Wo du wolle? Du sagen ich fahren. »el taxista«
Dieses eBook ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
PATRICK WYNES
Eine Ku...
103 downloads
241 Views
455KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Wo du wolle? Du sagen ich fahren. »el taxista«
Dieses eBook ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
PATRICK WYNES
Eine Kugel für den Richter Richter McDermott wird von seiner Vergangenheit eingeholtin Gestalt einer jungen Frau mit einem Revolver Es klang erstaunlich leise. Und es war auch nicht so dramatisch, wie es im Fernsehen oder im Kino immer zu sehen war. Immerhin war der Schauplatz gut ausgewählt – es geschah genau vor dem Eingang des Metropolitan Museum of Modem Arts. Es machte »Peng«, das allerdings recht laut. Und Judge Brian McDermott zuckte zusammen. Seine Augen weiteten sich verblüfft, und im gleichen Augenblick färbte sich sein Anzug rot, genau eine Daumenbreite oberhalb der Gürtelschnalle. Der Richter stammte aus Texas, und dementsprechend groß war diese Gürtelschnalle ausgefallen. Und dann knallte es ein zweites Mal, und dieser Treffer saß eine Handbreit unterhalb der Schnalle.
Die Hauptpersonen: Judge McDermott wird auf offener Straße niedergeschossen. Steve McDermott versucht zu vertuschen, was niemand wissen darf. Sharon Simmons drückt ab, und niemand weiß, warum. Estelle LeFleur verkaufte nicht nur sich so teuer wie möglich. Jo Walker ist Kommissar X Der Richter ließ die Aktentasche fallen, seine Beine knickten ein. Gleichzeitig öffnete er den Mund zu einem Schrei, und seine Hände fuhren nach vorn, zu den Löchern in seinem Bauch. Jo Walker drückte die Stummtaste an seiner Fernbedienung. Was jetzt kam, wollte er lieber nicht hören. Kommissar X wußte aus eigener Anschauung, aber glücklicherweise nicht aus persönlicher Erfahrung, wie es schmerzte, wenn man mitten in den Bauch geschossen wurde, noch dazu mit einem Revolver vom Kaliber .38 Special. Der Sender hatte ein Einsehen mit seinen empfindlicheren Zuschauern und blendete das Bild weg; der Anchor-man, der Haupt-›Darsteller‹ der Nachrichtensendung, war wieder zu sehen. Eine junge Frau, adrett, aber nicht übertrieben gekleidet, sehr seriös. Mit dem gleichen freundlichen Lächeln, mit dem sie alle Nachrichten verlas – gleichgültig, ob es sich um die Öffnung der Berliner Mauer, das Wetter auf Hawaii oder die Massaker eines Geisteskranken handelte – verkündete die junge Frau, daß der Richter in das nächste Hospital eingeliefert und unverzüglich operiert worden war. Und daß von dem Täter, der zweimal auf den Richter geschossen hatte, jede Spur fehlte. In dem Trubel, der dem Attentat folgte, war der Täter untergetaucht. »Captain Tom Rowland von der Mordkommission Manhattan C/II, der mit der Klärung dieses spektakulären Falles betraut worden ist…« »Armer Tom«, murmelte Jo. »… schließt politische Gründe für dieses Attentat nicht aus«, sagte die Nachrichtensprecherin freundlich; in ihrer Stimme war nicht die kleinste Spur von Betroffenheit oder Entsetzen zu hören. »In gewöhnlich gut informierten Kreisen heißt es, der Präsident habe erwogen, Judge McDermott in den Surpreme Court, den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten von Amerika, zu berufen. Judge McDermott gilt als konservativ und ist ein entschiedener Gegner der liberalen Abtreibungsgesetzgebung der früheren Jahre.«
»Daran wirst du zu knacken haben, Tom«, murmelte Jo Walker. Eigentlich hatte er den kleinen Fernseher in seinem Büro nur eingeschaltet, weil er wissen wollte, wie das Spiel der San Francisco 49ers gegen die L.A. Rams ausgegangen war; und ob der Quarterback der Fortyniners, Joe Montana, wieder einige seiner Traumpässe geworfen hatte – wie beispielsweise den, mit dem er kurz vor Schluß die letzte Super-Bowl entschieden hatte. Als die Nachrichten endlich zum Sport überwechselten, ertönte der Summer auf Jos Schreibtisch. »Ja?« April Bondys Stimme klang ruhig. »Ein Klient, Chef. Er sagt, es sei dringend.« »Äußerst dringend!« konnte Jo im Hintergrund eine Männerstimme hören. »Es geht um Leben oder Tod!« Das klang sehr dramatisch und weckte sofort Jos Mißtrauen. »Okay, soll hereinkommen«, sagte er. Mit einem leisen Seufzer schaltete er den Fernseher ab. Während der Bildschirm sich verdunkelte, öffnete sich die Tür zu Jos Büro, und ein junger Mann trat ein. »Guten Tag, Mister Walker«, sagte der junge Mann. »Mein Name ist Jake Curtis. Tut mir leid, daß ich Sie so überfalle, aber…« Jo machte eine freundliche Handbewegung. »Setzen Sie sich erst einmal«, sagte er. »Danke, Mister Walker«, stieß der junge Mann hervor. Jos Aufmerksamkeit entging nicht, daß er sehr schnell atmete und sogar ein klein wenig zitterte. Sein Lächeln fiel reichlich kläglich aus. »Sie müssen entschuldigen«, sagte der junge Mann. »Äh, darf ich rauchen?« Jo machte eine knappe Bewegung hinüber zum Aschenbecher. »Bedienen Sie sich«, sagte er und lehnte sich ein wenig in seinem Sessel zurück. Jake Curtis war Mitte Zwanzig, er hatte ein frisches, offenes Gesicht. Die Sonnenbräune sah nach häufigem Aufenthalt im Freien aus, nicht nach UVA-Strahler. Am rechten Handgelenk trug er eine Digitaluhr, ein ziemlich teures Modell, mit Stoppuhrfunktionen und einigen anderen Extras. »Ich bin wahnsinnig aufgeregt, Mister Walker«, sagte Jake Curtis und zündete sich eine Zigarette an. »Das kann ich sehen«, meinte Jo trocken. »Ist die Polizei hinter Ihnen her?« Jake machte ein betroffenes Gesicht. »Können Sie das wirklich sehen?« fragte er erstaunt. »Sie machen einen gehetzten Eindruck«, antwortete Jo gelassen.
»Und wenn so jemand sich in das Büro eines Privatdetektivs flüchtet, ist meistens die Polizei im Spiel. Weswegen werden Sie gesucht?« Mit der Antwort hatte Jo gerechnet. »Mord«, stieß Jake Curtis hervor und drückte die angerauchte Zigarette aus. »Aber ich hab’ es nicht getan. Das heißt…« Jo hob die rechte Hand. »Bevor Sie mir klarmachen, was etwas heißt oder bedeutet oder wie es in Wirklichkeit aussieht, oder was für eine abschwächende Formulierung Ihnen sonst noch einfällt – haben Sie getötet?« Jake stieß einen tiefen Seufzer aus. »Nein«, sagte er. »Leider nicht, oder Gott sei Dank nicht…« Er sackte in seinem Sessel in sich zusammen und sah Jo Erbarmen heischend an. »Ich weiß einfach gar nichts mehr«, murmelte er. »Ich…« Jo zog ein knappes, aufmunterndes Lächeln. »Okay«, sagte er. »Fassen wir erst einmal die Tatsachen zusammen. Wann soll der Mord geschehen sein?« Curtis sah auf die Uhr. »Vor zwanzig Minuten«, sagte er. Jo kniff die Brauen zusammen. Er begann etwas zu ahnen. »Und das Opfer?« fragte er. »Etwa Judge McDermott?« Jake Curtis nickte. »Genau der«, seufzte er. »Nur, ich bin es nicht gewesen.« Jo wiegte den Kopf. »Das scheint mir eher ein Problem für einen guten Anwalt zu sein«, sagte er. »Ich kann Ihnen ein paar gute Leute nennen.« Curtis schüttelte den Kopf. »Einen Anwalt werde ich schon finden. Das ist nicht das Problem, wissen Sie.« »Sie wollen, daß ich den wahren Mörder finde?« Curtis wand sich förmlich auf seinem Sessel. »Ja und nein«, sagte er dann ratlos. »Den Mörder brauchen wir nicht zu suchen.« »Sie wissen, wo er ist?« Curtis schüttelte den Kopf. »Aber Sie wissen, wer es ist?« Dieses Mal bewegte sich der Kopf auf und ab. »Dann verstehe ich Ihr Problem nicht, junger Mann«, sagte Jo Walker, der langsam die Geduld verlor. »Wer, zum Teufel, hat denn nun auf den Richter geschossen?« Jake Curtis stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Meine Braut«, sagte er dann leise. »Sharon Simmons heißt sie.« »Und das wissen Sie genau?« fragte Jo ungläubig. »Ganz genau«, sagte Jake Curtis verzweifelt. »Ich habe ja neben ihr gestanden und alles mitbekommen.« Jo schloß die Augen und dachte, kurz nach. »Das müssen Sie mir genauer erzählen«, sagte er. »Langsam, und mit allen Einzelheiten…« * Jake Curtis gab dem Kellner ein Zeichen. »Noch einen Kaffee, bitte«, sagte er. »Sofort, Sir!« versicherte die Bedienung und entfernte sich. »Ich mache mir Sorgen um deinen Blutdruck, Liebling«, sagte Sharon lächelnd. Sie strich sich eine dunkle Strähne aus der Stirn. »Der Kaffee…« »Liebling«, fuhr ihr Jake grinsend ins Wort. »Dein Anblick treibt meinen Blutdruck weitaus effektiver in die Höhe als der Kaffee.« Das war nicht einmal übertrieben. Sharon sah tatsächlich fantastisch aus. Sie war mittelgroß, schlank und dunkelhaarig, und damit war die Beschreibung schon fast zu Ende. Die Art und Weise, in der sie schlank, dunkelhaarig und mittelgroß war, ließ sich nur schwer in Worte kleiden – es war eine Mischung knisternder Weiblichkeit, die zugleich unschuldig und aufreizend wirkte, ohne dabei kokett zu wirken. Jake jedenfalls konnte sich an Sharon nicht sattsehen, und er hatte nicht einmal etwas dagegen, daß andere Männer Sharon mit offenem Mund nachstarrten. Sollten sie nur. Und wenn solche Männer dann noch ihn anstarrten und vor Neid fast zu platzen schienen, machte es Jake besonders viel Spaß. »Was machen wir mit dem Rest des Tages?« fragte Jake. »Hast du eine Idee?« Jake grinste. »Wir suchen uns einen netten, freundlichen Friedensrichter und heiraten. Auf der Stelle.« Sharons Gesicht verdüsterte sich ein wenig. Im Gegensatz zu etlichen anderen Freundinnen, die Jake gehabt hatte – er war fünfunddreißig, und er hatte bisher nicht gelebt wie ein Mönch -, schien Sharon vom Stand der Ehe nicht viel zu halten. »Oder weißt du etwas Besseres?« fragte Jake. »Laß uns bummeln«, sagte Sharon. »Nach dem Frühstück zu Tiffany’s? Oder in ein Museum? Von mir aus auch ins Kino…«
»Oh nein«, wehrte Jake ab. »Nicht ins Kino. Entweder suchst du dir wieder eine Liebesschnulze aus, dann muß ich dir ständig das Taschentuch auswringen…« »Gar nicht wahr«, schmollte Sharon. Sie konnte eine süße Schmollschnute ziehen, fand Jake. »Deine Action-Filme finde ich jedenfalls langweilig.« »Ich weiß«, konterte Jake grinsend. »So langweilig, daß du im Dunkeln ständig nach mir grabschst oder an mir herumknabberst.« »Bis jetzt hatte ich den Eindruck«, antwortete Sharon spitz, »als würde dir das gefallen.« Jake enthielt sich des Kommentars. Er grinste nur. Es war kein besonderer Morgen. In New York nieselte es, ein zu kalter Frühlingstag, wie er in letzter Zeit häufiger vorkam. Allmählich, so fand Jake, war es an der Zeit, die düsteren Mahnungen der Klimaforschung ernst zu nehmen – das Wetter wurde in den letzten Jahren tatsächlich anders, und es veränderte sich nicht zum Vorteil. »Laß uns bummeln«, schlug Sharon vor. »Einfach nur Spazierengehen…« Jake stieß ein helles Lachen aus. »Wie du willst«, sagte er. »Ich bin dein gehorsamer Sklave.« Er zahlte. Danach verließen sie eingehakt das Restaurant. Wie immer, hatten es die Menschen auf der Straße eilig. Jemand, der sich in New York auf der Straße bewegte, hatte es immer eilig; Fußgänger, die sich nicht gebärdeten, als säße ihnen der Zeit-Teufel im Nacken, machten sich fast schon verdächtig. »Sieh es dir genau an, Sharon«, sagte Jake und machte eine weit ausgreifende Handbewegung. »Unseren Enkeln wirst du das wahrscheinlich nicht mehr zeigen können.« »Und warum nicht?« Jake zuckte die Schultern. »Es gibt ernstzunehmende Prognosen«, sagte er, »nach denen der Meeresspiegel um fast fünf Fuß steigen wird in den nächsten zwanzig bis dreißig Jahren. Ein Teil dieser Stadt wird dann die Füße im Wasser haben.« Sharon legte ein wenig den Kopf zur Seite. »Ach was«, sagte Sharon. »Was kümmert mich, was in zwanzig Jahren sein wird. Vor zwanzig Jahren habe ich auch noch nicht gewußt, daß ich eines Tages mit dem großartigsten Mann der Welt in New York Spazierengehen würde, oder das Metropolitan Museum…« »Au!« stieß Jake überrascht hervor. Sharon war stehengeblieben, und sie hatte ihre Hände so zu Fäus-
ten geballt, daß Jake ihre Nägel in seinem Fleisch spüren konnte. Er sah sie an. Was war in das Mädchen gefahren? Sharon stand auf dem Platz vor dem Museum und war leichenblaß geworden. Jake konnte sehen, daß sie flach und stoßweise atmete, auf ihrer Stirn waren Schweißtropfen. »Großer Gott«, murmelte Sharon. Sie starrte durch Jake hindurch in irgendwelche grenzenlosen Fernen. »Sharon, was ist los?« Jake war ernstlich erschrocken. Er hatte Sharon bis jetzt nur als fröhliche, lebenslustige junge Frau gekannt; jetzt aber sah sie aus wie ein Gespenst, und in ihren Augen schimmerte pures Entsetzen. Nach einem Zusammentreffen mit Slither, dem berüchtigten Frauenschlitzer von New York, hätte Sharon nicht entsetzter aussehen können. Aber der Schlitzer war längst gefaßt und sah seiner Aburteilung entgegen. Der bekannte Privatdetektiv Jo Walker, den man auch Kommissar X nannte, hatte die Identität dieses Mörders gelüftet und ihn entlarvt und überführt. Sharon schluckte heftig. Sie senkte den Kopf. Ihr Atem ging heftig. Jake griff nach ihrer Hand. Sie war eiskalt und feucht. Und sie zitterte. »Sharon!« sagte Jake leise. »Mädchen! Kleines!« Sharons Kopf ruckte hoch. »Sag nie wieder Kleines zu mir!« stieß sie zischend hervor, und in ihren Augen war eine Wut, wie sie Jake noch nie in seinem Leben bei einem Menschen gesehen hatte. »Nie wieder, hörst du!« »Sicher, Sharon. Nie wieder. Aber was ist denn los mit dir?« Sharon holte tief Luft. Sie wandte ein wenig den Kopf, so daß Jake ihr Gesicht nicht mehr ganz sehen konnte. Ihre Augen waren für seinen Blick nicht mehr erreichbar. »Komm!« sagte Sharon. Ohne eine Antwort abzuwarten, marschierte sie los. * »Haben Sie sehen können, was Ihre Freundin so furchtbar entsetzt hat?« fragte Jo Walker. »Nichts«, antwortete Jake. »Rein gar nichts. Ich war von alledem genauso überrascht wie Sie. Und ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Sharon war wie umgewandelt. Ich hatte sie noch nie so erlebt.« Jo machte sich Notizen. »Weiter!« bat er.
* Jake Curtis sagte nichts. Er hielt sich im Hintergrund. Er begriff einfach nicht, was geschah. Die sanfte, stille Sharon, die bei Filmen immer die Augen schloß, wenn es hart wurde, die in ihrer kleinen Wohnung jeden Flecken an der Wand mit Postern aus den 60ern vollgepflastert hatte, die Platten von Dylan und Barry McGuire sammelte, Buttons der Friedensbewegung trug… diesselbe Sharon Simmons stand jetzt zwei Schritte von Jake entfernt in einem Second-hand-Geschäft und ließ sich Waffen zeigen. Schußwaffen. Revolver und Pistolen, Modelle von Colt und Smith & Wesson. Der Mann hinter dem Tresen sah ab und zu hinüber zu Jake, und der zuckte nur die Achseln. Was sollte man dazu sagen? Jeder der beiden Männer konnte sehen, daß Sharon ein Nervenbündel war. Daß sie nie zuvor in ihrem Leben eine Schußwaffe in der Hand gehalten hatte. Aber sie konnten auch sehen, daß die junge Frau wild entschlossen war, eine solche Waffe zu kaufen. Gebraucht, für ein paar Dollar nur. Sharon hatte Schwierigkeiten dabei. Das Recht des Amerikaners, sich frei und ungehindert zu bewaffnen, war in der Verfassung verbrieft, und die National Rifle Association war eine der stärksten, wenn nicht die mächtigste Lobby, die es in den USA gab. Vehement setzten sich ihre Vertreter für die Freiheit eines jeden US-Bürgers ein, das zu tun, was Sharon Simmons gerade tat – sich ohne Mühen und bürokratische Hindrenisse für wenig Geld eine Waffe zu kaufen. Jake Curtis mischte sich nicht ein. Er kannte Sharon inzwischen so gut, daß er wußte, wann er den Mund zu halten hatte. Sharon konnte ein ausgesprochener Dickschädel sein, und wenn sie erst in dieser Phase steckte, dann konnte Widerspruch ihre Haltung nur noch verstärken. So sah Jake Curtis schweigend und nervös zu, wie Sharon sich einen Revolver kaufte, einen .38er Special. Und sie wirkte nicht im geringsten nervös, als sie sich zu der Waffe auch einen Karton mit Patronen kaufte. Natürlich hielt sie sich an die gesetzlichen Vorschriften. Der Erwerb einer Waffe stand jedem Amerikaner frei; mit dem Führen einer Waffe sah es ganz anders aus, vor allem dann, wenn die Waffe verdeckt getragen werden sollte.
