Achim Mehnert
Drachenkrieg Professor Zamorra Hardcover Band 18
Zaubermond Verlag
Eine unheimliche Krankheit bedroht...
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Achim Mehnert
Drachenkrieg Professor Zamorra Hardcover Band 18
Zaubermond Verlag
Eine unheimliche Krankheit bedroht Nicole Duval, und zum ersten Mal fühlt sich Zamorra völlig hilflos. Auf der Erde existiert kein Heilmittel. Als es schon keine Hoffnung mehr zu geben scheint, erkennt Fooly die Wahrheit. Nicole leidet am Drachenfieber, und das kann nur im Drachenland geheilt werden. Um dorthin zu gelangen, bleibt Zamorra nichts anderes übrig, als mit einer Gruppe abtrünniger Cyborgs zu paktieren. Die Rebellen jedoch werden selbst gejagt. Einmal mehr wird Zamorra mit der DYNASTIE DER EWIGEN konfrontiert – und in einen Krieg hineingezogen, der in einer anderen Dimension tobt. Modernste Technik prallt auf uralte Magie. Und Zamorra und seine Freunde geraten im Drachenkrieg zwischen alle Fronten …
Prolog Ihre Gedanken durchstreiften das Universum, in dem ihre Flotten unterwegs waren. In letzter Zeit hatte es einige beunruhigende Meldungen gegeben. Etwas regte sich in den unergründlichen Weiten der Welteninsel. Anscheinend hatten die Gkirr ihre Wunden aus der Vergangenheit geleckt. Immer häufiger traf man auf ihre Patrouillen, und es war bereits zu ein paar Scharmützeln gekommen. Lange Zeit hatten die Gkirr sich bei solch zufälligen Zusammentreffen zurückgezogen. Nun suchten sie die Konfrontation geradezu. Es hatte den Anschein, als versuchten sie, die derzeitige Stärke ihrer uralten Gegner auszuloten. Nazarena Nerukkar stieß einen tiefen Seufzer aus und räkelte sich. Sie lag auf einem Diwan, der sich ihren Bewegungen automatisch anpasste. Die ERHABENE der DYNASTIE DER EWIGEN lag nackt in der Sonne. Die Kuppel des Gemachs, direkt unter dem Dach ihres Palastes gelegen, war geöffnet. Wolkenloser, blauer Himmel überspannte den Regierungssitz in der goldenen Stadt Kore. Nichts trübte die Aussicht. Kein Raumschiffskapitän hätte es gewagt, beim Anflug auf den Planeten oder nach einem erfolgten Start einen Flugkorridor zu wählen, der über den Palast führte. Nazarena hatte das strikt untersagt, und niemand beging den Fehler, einen direkten Befehl der ERHABENEN zu missachten. Die Gkirr! Seit beinahe einer dreiviertel Million Jahren hatten die Ewigen es nun schon mit diesem Abschaum der Galaxis zu tun. Damals hatten die Angreifer mit ihren mächtigen Kriegsschiffen Gaia und dessen Bewohner, das sogenannte Volk, angegriffen und die Überlebenden davongejagt. Aus ihnen waren die Ewigen hervorgegangen. In der beinahe unfassbaren Zeitspanne waren zahllose Sternenreiche entstanden und wieder vergangen, doch Ewige und Gkirr waren bis heute Todfeinde geblieben. Ein Ende der
Auseinandersetzungen war nicht abzusehen. Allmählich wurde es Zeit, dass diese abstoßend bleichen, kleinwüchsigen Kreaturen ein für alle Mal vernichtet wurden. Natürlich war Nazarena Nerukkar nicht so dumm, die Gkirr nach ihrem Aussehen zu beurteilen. Wären sie kein gleichwertiger Gegner, würden sie längst nicht mehr existieren. »Eines Tages werden wir sie dennoch besiegen«, sagte sie laut, so als befände sich außer ihr noch jemand im Raum, den sie überzeugen musste. Verärgert über sich selbst, erhob sie sich von dem Diwan und trat vor einen mannsgroßen Spiegel. Der Anblick eines Lächelns umspielte Nazarenas Mundwinkel, als sie ihr Spiegelbild in all seiner Pracht vor sich sah. Sie war eine schöne Frau, mit der nicht viele Geschlechtsgenossinnen konkurrieren konnten. Bisher hatte sie noch jeden Mann bekommen, nach dem es sie gelüstete. Sie spielte mit dem Gedanken, sich auf diese Art ein wenig Zerstreuung zu verschaffen. Stets holte sie sich ihre Liebhaber aus den Reihen ihrer Untergebenen. Seit ein paar Wochen gab es einen aufstrebenden Beta im Umfeld des Palastes, der ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Er besaß alle Qualifikationen, es schon bald zum Alpha zu bringen. Ob er gar auf die Idee kam, sie eines Tages um das Amt des ERHABENEN herauszufordern? Er besaß bereits ein beachtliches Para-Potential. Wenn er erst einmal Alpha war und hart daran arbeitete, würde es vielleicht eines Tages ausreichen, einen Dhyarra 13. Ordnung zu schaffen, der dem ihren ebenbürtig war. Die Gedanken waren müßig. Herausforderer kamen und gingen. Eines Tages würde einer dabei sein, der stärker war als sie. Nazarena Nerukkar verdrängte den Gedanken. Er war nicht dazu angetan, ihre Stimmung zu verbessern. Für den jungen Beta hatte sie eine bessere Verwendung. Nein, entschied sie sich dagegen, ihn zu einem vertraulichen Gespräch mit seiner ERHABENEN rufen zu lassen. In ihrer augenblicklichen Laune wäre das die reinste Verschwendung gewesen. Einen Appetithappen wie diesen Beta bewahrte man sich für die richtige
Gelegenheit auf. Die Unruhe ließ die Erhabene nicht los, zumal einige ihrer Aktionen schief gegangen waren. Der perfekt ausgeklügelte Plan, Ted Ewigk seine geliebte Carlotta quasi auf dem Sterbebett zu präsentieren und ihm damit auch den letzten Rest Lebenswillen zu rauben, war gescheitert. Weil der unselige Zamorra von Gaia und seine Partnerin Nicole Duval sich eingemischt hatten.* Ewigk selbst stellte weiterhin eine Gefahr für sie dar, seit er sich mit Al Cairo verbündet hatte. Der machtbesessene Alpha hatte eine Flotte um sich geschart und wartete auf einen günstigen Moment, die ERHABENE vom Thron zu stoßen, um an ihre Stelle zu treten. Zu allem Überfluss gab es auf ein paar Welten, die die Ewigen besetzt hatten, Aufstände der vergleichsweise primitiven Planetenbewohner. Das war zwar nichts, womit Nazarenas Flotten nicht fertig wurden, doch die ERHABENE war derzeit an zu vielen Brennpunkten gleichzeitig gefordert. Sie musste ihre Kräfte aufteilen und konnte sich nicht auf das Wesentliche konzentrieren. Es wurde Zeit, endlich einmal wieder richtig durchzugreifen und die Aufrührer in die Schranken zu weisen. Kein Volk in der Galaxis hatte das Recht, der DYNASTIE DER EWIGEN ihren Machtanspruch streitig zu machen. Nazarena hatte lange darüber nachgedacht, wie sie die Position der DYNASTIE – und damit auch ihre eigene – stärken konnte. Sie brauchte neue Stützpunkte. Nicht irgendwelche unbedeutenden Welten, sondern Bastionen, die von strategisch herausragender Bedeutung waren. Dabei war sie auf einen Namen gestoßen, der in lange zurückliegender Vergangenheit eine Rolle in der Geschichte der DYNASTIE gespielt hatte. Einst war nicht alles nach Plan verlaufen, doch das sollte diesmal anders sein. Das Ziel, das die EWIGE ausgewählt hatte, war ein ganz Besonderes. Stützpunkte in dieser Galaxis konnte man viele gewinnen, doch es gab nur einen bekannten Planeten, der nicht auf herkömmlichem Weg zu erreichen war. Das machte ihn besonders *
siehe PZ-Heft 823: »Attacke der Ewigen«
wertvoll. Es lag an ihr, ihn für die DYNASTIE zu erobern. Damit würde sie alle Zweifler und Opponenten für lange Zeit zum Verstummen bringen. Denn das Ziel lag in einer anderen Dimension. Es war das Drachenland.
1. Fieberwahn Das weiße Cadillac-Cabrio mit den roten Ledersitzen jagte die gewundene Landstraße entlang. Die Fahrerin machte sich keine Gedanken darüber, dass sie mit stark überhöhter Geschwindigkeit fuhr. Zum Glück war die Straße, die an einem malerischen Abschnitt der Loire entlangführte, selten stark befahren. Auch an diesem Tag waren nur vereinzelte andere Fahrzeuge unterwegs. Hin und wieder hieb ein Fahrer protestierend auf die Hupe, wenn die junge Frau am Steuer des Cabrios die unterbrochene Mittellinie grundlos überfuhr und nicht nur für andere, sondern auch für sich selbst eine Gefahr darstellte. Sie reagierte nicht darauf. Sie nahm das Gehupe nicht einmal wahr. Unzählige andere Gedanken gingen ihr gleichzeitig durch den Kopf. Keine Gedanken, sondern allenfalls Fragmente. Bruchstücke, die sich zu keinem Ganzen zusammensetzen ließen. Sie ergaben keinen Sinn, sie ergaben … … gar nichts. Die Fahrerin konnte sich nicht konzentrieren. Es gelang ihr nicht, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Der 300 PS starke V8-Motor heulte auf, als sie das Gaspedal durchtrat. Der Wagen machte einen Satz nach vorn. In der kurvenreichen Gegend lief er Gefahr, aus der Spur getragen zu werden und von der Fahrbahn abzukommen. Wie durch einen Schleier sah die Frau die Straße vor sich, die leicht ansteigenden Hänge mit den Weinstöcken und die hier und da zu kleinen Parzellen zusammengefassten Apfelbäume. Sanft bewegte der Wind die Blätter. Die Äste wiegten sich und erweckten den Anschein von knochigen Fingern, die sich streckten und nach dem Cadillac zu greifen versuchten. Die Frau nahm eine Hand vom Lenkrad und tastete instinktiv
nach der Waffe auf dem Beifahrersitz. Sie konnte nicht sagen, wieso sie sie mitgenommen hatte. Sonst tat sie das nie. Doch bereits am Morgen war eine Warnung in ihrem Geist aufgetaucht. Vorsichtig sein! Jetzt bewies sich, dass sie richtig gehandelt hatte. Das von der Sonne erwärmte Metall gab ihr ein Gefühl der Sicherheit. So einfach würde man sie nicht bekommen. Wer sich ihr in den Weg stellte, beging einen großen Fehler. Er würde schon bald Bekanntschaft mit dem Ministerpräsidenten der Hölle machen. Die fahlen Apfelbaumfinger schienen das zu wissen. Sie blieben hinter dem Wagen zurück und lauerten auf eine wehrlosere Beute. Dafür tauchte hundert Meter voraus ein rot umrandetes Schild mit einem Zeichen darauf auf. Gefährliche Kurve! Was bedeutete das noch? Gleichgültig, auch davon ließ sich die Frau nicht aufhalten. Sie kannte die Strecke, war sie unzählige Male gefahren. Mit keinem klaren Gedanken war sie auf dem Weg zu ihrem Ziel. Sie steuerte es unbewusst an, aus einem archaischen, animalischen Reflex heraus. Zwei Baumreihen tanzten plötzlich vor dem Cabrio, Felder dahinter, auf denen etwas wuchs. Ähren von dürren Geistergestalten, die darauf warteten, dass der Wagen von der Straße flog und zwischen sie geriet. Er und alles, was sich in ihm befand, würde niemals wieder daraus auftauchen. War da nicht ein Schmatzen in der Luft? Gierige aberwitzige Geräusche von zahnlosen, unsichtbaren Mäulern, die warnend aufheulten? Nein, es war ein Quietschen, das von dem Cabrio selbst stammte. Die Fahrerin war zu keiner vernünftigen Reaktion fähig. Sämtliche Gedankenfetzen wirbelten mittlerweile durcheinander und veranstalteten ein einziges Chaos in ihrem Kopf. Sie konnte nicht länger zwischen Fahrbahn, Markierungen, Randstreifen und angrenzenden Feldern unterscheiden. Beinahe schon brach das Cabrio aus. Instinktiv riss sie das Steuer herum. Das Quietschen steigerte sich zu einem Crescendo.
Dämonenklagen. Höllenlärm. Dann hatten die Reifen die Spur wiedergefunden. Nur noch ein Stück weiter lag das kleine Dorf. Aus dem Durcheinander in ihrem Kopf schälte sich ein Begriff. Das war es. Dort musste sie hin. Dort wurde sie bereits erwartet. Wie eine Vision zeichnete sich ein Gesicht in der Windschutzscheibe ab. Es war nicht das Abbild der jungen Frau. Es war eine Fratze von dämonischer Ausdruckskraft. Das düstere Rot lockte. Die Fratze zwinkerte. Komm doch!
Draußen prangte ein holzgeschnitzter Teufelskopf mit mächtigen Hörnern über der Eingangstür. »Zum Teufel« stand in zittriger, blutroter Leuchtschrift darüber zu lesen. Drinnen saßen zwei alte Freunde bei einem Schoppen Wein zusammen und unterhielten sich über Gott und die Welt. Um genauer zu sein, weniger über Gott als vielmehr über Luzifer und dessen Höllenscharen. »Trinken wir auf eine gute Jagd, Zamorra.« »Soll das heißen, dass du uns bei unserem nächsten Kampf gegen dunkle Mächte tatkräftig unterstützt?« Ein Grinsen huschte über das Gesicht des dunkelblonden Dämonenjägers. Pascal Lafitte ließ sein Weinglas sinken, das er zum Prosten erhoben hatte. Schlagartig fiel dem Mann, der Zamorra mit Informationen über ungewöhnliche Vorkommnisse in der ganzen Welt versorgte, das Gesicht herunter. »So haben wir nicht gewettet, mein Lieber. Wenn irgendwelche Biester mir das Lebenslicht ausknipsen, bist du aufgeschmissen. Ohne einen Informanten wie mich blickst du doch gar nicht mehr durch, gegen wen du überhaupt kämpfen sollst.« »Da ist etwas Wahres dran«, mischte sich Mostache ein. Der beleibte Wirt der Dorfkneipe »Zum Teufel« stellte unaufgefordert einen neuen Schoppen Wein auf der Tischplatte zwischen den
beiden Männern ab. »Ich sehe es nicht so gern, wenn meine Gäste beim Kampf gegen Dämonen ihr Leben verlieren. Wer soll dann all die leckeren Tröpfchen aus meinem Weinkeller würdigen?« »Das gepanschte Zeug?«, fragte Lafitte mit Unschuldsmiene. »Ich kann mich nicht erinnern, jemals ein positives Wort darüber verloren zu haben.« Mostache sah drein, als hätte er in eine Zitrone gebissen. »Das ist doch … das ist doch …« »Was denn? Ist dir etwas sauer aufgestoßen? Hast du die Sprache verloren? Du solltest nicht zu viel von deinen eigenen leckeren Tröpfchen probieren.« »Willst du damit sagen, dass ich sauren Wein ausschenke?« »Auf die Idee würde ich niemals kommen. Es ist auch bloßer Zufall, dass ich mir gerade ein Bier bestellen wollte.« Zamorra lachte hell auf. Gleichzeitig tat ihm der gute Mostache leid. »Reiz ihn nicht zu sehr, Pascal. Sonst schenkt er dir eines Tages gar nichts mehr aus.« »Dann schon lieber Assi«, spielte der Wirt auf die gelegentlichen Besuche des von ihm nicht besonders geschätzten Asmodis an, der eigentümlicherweise ein Faible für die Dorfkneipe hatte. »Mal im Ernst«, wandte Lafitte sich an Zamorra, nachdem der Wirt sich getrollt hatte, um sich in der Küche bei seiner Frau zu beschweren. »Das Kroppzeug zu vernichten, ist ganz allein deine und Nicoles Aufgabe.« »Du hast ja Recht. Das war auch nicht ernst gemeint, aber du hättest eben mal dein Gesicht sehen sollen. Du sahst genau so aus wie unser aller Lieblingswirt.« »Übrigens, wo bleibt Nicole eigentlich? Sagtest du nicht, sie macht nur einen kurzen Abstecher nach Feurs? Da gibt es doch keine großen Boutiquen, die sie durchstöbern kann, also auch keinen Grund, sich zu verspäten.« »Ich bin sicher, sie kommt gleich.« Zamorra sprach dem Wein aus dem Schoppen mit einem begeisterten Zungenschnalzen zu. Bei aller Flunkerei Mostache gegenüber, man merkte dem goldenen Tropfen jeden Sonnenstrahl an, den die Trauben abbekommen
hatten. Für seine Stammgäste tischte Mostache nur das Beste auf, und bis auf ein paar Hand voll Touristen das ganze Jahr über hatte der Wirt des beschaulichen kleinen Dorfs nur Stammgäste. »Es könnte sein, dass euer Eingreifen demnächst wieder mal nötig wird«, nahm Lafitte den Faden wieder auf. »Ich bin in verschiedenen Meldungen im Internet auf ein Kloster in Süddeutschland gestoßen. Es gibt übereinstimmende Hinweise, dass die dortigen Mönche regelmäßig von einem Spuk heimgesucht werden.« »Regelmäßig?«, staunte Zamorra. »Wahrscheinlich immer, wenn sie aus ihrem Braukeller wieder ans Tageslicht kommen.« »Ich meine das durchaus ernst.« »Ist mir klar.« Zamorra hatte das Gefühl, dass ihm der Wein bereits zu Kopfe stieg. »Ich werde mit Nicole darüber reden, sobald sie auftaucht.« »Dann leg mal los.« Lafitte deutete mit einem Kopfnicken zur Tür. »Da kommt sie, wie auf Stichwort.« Zamorra saß mit dem Rücken zur Tür. Er wollte sich umdrehen, als Lafitte zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten die Gesichtszüge entgleisten. Ein ungutes Gefühl beschlich den Meister des Übersinnlichen. Er fuhr herum und erstarrte. »Nici!«, entfuhr es Zamorra. Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Eine eiskalte Hand griff nach seinem Herz und presste es zusammen. Bebend stand Nicole im Eingang, das Gesicht zu einer Fratze verzerrt, die Zamorra noch nie bei ihr gesehen hatte. In ihrer Hand hielt seine Gefährtin einen E-Blaster, dessen Lauf genau auf den Tisch gerichtet war. Der als Abstrahlpol dienende Projektionsdorn in der Mündung der Waffe flimmerte bedrohlich. Da zog Nicole den Abzug durch.
Er erwachte in einer gläsernen Kuppel. Schlagartig. Wo in einem Moment noch nichts gewesen war, gab es im
nächsten eine Schwemme von Eindrücken, die sich über ihn ergossen. Vielfältige Geräusche drangen an seine Ohren. Klicken und Scharren, Reißen und Kreischen von Metall auf Metall, die hohen Töne von etwas, das auf Glas stieß, das schwere, unterschwellige Wummern von starken Energieerzeugern und ein monotones Summen, das die Luft erfüllte wie die drohende Ankündigung eines Insektenschwarms. Obwohl er all diese Geräusche nie zuvor vernommen hatte, konnte er sie auf Anhieb identifizieren. Er schlug die Augen auf und sah sich einem blendenden Licht ausgesetzt, dessen Quelle sich nicht erkennen ließ. Sie schwebte in der Höhe, wenige Meter über ihm oder Tausende Kilometer entfernt. Die Distanz ließ sich nicht abschätzen, denn das Licht überstrahlte alles. Es ließ ihn mehrmals blinzeln, während es sich durch seinen Verstand tastete. Er kam erst gar nicht auf die Idee, dass es dazu diente, seinen erwachenden Körper zu wärmen. Er benötigte keine Wärme für seine Entwicklung, nicht einmal das Licht der Sonne. Er war ein Mann, trotzdem war er unabhängig von solchen lebensunterstützenden Faktoren. Die Tatsache hob ihn über die Natur eines normalen Mannes hinaus. Er war mehr – und gleichzeitig viel weniger. Er betrachtete die Lichtquelle mit rein analytischem Interesse. Ohnehin handelte es sich um keine Sonne, um die Planeten kreisten. Sie war künstlich positioniert worden, um die gewaltige Halle zu beleuchten. Auch dieses Wissen war von Beginn seines Daseins in ihm verankert. Sekunden vergingen, Minuten, in denen das Licht allmählich auf ein Niveau abebbte, das den Fähigkeiten seiner Augen angemessen war. Stumm starrte er die schwebende Kunstsonne an. Nun blinzelte er nicht mehr. Es war ein Reflex gewesen, den er mechanisch eingeleitet hatte. Völlig überflüssig, denn er war einer solchen körperlichen Reaktion nicht unterworfen. Er konnte zwinkern, wenn ihm danach war, brauchte es jedoch nicht. Menschen müssen zwinkern, weil sie nicht anders können, dachte er.
Menschen. Angehörige eines Volkes, das zu unseren Feinden zählt. Er hatte noch nie einen Menschen gesehen. Trotzdem hätte er diese Wesen auf der Stelle unter unzähligen anderen herausfinden können. Andere jedoch noch viel mehr, denn Menschen waren keine primären Gegner. Im Grunde waren sie eine untergeordnete Spezies, mit der man sich nur beschäftigen musste, wenn es sich als zwingend notwendig erwies. Oder wenn ihre Welt Gaia im HeliosSystem eines Tages bereit war für den großen Sturm, der diese Welt in die Hand seiner ursprünglichen Bewohner zurückgeben sollte. Die gläserne Kuppel, in die der Mann eingebettet war, drehte sich um 45 Grad und brachte ihn in eine aufrechte Stellung. Der Blick nach draußen wurde durch eine Vielzahl von Instrumenten eingeschränkt, die mit seinem Körper verbunden waren. Elektroden waren an seinem Schädel angebracht. Sie fühlten sich kühl an. Unwillkürlich war er versucht, danach zu greifen. Er unterdrückte den Impuls, weil er genau wusste, wozu sie dienten. Sie maßen die biologischen Werte seines Körpers und überwachten dessen Funktionen. Über Drähte, die mit dem chirurgischen System verbunden waren, lieferten sie in jeder Sekunde Millionen Daten an den elektronischen Kontrollrechner. Bei der geringsten Abweichung von der Standardprozedur wurden automatisch Korrekturmaßnahmen eingeleitet. Schlimmstenfalls konnten die in der Abschaltung des Fertigungsprozesses bestehen. Was zwangsläufig sein Ende bedeuten würde. Er erschrak bei der Vorstellung. Wie war das möglich? Erschrecken! Ein solches Gefühl war in seinem Kopf nicht biomechanisch verankert. Hatte er einen Fehler, dessen Behebung einen zu großen Aufwand bedeutete, war eine Unterbrechung des Prozesses, bevor er sein Endstadium erreicht hatte, die einzig logische Konsequenz. Mit einem summenden Geräusch glitt etwas von rechts in sein Blickfeld. Es war ein Laser, der zu seiner Schädeldecke fuhr. Regungslos nahm der Mann das grelle Aufblitzen hin. Es bedeutete keine Gefahr, sondern stellte den letzten Schritt in seiner Werdung dar. Der Strahl verschweißte die Öffnung in seinem Kopf, durch die
sein Gehirn eingepflanzt worden war, mit chirurgischer Präzision. Es war vollbracht. Alles war in Ordnung. Es gab keinen Fehler, keine Einschränkung. Nicht nur die Reifung seines Körpers war abgeschlossen, auch das Einsetzen seines Gehirns war erfolgreich verlaufen. Der Greifarm mit dem Laser zog sich zurück und verschwand in einer seitlichen Verkleidung der Kuppel. Es gab keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Sorgen? Auch darauf war er nicht programmiert. Er vergaß die Unregelmäßigkeit, als sich die Kuppel mit einem Ruck in Bewegung setzte. Unwillkürlich richtete er sich auf, um die Umgebung besser sehen zu können. In seinem Rücken schwappte etwas. Erst jetzt registrierte er die Flüssigkeit, in die er nur noch bis zur Brust eingetaucht war. Bis zur vollständigen Reifung war sein Körper ganz davon bedeckt gewesen, danach hatten unsichtbare Kräfte ihn so weit angehoben, dass der Eingriff an seinem Kopf möglich wurde. Es war eine Nährflüssigkeit, in der er gewachsen war. Tag für Tag, Woche für Woche hatte sich die Entwicklung seines Körpers vollzogen. Aus einem anfänglichen Gewebeklumpen hatte sich Fleisch gebildet, ein Rumpf geformt, waren Gliedmaßen erwachsen, Arme und Beine mit Händen und Füßen. Und sein Kopf, der noch leere Sitz für seinen Verstand. Dieser trostlose Zustand, von dem er keinen Augenblick miterlebt hatte, war nun vorbei. Sein Gehirn war ihm eingepflanzt worden, sein Verstand hatte sich aktiviert. Sein Gehirn … es war keines, wie es biologische Organismen besaßen, sondern ein winziger Splitter. Der Splitter eines DhyarraKristalls aus den Tiefen des Universums. Darin war all das Wissen gespeichert, das er in Zukunft benötigte. Er brauchte nicht zu lernen, wie es Menschen taten. Ihre Aktivierung zu vollständigen Personen dauerte Jahre. Welch eine Verschwendung von zeitlichen Ressourcen, zumal Menschen ohnehin eng begrenzte Lebensspannen besaßen, die ein Erwachen nicht einmal erstrebenswert erscheinen ließen. Marginale Gedanken. Überflüssiger Ballast. Doch wenn der Dhyarra sie enthielt, hieß das, dass sie sich irgendwann als nützlich
erweisen konnten. Die Kuppel bewegte sich abwärts. Draußen wurden weitere sichtbar, die ihr glichen wie ein Ei dem anderen. Es waren Hunderte, Tausende, und der Mann konnte nur einen Bruchteil von ihnen sehen. Er glaubte, Köpfe in ihnen zu erkennen, Köpfe von anderen, die genau wie er selbst einen Blick in die Freiheit zu erhaschen versuchten. Sie alle waren so wie er. Sie hatten das Ende ihrer Erschaffung erreicht und würden Teil jener gewaltigen Armee, die auch auf ihn wartete. Die Halle war so riesig, dass nicht einmal die Wände zu sehen waren. Wo befand sie sich? Was war das für ein Planet? Er hatte keine Antwort auf diese Frage. Vermutlich besaß er nur Wissen, das für seine künftige Aufgabe relevant war. Mit mehr wurde er nicht belastet. Ohnehin bestand sein Leben darin, den Herren zu dienen und ihnen zu gehorchen. Er war ein Sklave. »Sklave.« Es war das erste Wort, das er aussprach. Seine eigene Stimme kam ihm kalt und fremd vor. Gleichzeitig überraschte sie ihn. Die Information, sprechen zu können, war so verankert in ihm wie sein restliches Wissen, doch der Gebrauch seiner Stimme war die erste willentliche Erfahrung, die er machte. Sklave. Die Bedeutung des Wortes gefiel ihm nicht. Sie beschränkte ihn von vornherein. Er fragte sich, ob er selbst das Wort ausgewählt hatte, oder ob die Wahl Teil eines Programms war, dem er unterworfen war. Auch darauf gab es keine Antwort. Er drehte den Kopf, als die Kuppel ihre Richtung änderte. Hatte er erwartet, sie befände sich zum Transport in einer Aufnahmevorrichtung, begriff er, dass er sich getäuscht hatte. Sie flog durch die Luft, ohne eigenen Antrieb. Speziell vektorierte Antischwerkraftfelder bugsierten sie zu ihrem Zielort. Wie Perlen an einer Schnur reihten die Kuppeln sich. Die vollautomatischen Mechanismen gruppierten jeweils zehn von ihnen. Mit einem Zischen öffnete sich ein Ventil, durch das die
Flüssigkeit abfloß. Der Mann schaute an sich hinunter. Er war nackt. Es gab keine Kleidung, die er hätte anlegen können. Es war ihm gleichgültig. So etwas wie Schamgefühl kannte er nicht. Zischend traten Düsen in Aktion. Warme Luft trat aus ihnen aus und bestrich seinen Körper aus allen Richtungen, bis er getrocknet war. Die Kuppel erreichte eine Rampe. Das Licht der Kunstsonne spiegelte sich in der metallischen Fläche. Der Mann legte den Kopf in den Nacken und schaute empor, dorthin, wo das mächtige Gebilde zweihundert Meter unter der Hallendecke schwebte. Es war lediglich eine Lampe, bemessen auf Höhe und Ausdehnung der Halle. Es war auch nicht die einzige. In der Ferne waren weitere zu sehen. Darunter waren Kuppeln zu gewaltigen Konglomeraten zusammengefasst. Sie bestanden aus einer unübersehbaren Zahl von Lebenskammern. In jeder von ihnen wuchs ein Diener heran. So wie er selbst. Allerdings gab es zahlreiche Stadien der Vollendung. Noch längst nicht alle Insassen waren so weit wie er selbst. Mit einem sanften Ruck setzte die Kuppel auf. Eine Teil der Wandung glitt beiseite und gab einen Ausstieg frei. Der Mann brauchte nicht zu überlegen. Als hätte er schon lange auf diesen Schritt gewartet, trat er ins Freie. Eine Schalttafel war außen an der Lebenstafel befestigt. Sie diente der Möglichkeit eines manuellen Eingriffs, falls kleine Korrekturen nötig wurden. Zum Glück war das bei ihm nicht geschehen. Sonst wäre er wahrscheinlich nicht mehr als eine tumbe Masse organischen Materials mit einem Dhyarra, der ihn steuerte. Beiläufig registrierte er, dass neun weitere wie er auf die Plattform traten. Zehn Container fuhren aus dem Boden, die sich beim Eintreffen der Ankömmlinge öffneten. Etwas Schwarzes lag darin. Schon hoben die Kuppeln wieder ab und machten Platz für den nächsten Verbund, der sich aus der Höhe herabsenkte. Wie auf einen stummen Befehl hin griffen die zehn Nackten in die Container und entnahmen den Inhalt. Der Mann entfaltete das Paket, das sich als schwarzer Anzug
entpuppte. Ein passendes weißes Hemd, eine schwarze Krawatte und ein Paar ebenfalls schwarze Schuhe lagen dabei. Er legte die Kleidung an, als hätte er das bereits unzählige Male zuvor getan. Dabei geschah es zum ersten Mal. Der Mann war auch kein Mann. Erst als er seinen Anzug trug, war er so vollständig wie Millionen und Abermillionen vor ihm, die auf die gleiche Weise entstanden waren. Er war ein Cyborg. Doch das war ihm nicht genug. Ein Cyborg zu sein, kam einem winzigen Glied in einer endlosen Kette gleich. Es war austauschbar und uniform zu allen anderen, die vor und nach ihm kamen. Außer der gemeinsamen Bezeichnung hatten sie nichts, was ihrer Existenz eine Bedeutung zumaß. Sie waren sich ihrer nicht bewusst, deshalb gab es keine Zweifel, kein Abweichen von der Routine. Aber ich bin mir meiner doch bewusst. Wie eine Welle schwappten Zweifel über dem Cyborg zusammen. Wie will denn einer der Herren mit mir reden, wenn er mich nicht einmal ansprechen kann? Beziehungsweise wenn er eine Anrede wählt, die so allgemein gehalten ist, dass sich jeder dabei angesprochen fühlt? Es gab nur einen Ausweg aus diesem Dilemma, einen Ausweg allerdings, der in der Existenz der Cyborgs nicht vorgesehen war. Ihre Klassifizierung geschah nach Produktionsreihen und Herstellungsnummern. Clyr, dachte der Cyborg, einem plötzlichen Impuls folgend, den vor ihm noch kein Cyborg gehabt hatte. Clyr. Clyr war ein guter Name.
