreten soll. Aber sie zögert noch, was zweifellos auch mit unserer Beziehung zu tun hat. Andererseits aber, und dies spielt eine ebenso große Rolle, ist sie seit kurzem Leiterin der MarketingAbteilung in der Organisation, der mehrere der Betreuungsheime unterstellt sind, in denen sie arbeitet. Das kam unerwartet, war aber für sie eine außerordentliche Gelegenheit. Sie kann hier weiter in einer Hilfsorganisation arbeiten, was sie gerne möchte, und andererseits kann sie auf diese Weise ihre Ausbildungsdarlehen usw. zurückzahlen. Das bedeutet, dass unsere Beziehung nicht im Februar enden muss, und ich freue mich ganz selbstsüchtig darüber. Liebe zu einem bestimmten Menschen hat etwas Strahlendes, wenn sie in der Leerheit entsteht. Es ist immer noch Liebe, die immer noch intensiv persönlich und auf diesen bestimmten Menschen gerichtet bleibt, aber es ist eine Welle, die sich aus einem Ozean der Unendlichkeit erhebt. Es ist, wie wenn ein großes Meer der Liebe eine Welle hervorbrächte, und diese Welle trägt in jedem ihrer brechenden Kämme die Kraft und die Erregung des ganzen Meeres. Es ist eine Empfindung wie bei einem Sonnenaufgang in der Wüste: In einer weiten, offenen, klaren, blauen Geräumigkeit erhebt sich am Horizont ein intensives gelbrotes Feuer. Man ist der unendliche Himmel der Liebe, an dem sich ein einzelner Feuerball persönlicher Liebe erhebt. Eines ist gewiss: Unendliche und persönliche Liebe schließen einander nicht aus – letztere ist nur eine einzelne Welle in einem unendlichen Ozean. Wenn ich am frühen Morgen wach neben ihr liege und meditiere, verändert sich in der Kontemplation im Grunde nichts, nur dies: Eine den ganzen Körper erfassende Seligkeit, die in paradoxer Weise schwach und intensiv zugleich ist, umsäumt mein Bewusstsein. Es ist sexuelle Energie, die die Verbindung zu ihrem Ursprung in den subtilen Regionen des Körpergeistes wiedergefunden hat. Oft berühre ich sie beim Meditieren leicht; damit wird ganz eindeutig ein Energiekreis geschlossen, und auch sie spürt es. Dies ist, was Männer und Frauen (und ebenso gleichgeschlechtliche Paare) füreinander tun können, und dies ist auch die zentrale Behauptung des Tantra: Die Vereinigung von Mann und Frau ist in einer sehr konkreten Weise die Vereinigung von Eros und Agape, von Aufstieg und Abstieg, von Leerheit und Form, von Weisheit und Mitgefühl. Es geht dabei ganz konkret um die tatsächliche Verteilung von Prana oder Energieströmen im Körper. Deshalb auch genügt in den höchsten Tantra-Lehren (Anuttaratantrayoga) die bloße Visualisierung der sexuellen Vereinigung mit dem göttlichen Partner nicht für die endgültige Erleuchtung. Vielmehr braucht man einen echten Partner, echten Sex, um die Kreise wirklich schließen zu können, die zu einer Erkenntnis des immer schon erleuchteten Geistes führen.
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Montag, 18. August – Boulder Habe gerade mit Professor Sara Bates telefoniert, die Eine kurze Geschichte des Kosmos und Das Wahre, Schöne, Gute in ihren Vorlesungen über Kunst und die Kultur der Eingeborenen benutzt. Sie lehrt in Florida, hat aber zurzeit eine Gastprofessur an der Universität San Francisco, von wo aus sie mich anrief. Sara ist Cherokee-Indianerin; sie hat mit zwei Freundinnen, einer Hopi und einer Mojave, eine Diskussions-Gruppe gegründet, die sich mit Fragen der Kulturwissenschaften, der Religion, der Kunst und der Ureinwohner befasst. Sie ziehen meine Arbeiten heran, weil sie, wie sie sagt, kulturübergreifend und integral sind. "Was halten Sie von diesem neuen Interesse an der Spiritualität der amerikanischen Ureinwohner?", fragte sie. "Ich glaube, dass die Weißen der Mittelklasse sehr seltsame Dinge mit den Überzeugungen der Indianer tun." "Das kann man wohl sagen. Diese ganze romantische Verklärung indianischer Glaubensvorstellungen ist sehr bedauerlich. Diese romantische Auffassung gibt es einfach nicht, ganz gewiss jetzt nicht, und vielleicht gab es sie niemals. Aber viele Indianer arrangieren sich heute damit." "Ja, es ist eigenartig. Die Indianer nehmen dem weißen Mann seine Version von der Spiritualität der Indianer ab. Es ist einfach verrückt." "Ich kenne", sagte Sara, "die Erfahrung einer unmittelbaren und spontanen Kommunikation mit einem inneren Licht. Dies ist in meiner Tradition eine häufige spirituelle Erfahrung. Einer meiner Kollegen sagte: 'Glauben Sie, dass man Cherokee sein muss, um eine solche Erfahrung zu haben?' Er erwartete natürlich, dass ich dies bejahen würde, aber ich gab ihm zur Antwort: 'Nein, natürlich nicht!'" Sara bezieht sich hier darauf, dass die extreme Postmoderne heute in einen höchst bedauerlichen Essenzialismus abgeglitten ist: Man muss eine Frau sein, um irgendetwas über Frauen wissen zu können; man muss Indianer sein, um sich über Indianer äußern zu können; man muss schwul sein, bevor man sich zur Homosexualität äußern darf. Mit anderen Worten, es findet eine Regression von einer weltzentrischen zu einer ethnozentrischen Haltung statt; Identitätspolitik ist angesagt, und ein extremer Pluralismus führt dazu, dass wir alle überhaupt nichts mehr miteinander gemeinsam haben. In dieser regressiven Atmosphäre haben die Amerikaner, wie David Berreby in The Sciences schreibt, "ein Standard-Drehbuch, wie sie politisch-kulturelle Identität schaffen. Man beginnt mit der Überzeugung, dass die Zugehörigkeit zu einer Gruppe eine eigene Erfahrung ist, durch die man von Menschen getrennt, die nicht der Gruppe angehören (und seien es enge Freunde und Verwandte), und mit anderen Mitgliedern der Gruppe verbunden wird, selbst wenn man ihnen niemals begegnet ist. Dann nimmt man an, dass die eigenen persönlichen Kämpfe, Demütigungen und Triumphe im Ringen mit seinem Charakter eine Variante der Kämpfe der Gruppe in der Gesellschaft sind. Das Persönliche ist damit politisch. Und drittens behauptet man schließlich, dass die eigene Gruppe Interessen hat, die vernachlässigt oder bekämpft werden, und deshalb muss sie aktiv werden, indem sie z. B. das 'Image' der Gruppe ändert." Solche Aktivitäten sind ja nicht grundsätzlich schlecht. Aber für sich genommen bewirken sie eine massive Entfremdung und Zersplitterung und stellen eine Art von pathologischem Pluralismus dar, der erstaunlicherweise glaubt, dass die eigene Gruppe eher akzeptiert wird, wenn man eben jene Gruppe, von der man akzeptiert werden möchte, in aggressiver Weise beschuldigt und verdammt. Echter Pluralismus dagegen ist immer ein universeller Pluralismus (integral-aperspektivisch): Man geht zunächst von den Gemeinsamkeiten und Tiefenstrukturen aus, die die Menschen miteinander verbinden: Wir alle leiden und triumphieren, lachen und weinen, empfinden Lust und Schmerz, Erstaunen und Reue; wir alle haben die Fähigkeit, Bilder, Symbole, Begriffe und Regeln zu bilden; wir alle haben 208 Knochen, zwei Nieren und ein Herz; wir alle sind für einen göttlichen Grund offen, wie auch immer wir ihn nennen. Dann nimmt man all die großartigen Unterschiede, oberflächlichen Strukturen, kulturell konstruierten Varianten usw. hinzu, die die einzelnen Gruppen und die einzelnen Menschen so unterschiedlich und einzigartig machen. Wenn man aber mit den Unterschieden und dem Pluralismus beginnt und den Schritt zum Universellen nicht vollzieht, dann hat man nur das Aperspektivische, nicht aber das Integrale – man hat, mit anderen Worten, einen pathologischen Pluralismus, aperspektivischen Irrsinn, ethnozentrische Renaissancen und regressive Katastrophen. Natürlich ist nichts dabei, wenn man eine Gruppe in den Vordergrund rückt, die man für wichtig hält. Aber es ist heute praktisch unmöglich, eine Gruppe als "unterdrückt" zu bezeichnen, weil heute alle Gruppen unterdrückt sein wollen, und niemand möchte der Unterdrücker sein. Früher waren weiße Männer die Bösen, aber inzwischen hat es auch sie erwischt. Weiße Männer sind keine einzelne Gruppe mehr, der man Unterdrückung anlasten kann, weil die meisten von ihnen heute behaupten, einer unterdrückten oder marginalisierten Gruppe anzugehören: Sie sind drogensüchtig, körperlich behindert, Alkoholiker, wurden als Kinder sexuell missbraucht, litten unter der Abwesenheit eines Vaters, wurden von Außerirdischen entführt oder von Frauen in "Erfolgsmaschinen" verwandelt. Sie können niemanden mehr unterdrücken, weil sie viel zu viel damit beschäftigt sind, selbst unterdrückt zu werden. Außerdem kann man dem Essenzialismus zufolge nur etwas über weiße Männer sagen, wenn man selbst ein weißer Mann ist. Man kann also getrost alles vergessen, was Feministinnen über weiße Männer sagen, und besser die weißen Männer selbst fragen, ob sie die Unterdrücker sind. Sie sagen nein. Und daraus folgt: Wir sind ein Land grausam unterdrückter Gruppen, aber es gibt keine einzige unterdrückende Gruppe. Sehr schlau. Dahinter steckt natürlich wiederum schlicht nichts anderes als Narzissmus. Alle Probleme, die ich habe, stammen nicht von mir. Sie stammen vom "anderen", der immer der Böse ist. Das Paradoxe und Tragische daran ist, dass die Fälle echter Unterdrückung, in denen eine Frau, ein Schwuler, ein Schwarzer, ein Indianer, ein weißer Mann ausschließlich wegen seiner Gruppenzugehörigkeit benachteiligt wird, kaum mehr wahrgenommen werden, weil sie im Lärm tausend anderer untergehen, die bei den banalsten und oft einfach unvermeidlichen Enttäuschungen des Lebens "Unterdrückung!" schreien. Sara tritt also für einen universellen, nicht einen ethnozentrischen Pluralismus ein, und dies ist unglaublich wohltuend. "Ich sagte also zu ihm: 'Nein, ich glaube nicht, dass man Cherokee sein muss, um eine innere Erleuchtung dieser Art zu haben.' Ich glaube ganz und gar nicht, dass diese inneren Erfahrungen kulturell konstruiert sind, oder was meinen Sie?" Jedenfalls nicht vollständig. Kulturelle Konstruktion ist bestenfalls einer der vier Quadranten (unten links). Was ich immer herauszustellen versuche, sind die universellen oder tiefen Merkmale dieser Erfahrungen – z.B. eben einer inneren Erleuchtung –, die überall, wo sie auftreten, eine Ähnlichkeit aufweisen. Aber sie haben natürlich gewisse oberflächliche Merkmale, durch die sie sich in den einzelnen Kulturen unterscheiden, weshalb eine gewisse kulturelle Konstruktion in der Tat vorhanden ist, aber bei weitem nicht in dem Umfang, wie sich dies die Vertreter der extremen Postmoderne vorstellen." "Und sind diese kulturellen Oberflächenstrukturen auch noch an der Stelle der unmittelbaren Kommunion mit diesem inneren Wesen des reinen Lichts vorhanden?"
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"In gewissem Umfang ja, würde ich sagen. Wenn solche Erfahrungen z. B. in der tibetischen Tradition auftreten, dann sieht das innere Wesen niemals wie Jesus von Nazareth aus. Und wenn umgekehrt eine solche Erfahrung bei einem Christen auftritt, hat das innere Wesen in den seltensten Fällen vier Arme, was in Tibet wiederum (in der Gestalt des Chenresi) eher die Regel ist." "Also spielt der kulturelle Hintergrund auch im Augenblick der unmittelbaren Erfahrung eine gewisse Rolle." "Ja, bis hin zum vollständigen Verlöschen. Aber wie Sie sagen, man muss kein Cherokee sein, um solche Erfahrungen haben zu können. Dass sie zum Teil kulturell geformt sind, bedeutet nicht, dass sie nur das Produkt des eigenen kulturellen oder Gruppenhintergrunds sind. Diese extreme konstruktivistische Sichtweise ist eine schreckliche Verzerrung religiöser Erfahrung. Sie reduziert alle spirituellen Wirklichkeiten auf nichts als vom Menschen geschaffene Symbole. Der Mensch erschafft aber nicht den GEIST, der GEIST erschafft den Menschen! Ich glaube, dass diese Leute es eher umgekehrt sehen. Ich finde es jedenfalls wichtig, die universellen oder tiefen Merkmale dieser Erfahrungen ebenso zu beachten wie die Merkmale der kulturellen Oberfläche und lokale Varianten. Beides ist sehr wichtig." "Nun, darum geht es meinen Freundinnen und mir. Wir möchten unsere Traditionen erklären, aber uns interessieren auch die Gemeinsamkeiten mit anderen Traditionen." In diesem Sinne ging die Diskussion weiter. Sara übte deutliche Kritik an der Ökopsychologie ("sie berücksichtigt die inneren Dimensionen nicht"), an der Kunsttheorie, die letztlich die Kunst ignoriert ("sie reden über alles Mögliche, aber nicht über Kunst"), am betrüblichen Zustand der extremen Postmoderne ("nichts als Zersplitterung") und an der Entwertung der Ästhetik zugunsten einer EsSprache ("Anthropologie über Kunst"). Sie wird mir einige ihrer Schriften über die Theorie der Ästhetik und etwas von ihren künstlerischen Arbeiten schicken. Ich mag sie sehr; ich freue mich, dass wir miteinander in Verbindung gekommen sind.
Dienstag, 19. August Inner Directions bringt eine Neuauflage von Talks with Sri Ramana Maharshi (dt. Gespräche des Weisen vom Berge Arunachala, Interlaken, 1984) heraus, in dem die Lehren dieses außerordentlichen Weisen sehr gut zusammengefasst sind. Ich wurde gebeten, ein Vorwort zu schreiben, und war gerne dazu bereit. Ramana war vielleicht kein exemplarischer Vertreter einer integralen Sichtweise, aber seine eigene Selbst-Erkenntnis – oder die Erkenntnis der immer schon vorhandenen Wahrheit des Zeugen und seines allgegenwärtigen Grundes im Einen Geschmack – hat nicht ihresgleichen. In dieses Vorwort nahm ich einige der hinweisenden Darlegungen auf, die ich in einem der Naropa-Seminare gegeben hatte, und dies schien irgendwie sehr gut zu passen. Das Naropa-Institut ist nach dem großen indischen Lehrer Mahasiddha Naropa (11. Jh.) benannt, der eine bedeutende Position an der buddhistischen Klosteruniversität Nalanda innehatte, die zuzeiten über 10 000 Studenten hatte und eines der wahrhaft großen Zentren der Gelehrsamkeit in der Welt war. In dieser Zeit, zwischen dem 8. und 11. Jh. n. Chr., erreichte die nichtduale Tradition in Indien auch eine Blüte, wie sie vorher und nachher in der Welt nicht mehr auftrat. Diese nichtduale Schau – in Gestalt des Vedanta, Shaivismus, Mahayana- und Vajrayana-Buddhismus – ist das kostbare Geschenk Indiens an die Welt, das seinen reinsten, elegantesten und großartigsten Ausdruck in dem schlichten Weisen vom Berge Arunachala fand.
Der Weise des Jahrhunderts27 Ich werde oft gefragt: "Welches Buch würden Sie als einziges auf eine einsame Insel mitnehmen?" Eines der zwei oder drei Bücher, die ich dann nenne, ist das, welches Sie in Händen halten, die Gespräche von Sri Ramana Maharshi. Und es steht ganz oben auf dieser Liste: In ihm spricht der größte Weise dieses Jahrhunderts, der vielleicht mehr spirituelle Erkenntnis besaß als irgendjemand vor oder nach ihm. Eines der vielen erstaunlichen Dinge an diesen Gesprächen ist die unerschütterliche Sicherheit des Tons und des Stils, die Stimme selbst. Damit ist nicht gemeint, dass diese Stimme in irgendeiner Weise starr oder dogmatisch wäre; Ramana spricht vielmehr vom ersten bis zum letzten Wort mit einer überzeugenden Reife. Es ist, als hätte Ramana seine Erkenntnis schon ganz ausgeformt – oder vielleicht sollten wir sagen, ganz formlos – empfangen und diese keiner weiteren Entwicklung mehr bedurfte. Er spricht schlicht aus dem Absoluten und als dieses, aus dem Selbst, der reinsten Leerheit, die das Ziel und der Urgrund der ganzen manifesten Welt ist und nichts anderes als diese Welt. Mit Shankara pflegte Ramana zu sagen: Die Welt ist eine Täuschung; Nur Brahman ist wirklich. Brahman ist die Welt. Diese tiefe Erkenntnis unterscheidet Ramanas echte Erleuchtung von den vielen Thronprätendenten unserer Zeit, als da sind Tiefenökologie, Ökofeminismus, Gaia-Renaissance, Göttinnenkult, Ökopsychologie, Systemtheorie und das Gewebe des Lebens: Keine dieser Strömungen hat die ersten beiden Zeilen begriffen, und im Gegensatz zu ihren volltönenden Behauptungen haben sie auch die dritte nicht verstanden. Und deshalb müssen all diejenigen, die bloß der manifesten Welt verfallen sind – von den Kapitalisten bis zu den Sozialisten, von den Umweltverschmutzern bis zu den Umweltfreaks, von den Egozentrikern bis zu den Ökozentrikern –, die Botschaft Ramanas so dringlich hören. Was und wo ist dieses Selbst? Wo ist meine Wohnstätte als Das? Zweifellos würde Ramana diese – und eigentlich alle anderen – Fragen so beantworten: Wer ist es, der dies wissen will? Was in Ihnen gewahrt jetzt in diesem Augenblick diese Buchseite? Wer ist der Erkenner, der die Welt erkennt, aber selbst nicht erkannt werden kann? Wer ist der Hörer, der den Vogel hört, aber selbst nicht gehört werden kann? Wer ist der Seher, der die Wolken sieht, aber selbst nicht gesehen werden kann? So entsteht Selbst-Erkundung, Ramanas besonderes Geschenk an die Welt. Ich habe Gefühle, aber ich bin nicht diese Gefühle. Wer bin ich? Ich habe Gedanken, aber ich bin nicht diese Gedanken. Wer bin ich? Ich habe Wünsche, aber ich bin nicht diese Wünsche. Wer bin ich? So dringt man immer weiter zum Ursprung des eigenen Gewahrens vor, zu demjenigen, was Ramana oft das "Ich-Ich" nannte, weil dieses das gewöhnliche Ich gewahrt. Man dringt immer weiter zum Zeugen vor, dem Ich-Ich, und man ruht als Das. Ich bin nicht Objekte, nicht Gefühle, nicht Wünsche, nicht Gedanken.
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Aber dann begehen viele Menschen einen unseligen Fehler bei dieser Selbst-Erkundung. Sie glauben, dass sie, wenn sie als das Selbst oder der Zeuge ruhen, etwas sehen, etwas fühlen oder etwas ganz Erstaunliches, Besonderes, Spirituelles wahrnehmen würden. Aber man sieht gar nichts. Wenn man etwas sieht, ist dies wieder nur ein Objekt, wieder nur ein Gefühl, ein Gedanke, eine Empfindung, ein Bild. Aber {[man ist alle diese] es sind alles} Objekte; diese sind gerade, was man selbst nicht ist. Wenn man also im Zeugen ruht und erkennt: Ich bin nicht Objekte, ich bin nicht Gefühle, ich bin nicht Gedanken, nimmt man nichts weiter wahr als eine Empfindung der Freiheit, der Befreiung, der Loslösung. Man löst sich von der furchtbaren Einengung der Identifikation mit diesen kleinen endlichen Objekten, dem kleinen Körper, dem kleinen Geist und dem kleinen Ich, alles Objekte, die man sehen kann und die daher nicht der wahre Seher sind, das wahre Selbst, der wahre Zeuge, der man in Wirklichkeit ist. Man sieht also nichts Besonderes. Alles, was ins Bewusstsein tritt, ist gut so. Wolken ziehen am Himmel vorüber, Gefühle ziehen im Körper vorüber, Gedanken ziehen im Geist vorüber, und man kann dies alles mühelos bezeugen. Dies alles entsteht spontan im eigenen gegenwärtigen mühelosen Gewahren. Und dieses bezeugende Gewahren ist selbst nichts Spezielles, das man sehen könnte. Es ist bloß eine umfassende Hintergrundempfindung der Freiheit, der reinen Leerheit, und in dieser reinen Leerheit, die man ist, entsteht die ganze manifeste Welt. Man ist diese Freiheit, Offenheit, Leerheit, nicht irgendetwas Kleines, Endliches, das in ihr entsteht. Wenn man in diesem leeren, freien, leichten, mühelosen Bezeugen ruht, stellt man einfach fest, dass die Wolken im weiten Raum des eigenen Gewahrens entstehen. Die Wolken entstehen in einem selbst: Und dies gilt so konkret, dass man die Wolken schmecken kann, dass man eins mit den Wolken ist. Sie sind so nahe, dass sie gewissermaßen innerhalb der eigenen Haut sind. Der Himmel und das eigene Bewusstsein sind eins geworden, und alles am Himmel zieht mühelos durch dieses Bewusstsein. Man kann die Sonne umarmen, die Berge verschlingen, so nahe sind sie. Im Zen heißt es: "Den Pazifik in einem einzigen Schluck austrinken", und das ist das Einfachste der Welt, wenn innen und außen nicht mehr zwei sind, wenn Subjekt und Objekt nicht dual sind, wenn der Betrachter und das Betrachtete Ein Geschmack sind. Deshalb gilt: Die Welt ist eine Täuschung, d.h., man ist überhaupt kein Objekt; nichts, was man sehen kann, ist letztlich wirklich. Man ist neti neti, nicht dies, nicht das. Und keinesfalls darf man seine Eriösungshoffnung auf dasjenige richten, was endlich, zeitlich, vorübergehend, trügerisch und leidbringend ist. Brahman allein ist wirklich, das Selbst (das eigenschaftslose Brahman-Atman). Der reine Zeuge, das zeitlose Ungeborene, der formlose Seher, das strahlende Ich-Ich, die strahlende Leerheit allein ist wirklich. Dies ist deine eigene Verfassung, deine Natur, dein Wesen, deine Gegenwart und deine Zukunft, dein Wunsch und dein Schicksal, und doch ist dies immer und immer schon als die reine Gegenwart gegenwärtig. Brahman ist die Welt, Leerheit und Form sind nicht-zwei. Nachdem man erkannt hat, dass die manifeste Welt eine Täuschung ist, und nachdem man erkannt hat, dass Brahman allein wirklich ist, kann man sehen, dass das Absolute und das Relative nicht-zwei oder nichtdual sind, dass der Seher und alles Gesehene nicht-zwei sind, dass Brahman und die Welt nicht-zwei sind – und all dies ist weiter nichts als der Gesang der zwitschernden Vögel. Die ganze Welt der Form existiert nirgendwo anders als im eigenen gegenwärtigen formlosen Gewahren: Man kann den Pazifik in einem einzigen Zug austrinken, weil die ganze Welt buchstäblich nur im eigenen reinen Selbst existiert, dem allgegenwärtigen großen Ich-Ich. Schließlich und vor allen Dingen würde uns Ramana daran erinnern, dass man das reine Selbst – und damit die große Befreiung – nicht erlangen kann, so wenig, wie man seine Füße oder seine Lungen erlangen kann. Man gewahrt den Himmel schon, man hört die einen umgebenden Geräusche schon, man bezeugt die Welt schon. Der erleuchtete Geist oder das reine Selbst ist jetzt schon zu einhundert Prozent gegenwärtig – nicht neunundneunzig Prozent, sondern wirklich einhundert Prozent. Wie Ramana immer wieder sagte, ist das Selbst (oder die Erkenntnis des Selbst), wenn es ins Dasein tritt, wenn diese Erkenntnis eine Antwort in der Zeit hat, bloß wieder ein weiteres Objekt, ein weiterer vorübergehender, endlicher Zustand. Das Selbst kann man nicht erreichen: Das Selbst liest gerade diese Seite. Nach dem Selbst kann man nicht schauen: Das Selbst schaut jetzt aus den eigenen Augen. Das Selbst kann man nicht erlangen: Es liest jetzt gerade diese Zeilen. Man kann in keiner Weise erlangen, was man niemals verloren hat. Und wenn man etwas erlangt, würde Ramana sagen, dann ist dies sehr schön, aber es ist nicht das Selbst. Wenn Sie also die folgenden Zeilen des größten Weisen der Welt lesen und vielleicht glauben, das Selbst oder den GEIST nicht verstehen zu können, dann ruhen Sie einfach in demjenigen, das nichts versteht, und eben dies ist der GEIST. Wenn Sie das Selbst oder den GEIST nicht zu "fassen" bekommen, dann ruhen Sie in demjenigen, das ihn nicht fassen kann: Eben dies ist der GEIST. Wenn Sie also glauben, den GEIST zu verstehen, dann ist dies der GEIST. Wenn Sie glauben, ihn nicht zu verstehen, dann ist dies der GEIST. Und so können wir mit Ramanas größter und geheimster Botschaft schließen: Der erleuchtete Geist ist nicht schwer zu erlangen, sondern unmöglich zu vermeiden. In den Worten des großen Meisters: Es gibt weder Schöpfung noch Zerstörung; weder Schicksal noch freien Willen; weder einen Weg noch ein Ziel: Dies ist die endgültige Wahrheit.
Mittwoch, 20. August Ich bin etwas früher aufgestanden als üblich und konnte daher mein tägliches Lesepensum erledigen, bevor Mitch und seine neue Freundin Freada ankamen. Für Band 2 habe ich jetzt etwa 500 Bücher hinter mich gebracht, und noch einmal so viele liegen vor mir: über Anthropologie, Ökologie, Feminismus, Postmoderne, Kulturwissenschaften, postkoloniale Studien, und der größte Teil davon ist leider schiere Öde. Obendrein pflegen diese Leute einen kryptischen Stil von bleierner Schwere. Man kann ganze Kapitel lesen, ohne einen einzigen Satz zu verstehen; die Bedeutungslosigkeit nimmt einem den Atem. Im besten Fall schleppt sich diese Prosa gelehrtenschweißtriefend dahin, immer am Rande einer Nah-Lebens-Erfahrung.
Donnerstag, 21. August Freada ist wirklich ein prächtiges Mädchen. Attraktiv, intelligent, offen, wach. Mitchell lebt in ihrer Nähe richtig auf, worüber ich sehr
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glücklich bin. Mittwochabend haben wir für Mitch eine Party geschmissen; einige Leute wollten ihn kennen lernen, einige andere mich, also lud ich sie alle ein und schlug so mehrere Fliegen mit einer Party. Jetzt sind sie wieder weg. Es war großartig, sie alle zu sehen. Ich glaube, dass die Beziehung halten wird. Shiva und Shakti finden einander doch immer, und wer möchte unken?
Montag, 25. August Sara Bates hat auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht hinterlassen und mich eingeladen, an einer Konferenz teilzunehmen, die von der San Francisco Art Commission und von der Society for American Indian Studios gefördert wird. Sie war außerordentlich liebenswürdig: "Sie sind der einzige Autor, den ich in letzter Zeit gelesen habe und der die integrale interkulturelle Sichtweise wirklich verstanden hat." Sie sandte mir sogar eines ihrer Werke, und es ist wirklich sehr schön. Die Bilder zeigen dreieinhalb Meter große Mandalas, die Sara aus Hunderten natürlicher und künstlicher Objekte und Materialien am Boden geschaffen hat. Ihre Kunst ist eine Art Integration und Zusammenführung moderner (abstrakte Muster), postmoderner (multiperspektivischer) und traditioneller Themen (in ihrem Fall Themen der Indianer). Das Volk der Cherokee umfasst sieben Clans, den Wolfsclan, den Hirschclan, den Vogelclan, den roten Clan, den blauen Clan, den Clan der wilden Kartoffel und den Clan der Wirbelwinde. Sara ist Wolfsclan-Cherokee, weshalb sie in ihren Kunstwerken entsprechende Elemente verwendet. Vor allem fasziniert mich an ihrer Arbeit die Art, wie sie Elemente benutzt, die eine kollektive und miteinander verbundene Menschheit zeigen – auch hier wiederum nicht ethnozentrischer, sondern universeller Pluralismus. Aus einer ihr gewidmeten Broschüre: "Viele Künstler bedienen sich aus der Geschichte, wenn sie über ihre jeweilige Identität als Indianer, als Frau oder als Künstler im Umfeld der Kunstgeschichte schreiben wollen. Sie verwenden große Anstrengungen darauf zu beschreiben, wodurch sie sich von anderen Menschen unterscheiden [Gruppen-Identität oder ethnozentrischer Pluralismus]. Bates dagegen benutzt die Geschichte und Philosophie ihres Erbes als Indianerin im Allgemeinen und als Mitglied der Cherokee im Besonderen, um darüber zu reden, wie ähnlich wir einander sind und um unsere gegenseitige Verbundenheit zu beschreiben." Dies ist weltzentrischer oder universeller Pluralismus. Es ist Balsam für unsere auseinander gerissenen Seelen, für den Albtraum der Identitätspolitik, der Politik des Narzissmus, der Politik des Selbstmitleids. Dass Sara in ihrer Kunst einen universellen Pluralismus zum Ausdruck bringt und sich damit den ebenso modischen wie grausamen Trends des ethnozentrischen Pluralismus und der extremen Unterschiedlichkeit kraftvoll entgegenstellt, ist einfach großartig.
Freitag, 29. August Es gibt da eine großartige Rockgruppe namens Live; der Leadsänger ist Ed Kowalczyk. Ihre CD Throwing Copper wurde über fünf Millionen Mal verkauft und zählt zu meinen Lieblings-CDs. Die Gruppe gibt in der Gegend ein Konzert, und Ed rief mich an, um zu fragen, ob er kurz vorbeischauen könnte – die Kurze Geschichte hat ihn offenbar sehr beeindruckt. Ich sagte ja, kommen Sie doch vorbei. Ed ist 26, intelligent, gut aussehend und überhaupt ein sehr angenehmer Mensch. Er hat eine ausgeprägt spirituelle Seite und möchte immer mehr Musik schreiben, die dies zum Ausdruck bringt. Er und seine Verlobte Erin sind wirklich sehr liebenswürdige, aufrichtige Menschen. Wir verbrachten den Abend miteinander, und ich versprach, seine Fortschritte auf dem Weg zu einer spirituelleren Musik zu verfolgen. Marci ist bei ihren Verwandten in Pennsylvania. Sie sagte, dass sie mich sehr vermissen würde, aber was sie wirklich schlimm fand, war, dass sie Ed nicht sah.
Sonntag, 31. August Eine Fahrkarte nach Athen Pathways: Warum hat der GEIST überhaupt ein Interesse, sich zu manifestieren, vor allem, wenn diese Manifestation notwendigerweise schmerzhaft und nur unter der Bedingung möglich ist, dass er seine eigene wahre Identität vergessen muss? Warum wird Gott Mensch? KW: Ah, Sie fangen also mit den einfachen Fragen an. Nun, ich will Ihnen einige theoretische Antworten geben, die im Laufe der Jahre vorgeschlagen wurden, und dann werde ich von meinen persönlichen Erfahrungen sprechen. Dieselbe Frage habe ich selbst einigen spirituellen Lehrern gestellt, und einer von ihnen gab eine kurze, klassische Antwort: "Es macht eben keinen Spaß, allein zu essen." Das ist vielleicht ein bisschen flapsig, aber je mehr man darüber nachdenkt, umso mehr scheint dies doch eine vernünftige Antwort zu sein. Nehmen wir doch einmal nur so zum Spaß für einen Augenblick in blasphemischer Weise an, dass Sie und ich GEIST sind, Tat Tvam Asi. Warum würden Sie, wenn Sie der allmächtige Gott wären, eine Welt hervorbringen? Eine Welt, in der es, wie Sie sagen, notwendigerweise Tränen, Aufruhr und Schmerz gibt? Warum würden Sie als das Eine jemals die Vielen hervorbringen? Pathways: Vielleicht weil es keinen Spaß macht, allein zu essen? KW: Könnte das denn nicht irgendwie sinnvoll erscheinen? Sie sind also der Eine und Einzige, der Alleinige und der Unendliche. Was würden Sie als Nächstes tun? Sie sind in alle Ewigkeit in Ihre Herrlichkeit eingetaucht, Sie baden von Äon zu Äon in Ihrer eigenen Wonne, und was dann? Früher oder später könnte es Ihnen doch einfallen, dass es doch einfach Spaß machen müsste, so zu tun, als ob man nicht man selbst sei. Ich meine, was soll man denn sonst tun? Was kann man sonst tun? Pathways: Eine Welt hervorbringen. KW: Meinen Sie nicht auch? Und dann wird es interessant. Als Kind habe ich immer versucht, mit mir selbst Schach zu spielen. Haben Sie das jemals ausprobiert? Pathways: Ja, ich erinnere mich an so etwas.
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KW: Und funktioniert das? Pathways: Nicht so gut, weil ich immer schon wusste, was der nächste Zug meines Gegners sein würde. Ich spielte auf beiden Seiten, also konnte ich mich nicht "überraschen". Ich wusste immer schon, was ich auf beiden Seiten tun würde, weshalb das Spiel nicht besonders interessant war. Man braucht zum Spielen immer einen "Anderen". KW: Ja, genau hier liegt das Problem. Man braucht einen "Anderen". Wenn man also das einzige Seiende im ganzen Sein ist und spielen möchte, dann muss man in die Rolle des anderen schlüpfen und vergessen, dass man auf beiden Seiten spielt. Sonst macht das Spiel keinen Spaß, wie Sie sagen. Man muss mit solcher Überzeugung so tun, als sei man der andere Spieler, dass man vollkommen vergisst, dass man beide Rollen spielt. Wenn man nicht vergisst, dann ist es kein Spiel, dann macht es keinen Spaß. Pathways: Wenn man also spielen möchte – ich glaube, dass der östliche Begriff hierfür lila heißt –, dann muss man vergessen, wer man ist. KW: Ja, das meine ich. Und dies ist auch im Kern genau die Antwort, die Mystiker in der ganzen Welt gegeben haben. Wenn man der Eine ist und aus reinem Überschwang, reinem Übermut, reiner Überfülle spielen, sich amüsieren, Spaß haben möchte, dann muss man zuerst die Vielen zur Erscheinung bringen und dann vergessen, dass man selbst die Vielen ist. Sonst wird es kein Spiel. Manifestation, Inkarnation ist das große Spiel, bei dem der Eine aus reinem Spaß an der Sache spielt, dass er die Vielen ist. Pathways: Aber es ist nicht immer lustig. KW: Ja und nein. Die manifeste Welt ist eine Welt der Gegensätze: Lust und Schmerz, Oben und Unten, Gut und Böse, Subjekt und Objekt, Licht und Schatten. Wenn man aber das große kosmische Spiel spielt, dann setzt man eben dies in Bewegung. Wie könnte man es anders anstellen? Wenn es keine Parteien, keine Spieler, kein Leid und keine Vielen gibt, dann bleibt man eben der Eine und Einzige, der Alleinige und Hohe. Aber es macht eben keinen Spaß, allein zu essen. Pathways: Wenn man also das Spiel der Manifestation beginnt, ruft man damit die Welt des Leidens ins Dasein. KW: Es sieht ganz so aus, nicht wahr? Die Mystiker scheinen dies zu bestätigen. Aber es gibt einen Weg aus dem Leiden, eine Möglichkeit, von Gegensätzen frei zu sein, und diese besteht in der überwältigenden und unmittelbaren Erkenntnis, dass der GEIST nicht die Gegensatzpaare Gut und Böse, Lust und Schmerz, Licht und Finsternis, Leben und Tod, Ganzes und Teil oder ganzheitlich und zergliedernd ist. Der GEIST ist der große Spieler, der alle diese Gegensatzpaare gleichermaßen hervorbringt – "Ich, der Herr, lasse das Licht über Gute und Böse gleichermaßen scheinen, ich, der Herr, tue all dies" –, und die Mystiker in aller Welt bestätigen dies. Der GEIST ist nicht die gute Hälfte der Gegensätze, sondern der Urgrund aller Gegensätze, und unser Heil besteht nicht darin, dass wir die gute Hälfte des Dualismus finden, sondern den Ursprung beider Hälften des Dualismus, denn dies sind wir in Wirklichkeit. Wir sind beide Seiten des großen Spiels des Lebens, weil wir – Sie und ich bis in die tiefsten Winkel unseres Selbst – diese beiden Gegensätze geschaffen haben, um ein spannendes kosmisches Schachspiel gegen uns selbst auszutragen. Dies ist jedenfalls die theoretische Antwort, die Mystiker fast einhellig geben. "Nichtdualität" bedeutet, wie es in den Upanischaden heißt, "von den Paaren frei zu sein". Die große Befreiung besteht also darin, von Gegensatzpaaren, von Dualität frei zu sein und zum nichtdualen Einen Geschmack zu gelangen, aus dem die Zweiheit hervorgeht. Dies ist Befreiung, weil man damit den unmöglichen schmerzlichen Traum beendet, der einen das ganze Leben damit zubringen lässt, ein Oben ohne ein Unten zu finden, ein Innen ohne ein Außen, ein Gutes ohne ein Böses, eine Lust ohne den unvermeidlichen Schmerz. Pathways: Sie sagten, dass Sie auch eine mehr persönliche Antwort geben wollten. KW: Ja, soweit diese für andere von Bedeutung sein kann. Als ich zum ersten Mal, wenn auch unsicher, Nirvikalpa-Samadhi erlebte, d.h. meditative Versenkung in das formlose Eine, hatte ich, wie ich mich erinnere, das ganz vage Gefühl, dass ich in dieser wunderbaren Weite nicht allein sein wollte. Sehr undeutlich, aber auch sehr nachdrücklich empfand ich, dass ich dies mit jemandem teilen wollte. Was könnte man also in diesem Zustand der Einsamkeit tun? Pathways: Die Welt erschaffen. KW: Das scheint mir die Antwort zu sein. Und ich wusste auch, wie laienhaft auch immer, dass ich, wenn ich aus dieser formlosen Einheit herausgehen und die Welt der Vielen erkennen würde, leiden müsste, weil die Vielen einander immer wehtun, aber einander auch helfen. Und wissen Sie was? Ich war froh, den Frieden des Einen aufzugeben, auch wenn ich wusste, dass ich dies mit dem Schmerz der Vielen bezahlten müsste. Das ist nun nur eine ganz schwache Ahnung davon, was die großen Mystiker gesehen haben, aber diese meine beschränkte Erfahrung scheint doch im Einklang mit ihrer großen Aussage zu stehen: Man ist das Eine, das die Vielen, Schmerz und Lust und alle Gegensätze aus freien Stücken entstehen lässt, weil man nicht in der exquisiten Einsamkeit der Unendlichkeit verharren und weil man nicht allein essen will. Pathways: Und das damit verbundene Leiden? KW: Wird als Teil des notwendigen Spiels des Lebens aus freien Stücken gewählt. Eine manifeste Welt ist ohne die Gegensätze von Lust und Schmerz nicht zu haben. Und um sich vom Schmerz zu befreien – der Sünde, dem Leiden, duhkha –, muss man sich daran erinnern, wer und was man in Wirklichkeit ist. Dieses Erinnern, diese Anamnesis – "Tut dies zu meinem Gedächtnis" – bedeutet: "Tut dies zum Gedächtnis an das Selbst, das ihr in Wirklichkeit seid": Tat Tvam Asi. Die großen mystischen Religionen in aller Welt bestehen aus einer Reihe von tiefen Praktiken, die das kleine Selbst zum Schweigen bringen sollen, das man zu sein vorgibt – und das erst den Schmerz und das Leiden verursacht –, und als das große Selbst zu erwachen, das der wahre Grund und das wahre Ziel ist: "Lasst dieses Bewusstsein in euch sein, das in Jesus Christus war." Pathways: Ist dies ein Alles-oder-nichts-Ereignis? KW: Normalerweise nicht. Oft ist es eine Aufeinanderfolge von leisen Ahnungen des Einen Geschmacks, von Ahnungen der Tatsache, dass man eins mit absolut jeglicher Manifestation in ihren guten und schlechten Aspekten ist, mit ihrem Schüttelfrost und Fieber, ihrer Herrlichkeit und ihrem Schmerz. Man ist ganz buchstäblich der Kosmos. Meist aber erkennt man diese letzte Tatsache in immer deutlicheren Ahnungen der Unendlichkeit, die man selbst ist, und irgendwann erkennt man, warum man dieses schaurig schöne Spiel des Lebens inszeniert hat. Letztlich ist es aber durchaus kein grausames Spiel, weil man ganz allein dieses Drama, dieses Lila, diese Kenosis in Gang gesetzt hat. Pathways: Was ist von der Auffassung zu halten, dass diese Erfahrungen des "Einen Geschmacks" oder "kosmischen Bewusstseins" nur ein Nebenprodukt der Meditation und daher nicht "wirklich wirklich" sind? KW: Nun, dies kann man von jeder Form von Erkenntnis sagen, die von einem Instrument abhängt. "Kosmisches Bewusstsein" hängt oft vom Instrument der Meditation ab. Wo ist das Problem? Einen Zellkern sieht man nur unter einem Mikroskop. Würde man daher also sagen, dass der Zellkern nicht wirklich ist, weil er nur ein Nebenprodukt des Mikroskops ist? Würde man sagen, dass die Jupitermonde nicht wirklich sind, weil sie von einem Fernrohr abhängen? Die Leute, die diesen Einwand vorbringen, sind in aller Regel nicht bereit, durch das Instrument der Meditation zu blicken, wie die Kirche sich weigerte, durch Galileis Fernrohr zu blicken und so die Jupitermonde anzuerkennen. Sollen sie mit ihrer Weigerung glücklich werden. Aber versuchen wir trotzdem nach Kräften und
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hoffentlich von reiner Nächstenliebe oder Mitgefühl angetrieben, sie dazu zu überreden, wenigstens einmal einen Blick zu wagen und sich selbst zu überzeugen. Man soll sie nicht zwingen, aber man kann sie einladen. Ich glaube, dass sich hier für sie eine ganz andere Welt auftun könnte, eine Welt, die von allen unzählige Male bestätigt wurde, die durch das Fernrohr und Mikroskop der Meditation geblickt haben. Pathways: Könnten Sie uns sagen ... KW: Wenn ich unterbrechen darf – dürfte ich hier eine meiner Lieblingsstellen von Aldous Huxley zitieren? Pathways: Gerne. KW: Es ist aus After Many a Summer Dies the Swan: "'Mir ist's lieber, wenn meine Worte eine Beziehung zu Tatsachen haben. Deshalb interessiere ich mich für die Ewigkeit – als seelisches Erlebnis. Denn die ist eine Tatsache.' 'Vielleicht für Sie', sagte Jeremy. 'Für jeden, der willens ist, die Bedingungen zu erfüllen, unter denen die Ewigkeit erlebt werden kann.' 'Und warum sollte jemand willens sein, diese Bedingungen zu erfüllen?' 'Warum geht man nach Athen und besichtigt den Parthenon? Weil es sich lohnt. Das Gleiche gilt von der Ewigkeit. Das Erleben des zeitlos Guten ist all der Mühe wert, die es kostet.' 'Des zeitlos Guten?', wiederholte Jeremy mit Widerwillen. 'Ich weiß nicht, was dieses Wort bedeutet.' 'Wie könnten Sie das auch wissen?', gab Mr. Propter zurück. 'Sie haben sich nie Ihre Fahrkarte nach Athen gekauft.'" Pathways: Kontemplation ist also die Fahrkarte nach Athen? KW: Meinen Sie nicht auch? Pathways: Natürlich. Aber könnten Sie uns nicht ein wenig über Ihre eigene Fahrkarte nach Athen erzählen? Könnten Sie uns ein wenig von Ihren Meditationserfahrungen berichten? Und was ist "integrale Praxis", und was hat diese dem heutigen spirituellen Sucher zu bieten? KW: Was meine eigenen Erfahrungen angeht – ich weiß nicht, ob ich auf beschränktem Raum hierüber etwas Sinnvolles sagen kann. Ich meditiere seit 25 Jahren, und ich vermute, dass meine Erfahrungen nicht so furchtbar anders sind als diejenigen der vielen Menschen, die einen ähnlichen Weg gegangen sind. Aber ich will ein paar Worte zur "integralen Praxis" sagen, weil ich glaube, dass dies das Thema der Zukunft sein könnte. Es ist im Grunde recht einfach, und Tony Schwartz, Autor von Was wirklich zählt, fasste dies als den Versuch zusammen, "Freud und Buddha miteinander zu vermählen". Und damit ist einfach der Versuch gemeint, die Leistungen der westlichen "Tiefenpsychologie" mit den großen Weisheitstraditionen der "Höhenpsychologie" zusammenzubringen. Es ist der Versuch, Es und Geist, Schatten und Gott, Libido und Brahman, Trieb und Göttin, Unteres und Oberes zu integrieren – wie auch immer man es formulieren möchte. Ich denke, es ist klar, was gemeint ist. Pathways: Als tatsächliche Praxis? KW: Ja, die tatsächliche Praxis beruht etwa auf Folgendem. Wenn man einmal von der Großen Verschachtelung des Seins ausgeht, die vom Stoff über Körper, Geist und Seele zum GEIST reicht, wie kann man dann alle diese Ebenen in seinem eigenen Wesen anerkennen, würdigen und zum Tragen bringen? Und wenn man dies tut, wenn man sämtliche Ebenen seines eigenen Potenzials ergreift, würde es nicht dabei helfen, sich an den Ursprung des großen Spiels des Lebens zu erinnern, der nichts anderes ist als das eigene tiefste Selbst? Wenn der GEIST der Urgrund und das Ziel all dieser Ebenen ist, und wenn wir wahrhaftig GEIST sind, könnte uns dann nicht das engagierte Ergreifen all dieser Ebenen helfen, uns daran zu erinnern, wer und was wir wirklich sind? Nun, das ist die Theorie, die ich hier in recht dürre Worte gefasst habe. Konkret geht es um Folgendes: Man nimmt eine Praxis aus jeder dieser Ebenen und widmet sich diesen intensiv. Auf der physischen Ebene könnte dies z. B. Hatha-Yoga, Hanteltraining, Vitaminzufuhr, Ernährungsberatung, Jogging usw. sein. Auf der emotionell-körperlichen Ebene könnte man es mit tantrischer Sexualität versuchen, mit Therapie-Richtungen, durch die man in Kontakt mit seiner Gefühlsseite kommt, Bioenergetik, Taiji usw. Auf der mentalen Ebene kämen kognitive Therapie, Gesprächstherapie, psycho-dynamische Therapie usw. in Frage. Auf der Ebene der Seele wären es kontemplative Meditation, Gottheitsyoga, subtile Kontemplation, zentrierendes Gebet usw. Auf der Ebene des Geistes schließlich widmet man sich nichtdualen Praktiken wie z. B. Zen, Dzogchen, Advaita-Vedanta, Kaschmir-Shaivismus, formloser christlicher Mystik usw. Ich zögere, eine solche Auflistung zu geben, weil es, wie Sie wissen, buchstäblich Tausende großartiger Praktiken auf allen diesen Ebenen gibt, und ich möchte keinesfalls irgendeine davon ausschließen. Wichtig ist einfach der Grundgedanke: Man nimmt eine oder mehrere Praktiken aus jeder Ebene des eigenen Wesens – vom Stoff über den Körper, den Geist und die Seele zum GEIST – und trainiert alle diese Ebenen einzeln und insgesamt, so gut man irgend kann. Man wird sich dann nicht nur auf einer profanen Ebene besser fühlen, sondern man wird auch die Wahrscheinlichkeit außerordentlich verbessern, dass man in seinen eigenen letztgültigen Zustand gelangt, nämlich zum GEIST selbst, zu seiner tiefsten Identität und seinem innersten Impuls. Pathways: Gibt es heute schon Lehrer, bei denen man diese Form integraler Übung lernen kann? KW: Nein, leider noch nicht. Diese Form integraler Praxis ist natürlich eine Zusammenführung von Ost und West, die einander erst vor relativ kurzer Zeit kennen gelernt haben. Andererseits gibt es viele wirklich großartige Lehrer, die für eine oder mehrere der vielen Ebenen des eigenen Wesens zuständig sind, weshalb man zum gegenwärtigen Zeitpunkt einfach eklektisch vorgehen muss – man nimmt sich den besten Lehrer für jede einzelne Ebene. Wählen Sie einen Sport, der Ihnen zusagt, und ein sinnvolles Ernährungsprogramm. Arbeiten Sie auf der psychotherapeutischen Ebene an sich – oft genügt es schon, wenn man einfach seine Träume aufschreibt oder zu einer Gesprächsgruppe geht. Versuchen Sie es mit einem geeigneten Meditationsweg, und engagieren Sie sich karitativ. Ich möchte nicht, dass dies nach etwas irgendwie Faschistischem klingt – aber versuchen Sie einfach mit allen Ihren Kräften, Ihr ganzes Potenzial zu ergreifen, um sich ganz zu erwecken. Pathways: Gibt es wenigstens Lehrer, die in Richtung dieser integralen Praxis gehen? KW: Ja. Es gibt einige wenige Autoren, die heute die Bedeutung eines integralen Ansatzes betonen, und obwohl diese Ansätze alle noch vorläufig sind, sind sie wenigstens ein guter Ausgangspunkt. Versuchen Sie es mit Michael Murphys und George Leonards The Life We Are Given, Tony Schwartz' Was wirklich zählt, Roger Walshs und Frances Vaughans Paths Beyond Ego und meinem eigenen Das Wahre, Schöne, Gute. Der Grundgedanke ist jedenfalls ganz einfach: Wenn man nur auf einer Ebene seines Wesens übt, wird nicht der ganze Mensch erleuchtet. Wenn man nur meditiert, wird man damit nicht automatisch seinen psychodynamischen "Müll" los. Wenn man nur meditiert, geht es in der Arbeit oder in der Ehe nicht automatisch besser. Wenn man andererseits sein Heil nur in der Psychotherapie sucht, kann
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man nicht erwarten, dass man davon schon von der Last des Todes und der Angst befreit werden würde. Gebt Freud, was Freuds ist, und gebt dem Buddha, was des Buddha ist. Vor allem aber: Gebt dem Göttlichen alles von euch selbst, indem ihr alles ergreift, was ihr selbst seid. Du lieber Himmel, ich höre mich beinahe an wie ein Werbespot für die Marines: "Seid alles, was ihr sein könnt." Aber das Entscheidende ist einfach: Je mehr der eigenen Dimensionen man bei seiner Suche nach dem Ursprung dieses Spiels des Lebens ergreift, desto eher entdeckt man die erstaunliche Tatsache, dass man der alleinige Urheber dieses Spiels ist. Es ist durchaus kein theoretischer Vorschlag: Es ist einfach der kürzeste Weg zu einer Fahrkarte nach Athen.
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September Universelle Wahrheit, der Weg des Himmels und der Erde, mit anderen Worten, die Erfahrung des Absoluten und Unendlichen oder, spirituell ausgedrückt, das Dao: Der große Irrtum besteht darin zu glauben, dass man es in irgendeinem Himmel oder einer jenseitigen Welt erlangen könne. Das Dao verlässt man niemals auch nur für einen Augenblick. Was man verlassen kann, ist nicht das Dao. Amakuki Sessan
Dienstag, 2. September Wenn der Körpergeist abfällt, wenn ich nirgendwo mehr gefunden werden kann, dann herrscht eine so unendliche Leerheit, eine so radikale Fülle, von der ein unendliches Leuchten ausgeht. Ich-Ich öffne mich als der Kosmos: Hier, wo kein Objekt die ursprüngliche Reinheit stört, wo es allzu peinlich wäre, von Begriffen zu sprechen, wo die Dualität ihr Antlitz schamvoll verbirgt und das Leiden sich nicht einmal mehr seines Namens entsinnt. Nichts geschieht hier in der Fülle der Unendlichkeit, die das Lied der aus sich selbst seienden Wonne singt, die von den lebendigen Gesten der Selbst-Befreiung erfüllt und glücklich ist, ihre ewige Heimat gefunden zu haben. Unendliche Dankbarkeit trifft in der Lichtung dieses Augenblicks mit äußerster Schlichtheit zusammen, denn da ist einfach das, immer und immer und unabweisbar für immer.
Samstag, 6. September Lady Di und Mutter Teresa sind tot. Die beiden berühmtesten Frauen der Welt haben uns innerhalb einer Woche verlassen. (Die Reaktion der Welt auf ihren Tod war ein schlagendes Beispiel für die Entwicklungspyramide: je mehr Tiefe, desto weniger Spanne.) Diana war nach einhelliger Meinung ein guter Mensch, liebevoll und engagiert. Vor allem aber war sie eine große Schönheit und die Personifikation des Glamours. Sie war wirklich die Prinzessin der Welt. In unserer matten und platten postmodernen Welt, wo alles so unsäglich gleich sein muss, war diese wahre Prinzessin die Verheißung, dass es noch mehr gibt. Sie war auf ihre eigene Weise von einer königlichen, göttlichen Schönheit, und Millionen von Menschen in der ganzen Welt liebten sie tief und aufrichtig, weil sie an die Schönheit erinnerte, die auch in jedem von uns schlummert. Sie war ein Strahl von etwas Höherem, und die Welt reagierte hierauf mit Verehrung. Es war etwas, das über die Person Diana hinaus verwies, aber dieser wunderbare Strahl leuchtete eben durch sie hindurch und niemand anderen. Als ich ihre beiden Söhne William und Harry hinter ihrem Sarg gehen sah, weinte ich wie Millionen anderer Menschen. Mutter Teresa war diesem göttlichen Strahl viel näher und setzte ihn sorgfältiger und ohne Glamour in die Tat um. Sie war weniger eine Person als eine Offenbarung kosmischen Mitgefühls: unerbittlich, von wilder, furchterregender Entschlossenheit. Ich schätzte jedenfalls beide aus ganz unterschiedlichen Gründen sehr, und seit heute Morgen ist sehr viel weniger Licht in der Welt als gestern noch.
Mittwoch, 10. September Kate Olson und T George kamen gestern Abend zu Marci und mir zum Essen. T George ist schon erstaunlich. Wie alt ist er? 72? Ja, und er ist vital und wach und beeindruckend. Es ist heute fast unmöglich, eine erfolgreiche Zeitschrift herauszubringen – neun von zehn gehen nach kurzer Zeit wieder ein –, und doch hat T George zwei Zeitschriften auf die Beine gebracht, Psychology Today und American Health, die beide sehr gut laufen. Ich bin überzeugt, dass er das auch noch mit einer dritten schaffen wird, nämlich Spirituality and Health, aber diesmal wird es wirklich ein hartes Stück Arbeit, denn unter "Spiritualität" stellen sich so viele Menschen so unterschiedliche Dinge vor, wodurch es schwierig sein wird, die Anstrengungen zu bündeln und Leute für die Sache zu gewinnen. Dies liegt natürlich vor allem an der Prä/Trans-Verwechslung: Vieles von demjenigen, was man heute "spirituell" nennt, ist nicht transrationales Bewusstsein, sondern prärationales Gefühl, und dies ist ein echtes Problem – über das wir den größten Teil des Abends diskutierten. Mit Hilfe des Diagramms in Abbildung 4 versuchte ich, einige Punkte zu verdeutlichen. Wachstum und Entwicklung des Menschen verlaufen üblicherweise vom Körper über Verstand und Seele zum GEIST, und zwar nicht als lineare Stufenfolge, sondern in ineinander verschachtelten Wellen, wobei jede Welle ihre Vorgänger einhüllt – wenn alles gut geht. Aber auf praktisch jeder Stufe kann das Höhere das Niedrigere unterdrücken. Statt Einhüllung und Umschließung gibt es dann Verleugnung und Unterdrückung. Statt Transzendierung und Einschließung gibt es Entfremdung und Verdrängung.
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Abbildung 4 Die heilende Spirale Dies gilt insbesondere für das Verhältnis zwischen Körper und Geist (Verstand). Die ersten Lebensjahre sind grundsätzlich sensomotorisch, präverbal und weitgehend prämental: Das Selbst ist nichts als Körper, Gefühle und organische Impulse. Etwa um das dritte Lebensjahr entwickelt sich das symbolische und begriffliche Denken und um das siebte und achte Lebensjahr das konkretoperationale Denken. Idealerweise würde der Geist die früheren physischen Empfindungen, Gefühle, Impulse und Triebe transzendieren und einschließen. Sehr oft aber – und diese Erkenntnis verdanken wir vor allem Freud – verdrängt oder unterdrückt der Geist (der EgoGeist) frühere physische Empfindungen, oft Sexualität oder Aggressivität. Diese unterdrückten Gefühle verschwinden nun nicht einfach, sondern tauchen verkappt als schmerzliche neurotische Symptome wieder auf.28 Die meisten Menschen leiden daher als junge Erwachsene unter verschiedenen Formen einer Dissoziation von Körper und Geist: Sie haben den Kontakt zu ihrem Körper, ihren Gefühlen, der Fülle ihrer organischen Möglichkeiten, zu ihrem élan vital verloren. Das hat zwei konkrete Folgen: Zum einen nimmt dies dem Leben seinen Glanz, und zum anderen wird dadurch jede höhere Entwicklung erschwert. Um also die Gegenwart wieder farbiger zu machen und höheres Wachstum zu ermöglichen, ist es oft notwendig, den Kontakt zum Körper wiederzufinden. Hierfür gibt es viele spezielle Therapien. Einige der Körpertherapien setzen unmittelbar am Körper an (mittels sinnlichen Gewahrens, Rolfing, Bioenergetik usw.), während andere Therapien irgendeine Form der Regression auf das frühkindliche Gewahren bevorzugen. Man regrediert vorübergehend auf den präverbalen Körper, sucht Kontakt zu ihm und macht seinen Frieden mit ihm und integriert ihn dann wieder in den Geist (die klassische Formel hierfür lautet "Regression im Dienste des Ich"). In allen Fällen aber ist es letztlich das Ziel, wieder ganz Kontakt zum Körper und zum Geist zu finden. Wenn Körper und Geist wieder integriert sind, ist es viel einfacher – und wahrscheinlicher –, dass sich das Wachstum über Körper und Geist hinaus in das Reich der Seele und des GEISTES fortsetzt. Im Diagramm sind diese beiden Grundbewegungen, die Regression im Dienste des Ich und die anschließende Progression, als große Schleife eingezeichnet, die beim typischen Erwachsenen zuerst nach unten (Regression) und dann nach oben geht (Transzendenz). Allerdings ist man im regressiven Teil dieser Schleife keineswegs, wie die Romantiker meinen, im Kontakt mit einem verloren gegangenen höheren Urgrund, sondern bloß mit einer niedrigeren physischen Empfindung, die verdrängt war.29 Man stellt nicht wieder den Kontakt zu einem transrationalen Bewusstsein her, das man als Kind hatte und dann verlor, sondern vielmehr zu einem prärationalen Impuls, den man unglücklicherweise verdrängt hat. Diese Verdrängung ist trotzdem schmerzlich und schädlich und kann nur dadurch geheilt werden, dass man die Verbindung zu den entfremdeten Impulsen und physischen Empfindungen wiederherstellt (Regression im Dienste des Ich als Vorübung zu einem Fortschreiten zu einer Transzendierung des Ich). Das Problem mit vielen Therapieformen und den meisten Formen alternativer Spiritualität liegt nun darin, dass man sich auf den Weg dieser heilenden Spirale begibt und aufgrund der Prä/Trans-Verwechslung in der prärationalen, sinnlichen, physischen Phase stecken bleibt. Man regrediert auf Gefühle, Emotionen, Empfindungen, physische Wahrnehmungen, was zunächst völlig in Ordnung und die notwendige erste Hälfte der Reise ist; dann aber bleibt man dabei stehen und nennt dies transrationalen Geist, was aber mit diesem überhaupt nichts zu tun hat. Man versucht, Transrationalität zu erreichen, und endet in der Prärationalität, und das nennt man dann Befreiung. Es ist ein Albtraum. T George und Kate schienen dieser Analyse zuzustimmen, und Kate nahm den Faden auf: "Ich stimme Ihnen zu, aber Sie wollen doch damit nicht sagen, dass alle Gefühle prärational oder egozentrisch sind, oder?" "Nein, keineswegs. Es gibt gewissermaßen Ebenen des Empfindens, von egozentrischen über soziozentrische und weltzentrische zu spirituellen Gefühlen, und dies ist wiederum grob der Weg vom Körper über den Geist und die Seele zum GEIST." "Aber woher weiß man, um welche Gefühle es sich handelt?", fragte Marci. "Wenn man dasitzt und versucht, Kontakt zu seinen Gefühlen zu bekommen, z. B. mit Hilfe von sinnlichem Gewahren, gefühlter Bedeutung, Körperzentrierung, somatischer Therapie, Bioenergetik, dann befindet man sich im egozentrischen Stadium. Dies ist an sich nichts Schlechtes. Es ist sogar die Grundlage aller weiteren Praxis. Aber wenn man auf dieser Ebene bleibt, ist dies eine schwere Regression auf einen präkonventionellen Bewusstseinsmodus. Natürlich ist dies ein herrliches Gefühl – zunächst einmal –, weil man sich von den Zwängen des soziozentrischen Bewusstseins und des gegenseitigen Verständnisses befreit hat. Man schwelgt in sich selbst, indem man dauernd seine Gefühle 'verarbeitet' und in seinen Trieben wühlt; dies fühlt sich eine Weile gut an, bis es – wie Kierkegaard aufzeigte – unvermeidlich in Verzweiflung umschlägt, weil man von dem Kreis des Miteinander abgeschnitten ist, der außerhalb von einem selbst existiert." "Dieser Kreis des Miteinander ist das nächste Stadium", bemerkte T George. "Ja. Man schreitet von egozentrischen Gefühlen zu soziozentrischen Gefühlen fort, vom Ich zum Wir, wenn man diese Gefühle in einem Dialog, der auf gegenseitiges Verständnis und Zuwendung ausgerichtet ist, auf andere bezieht. Dies gilt für Männer und Frauen gleichermaßen; Kohlberg nannte dies den Übergang von der Selbstorientiertheit auf die Reziprozität, Gilligan den Übergang vom
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'selbstsüchtigen Stadium' zum 'Stadium der Zuwendung'. Die Gefühle schließen jetzt einen Kreis des Miteinander, der Fürsorge und des gegenseitigen Verständnisses ein. Man achtet mindestens ebenso sehr auf die Gefühle anderer wie auf seine eigenen. Man ist vom Selbst zur Gruppe fortgeschritten." "Und welches Stadium folgt nach demjenigen der Gruppe?", wollte Kate wissen. "Alle Gruppen", sagte T George. "Ja, das weltzentrische Stadium. Man schreitet von egozentrisch über soziozentrisch zu weltzentrisch fort, vom Ich über das Wir zum Wir Alle. Man interessiert sich nicht mehr nur für den eigenen Stamm, das eigene Volk, die eigene Gruppe, sondern vielmehr für alle Gruppen, alle Völker ohne Ansehen der Rasse, des Geschlechts oder des Glaubens. Und dies fühlt man; es ist keine bloße Abstraktion. Man verlangt schmerzlich nach der Welt, wie seltsam dies auch klingen mag." "Ich kenne dieses Gefühl genau", sagte Kate. "Es taucht manchmal auf, wenn ich zentrierendes Gebet praktiziere. Es ist wie das Bodhisattva-Gelübde." "Ja, und ich glaube, dass dies tatsächlich die nächste Stufe ist: Weltzentrische Gefühle weichen wahrhaft spirituellen Gefühlen, weil man alle fühlenden Wesen einschließt. Das Erstaunliche daran ist, dass man tatsächlich eine zutiefst weltzentrische/spirituelle Empfindung der universellen Zuwendung und des Mitgefühls haben kann. Schopenhauer sagte, dass man dieses Gefühl nur haben kann, wenn wir wirklich alle letztlich ein Ich sind, und ich glaube, dass dies definitiv der Fall ist." Marci warf ein: "Aber dieses ganze universelle Mitgefühl geht verloren, wenn man immer nur versucht, Kontakt zu seinen Gefühlen zu bekommen, in seinem Körper zu bleiben oder seine Emotionen zu verarbeiten. Das geschieht in Naropa die ganze Zeit. Alle versuchen, in ihren Gefühlen zu bleiben, was sie 'spirituell' nennen, aber so erreicht niemals jemand Transzendenz." "Genau", stimmte ich zu, "aber dies ist durchaus nicht auf Naropa beschränkt. Für diese Fixierung auf den sinnlichen oder physischen Modus gibt es inzwischen den Begriff des Bodyism, und dieser Bodyism ist das eigentliche Kennzeichen der modernen und postmodernen Welt. Der Bodyism ist nur ein anderes Wort für Flachland, für den Glauben, dass nur grobstoffliche, sinnliche, empirische Wirklichkeiten 'wirklich' seien. Und die Kultur des Mainstreams und die Gegenkultur sind gleichermaßen vom Bodyism beherrscht, vom Flachland. Es ist ja nichts Neues, dass der naturwissenschaftliche Materialismus die vorherrschende Weltsicht des Mainstreams ist. Aber sehen wir uns doch einmal die gegenkulturellen Auffassungen an: Ökopsychologie, Tiefenökologie, Körpertherapien, Ökofeminismus, das Gewebe des Lebens, die Religionen der Großen Mutter, die immanente Spiritualität, die Körpertherapie: Ihr gemeinsamer Nenner ist, dass die höchste Wirklichkeit die grobstoffliche sinnliche Welt ist. Dies ist, mit anderen Worten, Bodyism, genau derselbe Bodyism, dem der Mainstream anhängt. Willkommen in Flachland, in der reinen Abstiegswelt des modernen und postmodernen wüsten Landes." T George und Kate wollten wissen, warum dieser Bodyism so überhand nehmen konnte. Ich sagte ihnen, dass es sich meiner Meinung nach einfach um die Kehrseite der Moderne handelt.30 Jahrhundertelang war der Westen von einem Aufstiegsideal beherrscht: Gott war rein jenseitig, nur transzendent, und sein Reich war nicht von dieser Welt. Mit der Renaissance und schließlich als Höhepunkt mit der Aufklärung wurde dieses Aufstiegsideal radikal verworfen, und das Kind der transzendenten Wahrheit wurde mit dem Bade ausgeschüttet. Die Folge war, dass der moderne Westen völlig einer rein abgestiegenen Weltsicht verfiel, einem grobstofflichen, sensomotorischen, empirischen Bodyism, mit anderen Worten: dem Flachland. Wenn heute die gegenkulturellen Bewegungen behaupten, dass sie das alte Paradigma der Aufldärung gestürzt hätten oder darüber hinausgelangt seien, dann sind sie ihm in Wirklichkeit doch immer noch verfallen. Sie sind einem reinen Abstiegsraster verhaftet, einem massiven Bodyism und Flachland-Holismus, der nichts als das bloß grobstoffliche Reich wahrnehmen will, und damit reden sie genau dem "alten Paradigma" das Wort, das sie so lautstark verurteilen. (Ich dachte auch an Joan Brumbergs The Body Project, das sich mit Mädchen und ihrem Körper während den letzten beiden Jahrhunderten befasst. Ein typischer Tagebucheintrag im ausgehenden 18. Jahrhundert lautete: "Ernsthaft arbeiten. Würdig sein. Sich für andere interessieren." Ein typischer Eintrag heute lautet: "Ich will abnehmen. Ich brauche neue Linsen, gutes Makeup, neue Kleider und Accessoires." Brumberg kommentiert dies wie folgt: "Vor dem 20. Jahrhundert drehte sich das Denken der Mädchen überhaupt nicht um ihren Körper. Heute glauben sie, dass der Körper der höchste Ausdruck des Selbst ist." Natürlich versucht Brumberg, diesen Bodyism zu einer feministischen Frage zu machen, die er aber keineswegs ist. Er ist bloß wiederum eine der Ausprägungen von Flachland, die Männer und Frauen gleichermaßen betrifft, ein regressiver, narzisstischer, nivellierender Drang im Bewusstsein. Wir haben versucht, Unterdrückung des Körpers mit Regression auf den Körper zu heilen; wir leugnen den Körper nicht mehr, wir sind von ihm besessen und völlig auf ihn Fixiert, und das Ergebnis ist eine sensomotorische reine Abstiegswelt.) Was heute natürlich zu tun ist, ist die Integration von Aufstiegsbewegung (vom Körper über den Geist und die Seele zum GEIST) und Abstiegsbewegung (vom GEIST über die Seele und den Geist zum Körper). Was wir aber bisher haben, sind letztlich ein paar bloß aufsteigende transzendente Religionen und auf der anderen Seite unzählige völlig abgestiegene Flachland-Bewegungen. Auf eine wirklich integrale, nichtduale Weltsicht warten wir noch, und obwohl einige Menschen in dieser Richtung arbeiten, liegt noch viel Arbeit vor uns.