Sharon steckte ihren Revolver nach dem Bezahlen in die Handtasche, die Patronen verschwanden in einer Plastiktüte, in der sie andere Einkäufe transportierte. Unwillkürlich atmete Jake auf, als er das sah. Die .38er-Geschosse neben Eiern, Auberginen und einer Packung Tampons in der Tüte zu wissen, beruhigte ihn. Erst als er mit Sharon das Geschäft verließ, wagte er wieder, sie anzusprechen. »Ist dir jetzt besser?« Sharon war noch immer blaß um die Nase herum. »Viel besser«, sagte sie leise. Zum ersten Mal seit einer knappen halben Stunde nahm sie Jake wieder deutlich wahr. Sie lächelte ihm zu, legte ihm eine Hand auf den Arm. »Und ich danke dir für dein Verständnis.« Jake runzelte die Stirn und grinste ein wenig. »Verständnis? Ich verstehe gar nichts mehr«, sagte er. »Was ist eigentlich passiert? Ich…« »Wir reden später darüber, Jake«, sagte Sharon. »Nicht jetzt.« Jake zuckte die Schultern. »Wie du willst«, sagte er. Er brauchte Sharon nicht zu fragen, wohin sie wollte; sie schien es ziemlich genau zu wissen. Zielsicher spazierte sie durch die Straßen von Manhattan. Offenbar hatte sie vor, den Spaziergang dort fortzusetzen, wo sie ihn abgebrochen hatte – am Metropolitan Museum. Jake wertete das als gutes Zeichen. In das Museum hineinzukommen, erwies sich allerdings als gar nicht so einfach. Ein Übertragungswagen eines kleineren örtlichen Fernsehsenders war vorgefahren, eine Kamera war aufgebaut worden, Journalisten standen in der Nähe. »Was ist eigentlich hier los?« fragte Jake den erstbesten Neugierigen. »Irgend so ein Prominenter«, sagte der Mann. »Sie warten darauf, daß er aus dem Museum kommt, aber fragen Sie mich nicht, warum.« »Es ist McDermott«, mischte sich ein junger Schwarzer ein. »Judge McDermott, ich habe es gerade von einem der Fernsehleute erfahren. Es steht jetzt fest, daß McDermott in der engeren Wahl für das Amt eines Bundesrichters ist.« Jake grinste. »Dann ist das wohl die letzte Gelegenheit, noch schnell einen SexShop aufzusuchen, bevor er die Dinger verbieten läßt«, witzelte er. Er bekam keine Reaktion, nicht einmal von Sharon, die sich über
solche Witze manchmal aufregte. Jake sah sich um. Sharon war nicht da. Im gleichen Augenblick wußte Jake Curtis, daß irgend etwas Schreckliches passieren würde. Gehetzt blickte er sich um, suchte er Sharon. Er fand sie. Die dunklen Haare waren nicht zu übersehen. Sie stand am Rand einer kleinen Gruppe von Frauen, die offenbar auf den Richter warteten. Und im gleichen Augenblick trat der Richter ins Freie und kam langsam näher. Jake bewegte sich auf Sharon zu. Er behielt sie im Auge. Über ihre Schulter hinweg konnte er Judge McDermott sehen. Der Richter war eine imponierende Erscheinung. Groß, breitschultrig, sichtlich sportgestählt, mit schlohweißem Haar und einem zerfurchten Patriarchengesicht – eine Kreuzung aus Lome Greene und Arnold Schwarzenegger konnte nicht beeindruckender aussehen. McDermott gab sich volkstümlich: Er trug Boots, einen Stetson und eine Kordelkrawatte über dem weißen Hemd. »Sharon!« sagte Jake. Er stand jetzt genau hinter ihr. Und dann passierte es. * »Ich konnte es nicht verhindern«, murmelte Jake Curtis. »Es ging einfach viel zu schnell. Sharon hatte einen halben Schritt nach vorn gemacht, sie hat dem Richter noch etwas zugerufen. Und dann hat sie geschossen, zweimal, mitten in den Bauch…« Jo sah den Mann an. Jake Curtis war am Ende seiner Nervenkraft angelangt. Eine knappe Stunde war seit dem Attentat verstrichen. »Ich habe Sharon die Waffe weggenommen, blitzschnell«, fuhr Curtis fort. Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, legte den Kopf in den Nacken und sah zur Decke. Jo sah Tränen in seinen Augen glänzen. »Und dann ist mir klargeworden, was ich getan hatte«, fuhr Curtis fort. »Ich weiß nicht, ob die Fernsehkameras alles mitbekommen haben, richtig mitbekommen. Jedenfalls gibt es wahrscheinlich Bilder von mir, wie ich die Waffe halte. Und wie ich damit abhaue.« »Hat Sie niemand aufgehalten?« »Keiner«, sagte Curtis. »Dafür waren die Leute viel zu aufgeregt. Ein paar sind vor mir weggelaufen oder haben sich hingeschmissen. Ein paar sind ohnmächtig geworden, glaube ich. Die Schreie von dem Mann… er muß gräßliche, unvorstellbare Schmerzen gehabt haben. Andere sind zu dem Richter gerannt, es lief alles durcheinander. Ich
habe die Waffe fallen lassen, und dann bin ich schnell weg.« »Und Sharon?« Curtis zuckte die Schultern. »War ebenfalls weg«, sagte er. »Ich glaube, kaum jemand hat überhaupt mitgekriegt, daß sie geschossen hat und nicht ich. Verstehen Sie jetzt meine Lage?« Jo Walker nickte. »Ich verstehe«, sagte er. »Ich habe die Bilder im Fernsehen gesehen.« »Und?« »Anhand der Bilder läßt sich nicht klar sagen, wer geschossen hat«, sagte Jo. Er erinnerte sich an die Aufnahmen, die vor wenigen Minuten über den Sender gegangen waren. Vielleicht hatte irgendwo in New York, vielleicht in einem Hotelzimmer, vielleicht in einer Wohnung, eine Frau oder eine Tochter Lust gehabt, die Nachricht zu sehen. Vielleicht hatte diese Angehörige völlig unvorbereitet erleben müssen, wie McDermott niedergeschossen worden war. Freie Presse ist, wenn du die Glotze anmachst und plötzlich sehen kannst, wie man einen Menschen abschlachtet, den du liebst. Wenn du – beispielsweise – sehen kannst, wie ein Kerl deiner als Geisel genommenen Tochter einen Revolver an die Kehle drückt, Wenn man sehen kann, wieviel Angst deine Tochter hat, wie sie mit dem letzten bißchen Kraft versucht, ein bißchen von ihrer Menschenwürde zu bewahren. Freiheit der Presse ist, wenn du dir diese Bilder immer wieder ansehen darfst, auch nachdem deine Tochter gestorben ist, wenn sie dir von den Titelseiten der Illustrierten entgegenspringt, auf allen Kanälen immer wieder und wieder gezeigt wird. Er murmelte eine Verwünschung, stand auf und begann, langsam im Zimmer auf und ab zu gehen. »Sie haben einen Fehler gemacht«, sagte er leise. »Sie hätten an Ort und Stelle bleiben sollen.« »Und mich mit der Waffe in der Hand festnehmen lassen? Sind Sie wahnsinnig?« Jo sah Jake Curtis an. »In diesem Fall«, sagte er ruhig, »hätte die gerichtsmedizinische Untersuchung Ihrer Hand eindeutig ergeben, daß Sie nicht geschossen haben können. Paraffin-Test, wenn Ihnen das etwas sagt.« Curtis schüttelte den Kopf. »Erstens kenne ich den Begriff nicht, und zweitens bin ich nicht so clever, an so etwas zu denken, wenn meine Freundin gerade einen
zukünftigen Bundesrichter niedergeschossen hat.« Jo mußte lächeln. »Sie haben recht«, sagte er und setzte sich wieder. »Sie sind also weggerannt. Wo ist die Tatwaffe?« »Am Tatort«, antwortete Curtis. »Mit meinen Fingerabdrücken darauf. Ich habe sie einfach fallenlassen.« »Okay, Jake«, sagte Jo. »Ich glaube Ihnen Ihre Geschichte. Was soll ich nun tun? Was erwarten Sie von mir? Soll ich Sharon aufspüren?« Jake Curtis sah auf den Boden hinab. »Was hat Sharon zu erwarten, wenn man sie vor Gericht stellt?« Jo zuckte die Schultern. »Das wird davon abhängen, was sie zu dem Fall zu sagen hat«, antwortete er. »Die große Frage, die im Raum steht, ist ja wohl, warum Sharon das getan hat. Haben Sie eine Erklärung dafür?« Jake Curtis schüttelte den Kopf. Der Summer auf Jos Schreibtisch ertönte. »Tom ist hier«, klang die Stimme von April Bondy aus dem kleinen Lautsprecher. »Er will deinen Besucher festnehmen.« Jo nickte anerkennend. Saubere und schnelle Arbeit, wie sie für Tom Rowland typisch war. Die Leitung stand noch, als die Tür geöffnet wurde und der bullige Captain sichtbar wurde. Hinter ihm war ein halbes Dutzend uniformierter Cops zu sehen. »Hi, Jo«, sagte Tom grimmig. »Sie sind Jake Curtis?« Curtis stand auf. Es sprach für die Klasse von Tom Rowland, daß er anders reagierte als seine Begleitung. Es dauerte nur eine Zehntelsekunde, dann sah Curtis erbleichend in ein Dutzend Mündungen; die Cops hatten blitzschnell ihre Waffen gezogen. »Es hat ein bißchen gedauert«, sagte Rowland ruhig. Er sah Jo an. »Wir haben seine Spur vom Tatort bis hierher verfolgen können, es war nicht weiter schwierig. Jake Curtis, ich erkläre Sie für festgenommen…« »Anklage?« fragte Jo knapp. »Mord ersten Grades«, antwortete Tom Rowland dumpf. »Der Richter ist vor einer Viertelstunde gestorben.« * Selbstverständlich hielt sich ein Mann wie Tom Rowland an die Vorschriften.
Jake Curtis wurde ordnungsgemäß und eingehend über seine verfassungsmäßigen Rechte belehrt, dann legte man ihm Handschellen an. Curtis ließ es widerstandslos über sich ergehen. Tom Rowland sah schweigend zu. »Sie haben meine letzte Frage noch nicht beantwortet«, sagte Jo Walker und sah Curtis an. »Was soll ich für Sie und in Ihrem Auftrag tun?« Jake zögerte. »Finden Sie die Wahrheit heraus«, sagte er leise. »Die ganze Wahrheit. Bleibt das, was wir hier besprochen haben, unter uns?« Jo nickte langsam. Er war sich durchaus bewußt, was dieses Nicken bedeutete. Jake Curtis liebte seine Verlobte, selbst wenn sie ihn in Schwierigkeiten brachte. Er ahnte oder fürchtete, daß die Polizei früher oder später die Wahrheit herausbringen würde – und dann würde man nach Sharon Simmons fahnden, landesweit. Offenkundig wollte Curtis nur eines noch erreichen – Sharon einen Vorsprung zu verschaffen. Tom Rowland gab seinen Männern ein Zeichen. Jake Curtis wurde abtransportiert. Tom Rowland blieb zurück. »Gibt es etwas, das ich wissen müßte?« fragte er ruhig. Jo zögerte. Er wußte in diesem Augenblick nicht, wie die Rechtslage war. Ob er sich strafbar machte, wenn er nichts von Sharon Simmons erzählte. Möglicherweise konnte man ihn wegen Beihilfe belangen. »Er sagte mir, daß er unschuldig sei«, antwortete Jo langsam und bedeutungsvoll. »Und ich glaube ihm.« Rowland kratzte sich hinter dem Ohr. Er grinste. »Wir haben ein prima Fernsehbild«, sagte er. »Von Curtis, mit der Knarre in der Hand. Wir haben die Waffe, und wir werden bestimmt seine Abdrücke darauf finden.« »Aber keinen Pulverschmauch auf seinen Händen«, sagte Jo sofort. »Macht den Paraffin-Test.« Tom zuckte die Achseln. »Er hatte genügend Zeit, sich die Hände gründlich genug zu waschen. Und dabei auch jedes Pulverkörnchen sorgfältig herunterzuspülen. Wenn er unschuldig ist, hätte er nicht abhauen sollen.« »Du hast schon besser argumentiert«, sagte Jo gelassen. »Mag sein. Wir haben eine Leiche, eine Mordwaffe…« »Und kein Motiv!« warf Jo ein. »Das wird sich finden«, gab Tom zurück. »Du willst in dieser Sache
tätig werden?« »Jake Curtis ist mein Klient. Beantwortet das deine Frage?« Tom Rowland nickte. »Das ist kein normaler Fall, Jo«, sagte er nachdenklich. »McDermotts Leiche ist noch warm, buchstäblich, und schon bekomme ich erste Anrufe. Von Freunden. Von Leuten, die es gut mit mir meinen, wie sie sagen. Dieser McDermott ist kein unwichtiger Mann gewesen.« »Ich weiß«, sagte Jo. »Ich habe einiges über ihn gelesen. Er ist in Texas eine der bedeutendsten Gestalten der Geschichte, ein richtiger kerniger Westerner. Natürlich steinreich, und das für die Verhältnisse von Texas.« »Genau so ist es. Was hat dieser Curtis für ein Motiv?« Jo lächelte. Ab und zu versuchte Tom immer noch, Spielchen zu spielen. »Er ist nicht der Täter, Tom«, sagte Jo. Rowland zog die Brauen zusammen. Er sah Jo von der Seite her an. »Augenblick«, stieß Rowland hervor. »Das klang gerade noch anders. Da hast du gesagt, er habe sich als unschuldig ausgegeben. Und du würdest ihm glauben.« »So ist es«, bestätigte Jo; er unterdrückte ein anerkennendes Grinsen. Tom Rowland war nicht durch Zufall Chef der Mordkommission Manhattan C/II. Der Mann hatte Köpfchen und wußte es einzusetzen. »Und jetzt sagst du, er sei nicht der Täter. Das ist etwas anderes.« »Wirklich?« Rowlands Miene verfinsterte sich. »Im einen Fall vermutest oder glaubst du etwas, im anderen Fall weißt du etwas. Verdammt, Jo, spuck’s aus, was immer es ist.« Jo breitete die Arme aus. »Curtis ist mein Klient.« »Soll das heißen, daß wir gegeneinander arbeiten?« »Wir arbeiten garantiert auf der gleichen Seite des Gesetzes«, sagte Jo und sah Rowland in die Augen. Der hielt dem Blick stand, seine Miene entkrampfte sich, zum Schluß erwiderte er Jos Lächeln. »Okay, sag mir Bescheid, wenn du etwas weißt«, erklärte Rowland und verabschiedete sich. April Bondy sah ihm nach, als er aus dem Raum stapfte. »Wehe dem Kerl, der ihm jetzt in die Hände fällt«, sagte sie lächelnd. »Wir haben diesen Curtis als Klienten?« Jo nickte.
»April, aus welchem Grund schießt eine Frau auf einen Mann?« »Oh«, meinte April. »Da gibt es viele Möglichkeiten. Beispielsweise haben gewisse Freunde von mir einer gewissen jungen Dame in ihrem Bekanntenkreis versprochen, mit besagter junger Dame zusammen die Oper zu besuchen…« Jo machte ein zerknirschtes Gesicht. »So bald es möglich ist«, versprach er. »Glaube mir, irgendwann hat dein heißgeliebter Richard Wagner eine echte Chance…« »Sobald er vom Spielplan verschwindet, vermutlich«, gab April zurück. »Aber ernsthaft – spielst du auf McDermott an?« Jo nickte. In knappen Worten berichtete er, was er von Jake Curtis erfahren hatte. »Rache«, sagte April Bondy schließlich mit fester Stimme. »Ganz bestimmt, Rache.« »Rache? Und wofür?« »Was weiß ich«, antwortete April. »Wer von uns beiden ist der Detektiv, du oder ich?« Jo grinste unverschämt. »Diese Frage ist mir zu schwer«, antwortete er heiter. * Die Aufgabe, die Jo sich gestellt hatte, war ebenso knifflig wie schwer. Er mußte die Interessen seines Klienten wahren, ohne dabei gegen geltende Gesetze zu verstoßen. Wenn Jo beispielsweise den Laden aufsuchte, in dem Sharon Simmons den Revolver gekauft hatte, um dort die Adresse der jungen Frau zu erfahren, war er eigentlich verpflichtet, den wichtigen Zeugen zum nächsten Polizeirevier zu schicken. Aber damit hätte er die Absicht von Jake Curtis durchkreuzt, Sharon einen gewissen Vorsprung zu geben. Auf der anderen Seite war Jo zwar verpflichtet, die Interessen seines Klienten zu wahren, aber er mußte nicht alle seine Pläne fördern und unterstützen, vor allem dann nicht, wenn diese Pläne gegen die Gesetze verstießen. Jo fand eine andere Lösung. Er suchte im Telefonbuch nach einer gewissen Sharon Simmons. Es gab deren drei. Die erste Adresse lag in der südlichen Bronx, und nach einem Blick auf den Stadtplan konnte diese Möglichkeit ausgeschlossen werden.
Die Frau, die Jake Curtis liebte, wohnte bestimmt nicht in einer der miesesten Straßen, die sich in der Bronx finden ließen. Möglichkeit zwei – eine Anschrift in Brooklyn. Jo gab seinem Mercedes die Sporen, und nach einer knappen Stunde hatte er die fragliche Adresse erreicht. Ein solides, gutbürgerliches Wohngebiet. Der Anteil der Rauschgiftkonsumenten in diesem Viertel lag vielleicht sogar unter zehn Prozent. (In den ganzen USA wurde von 40 Millionen Konsumenten ausgegangen; das waren zirka 17 Prozent der Gesamtbevölkerung, Greise und Säuglinge eingeschlossen.) Jo stellte den Wagen ab und suchte die Wohnung zu Fuß. Sie lag in einem achtgeschossigen Haus, dessen Eingang von einem grimmig dreinblickenden Zerberus in Gestalt eines bulligen Mannes bewacht wurde. Ein Vietnam-Veteran, dem ein Bein und die halbe Lunge fehlten, wie sein rasselnder und keuchender Atem andeutete. Er war trotzdem Kettenraucher. »Simmons?« Jo nickte. »Können Sie mir die Frau beschreiben, Mister?« »Sie könnte aussehen wie ein Fotomodell, mittelgroß, sehr dunkle Haare…« Der Mann hinter der Scheibe aus Panzerglas grinste. »Ne richtige Zuckerpuppe? Das könnte sie sein. Siebter Stock, Appartement 744a. Aber sie ist im Augenblick, glaube ich, nicht da. Kann natürlich auch über die Tiefgarage ‘reingekommen sein, so genau weiß ich das nicht. Was wollen Sie von der Frau?« »Es könnte sein, Sergeant… richtig geraten?« »Vergessen Sie das Militär«, gab der Ex-Soldat zurück. »Ich jedenfalls will es vergessen. Kommen Sie zum Punkt, Mann. Was wollen Sie von der Frau?« »Kann sein, daß sie einen Richter umgelegt hat!« »Diesen McDermott?« Jo nickte. Jetzt erst sah er im Hintergrund der Pförtnerloge einen kleinen Fernseher stehen. Der Pförtner rieb sich die Nase. »Gefahr im Verzug?« Jo grinste. Das war genau das Stichwort, das er brauchte. »Sehr«, sagte er. »Okay, dann wollen wir mal nachsehen«, erklärte der Sicherheitsbeauftragte. »Aber alles nur im Rahmen der Gesetze.« »Selbstverständlich«, sagte Jo trocken. »Wie es sich gehört.« Der Lift brachte Jo und den Veteran in den siebten Stock. Dann
ging es nach links. Der Teppichboden auf dem Flur war nicht mehr der beste, die Leuchtkörper auch nicht. Die ersten Anzeichen dafür, daß die Gegend abzubauen begann. In zehn Jahren konnte sie ein Sanierungsgebiet sein, in fünfzehn Jahren ein Slum – und in dreißig Jahren wieder absolut in. Harlem hatte eine solche Karriere hinter sich gebracht in den letzten einhundert Jahren. Patterson hieß der Wachmann, und er nahm es mit den Vorschriften genau. Erst einmal versuchte er herauszufinden, ob die Mieterin zu Hause war oder nicht. Dann schnupperte er auffällig. »Riechen Sie ‘was?« Jo grinste. »Gibt es hier überhaupt Gas?« Patterson lachte. »Da haben Sie recht«, sagte er. »Hier ist alles elektrisch. Aber hören Sie dieses Wimmern und Stöhnen?« »Ganz deutlich.« »Dann werden wir wohl ‘mal nachsehen müssen«, stieß der Wachmann hervor. Er griff nach dem Schlüsselbund und machte sich an der Tür des Appartements zu schaffen. »Oha«, sagte er. »Ist ja gar nicht abgeschlossen…« Die beiden Männer sahen sich an. Eine halbe Sekunde später hatten sie ihre Waffen in den Händen. Jo sah, daß der Ex-Soldat schluckte. »Verdammt«, knurrte Patterson. »Es ist das erste Mal nach dem verdammten Krieg, daß ich wieder im Ernst eine Waffe in der Hand halte.« Er schwitzte stark. Sie stellten sich neben der Tür auf. »Eins, zwei…« Jo stieß die Tür auf und wirbelte herum. Fehlanzeige. Niemand zu sehen. Nicht in der Diele, auch nicht im Wohnraum. Im ganzen Appartement war keine lebende Seele zu finden. »Ausgeflogen«, stellte Jo fest und ließ seine Waffe im Holster verschwinden. »Das sehe ich anders«, stieß der Wachmann hervor. »Nicht ausgeflogen – weggeflogen. Der Vogel hat den größten Teil seines Gefieders mitgenommen.« Er hatte recht. Die Bewohnerin des Appartements hatte die Koffer
gepackt, das Nötigste hineingestopft und war dann verschwunden. Offenbar schon vor etlichen Stunden. »Soll ich die Cops rufen, Mister Walker?« Jo schüttelte den Kopf. »Die werden früher oder später von selbst hier auftauchen«, sagte er. »Kann ich mich umsehen?« »Machen Sie nur«, sagte Patterson. »Ich vertraue Ihnen.« »Danke. Was wissen Sie von dieser Miß Simmons?« Patterson zuckte die Schultern. »Nicht viel! Bildhübsch, das Mädchen. Wirkte jünger, als sie eigentlich war. Jedenfalls zu jung für mich. Hätte wohl auch keine Chancen bei ihr gehabt.« »Aber andere Männer?« Patterson schüttelte den Kopf. »Sie war sauber, anständig, keine Drogen, kaum Alkohol. Ich weiß das, weil ich ihr öfter das Zeug, das sie eingekauft hatte, in die Wohnung gebracht habe. Ich wünschte, meine Tochter wäre so proper. Ich kann’s kaum glauben, daß sie McDermott umgelegt haben soll. Aber wenn’s stimmt…« Patterson verstummte. »Ja?« Patterson kratzte sich am Hinterkopf. »Wenn’s stimmt, daß sie ihn umgelegt hat – dann hat sie ein verflucht gutes Motiv dafür gehabt. So eine geht nicht einfach hin und knallt jemanden ab, wissen Sie. Ich weiß, wie Killer aussehen.« Jo erlaubte sich, eine Braue in die Höhe zu ziehen. Patterson grinste dünn. »Mann, Sie brauchen nur einen Mann einzuziehen und nach Vietnam zu schicken, dann wissen Sie’s. Im Krieg kann jeder Soldat zum Mörder werden, vielleicht nur aus Angst. Ich weiß nicht, auf was ich alles geballert habe, drüben in ‘Nam, nur um den anderen keine Chance zu geben, als erster auf mich zu ballern. Und Sie würden sich wundern, wüßten Sie, wie vielen netten Burschen von nebenan es nach kurzer Zeit überhaupt nichts mehr ausmacht, auf alles zu schießen, was sich bewegt und nicht den Yankee Doodle pfeift.« »Ich glaube, ich verstehe«, sagte Jo. Patterson zog zweifelnd eine Braue in die Höhe. »Wirklich? Nun, was soll’s? Sie finden mich in der Loge, wenn Sie mich brauchen.« Er humpelte davon, und Jo machte sich an die Arbeit. *
»Nichts«, sagte Jo Walker mißmutig. »Absolut nichts. Dieses Mädchen ist so sauber wie die Rückseite des Saturn.« »War’n Sie schon mal da? Auf dem Saturn, meine ich.« Jo schüttelte den Kopf. »Noch nicht«, sagte er. »Aber das Jahrtausend ist ja noch nicht ganz herum.« Er stand bei Patterson in der Loge des Schließers. Die Untersuchung von Sharon Simmons’ Appartement war eine einzige Pleite gewesen. Jo hatte viel gefunden: Bücher, Poster, Platten, Video-Filme – Dinge, die eine Menge über den Charakter eines Menschen aussagen konnten. Das galt auch für Sharon Simmons. Sie liebte die Musik der sechziger Jahre. Sie hatte alle Platten der Beatles, alles, was Simon und Garfunkel aufgenommen hatten, die Seekers und etliches mehr. Sie hatte die Wohnung tapeziert mit Postern aus der Friedensbewegung und von Women’s Lib. Aber Sharon Simmons war trotz allem ziemlich unpolitisch gewesen. In ihren Bücherschränken hatte sich so gut wie nichts gefunden, das die Plakate ergänzt hätte, keine theoretischen Schriften, keine Pamphlete. »Irgendwie war nichts wirklich Persönliches da«, sagte Jo halblaut und nahm einen Schluck von dem Bier, das Patterson ihm angeboten hatte. Der Ex-Soldat grinste. »Das ist mir auch schon aufgefallen«, sagte er. »Diese Sharon Simmons war irgendwie komisch. Haben Sie die Puppen gesehen und all das Zeug? Wie bei einem kleinen Mädchen.« Jo nickte. »Und jede Menge Protestsongs und Plakate.« »Und dazwischen ein Loch«, fügte Patterson hinzu. »Ich hab ein paarmal mit ihr geredet. Sie war freundlich und neugierig, wollte wissen, wo mein Bein geblieben ist und meine halbe Lunge…« »Und wo haben Sie beides gelassen?« »In Hue«, sagte Patterson mit zynischem Spott. »Bei der TetOffensive hab ich beides in der Eile vergessen. Aber verstehen Sie, sie hat das gefragt ohne wirkliche Anteilnahme. Ich habe nie etwas Persönliches von ihr erfahren. Nie. Außer…« Jo horchte auf. »Ja?« »Da war mal ein Footballspiel«, erinnerte sich Patterson. »Im Fernsehen. Eine Mannschaft aus Texas, ich glaube die Houston Oilers.