Die Verwirrung war so groß, dass sie ihn beinahe taumeln ließ. Allein auf die Idee zu kommen, sich einen eigenen Namen zu geben, war für einen Cyborg ein unglaublicher Vorgang. Sie rechtfertigte die sofortige Abschaltung. Er hatte sich also nicht geirrt, als er kurz nach seinem Erwachen begonnen hatte, Dinge zu hinterfragen. Etwas stimmte nicht mit ihm. Er war eine Fehlproduktion.
Aber eine Fehlproduktion, die ein Recht darauf hatte zu leben. Zu leben? Cyborgs lebten nicht, sie existierten. Wenn sie aber nur existierten und nicht lebten, wie konnte er dann solche Gedanken hegen? Der Widerstreit seiner Gefühle drohte Clyr zu übermannen, und er hätte fast einen Fehler begangen, der sich nicht wieder gutmachen ließ. Hinter den Containern öffnete sich ein Spalt in der Wand. Ohne zu zögern, setzten sich die neun anderen Cyborgs in Bewegung und schritten hindurch. Clyr schreckte auf und sprang ihnen hinterher, ohne sich umzusehen. Von oben kommende Geräusche verrieten ihm, dass die nächste Kuppel kurz davor war, auf der Plattform aufzusetzen. Hoffentlich hatte niemand sein Zögern bemerkt. Die Abläufe in der Produktionsanlage gingen zwar automatisch vonstatten, doch das verhieß keine Sicherheit. Vermutlich saßen einige der Herren an Monitoren, die stichprobenartige Bilder der Halle lieferten. Wenn einer von ihnen im falschen Moment auf den richtigen Monitor geschaut hatte, war Clyr bereits aufgefallen. Er sah keine Chance, sich herauszureden, wenn man ihn mit seinem Zögern konfrontierte und nach den Gründen befragte. Er reihte sich in die Gruppe seiner Kameraden ein. Nein, das waren sie nicht, entschied er. Auch wenn er und sie sich äußerlich perfekt glichen, hatten sie nichts miteinander gemein. Im Gegensatz zu ihm waren sie willen- und seelenlose Cyborgs, organische Roboter, die anstelle eines eigenen Verstands den Splitter eines Dhyarras sitzen hatten. Diese Programmgehirne steuerten sie und lieferten ihnen gleichzeitig Energie, welche sie aus den Tiefen des Weltraums abriefen. Auch in seinem Kopf steckte ein solcher Dhyarrasplitter, doch anscheinend handelte es sich um einen fehlerhaften Splitter. Es war beinahe unmöglich sich vorzustellen, dass so etwas überhaupt vorkam. Oder war es das früher vielleicht schon? In einem Fall unter einer Million? Diese Überlegungen brachten ihn nicht weiter. Sie verwirrten Clyr nur. Die Schritte der zehn Cyborgs hallten durch den engen Korridor. Trotz seines offensichtlichen Schadens leitete das
Programmgehirn ihn sicher. Er hatte keinen Zweifel, wohin er seine Schritte lenken sollte. Auch ohne seine Begleiter hätte er den Weg wie im Schlaf gefunden. Also gab es vermutlich keine Beeinträchtigungen. Er besaß das gleiche Wissen wie sie. Und noch viel mehr darüber hinaus. Unauffällig sah er sich um. Die Öffnung, durch die sie gekommen waren, hatte sich wieder geschlossen. Niemand verfolgte sie. Dafür konnte es mehrere Gründe geben. Entweder war es tatsächlich nicht aufgefallen, dass die Anlage einen aus der Art geschlagenen Cyborg produziert hatte. Oder die Herren kannten derartige Zwischenfälle und maßen ihnen keine Bedeutung zu, sondern warteten, bis der betreffende Cyborg bei einem Einsatz getötet wurde und sich das Problem von allein erledigte. Oder sie warteten am Ende des Korridors bereits, um Clyr abzuschalten. Nicht abschalten, dachte er verzweifelt. Eliminieren. Diese Möglichkeit war die schlimmste, die er sich vorstellen konnte. In einem fragwürdigen Einsatz zu sterben, bedeutete hingegen zwar einen Aufschub, lief im Endeffekt aber auf das Gleiche hinaus. Eine Flucht schloss sich allerdings von selbst aus. Das System war zu perfekt, um daraus auszubrechen. Wohin hätte Clyr auch gehen sollen? Sicher gab es keine Enklave, in der sich abnorme Cyborgs trafen. Der Gang erstreckte sich an die hundert Meter. Es gab keine Abzweigungen und keine Türen in den Wänden. Was mochte sich jenseits der Wände befinden? Clyr fragte sich, ob Neugier und das Streben nach weiterem Wissen für Cyborgs typisch war. Ausschließen ließ sich das nicht, denn zwangsläufig sammelten sie im Laufe ihrer Existenz zahlreiche Informationen, mit denen sie nicht ausgestattet waren. Er bemerkte, dass er wieder den unzutreffenden Begriff gewählt hatte. Existenz. Anscheinend ließ sich trotz des Fehlers in seinem Programmgehirn dessen Basisprogrammierung nicht ganz überwinden. Der Zustand hatte etwas von Schizophrenie. Doch vielleicht würde sich das ändern, wenn Clyr nur lange genug lebte. Lebte.
Schon besser! In Zukunft würde er nur noch diesen Ausdruck benutzen. Jedenfalls für sich. Nicht für andere Cyborgs, die nicht mehr waren als mobile Rechner. Ein Gedanke durchzuckte ihn. Was war, wenn er einen Denkfehler beging? Unauffällig ließ er den Blick über die neun Cyborgs in seiner Begleitung wandern. Er konnte nicht ausschließen, dass auch sie von dem Programmierfehler betroffen waren. Vielleicht hatten sie sich besser unter Kontrolle als er und ließen sich deshalb nichts anmerken, um sich nicht in Gefahr zu bringen. Fünfzig Meter Korridor lagen hinter ihnen, etwa die gleiche Strecke noch einmal vor der Gruppe. Am Ende erkannte Clyr ein Schott. Er hatte keine Ahnung, was dahinter lag. Möglicherweise sein Schicksal. Wenn er etwas unternehmen wollte, um seine Überlegung zu überprüfen, musste er das jetzt tun. Er zögerte, weil er damit sein eigenes Verhängnis heraufbeschwören konnte. Da ihm keine andere Wahl blieb, gab er sich einen Ruck. »Seid ihr sicher, dass dies der richtige Weg ist?«, fragte er. Unter normalen Umständen hätte kein Cyborg diese Frage gestellt. Die Dhyarrasplitter in ihren Köpfen gestatteten nicht, dass sie einen falschen Weg einschlugen. Doch die Frage klang unverfänglich genug, um mit ihr keinen Verdacht zu erregen. Die neun Cyborgs zeigten keine Reaktion. Seine Enttäuschung wuchs, bis einer von ihnen leicht den Kopf drehte und in seine Richtung blickte. Die anderen starrten weiter geradeaus. Clyr überlegte, ob es sich lediglich um einen Reflex gehandelt hatte. Möglicherweise interpretierte er zu viel in die kurze Bewegung hinein. Es blieben nur noch zwanzig Meter bis zu dem Schott, was ihn unter Zugzwang setzte. »Anscheinend mache nicht nur ich mir Sorgen.« Die Bedeutung der Worte war mit Bedacht doppeldeutig gewählt. Nur wer sich mit dem gleichen Problem quälte wie er selbst, begriff das. »Ich glaube nicht, dass wir reden sollen, bis wir dazu aufgefordert werden.« Die Antwort kam von dem Cyborg, der bereits nach Clyrs erster
Bemerkung gezuckt hatte. Das konnte nur eins bedeuten. Er war nicht allein. Er hatte einen Leidensgenossen. Er beschleunigte seine Schritte und gesellte sich zu dem möglichen Verbündeten. Clyr kam nicht mehr dazu, abermals die Stimme zu erheben. Die Gruppe hatte das Schott erreicht, das sich automatisch öffnete. Ehe er sich versah, wurde er von unsichtbaren Kräften gepackt und nach vorne gezogen, hinein in einen abwärts führenden Kanal, der an die fünf Meter durchmaß. Auch hier waren antigravitionelle Kräfte am Werk. Clyr schwebte in die Tiefe. Mit einem raschen Blick vergewisserte er sich, dass der Cyborg, der ihm geantwortet hatte, nur eine Armlänge von ihm entfernt war. Clyr beschloß, ihn den »Verbündeten« zu nennen. Sie waren mit den restlichen acht Cyborgs ihrer Gruppe nicht allein. Das Feld transportierte einen unaufhörlichen Strom der Gestalten in den schwarzen Anzügen ihrer Bestimmung entgegen. In regelmäßigen Abständen flogen Schotts in der Kanalwandung vorüber. Hin und wieder waren sie geöffnet und spien weitere Cyborgs aus. So wurde der Strom ständig dichter. Keiner von ihnen gab einen Laut von sich. Daher zog es Clyr ebenfalls vor, stumm zu bleiben. Er fürchtete, den Verbündeten unter all den Cyborgs zu verlieren, doch der blieb an seiner Seite. Hin und wieder erlaubte er sich sogar einen zaghaften Blick, der keinen Zweifel ließ. Er hatte, wenn schon nicht den gleichen, dann doch einen ähnlichen Programmfehler wie Clyrs Speicher. Ob in dem unüberschaubaren Strom weitere Cyborgs ihr Schicksal teilten? Und wie war es überhaupt dazu gekommen? Clyr stellte fest, dass es in seinem eben erst begonnenen Leben bereits mehr Fragen gab, als ein Cyborg sie unter normalen Umständen in seinem ganzen Leben stellte. Er vermochte nicht zu sagen, wie tief hinab er transportiert worden war, als der Kanal in eine gewaltige Halle mündete. In einem Pulk schwarz Gekleideter wurde er dicht an einer Wand dem Boden entgegengetragen. Der lag viele hundert Meter unter ihm. Die Ausmaße der unterirdischen Halle selbst waren gewaltig. Sie
erstreckte sich viele Kilometer in die Ferne und zu den Seiten. Am Fuß der Wände gab es verschiedenfarbige Markierungen, zu denen die Cyborgs getragen wurden. Die kamen nicht nur aus der einen Öffnung, sondern ergossen sich aus zahlreichen Mündungen aus der Hallendecke. Doch etwas ganz anderes nahm Clyrs Aufmerksamkeit gefangen. Raumschiffe in unterschiedlichen Größen bedeckten den Boden. Es war eine ganze Flotte. Tatsächlich sah er nur einen winzigen Teil. Unzählige weitere Schiffe standen in Hallen wie dieser, um ebenfalls mit einer Besatzung bestückt zu werden. Zum ersten Mal war das kein direktes Wissen, sondern lediglich eine Ahnung. Das war ein weiteres Indiz dafür, dass Clyr etwas Außergewöhnliches war, denn Cyborgs verfügten nicht über Ahnungen. Im Mittelpunkt der Aufstellung prangte ein ringförmiges, etwa 750 Meter durchmessendes Schiff, das Clyr auf Anhieb als Jagdboot klassifizierte. Die zahlreichen darum herum gruppierten Ringschiffe hatten Durchmesser von 180 Metern. Auch sie erkannte er auf den ersten Blick. Es handelte sich um Jäger. Plötzlich vollführte er einen Schwenk. Das Antischwerkraftfeld trug ihn einem gelb markierten Bereich entgegen. Die Automatik teilte die Besatzungen für die einzelnen Raumschiffe ein. Clyr erschrak und schaute sich nach seinem Verbündeten um. Hoffentlich trug das Feld ihn nicht zu einer anderen Markierung. Zu seiner Erleichterung steuerten sie den gleichen Bereich an. Er lag in der Nähe eines Jägers. Dem Eindruck nach handelte es sich um einen Neubau. War dies das Schiff, für das er vorgesehen war? Seltsamerweise fand er in seinem Speicher keinen Hinweis darauf, dass er als Besatzungsmitglied für ein Raumschiff vorgesehen war. Sanft setzte das Feld ihn auf dem Boden ab. Unauffällig sah er sich um. Er stand in einer Gruppe von annähernd 500 Cyborgs. Längst nicht so viele von ihnen wurden als Besatzung gebraucht. Also wurde der überwiegende Teil an andere Orte gebracht, wo man ihre Dienste benötigte. Ein schrecklicher Verdacht kam Clyr. Kaum geboren, wurden sie
in einen Kampfeinsatz geschickt. Er horchte in sich hinein. Aufgrund der in seinem Programmgehirn gespeicherten Daten war er durchaus in der Lage, ein Raumschiff der Ewigen zu fliegen. Wieso hatte man ihn dazu befähigt, wenn er doch nur verheizt werden sollte? Etwas anderes machte ihm noch mehr zu schaffen. Er wünschte, er hätte das Wissen, was die Herren in der Galaxis trieben, nicht besessen. Sie führten Kriege gegen andere Völker, besonders gegen ihren Erzfeind seit Äonen, die verhassten Gkirr. Doch es gab zahlreiche weitere Feinde, weil die Herren einen Planeten nach dem anderen besetzten, um sich dessen Rohstoffe anzueignen. »Sieh, dort vorn«, flüsterte seine Nebenmann. Es war der Cyborg, den er insgeheim als seinen Verbündeten bezeichnete. Es war ein gutes Zeichen, dass der andere von sich aus das Wort an ihn richtete. Kein anderer der versammelten Cyborgs gab auch nur einen Laut von sich. Sie warteten stumm und ergeben darauf, ihre Mission aufnehmen, ihre Pflicht erfüllen und den Herren dienen zu dürfen. Einer dieser Herren kam gemessenen Schrittes herbei, bis er nur noch ein paar Schritte von den Cyborgs entfernt war. Mit vor der Brust verschränkten Armen blieb er stehen. Er trug einen silbernen Overall mit einem blauen Schulterumhang. In die Schließe des breiten Gürtels war ein Dhyarra eingearbeitet. Sein Rangsymbol wies den Ewigen als einen Omega aus. Das war der niedrigste Rang in der Ordnung, die beim Alpha endete, wie Clyr wusste. Mehr, als von einem Omega instruiert zu werden, sind wir nicht wert, dachte er bitter. Doch egal, ob Alpha oder Omega, das änderte nichts an der Herkunft des Mannes. Er war ein Ewiger, Angehöriger der DYNASTIE DER EWIGEN. Sein Wort war Gesetz für jeden Cyborg. Für sie zählte allein, was er ihnen auftrug, selbst wenn es ihren Tod bedeutete. »Cyborgs!«, donnerte die Stimme des Ewigen. Sie troff vor Überheblichkeit. Offenbar wurde sie elektronisch verstärkt. »Von diesem Augenblick an seid ihr mir unterstellt – so wie ihr jedem
anderen Ewigen unterstellt seid. Es ist euer großes Geschenk, uns bis an euer Ende dienen zu dürfen. Kein anderes Wesen besitzt dieses Privileg. Ihr werdet gleich an Bord meines Schiffes gehen und die Stahlwelt verlassen. Ich selbst werde euch dorthin bringen, wo eure erste Aufgabe auf euch wartet.« Clyr erschauderte. Es kam so, wie er es befürchtet hatte. Man brachte ihn mitten in einen Krieg. Keiner von ihnen war als Besatzung für ein Raumschiff vorgesehen. Sie waren Kanonenfutter, das keine Aussicht auf ein langes Leben hatte. Es hatte nicht schlimmer kommen können. Wie sehr Clyr sich irrte, begriff er, als ein weiterer Ewiger herbeigeeilt kam. Seinen Rangabzeichen zufolge handelte es sich um einen Delta. Er raunte dem Omega ein paar Worte zu und wandte sich an die Versammelten. »Aufgrund einer Energieschwankung bei der Programmierung eurer Gehirne im Cy-Dome hat es eine Unregelmäßigkeit während eurer Produktion gegeben. Bei einigen wenigen Exemplaren wurden fehlerhafte Programmgehirne installiert. Dies ist nicht eure Schuld, doch mit ihnen sind die Betroffenen nicht mehr wert als beschädigte Nahrungsmittelaufbereiter. Wir werden die fehlerhaften Exemplare aussondern.« Die Worte kamen einem Todesurteil gleich. Clyr stand da wie erstarrt. Er konnte sich nicht rühren. Selbst wenn er es gekonnt hätte, auch hier gab es kein Versteck für ihn. Kaum geboren, war schon seine letzte Stunde angebrochen. Aussondern … was der Delta darunter verstand, zeigte der E-Blaster in seiner Hand unmissverständlich. Die Waffe mit den schmalen Kühlrippen um den Lauf war auf tödlichen Lasermodus geschaltet. Ein Cyborg in den vorderen Reihen gab einen erstickten Laut von sich. Noch einer mit der Fehlprogrammierung, und er hatte die tödliche Gefahr ebenfalls erkannt. Der Delta legte an und schoss. Der nadelfeine, blassrote Hochenergiestrahl trat aus der leicht trichterförmigen Mündung und fraß sich in die Brust des Unglücklichen. Tot sank er zu Boden. Im selben Moment bahnte sich ein weiterer Cyborg einen Weg
durch die ihn Umstehenden. In blinder Panik stieß er sie achtlos beiseite, um zu fliehen. Er kam nur ein paar Schritte weit. Ein Schuss in den Rücken warf ihn jäh zu Boden, wo er liegen blieb, ohne sich noch einmal zu rühren. Unbeeindruckt wandte der Delta sich wieder der Gruppe zu, um nach weiteren Ausfällen Ausschau zu halten. Clyrs Gedanken überschlugen sich. Den beiden Cyborgs war ihre eigene Reaktion zum Verhängnis geworden. Wie hätte der Delta sie aus der Menge herausgefunden, wenn sie sich nicht bewegt hätten? Gar nicht möglicherweise? Er musste es darauf ankommen lassen, weil das seine einzige Chance war. »Nicht bewegen«, raunte er so leise, dass nur sein Nebenmann ihn hören konnte. Dabei bewegte er sich nicht. »Keine Reaktion, oder wir sind tot.« Stumm und unbeweglich standen die Cyborgs. Es gab keinen weiteren Aussätzigen unter ihnen, zumindest keinen, der sich durch eine unbedachte Reaktion verriet. Die Sekunden dehnten sich zu Ewigkeiten. Zwei Minuten lang ging der Delta vor den potentiellen Delinquenten auf und ab. Nichts geschah. Er kann es nicht. Er kann uns nicht erkennen. Vermutlich gab es eine Prozedur, die aber zu aufwendig war, um sie einzusetzen. Die Ewigen mochten sogar damit rechnen, dass ihnen der eine oder andere fehlgeschaltete Cyborg entkam, doch was sollten die schon ausrichten. Sie teilten das Schicksal der anderen und hatten ohnehin nicht lange zu leben. Das Problem würde sich also früher oder später von allein erledigen. »Darf ich meine Cyborgs endlich an Bord schaffen lassen?«, erkundigte sich der Omega. Der Delta ließ einen letzten Blick über die Versammelten gleiten. »Es spricht nichts dagegen. Die fehlerhaften Exemplare sind ausgesondert, daher werde ich mich der nächsten Gruppe widmen.« Er eilte so schnell davon, wie er gekommen war. »Cyborgs, mir folgen!«, donnerte die Stimme des Omegas noch eine Spur arroganter als vor dem Zwischenfall. »Ja, Herr«, kam die fünfhundertfache Antwort wie aus einem
Mund. Gleichzeitig setzten sich die schwarz Gekleideten in Bewegung. Niemand registrierte, dass zwei aus ihren Reihen sich einen stummen Blick zuwarfen.