Freitag, 12. September Die Fahnen für Naturwissenschaft und Religion sind gekommen; ich habe einige kleine Korrekturen angebracht und sie wieder zurückgeschickt. Wir haben es bald geschafft. Als ich während der zweitägigen Auktion in New York war, im Four Seasons, und mit den Verlegern redete, sagte ich am Ende immer wieder dasselbe, und ich bin heute mehr denn je davon überzeugt: In der modernen Welt müssen vor allem zwei Dialoge geführt werden, derjenige zwischen Naturwissenschaft und Religion und derjenige zwischen Religion und Liberalismus. Die Spiritualität muss zuerst durch das Nadelöhr der modernen Wissenschaft hindurch, und wie dies geschehen könnte, war eines der Hauptthemen von Naturwissenschaft und Religion. Danach aber muss die Spiritualität auch noch durch das Nadelöhr des Liberalismus hindurch, und dies wird eines der Hauptthemen des geplanten Folgebandes zu Naturwissenschaft und Religion sein. Wie es heute steht, ist die moderne Welt in zwei große, einander befehdende Lager gespalten, Naturwissenschaft und Liberalismus einerseits und Religion und atismus andererseits. Der Schlüssel zur Vereinigung dieser beiden Lager liegt erstens darin, die Religion über die Naturwissenschaft hinauszuführen, und zweitens darin, die Religion über den Liberalismus hinauszuführen, weil Naturwissenschaft und Liberalismus zutiefst antispirituell sind. Und dies muss in dieser Reihenfolge geschehen, weil der Liberalismus die Spiritualität nicht einmal zur Kenntnis nimmt, solange sie nicht den Test der Naturwissenschaft bestanden hat.
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In gewissem Sinne sind natürlich Naturwissenschaft und Liberalismus durchaus mit Recht antispirituell, weil das meiste von demjenigen, was historisch als "Spiritualität" brauchbar war, heute prärational ist: Magie und Mythos, implizit ethnozentrisches, fundamentalistisches Dogma. Der Liberalismus war eine Reaktion auf die Tyrannei des prärationalen Mythos; er legitimierte sich im Kampf gegen die traditionelle, parochiale, ethnozentrische Religion, und dies ist eine seiner überdauernden und wertvollen Stärken (d.h. das Eintreten für die Freiheit und Gleichheit der Menschen gegenüber dem oft feindseligen und knechtenden Kollektiv). Deshalb war der Liberalismus immer der Verbündete der rationalen Wissenschaften im Kampf gegen eine fundamentalistische, mythische und prärationale Religion und die ative Politik, die üblicherweise dieser Religion anhing. Aber weder Naturwissenschaft noch Liberalismus sind sich dessen bewusst, dass es neben einem prärationalen Mythos auch ein transrationales Bewusstsein gibt. Wir haben es hier also nicht mit zwei Lagern zu tun, dem Liberalismus und der mythischen Religion, sondern drei, nämlich mythischer Religion, rationalem Liberalismus und transrationaler Spiritualität. Der Liberalismus darf mit Recht dem prärationalen Mythos misstrauen, aber er kann sich trotzdem einem transrationalen Bewusstsein öffnen. Seine Einwände gegen mythische Formen gelten nicht für formloses Bewusstsein, und deshalb könnten Liberalismus und echte Spiritualität Hand in Hand einer großartigen Zukunft entgegengehen. Wenn sich dies in Begriffen darstellen ließe, die beide akzeptieren können, dann hätten wir zum ersten Mal, wie ich meine, die Möglichkeit zu einer postliberalen Spiritualität, die die Stärken von atismus und Liberalismus miteinander vereint, aber in einer transrationalen und transpersonalen Integration über beide hinausführt. Ich glaube, dass Naturwissenschaft und Religion zumindest ein guter Ansatzpunkt für den ersteren Dialog ist, und ich hoffe, innerhalb von vielleicht fünf Jahren auch einen Entwurf für den Dialog zwischen Spiritualität und Liberalismus vorlegen zu können. Eines jedenfalls steht unumstößlich fest: Das ganze Gerede von einer "neuen Spiritualität in Amerika ist völlige Zeitverschwendung, solange diese beiden zentralen Dialoge nicht aufgenommen werden. Solange die Spiritualität nicht zuerst das Tor der Wissenschaft und dann dasjenige des Liberalismus passieren kann, wird sie in der modernen Welt niemals eine Kraft von Bedeutung sein, sondern bloß strukturgebende Kraft für die prärationalen Entwicklungsebenen in aller Welt bleiben.
Montag, 15. September "Was ist ein Pandit?" Sie hieß Pritam. Tammi hatte Pritam und Matthew zu einem langen Gespräch über verschiedene dringende Angelegenheiten mitgebracht (Tammi Simon ist die Gründerin von Sounds True, einer der erfolgreichsten Tonkassettenfirmen in Amerika, die ihren Sitz hier in Boulder hat. Tammi nimmt jeden auf Band auf, von Thich Nhat Hanh über Carolyn Myss bis zum Dalai Lama. Ihre Lieblingsautoren schleppt sie zu mir, und wir essen miteinander). Matthew, Angestellter bei Sounds True, und Tammi brachten das neueste Buch von Gangaji heraus, einer amerikanischen spirituellen Lehrerin in der Linie des Vedanta. Pritam wollte mir einige Fragen über meine Arbeit stellen, und Tammi und Matthew wollten alles über Gangaji wissen. "Ich bin ein Pandit, kein Guru." Mit diesem Satz, den ich Hunderte von Malen in meinem Leben wiederholt habe, bewegte sich das Gespräch wieder einmal auf dieses so schwierige Thema zu. "In Indien wird diese wichtige Unterscheidung getroffen. Der Hauptunterschied liegt darin, dass der Guru Anhänger aufnimmt, ein Pandit nicht. Pandits sind meist Gelehrte einer bestimmten Tradition, während ein Guru nicht unbedingt umfassende Kenntnisse der Tradition haben muss." "Und warum nimmt ein Pandit keine Anhänger oder Schüler an?" "Es handelt sich sozusagen um unterschiedliche Berufe. Die Annahme eines Schülers durch einen Guru oder Meister ist eine sehr ernste Angelegenheit, fast so, wie wenn ein Psychotherapeut einen Klienten annimmt. Beide Parteien sollten sich dies reiflich überlegen, denn man geht damit die Verpflichtung zu Jahren und Jahrzehnten einer überaus persönlichen, intimen und intensiven gemeinsamen Arbeit ein. Gurus müssen – oft in der Öffentlichkeit – mit dem Karma oder der Konditionierung all derjenigen ringen, die zu ihnen kommen. Dies ist eine schwere und verantwortungsvolle Aufgabe." "Und deshalb verzichten Pandits darauf." "Ja, es mag Pandits geben, die erleuchteter sind als ein Guru, aber jedenfalls beschränken sich Pandits auf Schreiben, Lehren (z. B. an einer Universität) oder auf andere relativ gewöhnliche Tätigkeiten. Normalerweise führen sie keine spirituellen Therapien durch. Dies ist eine ganz andere Sache." "Wie arbeitet denn ein Guru eigentlich?", wollte Tammi wissen. "Nun, das hängt vom Guru ab. Eine Gemeinsamkeit gibt es jedoch unter guten Gurus, und dies ist die Basis des Guru-Yoga: Der Guru verzehrt das Karma (oder die Konditionierung) des Schülers. Dies geschieht, wenn das Mitgefühl des Guru mit der Hingabe des Schülers zusammentrifft. So wird es jedenfalls traditionell ausgedrückt. Nehmen wir ein Beispiel, das wenig umstritten ist, sagen wir: Sri Ramana Maharshi (Ramana ist wohl der größte Guru, der jemals gelebt hat, wie Plotin vermutlich der größte Pandit war). Sie kennen die Bilder von Ramana, und er ist vielleicht nicht unbedingt das, was man einen hübschen Menschen nennt, aber er ist unglaublich schön. Man kann die Augen nicht von ihm wenden. Er strahlt die Schönheit des Göttlichen aus, das nichts anderes ist als seine eigene Verfassung, und man fühlt sich ganz natürlich zu dieser Verfassung hingezogen. Man möchte in seiner Gegenwart sein. Ein echter Guru strahlt die Anziehungskraft des Göttlichen aus, und dies hilft einem dabei, zu seiner eigenen inneren Schönheit zu erwachen, zu seiner eigenen spirituellen Essenz." "Können Pandits das nicht auch?" "In der Tat vermögen es viele. Aber der zweite Teil des Guru-Yoga besteht darin, dass sich zwischen dem Guru und dem Schüler ein intensives Band entwickelt – ähnlich demjenigen zwischen Therapeuten und Klienten, nur in einem gesteigerten Maß –, und dieses Band ist wesentlicher Teil der Transformation und Erweckung des Schülers. Ich nehme an, dass hier eine Art subtiler Übertragungsprozess im Gange ist. Bei der klassischen freudschen Übertragung überträgt oder projiziert der Klient frühere Beziehungen auf den Therapeuten, und durch eine Analyse dieser Projektion kann der Klient zu einem Verständnis seiner Neurose geführt und, wie zu hoffen ist, von ihr befreit werden. Dasselbe, nur auf einer höheren Ebene, scheint beim authentischen Guru-Yoga zu geschehen. Der Schüler projiziert nicht nur seinen Schatten, sondern sein ganzes wahres Selbst auf den Guru. Man nimmt am Guru, aber nicht an sich selbst, die göttliche Wirklichkeit war. Und deshalb ist der Schüler so sehr vom Guru fasziniert, fühlt er sich so sehr zu ihm hingezogen und möchte immer bei seinem Guru sein. Man verliebt sich in sein eigenes wahres Selbst, das auf die Gestalt des Guru projiziert ist. Ein fähiger Guru wird nun diese Übertragung nutzen, um den Schüler zu seinem eigenen wahren Selbst, zu seiner wahren Gottheit oder Buddha-Natur zu erwecken. Traditionell kann dies auf zweierlei Weise geschehen, durch eine tatsächliche Weitergabe durch den Guru und durch eine meditative Praxis seitens des Schülers. Im ersteren Fall unterwirft man sich vollständig dem Guru, und diese
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Unterwerfung verkleinert das Ego, sodass das wahre Selbst aufleuchten kann; in letzterem Fall erkundet man den Ursprung des Ego, sodass es zu seinem Grund im wahren Selbst zurückkehren kann. Beides, Unterwerfung und Erkundung, führt zum Ziel, wobei es jedoch im ersteren Fall darauf ankommt, wie authentisch und fähig der Guru ist." "Halt, halt, eins nach dem anderen", sagte Tammi. "Wird auf dem ersten Weg, dem der Übertragung, tatsächlich etwas übertragen, so etwas wie eine Kraft?" "Ja, nach meiner Erfahrung ist dies zweifellos so. Ein Erleuchteter kann dieses erleuchtete Bewusstsein durch eine Berührung, einen Blick, eine Geste oder sogar durch das geschriebene Wort ganz buchstäblich übertragen. Dies ist keineswegs so verrückt, wie es klingt. Jeder 'überträgt' pausenlos seine gegenwärtige Verfassung auf andere. Wenn man deprimiert ist, kann dies ansteckend sein, sodass auch andere Menschen in der eigenen Umgebung deprimiert werden. Wenn man glücklich ist, überträgt sich dies ebenfalls auf andere. Mit den höheren Zuständen ist es nicht anders. In Gegenwart eines Yogi, der die psychische Ebene erreicht hat, fühlt man Kraft. In der Gegenwart eines Heiligen, der die subtile Ebene erreicht hat, fühlt man großen Frieden. In der Gegenwart eines Weisen auf der kausalen Ebene fühlt man großen Gleichmut. In Gegenwart eines nichtdualen Siddha – und dies sind oft ganz gewöhnliche Menschen – stellt man einfach fest, dass man sehr viel lächelt." "Aber dies können doch auch Pandits." "Jeder kann das. Jeder von uns überträgt die ganze Zeit seine eigene Bewusstseinsebene. Was aber einen Guru von anderen unterscheidet, ist, dass er mit einem Schüler als 'Klienten' ganz persönlich arbeitet. Und, um auf Ihre Frage zurückzukommen, dies ist etwas, was ich persönlich nicht tun möchte." "Ist dies in Amerika überhaupt möglich?", fragte Matthew. "Eine gute Frage. Ich persönlich glaube, dass Guru-Yoga, wenn es in der richtigen Weise praktiziert wird, das wirksamste Yoga überhaupt ist. Nur ist es in der heutigen Welt fast unmöglich, es richtig durchzuführen, und zwar aus mindestens zwei Gründen. Zum einen wurde Guru-Yoga in einer feudalen Zeit erfunden. Einem Guru alles zu unterwerfen – sein Geld, seine Besitztümer, seinen Körper und Geist – war vielleicht nicht unbedingt einfach, aber jedenfalls akzeptabel. In den heutigen demokratischen Gesellschaften wird eine solche Unterwerfung jedoch als alarmierend oder sogar als Zeichen einer psychischen Störung empfunden. Und die zweite Schwierigkeit liegt darin, dass in unserer egalitären Kultur, in der angeblich niemand mehr Tiefe hat als andere, allein schon der Begriff des Guru auf Skepsis stößt. Die Vorstellung, dass irgendjemand besser sein könnte als irgendein anderer, ist zutiefst anstößig und offiziell tabu. Wir sind eine Gesellschaft eingefleischter Egos, und wer das Ego mit Ideen der Unterwerfung oder Transzendenz bedroht, wird aus der Stadt gejagt. Aus all diesen Gründen ist Guru-Yoga in diesem Land wohl keine so gute Idee, was man nur bedauern kann. Andererseits stößt Guru-Yoga eben wegen seiner Wirksamkeit auf mehr Schwierigkeiten als ..." "Moment", sagte Tammi, "Warum ist es so wirksam?" "Haben Sie jemals versucht, eine Fremdsprache zu lernen? Es ist sehr schwer und dauert sehr lange, vor allem, wenn man es wirklich zur Meisterschaft bringen will. Aber viele Menschen haben mir gesagt, dass es viel einfacher ist, wenn der oder die Liebste eine Fremdsprache spricht. Und das leuchtet doch ein, denn man lernt unter dem Impuls der Liebe. Genauso ist es beim Guru-Yoga. Beim Guru-Yoga verliebt man sich tief und heftig, und diese Liebe ist die Triebfeder, durch die man die Sprache seines eigenen wahren Selbst viel schneller lernt. Durch die Liebe geht es viel schneller, als allein in der Ecke auf seiner Meditationsmatte zu sitzen und seine Atemzüge zu zählen." "Ich verstehe. Aber damit ist auch Missbrauch möglich." "Ja, darauf wollte ich gerade kommen. Weil Guru-Yoga so wirksam ist, kann es auch sehr großen Schaden anrichten. Die Beispiele für einen Missbrauch sind Legion, und fast täglich kommen neue hinzu. Jedenfalls bin ich aufrichtig davon überzeugt, dass Guru-Yoga – aus einigen sehr nahe liegenden und einigen sehr nahe gehenden Gründen – in diesem Land nicht gedeihen kann." "Und dies ist der Grund, warum Sie kein Guru sein wollen?" "Nein, ich möchte deshalb kein Guru sein, weil ich mit anderen Menschen nicht in eine therapeutische Beziehung eintreten möchte. Was ich zu wissen glaube, bringe ich zu Papier – die 'Übertragung' erfolgt hier über das geschriebene Wort –, und jeder kann mit dieser Übertragung umgehen, wie er will, und sich selbst ein Urteil darüber bilden, ob etwas Wahres daran ist oder nicht. Sobald ich das Gefühl habe, auch nur im Entferntesten einen Weg einzuschlagen, der mich zum Guru machen könnte, indem ich z.B. bewusst etwas übertragen würde, breche ich dies sofort ab. Es liegt keineswegs daran, dass ich das Guru-Prinzip für schlecht halten würde. Es ist einfach so, dass es nicht mein Karma ist, dies zu tun. Ich bin nicht dafür geeignet, mit Menschen um ihr spirituelles Schicksal zu ringen. Ich habe nicht den Drang, in das Leben anderer Menschen einzugreifen, was ein Therapeut oder ein Guru ganz gewiss tut, auch dann oder vielleicht gerade dann, wenn er keine Anweisungen gibt. Ich halte Therapeuten, spirituelle Lehrer und gute Gurus für etwas sehr Wichtiges; wir brauchen sie dringend, aber es ist nicht meine Berufung." "Sie werden also niemals Schüler haben?" "Es gibt mehrere Stufen der Verbundenheit mit einem Lehrer: Schüler, Jünger und Anhänger. Wenn man meine Bücher studiert, ist man schon Schüler meines Werks, und das ist für mich in Ordnung. Dieses Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler akzeptiere ich. Aber ich habe nicht vor, mich in die persönliche Transformation eines anderen Menschen einzumischen, und ich werde deshalb wohl auch nie Anhänger oder Jünger haben." "Es gibt also Schüler Ihres Werks. Werden Sie selbst jemals Schüler haben? Ich meine damit: Sie halten doch ab und zu Seminare ab. Werden Sie dies häufiger tun?" "In einem Seminar kann ich vielleicht einhundert Menschen erreichen, mit einem Buch aber einhunderttausend. Ich glaube wirklich, dass ich mich auf das Schreiben konzentrieren muss. Andererseits habe ich immer gesagt, dass ich irgendwann einmal, wenn ich keine gelehrten Bücher mehr schreiben will, lehren, reisen und schlechte Romane schreiben will. Man wird sehen." Sie gehen nach Hause, und ich bin allein mit dem All-Einigen, dem schlichten Mysterium dieses Augenblicks und diesem Augenblick und diesem.
Mittwoch, 17. September Großartig! Sara [Bates] hat den Foreman Institute of the Creative Arts Award des Jahres 1997 bekommen. Ich freue mich so sehr für sie. Aber zugleich gab es eine schlechte Nachricht: Bei einer Konferenz am Hartwick College stürzte Sara und erlitt einen doppelten Beinbruch. "Aber weil ich stark im Geiste war, konnte ich doch einen dreieinhalb Meter großen 'Kreis der Ehrenbezeigung' (Sara hat sich
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auf diese Art von Kunstwerk spezialisiert) schaffen, indem ich mit meinem Bein in Gips auf einem Rückenroller auf dem Fußboden umherrollte. Die Studenten waren erstaunt und ich nicht weniger. Ich habe keine Schmerzmittel genommen, weil ich befürchtete, mich dann nicht mehr konzentrieren zu können. Ich musste 48 Stunden sehr konzentriert arbeiten, aber ich glaube, dass es eines der schönsten Stücke geworden ist, die ich jemals gemacht habe." Das nenne ich nun wirklich stark im Geiste.
Donnerstag, 18. September Habe mit Nancy Levine zu Mittag gegessen, einer wunderbaren Frau, intelligent, schön, lebhaft, die bis vor einigen Monaten in Naropa arbeitete; dann wechselte sie als Redaktionsleiterin zur Zeitschrift New Age. Sie erzählte mir, dass sie mit dem Redaktionsstab "A Spirituality That Transforms" las und sie alle sehr betroffen waren, weil "praktisch alles, was wir bei New Age tun, bloß translativ ist". Wir waren uns jedoch einig, dass translative Spiritualität eine sehr wichtige Funktion hat, auch wenn sie im besten Fall nur eine Einleitung sein kann. Mein Vorschlag war letztlich, dass man zumindest ehrlich sagen sollte, was man tut. Man sollte translative Überzeugungen nicht als transformierende Überzeugungen verkaufen. Wenn New Age einfach einmal die Wahrheit darüber sagen würde, was es tut, dann wäre dies allein schon ein Schritt in Richtung Transformation.
Samstag, 20. September Es ist früher Morgen. Die Leerheit leuchtet, der Körpergeist ist eine winzige Kräuselung auf diesem unendlich schönen Meer, dem Meer des Einfach Das. Und jetzt geht die Sonne auf, die den Thron der Luminosität an sich gerissen hat, und gießt ihr sekundäres Licht auf eine erbärmlich kleine Gaia, ein kleines grünes Pünktchen auf einem grenzenlosen Meer unendlicher Ruhe. Der große Zen-Meister Yasutani: "Nun seht: Man selbst ist ganz und gar die ganze Erscheinungswelt. Deshalb sind die Wolken, die Berge und die Blumen, das Geräusch eines Furzes und der Geruch von Urin, Erdbeben, Donner und Feuer alle das ursprüngliche Selbst. Die Sutras lesen und Gottesdienste abhalten, einen Haufen Lügen, Verleumdungen und Unsinn zu erzählen, Hässlichkeit und Niedrigkeit, alles miteinander ist höchste Erleuchtung. Alles ist euer ursprüngliches Selbst, dem nichts mangelt und das als solches ganz erfüllt ist. Wundert euch nicht." Es gibt den Einen Geschmack. Es gibt das große Selbst, und es schließt "Fürze, den Geruch von Urin, einen Haufen Lügen und Verleumdungen" ein. Und solange also die Ökologen nicht begreifen, dass das Ozonloch, die Umweltverschmutzung und Giftmüll vollständig Teil des ursprünglichen Selbst sind, werden sie niemals zu einem erleuchtenden Bewusstsein gelangen, das allein weiß, wie man mit diesen brennenden Problemen umgehen muss. Zugleich kann die ganze Welt verschwinden – was im Nirvikalpa geschieht –, und das ursprüngliche Selbst ist immer noch es selbst, ganz und vollständig, raumlos und daher grenzenlos, zeitlos und daher ewig. Dies ist nicht die Lehre eines populären Pantheismus, der einfach die manifeste Welt mit dem GEIST gleichsetzt. Die manifeste Welt ist nicht der GEIST: Sie ist eine Geste des GEISTES, wie die Wellen eine Geste des Ozeans sind. Aber die Nässe der einzelnen Wellen ist mit der Nässe des ganzen Meeres identisch: Jede einzelne Welle hat nur Einen Geschmack, und dieser Geschmack ist der GEIST selbst. Der GEIST ist die Nässe jeder einzelnen Welle im ganzen Universum, wozu auch, wie Yasutani sagte, Fürze und Lügen und samt und sonders alles andere einschließlich des Ozonlochs gehören. Wir wollen das Ozonloch nicht deshalb beseitigen, weil es dem GEIST (oder der Göttin) wehtut, sondern weil es uns umbringt. Eine wirklich spirituelle Ökologie setzt nicht die Biosphäre mit dem GEIST gleich, was eine schreckliche Verwechslung von Relativem und Absolutem, von Endlichem und Unendlichem, von Zeitlichem und Zeitlosem und letztlich bloß eine weitere Variante des Bodyism ist. Vielmehr betrachtet sie die Biosphäre als eine herrliche Manifestation des GEISTES und behandelt sie daher mit der Hochachtung, die allen Kindern Gottes gebührt, weil sie auch weiß, dass diese Kinder die Manifestation des eigenen tiefsten Selbst sind. Man weint über die Zerstörung der Biosphäre nicht deshalb, weil der eigene Gott stirbt, sondern weil die eigenen Kinder sterben.
Sonntag, 21. September Es ist etwas überaus Paradoxes um diesen Einen Geschmack: Man kann ihn im Grunde niemals erreichen und niemals verlassen. Man kennt diesen Einen Geschmack immer schon, ganz buchstäblich seit fünfzehn Milliarden Jahren kennt man ihn, und eines Tages, früher oder später, räumt man dies ein, und die große Suche hat ein Ende. Dann wird man erkennen, dass jeder Zustand, in den man eintreten kann, nicht der Eine Geschmack ist. Leerheit in alle Ewigkeit, Fülle in alle Unendlichkeit. Und es ist einfach dies, nur das. Es gibt nichts, was offensichtlicher sein könnte, und eben deshalb dauert es meist viele Leben lang, bis man es erkennt. Es ist zu nah, als dass man es ergreifen könnte, zu mühelos, als dass man es erreichen könnte, zu gegenwärtig, als dass man es erlangen könnte. Die Buddhas haben es niemals erlangt, fühlende Wesen haben es niemals verloren. Wer möchte so etwas glauben?
Montag, 22. September Der International Cosmos Prize ist eine Auszeichnung, die eine japanische Stiftung (Expo '90) jährlich vergibt. Man nennt ihn auch den "Japanischen Nobelpreis" oder auch den "Asiatischen Nobelpreis". In den Statuten heißt es: "Mit diesem Preis sollen Menschen geehrt werden, die durch ihr Werk einen Gesamtzusammenhang hergestellt und erkannt und die Notwendigkeit betont haben, unsere Welt als eine einzige, in einem inneren Zusammenhang stehende Entität zu begreifen." Er wird mit 500 000 $ honoriert. Die Ziele des Coswos Prize kann man nur begrüßen. Aus den Statuten: "Für alle Forschungen, die jetzt und in der Zukunft durchgeführt werden, ist es von grundsätzlicher Bedeutung, dass sie sich über die wechselseitige Abhängigkeit aller Dinge im Klaren sind. Die Antworten können nicht ausschließlich mit Hilfe der zergliedernden und analytischen Methoden gefunden werden, die der
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allgemeinen Wissenschaft in der Vergangenheit gute Dienste leisteten. Man hat heute die Notwendigkeit neuer Paradigmen erkannt, die aus integrierenden und einschließenden Ansätzen hervorgehen. Die Stiftung bekräftigt die Bedeutung einer holistischen globalen Perspektive und sieht ihre Aufgabe in der Unterstützung derjenigen, die einen solchen Ansatz verfolgen. Sie möchte daher die Bemühungen von Forschern und Wissenschaftlern in aller Welt honorieren, die in dieser Richtung tätig sind, und ihnen dadurch die verdiente Anerkennung verschaffen. Damit möchten wir nicht nur die Ideale der Stiftung bekräftigen, sondern hoffen auch, einen neuen Aufschwung von Werten zu fördern, deren Früchte der ganzen Menschheit zugute kommen." Und nun möchten sie mir den Cosmos Prize verleihen, wie man mir in einem Brief mitteilt. Davor aber müsste ich an einigen Konferenzen teilnehmen usw. Dies ist insofern sehr interessant, als alle bisherigen Preisträger ausschließlich rechtsseitige Theoretiker waren, d.h. Systemtheoretiker oder Öko-Theoretiker, die hauptsächlich in einer Es-Sprache der dritten Person arbeiten und damit die Dimension der ersten und zweiten Person (Ich und Wir) leugnen und abwerten. Mit anderen Worten, sie hängen einem äußeren Holismus (rechtsseitig) an und vergessen den inneren Holismus (linksseitig), die Welt des Bewusstseins, der gelebten Erfahrung, des reichen Gewahrens, der inneren Erleuchtungen, der spirituellen Offenbarungen. Dieser Versuch, Inneres auf Äußeres oder links auf rechts zu reduzieren, ist kein grober, aber ein subtiler Reduktionismus (Flachland-Holismus, Systemtheorie, das empirische Gewebe des Lebens usw., die Reduktion von "Ich" und "Wir" auf Systeme interaktiver Es-Heiten). Dieser subtile Reduktionismus oder Flachland-Holismus, die Reduktion von Kunst und Ethik auf Naturwissenschaft, ist die beherrschende Stimmung der Moderne, und bei Licht besehen ist dieser rechtsseitige Ansatz trotz seiner Lippenbekenntnisse überaus reduktionistisch und zergliedernd. Wie ich oft (in Anlehnung an Karl Krauss) gesagt habe, ist die Systemtheorie die Krankheit, deren Heilung sie zu sein behauptet. Immerhin ist der subtile Reduktionismus, der alle miteinander verflochtenen Ich- und Wir-heiten auf vernetzte Es-heiten reduziert, dem groben Reduktionismus bei weitem vorzuziehen, der noch weiter geht und alle vernetzten Es-heiten auf atomistische Es-heiten reduziert. Die Expo Foundation hat daher etwas sehr Verdienstvolles getan, indem sie zumindest einen holistischen Ansatz würdigte, auch wenn es nur ein äußerlicher Holismus war. Indem sie sich nun der von mir vertretenen Richtung öffnen, scheinen sie wohl zu erkennen, dass ein wahrer Holismus ein äußerer und ein innerer Holismus sein muss (alle vier Quadranten). Vielleicht ist "alle Ebenen, alle Quadranten" allmählich doch eine Idee, deren Zeit endlich gekommen ist. Zumindest kann man hoffen, dass sich hier das Ende eines bloßen Flachland-Holismus ankündigt, eine Welt von Es-heiten, die sinnlos in einer vernetzten Welt ohne Tiefe, ohne Inneres, ohne Seele, ohne Geist umherschweifen.
Dienstag, 23. September Die neue personenzentrierte bürgerliche Religion Vor kurzem wurden zwei soziologische Arbeiten veröffentlicht, die einiges Aufsehen erregten. Die eine ist Paul Rays "The Rise of Integral Culture", die andere Robert Formans "Report on Grassroots Spirituality". Die beiden Arbeiten möchten auf eine außerordentliche kulturelle Revolution aufmerksam machen, die jetzt angeblich im Gange ist und hauptsächlich von der Nachkriegsgeneration getragen wird. Paul Ray kommt zu der Schlussfolgerung, dass eine neue, höhere, transformativere Kultur – er nennt sie "integrale Kultur", in der von ihm so genannte "Kulturkreative" wirken – im Aufgang ist, und diese soll eine der bedeutsamsten kulturellen Umwälzungen der letzten eintausend Jahre sein. In vielerlei Hinsicht unterscheiden sich diese Arbeiten nur wenig von den früheren Manifesten der Nachkriegsgeneration, Die sanfte Verschwörung, The Making of a Counter-Culture, Wendezeit und Die Welt wird jung. Was sie auszeichnet, ist der Versuch, Daten zu sammeln und eine soziologische Methode anzuwenden; sie werden als eine – wenn auch vorläufige – sozialwissenschaftliche Schlussfolgerung präsentiert. Die Kernaussage beider Arbeiten lautet, dass die heute stattfindende Revolution eine zutiefst spirituelle Revolution ist. Nach Paul Ray machen die Kulturkreativen 24% der amerikanischen Bevölkerung aus, und das sind nicht weniger als 44 Millionen Menschen. Zugleich aber muss es wohl jedem einleuchten, dass 44 Millionen Angehörige des Mittelstands aus der Nachkriegsgeneration nicht eine tiefe spirituelle Transformation erleben können, auch wenn mindestens die Hälfte von ihnen dies behauptet. Welchen Reim sollen wir uns darauf machen? Klar ist, wie ich meine, dass wir es mit einem durchaus faszinierenden kulturellen Phänomen zu tun haben, bei dem es nicht in erster Linie um einen neuen Modus transformierender Spiritualität, sondern um das Auftauchen eines relativ neuen Modus translativer Spiritualität geht. Nicht um eine neue Authentizität, eine neue Art, das Selbst wirklich zu transzendieren, sondern eine neue Legitimität, eine neue Art, dem Selbst einen Sinn zu verleihen. Nicht ein neues und tiefes Wachstum des Bewusstseins, sondern eine neue Art, sich auf der gegenwärtig erreichten Stufe wohl zu fühlen. Um dies richtig würdigen zu können, muss ich etwas weiter ausholen. Ende der fünfziger Jahre prägten einige ernst zu nehmende Gelehrte, u.a. Talcott Parsons, Edward Shils und Robert Bellah den Begriff der bürgerlichen Religion. Damit war gemeint, dass viele Amerikaner eine Empfindung des Heiligen von der institutionellen Religion (der Amtskirche) auf bestimmte Aspekte ihrer eigenen bürgerlichen Gesellschaft verlagert hatten. Das Ergebnis, die bewusste bürgerliche Religion, zeichnete sich durch die Tendenz aus, gewisse amerikanische Merkmale und historische Ereignisse als heilig, göttlich oder vom Göttlichen inspiriert zu betrachten. Die Einwanderung nach Amerika war ein neuer Exodus, und die Amerikaner waren das auserwählte Volk, das den Rest der Welt mit einer spirituellen Epiphanie beglücken sollte. Diese bürgerliche Religion war eindeutig translativ, nicht transformativ; sie transzendierte nicht das Selbst, sondern verschaffte dem Selbst die Empfindung, etwas Größeres zu sein. Damit gab sie vielen Amerikanern Sinn und Legitimierung ihres Lebens: Sinn deshalb, weil sie Verbindung zu etwas Umfassenderem als sie selbst hatten, und Legitimierung deshalb, weil ihr Leben durch dasjenige sanktioniert wurde, was sie selbst für heilig hielten. Genau dies leistet jegliche translative Spiritualität für das Individuum. Für die Gesellschaft als Ganzes stellt Legitimierung ein unerlässliches Element des kulturellen Sinns und des gesellschaftlichen Zusammenhalts dar. Diese Gelehrten machten nun deutlich, dass die bürgerliche Religion jetzt viele der entscheidenden Aufgaben (emotioneller Ausdruck und gesellschaftlicher Zusammenhang) übernahm, die die Kirche nicht mehr ausfüllte. Viele bürgerliche und weltliche Institutionen waren von einem Hauch des Heiligen durchdrungen, den die Kirchen nicht mehr in angemessener Weise boten, wobei diese Heiligkeit immer als Bestandteil einer besonderen Aufgabe verstanden wurde, die diese Amerikaner auf sich nahmen. Ende der sechziger Jahre geriet jedoch die säkulare und bürgerliche Religion in eine Legitimationskrise. In Der glaubende Mensch habe ich diese Legitimationskrise ausführlich erörtert und bin dabei zu dem Schluss gekommen, dass dies drei mögliche Konsequenzen
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haben kann. Wenn sich die herkömmliche Legitimierung auflöst, könnten Menschen (und die Gesellschaft als Ganzes) (1) die Möglichkeit nutzen, sich in einer mehr postkonventionellen Richtung zu entwickeln, darunter einige hin zu einem transpersonalen, transrationalen und spirituellen Modus, (2) auf präkonventionelle und egozentrische Modi regredieren und (3) nach einer neuen bürgerlichen Religion oder einem vergleichbaren legitimierenden Glaubenssystem suchen, das den gewöhnlichen Translationen des getrennten Selbst wiederum das Etikett der Heiligkeit verleihen würde. Es spricht praktisch alles dafür, dass die von Ray beschriebene integrale Kultur diese neue bürgerliche Religion ist. Es gibt wenig Hinweise darauf, dass die Kulturkreativen von post-postkonventionellen Modi umgetrieben würden; diese Menschen scheinen überwiegend auf genau derselben Entwicklungsstufe wie ihre Eltern zu stehen, und man kann ihnen höchstens eine gute Portion regressiven Narzissmus bescheinigen. Was man dagegen beobachten kann, ist eine neuartige Form translativer Legitimierung und Spiritualität, die nicht das getrennte Ich zu transzendieren hilft, sondern ihm vielmehr Sinn, Tröstung, Sanktionierung und Verheißung schenkt. Diese hauptsächlich von der Nachkriegsgeneration getragene neue Religion, die ich "personenzentrierte bürgerliche Religion" nennen möchte, besitzt alle Merkmale der allgemeinen postmodernen poststrukturalistischen Agenda, die nach wie vor die akademische Welt der Nachkriegsgeneration beherrscht. Sie ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, antihierarchisch, antiinstitutionell, antiautoritär, antiwissenschaftlich, antirational und zutiefst subjektivistisch (eine Erörterung dieser Trends siehe unter dem 23. November). Hierin liegt ein scharfer Gegensatz zu einem großen Teil der alten bürgerlichen Religion. Im Einklang mit dieser sind jedoch die neuen Gläubigen der Meinung, dass die Kirche nicht mehr genug Heiligkeit zu bieten hat (das Credo der Basis-Spiritualität lautet Forman zufolge: "Alles, bloß nicht die Kirche."). Weiterhin verbindet sie mit der alten bürgerlichen Religion die Überzeugung, dass sie die Vorhut einer neuen spirituellen Verwirklichung oder zumindest eines neuen Paradigmas bilden, und viele von ihnen glauben darüber hinaus, dass dieses die Welt erlösen oder transformieren, Amerika und die Welt heilen wird usw. Die spezifischen Inhalte der neuen personenzentrierten bürgerlichen Religion (PZBR) lassen sich meiner Auffassung nach auf einige ganz bestimmte Einflüsse zurückführen. An vorderster Stelle steht hier die Romantik, die Bevorzugung des Gefühls gegenüber dem Verstand, die gefühlsbetonte Verbundenheit mit anderen und die Heiligkeit der Natur im Gegensatz zur Kultur (die größte Teilgruppe der Kulturkreativen bilden Ray zufolge die "Kulturkreativen Grünen"). Das Zweite sind die Selbsterfahrungstherapien, die in den sechziger Jahren populär wurden (die Kulturkreativen bilden Ray zufolge die größte Teilnehmer-Gruppe an SelbsterfahrungsWorkshops). Das Dritte ist die New-Age-Religion (die eines der Hauptelemente der "Religion der integralen Kultur" ist, auch wenn viele mit dieser Bezeichnung nichts zu tun haben wollen). Das Vierte ist alles, was irgendwie holistisch ist (oder, wie Ray es ausdrückt, "holistisches Allerlei"), wiewohl in selbstwidersprüchlicher Weise die Einzelheiten dieses Holismus niemals beim Namen genannt werden, weil dies ja "zu kontrollierend" wäre – es ist ein recht amorpher Holismus, wiewohl er sich manchmal mit Hilfe einer Flachlandsystemtheorie zu rechtfertigen sucht. Das Fünfte ist Globalismus, der starke Wunsch, die eigenen Werte auch vom Rest der Welt akzeptiert zu sehen. Das Sechste ist Feminismus und Frauenspiritualität (60% der Kulturkreativen sind Frauen). Dass die Spiritualität von Frauen so im Vordergrund steht, ist meiner Meinung nach ein interessantes Merkmal und sowohl im positiven wie im negativen Sinne der Schlüssel zu wesentlichen Teilen der personenzentrierten bürgerlichen Religion. Die Frauenspiritualität orientiert sich stark an den Forschungsarbeiten von Deborah Tannen und Carol Gilligan, die gezeigt haben, dass Frauen Kommunion, Beziehungen und Zuwendung betonen, Männer dagegen Agenz, Rechte und Gerechtigkeit. Erstere sind eher heterarchisch (d.h., keine Position ist privilegiert, sondern alle Perspektiven sind miteinander verbunden), während Letztere eher hierarchisch sind (d.h., umfassendere und tiefere Perspektiven stehen in einer Rangordnung). Die Frauenspiritualität nimmt damit eine ausgeprägt antihierarchische Haltung ein und definiert sich ganz nachdrücklich in dieser Weise. Was dabei leider übersehen wird, sind Gilligans tatsächliche Befunde, denen zufolge Frauen genauso wie Männer drei große hierarchische (ihr Ausdruck) Wachstumsstufen durchlaufen, die sie die selbstsüchtige Stufe (egozentrisch oder präkonventionell), die Stufe der Zuwendung (soziozentrisch oder konventionell) und Stufe der universellen Zuwendung nennt (weltzentrisch oder postkonventionell). Männer und Frauen durchlaufen in ihrer Entwicklung diese Hierarchie gleichermaßen, wobei jedoch bei Männern die Betonung auf der Agenz, bei Frauen auf der Kommunion liegt. (Es sei hier daran erinnert, dass Hierarchie letztlich Holarchie bedeutet, weil jede höhere Stufe die vorangegangenen transzendiert und einschließt; es ist eine "einfaltende" Entwicklung, und zwar bei Männern und Frauen gleichermaßen.) Die Tatsache, dass ein großer Teil der Frauenspiritualität, der Kulturkreativen und der Basis-Spiritualität eine Entwicklungshierarchie aggressiv leugnet, dürfte wohl einer der Hauptgründe dafür sein, warum so wenige dieser Bewegungen wirklich transformativ sind. Transformation bedeutet hierarchisches Wachstum, aber wenn man jegliche Hierarchie leugnet, dann hat man keinen Kompass, keine Möglichkeit der Orientierung, keinen Wegweiser zu Authentizität und Transformation, weshalb man sich mit Legitimierung und Translation zufrieden geben muss. Aber dies ist genau die Haltung der neuen personenzentrierten bürgerlichen Religion. Durch diese antihierarchische Haltung wird die PZBR sehr wahrscheinlich eine translative Bewegung bleiben und niemals zu einer transformativen Bewegung werden. Roger Walsh, der Bewegungen wie die integrale Kultur untersuchte, kam zu dem Schluss: "Diese Bewegungen lehnen Hierarchie grundsätzlich ab. Tatsache ist aber, dass sich spirituelle Entwicklung über Ebenen vollzieht, und dass manche Menschen weiter entwickelt sind als andere. Wo dies nicht zur Kenntnis genommen wird, entstehen Probleme wie eine Abneigung gegen grundsätzliche Urteile, ein Mangel an kritischem Unterscheidungsvermögen und ein Pseudo-Egalitarismus. Um es auf den Punkt zu bringen: Die zentrale Frage lautet, inwieweit die integrale Kultur oder Basis-Spiritualität tatsächlich spirituelle Reife fördert und inwieweit sie Menschen bloß Wohlbefinden verschafft. Vieles von demjenigen, was heute als Spiritualität durchgeht, besteht in nichts weiter als intensiven Gefühlen." (Siehe das "415-Paradigma", eine der bekanntesten Versionen der PZBR, unter dem Eintrag für den 5. Juli.)31 Aber natürlich hat die personenzentrierte bürgerliche Religion als translative, legitimierende Spiritualität auch viele gute Seiten. Es ist die erste translative Religion, die ökologische Fragen ernst nimmt. Sie nimmt viele bisher marginalisierte Gruppen auf, insbesondere Frauen (auch wenn es weitgehend die Religion des weißen Mittelstandes ist). Sie besitzt einen vorsichtigen, aber ansteckenden gesellschaftlichen Optimismus. Bildung, Nachbarschaftshilfe und vor allem der Dialog und Diskussionen in kleinen Gruppen nehmen einen hohen Stellenwert ein. (Mit "bürgerlich" sind Vereinigungen gemeint, die zwischen der Familie und dem Staat liegen. Die PZBR misst kleinen, bürgerlichen Vereinigungen großen Wert bei, bleibt aber dennoch auf die Person zentriert; daher die Bezeichnung.) Dies alles sind meiner Meinung nach sehr positive Dinge, zumindest in einem translativen Sinne. Und natürlich kann jeder in praktisch jedem Wachstumsstadium eine vorübergehende Gipfelerfahrung haben, eine echte spirituelle Erfahrung, und dies gilt ganz gewiss auch für die Anhänger der personenzentrierten bürgerlichen Religion. Ihnen ist also der Zugang zu einer echten Ahnung des Göttlichen keineswegs verwehrt. Dies gilt allerdings für alle Menschen, weshalb die PZBR hier keine Sonderstellung einnimmt.
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Das Ganze ist gemischt mit einem ausgeprägten Hang zum Konsum, Reisefreudigkeit (vor allem, wenn diese Reisen das Etikett "öko" oder "spirituell" tragen), einem obsessiven Drang zum guten und reichlichen Essen und überdurchschnittlich häufiger Teilnahme an Selbsterfahrungs-Workshops. Sie sind die Zielgruppe für Spezialbiere und haben meist mindestens fünf verschiedene Essigsorten auf der Anrichte stehen. Das Fernsehen verachten sie in der Regel (weshalb ich definitiv nicht zu der neuen integralen Kultur gehöre; ich möchte behaupten, dass diese Leute, wenn sie öfter fernsehen würden, bestimmt keine Bücher wie Die sanfte Verschwörung oder Die Welt wird jung schreiben würden, weil sie dann wüssten, was draußen in der Welt wirklich los ist). Ich bin der Meinung, dass keineswegs 24% der Bevölkerung einer zutiefst transformierenden transpersonalen Spiritualität anhängen, sondern höchstens 1%. Dies wären immer noch einige Millionen Menschen, aber jedenfalls nicht annähernd die Zahlen, wie sie in Die sanfte Verschwörung oder von der integralen Kultur behauptet werden. Die restliche Bevölkerung sucht ihre Legitimierung in (1) der traditionellen mythischen (biblischen) Religion, die in unserer Kultur immer noch außerordentliches Gewicht hat, (2) in traditioneller republikanischer Gesinnung oder einem bürgerlichen Humanismus, die in Amerika in enger Symbiose mit der biblischen mythischen Religion stehen, (3) in der säkularen Wissenschaft, der Religion der Bildungselite, (4) dem politischen Liberalismus, der in enger Verbindung mit den Naturwissenschaften steht, (5) regressiven New-Age-Bewegungen und (6) der personenzentrierten bürgerlichen Religion. Man mag von den Kulturkreativen halten, was man will, aber eines muss man ihnen (d.h. also meiner Generation) wirklich zugestehen: Wir waren die erste Generation, die in einem sehr weiten Rahmen den Begriff der transformierenden, authentischen spirituellen Befreiung ernst nahm. Wir haben die östliche Mystik in nie da gewesener Weise hierher gebracht; wir haben darauf bestanden, dass Christentum und Judentum sich auf ihre mystischen Wurzeln besinnen müssen (was von den Gnostikern über Meister Eckhart bis Luria und zur Kabbala reicht), wir haben unmittelbare spirituelle Erfahrung gefordert statt Dogma. Wir waren eine Generation, die sich geradezu aus dem Sei jetzt hier definierte. Wir hatten all dies zumindest als eine Idee höherer Möglichkeiten. Wir durchbrachen und stürzten im besten und wahrhaftigsten Sinne alle Konventionen und errangen uns so eine Freiheit, von der frühere Generationen nur träumen konnten. Leider blieb dies alles weitgehend nur eine Idee. Es war eines, Kaffee zu trinken, Zigaretten zu rauchen und endlos über das Zen von diesem und das Zen von jenem, das Dao von diesem und das Dao von jenem zu reden, aber es war etwas ganz anderes, Zen wirklich zu praktizieren, mindestens sechs Jahre mit aufreibenden Meditationsübungen zuzubringen, um die Welt wirklich zu transzendieren und Samsara zu durchbrechen. In den darauf folgenden Jahrzehnten stiegen wir dann wirklich aus, aber nicht aus der Konventionalität, sondern aus der wahren Transzendierung, der wahren transformierenden Praxis, und mit Hilfe der personenzentrierten bürgerlichen Religion betraten wir wieder den Marktplatz, aber nicht aus dem zehnten der Stierbilder, sondern aus dem ersten. Wir wurden richtige Yuppies und zelebrierten unsere Selbst-Obsession mit kapitalistischer Inbrunst, oder wir beschränkten unsere spirituellen Impulse auf das bloß Grobstoffliche, indem wir die arme Gaia in den einzigen erkennbaren Gott verwandelten. Allgemein ausgedrückt: Wir wandten uns der Romantik zu, einer horizontalen Selbst-Obsession, und gaben den echten Idealismus auf, eine vertikale Transzendierung des Selbst. Mit Hilfe der PZBR konnten wir die ganze Farce rationalisieren und uns reinen Gewissens dem schmutzigen Geschäft widmen, diese Selbst-Obsession in unseren langen Tagen und einsamen Nächten zu päppeln. Ich erkenne jedoch an, dass aus diesen 24% der Bevölkerung, die wenigstens eine Idee davon haben, dass echte Transzendenz möglich ist, zum größten Teil jenes einen Prozent der Bevölkerung stammt, das wirklich Transzendenz erreicht und dem es tatsächlich nicht nur um translative Spiritualität oder die gelegentliche Gipfelerfahrung geht, sondern um authentische Praxis, Plateau-Erfahrungen und permanente Verwirklichung. Es ist nicht daran zu rütteln, dass 1% einer Bevölkerung – und das sind einige Millionen Menschen –, die wirklich authentische Transzendenz und mitleidsvolle Zuwendung praktizieren, für jede Kultur sehr wenig sind, aber dies könnte doch eines der wirklichen Geschenke sein, die meine Generation der Welt zu geben hat. Zugleich stellt sich hier eine wichtige Bildungsaufgabe: Wie kann man Menschen für den Unterschied zwischen bloß translativen Überzeugungen und echten transformierenden Praktiken sensibilisieren? Wie kann man etwas dafür tun, dass aus diesem einen Prozent fünf, zehn, zwanzig Prozent werden? Wie Jack Crittenden sagt, ist dies eine Elite – aber jeder ist eingeladen, zu ihr zu stoßen.
Mittwoch, 24. September Ich bin ein Fan der zutiefst bedeutungsvollen und anrührenden Kunst von Anselm Kiefer. Es ist wohl eine jener seltsamen Synchronizitäten, dass ich heute den folgenden Brief von Marian Goodman bekam, Eigentümerin der Marian Goodman Gallery in New York: "Ich besitze eine Kunstgalerie, die eine große Gruppe einiger der führenden zeitgenössischen Künstler repräsentiert. Einer von ihnen ist Anselm Kiefer, der weltweit schon viele Einzelausstellungen hatte. Man darf ihn wohl als einen der bedeutendsten zeitgenössischen Künstler und vielleicht den wichtigsten europäischen Maler seiner Generation bezeichnen. Anselm Kiefer ist Deutscher, 1945 geboren. Ihn zeichnet ein feines Gespür für das Ringen um Sinn und eine kritische Haltung gegenüber seiner Nachkriegsgeneration aus. Thematisch hat er sich im Laufe der Zeit von der Hinterfragung der Ursachen der deutschen Katastrophe in Mythologie, Geschichte usw. zu einer umfassenderen Reflexion der Fähigkeit des Menschen zum Guten und zum Bösen weiterentwickelt. In den letzten Jahren ist in seinem Werk eine Wendung nach innen, zu Spiritualität und Transzendenz festzustellen. Wir werden Mitte November eine große Ausstellung seiner Gemälde durchführen. Aus diesem Anlass möchten wir ein Buch herausbringen." Sie teilt mir mit, dass Anselm sich freuen würde, wenn ich den Text für das Buch schreiben würde. Das will ich gerne tun. Ich versuchte mich zu erinnern, wo ich zuletzt eine Besprechung von Anselms Kunst gelesen hatte. Es war in Suzi Gabliks großartigem Has Modernism Failed?, einer brillanten Abrechnung mit der extremen Postmoderne (mit Begeisterung las ich auch ihr Progress in Art, in dem sie zeigt, dass es in der Kunst in der Tat eine Entwicklung gibt). Gablik: "Während die eklektische Bilderplünderei der Amerikaner Julian Schnabel und David Salle niemals ganz zu einer verbindlichen Aussage gelangt und daher mehr ein Symptom der Entfremdung als ein Heilmittel für diese zu sein scheint, gibt es andere wie den Deutschen Anselm Kiefer, dessen Bildsprache engagiert ist und sogar eine neue Glaubensbereitschaft signalisiert. Kiefer scheint mir einer der wenigen heute arbeitenden Künstler zu sein, die die Vision und das Ideal der apokalyptischen Erneuerung ins Bild zu setzen vermögen und die Anstrengung unternehmen, der Kunst ihre spirituelle Würde wiederzugeben. Es ist, wie wenn er das fenestra aeternitatis aufstoßen würde, das Fenster zur Ewigkeit und spirituellen Hellsichtigkeit, das in unserer Gesellschaft so lange geschlossen war."
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Freitag, 26. September Roger und Frances sind für zwei Tage bei Marci und mir zu Besuch. Frances, die die Fetzer Foundation vertritt, wird demnächst im Arizona Center for the Study of Consciousness, das von Fetzer großzügig unterstützt wird, eine Rede halten. Für die Zeitschrift dieser Einrichtung, das Journal of Consciousness Studies, hatte ich einmal eine lange Arbeit unter dem Titel "Eine integrale Theorie des Bewusstseins" geschrieben, in der ich die Notwendigkeit eines alle Ebenen und alle Quadranten umfassenden Ansatzes betonte. Die Schlussfolgerung lautete, in einem Satz ausgedrückt, dass wir in der Bewusstseinsforschung die Ansätze der ersten Person ("Ich"), der zweiten Person ("Wir") und der dritten Person ("Es") zusammenfassen müssen. Bei unserer Durchmusterung des Gebiets der Bewusstseinsforschung stellen Roger, Frances und ich jedoch fest, dass praktisch alle immer noch in ihrem Lieblingsquadranten stehen und einen bestimmten Ansatz zu Lasten der anderen verteidigen. Es ist wirklich deprimierend. Frances überlegte sich, ihrem Vortrag den Titel "Das ABC der Bewusstseinsforschung" zu geben und auf einen integraleren Ansatz zu drängen. Roger hatte einen phantastischen Einfall, den er 20/20 nannte: Jeder Quadrant sollte in den Aktivitäten des Instituts zu 20% vertreten sein.32 Dass dies verwirklicht wird, ist wohl eher nicht zu erwarten, aber es ist eine gute Idee, die man vielleicht noch anderswo verwerten kann.
Montag, 29. September "Ob eine spirituelle Aussage wahr ist, hängt nicht davon ab, was jemand sagt, sondern davon, von welcher Ebene aus er es sagt." Ein junger Professor aus einem örtlichen College saß vor mir; wir hatten vereinbart, am späten Nachmittag ein Stündchen miteinander zu plaudern. "Wie meinen Sie das?", fragte er. "Nun, jeder kann sagen: 'Alles ist Eins', 'Alle fühlenden Wesen haben GEIST', 'Alles ist Teil des großen einheitlichen Gewebes des Lebens' oder 'Subjekt und Objekt sind nichtdual'. Jeder kann das sagen. Die Frage ist nur, ob man dies direkt und wirklich erfahren hat, ob man aus einer erweckten Autorität spricht, oder ob es bloß Worte sind." "Und wenn es bloß Worte sind? Macht es etwas aus?" "Aussagen über spirituelle Wirklichkeiten sind nicht bloß Aussagen über die objektive Welt, sondern auch über subjektive, innere Tatsachen, und wenn solche Aussagen wahr sein sollen, muss der Sprecher unmittelbar in Kontakt mit diesen höheren, inneren Tatsachen sein. Andernfalls ist man nicht wahrhaftig, wie 'richtig' diese Worte auch klingen mögen. Die Wahrheit der Äußerung hängt vom subjektiven Zustand des Sprechers, nicht vom objektiven Inhalt der Worte ab." "Ja, ich verstehe. Aber könnten Sie einige Beispiele geben?" Er kritzelte wie verrückt auf seinen Block, aber ich war mir nicht sicher, ob er Notizen machte oder seine eigenen Gedanken festhielt. "Gut. Ich habe gesagt, dass jeder sagen kann: 'Alles ist Eins.' Man muss also den subjektiven Bewusstseinszustand, die Bewusstseinsebene desjenigen prüfen, der diese Aussage macht, um ein Urteil über den Wahrheitsgehalt der Aussage fällen zu können. Man muss die Bewusstseinsebene des Sprechers kennen, um beurteilen zu können, was er eigentlich mit 'alles' meint. Meint er, dass alles Grobstoffliche eins ist? Alles Feinstoffliche? Alle kausalen Wirklichkeiten? Oder alles miteinander? Die schlichte Aussage 'Alles ist Eins' kann also ganz unterschiedliche Bedeutungen haben, und diese Bedeutungen hängen nicht vom objektiven Inhalt der Worte ab, die in allen Fällen dieselben sind, sondern von der subjektiven Bewusstseinsebene des Sprechers, die höchst unterschiedlich sein kann. Man kann durchaus eins mit allem auf einer bestimmten Ebene sein, aber was ist, wenn es höhere und tiefere Ebenen gibt, von denen man nichts weiß? Mit diesen ist man offensichtlich nicht eins, nicht wahr?" "Ja. Aber wie soll man das entscheiden?" "Es gibt hier gewisse Hinweise. Die meisten Bücher über Systemtheorie, Gaia, die Große Mutter, Ökopsychologie, das Neue Paradigma usw. beziehen sich auf den grobstofflichen, den Wachzustand. Dies ist leicht festzustellen, weil in ihnen niemals von einem der Phänomene des feinstofflichen Reichs die Rede ist: nichts über die verschiedenen meditativen Zustände, Samadhi, innere Erleuchtung, die außerordentlichen Zustände des Traum-Yoga, archetypische Erleuchtung usw. Ebenso wenig ist von den noch höheren Zuständen der kausalen Formlosigkeit die Rede. Wenn sie also behaupten, 'holistisch' und 'nichtdual' zu sein, dann sind sie dies nicht wirklich. Im besten Fall befinden sie sich auf der Ebene der Naturmystik, wo das Bewusstsein auf die Einheit mit dem Grobstofflichen, den Wachzustand, beschränkt ist. Dies ist in ihrem eigenen Rahmen durchaus in Ordnung, aber dieser Rahmen ist recht eng. Dies ist erst die unterste Sphäre der mystischen Einheit in der Großen Verschachtelung des GEISTES." "Und woher weiß man nun, ob das Bewusstsein eines Menschen über das Grobstoffliche hinausreicht?" "Wenn das Bewusstsein einmal so weit erstarkt ist, dass es über den Wachzustand hinaus in den Traumzustand fortdauert (wenn man also einmal beginnt, luzide zu träumen, oder wenn man in verschiedene Formen von Savikalpa-Samadhi eintritt, Meditation mit Form), dann erschließt sich einem ein völlig neues Reich, nämlich das Feinstoffliche. Dies drückt sich unmissverständlich im Leben, in den Schriften, im theoretischen Denken, in der spirituellen Praxis eines Menschen aus. Man ist nicht mehr auf ein Denken über das grobstoffliche, sensomotorische Reich beschränkt – der Gott ist nicht mehr nur grün –, sondern es öffnet sich vielmehr eine außerordentliche innere Landschaft vor dem Auge des Geistes. Wenn man Maler ist, bleibt man nicht mehr darauf beschränkt, Obstschalen, Landschaften oder Akte zu malen. Man kann die subtilen inneren Landschaften darstellen, wie es beim Surrealismus und phantastischen Realismus der Fall ist, oder die inneren Meditationsobjekte, wie es bei den tibetischen Thangkas der Fall ist. Keines dieser subtilen Objekte kann man mit dem Auge des Fleisches sehen." "Wenn also jemand auf dieser subtilen Ebene sagt: 'Alles ist Eins', dann meint er etwas ganz anderes, als wenn dies die Theoretiker des grobstofflichen Reichs sagen." "Ja, etwas völlig anderes. Wenn jemand, dessen Bewusstsein nicht über das grobstoffliche Reich hinausreicht, sagt: 'Alles ist Eins', dann meint er Dinge wie die Systemtheorie oder die Ökopsychologie. Der Betreffende meint damit, dass alle empirischen Erscheinungen Aspekte eines einheitlichen Prozesses sind. Wenn aber jemand, der auch Zugang zum Bewusstsein des subtilen Reichs hat, dasselbe sagt, dann meint er damit, dass alle empirischen und alle subtilen Phänomene Aspekte eines einheitlichen Prozesses sind. Dies ist eine viel tiefere und umfassendere Erkenntnis, die das grobstoffliche Reich transzendiert und einschließt." "Ihr Bewusstsein ist also letztlich stärker." "In einem gewissen Sinne, ja. Ihr Bewusstsein schwindet nicht an der Schwelle des Traumzustandes. Sie sind in ihrer Entwicklung und ihrer Bewusstseinsevolution so weit fortgeschritten, dass sie auch dann 'wach' bleiben können, wenn das Träumen einsetzt, oder
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sie können voll bewusst in tiefe Zustände von Savikalpa-Samadhi eintreten. Noch 'kräftiger' wird dieses Bewusstsein im kausalen Entwicklungsstadium, weil man dann eine Art von 'konstantem Bewusstsein oder 'konstanter Zeugenschaft' erreicht, d.h., man ist in allen drei großen Zuständen, im Wachen, im Träumen und im Tiefschlaf, 'wach' oder bewusst. So wird das Bewusstsein immer stärker, bleibt in immer unterschiedlicheren Verfassungen erhalten, und dies drückt sich unverkennbar im Leben, im Wirken, im Denken usw. eines Menschen aus. Diese Hinweise sind kaum zu verkennen." "Ja, das leuchtet mir ein. Wenn man also im subtilen Stadium ist, hat man Zugang wozu?" "Im subtilen Stadium hat man Zugang zu unterschiedlichen Formen der Gottheitsmystik: inneren Erleuchtungen, Nada, Shabd, verschiedenen Samadhis oder meditativen Zuständen, Saguna Brahman (Gottheit mit Form), Gebet des Herzens, Traum-Yoga, den meisten Bardo-Reichen usw. Dies ist das subtile Reich der Gottheitsmystik. Weil die subtile Seele das grobstofflich-sensomotorische Reich transzendiert, aber einschließt, hat man auf der Ebene der Gottheitsmystik zugleich auch Zugang zur Naturmystik; sie schließen also einander nicht aus. Aber die Naturmystiker der niedrigeren Stufe halten einen für verrückt." "Und die kausale Ebene?" "Ist das Reich der formlosen Mystik: reine Leerheit, der Abgrund, das Ungeborene, Ayn, Nirodh, Nirvikalpa, Jnana-Samadhi, klassisches Nirvana oder Verlöschen. Diese Erfahrung (oder 'Nichterfahrung') des Verlöschens ist unverkennbar und unauslöschlich. Wenn jemand, der diesen Zustand unmittelbar erfahren hat, spirituelle Bücher schreibt, dann wird er darüber schreiben, glauben Sie mir. Und man wird intuitiv spüren, dass der Betreffende weiß, wovon er redet." "Sie haben auch noch ein nichtduales Reich erwähnt." "Ja. Wenn man einmal über die kausale Formlosigkeit hinaus vorstößt, die das Reich des reinen Zeugen ist, dann löst sich der Zeuge selbst in alles auf, was man in allen drei Zuständen bezeugt hat. Im Vedanta heißt dies Sahaja, d.h. die spontane Vereinigung von Nirvana (Leerheit) und Samsara (Form); die Tibeter nennen es den Einen Geschmack, weil alle Dinge in allen Zuständen denselben Geschmack haben, nämlich denjenigen des Göttlichen, und die Daoisten nennen es Ziran, d.h. 'von sich selbst so' oder 'vollkommen spontan'. Wenn also jemand in diesem Stadium sagt: 'Alles ist Eins', dann meint er damit, dass jedes einzelne Ding im grobstofflichen, feinstofflichen und kausalen Reich denselben Einen Geschmack hat. Und das ist etwas völlig anderes, als wenn man nur im grobstofflichen Reich wachbewusst ist und sagt: 'Alles ist Eins.'" "Ja, ich verstehe. Deshalb sagten Sie, dass" – er warf einen Blick auf seine Notizen – "die Wahrheit einer Äußerung vom subjektiven Zustand des Sprechers, nicht vom objektiven Inhalt seiner Worte abhängt." "Ja." "Es gibt also verschiedene Formen der Einheit auf der psychischen, der subtilen, der kausalen und der nichtdualen Ebene." "Das kann man so sagen. Dies ist aber nur die eine Seite, die transpersonalen und transrationalen Formen der Einheit oder Vereinigung. Daneben gibt es auf der anderen Seite noch die primitiven, prärationalen, präpersonalen Formen des Einsseins oder der Verschmelzung. Es gibt eine archaische oder pleromatische Verschmelzung oder Einheit mit der physischen Welt, die für das erste Lebensjahr typisch ist. Dann gibt es einen magischen Animismus, die Indissoziation von emotionalem Subjekt und Objekt, eine Form der Einheit auf der Vitalebene (zweites bis viertes Lebensjahr). Und es gibt den mythischen Synkretismus, die Einheit symbolischer Verschmelzungen (fünftes bis neuntes Lebensjahr). Natürlich haben wir alle, wie Jean Gebser betonte, nach wie vor Zugang zu diesen primitiven Erkenntnisformen, der archaischen, der magischen und der mythischen, auch wenn diese in verschachtelte Entwicklungsstadien eingebettet sind. Dann kommen wir wieder zu den rationalen Formen der Einheit wie z. B. der Systemtheorie, die der reife Verstand (oder Schau-Logik) erreicht." "Könnten Sie noch einmal die vollständige Liste geben?" "Pleromatische Verschmelzung, magischer Animismus, mythischer Synkretismus, rationale Systemtheorie, psychische oder Naturmystik, subtile oder Gottheitsmystik, formlose oder kausale Mystik und nichtdualer Einer Geschmack." "Und auf allen diesen Ebenen", sagte er, "können Aussagen gemacht werden wie 'Alles ist Eins', und doch bedeutet es jeweils etwas völlig anderes." "So ist es." "Ah, ich verstehe, ich verstehe." Er schrieb weiter auf seinen Block. "Sehen Sie", sagte ich, "in letzter Zeit ist eine Flut von Büchern darüber erschienen, wie doch alles Teil eines einheitlichen Ganzen ist, wie wir alle Stränge im Gewebe des Lebens sind, wie alles ein Aspekt eines großen einheitlichen Prozesses ist, wie die ganze Welt ein organisches lebendes System ist usw. – alles Variationen zum Thema 'Alles ist Eins'. Aber diese Aussage besagt für sich genommen überhaupt nichts, wie wir gerade gesehen haben. Ihr Wahrheitsgehalt hängt ganz von der Bewusstseinsebene desjenigen ab, der diese Aussage macht. Und dies bedeutet zweierlei: Wenn man diese Bücher liest, muss man unbedingt versuchen, die tatsächliche Tiefe des Verfassers zu beurteilen – jeder kann sagen 'Alles ist Eins'. Die meisten Bücher, die über das 'Einssein mit der Welt' geschrieben werden, sind aus der Haltung eines magischen Animismus, eines mythischen Synkretismus oder im besten Fall der Haltung der rationalen Systemtheorie geschrieben. Man sollte also nach Autoren Ausschau halten, die sich mit der transrationalen, nicht bloß der rationalen oder prärationalen Bewusstseinsebene befassen. Zweitens sollte der Autor dem Leser vor allen Dingen Übungen an die Hand geben, mit deren Hilfe er zu einer höheren Ebene des Einsseins in sich selbst erwachen kann. Damit ist nicht eine neue objektive Beschreibung der Welt gemeint – das ist in diesem Zusammenhang wertlos –, sondern eine Reihe subjektiver Praktiken, durch die man auf eine andere Bewusstseinsebene gelangt. Diese Autoren sollten also zu einem höheren Einssein auf der psychischen, subtilen, kausalen oder nichtdualen Ebene erweckt sein, und sie sollten Übungen geben können, durch die man selbst zur Erweckung gelangt. Zumindest sollten diese Autoren nicht bloß neue Wege zur Translation der Welt, sondern neue Wege zur Transformation des eigenen Bewusstseins anbieten. Und wenn sie solche Übungswege nicht selbst angeben können, sollten sie zumindest deutlich machen, wie überaus wichtig sie sind." Ich goss ihm eine Tasse grünen Tee auf, und wir beobachteten schweigend das langsam verlöschende Tageslicht, während die Sonne hinter den Bergen versank. Er schien tief in Gedanken, als würde er auf einem unsichtbaren Walkman einem Song lauschen, den nur er hören konnte. "Ich danke Ihnen", sagte er schließlich, und ich begleitete ihn zur Tür.