Und da hat sie gesagt, einer der Linebacker, ein gewisser Füller… genau, Füller hat der Mann geheißen. Der sei aus dem gleichen Kaff in Texas wie sie…« Jo zeigte dem Mann den hochgereckten Daumen. »Das war es, was ich brauchte«, sagte er zufrieden. »Ich habe nämlich in der Wohnung nichts gefunden, was erklären würde, woher Sharon Simmons gekommen ist. Nichts. Diese Frau scheint überhaupt keine Vergangenheit gehabt zu haben.« »Und was folgern Sie daraus, Kommissar X?« Jo grinste. »Daß sie eine Vergangenheit gehabt haben muß«, sagte er »Im übrigen… ah, da sind sie schon.« Die Gestalt, die sich in diesem Augenblick vor der Pförtnerloge aufbaute, war unverkennbar die eines gewissen Captains vom New York Police Departement. Und dieser Captain sah sehr übel gelaunt aus. »Hallo, Jo«, quetschte er hervor. »Wie ich sehe, warst du schon vor uns da.« Jo nickte. Er konnte den Grimm von Tom Rowland verstehen. »Hättest du uns nicht alles sagen können?« fragte Tom wütend. »Verdammt, Jo, es wäre deine gesetzliche Pflicht gewesen. Du deckst möglicherweise eine Mörderin.« Jo schüttelte nur langsam den Kopf. Augenblicke wie diesen erlebte er nur selten. Tom Rowland hatte zweifellos recht, die Vernunft und der gesunde Menschenverstand sprachen dagegen. Aber Jos Instinkt sprach dafür, den Fall weiter so zu verfolgen, wie er es tat. Jo spürte tief in seinem Inneren, daß er richtig handelte, mochte es auch nicht unbedingt so aussehen. Dieser Fall war nicht von der Art, die nach Schema F behandelt werden mußte. Dieser Fall war kitzlig und sehr speziell. »Appartement 744a«, sagte er. »Ich habe so gut wie nichts angefaßt. Die Frau ist nicht da, sie ist verreist.« »Weiß man wohin?« »Keine Ahnung«, sagte Jo Walker und hatte ein schlechtes Gefühl dabei, obwohl er nicht log. Tom Rowland gab seinen Männern ein Zeichen. Dezent wie eine Horde Elefantenbullen stürmten die Cops vorwärts. Jo Walker sah Tom Rowlands Blick auf sich gerichtet. »Ich wünschte, Jo, ich könnte dir glauben«, sagte Rowland leise. »Verdammt, ich wünschte, ich könnte es.« Patterson grinste Jo an und deutete auf Rowland. »Ein Freund von Ihnen, Mister Walker?«
Jo lächelte und nickte. »Der beste, den ich habe«, sagte er dann leise. Darauf fiel selbst einem Tom Rowlands nichts mehr ein. * Brontonville, Texas. Das bedeutete: zwanzigtausend Einwohner, umgeben von zweitausend Ölpumpen und zweihunderttausend Rindviechern. Das bedeutete: fast eintausend Einwohner, deren Vermögen, und mindestens zweihundert Einwohner, deren Einkünfte die Millionen-Dollar-Grenze im Jahr überstiegen. Es bedeutete eine Durchschnittstemperatur von sommerfrohen 22 Grad Celsius; es bedeutete Staub und Dreck in gewissen Quartieren der Stadt und Luxus-Klimaanlagen in einigen noblen Villen. Das Sozialgefälle in der Stadt wurde sinnfällig durch die Architektur ausgedrückt. Wenn man sich im Bus oder im Auto der Stadt von Osten her näherte, passierte man als erstes in einer hitzeflirrenden Wüstenlandschaft erbärmliche Blechhütten, in denen Chicanos hausten, die es noch nicht geschafft hatten. Vermutlich in der Mehrzahl Illegale, die Angst vor der Migra hatten, den Beamten des Immigration Office. Eine knappe Meile später tauchten die ersten eingeschossigen Häuser mit richtigen Wänden auf, weißgekalkt und mit knalligen ColaReklamen darauf. Hier lebten die Mexikaner, die es bereits geschafft hatten, halbwegs in God’s own country Fuß zu fassen. Eine halbe Meile nur, dann standen rechts und links von der Hauptstraße Häuser mit bis zu sechs Stockwerken, typische Betonkastenarchitektur, wie es sie inzwischen überall auf der Welt gab. Menschenbehälter, anders konnte man diese Kästen kaum nennen. Immerhin, hier gab es Grünflächen zwischen den Häusern, unterhalb der Leinen, an denen die Wäsche flatterte. Und es gab Parkplätze mit asphaltiertem Untergrund, das sicherste Anzeichen neben Müllhalden, daß man sich der Zivilisation nähert. Dann kam die Schule mit einem ziemlich großen Park drumherum, offenbar gedacht als neutrales Territorium. Auf der anderen Seite der Schule setzte sich die Stadt mit schmucken Mehrfamilienhäusern fort, dann kamen freistehende Häuser, und im Westen von Brontonville waren dann in ausgedehnten Hainen die Villen der Noblen zu finden. In dieser Stadt brauchte ein Mann nur zu sagen, in welcher Straße er wohnte, und man konnte mühelos bis auf fünfhundert Dollar genau
sagen, wieviel er im Jahr verdiente, welcher Nationalität er entstammte und wie viele Kinder er sein eigen nannte. Jo hatte ein Flugzeug nach Texas genommen und in Houston einen Mietwagen, selbstverständlich mit Klimaanlage. Jo hatte es nicht eilig. Niemand in Brontonville schien es eilig zu haben. Die Hitze machte jede Hektik zur puren Kräftevergeudung. Hier liebte man es gemächlich. Jo lenkte den Blick in die Auffahrt eines Motels. Natürlich fehlten nicht die in Texas unvermeidlichen Accessoires – ein weißgestrichener Zaun umgab das Gelände, man fuhr hinein durch ein Tor mit einem stattlichen Longhorn Gehörn im oberen Bogen, und ebenso selbstverständlich hatte jedes Haus die gleiche Zierde über der Tür. Jo hatte sich wenigstens so weit der Landestracht angepaßt, daß er Boots trug und eine Kordelkrawatte. Auf einige andere Attribute texanischer Männlichkeit hatte er verzichtet; den lokalen Dialekt hätte Jo ohnehin nicht imitieren können, da konnte er sich gleich als Fremder zu erkennen geben. Der Aufenthalt in dieser Stadt würde auf ein Wechselbad hinauslaufen, stellte Jo fest. Er verließ den relativ kühlen Wagen, setzte sich ein paar Augenblicke lang einer Hitze aus, die einem das Großhirn zu Bimsstein schmirgeln konnte, um dann wiederum eine Rezeption zu betreten, die es mit einem Kühlhaus oder der Morgue von New York durchaus aufnehmen konnte. Es war fast ein Wunder, daß das Uhrglas nicht sofort beschlug. »Howdy, Mister -.« Eine hochtoupierte Blondine begrüßte Jo. Ihr Lächeln enthüllte sichtlich teure Jacketkronen und etliche Falten, die der Kosmetik widerstanden hatten. »Walker. Ich hatte telefonisch ein Zimmer bestellt.« »Wir haben keine Zimmer, wir haben nur Bungalows«, sagte die Blonde; das von den falschen Zähnen stammende Lispeln wurde von den unverkennbaren Schmatzgeräuschen des Kaugummis beinahe übertönt. Sie blätterte in ihren Unterlagen. »Walker, da haben wir’s. Sie haben Haus 17, sozusagen unsere Fürstensuite.« »Prächtig«, sagte Jo. »Darf ich fragen – sind Sie geschäftlich in unserer schönen Stadt?« Jo nickte und griff nach dem Gästebuch, um sich einzutragen. Die Blonde sah interessiert zu. »Oh, Privatdetektiv sind Sie? Aus New York?« Jo nickte.
»Aber ich bin nicht beruflich nach Brontonville gekommen«, sagte er, »Ich suche vielmehr einen alten Bekannten. Wir waren an der Universität befreundet. Füller hieß er, war ein sehr guter Footballspieler. Sogar eine Zeitlang in einer richtig guten Mannschaft…« »Klar«, sagte die Blondine. »Kenne ich. Hank Füller, der war mal Linebacker bei den Houston Oilers. Ist aber schon Jahre her.« »Stimmt«, sagte Jo und lächelte gewinnend. Es hätte des Lächelns nicht bedurft, um Mrs. Polding zu gewinnen; sie strahlte über das ganze Gesicht. »Ach, sagen Sie«, meinte Jo. »Was kann man denn hier abends so unternehmen in Brontonville?« »Unternehmen?« In der Stimme der Blonden schwang so etwas wie Mißbilligung. »Was stellen Sie sich denn so vor unter… unternehmen?« Jo breitete die Arme aus. »Ein freundliches Bier trinken. Ein Gespräch unter Männern. Vielleicht auch mit einer Lady. Einer wirklichen Lady natürlich, mit der man auch plaudern kann.« Mrs. Polding lächelte geschmeichelt und strich sich die Haare. »Also, was das angeht…«, begann sie. »Aber im Augenblick geht das nicht. Wir haben Trauer.« »Wer -wir?« »Die ganze Stadt. Haben Sie’s denn nicht gelesen? Man hat unseren Richter erschossen, den guten alten Judge McDermott.« Jo zeigte sich sehr überrascht. »Der kam von hier?« »Der größte Sohn der Stadt«, sagte die Lady in Blond, und sie sagte es mit soviel Stolz, als handelte es sich um ihren eigenen Sohn. »Bundesrichter wäre er geworden, wenn dieser Wahnsinnige ihn nicht… grauenvoll, einfach grauenvoll. Aber so geht es zu in der Großstadt. Da wimmelt es geradezu…« Mrs. Polding verstummte, als ihr dämmerte, daß Jo ja geradewegs aus jener Großstadt kam, in der es nach Mrs. Poldings fachfraulichem Urteil von Mördern, Wahnsinnigen und Geisteskranken nur so wimmelte. Wie konnte man sicher ausschließen, daß nicht auch Jo? »Richter McDermott«, sagte Jo staunend. »Ein Sohn dieser bezaubernden Stadt?« »Oh, die McDermotts lebten schon immer hier. Sie haben die Stadt gegründet, damals, im Jahre des Herrn 1840, also vor einhundertfünfzig Jahren. Das werden wir in diesem Jahr noch groß feiern. Einhundertfünfzig Jahre Brontonville, das ist doch mal etwas, nicht wahr?«
Jo verzichtete aus Gründen der Höflichkeit und des Nationalstolzes darauf, die Lady davon in Kenntnis zu setzen, daß es in Europa allenthalben Städte gab, die auf ein zehnmal längeres Leben verweisen konnten als das stolze Brontonville. »Dann herrscht hier sozusagen Staatstrauer?« »So ist es.« Die Lady drehte das Gästebuch wieder zu sich herum. »Privatdetektiv also. Sie wollen doch nicht etwa hier herumschnüffeln?« »Gäbe es denn überhaupt etwas zu schnüffeln?« fragte Jo amüsiert. Es gab etwas, und nichts verriet das deutlicher als das Gesicht von Mrs. Polding. Jo hatte in den langen Jahren seiner Karriere als privater Ermittler gelernt, in Gesichtern zu lesen wie in intimen Briefen, und oftmals waren die Gesichter weitaus aufschlußreicher, als Briefe es sein konnten. Das Gesicht der Blondine verriet, daß es sehr wohl in Brontonville etwas zu schnüffeln und zu ermitteln gab. Es fragte sich nur, ob dieses Etwas verruchter war als Steuerhinterziehung oder kleinkarierter Ehebruch. In Kleinstädten wie dieser, in der ›man‹ sich kannte, gab es fast immer Geheimnisse. Und Mrs. Polding schien genau die Frau zu sein, die sich in den Geheimnissen der Stadt bestens auskannte. »Ich zahle dann gleich für eine Woche im voraus«, sagte Jo. Er zückte das Scheckheft, und dabei ließ er geschickt ein Foto aus der Brieftasche fallen. Das Foto stammte aus dem Besitz von Sharon Simmons und stellte sie selbst dar. Sharon war darauf zu sehen, mit einem unbeschwerten, lachenden Gesicht. Es war das Gesicht einer jungen Frau, die – so schien es – nie in ihrem Leben mit etwas Bösem in Berührung gekommen war. Ein Hauch von Unschuld lag über dem Bild. Wie nicht anders zu erwarten war, schnappte Mrs. Polding sofort nach dem Bild. »Ihre Freundin?« »Eine Bekannte«, sagte Jo amüsiert. »Aber es könnte natürlich auch meine Frau sein.« »Kann es nicht, weil…« Mrs. Polding errötete, während sie auf Jos Ringfinger deutete. Offenbar war ihr klar geworden, daß sie mit dieser Bemerkung auch allerlei über sich selbst verraten hatte – beispielsweise, daß sie Jo bereits darauf überprüft hatte, ob er einen Ehering trug oder nicht. Sie behielt das Foto in der Hand und beugte sich darüber, um ihre
Verlegenheit zu überspielen. »Hübsch«, sagte sie. »Wirklich sehr hübsch.« Es war offensichtlich. Sie kannte Sharon Simmons nicht. Jo hakte dennoch nach. »Simmons heißt das Mädchen. Sharon Simmons. Sie muß auch aus dieser Gegend hier stammen.« Mrs. Polding gab das Foto zurück und zuckte die Achseln. »Kenne ich nicht«, sagte sie bedauernd. »Immerhin, so klein ist unsere Stadt ja nun auch wieder nicht, daß man wirklich jeden Einwohner kennen könnte.« »Sie sind hier geboren?« »Geboren und aufgewachsen«, sagte die Frau und reckte ein wenig den Kopf in die Höhe, als sei es ein Verdienst und eine ganz besondere Ehre, eine gebürtige Brontonvillerin zu sein. Jo ließ das Foto wieder verschwinden. »Haben Sie den Richter persönlich gekannt?« fragte er beiläufig. »Ich…« Die Reaktion von Mrs. Polding war eigentümlich. Auf der einen Seite hielt sie den Kopf nach wie vor stolz erhoben, als sie nickte; auf der anderen Seite tauchte ein bitterer, ja abweisender Zug um ihren Mundwinkel auf. »Ich habe ihn gesehen. Ich habe auch schon mit ihm gesprochen, bei einem Empfang. Aber persönlich gekannt… nein. Dafür sind die McDermotts eine zu feine Familie, als daß sie sich mit einer Polding abgäben.« Wie so oft war es nicht der Wortlaut einer Äußerung, der viel verriet, sondern der Tonfall. Die Worte ›eine zu feine Familie‹ wurden in jenem bekannten Tonfall gesprochen, der in eindeutiger Übersetzung soviel bedeutete, wie: ›Was für eine saubere Familie das in Wirklichkeit ist, weiß ich genau, aber ich rede nicht darüber. Aber wenn ich reden würde…‹ Mrs. Polding sah Jo leicht verweisend an. »Aber Sie fragen mich ja regelrecht aus«, sagte sie streng. »Oh, entschuldigen Sie«, gab Jo schnell zurück. »Das war nicht meine Absicht. Es passiert eben immer wieder, das liegt am Beruf. Außerdem finde ich es natürlich interessant, neugierig, wie ich nun einmal bin. Vielleicht können wir in Ruhe noch einmal reden, später.« Irgend etwas mußte passiert sein, das Jo nicht mitbekommen hatte. So unverhüllt auffordernd und einladend die üppige Blondine mit dem toupierten Haar vorher gewesen war, so abweisend wirkte sie nun. »Vielleicht…«, murmelte Mrs. Polding. Jo verließ die Rezeption, ging zu seinem Wagen zurück und fuhr
den Buick hinüber zu Bungalow 17. Natürlich war auch der Bungalow voll klimatisiert. Die Temperatur im Inneren lag bei knapp sechzehn Grad. Bei den gegenwärtigen Außentemperaturen hatte die Klimaanlage ordentlich zu arbeiten, um diese Kühle zu gewährleisten. Das Zimmer war in kräftigen Bonbon-Tönen gehalten, wie Jo es nicht anders erwartet hatte. Über dem Bett hing ein Öldruck eines Gemäldes von Remington mit wilden Stieren und noch wilderen Cowboys darauf. Der stumme Diener war zum Teil aus LonghornHörnern gefertigt – aus Plastik, denn so viele echte Longhorns liefen auch in Texas nicht mehr herum. Wahrscheinlich gab es nur noch eine einzige Herde, die für Filmzwecke und die Touristen gehalten wurde. Die Rancher jedenfalls bevorzugten Rinder eines anderes Typus; die modernen Prachtbullen hatten kaum noch Hörner. Das Bett war aus dunklem, gedrechseltem Holz im Rancho-Stil gebaut worden, die Bettdecke zeigte indianischen Stil, der große Farbfernseher hingegen stammte eindeutig aus japanischer Produktion. Es gab eine gut bestückte Bar mit Preisen, die vor einigen Jahrzehnten noch einen Cowboy-Aufstand hervorgerufen hätten. »Gemütlich«, stellte Jo fest. Er schaltete den Fernseher ein. Brontonville hatte knapp zwanzig Programme anzubieten, darunter die großen Sender ABC, NBC, CBS, reine Kabel-Programme, zwei religiöse Spezialkanäle, auf denen nahezu ohne Pause gebetet, gebeichtet und zum Spenden aufgerufen wurde. Die beiden lokalen Sender von Brontonville hatten ein besonderes Programm zu Ehren des ›größten Sohnes der Stadt‹ geschaltet. Jo sah eine Zeitlang zu, während er auspackte. Daß sich die örtliche Berichterstattung förmlich überschlug, hatte er erwartet. Daß man den verstorbenen – ›allzu früh hingemeuchelt‹ war der häufigst verwendete Ausdruck – Richter lobpries und in eine Reihe stellte mit Washington, Lincoln und LBJ, verstand sich von selbst. Auffällig fand Jo aber, mit welcher Ungeniertheit die Familie des Toten zugleich Werbung für sich machte. Nahezu auf jedem Bild, das über die Sender ging, war der Schriftzug McDermott zu sehen; der Familie schien nahezu die ganze Stadt zu gehören. Jo war mit dem Auspacken seines Koffers gerade fertig geworden, als es an der Tür klopfte. Jo wölbte die Brauen. Das klang nicht nach einer zarten Damenhand. »Es ist offen«, rief er über die Schulter hinweg. Einen Augenblick
später drehte er sich um und betrachtete seinen Besucher. Das Abzeichen und die Uniform wiesen den Mann als den Sheriff von Brontonville aus; er war fast zwei Meter groß, unglaublich breit in den Schultern, eine Art Zuchtstier auf zwei Beinen. Es paßte dazu, daß er einen .45er Colt im Holster trug, einen wahren Elefantentöter. Jo reimte sich schnell zusammen, was passiert war – die Blondine von der Rezeption hatte offenbar keine Minute gewartet, sondern sofort den Sheriff verständigt. In dieser Stadt hielt man zusammen – sofern man zu den Leuten gehörte, die sich unter diesem Begriff ›man‹ sammelten. Die Chicanos am Stadtrand gehörten ganz bestimmt nicht dazu. »Guten Morgen, Sheriff«, sagte Jo Walker freundlich. Der Sheriff hatte eine Imponierhaltung eingenommen, die er wohl in zahlreichen Western gesehen hatte; den Oberkörper ein wenig nach hinten gelehnt, die Daumen in den Gürtel gehakt. Offenbar hatte er nicht begriffen, daß Typen, die sich im Film so präsentieren, ein paar Szenen weiter Staub fraßen, jedesmal. »Sie sind Walker, nicht wahr, aus New York. Und Sie sind so’n Schnüffler.« Jo fand es richtig, den Sachverhalt aufzuklären. »Ich bin zu Besuch hier«, sagte er gelassen. »Nicht beruflich. Ich wollte einen alten Freund besuchen, einen gewissen…« »Füller, ich weiß.« Der Sheriff hatte ein düsteres, kantiges Gesicht, und wenn er nachdachte, war das von außen gut zu sehen. »Okay, Walker, packen Sie Ihre Sachen wieder zusammen und verlassen Sie die Stadt. Typen wie Sie können wir hier nicht gebrauchen.« Jos Lächeln verlor an Freundlichkeit und wurde dünner. Er deutete auf den laufenden Fernseher. »Wie viele Presseleute treiben sich zur Zeit in der Stadt herum?« fragte er. »Wie viele Fernseh- und Rundfunkgesellschaften haben Teams hergeschickt? Sheriff, was glauben Sie, was die machen werden, wenn sich herumspricht, daß Sie einen Schnüffler aus der Stadt gewiesen haben? Die werten das doch glatt als Beweis dafür, daß es hier tatsächlich etwas zu schnüffeln gibt. Und dann? Wollen Sie das Fernsehen ebenfalls ‘rausschmeißen?« Der Sheriff- H. P. Jones hieß er, wie das Blechschild an seinem Hemd verriet – dachte angestrengt nach. Daß die Logik mit seinem Auftrag im Widerspruch lag, machte ihm zu schaffen. »Sie kennen sich doch sicher aus, Sheriff Jones. Sagen Sie mir, wo ich Füller finden kann. Mein Freund und ich werden ein paar Biere kippen, ein bißchen von alten Zeiten schwatzen, und damit hat sich die Sache.«
Sheriff H. P. Jones kniff die Augen zusammen. »Und das Mädchen?« fragte er mißtrauisch. Jo zeigte sich verwundert. »Miß Simmons?« fragte Jo und brachte das Foto wieder zum Vorschein. »Kennen Sie die Frau?« »Hier wohnt niemand, der Simmons heißt.« »Woher wissen Sie das?« fragte Jo. »Kennen Sie denn jeden Einwohner?« »Ich hab nachgesehen«, murmelte der Sheriff. Er kratzte sich am Hinterkopf. »Okay, Walker, von mir aus können Sie bleiben. Aber ich warne Sie, schnüffeln Sie nicht herum. Das könnte übel für Sie enden.« Jo lächelte sanft. »Vielleicht helfen Sie mir noch weiter, indem Sie mir sagen, wonach ich besser nicht schnüffeln soll. Damit es mir nicht sozusagen versehentlich passiert.« Ironie zu verstehen war nicht eben die Spezialbegabung von Sheriff Jones; er stieß ein unwilliges Knurren aus, dann stapfte er gewichtig aus dem Zimmer. Jo dachte kurz nach, dann griff er zum Telefon. Er rief New York an. Das New York Police Departement. Ron Myers war an der Strippe. »Tom ist nicht da, Jo«, sagte der Detective Lieutenant. »Er ist nach Texas geflogen.« »Eine heiße Spur?« »In gewisser Weise ja«, antwortete Myers. »Wir haben diesen Curtis freigelassen. Er hat nicht geschossen, das steht jetzt fest. Aber seine Freundin, diese Sharon Simmons, ist flüchtig.« »Aha«, sagte Jo. »Wir müssen den Fall natürlich dem FBI übergeben«, sagte Myers grimmig. »Aber vorher wollte Tom noch versuchen, ihn selbst zu lösen. Deswegen ist er nach Texas geflogen.« »Ich verstehe«, antwortete Jo. Der Mord an Richter McDermott war ein Fall für die New Yorker Polizei, es sei den sie kam mit den Ermittlungen nicht weiter und bat das FBI um Hilfe. Von sich aus aktiv wurde die Bundespolizei, sobald es hinreichenden Verdacht gab, daß ein Täter während des Verbrechens die Grenze eines Bundesstaates überschritten hatte – bei der flüchtigen Sharon Simmons war das bestimmt der Fall. Sheriff Jones standen schwere Zeiten bevor – erst die Presse, dann Jo Walker, und nun standen auch noch Tom Rowland und wenig später die legendären Agenten des FBI ins Haus.