Keiner von ihnen war als Besatzungsmitglied vorgesehen. Der Jäger war voll bemannt, bevor sie an Bord kamen. Die neuen Cyborgs wurden aufgeteilt und in verschiedene Räume geführt, die jeweils dreißig von ihnen Platz boten. Clyr achtete darauf, nicht von seinem Verbündeten getrennt zu werden. Der Frachtraum, der auf unbestimmte Zeit sein Zuhause war, bestach durch nüchterne Sachlichkeit. Kein Wunder, die künstlich erschaffenen Menschen mit ihren auf reine Zweckmäßigkeit angelegten Programmgehirnen legten nun einmal keinen Wert auf schmückendes Beiwerk. So gab es außer sargähnlichen Liegemöglichkeiten und einem Aufbau in der Raummitte keine Einrichtung. »Legt euch hin«, ordnete der Cyborg an, der sie hergebracht hatte. Er gehörte zur Besatzung und war bei ihrem Eintreffen bereits an Bord gewesen. »Für die Dauer unseres Flugs werdet ihr schlafen.« »Wie lange werden wir unterwegs sein?« Clyr zuckte zusammen, als sein Verbündeter die Frage stellte, während er sich hinlegte. Er hielt sie für eine große Dummheit. Die restlichen Cyborg kletterten in die bereitstehenden Behälter. Während er auf eine Antwort lauerte, beeilte er sich, es ihnen gleichzutun. Der Instruktor zögerte kurz, dann machte er sich an dem säulenförmigen Aufbau zu schaffen. Verschiedene Bedienungselemente waren dort zu sehen, Skalen und Überwachungseinrichtungen. »Es wird einige Minuten dauern, bis ihr einschlaft. Liegt ruhig und entspannt euch. Wenn wir unser Ziel erreichen, werdet ihr von allein wieder aufwachen.«
Clyr war überrascht. Das waren mehr Erklärungen, als er überhaupt erwartet hatte. Eine Antwort auf die Frage stellten sie nicht dar. Er vermutete, dass ihr Instruktor keine Anweisungen hatte, auf Fragen einzugehen. Von sich aus brachte er diesen Antrieb wohl auch nicht auf. Ein transparenter Deckel senkte sich über Clyr, dem nicht wohl in seiner künstlich gezüchteten Haut war. Er durfte nicht einschlafen, bevor er mit seinem Verbündeten gesprochen hatte. Eine solche Gelegenheit, in der sie unbeobachtet waren, kam bestimmt so schnell nicht wieder. Aus den Augenwinkeln verfolgte er jede Bewegung des Instruktors, der noch keine Anstalten machte, den Raum wieder zu verlassen. Er nahm eine Reihe von Schaltungen vor, trat von der Säule zurück und kontrollierte die Särge. Nachdem er einen Blick in jeden einzelnen geworfen hatte, wandte er sich ab und bewegte sich Richtung Ausgang. Schon hatte Clyr das Gefühl, von Müdigkeit gepackt zu werden. Er zwang sich, seine Augen offen zu halten. Hektisch bewegte er die Finger. Endlich verließ der Instruktor den Raum. Nun kam es darauf an, dass der Deckel sich ohne Gewalt öffnen ließ. Clyr drückte mit den Fingerspitzen gegen das transparente Material. Es setzte ihm keinen Widerstand entgegen. Leichter, als er erwartet hatte, schwang der Deckel in seine ursprüngliche Position zurück. Alles blieb still, kein Geräusch entstand. Vor allem kein aufgellender Alarm, weil es zu einem außerplanmäßigen Zwischenfall kam. Was auf den ersten Blick wie eine Nachlässigkeit der Ewigen und ihrer Besatzung aussah, war bei näherer Betrachtung nicht weiter verwunderlich. Niemand rechnete damit, dass ein Cyborg sich nicht an die Befehle hielt. Vermutlich war so etwas im System gar nicht vorgesehen, und deshalb gab es auch keine dafür vorgesehene Kontrolleinrichtung. Rasch schwang sich Clyr über den Rand seiner Liegestatt. Zu Beginn der Prozedur hatte er darauf geachtet, in welchen Sarg sein Verbündeter geklettert war. Er eilte dorthin und schaute durch die Abdeckung. Die Augen des anderen Cyborgs waren geschlossen.
Hoffentlich war er noch nicht eingeschlafen. Clyr griff nach dem Deckel und hob ihn in die Höhe. Blinzelnd schlug der darin Liegende die Augen auf. Unsicherheit und Furcht lagen in seinem Blick. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Wir sind allein und unbeobachtet.« Sekundenlang schwieg sein Verbündeter und starrte ihn ratlos an. Schließlich fasste er Mut und bewegte die Lippen. »Unbeobachtet? Bist du sicher?« Clyr zögerte. Natürlich war er das nicht. Vielleicht waren die Ewigen oder deren Besatzung vorsichtiger, als er dachte. Jetzt änderte das auch nichts mehr. Was er begonnen hatte, konnte er nicht mehr rückgängig machen. »Ja, ich bin sicher.« »Wer bist du?« »Ich nenne mich Clyr.« Er erwartete nicht, dass sein Gesprächspartner damit etwas anfangen konnte. »Ich bin Nadlun.« Eine warme Welle lief durch Clyrs Körper. Er lächelte, zum ersten Mal in seinem Leben. »Du hast dir ebenfalls einen Namen gegeben?« »Er fiel mir spontan ein. Ich habe geglaubt, dass ich der Einzige von uns bin, der auf diese Idee gekommen ist.« »So wie ich. Aber wahrscheinlich ist das eine logische Folge unserer …« Clyr suchte nach dem richtigen Ausdruck. »… unserer Andersartigkeit. Die Herren tragen Namen. Wieso sollte uns dann dieses Recht verwehrt bleiben?« »Weil sie Lebewesen sind«, entfuhr es Nadlun spontan. »Das sind wir auch. Sie begreifen das nicht. Sie dürfen auch nicht erfahren, was mit uns geschehen ist. Sonst töten sie uns auf der Stelle. Doch du selbst musst dir dessen bewusst sein, dass du genauso lebst wie sie.« »Was ist denn mit uns geschehen?« Das hätte Clyr auch gern gewusst. Der Delta im Raumschiffhangar hatte von einer Energieschwankung im Cy-Dome gesprochen. Dabei
war es zu einem Fehler bei einigen wenigen Programmgehirnen gekommen. Das Schicksal hatte es gut mit Nadlun und ihm gemeint. Mit ein paar anderen, die erschossen worden waren, weniger. »Wir haben später Gelegenheit, eine Antwort auf diese Frage zu finden.« Wenn sie dann noch lebten! Wenn es ein Später gab! »Zunächst sind andere Dinge wichtiger.« »Wovon redest du?« »Wir dürfen keinen Fehler machen, der uns verrät.« »Das ist leicht gesagt. Ich habe aber gemerkt, wie schwer mir das fällt.« »Mir auch. Doch wenn wir überleben wollen, bleibt uns gar keine andere Möglichkeit. Wir tun, was sie uns sagen. Dabei halten wir uns so gut es geht von den Herren fern. Auch sollten wir es vermeiden, uns in der Gegenwart ihrer Diener zu unterhalten. Der geringste Verdacht kann tödlich für uns enden.« »Hoffentlich haben sie noch keinen Verdacht geschöpft. Ich glaube, ich hätte unserem Instruktor keine Frage stellen dürfen.« Immerhin sah Nadlun seinen Fehler ein. »Das wird dir nicht wieder passieren.« »Was glaubst du, wohin man uns bringt.« »Mir wäre wohler, wenn ich das wüsste. Wir müssen uns darauf einstellen, dass uns unser Zielort und unsere Aufgabe dort nicht gefallen werden. Es nützt aber nichts. Wir spielen mit, solange es nötig ist. Wir warten auf unsere Chance.« »Welche Chance?« »Wir werden fliehen.« Nadlun verzog das Gesicht zu einer gequälten Maske. Kein normaler Cyborg war zu einer solchen Gefühlsregung fähig. »Wohin sollen wir denn fliehen? Die Herren sind überall. Wohin auch immer wir uns wenden, werden wir auf sie treffen. Die Galaxis gehört ihnen.« Das war eine in den Programmgehirnen gespeicherte Grundinformation. Kein Cyborg kam auf die Idee, an dieser angeblichen Tatsache zu zweifeln. Doch sie konnte nicht stimmen. Wenn die Galaxis wirklich den Herren gehörte, wieso brauchten sie
dann ihre Armeen, die sie gegen andere in den Krieg schickten? Wenn man seinen Gedanken freien Lauf ließ, kam man zu dem Schluss, dass die Galaxis viel zu groß war, um von einem Volk allein beherrscht zu werden. »Es gibt andere, die weder Freunde noch Sklaven der Herren sind«, versicherte Clyr. »Wir werden sie finden. Sie werden uns aufnehmen.« »Es kann Jahre dauern, bis wir jemals einen von ihnen zu Gesicht bekommen. Wenn überhaupt.« »Ich weiß.« »Und vielleicht verabscheuen sie uns noch viel mehr, als die Herren es tun.« »Nein«, antwortete Clyr nur. Er konnte keinen Grund nennen, warum er so sicher war. Vielleicht war es einfach nur der Wunsch, der keinen Zweifel gestattete. »Wir werden nun schlafen wie die anderen«, entschied er. »Denk daran, wenn wir wieder aufwachen. Nichts anmerken lassen. Schaffst du das?« »Ich … schaffe es.« »Davon bin ich überzeugt.« Clyr klappte den Deckel hinunter und ging zu seiner eigenen Liegestatt. Er kletterte hinein und legte sich auf den Rücken. Er hatte kaum den Deckel herangezogen und die Augen geschlossen, als ihn Zweifel befielen. Es war möglich, dass das Schlafsystem bei ihm nicht funktionierte, weil er den anfangs eingeleiteten Prozess einmal unterbrochen hatte. Die Zweifel schwanden, als er von Müdigkeit übermannt wurde. Clyr schlief ein, und die Träume kamen. Dabei träumten Cyborgs niemals.
2. Rebellion eines Cyborgs Schlagartig war Zamorra wieder nüchtern. Im Hintergrund ließ Mostache vor Entsetzen mehrere Teller fallen, kaum dass er aus der Küche in den Schankraum zurückgekehrt war. Der Wirt stieß einen Schrei aus und brachte sich Hals über Kopf in Sicherheit. Zamorra fuhr in die Höhe und warf sich nach vorn. Er bekam Lafitte zu fassen und ging gemeinsam mit ihm zu Boden. Ein haarfeiner Hochenergiestrahl bohrte sich in die Tischplatte und verdampfte den Weinkrug. Zamorra war unsicher, ob das Knacken von dem Schuss oder vom Bersten des Tisches stammte, der augenblicklich in Flammen aufging. Die Stühle kippten um und schlugen polternd zu Boden. Zum Glück waren zur Zeit keine anderen Gäste in der Kneipe, sonst wäre das Durcheinander komplett gewesen. »Feuer!«, schrie Mostache erschüttert. »Einen Feuerlöscher!«, hielt ihm Zamorra entgegen. Er dachte nicht nach, als er sich aufrappelte und auf die Beine kam. Sein Instinkt sagte ihm, dass Nicole nicht auf ihn schießen würde. Wenn er sich täuschte, war das sein letzter Irrtum. Genau wie sie alterte er seit seinem Besuch an der Quelle des Lebens zwar nicht mehr, doch diese relative Unsterblichkeit verhinderte keinen gewaltsamen Tod. Ein Treffer aus dem Blaster war für ihn so tödlich wie für jeden anderen. »Nici, was ist los?« Zamorra gab seiner Stimme einen beruhigenden Klang. »Leg die Waffe weg, bitte.« Noch immer stand seine Kampf- und Lebensgefährtin im Eingang. Ihr Gesicht glühte, in ihren Augen funkelte es. Für einen aberwitzigen Moment fragte Zamorra sich, ob das wirklich Nicole war und keine Doppelgängerin. Sie war es. Er verschwendete keinen überflüssigen Gedanken an die Frage, was geschehen war.
Das konnte er später klären. Zuerst einmal musste er sie entwaffnen. Behutsam machte er einen Schritt nach vorn. »Nici, es ist alles in Ordnung. Komm zu dir.« »Zamorra, du bist verrückt«, warnte Lafitte. »Komm in Deckung.« Und dann? Was war damit gewonnen? Zamorra dachte gar nicht daran. Wenn er keine Katastrophe riskieren wollte, gab es nur einen Weg. Er machte einen weiteren Schritt. Nicoles Mundwinkel zuckten. In ihrem Gesicht arbeitete es. Deutlich sichtbar waren die Adern an den Schläfen hervorgetreten. Sie kämpfte gegen sich selbst an, gegen einen Zwang, der Macht über sie gewonnen hatte. Sie war nicht sie selbst, trotzdem stemmte sie sich mit einem letzten Rest von Erkennen dagegen an, auf ihren eigenen Partner zu schießen. »Es ist alles in Ordnung, Nici«, wiederholte Zamorra, einen Fuß vor den anderen setzend. Schon hatte er die Hälfte der Strecke überwunden. »Ich bin bei dir. Was auch immer passiert ist, wir bekommen das in den Griff.« Das Zischen in seinem Rücken verriet ihm, dass der Wirt mit einem Feuerlöscher die Flammen erstickte. Beißender Qualm breitete sich aus. Zamorra achtete nicht darauf. Nur noch ein paar Schritte trennten ihn jetzt von Nicole. Ohne innezuhalten, redete er beruhigend auf sie ein. Die Waffe in Nicoles Hand zitterte hin und her. Sie deutete direkt auf Zamorras Brust. Eine falsche Bewegung, und er war tot. Es musste nicht einmal Absicht sein. Ein unbeabsichtigtes Zucken reichte aus, der Hölle ihren größten Feind zu nehmen. Die Vorstellung war geradezu bizarr. Was in all den Jahren keinem Mitglied der schwarzen Familie aus den Sieben Kreisen gelungen war, wurde ausgerechnet von der Frau zu Ende gebracht, die den Dämonenjäger liebte. »Lass uns nach Hause gehen, Nici«, wisperte Zamorra beschwörend. »Dort werde ich herausfinden, was mit dir nicht stimmt.« »Wer … bist du?« Nicoles Stimme war kaum zu verstehen. In den
Pupillen der Französin hatten sich goldene Tüpfelchen gebildet, ein deutliches Zeichen für ihre Erregung. Schweiß glänze auf ihrer Stirn. Ihre Haare standen wirr in alle Richtungen. Zamorra war erschüttert. Seine Gefährtin erkannte ihn nicht. Auch wenn sie nicht grundlos auf Fremde schoss, war das nicht gerade eine Beruhigung. »Ich bin es, Nici. Schau mir in die Augen, dann erkennst du mich.« Nicole hatte die Lippen zu zwei blutleeren Strichen zusammengepresst. Ihre Wangen bebten, die Augenlider flatterten. Wie in Zeitlupe ließ sie den Blaster sinken, bis der Lauf auf den Boden zeigte. Sekundenlang verharrte er in dieser Stellung, dann riss sie die Waffe unerwartet in die Höhe. »Zamorra!«, gellte Lafittes Schrei durch die Kneipe. Ein blauer Energiestrahl löste sich aus der Mündung und fraß sich in die Decke. Er erlosch, als die Französin in den Kniekehlen einknickte. Haltlos sackte sie in sich zusammen. Der Strahler entglitt ihrer schlaffen Hand und fiel zu Boden. Mit einem Satz war Zamorra heran. Gerade noch rechtzeitig schaffte er es, Nicole aufzufangen. Entsetzt hielt er sie in den Armen. Ihr ganzer Körper schien zu glühen.
»Mostache, wir brauchen einen Arzt. Schnell!« Die aufgeregte Stimme gehörte Pascal Lafitte. Zamorra kümmerte sich nicht darum. Er trug die regungslose Nicole zum MontagneTisch, dem Stammtisch, um den sich häufig Pater Ralph, der ExFremdenlegionär Gerard »Malteser-Joe« Fronton, der Weinbergpächter André Goadec, die Lafittes, der Dorfschmied Charles, der Posthalter Jean-Claude und einige andere zu einem Gläschen versammelten. Behutsam legte er sie auf die Tischplatte. »Ich habe angerufen.« Mostaches heisere Stimme drohte sich zu überschlagen. »Der Arzt ist in wenigen Minuten hier.« »Nicole, kannst du mich verstehen?« Zamorra beugte sich über seine Gefährtin, die hohes Fieber hatte.
Ihr Körper schien von innen heraus zu verbrennen. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Brust hob und senkte sich viel zu schnell unter den unruhigen Atemzügen. Hatte sie sich einen Virus eingefangen? Doch wo sollte das geschehen sein? Sie hatten Frankreich und speziell das Loire-Tal in den letzten Wochen nicht verlassen. Im Dorf selbst grassierte keine Krankheit. Wenn auch nur ein Einwohner die Symptome aufgewiesen hätte, die Nicole nun zeigte, hätte sich das in der kleinen Gemeinschaft wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Also steckte etwas anderes hinter dieser Sache. Die hinterhältige Attacke eines Dämons, der aus dem Verborgenen heraus agierte? Wenn es so war, musste Zamorra damit rechnen, das nächste Opfer zu werden. Außerdem brachte er mit seiner Anwesenheit dann seine Freunde aus dem Dorf in Gefahr. Er hob die Hände über Nicoles Stirn und wob magische Zeichen in die Luft. Schlieren wie von Silberstaub entstanden über ihrem Gesicht, bildeten Buchstaben und Symbole, mit denen kein Normalsterblicher etwas anfangen konnte. Für ein paar kaum wahrnehmbare Augenblicke glitzerten sie durch die Luft wie Feenstaub, um als goldene Flammen zu vergehen. Passend dazu formten Zamorras Lippen Worte, die in der heutigen Zeit nicht mehr gebräuchlich waren. Die meisten Menschen kannten sie nicht einmal. Sie gehörten zu einem Heilzauber, den Zamorra vor Jahren in einem alten Buch über Schamanismus entdeckt und gelernt hatte. Sibirische Schamanen des 20. Jahrhunderts hatten damit Fieberkrankheiten bekämpft und erstaunliche Erfolge erzielt. Die Umstehenden beobachteten ihn, ohne ein Wort von sich zu geben. Die meisten Menschen glaubten nicht an Magie, doch im Dorf hatten sie sich von deren Macht schon mehr als einmal mit eigenen Augen überzeugen können. Hier wunderte sich niemand so schnell über übernatürliche Ereignisse, bei denen andere längst Reißaus genommen hätten.
Lafitte und Mostache beobachteten atemlos, wie Zamorra die Fingerspitzen seiner Hände zueinander führte, bis sie sich fast berührten. Eine milchige Aura entstand dazwischen. Ein leises Knistern lag in der Luft. Er flüsterte in einer Sprache, die seine Freunde noch nie gehört hatten. Sein Gesicht verwandelte sich in eine Maske aus purer Konzentration, seine Augen wurden starr. Der Blick daraus schien Nicole zu durchbohren. Zamorra spürte etwas Fremdes, das nicht von dieser Welt war. Es war tatsächlich ein Fieber, das seine Gefährtin befallen hatte. Fremd, unbekannt. Kein Mensch war jemals davon befallen worden. Also doch Dämonenwerk, das nicht mit ärztlichen Mitteln zu bekämpfen war. Er durfte sich von der Tatsache nicht ablenken lassen. Das Fieber aus Nicoles Körper zu vertreiben, oblag allein ihm. Wenn ihm das nicht gelang, schaffte es niemand. Zamorra verstärkte seine Bemühungen. Heilzauber funktionierten nie, wenn man sie für sich selbst in Anspruch nahm, sondern nur für andere. Aber längst nicht immer. Magie war ein zweischneidiges Schwert, das sich auch vom stärksten Weißmagier niemals völlig zähmen ließ. Er musste es einmal mehr erkennen, als er mit den alten Worten keine Besserung erzielte. Nicoles Zustand änderte sich nicht, wurde allerdings auch nicht schlimmer. War das überhaupt noch möglich? Zamorras Blick klärte sich. »Ich muss Nicole ins Château zurückbringen«, beschloss er. »Vielleicht kann ich ihr dort helfen.« »Und wie?«, fragte Lafitte. Es gelang ihm nicht, die Besorgnis in seiner Stimme zu unterdrücken. »Was weiß ich? Ich muss es einfach versuchen.« Wie genau das geschehen sollte, konnte auch Zamorra nicht sagen. Aber vielleicht trat allein durch die magische Abschirmung um Château Montagne eine Besserung ein. Der Dämonenjäger war für jeden Strohhalm dankbar, der sich ihm bot, seiner Geliebten zu helfen. »Zuerst möchte ich einen Blick auf die Kranke werfen.«
Die Versammelten drehten die Köpfe, als ein hagerer, sportlich gekleideter Mann um die vierzig den Schankraum betrat. »Doktor Dupont«, begrüßte Mostache den Dorfarzt. »Na endlich. Etwas hat Nicole umgeworfen.« »Geht es etwas genauer?« Dupont trat vor den Tisch, auf dem die Regungslose lag. Nur ihr Brustkorb hob und senkte sich weiterhin stoßweise wie unter den rhythmischen Schlägen von Dampfhämmern. Ohne eine Antwort abzuwarten, machte er sich an eine Untersuchung. Zamorra hielt das für Zeitverschwendung, ließ den Arzt aber gewähren, während der Wirt schilderte, was zuvor geschehen war. »Meine Güte, so hohes Fieber habe ich noch nie erlebt.« Eilig machte sich Dupont daran, Nicoles Temperatur zu messen. Immer wieder schüttelte er ungläubig den Kopf. Zamorra hatte den Eindruck, dass sich die Stunden hinzogen, dabei verging nicht einmal eine Minute. »Wie hoch?«, fragte er ungeduldig. »Das … das gibt es doch nicht.« Der Mediziner starrte das Fieberthermometer an wie eine Erscheinung. »Der Ausschlag geht bis ans Ende der Skala. Nicole müsste eigentlich …« Er biss sich auf die Zunge und ließ den Rest des Satzes offen. Zamorra wusste auch so, was er sich zu sagen verkniffen hatte. Nicole müsste eigentlich tot sein. Kein Mensch überstand ein solch hohes Fieber, zumindest keins, das von dieser Welt war. Das war Beweis genug, dass irgendwelche finsteren Mächte ihre Klauen im Spiel hatten. Andererseits verhieß das noch eine kleine Hoffnung, weil es seine Gefährtin nicht bereits umgebracht hatte. Es wirkte anders als ein herkömmliches Fieber, wie es die Menschen seit Jahrtausenden heimsuchte. »Wir müssen sie auf der Stelle nach Feurs ins Krankenhaus bringen«, forderte der Arzt. Er ließ das Fieberthermometer, dem er nicht mehr recht traute, unauffällig in seiner Arzttasche verschwinden Zamorra schüttelte den Kopf. Das war sinnlos. In keinem Krankenhaus der Welt konnte man Nicole heilen. Das war nur mit anderen Mitteln möglich.
Wenn überhaupt. Seit dreißig Jahren kämpfte er nun schon gegen Geister und Dämonen, doch selten hatte er sich so hilflos gefühlt wie in diesem Moment. Eins war ihm jedoch klar. Wenn es eine Chance gab, Nicole zu helfen, dann im Château. Er war entschlossen, jeden Heilzauber und jede Magie dazu einzusetzen, die er kannte. Auch mit seinem Amulett oder einem Dhyarra ließ sich vielleicht etwas ausrichten. »Kein Krankenhaus«, entschied er mit eisiger Stimme. »Pascal, fasst du bitte mit an? Wir tragen Nicole ins Auto.« Lafitte nickte und half Zamorra. Gemeinsam trugen sie die Dämonenjägerin nach draußen. Da die berüchtigte Mostache'sche Seenplatte durch die Hitze des frühen Sommers teilweise ausgetrocknet war, brauchten sie nicht einmal durch den Schlamm zu waten, der für die meisten Monate des Jahres vor dem »Teufel« obligatorisch war. Sie betteten die bewusstlose Frau auf die Rückbank des Cadillacs. Seinen BMW 740i ließ Zamorra stehen. Er brauchte den Zündschlüssel des Cabrios nicht lange zu suchen. Nicole hatte ihn im Zündschloss stecken lassen. Mit fahrigen Fingern ließ er den Motor an.