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Oktober Und schließlich glaube ich, dass trotz allem – und dies ist wohl die höchste mystische Überzeugung – dass trotz Schmerz, Tod und Schrecken die Welt irgendwie doch völlig in Ordnung ist ... Aldous Huxley Das Selbst kann man nicht erreichen. Wenn man das Selbst erreichen könnte, dann würde dies bedeuten, dass das Selbst nicht hier und jetzt ist, sondern dass man es erst erlangen müsse. Was man neu erwirbt, verliert man auch wieder. Daher hat es keinen Bestand. Was aber keinen Bestand hat, ist nicht erstrebenswert. Deshalb sage ich, dass man das Selbst nicht erreichen kann. Man ist das Selbst, man ist schon Das. Sri Ramana Maharshi
Mittwoch, 1. Oktober Wollte heute mit Marci Mittag essen und holte sie in dem Betreuungsheim ab, in dem sie arbeitet. Einer der Heimbewohner ist Richard, den man in weniger empfindsamen Zeiten als "zurückgeblieben" bezeichnet hätte. Dabei ist Richard überaus wach. Er ist schrecklich in Marci verknallt, und als wir beide uns kennen lernten, wollte er wissen, wer dieser Eindringling sei. Marci erzählte ihm, dass ich Schriftsteller sei, und zeigte ihm einige meiner Bücher. Als ich heute Marci abholen kam, trug Richard stolz ein Exemplar von Psychologie der Befreiung mit sich herum: "Ich verstehe dieses Buch, wissen Sie. Ich habe bis zur vierten Klasse Lesen gelernt."
Donnerstag, 2. Oktober Nachdem ich 25 Jahre im Lotossitz meditiert habe, tue ich dies jetzt oft in der yogischen "Leichnams-Haltung", d.h. auf dem Rücken, Beine geschlossen, die Arme leicht seitlich abgelegt, und so schlafe ich auch. Wenn ich dann aufwache und zu meditieren beginne, brauche ich meine Haltung oft überhaupt nicht zu verändern. "Aber ich weiß, wann du zu meditieren beginnst", sagte Marci heute früh. "Wie das?" "Dein Atem verändert sich; er wird sehr regelmäßig, aber sehr leicht und hört manchmal ganz auf. Und wenn du die ganze Nacht meditierst" – sie meint: wenn das Bewusstsein durch alle drei Zustände hindurch konstant ist –, "atmest du die ganze Nacht so. Ich mag das; es ist besser als schnarchen." Ich habe mit dem Essay für Anselm Kunstbuch begonnen. Der Titel lautet "Eine Welt sehen – Kunst und das Ich des Künstlers". Apropos "Leichnams-Haltung": Auf einem der neueren Gemälde Anselm ist im Vordergrund ein Mann zu sehen, der genau in der Leichnams-Haltung auf dem Rücken liegt. "Leichnam" deshalb, weil damit der Tod des Ichs ausgedrückt wird, der Tod der Empfindung eines getrennten Selbst und damit eine Öffnung zur transpersonalen und überbewussten Welt. Die Kunst des Überbewussten – ja, dies ist die Kunst der Zukunft.
Freitag, 3. Oktober Entwicklung und Regression Ein Telefongespräch mit einer Studiengruppe Frage: Wenn Sie einen integralen Holismus vertreten, warum kritisieren Sie dann so viele andere Auffassungen, wenn doch alles Teil des Ganzen ist? Muss man dann nicht alles akzeptieren? Müsste ein wirklicher Holismus nicht alles umschließen, statt so vieles zu kritisieren? KW: Nun, das ist doch genau die zentrale Frage für jegliche Form von Holismus, nicht wahr? In den Büchern des "Neuen Paradigmas" – Büchern über Gaia, Systemtheorie und Ökologie – liest man, dass "alles mit allem verbunden ist" und dass "wir alle gleichermaßen untrennbarer Teil des Gewebes des Lebens sind". Wenn also alles gleichermaßen Teil des untrennbaren Ganzen ist, heißt das, dass wir die Auffassungen der Nazis akzeptieren müssen? Sind sie nicht ebenso Teil des Ganzen? Müssen wir den Ku-KluxKlan zu einem Teil des untrennbaren Ganzen machen? Müssen wir Mutter Teresa und Jack the Ripper gleiches Gewicht zubilligen? Es geht mir hier nicht um die absolute Sichtweise, derzufolge natürlich alles in seiner Soheit eine vollkommene Manifestation der Leerheit und alles gleichermaßen göttlich ist; es geht mir jetzt um die relative, endliche manifeste Welt, auf die wir diesen Holismus und dieses Gewebe des Lebens anwenden wollen. Sehen Sie das Problem? Frage: Eigentlich nicht. Wenn in der manifesten Welt alles gleichermaßen Teil des Ganzen ist, warum sollten wir dann nicht alles akzeptieren? KW: Alles ist nicht gleichermaßen Teil des Ganzen. Alles ist Teil einer Holarchie, und eine Holarchie ist eine Abstufung von Graden der Ganzheit: Manches ist ganzer als anderes. Atome sind Teil von Molekülen, diese von Zellen und diese von Organismen. Die Ganzheit eines Atoms ist etwas Erstaunliches, aber ein Molekül enthält diese ganze Ganzheit und zusätzlich seine eigene komplexere Ganzheit. Und diese Ganzheit des Moleküls, so außerordentlich sie ist, ist vollständig in der Ganzheit einer lebenden Zelle enthalten. Und so geht es in der großen Holarchie oder der Großen Verschachtelung manifesten Daseins weiter. Jede höhere Ebene besitzt mehr Ganzheit, ist höher, weil sie die niedrigeren transzendiert und einschließt zugleich.
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Wichtig ist dabei, dass dies natürlich nicht umgekehrt gilt: Moleküle enthalten Atome, aber Atome keine Moleküle. Jede höhere Ebene umschließt die niedrigere, aber nicht umgekehrt. Wir haben es hier mit einer Rangordnung von Ganzheit zu tun, und diese Rangordnung gehört zum Wesen des Holismus. Holismus ist nur mit einer Holarchie zu haben – andernfalls hat man nur Haufen, keine Ganzheiten. Frage: Wie passen nun die Nazis und der Ku-Klux-Klan in dieses Schema? KW: Die Nazis und der Ku-Klux-Klan sind auch Teil der Holarchie der menschlichen Entwicklung, aber sie sind eine besondere pathologische Version einer sehr niedrigen Ebene dieser Holarchie. Natürlich sind sie "Teil von allem", aber sie nehmen einen sehr niedrigen Platz in diesem hierarchischen "Alles" ein, und dadurch können sie eine höhere und tiefere moralische Haltung gegenüber dem Kosmos sabotieren. Frage: Aber wenn sie so schlecht sind, warum gibt es sie dann überhaupt? Haben sie irgendeine sinnvolle Funktion in einer Holarchie? KW: Oh, jeder durchläuft irgendeine Variante dieser niedrigeren und früheren Stufen. Sie sind sozusagen die Atome und Moleküle der moralischen Entwicklung, aus denen die höheren Zellen und Organismen aufgebaut sind. Bei den Nazis und dem Ku-Klux-Klan liegt ein schwerer Fall eines Entwicklungsstillstands vor. Sie befinden sich auf einer niedrigeren Ebene der Ganzheit. Innerhalb der moralischen Holarchie oder der Abfolge des moralischen Wachstums – dessen Stadien präkonventionell, egozentrisch, konventionell, ethnozentrisch, postkonventionell und weltzentrisch, post-postkonventionell und spirituell sind – stellen der Ku-Klux-Klan und die Nazis einen pathologischen Fall eines Entwicklungsstillstands auf der ethnozentrischen Stufe dar: Ihre Rasse, ihre Gruppe, ihre Religion, ihr erweiterter Stamm ist allen anderen überlegen, die man auslöschen muss. Der Ku-Klux-Klan und die Nazis sind, man kann es nicht leugnen, Teil des Gewebes des Lebens, aber ein Teil, dem man widerstehen muss, weil sie eine niedrigere und daher auch moralisch niedrigere Ordnung der Ganzheit darstellen. Frage: Ein echter Holismus muss also sehr kritisch sein. KW: Ja, und genau hierauf kommt es an. Ein echter Holismus beruht auf einer Holarchie, einer Stufenfolge zunehmender Ganzheit, Einschließung und Zuwendung. Ein echter Holismus umfasst sozusagen verschiedene Ebenen der Liebe, und zwar in beiden Richtungen: den nach oben strebenden Eros und die nach unten strebende Agape. Es muss daher auch eine "unsentimentale Liebe" sein, ein echtes Mitgefühl, kein idiotisches Mitgefühl, das jeder Hierarchie ausweicht. Mit anderen Worten, ein echter Holismus muss eine explizite, kritische Theorie beinhalten. Frage: Und deshalb sehen Sie in Amerika eine Regression. KW: Ja. Es gibt heute von verschiedener Seite Bestrebungen, die postkonventionellen, weltzentrischen und liberalen Errungenschaften der Aufklärung rückgängig zu machen, eine Regression auf soziozentrische und ethnozentrische Renaissancen, Identitätspolitik, rassischen Essenzialismus, Geschlechts-Essenzialismus, völkische Blut-und-Boden-Bewegungen, Ökofaschismus, Verherrlichung des Stammes und die Politik des Selbstmitleids (von einer noch weiteren Regression auf eine egozentrische und narzisstische Ich-Verherrlichung ganz zu schweigen). Kurz, wir haben es hier mit einer Form von Retribalisierung zu tun, die nicht nur in der übrigen Welt auftritt, wo Völker wieder in Rassen und Stämme zerfallen, sondern auch, was besonders bedenklich ist, in Amerika. "Zurück zum edlen Wilden", "Zurück zur Natur", "Zurück zum Stamm" hat wieder Hochkonjunktur, beflügelt von einem FlachlandHolismus ("Wir sind alle gleichermaßen untrennbare Teile des Großen Gewebes"), was in Wirklichkeit kein Holismus, sondern ein Haufismus ist. Damit betreibt man genau die gleiche Retribalisierung und Zersplitterung, weil man sich weigert, Grade der Tiefe anzuerkennen, da doch "alles gleichermaßen Teil des Ganzen ist". Leider ist diese regressive Desintegration auch in der akademischen Welt weit verbreitet; besonders befallen sind die Postmoderne und die extremeren Vertreter der Vielfalt und der Multikulturalität, die jeden Hauch einer kulturellen Regung als Teil der "reichen Vielfalt" des Daseins bejubeln. Nun, wenn wir wirklich Vielfalt wollen, dann müssen wir auf alle Fälle die Nazis einschließen. Wenn wir einen echten Multikulturalismus wollen, dann müssen wir auch den Ku-Klux-Klan einschließen. Frage: Der Fehler liegt also darin, dass keine Wertung nach Maßgabe des Grades von Tiefe vorgenommen wird. KW: Ja, so ist es. Frage: Haben diese Bewegungen der Vielfalt und der Multikulturalität nicht auch etwas Gutes? KW: Aber ja. Diese liberalen Bewegungen versuchen, eine nicht-ethnozentrische oder weltzentrische Haltung einzunehmen, und dies ist universeller Pluralismus. Das Problem liegt nur darin, dass sie in ihrem verständlichen Eifer den Pluralismus betonen und das Universelle vergessen. Aber nur aus einer postkonventionellen universellen, weltzentrischen Haltung kann man einen echten Pluralismus pflegen und niedrigere Haltungen wie den Nazismus zurückweisen. Das bedeutet, dass wir, wenn wir wirklich pluralistisch sein wollen, eine moralische Entwicklung fördern müssen, die von der Egozentrik über die Ethnozentrik zur Weltzentrik fortschreitet. Wir dürfen uns nicht zurücklehnen und sagen: "Prima, alle Auffassungen sind gleich gut, weil für uns reiche Vielfalt die Hauptsache ist." Insofern der Liberalismus/die Postmoderne dieser kopflosen Vielfalt anhängt, stellen sie sich selbst ein Bein. Sie untergraben und zerstören damit ihre eigene Grundlage. Der Liberalismus ist eine sehr hohe postkonventionelle Entwicklungsstufe; wenn er aber dann eine Kehrtwendung vollzieht und behauptet, dass man alle Haltungen gleichermaßen schätzen müsse, dann begeht er Verrat an seinen eigenen Grundlagen. Mit anderen Worten, der Liberalismus bestärkt heute diejenigen Haltungen, die den Liberalismus gerade zerstören. Wenn er sich gegen das moralische Urteil sträubt, dass nicht alle Haltungen gleich sind, dass weltzentrisch besser ist als ethnozentrisch und egozentrisch, dann redet er damit zwangsläufig einer Rückkehr zum Stammesdenken, zu niedrigeren Stadien das Wort, und dies muss den Liberalismus und das Gewebe dieser Gesellschaft bis zur Unkenntlichkeit zerstückeln. Hierin liegt also der innere Widerspruch und die selbstzerstörerische Haltung des extremen Liberalismus und der Postmoderne. Natürlich unterstütze ich viele ihrer Ziele, insbesondere den universellen Pluralismus; meine Kritik gilt der selbstzerstörerischen Art und Weise, wie sie dies anpacken. Frage: Sie müssten sich also einer echten Holarchie zuwenden, einer moralischen Rangordnung, die zu einem universellen Pluralismus hinführt, aber kritische Distanz gegenüber niedrigeren moralischen Stadien wahrt. KW: Ja. Alle reden vom Holismus, vom Gewebe des Lebens, davon, dass man einschließender sein müsse, von Mitgefühl und Zuwendung. Wenn man aber einmal konsequent ist und nicht nur eine nebulöse Flachland-Definition vom "Gewebe des Lebens" und "Einheit in der Vielfalt" vertritt, dann stellt man fest, dass die wirkliche Welt in allen vier Quadranten holarchisch ist, eine verschachtelte Hierarchie. Damit ist eine Rangordnung von Wert und Tiefe und Ganzheit verbunden, weshalb dies eine im besten Sinne kritische Haltung sein muss. Ein wahrer Holismus verlangt nach einer neuen kritischen Theorie. Student: Sind Sie deshalb manchmal polemisch? KW: Nein, man kann kritisch sein, ohne polemisch zu sein. Ich bin gelegentlich aus anderen Gründen polemisch.
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Student: Welchen? KW: Wir haben es auf diesem Gebiet allzu oft mit einer gewissen Scheinheiligkeit zu tun – in der Art "wir haben das neue Paradigma, das die Welt verwandeln wird" oder "wir haben eine neue Spiritualität, die den Planeten retten wird" usw. Sie wissen selber, mit welcher Selbstgefälligkeit und Selbstgerechtigkeit es da zugeht. Man erlebt das doch die ganze Zeit. Polemik ist eine altehrwürdige Methode auch und gerade von spirituellen Lehrern, um der ganzen Wichtigtuerei einen Dämpfer aufzusetzen und einmal auf den Tisch zu hauen. Vor allem kann man so mit dem idiotischen Mitleid aufräumen. Ich glaube, dass ab und zu eine kräftige Dosis Polemik äußerst notwendig ist, vor allem auf diesem Gebiet, das sich doch viel zu wichtig nimmt.
Sonntag, 5. Oktober – Denver Heute sind 30°C, eine Rekordtemperatur für diese Jahreszeit, weshalb Marci und ich nach einem langen Arbeitsmorgen nach Denver gehen, um durch die klimatisierten Geschäfte zu bummeln. Ich habe irgendwie das Gefühl, dass mich das alles nichts angeht. Aber es ist ein großer Unterschied zwischen Zeugenschaft und Depersonalisation. In ersterem Fall ist man frei von Verhaftungen, in letzterem entfremdet. In ersterem Fall nimmt man auf einem Fundament des Gleichmuts leidenschaftlich an allem Anteil, was einem begegnet, in letzterem ist man abgestumpft und unfähig, für irgendetwas Leidenschaft zu empfinden. In ersterem Fall sieht man alles mit intensiver Klarheit und Schärfe, in letzterem ist es, wie wenn man die Welt durch das verkehrte Ende eines Fernrohrs betrachten würde. Irgendwie stelle ich an mir eine leichte, aber für mich ungewöhnliche Dosis des Letzteren fest. Tritt ein in die Leerheit, und entdecke die LEERHEIT.
Montag, 6. Oktober – Boulder Er heißt John, und er ist in einem der Betreuungsheime untergebracht, für die Marci Marketing- und Verwaltungsaufgaben wahrnimmt. John wird wie vor kurzem seine Frau an Aids sterben. Über seinem Bett – ein schmales Bett in einem kleinen Zimmer mit vier weiteren schmalen Betten, und nichts als ein dünner Vorhang grenzt ein kleines bisschen Privatsphäre ab – hängt ein Bild von ihm mit seiner Frau, wie sie einmal waren: gesund und strahlend, glücklich, beides sehr gut aussehende Menschen. Dieses Bild ist alles, was John noch von seinem einstigen Leben geblieben ist. Die Ärzte geben ihm vielleicht noch zwei Wochen, und John weiß es. "Sie sagten, dass es mir hier gefallen würde, aber ich halte es hier nicht aus", sagt er zu Marci, die sich darum bemüht hatte, dass er in diesem Heim aufgenommen wurde. Die traurige Wahrheit ist, dass John es nirgendwo so gut haben könnte wie hier, und dass er von Glück sagen kann, dass Marci ihm hier einen Platz verschafft hat. Aber unter solchen Umständen trägt die Erinnerung nicht weit. "Ich will es nicht! Ich will es nicht! Ich will es nicht! Sehen Sie mich an!" John zieht seinen Schlafanzug hoch, und dort, wo seine Beine waren, sind Stöcke, bleiche Knochen, in Pergamentpapier eingeschlagen. "Man hat mich belogen, man hat mich belogen. Ich werde sterben, ich habe nur noch ein paar Wochen, und sehen Sie mich an. Ich halte es hier nicht aus! Und ich hasse das Essen, vor allem das Essen. Ich möchte nicht so sterben." "John, hören Sie zu. Was möchten Sie denn gerne essen?" Und John zählt eine lange Liste von Speisen auf, die er möchte, aber es sind Speisen, die er früher einmal liebte. Er isst jetzt nichts mehr, gleichgültig, was man ihm anbietet. "Und vor allen Dingen will ich mexikanische Burritos und eine Coke." Marci stand heute Morgen früh auf, brachte ihm Burritos und Coke und stellte beides neben sein Bett in dem winzig kleinen Raum, wo er im Sterben liegt.
Dienstag, 7. Oktober Ich denke an John, und wieder einmal wird mir klar, dass alle spirituelle Praxis eine Probe auf den Tod und im besten Fall dessen Inszenierung ist. Wie Angelus Silesius sagte: "Wer nicht stirbt, bevor er stirbt, der verdirbt, wenn er stirbt!" Mit anderen Worten, wenn man jetzt in diesem Augenblick für die Empfindung des getrennten Selbst stirbt und dafür das wirkliche Selbst entdeckt, das der ganze weite Kosmos ist, dann ist der Tod dieses bestimmten Körpergeistes nur ein Blatt, das vom ewigen Baum fällt, der man selbst ist. Meditation heißt, diesen Tod jetzt in diesem Augenblick zu üben, indem man im zeitlosen Zeugen ruht und sich vom endlichen, objektiven, sterblichen Ich ent-identifiziert, das man als Objekt betrachten kann. Im leeren Zeugen, im Großen Ungeborenen, gibt es keinen Tod, und zwar nicht deshalb, weil man in der Zeit ewig leben würde, sondern deshalb, weil man die Zeitlosigkeit dieses ewigen Augenblicks entdeckt, der niemals überhaupt in diesen Zeitstrom eintritt. Wenn man frei als der leere Zeuge in diesem großen Ungeborenen ruht, ändert der Tod nichts Wesentliches. Und doch ist jeder Tod auf seine eigene Weise etwas sehr, sehr Trauriges.
Mittwoch, 8. Oktober – Denver Abendessen mit Leo und unseren Freunden Paul und Cel bei Mortons in der LoDo. Leo ist ein außerordentlich netter Mensch, sehr intelligent und gutmütig. Motorola ist die einzige Firma, die in China arbeiten darf, ohne einen Vertrag mit der kommunistischen Regierung haben zu müssen; zur Zeit hat Motorola in China 67000 Mitarbeiter. Leo war gerade vor kurzem in Peking, und Paul und Cel werden die letzten drei Novemberwochen geschäftlich dort sein, weshalb sie Reisetipps austauschten. In der Geschäftswelt geht es um die Herstellung und den Verkauf von Waren und Dienstleistungen. Aber diese rechtsseitigen Produkte werden letztlich vom linksseitigen Bewusstsein erzeugt, und deshalb besteht Leos Arbeit, wie er sagte, zu einem großen Teil darin, die innere Entwicklung von Managern zu fördern, und dadurch stieß er auch auf meine Bücher. Und darum sind die drei wichtigsten Bereiche für die Anwendung der Bewusstseinsforschung Bildung, politische Theorie und die Geschäftswelt.
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Der Abend endete früh, weil Leo um acht Uhr im Flugzeug sein musste. Paul und Cel fuhren wieder nach Hause, und Marci und ich – wir hatten uns bereits ein Zimmer im Brown Palace genommen – saßen im Roosevelt Room, tranken einen Martini und lösten uns in einem romantischen Dunstschleier auf.
Freitag, 10. Oktober – Boutder Sam ist aus Frankreich zurück, wo er einen Monat lang Meditation lehrte, und Roger ist gerade weg zu einem einmonatigen Meditations-Retreat. Frances' Sohn Bob sagt: "Um voranzukommen, zieht sich Roger zurück."
Sonntag, 12. Oktober Marilyn Schlitz ist in Boulder und kam zu Marci und mir zu einem gemütlichen Abendessen. Marilyn ist eine hochintelligente Frau: Sie sitzt in verschiedenen Verwaltungsräten in Harvard, Stanford, National Institute of Health, Arizona Center for Consciousness Studies, Esalen, IONS usw. Vor allen Dingen aber ist sie ein außerordentlich liebenswürdiger Mensch. Sie ist verheiratet mit Keith Thompson, und ich mag sie beide sehr. Keith und ich kennen uns schon sehr lange. Sein geistiger Ziehvater war Mike Murphy, und er hat mehrere Bücher geschrieben bzw. herausgegeben. Er schreibt sehr schön, sehr literarisch und geschmeidig (was auf diesem Gebiet außerordentlich selten ist). Keith arbeitet jetzt als Redakteur am Institute of Noetic Sciences (IONS), wo Marilyn Forschungsleiterin ist. Marilyn interessiert sich derzeit insbesondere für die Erforschung der Weisheit von eingeborenen Kulturen, aber ohne die Romantik, die in diesem Forschungszweig so weit verbreitet ist (über einen bestimmten Stamm sagt sie: "Vergessen wir doch nicht, dass diese Menschen Kopfjäger sind"). Eine solche ausgewogene Haltung, die sowohl die Weisheit als auch die Verworfenheit zur Kenntnis nimmt: Das ist es, was ich mir wünsche.
Dienstag, 14. Oktober Seit ich EKL und insbesondere Eine kurze Geschichte des Kosmos geschrieben habe, finden meine Arbeiten in sehr konventionellen und orthodoxen Bereichen, insbesondere Politik, Geschäftswelt und Bildungswesen, immer mehr Interesse. Dies hat, wie ich meine, sehr interessante Gründe. In den früheren Phasen meines Werks (was ich in Das Wahre, Schöne, Gute als Wilber-I, Wilber-II und Wilber-III bezeichnet habe) spielen das transpersonale und das spirituelle Reich eine ganz entscheidende Rolle. Wenn man mit diesen Modellen arbeiten will, muss man die höheren und transzendenten Ebenen mit einschließen. Dies beschränkt jedoch die Brauchbarkeit dieser Modelle in der realen Welt recht erheblich, weil nur wenige Menschen diese höheren Ebenen erreicht haben oder auch nur an ihnen interessiert sind. Deshalb gibt es in der Geschäftswelt und im Bildungswesen kaum Anwendungen hierfür. Mit Wilber-IV (den vier Quadranten mit jeweils einem runden Dutzend Ebenen) ergaben sich plötzlich Anwendungsmöglichkeiten für eine Fülle von Disziplinen, weil die vier Quadranten sehr viele alltägliche Sachverhalte abdecken. Man braucht nicht die höheren und transpersonalen Ebenen eines jeden Quadranten zu berücksichtigen oder auch nur zu akzeptieren, um aus den Quadranten selbst Nutzen ziehen zu können. Und die Quadranten sind nützlich, weil sie in einer einfachen, leicht verständlichen Weise helfen, den Flachland-Reduktionismus zu bekämpfen, der in der modernen und postmodernen Welt so überhand genommen hat. Weil ein hemmungsloser Reduktionismus schlicht falsch ist, muss er sich auf alle Aktivitäten in allen Tätigkeitsgebieten lähmend auswirken, von der Geschäftswelt über die Politik bis zum Bildungswesen; die vier Quadranten bieten eine Möglichkeit, einer solchen Lähmung entgegenzuwirken. Das wird sich in verschiedenster Hinsicht auszahlen, von einer verantwortungsvolleren Politik über ein effizienteres Bildungswesen bis hin zu einer Steigerung der Gewinne. Ich glaube, dass dies der Grund ist, warum dieses Modell heute auf so vielen theoretischen und praktischen Gebieten angewandt wird. Einige Beispiele: Bill Godfrey, Leiter der Greenhills School in Ann Arbor, Michigan, schickte mir eine ausführliche Zusammenfassung über "Die Anwendung der Quadrantentheorie auf unsere Lehrplangestaltung und unser gesamtes Schulmodell". Dies ist ein beeindruckendes Dokument, in dem die allgemeinen Zielsetzungen und Mittel der schulischen Bildung unter Heranziehung der vier Quadranten (und ihrer Entwicklungsebenen) dargestellt werden; nach diesen Vorgaben wird heute in Greenhills gearbeitet. Ed McManis schreibt mir, dass die Denver Academy, eine Schule für Kinder mit Lernschwäche, "schon viele dieser Ideen in unserem Stundenplan umgesetzt hat". Einige Dutzend ähnlicher Briefe habe ich von Bildungseinrichtungen aus der ganzen Welt erhalten. Die Berater von Gouverneur Jeb Bush in Florida riefen an und wollten über diese Ideen in der Politik diskutieren – ein Beispiel aus dem ativen Lager –, und Michael Lerner und seine Organisation Politics of Meaning halten sie im liberalen (oder postliberalen) Lager für hilfreich; das war nicht möglich, solange ich mich hauptsächlich auf die "höheren Reiche der menschlichen Natur" konzentrierte. Die vier Quadranten gelten auch für die niedrigeren und mittleren Bereiche, und dort spielt sich in der wirklichen Welt das meiste ab. Dr. Kenneth Cox von der NASA schickte A Futurist Perspective for Space, in dem anhand dieses Modells künftige Richtlinien für die NASA und die Raumforschung entwickelt werden. In diesem Bericht sind die zwanzig Grundaussagen, das Wesen der Holons, ihre vier Grundmerkmale usw. dargestellt; in der Schlussfolgerung heißt es: "Die Erde/der Weltraum ist ein Holon, und evolutionäre Muster können entwickelt werden, indem man sich mit ihren Merkmalen als Ganze/Teile beschäftigt." Das wäre wirklich etwas, wenn die NASA versuchen würde, durch die Erläuterung des Wesens von Holons Mittel vom Kongress bewilligt zu bekommen. "Tut uns Leid, Colonel, aber wir müssen wieder auf den Erdboden zurück." Ron Cacioppe, Wirtschaftsfachmann aus Australien, schreibt gerade an einem Text über Business-Management auf der Grundlage dieser Ideen, und ich bekomme immer mehr Zuschriften von Geschäftsleuten und Managern (wie z.B. Leo Burke von Motorola). Daryl Paulson, Gründer der BioScience Laboratories, hat eine besonders interessante Arbeit über Business-Management geschrieben. Daryl zeigt auf, dass es vier große Theorien des Business-Management gibt, Theorie X (individuelles Verhalten), Theorie Y (individueller Wissensstand), Systemmanagement (Organisationsstruktur und Funktion) und Kulturmanagement (Management gemeinsamer Werte). Dies sind natürlich genau die vier Quadranten. Diese Auffassung, die Daryl sehr ausführlich entwickelt und dokumentiert, erlaubt es
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nicht nur, diese vier wichtigen Managementstile miteinander zu vereinigen, sondern auch, die Wirtschaft in einen viel umfassenderen Rahmen einzubinden, der diesem menschlichen Tätigkeitsbereich Sinn und Substanz verleiht. Diese Auffassung ist nicht nur eine theoretische Spielerei, sondern hat sehr konkrete Anwendungen. Daryl Paulson hat auch eine Arbeit mit dem Titel Die Entwicklung wirksamer topischer Bakteriostatika (also einer antibakteriellen Seife) geschrieben, die wie folgt beginnt: "Wenn ein Hersteller Produkte einführen will, die auf dem Markt erfolgreich sind, muss er diese Produkte aus einer mehrdimensionalen Perspektive entwickeln." Ganz genau. "Das holonische Quadrantenmodell besagt, dass mindestens vier Perspektiven berücksichtigt werden müssen, die soziale, die kulturelle, die subjektiv persönliche und die objektiv persönliche. Betrachten wir das Quadrantenmodell etwas ausführlicher." Dann legt er dar, warum und wie die vier Quadranten ein sehr viel besseres Verständnis der Markterfordernisse und der Voraussetzungen für eine erfolgreiche Platzierung auf dem Markt ermöglichen. Mit meiner Arbeit erreichte ich früher Leute, die sich für Satori interessierten – jetzt erreiche ich Leute, die sich für Seife interessieren. Susan Campbell, die viel mit John Robbins zusammengearbeitet hat, dem Verfasser von Diet for a New America, interessiert sich für Ernährung und allgemeine Gesundheit, insbesondere bei Kindern. Von ihr stammt The Healthy School Lunch, ein von den Kritikern viel gelobtes Buch über die gesunde Ernährung in Schulen, und sie arbeitet jetzt an ihrem zweiten Buch, in dem sie anhand der vier Quadranten ein Ernährungsprogramm entwickeln will. Dr. Thom Gehring, eine Kapazität auf dem Gebiet der Gefangenenbildung, schreibt mit seiner Frau Carolyn Eggleston "ein Buch über die Geschichte der resozialisierenden Bildung (Gefangenenbildung), in der die Fortschritte auf unserem Gebiet in jedem Quadranten innerhalb verschiedener historischer Zeiträume dargestellt werden". Thom vertritt einen sehr interessanten Standpunkt: "Ich nehme die Empfehlung 'alle Quadranten, alle Ebenen' sehr ernst, aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt sehe ich mich nicht in der Lage, in meiner Darstellung schon den Sprung auf 'alle Ebenen' zu vollziehen. Deshalb versuche ich, von einem anfängerhaften 'Allquadranten-Verständnis' zu einem reiferen 'Allebenen-Verständnis' zu gelangen. Könnte dies eine vernünftige und erfolgversprechende Strategie sein?" Durchaus, und das empfehle ich ja auch: Es ist viel einfacher, mit vier Quadranten zu beginnen, weil sich diese auf praktisch alle konkreten Verrichtungen beziehen, und dann zu einer Orientierung auf alle Ebenen überzugehen, die auch die höheren transpersonalen Reiche einschließt. Jedenfalls habe ich inzwischen mehrere hundert Belege für einen, wie ich glaube, wachsenden Widerstand gegen den FlachlandReduktionismus erhalten. Ich freue mich, dass meine Arbeit an diesem Trend nicht unbeteiligt war, auch wenn es mir letztlich mehr um die integrierenden und holistischen Ansätze im Allgemeinen geht; dies ist jedenfalls sehr ermutigend.
Mittwoch, 15. Oktober Entwicklung und Regression (Telefonkonferenz, Fortsetzung) Frage: Sie sagen oft, dass jedes Stadium angemessen ist, aber das nächste angemessener. Was meinen Sie damit? KW: Nun, sehen Sie, wenn man eine wirklich holistische Auffassung anstrebt, muss man irgendwie eine Möglichkeit finden, alle Auffassungen in das holistische Bild einzubinden; aber nicht alle Auffassungen sind gleichermaßen bedeutsam und können dies auch nicht sein. Man muss also eine Möglichkeit finden, Auffassungen nach ihrer Bedeutung zu ordnen, weil man nämlich andernfalls, wie wir gesagt haben, Mutter Teresa und Jack the Ripper auf die gleiche Ebene platzieren muss, und man muss auch die Nazis zum multikulturellen Festmahl laden, weil sie doch angeblich alle "untrennbarer Bestandteil des großen Gewebes sind". Und hierin liegt doch ein Problem, nicht wahr? Hier wird nun der Gedanke der Entwicklung wichtig. Entwicklung liefert den Schlüssel – oder zumindest einen Schlüssel – zu diesem überaus schwierigen Problem. In praktisch allen uns bekannten Entwicklungsformen transzendiert jedes spätere Stadium die früheren und schließt sie ein, und damit bekommt man eine ganz natürlich, innere, zwangsläufige Stufenfolge, eine Stufenfolge von Ganzheit und Tiefe. Wir haben uns schon mit dem einfachen Beispiel des Übergangs von Atomen über Moleküle und Zellen zu Organismen befasst: Jedes dieser Stadien ist ganz, aber jedes darauf folgende ist "ganzer". Diese Entwicklungsfolge zunehmender Ganzheit und Tiefe liefert den entscheidenden Schlüssel für die Lösung der Frage, wie alle Auffassungen im großen Bild Platz haben und zugleich einige Auffassungen besser sein können als andere, weil sie mehr Tiefe haben. Frage: Können Sie hierfür einige Beispiele aus der menschlichen Entwicklung geben? KW: Nehmen wir die moralische Entwicklung, weil wir schon beim Thema sind. Kohlbergs moralische Stadien wurden in über vierzig verschiedenen Kulturen einschließlich der Dritten Welt überprüft, und es haben sich keine bedeutsamen Abweichungen von diesem Schema gezeigt. Carol Gilligan sagt zwar, dass Frauen Kohlbergs Stadien "mit einer anderen Stimme" durchlaufen (nämlich beziehungs-, nicht handlungsorientiert), aber sie stellt keineswegs die drei Hauptstadien als solche in Frage, nämlich von präkonventionell (was ich möchte, ist richtig – egozentrisch) über konventionell (was die Gruppe möchte, ist richtig – soziozentrisch) zu postkonventionell (was für alle Menschen ohne Ansehen von Rasse, Geschlecht und Glaubensbekenntnis richtig ist – weltzentrisch). Dies ist also ein gutes Beispiel. Das Entscheidende ist: Wir alle beginnen mit dem präkonventionellen Stadium, entwickeln uns weiter zum konventionellen und erreichen schließlich – mit Glück – das postkonventionelle Stadium. Keines dieser Stadien kann man überspringen oder umgehen. Jede spätere Stufe baut auf gewissen Merkmalen auf, die man auf der früheren Stufe erworben hat, und fügt dann ihre eigenen einzigartigen und emergenten Elemente hinzu, wie z.B. Buchstaben vor Wörtern kommen müssen, Wörter vor Sätzen und Sätze vor Absätzen. Niemals ist irgendjemand von Buchstaben zu Sätzen gelangt, indem er Wörter übersprang. Dies bedeutet, dass die niedrigeren Stadien nicht einfach falsch, dumm oder fehlgeleitet sind. Die präkonventionellen Stadien sind die moralischen Stadien, die man zu diesem frühen Zeitpunkt haben kann. Man kann sich noch nicht in die Rolle eines anderen hineinversetzen, man kann nicht an gegenseitigem Verständnis teilhaben, man hat eine magische und narzisstische Weltsicht, und deshalb ist die moralische Haltung notwendigerweise egozentrisch und präkonventionell. Aber weil man unter diesen Umständen einfach nicht mehr erreichen kann, sind diese frühen moralischen Stufen durchaus angemessen; sie sind schlicht phasenspezifisch. Mit der Entwicklung der konventionellen Moral lernt man jedoch, sich in die Rolle eines anderen hineinzuversetzen, weshalb sich die moralische Reaktion vom Ich zum Wir erweitert und vertieft. Dies ist eine angemessenere moralische Reaktion, weil sie andere einbezieht. Natürlich ist die moralische Reaktion dann noch in einer Gruppen-Sichtweise befangen (man nennt dieses Stadium auch das konformistische), aber auch hier gilt wiederum, dass man in diesem Stadium keine andere Wahl hat. Mehr kann man mit den
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beschränkten Mitteln, über die man auf dieser Stufe verfügt, nicht erreichen. Auch dieses Stadium ist also angemessen und phasenspezifisch. Mit dem Erscheinen der postkonventionellen Moral versucht man abzuwägen, was nicht nur für die eigene Gruppe, den eigenen Stamm und die eigene Religion gut und richtig ist, sondern für alle Menschen ohne Ansehen ihres Glaubensbekenntnisses, ihres Geschlechts oder ihrer Hautfarbe. Die moralische Reaktion erweitert und vertieft sich auf eine noch größere Gruppe von Menschen. Man hat dann eine größere Ganzheit erreicht, und deshalb ist dieses Stadium seinerseits wieder angemessener. Und wie die meisten von Ihnen wissen, ist dies innerhalb meines Systems die Pforte zu einer spirituellen Moral, die sich auf alle fühlenden Wesen überhaupt erstreckt. Frage: Es gibt also Angemessenheit, mehr Angemessenheit und noch mehr Angemessenheit... KW: Ja. Jedes Stadium ist angemessen, jedes darauf folgende Stadium ist angemessener. Und dies ist, um es zu wiederholen, ein wichtiger Punkt, weil man so alle Auffassungen in einem Gesamtbild unterbringen kann, ohne aber ihnen zugleich gleiches Gewicht zu verleihen. Frage: Gilt dies ebenso für Weltsichten? KW: Selbstverständlich. Wie die meisten von Ihnen wissen, gehe ich von einer Entwicklungsfolge von Weltsichten aus, von der archaischen über die magische, mythische, rationale, existenzielle, psychische, subtile und kausale bis zur nichtdualen. Jede dieser Weltsichten ist wichtig und angemessen; jede folgende Weltsicht ist wichtiger und angemessener. Probleme entstehen im Falle einer Regression, weil man dann zu einer Auffassung zurückkehrt, die zu einem früheren Zeitpunkt angemessen war, aber jetzt obsolet geworden ist. So ist zum Beispiel die magische Weltsicht als solche keine Krankheit, sondern die für die Phase des Vierjährigen völlig angemessene Weltsicht. Vier Jahre alt zu sein ist keine Krankheit. Darüber hinaus kann selbst noch für Erwachsene der magische Erkenntnismodus in verschiedenen Situationen eine wichtige, wenn auch sublimierte Rolle spielen. Wenn man jedoch als Erwachsener in einer rational-pluralistischen Kultur auf nichts als egozentrische Magie regrediert, dann hat man ein echtes Problem, dann leidet man an einer "Gemütskrankheit". Bei einer solchen Regression muss das Gefüge mehrerer höherer und komplexerer Stufen zerrissen werden, und dies ist eine Katastrophe und sehr schmerzlich. Die tektonischen Platten der eigenen Psyche gleiten auseinander, und man fällt durch die Spalten. Frage: Eine letzte Frage noch, wenn Sie erlauben. Sie sagten, dass der Liberalismus eine hohe Entwicklungsleistung darstellt, nämlich die weltzentrische Stufe des universellen Pluralismus. KW: Ja. Frage: Wie kann der Liberalismus zu dieser Haltung ermuntern, ohne seine Überzeugungen anderen aufzudrängen? KW: Sind Sie am College? Frage: Ja. KW: Sie haben politische Theorie belegt? Frage: Ja. KW: Habe ich mir schon gedacht, denn Sie sprechen hier das zentrale Problem des Liberalismus an. Der Liberalismus vertritt die Auffassung, dass der Staat seinen Bürgern nicht vorzuschreiben hat, wie sie zu leben haben. Der Mensch muss die Freiheit haben, seine eigene Religion, seine eigenen Überzeugungen und seinen eigenen Weg zum Glück zu wählen (solange er dabei nicht anderen Schaden zufügt oder in ihre Rechte eingreift). Mit anderen Worten, der liberale Staat hat seine moralischen Wurzeln im postkonventionellen, universellen Pluralismus, und diese weltzentrischen Prinzipien sind in seinen Gesetzen und Institutionen festgeschrieben, um egozentrische und ethnozentrische Tendenzen fern zu halten. In Demokratien werden Gesetze aber letztlich vom Volk gemacht und getragen, und dies bedeutet, dass die Existenz des liberalen Staats davon abhängt, dass zumindest ein erheblicher Teil seiner Bevölkerung die postkonventionelle Ebene erreicht. Nur von der postkonventionellen Ebene aus kann "reiche Vielfalt" toleriert werden; wenn man aber nur reiche Vielfalt fördert, dann untergräbt man damit jede Notwendigkeit, sich überhaupt auf die postkonventionelle Ebene zu entwickeln (weil jede Haltung, also auch die egozentrische und ethnozentrische, gleichermaßen geschätzt werden muss, womit aber jeglicher soziale Anreiz zu moralischem Wachstum wegfällt). Wir haben also ein Dilemma: Wie kann der Staat die Menschen zur Entwicklung auf das postkonventionelle Stadium des universellen Pluralismus ermuntern, ohne sie dazu zu zwingen? Wenn dem Liberalismus hierzu keine Lösung einfällt, dann sind der Liberalismus und echter Multikulturalismus dem Untergang geweiht. Frage: Und das war ja meine Frage ... KW: Nun, ich möchte Ihnen eine kurze Antwort geben. Es ist richtig, dass der Mensch das Recht auf "Leben, Freiheit und das Streben nach Glück" hat, aber auch der Staat hat gewisse Rechte. Eines davon ist das Recht, von seinen Bürgern gewisse Grundfertigkeiten zu verlangen, die für den Zusammenhalt und das Überleben der Gesellschaft notwendig sind. Deshalb wird es seit langem akzeptiert, dass der Staat das Recht hat, Krieg zu führen, Menschen für die Kriegführung einzuziehen, zu verlangen, dass Kinder gegen ansteckende Krankheiten geimpft werden. Für unseren Zusammenhang besonders wichtig ist, dass der Staat auch das Recht hat, eine Bildungspflicht bis zu einem bestimmten Niveau vorzuschreiben. Traditionell war nun die liberale Erziehung genau das Instrument, mit dessen Hilfe der liberale Staat letztlich die Forderung nach Entwicklung durch die Hintertür für seine Bürger hereinschmuggelte. Jeder Bürger muss ein gewisses Bildungsniveau erreichen. Dies war mit der Hoffnung verbunden, dass man im Rahmen einer liberalen Erziehung die Voraussetzungen für die Entstehung einer liberalen Moral schaffen könne, das heißt für einen postkonventionellen, weltzentrischen, universellen Pluralismus, wie auch immer man dies bezeichnen mag. Und ich persönlich halte dies für eine gute Idee. Man kann Pflanzen oder Menschen nicht zum Wachstum zwingen, aber man kann die Umgebungsbedingungen schaffen, in denen Wachstum optimal möglich ist (indem man zum Beispiel die Pflanze gießt). Der Staat kann kein Wachstum verlangen, aber er kann die Schaffung günstiger Bedingungen vorschreiben, und genau das hat er traditionell in der allgemein akzeptierten Forderung nach einer allgemeinen Schulpflicht getan. Frage: Damit hängt also sehr viel von der Erziehung ab. KW: Auf alle Fälle. Und eben deshalb liegt mit dem Bildungswesen in Amerika einiges im Argen. Der heutige Lernbetrieb ist in weiten Teilen von extremen postmodernen Agenden beherrscht und weist erschreckend regressive Tendenzen auf. Einerseits haben die multikulturellen Bewegungen sehr viel dazu beigetragen, dass der universelle Pluralismus wirklich pluralistisch ist, indem er viele früher marginalisierte Gruppen eingeschlossen hat. Dies ist einfach die Vollendung der liberalen Forderung nach gleichem Zugang für alle ohne Ansehung des Geschlechts, der Hautfarbe und des Glaubensbekenntnisses, die Vollendung des weltzentrischen oder universellen Pluralismus, und in dieser Hinsicht bin ich ein glühender Verfechter dieser postmodernen Bewegungen, insbesondere im Bildungswesen.
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Aber der Liberalismus ist, wie schon gesagt, in seinem Eifer oft über das Ziel hinausgeschossen und in innere Widersprüche geraten. Ziel eines liberalen/multikulturellen Bildungswesens muss es sein, bestimmte grundlegende Fähigkeiten zu vermitteln und Rahmenbedingungen zu schaffen, innerhalb deren eine freie moralische Entwicklung von einer egozentrischen über eine ethnozentrische/soziozentrische zu einer weltzentrischen/pluralistischen Haltung stattfinden kann. Aber die neue linke Agenda hat hier des Guten bei weitem zu viel getan und damit ihre eigenen hohen Ziele sabotiert. Die mittlere und höhere Schulbildung in Amerika fördert heute gerade eine ethnozentrische Identitätspolitik, Geschlechter-Essenzialismus, rassische Identität und die Politik des Selbstmitleids – alles unter dem Motto "reiche Vielfalt". Geschichte wird als Selbstwerttherapie gelehrt: Es geht nicht darum, was wann und wo geschah, sondern darum, dass das damals im Vergleich zu uns alles doch höchst unmoralische Penner waren. Unter Berufung auf die Werte der liberalen Aufklärung wird die ganze bisherige Geschichte einschließlich der liberalen Aufklärung geschmäht. Und erschreckenderweise schafft es dieses Bildungssystem oftmals auch noch, nicht nur eine Regression von weltzentrisch auf ethnozentrisch, sondern sogar noch von ethnozentrisch auf egozentrisch zu betreiben. Weg mit diesen garstigen Noten – jeder bekommt eine Eins. Niemand ist besser oder schlechter, was auch bedeutet, dass es in einem selbst keine guten und keine schlechten Seiten gibt ... aber so schneidet man jede Entwicklung ab. Damit bereitet man das Kind in derselben Weise auf die Zukunft vor, wie die Bettler in Indien ihre Kinder auf den Bettlerberuf vorbereiteten: Sie brachen ihnen die Knochen, um ihren beruflichen Erfolg sicherzustellen. Somit betreibt der Liberalismus auch im Bildungswesen eine Politik, die seine eigenen Zielsetzungen konterkariert. Indem der Liberalismus diese Flachland-Auffassungen unterstützt, diese "gleichberechtigte Vielfalt", und sich weigert, Urteile nach Maßgabe unterschiedlicher Tiefe zu fällen, fördert er genau jene Bestrebungen, die den liberalen Bildungszielen diametral zuwiderlaufen. Frage: Trauen Sie dem Bildungssystem die Fähigkeit zur Selbstheilung zu? KW: Nun, das Erstaunliche im Zusammenhang mit Wachstum und Evolution ist ja, dass der Kosmos mit einem Eros ausgestattet ist, einem inneren Drang, höhere und tiefere Ganzheiten zu entwickeln. Die regressiven Strömungen – die, wie ich glaube, von einem Thanatos impulsiert sind, einem Art Todestrieb – werden früher oder später mit ihren schmerzlichen inneren Widersprüchen konfrontiert werden. In den letzten Jahren gab es in Amerika eine heilsame Gegenbewegung gegen diese regressiven Bestrebungen und einen Ruf nach durchsetzbaren Bildungsstandards. Insgesamt bin ich daher vorsichtig optimistisch. Worum es uns hier doch letztlich geht, ist das traditionelle liberale Bildungsideal, dessen Ziel die Entfaltung des eigenen tiefsten und höchsten Potenzials ist. Das bedeutet, dass man nicht nur Selbstachtung haben und sich so akzeptieren muss, wie man jetzt ist, sondern sich auch wirklichen Herausforderungen stellen muss, und zwar mit echter Weisheit und echtem Mitgefühl; es geht um das Gelübde, sich zu seiner eigenen höchsten Verfassung entwickeln zu wollen. Das kann man aber im unteren, mittleren und höheren Bildungswesen nicht erreichen, wenn man sich idiotisches Mitgefühl statt echtes Mitgefühl leistet.
Freitag, 17. Oktober Mike [Murphy] ist gerade auf Lesereise für The Kingdom of Shivas Irons, die ihn auch nach Denver und Boulder führte, und er kündigte seinen Besuch an. Mikes Buch The Life We Are Given, das er zusammen mit seinem Freund George Leonard geschrieben hat, ist eine hervorragende Darstellung der integralen transformierenden Praxis (ITP), und Mike erzählt, dass es inzwischen in Amerika etwa vierzig ITP-Gruppen gibt. Das ist wirklich erfreulich. Etwa ebenso viele KW-Arbeitskreise gibt es im Lande, und wir unterhielten uns darüber, ob man sie vielleicht zusammenführen könnte. Als Mike wieder ging, sagte Marci: "Ein sprühender Mann. Was bedeutet genau 'endearing'?" "'Hinreißend liebenswert'." "Mike ist hinreißend liebenswert." Tony ist jetzt gerade unterwegs nach Italien, weil eine italienische Stiftung ihm für Was wirklich zählt einen bedeutenden Preis verleihen will. Es ist ein großes Medienereignis; Tony wird eine Rede halten (er schrieb eine recht beeindruckende zwölfseitige Darstellung eines integralen Programms für Gesundheit und Wohlbefinden, ein Programm, das er selbst die meiste Zeit tatsächlich einhält), und sein Bild wird in allen Zeitungen sein. Dann wird er eine Woche in Italien essen und trinken und sich zumindest für diese Woche nicht an alles halten, was er in seiner Rede verkündet hat.