Die Kugeln auf Richter McDermott hatten eine ganze Lawine ins Rollen gebracht. Fraglich war nur, wen sie unter sich begraben würde. * »Eine hübsche Frau, wirklich«, sagte Padre Antonio freundlich und gab Jo das Bild zurück. »Ihre Frau?« Jo schüttelte den Kopf. »Eine Bekannte«, sagte er. »Sie muß früher hier gelebt haben, hier in dieser Stadt. Sie heißt Sharon Simmons…« Aus gedruckten oder verfilmten Kreisen wußte man, daß Ermittlungsarbeit darin besteht, in tollen Schlitten herumzufahren, mit atemberaubend dekolletierten Frauen zu flirten, und spätestens nach zwölf Filmminuten muß zum ersten Mal auf den Helden geschossen werden, weil’s sonst zu langweilig wird. So langweilig wie der Tag, den Jo hinter sich gebracht hatte. In diesem besonderen Fall nämlich bestand die Ermittlungsarbeit darin, von einer Kirche zur anderen zu fahren und immer wieder die gleichen Fragen zu stellen. In den USA gab es kein Meldegesetz und keine Meldebehörde; wer wollte, zog einfach um, wie es ihm paßte, ganz ohne Formalitäten. Es gab daher kein Einwohnermeldeamt, bei dem sich Jo nach Sharon Simmons hätte erkundigen können. Aber das Mädchen auf dem Foto trug um den Hals eine dünne Kette mit einem Kreuz daran; folglich war sie Christin, und da sie aus Texas stammte und dunkle Haare hatte, tippte Jo auf einen mexikanischen Ursprung und Zugehörigkeit zur katholischen Kirche. Aber zur Vorsicht hatte er auch alle anderen Religionsgemeinschaften in Brontonville abgeklappert – es waren deren zweiundreißig, angefangen bei den Katholiken, über Anglikaner, Methodisten, Episkopaden, Lutheraner, Scientisten, Quäker, Mormonen… die Liste ließ sich fast nach Belieben verlängern. Was den Deutschen ihr Verein war, schien den Amerikanern ihre Kirchengemeinde zu sein. Padre Antonio schüttelte den Kopf. »Bedaure«, sagte er. »Aber das Mädchen kenne ich nicht.« Er lächelte, ein schlanker junger Mann mit Vollbart und warmen, ein wenig traurig wirkenden Augen. »Und ich wüßte es bestimmt, wenn ich sie gesehen hätte«, fügte er hinzu. Jo hielt das Foto in der Hand. Seltsam, daß niemand dieses Mädchen kennen wollte. Dabei war
sie so hübsch, eine wirkliche Schönheit. »Vielleicht kann Ihnen Luis Ortega helfen, unser Küster. Er ist älter als ich, er lebt schon seit mindestens fünfzig Jahren hier.« »Versuchen wir es«, schlug Jo vor. »Wo kann ich diesen Luis Ortega finden?« »Ich werde ihn suchen, Señor Walker«, sagte der junge Padre. »Warten Sie hier auf mich.« Jo nickte, der junge Geistliche entfernte sich. In der kleinen Kirche war es nicht kalt; sie konnte sich keine Klimaanlage leisten. Die Kirche stand auf der anderen Seite der Sozialgrenze, die durch das Schulgelände gebildet wurde. Jo hatte Lust auf eine Zigarette, aber er beherrschte sich. Er verstaute statt dessen das Bild der geheimnisvollen Schönen in der Brusttasche seines Anzuges. »Walker? Sind Sie Jo Walker aus New York?« Jo drehte sich langsam um. Zwei Männer jenes Typs, mit dem Jo es schon oft zu tun gehabt hatte. Harte, schweigsame Gesichter, unauffällige, aber gutgeschnittene Anzüge. Eine ziemlich dezente Ausbeulung unter der Achsel verriet den Sitz einer Schußwaffe. FBI oder Gangster, tippte Jo; manchmal ließ sich der Unterschied nur anhand des Ausweises feststellen. Was die Manieren anging, konnten sich beide Parteien mitunter die Hände reichen, vor allem, wenn es um den Umgang mit Privatdetektiven ging. »Ich bin Walker«, sagte Jo. Der größere der beiden Männer nickte zufrieden. »Bitte, kommen Sie mit«, sagte er. Bitte – also kein FBI. Jo schüttelte den Kopf. »Mister Walker«, sagte der Große. »Sie sind ein Mann von Verstand. Müssen wir wirklich?« Jo stieß einen Seufzer aus. »Können Sie nicht wenigstens fünf Minuten warten«, sagte er. Der Große schüttelte den Kopf. »Sofort«, sagte er und trat zur Seite. »Wir bringen Sie nachher wieder zurück, wenn Sie wollen.« Das brauchte Jo nicht als Versprechen zu werten, es konnte ebensogut eine völlig unverbindliche Absichtserklärung sein. Jo brauchte nur einen Blick in die ausdruckslosen Gesichter zu werfen, dann konnte er es genau sehen. Falls diese Burschen den Auftrag hatten, Jo zu ermorden und seine Leiche in die Häckselmaschine zu werfen, würden sie das bedenkenlos tun.
»Also?« Jo entschloß sich, den Männern zu folgen. Wenn er Widerstand leistete, lief er Gefahr, den Priester und den alten Küster in den Kampf zu verwickeln, und das wollte er nach Möglichkeit vermeiden. »Und was haben Sie mit mir vor?« fragte Jo. »Jemand will mit Ihnen reden«, sagte der Größere von beiden. Sein Gefährte, der sich durch fast weiße Augenbrauen auszeichnete, hatte bisher nicht einen Laut von sich gegeben. Vor der Kirche stand ein schwarzer Cadillac mit Fahrer. »Gregg, du setzt dich nach hinten, neben Mister Walker«, ordnete der Große an. Jo stieß einen leisen Seufzer aus und stieg ein. Das letzte Bild vor der Abfahrt prägte sich ihm ein. Padre Antonio kam aus der Kirche gestürzt, sah den schwarzen Cadillac und wußte sich offenkundig keinen Reim darauf zu machen. Jo konnte sehen, wie der Priester sich bekreuzigte. Der Große hatte auf dem Beifahrersitz Platz genommen und drehte sich jetzt um. »Nur zur Vorsicht«, sagte er mit einem Lächeln, das keinerlei Freundlichkeit oder Humor ausdrückte. Er hielt eine schwarze Kapuze in die Höhe. Im Innern des Wagens war es dank Klimaanlage angenehm kühl, dennoch begann Jo, unter der schwarzen Haube ein wenig zu schwitzen. Er fühlte sich wie ein Todeskandidat, mochte ihm sein Verstand auch noch so oft sagen, daß sich die Männer diese Mühe nicht machen würden, wenn sie vorhatten, ihn in jedem Fall umzubringen. Das war eine logische Überlegung, ein stichhaltiges Argument. Leider verhielten sich Menschen nicht immer nach den Regeln der Logik und der Vernunft; vor allem Killer nicht. Die Fahrt dauerte fast eine halbe Stunde, dann durfte Jo aussteigen. Der Geruch verriet ihm, wo er angekommen war – vermutlich bei einer alten Blockhütte. »Sie können die Kapuze jetzt abnehmen, Mister Walker!« Jo zog das schwarze Ding vom Kopf. Richtig geraten, er stand vor einem Blockhaus. In den alten Tagen, als das Gesetz der freien Weide noch gegolten hatte, hatte es Ranches gegeben, die größer waren als europäische Fürstentümer um die Zehntausende von Rindern zu kontrollieren, war es nötig gewesen, auf der offenen Weide Blockhäuser einzurichten, gleichsam Wachstationen für das Vieh. Dort hatten Cowboys gewohnt und ge-
schlafen und manches Mal einen erbarmungslosen Winter durchgestanden. Heutzutage, da die Cowboys zum Überwachen der Riesenherden Hubschrauber und Video-Kameras benutzen, waren diese Line Camps nicht mehr vonnöten – jedenfalls nicht mehr für diesen Zweck. »Bitte…« Es klang halbwegs höflich, und Jo folgte der Aufforderung. * Jedes Detail verriet Reichtum, die Möbel, die Teppiche, die Felle und Pelze, sogar das Geschirr. Wer immer diese Blockhütte bewohnte, hatte es sich etwas kosten lassen, sie nach seinem Geschmack umzubauen. Es war eine Luxusunterkunft, denn anders als Luxus konnte man es kaum nennen, daß in dem Haus sowohl eine Klimaanlage lief als auch im großen Kamin ein offenes Feuer brannte. Neben dem Feuer stand ein Mann, schlank, hochgewachsen, in einem schwarzen Anzug. Boots und die Kordelkrawatte wiesen ihn als Texaner aus, ansonsten hätte der Mann jederzeit in einer BrokerFirma an der Wallstreet auftauchen können. Das Gesicht war sehr hellhäutig, dieser Mann arbeitete in einem Büro, nicht in der freien Luft. Er war glattrasiert, und sein Lächeln hatte jenen unverbindlichen Ausdruck, wie er bei Leichenbestattern und Immobilienmaklern häufig anzutreffen ist. »Guten Tag, Mister Walker, bitte nehmen Sie Platz. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Ich habe da einen siebzig Jahre alten Calvados…« »Ich habe es mir angewöhnt, mit meinen Entführern nicht zu trinken«, sagte Jo kalt. »Mit wem habe ich das zweifelhafte Vergnügen?« »Mein Name tut nichts zur Sache«, sagte der junge Mann. Er war knapp über dreißig, und er bewegte sich mit der Sicherheit eines Mannes, dessen Taschengeld schon sechsstellig gewesen war und der seinen ersten Börsencoup schon mit dreizehn gelandet hatte. Wenn dieser Mann mit Nachnamen nicht McDermott hieß, wollte Jo nicht länger Walker heißen. »Machen wir es kurz«, sagte Jo Walker. »Sie haben mich von Ihren Gorillas verschleppen lassen. Das nennt man Kidnapping, und es gibt Bundesstaaten in diesem Land, in denen man dafür mit dem Henker Bekanntschaft macht…« McDermott sah Jo mit einem schwachen Lächeln an.
»Reden wir ernsthaft«, schlug er vor. Mit einer lässigen Handbewegung scheuchte er die beiden Leibwächter aus dem Raum. McDermott goß sich einen Calvados ein; allein der Geruch reichte aus, Jo das Wasser im Mund zusammenlaufen zu lassen. Aber er blieb hart. »Ich habe erfahren, daß Sie Privatdetektiv sind, offenbar mit einem recht guten Namen. Und daß Sie nach zwei Personen suchen. Nach Hank Füller und einer Frau namens Sharon Simmons. Ist das richtig so?« Jo zuckte die Schultern. »Es ist vor allen Dingen meine Sache, nicht Ihre«, antwortete er. McDermott zeigte sich unbeeindruckt. »Offenkundig ist ebenfalls, daß Sie lügen«, sagte er ruhig. »Ach?« McDermott erlaubte sich ein mageres Lächeln. »Der größere der beiden Männer war jener Hank Füller. Früher Linebacker bei den Oilers, dann hat er sich im Training ein paar Sehnen zerfetzt und konnte nicht mehr spielen. Jetzt einer meiner BodyGuards. Sie haben ihn nicht erkannt, also erzählen Sie mir nicht, daß Sie mit ihm befreundet waren. Er kennt übrigens keinen Jo Walker.« Das war eindeutig ein Punkt, der an McDermott ging. Jo steckte den Treffer weg. Er war gespannt, was der Mann von ihm wollte. »Folglich suchen Sie vor allem nach dem Mädchen«, fuhr McDermott fort. »Woher haben Sie Ihre Informationen, wenn ich fragen darf?« »Meine Sache«, antwortete Jo ruhig. Er war auf der Hut. Jetzt wurde es spannend. McDermott mußte ein paar seiner Karten auf den Tisch legen. »Wie Sie wollen, Walker«, sagte McDermott. »Ich möchte Ihnen nur ein paar Tatsachen ins Gedächtnis rufen. Sie sind seit gestern abend in der Stadt und suchen nach dieser Sharon Simmons. Punkt zwei ist, daß vor ziemlich genau einer Stunde öffentlich bekannt wurde, daß Sharon Simmons die Frau ist, die auf meinen…« Er war dabei, sich zu versprechen, bekam aber noch einmal die Kurve. »… alten Freund, den Richter, geschossen und ihn ermordet hat« McDermotts Lächeln war von einer Kälte, die einen Wasserfall hätte erstarren lassen. »Woher wissen Sie von der Täterschaft dieser Frau, Walker? Lange, bevor unsere Polizei davon etwas wußte. Antworten Sie, Walker. Sie können sich ausrechnen, daß man Sie nach Lage der Dinge als Mittäter, Anstifter oder was auch immer festnehmen kann, und bis Sie
in diesem County ein Anwalt wieder aus dem Knast herausholt, sind Sie Urgroßvater geworden.« Diese Drohung war ernst gemeint, und Jo konnte sich ausrechnen, daß sie nicht aus der Luft gegriffen war. Jo dachte trotzdem nicht daran, sich unter Druck setzen zu lassen. »Sie vergessen meine berufliche Schweigepflicht«, antwortete er. McDermott sah ihn lauernd an. »Kann ich das Foto dieser Sharon Simmons einmal sehen?« Jo zögerte. Was versprach sich McDermott davon? »Meinetwegen.« Jo zog das Bild aus der Brieftasche. McDermott griff danach. Seine Hand war sehr ruhig, und auch in seinem Gesicht zuckte kein Muskel, als er einen Blick darauf warf. Nur im Hintergrund seiner Augen war zu sehen, wie jäh lodernde Angst in ihm aufschoß. »Hmm«, meinte er nach einigen Sekunden. »Wirklich hübsch.« Es war eine dumme, nichtssagende Floskel. McDermott mußte Zeit schinden, sich fassen und sammeln, bevor er wieder etwas sagen konnte. Er wandte den Blick von dem Bild. »Sie wollen dieses Mädchen finden?« Jo Walker nickte. McDermott gab Jo das Bild zurück. »Okay, finden Sie sie. Ich zahle Ihnen fünfzigtausend, wenn Sie das Mädchen finden.« Jo legte ein wenig den Kopf zur Seite. »Fünfzigtausend?« »Okay, hunderttausend«, verbesserte sich McDermott. »Aber dafür müssen Sie das Mädchen auch vor der Polizei finden… Trauen Sie sich das zu?« Jo lächelte dünn. »Wenn ich Unterstützung durch die Behörden hier bekomme«, sagte er gedehnt. »Bisher werde ich nur von allen Seiten angelogen.« McDermotts Lächeln wirkte zufrieden. »Ich werde dafür sorgen, daß man Ihnen hilft«, sagte er. »Ich habe ein wenig Einfluß hier in dieser Gegend.« »Ich weiß, Mister McDermott«, sagte Jo kalt. McDermott reagierte nicht. Er streckte Jo die Hand hin. »Einverstanden?« Jo schüttelte den Kopf. »Erst will ich wissen, was Sie mit dem Mädchen vorhaben, wenn ich sie finde. Sie werden mir doch nicht weismachen wollen, daß Sie lediglich daran interessiert sind, die Mörderin des Richters zu finden
und der Justiz zu übergeben.« »Was erwarten oder vermuten Sie?« Jo zuckte die Achseln. »Ich nehme an, daß Sie das Mädchen von einem Ihrer Killer umlegen lassen.« McDermott lächelte zynisch. »Mister Walker«, sagte er dann sanft und sehr bestimmt. »Sie schätzen mich falsch und richtig zugleich ein. Es stimmt, wenn ich wollte, würde dieses Mädchen getötet werden. Ich habe die Macht, solche Befehle durchzusetzen. Es gehört nicht viel dazu.« »Wir haben Gesetze«, antwortete Jo grimmig. McDermott machte eine wegwerfende Handbewegung. »Gesetze! Erzählen Sie mir nichts von Gesetzen und Moral, Mister Walker. Hier geht es einfach um Macht, um sonst nichts. Und Sie haben das Wort eines Mannes, der sehr viel Macht besitzt – ich bin nicht am Tod dieses Mädchens interessiert. Nicht, wenn es sich vermeiden läßt.« Jo spürte ein Frösteln an seinem Rücken. »Und wer entscheidet das – ob es sich vermeiden läßt oder nicht?« McDermott wölbte eine Braue. »Das Mädchen. Oder ich, je nachdem. Finden Sie Sharon Simmons, dann sehen wir weiter.« »Welches Interesse haben Sie an dem Mädchen?« fragte Jo mißtrauisch. Er begriff nicht ganz, was in McDermott vorging. Der junge Mann schloß für einen Augenblick die Augen, als müsse er sich erinnern. »Nichts, was für Sie von Interesse wäre«, sagte er. Jo Walker zuckte die Schultern. »Nichts zu machen«, sagte er dann schroff. »Wenn ich Sharon Simmons finde, werde ich sie der Polizei übergeben. Ich werde weder dafür sorgen, daß sie ermordet wird, noch werde ich dabei helfen, sie dem Zugriff der Justiz zu entziehen.« »Das verlangt auch niemand«, sagte McDermott. »Aber – wie Sie wollen. Sie können gehen. Meine Männer werden Sie zurückbringen. Ich schlage Ihnen allerdings vor, die Stadt zu verlassen, bevor ein Unheil passiert.« McDermott sah Jo Walker offen an. »Ich mag es ganz und gar nicht, wenn jemand versucht, meine Pläne zu durchkreuzen«, sagte er. »Überhaupt nicht. Sie verstehen?« Jo begriff sehr wohl. Dieser Mann wähnte sich im Besitz einer Macht, die ihm gewissermaßen sogar das Recht gab, sich über Recht und Gesetz hinwegzu-
setzen, wenn er es für erforderlich hielt. Jo fröstelte. Menschen wie dieser vornamenlose McDermott waren in seinen Augen noch gefährlichere Verbrecher als die Rauschgiftbarone; die Drogenbosse wußten, daß sie Verbrecher waren und gegen Gesetze verstießen. Die McDermotts aber setzten sich einfach über das Gesetz hinweg und glaubten dann auch noch, besonders gute Bürger zu sein. Und da sie dank ihres Einflusses auch noch als gesellschaftliche Vorbilder galten, konnten sie dem Gemeinwesen eines Staates einen verheerenden Schaden zufügen. Sie unterliefen mit ihrem Verhalten die Grundlage jeder Rechtsprechung – daß nämlich das Gesetz gilt, für alle ohne Ausnahme und zu jeder Zeit, und daß jedermann sich an das Gesetz zu halten hat, nicht nur dann, wenn es ihm in den Kram paßt. »Sie werden sich, möglicherweise, damit abfinden müssen«, sagte Jo Walker kalt. »Es sei denn, Sie verraten mir Ihre Pläne.« McDermott würdigte ihn keiner Antwort. Er drückte nur einen Klingelknopf, und eine halbe Sekunde später öffnete sich die Tür. Hank Füller stand auf der Schwelle. Jo verließ den Raum. Er tat es mit einem unguten Gefühl. Dieses Mal bekam er keine Kapuze über den Kopf gezogen, und so konnte Jo sehen, daß hinter der Blockhütte ein Hubschrauber stand. Vermutlich hatte er McDermott hergebracht. Aber wem gehörte dann der Pontiac, den Jo ebenfalls sehen konnte? Ein Pontiac in Pink und Gold – selbst für Texas eine reichlich ungewohnte Farbkombination. Jo war sicher, den Wagen schon einmal gesehen zu haben. Aber wo? * In seinem Hotelzimmer wartete eine Überraschung auf Jo. Tom Rowland hatte es sich in einem Sessel gemütlich gemacht, die Beine auf das Bett gelegt, und kostete von dem Whisky in Jos Zimmerbar. »Hi« sagte Jo nur. »Für mich einen doppelten.« »Hi«, antwortete Rowland. »Hast du noch ein zweites Glas, oder traust du dich, mit mir aus einem zu trinken?« »Gib her«, sagte Jo und nahm einen Schluck. »Seit wann bist du hier?« »Drei Stunden«, antwortete Rowland grimmig. »Und ich habe schon allerhand in Erfahrung gebracht.«
»Laß hören.« Jo ging in das angrenzende Badezimmer, um sich frisch zu machen. Die Tür ließ er offen. »Du zuerst«, gab Rowland zurück. »Du bist schon länger hier.« Jo hielt den Kopf unter die Wasserleitung; das kalte Wasser tat seinem Nacken gut. Dann rubbelte er sich die Haare trocken. Mit dem Handtuch in den Händen kehrte er in das Zimmer zurück. »Irgendein McDermott hat gerade mit mir geredet«, sagte Jo. Die Zeit, in der er mit Tom nicht offen hatte sprechen können, war vorbei. Der Fall Jake Curtis war erledigt, der junge Mann war auf freiem Fuß. Jetzt ging es nur noch um den Mord an Richter McDermott und die höchst eigentümlichen Begleitumstände dieses Mordes. »Was wollte er?« »Daß ich Sharon Simmons finde, bevor die Polizei zufassen kann.« »Und was folgerst du daraus?« Jo zuckte die Schultern. »Ich nehme an, die Familie der McDermotts hat der Familie von Sharon einmal sehr übel mitgespielt. Jetzt hat Sharon sich gerächt, und wenn sie vor Gericht gestellt würde, käme die alte Geschichte wieder an die Oberfläche. Das könnte die Geschäfte der McDermotts stören – und so etwas mag diese Familie überhaupt nicht.« Rowland nickte langsam. »Paßt ins Bild«, sagte er. »Der Mord an dem Richter ist die eine Sache. Die Vertuschungsaktion danach ist die andere.« Jo grinste. »Okay, machen wir Arbeitseinteilung. Wer kümmert sich um was?« Rowland sagte nichts, er nippte nur an seinem Whisky. »Was ist los?« »Der Fall ist uns entzogen worden«, antwortete Tom. »Auf höhere Weisung hin.« »Das FBI?« »Du wirst es nicht glauben wollen«, sagte Rowland leise. »Der Fall ist nach hier verlagert. Die Ermittlungen werden von hier aus betrieben, unter der Leitung der örtlichen Behörden…« »Also praktisch unter der Aufsicht der McDermotts?« Rowland nickte. »Und was glaubst du, werden die feinen McDermotts beschließen?« »Kein öffentliches Verfahren«, sagte Jo nachdenklich. »Das ist jedenfalls mein Eindruck.« »Du meinst, sie würden den Mord an dem Richter einfach so hinnehmen? In Texas? Bei einer so stolzen Familie?« »Es hängt davon ab«, sagte Jo leise.