Er flog durch die Unendlichkeit. Ein endloses Meer aus Schwärze lag vor ihm, das durchsetzt war mit Myriaden winziger Lichtpünktchen. Unentwegt rollte die Brandung aus kosmischem Staub durch die Milliarden Welteninseln. Die scheinbar unüberwindlichen Klüfte zwischen den einzelnen Galaxien, für die selbst das Licht Millionen von Jahren benötigte, blieb in Augenblicken zurück. Mit einer Geschwindigkeit, die jenseits jeglicher Vorstellungskraft lag, überwand er die Abgründe, um von einem Wunder der Schöpfung zum nächsten zu gelangen. Er kannte die Struktur des Universums, von seiner gesamten Ausdehnung bis hinab auf die subatomare Ebene. Doch
theoretisches Wissen und die Möglichkeit, die Wunder mit eigenen Augen zu schauen, waren zwei Paar Schuhe. Ihm war diese Chance gegeben, wenn er auch nicht wusste, wie er dazu kam. Seine Dankbarkeit dafür war beinahe so groß wie das, was sich in den vergangenen 20 Milliarden Jahren aus der Urknallsingularität geformt hatte. Er streckte eine Hand aus … Sie zitterte … kribbelte von dem Leben, das in sie zurückkehrte. In seinen ganzen Körper. Der erste Traum eines Cyborgs verging, wich der ernüchternden Realität des Lagerraums, in dem sich die Schlafsärge reihten. Clyr richtete sich auf, einem Impuls gehorchend. Dahin war das Universum mit all seiner Pracht. Das Universum, in das hinein er geboren worden war, war eins der Kriege. Willkommen in der Wirklichkeit! War das Zynismus? Fatalismus? Clyr hatte nicht vor, sich davon unterkriegen zu lassen. Er stieg ins Freie, augenblicklich hellwach. Es gab keine Periode des Übergangs, in der er erst wieder zu sich kommen musste. Das künstliche Gehirn brauchte keine Erholungsphase, nur der Körper aus biologischem Zuchtmaterial benötigte regelmäßige Regeneration. Auch er war ausgeruht. Vor dem Verladen der Cyborgs in den Jäger war er nur ganz kurz aktiv gewesen, also auch nicht erschöpft. Daher ließ sich nicht abschätzen, wie lange die unfreiwillige Schlafphase an Bord gedauert hatte. Theoretisch hätten Jahre vergangen sein können. Nein, überlegte er. Diese Wahrscheinlichkeit war minimal. Die Herren wollten die neuen Cyborgs so schnell wie möglich in ihren ersten Einsatz schicken, weil sie gebraucht wurden. Das ließ nur ein kleines Zeitfenster. Bei einem Eintreffen am Einsatzort Jahre später hätte sich dort längst eine grundlegend veränderte Lage dargestellt. Clyr stand inmitten der 29 anderen Cyborgs und hatte nichts mit ihnen gemein, wenn man von seinem Verbündeten Nadlun absah. Dicht bei dicht warteten sie darauf, dass der Instruktor ihnen ihre
Befehle gab. Es war der Cyborg, der sie schon hergeführt hatte. Angehörige anderer Völker konnten die schwarz gekleideten Kunstwesen nicht unterscheiden, ihnen selbst untereinander war das möglich, wenn sie ein paar Mal miteinander zu tun hatten. Nach ein oder zwei Kontakten gelang ihnen das allerdings auch nicht. »Wir sind am Ziel. Folgt mir. Ich werde euch nach draußen führen.« Knappe Worte, völlig leidenschaftslos. Clyr war versucht, einen Einwand vorzubringen. Wenn ihm kein Grund einfiel, an Bord zu bleiben, wurde diese fremde Welt zu seinem Schicksal. Schicksal. Wie merkwürdig der Begriff klang, selbst wenn man ihn nicht aussprach, sondern nur gedanklich hegte. Es lag daran, dass sich Cyborgs normalerweise nicht für ihr Schicksal interessierten. Sie taten, was ihnen aufgetragen wurde, so lange, bis sie dazu nicht mehr in der Lage waren. Entweder durch Verschleiß, gewaltsame Beschädigungen oder gar ihre Zerstörung. In Clyrs Sprachduktus klang das anders. Alterserscheinungen statt Verschleiß, Verletzungen statt Beschädigungen, Tod statt Zerstörung. Der ersten der drei Beeinträchtigungen konnte auch er nicht entgegenwirken, doch den beiden anderen wollte er aus dem Weg gehen. Als die Cyborgs sich in Bewegung setzten, verließ er den Frachtraum gemeinsam mit ihnen. Was anders hätte er auch tun sollen? Bei der geringsten Auffälligkeit würde man ihn töten. Nadlun schien die gleichen Gedanken zu hegen. Auch er schwieg und schloss sich der Karawane an. Weitere Cyborgs aus den anderen Frachträumen stießen zu ihnen, bis die gesamte von der Stahlwelt aufgebrochene Gruppe wieder zusammen war. 500 Cyborgs, die nicht wussten, was sie erwartete. 498 von ihnen war es gleichgültig. Der Instruktor führte sie durch verschiedene Korridore zu einem großen Schott in der Außenhülle des Jägers. Es war geöffnet. Tageslicht fiel herein, düster und wenig einladend. Clyr fragte sich, aufgrund welcher Vergleichsmöglichkeiten er diese Einschätzung
vornahm. Noch nie hatte er das Tageslicht anderer Planeten gesehen. »Waffen aufnehmen!« Rechts und links des Schotts waren Felder in die Wand eingelassen, in denen in langen Reihen Waffen in Halterungen befestigt waren. Clyr erkannte sie als E-Blaster, Waffen von gleichermaßen genialer wie erschreckender Funktionalität. Er nahm einen Blaster an sich und lief die abwärts geneigte Rampe hinab. Sie entließ ihn in eine karge, unwirtliche Welt. Es gab keine Anzeichen von Vegetation. Graue Felsformationen erstreckten sich in die Ferne. Zwischen ihnen tanzte der Sand. Heulend jagte der Wind durch die Felskanäle. »Schweber.« Nadlun war so dicht neben ihm, dass er ihn fast berührte. Wenn sie flüsterten, bestand wenig Gefahr, dass jemand mithörte. Clyr zählte 20 der wannenförmigen Fahrzeuge. Sie waren unbemannt. Sie standen auf einer weiten Betonpiste, auf der auch das ringförmige Schiff des Omegas gelandet war. »Verteilt euch auf die Schweber!« »Das dürfen wir nicht tun. Wenn wir einsteigen, kommen wir nie mehr von hier weg«, zischte Nadlun. Clyr fürchtete, dass ihnen keine andere Wahl blieb, als sich in ihr Schicksal zu fügen. »Hast du eine bessere Idee?« »Wir haben Waffen.« Die Erwähnung versetzte Clyr in Aufruhr. Es grenzte an Rebellion, auch nur daran zu denken, sie gegen den Instruktor einzusetzen, geschweige denn gegen einen Herren. Es war oberste Pflicht der Cyborgs, die Herren unter allen Umständen zu schützen, selbstverständlich auch mit dem eigenen Leben. Es war seltsam, dass er in dieser Hinsicht eine Hemmschwelle besaß, schließlich wollte er sein Leben unter allen Umständen in die eigenen Hände nehmen, was bereits Verrat genug war. Da kam es auch nicht mehr darauf an, noch einen Schritt weiter zu gehen. Dennoch schreckte Clyr davor zurück. Nadlun war ihm in dieser Hinsicht offenbar um einiges voraus.
»Was versprichst du dir davon? Wir hätten auf der Stelle alle anderen gegen uns.« »Ja.« Bewegungen erregten Clyrs Aufmerksamkeit. Er entdeckte ein kleineres Schott. Auch dort stiegen Cyborgs aus. Es waren zwanzig an der Zahl. Die Piloten für die Schweber. Sie gehörten zur Besatzung der Jäger und waren nicht dazu verdammt, auf dieser Welt zu bleiben. Sie lieferten nur die Neuankömmlinge an ihrem Einsatzort ab und flogen dann zum Schiff zurück. Ohne ihren neuen Kollegen auch nur einen Blick zu widmen, besetzten sie die Leitstände der flachen Fahrzeuge. »Komm schon«, forderte Clyr seinen Verbündeten auf. Er lief zu dem Schweber, der ihm am nächsten stand, stieg ein und setzte sich auf einen der vorderen Plätze gleich hinter dem Pilot, der nur durch einen hüfthohen Zwischensteg von seinen Passagieren getrennt war. Es dauerte nicht lange, bis der Schweber vollständig mit Passagieren beladen war und der Pilot sich den Kontrollen zuwandte. Clyr beobachtete ihn aufmerksam. Er sah jeden Handgriff des Piloten voraus. Er kannte sie, obgleich er bis eben noch keinen Gedanken daran verschwendet hatte. Also konnte er den Schweber fliegen. Ein verwegener Plan reifte in ihm. Wenn es ihm gelang, den Schweber zu kapern, konnten Nadlun und er sich in den Bergen verstecken. Doch was war damit gewonnen? Er begab sich lediglich von einem Gefängnis in ein anderes. Eine richtige Flucht sah anders aus, denn von dem Planeten kam er doch nicht weg. Zudem würden die Herren sich einen solchen Verrat wohl kaum gefallen lassen. Sobald sie von den Piloten davon erfuhren, würden sie ihn unerbittlich jagen, bis sie ihn hatten. Das Land war so öde und trostlos, wie es sich schon beim Aussteigen aus dem Jäger präsentiert hatte. Die Schweber zogen ihre Bahn zwischen zerklüfteten Felsen, bizarren Formationen, die mit ihren scharfen Graten bedrohlich wirkten. Es gab nichts, was den Aufenthalt auf dieser Welt lohnte. Doch dieser Schein trog,
denn wenn die Ewigen Cyborgs auf einen Planeten entsandten, gab es dort etwas für sie zu holen. Der unaufhörliche Bau von Raumschiffen verschlang enorme Ressourcen. Besonders die gewaltigen Sternenschiffe, deren Bau zehn und mehr Jahre dauerte, bestanden aus kaum bezifferbaren Mengen an Material. Deshalb plünderten die Herren die Rohstoffe unzähliger Planeten, solange die etwas hergaben, und suchten sich dann neue Schürfgebiete. Der Abbau geschah vollautomatisch. Gigantische Maschinen entrissen dem Boden seine Rohstoffe. Niemand brauchte sie zu überwachen, es sei denn, es gab eine einheimische Bevölkerung, die Widerstand gegen die Fremden leistete. Das konnte sich Clyr in diesem Fall nicht vorstellen. Nichts deutete auf eine Bevölkerung hin. Die Schweber waren recht schnell unterwegs und hatten bereits ein paar Kilometer zurückgelegt. Nirgendwo war eine Straße zu sehen. Es gab keine Gebäude, nicht einen Anflug von Infrastruktur. Wie auch sollte sich Leben auf einem solch tristen Gesteinsbrocken entwickeln? Aus der Ferne drang dumpfes Grollen heran, obwohl am Himmel keine Wolken zu sehen waren. Als der Schweber eine gezackte Felsformation überwand, zeichneten sich in der Ferne Umrisse ab, die riesigen vielarmigen Monstren glichen. Es waren die Abbaubagger, die mit jeder Sekunde gigantischer in die Höhe wuchsen. Hin und wieder blitzte es zwischen ihnen auf, wenn die Energiestrahler der Bohrer sich ins Erdreich fraßen und Kanäle schufen, in denen die Schaufeln nachsetzten. In weitem Umkreis war das Gelände eingeebnet. Von den früheren Felsen war nur loses Geröll verblieben. Der Schweber huschte über einen gähnenden Schlund, der einen halben Kilometer durchmaß. Er war so tief, dass anstelle eines Grundes nur Schwärze zu sehen war. Clyr vermutete, dass es dort unten ein Flöz gegeben hatte, das die Bagger bis auf den letzten Krümel Erz geplündert hatten. Danach waren sie weitergezogen. Das Donnergrollen, das sie schufen, rollte übers Land. Der Untergrund selbst schien zu zittern unter den Gewalten, mit denen der Planet in eine pockennarbige
Kugel verwandelt wurde. Sollte es hier tatsächlich einheimisches Leben geben, konnte es diesen Ansturm unmöglich überstehen. Dafür sorgten allein die Cyborgs. Clyr spähte unter sich. Immer noch gab es keinen Hinweis auf Lebewesen. Er hatte auch noch keinen entdeckt, als die Schweber in weiter Streuung landeten. Wie auf ein stummes Kommando hin kletterten die Cyborgs ins Freie und marschierten los. Ihr Ziel lag noch ein paar hundert Meter vor ihnen. Dort wurden sie bereits mit weiteren Instruktionen erwartet. Vielleicht flogen die Piloten nicht näher heran, weil schon hier Staub und Dreck in der Luft standen und die Sicht beeinträchtigten. Schon spürte Clyr einen unangenehmen Druck in seiner Lunge. Um wie viel schlimmer musste es erst weiter vorn sein, wo die Maschinen tonnenweise Dreck in die Luft schleuderten. Ungeschickt stieß er gegen die Umrandung des Schwebers und blieb mit dem Bein hängen. »Was hast du vor?«, fragte Nadlun. Die anderen Cyborgs waren bereits fünfzig Meter weit gekommen, ohne sich auch nur einmal umzudrehen. In dem Staubschleier, der sich zwischen den Landeplätzen der Schweber und dem tosenden Maschinenmonstrum ausbreitete, wurden sie zu undeutlichen Silhouetten, die genug mit sich selbst zu tun hatten, weil sie sich gegen die Widrigkeiten stemmen mussten. Von ihnen drohte keine Gefahr, doch nun drehte der Pilot sich um. In seinem steinernen Gesicht zeigte keine Regung, was ihm durch den Kopf ging. Clyr hatte keine Antwort für seinen Verbündeten parat. Er hatte nichts vor. Sein Kopf war wie leer angesichts des Schicksal, das ihm bevorstand. Nur ein paar Sekunden gewinnen! Was versprach er sich davon? »Sieh dir das an!«, zischte Nadlun und streckte einen Arm aus. Clyr entdeckte einen regungslosen Körper, der unmittelbar neben einem schmalen Loch am Boden lag. Er hatte die Gestalt eines Wurms von beinahe zwei Metern Länge und einem halben Meter Durchmesser. Zwei Sehschlitze und erschlaffte Fühler waren an
einem Körperende zu erkennen, ein Stück dahinter vier schaufelähnliche Extremitäten. Clyr wusste auf Anhieb, was er sah. Einen der Bewohner dieser Welt. Anscheinend lebten sie unter der Erde und wurden durch die Grabungen an die Oberfläche gelockt. Waren sie so gefährlich, dass die Herren Cyborgs gegen sie einsetzen mussten? Es schien so. Die Gedanken wirbelten in Sekundenbruchteilen durch Clyrs Kopf. Für diese Wesen wollte er nicht sterben. Er wollte auch keines von ihnen töten. Ohne sich dessen bewusst zu sein, war er aus dem Schweber geklettert. Er machte ein paar unbeholfene Schritte. Er hatte nicht vor, sich den Cyborgs anzuschließen, die stoisch in ihr Verderben liefen. Doch was sollte er tun? Unauffällig sah er sich um. Kein anderer Gleiter befand sich in unmittelbarer Nähe. Die ersten starteten bereits wieder und flogen zurück. Auch ihr Pilot wandte sich seinen Kontrollen zu, um zum Rückflug zu starten. Clyr traf eine Entscheidung. Mit einer plötzlichen Bewegung zog er seinen E-Blaster und erschoss den Pilot.
»Wir müssen verschwinden und uns verstecken«, forderte Nadlun. »Sonst ist unser Leben nichts mehr wert. Wenn wir auf der anderen Seite des Planeten untertauchen, wird man die Suche nach uns nach einer Weile einstellen.« Clyr selbst hatte das kurz zuvor selbst noch geplant. Nun verschwendete er keinen Gedanken mehr an eine solche Möglichkeit. Er wollte nicht auf dieser Welt vermodern. Es gab nichts, das ihn hier hielt. Dann schon lieber tot sein. »Wenn die Herren unseren Verrat entdecken, werden sie niemals aufhören, nach uns zu suchen.« »Dann sind wir also verloren.« Nadluns Stimme klang vorwurfsvoll. »Das ist deine Schuld.« »Noch sind wir nicht verloren. Komm schon. Wir müssen uns beeilen.« Clyr sprang in den Schweber und zog Nadlun mit sich. Er stieß
den Toten beiseite und übernahm die Kontrollen. Es bereitete ihm keine Schwierigkeiten, das Fahrzeug zu bedienen. Acht Schweber waren bereits gestartet. Nur einer stand noch am Boden. Anscheinend hatte es auch dort einen Zwischenfall gegeben. Mehrmals blitzte es grell auf. Der Cyborg benutzte seinen E-Blaster. Clyr flog hinüber. »Was hast du vor?« »Er soll denken, dass wir kommen, um ihm zu helfen.« »Und dann?« »Hör auf mit diesen Fragen.« Als sie den anderen Schweber erreichten, begriff Clyr, weshalb er noch nicht abgehoben hatte. Mehrere der wurmähnlichen Wesen waren aus dem Boden gekommen und hatten ihn angegriffen. Unbewaffnet hatten sie gegen einen bewaffneten Cyborg keine Chance. Der Pilot tötete eben den letzten von ihnen. »Ihr kommt zu spät«, sagte er, als Clyr neben ihm aufsetzte. »Wir können starten.« »Du nicht.« Clyr legte an und schoss. Für einen Moment erstarrte er, als ihm sein Tun so richtig klar wurde. Innerhalb weniger Minuten hatte er zwei Cyborgs erschossen. Keine Feinde, sondern Diener der Herren. Er lauschte in sich hinein. Da war keine Spur von Reue. Er konnte seine Einstellung den programmgesteuerten Cyborgs gegenüber nicht ändern. Sie waren nicht wie er. Sie lebten nicht, sie existierten allenfalls, und das hatte vorwiegend etwas von Dahinvegetieren. Es gab keinen Grund für Selbstvorwürfe. »Du bist verrückt.« Nadlun starrte auf den Toten. »Damit kommen wir nicht durch. Man wird uns fragen, wie es zu den beiden Toten gekommen ist. Früher oder später wird man sie finden und feststellen, dass sie mit unseren eigenen Waffen erschossen wurden.« »Niemand wird uns fragen. Wir sind nämlich die Piloten dieser zwei Schweber. Wir waren es immer. Aber wir müssen uns beeilen, damit nicht auffällt, dass wir so spät kommen. Wir müssen zurück zur Stahlwelt. Wenn uns das gelingt, habe ich einen Plan.«
»Und die Toten?« Darüber hatte Clyr bereits nachgedacht. »Wir werfen sie in den verlassenen Abgrund. Der ist mehrere Kilometer tief. Niemand wird die Leichen dort jemals entdecken. Vorher zerstrahlen wir ihre Köpfe. Nichts darf von den Programmgehirnen übrig bleiben.« Nadlun machte eine zustimmende Geste. Clyrs Plan erschien ihm logisch, auch wenn sie damit noch lange nicht zurück an Bord des Ringschiffs waren. Nebeneinander jagten die beiden Schweber dahin. Wie verabredet entledigten sich die Piloten der Toten. Sie schafften es sogar, den Schweber vor sich einzuholen und gemeinsam mit ihm zu landen. Als dessen Pilot ausstieg, sah er zu ihnen herüber. Clyr versuchte, seine aufkommende Panik zu bekämpfen. Wenn der Pilot erkannte, dass sie beim Verlassen des Jägers nicht dabei gewesen waren, war alles verloren. Desinteressiert wandte der Cyborg seinen Blick wieder ab. Clyr atmete erleichtert auf. Unbehelligt gelangten Nadlun und er an Bord des Jägers, der kurz darauf startete. So weit war alles gut gegangen. Der Jäger konnte nur die Stahlwelt als Ziel haben, um weiteren Nachschub an Cyborgs abzuholen. Wenn er zu seinem nächsten Flug startete, hatte Clyr nicht vor, noch an Bord zu sein.
Clyr und Nadlun hielten sich von den anderen Piloten fern. Vielleicht war doch einer darunter, der bemerkt hätte, dass sie nicht die waren, als die sie sich ausgaben. Es war nicht schwierig, anderen Besatzungsmitgliedern aus dem Weg zu gehen. Die Bordcrew hielt sich gemeinsam mit dem Ewigen in der Lenkzentrale des Jägers auf. Darüber hinaus war kaum jemand an Bord. Die beiden Abtrünnigen hatten sich in einen der Lagerräume zurückgezogen, die dem Transport der Cyborgs dienten. Hierhin würde sich niemand verirren. Also waren sie völlig sicher. »Das ist viel zu einfach«, überlegte Nadlun. »Ich habe ein schlechtes Gefühl. Früher oder später wird man uns auf die Schliche
kommen.« Clyr hatte selbst nicht damit gerechnet, dass sein aus schierer Verzweiflung geborener Plan sich so leicht umsetzen ließ. Doch gerade die Allmacht der Herren über ihre Cyborgs sorgte dafür. Sie wähnten sich so sicher, dass sie nicht einmal Verdacht schöpfen würden, wenn ihre Diener gleich reihenweise verschwanden. Vermutlich würden sie das auf irgendwelche Unfälle schieben, ohne sich weiter darum zu kümmern. Ihr scheinbar perfektes System barg die größte Gefahr in sich selbst. Dass die Herren das nicht einmal bemerkten, gedachte Clyr zu seinem Vorteil zu nutzen. »Du irrst dich«, belehrte er seinen Verbündeten, während er in die Hocke ging und sich gegen eine Wand lehnte. »Es ist den Herren gleichgültig, ob ein paar Cyborgs mehr oder weniger an Bord sind. Sie suchen nicht nach uns.« »Woher willst du das wissen?« »Weil ich mich in ihre Gedanken hineinversetzen kann. Normale Cyborgs können das nicht, du und ich sind aber nicht normal. Horche in dich hinein, und du verstehst, was ich meine.« Nadlun schwieg. Clyr sah ihm an, dass er über die Worte nachdachte. »Ja, ich denke, du hast Recht«, bekannte Nadlun schließlich. »Trotzdem wird bei der nächsten Landung auf dem Schürfplaneten auffallen, dass zwei Schweber ohne Piloten sind.« »Na und? Wir sind dann längst nicht mehr an Bord. Außerdem glaube ich nicht daran. Cyborgs gehen zweckgebunden vor, auch wenn sie keine speziellen Befehle erhalten. Aufgrund der Basisprogrammierung sind sie in manchen Situationen in der Lage, selbständig im Sinne ihrer Herren zu handeln. Wenn zwei Schweber nicht von ihren ehemaligen Piloten besetzt werden, springen zwei andere Cyborgs ein, ohne dass lange darüber debattiert wird.« Clyr hielt es sogar für möglich, dass der Delta das noch nicht einmal mitbekam. Seine Verachtung für die Ewigen, denen ihre Diener nicht das Geringste bedeuteten, wuchs. »Was unternehmen wir jetzt?«
»Gar nichts. Erst nach der Landung können wir aktiv werden.« Clyr erinnerte sich an seinen Traum. Er war wunderschön gewesen. Ohne den Kopf zu drehen, schielte er zu den Tiefschlafsärgen. Er war versucht, in einen davon zu steigen und die Prozedur zu wiederholen. Ob sich wohl so ein Traum auf Wunsch abrufen ließ? Er unterdrückte den Impuls, dem er am liebsten nachgegeben hätte. »Stör mich nicht, bis das Schiff seine Geschwindigkeit verringert«, bat er Nadlun. »Ich muss über ein paar Dinge nachdenken.« Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf sein Programmgehirn. Endlich hatte er Muße, sich damit zu beschäftigen. Es bereitete ihm keine Schwierigkeiten, sämtliche Dateien abzurufen. Er verfügte über ein immenses Wissen, das Sekunden zuvor noch vor ihm verborgen gewesen war. Nun, da er sich darauf konzentrierte, offenbarte es sich ihm mit erschreckender Schnelligkeit. Die Gesamtkapazität seines Wissensschatzes war gewaltig, viel größer als die der meisten rein biologischen Intelligenzen. Ein Frage beschäftigte Clyr ganz besonders. Er kannte die Antwort, kaum dass er sich mit ihr beschäftigte. Seine Fähigkeiten als Pilot waren nicht auf die Schweber beschränkt. Mit einer kleinen Mannschaft konnte er sogar ein Raumschiff fliegen, wenn kein Ewiger an Bord war. Die Erkenntnis kam einem Triumph gleich. Gleichzeitig brachte sie weitere Fragen mit sich. Wie sollte er an ein Raumschiff kommen? Und wie an eine Mannschaft, die ihn nicht verriet, sondern ihn bei diesem unglaublichen Diebstahl unterstützte? Nadlun allein reichte dafür nicht aus. Clyr brauchte weitere Cyborgs, die seinen Programmierfehler aufwiesen. Dummerweise waren sie vermutlich alle eliminiert worden. Wenn nicht, musste er sie finden. Wenn er keine fand, musste er selbst welche schaffen. Seine Gedanken begannen zu kreisen. Er begriff, dass er sich an Entscheidungen von dieser Tragweite erst gewöhnen musste. Sein Grundprogramm war dafür nicht vorgesehen. Daher war wichtig,
dass er einen Schritt nach dem anderen machte. Akribisch verschaffte er sich einen Überblick darüber, zu welchen Leistungen er fähig war. Er war mit der Ausbeute mehr als zufrieden. Anschließend kontrollierte er den Protokollspeicher des Dhyarra-Splitters auf Unregelmäßigkeiten. Zu seiner Überraschung war die Energieschwankung, die zu dem Programmfehler geführt hatte, darin verzeichnet. Es handelte sich um eine minimale Phasenverschiebung, die zwar vom zentralen Fertigungsrechner des Cy-Domes registriert worden war, doch aufgrund eines bis dahin fehlenden Präzedenzfalles hatte die Automatik nicht sofort abgeschaltet. Andernfalls hätte Clyr seine Aufzuchtkuppel niemals verlassen. Behutsam tastete er die Datenbruchstelle ab und kam zu dem Schluss, dass er Zugriff darauf hatte. Die Erkenntnis elektrisierte ihn. Mit ein paar schlichten Korrekturen war es möglich, den Fehler zu beheben. Wenn er das tat, war er ein Cyborg wie alle anderen. Das durfte auf keinen Fall geschehen, weder jetzt, noch möglicherweise später in einem Augenblick der Schwäche. Nicht einmal dann, wenn sein Leben davon abhing. Er wies Nadlun auf seine Entdeckung hin. Sein Verbündeter stellte bei sich die gleiche Phasenverschiebung fest. »Wir löschen die Protokolle«, entschied Clyr. »Nur so können wir sicherstellen, dass wir niemals von den Daten Gebrauch machen. Ein wenig warten wir damit aber noch, denn einmal werden wir die Daten der Phasenverschiebung brauchen.« »Nur einmal? Vielleicht ergibt sich später noch häufiger eine Situation, in der uns keine andere Wahl bleibt, als den Fehler rückgängig zu machen. Ich finde, wir sollten uns diese Option offen halten.« »Ist dir klar, was du da sagst? Wenn du diese Option jemals ergreifst, wirst du zu einem willenlosen Ding. Du bist dann nicht länger Nadlun.« »Ich tue es doch nicht.« »Allein indem du dir diese Option lässt, bist du schon bereit, sie auch anzuwenden«, plädierte Clyr. »Ich kann dich nicht zwingen.
Du musst selbst wissen, wie du dich verhältst. Ich werde meine diesbezüglichen Protokolle jedenfalls löschen, sobald der richtige Moment gekommen ist.« Nadlun schielte ihn von der Seite an. Der Blick sprach Bände. Noch nie hatte ein Cyborg seinen eigenen Programmspeicher manipuliert. Dissens. Der Gedanke behagte Clyr nicht. Er konnte Nadlun längst nicht so sehr vertrauen, wie er es gern getan hätte. »Wirst du es tun?« »Ja. Und wann?« »Ich werde es dir sagen.« »Wenn es so weit ist, kannst du dich auf mich verlassen.« Clyr gab keine Antwort. Er wusste nicht, ob er Nadluns Worten glauben sollte. Eine knisternde Atmosphäre baute sich zwischen den beiden Abtrünnigen auf. Sie belauerten einander, zogen sich in sich selbst zurück und warteten darauf, dass der andere etwas sagte. Etwas hatte sich zwischen sie geschoben. Oder bildete Clyr sich das nur ein?
Der Rest des Fluges verlief ohne Zwischenfälle. Wie Clyr erwartet hatte, kam niemand in den Frachtraum. Bis zur Landung blieben die beiden Abtrünnigen unbehelligt. »Was tun wir nun?«, fragte Nadlun. »Wir warten noch etwas.« »Wozu warten? Wir sollten das Schiff so schnell wie möglich verlassen. Sonst entdeckt man uns noch.« »Im Gegenteil. Gleich nach der Landung werden alle von Bord gehen. Vielleicht würde niemand auf uns achten, doch wir gehen kein Risiko ein. Wir warten ab, bis Ruhe eingekehrt ist. Dann verschwinden wir unauffällig.« »Und wohin?« Darüber hatte sich Clyr bereits den Kopf zerbrochen. Alles hing davon ab, dass sie wirklich wieder auf der Stahlwelt waren.