Dienstag, 21. Oktober Kunst und das Auge33 des Betrachters Kunst definiert sich weniger durch das ausgedrückte Objekt, sondern durch die Tiefe des Subjekts, das dieses Objekt ausdrückt. Dies zwingt Kunst und Kunstkritik zum Übergang von der Ironie zur Authentizität – ein zumindest für die heutige Kunstbetrachtung recht unerfreulicher Übergang. Kann die Kunst und die Kunstkritik den Verlust der Ironie, den Verlust der Inauthentizität überhaupt verkraften, der bisher ihr Lebensquell war? Und wenn die heutige Kunst die sardonischen Oberflächen verlässt, wo wird sie sich dann schließlich niederlassen? !!! Wir leben nicht in einer vorgegebenen Welt. Eine der bemerkenswerteren Grundaussagen der postmodernen Revolution in Philosophie, Psychologie und Soziologie lautet, dass es unterschiedliche Weltsichten gibt, je unterschiedliche Möglichkeiten, Erfahrung zu kategorisieren, zu präsentieren, zu repräsentieren oder zu organisieren. Wir haben es nicht mit einer monolithischen Welt mit einer einzigen bevorrechtigten Repräsentation zu tun, sondern vielmehr mit multiplen Welten und pluralistischen Interpretationsmöglichkeiten. Darüber hinaus sind diese Weltsichten oft und sogar in aller Regel von Epoche zu Epoche und von Kultur zu Kultur unterschiedlich. Natürlich darf man diese Einsicht auch nicht verabsolutieren – innerhalb der verschiedenen Interpretationen gibt es genügend gemeinsame Merkmale, sodass unsere Welt nicht auseinander zu fallen braucht. Forschungen haben gezeigt, dass es unter anderem in den Sprachen, in den Affekten, in kognitiven Strukturen und in der Farbenwahrnehmung zumindest einige Gemeinsamkeiten gibt. Diese
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gemeinsamen Strukturen sind jedoch in ganz unterschiedlicher Weise miteinander verflochten und organisiert, wodurch die bunte Vielfalt von Weltsichten entsteht. Wiewohl nun die Zahl dieser Weltsichten theoretisch fast unendlich groß ist, scheinen etwa ein Dutzend von ihnen besonderen Einfluss gehabt zu haben bzw. noch zu haben. Diese von Gelehrten wie Jean Gebser, Gerald Heard, Jürgen Habermas, Michel Foucault, Robert Bellah, Peter Berger und anderen erkundeten großen Weltsichten sind die sensomotorische, die archaische, die magische, die mythische, die mentale, die existenzielle, die psychische, die subtile, die kausale und die nichtduale (was diese Begriffe im Einzelnen bedeuten, wird im Weiteren erläutert werden). Die Frage ist nicht, welche dieser Weltsichten richtig und welche falsch sind, sie sind alle zu ihrer Zeit und an ihrem Ort angemessen. Es geht vielmehr darum, die allgemeinsten Grundzüge einer jeden Weltsicht in einer einfachen Weise, aber so sorgfältig wie möglich zu katalogisieren und für den Augenblick einmal die Frage nach ihrer "Wahrheit" auszuklammern. Versuchen wir einmal, sie einfach so zu beschreiben, wie wenn sie wahr wären. So ist zum Beispiel die magisch-animistische Weltsicht durch eine teilweise Überschneidung von Subjekt und Objekt gekennzeichnet, sodass "unbelebten Objekten" wie Steinen und Flüssen Eigenschaften des Lebendigen oder sogar eine Seele oder ein subjektiver Geist zugedacht werden. Das Kennzeichen der mythischen Weltsicht ist die Heerschar von Göttern und Göttinnen, die keine abstrakten Wesen sind, sondern intensiv wahrgenommene Mächte, die sich ganz direkt in die Angelegenheiten der Erdenbewohner einmischen. Die mentale Weltsicht – deren bekanntestes Teilelement die "rationale Weltsicht" ist – ist durch die Überzeugung gekennzeichnet, dass die subjektive Welt grundsätzlich von der objektiven Welt der Natur geschieden ist. Eines der drängendsten Probleme dieser Weltsicht ist die Frage, in welchem Verhältnis diese beiden Reiche zueinander stehen. Die existenzielle Weltsicht hat erkannt, dass dem Universum vielfältige Perspektiven immanent sind; es gibt daher keine bevorrechtigten Perspektiven, sondern der Mensch muss sich Bedeutung aus einer fürchterregenden Vielfalt von Möglichkeiten selbst destillieren. Die subtile Weltsicht ist durch die Wahrnehmung subtiler Formen und transzendenter Archetypen gekennzeichnet, ursprünglicher Manifestationsmuster, die üblicherweise als göttlich empfunden werden. Das Merkmal der kausalen Weltsicht ist die unmittelbare Erkenntnis eines weiten nichtmanifesten Reichs, das als Leerheit, Verlöschen, Abgrund, das Ungeborene, Ain, Urgrund bezeichnet wird: eine weite Formlosigkeit, aus der alle Manifestation entspringt. Die nichtduale Weltsicht schließlich steht für die radikale Vereinigung des Formlosen mit der ganzen Welt der Form. Diese verschiedenen Weltsichten stellen ein wahrhaft verwirrendes Angebot vielfältiger Möglichkeiten dar, wie sich unsere Erfahrung organisieren und interpretieren lässt. Und dies sind keineswegs alle Weltsichten, noch ist diese Liste unveränderlich oder determiniert; sie entfaltet sich vielmehr ständig im Zuge neuer Möglichkeiten. Aber ohne irgendeine Weltsicht geht man in der blühenden, summenden Wirrnis der Erfahrung unter, wie William James sagte. Mit anderen Worten, alle unsere individuellen Wahrnehmungen sind in gewissem Umfang in bestimmte Weltsichten eingebettet. Innerhalb dieser Weltsichten verfügt man immer noch über unzählige Wahlmöglichkeiten, aber andererseits schaffen Weltsichten gewisse Präferenzen. Wir stehen heute zum Beispiel morgens nicht mehr mit dem Gedanken auf: "Es ist wieder einmal an der Zeit, einen Bären zu erlegen." Jede Weltsicht prägt mit ihren spezifischen Merkmalen alle, die innerhalb dieser Weltsicht geboren werden, und die meisten Menschen wissen oder ahnen nicht einmal, dass sie ihre Wahrnehmungen innerhalb des Horizonts einer vorgegebenen und ganz spezifischen Weltsicht machen. Weltsichten, die größtenteils kollektiv und unbewusst wirksam sind, präsentieren die Welt einfach so – um mit Wittgenstein zu reden –, wie wenn sie der Fall wäre. Die wenigsten Menschen stellen die Weltsicht in Frage, innerhalb deren sie sich bewegen, wie ein Fisch auch nichts davon weiß, dass seine Welt nass ist. Trotzdem, und hier wird es nun wirklich spannend, haben Forschungen innerhalb der Individualpsychologie wie auch der Kulturanthropologie sehr überzeugend gezeigt, dass dem Menschen unter bestimmten Bedingungen das ganze Spektrum der Weltsichten zur Verfügung steht. Es scheint, dass der menschliche Geist alle diese Weltsichten, von der archaischen über die magische, mythische, mentale und subtile bis hin zur kausalen, in potentia in sich trägt. Wenn verschiedene Faktoren entsprechende Bedingungen schaffen, keimen sie auf wie ein Samen, dem Wasser, Erde und Sonne zur Verfügung stehen. Während also in bestimmten Epochen bestimmte Weltsichten vorherrschend waren (zum Beispiel bei den Jägern und Sammlern die magische, bei den Ackerbauern die mythische und in der industriellen Epoche die mental-rationale Weltsicht), scheinen doch alle diese großen Modi der Interpretation unserer Erfahrungen ein Potenzial des menschlichen Organismus zu sein und unter entsprechenden Umständen in jedem Menschen zum Vorschein gebracht werden zu können. Die Antwort auf die Frage "Welche Weltsichten stehen uns jetzt zur Verfügung?" scheint zu lauten: "Alle". Dennoch scheinen zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Kulturen die meisten erwachsenen Menschen einer ganz bestimmten Weltsicht anzuhängen. Aber dies hat einen einfachen Grund: Jede Weltsicht ist eben die Welt eines Menschen. Der Verlust dieser Welt kommt einer Todeserfahrung gleich. Eine Weltsicht preiszugeben, stellt ein psychologisches Erdbeben etwa der Stärke 7,0 auf der internen Richterskala dar, und die meisten Menschen möchten eine solche Erfahrung um jeden Preis vermeiden. Manchmal aber, unter außergewöhnlichen Umständen (oder bei außergewöhnlichen Künstlern), brechen höhere oder tiefere Weltsichten durch die harte Schale unserer Alltagserfahrungen herein, und die Welt ist irgendwie niemals mehr ganz dieselbe. !!! Künstler drücken Weltsichten aus. Steinzeitkünstler zum Beispiel malten den magischen Weltraum: einander überschneidende Objekte, kaum Perspektive, animistische Symbole, kaum Grenzen von Raum und Zeit, Ganze, die mit ihren Teilen austauschbar waren. Mittelalterliche Künstler malten den mythischen Weltraum: ein ganzes Pantheon von Engeln, Erzengeln, einen Gott, einen Sohn dieses Gottes, eine Mutter dieses Gottes, Moses, der das Rote Meer teilte. Das Thema waren die unendlichen Möglichkeiten des mythischen Weltraums, die nicht als Symbole, sondern als Wirklichkeiten dargestellt würden (weil sich, wie wir gesehen haben, alle Weltsichten schlicht als wahr präsentieren). Mit dem Aufkommen der grob unter dem Oberbegriff "Moderne" zusammengefassten Bewegung im Westen, deren Grundlage die mentale Weltsicht mit ihrer Trennung von subjektivem Geist und objektiver Natur war, werden die mythischen Themen nach und nach durch Themen ersetzt, die von der Natur, vom Realismus, vom Impressionismus, vom subjektiven Expressionismus und vom abstrakten Expressionismus beherrscht werden. Mit dem Aufkommen der Postmoderne setzt sich diese Bewegung weiter fort in den existenziellen Weltraum, wo die Vielfalt der Perspektiven, die zunächst die Quelle unendlicher Kreativität war, sich bald in einen lähmenden Albtraum unendlicher Ironie verwandelte. Die existenzielle Weltsicht nennt Gebser die "integral-aperspektivische"; "perspektivisch", weil sie vielfältige Perspektiven eröffnet, von denen keine bevorrechtigt ist, und "integral", weil trotzdem inmitten der Vielfalt eine gewisse Einheit, eine gewisse Kohärenz, eine gewisse Sinnhaftigkeit gestaltet werden müssen. In der vorangegangenen Weltsicht, der mental-rationalen, die Gebser auch die
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"perspektivische" nannte, bevorzugte das rationale Subjekt eine einzige, feste Interpretation der Welt, und dies spiegelte sich in den verschiedensten Tätigkeitsfeldern des menschlichen Geistes, von der Naturwissenschaft (Newton) über die Philosophie (Descartes) und die Porträtmalerei (van Eyck) bis zum Perspektivismus (der mit der Malerei der Renaissance begann, insbesondere Brunelleschi, Alberti, Donatello, Leonardo, Giotto). Mit dem Übergang zur integral-aperspektivischen Sichtweise wird das Subjekt selbst Teil der objektiven Szenerie: Die Kamera wird Teil des Films, der Gedankenfluss des Autors wird Teil des Romans, das Tun des Malers wird auf der Leinwand deutlich sichtbar. Durch vielfältige Perspektiven wird das Subjekt in die Welt der Objekte hineingezogen; es wird zu einem Objekt unter vielen anderen, und alles verschwindet im schwindelerregenden Sog der Selbstreferenzialität, aus dem es kein Entrinnen gibt. Jede Weltsicht tritt auch in pathologischen Formen auf. Die bekannteste innerhalb der rationalen Weltsicht ist der "Kartesische Dualismus", die Spaltung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Geist und Natur. Es ist eine Sichtweise, der, wie es scheint, jeder denkende Mensch in den letzten dreihundert Jahren verbal den Kampf angesagt hat. Aber die postmoderne, integral-aperspektivische Haltung hat durchaus ihre eigene Verirrung, die man üblicherweise als "perspektivischen Irrsinn" bezeichnet, die verrückte Auffassung, dass keine Auffassung besser sein könne als eine andere. Von der noblen Forderung ausgehend, dass man all den vielfältigen möglichen Sichtweisen fair und unparteiisch gegenübertreten müsse ("Dualismus und reiche Vielfalt") schlittert die Postmoderne in ihren extremen Formen in die mörderische Auffassung, dass keine Sichtweise besser sein könne als eine andere, eine Auffassung, die zu einer völligen Lähmung des Denkens, Wollens und Handelns führt. Und es ist wirklich ein Irrsinn: Sie behauptet, dass keine Auffassung besser sei als eine andere, mit Ausnahme der eigenen, die in einer Welt, in der doch angeblich nichts besser ist, besser sein will. Wenn denn wirklich keine Sichtweise besser wäre als eine andere, dann stehen die Nazis und der Ku-Klux-Klan moralisch auf derselben Stufe wie, sagen wir: Kunstkritiker. "Aperspektivischer Irrsinn" ist wohl eine recht gute Beschreibung für die letzten beiden Jahrzehnte der Kunst, der Kunstkritik und der Kulturwissenschaften. Ironie ist eine der letzten Zufluchten in einer Welt aperspektivischen Irrsinns: Sage eines, meine etwas anderes, lasse dich nicht in der peinlichen Situation erwischen, eine Haltung zu haben. Weil angeblich kein Standpunkt besser ist als ein anderer, darf man sich einfach nicht festlegen – Aufrichtigkeit ist tödlich. Lassen wir die Aufrichtigkeit, halten wir uns an die Ironie. Konstruiere nicht, dekonstruiere; suche nicht nach Tiefe, bleibe an der Oberfläche; meide Inhalt, biete Gesums. "Oberflächen, Oberflächen, nichts als Oberflächen fanden sie", wie Bret Easton Ellis die Szene beschrieb. Verständlich, dass David Fester Wallace in einem viel beachteten Essay das Überhandnehmen der Kunst der "schicken, ironischen Erschöpfung" und der "reflexiven Ironie" beklagte, einer Kunst, die "blasiert und außerordentlich flach ist". Aber wo sollen wir ansetzen, wenn wir auf Ironie verzichten und ernsthafte Aussagen machen wollen? Wenn man nicht mehr auf die Oberflächen blickt, sondern auch in die Tiefe, was bedeutet das genau? Und wo findet man diese "Tiefe"? Wallace meint, dass die Kunst statt "reflexiver Ironie Einsichten und Wegleitungen zu Werten" liefern sollte. Eine noble Haltung, aber seien wir uns auch dessen bewusst, dass spezifische Werte nur in spezifischen Weltsichten existieren. So genoss zum Beispiel in der mythischen Weltsicht die pflichtbewusste Einordnung in eine starre gesellschaftliche Hierarchie einen hohen Stellenwert, was heute kaum noch jemand attraktiv findet. Weiterhin propagierte die mythische Weltsicht männliche Überlegenheit und weibliche Unterordnung, was heute die meisten aufgeklärten Menschen als überholt betrachten. Alle Werte existieren in bestimmten Weltsichten, und wenn die schicke ironische Erschöpfung letzten Endes die Erschöpfung der existenziellen Weltsicht ist, dann lautet die einzig mögliche Schlussfolgerung, dass wir uns schleunigst nach anderen Weltsichten umsehen müssen, wenn wir dem aperspektivischen Irrsinn und seiner gnadenlosen Unaufrichtigkeit entrinnen wollen. !!! Der Grund dafür, dass Kunst in der postmodernen existenziellen Welt in eine Sackgasse geraten ist, liegt nicht darin, dass die Kunst selbst erschöpft wäre, sondern vielmehr die existenzielle Weltsicht. Wie einst die rationale Moderne ihre Formen erschöpfte und der aperspektivischen Postmoderne wich, so erlebt heute die Postmoderne ihren eigenen Abgesang; nichts als unendlich widergespiegelte Ironie hält ihre Hand und streut Blumen aus, wo sie nicht vermisst werden. Der Schädel der Postmoderne grinst am nahen Horizont, und bis dahin stehen wir zwischen zwei Weltsichten, von denen die eine stirbt und die andere noch nicht geboren ist. Was immer man darüber denken mag – und es wurde sehr viel darüber gedacht –, das Beste, was man vielleicht von der Avantgarde sagen kann, ist, dass sie für sich immer in Anspruch nahm, auf dem Kamm der brechenden Welle sich entwickelnder Weltsichten zu surfen. Die Avantgarde war die Vorhut einer sich entwickelnden Menschheit. Sie kündigte das Neue an. Sie erspähte und beschrieb neue Sichtweisen, neue Seinsmodi, neue Erkenntnisformen, neue Höhen oder Tiefen der Empfindung und jedenfalls neue Modi der Wahrnehmung. Sie machte als Erste die künftige Weltsicht aus und vollzog den entscheidenden Bruch mit der alten. Wir kennen diese Geschichte. Jacques-Louis Davids Kunst stand mit am Anfang der frühen Moderne (das Zeitalter der Aufklärung und der Revolutionen), die einen radikalen Bruch mit den Überresten der mythischen, aristokratischen und hierarchischen Vergangenheit vollzog. Vom Neoklassizismus bis zum abstrakten Expressionismus wurden viele der aufeinander folgenden Fortschrittswellen jeweils zur konventionellen, akzeptierten Norm, die wiederum von der nächsten Avantgarde in Frage gestellt wurde. Auch die Postmoderne mit ihrem aperspektivischen Irrsinn, die erstmals versuchte, die Avantgarde überhaupt zu dekonstruieren, brauchte diese, damit sie etwas zu dekonstruieren hatte. Deshalb saß eine Art "neo-avantgardistische Kunst" der Postmoderne vom Anfang an im Nacken, wie, Donald Kuspit in The Cult of Avant-Garde Artist (dt. Der Kult vom Avantgardekünstler, Klagenflirt, 1995) darlegt. Wie große Brandungswellen folgen Weltsichten aufeinander, und die Avantgarde tat im besten Fall nicht mehr, als auf diesen Wellen zu surfen. Welche neuen Wellen werden kommen, da sich nun die Welle der Postmoderne am Strand verläuft? Welche neuen Weltsichten tauchen aus dem Ozean der Seele auf und kündigen eine neue Wahrnehmung an? Wo müssen wir nach den Inhalten der aufrichtigen künstlerischen Aussagen Ausschau halten, die an die Stelle von Ironie und aperspektivischem Irrsinn treten werden? Können wir auf den Zehenspitzen hinter dem Dunst vielleicht schon die vagen Umrisse der Kunst von morgen und damit auch der Welt von morgen erkennen? !!! In welcher der heute verfügbaren Weltsichten könnten schon die Konturen der Kunst von morgen sichtbar sein? Natürlich werden einige Aspekte der künftigen Landschaft völlig neu und ursprünglich sein. Ein "schöpferisches Fortschreiten in das Neue" ist Whitehead zufolge das Grundmerkmal des Universums. Aber aus umfassenden psychologischen und soziologischen Forschungen wissen wir auch, dass
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bestimmte Grundmerkmale der oben kurz skizzierten großen Weltsichten dem menschlichen Organismus als Potenzial immer schon zur Verfügung stehen, und statt jeweils ganz bei null zu beginnen, arbeitet die Natur üblicherweise das Verfügbare um, bevor sie ihm den Deckanstrich der Neuartigkeit gibt. Wir kennen die Weltsichten, die erprobt wurden und sich erschöpften: die archaische, die magische, die mythische, die mentalrationale (Moderne) und die existenziell aperspektivische (Postmoderne). Die Postmoderne wird ihren maßgeblichen Einfluss noch in den kommenden Jahrzehnten behaupten, bis auch sie die letzte Ruhestätte finden wird. Bis dahin aber wird künstlerisches Schaffen wie Kanarienvögel im Grubenschacht in alarmierender Zahl umkommen, wenn das Faulgas der Postmoderne einzudringen beginnt. Deshalb strebt die Kunstwelt rascher als die schwerfälligere Herdenmentalität zu neuen Horizonten, und deshalb ist, wie schon gesagt, der Todeskampf der heutigen Kunst letztlich das kommende Endspiel der postmodernen Weltsicht im Allgemeinen. Aber die Frage war: Welche anderen Horizonte stehen uns bereits jetzt zur Verfügung? Es sind mindestens drei, und wir haben sie schon genannt: der subtile, der kausale und der nichtduale. Die Phänomenologen der Weltsichten (das sind die Leute, die die Umrisse der verfügbaren Weltsichten erkunden und beschreiben) bezeichnen diese drei Weltsichten als transrational oder transpersonal, und sie stellen sie den früheren Weltsichten gegenüber, die teils prärational oder präpersonal (archaisch, magisch und mythisch) und teils rational oder personal (mental und existenziell) sind. Damit hat der Mensch ein Spektrum von Weltsichten als Potenzial in seinem Organismus zur Verfügung, das von prärational über rational bis transrational, von präpersonal über personal bis transpersonal, von unbewusst über selbstbewusst bis überbewusst reicht. Nimmt man einmal an, dass wir den schwindelerregenden rhetorischen Regress der Selbstreferenzialität zu Ende gegangen sind, dann führt der Weg nur in zwei Richtungen: entweder zurück ins Unbewusste oder vorwärts ins Überbewusste, zurück zum Infrarationalen oder vorwärts zum Suprarationalen. Dies ist eine wichtige Unterscheidung, weil man die transrationale und transpersonale Weltsicht zwar "spirituell" nennen kann, aber es besteht praktisch kein Zusammenhang mit traditionellen religiösen Weltsichten der magischen und mythischen Sphäre. Die transrationalen Reiche haben nichts mit äußeren Göttern und Göttinnen zu tun, aber alles mit einem inneren Bewusstsein, das die Tiefe der Psyche auslotet. Sie haben nichts mit Bittgebet und Ritualen zu tun, aber alles mit einer Erweiterung und Klärung des Bewusstseins. Sie haben nichts mit Dogma und Glaubenslehren zu tun, aber alles mit einer Reinigung der Wahrnehmung. Es geht nicht um ein ewiges Leben für das Ego, sondern vielmehr um dessen Transzendierung. Wenn man das Personale erschöpft, bleibt das Transpersonale zurück. Ein anderer Weg steht uns heute schlicht nicht offen. !!! In verschiedenen Weltsichten existieren nicht nur unterschiedliche Werte, sondern auch unterschiedliche Objekte. Künstler können ihre jeweiligen Wahrnehmungen der Objekte in jedem dieser Reiche malen, beschreiben oder ausdrücken, sofern sie selbst für diese Reiche wach sind. Über die sensomotorische Welt braucht man kaum zu reden, über diejenigen Objekte, die man mit den Sinnen wahrnehmen kann: Steine, Vögel, Obstschalen, Aktmodelle, Landschaften. Künstler können diese Objekte in jeglicher Form malen, vom grellen Realismus bis zu den weicheren Tönen des Impressionismus, und sie haben dies ausgiebig getan. Die magische Weltsicht ist die Sichtweise plastischer Verschiebungen und Verdichtungen, die Welt des Traums, die von eigenen sehr realen Objekten erfüllt ist (wenn man träumt, wenn man tatsächlich in diese Weltsicht eingetreten ist, erscheint sie als absolut wirklich, nicht weniger als andere Weltsichten). Künstler können diese Objekte malen, wie unter anderem die Surrealisten gezeigt haben. Die mythische Weltsicht ist erfüllt von Göttern und Göttinnen, Engeln und Elfen, körperlosen Seelen, gütigen und grausamen, hilfreichen und böswilligen Gestalten. Künstler können diese Objekte malen, und in der Tat haben die meisten Künstler in aller Welt von 10000 v. Chr. bis 1500 n. Chr. nichts anderes als diese Objekte gemalt. Die mentale Weltsicht ist erfüllt von Begriffen und Ideen, von einem rationalen Perspektivismus und von abstrakten Formen. Künstler können diese Inhalte (Konzeptkunst, abstrakte Kunst) nicht nur wiedergeben, sondern sie auch ausdrücken (abstrakter Expressionismus). Die existenzielle (aperspektivische) Weltsicht beinhaltet u. a. den Schrecken des isolierten Subjekts, das mit einer fremdartigen Welt ohne mythische Tröstungen und rationale Prätentionen konfrontiert ist. Künstler jeglicher Kunstform haben diesen Sachverhalt in oft überwältigender Weise dargestellt (z. B. Edward Munch, Der Schrei). In ihrer äußersten Konsequenz ist die aperspektivische Weltsicht aber auch ein Subjekt, das sich selbst betrachtet, wie es versucht, die Welt zu betrachten. Künstler haben versucht, diesen selbstreflexiven Regress in verschiedener Weise darzustellen, von der Dekonstruktion über ironische Reflexivität bis zur Verdoppelung (der Künstler als Teil des Kunstwerks) – ein Hasardspiel, das letztlich in die Selbststrangulation führen muss. Es bleiben noch die transpersonalen Welt-Räume mit ihren Inhalten, Ideen und Wahrnehmungen. Alle diese Reiche sind wahrhaftig transpersonal, d.h., sie umfassen diejenigen Wirklichkeiten, die das Persönliche und Individuelle zwar einschließen, aber darüber hinausgehen. Sie beinhalten die umfassenden Strömungen, die über das in seiner Haut eingeschlossene Ich hinweggehen und andere Wesenheiten berühren, den Kosmos, den Geist, Muster und Worte, die denjenigen verborgen bleiben, die sich an die Oberflächen klammern und sich mit sich selbst umgeben. Dass uns diese transpersonalen Welt-Räume wie große Häuser zur Verfügung stehen, bedeutet nicht, dass sie schon mit allem Mobiliar ausgestattet wären. Dieses müssen wir selbst hineinschaffen. Wir bauen, schaffen, fügen hinzu, modellieren, formen, bilden und komponieren, und hier haben Künstler jeglicher Kunstgattung traditionell den Weg gewiesen, als Avantgarde im besten und wahrhaftigsten Sinne. Deshalb kann man einerseits in der Vergangenheit Ausschau nach den seltenen Fällen halten, in denen eine Subkultur in das transpersonale Reich vorstieß und es in bildender Kunst und Architektur, Literatur und Malerei, Plastik und Kompositionen sichtbar machte – ein Einfluss, wie ihn etwa Zen auf die japanische Ästhetik ausübte. Aber die Vergangenheit kann immer nur Andeutungen liefern, denn das Haus unserer Zukunft kann nur von denjenigen ausgestattet werden, die jetzt auf der Schwelle dieser Entwicklung stehen. Wie wird dieses Mobiliar aussehen? Wir stehen heute in der Lichtung zwischen zwei Welten und erwarten die Erscheinung des Neuen. Eines ist jedoch gewiss: Es wird aus dem Bewusstsein von Männern und Frauen hervorgehen, die für das Transpersonale in sich selbst offen sind, die aus den Tiefen ihres Herzens und ihrer Seele jene strahlenden Wirklichkeiten hervorbringen, die uns ganz unmissverständlich ansprechen. Denn wir haben auch eines gesehen: Alle großen Weltsichten sind schon als Potenzial im Körpergeist des Menschen vorhanden. Je tiefer das Bewusstsein eines Menschen reicht, desto mehr Welträume kann er ausloten. Und deshalb wird niemals daran zu rütteln sein, dass nur das Subjekt aus seinen Tiefen die Objekte der Kunst hervorbringen kann. Wir haben sinnliche, magische, mythische, mentale und aperspektivische Objekte gesehen, und wir haben es erlebt, wie sie alle das Spiel ihrer eigenen Bedeutsamkeit zu Ende gespielt haben. Wer wird uns jetzt die Objekte der transpersonalen Landschaft zeigen? Wer wird sich zu solchen Tiefen öffnen, dass er diese neuen Höhen erklimmen kann, um uns, die wir schweigend zurückgeblieben sind,
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davon zu berichten, was er gesehen hat? Wer kann sich so weit außerhalb von Ich und Identität, von Selbst und Scham, von Hoffnungen und Ängsten stellen, dass das Transpersonale mit solcher Gewalt hereinströmt, dass es die Welt erschüttert? Wer wird malen, wie die Wirklichkeit aussieht, wenn das Ego sublimiert ist, wenn es die Leichnams-Haltung einnimmt, seinem eigenen Erstaunen erstirbt und die Welt neu schaut? Wer wird diese aufgehende Landschaft malen? Wer wird uns dies zeigen?
Samstag, 25. Oktober Große Rockgruppen der letzten Jahre: Elastica, Pulp, The Crystal Method, Artificial Joy Club, The Chemical Brothers, No Doubt, Garbage, Fluffy, La Bouche, Lush, Rancid, Texas, Klover, The Muffs, Fastbacks, 60 Ft. Dolls, Belly, One Dove, Dance Hall Crashers, Superdrag, En Vogue, Republics, Blackhawk, Goo Goo Dolls, The Fugees, NIN, The Goops, Nitzer Ebb, Sleeper, Bluetones, Offspring, De La Soul, Echo Belly, Midnight Oil, The Mavericks, Live, Wallflowers, Sleater-Kinney, London Suede. Marc Jacobs hat sich bei Louis Vuitton eingekauft. Es ist schon erstaunlich, wie viele angelsächsische Firmen große europäische Designer-Häuser übernehmen: Galliano Dior, McQueen Givenchy, McCarthy Chloe, Marc Jacobs Vuitton, Rebecca Moses Genny und, nach wie vor mein Lieblingshaus, jedenfalls für Frauen, Tom Ford Gucci. Robert Isabells Schlafzimmer: meine Vorstellung von perfekter Innenausstattung, Zen-Ästhetik im Kleinen, wunderschön gestaltet. Wie ich höre, wurde Atom Egoyans Das süße Jenseits in Cannes ausgezeichnet; vielleicht schafft er endlich den Durchbruch. L.A. Confidential ist der am besten gemachte Film, den ich bisher in diesem Jahr gesehen habe; Curtis Hanson hat hier in jeder Hinsicht großartige Arbeit geleistet, und ich nominiere ihn hiermit für den Oscar. Der japanische Film Shall We Dance? ist der bewegendste Film, den ich seit Jahren gesehen habe. Ich kann immer noch nicht genau sagen, was seine Wirkung ausmacht, abgesehen von der nuancierten Darstellung von Koji Yakusho; die Hälfte des Films hatte ich feuchte Augen, die andere Hälfte lachte ich. Der afrikanisch-amerikanische Film Love Jones ist vielleicht der literarischste Film dieses Jahres, ein echter Überraschungserfolg. Die aus Polen gebürtige Regisseurin Agnieszka Holland hat eine weitere vorzügliche Arbeit abgeliefert, Henry James' Washington Square (in einer Welt, die das Bewusstsein leugnet, ist ein Romanschriftsteller, der darüber schreibt, eine ausgeflippte Wohltat. Wie sagte doch jemand über die Brüder William und Henry James? Etwas in der Art: William James ist ein als Psychologe verkleideter Romanschriftsteller, Henry James ein als Romanschriftsteller verkleideter Psychologe). Agnieszkas letzter Film Europa, Europa ist einer meiner Lieblingsfilme überhaupt, auf mehreren Ebenen überaus spannend und sehr gut gemacht. (War es nicht eine der ersten Rollen von Julie Delphy? Genügt das nicht schon?) Der hippeste Film? Ein Mann – ein Mord, John und seine Schwester Joan Cusack gefallen mir ganz besonders, und Minnie Driver ist hinreißend. Neue Musik von Joe Strummer, weshalb es nicht überrascht, dass an Minnies Wand ein Poster von Clash hängt. John Cusack spielt einen professionellen Killer, der unterwegs zum Klassentreffen seiner Highschool-Klasse ist. Alan Arkin ist Cusacks Therapeut, der bloß vor einem Angst hat: dass ihn Cusack verprügeln wird, wenn er ihn nicht ordentlich behandelt. Sein Standardrat lautet: "Machen Sie's gut, und bringen Sie niemanden um." Cusack befürchtet, dass ihn überhaupt nichts mehr mit den Leuten beim Klassentreffen verbindet. "Aber was sage ich? Nebenbei bemerkt, ich habe den Präsidenten von Paraguay mit einer Gabel umgebracht. Was hast du die ganze Zeit gemacht?" Auf dem Klassentreffen geht alles gut, bis auf die Leiche, die sie im Verbrennungsofen im Keller der Schule beseitigen müssen. Und so weiter. Aber der Film lebt letztlich von der sprühenden Intelligenz des Drehbuchs. Neben Leaving Las Vegas (das Zen der Selbstzerstörung: Wenn du säufst, dann saufe eben), Kleine Morde unter Freunden, Trainspotting – Neue Helden, Swingers, Bound – Gefesselt, Flirting with Disaster, Kicking and Screaming und einigen anderen ist dies einer meiner Lieblingsstreifen aus der letzten Zeit. Aber ich werde immer wieder gefragt, warum man sich dann mit solchen Dingen abgeben sollte. Ist denn diese Normalverbraucherkultur nicht irgendwie sehr unspirituell? Dasselbe höre ich die ganze Zeit hinsichtlich des Fernsehens: Wirklich ernsthafte Gelehrte und erst recht Anhänger einer spirituellen Lebensweise sollten sich für solche Sachen nicht interessieren. Aber so ein Gott käme mir schon sehr klein vor. Alle Formen sind ohne Ausnahme eins mit der Leerheit. Warum sollte man gerade um diese Formen einen Bogen machen oder auf sie herabsehen? Sind sie nicht auch Manifestationen der höchsten Wonne des GEISTES, der in den sprudelnden Wassern seiner Überfülle planscht? Sind nicht auch sie Kräuselungen im Wasserfall des Einen Geschmacks, Aromen des Göttlichen, die da und dort tanzen? Darf ich nur den Gott der Elite verehren?
Sonntag, 26. Oktober Faszinierend, wie unterschiedliche Wirkungen Musik hat. Rockmusik zum Beispiel geht auf die unteren Chakras (vielleicht zweites und drittes, Sexualität und Macht).34 Rap ist eine Musik, die dem Überlebenskampf auf der Straße entsprungen ist (Erstes Chakra). Guter Jazz (z. B. Charlie Parker, Miles, Wynton) entsprechen Chakra drei bis vier. Die großen romantischen Komponisten (Chopin, Mahler) sind reinstes viertes Chakra: Reine Herz-Emotion, manchmal bis hin zur Süßlichkeit. Haydn, Bach, Mozart und der späte Beethoven erreichen mit ihrer Sphärenmusik, wie mir scheint, das fünfte und sechste Chakra. Bei Stücken dieser Komponisten spürt man richtiggehend, wie sich die Aufmerksamkeit in bestimmten Körperzentren zusammenzieht (Bauch, Herz, Kopf). Wenn ich zum Beispiel über Plotin, Eckhart oder Emerson schreibe, ist die einzige Musik, die dabei nicht stört, diejenige von Mozart, des späten Beethoven und einiges von Haydn. Wenn ich aber weniger anspruchsvolle Kleinarbeit wie Bibliographien, Fußnoten usw. mache, dann kann wegen mir den ganzen Tag Rock'n'Roll laufen. Das Entscheidende im Zusammenhang mit Kundalini-Yoga und den sieben Chakras ist jedoch, dass alle sieben ohne Ausnahme strahlende Formen von Shakti sind, der Energie der Göttin, die in ewiger Umarmung mit Shiva vereint ist, dem reinen formlosen Zeugen. Alle Formen sind eins mit der Leerheit: Shakti und Shiva sind im ewigen Liebesakt miteinander verbunden, einander in heftiger Zuneigung zugetan, der Zeit, Aufruhr, Tod und Schicksal nicht das Geringste anhaben können. Im Dzogchen-Buddhismus ist derselbe Gedanke im Thangka des Adi-Buddha ("Ursprungsbuddha") Samantabhadra und seiner Gefährtin Samantabhadri ausgedrückt. Samantabhadra wird als tiefblaue oder tiefschwarze nackte Gestalt im Lotussitz dargestellt. Auf seinem Schoß sitzt ihm gegenüber in sexueller Vereinigung die ebenfalls nackte, aber leuchtend weiße Samantabhadri. Samantabhadra steht für den Dharmakaya der radikalen Leerheit, der völlig formlos und daher "schwarz" ist (wie im traumlosen Tiefschlaf).
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Samantabhadri repräsentiert den Rupakaya, die ganze Welt der Form, eine strahlend weiße Darbietung. Leerheit und Form, Bewusstsein und Stoff, Geist und Welt. Vor allem aber sind sie in einer ekstatischen sexuellen Umarmung miteinander vereint; sie sind durch das unzerreißbare Band einer unüberwindlichen Liebe in alle Ewigkeit miteinander verbunden. Sie sind füreinander Ein Geschmack. Dieses Thangka von Samantabhadra und Samantabhadri (Purusha und Prakriti, Shiva und Shakti, Leerheit und Form, Weisheit und Mitgefühl, Eros und Agape, Aufstieg und Abstieg) ist nicht bloß ein Symbol: Es ist die Darstellung einer unmittelbaren Erkenntnis. Wenn man zum Ich-Ich zurückkehrt und als der formlose Zeuge ruht, dann ist man in einem ganz wörtlichen Sinne Samantabhadra, dann ist man das Große Ungeborene, die radikal eigenschaftslose Gottheit. Man ist eine große schwarze Leerheit in unendlicher Freiheit. Und doch bist du im Raum dieser Leerheit, der du bist, die ganze Welt, die von Augenblick zu Augenblick entsteht: Die Wolken ziehen durch dein Bewusstsein, diese Bäume entstehen in deinem Gewahren, diese singenden Vögel sind eins mit dir. Du bist als der formlose Zeuge (Samantabhadra) eins mit der ganzen Welt der Form (Samantabhadri), und dies ist eine unendliche erotische Verbindung. Die brutale, quälende Kluft zwischen Subjekt und Objekt ist zusammengebrochen, und du bist mit der Welt in eine intime sexuelle, ekstatische Vereinigung eingetreten, in Wonne eingehüllt, in strahlender Freiheit, Blitz und Donner des All-Einigen Geschmacks. Und so ist es seit jeher.
Montag, 27. Oktober Marci ist im Augenblick intensiv mit der Fertigstellung ihrer Diplomarbeit beschäftigt, deren Thema Betriebsmanagement ist. Leo Burke, der Leiter des Ausbildungszentrums für Führungskräfte bei Motorola, kommt am Mittwoch zu Besuch, und ich glaube, dass Marci sich sehr auf das Gespräch freut. Es ist schön, dass wir einen Fachmann hier haben werden, der mich davon abhalten kann, mich zum Narren zu machen, obwohl ich fürchte, dass nicht einmal Marci dies zu verhindern in der Lage ist.
Freitag, 31. Oktober Die meisten Menschen begehen auf dem Weg zum Einen Geschmack zwei Fehler. Der erste geschieht beim Kontakt mit dem Zeugen, der zweite beim Übergang vom Zeugen zum Einen Geschmack selbst. Der erste Fehler: Beim Versuch, Verbindung mit dem Zeugen (oder Ich-Ich) aufzunehmen, glauben viele Menschen, dass sie etwas sehen werden. Aber man sieht gar nichts: Man ruht einfach als der Zeuge von allem, was zum Vorschein kommt: Man ist der reine und leere Seher, nicht etwas, das man sehen könnte. Es wäre falsch, den Seher als besonderes Licht, als große Wonne, als plötzliche Vision sehen zu wollen: Dies sind alles Objekte; sie sind nicht der Zeuge, der man selbst ist. Natürlich wird man, wenn man den Einen Geschmack erreicht hat, alles sein, was man sieht, aber man kann nicht damit anfangen, die Wahrheit sehen zu wollen, denn durch diesen Versuch blockiert man sich selbst. Man muss mit "neti, neti" anfangen: Ich bin nicht dies, ich bin nicht jenes. Der erste Fehler besteht also darin, dass man den Zeugen sabotiert, indem man versucht, ihn zu einem Objekt zu machen, das man ergreifen kann, während er einfach der Seher aller aufgehenden Objekte ist und nur als eine große Hintergrundempfindung der Freiheit von allen Objekten "gefühlt" werden kann. Wenn man in dieser Freiheit und Leerheit ruht und neutral alles in Erscheinung Tretende bezeugt, dann stellt man fest, dass das getrennte Selbst (oder Ich) einfach wie alles andere im Bewusstsein erscheint. Man kann die Selbstzusammenziehung tatsächlich fühlen, wie man seine Beine, einen Tisch, einen Stein oder seine Füße fühlt. Die Selbstzusammenziehung ist eine Empfindung innerer Anspannung, die oft hinter den Augen sitzt und sich in einer leichten Muskelspannung im ganzen Körpergeist äußert. Es ist eine Anstrengung und eine Empfindung der Zusammenziehung im Angesicht der Welt. Es ist eine subtile Ganzkörperspannung. Nehmen Sie einfach diese Spannung wahr. Wenn man einmal gelernt hat, als der leere Zeuge zu ruhen, und die Anspannung der Selbstzusammenziehung gewahrt, dann glaubt man vielleicht, dass der letzte Schritt vom Zeugen zum Einen Geschmack dadurch gelingt, dass man sich von der Selbstzusammenziehung (vom Ich) befreit. Genau dies ist aber der zweite Fehler, weil dadurch die Selbstzusammenziehung gerade zementiert wird. Man glaubt, dass die Selbstzusammenziehung den GEIST verbirgt oder behindert, während sie in Wirklichkeit wie jede andere Form im Universum einfach eine strahlende Manifestation des GEISTES ist. Alle Formen sind nichts anderes als Leerheit, auch die Form des Ich. Außerdem ist das Einzige, das sich vom Ich befreien möchte, das Ich selbst. Der GEIST liebt alles in Erscheinung Tretende genau so, wie es ist. Der Zeuge sieht alles in Erscheinung Tretende genau so, wie es ist. Der Zeuge liebt das Ich, weil der Zeuge der Unparteiische Spiegel-Geist ist, der alles in Erscheinung Tretende in gleicher Weise wiedergibt und ganz annimmt. Aber weil das Ich davon überzeugt ist, dass es seine Stellung noch fester behaupten könnte, beschließt es, das Spiel der Befreiung von sich selbst zu spielen – einfach deshalb, weil es natürlich so lange weiterexistiert, solange es dieses Spiel spielt (wer sonst würde es spielen?). Zhuangzi sagte schon vor langer Zeit: "Ist nicht der Wunsch, das Ich loszuwerden, selbst eine Manifestation des Ichs?" Das Ich ist keine Sache, sondern eine subtile Anstrengung, und man kann sich nicht anstrengen, Anstrengung zu vermeiden: Dann hat man höchstens zwei Anstrengungen statt einer einzigen. Das Ich selbst ist eine vollkommene Manifestation des Göttlichen, und man rückt ihm am besten dadurch zu Leibe, dass man in der Freiheit ruht, nicht dadurch, dass man versucht, es loszuwerden, wodurch man nur die Anstrengungen des Ichs selbst vermehren würde. Wie sieht dies also in der Praxis aus? Wenn man im Zeugen, im Ich-Ich oder in der Leerheit ruht, gewahrt man einfach die Selbstzusammenziehung. Ruhe im Zeugen und fühle die Selbstzusammenziehung. Wenn du die Selbstzusammenziehung fühlst, bist du schon frei von ihr: Du bist schon ihr Betrachter, statt dich mit ihr zu identifizieren. Du betrachtest sie aus der Position des Zeugen, der immer schon frei von allen Objekten ist. Ruhe also als der Zeuge und fühle die Selbstzusammenziehung, wie du den Stuhl unter dir, die Erde und die am Himmel dahingehenden Wolken fühlen kannst. Gedanken ziehen im Geist vorüber, Empfindungen ziehen im Körper vorüber, die Selbstzusammenziehung schwebt im Gewahrsein, und anstrengungslos und spontan gewahrst du dies alles in gleicher Neutralität. In diesem schlichten, einfachen, anstrengungslosen Zustand – in dem du nicht versuchst, die Selbstzusammenziehung abzuschütteln, sondern sie einfach fühlst, und in dem du daher als der große Zeuge oder die Leerheit ruhst, die du bist – könnte der
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Eine Geschmack aufblitzen. Es gibt nichts, was du tun könntest, um den Einen Geschmack zu erzeugen: Er ist immer schon ganz gegenwärtig, er ist nicht das Ergebnis bestimmter Handlungen, und du hast ihn niemals verloren. Das Einzige, was man tun kann, ist, die beiden genannten Fehler zu vermeiden: Versuche nicht, den Zeugen als Objekt zu sehen, sondern ruhe einfach im Zeugen als der Seher; versuche nicht, das Ich abzuschütteln, sondern fühle es einfach. Dann gelangst du zum Rand, zur Klippe deines eigenen ursprünglichen Antlitzes. An diesem Punkt liegt nichts mehr in deinen Händen. Ruhe als der Zeuge, fühle die Selbstzusammenziehung: Dies ist der Raum, in dem der Eine Geschmack am leichtesten aufblitzen kann. Mache hieraus keinen strategischen Plan, sondern tue dies zufällig und spontan irgendwann am Tage und irgendwann in der Nacht, sodass du immer am Rand deiner eigenen schockierenden Erkenntnis bleibst. Dies sind die Schritte: Ruhe als der Zeuge, fühle die Selbstzusammenziehung. Gewahre dabei, dass der Zeuge nicht die Selbstzusammenziehung ist: Er ist ihr Zeuge. Der Zeuge ist frei von der Selbstzusammenziehung, und du bist der Zeuge. " Als der Zeuge bist du frei von der Selbstzusammenziehung. Ruhe in dieser Freiheit, Offenheit, Leerheit. Fühle die Selbstzusammenziehung und lasse sie sein, wie du auch alle anderen Empfindungen sein lässt. Versuche nicht, die Wolken, die Bäume oder das Ich loszuwerden: Lasse sie einfach sein und entspanne dich im Raum der Freiheit, die du bist. Aus diesem Raum der Freiheit und zu einem Zeitpunkt, auf den du keinen Einfluss hast, stellst du vielleicht fest, dass die Empfindung der Freiheit kein Innen und kein Außen hat, keine Mitte und keinen Umfang. Gedanken ziehen in dieser Freiheit dahin, der Himmel zieht in dieser Freiheit dahin, die Welt geht in dieser Freiheit auf, und du bist das. Der Himmel ist dein Kopf, die Luft dein Atem, die Erde deine Haut – so nahe ist alles und noch näher. Du bist die Welt, solange du in dieser Freiheit ruhst, die unendliche Fülle ist. Dies ist die Welt des Einen Geschmacks: Ohne Innen und ohne Außen, ohne Subjekt und ohne Objekt, ohne hier und da. Ohne Anfang und ohne Ende, ohne Mittel und ohne Wege, ohne Pfad und ohne Ziel. Dies ist, wie Ramana sagte, die endgültige Wahrheit. Dies ist, wie man es nennen könnte, eine "überkuppelnde Übung". Tue dies nicht statt, sondern zusätzlich zu allen deinen sonstigen Übungen: Zentrierendes Gebet, Vipassana, Gebet des Herzens, Dhikr, Zazen, Yoga usw. Alle diese sonstigen Praktiken lehren dich, in einen bestimmten Bewusstseinszustand einzutreten, aber der Eine Geschmack ist kein bestimmter Zustand: Er ist mit allen Zuständen verträglich, wie Nässe in jeder Welle des Ozeans voll gegenwärtig ist. Eine Welle kann höher sein als eine andere, aber nicht nasser. Der Eine Geschmack ist die Nässe des Wassers, nicht eine bestimmte Welle, und dies ist der Grund, warum spezifische Praktiken wie Gebet, Vipassana oder Yoga nicht zum Einen Geschmack hinführen können. Alle spezifischen Praktiken führen zu einer bestimmten Welle hin, meist einer wahrhaft großen Welle, und dies ist völlig in Ordnung. Aber der Eine Geschmack ist die Nässe auch noch der allerkleinsten Welle, weshalb jede Bewusstseinswelle, in der du dich jetzt befindest, in Ordnung ist. Ruhe bei dieser Welle, fühle die Selbstzusammenziehung und stehe in Freiheit. Aber setze zuerst deine sonstigen Übungen fort, weil du mit ihrer Hilfe Bekanntschaft mit spezifischen und wichtigen Wellen deines eigenen Bewusstseins machen wirst (psychisch, subtil und kausal), die alle wichtige Vehikel deiner vollen Manifestation als GEIST sind. Und weil zweitens der Eine Geschmack zu einfach ist, als dass man es glauben könnte, und zu mühelos, als dass man ihn mit Anstrengung erreichen könnte, wird den meisten Menschen niemals auffallen, dass die Welle, auf der sie sich gerade befinden, nass ist. Sie bemerken niemals die Soheit ihres gegenwärtigen Zustandes. Stattdessen machen sie Wellenreiten zu ihrem Lebensinhalt; sie hoffen auf immer größere und bessere Wellen, auf denen sie surfen können – und ich muss ehrlich sagen, dass dies ja auch ganz in Ordnung ist. Diese typischen spirituellen Praktiken werden dir gerade deshalb, weil sie dich zu immer subtileren Erfahrungen hinführen, dabei helfen, ganz unbemerkt der Erfahrungen überhaupt müde zu werden. Wenn du des Wellenreitens müde bist, wirst du für die Nässe der Soheit jeglicher Welle, auf der du dich gerade befindest, offen sein. Der reine Zeuge an sich ist keine Erfahrung, sondern vielmehr die Lichtung, in der alle Erfahrungen kommen und gehen. Solange du Erfahrungen hinterherjagst, und seien es spirituelle Erfahrungen, wirst du niemals als der Zeuge ruhen, geschweige denn in den allgegenwärtigen Ozean des Einen Geschmacks stürzen. Aber indem du der Erfahrungen müde wirst, wirst du als der Zeuge ruhen, und als der Zeuge kannst du die Nässe gewahren (den Einen Geschmack). Dann wird der Wind dein Atem sein, Sterne die Neuronen in deinem Gehirn, die Sonne der Geschmack des Morgens, die Erde die Empfindungen deines Körpers. Dein Herz wird sich für das All öffnen, der Kosmos wird in deine Seele einschießen, du wirst dich als unzählige Galaxien erheben und in alle Ewigkeit umherwirbeln. Es gibt nur noch aus sich selbst existierende Fülle in der ganzen Welt, es gibt nur sich selbst betrachtendes Strahlen hier in der Leerheit, eingemeißelt in die Wand der Unendlichkeit, für alle Ewigkeit iert, die eine und einzige Wahrheit: Es gibt einfach nur das, ein Fingerschnippen, nichts weiter.
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November Die Mystiker sind Kanäle, durch die ein wenig Wissen über die Wirklichkeit in unsere menschliche Welt der Unwissenheit und Täuschung gelangt. Eine Welt ohne jede Mystik wäre eine blinde und geisteskranke Welt. Aldous Huxley, Grey Eminence
Sonntag, 2. November Tony kam heute Mittag mit dem Flugzeug an. Marci holte ihn am Flughafen ab und setzte sich dann wieder an ihre Diplomarbeit. Joyce Nielsen kam kurz vorbei (es war das erste Mal, dass wir uns trafen). Dann kam Marci dazu, und wir aßen miteinander. Ich kochte meinen weltberühmten vegetarischen Chili, aber niemand wollte eine zweite Portion.
Dienstag, 4. November Charles "Skip" Alexander hat mir seine neueste Forschungsarbeit über Träume und Meditation geschickt. Sie enthält genau das, was ich erwartet hatte, und bestätigt meine eigenen kleinen Experimente an einem EEG-Gerät, dass nämlich bei fortgeschrittenen Meditierenden im Schlafzustand "Theta-Alpha-Aktivität zugleich mit Delta-Aktivität" auftritt. Die Probanden geben an, während des Schlafs wachbewusst zu sein, und das EEG scheint dies zu bestätigen, insofern Alpha- (Wachzustand), Theta- (Traumzustand) und Delta-Muster (Tiefschlaf) gleichzeitig vorhanden sind. Dies ist Bewusstseinskonstanz in allen drei Zuständen. Das Interessante an diesen Forschungen ist, dass uns damit ein weiteres empirisches Korrelat für höhere, transzendente Zustände zur Verfügung steht. Hierfür gibt es eine Reihe praktischer Anwendungen. Zum einen könnte man mit Hilfe dieser Ergebnisse seine eigenen Fortschritte in der Bewusstseinstransformation überwachen. Spirituelles Wachstum wäre nicht mehr nur ein Zufallsergebnis. Zum anderen eröffnet sich hiermit die Möglichkeit, die Wirksamkeit verschiedener transformierender Praktiken zu überprüfen. Man könnte etwa Probanden in mehrere Gruppen aufteilen, wobei eine Gruppe zwei Jahre lang Bücher liest wie Ecopsychology, Die Rückkehr der Göttin oder Gesundheit für Körper und Seele, eine andere meditiert, wieder eine andere schamanisches Trommeln übt, eine andere Yoga betreibt, eine andere kontemplatives Gebet usw. Dann misst man die konkreten Veränderungen der Gehirnwellen und beurteilt danach das Maß der Bewusstseinstransformation. Das Entscheidende ist, mit anderen Worten, die konkrete Praxis, und solche Forschungen sind deshalb so wichtig, weil sie dazu ermuntern, konsequent zu üben, statt nur anders zu denken. Denken (und Lesen) verändert nur die Alpha- und Beta-Zustände (das grobstoffliche Reich). Durch intensive Meditation gelangt man jedoch in den Theta- (das subtile Reich) und den Delta-Zustand (das kausale Reich), und schließlich wird es gelingen, in allen drei Zuständen gleichzeitig zu verweilen, Bewusstseinskonstanz in allen drei Zuständen zu haben. Dann wird der Urgrund aller drei Zustände, der nichtduale GEIST selbst, so offensichtlich werden wie das kalte Wasser, das man in sein Ursprüngliches Antlitz geschüttet bekommt. Auch dies bekräftigt wiederum meine Auffassung, dass die bloß translative Spiritualität, die heute über 90% des Markts für sich beansprucht, durch eine echte transformierende Spiritualität ersetzt werden sollte, die der Seele eine neue Ausrichtung gibt und sie in unmittelbare Verbindung mit Gott treten lässt.
Freitag, 7. November Unitas Multiplex Habe mir Nowhere ausgeliehen, den letzten Film von Gregg Arakis Nihilismus-Trilogie (zu der noch Doom Generation gehören, der noch düsterer, und Totally Fucked Up, der noch bizarrer war). Der Film trägt seinen Titel zu Recht. Die postmoderne Welt findet seit jeher den Nihilismus (und seinen Vetter Skeptizismus) ungeheuer cool, ungeheuer hip, ungeheuer in. Der Nihilismus spiegelt angeblich die Relativität kultureller Werte genau wider, die Tatsache, dass alle Wirklichkeit sozial konstruiert ist, die gleitende Natur aller Signifikanz, die Dekonstruktion moralischer Leitlinien und die inhärente Ungewissheit aller Überzeugungen. Die einzig "total coole" Haltung gegenüber der wirklichen Welt ist Nihilismus und ein Gähnen. Aber die Witzfiguren sind die Nihilisten selbst. Sie pochen darauf, dass man an nichts glauben könne. Sie akzeptieren kein Wertsystem, haben keine Vision, keine Grundsätze. Und trotzdem essen sie dreimal täglich und glauben also doch an Essen. Sie schlafen nachts und glauben also an die Ruhe. Sie befriedigen ihr Bedürfnis nach Wasser, Obdach und Wärme und glauben also zutiefst an physiologische Bedürfnisse. Und ganz gewiss glauben die meisten von ihnen auch an Sex. Dies sind also ihre hauptsächlichen Überzeugungen: Nahrung, Obdach, physiologische Bedürfnisse, Sex. Mit anderen Worten, sie haben zwar durchaus Werte, aber es sind keine anderen als diejenigen, die auch Kaninchen, Ratten und Wiesel haben. So sieht er also aus, der Nihilismus. Nicht nur, dass diese Haltung selbst äußerst heuchlerisch ist – sie behaupten, keine Werte zu haben, aber in Wahrheit sind sie bloß auf die niedrigsten beschränkt, das Wertsystem von Schalentieren –, sondern der Nihilismus kennt auch noch kein anderes Vergnügen, als über die Überzeugungen anderer Menschen herzuziehen. Dies war es letztlich, was die Nachkriegsgeneration an der Dekonstruktion so spannend fand. Aber wenn nicht irgendjemand zuerst konstruiert, kann man auch nicht dekonstruieren. Dann ist es mit dem Spaß vorbei, und es bleibt einem nichts anderes mehr übrig, als sich mit seinen Ratten- und Wiesel-Werten in seinem Leben einzurichten. Und das macht ja nun wirklich keinen Spaß. In den letzten zwei, drei Jahren scheint eine Gegenbewegung gegen diesen extremen postmodernen Nihilismus eingesetzt zu haben, gegen den extremen Relativismus, Kontextualismus und Konstruktivismus. Wie Jerome Bruner aufzeigte, ist die unitas multiplex
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nach wie vor die Regel: Das menschliche Dasein hat verschiedene universelle oder tiefe Merkmale sowie verschiedene lokale oder oberflächliche Merkmale, und wir müssen beide respektieren, statt uns bloß im Relativen, Konstruierten, Unterschiedlichen und Andersartigen zu verlieren. Bruner: "Sprachen sind unterschiedlich, aber es gibt Gemeinsamkeiten unter den Sprachen, die jedem Kind den Zugang zu jeder Sprache erleichtern. Kulturen sind unterschiedlich, aber auch sie besitzen Gemeinsamkeiten, die in der Allgemeinstruktur des Geistes und vermutlich auch in einigen allgemeinen Zügen seiner Entwicklung Widerhall finden. Unitas multiplex könnte nach wie vor der beste Wahlspruch sein." Diese Frage, die Gültigkeit der unitas multiplex (oder des universellen Pluralismus), ist von entscheidender Bedeutung nicht nur für die Kulturwissenschaften im Allgemeinen, sondern auch für die Spiritualität im Besonderen. Das Standardargument der Konstruktivisten – David Katz zum Beispiel – lautet, dass es keine ewige Philosophie, keine transzendente Wirklichkeit, keinen universellen Geist geben könne, weil es überhaupt nichts Universelles gäbe. (Hiervon ausgenommen ist natürlich seine eigene Behauptung, die für ihn sehr wohl universell wahr ist – der performative Widerspruch.) Ich habe mir für Band 2 eine schier endlose Reihe von Büchern angesehen und habe beschlossen, mich auf diesen Seiten nicht mit ihnen zu befassen, weil dies sonst nur eine einzige Buchrezension geworden wäre. Was mir aber in all diesen Büchern, die Dutzende von Fachgebieten umfassen, immer nachdrücklicher aufgefallen ist, ist die unverkennbare Auflehnung gegen Relativität und Konstruktivismus. Die Gelehrten kommen immer mehr zu der Einsicht, dass hinter dem extremen Relativismus der Nihilismus und hinter dem Nihilismus der Narzissmus steht. Wenn ich nur noch ein einziges wirklich gutes Buch zu diesem Thema finde (mindestens ein Dutzend hatte ich bisher in Händen), dann rufe ich meinen eigenen persönlichen Nationalfeiertag aus.
Dienstag, 11. November Heute die ganze Nacht Bewusstseinskonstanz; spontanes Wachbewusstsein im Traum und Tiefschlaf, eins mit allem, was zum Vorschein kommt. Es gibt kein Ich, einfach nur ursprüngliches Gewahren oder grundlegende Wachheit, eine überaus subtile Wachheit, die nicht kommt und nicht geht, sondern irgendwie zeitlos ist, Ein Geschmack im Traum und Traumschlaf. Wenn dies geschieht, ist die morgendliche Meditation einfach eine Fortsetzung des Zustands, der die ganze Nacht herrschte. Es herrscht einfach ein Gewahren des Einen Geschmacks im kausalen Selbst (während des formlosen Tiefschlafs), und dieses stille nichtduale Bewusstsein bleibt bestehen, wenn das Subtile aus dem Kausalen hervorgeht (und der Traumzustand beginnt) und weiterhin das Grobstoffliche aus dem Feinstofflichen hervorgeht (im normalen Wachzustand). Wenn sich also (etwa um drei Uhr morgens) der grobstoffliche Zustand manifestiert, dann ist damit keine größere Veränderung im ursprünglichen Gewahren oder konstanten Bewusstsein verbunden; es tritt einfach eine Wahrnehmung des grobstofflichen Körpers, des Bettes und des Zimmers ein. Das grobstoffliche Reich erscheint im Einen Geschmack, der Ich-Ich zeitlos bin. Es gibt dann nichts, das in einem spezifischen Sinne "Meditation" wäre, weil es in diesem nichtdualen Gewahren oder überaus subtilen konstanten Bewusstsein schon beschlossen ist. Wenn während der Nacht kein konstantes Bewusstsein auftritt, dann führe ich, wenn das grobstoffliche Reich auftaucht, jeweils verschiedene meditative oder kontemplative Übungen durch. Dabei beginne ich stets mit dem höchsten Guru-Yoga, das bedeutet Selbsterkundung, der direkten Betrachtung der Natur des Geistes (zum Beispiel "Wer bin ich? Was ist dieser reine leere Zeuge?"). Dies praktiziere ich meist in derselben Weise wie die "überkuppelnde Übung" (31. Oktober). Wenn ich aufwache, betrachte oder fühle ich das Auftauchen der Empfindung eines getrennten Selbst (d.h., ich fühle die kleine innere Spannung im Bewusstsein, die das getrennte Selbst ist, und ruhe dabei weiterhin in der bisherigen Leerheit, aus der die Selbstzusammenziehung als nicht notwendige Geste hervorgeht. Wenn diese überkuppelnde Übung gelingt – wenn sie also ohne einen Gedanken an einen Erfolg durchgeführt wird, entspannt sich die Empfindung des getrennten Selbst in reine Leerheit, die weite Öffnung, unendliche Freiheit, die konstantes, zeitloses, nichtduales Bewusstsein oder unendliche Räumlichkeit ist. Das Selbst entfaltet sich in die Leerheit, und ich kehre zu demjenigen zurück, was Ich-Ich zeitlos bin. Dann entsteht K. W. einfach als eine Geste desjenigen, was Ich-Ich bin, und ich bin in mehr oder weniger großem Maße (hier gibt es noch erhebliche Schwankungen) nicht mit jenem identisch: K. W. ist einfach eine von einer Milliarde Manifestationen des GEISTES und seines ewigen Liedes, und Ich-Ich bin dieses Lied, nicht eine bestimmte Note. Jedenfalls führe ich um vier oder fünf Uhr morgens eine oder zwei Stunden weitere typische meditative und kontemplative Übungen durch. Ich versuche dies auch dann, wenn das konstante Bewusstsein vorhanden ist, weil sie dieses Lied schöner zum Ausdruck bringen als alles andere. (Als man Suzuki Roshi fragte, warum man meditieren sollte, gab er immer dieselbe Antwort: Man meditiert nicht, um Buddha-Natur zu erlangen – weil sie ja allgegenwärtig und daher buchstäblich unerlangbar ist –, sondern deshalb, um die Buddha-Natur auszudrücken, die wir immer schon sind.) Ich meditiere nunmehr seit etwa 25 Jahren und habe Dutzende verschiedener spiritueller Praktiken erprobt; die meisten von denjenigen, die ich heute noch praktiziere, stammen jedoch von einem Longchen Nyingthig Seiner Heiligkeit Pema Norbu (Penor) Rinpoche, der heute das Haupt der Nyingma-Schule des tibetischen Buddhismus ist. Hierzu zählen insbesondere Tigle Gyachen und Shi Tro (anspruchsvolle Übungen, zu denen u. a. Togyal und Trekchod gehören, die beiden wichtigsten Übungen des Dzogchen- oder Maha-Ati-Buddhismus. Viele dieser Übungen wurden auch von meinem wichtigsten Dzogchen-Lehrer geschaffen, Chagdud Tulku Rinpoche). Diese formale Meditation beende ich mit der als Tonglen bezeichneten Praxis, "Nehmen und Aussenden", die ich auch immer wieder zwischendurch anwende, wahrscheinlich öfter als jede andere Übung. Die Grundform ist wie folgt: Man atmet das Leiden der Welt ein und atmet allen Frieden und alles Glück aus, das man besitzt; man nimmt Leid auf und sendet Befreiung aus. Diese tiefe Übung unterläuft den Dualismus zwischen einem selbst und anderen, Freund und Feind, Subjekt und Objekt, und führt immer wieder zur eigenen ursprünglichen Natur zurück, zu reiner Leerheit, zu reinem GEIST. Eine allgemeine Darstellung dieser verschiedenen Übungen findet sich in Mut und Gnade. Es sind buddhistische Übungen, aber ich bin aufrichtig davon überzeugt, dass ich auch mit irgendwelchen anderen subtilen, kausalen und nichtdualen Praktiken aus jeglicher nichtdualen Weisheitstradition der Welt glücklich sein könnte. Bei jeder echten Kontemplation geht es einfach darum, das Wachstum und die Entwicklung von der unbewussten über die selbstbewusste zur überbewussten Dimension des eigenen Wesens voranzubringen. Wir haben heute umfassende Belege dafür, dass die Meditation zwar nicht die grundlegenden Stadien der Entwicklung des Bewusstseins verändert, aber diese Entwicklung wesentlich beschleunigt.35 Meditation beschleunigt die Evolution, die Erinnerung und die Wiederentdeckung des GEISTES, der man in Ewigkeit ist. Durch Meditation werden Eicheln schneller zu Eichen, vollzieht der Mensch schneller die Entwicklung zum Gott. Der Dhikr des Sufismus, das Shikantaza des Zen, der Devekut des Judaismus, das Gebet des Herzens, die Visionssuche des Schamanismus, die Selbsterkundung Ramanas, das Vipassana des Theravada, das Zhiguan des Tiantai, zentrierendes Gebet, Raja-,
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Jnana-, Hatha-, Karma- und Kundalini-Yoga, die ganze erstaunliche Vielfalt der kontemplativen Praktiken der großen Weisheitstraditionen aus aller Welt: All dies dient ausschließlich der Wiedererinnerung und Wiederentdeckung dessen, was man immer schon ist. Und in dieser erschütternden Erkenntnis erwachst du neu zu einer Welt, in der der Kosmos deine Seele ist, die Wolken deine Lungen, die Regentropfen das Schlagen deines Herzens.
Donnerstag, 13. November Stuart Davis, 26, ist ein international anerkannter Sänger und Textdichter; vor allen Dingen aber besitzt er einen umwerfenden Humor. Aus dem Text zu seiner letzten CD: "Der 26-Jährige, der bereits fünf Alben in 16 Ländern veröffentlicht hat, hat einen internationalen Ruf für seinen kühnen Umgang mit der Sprache und seine Fähigkeit erlangt, mit ihrer Hilfe schwierige Themen darzustellen. In seiner Neuerscheinung Kid Mystic setzt er sich mit nichts weniger als der Schöpfung, der Evolution des Bewusstseins/ Geistes und dem Tod auseinander (das alles in zwölf aufregenden Pop-Nuggets). Endlich eine Sammlung singbarer, tanzbarer Aufnahmen, die lyrischen Genius mit Themen wie unmittelbarer Wahrnehmung von Gott, Entführung durch Außerirdische und Selbstmord verbinden. Davis hat die Mystik dorthin gebracht, wo sie schon immer hingehörte, in die Hülle einer Drei-Minuten-Single." Stuart wollte bei mir vorbeikommen – er hat Kid Mystic mir gewidmet –, und ich sagte, klar. Marci brachte etwas zum Essen vom Chinesen, und wir verbrachten den Abend miteinander. Stuart hatte das Gefühl, in seinem Leben irgendwie an einem Scheideweg angelangt zu sein und immer mehr in Richtung transpersonaler und spiritueller Dimensionen zu gehen (er meditiert zweimal täglich, und ich riet ihm, dies unbedingt noch zu intensivieren). Wir sprachen ausführlich über Kunst und ihre Fähigkeit, im besten Fall höhere Wirklichkeiten sichtbar zu machen. Ich zeigte ihm einige von Anselms und Alex' Werken. Stuart war von Alex' Kunst völlig hingerissen, fast sprachlos. Eine solche transpersonale Botschaft sollte auch in der Musik möglich sein – und wenn es niemand sonst tat, warum sollte es nicht Stuart als einer der Ersten tun? Dann gewährte uns Stuart ein halbstündiges Privatkonzert, wobei er seine schönsten und bewegendsten Lieder sang (Marci begann einmal sogar zu weinen). Morgen Abend tritt er in der Mars Lounge in Boulder auf. Wir werden hingehen.
Freitag, 14. November Wir wollten zu Stuarts Konzert gehen, aber vorher wollte sich Marci noch die Haare färben, und dabei passierte uns, sagen wir, ein kleines Malheur. Vielleicht ist "Malheur" nicht das richtige Wort; je nach persönlichem Empfinden könnte man das, was uns zustieß, als "irre cool" oder "absolute Katastrophe" bezeichnen. Jedenfalls wollte Marci ihre Haare platinblond Färben, weshalb wir in eine Drogerie gingen, wo man uns sagte, dass man zum Blondieren von dunklem Haar mindestens zwei starke Mittel braucht. Wir kauften beide und machten uns an die Arbeit. Ihr Haar wurde hellorange. Ich gehe jetzt mit Ronald McDonald. Stuarts Konzert mussten wir leider ausfallen lassen.
Samstag, 15. November Marci rief sämtliche Friseure in der Gegend an und bat dringend um einen kurzfristigen Termin. Ich mag ihr wild wucherndes Haar, aber sie möchte jetzt statt des schrillen Orange ein bloß noch schockierendes Weiß, und sie fand schließlich einen Friseur, der noch einen Termin hatte. Und ja, es klappte. Reinweißes Haar: Ich gehe jetzt mit einem Wattestäbchen.
Sonntag, 16. November Soeben kam Brant Cortrights Psychotherapy and Spirit, und es ist recht enttäuschend, nicht zuletzt deshalb, weil darin meine Auffassungen völlig verzerrt dargestellt werden (man wirft mir manchmal vor, dass ich diesen Vorwurf allzu oft erhebe. Der Leser möge sich selbst ein Urteil bilden). In Das Wahre, Schöne, Gute gliedere ich meine Arbeit in vier Hauptphasen: Wilber-I war romantisch, Wilber-II war im Prinzip die als Entwicklung verstandene Große Kette (dieses Modell legte ich zuerst in Das Atman-Projekt vor). Wilber-III geht erheblich darüber hinaus und nimmt viele verschiedene Entwicklungslinien an, die sich relativ unabhängig voneinander durch die verschiedenen Ebenen der Großen Kette hindurchziehen (dieses Modell habe ich erstmals in Psychologie der Befreiung vorgelegt und in Das Wahre, Schöne, Gute weiter ausgearbeitet), und Wilber-IV schließlich bindet diese Ebenen und Linien in den Kontext der vier Quadranten ein (die psychologischen Elemente von Wilber-III und Wilber-IV sind im Prinzip dieselben, weshalb ich mein letztes psychologisches Modell oft auch als Wilber-III bezeichne; es ist einfach der obere linke Quadrant von Wilber-IV). Cortright geht immer noch hauptsächlich von Wilber-II aus, nicht von Wilber-III (geschweige denn von Wilber-IV). Leider. Er ist einfach nicht mehr auf dem neuesten Stand, wenn er meine Position als monolithischen Entwurf, als plumpes Stufenleitermodell darstellt, dem zufolge man erst die psychologische Entwicklung abschließen muss, bevor eine spirituelle Entwicklung eintreten kann. Diese Fehlinterpretation ist so häufig und so falsch, dass sich Donald Rothberg in seiner Zusammenfassung meines aktuellen Modells (Wilber-III) zu folgender Klarstellung veranlasst sah: "Entwicklung vollzieht sich nicht in einer irgendwie einfachen Weise über eine Abfolge weniger kompakter Stadien, in denen alle Aspekte des Wachstums zusammengefasst sind ... Die (verschiedenen) Entwicklungslinien können manchmal miteinander konkurrieren, und bei einigen von ihnen scheint es sich, wie Wilber glaubt, überhaupt nicht um kohärente Stadien zu handeln ... Jemand könnte also kognitiv auf einer hohen Entwicklungsebene, zwischenmenschlich oder ethisch auf einer mittleren Ebene und emotional auf einer niedrigen Ebene stehen. Diese Entwicklungsdiskrepanzen scheinen
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hauptsächlich durch allgemeine kulturelle Werte und Stile bedingt zu sein." Mit anderen Worten, verschiedene Entwicklungslinien verlaufen relativ unabhängig voneinander durch die Ebenen der Großen Kette hindurch, weshalb man auf manchen Linien eine hohe, auf anderen eine mittlere und auf wieder anderen eine niedrige Entwicklungsstufe erreicht haben kann. Die größte Schwäche von Cortrights Buch liegt darin, dass ihm anscheinend der Grundcharakter der psychologischen und spirituellen Entwicklung nicht klar ist. Dabei mache ich in Das Wahre, Schöne, Gute unmissverständlich deutlich, dass man von zwei getrennten Entwicklungslinien ausgehen muss, der psychologischen und der spirituellen, sodass spirituelle Entwicklung sehr wohl parallel zu psychologischer Entwicklung erfolgen kann (was ich gleich noch erklären werde). Cortright räumt ausdrücklich ein, dass ich dies sage – und ignoriert im Weiteren genau dies. Seine Darstellung lässt keinen Zweifel daran, dass er genau das zentrale Problem nicht verstanden hat: Wenn denn spirituelle Entwicklung eine getrennte Linie ist, wie kann man sie dann definieren? Wenn spirituelle Entwicklung eine getrennte Linie ist (neben anderen Linien wie zum Beispiel der kognitiven, moralischen, motivatorischen, kinästhetischen und affektiven), dann muss man die spirituelle Linie in Begriffen definieren können, die kognitive Einsicht, Moral, Motivationen, Bedürfnisse, ethische Verpflichtungen oder affektive Liebe und Mitgefühl ausschließen, weil es für all dies ja bereits eigene Entwicklungslinien gibt. Wenn "Spiritualität" eine eigene Entwicklungslinie ist, dann muss man sie in spezifischen, eigenen Begriffen beschreiben können; aber eben dies macht Cortright ganz und gar nicht überzeugend, und dies schwächt seinen Ansatz entscheidend. Meine Auffassung ist vielmehr, dass sich einige Aspekte der spirituellen Entwicklung als höhere Stadien verschiedener Linien darstellen (wie zum Beispiel höhere Affekte oder transpersonale Liebe, höhere Kognition oder transrationales Bewusstsein usw.), und dass andere Aspekte der spirituellen Entwicklung eine getrennte Linie bilden (wie zum Beispiel Zuwendung und Offenheit). Hier muss man völlige Klarheit schaffen, bevor man sich vollmundig über "spirituelle" Entwicklung auslässt. Ein Beispiel: Selbst wenn man sagt, dass die höheren Stadien der verschiedenen Entwicklungslinien "spirituell" und die niedrigeren Stadien "personal" oder "psychologisch" sind – was in der Tat viele transpersonale Psychologen tun –, entwickeln sich nach meinem Modell (Wilber-III) die verschiedenen Linien trotzdem relativ unabhängig voneinander. Das bedeutet, dass ein transpersonales oder spirituelles Entwicklungsstadium auf einer Linie (z. B. Kognition) gleichzeitig mit einem personalen oder psychologischen Stadium auf einer anderen Linie (z. B. Moral) auftreten kann, sodass "spirituelles" und "psychologisches" Wachstum auf den verschiedenen Entwicklungslinien parallel zueinander erfolgen und nicht, wie Cortright mir unterstellen will, wie Ziegel einer Wand aufeinander geschichtet sind. Die Auffassung, dass eine dieser Linien vollständig abgeschlossen sein müsse, bevor eine andere beginnen kann, ist einfach dumm – nicht einmal in Wilber-II gab es ein solches starres Schema. In einem besonders kuriosen Abschnitt des Buchs behauptet Cortright, dass es meine "mittleren Entwicklungsebenen" (konkret operational, formal operational und Schau-Logik mit ihren jeweiligen Selbst-Pathologien) schlicht nicht geben würde. Wenn ich Cortright richtig verstehe, glaubt er, dass man sie auf eine Ebene reduzieren kann. Oje. Es gibt eine Fülle von Beweisen für die Existenz dieser Stadien, und ich habe nichts weiter getan als darauf hinzuweisen, dass überall, wo ein Stadium ist, auf diesem Stadium auch etwas schiefgehen kann. Dies sind die Ebenen möglicher Pathologien auf diesen sehr realen Entwicklungsstufen. Cortright ignoriert alle diese Befunde und feuert dann eine Breitseite gegen meine sehr gut abgesicherte Auffassung ab, dass den meisten Psychosen eine Entwicklungs- (und/oder genetische) Störung auf den frühesten Entwicklungsstadien zugrunde liegt. In ätzender Schärfe fällt er wegen meiner "moralischen Instinktlosigkeit" über mich her, während er seinen eigenen hohen Gesinnungsadel gebührend herausstreicht. Dies ist bei weitem der unbekömmlichste Teil des Buchs. Cortrights Kenntnisse der großen Weisheitstraditionen der Welt scheinen dürftig oder gar nicht vorhanden zu sein, und dass er einige dieser Traditionen eindeutig falsch darstellt, lässt das Buch insgesamt in keinem günstigen Licht erscheinen. Einige Beispiele: Cortright sagt, dass das von mir vorgelegte Stadienmodell für die meditative Entwicklung nicht gilt, etwa "die buddhistische Literatur kennt unzählige Beispiele von Menschen, die zur direkten Erkenntnis der unpersönlichen Leerheit des Nichtdualen gelangt sind." In Wirklichkeit gibt es praktisch keinen solchen Fall. Vielleicht dachte er an die Zen-Mondos, bei denen ein Schüler nach einer kurzen und intensiven Unterweisung durch einen Zen-Meister Satori empfängt. Aber, wie einem jeder Zen-Meister sagen wird, findet ein solcher Mondo-Dialog durchschnittlich erst nach sechs Jahren intensiver Meditation statt, die über Stadien fortschreitet (siehe z.B. die zehn Stierbilder). Cortright versucht, seine Auffassung durch verschiedene Beispiele abzustützen, die aber alle nachweislich unzutreffend sind. "Ramana Maharshi, den Wilber als Paradebeispiel für nichtduale Verwirklichung präsentiert, trat unmittelbar in die nichtduale Erfahrung ein, ohne durch das psychische oder subtile Stadium hindurchzugehen." In Wirklichkeit war Ramanas Erweckung, wie er ganz klar berichtet, ein dreitägiger Leidensweg, bei dem er Savikalpa-Samadhi (psychische und subtile Formen) und Nirvikalpa- und JnanaSamadhi (kausale Formlosigkeit) durchlebte und erst dann zu Sahaja (reiner Einer Geschmack oder nichtduale Soheit) erwachte. Dass Cortright dieses entscheidende Ereignis so selbstsicher und forsch falsch wiedergibt, ist, wie ich fürchte, für seine ganze Darstellung typisch. Ebenso verzerrt gibt er Aurobindos Modell und dasjenige des Vajrayana wieder. Für ihn ist Aurobindo ein "exemplarischer Vertreter dieser Tradition", in der nach Cortrights Auffassung nicht von einer spezifischen Abfolge der spirituellen Entwicklung die Rede ist. Freilich übersieht er dabei Aurobindos klare Aussage: "Die spirituelle Evolution gehorcht der Logik einer allmählichen Entfaltung; ein neuer entscheidender Schritt kann nur erfolgen, wenn der vorangegangene Schritt in ausreichender Weise bewältigt wurde. Selbst wenn bestimmte niedrigere Stufen durch einen schnellen und abrupten Aufstieg übersprungen wurden, muss sich das Bewusstsein noch einmal zurückwenden und sicherstellen, dass der Boden, auf dem es sich bewegt, mit dem neuen Zustand fest verbunden ist. Eine höhere oder konzentrierte Geschwindigkeit (die durchaus möglich ist) hebt nicht die Schritte als solche oder die Notwendigkeit auf, diese nacheinander zu bewältigen" (Aurobindo, The Life Divine, II, S. 26). Ebenso ist Cortright der Meinung, dass der Vajrayana-Buddhismus diese inneren Entwicklungsdimensionen nicht kennt. Er übersieht dabei aber die einzige gründliche Studie, die jemals zu diesem Thema durchgeführt wurde, nämlich die von Daniel P. Brown. Dieser stellte in einer sorgfältigen Analyse von über einem Dutzend wichtiger Texte der Mahamudra-Meditation fest, dass diese ausnahmslos von einem gestuften Entwicklungsmodell ausgehen, wobei diese Stufen sehr genau mit denjenigen übereinstimmen, die ich in Psychologie der Befreiung als die psychische, subtile, kausale und nichtduale bezeichnet habe. Brown und Engler haben weiterhin die typische chinesische Meditationstradition und die Vipassana-Tradition auf dieses Stufenmodell hin untersucht und dieses auch dort bestätigt. Cortright setzt sich fröhlich darüber hinweg. In seiner Übersicht über das Gebiet der transpersonalen Therapie stellt Cortright unbegreiflicherweise Wilber-II als das "alte Paradigma" hin und präsentiert Wilber-III als das "neue Paradigma", während er mein Modell auf Wilber-II reduziert. Was soll man dazu sagen? Cortright stellt das neue Paradigma wie folgt dar: "All dies spricht zugunsten einer Sichtweise, derzufolge die psychologische und spirituelle Entwicklung sich auf vielfältigen komplexen Entwicklungslinien vollzieht, die einander teilweise durchdringen und überschneiden, teilweise isoliert und voneinander unabhängig verlaufen. Manchmal ist Wachstum psychologisch, manchmal spirituell
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und manchmal beides zusammen." Dies ist haargenau das Modell Wilber-III, wie ich eben erläutert habe. Ich kann mir nur vorstellen, dass Cortright sein Buch schon weitgehend fertig geschrieben hatte, bevor er Das Wahre, Schöne, Gute las, und um nicht das ganze Buch neu schreiben zu müssen, präsentiert er praktisch nur Wilber-II-Anschauungen und fügt dann, um sich abzusichern (nach der Lektüre von Das Wahre, Schöne, Gute), ein paar lahme Abschwächungen hinzu (etwa im Stile von "Dies sind zwar nicht genau Wilbers Auffassungen, aber greifen wir sie trotzdem an"). Wilber-III benennt aber über ein Dutzend getrennter Entwicklungslinien wie beispielsweise die kognitive, moralische, affektive, Liebe, Zuwendung, Aufmerksamkeit, Selbstidentität, Abwehrmechanismen, die soziale, künstlerische und kinästhetische (die teils echte spirituelle Linien sind, teils in den höheren Stufen spirituell werden), sodass man diese verschiedenen einander überschneidenden Entwicklungen, die das Ich organisiert und koordiniert, sehr gut verfolgen kann.36 Cortright präsentiert triumphierend eine verwässerte Version des Wilber-III-Modells als Durchbruch zu einem neuen Paradigma. Aber in seinem Modell vermisse ich ein wirkliches Verständnis für die Befunde der Entwicklungsforschung, vor allem aber einen vernünftigen Vorschlag, wie man "Spiritualität" sinnvoll in einer Weise definieren kann und damit nicht nur andere Entwicklungslinien kopiert. (Ebenso ignoriert er völlig die Arbeiten von Jenny Wade und gibt eine seltsam schiefe Interpretation von Hameed Ali usw.)