»Wovon?« »Davon, was bei dem Prozeß herauskommen könnte. Von dem, was Sharon Simmons möglicherweise sagen könnte.« Tom Rowland schüttelte den Kopf. »Was sollte das sein?« fragte er. »Abgesehen davon, daß sie gar nicht Simmons heißt.« Jo wölbte die Brauen. »Sie heißt nicht Simmons?« »Wir haben nachgeforscht. Das Mädchen lebte seit ein paar Jahren in New York unter diesem Namen. Vorher war sie in Baltimore, und da hat sie sich Jennings genannt.« »Hmmm!« machte Jo. Die Sache gab ihm zu denken. In den Vereinigten Staaten konnte jedermann jederzeit den Namen wechseln, eine Möglichkeit, die vor allem von Filmschauspielern, von flüchtigen Verbrechern und von Männern genutzt wurde, die sich vor Unterhaltszahlungen drücken wollten. »Warum wechselt ein bildhübsches junges Mädchen den Namen?« rätselte Jo. »Habt ihr in den Karteien nachgesehen?« »Haben wir«, sagte Tom. »Im Appartement gab es Fingerabdrücke in Menge, darunter übrigens einen mit deutlichen Schmauchspuren daran. Es steht also ziemlich sicher fest, daß das Mädchen auf den Richter geschossen hat.« Jo nippte an dem Whisky. Das hatte er befürchtet. »Weder in unserer Kartei«, fuhr Tom Rowland fort, »noch in der Fingerabdrucksammlung des FBI sind die Abdrücke des Mädchens gespeichert. Sie scheint bis dahin völlig sauber gewesen zu sein.« »Warum schießt sie dann auf einen Richter?« fragte Jo. »Das macht doch keinen Sinn, nicht den geringsten.« Jo stieß einen tiefen Seufzer aus. Er sah auf die Uhr. Tom grinste schwach. »Zeit fürs Abendgebet?« fragte er mit leisem Spott. Jo schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Ich habe den Priester vergessen! So ein…« »Willst du noch hin?« Jo nickte. Tom griff nach seiner Jacke. »Ich komme mit!« Rowland setzte ein schiefes Grinsen auf. »Zum einen ist es mir zu kalt hier drin, und zum anderen – ich kann das Nichtstun einfach nicht ertragen. Aber verrate das nicht dem Departement, sonst lassen die mich noch ohne Bezahlung schuften.« Jo lachte nur. Er konnte Tom gut verstehen. Polizisten hatten ganz allgemein, wie Psychologen behaupteten, einen starken Handlungs-
drang und meist auch den entsprechenden Mut, der dazu gehörte. Wenn man solch einen Mann fertigmachen wollte, brauchte man ihn nur in Urlaub zu schicken oder mit höchst langweiligem Schreibtischkram zu beschäftigen. Mit Privatdetektiven war das wahrscheinlich nicht viel anders… * Der Himmel war sternenklar, oder er hätte es wenigstens sein sollen. So weit war auch Brontonville nicht von der sogenannten Zivilisation entfernt, daß sie sich nicht mit ihrem Dreck bemerkbar gemacht hätte. Angeblich konnte man, bei besten Sichtverhältnissen, an solch einem Abend bis zu viertausend einzelne Sterne am nördlichen Himmel sehen. Es war solch ein Abend, keine Wolke weit und breit. Aber irgendwelche Dunstschleier, vielleicht auch der Staub der nahen Prärie, verlegten die Sicht; nur ein paar hundert Sterne waren zu sehen, als Jo und Tom die Hauptstraße entlangfuhren. Brontonville war wirklich ein sauberes Städtchen. Auf den Straßen war nichts los; sogar die Leuchtreklamen der Bars und Geschäfte wirkten irgendwie bieder. »Ein Kaff«, stellte Tom Rowland fest. »Spießig, borniert, kleinstädtisch und natürlich hochanständig.« »Vor allem letzteres«, sagte Jo. Die kleine Kirche kam in Sicht. Jo bog von der Hauptstraße ab und stellte den Wagen auf dem Parkplatz ab. Die beiden Männer stiegen aus. »Ich…«, begann Tom. Eine Explosion riß ihm die folgenden Worte von den Lippen. Aus dem Inneren der kleinen Kirche schössen feurige Wolken hervor; Glas zerklirrte, die Splitter fegten sirrend durch die Luft. Im nächsten Augenblick war die gesamte Kirche eingehüllt in einen Feuerball, nur grob waren die Konturen des Gebäudes schwarz in dem leuchtenden Gelb auszumachen. Jo und Tom reagierten instinktiv und gingen hinter dem Wagen in Deckung. Splitter fegten heran, bösartig summend. Es donnerte und krachte scheppernd. Jo stieß eine Verwünschung aus. Hart neben ihm schlug etwas in den Boden ein. Jo war noch so geblendet von der Helligkeit der Explosion, daß er nur die Erschütterung wahrnehmen konnte. Er hielt sich die Ohren zu, wartete ab.
Ein paar Sekundenbruchteile waren es nur. Dann war es wieder ebenso still wie vorher – bis zu dem Augenblick, als der Trümmerregen einzusetzen begann und es zerfetzte Balken, Blechteile und andere Überreste der Kirche regnete. »Los!« schrie Jo und setzte sich in Bewegung. Er rannte hinüber zu den Überresten des Gebäudes. Es sah nicht gut aus für die Personen, die sich womöglich im Inneren aufgehalten hatten, aber vielleicht hatten sie noch eine Chance. Die Kirche war eine Kirche für die Armen gewesen, aus vergleichsweise leichtern Material erbaut, das der Explosion keinen großen Widerstand entgegengesetzt haben konnte. Vielleicht… Balken und Bretter lagen übereinander. Flammen züngelten hoch. Jo packte zu, zerrte an den Balken. »Padre!« schrie er mit aller Stimmkraft. »Padre Antonio..!« Tom kam Jo zu Hilfe. Die beiden Männer arbeiteten wie besessen. Und sie hatten Glück. Schon nach wenigen Augenblicken hatten sie den Mann gefunden. Der Priester sah übel aus, Blut lief ihm über das Gesicht, seine Kleidung war zerfetzt. »Aber er atmet noch«, stellte Jo fest. »Und sein Herz schlägt.« Er hatte die Fingerspitzen an die Halsgrube des Priesters gelegt und konnte an der Schlagader das Pochen des Herzens deutlich fühlen. Jo wollte einen Seufzer der Erleichterung ausstoßen. Da traf ihn Toms Ellenbogen zwischen die Rippen. Jo drehte sich halb herum. Inzwischen hatten die Bewohner des Viertels registriert, was passiert war. Und ganz offenkundig machten sie sich ihren eigenen Reim auf das, was sie sahen – zwei Gringos, die sich an dem allseits beliebten und verehrten Priester zu schaffen machten, wahrscheinlich, um dem Mann den Rest zu geben. Jo sah sie heranrennen, mit Werkzeugen in den Händen, mit Baseballschlägrn, bleigefüllten Wasserrohren, blitzenden Messern und Macheten, mit allem, was an Waffen und Werkzeugen gerade zur Hand gewesen war. »Verdammt!« fluchte Tom. »Die wollen uns massakrieren.« »Sieht ganz so aus«, stellte Jo fest. Der Padre war noch immer nicht bei Bewußtsein. »Hau ab, Jo«, rief Rowland schnell. »Ich decke dir den Rücken!« Tom Rowland hatte sich inzwischen aufgestellt, kurz bevor die ersten Angreifer die Überreste der gesprengten Kirche erreicht hatten.
Langsam wollte Rowland in seine Jacke greifen und nach seiner Dienstmarke suchen, aber die Bewegung wurde von den Chicanos des Viertels gründlich mißverstanden. Sie glaubten, er suche nach seinem Revolver. Mit einem wahren Panthersatz stürzte sich der erste auf Tom… Er lief genau in einen Aufwärtshaken, der ihn wie vom Blitzschlag gefällt auf den Boden krachen ließ. Das Ganze hatte nur eine knappe Zehntelsekunde gedauert, und es machte den Angreifern klar, was ihnen blühte, wenn sie sich an Tom Rowland heranmachten. Natürlich war der Haufen insgesamt stärker als Tom, aber die ersten Angreifer würden einen hohen Preis zahlen für ihre Kühnheit. »Aufhören!« schrie Jo und versuchte, den Pater in die Höhe zu ziehen. Aber Padre Antonios linkes Bein stak noch unter den Trümmern der Kirche fest. Allein konnte Jo den Priester nicht bergen. »Verdammte Yankees«, gellten die Rufe durch die Nacht. »Schlagt sie tot, die Hunde!« Das Ganze artete zum Volksfest aus. Im Vordergrund die jungen Burschen und die Männer, die sich um den Trümmerhaufen zusammengerottet hatten, der einmal ihre Kirche gewesen war. Im Hintergrund sammelten sich die Frauen und Mädchen, und überall waren Kinder jeglichen Alters zu sehen. Wenn jemand gehofft hatte, das Auftauchen der Frauen würde die Männer beruhigen, sah sich dieser Jemand getäuscht; die Frauen kreischten und wimmerten in den höchsten Tönen, und wenn sie nicht Gebete ausstießen, dann stachelten sie mit schrillen Zurufen ihre Männer an. Bevor Jo Walker in das Chaos hineingerissen wurde, konnte er noch eines sehen: einen Mann, der ein Walkie-Talkie in der Hand hielt und etwas in die Sprechöffnung sagte, ganz offenkundig zufrieden mit sich und dem Gang der Dinge. Dann aber hatte Jo für Beobachtungen keine Zeit mehr. Sie fielen zu dritt über ihn her, einer mit einem Messer, ein zweiter mit den bloßen Fäusten, der dritte Mann schwang einen Baseballschläger. Mit so einer Waffe hatte der legendäre Al Capone einmal einem Rivalen das Gehirn eingeschlagen; das Ding taugte also als Mordinstrument. Jo überließ den verletzten Padre sich selbst; er konnte ihm jetzt nicht mehr helfen. Jo bewegte sich zur Seite. Ein Blitzen fegte seitlich an ihm vorbei. Das war die Klinge des Messers gewesen. Während Jo den Mann mit dem Baseballschläger fixierte, zog er gleichzeitig mit dem rechten Arm durch. Er traf den Messerstecher voll. Der Mann stieß einen lauten
Schmerzenslaut aus, als Jo ihm mit furchtbarer Wucht das Messer aus der Hand prellte. Der Baseballschlägerschwinger ließ seine Waffe kreisen. Offenbar hatte er es mehr aufs Imponieren abgesehen als auf einen ernsthaften Kampf. In Jos Hinterkopf war ein Ächzen und Grunzen zu hören, und zwischendurch immer wieder krachende und schmetternde Laute. Der gewichtige Captain der Mordkommission in New York verkaufte sein Fell so teuer und so wirkungsvoll wie nur möglich. Jo wich einem Angriff aus und ließ die Fäuste fliegen. Mit rechts traf er den Waffenlosen, der sich binnen einer Zehntelsekunde von einem waffenlosen in einen besinnungslosen Kämpfer verwandelte; der Mann war knockout, bevor er noch den Boden berührte. Von irgendwoher kam ein Geschoß herangezwitschert und fegte eine Handbreit an Jos Kopf vorbei. Die Sache wurde zusehends gefährlicher. »Los, komm!« rief Jo dem Mann mit dem Baseballschläger zu. Die Meute hatte sich inzwischen ohne Worte verständigt; das Spiel sollte wohl so aussehen, daß die beiden Männer sich eines Angreifers nach dem anderen zu erwehren hatten. Irgendwann würden ihnen zwangsläufig die Arme erlahmen, dann mußten sie der Übermacht erliegen. Aber diese Strategie brauchte ihre Zeit, und so schnell war Männern wie Jo Walker und Tom Rowland nicht beizukommen. Jo Walker mußte bei dem Kampf darauf achten, daß er nicht auf den besinnungslosen Padre Antonio trat, der noch immer vor ihm auf dem Boden lag. Daß die Männer, die Jo und Tom bedrängten, keinerlei Rücksicht auf den verletzten Geistlichen nahmen, war für Jo Walker ein Hinweis darauf, daß ihre Empörung nur gespielt war; es ging ihnen nicht darum, den vermeintlichen Tod des beliebten Geistlichen zu rächen. Es ging ihnen lediglich darum, Randale zu machen und zwei Stadtfremde mit bequemer Übermacht gemütlich zu verdreschen; ein paar dieser Radaubrüder standen vermutlich im Sold irgendwelcher zahlungskräftiger Drahtzieher. Der Kampf zog sich in die Länge… Hätten es die Männer tatsächlich auf Jo und Tom abgesehen gehabt, hätten die beiden Freunde keine Chance gehabt, sich dieser Meute zu erwehren. So aber wurde den Angreifern die Angelegenheit allmählich zu gefährlich.