Während des Fluges waren ihm die dortigen Abläufe wieder und wieder durch den Kopf gegangen. Er kannte sie nur ansatzweise, doch das Wenige, was er wusste, gab ihm Mut. Waren sie jedoch woanders gelandet … Er wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu führen, weil ihnen dann nämlich nichts anderes übrig blieb, als weiterhin in ihrem Versteck auszuharren. Nach und nach erstarben die Maschinengeräusche. Es wurde ruhig an Bord des Jägers. Einmal vernahm er polternden Lärm ganz in der Nähe, als würde etwas transportiert. Er lauschte und versuchte festzustellen, ob Geräusche von außerhalb des Jägers hereindrangen, konnte aber nichts hören. Es war zu gut abgeschirmt. Ihm entging nicht, dass Nadlun immer unruhiger wurde. Die verrinnenden Minuten zerrten auch an Clyrs Nerven, doch er wollte nicht durch eine übereilte Aktion alles gefährden. Waren sie erst einmal draußen, musste er ohnehin darauf vertrauen, dass man sie in Ruhe ließ. Wenn jemand auf die Idee kam, ihnen unangenehme Fragen zu stellen, steckten sie in der Klemme. Unwillkürlich tastete er nach dem Blaster. Bevor er aufflog und Gefahr lief, umprogrammiert zu werden, würde er kämpfend in den Tod gehen. Und wenn, dann wollte er so viele Herren wie möglich mitnehmen. Zum ersten Mal empfand er ein neues Gefühl ihnen gegenüber. Seine anfängliche Verachtung schlug in Hass um. Nicht wegen dem, was aus ihm geworden war, sondern wegen dem, was aus ihm hätte werden sollen, wenn es nach den Ewigen gegangen wäre. Von nun an würde er sie nur noch so nennen. Sie waren Ewige – keine Herren. Eine solch ehrerbietige Bezeichnung hatten sie nicht verdient. Clyr und Nadlun hingegen hatten eine Aufwertung erfahren. Sie waren Männer – keine Cyborgs. Der Gedanke erfüllte ihn mit Stolz und einem Gefühl der Hochachtung für die Schöpfung. So nannte er das, was ihm und seinem Begleiter widerfahren war. Sein interner Chronograph zeigte das Verstreichen der Zeiteinheiten mit unbeirrbarer Sachlichkeit. Clyr kam die Zeitspanne, die sie warteten, viel länger vor. Auch das war eine
Folge seiner Bewusstwerdung. Als nüchtern operierender Cyborg ohne Gefühle hätte er ein solch abweichendes Empfinden nicht wahrgenommen. »Wir können es wagen«, sagte er irgendwann und erhob sich vom Boden. »Endlich«, stimmte Nadlun zu. Er öffnete das Schott und spähte in den Korridor hinaus. Er lag still und verlassen da. Kein Cyborg war unterwegs. »Die Besatzung hat das Schiff verlassen.« Es fragte sich nur, wo der Ewige steckte. Er stand im Rang eines Deltas. Vielleicht erstattete er einen Routinebericht an einen Höherrangigen. Die beiden Abtrünnigen orientierten sich so mühelos, als hätten sie über Jahre hinweg Dienst auf einem solchen Schiff getan. Niemand begegnete ihnen auf dem Weg zum nächstgelegenen Außenschott. Der Jäger war tatsächlich verlassen. Ungehindert öffneten sie das Schott. Geräusche drangen an die Ohren der Männer. Clyr fühlte grenzenlose Erleichterung. Dies war die Stahlwelt. Das Schiff stand wieder in der Halle, aus der es mit seiner Ladung zu dem Schürfplaneten aufgebrochen war. Oder in einer, die ihr sehr ähnlich sah. Er entdeckte ein paar vereinzelte Cyborgs, die Handlangertätigkeiten durchführten, zu denen sich die Ewigen niemals herabgelassen hätten. »Komm«, forderte er Nadlun auf. »Verhalte dich ganz unauffällig.« »Unauffällig?« Nadlun hatte Recht. In diesem Zusammenhang war das ein dummes Wort. Wie verhielt man sich unauffällig? Clyr merkte, wie sich in seinem Gesicht eine Veränderung vollzog. Seine Mundwinkel zuckten nach oben, ohne dass er etwas dagegen tun konnte, ein paar Falten bildeten sich in den Augenwinkeln. Er war amüsiert. Er lächelte. Was für eine Erfahrung!
Cyborgs lächelten nicht, weil sie keine Empfindungen kannten, die ein Lächeln auslösten. Clyr bemühte sich, sein aus den Fugen geratenes Gesicht wieder unter Kontrolle zu bekommen. Ein lächelnder Cyborg war zweifellos alles andere als unauffällig. Als er sicher war, die verräterischen Signale aus seinen Zügen verbannt zu haben, trat er in die Halle hinaus. Gigantisch lag sie vor ihm. Mit den geparkten Raumschiffen lieferte sie eine Ahnung von der überwältigenden Macht, die die Ewigen besaßen. Wer sich mit ihnen anlegte, litt entweder an maßloser Selbstüberschätzung oder verfügte, wie die Gkirr, über ähnliche Machtmittel. Oder, dachte Clyr entschlossen, er war so klein und unbedeutend, dass die Ewigen ihn gar nicht wahrnahmen. Er deutete zu einer Rampe, auf der fünf Hornissen aufgereiht waren. Mehrere Cyborgs bedienten einen Antigravprojektor, um die zylindrischen 2-Mann-Beiboote in die offen stehende Ladeluke eines Jägers zu verladen. »Wir gehen zu ihnen und sehen, wie sie reagieren.« »Riskant«, überlegte Nadlun. »Andererseits werden wir hier überall auf sie treffen. Also müssen wir herausfinden, wie sie sich in unserer Gegenwart verhalten.« Clyr nickte zufrieden. Ihre Gedanken gingen in die gleiche Richtung. Er hatte sich schon Sorgen gemacht, dass er seinem Verbündeten jede Kleinigkeit erklären musste. Ihre Programmgehirne besaßen zwar die gleiche Kapazität und waren mit identischen Daten gefüttert worden, doch es gab keine Garantie, dass die Energieschwankung nicht zu unterschiedlichen Effekten geführt hatte. Ein eigenartiges Gefühl beschlich ihn, als er nur noch ein paar Meter von den arbeitenden Cyborgs entfernt war. Er kannte jeden Handgriff, den sie taten, beherrschte das Gerät, mit dem sie arbeiteten. Wenn einer von ihnen ausfiel, konnte er sofort an dessen Stelle treten. Schlagartig erinnerte er sich an das erste Wort, das er nach seinem Erwachen ausgesprochen hatte. Lichterloh brannte es in seinem
Verstand. Sklave. Fast wäre er so wie sie geworden. Er hatte nur Bedauern für sie übrig. Zwei von ihnen sahen kurz auf, als Nadlun und er sich zu ihnen gesellten, nur um sich sofort wieder ihrer Tätigkeit zuzuwenden. Clyr warf seinem Verbündeten einen bezeichnenden Blick zu. Kein Cyborg würde sich um sie kümmern, solange sie keinen Schaden anrichteten oder sich unauffällig verhielten. Unauffällig … Wieder lächelte Clyr, diesmal aus eigenem Willen. Er nickte Nadlun zu, ihm zu folgen. Es gab keinen Zweifel mehr. Seine Pläne für die Zukunft begannen bereits Wirklichkeit zu werden. Es bedurfte nur noch eines kleinen Anstoßes. Die Stahlwelt stand ihnen offen.
3. Flucht aus dem Cy‐Dome Den ganzen Tag hatte Zamorra sich durch die Dateien seines Computers gewühlt und nach Hinweisen gesucht. Nirgendwo war ein Phänomen beschrieben, wie es das Fieber darstellte, das ein Mensch eigentlich gar nicht aushalten konnte. Auch die Bibliothek gab nichts her, was dem Dämonenjäger weiterhalf. Die Vorstellung, dass sich in einer der unzähligen, zum Teil uralten Schwarten der entscheidende Wink verbarg, war zum Haareraufen. Erst ein Teil der umfangreichen Bibliothek war erfasst, viele der Bücher hatte Zamorra aus allen Teilen der Welt zusammengetragen, aber noch nicht gelesen. Das war eine halbe Lebensaufgabe. Was er bisher nicht geschafft hatte, konnte er in kurzer Zeit schon gar nicht bewältigen. Und darüber, wie viel Zeit Nicole noch blieb, konnte er nicht einmal Spekulationen anstellen. Mit steinerner Miene verließ er die Bibliothek und ging zu seinem Zauberzimmer, um einen Dhyarra zu holen. Er steckte ihn in die Hosentasche und ging weiter zum Schlafzimmer. Seine Gefährtin lag auf dem Rücken, die Arme vor der Brust verschränkt. »Keine Veränderung?« Er konnte nicht sagen, wie oft er die Frage in den vergangenen Stunden gestellt hatte. Die Antwort war stets die gleiche. Auch jetzt schüttelte Lady Patricia den Kopf. »Sie ist kurz wach geworden, ohne mich zu erkennen. Wenigstens hat sie etwas von der Suppe gegessen.« Seit Zamorra Nicole ins Château gebracht hatte, wachte die Mutter von Rhett Saris ap Llewellyn, dem Erbfolger des Saris-Clans, an Nicoles Bett und wartete auf Anzeichen von Besserung. Bisher gab es keine. Das Fieber, für das die Ärzte keine Erklärung fanden, war immer noch Schwindel erregend hoch. Auf Lady Patricias Drängen hin hatte Zamorra nachgegeben und verschiedene Mediziner, die
extra aus Paris angereist waren, nach seiner Gefährtin sehen lassen. Sie waren so ratlos wieder abgefahren, wie sie gekommen waren. Nachdenklich betrachtete der Meister des Übersinnlichen die Frau, die er liebte. Sie war am 17. August 1955 geboren und damit jetzt fünfzig Jahre alt. Dank des Wassers der Quelle des Lebens sah sie aus wie eine Frau Mitte bis Ende der zwanzig und besaß auch deren körperliche Konstitution. Normalerweise. Jetzt hingegen wirkte sie rein äußerlich wie eine Hundertjährige auf ihn. War das der Preis dafür, dass er und Nicole sich Jahre geliehen hatten, die ihnen nicht zustanden? War es nicht eine logische Konsequenz der Natur, dass sie sich irgendwann mit Gewalt zurückholte, was sie beanspruchte? Unsinn! Zamorra schob den deprimierenden Gedanken von sich. Manchen gestand die Natur schließlich viele tausend Jahre Lebensdauer zu. Er dachte an seinen Freund und Kampfgefährten Gryf ap Llandrysgryf, den Silbermond-Druiden. Dem sah man seine 8.000 Lenze auch nicht an. »Ich werde Gryf anrufen«, sagte er. »Der Druide ist sehr mächtig, aber ob er in diesem Fall helfen kann?«, zweifelte Lady Patricia. »Er hat in seinem Leben mehr gesehen als die meisten, abgesehen vielleicht von Merlin. Neben seinen grundsätzlichen magischen Fähigkeiten hat er ein Gespür für unterschiedliche Zeitabläufe und Zeitebenen. Wenn ich mir Nicole so ansehe, halte ich es für möglich, dass wir es mit einem Zeitphänomen zu tun haben.« Der Silbermond-Druide lebte in einer kleinen Hütte auf der Insel Anglesey im Norden von Wales. Nur für wenige gute Freunde war er dort erreichbar, weil die Telefonnummer in keinem Verzeichnis stand. Der Anschluss war nämlich magisch erzeugt worden und existierte offiziell gar nicht. Zamorra gehörte zu den wenigen Auserwählten, die Gryf jederzeit anrufen konnten. Nachdem er die Verbindung hergestellt hatte, meldete sich eine weibliche Stimme. Sie gehörte Teri Rheken. Die bildschöne Frau mit dem hüftlangen, goldfarbenen Haar war ebenfalls eine Silbermond-
Druidin. Auch sie hatte schon eine Menge Jahre auf dem Buckel, war aber lange nicht so alt wie Gryf, mit dem sie zusammenlebte. Ohnehin besaß sie die Gestalt einer Zwanzigjährigen. »Er ist nicht hier«, enttäuschte Teri den Dämonenjäger, nachdem er von dem Notfall berichtet hatte. »Er wollte im Dorf etwas erledigen. Ich suche ihn, damit er sich so schnell wie möglich bei dir meldet.« Zamorra bedankte sich und unterbrach die Verbindung. »Wie wäre es mit Merlin?«, schlug Lady Patricia vor. Zamorra nickte. Daran hatte er auch schon gedacht. Leider hatte er auch bei dem alten Zauberer kein Glück. Der Erschaffer von Merlins Stern meldete sich nicht in seiner unsichtbaren Burg Caermardhin in Wales. Möglicherweise hielt er sich gar nicht auf der Erde auf. Gedankenverloren spielte Zamorra mit seinem Amulett, das er an einer Halskette vor seiner Brust trug. Es verfügte über eine ganze Reihe magischer Funktionen, von denen er erst einen Teil entschlüsselt hatte. Im vorliegenden Fall war es keine Hilfe, zumal es sich in den zurückliegenden Monaten mehr als einmal störrisch gezeigt und ihn im Stich gelassen hatte. Was für die Dhyarra-Kristalle nicht galt. Zwar sah Zamorra wenig Aussichten, mit dem kleinen blauen Sternenstein in seiner Hosentasche etwas auszurichten, doch er wollte es zumindest versuchen. Dhyarras besaßen eine ungeheure magische Kraft. Je höherrangig sie waren, desto stärker waren sie auch. Ein Machtkristall, wie ihn sein Freund Ted Ewigk besaß, wäre jetzt hilfreich gewesen. Leider war er nicht verfügbar, da der ehemalige Geisterreporter mit Al Cairo irgendwohin in die Galaxis aufgebrochen war. Zamorra selbst hätte keinen höherrangigen Dhyarra benutzen können, selbst wenn einer verfügbar gewesen wäre. Sein Para-Potential reichte nämlich nur aus, einen Dhyarra bis zur 8. Ordnung zu beherrschen. Alle, die ranghöher waren, hätten ihm zwangsläufig das Gehirn ausgebrannt, ihn umgebracht oder in den Wahnsinn getrieben. Keine dieser Aussichten war besonders verlockend. Nun musste sich halt zeigen, was ein Dhyarra 8. Ordnung wert
war. Zamorra zog den Sternenstein hervor und betrachtete ihn entschlossen. Vielleicht war er die letzte Möglichkeit, Nicole wieder ins normale Leben zurückzuholen. »Nun zeig mal, was du kannst.« Er schmiegte den Kristall in seine Hand. Unmittelbarer Hautkontakt war nötig, um einen Erfolg zu erzielen. Außerdem musste der Nutzer eine klare, bildhafte Vorstellung davon haben, was die Magie des Dhyarras bewirken sollte. Zamorra hatte eine sehr genaue Vorstellung. Er schloss die Augen und konzentrierte sich. Vor ihm erwachte eine beinahe comichafte Szene zum Leben. Nicole schlug die Augen auf, ihr Blick war klar. Wie von einem Magneten angezogen, wich das Fieber aus ihrem Körper und verschwand. Nicole stemmte sich auf die Unterarme und richtete sich schwungvoll auf. Sie lächelte. Zamorra hatte das Gefühl, dass ein Video-Clip vor seinen Augen ablief. Seine Gedanken wurden von der Magie des Dhyarras aufgegriffen und von dessen schier unerschöpflichen Energiereserven in Wirklichkeit umgesetzt. Als er die Augen wieder öffnete, erfasste ihn eine tiefe Leere. Nichts war geschehen. Reglos lag Nicole auf dem Bett, den Körper über alle Maßen erhitzt. Zamorra stieß die Luft aus. Sein Versuch war kläglich gescheitert. Er hatte versagt! Ganz untypisch stieß er einen Fluch aus. In diesem Moment registrierte er eine Bewegung neben sich. »Nicht verzagen, Alter. Zusammen kriegen wir das schon hin.« Neben Zamorra stand Gryf ap Llandrysgryf. Der Druide hatte seinen zeitlosen Sprung eingesetzt, um herzukommen. Zamorra begrüßte ihn mit einem Händedruck. Der Freund war gekommen, um ihm beizustehen. Ein Hoffnungsschimmer zumindest. Doch ob der reichte …?
Wer seine Hintergründe nicht kannte, hielt Gryf für einen etwa zwanzigjährigen, gut aussehenden und stets fröhlichen Burschen, dessen Blondschopf noch nie einen Kamm gesehen hatte. Er hätte mühelos als junger Popstar oder Nachwuchsspieler von Paris Saint Germain durchgehen können. Von dieser Fröhlichkeit war derzeit nicht viel verblieben. Der Druide, wie meist in einen Jeans-Anzug gekleidet, war außergewöhnlich ernst. Er kauerte neben dem Bett und betrachtete Nicole mit besorgter Miene. Hin und wieder schüttelte er den Kopf. Zamorra verkniff sich die Frage, was sein Freund versuchte. Er schien gar nichts zu tun, hockte nur da und beobachtete die Kranke. Doch dieser Eindruck täuschte. Gryf setzte eine seiner speziellen Gaben ein. Sie brachte ihn nicht weiter. »Nichts«, sagte er, als er sich aus der Hocke erhob. »Ich habe Nicole telepathisch sondiert. Ich habe es versucht, um genauer zu sein. Nichts zu machen. Ihre Abschirmung funktioniert noch.« Zamorra nickte. Auch einem guten Telepathen wie Gryf war es nicht möglich, Nicoles geistige Abschirmung zu durchbrechen, wenn sie die nicht willentlich fallen ließ. »Aber eins kann ich auch sagen, ohne Nicoles Bewusstseinsinhalt zu erfassen«, schob der Druide seinen Worten hinterher. »Ihr Geist ist völlig verwirrt. Da herrscht ein einziges Durcheinander.« »Um das zu erkennen, muss man kein Telepath sein. Was hast du denn eigentlich gesucht?« »Einen Hinweis auf die Ursache ihrer Erkrankung.« »Erkrankung?« »Nennen wir es so, bis wir es besser wissen. Jedenfalls ist nichts zu finden. Wenn Nicole wirklich einen Verdacht hat, bleibt er mir verborgen.« »So kommen wir nicht weiter. Ich habe schon ein Dutzend verschiedene Heilzauber ausprobiert. Keiner schlägt an. Ich bin sicher, wir haben es mit einer Erkrankung zu tun, die nicht von der Erde stammt.« Gryf fuhr sich mit einer fahrigen Geste durch die Haare und brachte sie noch mehr durcheinander. »Du denkst an einen Angriff
aus der Hölle?« »Darauf habe ich getippt.« Inzwischen zweifelte Zamorra daran. »Es gibt keinen Hinweis darauf, dass sich irgendwelches Dämonenpack in der Gegend herumtreibt.« »Und in Feurs, wo Nicole zum Einkaufen war?« »Ich habe mit der dortigen Polizeiwache telefoniert. Die Flies haben keine Hinweise auf … ungewöhnliche Vorkommnisse. Ich fürchte, wir suchen in einer falschen Richtung. Was ist, wenn wir es nur mit einem bisher unbekannten Virus aus der Natur zu tun haben, gegen den es kein Gegenmittel gibt?« »Der sonst noch nirgendwo aufgetreten ist und ausgerechnet Nicole befällt? Glaubst du wirklich daran?« Stumm schüttelte Zamorra den Kopf. Die Wahrscheinlichkeit, dass so etwas ausgerechnet einer ständigen Kämpferin gegen die Schwarze Familie zustieß, war vernachlässigbar gering. Ungleich näher lag die Vermutung, dass Nicoles Zustand mit einem der letzten Einsätze zu tun hatte. Doch mit welchem? Wenn es doch nur den kleinsten Hinweis gegeben hätte! »Hast du schon mal daran gedacht, dass es sich um eine ansteckende Krankheit handeln könnte?« Zamorra erschrak. In seiner Sorge um Nici war ihm dieser Gedanke tatsächlich noch nicht gekommen. Unwillkürlich schaute er zu Lady Patricia hinüber. Sie brachte ein aufmunterndes Lächeln zustande. »Keine Sorge, es ist nicht ansteckend. Ich weiß das einfach.« Dein Wort in Gottes Ohr, dachte Zamorra. Seltsamerweise war er der gleichen Meinung. »Ich kann auf magische Art versuchen, das Fieber zu lindern«, schlug Gryf vor. Sein Gesichtsausdruck verriet, was er sich von einem solchen Versuch versprach. »Aber ich mache mir da wenig Illusionen. Wenn das ginge, hätte sicher schon einer von deinen Heilzaubern Wirkung gezeigt.« »Ein weiterer Versuch kann die Lage nicht verschlimmern. Probier es. Wie es aussieht, haben wir sowieso keine Alternativen.« Seine eigenen Worte drohten Zamorra den Magen umzudrehen.
Bisher hatte er gegen jeden Dämon ein Mittel gefunden, hatte Weltraumschlachten überlebt, die Spiegelwelt besucht, einen Abstecher in die Hölle unbeschadet überstanden und sogar KAISER LUZIFER getrotzt. Ausgerechnet wenn es darum ging, seine Geliebte von einer Krankheit zu heilen, sollte er machtlos sein? Das durfte nicht sein. Es musste einen Weg geben, und es gab einen. Zamorra musste ihn nur finden. Er hatte das Gefühl, dass die Lösung praktisch vor ihm lag. Er sah sie nur nicht, weil er blind war. Liebe macht blind. Bei jemandem, der ihm nicht so nahe stand, hätte er vielleicht schon eine Lösung gefunden. Allerdings war ja auch Gryf ratlos. Ein Klopfen brachte Zamorra in die Wirklichkeit zurück. Er ging zur Tür und öffnete sie. »Fooly.« »Hallo, Chef.« Der 1,20 Meter große Jungdrache spähte am Hausherrn vorbei. In seinen Telleraugen lag ein trauriger Zug. »Wie geht es Mademoiselle Nicole?« »Ihr Zustand hat sich nicht verschlechtert.« »Also auch um keinen Deut verbessert. Ich kann zwischen deinen Worten lesen, Chef. Außerdem spricht dein Gesicht Bände.« »Ja, das kannst du.« »Darf ich sie sehen?« Zamorra trat zur Seite und machte eine einladende Handbewegung. Fooly ging an ihm vorbei. Seine Flügel, die eigentlich viel zu klein waren, um sein Übergewicht im Flug zu tragen, waren an den Körper angelegt. Im einfallenden Sonnenlicht glänzte die grünliche Drachenhaut mit den brauen Flecken. Die dreieckigen Hornplatten auf seinem Rückenkamm schienen zu knistern. Seine Schwanzspitze zitterte. »Hallo Gryf«, sagte er. »Lange nicht gesehen.« »Ich wünschte, es wäre kein so trauriger Anlass.« »Ich auch.« Fooly drehte den Kopf und blickte zwischen den beiden Männern hin und her. »Ich hätte hier doch gemeinsam mit Lady Patricia Wache halten können. Außerdem wisst ihr genau,
dass ich bestimmte Verletzungen heilen kann. Wieso habt ihr mich nicht gerufen?« »Du hast Recht. Entschuldige bitte.« Zamorra nickte. »Das kannst du. Aber Nicole ist nicht verletzt. Sie ist von einem unbekannten Fieber befallen.« »Fieber?«, murmelte Fooly. »Gegen Fieber kann ich auch nichts tun. Na, ich werde trotzdem nach ihr sehen« Als er vor dem Bett stehen blieb, trat ein eigenartiger Glanz in seine Augen. Zaghaft streckte er seine vierfingrigen Hände nach Nicole aus. Er legte den Kopf schief, als er zaghaft ihre Stirn berührte. Wie vom Blitz getroffen, zog er die Finger sofort wieder zurück. »Hui!«, stieß er klagend aus. »Was ist los, Fooly?«, fragte Lady Patricia. »Wir glauben, dass die Krankheit nicht ansteckend ist. Dir kann nichts passieren.« »Doch, das kann es.« Foolys Stimme zitterte vor Aufregung. »Warum habt ihr mich bloß nicht gleich gerufen? Dann wäre nicht wertvolle Zeit verloren gegangen.« »Was willst du damit sagen?« Zamorra trat neben den Drachen. »Weißt du etwa, womit wir es zu tun haben?« Fooly nickte in menschlicher Manier. Seine Antwort bestand aus einem einzigen geflüsterten Wort. »Drachenfieber.«
Allein die eine Halle war zu groß, um sie zu Fuß erkunden zu können. Dafür gab es speziell vektorierte Antischwerkraftfelder. Zunächst trotz ihres anfänglichen Erfolgs noch vorsichtig, bewegten sich Clyr und Nadlun schon bald wie selbstverständlich zwischen den geparkten Raumschiffen umher. Ihre Blaster hatten sie unter den Anzügen verborgen, denn außer ihnen trug niemand eine Waffe. Immer wieder begegneten ihnen Cyborgs, ohne dass es zu einem Zwischenfall kam. Keiner von denen kümmerte sich um den anderen. Sie waren winzige Rädchen in einer gewaltigen
Maschinerie, die nur von einer Aufgabe zur nächsten dachten. Alles, was damit nicht unmittelbar zu tun hatte, interessierte sie nicht. Manche waren auf dem Weg zu einem neuen Einsatzort, andere bedienten Maschinen oder Computereinrichtungen. »Unsere Brüder machen uns das Leben ziemlich leicht«, kommentierte Clyr. Das Prinzip des Humors gefiel ihm. »Was das wert ist, wissen wir, sobald wir auf einen Ewigen stoßen. Wenn der uns ebenfalls ignoriert, ist mir wohler«, konterte Nadlun. Einmal beobachteten sie, wie eine Gruppe Cyborgs an Bord eines Jägers verladen wurde. Unsichtbare Felder hievten das Schiff anschließend in die Höhe. Durch einen geöffneten Deckenausschnitt verschwand es am nächtlichen Himmel. Betroffen schaute Clyr hinterher. Ob die Passagiere ebenfalls zu dem Schürfplaneten gekarrt wurden, den er kennen gelernt hatte? Die Wahrscheinlichkeit war gering. Die Ewigen beuteten zahllose Welten aus. Bestimmt war mehr als einer davon auf die Präsenz von Cyborgs angewiesen, damit die Arbeiten planmäßig voranschritten. Er durfte sich mit solchen Problemen nicht belasten, sondern musste seine eigenen Pläne vorantreiben. Zu diesem Zweck dehnten Nadlun und er ihre Exkursionen in den folgenden Tagen auf angrenzende Hallen aus. Die Transportbänder bildeten ein verzweigtes Netz, das sie überall dorthin brachte, wohin sie wollten. Dabei stellten sie fest, dass nur ein Teil der Einrichtungen sich an der Oberfläche der Stahlwelt befand, der weitaus größere war unterirdisch angelegt. Bereiche, die der Aufzucht von neuen Cyborgs dienten, wechselten sich mit gewaltigen Hallen ab, in denen Raumschiffe produziert wurden. Automatische Fertigungsanlagen, die sich über Kilometer erstreckten, schweißten die Schiffe zusammen. In einer dieser Hallen entdeckte Clyr ein Computerterminal. Er hatte zwar zuvor schon mehrere davon gesehen, doch stets waren sie besetzt gewesen. Dies hier war das Erste, das nicht in Benutzung war. Niemand hielt sich in der Nähe auf. Clyr blieb stehen. Früher oder später musste er sich damit vertraut
machen, wenn er in die Fertigungsroutinen der Cyborgs eingreifen wollte. »Was hast du vor?«, fragte Nadlun. »Mal sehen, ob ich Zugriff auf die Rechner bekomme.« Clyr sah sich um. Weit und breit waren keine schwarz Gekleideten zu sehen. »Hoffentlich löse ich keine automatische Meldung aus, wenn ich mich daran zu schaffen mache.« »Mehrmals habe ich gesehen, dass Cyborgs Eingaben über Terminals machten, die zufällig in ihrer Nähe waren. Also sind die Eingabegeräte generell freigeschaltet.« Darauf spekulierte Clyr, auch wenn es keine Sicherheit gab. Das Gerät vor ihm signalisierte Bereitschaft. Nach kurzem Zögern hob er die Hände und ließ die Fingerspitzen über die Eingabeelemente gleiten. Es gab keine Abfrage wegen einer Zugangsberechtigung. Das Gerät akzeptierte seinen neuen Benutzer anstandslos. Auch das war verständlich. Cyborgs wurden in Millionenauflagen produziert. Jeden von ihnen mit einem speziellen Code oder einer persönlichen ID auszurüsten, hätte einen enormen zusätzlichen Aufwand erfordert. Wozu hätten die Ewigen den bei ihren widerspruchslosen und bis in den Tod loyalen Dienern betreiben sollen? »Versuch einen Plan der Einrichtungen abzurufen.« Clyr brauchte nicht über die dafür nötigen Eingaben nachzudenken. Die Befehlsketten sprudelten aus seinem Verstand, sobald er sie brauchte. Auf einem Monitor entstand ein Lageplan. Kolonnen von Zeichen flammten darunter auf, eine zu dem Plan gehörende Legende, die er mit einem Blick erfasste. »Kein Problem«, stellte er zufrieden fest. Zur Bestätigung nahm er eine Reihe weiterer Eingaben vor. Der Rechner bearbeitete jeden seiner Befehle. »Dort kommt jemand«, warnte Nadlun. »Geh zurück in den Bereitschaftsmodus.« Clyr drehte den Kopf. Zwei Cyborgs näherten sich. Sie kamen geradewegs auf das Eingabeterminal zu. »Warum hast du mich nicht früher gewarnt?« »Weil ich sie eben erst gesehen habe. Sie sind aus einem
Seitengang aufgetaucht.« Die Cyborgs waren nur noch zehn Meter entfernt. Wie würden sie sich verhalten? Rasch beendete Clyr seinen Zugriff. »Machen wir, dass wir von hier wegkommen.« »Sieh dir das an. Sie gehen an ihre Arbeit und scheren sich nicht um uns.« Das bestätigte die bisherigen Erfahrungen der Abtrünnigen. Es war beinahe unheimlich, dass sich niemand um sie kümmerte. Sie begegneten zahlreichen Cyborgs. Kein einziger richtete ein Wort an sie, nicht einmal Blickkontakt wurde aufgenommen. Obwohl die Cyborgs sprechen konnten, unterhielten sie sich nicht. Ihr mangelndes Interesse an jeglicher Kommunikation erschütterte Clyr. Immer häufiger fragte er sich, wie er sich verhalten sollte, wenn sie überraschend einem Ewigen begegneten und ihm nicht mehr ausweichen konnten. Doch auch nach einer Woche war dieser Fall noch nicht eingetreten. Clyrs Zuversicht, sicher vor Entdeckung zu sein, wuchs mit jedem verstreichenden Tag. Das Verrinnen der Zeiteinheiten las er an seinem körpereigenen Chronograph ab. Einen Tag-Nacht-Rhythmus gab es in den gewaltigen Anlagen nämlich nicht. Zwei weitere Wochen vergingen, in denen sich Clyr und Nadlun mit den kürzesten Verbindungen in dem unüberschaubaren Areal vertraut machten. Bald waren sie sicher, sich besser auszukennen als jeder hier tätige Cyborg, vielleicht sogar besser als die Ewigen, die sich in den Produktionsanlagen nicht sehen ließen, sondern voll und ganz auf ihre Diener vertrauten. Sie kundschafteten die Wege zwischen verschiedenen Produktionsstätten des Cy-Domes und Schiffswerften aus, bis Clyr sicher war, die beste Verbindung ermittelt zu haben. Es war nicht die kürzeste. Darauf kam es auch nicht an. Wichtiger war, dass sie nicht mitten durch die Hallen führte, sondern an deren geschützter Peripherie entlang oder gar durch wenig benutzte Seitengänge. Mehrmals benutzten die Abtrünnigen diesen Weg in beide Richtungen, bis sie ihn wie im Schlaf kannten und nicht Gefahr
liefen, eine falsche Abzweigung zu benutzen. »Wenn einer von uns auf der Strecke bleibt, schafft der andere die Flucht auch allein.« »So etwas solltest du nicht sagen«, hielt ihm Nadlun entgegen. »Ich weiß.« Clyr hatte nicht vor, auf der Strecke zu bleiben. Als er der Meinung war, lange genug auf den richtigen Moment gewartet zu haben, hielt er sich schon einen Monat auf der Stahlwelt auf. Die Zeit durfte nicht verschwendet sein, auch nicht die ganzen Vorbereitungen und Planungen, die er getroffen hatte. Auf keinen Fall würde er auf der Stahlwelt sterben! Ihm würde die Flucht gelingen! Er schwor sich darauf ein, wohl wissend, dass bloßes Streben noch lange keinen Erfolg versprach. Dennoch rang er sich einen Schwur ab, auf den er keinen Einfluss hatte und der bei genauer Überlegung sogar ziemlich töricht war. Ich werde nicht durch die Hand eines Ewigen sterben.