Abbildung 5 Das integrale Psychogramm Cortright befürwortet einerseits ganz Huston Smiths Große Kette des Seins, lehnt aber andererseits das angeblich "monolithische" Spektrum des Bewusstseins ab, wobei ihm anscheinend nicht klar ist, dass beides im Grunde dasselbe ist. Allerdings habe ich versucht, gegenüber der Großen Kette einen Schritt weiter zu gehen, indem ich sage, dass es verschiedene Entwicklungslinien (oder -ströme) gibt, die sich auf den verschiedenen Ebenen (oder Wellen) der Großen Kette unabhängig voneinander entfalten, und dass eine Integration östlicher Weisheit mit westlichem Wissen nur gelingen kann, wenn man diese Tatsache anerkennt (Ebenen und Linien). Die vier Quadranten – oder einfach die großen Drei Ich, Wir und Es – sind einige der grundlegendsten Linien oder Strömungen, die sich jeweils durch die Ebenen oder Wellen der Großen Kette entwickeln (s. Abb. 3, [S. 87]). Cortright findet, dass diese "Ebenen und Linien" die ganze Sache viel komplizierter machen, während sie in Wirklichkeit eine gewaltige Fülle von Daten auf einen einfacheren Nenner bringen. Er meint, dass diese Konzeption die Große Kette verwässern und schwächen würde, während sie sie in Wirklichkeit gerade rettet. Nachfolgend eine einfache Darstellung von Wilber-III, die die Ebenen der Großen Kette mit verschiedenen Entwicklungslinien integriert, die durch diese Ebenen hindurchgehen (bzw. mit Strömungen, die durch diese Wellen hindurchgehen). Nehmen wir eine einfache Version der Großen Kette mit nur vier Ebenen: Körper, Geist, Seele und GEIST. Nehmen wir nur fünf Linien (es gibt fast zwei Dutzend), und wählen wir die Spiritualität sowohl als höchste Entwicklungsstufe einer jeden Linie als auch als eigene Linie, um damit die beiden üblichen Definitionen abzudecken (s. Abb. 5).37
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Abbildung 6 Das integrale Psychogramm als Holarchie Und zeichnen wir noch, weil "Hierarchie" für viele Menschen ein Reizwort ist, diese Hierarchie so, wie sie letztlich definiert ist, nämlich als Holarchie (s. Abb. 6). Es handelt sich um dieselbe Sache, aber manche Menschen kommen mit den weiblich-runden Kreisen besser zurecht (ich selbst ziehe sie ebenfalls vor, weil sie das Prinzip des "Transzendierens und Einschließens" der Großen Verschachtelung des Seins sehr klar zum Ausdruck bringen). Diese beiden Diagramme, die ich "integrale Psychogramme" nennen möchte, zeigen den Verlauf der verschiedenen Entwicklungslinien (oder -ströme) durch die verschiedenen Ebenen (oder Wellen) der Großen Verschachtelung. Wie man sieht, kann man auf manchen Ebenen eine höhere, transpersonale oder "spirituelle" Ebene erreicht haben und auf anderen nur eine personale oder "psychologische" Ebene, d.h., die spirituelle und die psychologische Entwicklung überschneiden sich, und die eigentliche spirituelle Linie kann ebenfalls eine relativ hohe oder niedrige Ebene erreicht haben. Das Selbst oder Selbst-System dirigiert alle diese Strömungen und Wellen und muss versuchen, zwischen ihnen einen Ausgleich und eine gewisse Harmonie herzustellen. Weiterhin kann in jeder Strömung jeder dieser Wellen oder Stufen etwas schief gehen, und deshalb kann man in dieses Psychogramm verschiedene Arten von Pathologien eintragen, d.h., auf den verschiedenen Ebenen oder Wellen einer jeden Linie sind verschiedene Formen von Pathologien möglich. Während man also sagen kann, dass viele dieser Entwicklungsströme die Wellen in Stufenschritten durchlaufen (und dies ist durch eine Fülle klinischer, phänomenologischer und kontemplativer Befunde gut abgesichert), gilt dies für die Selbstentwicklung insgesamt nicht, weil das Selbst die Summe all dieser unterschiedlichen Linien ist und die Zahl der Permutationen und Kombinationen praktisch unbegrenzt ist. Mit anderen Worten, das individuelle Wachstum gehorcht im Ganzen keiner festgelegten Abfolge. Weil ferner, wie aus dem Verschachtelungsdiagramm (Abb. 1) ersichtlich, jede höhere Dimension die darunter liegende Dimension transzendiert, aber einschließt, bedeutet das Erreichen einer höheren Welle nicht, dass man die niedrigeren Wellen hinter sich gelassen hätte. Das Modell ist nicht (und war niemals) die Leiter, sondern die Aufeinanderfolge von Atomen, Molekülen, Zellen und Organismen, wobei jede höhere Ebene die niedrigere einschließt oder einhüllt. Wie Plotin sagt: eine Entwicklung, die eine Einhüllung ist. Deshalb sind auch auf einer höheren Ebene die niedrigeren nicht aufgehoben – Zellen haben immer noch Moleküle, Buddhas müssen immer noch essen. Dies ist in einer Kurzfassung das Modell Wilber-III. Lassen Sie mich anhand eines letzten Beispiels verdeutlichen, warum ich glaube, dass dieses Modell Wilber-III eine Verbesserung des traditionellen Modells der Großen Kette (Wilber-II) bedeutet, das zwar die verschiedenen Ebenen des Seins umfasst, aber keine ausreichende Erklärung dafür anbieten kann, warum diese Ebenen von verschiedenen Entwicklungslinien durchzogen werden.38 Huston Smith fasst, wie wir gesehen haben, die traditionelle Große Kette präzise als Körper, Geist, Seele und GEIST zusammen (er bezeichnet diese Reiche auch als das irdische, das Zwischenreich, das himmlische und das unendliche Reich). Dieses Modell ist in seinem Rahmen durchaus zutreffend; leider hält es einer eingehenderen Betrachtung nicht stand, und unter der Lawine der modernen psychologischen Forschung bricht es überhaupt zusammen. Zunächst einmal verwechselt die traditionelle Große Kette die Ebenen des Seins und die zu jeder Ebene gehörenden Arten der Selbst-Empfindung. So ist zum Beispiel der GEIST (mind) eine Ebene der Großen Kette, aber das Ich ist das Selbst, das entsteht, wenn sich das Bewusstsein mit dieser Ebene identifiziert (d.h. mit dem Geist). Das Subtile ist eine Ebene der Großen Kette; die Seele ist das Selbst, das entsteht, wenn sich das Bewusstsein mit dem Subtilen identifiziert. Das Kausale/der GEIST ist eine Ebene der Großen Kette; das wahre Selbst ist das "Selbst", das zu dieser Ebene gehört, und so weiter. Die Abfolge der Ebenen der Großen Kette sollte also lauten: Körper, Geist, Subtiles und Kausales/GEIST. Die entsprechenden Selbst-Stadien wären Körper-Ich, Ich, Seele und Selbst. Dies ist die allereinfachste Version. Ich benutze zwar oft die herkömmliche Terminologie (Körper, Geist, Seele, GEIST), doch darf dabei niemals der Unterschied zwischen den Ebenen als solchen (Körper, Geist, Subtiles, Kausales) und dem auf diesen Ebenen sich manifestierenden Selbst (Körper-Ich, Ich, Seele, Selbst) übersehen werden.
Abbildung 7 Die Entwicklung der frontalen Persönlichkeit (Ich), der tieferen psychischen Persönlichkeit (Seele) und des Zeugen (Selbst) Warum diese Unterscheidungen wichtig sind, soll im Folgenden gezeigt werden (wobei auch deutlich werden wird, warum der Übergang von Wilber-II zu Wilber-III notwendig war). Die Traditionen gehen in aller Regel davon aus, dass der Mensch zwei große Persönlichkeitssysteme besitzt, nämlich ein frontales und ein tieferes psychisches. Die traditionellen Theoretiker der Großen Kette (und Wilber-II) sagen nun einfach, dass das frontale das mit dem Körper und mit dem Geist verbundene Selbst ist, während das tiefere psychische zur Seele gehört. Damit hätte man es in der Tat mit einer Art Leiter-Anordnung zu tun. Das frontale und das tiefere psychische Persönlichkeitssystem sind aber bei weitem nicht so starr abgegrenzt; es handelt sich offensichtlich nicht um verschiedene Ebenen, sondern um getrennte Linien, um eine Entwicklung, die sich parallel, nicht sequenziell vollzieht. Dies ist in Abbildung 7 dargestellt (in der eine genauere Darstellung mit sechs Ebenen gegeben ist).39
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Das frontale Wesen ist die am Grobstofflichen ausgerichtete Persönlichkeit, im weitesten Sinne dasjenige, was wir mit dem "Ich" meinen, oder die Persönlichkeit, die sich nach außen auf die sensomotorische Welt orientiert. Die Entwicklungslinie des frontalen Wesens beginnt mit der physischen Empfängnis, setzt sich über die emotionell-sexuellen oder pranischen Stadien zum mentalen Stadium fort und klingt im psychischen Stadium aus. Die frontale Entwicklung steht für die Evolution des Selbst (oder der Selbstidentität) über die unteren und mittleren Wellen der Großen Verschachtelung des Seins. Den Traditionen zufolge ist die frontale Persönlichkeit dasjenige, was sich in diesem Leben entwickelt, und das tiefere Psychische dasjenige, was sich zwischen den Leben entwickelt. Es ist im allerweitesten Sinne das, was wir mit dem Wort "Seele" bezeichnen. Jedenfalls soll das tiefere Psychische irgendwann in der Zeit zwischen der Empfängnis und der Mitte der Schwangerschaft vorhanden sein; einigen Forschungen zufolge gibt es tatsächlich pränatale, perinatale und neonatale Erinnerungen, und da diese nicht in der frontalen Persönlichkeit und im grobstofflichen Gehirn enthalten sein können (weil diese noch nicht entwickelt sind), sagen die Traditionen, dass diese Erinnerungen im tieferen psychischen Wesen enthalten sind und später untergehen, wenn die frontale Entwicklung in Gang kommt und das frühe psychische Wesen verdrängt.40 Ebenso wären Erinnerungen an ein Leben nach dem Tod, wenn sie echt sind, Inhalte des tieferen Psychischen. Trotzdem braucht man weder an ein pränatales Gedächtnis noch an frühere Leben zu glauben, um das tiefere psychische Selbst anerkennen zu können, weil dieses primär durch den Zugang zu einem höheren Bewusstsein, nicht durch den Zugang zu früheren Leben definiert ist. Das tiefere Psychische ist von der Geburt (oder von der Mitte der pränatalen Zeit) an vorhanden und spielt so lange nur eine bescheidene Rolle, bis die notwendige frontale Entwicklung ihre Aufgabe erfüllt hat, das Bewusstsein auf das grobstoffliche Reich hin zu orientieren und es an dieses anzupassen. Wenn die frontale Persönlichkeit zu verlöschen beginnt, kommt das tiefere psychische Wesen immer mehr zum Vorschein. Wie die frontale Persönlichkeit das Bewusstsein auf das grobstoffliche Reich hin orientiert, so orientiert das tiefere psychische Wesen das Bewusstsein auf das subtile Reich hin. Da, wie wir gesehen haben, das dem subtilen Reich zugeordnete Selbst die "Seele" ist, sind "das tiefere Psychische" und "die Seele" weitgehend dasselbe. Jedoch weist das tiefere Psychische, wiewohl es im subtilen Reich als solchem wurzelt, eine Entwicklung auf, die in einem der frühesten Stadien beginnt, im Subtilen kulminiert und im Kausalen ausklingt. Hier wird bereits deutlich, welche Vorteile es hat, das Frontale und das tiefere Psychische nicht als getrennte Ebenen, sondern als einander überschneidende Linien, nicht als unterschiedliche Wellen, sondern als oft parallel laufende Ströme zu betrachten. Wir können noch einen Schritt weiter gehen und feststellen, dass es eine letzte bedeutende "Persönlichkeit" gibt, diejenige des Selbst, das dem Kausalen angehört, aber wiederum wie die anderen Linien eine Entwicklung aufweist, die bis in die frühen Stadien zurückreicht. Mit anderen Worten, man kann das Selbst sinnvollerweise als getrennte Linie oder als Entwicklungsstrom betrachten, auch wenn es grundsätzlich auf das Kausale hin orientiert ist. Das Selbst oder der transpersonale Zeuge ist zwar im Gegensatz zum Ich oder zur Seele insofern keine "Persönlichkeit", als es keine spezifischen Merkmale besitzt (es ist reine Leerheit und das große Ungeborene), aber es ist immer noch eine von der Form getrennte Leerheit, ein Zeuge, der immer noch vom Bezeugten getrennt ist. Damit ist das Selbst oder der Zeuge der Sitz der Aufmerksamkeit, die Wurzel der Empfindung eines getrennten Selbst und der Ort der letzten und subtilsten Dualität, nämlich derjenigen zwischen dem Seher und dem Gesehenen. Es ist sowohl das höchste Selbst als auch die letzte Schranke vor dem nichtdualen Einen Geschmack. Und doch liegt in der Fähigkeit der Zeugenschaft die Kraft der Befreiung von allen niedrigeren Reichen, und der Zeuge selbst ist, wenn auch im Verborgenen, in allen früheren Stadien anwesend. Jedes Entwicklungsstadium transzendiert das vorherige und schließt es ein, und der Aspekt des "Transzendierens" liegt jeweils in der Fähigkeit des Höheren, das Niedrigere zu gewahren (die Seele gewahrt den Geist, dieser den Körper, dieser den Stoff). Und in allen Fällen ist das "Gewahren" einfach die Kraft der Zeugenschaft, wie sie in diesem Stadium aufleuchtet. Wiewohl also der Zeuge als die Kraft des transzendenten Wachstums in jedem Stadium vorhanden ist, gelangt er erst im kausalen Reich zu seiner Erfüllung. Wie das Ich das Bewusstsein auf das Grobstoffliche und die Seele das Bewusstsein auf das Subtile hin orientiert, so orientiert das Selbst das Bewusstsein auf das Kausale hin. Während alle diese Elemente der Großen Kette ihre eigentliche Heimat in bestimmten Reichen oder Wellen der Großen Verschachtelung haben, bilden sie auch Entwicklungslinien oder -ströme, weshalb sie sich in vielen Fällen überschneiden (siehe Abbildung 6). Dies stellen, wie ich glaube, viele Meditationslehrer und transpersonale Therapeuten an sich selbst und an ihren Klienten fest, dass nämlich Ich und Seele und GEIST in vielfältiger Weise koexistieren und einem gemeinsamen Entwicklungsverlauf folgen, weil sie relativ voneinander getrennte Strömungen sind, die durch die Wellen der Großen Verschachtelung des Seins hindurchgehen. Und die Entwicklung dieser Strömungen kann gelegentlich höchst ungleichmäßig verlaufen.41 Wir alle kennen recht erleuchtete Lehrer, die trotzdem ein außerordentlich ausgeprägtes Ego im Sinne einer starken Persönlichkeit haben. Dieses Ego ist aber an sich nicht das Problem; es kommt vielmehr darauf an, ob der Betreffende auch für höhere und tiefere Dimensionen wach ist. Wie Hubert Benoit sagte, ist nicht die Identifikation mit dem Ego das Problem, sondern die Ausschließlichkeit einer solchen Identifikation. Wenn sich die Selbst-Identität über das Ego hinaus in das tiefere Psychische und noch weiter zum Ungeborenen und zum Einen Geschmack erweitert, dann geht dieses Ich einfach in einer umfassenderen Identität auf. Das Ich als solches aber bleibt als das funktionelle Selbst im grobstofflichen Reich, und es könnte durchaus auch in angemessener Weise gerade dadurch intensiviert und gestärkt werden, weil es jetzt Kontakt zum ganzen Kosmos hat. Viele große erleuchtete Lehrer hatten ein ausgeprägtes Ich, ein ausgeprägtes tieferes Psychisches und ein sehr ausgeprägtes Selbst zugleich, einfach deshalb, weil dies die drei funktionellen Träger des grobstofflichen, subtilen und kausalen Reichs sind und alle diese Träger bei den großen Erweckten in angemessener Weise gestärkt wurden. Während nun – und hier liegt für viele Menschen eine Verständnisschwierigkeit – die verschiedenen Entwicklungslinien einander oft überschneiden, und zwar in keiner bestimmten Reihenfolge, gilt für die einzelnen Linien oder Strömungen selbst üblicherweise sehr wohl eine unveränderliche, universelle Entwicklungssequenz. Insoweit sie sich zum Bewusstsein hin entfalten, müssen sie durch die Ebenen oder Wellen der Großen Verschachtelung hindurchgehen, und zwar in einer von dieser Verschachtelung selbst vorgegebenen Reihenfolge. So gibt es heute eine Fülle von Belegen dafür, dass sich Kognition, Moral, Affekte, kinästhetische Fertigkeiten und soziale Kapazität, um nur einige wenige zu nennen, über eine präkonventionelle, konventionelle und postkonventionelle Stufe entwickeln.42 Mit anderen Worten, die verschiedenen Ströme scheinen durch die Ebenen der Großen Verschachtelung in einer von der universellen Großen Verschachtelung selbst festgelegten Weise hindurchzugehen. Auch wenn dabei die verschiedensten Regressionen und zeitweilige Sprünge in höhere Entwicklungsstufen möglich sind, ist nicht an der von Aurobindo formulierten empirischen Tatsache zu rütteln, dass individuelle Ströme dem Gesetz einer schrittweisen Entfaltung gehorchen. Zugleich aber wiederhole ich: Auch wenn alle Entwicklungslinien (u. a. die frontale, die tiefere psychische und die Fähigkeit der Zeugenschaft) einem ganz bestimmten Ablauf gehorchen, gilt dies für die Gesamtheit der Linien nicht. Das "Gesamt-Selbst" ist das
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Ergebnis des Zusammenspiels von etwa zwei Dutzend unterschiedlichen Entwicklungslinien, weshalb die Entwicklung eines jeden einzelnen Menschen etwas völlig Einzigartiges ist.
Montag, 17. November Nun kann vielleicht die Tatsache, dass Ich, Seele und SELBST gleichzeitig gegenwärtig sein können, zu einem besseren Verständnis des Begriffs der "Ichlosigkeit" verhelfen, der immer wieder für große Verwirrung sorgt. Ichlosigkeit bedeutet jedenfalls nicht das Fehlen eines funktionellen Selbst (das wäre ein Psychotiker, kein Weiser); es bedeutet vielmehr, dass man nicht mehr ausschließlich mit diesem Selbst identifiziert ist. Einer der Gründe, warum viele Menschen Schwierigkeiten mit dem Begriff "ichlos" haben, liegt darin, dass sie alle ihre Phantasien von "heiligmäßig" oder "spirituell" auf ihre "ichlosen Weisen" projizieren, was üblicherweise bedeutet, dass diese dauernd gütig lächeln und vom Hals abwärts tot sein müssen, frei von fleischlichen Begierden und Gelüsten. Von all demjenigen, womit die Menschen üblicherweise Schwierigkeiten haben – also mit Geld, Essen, Sex, Beziehungen, Begierden –, sollen ihre Heiligen frei sein. "Ichlose Weise" sollen "über den Dingen stehen". Redende Köpfe sollen sie sein. Religion heißt für viele Menschen Befreiung von allen niederen Instinkten, Trieben und Bindungen, und deshalb erwarten sie von der Religion nicht Hilfestellung, wie man sein Leben mit Begeisterung leben kann, sondern vielmehr, wie man es unterdrücken und verleugnen, wie man ihm entrinnen kann. Mit anderen Worten, die meisten Menschen wünschen sich einen spirituellen Weisen, der "weniger als eine Person" ist, der irgendwie frei ist von all den chaotischen, komplexen, pulsierenden, wirren, drängenden Kräften, die die meisten Leute umtreiben. Im Weisen soll all das nicht vorhanden sein, was einem selbst zu schaffen macht! Von allem, was einen selbst ängstigt, verwirrt, quält, soll der Weise unberührt sein. Dieses Nichtvorhandensein, dieses Freisein-von, dieses "Weniger-als-eine-Person-sein" versteht man oft unter "ichlos". Aber "ichlos" bedeutet eben nicht "weniger als personal", sondern vielmehr "mehr als personal" – alle normalen personalen Eigenschaften und zusätzlich einige transpersonale. Man braucht ja nur an die großen Yogis, Heiligen und Weisen von Moses über Christus bis Padmasambhava zu denken: Dies waren keine schwächlichen Duckmäuser, sondern Leute, die etwas bewegten, die im Tempel die Peitsche schwangen und ganze Völker unterwarfen. Sie begegneten der Welt nicht mit frommem Augenaufschlag, sondern nahmen sie ganz konkret an; viele von ihnen entfachten tief greifende gesellschaftliche Revolutionen, die jahrtausendelang wirksam waren. Sie konnten dies nicht deshalb tun, weil sie der physischen, emotionalen und mentalen Dimension des Menschseins und dem Ich auswichen, das deren Träger ist, sondern eben deshalb, weil sie diese Dimensionen mit einem Elan und einer Intensität ergriffen, die die Welt in ihren Grundfesten erschütterte. Natürlich hatten sie auch Kontakt zur Seele (dem tieferen Psychischen) und dem Geist (dem formlosen SELBST), die der letzte Ursprung ihrer Durchschlagskraft waren, aber sie verliehen dieser Kraft Ausdruck und setzten sie in konkrete Ergebnisse nur deshalb um, weil sie die niedrigeren Dimensionen in einer spektakulären Weise nutzten, um sich in der Welt Gehör zu verschaffen. Diese großen Welterschütterer hatten im besten Sinne des Wortes ein ausgeprägtes Ich, weil das Ich, der funktionelle Träger des grobstofflichen Reichs, neben der Seele (der Trägerin des Subtilen) und dem SELBST (dem Träger des Kausalen) existieren kann und existiert. Insoweit diese großen Lehrer im grobstofflichen Reich etwas bewegten, taten sie dies mit ihrem Ich, weil das Ich der funktionelle Träger dieses Reichs ist. Sie waren natürlich keineswegs identisch mit ihrem Ich (dann wären sie bloß Narzissten gewesen); sie hatten einfach entdeckt, dass ihr Ich Kontakt zu einem strahlenden kosmischen Ursprung hatte. Die großen Yogis, Heiligen und Weisen bewirkten nicht deshalb so viel, weil sie kriecherische Speichellecker waren, sondern große Persönlichkeiten mit einem ausgeprägten Ich, die Kontakt zum dynamischen Urgrund und Ziel des Kosmos selbst hatten, zu ihrem eigenen höheren SELBST, weil sie wach für den reinen Atman, das reine Ich-Ich waren, das eins mit Brahman ist. Sie öffneten den Mund und die Welt erbebte, fiel auf die Knie und erkannte ihren strahlenden Gott. War die heilige Theresia eine große Kontemplative? Ja, aber sie war auch (man muss sich dies einmal bewusst machen) die einzige Frau, die jemals die ganze katholische klösterliche Tradition reformierte. Gautama Buddha erschütterte Indien in seinen Grundfesten. Rumi, Plotin, Bodhidharma, Yeshe Tsogyal, Laozi, Platon, der Baal Shem Tov – diese Männer und Frauen lösten Revolutionen im grobstofflichen Reich aus, die Jahrhunderte und Jahrtausende wirkten, etwas, was weder ein Marx noch ein Lenin, weder ein Locke noch ein Jefferson für sich in Anspruch nehmen können. Aber dies gelang ihnen nicht deshalb, weil sie vom Hals abwärts tot gewesen wären. Nein, es waren Persönlichkeiten mit einem monumentalen, glorreichen, göttlichen Ich, die Kontakt zu einem tieferen Psychischen und dadurch wiederum unmittelbar zu Gott hatten. Natürlich hat der Begriff der Transzendierung des Ich seinen Sinn. Aber er bedeutet nicht Zerstörung des Ich, sondern vielmehr dessen Hinführung zu etwas Größerem. (Nagarjuna sagte, dass in der relativen Welt Atman wirklich sei; in der absoluten Welt sei weder Atman noch Anatman wirklich. In beiden Fällen sei also Anatta keine zutreffende Beschreibung der Wirklichkeit.)43 Das kleine Ich löst sich nicht in Luft auf: Es bleibt als funktionelles Zentrum der Aktivität im konventionellen Reich bestehen. Und wie schon gesagt, wird man durch den Verlust dieses Ich nicht zu einem Weisen, sondern zu einem Psychotiker. "Das Ich zu transzendieren" bedeutet also in Wirklichkeit, das Ich in einer höheren und tieferen Umschließung zu transzendieren und einzuschließen, zunächst in der Seele oder dem tieferen Psychischen, dann im Zeugen oder ursprünglichen SELBST und dann, wenn man die vorangegangenen Stadien bewältigt und in sich aufgenommen hat, im Leuchten des Einen Geschmacks. Dies bedeutet also nicht, dass man sich von dem kleinen Ich befreit, sondern vielmehr, dass man ganz in es einzieht, es mit Begeisterung lebt, es als den notwendigen Träger sieht, durch den höhere Wahrheiten vermittelt werden. Seele und GEIST schließen Körper, Emotionen und Geist ein; sie löschen sie nicht aus. Kurz: Das Ich ist nicht die Verhinderung des GEISTES, sondern vielmehr die strahlende Manifestation des GEISTES. Alle Formen sind nichts anderes als Leerheit, auch die Form des Ich. Man braucht keineswegs das Ich abzustreifen, sondern man muss es vielmehr mit einer gewissen Überschwänglichkeit leben. Wenn die Identifikation über das Ich hinausgeht und sich auf den Kosmos ausdehnt, entdeckt das Ich, dass der individuelle Atman in Wirklichkeit eins mit Brahman ist. Das große SELBST ist in der Tat kein kleines Ich, und soweit man auf dieses kleine Ich beschränkt ist, ist sehr wohl ein Tod und eine Transzendierung notwendig. Narzissten sind einfach Menschen, deren Ich noch nicht groß genug ist, um den ganzen Kosmos zu umfassen, weil sie versuchen, sich selbst zum Mittelpunkt des Kosmos zu machen. Aber die Leute wollen nicht, dass die Weisen ein großes Ich haben; am liebsten wäre es ihnen, wenn sie überhaupt keine manifeste Dimension hätten. Wenn ein Weiser einmal sein Menschsein zeigt – im Zusammenhang mit Geld, Essen, Sex, Beziehungen –, dann sind
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sie geschockt, weil sie dem Leben überhaupt entrinnen möchten, statt es zu leben, und der Weise, der das Leben lebt, ist ein Ärgernis. Sie wollen hinaus, sie wollen aufsteigen, sie wollen entrinnen, und der Weise, der sich lustvoll ins Leben hineinbegibt, der es bis zur Neige auskostet, der jede Welle des Lebens ergreift und auf ihr bis zum Ende surft – ein solcher Weiser verstört sie zutiefst, erschreckt sie, denn dies bedeutet, dass auch sie sich dem Leben auf allen Ebenen mit Lust hingeben sollen, statt sich bloß in einer Wolke von leuchtendem Äther vor ihm zu verstecken. Sie wollen nicht, dass ihre Weisen einen Körper, ein Ich, Triebe, Vitalität, Sex, Geld, Beziehungen oder überhaupt Leben haben, weil eben dies sie dauernd quält, und sie wollen weg davon. Sie wollen nicht auf den Wellen des Lebens surfen, sie wollen die Wellen loshaben. Sie möchten eine Luftschloss-Spiritualität. Aber der integrale Weise, der nichtduale Weise, zeigt uns einen anderen Weg. Er, der üblicherweise als "tantrischer Weiser" bezeichnet wird, sagt uns, dass man das Leben transzendieren muss, indem man es lebt. Er betont, dass man Freiheit durch Bindung erlangen muss, dass man das Nirvana mitten im Samsara finden, dass man die totale Befreiung durch vollständiges Sich-Hineinbegeben erlangen muss. Er betritt im vollen Bewusstsein die neun Kreise der Hölle, denn nirgendwo sonst kann man die neun Himmel finden. Nichts ist ihm fremd, denn es gibt nichts, das nicht der Eine Geschmack wäre. Es kommt wirklich nur darauf an, dass man ganz im Körper und seinen Begierden, im Geist und seinen Ideen, im GEIST und seinem Licht zu Hause ist. Dass man dies alles vollständig, gleichmäßig und gleichzeitig annimmt, weil dies alles gleichermaßen eine Geste des Einen und Einzigen Geschmacks ist. Begib dich hinein in die Lust und beobachte ihr Spiel; nimm die Gedanken an und folge ihrem Glanz; lasse dich vom Geist verschlingen und erwache zu einer Herrlichkeit, für die die Zeit keinen Namen gefunden hat. Körper und Seele und Geist – alles ist gleichermaßen im allgegenwärtigen Gewahren enthalten, das der Grund der ganzen Darbietung ist. In der Stille der Nacht flüstert die Gottheit. Im Strahlen des Tages brüllt der liebe Gott. Das Leben pulsiert, der Geist schafft sich seine Bilder, Emotionen wogen, Gedanken wandern. Was wäre dies anderes als die endlosen Regungen des Einen Geschmacks, der beständig mit seinen eigenen Gesten spielt und still allen zuflüstert, die es hören wollen: Bist dies nicht du selbst? Hörst du nicht dein Selbst, wenn der Donner grollt? Siehst du nicht dein Selbst, wenn der Blitz zuckt? Ist es nicht dein ureigenstes grenzenloses Wesen, das dir zuwinkt, wenn Wolken still über den Himmel ziehen?
Dienstag, 18. November Marci fährt seit Monaten mit meinem Jeep, weil sie kein funktionstüchtiges Auto hat. Sie hat vor dem Spearly Center geparkt, wo sie arbeitet, und das Auto wurde gestohlen. Die Polizei sagte uns, dass wir praktisch keine Chance hätten, das Auto jemals wiederzubekommen, weshalb ich gestern einen neuen Jeep kaufte. Heute Morgen bekam ich einen Anruf: Der Jeep wurde gefunden. Anscheinend vereitelte mein guter alter Jeep, der schon einige Jahre auf den Buckel hat, seinen Diebstahl, indem er einen Block weiter einen Platten bekam, woraufhin ihn der Dieb gleich wieder stehen ließ. Weil ich aber keine zwei Jeeps brauche, gab ich den neuen Marci. Sie ist megabegeistert. Aber natürlich "wird auch dies vorübergehen", wie alles. Um Buddhas letzte Worte zu paraphrasieren: "Alles Zusammengesetzte unterliegt dem Gesetz des Zerfalls. Bemüht euch angestrengt um eure Erlösung." Mit anderen Worten: Kannst du das große Ungeborene finden, das nicht aus Form gemacht ist und daher niemals gestohlen wird?
Mittwoch, 19. November Es ist nicht ganz richtig, den Einen Geschmack als "Bewusstsein" oder ein "Gewahrsein" zu beschreiben, weil dies etwas zu kopflastig, zu kognitiv ist. Es ist eher so etwas wie das schlichte Gefühl des Seins. Man fühlt jetzt schon dieses schlichte Gefühl des Seins: Es ist das einfache, gegenwärtige Gefühl der Existenz. Es ist aber ganz anders als alle anderen Gefühle oder Erfahrungen, weil dieses schlichte Gefühl des Seins nicht kommt und geht. Es ist überhaupt nicht in der Zeit, wiewohl die Zeit als eine der vielen Texturen seiner eigenen Empfindung durch es hindurchgeht. Das schlichte Gefühl des Seins ist keine Erfahrung: Es ist die weite Offenheit, in der alle Erfahrungen kommen und gehen, ein unendlicher Raum des Weiten, in dem sich alle Wahrnehmungen bewegen, ein großer GEIST, in dem die Formen seines eigenen Spiels auftauchen, kurz verweilen und vergehen. Es ist das eigene Ich-Ich, während sich das kleine Ich in der großen Weite des All-Raums entfaltet. Das schlichte Gefühl des Seins, die schlichte Empfindung des Daseins, ist das schlichte Gefühl des Einen Geschmacks. Ist dies nicht offensichtlich? Ist dir nicht schon bewusst, dass du existierst? Fühlst du nicht jetzt schon das schlichte Gefühl des Seins? Besitzt du nicht jetzt schon diesen unmittelbaren Zugang zum höchsten GEIST, der nichts anderes ist als das schlichte Gefühl des Seins? Du hast dieses schlichte Gefühl jetzt schon, nicht wahr? Und du hast es jetzt, nicht wahr? Und jetzt, nicht wahr? Und erkennst du nicht jetzt schon, dass dieses Gefühl der GEIST selbst ist? Die Gottheit selbst? Die Leerheit selbst? Der GEIST tritt nicht ins Dasein: Er ist das Einzige, das in seiner Erfahrung beständig ist, und dies ist das schlichte Gefühl des Seins selbst, ein subtiles, konstantes Hintergrundgewahren, und wenn du sehr genau, sehr sorgfältig hinsiehst, wirst du erkennen, dass du dieses immer schon hattest, seit dem Urknall und noch davor, und zwar nicht deshalb, weil du damals schon existiertest, sondern weil du wahrhaftig vor der Zeit existierst, in diesem zeitlosen Augenblick, dessen Gefühl das schlichte Gefühl des Seins ist: Jetzt und jetzt und immer schon jetzt. Spürst du das schlichte Gefühl des Seins? Wer ist nicht jetzt schon erleuchtet?
Donnerstag, 20. November Aber ach, wir Menschen wollen nicht einfach bloß GEIST, wir wollen auch, dass sich etwas tut. Wir wollen nicht bloß das schlichte Gefühl des Seins, wir wollen etwas fühlen. Etwas Besonderes. Wir wollen uns frei fühlen, berühmt oder bedeutend; wir wollen uns abheben, ein Zeichen setzen, jemand sein. Deshalb zerteilen wir dieses schlichte Gefühl des Seins; wir weisen ihm Eigenschaften zu, teilen es in Kategorien ein, geben ihm Namen, zergliedern es. Wir wollen nicht die Welt neutral als Ich-Ich bezeugen und dann die Welt im Gefühl des Einen Geschmacks sein. Statt also die Welt zu sein, wollen wir jemand sein. Wir wollen also den Schmerz endlicher Begrenzungen erleiden, und dies geschieht uns, wenn wir ein Jemand werden. Durch die Aufgabe des schlichten Gefühls des Seins, in
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dem Ich-Ich die Welt bin, identifizieren wir uns mit einem kleinen Körper in einem erbärmlich kleinen Raum, und wir möchten, dass sich dieser kleine Körper triumphierend über alle anderen Körper erhebt: Wir wollen, bei Gott, jemand sein. Aber wenn ich in diesem schlichten Gefühl des Seins bleibe, was kümmert es mich dann, wenn ein Freund ein neues Haus hat und ich nicht? Seine Freude ist im schlichten Gefühl des Einen Geschmacks meine Freude. Was macht es aus, wenn ein Kollege Auszeichnungen bekommt und ich nicht? Sein Glück ist im schlichten Gefühl des Einen Geschmacks mein Glück. Wenn es immer dasselbe Selbst ist, das durch alle Augen blickt, muss ich mich dann nicht über alles Glück freuen, wo auch immer es geschieht, weil es das Glück meines eigenen tiefsten Selbst ist? Und wenn irgendwo in der Welt Leid auftritt, leide dann nicht auch ich, weil es das Leid meines eigenen tiefsten Selbst ist? Leide ich nicht auch, wenn ein kleines Kind vor Hunger weint? Freue ich mich nicht auch, wenn sich ein junger Ehemann freut, weil er seine Frau heimkommen sieht? Traherne hat dies sehr genau erkannt: "Die Straßen waren mein, der Tempel war mein, die Menschen waren mein. Der Himmel war mein, ebenso die Sonne, der Mond und die Sterne, und die ganze Welt war mein, und ich war der einzige Seher (Zeuge) und Genießer der Welt. Ich wusste nichts von fadem Besitz, von Grenzen und Unterteilungen: Aller Besitz und alle Unterteilungen waren mein, alle Schätze, und alle, die Schätze besaßen. Mit großem Getöse wurde ich verderbt und war gezwungen, das schmutzige Handwerk der Welt zu lernen, das ich jetzt wieder verlerne ..." Im schlichten Gefühl des Seins, in dem Ich-Ich die Welt bin, finden Eifersucht und Neid keinen Halt; alles Glück ist mein Glück, alle Traurigkeit ist meine Traurigkeit – und eben dadurch hört in einer paradoxen Weise alles Leid auf. Tränen hören nicht auf und Lachen hört nicht auf – nur die groteske Vorstellung, dass ich "jemand" im Angesicht meiner eigenen Darbietung sei. Aufzuhören, jemand zu sein – wenn "der Körpergeist abfällt" –, wenn Ich-Ich in der Leerheit ruht und die ganze Welt der Form umhüllt: Dies ist der Zustand im schlichten Gefühl des Seins, im schlichten Gefühl des Einen Geschmacks. Ich fühle einfach das Dasein, reine Gegenwart, nichtduale Seinsheit, schlichte Soheit. Ich fühle einfach das Sein; ich habe nicht das Gefühl, dieses oder jenes zu sein – ich bin frei davon, dieses oder jenes zu sein, das bloß eine Form des Leidens ist. Wenn ich in der schlichten, gegenwärtigen, anstrengungslosen Empfindung des Daseins ruhe, ist mir alles gegeben. Du besitzt schon dieses schlichte Gefühl des Seins. Sage mir also bitte: Wer ist nicht schon erleuchtet?
Freitag, 21. November Paul rief aus China an. Er und Cel genießen die Reise, aber zwei Dinge schockierten sie in Peking: die grauenvolle Umweltverschmutzung und die Tatsache, dass es anscheinend niemanden gibt, der nicht raucht. Paul meinte, dass sie vielleicht deshalb rauchen, um mit ihren Zigaretten die Luft zu filtern. Roger (Walsh) hat sein Buch über die Sieben Praktiken abgeschlossen, zumindest in der Rohfassung, und jetzt hat er seinen Agenten ausgeschickt, um es feilzubieten. Sieben Übungen, die den großen Weisheitstraditionen der Welt gemeinsam sind: eine außerordentliche Idee zu einem Buch, aber ich fürchte, dass es nicht der große Renner werden wird, weil zwar jeder spirituell sein, aber niemand einen Übungsweg gehen möchte. Jeder möchte gerne hören, dass er die Göttin, der Gott oder eins mit Öko-Gaia ist, jeder möchte ein paar Bücher lesen, in einer etwas anderen Weise transferieren – aber Jahre einer transformierenden Praxis? Nein, danke. Jedenfalls hat Roger ein Buch für Menschen geschrieben, denen es mit der Erweckung ernst ist, was sein unvergängliches Verdienst und ein Glücksfall für die wenigen Menschen bleiben wird, die den Weg der Befreiung wirklich gehen wollen.
Samstag, 22. November Ann ist Verlagsleiterin bei Random House geworden. "Geht es ein bisschen rund bei euch?" "Der Teufel ist los. Aber ich komme schon zurecht. Es kam ein bisschen plötzlich." Ich freue mich so sehr für sie. Entertainment Weekly hat eine Liste der einhundert mächtigsten Menschen im Unterhaltungsgeschäft veröffentlicht, und darunter sind nur zwei Verleger: Sonny Mehta und Ann Godoff. Ich glaube, dass sie jetzt wieder einige Stufen nach oben geklettert ist. Aber abgesehen davon, ich mag sie einfach sehr, und ich freue mich ungemein für sie.
Sonntag, 23. November Soeben habe ich ein weiteres Buch gelesen, das mit Relativismus, Konstruktivismus und der extremen Postmoderne aufräumt, weshalb ich nun wirklich meinen eigenen persönlichen Nationalfeiertag ausrufen werde. Das Buch ist Thomas Nagels The Last Word (dt. Das letzte Wort, Stuttgart, 1999), und zusammen mit einigen anderen Büchern (ich hatte über ein Dutzend in Händen) scheint es nun wirklich der fast zwei Jahrzehnte währenden Herrschaft der Narzissten und Nihilisten (Relativisten und Konstruktivisten) ein Ende zu bereiten. Die Postmoderne besitzt einige überaus wichtige Wahrheiten, die ich immer verteidigt habe und verteidigen werde; nur haben die Extremisten diese über alle Maßen aufgebläht, um jegliche universelle Wahrheit, jegliche transzendente Wirklichkeit und jeglichen gemeinsamen Boden der Menschen zu leugnen, und sie taten dies oft auch in einem bösartigen und verletzenden Ton. Die Auffassungen der extremen Relativisten und Konstruktivisten – die zum Beispiel behaupten, dass alle Wirklichkeit sozial konstruiert und daher von Kultur zu Kultur relativ sei – wurden inzwischen widerlegt von Leuten wie Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel (die beide den performativen Widerspruch im Denkgebäude der Konstruktivisten aufzeigen), von John Searle (der zeigte, dass sozial konstruierte Wirklichkeiten auf objektiven Wahrheiten ruhen müssen, da sonst eine Konstruktion gar nicht erst möglich ist), von Peter Berger (der die Relativierer relativierte und sie damit mit ihren eigenen Waffen schlug) und Charles Taylor (der zeigte, dass die Ablehnung von Rangordnungen durch die Relativisten selbst eine Rangordnung darstellt). Jahrelang hat niemand diese Extremisten ernst genommen, bis die Nachkriegsgeneration mit ihren "neuen Paradigmen" kam, die alte Paradigmen "umstoßen" und durch neue ersetzen sollten, was nur deshalb möglich sein sollte, weil alle Wirklichkeiten "sozial konstruiert" und daher "dekonstruierbar" seien. Alle
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diese Auffassungen sind vielleicht gut gemeint, aber einfach nicht haltbar, und Thomas Nagel ist der letzte in einer langen Reihe von Theoretikern, die die Gründe hierfür aufzeichnen. Ebenso wichtig ist die Rezension von Nagels Buch durch Colin McGinn im The New Republic.44 TNR, eine Bastion des Liberalismus, hat selbst schon oft die extreme Diversität, den Konstruktivismus und Relativismus verfochten, die mit dem Narzissmus und Nihilismus der Postmoderne untrennbar verbunden sind. Dass der TNR sich für Nagels Position stark macht, ist ein überaus bedeutsamer Vorgang. McGinn stellt zunächst den Rationalitätsbegriff der extremen Postmoderne dar. "Dieser Auffassung zufolge ist der menschliche Verstand seinem Wesen nach lokal, kulturabhängig, durch die unterschiedlichen Tatsachen der menschlichen Natur und der Geschichte bedingt, eine Angelegenheit divergierender 'Praktiken', 'Lebensformen', 'Bezugsrahmen' und 'Begriffsschemata'. Es gibt ihr zufolge keine Denknormen, die das von einer Gesellschaft oder einer Epoche Akzeptierte transzendieren könnten, keine objektiven Rechtfertigungen für Überzeugungen, die jeder bei Strafe des Vorwurfs einer kognitiven Dysfunktion respektieren müsste. Gültig zu sein hieße, für gültig gehalten zu werden, und verschiedene Menschen könnten legitimerweise verschiedene Auffassungen davon haben, was sie für gültig halten wollten. Letztlich könne die Rechtfertigung von Überzeugungen immer nur die Form 'für mich gerechtfertigt haben". (Man beachte den Narzissmus oder schweren Subjektivismus.) McGinn fährt fort: "Einer solchen Auffassung zufolge ist Objektivität, wenn es sie denn gibt, eine Funktion gesellschaftlicher Beziehungen, eine Frage des gesellschaftlichen Konsenses, nicht der Anerkennung von Wahrheiten und Grundsätzen, die unabhängig davon gelten, ob eine Gesellschaft sie anerkennt. Für die Denknormen gelte letztlich nichts anderes als für die Normen der Mode." Nagel zeigt nun, und McGinn stimmt ihm zu, dass alle diese Behauptungen recht widersprüchlich sind. Diesen Weg schlug auch Habermas ein, und auch ich habe eben dieses Argument in der Einleitung zu Das Wahre, Schöne, Gute vertreten (davor schon in EKL) und wiederum in Kapitel 9 von Naturwissenschaft und Religion (ein kurzes Beispiel hierfür siehe unter dem Eintrag vom 9. Juli). Aber hören wir, was Nagel dazu zu sagen hat. McGinn: "Der Subjektivist behauptet, dass der Verstand nichts weiter sei als eine Manifestation lokaler und relativer Kontingenzen und dass seine Befunde keine Kraft über den parochialen Bereich hinaus hätten; sofern der Verstand versuche, über das Lokale hinaus auszugreifen, übernehme er sich und produziere er leere Behauptungen. Dies ist eindeutig eine Theorie über das Wesen des Verstandes: Sie will uns sagen, was Verstand sei, welches sein Platz in der Welt sei. Interessant ist nun, dass diese Theorie als die Wahrheit über den Verstand vorgebracht wird als etwas, was die Zustimmung aller vernünftigen Wesen finden müsse. Sie wird nicht einfach als eine Wahrheit für ihren Vertreter oder dessen Sprachgemeinschaft angeboten, sondern soll eine nicht nur relativ wahre Darstellung des Wesens des Verstandes sein. Wenn der Subjektivist also eine solche Theorie vertritt, nimmt er selbst Grundsätze des Urteilens und der Wahrheitsverbindlichkeit in Anspruch, die mehr als nur relative Gültigkeit haben müssen." Dann präsentiert McGinn Nagels unausweichliche Schlussfolgerung: "Aber damit wird genau dasjenige vorausgesetzt, was der Subjektivist angeblich in Frage stellen will. Hier liegt ein Dilemma: Entweder man verkündet die Enthüllungstätigkeit des Verstandes als objektive Wahrheit, oder man stellt sie bloß als einen Fall des eigenen offiziellen Wahrheitsbegriffs hin. Im ersteren Fall widerspricht sich der Subjektivist selbst, weil er für seine Aussage einen Status fordert, den ihm zufolge keine Aussage haben kann; in letzterem Fall aber ist seine Behauptung nur für ihn selbst wahr und für die Überzeugungen anderer ohne Bedeutung. Wenn die Behauptung des Subjektivisten wahr ist, dann kann man sie ignorieren. Wenn sie es nicht ist, dann ist sie falsch. In beiden Fällen ist es keine Behauptung, die man ernst nehmen müsse. Damit ist der Relativismus widerlegt." McGinn sagt, dass Nagels Argument "absolut schlagend ist. Nagel wendet sein allgemeines antisubjektivistisches Argument auf eine Reihe unterschiedlicher Gebiete an, unter anderem Sprache, Logik, Arithmetik und Ethik. Auf allen diesen Gebieten liefert er überzeugende Argumente dafür, dass der Inhalt der jeweiligen Urteile sich nicht subjektivistisch konstruieren lässt, sondern vielmehr auf objektiven Begründungen von universeller präskriptiver Kraft ruht." Meine eigene Auffassung lautet natürlich, wie bekannt, dass es universelle tiefe Merkmale mit relativen Oberflächenmerkmalen gibt: Unitas multiplex, universeller Pluralismus. Die tiefen Merkmale ähneln sich in aller Regel, wo immer man sie auch finden kann, während die oberflächlichen Merkmale lokal begrenzt, kulturell konstruiert, relativ und in der Regel von Kultur zu Kultur unterschiedlich sind. Indem aber die extremen Postmodernisten nur die kulturell relativen Oberflächenmerkmale gelten lassen, machen sie jegliches menschliche und spirituelle Verständnis unmöglich, das immer eine universelle/transzendente Komponente enthält. "Die Argumente, die Nagel vorbringt, sollten alle aufrütteln, die sich mit sanfter oder roher Gewalt zu dem schwammigen Relativismus bekehren ließen, der in der zeitgenössischen intellektuellen Kultur so allgegenwärtig ist. Richard Rorty muss sich von Nagel einige deutliche Worte gefallen lassen, die mehr als verdient sind." McGinn sagt, dass "Nagels Argument nicht nur richtig, sondern auch dringlich ist". Warum dringlich? Weil es notwendig ist, um den wuchernden Narzissmus hinter dem relativistischen/konstruktivistischen Spielchen zu bekämpfen, der für sich eine Wahrheit in Anspruch nimmt, die er allen anderen bestreitet, oder der zumindest alle Wahrheit in bloß subjektivistischen, egozentrischen Vorlieben verankert. "Aussagen der ersten Person" sind die einzige "Wahrheit", die anerkannt wird. Nach dieser wahnwitzigen Auffassung, so Nagel, "ist nichts richtig; stattdessen drücken wir alle bloß unsere persönlichen und kulturellen Standpunkte aus. Das Ergebnis ist eine Zunahme der ohnehin schon extremen intellektuellen Trägheit der zeitgenössischen Kultur und der Zusammenbruch jeglicher ernsthaften Argumentation in den niedrigeren Bereichen der Geisteswissenschaften und Gesellschaftswissenschaften, gepaart mit der Weigerung, die objektiven Argumente anderer als etwas anderes denn als Aussagen in der ersten Person zu nehmen." Narzissmus und Zersplitterung sind an die Stelle von Wahrheit und Kommunikation getreten, und so etwas nennt sich Kulturwissenschaft. McGinn kommt dem Kern der Sache sehr nahe. "Das letzte Wort ist ein Buch, das im goldenen Zeitalter des Subjektivismus (Egozentrik, Narzissmus) gelesen und beherzigt werden sollte. Warum gibt es heute solche Tendenzen, und warum sind diese so weit verbreitet? Ich habe da eine Vermutung." Diese Vermutung lautet, dass universelle Wahrheiten im Gegensatz zu subjektivistischen Auffassungen "mit einem populären, aber fehlgeleiteten Freiheitsideal kollidieren". Universelle Wahrheit "würde unser Denken einengen. Wir müssten uns ihren Geboten beugen. Aber die Menschen wollen sich nicht beugen; sie wollen das Gefühl haben, dass sie ihre Überzeugungen wählen können wie ihren Salat im Supermarkt. Sie möchten ihren Impulsen nachgeben und sich nicht von unpersönlichen [geschweige denn transpersonalen] Forderungen an die Kandare nehmen lassen. [Dies] empfinden sie als Angriff auf das unveräußerliche Recht zu tun, was ihnen beliebt." Einfach ausgedrückt: Universelle Wahrheiten schränken den Narzissmus ein; sie erlegen dem Ich Zwänge auf und weisen unsere subjektivistischen Wünsche in die Schranken, sodass wir uns mit einer Wirklichkeit auseinander setzen müssen, die nicht mehr nur von uns selbst gemacht ist. Es wird immer deutlicher, dass der extreme soziale Konstruktivismus die große Zufluchtsstätte des Subjektivismus/Narzissmus ist (und genau deshalb ist er in meiner Generation so beliebt; wenn die Nachkriegsgeneration einen Ruf hat, dann denjenigen der Selbsteingenommenheit). Wenn man nicht will, dass irgendetwas die eigenen egozentrischen Prioritäten stört – das "fehlgeleitete Freiheitsideal" –, dann müssen eben die Fakten nachgeben. Feministinnen mögen den Vorteil nicht, den Männer
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hinsichtlich ihrer physischen Kraft und Wendigkeit haben, weshalb sie einfach behaupten, dass alle Biologie sozial konstruiert sei. NewAger mögen die Zwänge der Konventionen nicht, weshalb sie behaupten, dass diese sozial konstruiert seien. Tiefenökologen, Ökofeministinnen, Retroromantiker und Anhänger des neuen Paradigmas bedienen sich gerne des sozialen Konstruktivismus, um mit seiner Hilfe alle Realitäten zu verbannen, die ihnen gerade nicht passen, und sie durch solche ihrer subjektiven Wahl zu ersetzen. Kritiker werfen daher einer narzisstischen Kulturwissenschaft vor, dass sie sich vor allem durch die nachfolgenden Merkmale "auszeichnet": Sozialer Konstruktivismus (ich kann alles dekonstruieren, was ich will), Relativismus (keine universellen Wahrheiten engen mich ein). Gleichsetzung von Naturwissenschaft und Poesie (keine objektiven Fakten kommen mir in die Quere), extremer Kontextualismus (es gibt keine universellen Wahrheiten außer meinen eigenen), alle Interpretation ist Leser-Reaktion (ich erzeuge alle Bedeutung), es gibt keine Meta-Erzählungen oder großen Bilder (außer meinem eigenen großen Bild, das mir sagt, warum alle anderen großen Bilder ungültig sind), Antirationalismus (es gibt keine objektive Wahrheit außer meiner eigenen) und Hierarchiefeindlichkeit (es gibt nichts Höheres als mich selbst). Man könnte darüber lachen, wenn dies nicht eine präzise Beschreibung des überwiegenden Teils der akademischen Kulturwissenschaften in Amerika und zugleich der personenzentrierten bürgerlichen Religion wäre (ein weiterer Grund dafür, warum die PZBR so selten transformativ ist; sie beruht zum Teil auf einer Reihe verhängnisvoller Selbstwidersprüche und ist von Hierarchiefeindlichkeit, Relativismus und Subjektivismus geprägt, weshalb ihr jeglicher Impuls zu einer Transformation fehlt [siehe 23. September]). Was SUNY Press für die Verbreitung der extremen Postmoderne in Amerika, ist Blackwell für deren Verbreitung in Großbritannien. Umso überraschter war ich, als das dort vor kurzem erschienene A Dictionary of Guttural and Critical Theory keineswegs nur postmoderne poststrukturalistische Lehrsätze enthielt, sondern vielmehr einen Angriff auf die meisten postmodernen Theorien des Konstruktivismus und Relativismus ganz im Stil Nagels: "Dies zwingt wohl zu dem Schluss, dass alles Reden über Wahrheit, sei es in den Naturwissenschaften oder den stärker theoretisch geprägten Geisteswissenschaften, auf die Wahl der richtigen Metapher (oder der optimalen rhetorischen Strategie) hinausläuft, durch die man die Zustimmung anderer gewinnt, die an derselben gemeinschaftlichen Unternehmung beteiligt sind. Verständlicherweise halten Wissenschaftler dies für eine wenig befriedigende Antwort auf die Frage, wie durch die kombinierte Anwendung von Theorie und empirischer Forschung Fortschritt möglich ist. Deshalb gab es in neuerer Zeit kausal-realistische oder antikonventionalistische [universelle und antisubjektivistische] Ansätze, die eine weit bessere Deutung unseres Wissens über den Wissenszuwachs bieten. Es lässt sich in der Tat wenig für eine Wissenschaftsphilosophie ins Feld führen, die sich letztlich ihres Gegenstandes beraubt, indem sie 'Wissenschaft' bloß auf eine weitere Spielart eines präferenziellen Sprachspiels, einer präferenziellen Rhetorik, eines präferenziellen Begriffsschemas oder was auch immer reduziert. Die derzeitige Wiederbelebung realistischer Ontologien bedeutet einen Bruch mit dieser, wie man jetzt sagen muss, fehlgeleiteten Denkrichtung." Es ist klar, dass ich grundsätzlich mit diesen entscheidenden Angriffen auf die extreme Postmoderne einverstanden bin (wie sie u. a. Habermas, Apel, Gellner, Taylor, Nagel und McGinn geführt haben), aber ich nehme doch eine geringfügig andere Haltung ein. Diese Kritiker lassen überhaupt kein gutes Haar an den extremen Postmodemisten, während ich ihnen zugestehe, dass die Postmoderne wenigstens einige wichtige, wenn auch unvollständige Wahrheiten besitzt. Was man angreifen muss, sind die extremen Versionen, für die Relativismus, Konstruktivismus und Kontextualismus die einzigen Wahrheiten sind, denn an diesem Punkt werden sie selbst widersprüchlich und können nicht mehr ernst genommen werden. Der Kern der postmodernen Agenda enthält für mich einige noble Impulse, aber um diese zu retten, muss man sie in einen größeren Kontext stellen, der ihre Ansprüche beschneidet und ihre Zielsetzungen vervollständigt. Die noblen Impulse sind diejenigen der Freiheit, der Toleranz, eine aperspektivische Haltung und der Befreiung von unnötigen oder ungerechten Konventionen. In der liberalen/postmodernen Haltung hatten kulturelle Unterschiede und die Zulassung mehrfacher Perspektiven immer einen hohen Stellenwert, und sie nahm sich bislang marginalisierter Kulturen und Gruppen an (Frauen, Minderheiten, Schwule usw.). Diese Haltung, nämlich diejenige eines universellen Pluralismus, stellt eine sehr hohe Entwicklungsleistung dar und war nur auf der weltzentrischen, postkonventionellen Entwicklungsebene möglich. Die liberale/postmoderne Haltung ist in ihren besten Teilen auf dieser hohen Ebene der Bewusstseinsevolution entstanden. Aber in ihrem Drang, konventionelle Ebenen zugunsten einer postkonventionellen Freiheit zu durchbrechen und zu überschreiten, befürworteten die extremen Liberalen/Postmodemisten letztlich alle und jegliche Haltungen (extreme Diversität und extremen Multikulturalismus) einschließlich vieler Haltungen, die schlicht ethnozentrisch und egozentrisch sind (da man ja alle Haltungen gleichermaßen gelten lassen müsse). Damit öffnet man aber regressiven Bestrebungen Tür und Tor, und es kommt zu einer Devolution von weltzentrisch über ethnozentrisch zu egozentrisch, zu einem überhand nehmenden Subjektivismus und Narzissmus, der dann die (in diesem Punkt völlig fehlgeleitete) Agenda beherrschte. Noble Impulse, die sich leider in ihr Gegenteil verkehrten – dies ist wohl das Beste, was man über den Liberalismus/die Postmoderne sagen kann. Die noble Vision des universellen Pluralismus wurde zugrunde gerichtet; was "universell" daran sein sollte, wurde preisgegeben oder verleugnet, und ein hemmungsloser Pluralismus, dessen Triebfeder ein hemmungsloser Narzissmus ist, machte sich breit. Gegen diesen vulgären Pluralismus – der die liberale Haltung selbst verwässert und zerstört, der die Notwendigkeit einer Evolution in Richtung weltzentrischer, postkonventioneller Ebenen negiert, die allein die liberale Vision tragen und schützen können – richteten sich die Angriffe der letzten Zeit. Habermas, Nagel und Mitstreiter verweisen einfach darauf, dass der Anspruch des Pluralismus als solcher eine universelle Komponente beinhaltet, und wenn diese universelle Komponente nicht anerkannt und berücksichtigt wird, hebt sich die ganze liberale/postmoderne Agenda selbst auf. Dem stimme ich vollkommen zu. Aber vergessen wir auch nicht die noblen Impulse, die in dieser Agenda verborgen sind, und vergessen wir nicht, dass diese Impulse gerettet und die ursprüngliche liberale/postmoderne Vision Wirklichkeit werden kann, wenn man den nackten Pluralismus aufgibt und zu einem universellen Pluralismus und zur Unitas multiplex zurückkehrt: universelle tiefe Merkmale, lokale Oberflächenmerkmale. Den Zugang zu diesen universellen Merkmalen erreicht man durch Empathie und Mitgefühl. Die liberale/postmoderne Vision kann nur dann vor sich selbst geschützt werden, wenn sie programmatisch die Menschen ermuntert, den Wachstumsweg von einer egozentrischen über eine soziozentrische zu einer weltzentrischen Haltung zu gehen, wo ihnen letztlich die universelle spirituelle Herrlichkeit offen steht. Freiheit – die Kernidee liberaler Werte – findet man nicht in egozentrischen oder ethnozentrischen Reichen. Echte Freiheit, wahre Freiheit, liegt in der großen Weite eines weltzentrischen Bewusstseins, das sich wiederum zu unendlichen Weiten des einen GEISTES und des ursprünglichen Selbst öffnet, eines Selbst, an dem alle fühlenden Wesen Anteil haben, eines Reichs, in dem Freiheit in alle Richtungen ausstrahlt. Deshalb müssen wir einen postliberalen, nicht einen präliberalen Weg gehen. Es liegt also eine kaum zu überbietende Ironie darin, dass Liberalismus/Postmoderne bei ihrem Streben nach Freiheit für alle gerade einer schweren Unfreiheit das Wort geredet haben: Der Egozentriker ist nicht frei, weil er Sklave seiner eigenen Impulse ist; der Ethnozentriker ist nicht frei, weil er Sklave seiner Hautfarbe ist. Erst in einem weltzentrischen Bewusstsein, in dem sich das reife Individuum in den Kontext aller Individuen bringt und sich mühelos in diesem erheblich erweiterten Raum bewegt, dämmert eine wirkliche Freiheit auf, die sich in einer zeitlosen
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Hinwendung zum All zum reinen GEIST öffnet. Der Liberalismus muss weiter in dieser ursprünglichen Richtung des Wachstums und der Evolution gehen und aufhören, in selbstwidersprüchlicher und geistloser Weise auch noch den windigsten subjektivistischen Impuls zu fördern. Was diese Kritiker mit Recht so überaus wirksam bloßstellen, ist der enge, fehlgeleitete, narzisstische und relativistische Stumpfsinn. Es führt kein Weg daran vorbei: Wenn die Postmoderne Recht hat, dann kann es keinen GEIST geben. Wenn der GEIST irgendetwas sein soll, dann ist er universell. Wenn er irgendetwas sein soll, ist er allumfassend. Und wenn er irgendetwas sein soll, ist er der strahlende Urgrund jeglicher Manifestation gleichermaßen. Aber wenn es nichts Universelles gibt – und genau das behaupten die extremen Postmodernisten –, dann kann es nirgendwo im Universum etwas wirklich Spirituelles geben. Während ich also die noblen Impulse der ursprünglichen Vision – derjenigen des universellen Pluralismus und der Unitas multiplex – uneingeschränkt unterstütze, schließe ich mich andererseits dem Kampf gegen diejenigen an, die die Unitas vergessen haben und nur das Multiplex anbieten.