Jo ließ seine Faust gegen ein Kinn krachen, während er von hinten einen Schlag in die Rippen einstecken mußte. Dann krachte es dumpf, und Jo wußte, daß die harte Faust des Captains ein neues Ziel gefunden hatte. Es war seltsam still geworden. Im Hintergrund kreischten noch einige Weiber und versuchten, die Männer anzustacheln, aber dort, wo gekämpft wurde, waren nur noch andere Geräusche zu hören – Ächzen, Stöhnen, mühevolles Luftschnappen. Jo nahm noch einmal alle Kraft zusammen. »Verdammt!« schrie er, so laut er konnte. »Helft mir lieber! Der Padre stirbt, wenn wir ihm nicht helfen!« Das wirkte. Die Angreifer hielten inne. Über die Köpfe der Männer hinweg sah Jo nach dem Mann mit dem Funksprechgerät; der Bursche schien seine Felle davonschwimmen zu sehen. Er schickte noch ein paar Worte durch den Äther, dann schob er mit einer schnellen Handbewegung die Antenne in das Gehäuse und sah zu, daß er außer Reichweite kam. Einige der anderen Männer bekamen die kleine Szene mit. Ganz offenkundig war es so, daß damit der Anführer des Lynchkommandos das Weite gesucht hatte. Das gute Beispiel steckte an; auch die anderen Helden traten den Rückzug an. Jo blieb schnaufend auf dem qualmenden und stinkenden Trümmerhaufen stehen, der einmal ein Gotteshaus gewesen war; eine primitive Wohnstatt, gewiß, aber zwischen Wellblech war die Frömmigkeit von jeher mehr zu Hause gewesen als zwischen Marmor und Gold. »Helft mir!« stieß Jo hervor. Sein Körper war eine einzige Ansammlung von Schmerzen. Jeder Muskel tat weh, und bei jedem Atemzug spürte Jo seine Lungen förmlich, in Flammen aufgehen. Aus seinem linken Mundwinkel lief ein dünner Blutsfaden. Tom Rowland sah nicht viel besser aus; auch sein Atem hörte sich an wie eine halbverrostete Dampflokomotive. Sein rechtes Auge war zugeschwollen und würde in den nächsten Tagen prächtig aussehen – vielleicht so prächtig wie das breite Grinsen des Cops. Jo grinste matt zurück, dann drehte er sich wieder um. Jetzt, da sich die Verhältnisse gewandelt hatten, kamen die Menschen rasch zur Sache. Mit fliegenden Händen räumten sie Trümmer weg, Balken, die Reste von Bänken, ein paar Kerle, die von Jo und Tom zur mittelfristigen Ruhe geschickt worden waren. »Er lebt!« rief einer der Männer über die Schulter hinweg den War-
tenden zu. »Der Mann hier hat die Wahrheit gesagt.« Jo Walker stieg von dem Trümmerhaufen herunter. Eine Frau hielt ihm ein Flasche mit Wasser hin. Jo nickte dankbar, nahm die Flasche und setzte sie an den Mund. Schon beim ersten Schluck öffneten sich seine Augen weit. Es war das flüssige Höllenfeuer selbst, das ihm durch die Kehle rann. »Ufff!« machte Jo, während sich seine Augen mit Tränen füllten; er schnappte nach Luft. Der Schnaps hätte getrost den Namen Mike Tyson Special tragen können; in der Schlagkraft jedenfalls war er durchaus mit dem Schwergewichtsweltmeister vergleichbar. »Was, zum Teufel, haben Sie mir das gegeben, Señora?« Die Frau mit dem mütterlichen Lächeln sah Jo freundlich an. »Tequila«, sagte sie gelassen. »Selbstgebrannten.« »Großer Gott«, ächzte Jo, während sich die Waberlohe dieses Teufelsbrandes in seiner Magengrube auszubreiten begann; dennoch war Jo grausam genug, die Flasche mit unschuldigem Grinsen an Tom Rowland weiterzureichen. »Das Zeug«, stieß Jo hervor, »könnte einen Mann umbringen.« »Ach was«, sagte die Frau und rollte kokett mit den Augen. »Meinen Mann hat der Tequila immer munter gemacht.« Der Priester war inzwischen geborgen; mit großer Behutsamkeit legten die Männer ihn auf eine Trage. Jo trat zu den Männern, die die Trage schleppten. Sie blieben stehen. Jo beugte sich zu dem Verletzen hinunter. Er war übel zugerichtet, sein Gesicht blutverschmiert. Padre Antonio öffnete die Augen, sein Blick irrte umher, blieb schließlich an Jo hängen. »Ah«, seufzte er. »Sie…« »Später«, sagte Jo schnell. »Sie brauchen einen Arzt, Padre…« Padre Antonio lächelte schwach. »Ich habe etwas für Sie«, sagte er leise. Er sprach stockend und undeutlich; seine Lippen waren geschwollen, die Explosion hatte ihn einige Zähne gekostet. Wenn es bei diesem Schaden blieb, hatte er Glück gehabt. »Das Taufbuch…« Jo setzte ein schwaches Lächeln auf. »Es liegt unter den Trümmern«, sagte er. »Aber wir werden danach suchen.« »Ich weiß jetzt…«, fuhr der Pater fort. Mit einer Hand, die wie ein Klumpen aus Schwarz und Rot aussah, winkte er Jo näher heran. Die Stimme des Geistlichen wurde immer schwächer. »Ich weiß jetzt, wer das Mädchen…« Der Kopf des Mannes fiel zur Seite. Jo griff sofort nach dem Hals.
Er konnte unter den Fingerspitzen den Puls von Padre Antonio spüren. Das Herz schlug noch. »Er lebt noch«, sagte Jo Walker und machte eine herrische Geste. »Schafft ihn ins Krankenhaus. Leute!« Die Männer setzten sich mit der Trage in Bewegung. Der rechte Arm des Geistlichen baumelte schlaff herab. »Warum versucht jemand, den Pater umzubringen?« fragte Tom. Er war damit beschäftigt, sein rauchgeschwärztes Gesicht mit einem Taschentuch notdürftig zu säubern. Es gelang halbwegs. »Mit einer Bombe, also wirklich…« »Es gibt ein Geheimnis«, sagte Jo mit einem Ton, der ein wenig Ratlosigkeit und viel Entschlossenheit zugleich ausdrückte. »Irgendwo in der Vergangenheit dieses Mädchens, das sich Sharon Jennings – hat sie sich doch vorher genannt, oder…?« »Sybil«, verbesserte Tom Rowland und betrachtete verdrossen das Taschentuch; es war reif für den Mülleimer. »Sybil Jennings.« »Irgendwo in der Vergangenheit müssen sich die Wege dieser beiden gekreuzt haben – der von Richter McDermott und der des Mädchens. Und wenn wir diesen Kreuzungspunkt finden…« »Haben wir des Rätsels Lösung?« »Vermutlich«, sagte Jo Walker und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Wenn man uns läßt…« Tom Rowland grinste breit und machte eine ausholende Armbewegung, die die ganze Szene der Zerstörung umschloß. »Sieht nicht danach aus«, prophezeite er grimmig. »Wie immer auch dieses Geheimnis aussehen mag, das Sybil Jennings umgibt…« »Es ist ein tödliches Geheimnis«, setzte Jo Walker den Satz fort. Inzwischen waren die Bewohner des Viertels dabei, die Trümmer der Kirche mit den bloßen Händen zu zerwühlen. Nach zehn Minuten wurde der Küster gefunden. Der Mann hatte nicht soviel Glück gehabt wie der Pfarrer, er war tot. Nachdem der Mann abtransportiert worden war, suchte Jo noch einmal die Umgebung der Stelle ab, an der der Küster gefunden worden war. Schließlich entdeckte Jo auch das Taufbuch. Es hatte bei der Explosion stark gelitten, einige Seiten waren zerfetzt, am Rand angesengt. Und bei den roten, feuchten Flecken auf dem alten Papier brauchte Jo nicht lange zu überlegen, woher sie wohl stammen mochten. Mit dem Buch in der Hand kehrte Jo zu Tom Rowland zurück. Jo nickte bedeutungsvoll und hielt den schmalen Band kurz in die Höhe. »Des Rätsels Lösung«, sagte Kommissar X grimmig.
Verärgert warf Jo Walker das Buch auf den flachen Tisch neben der Couch. »Nichts«, sagte er. »Nicht der geringste Hinweis auf eine Sybil Jennings oder ein Mädchen namens Sharon Simmons.« Tom Rowland stand in dem kleinen Badezimmer vor dem Spiegel und desinfizierte einige kleinere Wunden an seinem Kopf. Welchen genauen Grund seine jämmerlichen Laute und die furchteinflößenden Grimassen hatten, die er dabei schnitt, ließ sich ohne Nachfragen feststellen. Möglich, daß der Alkohol in den Wunden wie Feuer brannte. Wahrscheinlich aber war, daß der Captain sich über die Verschwendung kostbaren Materials ärgerte; er vollzog die Desinfektion nämlich mit erstklassigem Whisky. »Was hattest du erwartet, Jo?« fragte Rowland. Er kehrte aus dem Bad zurück und ließ sich auf das Bett fallen. Nun waren es die Sprungfedern, die Jammerlaute hören ließen. »Eine brauchbare Spur«, murmelte Jo. »Laß mir etwas von dem Zeug übrig.« »Ich nehme es nur aus gesundheitlichen Gründen«, behauptete Tom grinsend. »Aber es ist genug da.« Jo ließ sich eine Fingerbreite eingießen und nippte daran. Der Whisky war wirklich nicht schlecht. Im Hintergrund des Bungalows, den Tom und Jo bezogen hatten, lief der Fernseher. Er brachte – wie üblich – hauptsächlich Werbung und jede Menge Seifenopern, von denen die DALLAS- und DYNASTY-Folgen noch als intellektuelle Glanzpunkte anzusehen waren. Dazwischen gab es Zeichentrickfilme für Kinder, eine unaufhörliche Aneinanderreihung von humorigen Brutalitäten. Das Bild wechselte. »Mach lauter«, sagte Jo. »Die Nachrichten…« Tom betätigte die Fernbedienung, die Stimme des Nachrichtensprechers war jetzt zu hören. McDermott – es ging nach wie vor hauptsächlich um den allzufrühen, ruchlosen Tod des ›größten Sohnes unserer Stadt‹… Die Nachricht vom Tod des Küsters und der Explosion der kleinen Kirche im schäbigen Vorort kam an letzter Stelle. Kein Wort davon, daß es sich dabei um einen Mordanschlag gehandelt hatte. Die Rede war vielmehr von einem bedauerlichen Unfall, einer technischen Panne. »Wahrscheinlich hat sich der Heilige Geist selbst entzündet«, knurrte Tom grimmig. »Mann, kann dieser Bursche lügen.« »Er weiß es nicht anders«, murmelte Jo.
Natürlich fiel auch kein Wort darüber, daß eine Bande von Rowdys versucht hatte, zwei Stadtfremde zusammenzuschlagen; von eventuellen Hintermännern ganz zu schweigen. Tom schaltete das Gerät wieder auf ›stumm‹. »Dir ist klar, worauf du dich hier einläßt?« Jo nickte. »Eine kleine, saubere Stadt, brav, bieder und bürgerlich, und vollständig unter der Kontrolle einer Familie -in diesem Fall der McDermotts. Sogar das Fernsehen scheint ihnen zu gehören.« Tom verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. »Und mittendrin – der einsame Fremde auf weißem Roß. Erleben Sie Jo Walker als den Einsamen Reiter in seiner stärksten Rolle. Ein Mann allein gegen eine Stadt…« Jo nahm den Spaß auf. »Vergiß nicht, daß der Held in diesen Filmen immer einen geistig minderbemittelten Sattelpartner hat, der ihm die Stichworte für die Dialoge liefert…« »Womit meine Rolle umschrieben wäre«, amüsierte sich Tom. »Fuzzy Rowland…« Er nahm das Taufbuch wieder auf. In einer kleinen, sehr akkuraten Schrift hatte jemand in dem Buch alles eingetragen, was sich in der Kirchengemeinde zugetragen hatte. Jede Taufe, jede Eheschließung, jede Geburt, jeden Todesfall… Eine dieser Eintragungen betraf die geheimnisvolle Mörderin von Judge McDermott. Aber welche …? Diese kleine, sorgfältig geführte Chronik reichte über mehr als zwanzig Jahre, von 1960 bis 1980. In einem dieser Jahre… »Sag mal«, ließ sich Jo vernehmen. »Für wie alt hältst du dieses Mädchen?« »Achtzehn, neunzehn…« »Was?« Jo sah Tom irritiert an, dann erst fiel ihm auf, daß Tom inzwischen umgeschaltet hatte und offenbar von der Blonden sprach, die auf der Mattscheibe zu sehen war. Vielleicht hielt Tom den Streß seines Berufes nur deswegen durch, weil er notfalls imstande war, in einer Sekunde alles zu vergessen, was mit seinem Beruf zusammenhing. Immer gelang das natürlich auch nicht. »Ich meinte Sybil oder Sharon!« Tom Rowland sah auf; sofort war er wieder voll konzentriert. »Siebenundzwanzig«, sagte Tom. »Plus-minus ein Jahr. Was in ihren Dokumenten steht, ist vermutlich gefälscht.« »Dann ist sie um 1963 herum geboren worden«, überlegte Jo. »Le-
gen wir sicherheitshalber die Fehlerspanne größer an, dann wäre sie zwischen ‘61 und ‘65 geboren. Und vermutlich auch getauft.« »Könnte hinkommen«, sagte Tom. »Aber wie viele Mädchen, glaubst du, sind in der fraglichen Zeit hier geboren worden?« »Das läßt sich ermitteln. Jedenfalls nicht so viele, wie man gemeinhin annehmen sollte. Weniger als hundertfünfzig, hoffe ich.« Tom Rowland schnitt eine Grimasse. »Wie ich sehe, kehrst du zur kriminalistischen Kleinarbeit zurück, zum Klinkenputzen.« Jo Walker nickte. »Rechnen wir weiter«, sagte er. »Sharon oder Sybil oder wie immer sie geheißen haben mag, hat höchstwahrscheinlich hier in dieser Stadt die Schule besucht, die High-School. Dann müßte sie in einer der Abschlußklassen zwischen… – Augenblick… -zwischen ‘78 und ‘83 zu finden sein. Was hältst du davon, Tom – wir sehen uns Fotos von hübschen Mädchen an?« Tom Rowland zeigte sich gar nicht beeindruckt. »Fotos?« sagte er gedehnt. »Nur Fotos?« Susan Biggs war eine attraktive, dunkelhaarige Frau, die mit sichtlichem Stolz ihrem Beruf nachging, und der bestand darin, die LBJHigh-School zu leiten, (In Texas hatte sich Lyndon Baines Johnson immer größerer Beliebtheit erfreut als sein ermordeter Amtsvorgänger, der das Pech hatte, nicht in Texas geboren, sondern dort nur erschossen worden zu sein.) »Wir sind die beste Schule im County«, sagte Miss Biggs. Sie sagte es ein wenig frostig, sehr selbstbewußt und ein wenig von oben herab. Dazu hielt sie in ihrer sorgfältig manikürten Hand Jos Ausweis. »Das weiß man.« Jo behielt sein freundliches Lächeln bei. »Und wie lange leiten Sie diese Schule schon?« fragte er höflich. »Entschuldigen Sie meine Neugierde, aber Sie wirken so jugendlich…« Miss Biggs lächelte geschmeichelt. »Seit fünf Jahren«, antwortete sie. »Vorher gehörte ich nur dem Lehrerkollegium an. Aber was, bitte, interessiert einen Privatdetektiv aus New York an unserer Schule?« »Ich versuche, etwas herauszufinden«, sagte Jo. »Ob dieses Mädchen einmal Schülerin an dieser Schule gewesen ist.« Er reichte seinem Gegenüber das Foto. Die Hand von Miss Biggs zitterte ein wenig, als sie danach griff. »Nein«, sagte sie, sobald sie auch nur flüchtig auf das Foto gesehen hatte. »Dieses Mädchen kenne ich nicht.«
Jo versuchte es weiter mit Freundlichkeit. »Nun, Sie können schließlich nicht alle Schülerinnen kennen, die seinerzeit in dieser Schule unterrichtet wurden. Ich würde gerne, falls Sie das erlauben könnten, die Abschlußbücher der Jahrgänge 1978 bis 1983 sehen…« Miss Biggs hielt das Foto von Sybil Jennings in der Hand, und sie wandte den Blick nicht davon. Jo konnte sehen, daß es in der Schulleiterin arbeitete. »Nein«, sagte Susan Biggs energisch. »Ich kenne dieses Mädchen nicht. Welche Jahrgänge, sagten Sie?« »‘78 bis ‘83«, wiederholte Jo. An fast allen High-Schools der USA war es üblich, daß die Abschlußklassen regelrechte Jahrbücher herstellten, mit Fotos und Kurzbiographien aller Schüler, mit Spitznamen, mit den Berufswünschen und dergleichen mehr. Und neben einem Bild, das die ganze Klasse zusammen mit dem Klassenlehrer zeigte, gab es in der Regel von jedem Schüler eine Abbildung in größerem Format. Wenn es einen solchen Band mit einem Bild der jungen Sybil Jennings gab – Jo war sicher, daß er sie wiedererkennen würde. Miss Biggs dachte nach und lächelte verzerrt. »‘78 bis ‘83?« Ihre Züge hellten sich auf, sie begann zu lächeln. »Doch, das müßte sich machen lassen. Bitte kommen Sie…« Die Leiterin der LBJ-High-School stand auf, ging um ihren Schreibtisch herum. Jo war inzwischen zur Tür gegangen, auf der außen Name und Stellung der Dame verzeichnet waren, in goldenen Lettern auf Milchglas. Jo öffnete und trat zur Seite. »Bitte…!« Miss Biggs lächelte verzerrt und ging dann an Jo vorbei. Auf der Schwelle aber geriet sie ins Stolpern, und hätte Jo nicht reaktionsschnell zugefaßt, wäre sie der Länge nach hingeschlagen. »Fassen Sie…!« Miss Biggs Stimme erreichte binnen einer Zehntelsekunde eine falsetthaftschrille, hysterische Höhe und verstummte dann abrupt. Sie richtete sich auf, lief puterrot an und drehte sich dann schnell herum. Jo reagierte nicht. Daß er auf Frauen wirkte, hatte er schon des öfteren festgestellt, aber eine Wirkung wie diese war für Kommissar X neu. Ganz offensichtlich stimmte etwas mit dieser Dame nicht. Jo hatte es mit wütenden Nutten zu tun gehabt, mit sehr grimmigen Frauenrechtlerinnen, mit Lesben und extrem prüden Frauen – daß er ab und zu als Mann rundweg abgelehnt wurde, verwunderte ihn nicht. Aber diese Reaktion?
Als sich Miss Biggs wieder umwandte, war sie ein wenig blaß geworden. Ihre Mundwinkel zuckten schwach erkennbar. Sie hatte sich wieder gefaßt und erholt, nur – wovon? Jo hatte nicht die leiseste Ahnung, was in diesem knappen Sekundenbruchteil in der Frau vorgefallen sein mochte. Was immer es gewesen war, es hatte sie bis ins Mark getroffen. Ein guter Menschenbeobachter wie Jo konnte es sehen und spüren, wie sich Miss Biggs beinahe gewaltsam beherrschte und zusammennahm. Sie blickte jetzt sehr streng, als sie neben Jo den Korridor entlangschritt. »In der Bücherei werden Sie die Bände finden, Mister Walker.« Ihre Stimme verriet ebenfalls ihre Anspannung. »Wir…« Sie öffnete die Tür zur Bibliothek. Zu dieser Zeit wurde unterrichtet. Die Bücherei hätte eigentlich leer sein sollen, oder es hätte ein Lehrer darin sein können. Eine Schülerin jedenfalls hatte nichts in dem Raum zu suchen. »Peggy…!« rief Miss Biggs scharf. Das Mädchen wandte ein wenig den Kopf; das Gesicht war tränenüberströmt, die Augen waren vom Weinen gerötet. Miss Biggs wurde ein wenig freundlicher. »Was ist passiert, Peggy?« fragte sie halblaut. »Was machst du um diese Zeit hier in der Bücherei -?« »Mir war so schlecht, Miss Biggs«, sagte das Mädchen stockend. Sie blickte an der Schulleiterin vorbei, sah nur Jo Walker an. Was sich in diesen Augen alles ausdrückte, konnte Jo in dieser Fülle gar nicht erfassen. Er erkannte nur das Wesentliche – da war viel Schmerz und noch mehr Angst. »Ich…«, stotterte das Mädchen. Sie stand auf. Sie hatte die glatten, lang herabfallenden Haare, wie man sie bei vielen Collegemädchen in den USA finden kann. Peggy war zwölf, schätzte Jo, körperlich ein wenig frühreif, seelisch offenkundig noch ein Kind. Sie trug eine Klammer im Mund, die ihr Gesicht ein wenig verunstaltete. Dennoch war zu sehen, daß Peggy bald sehr hübsch sein würde. Peggy war aufgestanden. In dem Raum hing die Angst wie Schwaden in einer Sauna, so dicht, daß man fast danach greifen konnte. Peggy schob sich an einer Wand entlang, an der Schulleiterin vorbei, an Jo vorbei, bis sie die Tür und den Gang erreicht hatte – und dann begann sie zu rennen, als säße der Teufel ihr im Nacken. Miss Biggs wandte sich um. Ihre Miene drückte Verärgerung aus. »Entschuldigen Sie, bitte«, sagte sie. »Ich weiß nicht, was manchmal in diese Mädchen fährt.«
Sie deutete auf ein Regal, in dem große Bände mit schwarzem Rücken standen, darauf jeweils eine Jahreszahl in Goldprägung. »Dort werden Sie alles finden, Mister Walker«, sagte Susan Biggs. »Mich werden Sie wohl entschuldigen…« Miss Biggs starrte an Jo vorbei zum Gang, in dem Peggy verschwunden war. Irgend etwas ging in der Frau vor. Ihre Mundwinkel zuckten, sie war blaß geworden, leichenfahl. »Entschuldigen Sie…« Miss Biggs bewegte sich plötzlich rasch auf die Tür zu, auf den Gang hinaus. Und Jo konnte an den Bewegungen ihres Oberkörpers sehen, daß ihr offenbar übel geworden war. Im nächsten Augenblick war sie auf dem Gang verschwunden. * »Und?« Jo zuckte die Schultern. »Nichts«, sagte er. »Ich habe die Jahrgänge 1978 bis 1983 durchgesehen. Keine Spur von unserer Mörderin. Ich habe vorsichtshalber auch die beiden benachbarten Jahrgänge durchgemustert, also ‘77 und ‘84. Der junge McDermott war übrigens im ‘77er-Band. Klassenbester, Leiter des Debattierclubs…« »Und natürlich Quarterback des Footballteams der Schule…« Jo grinste. »Richtig geraten«, sagte er. »In diesem Jahr hat die Schulmannschaft übrigens ziemlich schlecht abgeschnitten, ob trotz oder wegen des jungen McDermott, kann ich nicht sagen.« »Bei mir sieht es ähnlich aus«, seufzte Tom. »Ich habe zwei Schulen besucht, beide negativ. Keine Spur von Sybil Jennings. Im Telefonbuch steht übrigens niemand, der so heißt.« »Und die alten Telefonbücher?« fragte Jo. »Sybils Eltern können ja inzwischen von Brontonville in eine andere Stadt umgesiedelt sein.« Tom schloß die Augen und murmelte eine Verwünschung. »Sorry«, sagte er dann. »Tut mir leid, das habe ich vergessen. Aber ich hole es nach.« Jo machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nicht weiter wichtig«, sagte er. »Ich glaube, daß ich da auf einer heißen Fährte bin.« Tom Rowland kratzte sich am Kinn. »Okay, eine Fährte – aber ist es unser Wild?« »Was meinst du damit?« »Hast du eine Spur gefunden, die uns zu Sybil Jennings bringt?