Die unzähligen Geräusche, die auf ihn eindrangen, erinnerten ihn an seine eigene Geburt. Die Kunstsonne, die unter der Decke schwebte, verbreitete einen gleichmäßigen Lichtschein. Nachdem Clyr zum ersten Mal die Augen aufgeschlagen hatte, war sie zunächst viel heller gewesen und hatte sich dann auf ein erträgliches Niveau reguliert. So war es ihm vorgekommen. Nun begriff er, dass seine Sinne ihm damals einen Streich gespielt hatten. Zum ersten Mal in seinem Leben geöffnet, hatten seine Augen sich an das Licht erst gewöhnen müssen. »Wir sind allein«, flüsterte Nadlun. Was vibrierte in seiner Stimme? Furcht oder Ehrfurcht? Clyr selbst fühlte sich ergriffen. Dieser Teil des Cy-Domes entsprach dem Mutterleib, den er nie kennen gelernt hatte. Hieraus war er entsprungen. So wie es die unzähligen Tausende tun würden, wenn sie am Ende ihrer Erschaffung standen. »Wir sind nicht allein«, gab er zurück.
»Du weißt, was ich meine.« Der ganze Dome war weiß, einschließlich der Lebenskammern. Lediglich die oberen Teile der Kuppeln waren durchsichtig. Es ließ sich nicht abschätzen, wie viele von ihnen zu dem gewaltigen Konglomerat zusammengefasst waren. Wie Perlen an einer Schnur reihten sie sich, gehalten von unsichtbaren Feldern und geformt zu gewaltigen Trauben. Metallleitern führten zu schmalen Stegen, die sich in verschiedenen Höhen zwischen den Kuppeln wanden. »Wenn es Leitern gibt, gibt es auch jemanden, der sie benutzt.« »Kontrolleure.« Stellte sich die Frage, ob es sich dabei ebenfalls um Cyborgs oder um Ewige handelte. Instinktiv sah Clyr sich auf der Suche nach ihnen um. »Wir müssen fertig sein, bevor sie auftauchen«, drängte er. Nadlun schwang sich auf eine der Leitern und kletterte in die Höhe. »Also auf gut Glück, wenn ich dich richtig verstanden habe.« Clyr folgte ihm, ohne zu antworten. Es gab kein Schema, dem sie folgen konnten. An den Kuppeln ließ sich nicht ablesen, welches Entwicklungsstadium ihre Insassen erreicht hatten. Man musste einen Blick in ihr Inneres werfen, um sich mit eigenen Augen zu überzeugen. Nadlun sprang auf den ersten Steg und lief ihn entlang. Clyr kletterte weiter, zwei Ebenen höher. Ihre Chancen, schnell fündig zu werden, waren größer, wenn sie sich aufteilten. Wenn sich Kuppeln aus dem Verbund lösten und nach unten schwebten, war das ein Anzeichen dafür, dass die Erweckung der Insassen abgeschlossen war. Dann nützten sie ihm nichts mehr, weil es dann zu spät für einen Zugriff war. Er kam dann nicht mehr an sie heran. Clyr enterte einen Steg. In den vorderen Kuppeln lagen organische Zellverbünde, die allenfalls die Hälfte des Wachstumsprozesses hinter sich hatten. Arme und Beine hatten sich bereits gebildet, die Köpfe waren nicht mehr als amorphe Klumpen ohne Gesichter. Damit konnte er nichts anfangen. Er wandte den Blick ab, als etwas seine Aufmerksamkeit erregte. Zwischen den Greifapparaturen im Innern der Kuppel schwebte ein blaues Artefakt, viel kleiner als ein Kieselstein. Sein Funkeln
übte eine magische Anziehungskraft auf seinen Betrachter aus. Unwillkürlich war Clyr versucht, danach zu greifen und es an sich zu bringen. Er merkte erst, dass er begehrlich die Hand ausstreckte, als er gegen die Kuppel stieß. Sie war warm und ließ ihn aufschrecken. Die wie aus dem Nichts kommende Vorstellung, sich weitere, seinem Programmgehirn gleichende Dhyarras anzueignen, war faszinierend. Deshalb war er jedoch nicht hergekommen. Clyr riss sich von dem Anblick los und lief weiter. Auf dieser Ebene blieb seine Suche nach geeigneten Objekten erfolglos. Bei Nadlun sah es nicht besser aus, sonst hätte sein Verbündeter durch Rufen auf sich aufmerksam gemacht. Clyr stieg eine Ebene höher. Was er sah, bereitete ihm einen kleinen Schock, obwohl ihm bewusst war, dass auch er selbst einst so ausgesehen hatte. In den Kuppeln lagen faustgroße Gewebebrocken, die nicht erkennen ließen, was sich aus ihnen entwickeln sollte. Sein Abscheu gegen die Ewigen wuchs. Vom Ende des Stegs aus sah er tiefer in diesen Brutbereich des CyDomes hinein. Die nächsten Konglomerate aus Lebenskammern waren versetzt angeordnet. Daher konnte er nicht sehen, wie weit sie sich fortsetzten. Ein ernüchternder Gedanke kam ihm. Vielleicht trugen nur einige wenige davon fast fertige Cyborgs. Dann konnten Nadlun und er einen weiteren Monat oder länger auf der Stahlwelt verweilen, bis sie endlich fündig wurden. Oder es gelang ihnen niemals. Er drang tiefer zwischen die Kuppeln vor. Die unterschiedlichen Entwicklungsstadien der Cyborgs wechselten willkürlich. Es gab kein erkennbares System in ihrer Anordnung, an dem Clyr sich orientieren konnte. Ein Ruf alarmierte ihn. Er spähte in die Tiefe und versuchte, Nadlun zu entdecken. Sein Verbündeter winkte aufgeregt mit den Armen. Hatte er Erfolg gehabt? Weiteres Rufen verbot sich von selbst. Womöglich waren in der Nähe Kontrolleure unterwegs, die sie bisher noch nicht bemerkt hatten.
Hektisch stieg Clyr nach unten. »Da drüben.« Nadlun streckte eine Hand aus. Einige Verbünde aus Kuppeln bewegten sich. Für einen Moment erwartete Clyr, dass sie aus dem Konglomerat ausscherten, weil sie fertige Cyborgs geschaffen hatten. Stattdessen wechselten sie die Position und gruppierten sich um. »Das hilft uns auch nicht weiter.« »Siehst du diese zwölf Kuppeln, die scheinbar zusammenhängen? Sie schwebten eben in unmittelbarer Nähe an mir vorbei. Ich glaube, sie enthalten das, was wir suchen.« »Bist du sicher?« Clyr wartete keine Antwort ab. Die Aufregung fiel über ihn her wie ein wildes Tier. Er prägte sich die Position des Zwölferverbundes ein und sprang die nächste Leiter hinab. Auf der richtigen Ebene schwang er sich auf den Steg. Mit weiten Schritten lief er zu seinem Ziel. Nackte Cyborgs lagen im Inneren der Kuppeln. Ihre Körper waren ausgereift. Clyr zuckte zusammen, als zwei von ihnen die Augen aufschlugen. Absolute Leere war darin zu erkennen. Die Cyborgs stierten auf einen imaginären Punkt in der Luft. In ihren wächsernen Gesichtern regte sich kein Muskel. Sie waren nicht mehr als Hüllen, die darauf warteten, dass ihnen Verstand eingepflanzt wurde. Der willfährige Verstand eines Cyborg-Dieners oder der manipulierte Geist denkender Wesen. Mit einem kurzen Blick vergewisserte Clyr sich, dass die winzigen Dhyarras noch in ihren Einbettungen lagen. Das konnte sich innerhalb der nächsten Minuten ändern, deshalb musste er rasch handeln. Er glaubte nicht, dass er noch Einfluss auf sie nehmen konnte, nachdem sie eingesetzt waren. Ihre Programmierung fand vorher statt … Nämlich jetzt! In den Schädeln der Cyborgs waren Kanäle zu sehen, in die ihre Programmgehirne eingeführt werden sollten. »Komm schon!«, rief er Nadlun zu. »Ich brauche deine Unterstützung.«
Seine Fingerspitzen flogen über die Bedienungselemente der Schalttafel. Ein rotes Lämpchen erwachte zum Leben und flackerte unruhig.
»Bekommst du Zugriff?« Clyr brummte eine unverständliche Antwort. Der Rechner reagierte uneingeschränkt. Auch hier gab es keinen Berechtigungscode. Es wurde davon ausgegangen, dass jeder, der sich an der Kontrolleinrichtung zu schaffen machte, auch dazu autorisiert war. Daher existierte kein Raster, durch das er fallen konnte. Auf der ganzen Stahlwelt gibt es niemanden, der nicht dazu autorisiert ist, musste sich Clyr immer wieder klar machen. Jedenfalls war das bisher so gewesen. Er entdeckte einen Energietransfer von der Anlage zu den zwölf Kapseln. Auf einem integrierten Kontrollmonitor liefen Zahlenkolonnen rascher ab, als ein Auge folgen konnte. Die Dhyarras wurden mit gewaltigen Datenmengen gefüllt. »Simultantransfer!«, platzte es aus ihm heraus. Alle zwölf Kristalle wurden gleichzeitig beschickt. Kam es bei einem davon zu einer Unregelmäßigkeit, wurden auch die elf anderen betroffen. Wieso war das bei Clyrs Geburt nicht auch geschehen? Gleichgültig! Das ging alles viel zu schnell. Clyr konnte seinen Eingriff unmöglich in den wenigen Sekunden vornehmen. Dann eben eine Unterbrechung des Datenstroms. Hoffentlich beschädigte er die Dhyarras damit nicht. Noch schlimmer wäre, sie unbrauchbar zu machen. Seine Finger hämmerten in die Eingabefelder. Eine Warndiode leuchtete auf. Mit einem Blick erfasste er die Meldung auf dem Monitor. Ein Zögern konnte er sich jetzt nicht mehr leisten. Er trennte den Hauptrechner von der Zuleitung. Die Datenübertragung stockte. Schneller … schneller … Vorwurfsvoll tickte sein interner
Chronograph die verstreichenden Sekunden herunter, während Clyr die gespeicherte Phasenverschiebung einspeiste. Der Vorgang dauerte keine halbe Minute, doch die kam ihm wie eine Ewigkeit vor, da der Dhyarra-Splitter in seinem Kopf im Nanosekundentakt arbeitete. Als Nächstes schaltete er die Energiezufuhr wieder ein. Die aufleuchtenden Datenkolonnen zeigten, dass der Transfer fortgesetzt wurde. Wenn alles nach Plan verlief, speiste er die Unregelmäßigkeit, die Clyr zum Leben erweckt hatte, als Huckepackwelle mit ein. Trotzdem blieb die Warndiode weiterhin aktiv. Clyr hielt das für ein schlechtes Zeichen. »Wir haben vielleicht einen stummen Alarm ausgelöst«, sagte er. »Achte darauf, ob Cyborgs in den Dome kommen.« »Oder Ewige?« Nadluns Stimme klang panisch. Mit einer hektischen Bewegung zog er seinen E-Blaster unter dem Anzug hervor. Clyrs Wangenknochen traten hervor, als er seine Kiefer aufeinander mahlte. Wenn Ewige kamen, waren sie verloren. Gegen ein paar Cyborgs konnten sie sich immerhin den Weg freischießen, wenn auch nicht für lange. Aus aufgerissenen Augen verfolgte er, was in der Kuppel gleich vor ihm geschah. Ein graziler Metallarm ergriff den Dhyarra und führte ihn an den Kopf des Cyborgs. Noch immer zeigte sich in dessen geöffneten Augen keine Regung. Das Instrument führte den blauen Stein in den engen Kanal ein und zog sich wieder zurück. Ein anderer Arm schwenkte herüber und verschweißte die Öffnung mit einem Laserstrahl. »Was geht da vor?«, fragte Nadlun. »Hat es geklappt?« »Ich weiß es nicht. Der hier … reagiert nicht.« »Der hier hat so ein seltsames Leuchten in den Augen.« Clyr trat neben Nadlun. Er sah es ebenfalls. Das Leuchten in den Augen des eben erweckten Cyborgs war nicht normal. Es zeugte von Neugier, von Fragen. Von Leben. Der Vorgang war simultan abgelaufen. Demzufolge waren alle zwölf Cyborgs davon betroffen. Er musste sie nacheinander kontrollieren.
Eine Bewegung riss Clyr aus seinen Gedanken. Die Kuppeln setzten sich in Bewegung, weil ihre Erweckung vollendet war. Er packte nach dem transparenten Deckel und wuchtete ihn mit der Cyborgs eigenen, übermenschlichen Kraft in die Höhe. »Mach es wie ich!«, forderte er seinen Verbündeten auf. Mit einem Satz sprang er in die Kuppel hinein. Nährflüssigkeit schäumte auf. Nadlun tat, wie ihm geheißen. Keinen Moment zu früh. Schon lösten sich die zwölf Kuppeln aus dem Verbund und wurden von einem Antischwerkraftfeld davongetragen. Sie steuerten auf eine in den Raum leckende Rampe zu. Die Nährflüssigkeit floss ab, die versteckten Düsen traten in Aktion und trockneten den nackten Cyborg. Clyr hatte nichts von den warmen Luftstrahlen. Seine Hose troff vor Nässe. Am Rand der Rampe hielten die Kuppeln an. Nun öffneten sich auch die verbliebenen zehn Deckel. »Sauerei!«, schimpfte Nadlun, als er hinaussprang. Lachen aus Flüssigkeit bildeten sich unter seinen Füßen. »Mir geht es nicht besser«, beruhigte Clyr ihn. »Entweder haben wir bald neue Anzüge, oder wir sind tot.« Nadlun verzog das Gesicht zu einer säuerlichen Miene. Clyr ignorierte ihn und sah nach den Cyborgs. Sie hatten Position vor den zehn aus dem Boden gekommenen Containern bezogen. Derjenige, in dessen Kuppel er gesprungen war, blickte ihn unauffällig an. Er versucht, sich nichts anmerken zu lassen, dachte Clyr. Aber ich habe dich durchschaut, mein Lieber. »Alles in Ordnung?«, fragte er. »In Ordnung?« Die Worte des Cyborgs kamen zögernd. »Ich verstehe nicht.« »Du verstehst sehr gut. Wie sieht es mit deinen Gefühlen aus? Was empfindest du?« Er sah in ein Gesicht, das schlagartig aschfahl wurde. Beinahe hätte der Cyborg das schwarze Paket fallen gelassen, das er gerade aus dem Container nahm. Die restlichen Mitglieder seiner Gruppe sahen sich mehr oder weniger hektisch um.
»Wie heißt du?« »Wie ich heiße? Du … du weißt doch, dass wir nicht benannt sind. Ich kann dir meine Seriennummer nennen.« »Nenn mir deinen Namen!«, herrschte Clyr ihn an. Vielleicht irrte er sich. »Tostard.« Es klang wie das eigene Todesurteil. Clyr lächelte. Also doch! Er hatte sich nicht geirrt. Auch die Neuen hatten sich Namen gegeben. Seltsam. Was trieb sie gleich nach ihrem Erwachen dazu? Es war egal. Hauptsache, es geschah. Mein Eingriff hat funktioniert. Sie sind alle gerettet. Sie werden … »Clyr! Sie kommen!« Das war Nadluns Stimme. Clyr fuhr herum. Drei Cyborgs näherten sich. Also doch ein Alarm, der sie herbeigerufen hatte. »Was geschieht hier? Wir erwarten eine Erklärung, damit wir den Herren Bericht erstatten können.« Kommentarlos riss Nadlun seinen Blaster in die Höhe und schoss. Der blassrote Energiestrahl bohrte sich dem Fragesteller in die Brust und hinterließ ein hässliches Loch. Auch Clyr feuerte, zwei Mal, drei Mal. Die Kontrolleure waren viel zu überrascht, um eine Reaktion zu zeigen. Ehe sie begriffen, was geschah, lagen sie regungslos am Boden. »Wir müssen weg. In ein paar Minuten wimmelt es hier von denen.« Clyr wandte sich an Tostard. »Willst du leben?« »Leben?« »Ja, das kannst du. Ihr alle werdet leben, wenn ihr uns folgt.« Eine ziemlich vollmundige Versprechung. »Aber uns bleibt keine Zeit mehr. Zieht eure Anzüge an.« Keiner aus Tostards Gruppe zögerte. Sie streiften die Anzüge über und wendeten sich dem Gang hinter den Containern zu. »Nicht dort entlang«, hielt Clyr sie zurück. Der offizielle Korridor verwandelte sich in eine tödliche Falle, sobald dieser Zwischenfall bekannt wurde. Diesmal gab es keine Gelegenheit, die Leichen unauffällig verschwinden zu lassen. Außerdem blieb dafür keine Zeit. Jeden Moment konnten weitere Kontrolleure auftauchen und
einen Großalarm auslösen. »Folgt mir.« Clyr lief los. »Und benehmt euch ganz unauffällig.« »Wie benimmt man sich denn unauffällig?«, fragte Tostard zurück. Am liebsten hätte Clyr laut aufgelacht. Doch dafür und für Erklärungen blieb später noch genug Zeit. Sofern sie die Stahlwelt überlebten.
Das Antischwerkraftband trug die vierzehnköpfige Gruppe vom Cy-Dome fort. Nun zahlte sich aus, dass Clyr und Nadlun ihren Fluchtweg vorher ausgekundschaftet hatten. In zwanzig Metern Höhe über dem Boden der angrenzenden Halle wurden sie dahingetragen. Die vereinzelten Cyborgs gingen unbeirrt ihren Beschäftigungen nach. Entweder gab es keinen Alarm, der sie erreicht hatte, oder sie waren dafür nicht zuständig. Nach einem halben Kilometer näherten sich der Gruppe mehrere Cyborgs auf dem gegenlaufenden Band. »Sie suchen uns«, raunte Nadlun. »Wir müssen fliehen.« Tostard machte Anstalten, von dem Band auf ein parallel verlaufendes Sims zu springen. Auch die anderen Neuen wurden unruhig. »Ruhig bleiben!«, hielt Clyr sie zurück. »Sie haben uns längst gesehen. Wenn sie unseretwegen kämen, würden sie sich anders verhalten.« Das Band führte zum Cy-Dome. Also waren die Toten vermutlich inzwischen gefunden worden. Clyr konnte sich die entstandene Verwirrung vorstellen, weil es bisher keine Erklärung gab, was dort geschehen war. Noch versuchten die Cyborgs das Geschehene zu rekonstruieren. Vielleicht war auch schon ein Ewiger am Tatort eingetroffen. »Wenn sie eine falsche Bewegung machen, schieße ich sie ab«, flüsterte Nadlun. »Es sind zu viele, um sie unauffällig zu erledigen.« Über zwanzig Cyborgs kamen ihnen entgegen. Kaum zehn Meter
trennten die beiden Gruppen noch voneinander. Clyr atmete tief ein, um sich nicht zu einer unbedachten Reaktion verleiten zu lassen. Er konnte nur hoffen, dass keiner seiner Begleiter eine Dummheit machte. Dann waren die Cyborgs auf dem anderen Band heran. »Habt ihr jemanden aus dem Cy-Dome kommen sehen?«, rief einer von ihnen. »Niemanden«, antwortete Nadlun. »Wir haben im angrenzenden Bezirk Wartungsarbeiten durchgeführt.« »Wir brauchen Unterstützung. Schließt euch uns an!« Clyrs Finger zuckten. Wenn sie das taten, war ihre Flucht von vornherein gescheitert. Unauffällig tastete seine Hand nach dem EBlaster. Es war Nadlun, der die Ruhe bewahrte. »Wir haben unsere Befehle. Die Herren haben uns in Hangar 17-B-4 eingeteilt.« Das angrenzende Band trug die 20 Cyborgs weiter. Die Auskunft schien ihnen zu reichen. Gegen direkte Befehle der Herren durfte nicht verstoßen werden, auch nicht in einem Fall wie diesem. Aus deren Sicht hatte der unbedingte Gehorsam ihrer Diener zwar einiges für sich, die daraus resultierende Unflexibilität konterkarierte den eigentlichen Sinn aber auch. Clyr konnte es nur recht sein. Er nickte seinem Verbündeten anerkennend zu. Sie gelangten ans Ende der Halle und wurden von dem Feld nach unten getragen. Durch eine Passage schwebten sie, immer noch zehn Meter über dem Boden, in den nächsten Bezirk. Zwischen Maschinenzeilen bewegten sich zahlreiche Cyborgs. Dort ging es zu wie in einem Bienenstock. »Die haben keine Ahnung, was passiert ist.« »Oder ebenfalls ihre Befehle, die sie blind und taub für alles andere machen.« Das Band vollführte eine Kurve und trug die Gruppe quer durch die Halle. Für einen Außenstehenden musste es aussehen, als spazierten die schwarz Gekleideten mitten durch die Luft. Eine Bewegung ein paar hundert Meter voraus erregte Clyrs
Aufmerksamkeit. Was wie ein Insekt erschien, wurde rasch größer. Silbern schimmerte es im Schein der künstlichen Beleuchtung, schlug einen Haken und näherte sich der Gruppe. Silbern! Clyr brauchte nur einen Sekundenbruchteil, um eine Assoziation zu schaffen. Ein silberner Overall. Ein Ewiger. Ob der sich ebenfalls so leicht bluffen ließ? Zweifellos nicht. Konnte er fehlgeschaltete Cyborgs bei Blickkontakt erkennen? Vor Clyrs Verladung in den Jäger war dem Beta das nicht gelungen. Das konnte diesmal anders ausgehen. Die Chance, ihn mit einem überraschenden Blasterschuss zu eliminieren, war verschwindend gering. Vermutlich existierte sie überhaupt nicht. Selbst wenn es gelänge, wäre im nächsten Moment in der Halle die Hölle los. »Ganz ruhig bleiben!«, forderte Clyr unbewusst. All seine Sinne waren auf den sich schnell nähernden Ewigen gerichtet. Keine zweihundert Meter trennten ihn mehr von der Gruppe. Schon erkannte Clyr den blauen Umhang, da drehte der Ewige ab. Es war nicht zu erkennen, auf welche Art er sich bewegte. Jedenfalls benutzte er kein Transportband. Er verschwand in den Weiten der Halle. Ungestört durchquerte Clyrs Gruppe auch diese Halle und drang in die nächste ein. Tostard gab einen Laut des Erstaunens von sich, als er die Raumschiffe sah. Ausschließlich Schiffe der Jäger-Klasse waren hier abgestellt, Neukonstruktionen, die ihren Jungfernflug noch vor sich hatten. Clyr dirigierte seine neuen Mitstreiter zu einem der Jäger, den er willkürlich auswählte. »Unser Fahrschein in die Freiheit«, kündigte er an. »Da kommen wir nie rein. Außerdem ist die Hallendecke geschlossen. Willst du durch sie durchbrechen?« »Wenn es sein muss.« Doch Clyr war sicher, dass es dazu nicht kommen würde. Er vertraute auf die Automatiken des Planeten. Als er in den Bereich einer Schleuse trat, öffnete sie sich bereitwillig vor ihm.