Montag, 24. November Roger, Frances, Kate und T George haben sich in San Francisco zur Jahreskonferenz der American Academy of Religion getroffen, die vom 22. bis 25. November stattfindet. Vor allem Roger nahm in den vergangenen Jahren immer an dieser Veranstaltung teil, hauptsächlich, weil er aus beruflichen Gründen hierzu verpflichtet zu sein glaubt, aber er berichtet immer dasselbe: Diese Gelehrten betreiben nichts weiter als translative Spiritualität, und selbst dies nicht einmal engagiert, sondern bloß als öde, kalte, blutleere Wissenschaft. Als ich vor vielen Jahren noch der Typ des verrückten Wissenschaftlers war, sammelte ich Insekten. Dafür braucht man vor allen Dingen ein Tötungsglas. Man nimmt ein leeres Mayonnaiseglas, gibt tödliches Tetrachlormethan auf einen Wattebausch und legt diesen in das Glas. Dann gibt man das Insekt hinein – Motten, Schmetterlinge usw. –, und das Tier stirbt sofort, ohne äußerlich entstellt zu werden. Dann präpariert man es, untersucht es und stellt es aus. Die akademische Religion ist das Tötungsglas des GEISTES.
Donnerstag, 27. November Marci hat ein riesiges Thanksgiving-Essen zubereitet, zu dem wir Kate einluden. Es war phantastisch, obwohl ich zuerst befürchtete, dass der Truthahn verbrennen würde, so riesig war er und so lange dauerte die Garzeit. Das erinnerte mich an Gracie Allens Anweisungen für die Zubereitung eines Huhns: "Ich verbrenne immer alles, was ich koche. Aber irgendwann bekam ich heraus, wie man ein Huhn richtig gart: Man gibt ein großes und ein kleines Huhn in den vorgeheizten Ofen. Wenn das kleine Huhn verbrannt ist, ist das große fertig."
Samstag, 29. November Marci lud mich in den Nussknacker ein, was ich sehr lieb fand. Es ist wirklich ein großes Glück, dass sie in meinem Leben ist. Mit Liebe bekommt das Frontale einen intensiveren Glanz, das tiefere Psychische hallt von Tugend wider, der Zeuge umschließt alles. Aber es ist wie mit der alten jiddischen Redeweise: "Ich war reich und ich war arm; reich ist besser." So ist es auch mit der Liebe.
Sonntag, 30. November Es gibt vier Hauptphasen oder Stadien der spirituellen Entfaltung: Überzeugung (belief), Glaube (faith), unmittelbare Erfahrung und dauerhafte Adaptation: Man kann vom GEIST überzeugt sein, man kann an den GEIST glauben, man kann ihn unmittelbar erfahren und man kann GEIST werden. 1. Überzeugung (belief) ist das früheste (und deshalb verbreitetste) Stadium einer spirituellen Orientierung. Überzeugung entsteht in der Regel auf der mentalen Ebene, weil man hierfür Bilder, Symbole und Begriffe braucht. Der Geist (mind) selbst durchläuft jedoch bei seiner eigenen Entwicklung verschiedene Übergangsstadien (das magische, mythische, rationale und Schau-Logik), die jeweils die Grundlage einer bestimmten Form und eines bestimmten Stadiums spiritueller oder religiöser Überzeugung sind. Magische Überzeugung ist egozentrisch, wobei Subjekt und Objekt oft miteinander verschmolzen sind. Typisch hierfür ist also die Auffassung, dass das individuelle Selbst die physische Welt und andere Menschen durch mentale Wünsche entscheidend beeinflussen könne, wofür Voodoo und Wortmagie die bekanntesten Beispiele sind. Die mythische Überzeugung (die üblicherweise soziozentrisch/ethnozentrisch ist, weil verschiedene Menschen verschiedene Mythen haben, die einander ausschließen: Wenn Jesus der alleinige Erlöser der Menschheit ist, ist Krishna out) richtet ihre spirituelle Intention auf einen oder mehrere körperlose Götter oder Göttinnen, die Macht über alles menschliche Tun haben. Die rationale Überzeugung versucht – insoweit der Verstand überhaupt irgendetwas glauben möchte –, die Religion zu entmythologisieren und Gott oder die Göttin nicht als anthropomorphe Gottheit, sondern als höchsten Seinsgrund darzustellen. Diese Rationalisierung erreicht ihr höchstes Stadium mit der Schau-Logik, die oft Disziplinen wie die Systemtheorie heranzieht, um diesen Seinsgrund als ein großes holistisches System, als Gaia, Göttin, den Öko-GEIST, das Gewebe des Lebens usw. zu erklären. All dies sind mentale Überzeugungen, die üblicherweise mit intensiven Gefühlen gepaart sind, aber sie sind nicht notwendigerweise unmittelbare Erfahrungen supramentaler spiritueller Wirklichkeiten. Daher sind sie bloß Formen einer Translation: Man kann solchen Überzeugungen anhängen, ohne seine gegenwärtige Bewusstseinsebene auch nur im mindesten zu ändern. Wenn aber diese bloß translativen Haltungen zu reifen beginnen, und wenn die unmittelbare Emergenz der höheren Reiche immer mehr in das Selbst hereindrängt, weicht die bloße Überzeugung einem Glauben.
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2. Der Glaube beginnt, wenn bloße Überzeugungen ihre Kraft verlieren, was früher oder später bei allen mentalen Überzeugungen der Fall ist, weil sie eben nur mental und nicht supramental oder spirituell sind. So verblasst zum Beispiel irgendwann die Überzeugung, dass der GEIST das Gewebe des Lebens sei, weil man sich, wie sehr man auch vom Gewebe des Lebens überzeugt ist, immer noch als getrenntes, isoliertes Ich fühlt, das von Hoffnungen und Ängsten geplagt ist. Man versucht immer krampfhafter, an seiner Überzeugung festzuhalten, aber es nützt nichts. Durch bloße Überzeugungen gewinnt man vielleicht irgendeine Form von translativer Sinnhaftigkeit, aber man erreicht keine tatsächliche Transformation, und dies wird einem immer mehr schmerzlich bewusst. (Noch schlimmer ist es, wenn man magischen oder mythischen Überzeugungen anhängt, weil diese üblicherweise nicht nur keine Transformation bewirken, sondern sich oft als regressive Tendenz im eigenen Bewusstsein bemerkbar machen, die nicht zum Transrationalen hin-, sondern von diesem wegführt.) Natürlich steht oft eine echte spirituelle Intuition hinter dem mentalen Glauben an Gaia oder das Gewebe des Lebens, nämlich eine Intuition der Einheit des Lebens. Aber diese Intuition kann so lange nicht realisiert werden, wie das Bewusstsein in Überzeugungen befangen ist. Alle Überzeugungen sind letztlich spalterisch und dualistisch, und holistische Überzeugungen sind letztlich ebenso dualistisch wie analytische Überzeugungen, weil beide nur durch ihr Gegenteil definiert werden können. Es geht nicht darum, das All zu denken, sondern darum, das All zu sein, und solange man sich an Überzeugungen bezüglich des Alls klammert, wird dies niemals geschehen. Bloße Überzeugungen sind Junkfood für die Seele, eine spirituelle Nulldiät, die früher oder später keinen Trost und keine Befriedigung mehr gibt. Üblicherweise trägt einen aber zwischen dem Verzicht auf Überzeugungen einerseits und der Erlangung unmittelbarer Erfahrung andererseits nur der Glaube. Wenn die Überzeugung von der Einheit keinen Trost mehr bieten kann, hat man doch immer noch den Glauben, dass die Einheit in irgendeiner Weise existiert und den Menschen ruft. Und dies ist ein zutreffender Glaube. Der Glaube bleibt unbeirrbar, wenn Überzeugungen unglaubwürdig werden, denn der Glaube hört den schwachen, aber unmittelbaren Ruf einer höheren Wirklichkeit, den Ruf des GEISTES, Gottes, der Göttin, der Einheit, einer höheren Wirklichkeit, die jenseits des Verstandes und jenseits der Überzeugungen ist. Der Glaube schlägt die Brücke zur unmittelbaren supramentalen, transrationalen Erfahrung. Weil er keine dogmatischen Überzeugungen hat, kennt er keine Sicherheit; weil er (noch) keine unmittelbare Erfahrung hat, kennt er keine Gewissheit. Der Glaube ist also ein Niemandsland – tausend Fragen und keine Antworten. Er hat nichts als seine felsenfeste Entschlossenheit, seine spirituelle Heimat zu finden, und unter dem Antrieb seiner eigenen verborgenen Intuition kann es ihm schließlich gelingen, die unmittelbare Erfahrung zu erlangen. 3. Unmittelbare Erfahrung gibt die entscheidende Antwort auf die quälenden Fragen des Glaubens. Üblicherweise gibt es zwei Phasen direkter Erfahrung: Gipfelerfahrungen und Plateau-Erfahrungen. Gipfelerfahrungen sind relativ kurz, meist intensiv, oft unerwartet und können das Leben verändern. Sie gewähren einen kurzen Blick auf die transpersonale, supramentale Ebene des eigenen höheren Potenzials. Psychische Gipfelerfahrungen sind ein Blick in die Naturmystik (Einheit der grobstofflichen Ebene); subtile Gipfelerfahrungen sind ein Blick in die Gottheitsmystik (Einheit auf der subtilen Ebene); kausale Gipfelerfahrungen sind ein Blick in die Leerheit (Einheit auf der kausalen Ebene), und nichtduale Gipfelerfahrungen sind ein Blick in den Einen Geschmack. Wie Roger Walsh gesagt hat, sind Gipfelerfahrungen umso seltener, je höher ihre Ebene ist. (Deshalb sind die meisten Erfahrungen eines "kosmischen Bewusstseins" in Wirklichkeit bloß ein Blick in die Naturmystik oder die Einheit der grobstofflichen Ebene, das niedrigste der mystischen Reiche. Viele Menschen halten dies leider schon für den Einen Geschmack. Diese Verwechslung grassiert vor allem unter den Öko-Theoretikern.) Es ist klar, dass die meisten Menschen auf der Ebene der Überzeugung oder des Glaubens bleiben (die üblicherweise auch noch magisch oder mythisch ist). Gelegentlich aber treten eindrückliche Gipfelerfahrungen eines wirklich transpersonalen Reichs auf, die den Menschen völlig erschüttern und ihn meist zu einem besseren, manchmal aber auch zu einem schlechteren Menschen machen. Es ist jedoch unbestreitbar, dass solche Menschen nicht bloß eine Überzeugung wiederholen, über die sie in einem Buch gelesen haben, oder bloß translativen Smalltalk von sich geben: Sie haben wirklich ein höheres Reich erblickt, und sie sind nicht mehr dieselben. (Deshalb ist es nicht immer gesagt, dass man dadurch zu einem besseren Menschen wird. So kann zum Beispiel jemand, der sich auf der konkret-buchstäblichen mythischen Ebene befindet, eine Gipfelerfahrung etwa der subtilen Ebene haben. Wenn er dann die Autorität des Subtilen auf seine konkreten Mythen überträgt, ist er bloß wieder ein Fundamentalist auf einer anderen Ebene: Seine jeweilige mythische Gottesgestalt ist die einzige Gestalt, die die ganze Welt erlösen kann, und es werden wieder Körper verbrannt, um Seelen zu retten. Jemand, der sich auf der Ebene der Schau-Logik befindet, kann eine Gipfelerfahrung der psychischen Ebene haben, und dann ist sein "neues Öko-Paradigma" das Einzige, was die Erde retten kann, und diese Leute zögern nicht, im Stechschritt in einen Öko-Faschismus zu marschieren, um Menschen anderer Meinung vor sich selbst zu retten. Einem religiösen Fanatismus solchen Zuschnitts ist fast unmöglich beizukommen, weil er ein inniges Gemisch aus höheren Wahrheiten mit niedrigeren Täuschungen ist. Die höhere Wahrheit liegt oft in einer echten spirituellen Erfahrung, einem tatsächlichen kurzen Blick in ein höheres Reich. Aber weil es nur eine kurze Erfahrung und noch kein dauerhaftes klares Bewusstsein ist, wird diese Erfahrung sofort auf eine niedrigere Ebene transferiert, wo sie auch noch den hässlichsten Überzeugungen eine fast unerschütterliche Legitimierung verleiht.) Während Gipfelerfahrungen meist nur wenige Minuten bis einige Stunden anhalten, sind Plateau-Erfahrungen beständiger und erreichen schon fast die Qualität einer dauerhaften Anpassung. Während Gipfelerfahrungen üblicherweise spontan auftreten, ist konsequente Übung erforderlich, um diese in eine Plateau-Erfahrung umzuwandeln, von einem kurzzeitigen veränderten Bewusstseinszustand in ein dauerhaftes Wesensmerkmal. Während fast jeder jederzeit eine kurze Gipfelerfahrung haben kann, kenne ich nur wenige glaubwürdige Fälle von Plateau-Erfahrungen, die nicht auf eine jahrelange spirituelle Praxis zurückgehen. Während also Überzeugung und Glaube bei weitem die häufigsten Formen spiritueller Orientierung sind, und während Gipfelerfahrungen seltene, aber echte spirituelle Erfahrungen darstellen, sind ab diesem Punkt der spirituellen Wegstrecke nur noch diejenigen zu finden, die einer langen, intensiven und tiefen spirituellen Praxis anhängen. Plateau-Erfahrungen können wie Gipfelerfahrungen auf der psychischen, der subtilen, der kausalen und der nichtdualen Ebene auftreten. Ich möchte nur ein Beispiel aus Zen geben, das alle vier erläutert. Der Übungsweg der Zen-Meditation beginnt typischerweise damit, dass man fortwährend die Zahl der Atemzüge bis zehn zählt. Wer dies eine halbe Stunde lang durchhält, ohne sich zu verzählen, bekommt ein Koan (wie z.B. die Silbe Mu, die mein erstes Koan war). Die nächsten drei bis vier Jahre übt man täglich mehrere Stunden, wobei man sich auf den Laut Mu konzentriert und versucht, ihn nicht zu verlieren (zugleich befasst man sich intensiv mit Fragen wie "Was ist die Bedeutung von Mu?" oder "Wer ist es, der sich auf Mu konzentriert?"). Mehrmals im Jahr nimmt man an siebentägigen Sesshins teil, wo man den ganzen Tag und bis in die Nacht hinein übt. Die erste bedeutende Plateau-Erfahrung tritt auf, wenn der Schüler Mu im Wachzustand praktisch ununterbrochen festhalten kann. Mu wurde so sehr Teil seines Bewusstseins, so sehr Teil seiner selbst – ja, man ist Mu geworden –, dass man es buchstäblich den ganzen Tag ununterbrochen im Bewusstsein halten kann. Mit anderen Worten, ein Zeugen-Gewahrsein ist jetzt während des gesamten
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Wachzustandes im Grobstofflichen eine konstante Fähigkeit. Dann wird den Schülern gesagt, dass sie, wenn sie wirklich in Mu eindringen wollen, hieran auch im Schlaf arbeiten müssen (als ich dies zum ersten Mal hörte, hielt ich es für einen Scherz. Ich glaubte, dass man mir bloß Angst machen wollte, aber in Wirklichkeit wollte man mir helfen). Nach weiteren zwei bis drei Jahren gelingt es entschlossenen Schülern, eine subtile Konzentration auf Mu bis in den Traumzustand hinein aufrechtzuerhalten. Dann hat man konstantes Zeugen-Bewusstsein bis in das subtile Traumreich hinein erreicht.45 Wenn sich der Schüler an diesem Punkt dem kausalen Nichtmanifesten (oder der reinen Versunkenheit) nähert, steht er kurz vor der Explosion des Satori, des Durchbruchs aus dem "gefrorenen Eis" der reinen kausalen Versunkenheit zur großen Befreiung des Einen Geschmacks. Zunächst wird dieser Eine Geschmack selbst eine Gipfelerfahrung sein, aber auch er wird bei weiterem Üben zunächst zu einer Plateau-Erfahrung und dann zu einer dauerhaften Anpassung werden.46 4. Anpassung bedeutet einfach einen konstanten, beständigen Zugang zu einer gegebenen Bewusstseinsebene. Die meisten von uns haben die Anpassung (oder Evolution) an Stoff, Körper und Geist (mind) bereits erreicht (womit sie praktisch jederzeit beliebigen Zugang zu diesen Stadien haben). Einige von uns hatten Gipfelerfahrungen auf den transpersonalen Ebenen (der psychischen, subtilen, kausalen oder nichtdualen). Durch Übung kann man jedoch zu Plateau-Erfahrungen dieser höheren Reiche gelangen, und diese PlateauErfahrungen können ihrerseits mit weiterer Übung zu dauerhaften Anpassungen werden. Beständiger Zugang zum psychischen, subtilen, kausalen und nichtdualen Reich (d.h. beständiger Zugang zu Naturmystik, Gottheitsmystik, formloser Mystik und integraler Mystik) ist dann dem Bewusstsein ebenso einfach möglich, wie es jetzt der Zugang zu Stoff, Körper und Geist ist. Damit verbunden ist immer Bewusstseinskonstanz (Sahaja) in allen drei Zuständen, Wachen, Träumen (Savikalpa-Samadhi) und Schlafen (NirvikalpaSamadhi). Dann wird auch klar, warum es heißt: "Was nicht im traumlosen Tiefschlaf gegenwärtig ist, ist nicht wirklich." Das Wirkliche muss in allen drei Zuständen, auch im traumlosen Tiefschlaf, gegenwärtig sein, und das Einzige, das in allen drei Zuständen gegenwärtig ist, ist das reine Bewusstsein. Diese Tatsache wird völlig klar, wenn man im reinen, leeren, formlosen Bewusstsein ruht und alle drei Zustände entstehen, verweilen und vorübergehen, während man selbst unbewegt, unverändert, ungeboren bleibt, in die reine Leerheit entlassen, die alle Form ist, den Einen Geschmack, der das strahlende All ist. Dies sind also einige der Hauptphasen, die man im Laufe der Anpassung an die höheren Ebenen der eigenen spirituellen Natur meist durchläuft: Überzeugung (magisch, mythisch, rational, holistisch), Glaube (der eine Intuition, aber noch nicht eine unmittelbare Erfahrung der höheren Reiche ist), Gipfelerfahrung (des Psychischen, Subtilen, Kausalen und Nichtdualen – in keiner bestimmten Reihenfolge, weil Gipfelerfahrungen üblicherweise einmalige Ereignisse sind), Plateau-Erfahrung (des Psychischen, Subtilen, Kausalen und Nichtdualen – dies immer in dieser Reihenfolge, weil Kompetenz in einem Stadium die Voraussetzung für das nächste ist) und dauerhafte Anpassung (an das Psychische, Subtile, Kausale und Nichtduale, ebenfalls in dieser Reihenfolge, aus dem nämlichen Grund). Hierzu noch einige wichtige Anmerkungen: "
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Man kann sich auf einer relativ hohen Ebene der spirituellen Entwicklung befinden und trotzdem in anderen Linien noch auf einer relativ niedrigen Ebene (man macht zum Beispiel in der tieferen psychischen Linie gute Fortschritte, während die frontale Linie noch weit zurückgeblieben ist). Wir alle kennen Menschen, die spirituell weit entwickelt sind, aber zum Beispiel im Hinblick auf sexuelle Beziehungen, emotionelle Intimität, physische Gesundheit usw. noch recht unreif sind. Selbst wenn man schon beständigen Zugang zum Einen Geschmack hat, heißt dies noch nicht, dass man deshalb auch schon eine gut entwickelte Muskulatur hätte, dass man zwangsläufig die ersehnte neue Stelle bekommt, dass man eine ganz bestimmte Frau erobert und dass man von allen seinen Neurosen geheilt wäre. Es können noch Kavernen von Schattenmaterial vorhanden sein, die nicht notwendigerweise ausgeräumt werden, wenn man zu den höheren Stufen spiritueller Praxis oder Meditation fortschreitet (und zwar deshalb, weil Meditation im Gegensatz zur populären Auffassung nicht in erster Linie eine Aufdeckungstechnik ist; wenn dies so wäre, dann würden die meisten unserer Meditationslehrer keine Psychotherapie brauchen, aber sie brauchen sie genauso wie andere Menschen auch. Bei der Meditation geht es nicht primär um die Aufdeckung verdrängter unbewusster Inhalte, sondern darum, die höheren Bereiche auftauchen zu lassen, wovon die niedrigeren, verdrängten Bereiche völlig unbeeinflusst bleiben können). Man sollte also auch dann, wenn man auf seinem spirituellen Weg Fortschritte macht, eine Kombination mit einer guten Psychotherapie in Erwägung ziehen, weil spirituelle Praxis in aller Regel die unbewusste Psychodynamik nicht in ausreichender Weise freilegt. Weiterhin wird dadurch auch nicht der physische Körper in angemessener Weise trainiert, weshalb man es mit Hanteltraining versuchen sollte. Auch der pranaische Körper wird nicht trainiert: Nehmen Sie Taijiquan hinzu. Auch die Gruppenoder Gemeinschaftsdynamik wird dadurch nicht gefördert; nehmen Sie auch hier eine geeignete Technik hinzu. Das Entscheidende ist, dass ein integraler Übungsweg die einzige vernünftige und ausgewogene Möglichkeit ist, seine eigene höhere Entwicklung voranzubringen. Dies ist vor allem deshalb so wichtig, weil die personenzentrierte bürgerliche Religion (und das 415-Paradigma) hauptsächlich im Stadium der holistischen Überzeugungen beheimatet ist. Um über diese mentalen Translationen hinauszugelangen, brauchen die meisten Menschen eine echte transformierende Praxis. Hierbei verspricht die integrale Praxis den größten Erfolg. Sie fördert eine Transformation nicht nur des Ichs, sondern in allen vier Quadranten oder den "großen Drei" Ich, Wir und Es. Sie beinhaltet transformative Übungen hinsichtlich des Selbst, von Beziehungen und der Gemeinschaft und der Natur (siehe 18. Juni), womit nicht bloß eine Veränderung der Überzeugung, sondern der Bewusstseinsebene in Angriff genommen wird. Wenn ich nun höhere Stadien beschrieben habe, die man üblicherweise frühestens nach fünf oder sechs Jahren konsequenter Übung erreicht (während man für die höchsten Stufen oft dreißig Jahre und mehr braucht), sollten sich Anfänger davon nicht abschrecken lassen. Man beginnt einfach zu üben – fünf oder sechs Jahre vergehen wie im Flug, und man wird reich belohnt werden. Wenn man dagegen nur denjenigen Lehrern zu Füßen sitzt, die nichts als Überzeugungen verkaufen (magische, mythische, rationale oder holistische), dann ist man danach bloß fünf oder sechs Jahre älter. (Holistische Überzeugungen sind für das mentale Reich völlig in Ordnung und genau genug. Spiritualität aber hat mit dem transmentalen, dem supramentalen und dem überbewussten Reich zu tun, und man kann den GEIST [mind] nicht mit noch so vielen geistigen Translationen transzendieren. Und man wird auch nicht mit noch so viel personenzentrierter bürgerlicher Religion von sich selbst erlöst.) Was vielmehr notwendig ist, ist eine kontemplative, transpersonale, supramentale Praxis. Wie wenig verlockend der steinige Übungsweg auch erscheinen mag – man fängt einfach an. Denken Sie an den alten Witz: Wie isst man einen Elefanten? Einen Bissen nach dem anderen. Es ist wirklich so: Ein paar Bissen vom Elefanten, und schon stellen sich erste Erfolge ein. Man könnte zum Beispiel damit beginnen, dass man täglich zwanzig Minuten eine zentrierende Gebetsübung durchführt, wie sie Pater Thomas Keating lehrt. Viele Menschen berichten von einer fast unmittelbaren Wirkung, von mehr Gelassenheit, Offenheit und Zuwendung: Das Herz schmilzt ein klein wenig und man selbst ebenfalls. Eine halbe Stunde Dhikr; vierzig Minuten Vipassana; zweimal täglich Yoga-Übungen, die man in
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den Tagesablauf einbaut; tantrische Visualisierung; Gebet des Herzens; morgens vor dem Aufstehen fünfzehn Minuten lang die Atemzüge zählen. All dies ist zu empfehlen; man nimmt einfach die ersten Bissen von demjenigen, was einem zusagt... Es ist richtig, dass man nett zu sich selbst sein muss, aber man muss auch fest sein. Wichtig ist echtes Mitleid, nicht idiotisches Mitleid, weshalb man sich selbst auch etwas abverlangen und einen Übungsweg einschlagen muss. Wenn einem eine oder mehrere dieser Übungen zur festen Gewohnheit geworden sind, könnte man einmal im Jahr an einem mehrtägigen Intensiv-Retreat teilnehmen. Dies bietet die Möglichkeit, erstmals auf die "Plateaus" des Übungsweges zu gelangen. Gewiss, die Jahre werden vergehen, aber man wird mit ihnen reifen und langsam, aber sicher die niedrigeren Aspekte von einem selbst transzendieren und sich für die höheren öffnen. Es wird der Tag kommen, an dem man auf all diese Zeit zurückblicken wird, wie wenn sie ein Traum gewesen wäre, weil sie ja wirklich nur ein Traum ist, aus dem man bald erwachen wird. Man kann es also kurz zusammenfassen: Wenn man an einer echten transformierenden Spiritualität interessiert ist, sucht man sich einen authentischen spirituellen Lehrer und beginnt zu üben. Ohne Übung wird man niemals über die Phasen der Überzeugungen, des Glaubens und der zufälligen Gipfelerfahrungen hinausgelangen. Man wird niemals die Stufe der Plateau-Erfahrungen erreichen und von dort aus das Ziel der permanenten Realisation. Man wird im besten Fall ein Kurzbesucher im Gebiet des eigenen höheren Zustandes sein, ein Tourist im eigenen wahren Selbst.
Dezember Dieses selbstleuchtende, lebhaft klare, gegenwärtige Wachsein und Gewahren, In dem Form und Leerheit Nicht-zwei sind, Ist das Bewusstsein, in dem die drei Zustände (Wachen, Träumen, Schlafen) spontan gegenwärtig sind. Erhaltet es Tag und Nacht in beständiger Übung aufrecht, ihr Kinder meines Herzens. So ist Nichtdualität die natürliche Freiheit. Tsogdruk Rangdrol
Dienstag, 2. Dezember Marci hat ihre Dissertation fertig, und deshalb feiern wir heute. Wir haben uns Lonesome Dove ausgeliehen ("Die einzige Erziehung, die du bekommen wirst, besteht darin, dass du mir zuhörst"), tranken Wein, ließen uns stromabwärts treiben.
Mittwoch, 3. Dezember Der GEIST ist kein veränderter Bewusstseinszustand und auch kein außergewöhnlicher Bewusstseinszustand. Es gibt überhaupt keine Alternative zu ihm. Es gibt nur den GEIST, in dem sich die Welt entfaltet. Es gibt nur den Einen Geschmack, in dem verschiedene Zustände entstehen. Aber der Eine Geschmack selbst kommt nicht und geht nicht: Er ist jenseits von Bewegung und Ruhe, von Erschütterung und Stille. Wenn man nach dem Sinn der Welt forscht, wird man nur den Einen Geschmack finden. Lässt man den Geist zu den Grenzen des Universums wandern, findet man nur den Einen Geschmack. Lässt man sein Bewusstsein bis zur Unendlichkeit weit werden, findet man nur den Einen Geschmack. Wo ist also dieser erstaunliche Eine Geschmack? Nun, wer liest diese Seite? Wer blickt aus diesen Augen? Wer hört mit diesen Ohren? Wer sieht jetzt in diesem Augenblick diese Welt? Dieser Seher, dieser allgegenwärtige Zeuge, der das eigene unmittelbare Selbst ist, steht in diesem und jenem Augenblick an der Schwelle der nichtdualen Offenbarung. Ruhe als dein ureigenstes Selbst; ruhe als die klare Wahrnehmung dieser Buchseite, dieses Zimmers, dieser Welt; ruhe als die weite reine Leerheit, in der die ganze Welt entsteht, und prüfe dann, ob diese Welt nicht eins mit diesem Selbst ist. Erkenne, dass das Gefühl des Zeugen und das der Welt ein und dasselbe Gefühl sind ("Als ich die Glocke läuten hörte, gab es kein Ich und keine Glocke, nur das Läutern). Im einfachen Gefühl des Seins bist du die Welt. Siehe: Es ist einfach das. Wenn du einmal diesen Einen Geschmack schmeckst, wie flüchtig dies zunächst auch sein mag, dann wird aus den Tiefen deines ureigensten Selbst eine völlig neue Motivation aufsteigen, die jeden deiner Antriebe durchziehen wird, und diese Motivation ist Mitgefühl. Wenn du den Einen Geschmack schmeckst und es erlebst, wie sich die grundlegenden Probleme des Daseins in der grellen Sonne der Offensichtlichkeit verflüchtigen, wirst du tief in deinem Herzen nicht mehr derselbe sein. Es wird dein innigster endgültiger und alles beherrschender Wunsch sein, dass auch andere von der Last ihrer schlafwandlerischen Träume, von der Qual des getrennten Selbst, von der allgegenwärtigen Pein namens Zeit und von der furchtbaren Tragödie namens Raum erlöst werden. Gleichgültig, welche niedrigeren Motivationen deinen Weg begleiten werden, und ungeachtet dessen, dass Zorn und Neid, Scham und Bedauern, Stolz und Vorurteile dich Tag für Tag daran erinnern werden, wie viel mehr du noch wachsen kannst – unter allem und über allem wird der Pulsschlag des Mitgefühls klingen. Du wirst im besten Sinne des Wortes von diesem unbarmherzigen Zuchtmeister angetrieben werden, aber nur deshalb, weil du vor Äonen das geheime Versprechen abgabst, dich von dieser Motivation leiten zu lassen, bis alle Seelen im Meer der Unendlichkeit befreit sind. Das Mitleid wird dich anspornen, mehr zu tun. Das Mitleid wird dich auf deine Bahn zwingen. Aus Mitleid wirst du dir die Finger wund schuften, an der Welt zerren, bis du buchstäblich blutest, das Letzte an Anstrengung aus dir herauspressen, bis du von Tränen blind bist, rackern, bis das Leben allen Reiz verliert. Und in der tiefsten Mitte deines Herzens ist die Welt dir jetzt schon dankbar.
Freitag, 5. Dezember Mit Bedauern hörte ich heute, dass Leon Forrest im Alter von sechzig Jahren an Krebs gestorben ist. Forrest bediente sich des Stils des "Stroms des Bewusstseins", um über die afrikanisch-amerikanische Erfahrung zu schreiben. Divine Days hinterließ bei mir einen tiefen und beunruhigenden Eindruck – sieben oder acht Tage in Southside Chicago. Das Sklavenproblem in Amerika ist eine Tragödie. Von den Dutzenden – oder wohl Hunderten – verschiedener ethnischer Kulturen, die in dieses Land kamen, wurde nur eine gegen ihren Willen hierher gebracht. Nur eine wurde im Schmelztiegel versenkt und verbrannt. Ohne Hintergrund, Kultur und ein unterstützendes soziales Gefüge mussten die Afroamerikaner gegen eine erdrückende Übermacht ankämpfen, um sich einen Platz in der Gesellschaft, Selbstbestimmung und wirtschaftliche Macht zu sichern. Es ist ein Wunder, dass die Afroamerikaner so viel erreicht haben. Es heißt oft, dass es nur zwei ursprünglich amerikanische Kunstformen gibt: Jazz und Stepptanz. Beides sind bekanntlich Erfindungen der Schwarzen. In der Kunst, im Sport, in der Politik und in der akademischen Welt haben Afroamerikaner wesentliche Beiträge geleistet. Vorwürfe führen freilich in eine Sackgasse. Historisch haben auch Afrikaner Afrikaner versklavt, und Afrikaner verkauften Afrikaner an weiße Sklavenhändler. Diesbezüglich braucht sich niemand in die Brust zu werfen. Darüber hinaus liegt das eigentliche Problem der Schuld im Grunde woanders. Alle vorindustriellen Gesellschaften kannten ohne Ausnahme die Sklaverei, die Jäger und Sammler, die Nomaden, die Gartenbauer, die Seevölker und die Ackerbauern. Einige Gesellschaftsformen, unter anderem die Viehzüchter und die Gartenbauer, betrieben zu neunzig Prozent Sklaverei. Erst mit der Industrialisierung wurde die Sklaverei abgeschafft. Im Zeitraum von
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1770 bis 1870 verschwand die allgemein gebilligte Sklaverei aus allen Industrienationen der Erde. Es war Amerikas Unglück, dass dieser Übergang erst spät erfolgte, der Übergang von einer mythisch-agrarischen Struktur (die die Sklaverei ganz selbstverständlich gutheißt) zu einer rational-industriellen Struktur (die die Sklaverei verabscheut). Was mich jedoch an dieser "Rassendebatte" stört, ist die Tatsache, dass beide Seiten auf eine sehr billige Weise versuchen, sich zulasten der jeweils anderen zu profilieren, und dass so wenig Sensibilität für die historische Entwicklung des Bewusstseins selbst vorhanden ist. Die Werte der Aufklärung, zu denen man sich im liberalen Westen überwiegend bekennt, nämlich Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, waren einfach bisher zu keinem Zeitpunkt die Werte irgendeiner Gesellschaft. Bei den Jägern und Sammlern gab es gelegentlich so etwas Ähnliches wie Gleichheit, aber die schiere Körperkraft führte letztlich doch zu einer versteckten männlichen Dominanz. In 84% der Gartenbaugesellschaften, von denen etwa ein Drittel matrifokal waren und die Große Mutter verehrten, gab es Sklaverei – so häufig wie in kaum einer anderen Gesellschaft der Geschichte. Bei den Ackerbauern, die fast durchwegs patriarchalisch organisiert waren, sank der Anteil der Gemeinschaften mit Sklaverei auf etwa 54%. Erst in den patriarchalischen Industriegesellschaften, die sich zu den Werten der Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit bekannten, sankt die Verbreitungsrate erstmals in der Geschichte auf 0%. Ja, die Weißen haben – wie jede vorindustrielle Rasse und Gesellschaft – Sklaverei betrieben, aber es waren auch die Weißen, die die entsprechenden Ideale (diejenigen der Aufklärung) und Strukturen (diejenigen der Industriegesellschaft) verbreiteten, die innerhalb eines Jahrhunderts dafür sorgten, dass erstmals in der Geschichte der Menschheit die Sklaverei verschwand. Das Problem liegt darin, dass beide Parteien in dieser Diskussion (und ich meine damit, grob eingeteilt, das liberale und das ative Lager) die Sache jeweils am falschen Ende anpacken. Die Liberalen glauben, dass die Sklaverei einfach etwas sei, was gemeine Weiße netten Schwarzen angetan haben, aber sie sehen dabei nicht, dass in vorindustrieller Zeit mehr oder weniger jeder jeden gern zum Sklaven machte. Die Strukturen der vorindustriellen Gesellschaften waren einfach nicht stark genug, um auf zwangsweise beschaffte menschliche Arbeitskraft verzichten zu können. Wir sind heute darüber schockiert, dass Thomas Jefferson, den eine ausgeprägt agrarische Orientierung auszeichnete, die Sklaverei dulden konnte, aber so erstaunlich ist dies keineswegs. Wirklich beklagenswert ist die Tatsache, dass sich die Liberalen so anmaßend aufs hohe Ross setzen und die Werte der heutigen rational-industriellen Welt auf die agrarische Welt von gestern anwenden. (Dies ist auch das Verwirrende und Irritierende an Spielbergs Amistad: eine zutiefst liberale Betrachtungsweise einer zutiefst agrarischen Zeit, die den Kontext völlig verzerrt.) Aber die ativen machen es nicht besser. Der moderne Liberalismus entstand mit der rationalen Aufklärung und teilt deren rationalindustrielle Werte: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Der ativismus dagegen reicht viel weiter zurück und hat seine Wurzeln in mythisch-ackerbaulichen Werten: Er ist städtisch, hierarchisch, aristokratisch, ethnozentrisch und hängt einem mythischfundamentalistischen Glauben an einen patriarchalischen Gott an – und ist von der Rechtmäßigkeit der Sklaverei überzeugt. Deshalb hat man auch heute noch bei typischen ativen oft das Gefühl, dass sie der Meinung sind, die Schwarzen hätten es einfach nicht anders verdient: Sie waren schwächer, wir waren stärker, und so ist es eben im Leben. In der Tat, so ist es eben im mythischackerbaulichen Denken. Nun, zum Teufel mit Liberalismus und ativismus in diesem speziellen Fall. Nicht die Weißen haben die Sklaverei verbrochen, sondern die vorindustriellen gesellschaftlichen Bedingungen. Und die Afroafrikaner haben eine solche Behandlung keineswegs "verdient" (genauso wenig wie irgendeine andere Rasse auf der Erde, einschließlich derjenigen der Weißen). Erst mit dem Aufkommen des Rationalismus/Industrialismus konnten Maschinen die Arbeit verrichten, zu der früher Menschen andere Menschen zwangen. Was ich am Schicksal der Afroamerikaner so besonders traurig finde, ist nicht einfach die Sklaverei, sondern die Heimatlosigkeit. Wo es Sklaverei gab, blieben die Menschen, so schlimm ihr Schicksal war, doch wenigstens in ihrer eigenen Kultur. Aber seiner Freiheit und zugleich seiner Kultur beraubt zu werden, gehört zum Schlimmsten, was einem Menschen widerfahren kann. Hier ist aber, wie ich glaube, auch der Punkt, an dem sich die außerordentliche Kraft der afroamerikanischen Seele erweisen konnte. In den Todesschiffen gebaren die Afrikaner aus den Tiefen ihrer kollektiven Seele eine Großartigkeit und Schönheit, eine Zuwendung und Fürsorge, eine Kraft und einen Mut, wie dies die Welt bisher noch kaum gesehen hatte. Dies ist ein außerordentlich wichtiger Beitrag zur amerikanischen Kultur. Von Muhammad Ali stammt der berühmte Satz: "Ich bin froh, dass mein Ur-Ur-Urgroßvater dieses Schiff erwischte." Es wäre schön, wenn auf der anderen Seite der Rassengrenze mehr weiße Amerikaner diese Empfindung teilen würden.
Sonntag, 7. Dezember Transzendenz stellt den Humor wieder her. Der GEIST macht lächeln. Plötzlich kehrt das Lachen zurück. Zu viele Vertreter allzu vieler Bewegungen, selbst sehr guter Bewegungen wie Feminismus, Ökologie und spirituelle Wissenschaften, scheinen überhaupt keinen Humor zu haben. Mit anderen Worten, es fehlt ihnen an der Leichtigkeit, an der Selbstdistanz, an der Distanz gegenüber dem Ich und seiner grimmigen Entschlossenheit, andere auf seine eigenen Konturen zurechtzustutzen. Es gibt nur den selbsttranszendierenden Humor einerseits oder das Machtspiel des Ego andererseits. Aber wir haben uns für die Macht des Ego und die Politisch-korrektGedankenpolizei entschieden; wir sind unerbittliche viktorianische Reformer, die behaupten, die Bürgerrechte zu verteidigen, messianische Denker des neuen Paradigmas, die den Planeten retten und die Welt heilen wollen. Deshalb schrieb Mencken: "Jeder dritte Amerikaner hat es sich zur Aufgabe gemacht, seinen Mitmenschen zu verbessern und zu erheben, üblicherweise mit Gewalt; dieser messianische Wahn ist unsere Volkskrankheit." Vielleicht sollten wir alle ein Kilo Ego gegen zehn Gramm Lachen eintauschen.
Montag, 8. Dezember Apropos Humor: Marci und ich wollen zu Bobbie Louise Hawkins, die außerordentlich lustige Essays, Erzählungen und Gedichte schreibt. Sie tritt oft im Naropa-Institut auf. Leider wird sie nicht so ernst genommen, wie sie es verdient hätte, weil sie eben so lustig ist. Das Ich trägt düstere Entschlossenheit um den Hals wie einen Knoblauchzopf, um die Übel der Transzendenz und des befreienden Lachens abzuwehren. Bobbie schrieb ein sehr witziges Stück über witzige Stücke, die nicht ernst genommen werden, aber es wurde nicht ernst genommen.
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Dienstag, 9. Dezember Marci muss am kommenden Samstag ihre Dissertation vorstellen, und sie ist in ihrer Nervosität wirklich rührend. Sie kann nicht schlafen und beobachtet mich deshalb nachts beim Meditieren, und ich nehme es wahr. Es ist ganz reizend. Midnight in the Garden of Good and Evil, der Film gefiel mir. "Das ist hier wie Vom Winde verweht auf dem Meskalin-Trip. Alle sind schwer bewaffnet und betrunken. New York ist langweilig. Ich bleibe hier." Habe Coldblooded gemietet, eine absolut schwarze Komödie über einen Killer-Lehrling. "Du hattest nie eine Freundin?" "Nein, nie. Aber ich bin eine Zeit lang immer zur selben Nutte gegangen." "Zählt nicht." Aber immerhin wird er von einer guten Frau und ... Yoga gerettet.
Mittwoch, 10. Dezember Die Geschichte vom verlorenen und wiedergefundenen Gott Ein theoretisches Spiel über politische Erlösung und Befreiung in drei Akten mit einer wichtigen Nachschrift. 1. Akt 1. Szene 1712 starb in Genf Jean-Jacques Rousseaus Mutter bei seiner Geburt. Er wurde von seinem Vater missbraucht und geschlagen und als Zehnjähriger im Stich gelassen. Mit sechzehn hatte er sich nach Savoyen durchgeschlagen, wo er von Madame de Warens in den Dingen des Geistes und des Körpers unterwiesen wurde. Mit dreißig war Rousseau in Paris, eine weniger bedeutende Gestalt im philosophischen Kreis von Diderot und d'Alembert, den Herausgebern der Encyclopédie, der Summe des aufklärerischen Denkens. Innerhalb eines Jahrzehnts hatte er sich so sehr mit seinen früheren Freunden – u. a. David Hume und Voltaire – überworfen, dass er dem Stadtleben entfloh und die restlichen zwanzig Jahre seines Lebens hauptsächlich auf dem Lande bei Therese Levasseur verbrachte, einer Wäscherin ohne jede Bildung. Sie hatten fünf Kinder miteinander, die sie alle in ein Waisenhaus gaben. Isaac Kramnick berichtet, dass Rousseau "schäbige, fadenscheinige und oft bizarre Kleider trug; er war taktlos und direkt, flegelhaft und vulgär". Hume nannte ihn "völlig verrückt". Diderot sagte: "Dieser Mensch ist wahnsinnig." Und Sir Isaiah Berlin bezeichnete ihn als den "unheimlichsten und ernst zu nehmendsten Feind der Freiheit in der ganzen Geschichte des modernen Denkens".
2. Szene Rousseaus Erbe ist tief, paradox und oft widersprüchlich. Er war der erste große Retroromantiker, der erste einflussreiche Tiefenökologe, der erste große Totalitäre und der erste große Verherrlicher narzisstischer Selbstbezogenheit. Weiterhin war er der erste große Befürworter einer demokratischeren Gesellschaft, der sich stärker den vielen als den wenigen zuwandte, ein bezwingender Befürworter von Gerechtigkeit, aber auch von Größe, und er prangerte die Ungleichheit der Kultur an, während er diejenige der Natur pries. Die vielleicht bekannteste und einflussreichste Äußerung Rousseaus ist der erste Satz des ersten Kapitels von Der Gesellschaftsvertrag: "Der Mensch wird frei geboren, und überall ist er in Banden." Rousseau hatte zu diesem Thema eine höchst differenzierte Auffassung, die sich aber – zumindest nach der populären Sichtweise – in ihren Grundzügen wie folgt zusammenfassen lässt: Der Mensch ist gut geboren, aber diese natürliche Gutheit wird von den Gesellschaftskräften allmählich erstickt und begraben. Die Natur ist gut, Kultur ist unterjochend; die Natur ist authentisch, die Gesellschaft künstlich. Wir beginnen demgemäß – und dies ist die Grundaussage der Romantik – in einer Art natürlichen Einheit und Ganzheit, aber diese Ganzheit wird von der Welt der Kultur, der Sprache und des Verstandes zerbrochen, zersplittert und unterdrückt. Unsere Aufgabe besteht also darin, die frühere Ganzheit und Gutheit wiederzugewinnen, vielleicht in einer "reiferen" Form oder "auf einer höheren Ebene", aber es geht jedenfalls um ein Wiedergewinnen.
3. Szene "Morgen wollen sie dich jagen", sagten die Zwillinge. So beginnt die letzte schaurige Episode in William Goldings Klassiker Der Herr der Fliegen. Eine Gruppe von Jungen im Alter von sechs bis zwölf Jahren ist auf einer unbewohnten Insel gestrandet. Sie sind völlig sich selbst überlassen, und so kommt schließlich ihre wahre Natur zum Vorschein, die zu einer fortschreitenden Verrohung führt. Am Ende des Romans sind die Jungen nackt, schmutzig und mit primitiven Mustern bemalt ... und sie machen Jagd auf die noch zwei verbliebenen Jungen, die sich ihrem "natürlichen" Leben nicht anschließen wollen, um sie zu töten und zu braten.
4. Szene Das Leben des Menschen im natürlichen Zustand ist "einsam, arm, hässlich, roh und kurz". Mit diesen fünf berühmten Worten steckte Thomas Hobbes recht genau die Gegenposition zur romantischen Auffassung ab. Hobbes glaubte, dass Kinder bei ihrer Geburt nur an sich selbst interessiert seien. Aufgabe der Erziehung sei es, ihnen ein Interesse auch an anderen Menschen und schließlich sogar für die ganze Menschheit zu vermitteln. Aber den meisten Menschen gelänge nicht mehr, als den Kreis ihrer Zuwendung von sich selbst auf ihre Verwandten zu erweitern. Genau hierin liegt Hobbes zufolge die Bedeutung der bürgerlichen Gesellschaft. Nur durch die Sublimierung des Naturzustandes, in dem das Gesetz des eigenen Überlebens gilt, könnten die Menschen über das bloße Überleben hinaus zueinander finden und ein von moralischen Tugenden geprägtes Gemeinwesen schaffen, das ein friedliches und stabiles Zusammenleben erlaubt. Wir beginnen als Bösewichte, aber gemeinsam können wir uns zu guten Menschen entwickeln. Die Alternative heißt: "Morgen wollen sie dich jagen", sagten die Zwillinge.
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2. Akt 1. Szene Diese beiden Auffassungen – nennen wir sie "wiedergewonnene Gutheit" einerseits und "Entwicklung zur Gutheit" andererseits – haben sich als die zwei wohl beständigsten und anscheinend miteinander unvereinbaren Sichtweisen über die Richtung des menschlichen Wachstums erwiesen: Devolution einerseits, ein Herausfallen aus einem paradiesischen Zustand, eine Talfahrt, die in irgendeiner Weise umgekehrt werden muss, und Evolution, das Wachstum und die Entwicklung von einem niedrigeren zu einem höheren Guten. Die erste Auffassung bedient sich fast immer der Metapher des Heilens, die zweite derjenigen des Wachstums. Die Metapher des Heilens wird von den Anhängern der "wiedergewonnenen Gutheit" bevorzugt, weil sie glauben, dass wir früher "ganz" waren – in der Kindheit, als der edle Wilde, im Garten Eden –, und dass diese Ganzheit zerbrochen, zersplittert oder begraben wurde, weshalb wir der Heilung bedürfen. Heilung bedeutet, dass man früher Gesundheit besaß, die verloren ging und jetzt wiedergewonnen oder wiederhergestellt werden muss. Die Metapher des Heilens verweist fast immer auf einen mehr oder weniger versteckten retroromantischen Standpunkt. Wachstum andererseits besagt, dass man sich zu seinen eigenen höheren Möglichkeiten hin entwickelt. Die Eichel wird zur Eiche nicht durch die Wiedergewinnung von etwas, was sie gestern besaß, sondern durch Wachstum. Die Metapher des Wachstums verrät praktisch immer eine evolutionäre Sichtweise. Die erste Schule benutzt oft die Metapher der Aufdeckung, die zweite diejenige der Emergenz. Aufdeckung heißt, dass die Gutheit, die wir brauchen, einst vorhanden war, aber verschüttet wurde, sodass wir lediglich die Schichten der Zivilisation abzutragen brauchen, um diese Gutheit wiederzufinden. Emergenz bedeutet, dass die Gutheit, die wir brauchen, zu keinem Zeitpunkt vorhanden war und nur auf dem Wege eines höheren Wachstums und einer Entwicklung zum Vorschein kommen wird. Kurz, nach der Sichtweise der ersten Schule fängt man gut an, wird böse und muss diese Gutheit zurückgewinnen, um sich selbst und die Welt zu heilen. Nach der Sichtweise der zweiten Schule beginnt man, wo nicht böse, so doch in Ermangelung des Guten, und diese Gutheit kann nur zum Vorschein kommen, wenn man sein ganzes Potenzial entwickelt und verwirklicht.
2. Szene Die erste Schule, diejenige der natürlichen Gutheit, ist eines der Hauptelemente des politischen Liberalismus, die zweite, diejenige der natürlichen Boshaftigkeit, diejenige des politischen ativismus. Die liberale Auffassung lautet, dass Kinder anfänglich gut sind, und die Aufgabe der gesellschaftlichen Institutionen ist es, diese natürliche Gutheit nicht zu stören. Institutionen sind üblicherweise repressiv und ersticken die in Kindern natürlicherweise vorhandene Gutheit, weshalb man es nicht zulassen darf, dass künstliche Konventionen die angeborene Gutheit stören. Wenn so etwas der Fall ist, dann ist eine revolutionäre Befreiung notwendig, ein Umsturz, eine Befreiung von den erstickenden Beschränkungen, die die Gesellschaft der Natur und der natürlichen Gutheit aufgebürdet hat. Die ative Auffassung lautet, dass Kinder anfänglich egozentrisch sind, und Aufgabe der Institutionen ist es, ihre ursprüngliche Ungebärdigkeit zu zügeln oder, wie man auch sagen könnte, ihr enges Blickfeld zu erweitern. Wenn Institutionen zusammenbrechen, bricht sich der Wilde Bahn. "ativ" bedeutet üblicherweise das Gegenteil von "fortschrittlich"; in diesem Fall aber beinhaltet die ative Auffassung ein Fortschreiten von der Kindheit zum Erwachsenenalter (d.h., Kinder müssen moralische Gutheit entwickeln, weil ihnen diese nicht von der Natur oder bei der Geburt mitgegeben wird). Dann aber wird die ative Auffassung wirklich ativ: Wenn diese empfindliche Hinentwicklung zur moralischen Gutheit des Erwachsenen einmal abgeschlossen ist, muss man sich jeglicher Eingriffe in die gesellschaftlichen Institutionen enthalten, die die Aufrechterhaltung der Moral gewährleisten. Die erstere Schule ist der Meinung, dass gesellschaftliche Institutionen die natürliche Gutheit oft unterdrücken und schnellstens abgeschafft werden sollten, wenn sie zu einer Last werden. Die Abschaffung gesellschaftlicher Institutionen ist nach dieser Auffassung nicht grundsätzlich problematisch, weil ja jenseits dieser künstlichen Institutionen nur die natürliche Gutheit zum Vorschein kommen kann. Für die letztere Schule haben gesellschaftliche Institutionen nichts "Künstliches": Sie sind vielmehr das Mittel, durch das sich der Mensch über den hässlichen rohen und verkürzten Naturzustand erhebt, und wer sich leichtfertig an diesen Institutionen zu schaffen macht, geht das Risiko ein, nicht das Gute, sondern das Tier im Menschen zum Vorschein zu bringen.
3. Szene Jede Schule hat ihre extremen Repräsentanten. Rousseau ist zumindest für sehr viele Menschen der Vorkämpfer und Verfechter einer rücksichtslosen Subversion und Rebellion, und zwar immer im Namen einer natürlichen Gutheit und wiedergewonnenen Unschuld. Das klassische Beispiel hierfür ist natürlich die Französische Revolution selbst, die Simon Schama zufolge "an die Möglichkeit einer kollektiven Moral und politischen Revolution glaubte, die die Unschuld der Kindheit in das Erwachsenenalter hinüberretten würde". Und zwar nicht im übertragenen, sondern im wörtlichen Sinne. Das Ergebnis war die Schreckensherrschaft, in der diejenigen, die nicht unschuldig genug waren, einfach mit der soeben erfundenen Guillotine geköpft wurden, und die Welt wurde entsetzt Zeuge, wie die natürliche Gutheit und die edlen Wilden in den Straßen von Paris Amok liefen. "Morgen wollen sie dich jagen", sagten die Zwillinge. Und heute auch. Die meisten Marxisten, radikale Liberale, glauben an einen Urkommunismus, der in einer post-proletarischen Welt wiedererrungen werden könne. Für nicht wenige Gelehrte (wie z.B. Cranston) ist Rousseau der Vater der Studentenunruhen der 60er Jahre, die gegen alle Institutionen Sturm liefen, weil diese ihre "natürliche Freiheit einschränkten". Freilich übersahen sie dabei wie alle Romantiker den großen Unterschied zwischen präkonventioneller Willkür (die einen zum Sklaven seiner Triebe macht) und postkonventioneller Freiheit (durch die man zu moralischer Tiefe befreit wird); Erstere gehört der Natur an, Letztere der Kultur. In neuerer Zeit hat Ted Kaczynski, der Unabomber, ein rousseausches Leben geführt: Allein in einer Hütte, in Kommunikation mit der Natur und im Kampf gegen restriktive "Institutionen". In seinem Manifest schrieb er: "Das positive Ideal, das uns vorschwebt, ist die Natur." Kirkpatrick Sale, der kleine Robespierre für den Rousseau-Unabomber, schreibt: "Wenn die Botschaft [des Unabombers] nicht in irgendeiner Weise gehört wird, treibt unsere Gesellschaft wirklich einem katastrophalen Untergang entgegen." Joe Klein wies in einem Essay unter dem Titel "Der Unabomber und die Linke" ganz richtig darauf hin, wie sehr diese Botschaft letztlich diejenige des Liberalismus ist: Die Kultur unterdrückt unsere natürliche Gutheit, weshalb wir die Kultur abschütteln und uns der Natur zuwenden müssen, sonst ... Der Öko-Terrorismus ist nur eine von einem Dutzend Variationen der Schreckensherrschaft, die zwangsläufig über uns hereinbricht, wenn der Mensch auf der Suche nach seiner natürlichen Gutheit" den Weg in eine präkonventionelle Richtung einschlägt.
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Wenn Rousseau der extreme Vertreter der natürlichen Gutheit, des "Zurück zur Natur", des "edlen Wildem und des Sturzes der restriktiven Kultur ist, dann ist Nietzsche der extreme Vertreter von Wachstum und Evolution, deren Ziel der Übermensch ist. Nietzsche zog gegen die Auffassung zu Felde, dass man unter dem Schutt gesellschaftlicher Institutionen nichts als natürliche Gutheit Finden würde; er rechnete unerbittlich mit jenen politischen und sozialen Visionären ab, die mit glühender Eloquenz einen revolutionären Umsturz jeglicher sozialer Ordnung fordern, im Glauben, dass dann gewissermaßen wie von selbst der herrlichste Tempel einer schönen Menschheit sich erheben würde. In diesen gefährlichen Träumen findet sich ihm zufolge noch ein Widerhall von Rousseaus Aberglaube, der an eine wunderbare, aber irgendwie verschüttete Gutheit der menschlichen Natur glaubt und diese Tatsache der verschütteten Gutheit den Institutionen der Kultur in Form von Gesellschaft, Staat und Bildungswesen anlastet. Die Erfahrung der Geschichte habe uns aber leider gelehrt, dass eine jede solche Revolution bloß die furchtbarsten Energien in Gestalt einer lange verschütteten Grausamkeit entfesselt. Nietzsche glaubte, dass wir uns zu unserer höchsten Verfassung hin entwickeln müssen, statt eine regressive Schatzsuche in der Vergangenheit zu betreiben. Wie Rousseau zu Recht oder zu Unrecht als einer der geistigen Väter der Schreckensherrschaft betrachtet wurde, so beriefen sich die Nazis zu Recht oder zu Unrecht auf Nietzsche. Nach einhelliger Auffassung der Historiker zu Unrecht, aber es ist leicht zu sehen, wie verlockend es für die Nazis sein musste, die Entwicklung zum Übermenschen zu einer ihrer höchsten Zielsetzungen zu machen. Wenn man für ein Wachstumsmodell eintritt, muss man anders als bei einem regressiven Modell sehr viel dafür tun, um die Zukunft in seinem Sinne zu gestalten, statt sich bloß in einen vergangenen Zustand zurückgleiten zu lassen. Arbeit, nicht Trägheit ist die Mutter des Wachstums. Die Faschisten, dies ist unbestritten, sorgten dafür, dass der Fahrplan eingehalten wurde. Wir haben also extremen Liberalismus einerseits, der in einen durch Terror erzwungenen Kommunismus mündet, und andererseits den extremen ativismus, der in ebenfalls durch Terror erzwungenen Faschismus mündet. Diese beiden Extreme gibt es deshalb, weil beide Auffassungen, die Wiedergewinnung der Gutheit und die Hinentwicklung zur Gutheit, zur Hälfte richtig und zur Hälfte falsch sind, und wenn jeweils die falsche Hälfte beider Auffassungen rücksichtslos durchgesetzt wird, dann werden Albträume aus der Requisitenkammer der Hölle Wirklichkeit. Der Kommunismus oder extreme Liberalismus opfert Großartigkeit zugunsten des kleinsten gemeinsamen Nenners. Er schlägt die Spitze der Pyramide des Wachstums ab, um die Basis zu fördern, wobei die radikal permissive Gesellschaft überhaupt kein individuelles Wachstum mehr verlangt, weil ja für alle gleichermaßen gesorgt werden soll, was letztlich bedeutet, dass alle gleichermaßen darben. Der Faschismus tut genau das Umgekehrte: Er bringt die Basis um, um die Spitze zu fördern. Er setzt alles daran, den Übermenschen hervorzubringen, und die Gaskammern warten auf diejenigen, die man in die Kategorie der Untermenschen eingeordnet hat.
3. Akt 1. Szene Lässt man die Extreme beiseite, haben beide Schulen offensichtlich viele Verdienste – die Extreme zeigen nur in krasser Weise, was geschieht, wenn die beiden Ansätze nicht im Inneren ausgewogen und integriert sind. Die Vorstellung einer Hinentwicklung zur Gutheit hat viel für sich, denn man bekommt nicht schon alles Gute bei der Geburt mit. Und ebenso hat der Gedanke einer wiedergewonnenen Gutheit viel für sich, weil im Verlauf des Wachstums viele Möglichkeiten untergehen, die wiedergewonnen werden müssen. Dies kann man ohne weiteres auf den Liberalismus und ativismus übertragen, die beide Stärken haben, die man bewahren, und Schwächen, die man zurückweisen muss. Wenn man sich nur mit dem Bogen der menschlichen Evolution – phylogenetisch und ontogenetisch – befassen müsste, dann wären die Fragestellungen, wenn auch noch nicht die Lösungen, relativ klar. Aber im Bereich der spirituellen Wissenschaften hat man es in gewissem Sinne immer auch mit dem Bogen der Involution zu tun, wodurch alles erheblich komplizierter wird. Beginnen wir mit der Evolution, und konzentrieren wir uns dabei auf die Ontogenese, die Entwicklung des Individuums. Es zeigt sich dabei, dass diese Frage inzwischen grundsätzlich entschieden wurde. Der führende Forscher Larry Nucci sagt: "Seit den 60er Jahren haben die Entwicklungspsychologen eine weitgehend einhellige Auffassung über den Prozess erreicht, durch den Kinder moralische und soziale Werte erwerben."47 Und diese gemeinsame Auffassung lautet: Wachstum zur Gutheit. Einerseits ist es natürlich richtig, dass Kinder die biologischen Voraussetzungen dafür mitbringen, bei ihren sozialen Interaktionen moralische Unterscheidungen zu treffen. Schon als Zweijährige haben Kinder eine Vorstellung von "richtig" und "falsch", und auch Kleinkinder zeigen eine gewisse Fähigkeit zu emotionaler Empathie und zu Bedauern. Aber all dies erfährt erst seine Vertiefung und Erweiterung, wenn das kognitive, soziale und moralische Wachstum in den verschiedenen Stadien durchlaufen wird. Die wichtigsten Fähigkeiten des Kindes werden, von pathologischen Störungen abgesehen, immer umfassender, nicht weniger umfassend. Kurz: Kinder sind, wie Nucci sagt, "emergierende moralische Agenten", und die Waagschale neigt sich recht entschieden zugunsten des Wachstums zur Gutheit, nicht zur wiedergewonnenen Gutheit. Dieses Wachstum zur Gutheit ist mit der Abfolge egozentrisch–soziozentrisch–weltzentrisch nach wie vor sehr gut zusammengefasst, und zwar nicht im Sinne starrer Stadien, sondern im Sinne sich entfaltender Wellen und Fähigkeiten. Die Forschungsergebnisse bestätigen immer wieder, dass Jungen und Mädchen grundsätzlich dieselbe Hierarchie durchlaufen, wobei bei Jungen die Betonung auf Gerechtigkeit, bei Mädchen auf der Zuwendung liegt. Warum dies so ist, wird natürlich heiß diskutiert, wobei manche hierfür biologische Faktoren verantwortlich machen, andere eine kulturelle Konditionierung (ich persönlich glaube, dass es hierfür eine ausgeprägte biologische Grundlage gibt, die von der Kultur überformt wird). Pioniere wie Piaget und Kohlberg glaubten, dass die tiefen Merkmale der moralischen Entwicklung zum Guten universell, nicht relativ sind, und führende zeitgenössische Forscher wie Nucci und Turiel bekräftigen diese Auffassung. "Turiel hat festgestellt, dass im Gegensatz zu Normen bezüglich der Kleidung, der Umgangsformen usw. Normen bezüglich Recht und Unrecht bei Kindern aus ganz unterschiedlichen kulturellen Hintergründen gleich sind. Dies legt den Schluss nahe, dass die Entwicklung dieser moralischen Prinzipien einschließlich ihrer Differenzierung aus gesellschaftlichen Konventionen universell ist." Natürlich gibt es inhaltlich diesbezüglich große lokale Schwankungen, weshalb sich auch hier wiederum der Grundsatz der "Unitas multiplex" bewährt: Die Entwicklung zum Guten beinhaltet universelle Tiefe, aber kulturspezifische oberflächliche Merkmale. Durch die Enge seiner kognitiven und sozialen Welt wird das Kind zwar nicht zum Wilden, wie manche glauben, aber es mangelt ihm durchaus an einer tiefen Gutheit. Um nur ein Beispiel zu geben: Forschungen haben gezeigt, wie David Berreby schreibt, dass "direktes Lernen weniger Einfluss auf die Entwicklung des Denkens in Rassenkategorien hat, als man oft glaubt. Wesentliche Aspekte der rassischen Kognitionen von Kindern sind offenbar nicht von der Erwachsenenkultur hergeleitet." Das heißt schlicht und einfach, dass Kinder anscheinend als Rassisten geboren werden.
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Und als Narzissten. Und es fehlt ihnen bei ihrer Geburt die Fähigkeit, globale Interessen zu berücksichtigen: Sie haben keine Liebe zu Gaia, keine globale Tiefe, nicht die Fähigkeit, sich in einen anderen hineinzuversetzen, kein echtes Mitleid und keine echte Liebe. Stattdessen sind sie in die enge, erstickende Welt ihrer eigenen Empfindungen eingesperrt. Der gute Rousseau hat also diesbezüglich die Dinge genau auf den Kopf gestellt: Man wird nicht frei geboren und endet überall in Banden, sondern man wird in Banden geboren und kann sich überall zur Freiheit entwickeln.
2. Szene Trotzdem ist die romantische Auffassung in einer Hinsicht völlig richtig: In jedem Stadium des Wachstums und der Entwicklung zur Gutheit kann etwas schief gehen. Wo eine Tugend in einem Stadium emergieren soll, kann diese unterdrückt werden, und diese unterdrückte Tugend muss aufgedeckt und reintegriert werden. (Dies ist, am Rande bemerkt, der Grund dafür, dass man Freud sowohl als Rationalisten als auch als Romantiker bezeichnet hat. Ein scheinbarer Widerspruch, der viele Menschen irritiert hat, der aber leicht aufzulösen ist: Er war Rationalist in dem Sinne, dass er fest von der Entwicklung der Tugend aus dem ursprünglichen natürlichen Es überzeugt war. Wenn aber das Es in diesem Wachstumsprozess allzu rücksichtslos verleugnet, verdrängt und verzerrt wird, wenn man sein eigener kleiner Faschist wird, dann muss die Verdrängungsschranke gelockert werden: Es muss eine romantische Regression im Dienste des Ich, eine Wiedergewinnung dieser verlorenen oder verdrängten Aspekte des eigenen Wesens und ihre Reintegration in das Ich erfolgen, damit die Entwicklung zur Tugend weitergehen kann.) Es zeigt sich also schon innerhalb des evolutionären Bogens die Notwendigkeit, das Modell des Wachstums zur Tugend und dasjenige der wiedergewonnenen Tugend miteinander in Ausgleich zu bringen, weil beide viele Vorzüge haben. In der Praxis würde man also in der Erziehung des Kindes nicht übermäßig lasch (liberal) sein, weil Hänschen eben nicht der von natürlicher Tugend strotzende kleine Heilige ist, als den ihn sich viele Eltern (und Rousseau) gerne vorstellen. Bloße Permissivität, keine Ansprüche, keine Zwänge, damit Hänschen bei seiner natürlichen Tugendhaftigkeit bleiben kann – das führt Hänschen letztlich ins Verderben, und er wird, ganz seinem natürlichen Selbst überlassen, eine innere Schreckensherrschaft entfesseln. Es wird ihm in keiner Weise gelingen, den anspruchsvollen Weg zur Tugend einzuschlagen; er wird seine eigene großartige Zukunft untergraben und den Unabomber auf sein eigenes Wesen hetzen. Aber man darf nicht übertrieben autoritär (ativ) sein und versuchen, Hänschen "Familienwerte" einzutrichtern und seinen "Charakter zu formen", denn Charakterformung ist weitgehend ein Entwicklungsprozess, der ebenso sehr im Inneren wie im Äußeren abläuft, und dies erzwingen zu wollen ist so, wie wenn man eine Pflanze anschreien würde, um sie zum Wachsen zu bringen. Die Folge einer übertrieben autoritären Erziehung wäre, dass Hänschen sein eigener kleiner innerer Faschist wird und diejenigen Aspekte von sich selbst unterdrückt, die nicht den übertrieben hohen Idealen und Standards seiner Eltern entsprechen. Durch diese innere Unterdrückung wird Hänschen Aspekte seiner selbst auslöschen und Potenziale unterdrücken, wodurch sein Wachstum zur Tugend einschneidend behindert wird.