Oder hast du durch Zufall in einen weiteren Fall hineingeschnüffelt?« »Wäre möglich«, meinte Jo. »So genau kann ich das nicht sagen. Hast du Nachricht von Padre Antonio?« Tom nickte. »Er wird durchkommen«, sagte er. »Wahrscheinlich. Sicher ist es nicht. Und er wird noch geraume Zeit nicht fit genug für ein Verhör sein. Von dieser Seite ist also keine Hilfe zu erwarten.« Jo ließ sich in einen Sessel fallen. »Und wie geht es jetzt weiter?« fragte er, mehr als Selbstgespräch als an Tom gerichtet. Tom Rowland zuckte die Achseln. »Ich habe so etwas noch nicht erlebt«, sagte Rowland nachdenklich. »Kein Mensch hier kennt dieses Mädchen. Das sagen sie jedenfalls alle. Und trotzdem scheint jeder zu wissen, worum es geht. Es ist, als würde die ganze Stadt an einer Mauer des Schweigens bauen.« »Aus Angst?« »Vermutlich. Ich habe mir erlaubt, bei der DEA anzufragen…« Die Drug Enforcement Agency hatte zur Aufgabe, das immer weiter um sich greifende Drogenproblem in den USA in den Griff zu bekommen. Die Behörde hatte ein paar hundert Mitarbeiter – und sie hatte es mit geschätzten vierzig Millionen Drogenkonsumenten in den USA zu tun. Es war, als wollte man einen Wasserfall mit der bloßen Hand auffangen. »Und?« Tom schüttelte den Kopf. »Sauber«, sagte er. »Ich hab’s auch bei den Zeitungen probiert, in den Klatschblättern. Überall das gleiche Ergebnis – die McDermotts sind nicht zu fassen. Sie sind so sauber, daß ich fast schon zu glauben beginne, sie wären wirklich so hochanständig, wie sie tun. Sauber wie ein Säuglingspopo!« Jo begann breit zu grinsen. »Warum feixt du so?« »Weil Säuglingspopos nur dann sauber sind, wenn sie hergezeigt werden. In der Regel sind sie nämlich -..« Tom Rowland grinste zurück. »Da hast du recht«, sagte er. »Also, was machen wir jetzt?« »Versuchen, die Windeln zu lüpfen«, sagte Jo achselzuckend. »Was denn sonst?« *
»Sie sind Janet Pointdexter?« Die junge Frau nickte. »Mein Name ist Walker, Jo Walker«, stellte Jo sich vor. »Ich bin kein Vertreter…« Die junge Frau lächelte. Sie war gerade beim Wäscheaufhängen. »Das sehe ich«, sagte sie. »Mein Mann ist Vertreter, einen Kollegen würde ich sofort erkennen. Lassen Sie mich raten… Polizist?« »Beinahe«, sagte Jo. »Privatdetektiv.« Janet Pointdexter legte den Kopf ein wenig zur Seite. »Also«, sagte sie. »Sie sehen ja selbst, ich habe zu tun. Wenn es Sie nicht stört, daß ich bei unserem Gespräch die Wäsche aufhänge…« »Nicht im geringsten«, sagte Jo. »Und zweitens – Sie kommen nicht im Auftrag meines Mannes, der mich für untreu hält oder so etwas. Richtig?« »Volltreffer«, sagte Jo lächelnd. »Soll ich Ihnen helfen?« »Das wäre reizend, Mister Walker…« Jo griff in den Korb, holte ein Wäschestück hervor, breitete es aus und gab es an die Frau weiter, die es an der Wäscheleine befestigte. Passenderweise handelte es sich um eine Windel… »Also, was wollen Sie wissen? Hat es etwas mit dem Tod des Richters zu tun?« »Vielleicht«, sagte Jo. Er zückte das Bild von Sharon Simmons, alias Sybil Jennings, »Kennen Sie diese Frau? Es könnte sein, daß Sie mit ihr zusammen die High-School besucht haben.« Janet Pointdexter blieb stehen, wischte sich die feuchten Hände an den Jeans ab und griff nach dem Bild. »Hmmm«, machte sie nachdenklich. Jo Walker ließ ihr Zeit. Janet Piontdexter war eine großgewachsene, kräftige Frau mit dunklen Haaren. Sie bewohnte mit ihren vier Kindern und ihrem Mann ein Haus im Norden der Stadt, ziemlich weit von den Errungenschaften der Zivilisation entfernt. Offenkundig war das kein Zufall – die Pointdexters hielten es mit alternativen Lebensgewohnheiten. »Ja, könnte sein«, antwortete Janet Pointdexter. »Sie war nicht in meiner Klasse, wissen Sie, und sie hat damals anders ausgesehen.« »Wie anders?« »Damals war sie nicht so offen und unbeschwert wie auf diesem Bild, auch wenn das Foto ein bißchen gezwungen und gewollt wirkt. Das Mädchen, das ich meine, war ziemlich still und blaß und hat viel geweint. Aber sie war damals schon sehr hübsch.« Janet gab das Bild zurück.
»Ich bin sicher, das ist das Mädchen«, sagte sie. Der Beruf eines privaten Ermittlers brachte mancherlei seltsame Szenen hervor, beispielsweise diese. Jo konnte sich nur beglückwünschen, daß April Bondy nicht zu sehen bekam, wie Jo einer Frau dabei half, frischgewaschene und feuchte Stoffwindeln zum Trocknen aufzuhängen. »Und in neuester Zeit? Haben Sie das Bild noch nicht im Fernsehen gesehen? Oder in der Zeitung?« »Wir haben keinen Fernseher«, sagte Janet Pointdexter. »Aus Prinzip. Das heißt – wir haben noch keinen. Wenn die Kinder erst in die Schule gehen, werden wir wohl einen anschaffen müssen, leider, damit die Kinder nicht als Außenseiter gelten. Warum ist das Bild dieser Frau zu sehen gewesen?« »Sie steht im Verdacht, den Richter getötet zu haben«, sagte Jo Walker. Janet Pointdexter hielt in ihrer Arbeit inne. Sie sprach jetzt ein wenig undeutlich, weil sie eine Wäscheklammer zwischen die Lippen geklemmt hatte. »Was? Diese Frau?« Sie nahm die Klammer aus dem Mund. »Es gibt da leider keinen Zweifel«, sagte Jo. »Es scheint ein Mord aus Rache gewesen zu sein, und wir wollen versuchen…« Janet Pointdexter schüttelte heftig den Kopf. »Das ist doch Unfug«, sagte sie. »Kompletter Unsinn. Sehen Sie, Mister Walker, dieses Mädchen… wie, sagen Sie, heißt sie?« »Sharon Simmons hat sie sich in New York genannt, davor hat sie Sybil Jennings geheißen…« »Ich erinnere mich«, sagte Janet Pointdexter. »Ich habe sie als Sally Jane Shoemaker kennengelernt. Ihre Mutter hat, glaube ich, im Süden der Stadt gewohnt, bei den Mexikanern. Sally Jane soll sehr intelligent und begabt gewesen sein, deswegen ist sie an unsere Schule gekommen. Daher kenne ich sie. Sally Jane hat niemals etwas mit dem Richter zu tun gehabt, glauben Sie mir. Überlegen Sie doch einmal – Sally Jane ist ja schon mit vierzehn abgegangen. Sie war ein halbes Jahr krank, und dann hat sie mit ihrer Mutter oder ihren Eltern die Stadt verlassen…« »Sehen Sie sich das Foto bitte noch einmal an«, sagte Jo verblüfft. »Sind Sie ganz sicher?« Janet Pointdexter nahm noch einmal das Bild zur Hand, das Jo von New York mitgebracht hatte. »Ja, ich bin mir sicher.« Jo betrachtete das Foto selbst noch einmal.
Im ersten Augenblick war er sehr froh gewesen, endlich jemanden gefunden zu haben, der sich an das Mädchen auf dem Bild erinnerte. Janet Armstrong hatte diese Zeugin als Schülerin geheißen, Jo hatte die Adresse aus einem der Jahrgangsbücher abgeschrieben. Aber nun? Die Fakten, die er gesammelt hatte, in mühevoller und gefährlicher Arbeit – sie paßten nicht nur nicht zusammen, sie ergaben überhaupt kein Bild, weil sie sich wechselseitig widersprachen. Janet Pointdexter sah Jo mitleidig und verständnisvoll an. »Das paßt wohl nicht ins Bild, wie?« Jo nickte seufzend. »Überhaupt nicht.« Nur eines war jetzt klar – der Grund, weshalb Miß Biggs nach einiger Rechenarbeit so bereitwillig zugestimmt hatte, als Jo die Jahrgangsabschlußbände hatte durchmustern wollen. Das Mädchen, das Jo suchte, konnte in keinem dieser Bände auftauchen. Das Mädchen hatte niemals einen Abschluß erreicht, jedenfalls nicht an Miß Biggs’ Schule. »Wenn Sie mir nicht glauben…« »Oh«, sagte Jo mit einem schiefen Lächeln. »Das Problem ist ja gerade, daß ich Ihnen glaube…« »Versuchen Sie es doch einmal bei Gwen Asher.« Janet Pointdexter lächelte verhalten. »Sie galt damals und gilt heute als die größte Klatschbase weit und breit. Man sollte so etwas über einen Menschen eigentlich nicht sagen, weil es ja selbst Klatsch und Tratsch ist…« Jo Walker lächelte. »Was glauben Sie, wieviele Fälle durch Klatsch und Tratsch aufgeklärt werden«, sagte er. »Mit vierzehn ist Sally Jane abgegangen?« »Nageln Sie mich nicht darauf fest. Sie kann auch dreizehn gewesen sein. Jedenfalls hat sie die Schule nicht beendet. Nie und nimmer hat sie etwas mit dem Richter zu tun gehabt.« * »Mir reicht es langsam«, grummelte Tom Rowland. »Ich spaziere meine Schuhe löchrig, muß mir die ganze Zeit über diesen gräßlichen Dialekt dieser texanischen Cowboys anhören, und bei der ganzen Schinderei kommt nicht das geringste heraus. Oder hast du brauchbare Ergebnisse?« Jo schüttelte den Kopf. »Dieser Fall beginnt in sehr erheblichem Maß an meinen Nerven zu sägen«, stieß Jo hervor. »Ich weiß nicht mehr, woran ich bin. Und
auch nicht mehr, wozu unsere Arbeit eigentlich gut sein soll. Früher oder später wird dieses Mädchen unter Garantie gefaßt werden, ob sie nun Simmons, Jennings oder Shoemaker heißt…« »Shoemaker?« Tom richtete sich auf. »Sally Jane Shoemaker«, sagte Jo. »Eine frühere Mitschülerin hat sie identifiziert…« »Hmmm«, machte Tom. Er griff nach dem Taufbuch. »Da war doch…. übrigens, ist es dir aufgefallen?« »Ja, sie bleibt bei ihren originalen Initialen.« Das taten viele Personen, die ihre Identität wechselten. »Shoemaker…«, sagte Tom Rowland. »Da ist der Name. Sally Jane?« »Richtig!« Tom machte ein sehr zufriedenes Gesicht. »Dann wissen wir jetzt ganz genau, wie sie heißt und wann sie geboren ist«, sagte er. »Wenigstens etwas.« »Aber nichts, was uns weiterbringen würde«, gab Jo zurück. Das Telefon klingelte, Jo nahm ab. Der junge McDermott war am anderen Ende der Leitung. »Ich würde gerne mit Ihnen reden, Walker«, sagte McDermott. »Ich lade Sie zum Essen ein. In einer Stunde im Club?« Jo zögerte nicht lange. Es war an der Zeit, nochmals mit McDermott zu reden. »Okay«, sagte Jo. »Welcher Club?« McDermott lachte leise. »Es gibt nur einen, der den Namen verdient«, sagte er. »Meinen.« Es machte leise ›Klick‹, als McDermott auflegte. Tom wölbte die Brauen. »Du willst mit ihm reden?« Jo nickte. »Ich will endlich herausbekommen, worum es hier geht«, sagte er. »Und McDermott kennt die Zusammenhänge…« »Viel Glück«, wünschte Tom. »Und was wirst du machen?« fragte Jo. »Mitkommen?« Tom schüttelte den Kopf. »Da ist eine gewisse Mrs. Polding«, sagte er. »Eine Frau, die einen ziemlich auffälligen Wagen fährt, wie ich zufällig herausgefunden habe… einen Pontiac…« »In Pink und Gold?« Tom grinste zufrieden. »Genau«, antwortete er. »Und ich werde versuchen, aus der Dame herauszukriegen, was sie McDermott alles erzählt hat. Und was sie
über diese Affäre weiß.« Jo zeigte seinem alten Freund den aufgerichteten Daumen. »Viel Glück!« wünschte er. * »Die Steaks kann ich empfehlen, Mister Walker«, sagte McDermott freundlich. »Es sind die besten in Texas. Natürlich von meinen eigenen Rindern.« »Immer nur das Beste für einen McDermott«, sagte Jo mit leisem Spott. »So ist es«, sagte Steven McDermott gelassen. »Ich hoffe, daß Sie ebenfalls in diese Kategorie fallen. Immer nur das Beste. Was haben Sie herausgebracht?« Jo lehnte sich ein wenig in seinem Sessel zurück. »Sie kennen das Mädchen«, sagte er. »Sie war Schülerin an Ihrer Schule, der besten, vermutlich.« McDermott runzelte die Stirn. »In meiner Klasse?« »In einer anderen Klasse. Aber an derselben Schule. Sally Jane Shoemaker.« Das winzige Zwinkern seiner Augen verriet McDermotts Betroffenheit, daß Jo den richtigen Namen herausgefunden hatte. Und daß McDermott ihn kannte. »Ich kann mich nicht erinnern«, sagte er. »Mary-Jane?« »Sally-Jane«, antwortete Jo. »Ich kann nicht jede Mitschülerin kennen«, sagte er achselzuckend. »Ist das alles?« • Die Frage sollte beiläufig und überlegen klingen. Aber einen Mann wie Kommissar X konnte man mit dieser Schauspielkunst nicht täuschen. McDermott hatte Angst. Er hatte Angst, daß etwas herauskam! Etwas, das den guten Ruf seiner Familie und damit die Grundlage seiner Geschäfte ruinieren konnte, möglicherweise. »Was könnte Sally Jane erzählen?« fragte Jo lächelnd. »Wenn sie vor Gericht steht und aussagen muß, warum sie den Richter auf offener Straße erschossen hat. Was könnte sie dabei ausplaudern?« McDermott zuckte fahrig mit den Schultern. »Nichts«, sagte er. Jo lächelte überlegen. »Ich glaube das nicht«, sagte er. »Ich glaube, daß dieser Prozeß
dazu führen wird, daß man den McDermott’schen Familienkeller einer gründlichen Prüfung unterziehen wird. Und daß man dabei die eine oder andere Leiche finden wird, ob bildlich gesprochen oder wahrhaftig.« McDermotts Lippen verzogen sich zu einem frostigen Lächeln. »Sie sollen ermitteln, Walker«, sagte er schroff. »Nicht Ihre Phantasie wüste Vermutungen anstellen lassen.« Jo erwiderte das Lächeln mit der gleichen Kälte. »Ich stehe nicht in Ihren Diensten«, sagte er rauh. »Und seien Sie versichert, daß ich das Mädchen finden werde. Vor Ihnen. Und dann werde ich herausbekommen, wovor Sie so entsetzliche Angst haben. Sie haben Angst, und Sie wissen nicht, wie Sie damit fertig werden sollen…« McDermott bewahrte mühsam die Fassung. »Ich glaube, es ist besser«, sagte er, »wenn wir das Gespräch beenden. Ich werde Sie hinausgeleiten… Einer meiner Leute wird Sie in Ihr Motel zurückbringen.« McDermott stand auf. Seine Miene war eisig, als er Jo zum Ausgang des feudalen Clubs führte. Die Schwingtür öffnete sich lautlos, von Fotozellen gesteuert. Eine schwache, erfrischend kühle Brise wehte Jo entgegen. »Sie…«, sagte Steve McDermott. Jo sah die Bewegung nur ganz schwach. Es war nicht mehr als ein Huschen in der Dunkelheit, hart an der Grenze des Wahrnehmbaren. Aber Jos Erfahrung sorgte dafür, daß er dennoch blitzartig reagierte. Steve McDermott konnte seinen Satz nicht zu Ende sprechen. Jo rammte seine Schulter gegen McDermott, im gleichen Augenblick, in dem ein paar Meter entfernt plötzlich eine grelle, spitze Feuerzunge in der Dunkelheit stand. Das Krachen eines Schusses zerriß die Stille. Im ersten Augenblick war Jo wie geblendet. Er rollte sich ab, zerrte McDermott mit sich. Der Mann schrie. Wieder feuerte der Schütze im Dunkel, dieses Mal schrammte die Kugel über den Marmorboden des Eingangs. Eine Funkenkaskade stob auf, heulend schwirrte das Geschoß als Querschläger davon. Jo hatte inzwischen seine Waffe gezogen. Er zielte in das Dunkel und drückte ab. Einmal, zweimal, dreimal… Er schoß absichtlich daneben. Seine Schüsse sollten den Attentäter vertreiben, nicht ihn niederstrecken. »Aaaahhh!« McDermott kreischte in den höchsten Tönen.
Jo hörte einen Motor aufheulen, einen Wagen sich in Bewegung setzen. Zur gleichen Zeit tauchten McDermotts Leibwächter auf, die Maschinenpistolen im Anschlag. »Knallt ihn ab!« kreischte McDermott »Knallt das Schwein nieder…!« Die beiden Männer brauchten eine Sekunde, bis sie begriffen hatten, daß dieser Befehl nicht bedeutete, Jo niederzuschießen, sondern in die Richtung zu feuern, in die Jo nun ebenfalls schoß. Er schickte eine vierte und fünfte Kugel hinüber in das Dunkel, wo ein Wagen gerade mit kreischenden Pneus startete. Einen Herzschlag später hatten auch McDermotts Leibwächter begriffen. Maschinenpistolen, nicht größer als eine Hobbybohrmaschine und auch ähnlich geformt, spien Feuer und Blei in die Nacht. Und die Geschosse trafen. Es knallte und krachte, Glas splitterte geräuschvoll, und dann war nach wenigen Sekunden ein dumpfes »Wummm« zu hören. Irgendwo auf dem Parkplatz vor dem Club schoß eine Feuersäule in die Höhe. In dieser unsicheren und schwankenden Beleuchtung konnte Jo sehen, wie McDermotts Leibwächter alles unter Feuer nahmen, was nach Bewegung aussah. Der Wagen, in dem der Attentäter gesessen hatte, war längst verschwunden. Aber in den tosenden Flammen sah es so aus, als wimmelte es auf dem Parkplatz von seltsamen, gespenstigen Gestalten, und so fanden die beiden Männer mit den Maschinenpistolen ein Opfer nach dem anderen. Sie killten Buicks und Studebakers, vor allem aber Cadillacs und europäische Autos – Mercedes, BMW, Ferrari. Jo sah, wie die Geschosse einen Testarossa förmlich zersiebten, bis der Tank explodierte und das Geschehen in einer Feuerwalze verschwinden ließ. Während die Bodyguards ihre Magazine leerten, beugte sich Jo über den winselnden McDermott. Im Hintergrund war das Geschrei der anderen Clubgäste zu hören. »Aaahhh«, wimmerte McDermott. Er schlotterte am ganzen Leib. Jo spürte an den Händen etwas Feuchtes, Klebriges. McDermott war wohl tatsächlich getroffen worden. »Bleiben Sie ruhig!« fuhr Jo den Mann an. Jos Augen hatten sich inzwischen an das schlechte Licht gewöhnt. McDermotts Oberkörper war unverletzt; auf der weißen Hemdbrust hätte man jeden Treffer sofort sehen müssen. »Halten Sie still!« Jo tastete sich weiter, und jetzt konnte er die Verletzung finden.