»Das gibt es doch nicht.« Clyr lächelte. Damit hatte er gerechnet. Da kein Cyborg auf die Idee kam, widerrechtlich an Bord eines Raumschiffs zu gehen, gab es natürlich auch keine Zutrittsbeschränkungen. Er forderte seine Leute zum Einsteigen auf. »Was macht ihr da?« Die Frage ließ ihn herumfahren. Vier Cyborgs näherten sich. Nichts in ihren Gesichtern verriet, was sie dachten. Clyr konnte es sich auch so vorstellen. Er entschied sich für den Bluff, der schon einmal gewirkt hatte. »Wir haben Anweisung der Herren«, behauptete er tonlos. »Wir sollen dieses Schiff bemannen und zu einem Testflug starten.« Er begriff sofort, dass der Bluff diesmal nicht funktionierte. Die Cyborgs kamen näher, um die Angelegenheit zu untersuchen. Clyr zog seinen Strahler und erledigte zwei Gegner. Geistesgegenwärtig sprangen die beiden Überlebenden vor, um ihm die Waffe zu entwinden. Sie rechneten nicht mit Nadluns eiskalter Entschlossenheit, der ebenfalls seinen Blaster zog und sie ohne Zögern in den Rücken schoss. »Das ist … Irrsinn«, kommentierte Tostard. »Dafür wird man uns ebenfalls umbringen.« »Dazu muss man uns erst mal kriegen.« Clyr trieb seine Leute an. »Nun macht schon, dass ihr an Bord kommt.« Das brauchte er nicht zweimal zu sagen. Sekunden später waren alle an Bord. Clyr ließ eine Hand auf die Schaltfläche knallen, die in der Schleusenkammer neben dem Schott installiert war. Er wartete nicht ab, bis es sich schloss, sondern lief in die Lenkzentrale. »Los jetzt, Nadlun. Und denk daran, uns bleibt keine Zeit für Fehler. Einen zweiten Versuch gibt es nicht.« Seine Finger flogen über die Bedienungselemente. Leises Summen ertönte, als Maschinen hochgefahren wurden. Aggregate erwachten zum Leben. Eine Phalanx von Kontrollanzeigen wurde vor Clyr aktiv. In Rasterflächen unterteilte Plasmabildschirme flammten auf und zeigten verschiedene Ausschnitte der Halle.
»Anscheinend sind die aufgewacht.« Dutzende von Cyborgs gerieten in den Erfassungsbereich der Optiken. »Eingänge blockieren!« »Sind zu«, meldete Nadlun. »Sieh zu, dass du uns hier rausbringst, bevor sich Ewige sehen lassen.« Nichts anderes hatte Clyr vor. Mit einem kaum wahrnehmbaren Vibrieren löste sich der Jäger vom Boden. Erst mit Minimalwerten aufsteigend, dann gemächlich beschleunigend, strebte er der geschlossenen Hallendecke entgegen. Die unvermittelt zur Seite fuhr und einen quadratischen Ausschnitt freigab, durch den Tageslicht hereinfiel. Clyr steuerte das Loch in die Freiheit an und stieß hindurch. »Visorkom aktiv. Wir werden gerufen.« »Ignorieren!« Clyr trieb den Jäger in Richtung Atmosphäre, bevor jemand auf die Idee kam, ihn mit einem Traktorstrahl einzufangen. Die Ortungseinrichtungen erfassten mehrere Schiffe im Raum um die Stahlwelt. »Da kommen wir niemals durch. Die kriegen uns.« »Zumindest werden sie es versuchen.« Doch der Überraschungseffekt war auf Seiten der Fliehenden. Geistesgegenwärtig fuhr Clyr das Deflektorfeld hoch. Der Ortungsschutz ließ keine energetischen Emissionen nach außen dringen. Zum Glück waren die anderen Schiffe für eine normaloptische Entdeckung zu weit weg. Mit stetig steigenden Werten raste der Jäger ins All hinaus. Oder, wie Clyr ergriffen dachte, in die Freiheit.
4. Opfertod Drachenfieber. Foolys Erklärung brachte Licht in das Dunkel, das Nicoles unerklärliche Krankheit umgab. Ein Wust von Gedanken stürzte auf Zamorra ein. Was Monate zurücklag, war in seinem Kopf plötzlich wieder da. In dem Abenteuer mit dem bösen Drachen Gardir, der um ein Haar Foolys Leben gekostet hätte, war es zu einem Zwischenfall gekommen, der Nicole beinahe für immer von Zamorra getrennt hätte. Olang, Gardirs Nachkomme, hatte Nicole ins Drachenland entführt. Eine Rückkehr war ihr nur möglich gewesen, weil der Rat der weisen Geschuppten ein Weltentor errichtet hatte.* »Nicole hat das Fieber aus dem Drachenland eingeschleppt«, zog Gryf, der die Geschichte kannte, die gleiche Schlussfolgerung. Neue Hoffnung keimte in Zamorra. »Kann man etwas dagegen tun, Fooly?« »Vielleicht. Ich glaube schon.« »Und was?« »Frag mich nicht nach dem Was. Das kann ich dir nicht beantworten, Chef. Ich war viel zu jung, um in die Geheimnisse der Heilung von Drachenfieber eingeweiht zu werden. Das können nur erwachsene Drachen. Frag mich nur nach dem Wo.« »Verstehe. Nicole kann nur im Drachenland geholfen werden.« Gryf sprach zu sich selbst. »Das ist nicht gut, gar nicht gut.« »Es ist ein Anfang«, widersprach Zamorra. Nun, da er einen Ansatzpunkt hatte, fühlte er sich nicht mehr ganz so hilflos. »Nicole ist dorthin gelangt, also ist es möglich. Wir brauchen ein Weltentor.« »Und wo willst du das hernehmen?« Der Druide schnippte mit den Fingern. »Etwa so?« Er schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, *
siehe PZ-Heft 817: »Gefahr aus dem Drachenland«
mein Lieber, ein Weltentor nützt uns gar nichts. Selbst wenn wir eins hätten, kämen wir damit nicht ans Ziel. Was glaubst du denn, weshalb es bis heute keinem gelungen ist, aus eigenem Antrieb ins Drachenland zu gelangen? Nicht nur, weil diese Welt in einer anderen Dimension liegt, sondern weil die Drachen mittels ihrer Magie derartige Versuche immer unterbunden haben.« »Stimmt das, Fooly?« Der Drache verzog das Gesicht. »Ich wünschte, ich hätte eine Antwort darauf, Chef«, bedauerte er. »Aber wie so vieles andere, was meine Heimat betrifft, besitze ich auch darüber kein Wissen.« Zamorra gestand sich ein, dass seine Frage töricht gewesen war. Fooly war zwar im Drachenland geboren, aber bereits in jungen Jahren daraus verbannt worden. Weil sein Elter durch die Schuld der Unsichtbaren den Tod gefunden hatte, durfte Fooly erst als erwachsener Drache wieder heimkehren. Das konnte noch Jahrhunderte dauern. Es ließ sich nun einmal mit menschlichen Maßstäben nicht genau sagen, ab welchem Alter ein Drache erwachsen war. Selbst Fooly konnte darüber keine genauen Angaben machen. Wenn es so weit war, würde er es erkennen. Wie die Rückkehr ins Drachenland dann vonstatten gehen würde, stand ebenfalls in den Sternen. Diese Drachenlogik war für Zamorra schwer verständlich. Möglicherweise gab es sogar eine logische Erklärung, die diese wirren Fakten in einen Zusammenhang brachte. Doch er kannte sie nicht und würde sie vermutlich auch niemals kennen lernen. Eine weitere Tatsache war, dass Fooly bei den seinen als Kind galt. Mit seinen gut einhundert Lebensjahren war er immer noch ein Jungdrache. »Alles in Ordnung, Alter?« Zamorra winkte ab. »Ich habe nur nachgedacht. Ein Weltentor können wir uns also abschminken. Was ist mit den Regenbogenblumen? Bekanntlich haben die Unsichtbaren sie überall im Universum angebaut. Warum nicht auch im Drachenland?« »Eine gute Idee«, fand Lady Patricia. Sie tupfte Nicoles Stirn mit einem feuchten Tuch ab. »Regenbogenblumen transportieren einen
nicht nur durch den Raum, sondern auch durch die Zeit und gar in andere Dimensionen.« Zamorra nickte. Der zeitlos kurze Transport funktionierte immer dann, wenn sich im angepeilten Zielgebiet eine Kolonie der Regenbogenblumen befand, wie sie auch im Kellergewölbe unter dem Château wuchs. »Das funktioniert im Leben nicht.« »Da muss ich Gryf leider zustimmen«, bemerkte Fooly. »Sonst hätte das schon längst jemand ausprobiert. Die Drachen haben sich gut abgesichert. Tut mir wirklich leid, Chef. Wir können es ja ausprobieren, aber diese Enttäuschung kannst du dir sparen.« Zamorra gab keine Antwort. Seine Freunde hatten Recht. Er hatte diese Einwände gegen seinen eigenen Vorschlag auch gehabt, sie sich aber nicht eingestehen wollen. Das Drachenland war etwas ganz Besonderes. Nach dem wenigen, was man wusste, war Foolys Volk mächtig genug, sich sowohl gegen das ungewünschte Eindringen durch Weltentore wie auch mittels Regenbogenblumentransport zu schützen. »Dann muss uns eben etwas anderes einfallen. Wenn wir keinen Weg ins Drachenland finden, suchen wir eben hier weiter. Wir werden schon etwas finden.« »Da sehe ich schwarz«, unkte Fooly. Zamorra bedachte ihn mit einem düsteren Blick. Er wandte sich an den Druiden. »Ist dir in den vergangenen 8.000 Jahren nichts untergekommen, wie man ins Drachenland gelangen kann?« Gryfs Gesicht verfinsterte sich. Mit einem Mal wirkte er, als hätten sich graue Wolken auf sein Gemüt gelegt. »Bist du bereit, einen Pakt mit dem Teufel einzugehen? Auch auf bloße Gerüchte und fragmentarische Überlieferungen hin?« »Einen Pakt mit dem Teufel?« »Ich rede nicht von LUZIFER, sondern von ein paar anderen höchst unangenehmen Zeitgenossen.« »Nun lass dir doch nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen«, seufzte Zamorra. »Uns läuft die Zeit davon.« »Ich rede von den Ewigen. Ich habe einmal gehört, dass sie einst
im Krieg mit den Drachen standen. Es gibt nicht einen Beweis für dieses Gerücht, daher habe ich es nie ernst genommen. Eigentlich hatte ich es schon seit tausend Jahren vergessen. Es ist mir eben erst wieder eingefallen.« »Selbst wenn was dran ist, wie soll uns das weiterhelfen?« »Wir wissen, dass die Raumschiffantriebe der Ewigen interdimensionale Flüge möglich machen. Es lässt sich also nicht ausschließen, dass sie wirklich ins Drachenland gelangt sind. Nur sind sie heute wohl nicht da, also konnten sie sich dort nicht halten. Frag mich bloß nicht nach Details, Alter. Mehr weiß ich auch nicht.« Die Ewigen! Das war noch so ein Thema, bei dem Zamorra tausend Gedanken gleichzeitig durch den Kopf gingen. Mit denen hatte er bereits einige Zusammenstöße gehabt, meist alles andere als friedlich. Vor etwa zwanzig Jahren hatte man zum ersten Mal bemerkt, dass Agenten von ihnen versuchten, die Heimatwelt der Menschen zu unterwandern. Einmal hatte sich ihr damaliger ERHABENER Erik Skribent unerkannt auf der Erde herumgetrieben, zwei Mal hatten sie mit ihren gewaltigen Sternenschiffen sogar versucht, Terra zu erobern. Beide Male waren sie zurückgeschlagen worden. Schon viel früher in der Menschheitsgeschichte hatte der ERHABENE Zeus einen Stützpunkt auf der Erde besessen und den Menschen die griechische Schrift gebracht. Inzwischen war das Interesse der DYNASTIE DER EWIGEN an der Erde verständlich. Seit Zamorra und Nicole mit Al Cairo und Ted Ewigk ins Zeta Reticuli-System geflogen waren, wusste der Dämonenjäger nämlich, dass die Ewigen ursprünglich von Gaia – der Erde – stammten.* Es war eine Art Zugvogelinstinkt, der sie immer wieder hierher rief. »Al Cairo!«, dehnte er den Namen des selbstherrlichen Alphas. »Den könnten wir jetzt brauchen. Der Kerl schuldet uns noch etwas.« »Das sieht er sicher anders. Hast du noch mal etwas von ihm oder *
siehe PZ-Buch 7: »Die Macht der Ewigen«
Ted gehört?« »Kein Sterbenswörtchen. Um diesen arroganten Alpha mache ich mir keine Sorgen, um Ted hingegen umso mehr. Er würde bestimmt ein gutes Wort für uns bei Cairo einlegen.« Würde … hätte … könnte … Alles Makulatur. Kein Ted Ewigk – kein Raumschiff der Ewigen. Es war zum Verzweifeln. »Was ist das denn?«, fragte Fooly, der mit seinen feinen Ohren das Summen in der Luft zuerst vernahm. Es klang wie ein ins Zimmer verirrter Bienenschwarm. Zamorra schaute sich um. »Das kommt von draußen.« »Von hinter dem Haus, wenn ich mich nicht irre«, ergänzte Gryf. »Aus dem Park.« »Das gefällt mir nicht.« Das Summen kam Zamorra seltsam vertraut vor. Er war sicher, es nicht zum ersten Mal zu hören. Es gelang ihm nur nicht auf Anhieb, es einzuordnen. Der Druide lief zum rückwärtigen Ausgang. »Lass uns besser nachsehen. Ich habe keine Lust auf weitere unangenehme Überraschungen.« Zamorra und Fooly folgten ihm nach draußen. An der Rückseite des Châteaus schlossen sich die Terrasse und der Swimming-Pool an. Dahinter lag der zum Anwesen gehörende, ausgedehnte Landbesitz, den Zamorra an Bauern und Winzer des kleinen Dorfes verpachtet hatte. In der Sonne glitzerten die langen Reihen der Weinstöcke, die besonders frühmorgens im Nebeldunst einen faszinierenden, beinahe mystischen Anblick boten. Jetzt hatten weder Zamorra noch Gryf oder Fooly auch nur einen Blick für die Stöcke übrig. In der Luft schwebte ein gewaltiges Objekt, vom dem das Summen ausging. Es senkte sich tiefer und landete gleich hinter der Wehrmauer, die das parkähnliche Gelände umgab. »Wenn man vom Teufel spricht!«, entfuhr es Gryf. »Man sollte etwas vorsichtiger mit seinen Wünschen sein. Sie könnten in Erfüllung gehen, wie man sieht.«
»Ein Ringschiff der Ewigen!« Zamorra tastete nach seinem Amulett. Lieber wäre ihm ein handlicher E-Blaster gewesen, wie ihn auch die Ewigen und ihre Schergen, die Cyborgs benutzten. Doch es war zu spät, ins Haus zurückzukehren und sich zu bewaffnen. Das 180 Meter durchmessende Raumschiff setzte auf. Das Summen erstarb. Gewaltig wie eine Hügelkette lag der Ring in den Weinfeldern. Zum Glück hielt sich niemand weiter oben auf, doch es würde nicht lange dauern, bis sich hinter dem Château eine neugierige Menschenmenge versammelte. »Bei ihrem letzten Besuch haben die Kerle nicht lange gefackelt, sondern uns sofort angegriffen.« In dem Ringschiff öffnete sich eine Schleuse. Menschliche Gestalten kamen aus dem Innern des Raumschiffs, einheitlich in schwarze Anzüge gekleidet. »Men in Black!« Cyborgs. Organische Roboter ohne die geringsten Gefühle. Die willfährigen Handlager der DYNASTIE DER EWIGEN. Zamorra zählte vier von ihnen. Bewegungen in der Schleuse ließen erahnen, dass dort drin noch mehr von ihnen steckten. Unwillkürlich erwartete er, dass Al Cairo aus dem Schiff kam. Sein Herz machte einen Satz. Dann war vielleicht auch Ted Ewigk an Bord. Niemand kam, nur die Cyborgs. »Siehst du Waffen?« Gryf schüttelte den Kopf. »Sie sind unbewaffnet, aber das sagt bei denen gar nichts.« Fooly fauchte wütend. Bei ihrem letzten Besuch im Château hatten die Men in Black ihn ziemlich übel verprügelt.* Das trug er ihnen bis heute nach. »Darf ich ihnen ein wenig Feuer unter ihren Cyborghintern machen, Chef?« »Erst mal hören, was sie diesmal wollen. Vielleicht braucht irgendein Ewiger mal wieder unsere Hilfe. Doch diesmal können die Kerle ihre Kastanien selbst aus dem Feuer holen.« *
siehe PZ-Heft 823: »Attacke der Ewigen«
Ein einzelner Man in Black kam näher. In seinem Gesicht zeigte sich keine Regung. Das war typisch für die biologischen Zuchtwesen mit ihren Gehirnen aus Dhyarra-Splittern. Drei Meter vor Fooly und den Männern blieb der Cyborg stehen. Er sah sie der Reihe nach an, bis sein Blick schließlich an Zamorra hängen blieb. »Zu Ihnen will ich«, sagte er. »Zu mir? Wieso?« »Weil ich Sie kenne.« Zamorra versuchte, im Gesicht des Cyborgs zu lesen. Das war ihm noch niemals gelungen, auch jetzt nicht. Er durchschaute die Situation nicht. Welcher Ewige an Bord des Raumschiffs schickte seine Men in Black vor, statt sich selbst zu zeigen? »Wir sind allein«, schien der Cyborg seine Gedanken zu erraten. »Kein Ewiger ist an Bord.« »Seltsam«, raunte Gryf seinem Freund zu. »Seit wann sprechen die Men in Black von Ewigen? Sie bezeichnen sie doch sonst immer als ihre Herren.« »Ich tue das nicht mehr, und meine Begleiter im Schiff ebenfalls nicht. Wir sind frei, und wir kommen mit einem bestimmten Wunsch nach Gaia.« »Und der wäre?«, fragte Fooly misstrauisch. »Wir bitten um politisches Asyl.«
»Identifiziert euch!« Die Aufforderung über Funk wurde zum zweiten Mal wiederholt. Bei jedem Mal klang sie drängender. Sie kam von einem der drei Jäger, die im Ortungsschatten eines Roten Riesen gelauert hatten. »Die haben hier auf uns gewartet«, fürchtete Nadlun. Clyr schüttelte den Kopf. »Unser Zusammentreffen ist reiner Zufall. Sie konnten nicht voraussehen, dass wir ausgerechnet diesen abgeschiedenen Stern passieren.« »Das ändert nichts daran, dass sie uns beinahe am Haken haben.« Das sah Clyr genauso. Seit drei Monaten waren sie mit der
FREIHEIT, wie er ihr Schiff getauft hatte, nun unterwegs. Alles hatte sich anders entwickelt, als er gedacht hatte. Die Ewigen dachten nicht daran, die auf der Stahlwelt erlittene Schmach auf sich beruhen zu lassen. Sie bliesen zur Hatz auf die Rebellen. Die vierzehnköpfige Besatzung der FREIHEIT konnte es nicht riskieren, sich auf einem verlassenen Planeten niederzulassen. Sie musste jederzeit damit rechnen, von einer Patrouille entdeckt zu werden, wenn sie nicht in Bewegung blieb. Wenn wir mobil bleiben, ist es auch nicht besser, wie man sieht, dachte Clyr mit einem Anflug von Bitterkeit. Sie werden uns jagen, bis sie uns haben, und dann wird uns zur allgemeinen Abschreckung auf der Stahlwelt der Prozess gemacht. Was widersinnig war, so lange es keine weiteren fehlgeschalteten Cyborgs gab. Clyr glaubte nicht, dass ein solcher Fall jemals wieder eintreten würde. Zweifellos hatten die Ewigen, aufgeschreckt durch das unglaubliche Vorkommnis, eine Reihe von Sicherheitsstandards initiiert, die solche Fehler ausschlossen. Sollte es doch noch einmal geschehen, war wohl jede Flucht von der Stahlwelt ausgeschlossen. Die Ewigen waren zwar über alle Maßen arrogant, doch sie waren nicht überheblich genug, einen Fehler oder eine Unterlassung ein zweites Mal zu begehen. »Dies ist die letzte Warnung«, plärrte es aus der Funkanlage. »Identifiziert euch, oder wir eröffnen das Feuer!« »Was sollen wir tun?« Tostard legte die Stirn in Falten. Längst hatten sich die Rebellen daran gewöhnt, ihre Mimik zu gebrauchen. »Es gibt zwei Möglichkeiten«, überlegte Glaun. Wie beinahe die gesamte Besatzung hielt er sich in der Lenkzentrale auf. Ausnahmslos hatten sie sich Namen gegeben. »Entweder wir ergeben uns, oder wir wagen die Flucht.« »Flucht?«, echote Troparn. »Vor drei Jägern? Da sehe ich schwarz.« »Immer noch besser als aufgeben. Das würde unseren sicheren Tod bedeuten. Wenn wir zu fliehen versuchen, haben wir wenigstens eine kleine Chance.« Clyr war Glauns Meinung. »Hier spricht Clyr an Bord der
FREIHEIT«, meldete er sich, um einem Feuerüberfall der drei Jäger zuvorzukommen. »Wir sind bereit, uns zu ergeben, wenn ihr uns verratet, wer euch schickt.« Er gab eine Reihe von Befehlen in die Bedienungselemente ein. Inzwischen kannte er sich mit seinem Schiff so gut aus, dass er die Kontrollen mit verbundenen Augen hätte bedienen können. Auch seine Mannschaft war in die Bedienung eingewiesen. Im Notfall konnte jeder von ihnen die FREIHEIT fliegen, wenn auch keiner die Perfektion erreichte wie der Kommandant, zu dem seine Leute Clyr nach der Flucht von der Stahlwelt einstimmig gewählt hatten. »Wir dienen unserem Herrn Caur'ton« antwortete der Funker der Cyborgs. »Euch zu stellen wurde jedoch von der ERHABENEN persönlich befohlen.« Von Nazarena Nerukkar also. Clyr war erstaunt, dass ihre Flucht so hohe Wellen geschlagen hatte. Anscheinend war es 14 rebellischen Cyborgs gelungen, das arrogante Selbstverständnis der gesamten DYNASTIE DER EWIGEN anzukratzen. Die Vorstellung amüsierte ihn. Gleichzeitig bedeutete sie aber auch ein Todesurteil, das die Zeiten überdauern würde, und das hieß bei den extrem langlebigen Ewigen schon etwas. »In dem Fall bleibt uns ja gar keine andere Wahl, als uns zu ergeben.« »Das ist richtig. Dreht bei, damit wir euch entern …« Clyr hörte nicht mehr hin. Diese Dummköpfe sollten ihr blaues Wunder erleben! Er fuhr sämtliche Aggregate auf Maximum hoch und beschickte die Speicherbänke. Im selben Moment, in dem auf den drei Jägern der sprunghafte Energieanstieg angemessen wurde, beschleunigte Clyr nahezu aus dem Stand mit Höchstwerten. Die FREIHEIT machte einen Satz nach vorn und jagte genau auf ihre Verfolger zu. »Was hast du vor?«, schrie Nadlun. »Du wirst sie rammen!« Das sollten auch die Gegner denken. Deren sachlich arbeitende Programmgehirne kannten so etwas wie einen Bluff nicht. Für sie stellte es sich so dar, dass die Besatzung der FREIHEIT nicht daran dachte, sich zu ergeben, sondern stattdessen den Freitod bei einer
vernichtenden Explosion suchte. Es waren allenfalls einige wenige Ewige an Bord, und die ließen sich hoffentlich ebenfalls übertölpeln. »Sie drehen ab!« Die drei Jäger spritzten in unterschiedliche Richtungen davon und machten eine Gasse frei, an deren Ende in zehn Millionen Kilometern Entfernung der Rote Riese wie ein gigantisches Juwel vor der Schwärze des Weltalls funkelte. Clyr hielt genau darauf zu. Rasant wuchs der leuchtende Gigant in Fahrtrichtung an und füllte einen stetig größer werdenden Abschnitt des Plasmabildschirms aus. Automatisch schaltete die Taktik neue Raster, in denen die Gegner zu sehen waren. Im taktischen Display wurden deren Entfernungen, ihre Kursvektoren, Geschwindigkeit und andere Details eingeblendet. »Sie feuern!« Brutal riss Clyr die FREIHEIT aus ihrem Kurs. Gleißende Energielanzen jagten durchs All, ohne sie zu treffen, was die Verfolger noch mehr anstachelte. Clyr flog einen aberwitzigen Zickzackkurs. Die Belastung verlangte seinem Schiff alles ab. Als die Gegner sich endlich orientierten und sich in einer Zangenbewegung an die Verfolgung machten, hatte er den Roten Riesen beinahe erreicht, der inzwischen den gesamten Bildschirm ausfüllte und im Großteil der Raster zu sehen war. Keine fünf Lichtsekunden Distanz mehr. »Außentemperatur steigt exponential an! Hier drin wird es gleich unangenehm heiß.« Darauf wartete Clyr nicht. Er zog sein Schiff in die Höhe und trieb es in einem weiten Bogen um den Riesen herum. Seine Verfolger verloren ihn vorübergehend aus den Augen, deren Ortungen verloren ihn. »Nadlun, Deflektorfeld hoch!« »Ist oben«, kam die prompte Bestätigung. Für eine optische Entdeckung war die FREIHEIT schon zu weit weg. Clyr schlug ein paar weitere Haken, während er mit Höchstwerten in den interstellaren Leerraum hinausjagte. Er verzögerte das Schiff erst wieder, als er sicher war, die Verfolger
abgehängt zu haben. Sie waren in Sicherheit. In einer sehr trügerischen und nur vorübergehenden Sicherheit. Ein ähnlicher Vorfall konnte sich jederzeit wiederholen. Schon beim nächsten Mal mochten sie nicht mehr so glimpflich davonkommen. Die pure Wahrscheinlichkeit ließ sie vielleicht noch ein oder zwei weitere Male erfolgreich, wenn auch am Rande der Vernichtung entkommen. Doch schließlich würde man sie stellen. Clyr fühlte sich verantwortlich für seine Männer. Ihm musste etwas einfallen, wie er die Sicherheit für sie erhöhen konnte. Das war leichter gesagt als getan in einem Raumsektor, in dem man, egal wohin man sich auch wandte, früher oder später zwangsläufig auf Verfolger traf. Auf die Möglichkeit, die sich ihm und seiner Besatzung bot, stieß er durch puren Zufall.