3. Szene Wie verhält es sich nun mit der Involution, mit der romantischen Intuition, dass wir nicht irgendein niedrigeres Potenzial, sondern in einem ganz wörtlichen Sinne unser Bewusstsein der Einheit mit dem GEIST eingebüßt haben? Nun, der Philosophia perennis zufolge gab es in der Tat einen solchen Verlust. Allerdings ereignete sich dieser Verlust nicht am Beginn der Evolution, d.h. während der ersten Lebensjahre, sondern am Beginn der Involution, d.h. vor unserer Geburt in der Zeit. Jene romantischen Seelen, die eine Intuition von diesem furchtbaren Verlust des GEISTES haben, haben völlig Recht – aber sie datieren dieses Ereignis falsch. Wenn man diesen Verlust in einen geschichtlichen oder zeitlichen Rahmen platzieren will, dann gibt die Philosophia perennis drei miteinander zusammenhängende Definitionen dieses Zeitpunkts an, die zugleich drei miteinander zusammenhängende Definitionen der Involution sind: Der Verlust trat vor dem Urknall ein, vor der individuellen Empfängnis oder vor dem nächsten Atemzug. Involution bedeutet grundsätzlich eine Bewegung von einem Höheren zu einem Niedrigeren, in diesem Fall also die Bewegung vom GEIST über die Seele, den Geist und den Körper zum Stoff. Bei jedem Schritt nach unten wird die höhere Ebene "unbewusst" (sie geht in der niedrigeren auf), und das Ergebnis ist ein Urknall, durch den die materielle Welt ins Dasein platzt. In dieser vollzieht sich eine Evolution in der umgekehrten Reihenfolge vom Stoff über den Körper, den Geist und die Seele zum GEIST, wobei bei jedem Schritt das zuvor Eingefaltete wieder ausgefaltet wird, und zwar nicht nach einem starren Schema oder in einem Abklappern von Stadien, sondern in Form sich entfaltender Atmosphären subtilerer Möglichkeiten, sich entfaltender Wellen des Seins im Kosmos. Die Philosophia perennis behauptet insbesondere in ihrer östlichen und frühen westlichen Form, dass dieser grundlegende Zyklus der Involution und Evolution auch bei der individuellen wandernden Seele auftritt. Nach dem Tod entwickelt man sich, soweit man dies nicht bereits vollzogen hat, zu den höheren Ebenen der Seele und des GEISTES; wenn diese bewusst erkannt werden, endet der erzwungene Zyklus der Wiedergeburten. Andernfalls kommt es zu einer neuen Involution vom GEIST über die Seele und den Geist zum Körper, d.h., man wird in einem materiellen Körper, in einem Mutterschoß empfangen, um dort die persönliche Evolution und Entwicklung fortzusetzen. Schließlich kann diese allgemeine Abfolge einer Involution und Evolution auch als die Struktur der Erfahrung dieses Augenblicks verstanden werden. (Dies ist die wichtigste der oben genannten Bedeutungen und die einzige, die man braucht, um in die Abfolge einzudringen.) In jedem Augenblick sind wir dem Einen Geschmack in all seiner Reinheit nackt preisgegeben, aber in jedem Augenblick erkennen ihn die meisten von uns nicht. Wir ziehen uns im Antlitz der Unendlichkeit zusammen und klammern uns an unser getrenntes Selbst, wodurch wir in den Strom der Zeit, des Schicksals, des Leidens und des Todes hineingerissen werden. Und doch können wir in jedem Augenblick den Einen Geschmack erkennen und den ganzen Zyklus zum Erliegen bringen. Dann hört die Marter von Leben und Tod, von Sein und Nichtsein, Existenz und Untergang auf, weil man im zeitlosen, geburtlosen, todlosen Augenblick vor aller Zeit und vor allen Zyklen ruht. In jeder dieser drei Definitionen des "Verlustes" des Bewusstseins vom GEIST geschieht dieser Verlust in der frühen Involution, während des "Abstiegs" des GEISTES in Seele, Geist und Körper. Er geschieht nicht während der frühen Evolution, wenn der Körper beginnt, wieder zum GEIST zurückzuklettern. Zu dem Zeitpunkt, zu dem der Körper auf der Bühne erscheint, ist der Verlust bereits geschehen. Der Philosophia perennis zufolge hat die Entfremdung in den frühen Stadien der Evolution ihr größtes Ausmaß erreicht, weil man in diesen Stadien am weitesten von der bewussten Erkenntnis des GEISTES entfernt ist.
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Und doch hängen die Romantiker der Meinung an, dass die frühen Stadien der Evolution (phylogenetisch und ontogenetisch) ein großartiger Paradieseszustand sind, der Zustand der "natürlichen Tugend", dessen man dann verlustig geht und der daher zurückgewonnen werden muss. Aber was in Wirklichkeit verloren geht, ist eine unbewusste Einheit oder Verschmelzung mit der materiellen Welt und physischen Bereichen, den niedrigsten Dimensionen in der Großen Verschachtelung des Seins. Diese niedrigsten Stadien der Evolution stellen gewiss eine Art "Einheit" oder "Verschmelzung" dar, aber es ist eine Verschmelzung mit dem untersten Stockwerk. Wenn ein Wachstum zur Tugend stattfinden soll, dann muss genau diese seichteste Identität differenziert und transzendiert werden. Aber um es zu wiederholen: Es muss sowohl die Bedeutung des romantischen (wiedergewonnene Tugend) als auch diejenige des evolutionären (Wachstum zur Tugend) Modells gewürdigt werden. Die Romantiker haben völlig Recht: Wir waren einst an der Seite des Gottes und der Göttin und wandelten im Garten der ewigen Wonne. Aber dieser Garten existierte nicht in einem historischen Gestern. Wir haben den GEIST nicht verloren, als wir von Sammlern zu Gartenbauern oder als wir von Gartenbauern zu Ackerbauern wurden – wir haben den GEIST zu keinem Zeitpunkt der Evolution oder der Geschichte verloren. Der GEIST ging während der Involution "verloren", und dies geschieht eben, wenn der GEIST in die Zeit absteigt. Und wann geschah es nochmal? Vor dem Urknall, vor der eigenen Geburt, vor allem aber genau jetzt in diesem Augenblick, in dem man sich aus der Unendlichkeit zurückzieht. Das Wachstum zur Tugend ist in der Tat eine wiedergewonnene Tugend, aber einer Tugend, die während der Involution, nicht während der Evolution verloren ging. Solange man sich dies klar macht, kann man beide Auffassungen schätzen.
Eine wichtige Nachschrift Noch einige kritische Anmerkungen. Ich habe gesagt, dass der heutige typische ativismus die Auffassung eines Wachstums zur Tugend vertritt, und dies ist grundsätzlich richtig. Grundsätzlich richtig ist aber auch, dass dieses Wachstum nur von der präkonventionellen Natur bis zur konventionellen Gesellschaft reicht und sich nicht ohne weiteres bis in das postkonventionelle und weltzentrische Reich fortsetzt. Der typische ativismus wurzelt weitgehend im mythisch-ackerbaulichen Zeitalter mit seinen städtischen, aristokratischen, hierarchischen, militaristischen, ethnozentrischen und patriarchalen Werten, das üblicherweise in den Kontext mythisch-konkreter Götter eingebunden war. Wie unerfreulich wir heute auch diese Gesellschaftsform finden, so hielt sie sich doch weltweit in einem Zeitraum von etwa 5000 Jahren, in dem sie ihren Zweck doch mehr recht als schlecht erfüllte. Mit dem Anbrechen des rational-industriellen Zeitalters mit seiner postkonventionellen, weltzentrischen moralischen Haltung stand den Menschen eine neue politische Vision zur Verfügung, diejenige der liberalen Aufklärung. In vielerlei Weise stellte dies einen entscheidenden Bruch mit der mythischen und moralischen Vergangenheit dar: Rationalität versuchte den Mythos abzulösen, Demokratie die Aristokratie, Gleichheit die Hierarchie und Freiheit die Sklaverei. Dies war die Vision der Moderne, und der Liberalismus war die politische Strömung, die diese hohen Ideale zu ihrem Programm machte. Aber die Moderne hatte, wie Kritiker sagen, nicht immer und gewiss nicht nur hohe Ideale. Sie hatte auch ihre Kehrseite, die sich unter dem Begriff "Flachland" zusammenfassen lässt. Vor allem aufgrund eines grassierenden naturwissenschaftlichen Materialismus und eines materiellen Industrialismus wurden alle Formen einer Holarchie, auch die nützlichen und spirituellen Formen wie die Große Verschachtelung des Seins, auf eine seichte und fade Weltsicht verflacht, die aus nichts als Systemen vernetzter Objekte, vernetzter Esheiten ohne Ich- und Wir-heiten bestand. Ausgelöscht waren Seele, Geist und GEIST, und an ihre Stelle trat ein unendliches Flachland materieller Körper, die allein für wirklich gehalten wurden (Bodyism). Die Entzauberung der Welt, der eindimensionale Mensch, das eigenschaftslose Universum, die Entheiligung der Welt – dies sind einige der Schlagworte, unter denen Kritiker diesen überaus traurigen Stand der Dinge zusammenfassten. Auch der Liberalismus als Kind der Moderne geriet vollständig in den Sog dieses Zusammenbruchs. Statt ein zutreffendes Verständnis seiner eigenen inneren Grundlagen zu entwickeln (nämlich, dass er durch die Entwicklung von der egozentrischen über die ethnozentrische zur weltzentrischen Sichtweise weltzentrisches Bewusstsein repräsentiert), machte er sich zum politischen Büttel von Flachland. Statt inneres Wachstum und Entwicklung (linksseitig) befürwortete der Liberalismus fast ausschließlich die äußere, rechtsseitige wirtschaftliche Entwicklung als Weg zur Freiheit. Weil es aber der Flachland-Haltung zufolge kein Inneres gibt, und weil Moral eine innere Wirklichkeit ist, gab der Liberalismus durch seine Unterwerfung unter das moderne Flachland seine grundlegende moralische Intuition preis (diejenige einer weltzentrischen Freiheit, eine Haltung, aus der man allen Gerechtigkeit widerfahren lässt und zu der man allen Menschen den Weg ebnen sollte). Leider gab der Liberalismus damit seinen moralischen Impuls preis und begnügte sich mit einer Rolle als Vorkämpfer einer rein äußerlichen, materiellen, wirtschaftlichen Freiheit. Er übersah dabei, dass äußere Freiheit ohne innere Freiheit (die es, wie schon Kant wusste, nur in einem postkonventionellen Bewusstsein gibt) mehr oder weniger bedeutungslos ist. Die linksseitige Entwicklung wurde aufgegeben, und es blieb nichts als die rechtsseitige Entwicklung. Und was die inneren Werte betrifft: Da es diese angeblich nicht gibt, kann nichts besser sein als etwas anderes, und deshalb ist Permissivität, schrankenlose Vielfalt, extremer Multikulturalismus in Ordnung – alles sonnt sich im Glanz derselben natürlichen Gutheit, die man sich durch die Forderung nach Wachstum nicht in Frage stellen lassen will. So kam es, dass der Liberalismus, der ursprünglich eine höhere Ebene kollektiven Wachstums repräsentierte, Opfer der ersten großen Krankheit der Moderne wurde, des Flachland-Liberalismus, einer heruntergekommenen Version einer höheren Ebene kollektiver Evolution. Damit wurden den ativen – deren im mythisch-ackerbaulichen Zeitalter wurzelnde Werte dem modernen Kollaps am ehesten trotzten – die inneren Bereiche überlassen: Religion, Werte, Sinn, die Forderung eines inneren Wachstums zur Gutheit. Das Problem war nur, dass diese Werte zum größten Teil durch und durch mythisch-agrarische (aristokratische, patriarchale, militaristische, oft ethnozentrische und bibelfundamentalistische) Werte waren: Religion war (und ist) mythologisch, und das "Wachstum zur Gutheit" gelangt nur bis zu den konventionellen/soziozentrischen Stadien. Während der mythisch-ackerbaulichen Zeit waren dies sehr nützliche Werte. Es waren sogar die besten, die man unter den Bedingungen jener Zeit anstreben konnte. Dies sind also die politischen Alternativen der heutigen Welt: eine gesunde niedrigere Ebene (ativismus) oder eine kränkliche höhere Ebene (Liberalismus). Deshalb ist, wie ich glaube, ein umgestaltetes postliberales Bewusstsein der vernünftigste Weg, den man einschlagen kann. Damit würde man das Beste der ativen Sichtweise bewahren, u. a. das Bedürfnis nach einem Wachstum zur Gutheit und die Bedeutung, die
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sinnstiftenden holarchischen Beziehungen (Selbst, Familie, Gemeinschaft, Nation, Welt, GEIST) eingeräumt wird, wobei die Betonung auf Chancengleichheit statt geistloser Gleichmacherei liegen muss. Diese ativen Werte müssen jedoch in ein modernes postkonventionelles, weltzentrisches Bewusstsein überführt werden. Dies bedeutet für den Liberalismus, dass er sich aller Überreste einer nostalgischen Sehnsucht nach "natürlicher Gutheit" entledigen und wieder progressiv und evolutionär werden muss. Paradoxerweise ist dieser permissive Liberalismus (nicht anders als der extreme Postmodernismus) zutiefst reaktionär, weil er sich der anspruchsvollen Forderung nach einem Wachstum zu postkonventioneller Gutheit entzieht. Wahre Vielfalt und wahrer Multikulturalismus müssen gerade vor der postkonventionellen weltzentrischen Haltung geschützt werden, und solange der Liberalismus sich nicht eine solche Haltung zu Eigen macht, sabotiert er seine eigene Ziele. Das vom Liberalismus vertretene idiotische Mitgefühl ruiniert den Liberalismus. Kurz, der Liberalismus muss nicht nur im äußerlichen wirtschaftlichen Flachland progressiv sein, sondern auch hinsichtlich des inneren Wachstums des Bewusstseins von der egozentrischen über die soziozentrische zur weltzentrischen Haltung, von der präkonventionellen über die konventionelle zur postkonventionellen Sichtweise. Dies ist nicht als staatlich geförderte Agenda zu verwirklichen (der Staat darf keine bestimmte Version des guten Lebens fördern), sondern durch die Schaffung eines entsprechenden Umfelds – durch theoretische Schriften, durch das Beispiel seiner Führer, durch die Vision, zu der er die Menschen hinlenken will. So, wie es heute ist, fördert der Liberalismus, der im Hintergrund an natürliche Gutheit und im Vordergrund an extreme Vielfalt glaubt, lediglich eine Atmosphäre der Regression, und zwar in allem, von der Identitätspolitik über ethnozentrische Renaissancen bis zu egozentrischer Willkür. Ich fordere nicht, dass die Liberalen entsprechende Gesetze hiergegen erlassen sollen (jeder kann tun, was er will, solange er damit anderen keinen Schaden zufügt); ich fordere einfach, dass sie aufhören sollen, diese Regression weiter unter dem nachweislich falschen Begriff der natürlichen Gutheit und der zutiefst selbstwidersprüchlichen Gleichheitstheorie zu betreiben (die behauptet, dass die Gleichheitstheorie besser sei als die Alternativen, wo doch angeblich alles gleich ist). Diese beiden Säulen des Liberalismus sind zweifellos falsch und nicht zu rechtfertigen. Man sollte sich zumindest still von ihnen verabschieden, während sich der Liberalismus der postliberalen Aufgabe zuwendet, an einer Atmosphäre zu arbeiten, in der eine Entwicklung zur Gutheit möglich ist. Meine persönliche Überzeugung ist natürlich, dass uns eine solche postative, postliberale Sichtweise zu einem post-postkonventionellen Bewusstsein öffnen könnte, das wir den GEIST nennen. Die Diskussion ist wirklich entschieden: Man wird in Banden geboren, aber die Tore zur Freiheit sind überall offen, durch die man zu seinem eigenen ursprünglichen Antlitz gelangt.
Donnerstag, 11. Dezember Der Schlafzyklus ist etwas Faszinierendes. Der Körper schläft ein, und zurück bleiben das Subtile (Geist und Seele) und das Kausale (der formlose Zeuge). Und wenn der Körper einschläft, zeigen sich der subtile Geist und die Seele lebhaft in Träumen, Visionen und Bildern, manchmal auch in archetypischen Erleuchtungen: der typische Traumzustand. Irgendwann schläft auch das Subtile ein, Geist und Seele, sodass nur noch die Formlosigkeit, der Zustand des traumlosen Tiefschlafs übrig bleibt. Dies ist der Zeuge, das ursprüngliche Selbst in seiner nackten Soheit ohne jegliche Objekte. (Dieses Fortschreiten vom Grobstofflichen über das Subtile zum Kausalen ist ein Abbild des evolutionären oder aufsteigenden Bogens.) Irgendwann im Zustand des traumlosen Tiefschlafs regt sich die Seele (soul), erwacht und taucht aus ihrem Schlaf in der Formlosigkeit auf; dann beginnt das Träumen wieder. Weil die Beschränkungen des grobstofflichen Körpers im Traumzustand aufgehoben sind, können Geist und Seele (das Subtile, tiefere Psychische) ihre tiefsten Wünsche ausdrücken (etwas zu denken oder zu wünschen bedeutet im Traumzustand, dass es sich sofort materialisiert). Deshalb haben Propheten, Heilige, Weise und Tiefenpsychologen Träumen immer so viel Aufmerksamkeit geschenkt: Hier spricht ein tieferes Selbst, dem man in Gottes Namen lauschen sollte. Shankara, Freud und Jimminy Cricket sind sich einig: "Ein Traum ist ein Wunsch des Herzens, wenn man fest schläft." Geht der Traumzustand zu Ende (der Schlafende durchläuft den Weg zwischen subtilem Traumzustand und kausalem traumlosen Zustand oft mehrmals), beginnt sich der grobstoffliche Körper zu regen; der feinstoffliche Geist verlischt langsam, wenn die grobstoffliche egoische Orientierung und der grobstoffliche Körper aus ihrem Schlummer erwachen. Der Körper erwacht, das Ego erwacht (grobstoffliches Ego und grobstofflicher Körper sind miteinander verknüpft); kurz, die frontale Persönlichkeit erwacht, aber der Mensch erinnert sich, wenn überhaupt, nur wenig an die außerordentliche Reise, die er soeben beendet hat. Diese Bewegung vom Kausalen über das Feinstoffliche zum Grobstofflichen, vom Ungeborenen über das tiefere Psychische zum Frontalen, vom Selbst über die Seele zum Ich, ist ein Abbild des involutiven oder absteigenden Bogens. Jedes "Aufwachen" in diesem absteigenden Bogen ist beim Durchschnittsmenschen mit einem Vergessen verbunden, einer Anamnesis. Im Zustand des traumlosen Tiefschlafs kehrt der Mensch zu seinem reinen formlosen Selbst zurück, aber wenn das Feinstoffliche wieder auftaucht, vergisst er das Selbst und identifiziert sich mit der Seele, mit Luminositäten, Bildern und ekstatischen Visionen; er ist im Traumzustand verloren, den er schon für die Wirklichkeit hält. Erwacht dann der grobstoffliche Ich-Körper aus seinem Traum-Schlummer, vergisst er in der Regel wiederum das meiste aus diesem subtilen Zustand, sofern er nicht darum ringt, sich an einen bestimmten Traum zu erinnern, der nur ein Bruchstück der Wunder des Feinstofflichen ist. Stattdessen richtet der grobstoffliche Ich-Körper den Blick auf die sensomotorische Welt, die kleinste aller Welten, und hält diese für die höchste Wirklichkeit. Er hat sowohl sein kausales Selbst als auch seine subtile Seele vergessen und sieht nur noch das Grobstoffliche und Sensomotorische. Er hat seinen GEIST und seine Seele und weiß Gott mehr oder weniger auch seinen Verstand verloren, und den kümmerlichen Rest nennt er stolz Wirklichkeit. (Am Rande: Diese Abfolge – die Auflösung des Grobstofflichen in das Feinstoffliche und dessen Auflösung in das Kausale, woraufhin, falls Karma vorhanden ist, das Kausale das Subtile und dieses das Grobstoffliche hervorbringt und man sich in den grobstofflichen Körper in einer grobstofflichen Welt eingesperrt findet – ist dieselbe, wie sie im Tibetischen Totenbuch beschrieben wird, dem zufolge dieser Ablauf mit dem Prozess von Tod und Wiedergeburt identisch ist. Wenn man demgemäß den Zyklus von Wachen, Träumen und Schlafen bewusst beherrscht, dann kann man auch bewusst seine Wiedergeburt wählen. Wer das eine kann, kann auch das andere, denn beides sind identische Zyklen der Bewegung durch die Große Verschachtelung des Seins, vom Grobstofflichen über das Feinstofflichen zum Kausalen und wieder zurück. Dieser Zyklus ist aber, wie wunderbar er auch sein mag, nichts anderes als der Kreislauf des Samsara, der endlosen leidvollen Wiederholung von Geburt und Tod. Die Beherrschung dieses Zyklus kann eine Hilfe auf dem Weg zum höchsten Ziel sein: der Erkenntnis des Einen Geschmacks. Nur im Einen Geschmack tritt man aus diesem grausamen Zyklus heraus, um als das All zu ruhen. Weder das Grobstoffliche noch das Feinstoffliche noch das Kausale sind der höchste Zustand, der das schlichte Gefühl des Seins ist, das schlichte Gefühl des Einen Geschmacks.)
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Die meisten Menschen haben ihre eigenen höheren Zustände vergessen, ihre Seele, ihr Selbst, den Einen und Einzigen Geschmack. Aber wenn das Bewusstsein ein wenig stärker wird – durch Wachstum, durch Meditation, durch Evolution –, dann kann der Übergang zwischen den drei großen Zuständen ohne Gedächtnisverlust oder Anamnesis erfolgen. In der konstanten Zeugenschaft erreicht man seine erste wirkliche Befreiung von der Welt, weil man nicht mehr ihr Opfer, sondern ihr Zeuge ist. Im Einen Geschmack erkennt man eine tiefe Befreiung, die darin besteht, dass man von der ganzen Welt frei ist, weil man die ganze Welt ist. Erlangt man nur den leisesten Hauch des Einen Geschmacks, ist man nicht mehr derselbe. Man atmet mit jedem Atemzug Galaxien ein und schläft die ganze Nacht als die Sterne. Sonnen und Monde und herrliche Nova rasen und rauschen durch deine Adern, und dein Herz wird im Rhythmus mit dem ganzen liebenden Universum pochen. Und niemals wirst du dich in dieser strahlenden Darbietung deines eigenen wahren Selbst bewegen, weil du schon längst in der Fülle der Nacht aufgegangen bist.
Freitag, 12. Dezember Morgen muss Marci ihre Dissertation vortragen und verteidigen. Anschließend gibt es eine große Feier für die Graduierten. Damit beginnt die Party-Saison. Adieu Zeuge, hallo grausame Welt.
Samstag, 13. Dezember Marci hat ihre Prüfung glanzvoll bestanden. Sie wandte eine Entwicklungshierarchie (u. a. Maslow) auf das "interne Management" in Firmen an. Es ging dabei darum, wie eine Firma sich selbst ihren Angestellten "verkaufen" kann, indem sie diesen Dienstleistungen anbietet, die ihre Entwicklung am Arbeitsplatz fördern, wodurch die Angestellten zufriedener sind und produktiver arbeiten, wodurch die Firma wiederum für neue Mitarbeiter interessant wird – eine raffinierte Form der Selbstverstärkung. Als neutraler und objektiver Beobachter fand ich diese Arbeit großartig, innovativ, originell, bezwingend und überaus fesselnd. Dann wurde mächtig gefeiert.
Montag, 15. Dezember Bell Hooks: "Es irritiert mich außerordentlich, wenn meine Studentinnen glauben, nur Frauen lesen zu können, wenn schwarze Studenten meinen, nur Schwarze lesen zu können, oder wenn weiße Studenten so tun, als könnten sie sich nur mit einem weißen Autor identifizieren. Ich glaube, das Schlimmste, was uns passieren kann, ist, die Macht der Empathie und des Mitgefühls aus dem Auge zu verlieren." Maya Angelou: "Ich gebe Ihnen völlig Recht. Dann werden wir zu Tieren. Wir laufen Gefahr, unmenschlich zu werden. In meinem Unterricht schreibe ich immer einen Satz an die Tafel, gleichgültig, welchen Stoff ich gerade behandle: 'Ich bin ein Mensch; nichts Menschliches ist mir fremd.' Dann schreibe ich ihn noch auf Lateinisch hin: 'Homo sum, humani nil a me alienum puto.' Dann erzähle ich ihnen, von wem der Satz stammt, nämlich von Publius Terentius Afer (Terenz). Er war Afrikaner und Sklave eines römischen Senators. Nach seiner Freilassung wurde er zum beliebtesten Komödiendichter Roms. Sechs seiner Stücke und dieser Satz sind uns aus dem Jahr 154 v. Chr. überliefert. Dieser Mann, der nicht als Weißer und nicht in Freiheit geboren wurde, sagte: Ich bin ein Mensch." Diskussion in der Shambhala Sun, Januar 1998 Weder Hooks noch Angelou (ebenso wenig wie Sara Bates) bestreiten Unterschiede oder spielen sie herunter, sondern betrachten einfach unsere reichen kulturellen Unterschiede im universellen Kontext einer gemeinsamen Menschheit, dem man sich, wie Hooks so schön sagt, durch Empathie und Mitgefühl nähert: postkonventionelles, weltzentrisches Bewusstsein und universeller Pluralismus, Unitas multiplex. "Unitas multiplex" ist ein gutes Motto für meine eigene Arbeit, und es gibt Anzeichen dafür, dass dies eine Idee ist, deren Zeit wahrhaftig gekommen ist. Nachdem die Moderne eine Zeit eines starren Universalismus oder Uniformismus durchlief (der jegliche kulturellen Unterschiede leugnete, indem er die Welt ausschließlich aus dem Blickwinkel des besitzenden Weißen betrachtete) und die Postmoderne eine Zeit chaotischer Vielfalt durchlief, die man wohl als eine verherrlichte Zersplitterung bezeichnen müsste (und die alle universellen Wahrheiten mit Ausnahme ihrer eigenen leugnete), sind wir heute so weit, dass wir uns das Beste beider Welten nehmen könnten: Universeller Pluralismus, Unitas multiplex. Anzeichen für eine solche neue, integrale Sichtweise findet man überall, in der Psychologie, Philosophie, Wirtschaft usw. So findet sich zum Beispiel in der Juli-Ausgabe von Wired ein großartiges Interview mit Larry Summers, Clintons Chefberater für internationale Handelsbeziehungen, unter dem Titel "Integrationisten und Separatisten", der die verheerenden Folgen von Protektionismus und Separatismus im Welthandel anprangert. Der Titel sagt eigentlich schon alles, aber wenn er noch einer Erläuterung bedürfte, dann enthält dieselbe Nummer einen ganz vorzüglichen Artikel, "Der lange Boom" von meinen alten Bekannten Peter Schwartz und Peter Leyden. Sie zeigen darin, dass fünf technische Umwälzungen, die heute bereits begonnen haben (PC, Telekommunikation, Biotechnologie, Nanotechnologie und alternative Energien), gewisse fast unausweichliche Konsequenzen haben werden, zu denen auch eine vollständig integrierte Welt etwa um das Jahr 2020 zählen könnte. Diese vernetzte, integrale Welt wird ihnen zufolge nicht, wie Kritiker meinen, lokale kulturelle Unterschiede verleugnen, sondern sie gerade akzeptieren und fördern. Es wird eine wahrhaft multikulturelle, einschließende Welt sein, eine Unitas multiplex. "Wir gehen auf ein Zeitalter zu, in dem Vielfalt wirklich geschätzt werden wird: Je mehr Optionen es gibt, desto besser. Unser Ökosystem funktioniert in dieser Weise am besten. Dies gilt ebenso für unsere Marktwirtschaft, aber auch für unsere Zivilisation, das Reich unserer Ideen." Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass dies alles in einer wahrhaft integrierten Welt geschieht, nicht einer Welt, die Vielfalt um ihrer selbst willen propagiert; dies wäre die Haltung des "Separatisten", der in ihrem Szenario eindeutig der Böse ist. Sie führen weiterhin aus, dass diese Entwicklung zu einer integralen Welt, wiewohl sie teilweise durch die Technik vorangetrieben wird, ebenso sehr von inneren Werten abhängt, insbesondere denjenigen der Offenheit und der Toleranz, ohne die Technik zu den schändlichsten Zwecken missbraucht werden kann und wird. Mit anderen Worten, rechtsseitige Faktoren allein werden uns nicht das
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Heil bringen; linksseitige Werte sind unerlässlich, wenn nicht die Technik die Entfremdung und Trennung vermehren soll. Offenheit und Toleranz – universeller Pluralismus – sind Werte der postkonventionellen, weltzentrischen Entwicklungsebene. Die Schlussfolgerung ist klar: Wenn wir wirklich eine integrierte Welt schaffen wollen – anhaltender Wohlstand, ökologische Nachhaltigkeit und kulturelle Toleranz –, dann muss sich die Menschheit nicht nur mit den äußeren Wellen der Technik beschäftigen, die die Verfasser aufzeigen, sondern auch mit den inneren Wellen der Entwicklung von einem egozentrischen über ein soziozentrisches zu einem weltzentrischen Bewusstsein, weil sie nur dort die Offenheit und Toleranz finden kann, die individuelle Unterschiede gelten lässt und verhindern kann, dass uns die Technik in den Abgrund reißt. Es gibt heute gewaltige unumkehrbare Kräfte, die die äußeren Wellen entwickeln; wer erhebt seine Stimme für die innere Entwicklung, die allein die Katastrophe abwenden kann?
Dienstag, 16. Dezember Wieder eine Weihnachtsparty, diesmal für das Personal und die Bewohner von Marcis Behindertenheim. Marci und ich zählten zu den beliebtesten Tanzpartnern der Bewohner, und wir tanzten etwa drei Stunden, wenn man das so nennen kann. Allen stand in der Mitte der Tanzfläche und bewegte keinen Muskel, aber er lächelte. Fabio ließ seinen Rollstuhl kreisen. Sandy hopste mit atemberaubender Geschwindigkeit vor und zurück; ich versuchte, mit ihr mitzuhalten, aber sie war zu schnell für mich. Tom sprang auf und ab und wirbelte seine Arme wie Rotorblätter herum, ebenfalls zu schnell für mich. Es waren etwa einhundert Bewohner da, von denen etwa die Hälfte tanzte, oft gleichzeitig. An den Händen gefasst im Kreis die Füße nach oben zu schleudern war der beliebteste Gruppentanz. Ich habe des Öfteren über die drei Haupttypen von Wert in der Welt geschrieben: innerer Wert, äußerer Wert und Urgrund-Wert. Der innere Wert ist der Wert, den eine Sache an sich besitzt. Der äußere Wert ist der Wert, den sie für andere besitzt. Urgrund-Wert ist der Wert, den alles insofern besitzt, als es eine Manifestation des GEISTES ist. Der innere Wert bemisst sich nach dem Grad seiner Einschließung und Ganzheit. So hat z. B. ein Molekül einen höheren inneren Wert als ein Atom, weil Moleküle Atome enthalten. Als etwas Umfassenderes enthalten Moleküle in ihrem Aufbau mehr Sein, und deshalb ist ihr innerer Wert größer. Zellen haben einen höheren inneren Wert als Moleküle, Organismen einen höheren als Zellen usw. Ebenso hat die weltzentrische Haltung mehr inneren Wert als die soziozentrische und diese wiederum mehr als die egozentrische, weil erstere jeweils mehr Tiefe und mehr Ganzheit haben als letztere. Aber wenn man sagt, dass eine Zelle mehr inneren Wert hat als ein Molekül, dann heißt dies nicht, dass Moleküle überhaupt keinen Wert hätten. Es handelt sich um eine gleitende Skala, die davon abhängt, wie viel von der Welt in einem Holon enthalten ist. Je mehr Sein sich in einem Holon befindet, desto mehr inneren Wert hat es. Je größer die Tiefe, je größer die Ganzheit ist, desto größer ist der innere Wert. Äußerer Wert ist mehr oder weniger das Gegenteil von innerem Wert. Ein Atom hat mehr äußeren Wert als ein Molekül, weil mehr Holons von der Existenz von Atomen als von derjenigen von Molekülen abhängen. Die Existenz von Molekülen selbst hängt von derjenigen von Atomen ab – aber nicht umgekehrt –, weshalb Atome mehr äußeren Wert, mehr Wert für andere haben. Es ist also ganz einfach: Je höher ein Holon in der Großen Holarchie steht, desto mehr inneren Wert hat es. Je niedriger ein Holon in der Kette steht, desto mehr äußeren Wert hat es. Beide sind unverzichtbar, weil sie nicht ohne einander existieren können. Ohne das Höhere hätte das Niedrigere keine Bedeutung; ohne das Niedrigere hätte das Höhere keine manifeste Existenz. Innerer Wert ist der Wert, den etwas dank der Tatsache besitzt, dass es ein Ganzes mit Agenz ist (und je größer die Tiefe des Ganzen ist – oder je mehr Ebenen es besitzt –, desto größer ist sein innerer Wert, desto mehr von der Welt schließt es in sich). Äußerer Wert wiederum ist der Wert, den etwas dank der Tatsache besitzt, dass es ein Teil in Kommunion ist (und von je mehr Dingen es Teil ist, desto größer ist sein äußerer Wert). Agenz hat mit Rechten zu tun (wir sind individuelle Ganze mit individuellen Rechten, deren Grundlage Gerechtigkeit ist), Kommunion mit Verantwortlichkeiten (wir sind auch Teil oder Glied vieler Beziehungen, deren Grundlage Zuwendung ist). Alles, was ein Ganzes ist, ist auch ein Teil (alle Holons ohne Ausnahme sind "Agenz-in-Kommumon"), und deshalb haben alle Holons sowohl inneren als auch äußeren Wert, sowohl Rechte als auch Pflichten. Der innere und der äußere Wert sind relativ: der Urgrund-Wert ist absolut. Der Urgrund-Wert ist der Wert, den jedes einzelne Holon dank der Tatsache besitzt, dass es eine strahlende Manifestation des GEISTES, der Gottheit, der Leerheit ist. Alle Holons, hohe und niedrige, haben denselben Urgrund-Wert, nämlich den Einen Geschmack. Holons haben einen höheren oder niedrigeren inneren Wert (je größer die Tiefe, desto größer der Wert), aber alle Holons haben absolut denselben Urgrund-Wert: Sie alle haben die gleiche Soheit, die das Antlitz des GEISTES in seiner leuchtenden Manifestation ist, der Eine Geschmack in seiner ganzen Herrlichkeit.48 Wenn ich mit lieben Menschen zusammen bin, die in ihrem individuellen Wachstum und in ihrer Entwicklung so grausam benachteiligt, so sehr ihrer Tiefe beraubt sind, dann erinnert mich dies umso mehr an ihren Urgrund-Wert. Grüne Smaragde sind sie alle, vollkommen in ihrer Herrlichkeit. Ich werde daran erinnert, dass innen und außen im Einen Geschmack wegfallen, in dem alle Kinder des GEISTES gleichermaßen in der Unendlichkeit leuchten, die sie sind. Ich weiß, dass dies eine Tatsache ist, denn gestern Abend habe ich drei Stunden mit Buddhas getanzt, und wer würde es wagen, dies zu bestreiten?
Donnerstag, 18. Dezember Als der Buddhismus vor zwanzig Jahren in Amerika seinen großen Aufschwung erlebte, durfte man das Thema einer Verbindung von Meditation mit Psychotherapie nicht einmal andeuten, weil der Buddhismus als "vollständiges" System galt. Wer also ein "richtiger" Buddhist war, der brauchte keine Therapie. Aber dies galt analog für praktisch alle Religionen in der modernen Welt: Glaube nur an Christus, und alles wird gut sein; bete, und deine Seele wird geheilt werden; Dhikr macht alles gut; Davening genügt; Yoga hat schon alles in sich. Wer also nur genügend Glauben oder spirituelle Praxis hätte, der brauchte niemals eine Psychotherapie, und wer umgekehrt eine Therapie braucht, mit dessen Glauben ist etwas nicht in Ordnung. Das Verhältnis zwischen Spiritualität und Naturwissenschaft im Allgemeinen und Psychotherapie im Besonderen ist für die Spiritualität in der modernen Welt das vordringliche Thema, und es scheint, dass die meisten Religionen hier sehr ungeschickt agieren. Wiewohl ich selbst hauptsächlich der buddhistischen (und vedantischen) Praxis anhing und anhänge, wurden meine Arbeiten in buddhistischen Kreisen immer mit Argwohn betrachtet: Dieser Wilber will behaupten, dass der Buddhismus allein nicht genügen würde.
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Viele Buddhisten weigerten sich, irgendetwas von mir zu lesen, und einige von ihnen sagten mir dies auch auf eine recht unbuddhistische Weise. Zwanzig Jahre später haben sich die Verhältnisse geändert. Heute gibt es fast keinen bekannten buddhistischen Lehrer in Amerika mehr, der sich nicht einer mehr oder weniger umfassenden Psychotherapie unterzogen hätte, auch wenn viele von ihnen dies leider vor ihren Schülern geheim halten. Die meisten von ihnen sind sich zumindest insgeheim darüber im Klaren, dass es Probleme gibt, die sich mit Meditation allein nicht lösen lassen. Dasselbe gilt für zentrierendes Gebet, Satsang, Dhikr, Yoga usw. Es ist einfach so, dass spirituelle Praxis und psychologische Praxis unterschiedliche Strömungen innerhalb der großen Wellen des Bewusstseins sind, und wenn man Schwierigkeiten in einer dieser Strömungen hat, dann bedeutet dies nicht notwendigerweise, dass man auch in der anderen ein Versager wäre. Neurose ist keine Sünde. Als sich also vor einem Jahr Shambhala Sun (eine große buddhistische Zeitschrift) mit der Bitte um ein Interview an mich wandte, zögerte ich zunächst. Aber man möchte ja seriöse kontemplative Zeitschriften unterstützen, und ich willigte ein. Das Interview begann mit der Standardfrage: "Warum behaupten Sie, dass der Buddhismus kein vollständiger Weg sei?"; aber es ging bald in eine fruchtbarere Richtung. Und wiewohl die nachfolgende Diskussion speziell die buddhistische Praxis betrifft, würde ich dieselben Punkte auch an jeder anderen spirituellen Praxis kritisieren, vom Christentum über den Judaismus und den Islam bis zum Daoismus. Anhänger anderer Glaubensrichtungen können die nachfolgenden Aussagen unmittelbar auf ihren eigenen Übungsweg übertragen, denn diese Fragen sind, wie ich glaube, absolut wesentlich, wenn man Religion und Therapie miteinander ins Gespräch bringen will.49 SUN: Ihre Gedanken über die Evolution des Bewusstseins sind in zwei Ihrer neueren Bücher nachzulesen, die zusammenzugehören scheinen: EKL ist das gewaltige Werk mit 800 Seiten, während Eine kurze Geschichte des Kosmos eine Zusammenfassung für "die gewöhnlichen Menschen" zu sein scheint. Für wen haben Sie dieses Buch geschrieben? KW: Ja, die Kurze Geschichte ist viel kürzer und zugänglicher. Das hoffe ich zumindest. Gewöhnliche Menschen? Nun, die Leser dieser Zeitschrift sind doch schon sehr ungewöhnlich, meinen Sie nicht auch? Für eben diese nicht ganz so gewöhnlichen Menschen habe ich dieses Buch geschrieben, für Verrückte wie Sie und mich, die erwachen wollen und solche törichten Sachen. Dieses Buch wird Deepak nicht von den Bestsellerlisten verdrängen. Ich glaube, es ist mehr für Leute, die nach so etwas wie einer allgemeinen Weltphilosophie suchen, nach einer Betrachtungsweise des Bewusstseins und der Geschichte, die das Beste aus Ost und West berücksichtigt und beides zu respektieren versucht. SUN: Und welche Wirkung erhoffen Sie sich davon? In welcher Weise kann Ihre Philosophie zum Bewusstseinsfortschritt beitragen? KW: Ehrlich gesagt, nicht viel. Wir alle müssen noch eine echte kontemplative Praxis finden – vielleicht Yoga, vielleicht Zen, vielleicht Shambhala-Training, vielleicht kontemplatives Gebet oder irgendwelche anderen authentischen Praktiken. Das bringt das Bewusstsein voran, nicht mein Geplauder und dicke Bücher. Aber wenn man wissen will, wie die eigene Praxis sich zu anderen Formen der Wahrheitssuche verhält, dann sind diese Bücher ein guter Einstieg. Sie bilden eine Landkarte, die zeigt, wie alles zusammenpasst; das ist alles. Sie ersetzen in keiner Weise die Praxis. SUN: Aber was ist, wenn ich z.B. ein eingefleischter wiedergeborener Buddhist bin, der keine anderen Systeme der Selbstentwicklung oder Selbsttransformation benutzt? Die Kurze Geschichte gibt mir den Eindruck, dass ich in meiner Selbst-Kultur etwas vergesse. Sie haben den Buddhismus in nur einen der vier Quadranten eingetragen, was bedeutet, dass ich anscheinend etwas weglasse. Wenn ich Erleuchtung erlange, ist sie Ihnen zufolge dann nicht unvollständig? KW: Wenn Sie mit "Erleuchtung" die unmittelbare und radikale Erkenntnis der Leerheit meinen, dann lässt man dabei nichts weg. Die Leerheit hat keine Teile, also kann man auch nichts weglassen. Aber es gibt natürlich absoluten Bodhichitta und relativen Bodhichitta (was in etwa absoluter und relativer Wahrheit entspricht), und wenn man eine unmittelbare Erkenntnis des Absoluten hat, dann bedeutet dies noch nicht, dass man damit auch alle Einzelheiten des Relativen beherrscht. Man könnte sehr hoch erleuchtet sein, aber trotzdem nicht in der Lage, z. B. Schrödingers Wellengleichung zu erklären. In meinen Büchern geht es mehr um alle diese relativen Details, die der Buddhismus nicht abdeckt (und die anderen Weisheitstraditionen der Welt natürlich ebenso wenig). Aber für die unmittelbare Erkenntnis der radikalen Leerheit und der spontanen Luminosität ist der Buddhismus genau richtig – einverstanden? SUN: Warum brauche ich dann Ihre Geschichte des Bewusstseins, wenn ich doch all die buddhistischen Lehren als Spielzeug habe? KW: Sie brauchen Sie nicht. Es sei denn, Sie finden sie interessant, spannend oder amüsant. Dann beschäftigen Sie sich damit, weil es eben Spaß macht. Die buddhistischen Lehren enthalten auch nichts über die mexikanische Küche, aber man kann diese trotzdem lieben. SUN: Stellen wir die Frage einmal anders: Was wissen Sie, was der Buddha nicht weiß? KW: Wie man einen Jeep fährt. SUN: Wie Sie in der Kurzen Geschichte sagen, gibt es schon viele progressive Geschichtstheorien und Theorien über die Entwicklung des Geistes. Manchmal klingt Ihre Theorie wie die hegelsche Dialektik, manchmal wie Darwin, manchmal wie verschiedene asiatische Formen der Theorie des Weltgeistes. Worin unterscheidet sich Ihre Theorie von diesen anderen Systemen? KW: Ja, das ist eben der Punkt. Sie klingt wie alle diese Theorien, weil sie sie alle berücksichtigt und versucht, das Beste von ihnen zusammenzuführen. Aber darin liegt gerade der Unterschied, weil nämlich keine dieser anderen Theorien die übrigen berücksichtigt. Ich versuche, diese Ansätze zusammenzubringen, und daran sind diese gerade nicht interessiert. SUN: Sie gliedern Ihre Welt nicht in Atome oder Elemente oder psychologische Zustände, sondern in Einheiten, die Sie Holons nennen. Diese erinnern sehr an die Dharmas des buddhistischen Abhidharma. Inwieweit hat dieser Ihre Theorie beeinflusst? KW: Nun, ich bin seit langem praktizierender Buddhist, und viele der wesentlichen Elemente meines Ansatzes sind buddhistisch oder buddhistisch inspiriert. Ganz im Vordergrund stehen Nagarjuna und die Madhyamika-Schule. Auch die Reine Leerheit und die Ursprüngliche Reinheit zählen zur "Kernphilosophie" meines Ansatzes. Weiterhin Yogachara, Hua Yen, ein großer Teil von Dzogchen und Mahamudra und natürlich die Grundaussagen des Abhidharma. Von all dem ist meine Darstellung der Holons beeinflusst. Ich versuche also, um es zu wiederholen, das Beste all dieser Traditionen in einer, wie ich hoffe, fruchtbaren Weise zusammenzuführen. SUN: Ihre Weltsicht ist ja recht kompliziert. Meditierende könnten sagen: "Wozu brauchen wir überhaupt eine globalgeschichtliche Auffassung? Lassen Sie uns in Ruhe meditieren." Was würden Sie diesen Leuten sagen? KW: Meditiert in Ruhe. SUN: Es gibt von Ihnen eine interessante Kritik am konventionellen Modernismus und Postmodernismus. Sie scheinen deren Positionen zu akzeptieren, aber sie zugleich zu transzendieren, ihnen ihren gebührenden Platz zuweisen zu wollen. Können Sie dies etwas erläutern? KW: Ja, es geht darum, dass uns all die verschiedenen Ansätze, Theorien und Praktiken etwas Wichtiges zu sagen haben, dass aber keine von ihnen wohl die ganze Wahrheit in allen Einzelheiten besitzt. Jeder dieser Ansätze ist also wahr, aber unvollständig, und
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es kommt nun darauf an herauszufinden, wie alle diese wahren, aber unvollständigen Wahrheiten zusammenpassen. Die Frage ist also nicht, wer Recht und wer Unrecht hat, sondern, wie es möglich ist, dass sie vielleicht alle zusammen Recht haben. Wie kann man sie zu einer Regenbogenkoalition zusammenbringen? Deshalb akzeptiere ich einerseits alle diese Positionen, aber ich versuche auch, sie zu transzendieren oder, wie Sie sagen, ihnen ihren gebührenden Platz zuzuweisen. Ob mir dies gelungen ist, wird sich zeigen müssen. SUN: Sie benutzen die Schreibweise "Kósmos" (engl. "Kosmos") statt "Kosmos" (engl. "cosmos"). Was steckt dahinter? KW: "Kosmos" ist ein alter pythagoreischer Begriff, der das ganze Universum in all seinen Dimensionen umfasste, der physischen, emotionalen, mentalen und spirituellen. "Kosmos" bezeichnet heute aber einfach die physische Welt oder die physische Dimension. Man könnte also sagen, dass Kósmos die Physiosphäre oder den Kosmos, die Biosphäre oder das Leben und die Noosphäre oder den Geist umfasst, die alle strahlende Manifestationen der Reinen Leerheit und nicht außerhalb dieser Leerheit sind. Eine der Katastrophen der Moderne besteht darin, dass der Kósmos bei uns heute keine grundlegende Wirklichkeit mehr ist, sondern nur noch der Kosmos. Mit anderen Worten, "wirklich" ist nur noch die Welt des wissenschaftlichen Materialismus, die Welt von "Flachland", die platte und matte Sichtweise der modernen und postmodernen Welt, während nur der Kósmos allein wirklich ist. Eines der Anliegen dieser beiden Bücher ist also die Rehabilitierung des Kosmos als glaubwürdige Konzeption. SUN: Sie bezeichnen den Kósmos als "das Muster, das alle Bereiche des Daseins verbindet". Dies erinnert mich an Gregory Batesons Geist und Natur: eine notwendige Einheit. Inwieweit ist Ihr Denken von diesen Modernen, in Richtung New Age tendierenden Bewegungen innerhalb der Gesellschaftswissenschaften beeinflusst? KW: Sehr wenig, muss ich sagen. Ich halte Bateson nicht für einen sehr hilfreichen Theoretiker, wiewohl ich viele sehr intelligente Menschen kenne, die hier anderer Meinung sind. Das von Ihnen erwähnte Buch ist für mich ein ausgesprochenes "Flachland-Buch", monologisch, in einer Es-Sprache geschrieben, eindimensional – nicht sehr gut, ehrlich gesagt. Aber das ist meine persönliche Meinung. SUN: Glauben Sie, dass Foucault, Derrida und ähnliche Denker etwas aussagen, was asiatische Absolutisten schon in irgendeiner Weise formuliert hatten? Oder war ihr poststrukturalistiscber Ansatz etwas völlig Neues? KW: Die poststrukturalistischen Ansätze sind einerseits neuartig, andererseits weniger tief. Die großen östlichen Traditionen sind letztlich tiefe Techniken der Transformation, der Befreiung, der Erlösung in die radikale Leerheit. Die Poststrukturalisten haben nichts dergleichen; sie bieten einfach neue Formen einer Translation an, keine Transformation. Es sind interessante Spielarten relativer Wahrheit, kein Yoga der absoluten Wahrheit. Aber innerhalb der relativen Wahrheit besitzen die Poststrukturalisten durchaus gewisse Ähnlichkeiten mit den relativen Aspekten einiger der östlichen Traditionen wie z. B. Nicht-Fundamentalismus, die Kontextualität der Wahrheit, das Gleiten von Signifikanten, die Relativität von Bedeutung usw. Hier gibt es interessante und wichtige Ähnlichkeiten, und ich versuche auch, diese zu berücksichtigen, aber sie sind sekundär gegenüber dem Wesentlichen, nämlich Moksha, Kensho, Satori, Rigpa, Yeshe, Shikantaza, und davon ist bei Foucault, Derrida, Lyotard und ähnlichen Denkern nichts zu finden. SUN: Spielt die Kosmologie des tibetischen Buddhismus eine besondere Rolle in der Entwicklung Ihrer Philosophie? Diese erinnert mich manchmal an die apokalyptischen Ansätze der Kalachakra-Schule. KW: Der Vajrayana in praktisch allen seinen Formen war für mich persönlich immer sehr wichtig und schlägt sich entsprechend auch in den von mir dargestellten allgemeinen Auffassungen nieder. Kalachakra ist ebenso wie Anuttaratantra sehr tief; weiterhin denke ich an die Ati-Lehren, Semde, Langde und Upadesa. Ich habe in der Tat große Sympathien für alle diese Schulen. SUN: Sie möchten Freud mit Buddha zusammenführen, oder, wie sie es nennen, "Tiefenpsychologie" mit "Höhenpsychologie". Warum halten Sie dies für notwendig? Glauben Sie, dass beide Systeme ohne diese Integration unvollständig sind? KW: Nun, ich glaube, dass alles unvollständig ist, weil der Kosmos immer in Bewegung ist. Neue Wahrheiten werden sichtbar, neue Offenbarungen werden uns zuteil, neue Buddhas treten auf, und dies hat kein Ende, nicht wahr? Freud und Buddha sind nur zwei Beispiele für einige sehr wichtige Wahrheiten, die von einem Dialog profitieren könnten. Die Leerheit ist von keinem von beiden abhängig, aber die manifeste Welt ist ein weitläufiger Ort, in dem sehr viel Raum für diese beiden Pioniere ist. Und ich glaube in der Tat, dass sie sich gegenseitig in ihrer Entwicklung unterstützen können. SUN: Glauben Sie tatsächlich, dass die alten Systeme spiritueller Transformation in unserer heutigen Zeit unzulänglich sind, weil sie so viel von demjenigen unberücksichtigt lassen, was Sie in Ihre Synthese aufnehmen? KW: Unzulänglich? Nicht, was ihre absolute Wahrheit betrifft, aber sehr wohl in der relativen Manifestation, weil sich die Leerheit ja ständig in neuen Formen manifestiert, nicht wahr? In den Sutras oder Tantras findet man keine Bedienungsanleitungen für einen Computer. Ebenso wenig findet man in diesen Texten etwas über die DNA, über Anästhesie oder Nierentransplantation. Der Westen hat etliches zu unserem psychologischen und psychotherapeutischen Wissen beigetragen; diese Beiträge sind überaus nützlich und hilfreich, aber es gibt hierzu kaum Parallelen in den alten Lehren. Es ist aber letztlich keine Frage der Unzulänglichkeit; es geht vielmehr darum, alles Verfügbare zu nutzen. Wenn man mit seinem Übungsweg glücklich ist, dann ist doch alles in Ordnung. Wenn man auf ihm nicht weiterkommt, dann könnte vielleicht ein wenig Therapie helfen. Ich persönlich glaube nicht, dass sich eine der beiden Seiten dadurch bedroht fühlen muss. Die Welt ist so groß – es ist genug Platz für Freud und Buddha. SUN: Weil wir gerade beim Thema sind: Was halten Sie von den inneren Tantras wie Kundalini-Yoga und demjenigen, was wir Buddhisten mit Prana, Nadi und Bindu tun [bestimmte innere spirituelle Visionen]? Die Wirklichkeit, auf die sie sich stützen, wird von der Naturwissenschaft nicht anerkannt, aber sie nimmt doch in Ihrem System zwei der höheren Ebenen ein, die subtile und die kausale. Viele Anhänger einer spirituellen Praxis bestreiten aber die Existenz dieser Ebenen und führen niemals solche Übungen durch. Sie scheinen aber doch darauf zu bestehen, dass sie für die höhere Entwicklung unerlässlich sind. Oder verstehe ich Sie hier falsch? KW: Ich glaube nicht, dass sie notwendig sind. Es ist vielmehr so, dass auf diesen beiden höheren Ebenen, die Sie erwähnen (die subtile und kausale), solche Prozesse auftreten können. Oder auch nicht. Es hängt unter anderem von der Art der Übungen ab. Es ist einfach so, dass an einem bestimmten Punkt der persönlichen meditativen Praxis verschiedene grobstoffliche Prozesse von subtilen und danach sehr subtilen Phänomenen abgelöst werden, wobei manchmal Energieströme auftreten können, Prana, Bindu usw. In anderen Fällen könnte dies einfach mit einer Steigerung der Klarheit und des panoramischen Bewusstseins verbunden sein. Ich habe einfach die verschiedenen Formen meditativer Erscheinungen katalogisiert, die auftreten können, wenn man meditativ vom grobstofflichen über das subtile zum sehr subtilen Bewusstsein fortschreitet. Aber was ich hier sage, gehört in den Traditionen zum Standard. SUN: Woher kommt es Ihrer Meinung nach, dass manche spirituell Praktizierende in manchen Dingen Fortschritte machen, während sie in anderen primitive Trottel bleiben? KW: Ich möchte ja mit meinem Modell der Bewusstseinsentwicklung unter anderem zwei Dinge darstellen, die man als Ströme und Wellen bezeichnen kann. Die Ströme sind die verschiedenen Entwicklungslinien wie zum Beispiel kognitive Entwicklung, emotionale Entwicklung, soziale Entwicklung, spirituelle Entwicklung. Jeder dieser Ströme durchläuft innerhalb seiner eigenen Entwicklung
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verschiedene Stadien oder Wellen. Die Forschungsergebnisse besagen erstens, dass sich diese verschiedenen Ströme unabhängig voneinander entwickeln können: Man kann in einem Strom, z.B. dem spirituellen, weit fortgeschritten, in einem anderen, wie z.B. dem emotionalen oder sozialen, "zurückgeblieben" sein. Zweitens sind diesen Strömen, wiewohl sie sich unabhängig voneinander entwickeln, gewisse grundlegende Stadien oder Wellen der Entwicklung gemeinsam. So durchlaufen sie alle zum Beispiel präkonventionelle, konventionelle und postkonventionelle Formen. Daher haben wir es also mit zahlreichen verschiedenen Entwicklungsströmen zu tun, die jeweils durch dieselben allgemeinen Wellen oder Stadien der Bewusstseinsentwicklung hindurchgehen. Und es gibt keinen Zweifel, dass Menschen in einem Strom sehr weit fortgeschritten und in anderen "primitive Trottel" sind. (Einen Überblick über die entsprechenden Forschungsarbeiten gebe ich in Das Wahre, Schöne, Gute.) Die Antwort auf Ihre Frage ist also: Ja, die Entwicklung kann sehr ungleichmäßig sein. Die meisten großen Weisheitstraditionen sind Schulungswege zu einem höheren oder postkonventionellen Bewusstsein und einer höheren oder postkonventionellen Haltung wie Liebe und Mitgefühl. Aber sie vernachlässigen andererseits die soziale und emotionale Entwicklung, insbesondere im konventionellen Bereich. Wir alle kennen fortgeschrittene Meditierende, die, nun ja, recht unangenehme Zeitgenossen sind. Und hier hat wiederum die westliche Psychotherapie ihre Stärken – auch wenn sie in das andere Extrem verfällt und die höheren oder transpersonalen Wellen fast vollständig vernachlässigt. Ein weiterer Grund, warum man Freud und Buddha zusammenbringen muss. SUN: Jeder erfahrene Kontemplative weiß natürlich, dass das Wachstum üblicherweise ungleichmäßig verläuft. Aber manche sagen, dass Neurosen letztlich Regressionen sind: Jemand macht große Fortschritte in der Meditation, aber dann erliegt er doch der Verführung des Samsara, gibt die Meditation auf und gerät in eine samsarische Neurose. Andere sagen, dass die Meditation bei Fortgeschrittenen verborgene, verdichtete Neurosen zum Vorschein bringen würde, sodass sie plötzlich auf geheimnisvolle Weise zu Spinnern werden. Glauben Sie, dass an solchen Auffassungen etwas Wahres ist, oder haben Sie überhaupt eine andere Auffassung? KW: Nein, ich glaube durchaus, dass all dies, was Sie soeben erwähnt haben, manchmal zutrifft. Es gibt tatsächlich Menschen, die in der Meditation große Fortschritte machen, es aber bald wieder aufgeben, weil die Anforderungen zu groß sind; wenn sie dann wieder an ihr ursprüngliches Verhalten anknüpfen wollen, hat sich die Neurose nur verschlimmert. Sie haben dasselbe altbekannte Problem, nur ist jetzt ihre Sensibilität geschärft, sodass die Neurose nur noch schmerzhafter ist. Auch der zweite von Ihnen angegebene Fall ist nicht selten. Vor allem in den fortgeschrittenen Stadien der Meditation werden die wirklich tief verschütteten Komplexe für das Bewusstsein sichtbar. Fortgeschrittene Übende können zu recht überspannten Menschen werden, weil sie sich ja schon durch all die kleinen und einfachen Probleme hindurchgearbeitet haben und nur noch das Karma aus der Zeit übrig ist, als man in einem früheren Leben zwanzig Nonnen ermordete. Das ist jetzt nicht ganz ernst gemeint, aber Sie verstehen, worauf ich hinauswill: Im fortgeschrittenen Übungsstadium können einige wirklich tief sitzende Probleme plötzlich an die Oberfläche drängen, und dies kann sehr verwirrend sein, weil dies überhaupt nicht nach "Fortschritt" aussieht. Aber es ist wie mit einer Erfrierung: Zuerst spürt man nichts. Man ahnt überhaupt nichts von einem Problem. Aber wenn man beginnt, die erfrorene Stelle zu erwärmen, tut es höllisch weh. Die Heilung, das Aufwärmen, ist alles andere als angenehm. Fortgeschrittene Meditation ist eine Schnellerwärmung, ein Erwachen, und sie tut üblicherweise höllisch weh. SUN: Aber Sie haben noch einige andere Szenarios, wie etwas bei der Meditation "schief gehen" kann. KW: Ja. Wie wir schon sagten, besteht Entwicklung aus mehreren verschiedenen Strömen, die die Grundstadien oder Wellen des sich entfaltenden Bewusstseins durchlaufen. Die großen Weisheitstraditionen betonen meist zwei oder drei dieser Ströme wie beispielsweise den kognitiven (Bewusstsein), den spirituellen (und moralischen) oder die höheren Gemütszustände (Liebe und Mitgefühl). Zugleich vernachlässigen sie oft andere Strömungen wie zum Beispiel emotionale, soziale und konventionelle Interaktionen. Macht man also Fortschritte in einigen dieser Ströme, etwa dem meditativen und kognitiven, entsteht in der Gesamtentwicklung ein Ungleichgewicht. Andere Entwicklungslinien werden vernachlässigt und verkümmern. Die Psyche hat es mit einem Riesen und einem Dutzend Zwergen zu tun. Und je größer die Fortschritte in der Meditationspraxis werden, desto schlimmer wird das Ungleichgewicht. Man wird ziemlich "verdreht". Es wird einem gesagt, dass man seine meditativen Anstrengungen noch verstärken müsse, aber man gerät immer mehr aus den Fugen. Okay? Es scheint also nicht uninteressant zu sein, nach Wegen Ausschau zu halten, wie man in seinem Leben eine integralere Praxis verwirklichen kann, die das Beste alter Weisheit und moderner Erkenntnis miteinander vereint und das Kontemplative mit dem Konventionellen verbindet. Ich habe hier keine fertigen Antworten, aber ich hoffe, dass meine Bücher ein Anstoß zu einem solchen Dialog in gutem Glauben und mit gutem Willen sind. SUN: Sie sagten oben, dass Meditierende "ruhig meditieren" sollten. War das vielleicht etwas leichthin gesagt? Sie sind ja offenbar keineswegs der Meinung, dass Meditation allein genügt. KW: Nun, Sie haben ja auch nicht gefragt, ob ich der Meinung sei, dass Meditation allein genüge. Sie haben mich gefragt, was ich antworten würde, wenn jemand sagt: "Ich will in Ruhe meditieren." Meine Antwort war: "Meditiere in Ruhe." Ich möchte mich in niemandes Übungspraxis einmischen. Wenn Ihre Frage hingegen lauten würde: "Welche anderen Praktiken würden Sie Meditierenden empfehlen, um ihr Wachstum zu fördern?", dann würde ich mehr oder weniger die obige Antwort geben. Mit anderen Worten, eine wohl abgewogene Mischung östlicher kontemplativer Praktiken mit westlichen psychodynamischen Ansätzen wäre für mich eine interessante und gesunde Vorgehensweise. Möchte man eine umfassendere allgemeine Weltsicht, die absolute und relative Wahrheiten einschließt, dann kann der Westen hierzu gewiss eine Menge beitragen. Für sich genommen sind alle diese Ansätze nachweislich unvollständig. Aber wer all dies nicht annehmen will, braucht ja nicht mitzumachen. Aber ich meine doch, dass jeder zu diesem Tanz eingeladen ist. Es ist ein echter Shambhala-Ball. Wirklich. Chögyam Trungpas Shambhala-Vision war, wie ich sie verstehe, eine säkulare Integration des Dharma in die großen kulturellen Strömungen, in die er eingebettet war. Eine kurze Geschichte des Kosmos stellt viele dieser Strömungen in Umrissen dar und schlägt eine Möglichkeit vor, wie der Dharma diese Strömungen bereichern und selbst durch sie bereichert werden kann. Dies ist, wie ich meine, eine ganz einfache Sache. SUN: Zugestanden. Ich würde nun noch gerne einige technische Fragen stellen. KW: Bitte. SUN: Für den Anhänger asiatischer mystischer Traditionen ist die Tatsache besonders verwirrend, dass es im Westen vor der Aufklärung eine tausendjährige Tradition einer Kultur gab, deren Grundlage eine zutiefst mystische Religion war, das Christentum. In EKL sagen Sie jedoch, dass dieser Zeitraum von eintausend Jahren echte Transzendenz verhieß, aber dieses Versprechen niemals einlöste. Womit begründen Sie diese Auffassung? Wieso sollte eine ganze Kultur immer noch nicht ans Ziel gelangt sein, wenn dieser Gedanke doch bei Platon, im Corpus Hermeticum, im Neuplatonismus, im mystischen Christentum usw. so großartigen Ausdruck gefunden hat?