McDermott war an der Hüfte getroffen worden, ziemlich weit außen. Ein Streifschuß, nichts, wofür man einen Leichenbestatter gebraucht hätte. »Das ist sie gewesen«, stieß McDermott hervor. Er klapperte mit den Zähnen. Das konnte Angst sein, aber auch der Wundschock. Inzwischen hatten seine Spezialisten ihre Magazine geleert, und der Parkplatz stand in lichterlohen Flammen. In der Ferne war das durchdringende Geräusch einer Polizeisirene zu hören, und die Feuerwehr würde wohl auch nicht mehr lange auf sich warten lassen. Jo stand im Eingang des feudalen Country-Clubs, dessen Besitzer sich leicht verwundet aber schwer geschockt auf dem Boden wälzte. »Das war sie!« wimmerte McDermott. »Ich weiß es. Es war das Mädchen. Sie will auch mich umbringen…« Jo nickte kalt. »Ja«, sagte er ruhig. »So wird es wohl sein. Und warum?« »Ich weiß es nicht«, wimmerte McDermott und wälzte sich von einer Seite auf die andere. Er hatte beide Hände vor seinen Unterleib geschlagen. Er sabberte. Jo runzelte die Stirn. Und dann, sehr langsam, aber dafür um so gründlicher, fiel der Dirne, Penny für Penny. Endlich ergab sich ein Bild… Und es war ein ekelhaftes Bild, das scheußlichste, mit dem Jo es in seiner Karriere zu tun gehabt hatte… * »Er verläßt gerade das Hotel«, gab der Posten durch. Tom Rowland stieß ein zufriedenes Knurren aus. »Schön, daß der Fall in New York sein Ende erfährt«, sagte er. »Bist du bereit, Jo?« Jo Walker nickte. Er war bereit. Er hatte den Plan ausgearbeitet, und der Commissioner war damit einverstanden gewesen. Es hätte andere Möglichkeiten gegeben, diesen Fall zu klären, aber dabei wären viele Dinge möglicherweise unter den Tisch gekehrt worden, Dinge aus der Vergangenheit. Kommissar X und Tom Rowland aber war daran gelegen, diesen Fall in seiner ganzen Widerwärtigkeit aufzuklären, auch die Verbrechen, die vor vielen Jahren begangen worden waren. »Okay«, sagte Jo. »Ich mache mich auf den Weg.« Der Fashion Shop von Estelle LeFleur, geborener Ines Vega, verheirateter Estelle Shoemaker, lag um die Ecke. Der Laden wurde
überwacht, seit Tagen schon, von allen Seiten. Tom Rowland hatte aufgeboten, was er nur hatte kriegen können. Jo Walker ging um die Ecke, langsam, mit ruhigen Schritten. Wer in diesem Viertel von New York einkaufte, ging so. Der Boden, auf dem er lässig schritt, war nämlich Gold wert. Der Fashion Shop war eine piekfeine Adresse, nichts für Sekretärinnen oder andere Frauen in normalen Berufen; wer hier einkaufte, mußte schon Karriere gemacht haben. Eine richtige kleine Bronzeglocke schlug sanft an, als Jo die Tür öffnete. Der Fashion Shop gab sich konservativ, nur die Preise schienen schon aus dem nächsten Jahrtausend zu stammen. »Sie wünschen, Sir?« Estelle LeFleur war eine ungemein attraktive Frau, die bestens zu ihrem Laden paßte. Sie war sehr gut gewachsen, hatte sich gut gehalten, und ihre Kleidung war erlesen. Dazu kam dezenter Schmuck, der unter Brüdern seine siebzig Mille wert war, Minimum. Jo lächelte verbindlich. »Sie sind Estelle LeFleur?« »In der Tat, mein Herr..!« Madame LeFleur ließ den Satz in einer fragenden Melodie ausklingen. Jo Walker stellte sich knapp vor. »Ich würde Sie gerne sprechen«, sagte er dann. »Allein und in Ruhe. Es ist wichtig.« Madame machte eine elegante Bewegung, die Jos Aufmerksamkeit auf Laden und Kundschaft lenken sollte; die Unterhaltung fand in einem sehr leisen Plauderton statt. »Sie sehen doch…« »Ich sehe, Mrs. Shoemaker -.« Das verbindliche Lächeln der Madame LeFleur gefror. »Was soll das?« zischte sie. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.« »Ich werde es Ihnen gern erklären«, sagte Jo Walker ruhig. Estelle LeFleur preßte die Lippen aufeinander. »Christine? Wenn Sie die Lady bedient haben, dann schließen Sie den Laden. Ich brauche Sie dann nicht mehr!« Die Verkäuferin schien sich über den freien Nachmittag zu freuen und eilte davon. Nicht ohne zuvor Jo Walker taxierend und sehr wohlwollend angesehen zu haben. »Ich darf bitten…« Die LeFleur-Tünche bröckelte schnell, stellte Jo fest. Hinter dem Vorhang, der den Laden vom Büro trennte, kam bereits Mrs. Shoe-
maker zum Vorschein. Immerhin bemühte sie sich noch um einen Rest von Höflichkeit. »Setzen Sie sich«, bat sie. »Einen Drink?« »Für mich nicht«, antwortete Jo freundlich. Mrs. Shoemaker zuckte die Schultern. »Aber für mich«, sagte sie und goß sich zwei Finger breit Cognac in einen Schwenker; der Cognac war, wie Jo am Etikett erkennen konnte, von erster Qualität. Die Bewegungen der Madame hingegen paßten eher zu einem Kneipenschnaps. »Also, Mister Walker, was wollen Sie? Mich erpressen, weil ich einen anderen Namen angenommen habe? Das ist nicht strafbar.« »Es geht um Ihr Leben.« Estelle sah Jo an, und sie erkannte in seinem Gesicht, daß er nicht spaßte. »Wollen Sie mich… umlegen?« Jo schüttelte den Kopf. »Es handelt sich um… ach, da fällt mir ein, vielleicht sollten Sie die Vordertür doch besser auflassen. Es kommt noch mehr Besuch.« Estelle Shoemaker verzog das Gesicht. »Was soll der Quatsch?« fragte Estelle. »Kommt da noch einer von Ihrer Sorte?« Jo schüttelte den Kopf. »Nur ein alter Freund«, sagte Jo. »Nicht einer meiner Freunde, ein Freund von Ihnen. Und ich vermute, daß er mit Ihnen reden will.« Estelle Shoemaker zuckte die Schultern. »Meinetwegen«, sagte sie. »Ich bin gleich wieder da…« Sie verschwand aus dem Büro, und als sie nach einer Minute zurückkehrte, hielt sie einen Revolver in der Hand. »Hände hoch«, sagte sie. »Und machen Sie das Jackett auf, damit ich sehen kann, ob Sie bewaffnet sind.« Jo behielt das Lächeln bei und gehorchte. »Wenn Sie wollen«, bemerkte er freundlich, »kann ich auch wieder gehen. Ich wollte Sie nur warnen.« »Vor was oder wem? Okay, Sie können die Hände wieder herunternehmen. Wer sollte ein Interesse daran haben, mich zu töten?« Jo lächelte. »Ihre Tochter«, sagte er leise. »Wer sonst?« * Die Hände, die das Glas hielten, zitterten deutlich. Selbst ein schlechterer Beobachter als Jo Walker hätte es bemerkt. Estelle
Shoemaker genehmigte sich einen weiteren Cognac. »Blödsinn«, sagte sie leise. »Warum sollte meine Tochter mich töten wollen? Woher wissen Sie überhaupt, daß ich eine Tochter habe?« »Weil diese Tochter bereits einen Mann getötet hat. Ich spreche von Richter McDermott. Außerdem hat sie vor sieben Tagen in Texas auf den jungen McDermott geschossen und ihn verletzt. Und jetzt ist sie unterwegs, um ihre Rache zu vollenden.« »Ach was«, stieß Estelle Shoemaker hervor. »Warum sollte meine Tochter…?« Ihre Stimme versiegte. »Oh, das wissen Sie besser als ich«, sagte Jo. Estelle LeFleur schluckte heftig. »Unsinn!« sagte sie; es klang matt, nicht mehr überzeugend. Jo hob den Kopf. »Ich glaube, unser Besuch ist gekommen«, sagte er sanft. »Wollen Sie den jungen McDermott nicht hereinbitten?« »Hallo!« erklang es aus dem Laden. »Ist da niemand?« »Hierher, bitte!« rief die Inhaberin vom Fashion Shop; Jo hatte sehen können, daß sie zusammengezuckt war, als sie die Stimme gehört hatte. Estelle hatte die Stimme erkannt. Es dauerte nur ein paar Augenblicke, dann steckte Steve McDermott seinen Kopf in das Büro – und stutzte, als er Jo Walker erblickte. Da Jo ihm zweifelsfrei das Leben gerettet hatte, blieb McDermott nichts anderes übrig, als ein halbwegs freundliches Gesicht zu machen. Jo lächelte liebenswürdig. »Nun haben wir die Versammlung fast vollständig beieinander«, sagte Jo zufrieden. »Setzen Sie sich, McDermott.« McDermott machte ein grimmiges Gesicht. »Lieber nicht«, sagte er. »Ich bleibe lieber stehen.« Estelle LeFleur sah McDermott mit gefurchten Brauen an. McDermott ging an Krücken, und er hatte einen Verband um die Hüften, der ihn eher lächerlich als respektgebietend aussehen ließ. »Was ist passiert?« fragte sie besorgt. »Das habe ich doch schon gesagt«, warf Jo Walker ein. »Ihre Tochter hat auf Mister McDermott geschossen. Übrigens, McDermott, wissen Sie, wie ich die Lösung des Rätsels gefunden habe?« »Sie werden es mir bestimmt gleich sagen«, knurrte der Texaner; seinen Gesichtszügen war unschwer zu entnehmen, daß er Schmerzen hatte. »Sie haben es mir selbst verraten. Sie gestatten?« Jo zündete sich eine Pall Mall an und blies den Rauch von sich. Er
wußte, daß es darauf ankam, langsam und ruhig zu sprechen. »Als Sie auf dem Boden lagen«, erinnerte sich Jo Walker, »beide Hände vor dem Unterleib. Obwohl Sie da doch gar nicht getroffen waren. Seltsam, nicht wahr?« »Ich finde es überhaupt nicht witzig«, knurrte McDermott. »Ich auch nicht«, sagte Jo schnell und hart, dann kehrte er zu dem freundlichen Tonfall zurück. »In diesem Augenblick ist mir klar geworden. Sie wußten, wo Sally Jane Sie hatte treffen wollen. Genau wie bei dem Richter – in den Unterleib. In diesem Augenblick habe ich begriffen, daß diese Verbrechen sexuelle Hintergründe haben.« »Unsinn«, entfuhr es McDermott. »Als mir das erst einmal klar geworden war, paßten die Teile des Puzzles zusammen«, sagte Jo. »Daß niemand reden wollte. Die Reaktionen einiger Zeugen. Ihre verzweifelten Bemühungen, McDermott, das Mädchen vor der Polizei in die Hände zu bekommen. Haben Sie wirklich geglaubt, Sally Jane wäre wie ihre Mutter gewesen – zufrieden mit einer finanziellen Abfindung?« »Hey, hey!« rief Estelle Shoemaker aus. »Keine Anzüglichkeiten, bitte.« Jo machte eine wegwerfende Geste. »Rollen wir den Fall vom Anfang her auf«, sagte er mit finsterem Gesicht. »Wie alt waren Sie, Ines Vega, als Sie die Geliebte des Richters wurden? Fünfzehn, vierzehn oder noch jünger?« »Ich werde Sie verklagen, Walker«, stieß McDermott hervor. Er war kreidebleich im Gesicht geworden. »Sie können nicht einfach einen der angesehensten Bürger…« »Pah«, sagte Jo. »Jeder in Brontonville, fast jeder, hat es gewußt. Der alte Richter konnte nur junges Fleisch gebrauchen. Sehr junges. Ich rede vom sexuellen Mißbrauch von Kindern.« »Phantasien«, sagte Ines Vega. »Das glaubt Ihnen doch keiner…« »Irrtum«, sagte Jo und in seiner Stimme schwang ein Ausdruck grimmiger Wut mit. »Fachleute schätzen, daß in einem Land wie unserem fast jedes fünfte Mädchen als Kind sexuell mißbraucht wird. Man wird es glauben, ganz bestimmt, Ines Vega. Im übrigen wissen Sie das ja vermutlich viel besser, nicht wahr? Sie waren die Geliebte des Richters. Und ich vermute, später auch die seines sauberen Nachkommen.« Daß McDermott hüstelte und rot anlief, bestätigte Jos Verdacht. »Irgendwann muß der Richter dann auch Appetit bekommen haben auf Sally Jane«, fuhr Jo Walker fort. »Und der Richter wußte auch, wie er sich solche Wünsche erfüllen konnte.« Jo sah Ines Vega verächtlich an.
»Ich vermute«, sagte er rauh, »daß dieser piekfeine Laden von dem Geld aufgezogen wurde, das Ihnen der alte McDermott dafür gezahlt hat, daß Sie ihn Ihre eigene Tochter mißbrauchen ließen.« Ines Vega, nachmals Estelle Shoemaker, inzwischen Estelle LeFleur, reagierte nicht. In ihren Augen glommen Wut und Angst auf. »Da Sally Jane auch auf Sie geschossen hat, McDermott, vermute ich, daß auch Sie sich daran beteiligt haben, schon als Schüler.« »Alles Phantasien«, sagte McDermott. »Nicht mehr. Wir haben den Sperriegel in Brontonville inzwischen geknackt. Mrs. Polding, ebenfalls eine frühere Geliebte des Richters, wurde von Captain Rowland zum Reden gebracht; sie wird auch bestätigen können, daß Sie hinter dem Anschlag auf die Kirche gestanden haben. Miß Biggs, die Schulleiterin, wird gegen Sie und den Richter aussagen, und wir wissen inzwischen auch, daß die kleine Peggy das letzte Opfer des Richters geworden ist.« Jo holte tief Luft. »Die halbe Stadt hat davon gewußt«, sagte er leise und voller Zorn. »Und Sie haben geschwiegen, weil es Vorteile brachte. Ich weiß nicht, wer in diesem Fall der größere Verbrecher ist – der Schänder selbst oder die Mutter, wenn sie es mitbekommt und geschehen läßt.« Ines Vega antwortete nicht. »Irgendwann«, fuhr Jo Walker fort, »wurde Sally Jane dann krank. Sie war sozusagen nicht mehr zu gebrauchen. Bevor sie in ihrem Elend irgend etwas ausplaudern konnte, sind Sie, Ines Vega; mit Ihrer Tochter und einer saftigen Abfindung aus der Kasse der McDermotts aus der Stadt verschwunden.« »Sie werden das alles niemals beweisen können«, sagte Ines Vega leise. »Jahre sind seither vergangen«, sagte Jo. »Vielleicht hatte Sally Jane tatsächlich alles vergessen, vergessen wollen. Aber als sie ahnungslos in New York spazierengehend ihren Vergewaltiger wiedererkannte, muß die alte Seelenwunde wieder aufgebrochen sein. Sally Jane kaufte sich einen Revolver, wartete auf den Richter und schoß ihn in den Bauch.« Die beiden anderen schwiegen. »Sally Jane ist danach untergetaucht«, fuhr Jo fort. »Sie hat auch auf Sie gewartet, McDermott, um sich auch an Ihnen zu rächen. Vielleicht glaubt Sie, daß sie es geschafft hat. Jedenfalls hat sie Texas verlassen.« »Das wissen Sie?« Jo nickte.
»Wir beobachten Sally Jane seit ihrer Flucht aus Texas. Verdeckte Fahndung. Sie ahnt nichts davon.« »Unerhört«, stellte McDermott fest. »Ich werde…« »Sally Jane ist hierher unterwegs. Sie will auch den dritten Teil ihrer Rache…« Ines Vega schluckte. Sie mußte sich am Tisch festhalten, sonst wäre sie zusammengesunken. »Sie will mich… ihre Mutter… ihre leibliche Mutter?« Jo zuckte kalt die Achseln. »Was heißt Mutter…«, sagte er abschätzig. »Die Frau, die ihre Tochter buchstäblich verraten und verkauft hat… Darum geht es.« »Sie müssen mich beschützen«, stieß Ines Vega hervor. »Ich brauche Polizeischutz.« »Sicher«, sagte Jo Walker. »Den bekommen Sie auch.« Er sah auf seine Fingernägel. »Es ist nur so«, sagte er dann sehr langsam, »daß durch einen seltsamen Zufall all die Cops, die draußen auf Sie aufpassen und Sie beschützen werden, eines gemeinsam haben…« Ines Vegas Augen schlossen sich. Sie zitterte am ganzen Leib. »Es sind alles Väter von kleinen Mädchen«, sagte Jo Walker leise. »Das ist Mord!« Steve McDermott sprach ebenfalls leise. In seinen Augen flackerte die Angst. »Sie können doch nicht…!« »Irrtum«, sagte Jo und stand auf. »Ich kann. Und die Männer da draußen, die können auch. Es sind schon größere Fahndungs- und Überwachungspannen passiert als die, die sich bald ereignen wird.« »Bitte…«, sagte Ines Vega leise. »Sie haben eine Chance, Ines«, sagte Jo Walker halblaut. »Wenn Sie mit uns zusammenarbeiten. Sie sind selbst als Kind…« »Ich war fünfzehn damals«, sagte Ines Vega. Sie hatte die Augen geschlossen. »Aber es war eine andere Zeit als heute…« »Ich weiß.« Jo wußte: Schätzungsweise eine halbe Million männlicher und weiblicher US-Kids prostituierte sich offen oder versteckt, freiwillig oder gezwungen. McDermott schien zu begreifen, was sich in seiner Gegenwart abspielte. Seine Miene verfinsterte sich. »Was soll das?« stieß er hervor. »Estelle, bist du verrückt? Du wirst doch nicht…« Ines Vega richtete sich ein wenig auf und funkelte ihn an. »Doch«, sagte sie leise. »Ich werde die ganze Geschichte erzählen. Von dem widerwärtigen Schwein, das in der Öffentlichkeit als ehrwürdiger Richter gefeiert wurde, während es sich zu Hause an kleinen Mädchen vergriff. Und von seinem Nachkommen, der als Schüler
seine Klassenkameradinnen vergewaltigte, der andere Schülerinnen einfach kaufte oder bestochen hat.« McDermott kniff die Augen zusammen, bis sie Schlitzen glichen. »Nichts wirst du«, sagte er. »Du weißt, welche Macht ich habe.« Jo Walker stand auf. »Nicht mehr«, sagte er. »Ich habe noch ein paar Eröffnungen für Sie beide. Erstens warten draußen Cops mit Haftbefehlen auf Sie. Zweitens ist auf richterlichen Beschluß erlaubt worden, diese Unterhaltung elektronisch aufzuzeichnen. Sie wird also gegen Sie verwandt werden.« Jos Rechte schoß nach vorn und traf McDermott am Kinnwinkel. Er stieß ein Ächzen aus, knickte um und stürzte auf den Boden. Die Pistole, die er hatte ziehen wollen, landete auf dem Tisch. »Ihr könnt kommen, Tom«, sagte Jo halblaut in das kleine Mikrofon an seinem Revers, das die Unterhaltung übertragen hatte. Die Luft in dem Raum war stickig. Jo hatte ein ekelhaftes Gefühl im Magen, am liebsten hätte er sich übergeben. Draußen, auf der Straße, nieselte es. Tom Rowland trat zu Jo, als der sich gerade eine Zigarette anzündete. »Wir haben das Mädchen festgenommen. Am Stadtrand. Sie hat keinen Widerstand geleistet.« »Wo habt ihr sie hingebracht?« »In eine psychiatrische Klinik. Sie wird aber trotzdem vor Gericht kommen.« Jo sah hinauf zum Himmel, schlug den Kragen höher. »Der junge Curtis ist bei ihr«, fuhr Tom fort. »Sie wird wieder werden. Die Jury wird milde mit ihr verfahren. Das Leben wird für Sally Jane weitergehen…« Jo nickte langsam. »Vielleicht«, sagte er und fröstelte, »ist das für sie das Schlimmste von allem…«
ENDE
Bereits nächste Woche erscheint KOMMISSAR X Band 1629: Ben Silva
Das Phantom der 5. Straße Deutscher Erstdruck
Marvon Denver sah aus wie ein Engel, war auch von engelhafter Sanftmut, bis ihm jenes gräßliche Unglück zustieß. Wenn der ehemalige Dressman heute in den Spiegel schaut, packt ihn das Grausen mit eisiger Faust. Doch leider verteilt er dieses Grauen auch freizügig weiter, denn er bildet sich ein, seine ehemalige Verlobte, ein Flittchen durch und durch, auch als Entstellter noch beschützen zu müssen. Keiner ihrer nachfolgenden »Verlobten« ist ihm gut genug für sie. Den wahren Charakter Cilya Virgins hat er zu jenen Zeiten, als er sich noch wie ein normaler Mensch unter Menschen bewegen durfte, nie erkannt. Jetzt »operiert« er aus einem Kellerloch heraus, scheut das Licht, macht sich die Finsternis zum Partner und den Tod. Unter seinen ehemaligen Berufskollegen geht die nackte Angst um, wie ein unfaßbares Gespenst. Sie rufen Jo Walker auf den Plan, und KX lockt das mordende Phantom aus der modrigen Dunkelheit herauf ans grelle Licht des Tages. Und von da ab geht’s erst wirklich rund. Es explodieren Bomben, Autos und Tom Rowland, der sich wieder mal hintergangen fühlt. Eine Leiche taucht teils im East River, teils im Hudson auf, doch wie sich das alles so überaus spannend und gruselig entwickelt, lesen Sie am besten selbst nach. Ein schaurig-schönes Leseabenteuer erwartet Sie wie immer bei Ihrem Zeitschriftenhändler oder im nächsten Bahnhofskiosk. Eine superdicke Gänsehaut wünscht Ihnen jetzt schon Ihre Krimi-Redaktion KOMMISSAR X erscheint wöchentlich in der Verlagsunion Erich Pabel-Arthur Moewig KG, 7550 Rastatt, Telefon (072 22) 13-1. Druck und Vertrieb: Verlagsunion Erich Pabel-Arthur Moewig KG. Anzeigenleitung: Verlagsurlion Erich Pabel-Arthur Moewig, 7550 Rastatt. Anzeigenleiter und verantwortlich: Rolf Meibeicker. Zur Zeit gilt Anzeigenpreisliste Nr. 15. Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden; der Wiederverkauf ist verboten. Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich: Pressegroßvertrieb Salzburg Gesellschaft m. b. H. Niederalm 300, A-5081 Anif. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie gewerbsmäßige Weiterverbreitung in Lesezirkeln nur mit vorheriger Zustimmung des Verlages. Für unverlangte Manuskriptsendungen wird keine Gewähr übernommen. Bestellungen einzelner Titel dieser Serie nicht möglich! Printed in Germany. Mai 1990