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KW: Stellen wir uns doch einmal vor, dass der Buddha an dem Tag, an dem er die Erleuchtung erlangte, verhaftet und wegen dieser Erleuchtung gehängt worden wäre. Und wenn einer seiner Anhänger behauptet hätte, dieselbe Erkenntnis zu haben, hätte man ihn ebenfalls gehängt. Ich persönlich würde dies nicht gerade als reizvoll betrachten. Aber genau dies geschah mit Jesus von Nazareth. "Warum steinigt ihr mich?", fragte er einmal. "Ist es wegen meiner guten Taten?" Und die Menge antwortete ihm: "Nein, sondern deshalb, weil du dich als Mensch zu Gott machst." Der individuelle Atman darf nicht die Erkenntnis haben, dass er eins mit Brahman ist. "Ich und mein Vater sind eins" – diese Erkenntnis brachte Jesus neben anderen komplexen Faktoren ans Kreuz. Es hat vielschichtige Gründe, aber die Tatsache bleibt: Sooft ein spirituell Suchender der Erkenntnis zu nahe kam, dass Atman und Brahman eins sind, dass der eigene GEIST seinem Wesen nach eins mit dem ursprünglichen GEIST ist, löste dies üblicherweise schwerste Konsequenzen aus. Natürlich gab es im Westen diese wunderbaren Strömungen des Neuplatonismus und andere hoch stehende Lehren im Hintergrund (und Untergrund), aber wo die Kirche politischen Einfluss hatte – und sie beherrschte im Westen eintausend Jahre lang das Bild –, begab man sich auf höchst gefährliches Terrain, wenn man die Grenze zwischen Atman und Brahman überschritt. Johannes vom Kreuz und Theresia von Avila überschritten diese Grenze, aber sie kleideten ihre Reisen in so wohl gesetzte und fromme Worte, dass sie so eben noch davonkamen. Meister Eckhart wagte sich etwas zu weit über diese Linie, und seine Lehren wurden offiziell verurteilt, weshalb zwar nicht er verdammt wurde, aber seine Worte. Giordano Bruno überschritt die Grenze bei weitem und wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Dies hatte Methode. SUN: Sie sagen, dass dies komplexe Gründe hatte, und ich bin davon überzeugt, aber könnten Sie noch einige davon kurz erwähnen? KW: Ich will Ihnen einen dieser Gründe nennen, der vielleicht der interessanteste ist. Die frühe Geschichte der Kirche war von reisenden "Pneumatikern" beherrscht, in denen "der Geist lebte". Ihre Spiritualität beruhte weitgehend auf unmittelbarer Erfahrung, einer Art Christusbewusstsein, wie man annehmen darf. ("Möge in euch jenes Bewusstsein sein, das in Jesus Christus war.") Man könnte ganz grob sagen, dass der Nirmanakaya eines Seelenpneumatikers den Dharmakaya Christi über den Sambhogakaya des transformierenden Feuers des Heiligen Geistes erkannte. Jedenfalls hatten sie einige sehr reale, sehr unmittelbare spirituelle Erfahrungen. Im Laufe der Jahrhunderte traten jedoch mit der Festlegung des Kanons und des apostolischen Glaubensbekenntnisses eine Reihe vorgeschriebener Glaubensvorstellungen an die Stelle der konkreten Erfahrung. Die Kirche wandelte sich langsam von einer Gemeinschaft der Pneumatiker zur Ekklesia der Gemeinde Christi, und der Vorsteher dieser Ekklesia war der örtliche Bischof, der das "rechte Dogma" besaß, nicht der Pneumatiker oder Prophet, der vielleicht den GEIST hatte, aber nicht überwacht werden konnte. Die Kirche definierte sich nicht mehr als die Versammlung der Erkennenden, sondern als die Versammlung der Bischöfe. Mit dem Anwalt Tertullian wurde das Verhältnis fast ein juristisches, und mit Cyprianus wurde die Spiritualität mit der Amtsgewalt der Kirche verknüpft. Priester konnte man nur mehr durch Ordination werden, nicht durch Erweckung. Ein Priester war nicht mehr deshalb heilig, weil er persönlich erweckt oder erleuchtet war, sondern weil er das Amt innehatte. Ebenso konnte man nicht mehr dadurch "erlöst" werden, dass man sich selbst erweckte, sondern nur durch die Teilnahme an den Sakramenten. Wie Cyprianus sagte: "Wer die Kirche nicht als Mutter hat, der kann nicht Gott zum Vater haben." Nun, das setzt der Sache doch einen Dämpfer auf, nicht wahr? Erlösung war jetzt in den Händen der Anwälte. Die Anwälte sagten letztlich: "Eine einzige Ausnahme machen wir, wenn dieser eine Überflieger wirklich unbedingt eins mit Gott werden will, aber damit hat es sich. Schluss mit diesem Gesäusel von reiner Einheit." SUN: Aber warum? KW: Hier ging es schlicht und einfach um politische Macht. Das Beunruhigende an unmittelbarer mystischer Erfahrung ist ja, dass sie einem unmittelbar vom GEIST her zuteil wird, womit der Mittler, d.h. der Bischof, übergangen wird, ganz zu schweigen von dessen Klingelbeutel. Es ist derselbe Grund, weshalb Ölmultis keine Sonnenenergie mögen. Deshalb wurde jeder, der eine direkte Verbindung zu Gott hatte, nicht nur der religiösen Häresie schuldig gesprochen, eines Verstoßes gegen die Gesetzescodes der Kirche, wofür die himmlische Seele der ewigen Verdammnis überantwortet werden konnte, sondern auch des politischen Verrats, wofür der irdische Körper gevierteilt werden konnte. Aus all diesen Gründen war das Summum Bonum des spirituellen Bewusstseins, die höchste Einheit von Atman und Brahman oder von gewöhnlichem Geist und innerem GEIST, im Westen eintausend Jahre lang mehr oder weniger offiziell tabu. Natürlich gab es all die wunderbaren Strömungen, die Sie erwähnt haben, vom Neuplatonismus bis zur Hermetik, aber sie waren Randerscheinungen, um es vorsichtig auszudrücken. Deshalb hat der Westen eine außerordentliche Zahl von Mystikern der subtilen Ebene (Sambhogakaya) hervorgebracht, die nur behaupteten, dass die Seele sich mit Gott vereinigen könne, aber sehr wenige kausale (Dharmakaya) und sehr wenige nichtduale (Svabhavikakaya) Mystiker, die darüber hinausgingen und nicht nur eine Vereinigung, sondern die höchste Identität von Seele und Gott in der reinen Gottheit behaupteten. Aber wer dies nur auszusprechen wagte, trat den Gang auf den Rost an. SUN: Ich möchte noch bei einigen dieser tieferen Strömungen bleiben, die an den Rand gedrängt wurden. Wie hängt der platonische Begriff der "Wiedererinnerung" mit Erleuchtung zusammen? Seit ich den Menon gelesen habe, glaube ich, dass es einen solchen Zusammenhang geben müsse. Aber es wurde mir nie ganz klar, worin er bestand. KW: Ja, ich glaube, dass es hier einen sehr direkten Zusammenhang gibt. Wenn man einmal annimmt, was ich hier ja gefahrlos tun kann, dass jedes fühlende Wesen den Buddha-Geist hat, und wenn wir uns weiterhin darauf verständigen, dass man mit der Erleuchtung nicht diesen Geist erlangt, sondern ihn bloß anerkennt, dann ist es dasselbe, ob man sagt, dass Erleuchtung die Wiedererinnerung an den Buddha-Geist ist, oder die unmittelbare Erkenntnis oder Wiedererkenntnis der reinen Leerheit. Mit anderen Worten, man kann die Buddha-Natur ebenso wenig erlangen, wie man seine Füße erlangen kann. Man kann nur an sich hinabsehen und feststellen, dass man Füße hat, man kann sich daran erinnern, dass man sie hat. Manchmal, wenn man glaubt, keine Füße zu haben, ist es gut, wenn jemand vorbeikommt und einen darauf aufmerksam macht. Zen-Meister helfen hier gerne. Wenn man ernsthaft behauptet: "Ich habe keine Füße", dann wird einem der Meister kräftig auf die Zehen treten und abwarten, wer da laut schreit. Dann sieht er einen an und sagt: "Keine Füße, was?" Diese "hinweisenden Darlegungen" verweisen nicht auf etwas, was wir nicht haben und erwerben müssen, sondern auf etwas, was jetzt in diesem Augenblick ganz und vollständig vorhanden ist, aber wir haben es vielleicht vergessen. Erleuchtung ist im Grunde nichts weiter als die schlichte Erinnerung an die eigenen Füße, die Feststellung, dass dieses schlichte, klare, allgegenwärtige Gewahren die ursprüngliche Reinheit ist, wie sie eben ist. In diesem Sinne ist es unzweifelhaft eine schlichte Wiedererinnerung. SUN: Und Sie glauben, dass Platon tatsächlich diese Art von Erkenntnis hatte? KW: Ja. Dies wird bei den späteren neuplatonischen Lehrern völlig klar, und in diesen Dingen fällt der Apfel selten weit vom Stamm. Platon selbst sagt, dass wir einst ganz waren, aber durch ein "Vergessen" aus dieser Ganzheit fielen. Von dieser Zersplitterung
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können wir "genesen", wenn wir uns daran erinnern, wer und was wir wirklich sind. Ihm zufolge ist Erleuchtung nicht etwas, das man wie andere Wissenszweige in Worte kleiden könne; nur durch eine lange Partnerschaft in einer (kontemplativen) Gemeinschaft würde diese Wahrheit in der Seele aufleuchten, wie eine Flamme von einem Funken entzündet wird. Er selbst wollte sich in keiner Schrift jemals dazu äußern. SUN: Reine Wortlosigkeit. KW: Ja. Etwas ganz Ähnliches wie: "Eine besondere Übertragung außerhalb der Schriften; nicht von Worten oder Buchstaben abhängend; direktes Verweisen auf den GEIST; Wahrnehmung der eigenen Natur und Erkenntnis der Buddhaschaft." Man muss natürlich mit vorschnellen Vergleichen vorsichtig sein, aber wenn wiederum alle fühlenden Wesen Buddha-Geist besitzen, und wenn man nicht dafür umgebracht wird, dass man sich daran erinnert, dann ist es durchaus wahrscheinlich, dass Seelen wie Parmenides, Platon und Plotin sich daran erinnerten, wer und was sie in der Soheit waren. Ja, es ist wirklich ein einfaches Erinnern, wie man in den Spiegel blickt und sagt: "Ach so!" Wie die Philosophia zu Boethius in seinem Leid sagte: "Du hast vergessen, wer du bist." SUN: Ich möchte Sie gerne noch etwas Spezifisches über den Zusammenhang zwischen höchster und relativer Wahrheit fragen. Sie sagten, dass die Lehren des Buddha für die Erkenntnis der höchsten Wahrheit vollkommen angemessen sind, aber dass sich die relative Manifestation ständig ändert, weil "die Leerheit unterschiedliche Formen annimmt". Aber den buddhistischen Lehren zufolge gibt es nur eine Intelligenz. In den Ati-Tantras heißt sie Rigpa. Man kann wohl sagen, dass dies grundsätzlich dasselbe ist wie Vipashyana oder prajna. Es würde mich interessieren, welche Meinung Sie bezüglich dieser einen Intelligenz haben. Ist es dieselbe Intelligenz, die die Infinitesimalrechnung begreift? Ist es dieselbe Intelligenz, die die Quantenphysik entdeckt? Ist es dieselbe, mit der Mikrobiologen das menschliche Genom entschlüsseln? KW: Worauf wollen Sie hinaus? SUN: Es handelt sich angeblich um dieselbe "Intelligenz", aber diese Intelligenzen sehen nicht gleich aus. Diese wissenschaftlichen und philosophischen Lehren des Westens scheinen Formen einer relativen Wahrheit zu sein, die in Asien nicht entdeckt wurden. Sie sind offensichtlich der Meinung, dass die Asiaten weltweit die Spezialisten für die Entdeckung oder Beschreibung des Geistes sind, der die Leerheit erkennt. Aber wie kann man dies miteinander versöhnen, wenn es doch nur eine Intelligenz gibt? Auf den Punkt gebracht: Warum hat Rigpa nicht die Infinitesimalrechnung, die Quantenphysik oder die DNA entdeckt? KW: Weil es nicht nur eine Intelligenz gibt, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie Sie dies meinen. Selbst im Madhyamaka, wo sich ja die Lehre von den zwei Wahrheiten findet, gibt es zwei Erkenntnismodi, samvritti, die für die relativen Wahrheiten der Naturwissenschaft und Philosophie zuständig ist, und paramartha, die Erkenntnis der reinen Leerheit. Jegliche relative Manifestation wird durch Rigpa erleuchtet, die eine Intelligenz im ganzen Universum, was ja völlig richtig ist. Aber innerhalb dieses absoluten Raums der Leerheit/Rigpa entstehen die verschiedensten relativen Wahrheiten, relativen Objekte und relativen Erkenntnisse, und die Leerheit/Rigpa erleuchtet sie alle gleichermaßen. Sie ist unparteiisch und geht in keine bestimmte Richtung. Sie kann auch in keine bestimmte Richtung gehen, weil es außerhalb von ihr nichts gibt. SUN: Kann man dies nicht zu einer Aussage konkretisieren, ob es nun nur eine Intelligenz gibt oder nicht? KW: Es ist eine Intelligenz, die in vielen verschiedenen Formen aufleuchtet. Wie die christlichen Mystiker sagen, haben wir das Auge des Fleisches, das Auge des Geistes und das Auge der Kontemplation, und diese werden alle von Rigpa, von der einen Intelligenz oder dem Großen Geist erleuchtet; trotzdem haben sie alle ihren eigenen Bereich, ihre eigenen Wahrheiten, ihre eigenen Erkenntnisse. Vor allen Dingen gilt, dass man, wenn man hinsichtlich eines dieser "Augen" sehr weit fortgeschritten ist, deshalb nicht notwendigerweise auch die anderen beherrscht. Es sind, wie wir gesagt haben, voneinander relativ unabhängige Ströme. SUN: Das Auge der Kontemplation kann also die absolute Wahrheit oder Leerheit enthüllen, das Auge des Geistes und das Auge des Fleisches nur eine relative Wahrheit und herkömmliche Wirklichkeiten. KW: Ja, ich denke, dass man diese doch sehr komplexen Fragen in etwa so zusammenfassen kann. Die traditionelle Analogie, die man schon nicht mehr hören kann, ist ja das Meer und seine Wellen, aber sehen Sie es mir nach. Die Nässe des Wassers ist die Soheit (oder der GEIST). Alle Wellen sind gleichermaßen nass. Eine Welle ist nicht nasser als eine andere. Wenn ich also die Nässe einer beliebigen Welle entdecke, habe ich die Nässe aller Wellen entdeckt. Wenn ich die Soheit oder Leerheit unmittelbar erkenne, die Nässe meines eigenen Wesens, hier und jetzt, dann habe ich zugleich die höchste Wahrheit aller anderen Wellen entdeckt. Die Leerheit ist nicht eine besonders große Welle, die anders wäre als die kleinen Wellen, sondern sie ist die Nässe, die in allen Wellen gleichermaßen vorhanden ist, in hohen und flachen, in heiligen und profanen, und deshalb taugt die Leerheit nicht dazu, eine Welle gegenüber einer anderen herauszuheben. Bei der Erleuchtung geht es also nicht darum, eine wirklich große Welle zu erwischen, sondern darum, die immer schon bestehende Nässe der Welle zu erkennen, auf der man sich befindet. Darüber hinaus wird man dann von der engen Identifizierung mit dieser kleinen Welle namens Ich befreit, weil ich grundsätzlich eins mit allen anderen Wellen bin – es gibt keine Nässe außerhalb meiner selbst. Ich bin ganz buchstäblich Ein Geschmack mit dem ganzen Meer und allen seinen Wellen. Dieser Geschmack ist Nässe, Soheit, Leerheit, die höchste Durchscheinendheit der großen Vollkommenheit. Zugleich aber kenne ich nicht alle Einzelheiten aller anderen Wellen, ihre Höhe, ihr Gewicht, ihre Zahl usw. Diese relativen Wahrheiten müssen Welle für Welle entdeckt werden, und dies hat kein Ende. Kein Sutra der Nässe kann und wird darüber Aufklärung geben. Und kein Tantra des Feuchten wird mir hierzu Hinweise geben. Deshalb habe ich oben auch gesagt, dass Kontemplation für die höchste Wahrheit genügt: Sie zeigt einem unmittelbar die Nässe aller Wellen, die radikale Soheit aller Erscheinungen, die Leerheit im Herzen des Kosmos selbst, die ursprüngliche Reinheit, die das eigene innere Gewahrsein jetzt genau in diesem Augenblick ist. Meditation kann und wird nichts über alle Details der verschiedenen Wellen sagen, die aber trotzdem als das endlose Spiel der Leerheit entstehen. Wie Sie sagen, führt dies nicht automatisch zur Infinitesimalrechnung, zum menschlichen Genom oder zur Quantenphysik. Historisch ist dies auch nicht geschehen, und wir sollten daraus unsere Schlüsse ziehen. SUN: Ich habe noch eine Frage zur Großen Kette des Seins. Es scheint mir, dass diese etwas mit demjenigen zu tun haben könnte, was Sie über Manifestation und relative Wahrheit sagten. KW: Ja, dies sind ganz ähnliche Begriffe. Die Theoretiker der Großen Kette von Yogachara und Vedanta im Osten bis zum Neuplatonismus und der Kabbala im Westen sagen, dass die Leerheit (oder das "Eine", d.h. das Nichtduale) sich in aufeinander folgenden Dimensionen, Ebenen, Koshas oder Vijnanas – oder "Wellen" – manifestiert, als ein Spektrum des Seins und Bewusstseins. Das Spektrum der Ebenen ist die relative oder manifeste Wahrheit, und der weite Raum, in dem das Spektrum aufscheint, die Leerheit oder absolute Wahrheit. Letztlich sind das Absolute und das Relative "nicht-zwei" oder nichtdual, weil die Leerheit nicht ein von anderen Dingen getrenntes Ding, sondern die Soheit aller Dinge ist, die Nässe aller Wellen. Rigpa ist der Blitz, die Erkenntnis dieser nichtdualen
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Soheit, die Schlichtheit des gegenwärtigen klaren, gewöhnlichen Bewusstseins – die Öffnung oder Lichtung, in der die ganze Welt entsteht, einfach so. Dies ist natürlich nicht bloß eine abstrakte Vorstellung. Der Eine Geschmack ist eine schlichte, unmittelbare, klare Erkenntnis, durch die vollkommen offensichtlich wird, dass man nicht den Himmel sieht, sondern der Himmel ist. Man berührt nicht die Erde, man ist die Erde. Der Wind weht nicht um einen, sondern in einem. Dies ist einfach der Eine Geschmack: Man kann den Pazifik in einem einzigen Schluck austrinken und das Universum am Stück schlucken. Supernova werden im eigenen Herzen geboren und sterben, und Galaxien kreisen endlos, wo man seinen Kopf wähnte, und all dies ist so einfach wie das Zwitschern eines Zaunkönigs an einem kristallklaren Morgen. SUN: Dies sind die verschiedenen Formen der Leerheit, die verschiedenen Wellen der Großen Vollkommenheit. KW: Ja, in der relativen Welt tauchen ständig neue Wahrheiten auf, und sie tauchen in der Leerheit auf, in dieser strahlend klaren Lichtung, die das eigene Bewusstsein in eben diesem Augenblick ist. Und ob dasjenige, was im weiten Raum des eigenen ursprünglichen Bewusstseins auftaucht, Infinitesimalrechnung, Physik, Töpferei oder die Technik der Herstellung von Yak-Butter ist, hängt von tausend relativen Wahrheiten und relativen Kräften ab, die für sich genommen niemals mit der Leerheit gleichgesetzt werden dürfen. Und doch sind sie alle Gesten der Großen Vollkommenheit oder Leerheit selbst, und all dies entsteht in diesem schlichten, klaren, allgegenwärtigen Bewusstsein, der Nässe oder der Durchscheinendheit des eigenen Wesens. Innerhalb der "Einen Intelligenz" oder des "Großen Geistes" entstehen also alle Arten kleiner Geister und geringerer Intelligenzen – dies ist die Große Kette –, und diese relativen Wahrheiten haben wie die Wolken am Himmel und die Wellen im Ozean ein Rendezvous mit ihrem eigenen relativen Karma und ein Stelldichein mit ihrem eigenen Schicksal. Der Westen hat seine relativen Wahrheiten und der Osten die seinen. Vor allem im Osten findet man darüber hinaus ein klares Verständnis der absoluten Wahrheit, weil es nicht sein Schicksal war, an der Erfindung des Toasters zu tüfteln. Mein Thema ist die kluge Verbindung relativer Wahrheiten, derjenigen des Ostens und derjenigen des Westens, im ursprünglichen Kontext der radikalen Leerheit, weil ich dies für eine sehr vernünftige Einstellung gegenüber der Situation des Menschen halte.
Sonntag, 21. Dezember Es gibt brandaktuelle Neuigkeiten zur nationalen Astrologie-Diskussion. Ivan Kelly hat mir ein Exemplar seiner Arbeit "Moderne Astrologie: Eine Kritik" geschickt, und ich muss sagen, dass ihr Ergebnis für die Astrologie ziemlich verheerend ist. Am Ende unserer letzten Diskussion über die Astrologie hing diese nur noch am seidenen Faden der Gauquelin-Studien. Will Keepin führte die anekdotischen Befunde ins Feld, die Tarnas und Grof sammelten, aber Roger verwies darauf, dass diese Studien "nicht kontrolliert (d.h. ohne eine Kontrollgruppe), nicht blind (d.h. die Versuchsleiter kennen üblicherweise die Identität der Versuchspersonen), retrospektiv (Bewertung nach Eintritt der Ereignisse) und ohne eine Prüfung der Zuverlässigkeit der Messverfahren" durchgeführt wurden. Mit anderen Worten, den Studien von Grof und Tarnas kommt keine Beweis- und nicht einmal Aussagekraft zu, und sie bleiben so lange voreingenommen und anekdotisch, bis die von Roger verlangten Kontrollen sorgfältig eingehalten werden. Die Gauquelin-Studien wiederum beeindruckten Anhänger und Kritiker gleichermaßen, auch wenn es die einzigen waren. Auf der Grundlage dieser Befunde – und weil man sich immer den Befunden beugen muss – schlug ich eine Theorie vor, die die von Gauquelin beobachteten Wirkungen erklären könnte. Im Gegensatz zu Keepins Auffassung, derzufolge die Wirkung der Gestirne von der Weltseele (der psychischen Ebene) ausging und über eine Abwärtskausalität die individuelle Seele (oder Charaktermerkmale) beeinflusst, schlug ich vor, dass sie von einer bloß physischen Ebene (Erdmagnetismus, Schwerkraft) ausginge und über eine Aufwärtskausalität eine geringe, aber wahrnehmbare Wirkung (über hormonelle oder neuronale Einflüsse) auf individuelle Seelen (oder Charaktermerkmale) hätte. Ich vertrete diese Hypothese nach wie vor, aber nur dann, wenn das Datenmaterial von Gauquelin in Ordnung ist. Wenn nicht, dann ist die Astrologie in allen ihren Formen aus empirischer Sicht gescheitert, und man braucht überhaupt keine erklärende Hypothese mehr. Kellys Arbeit entnehme ich, dass P. Seymour vor kurzem den Versuch unternahm, "die Befunde Gauquelins mit Hilfe eines Wirkmechanismus zu untermauern, der von einer Reaktion unseres Nervensystems auf Schwankungen des Magnetfelds der Erde beruht, das wiederum in einer Wechselwirkung mit den Schwerkraftfeldern der Planeten steht". Dies entspricht ganz meinem Vorschlag. Aber wie Kelly zeigt, sind dies zwar plausible Hypothesen, die aber nicht von den Befunden gestützt werden. Schlimmer noch, sie hängen von der Zuverlässigkeit der ursprünglichen Daten Gauquelins ab, die keineswegs über jeden Zweifel erhaben sind, sondern heute heftig angegriffen werden. Unter anderem scheint der niederländische Mathematiker Nienhuys die Grundlage der von Gauquelin beobachteten Wirkungen nachhaltig erschüttert zu haben. Ich bin nach wie vor bereit, mich den Befunden zu beugen, aber ich muss sagen, dass nach dem gegenwärtigen Stand alle Befunde gegen die Astrologie in jeglicher Form sprechen. Wenn die Daten Gauquelins in Ordnung sind, kehre ich zu meiner ursprünglichen magnetischen Hypothese zurück; zum gegenwärtigen Zeitpunkt scheint es, dass die Astrologie ein Glaube ohne Grundlage ist. Ich verstehe die Sehnsucht der Menschen, die sich der Astrologie zuwenden, um eine Verbindung zum Kosmos zu bekommen. Aber sie täten besser daran, sich dem Kosmos zuzuwenden. Statt auf eine Verbindung der physischen Planeten mit ihrem persönlichen Ich auf der grobstofflichen Ebene zu spekulieren, sollten sie besser ihr Bewusstsein langsam in Richtung der transpersonalen Reiche entwickeln. Sie sollten nicht die horizontale Verbindung zu physischen Planeten suchen, sondern eine vertikale Verbindung zu Seele und Geist, zum Subtilen und Kausalen, zum Höchsten und Nichtdualen. Der spirituelle Impuls, der sich hinter der Astrologie verbirgt und auf den Kosmos zielt, muss in den Kosmos freigesetzt werden, in jene höchste Umarmung, die die Planeten in ihrer Handfläche hält und Galaxien mit dem Fuß zum Kreisen bringt. Nicht Psyche und Kosmos, sondern Psyche und Kósmos bergen das Geheimnis zur ersehnten Verbundenheit.
Donnerstag, 25. Dezember Marci und ich verbrachten den Tag allein. Herrlich.
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Montag, 29. Dezember Das Jahr neigt sich dem Ende zu; es stirbt, wie es traditionell heißt. Der Tod: Die Mystiker sind sich einig, dass der Tod das Geheimnis zum Leben enthält, zum ewigen Leben. Wie Meister Eckhart im Einklang mit vielen anderen Mystikern sagte: "Niemand hat so viel von Gott wie derjenige, der ganz und gar tot ist." Oder Ramana Maharshi: "Du wirst zur rechten Zeit erfahren, dass deine Herrlichkeit dort liegt, wo deine Existenz endet." Oder das Zenrin: "Lebe, solange du lebst, als Toter, ganz und gar." Damit ist natürlich nicht der physische Tod gemeint, sondern der Tod der Empfindung eines getrennten Selbst. Sein spirituelles Bewusstsein hinsichtlich des Todes kann man prüfen, indem man versucht, sich in Folgendes einzudenken: 1. Ein berühmtes Zen-Koan lautet: "Zeige mir dein ursprüngliches Antlitz, das Antlitz, das du hattest, bevor deine Eltern geboren wurden." Dies ist keine Scherzfrage und auch keine symbolische Frage: Sie ist genau so gemeint, und es gibt eine klare und einfache Antwort darauf. Dieses ursprüngliche Antlitz ist einfach der reine formlose Zeuge, der vor der manifesten Welt war. Der reine Zeuge, der selbst zeitlos oder vor der Zeit ist, ist zu allen Zeitpunkten gleichermaßen gegenwärtig. Genau dies ist das Selbst, das man hatte, bevor die eigenen Eltern geboren wurden, und es ist auch das Selbst, das man vor dem Urknall hatte. Es ist das Selbst, das man schließlich haben wird, nachdem sich der Körper und das ganze Universum aufgelöst haben werden. Dieses Selbst existierte vor den eigenen Eltern, vor dem Urknall, weil es vor der Zeit existierte. Und man kann unmittelbaren Kontakt zu diesem Selbst aufnehmen, das man hatte, bevor die eigenen Eltern geboren waren, indem man einfach jetzt in diesem Augenblick im reinen Zeugen ruht. Sie sind ein und dasselbe formlose Selbst, jetzt und jetzt in diesem Augenblick. Indem man sich "vorzustellen" versucht, was man war, bevor die eigenen Eltern geboren wurden, ist man gezwungen, jegliche Identifikation mit dem gegenwärtigen Körper und dem Ich fallen zu lassen. Man ist gezwungen, in sich dasjenige zu finden, was letztlich über einen hinausgeht, nämlich den reinen, leeren, formlosen, zeitlosen Zeugen, das ursprüngliche Selbst. Insoweit man wirklich als der zeitlose Zeuge ruhen kann ("ich bin nicht dies, nicht das"), ist man dem getrennten Selbst gestorben und hat man das ursprüngliche Antlitz entdeckt, das man hat, bevor die eigenen Eltern geboren wurden, bevor der Urknall geboren wurde, bevor die Zeit geboren wurde. Man hat das große Ungeborene gefunden, das einfach das ist. 2. Ebenso kann man sich vorstellen, wie die Welt einhundert Jahre nach dem eigenen Tod aussehen wird. Man braucht sich keine Details vorzustellen, sondern man macht sich einfach klar, dass die Welt in einhundert Jahren noch sein wird, wenn man selbst nicht mehr sein wird. Man stellt sich diese Welt ohne einen selbst vor. So vieles wird sich geändert haben: andere Menschen, eine andere Technik, andere Autos und Flugzeuge – aber eines wird sich nicht geändert haben, eines wird gleich geblieben sein: die Leerheit, der Eine Geschmack, der GEIST. Und diesen Geschmack kann man jetzt in diesem Augenblick kosten. Derselbe formlose Zeuge wird aus allen Augen blicken, mit allen Ohren hören, mit allen Händen berühren, derselbe formlose Zeuge, der jetzt in diesem Augenblick das eigene ursprüngliche Selbst ist, derselbe Eine Geschmack, den man jetzt in diesem Augenblick hat, derselbe leuchtende GEIST, den man jetzt in diesem Augenblick hat. Warst du vor tausend Jahren ein anderer? Wirst du in eintausend Jahren ein anderer sein? Was ist dieses eine Selbst, das für alle Zeiten das eigene tiefste Wesen ausmacht? Muss man den Lügen der Zeit glauben, muss man den Unsinn hinnehmen, dass es den Einen GEIST nicht gibt? Kannst du mir jetzt in diesem Augenblick dein ursprüngliches Antlitz zeigen, von dem es nur ein einziges in der ganzen Welt gibt? Hören wir Erwin Schrödinger, den Nobelpreisträger und Mitbegründer der Quantenmechanik, und wie kann ich den Leser davon überzeugen, dass er dies wörtlich meint? "Bewusstsein gibt es seiner Natur nach nur in der Einzahl. Ich möchte sagen: die Gesamtzahl aller 'Bewusstheiten' ist immer bloß 'eins'". WARST DIES NICHT DU, DEIN URSPRÜNGLICHES SELBST? Bist du nicht die Menschheit selbst? Bist du nicht in Verbindung mit allem Menschlichen, weil du sein einziger Zeuge bist? Liebst du nicht deshalb die Welt, alle Menschen und den Kosmos, weil du sein einziges Selbst bist? Weinst du nicht, wenn ein einziger Mensch leidet, weinst du nicht, wenn ein einziges Kind hungert, schreist du nicht auf, wenn eine einzige Seele gequält wird? Du weißt, dass du leidest, wenn andere leiden. Du weißt das jetzt schon! "War es ein anderer? Warst dies nicht du selbst?" 3. Indem man darüber nachdenkt, was man vor eintausend Jahren war und in eintausend Jahren sein wird, lässt man die Identifikation mit dem gegenwärtigen Körper und Ich los und findet in sich selbst, was über einen selbst hinausgeht, nämlich das reine, formlose, zeitlose Selbst, den Zeugen der ganzen Welt. Einmal alle 24 Stunden lässt man seine egoistische Identität vollständig fallen, und zwar nicht als abstrakte Übung, sondern ganz konkret. Jede Nacht ist man im traumlosen Tiefschlaf wieder in das formlose Reich eingetaucht, in das Reich des reinen Bewusstseins ohne Objekt, in das Reich des formlosen, zeitlosen Selbst. Deshalb sagte Ramana Maharshi: "Was nicht im traumlosen Tiefschlaf gegenwärtig ist, ist nicht wirklich." Das Wirkliche muss in allen drei Zuständen gegenwärtig sein, auch im traumlosen Tiefschlaf, und das Einzige, das in allen drei Zuständen gegenwärtig ist, ist das formlose Selbst, das reine Bewusstsein. Jede Nacht erstirbt man dieser Empfindung eines getrennten Selbst, erstirbt man dem Ich und ist man wieder in den Ozean der Unendlichkeit eingetaucht, der das eigene ursprüngliche Antlitz ist. Das Selbst, das man hatte, bevor die Eltern geboren wurden, das Selbst, das man in einhundert Jahren haben wird, und das Selbst, das man im traumlosen Tiefschlaf hat – sie alle verweisen auf eines und dasselbe: den zeitlosen Zeugen in einem selbst, der über einen selbst hinausgeht, die reine Leerheit, die eins mit aller Form ist, das ursprüngliche Selbst, das das All im radikalen Einen Geschmack umschließt. Das, das einfach das ist, hat sich nie verändert und wird sich nie verändern, weil es niemals in den verderblichen Strom der Zeit mit all seinen Tränen und seinen Schrecken eintritt. Der endgültige "spirituelle Test" ist also letztlich die Beziehung zum Tod (denn alle drei genannten Fälle sind Formen des Todes). Möchte man den "ndgültigen Wahrheitsgehalt" desjenigen erfahren, was man jetzt in diesem Augenblick tut, dann braucht man dieses lediglich einer dieser Prüfungen zu unterwerfen. Astrologie? Wenn sie nicht im traumlosen Tiefschlaf vorhanden ist, dann ist sie nicht wirklich. Mit den Wölfen laufen? Wenn dies nicht in einhundert Jahren vorhanden ist, dann ist es nicht wirklich. Fürsorge für die Seele? Wenn dies nicht im traumlosen Tiefschlaf vorhanden ist, ist es nicht wirklich. Heilung des inneren Kindes? Wenn dies nicht vor der Geburt der eigenen Eltern vorhanden ist, ist es nicht wirklich. Erinnerung an frühere Leben? Wenn dies nicht im traumlosen Tiefschlaf vorhanden ist, ist es nicht wirklich. Fasten zur spirituellen Läuterung? Wenn dies nicht in einhundert Jahren vorhanden ist, ist es nicht wirklich. Gaia-Verehrung? Wenn es nicht im traumlosen Tiefschlaf vorhanden ist, ist es nicht wirklich.
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Gegen alle diese relativen Praktiken und translativen Überzeugungen ist nichts einzuwenden, aber man darf nie vergessen, dass sie gegenüber dem Großen Ungeborenen, dem ursprünglichen Antlitz, dem Antlitz des GEISTES in allen seinen leuchtenden Formen nebensächlich ist, den Formen des eigenen Seins und Werdens, jetzt und immer und alle Zeit und immer schon. "War es ein anderer? Oder warst es nicht du selbst?"
Mittwoch, 31. Dezember – Denver Marci und ich verbrachten Sylvester in unserem Lieblingsversteck, dem Oxford Hotel in LoDo, Denver. Abendessen bei Jax's, Drinks an der Cruise Bar, um Mitternacht eine Umarmung, ein Begrüßungskuss für das neue Jahr.
Donnerstag, 1. Januar 1998 – Boulder Vor einem Jahr überlegte ich, was ich mit Naturwissenschaft und Religion anfangen sollte. Es war ziemlich viel los im vergangenen Jahr. In zwei Wochen werde ich nach Manhattan gehen, um mit einigen wichtigen Rezensenten zusammenzutreffen: Ann hat dies für mich arrangiert. Im März werde ich in sechs Städten Lesungen halten, nicht viel, aber für mich etwas Neues. Ich werde gewiss noch Marci lieben, eine der schönsten Frauen und liebsten Seelen, die mir je begegnet sind. Ich werde die Gesammelten Werke herausgeben und mich durch die Literatur für Band 2 hindurcharbeiten. Dann werden es noch neun Monate bis zu meinem fünfzigsten Geburtstag sein. Und nichts davon ist natürlich im traumlosen Tiefschlaf, in eintausend Jahren, vor der Geburt meiner Eltern oder im formlosen Reich selbst vorhanden, wo Ich-Ich alleine scheint, wo die Ichheit die zeitlose Welt bis in alle Unendlichkeit ausfüllt. Mit anderen Worten, nichts davon rührt an die reinste Leerheit, die allein wirklich ist, die mein Wesen in Wonne badet und meinen Geist sich zum Himmel erheben lässt. Und doch ist all dies eine mitleidsvolle Geste meines wahren Selbst, des Selbst eines jeden Wesens, ausnahmslos und ohne Begrenzung, des Selbst von allem, was wahrhaft ist und wahrhaft jemals sein wird. Es ist ja immer schon ungeschehen gemacht und immer schon vorbei. Im schlichten Gefühl des Seins werden Welten geboren und sterben – sie leben und tanzen und singen eine Weile und fallen dann wieder dem Vergessen anheim; nichts geschieht je wirklich in der schlichten Welt des Einen Geschmacks. Tausend Formen werden kommen und gehen, Millionen Welten werden entstehen und vergehen, Milliarden Seelen werden lieben und lachen, sich sehnen und sterben, und der Eine Geschmack wird sie alle umschließen. Ich-Ich wird da sein, wie Ich-Ich immer da war, um Zeuge des Aufstiegs und wunderbaren Niedergangs meiner unendlich einfachen Welten zu sein, die jetzt und allzeit geschehen. Und dann werde ich vielleicht einfach wieder hier stehen, wieder den Sonnenuntergang durch den feinen Regen beobachten, der jetzt leise niedergeht.
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Anhang Abbildungsverzeichnis Abbildung 1 Die große Verschachtelung des Seins. Der GEIST ist sowohl die höchste Ebene (kausal) als auch der nichtduale Urgrund aller Ebenen. Abbildung 2 Die vier Quadranten Abbildung 3 Ebenen des Wahren, Guten und Schönen Abbildung 4 Die heilende Spirale Abbildung 5 Das integrale Psychogramm Abbildung 6 Das integrale Psychogramm als Holarchie Abbildung 7 Die Entwicklung der frontalen Persönlichkeit (Ich), der tieferen psychischen Persönlichkeit (Seele) und des Zeugen (Selbst)
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Anmerkungen 1 Text in eckigen Klammern wurde für die Veröffentlichung hinzugefügt; Text in runden Klammern ist im Tagebuch so enthalten. Alle Fußnoten wurden für die Veröffentlichung hinzugefügt. 2 Band 1 ist Eros, Kosmos, Logos. Band 2 hat den vorläufigen Titel Sex, God and Gender: The Ecology of Men and Women; hieran arbeite ich derzeit. Band 3 liegt in Umrissen fest; der vorläufige Untertitel lautet The Spirit of Post/Modernity). 3 K.W. bezieht sich hier auf den Titel The Outcasts of Poker Flat des genannten Autors. (Anm. d. Übers.) 4 Edward Gibbon schrieb von 1766-1787 an dem sechsbändigen Werk "Verfall und Untergang des Römischen Reiches" (Anm. d. Übers.) 5 Siehe http://www.cs.virginia.edu/oracle/ (Anm. d. Übers.) 6 Da der Begriff "Kosmos" heute zum Synonym von "Universum" geworden ist und damit nur der physische Weltraum gemeint ist, benutzt Wilber "Kósmos" im alten pythagoreischen Sinn für die Gesamtheit aller Seinsbereiche "von der Materie bis zur Mathematik und zum Theos". (Anm. d. Übers.) 7 Eine deutsche Ausgabe dieser Halbjahreszeitschrift erscheint seit 1999 unter dem Titel Was ist Erleuchtung? (Anm. d. Übers.) 8 Von der Micky Mouse zum Weltkonzern; Co-Autor ist Tony Schwartz. Siehe auch den Eintrag für den 22. Januar. (Anm. d. Übers.) 9 Als sich abzuzeichnen begann, dass ich dieses Tagebuch möglicherweise veröffentlichen würde, erwog ich, diese Briefe wegzulassen, weil sie so schmerzhaft persönlich sind. Aber ich sah schließlich davon ab, weil sie unauslöschlicher Bestandteil meines Lebens sind, mit einer redaktionellen Ausnahme: Die Beglückwünschungen des Verfassers habe ich aus den Briefen gestrichen, weil sie das übliche Maß dessen, was ein Autor an Lob seiner Person veröffentlichen soll, überstiegen hätten. Es versteht sich von selbst, dass die meisten Menschen, die mir wegen Mut und Gnade schreiben, dankbar sind, aber ich möchte die Geschichten dieser Menschen in den Vordergrund stellen, nicht ihre Dankbarkeit. 10 Dies nenne ich im Unterschied zu luzidem Träumen "pelluzides Träumen". Sehr oft benutze ich einfach den geläufigen Ausdruck "luzides Träumen". Damit meine ich aber praktisch immer pelluzides Träumen. Weiterhin spreche ich auch von pelluzidem Tiefschlaf, womit stilles Bezeugen im Zustand des traumlosen Tiefschlafs gemeint ist. 11 Dieser Aufsatz findet sich im ersten Kapitel von Das Wahre, Schöne, Gute. 12 Dieser Aufsatz Findet sich im zweiten Kapitel von Das Wahre, Schöne, Gute. 13 Clinton. Michael Lerner war in der Amtszeit von Bill Clinton Berater des Weißen Hauses. (Anm. d. Übers.) 14 Diese integrale Theorie der Semiotik findet sich in Das Wahre, Schöne, Gute, Kapitel 5. 15 "How Shall We See Art?", in: Andrew Wyeth: Americas Painter, von Martha R. Severens, mit einem Essay von Ken Wilber (New York, 1996). Nachdruck in Das Wahre, Schöne, Gute, Kap. 4 und 5. 16 Ein Holon ist ein Ganzes, das zugleich Teil anderer Ganzer ist. Die Welt ist grundsätzlich aus Holons aufgebaut: Ein ganzes Atom ist Teil eines Moleküls, das ganze Molekül Teil einer Zelle, die ganze Zelle Teil eines Organismus, der ganze Organismus Teil eines Ökosystems usw. Holons sind holarchisch organisiert, wobei jedes höhere Holon die niedrigeren transzendiert und zugleich einschließt: Organismen enthalten Zellen, diese Moleküle und diese Atome (aber nicht umgekehrt), und deshalb handelt es sich um eine Hierarchie (Holarchie). Auch die Große Kette ist eine Holarchie von Holons: Der Geist transzendiert die Seele und schließt sie ein, diese den Geist und schließt ihn ein, und dieser den Körper und schließt ihn ein. Jedes höhere Holon umschließt die niedrigeren und hüllt sie ein, und dies ist das Wesen von Ganzen/Teilen, Holons und der Holarchie: Verschachtelungen wachsender Ganzheit und Umhüllung. 17 Eine ausführliche Erörterung dieses Themas siehe in Das Wahre, Schöne, Gute, Kapitel 9 und 10. 18 Eine Erörterung dieses Themas siehe in Naturwissenschaft und Religion.
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19 In dieser vereinfachten Darstellung unterscheide ich noch nicht zwischen Grundstrukturen, Übergangsstrukturen (wie z.B. Weltsichten) und Drehpunkten des Selbst. Eine kurze Übersicht hierzu siehe im Eintrag zum 16. November; eine ausführlichere Darstellung enthält Das Wahre, Schöne, Gute. Andererseits ist diese einfache Zusammenfassung für die nachfolgende Erörterung mehr als ausreichend. Die Ebenen selbst sind, am Rande bemerkt, durch ihre jeweiligen Grundstrukturen definiert (sensomotorisch, Regel/Rolle-Erkenntnis, formal-reflexiv, Schau-Logik usw.). Mit jeder dieser Ebenen ist eine bestimmte Weltsicht verbunden (magisch, mythisch, rational, exiztenziell usw.), und ich benutze oft diese prägnanteren Begriffe zur Bezeichnung der Ebene selbst. Trotzdem sollte man Grundstrukturen und Weltsichten nicht miteinander verwechseln. 20 Eine Erörterung des Spektrums der Psychopathologien siehe in Psychologie der Befreiung. Hinsichtlich der Rolle der Neurophysiologie siehe 10. September, Anm. 28. 21 Eine ausführliche Erörterung dieses Themas siehe in Naturwissenschaft und Religion. 22 Naturwissenschaft und Religion, (Anm. d. Übers.) 23 Eine weitere Erörterung dieses Themas siehe unter den Einträgen für den 16. November und 18. Dezember. 24 Verschiebung ist eine Gleichsetzung verschiedener Holons, weil sie von ähnlicher Agenz sind. Verdichtung bedeutet eine Gleichsetzung verschiedener Holons, weil sie von ähnlicher Kommunion sind" (Eros, Kosmos, Logos, S. 272). (Anm. d. Übers.) 25 California Institute of Integral Studies. 415 ist die Telefonvorwahl dieser Region (Anm. d. Übers.). 26 Zum Zeitpunkt, zu dem ich dies schreibe, ist das Museum für transpersonale und spirituelle Kunst weiter im Aufbau begriffen. Interessenten können sich über Shambhala Publications an Phil Jacobson wenden. 27 Dieser Text findet sich nur in der amerikanischen Ausgabe des genannten Buchs. (Anm. des Übers.) 28 Damit soll nicht die Bedeutung neurochemischer und neurobiologischer Faktoren in der Genese psychischer Erkrankungen geleugnet werden. Jedes Ereignis des oberen linken (oder psychologischen) Quadranten hat eine Entsprechung im oberen rechten (oder materiellen) Quadranten; grundsätzlich sind alle vier Quadranten an allen psychopathologischen Erscheinungen beteiligt. In dieser Diskussion beschränke ich mich auf die obere linke Komponente, die innere Dissoziation von begrifflichem Denken und gefühltem Körper. 29 Michael Washburn spricht ebenfalls von einer Entwicklungsspirale, aber ansonsten sind wir praktisch hinsichtlich aller Aspekte dieser Spiralbewegung unterschiedlicher Meinung. Eine ausführliche Erörterung dieses Themas findet sich in Das Wahre, Schöne, Gute, Kapitel 6. 30 Eine ausführlichere Darstellung des historischen Aufkommens von Bodyism und Flachland siehe in Eine kurze Geschichte des Kosmos. Bodyism ist einfach ein anderer Ausdruck für subtilen Reduktionismus, für den Glauben, dass nur Entitäten mit einem einfachen Ort, dass nur rechtsseitige Wirklichkeiten wirklich seien. 31 Robert Forman ist ein begabter Theoretiker und ein vorzüglicher Herausgeber. In seiner Forschungsarbeit identifiziert er sich nicht notwendigerweise mit dem Inhalt seiner Umfrageergebnisse, er teilt sie einfach mit. In seinem hervorragenden The Problem of Pure Consciousness vertritt Forman die Hypothese, dass der Zustand formloser Versunkenheit (oder des nichtmanifesten Verlöschens) in der tiefen mystischen Spiritualität praktisch universell verbreitet ist. Ich stimme ihm zu. In seinen nächsten Forschungsarbeiten könnte Forman vielleicht alle seine Interviewpartner ganz konkret fragen: "Hatten Sie eine unmittelbare und länger anhaltende Erfahrung reinen formlosen Verlöschens? Wenn ja, beschreiben Sie sie bitte." Dadurch könnte Forman genauer feststellen, wie groß innerhalb der Basis-Spiritualität der Anteil derjenigen ist, die diese tiefe Dimension erreichen, und umgekehrt, welcher Prozentsatz eine niedrigere oder bloß translative Spiritualität pflegt wie z. B. die personenzentrierte bürgerliche Religion. 32 Der Ausdruck "20/20" bedeutet im Amerikanischen "optimale Sehschärfe". (Anm. d. Übers.) 33 KW schreibt "I"; eine Homophonie mit "Eye". (Anm. d. Übers.) 34 Die sieben Chakras des Kundalini-Yoga sind die archetypische
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Darstellung der Großen Kette. Es handelt sich um sieben Grundebenen des Bewusstseins, die jeweils einem bestimmten physischen Ort entsprechen (weil, wie ich es formulieren würde, jedes linksseitige oder Bewusstseinselement eine rechtsseitige oder objektiv-physische Entsprechung hat). Die sieben Chakras umfassen die unteren (im Bereich der Eingeweide), die mittleren (Brust und Herz) und die oberen Chakras (Scheitel und oberhalb davon). Eine ausführliche Erörterung dieses Themas siehe in Das Wahre, Schöne, Gute. Die derzeit in der Kognitionswissenschaft gängigste Theorie dürfte wohl diejenige der Module sein. Diese besagt, dass das Gehirn/der Geist aus mehreren voneinander unabhängigen Evolutionsmodulen, u. a. einem linguistischen, einem kognitiven und einem moralischen, zusammengesetzt ist. Diese Module ähneln in vielerlei Hinsicht dem, was ich mit "relativ unabhängigen Entwicklungslinien" meine. Der Hauptunterschied besteht darin, dass die Modultheoretiker die Existenz eines transzendenten Selbst oder einer transzendenten Bewusstseinsentität vehement bestreiten. Aber ihrer eigenen Theorie und ihren eigenen Befunden zufolge sind Menschen fähig, sich dieser Module bewusst zu sein, und sie können sich sogar gelegentlich über diese hinwegsetzen. Und wenn man sich über ein Modul hinwegsetzen kann, dann ist man eben nicht bloß ein Modul. Q. e. d. Eine ausführlichere Darstellung dieses Modells siehe in "Two Patterns of Transcendence", Journal of Humanistic Psychology, 30, Nr. 3 (Sommer 1990), S. 113-136. Für diejenigen, die sich mit meiner Arbeit intensiver befassen, möchte ich den genauen Zusammenhang von Wilber-III mit der Großen Kette im Folgenden ausführlicher erläutern. 1. Ich habe die traditionelle Große Kette, die Stoff, Körper, Geist, Seele und GEIST umfasst, wie folgt erweitert: Stoff (Physisches), Körper (Empfindung, Wahrnehmung, Impuls, Emotion), Geist (Bild, Symbol, Begriff, Regel, formal, Schau-Logik), Seele (psychisch, subtil) und GEIST (kausal, nichtdual). Natürlich ist eine weitere Untergliederung möglich, aber in dieser Form ist bereits die Übereinstimmung der niedrigeren Ebenen der Kette mit der westlichen Forschung hergestellt. 2. Entscheidend wichtig ist der Gedanke, dass sich die Große Kette entwickelt, und zwar sowohl individuell (Ontogenese) als auch kollektiv (Phylogenese). Hier kommt ein Paradoxon ins Spiel: Der GEIST ist sowohl die höchste Ebene der Evolution als auch der Grund oder die Soheit aller Evolutionsebenen; er ist sowohl reine formlose Leerheit, die sich nicht entwickelt, und die ganze Welt der Form, die sich entwickelt. Es kommt nun entscheidend darauf an, den transzendenten und den immanenten Aspekt des GEISTES zu integrieren. Das Entwicklungsgesetz, das ich in Das Atman-Projekt und den zwanzig Grundaussagen in EKL ausführlicher dargestellt habe, heißt vereinfacht Transzendieren und Einschließen. 3. Die etwa fünfzehn Ebenen bezeichne ich als die grundlegenden Ebenen des Bewusstseins oder Grundstrukturen des Bewusstseins oder auch als die grundlegenden Wellen. Sobald diese im Gang der Entwicklung emergieren, bleiben sie vorhanden; sie sind subsumiert, bleiben aber voll funktionell. Jede Grundstruktur ist ein System eines relationalen Austausches mit anderen Holons auf derselben Organisationsebene. 4. Durch diese Ebenen oder Wellen des Bewusstseins (durch die erweiterte Große Kette) gehen verschiedene Entwicklungslinien oder ströme hindurch, und zwar relativ unabhängig voneinander. Zu diesen Entwicklungslinien zählen u. a. die kognitive, affektive, moralische, proximale Selbstidentität oder "Ich-Entwicklung" (nicht zu verwechseln mit der übergreifenden Selbst-Entwicklung, die keiner festgelegten Abfolge gehorcht), Abwehrmechanismen (die Standard-Hierarchie dieser Mechanismen), die soziale, die künstlerische, Zuwendung, Liebe, Erkenntnismodus, Freude (Ebene des Daseins-überschwangs), die visuell-räumliche, Todesfurcht, die logisch-mathematische, die psychosexuelle. Selbstbedürfnisse, raumzeitlicher Modus, Objektbeziehungen, die unästhetische, die reifere psychische, spezifische Begabungen, Kreativität, die Fähigkeit der Zeugenschaft, Altruismus und Weltsichten – um nur diejenigen zu nennen, für die glaubwürdige Befunde vorliegen. Die Mehrzahl der Forschungen (die ich in Das Wahre, Schöne, Gute
zusammengefasst habe) kommt zu dem Schluss, dass jede dieser Linien eine weitgehend unveränderliche Abfolge von Stadien durchläuft, wenn auch relativ unabhängig voneinander. Viele Forscher bezeichnen diese universellen, unveränderlichen Stadien als das präkonventionelle ("präkon"), das konventionelle ("kon") und das postkonventionelle ("postkon"). Auf der Grundlage interkultureller Befunde habe ich vorgeschlagen, dass man mindestens ein viertes Hauptstadium hinzufügen muss, das post-postkonventionelle (post-postkon). Wiewohl nun eine Fülle empirischer Befunde zeigt, dass jede Entwicklungslinie diese holarchischen Stadien in einer unveränderlichen Abfolge durchläuft, ist dennoch das Gesamtwachstum und die Gesamtentwicklung wegen dieser relativ unabhängigen Entwicklung dieser zwei Dutzend Linien eine überaus komplexe nichtlineare Angelegenheit mit vielfältigen Überschneidungen, die keiner irgendwie festgelegten Abfolge gehorcht. 5. Diese weitgehend universellen und unveränderlichen holarchischen Stadien präkon, kon, postkon und post-postkon sind nichts anderes als die Große Kette. Präkon umfasst den sensomotorischen Vitalkörper und den frühen körpergebundenen Geist (Körper). Kon bezieht sich auf den mittleren Geist bis zum Stadium der Regeln und dem frühen formalen Stadium, postkon auf den späten Geist (formales Stadium und SchauLogik), postpostkon auf das spirituelle/transpersonale Stadium (dieses wird als die höchste Entwicklungsstufe betrachtet, was aber nicht getrennte spirituelle Entwicklungslinien ausschließt). Diese Stadien stellen einfach eine andere Betrachtungsweise der grundlegenden Ebenen des Bewusstseins dar (der Großen Kette selbst), durch die die verschiedenen Linien hindurchgehen. Dass diese Wellen nach den Forschungsbefunden weitgehend invariant sind, liegt einfach daran, dass die Große Kette selbst weitgehend invariant ist. 6. Dies gilt jedoch nur für die "tiefen" Merkmale. Alle diese Ebenen und Linien besitzen, wie ich vorgeschlagen habe, tiefe und oberflächliche Merkmale (ich habe sie früher als tiefe und oberflächliche Strukturen bezeichnet und verwende diese Begriffe manchmal auch noch heute, doch führt dies oft zu Verwechslungen mit Chomskys engerer Terminologie). Die tiefen Merkmale einer jeden Ebene oder Linie sind diejenigen Merkmale, die den Forschungsergebnissen zufolge weitgehend universell sind. Diese tiefen Merkmale werden jedoch durch lokale Gebräuche und Kulturen geformt, wodurch oberflächliche Merkmale entstehen, die von Kultur zu Kultur und oft von Mensch zu Mensch unterschiedlich sind. 7. Das Selbst oder Selbstsystem ist diejenige Entität, die die ganze Entfaltung von Strömungen und Wellen im Selbst dirigiert. Das Selbst besitzt verschiedene wichtige Fähigkeiten, u. a. Identifikation, Organisation, Wille, Abwehr, Stoffwechsel und Steuerung. 8. Auf seinem Entwicklungsweg durch die grundlegenden Wellen des Bewusstseins erzeugt das Selbst verschiedene Ebenen der Selbstidentität (siehe Loevinger), von Selbstbedürfnissen (siehe Maslow) und Selbst-Moral (siehe Gilligan), um nur die wichtigsten zu nennen. Diese Selbst-Stufen (z. B. Bedürfnisse und Moral) zählen wegen ihres tiefen Einflusses auf den Menschen zu den wichtigsten Entwicklungslinien. 9. Darüber hinaus aber, und dies ist ebenso wichtig, muss das GesamtSelbst alle übrigen Entwicklungslinien dirigieren und im Gleichgewicht halten, die üblicherweise mit ganz unterschiedlichen Geschwindigkeiten fortschreiten. Dieses "Jonglieren" ist der Schlüssel zum Lebensdrama des Gesamt-Selbst. 10. Auf seinem Wachstumsweg durch die grundlegenden Wellen a) identifiziert sich das Selbst mit einer bestimmten Welle und verschmilzt mit ihr, b) differenziert sich von ihr und transzendiert sie und c) schließt sie ein und integriert sie von der nächsthöheren Welle aus. Diesen dreistufigen Prozess bezeichnet man als einen Entwicklungs-Drehpunkt. 11. Auf jeder Stufe des Wachstums und der Entwicklung des Selbst kann etwas schiefgehen. An jedem Drehpunkt kann etwas schiefgehen. Die Folge ist eine psychologische Störung, und es gibt so viele Ebenen psychologischer Störungen, wie es Wachstumsebenen gibt. In meinem System hat die Große Kette üblicherweise etwa neun Ebenen, weshalb ich neun Ebenen psychologischer Störungen angegeben habe. Diese Differenzierungen sind nicht starr, und es gibt immer Überschneidungen.
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12. Im Osten wie im Westen wurden verschiedene Therapien für diese neun Ebenen psychologischer Störungen entwickelt, und eine ausgewogene Betrachtungsweise von Wachstum muss das ganze Spektrum einschließen, statt einen oder zwei Ansätze zu bevorzugen. 13. Eine letzte Definition: Ich habe gesagt, dass die grundlegenden Strukturen oder Wellen des Bewusstseins überdauernde Strukturen sind: Wenn sie auftauchen, bleiben sie vorhanden (in subsumierter Form, aber trotzdem aktiv). Andererseits bestehen die meisten Entwicklungslinien aus Übergangsstrukturen, die relativ kurzfristig oder phasenspezifisch sind und durch spätere Stadien dieser Linie eher ersetzt als subsumiert werden. Dies ist eine wichtige Unterscheidung, weil sie eine Festlegung erlaubt, was in einer Entwicklung bleiben soll und was man hinter sich lassen soll. Das Bedürfnis zu essen bleibt; die orale Phase dagegen nicht (andernfalls liegt hier eine Fixierung und pathologische Störung vor). 14. Vor allen Dingen aber bezieht sich die Große Kette als solche hauptsächlich auf den oberen linken Quadranten; sie muss aber (mit all ihren unterschiedlichen Ebenen und Linien) in den Kontext der vier Quadranten gestellt werden. Dieses System lässt die traditionelle Große Holarchie des Seins sowohl in ihrem aufsteigenden (Eros) als auch ihrem absteigenden (Agape) Bogen vollständig gelten, wenn auch in einer erweiterten Form; indem man weitere Wellen und Strömungen, überdauernde und Übergangsstrukturen, tiefe und oberflächliche Merkmale, die Form der Entwicklung, das Selbst und seine pathologische Störungen und die vier Quadranten hinzunimmt, kann man, wie ich glaube, das Beste modernen Wissens mit dem Besten alter Weisheit verbinden. Der Vedanta, das älteste Modell der Großen Kette, unterscheidet fünf Ebenen (Stoff, Prana, Manomayakosha oder niederer Geist, Vijnanamayakosha oder höherer Geist, und Anandamayakosha oder Geist der Seligkeit), die in drei große Reiche unterteilt sind, das grobstoffliche, das feinstoffliche und das kausale. Der Stoff ist das grobstoffliche Reich, der Geist der Seligkeit das kausale Reich, und die drei mittleren Ebenen (Körper/Prana, niederer Geist und höherer Geist) bilden alle das feinstoffliche Reich. Soweit ich pauschal von den drei Reichen spreche, dem grobstofflichen, feinstofflichen und kausalen, bin ich mit dieser Zuordnung einverstanden. Andererseits bezeichne ich jedoch auch das höchste der drei subtilen Reiche (Anandamayakosha) als "das Subtile". Aus dem Zusammenhang wird jeweils deutlich werden, was gemeint ist. In diesem Fall müsste in Abbildung 7 die Linie des "tieferen Psychischen" unten auf einer Länge von einem halben Zentimeter ebenfalls durchgezogen sein. Eine ausführliche Erörterung siehe in Das Wahre, Schöne, Gute. Dies ist der Grund, warum bei einigen frühen Kulturen weit entwickelte psychische Fähigkeiten, aber eine relativ geringe frontale Entwicklung zu beobachten waren, weshalb man diese nicht als Musterbeispiele einer integralen Kultur betrachten kann, auch wenn ihre Weisheit oft bewunderungswürdig war. Eine Übersicht über diese umfassenden Forschungen siehe in Das Wahre, Schöne, Gute. Eine ausführliche Erörterung dieses Themas siehe in Eros, Kosmos, Logos, Kapitel 14. Colin McGinn, "Reason the Need", The New Republic, 4. August 1997. Natürlich ist der Traumzustand nur eine von vielen Erscheinungsformen des subtilen Reichs. Der klassische subtile Zustand ist SavikalpaSamadhi, "nichtduales Aufgehen in der Form", wobei man im Wachzustand in das subtile Reich gelangt. Der Traumzustand gilt als Teilgebiet des Subtilen, insofern es im Traumzustand keine grobstofflichen materiellen Phänomene gibt, nur Bilder und Formen. Das bewusste Eintreten in den Traumzustand gilt daher seit jeher als Entsprechung zu Savikalpa-Samadhi, da man sich in beiden Fällen im Alpha-Wachzustand und im Theta-Traumzustand gleichzeitig befindet. Die Wirkung auf die Bewusstseinsevolution ist in beiden Fällen gleich: Man hat in gewisser Weise das Subtile objektiviert, d.h. es im Wachzustand bewusst als Objekt gesehen, weshalb es keine Macht mehr über einen hat: Man hat es transzendiert, und damit beginnt der Übergang zur kausalen Entwicklung. Nirvikalpa-Samadhi ist der klassische Zustand des kausalen
Bewusstseins, formloses, nichtmanifestes, reines Verlöschen (eine Art der Leerheit), durch die man im Wachzustand in das kausale Reich gelangt (Nirvikalpa reift zu Jnana-Samadhi, radikaler reiner Formlosigkeit, und in einigen Traditionen zu Nirodh, dem vollständigen Verlöschen jeglicher Objekte). Wie Savikalpa und pelluzides Träumen einander entsprechen, so entsprechen einander die Aufrechterhaltung des Bewusstseins im Zustand des traumlosen Tiefschlafs und Nirvikalpa. Im Nirvikalpa wie im pelluziden Tiefschlaf befindet man sich gleichzeitig im Alpha-Wachzustand und in der Delta-Formlosigkeit: Man hat das formlose Reich vor das Auge des Bewusstseins gestellt und es damit von diesem Reich befreit und für das Nichtduale geöffnet. Das Kausale wurde transzendiert, und Nirvikalpa/Jnana (Gnosis) wird durch Sahaja abgelöst, den mühelosen, spontanen, allgegenwärtigen Einen Geschmack. Um wirklich Fortschritte machen zu können, muss man aber nicht unbedingt die Fähigkeit zum pelluziden Träumen oder pelluzidem Tiefschlaf haben. Savikalpa-Samadhi und Nirvikalpa-Samadhi erreicht man in angemessener Weise auch während des Wachzustands. Es ist einfach so, dass oft dann, wenn man Savikalpa erreicht hat, das pelluzide Träumen beginnt, weil eben beides Entsprechungen sind. Ebenso ist die Beherrschung von Savikalpa oft von pelluzidem Tiefschlaf begleitet. Umgekehrt ist die Fortführung der Meditation in dem Traumund Tiefschlafzustand eine außerordentlich wirksame Möglichkeit, in Savikalpa und Nirvikalpa einzutreten und dadurch leichter zu Sahaja zu gelangen. Der Yoga des Traumzustands galt immer als eine der schnellsten und wirksamsten Möglichkeiten, eine Plateau-Erfahrung des subtilen und kausalen Reichs zu erlangen und damit die Tür zu einer stabilen Anpassung an diese Reiche und schließlich zu ihrer Transzendierung rasch aufzustoßen. 46 Anpassungsstadien, die vom Kausalen/Nirvikalpa/Nirvana zum Einen Geschmack führen, werden als die nachnirvanischen Stadien bezeichnet. Üblicherweise werden drei oder vier solcher Stadien angegeben. Bei ihnen handelt es sich um Bewusstseinskonstanz oder den ununterbrochenen Zugang zum Zeugen-Gewahrsein in allen drei Zuständen – zunächst als Plateau, dann als Anpassung – und das anschließende Aufhören der Zeugenschaft zugunsten des nichtdualen Einen Geschmacks, wiederum zunächst als Gipfelerfahrung, dann als Plateau-Erfahrung und schließlich als Anpassung. Wenn der Eine Geschmack als Anpassung stabilisiert ist, entfalten sich die Stadien nach der Erleuchtung. Diese führen zu Bhava-Samadhi, zur vollständigen physischen Translation des Menschlichen zum Göttlichen, zur "vollständigen Auslöschung aller Dinge in Dharmata" oder, wie es auch heißt, zur Erlangung des dauerhaften Lichtkörpers (eine Erörterung dieser Stadien siehe in Das Wahre, Schöne, Gute). An den nachnirvanischen Stadien (der Essenz von Mahayana und Vajrayana, die nicht nur die Formlosigkeit – Nirvana – umfassen, sondern diese auch mit der ganzen Welt der Form integrieren, Samsara) hatte ich nie einen Zweifel, und aus meiner eigenen Erfahrung kann ich auch die Existenz des konstanten Bewusstseins und des Einen Geschmacks bestätigen, und zwar als anhaltende und wiederkehrende Plateau-Erfahrungen, die manchmal bis zu 24 und 36 Stunden anhalten (in einem Fall bestand ununterbrochene Bewusstseinskonstanz sogar elf Tage lang). Eine dauerhafte Anpassung habe ich persönlich noch nicht erreicht, aber ich kenne mehrere Lehrer, auf die dies, wie ich glaube, zutrifft, und in der Literatur sind sehr viele solcher Fälle erwähnt. Alle diese postnirvanischen Stadien erscheinen mir einleuchtend, weil sie einfach die Stadien der Anpassung an die Nichtdualität sind (die Stadien der Integration von Nirvana und Samsara, von GEIST und Manifestation, von Leerheit und Form). Darüber hinaus scheinen wir heute dank der EEG-Daten, die Alexander und andere gesammelt haben, handfeste Beweise für solche Stadien zu haben. Andererseits haben mich die Stadien nach der Erleuchtung nie überzeugt, noch bin ich jemals jemandem begegnet, der sich glaubwürdig in diesen Stadien befunden hätte. So, wie diese Stadien beschrieben werden, erschienen sie mir immer als Überbleibsel aus der Magie. Es geht hier immer um Dinge wie die Auflösung des Körpers in Licht, die Fähigkeit, außergewöhnliche Transformationswunder vollbringen zu können usw., und hierfür gibt es einfach keine glaubwürdigen, reproduzierbaren Beweise. Der Begriff "Auslöschung
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aller Dinge in Dharmata" scheint mir mit Jnana oder Nirodh identisch zu sein, und dies ist eine Regression vom Einen Geschmack, nicht eine Entwicklung über diese hinaus. Ich sage nicht, dass es diese Stadien nicht gibt; ich sage lediglich, dass es im Vergleich mit allen anderen Stadien, die von den Traditionen beschrieben werden, für die Stadien nach der Erleuchtung die wenigsten Beweise gibt. Dies kann daran liegen, dass sie so selten sind, aber auch daran, dass es sie nicht gibt. 47 Aus einem Aufsatz in The Sciences. Nucci stellt hier ebenfalls Rousseau und Der Herr der Fliegen einander gegenüber. Ich benutze dieses Beispiel seit langem zur Darstellung dieser beiden gegensätzlichen Auffassungen. 48 Eine weitere Erörterung dieses Themas siehe in Eine kurze Geschichte des Kosmos. 49 Das Folgende ist eine leicht gekürzte Version des Originals. Dieses siehe unter "Big Map: The Kosmos According to Ken Wilber" in Shambhala Sun, September 1996.
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