Drei Tage später empfing die FREIHEIT abgehackte Brocken einer Funkmeldung. Sie wurden von zahlreichen Störgeräuschen überlagert. »… nicht töten … uns anschließt … Nerukkars Zorn … anzuschließen …« Weitere Wortfragmente folgten, doch sie waren zu unklar, um sie zu verstehen. »Bekommen wir die Nachricht nicht deutlicher herein?«, wandte Clyr sich an Glaun, der die Funkanlage übernommen hatte. »Der Funkspruch hat eine ziemliche Strecke hinter sich. Würde er nicht auf einer Frequenz der Ewigen ausgestrahlt, würden wir höchstens statisches Rauschen empfangen.« »Eine Frequenz der Ewigen?«, staunte Nadlun. »Eindeutig. Der Ruf ist breit gefächert, keine spezielle Ausrichtung. Bei einer schärferen Bündelung sähe die Sache besser aus. An wen auch immer er gerichtet ist, jedenfalls nicht an uns. Wenn du ihn deutlicher hören willst, bleibt uns nichts anderes übrig, als in die Richtung zu fliegen, aus der er kommt.« »Troparn?« »Herkunft lässt sich lokalisieren«, meldete der Angesprochene von
seinen Ortungseinrichtungen. »Das ist nicht alles, was von dort kommt. Ich messe starke Emissionen an« »Von einer Antriebsspur?« »Kaum. Dafür sind sie viel zu stark. Ich tippe auf nukleare Restemissionen zerstörter Schiffe.« Clyr horchte auf. »Von einem Raumkampf?« »Sieht so aus. Wir sollten zusehen, dass wir in der entgegengesetzten Richtung verschwinden.« Der Kommandant dachte kurz nach. »Ganz im Gegenteil. Ich will wissen, was dort geschehen ist. Ausgangsort des Funkspruchs auf meine Konsole legen.« Glaun bestätigte, und Clyr passte den Kurs an. Noch kamen die Brocken der Meldung herein. Wenn es sich um keinen automatischen Ruf handelte, hielt sich noch jemand am Schauplatz der Raumschlacht auf. Ewige? Wenn nicht die, wer dann? »Du denkst an einen möglichen Verbündeten?« Nadluns Frage zeigte, dass er diese Möglichkeit ebenfalls in Betracht zog. »Könnte sein. Die Möglichkeit werden wir jedenfalls nicht einfach ignorieren. Deflektorfeld bleibt bei voller Feldstärke. Wenn der Funkspruch vollständig hereinkommt, einspielen.« Clyr beschleunigte die FREIHEIT, bis sie mit einer irrwitzigen Geschwindigkeit durchs All pflügte. Bei allen Völkern, die die Ewigen kennen gelernt hatten, konnten in dieser Hinsicht allein die Gkirr mithalten. Für einen Moment befiel ihn der Verdacht, dass der Funkruf von ihnen stammte und sich an ihresgleichen richtete. Doch in dem Fall hätten sie weder in der Sprache noch auf einer gängigen Frequenz der Ewigen gesendet. »Wenn wir wirklich auf einen möglichen Verbündeten treffen, bedeutet das noch lange keine Besserung unserer Lage«, gab Nadlun zu bedenken. »Du meinst, wir könnten in deren Krieg mit einbezogen werden?« »Der Name der ERHABENEN ist gefallen. Auch wenn wir nicht wissen, von wem der Funkruf stammt, ist klar, dass die Ewigen mitmischen. Wo die dabei sind, ist ein Krieg nicht fern.«
»Ich weiß.« »Du willst es trotzdem versuchen?« Clyr nickte, wobei er versonnen den Plasmaschirm betrachtete. Die funkelnde Sternenpracht der Galaxis zeichnete sich darauf ab. Dennoch sollte es für seine Männer und ihn keinen Planeten geben, auf dem man sie in Ruhe ließ? Bei der Anzahl der Welten, die für eine Besiedelung geeignet waren, war das kaum vorstellbar. Umso mehr aber, wenn man sich den ungebremsten Expansionsdrang der Ewigen vorstellte. »Wir bekommen den Funkspruch jetzt klar herein«, meldete Glaun. »Lass hören«, forderte Clyr ihn auf. Die Stimme, die er bruchstückweise bereits vernommen hatte, klang klar und deutlich. »Obwohl ihr uns angegriffen habt, wollen wir euch nicht töten, wenn ihr euch uns anschließt. Ich weiß, dass ihr nicht aus eigenem Antrieb gehandelt habt. Die ERHABENE Nazarena Nerukkar hat euch in den Kampf geschickt, weil sie mich in die Finger bekommen will. Bald schon werde ich sie zum Zweikampf fordern, und ihre Tage als ERHABENE sind gezählt. Euch trifft keine Schuld, dass ihr gegen meine Flotte unterlegen seid, doch Nazarena Nerukkars Zorn wird sich gegen euch richten. Ich mache euch das Angebot, euch mir anzuschließen. Bald schon werde ich, Al Cairo, der ERHABENE der DYNASTIE DER EWIGEN sein.« »Al Cairo?«, sinnierte Nadlun. »Den Namen habe ich noch nie gehört.« »Anscheinend handelt es sich um einen Alpha, der sich darauf vorbereitet, die ERHABENE zu fordern.« Clyr holte alles aus den Maschinen heraus. Plötzlich erschien ihm jede Sekunde wertvoll. Die FREIHEIT musste das Schlachtfeld erreichen, bevor dieser Al Cairo mit seinen Anhängern verschwand. Clyr rief aus seinem Datenspeicher ab, was dort über die Hierarchie der Ewigen hinterlegt war. Deren Rangordnung begann auf der untersten Stufe als Omega und ging bis zum Alpha. Aus den Reihen der wenigen Alphas ging der ERHABENE hervor, sofern er ein
Para-Potential besaß, das ausreichte, seinen Dhyarra zu einem Machtkristall 13. Ordnung aufzustocken. Das gelang nur äußerst selten. Wenn das einem Alpha gelang, und der oder die bisherige ERHABENE war noch am Leben, kam es zu einem ultimativen Kampf, den nur einer von beiden überlebte. Der Machtkristall des Unterlegenen wurde zerstört. »Dieser Al Cairo scheint ziemlich ambitioniert zu sein«, grübelte Clyr. »Wir werden das zu unserem Vorteil ausnutzen.« »Du willst dich ihm anschließen?« Nadlun schien von der Vorstellung, sich freiwillig einem Ewigen anzuschließen, wenig begeistert. »Wir sind nicht geflohen, um wieder in die Dienste der Ewigen zu treten.« »Auf uns allein gestellt, werden wir früher oder später vernichtet. Wir haben erlebt, dass wir uns nirgendwo hinwenden können.« »Wenn wir uns Al Cairo anschließen, droht uns vielleicht dasselbe Schicksal. Wir wissen nichts über ihn. Es könnte sich um einen größenwahnsinnigen Emporkömmling handeln, der gegen Nazarena Nerukkar keine Chance hat.« »Das Risiko müssen wir in Kauf nehmen.« Clyr bedachte seinen Stellvertreter mit einem aufmunternden Lächeln. »Außerdem sagt der Funkspruch aus, dass er eine Flotte der ERHABENEN besiegt hat.« Damit gab sich Nadlun nicht zufrieden. »Vielleicht besaß er eine zehnfache Übermacht. Zudem finde ich es seltsam, dass er seine Gefolgschaft offenbar auf diese Weise rekrutieren muss.« Clyr ließ sich von den Einwürfen nicht von seinem Plan abbringen. Sie brauchten nicht ewig bei Al Cairo zu bleiben. Im Moment war diese Aussicht verheißungsvoller, als weiterhin auf verlorenem Posten zu stehen. Ebenso schnell, wie sie sich Al Cairo anschlossen, konnte die FREIHEIT wieder im Gewirr der Sterne untertauchen. »Funkspruch ist abgerissen.« Glaun veränderte eine Einstellung an der Funkanlage. »Verstärker auf Maximum. Sinnlos. Es kommt nichts mehr rein.« Clyr presste die Lippen zusammen. Seine internen Sensoren
ignorierend, spähte er ein ums andere Mal auf den Bordchronograph. Die meisten bekannten Völker der Galaxis hätten sonst was für den Antrieb der Ewigen gegeben, momentan kam er Clyr übermäßig langsam vor. Er schaffte es kaum, seine Ungeduld zu zügeln, bis sie endlich an den Grenzen des Raumsektors eintrafen, aus dem der Funkspruch gekommen war. In unmittelbarer Nähe befand sich ein blauweißer Stern mit fünf Umläufern. »Was sagt die Ortung, Troparn?« »Zahlreiche Raumschiffwracks, ausschließlich von Jägern und ausgeschleusten Hornissen.« »Keine Flottenbewegungen?« »Negativ.« »Glaun, Funkspruch absetzen, dass wir uns Nazarena Nerukkar nicht länger verpflichtet fühlen und uns stattdessen dem kommenden ERHABENEN anschließen. Gedrosselte Leistung. Ich will keine Einheiten von Nazarena Nerukkar aufscheuchen, die möglicherweise auf dem Flug hierher sind.« Ein paar Sekunden verstrichen, bis der Funker Vollzug meldete. »Keine Antwort?«, fragte Clyr ungeduldig. Anscheinend war Al Cairo mit seiner Flotte bereits abgezogen. Er hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als er ihn auch schon revidieren musste. Hinter einem der fünf Planeten jagte ein 180-Meter-Ringraumer hervor. »Das ist schon der Zweite, der Verstecken mit uns spielt«, beschwerte sich Nadlun. Clyr nickte. Ein drittes Mal wollte er auf einen solch simplen Trick nicht hereinfallen. »Hier spricht Al Cairo an Bord der CAIRO. Ich will den Ewigen sprechen, der die FREIHEIT befehligt.« Clyr empfand einen Stich in der Brust. Der Ewige, der die ERHABENE herausfordern wollte, meldete sich persönlich. Nun kam es darauf an, die richtigen Worte zu finden, damit er nicht misstrauisch wurde. »Es befindet sich kein Ewiger an Bord … Herr«, schickt Clyr
schnell hinterher. Es kam zuweilen vor, dass Schiffe ausschließlich mit Cyborgs bemannt waren. In Kampfeinsätzen geschah das allerdings kaum. Deshalb bedurfte es einer Erklärung, wieso nur Cyborgs an Bord waren. »Unser Herr«, Clyr erinnerte sich an den Namen, der er gehört hatte, »Caur'ton hat das Schiff mit einem Schweber verlassen.« »Der Kommandant hat sein Schiff aufgegeben, statt mit ihm zu fliehen?«, kam die zweifelnde Antwort. »Wir hatten einen vorübergehenden Ausfall der Maschinen und kamen nicht weit. Um nicht in Gefangenschaft zu geraten, setzte unser Herr Caur'ton sich zu einem anderen Schiff ab, das ihn mitnahm. Nachdem es uns gelungen war, die Maschinen zu reparieren, war er bereits außer Reichweite.« Clyr spürte die ängstlichen Blicke seiner Männer. Keiner von ihnen hätte eine solche Lüge gewagt. Genau darauf setzte der Kommandant. Auch ein Ewiger rechnete nicht mit einer solchen Möglichkeit, nicht einmal ein Alpha mit Ambitionen auf den alleinigen Führungsanspruch in der DYNASTIE DER EWIGEN. »Ihr wollt euch mir anschließen?« »So ist es, Herr. Was sollen wir allein im Weltall, ohne die Chance, einem Herrn dienen zu dürfen?« Das war schon fast zu dick aufgetragen, doch genau deshalb funktionierte es. »Wer bist du?« »Ich bin …«, Clyr, hätte der Kommandant beinahe gesagt, »… nur ein Cyborg auf der Suche nach einem Herrn so wie alle hier an Bord.« »Du und ein weiterer Cyborg kommt zu mir. Benutzt den Transmitter, um auf die CAIRO zu kommen. Ich selbst werde euch eure neuen Befehle erteilen.« »Ja, Herr.« Er wartete, bis die Verbindung unterbrochen wurde, und wandte sich dann an seinen Stellvertreter. »Du wirst mich begleiten, Nadlun.« Clyr hatte das Gefühl, dass seine Stimme zitterte. Er hatte alles gewagt – und gewonnen? Die nächste Stunde würde es zeigen.
»Die Flotte bleibt in Warteposition. Wir selbst machen einen Abstecher, um einen alten Freund aufzusuchen.« Es waren die ersten Worte, die Clyr aus dem Mund Al Cairos vernahm. Der Alpha trug den typisch silbernen Overall, war aber kleiner als die wenigen Ewigen, die Clyr bisher gesehen hatte. Er hatte sich Cairo viel größer vorgestellt. Der hagere Mann maß knapp einmetersiebzig. Seine Ausstrahlung war dafür umso beeindruckender. Die Lenkzentrale der Cairo schien bis in den letzten Winkel angefüllt mit seinem Ego. »Wir melden uns wie befohlen, Herr«, sagte Clyr. Al Cairo musterte ihn und Nadlun lange und nachdenklich. »Euch hatte ich schon fast vergessen. Es gibt eine Planänderung. Wir müssen wohin. Um keine Zeit zu verlieren, bleibt ihr bis auf Weiteres an Bord.« Clyr meinte, den Boden unter den Füßen weggezogen zu bekommen. Ihm lag die Frage nach dem Reiseziel auf der Zunge, doch er konnte sich beherrschen, sie nicht zu auszusprechen. Cyborgs stellten keine Fragen, sie gehorchten nur. »Ja, Herr«, antwortete er bemüht gleichgültig. »Die FREIHEIT wird unterdessen zu meiner Flotte stoßen und sich ihr anschließen. Die Raumkoordinaten werden bereits überspielt.« Clyr konnte nur hoffen, dass Tostard und die anderen klug genug waren, widerspruchslos zu gehorchen. Zwar hatte er sie gut unterrichtet, doch zum ersten Mal waren sie ohne ihn allein auf sich gestellt. »Also los.« Al Cairo klatschte in die Hände. Er schien richtig guter Laune zu sein. Offensichtlich freute er sich schon auf den bevorstehenden Flug. »Sehen wir nach, was auf der guten alten Gaia los ist.« Gaia. Clyrs Programmspeicher gab die Informationen über die Welt frei. Erde wurde sie von ihren Bewohnern, den Menschen, genannt. Was wollte Al Cairo dort, allein und ohne Unterstützung? In Clyrs Gehirn waren die Menschen als potentieller Feind, Gaia im
Zuge der Expansion als mögliches Invasionsziel der Dynastie hinterlegt. Der Alpha indes schien andere Pläne zu haben. Er hatte von einem alten Freund gesprochen. Wen meinte er damit? Etwa einen Menschen? Die folgenden Wochen rasten geradezu an Clyr vorbei. Sie konfrontierten ihn mit Ereignissen, die ihn von einem Konflikt in den nächsten stürzten. Er fühlte sich innerlich zerrissen. Mit jeder Stunde ergaben sich neue Fragen. Und jede Frage bescherte ihm Antworten, die ihn noch weiter aufwühlten.
Al Cairo hielt sich nur für kurze Zeit auf Gaia auf. Als er an Bord seines Schiffes zurückkehrte, brachte er Verstärkung mit. Da Clyr in der Lenkzentrale der Cairo eingesetzt war, erfuhr er die Namen der drei Menschen. Es waren Professor Zamorra, Nicole Duval und Ted Ewigk. Ewigk war Cairos Freund und Mitstreiter aus vergangenen Tagen, ein ehemaliger ERHABENER sogar. Doch viel faszinierender als er war Zamorra. Etwas schwer Fassbares haftete diesem Menschen an. Die Cairo flog ins Zeta Reticuli-System. Nun war Clyr froh, an Bord zu sein, weil er die folgenden Ereignisse aus erster Hand mitbekam und sich nicht aus der Ferne einen Reim darauf machen musste. Das Ziel war der Planet Ocron, wo bereits eine Flotte der Gkirr wartete. Zum ersten Mal traf Clyr auf die Erzfeinde der Ewigen. Als Al Cairos tausend Schiffe umfassende Flotte aus dem Hyperspace fiel, kam es zu einer gewaltigen Schlacht mit den schwarzen Raumgiganten der Gkirr.* Was wollten der Alpha und seine menschlichen Verbündeten auf dieser trostlosen Welt? Wieso wurde sie von Raumschiffen der Gkirr gesichert? Irgendetwas außergewöhnlich Wertvolles musste dort zu finden sein. Es gelang Clyr nicht, herauszufinden, was das war. Dafür präsentierte sich Al Cairo immer stärker so, wie Clyr sich einen Ewigen vorstellte. Arrogant und verachtenswert. Kein Opfer *
siehe PZ-Buch 7: »Die Macht der Ewigen«
schien ihm bei seiner Mission zu groß. Um an sein Ziel zu kommen, opferte er bedenkenlos einen Großteil seiner Flotte und schickte Cyborgs gleich reihenweise in den Tod. Die Situation spitzte sich zu, als die CAIRO unangefochten auf Ocron landet. Unversehens sahen die beiden Rebellen sich gezwungen, an einem Außeneinsatz teilzunehmen. Dabei kam es zu heftigen Kämpfen mit verwilderten Gkirr. Clyr wurde Zeuge, wie ein Cyborg nach dem anderen fiel. Erschüttert begriff er, dass ihm das gleiche Schicksal drohte. Die Gruppe bewegte sich auf einen verfallenen Gebäudekomplex zu. Die Kämpfe wurden härter. Ein ums andere Mal griffen die Gkirr an. Wie Cairos Cyborgs benutzten die beiden Rebellen ihre EBlaster und erwehrten sich ihrer Haut. Es war das reinste Himmelfahrtskommando mit geringen Aussichten, es lebend zu überstehen. »Wir müssen fliehen«, raunte Nadlun. »Ich bin deiner Meinung.« Doch wohin sollten sie sich auf dieser Welt wenden? Hier lebten nur angriffswütige Gkirr. Außerdem wartete Clyr auf einen günstigen Moment. Sie gelangten an einen weithin überschaubaren Platz. Monolithartige Säulen und darauf eine silbern schimmernde Kuppel prägten ihn. »Es muss dort einen Abstieg zu den subplanetaren Einrichtungen geben«, trieb der Alpha seine Begleiter an. Hundert Meter freies Feld lagen zwischen ihnen und den vorderen Säulen. Eine kleine Armee Gkirr konnte sich dort versteckt halten. Ted Ewigk ließ sich von der drohenden Gefahr nicht abschrecken. Unterwegs hatte Clyr mehrmals bemerkt, dass Ewigk so wagemutig vorstürmte, als machte er sich um sein Leben wenig Gedanken. Auch hier rannte er mit erhobener Waffe los und brachte seine Freunde damit in Zugzwang. Ihnen blieb gar nichts anderes übrig, als sich Ewigk anzuschließen, wollten sie ihn nicht in sein Verderben laufen lassen. Die Bande der drei Menschen untereinander waren viel zu stark, um das zuzulassen. Auf einen solchen Moment hatte Clyr gewartet. Niemand achtete
auf ihn und Nadlun. Er gab seinem Stellvertreter ein Zeichen, sich unauffällig etwas zurückfallen zu lassen. Sie wichen seitlich aus, wobei ihnen zugute kam, dass auch die Cyborgs zu beiden Seiten eine Zangenbewegung vollzogen. Die Gkirr kamen von hinten, schreiende, verwilderte Gestalten. Der Ansturm der kleinen, dünnen Wesen mit den proportional zu großen Köpfen wirkte bizarr. Sie rannten direkt in das Sperrfeuer der Cyborgs und verwandelten sich in lebende Fackeln. Das Chaos war perfekt, die Lage unübersichtlich. Cairo und die Menschen ereichten die Säulen und suchten nach einem Eingang. »Jetzt!«, zischte Clyr. Nebeneinander huschten die beiden Rebellen zu einer Aufschüttung aus Trümmern und versteckten sich dahinter. Nicht einmal die Gkirr bekamen etwas davon mit. »Wir sind in Sicherheit.« »Ja«, stimmte Nadlun zu. In seinem Gesicht war zu sehen, dass er mit der Entwicklung der Dinge unzufrieden war. »Wir haben sie im Stich gelassen.« »Du meinst den Ewigen?« »Ich meine die Menschen, besonders diesen Zamorra. Sie sind anders als die Ewigen. Ich glaube, sie achten uns.« Den Eindruck hatte Clyr auch gehabt. Unter anderen Umständen wäre es womöglich zu einer freundschaftlichen Begegnung mit den Wesen von Gaia gekommen. Auch ihn faszinierte dieser Zamorra mit seiner eigenartigen Ausstrahlung, die ganz anders war als die eines Ewigen. »Komm endlich«, wich der Rebell einer Antwort aus. »Und wohin?« »Zurück zur CAIRO.« In geduckter Haltung liefen sie los. Weit kamen sie nicht, weil sie schon bald wieder auf Gkirr trafen. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihnen, Deckung zu finden, bevor sie entdeckt wurden. Ihnen blieb nichts anderes übrig als abzuwarten, bis die kleinen Wesen in ihren größtenteils zerschlissenen und zerfetzten Schutzanzügen verschwunden waren. Von da an bewegten sie sich vorsichtiger und
nutzten jede Deckung. Das dauerte zwar viel länger, bot aber auch größere Überlebenschancen. »Wie sollen wir unseren Rückzug erklären?«, machte sich Nadlun Sorgen. »Ich kann mir vorstellen, wie der Ewige reagiert, wenn er hört, dass wir auf eigene Faust zum Schiff geflohen sind. Das ist Hochverrat.« Clyr lachte hell auf. »Er wird es nicht erfahren. In diesem Durcheinander merkt doch niemand, wie und wann wir an Bord gekommen sind. Wir tun einfach so, als sei es uns gerade noch gelungen, einen Kampf gegen die Gkirr lebend zu überstehen.« »Das gefällt mir nicht.« »Du machst dir zu viele Gedanken.« »Das solltest du auch tun. Auch wenn es nicht unsere Aufgabe ist, hätten wir Zamorra und seinen Freunden helfen sollen.« Ja, vielleicht. Clyr schaute zum Himmel empor, der von gigantischen Schatten verdunkelt wurde. Ein Geräuschorkan entbrandete, und Sturmböen tobten über das Land, als ein SupraKreuzer der Ewigen und ein riesiges Schlachtschiff der Gkirr aufeinander losgingen. »Ich werde umkehren, um ihnen zu helfen.« Clyr starrte seinen Stellvertreter entgeistert an. »Das ist nicht dein Ernst.« »Doch, das ist es.« Nadlun machte Anstalten, sich umzudrehen, um den Weg zurückzulaufen, den sie gekommen waren. »Ich komme mir feige vor.« Clyr packte den Widerstrebenden und hielt ihn fest. »Wo willst du sie denn suchen? Vielleicht sind sie längst auf dem Rückweg zur CAIRO. Mag sein, dass du Recht hast und wir ihnen hätten helfen sollen. Doch dazu ist es zu spät. Wir können nichts mehr tun.« Er spürte, wie Nadluns Widerstand erlahmte. Er gab sich geschlagen. Nur sein Gesicht sprach weiterhin Bände. Er würde sich seine Flucht aus der Gefahr nicht so schnell verzeihen. Die beiden Rebellen rannten los, um aus dem Gefahrenbereich zu kommen. Wenn infolge des Kampfes eins der Schiffe abstürzte und auf den Planeten aufschlug, gab es Erdbeben von ungeahnter Stärke.
Vor ihnen wuchs ein Wald aus stählernen Skeletten auf. Einst hatten sie ein Bauwerk gestützt, das sich nur noch erahnen ließ. Nur hier und da zeugten Fragmente übrig gebliebener Verschalungen von seiner früheren Imposanz. Es gab keine Anhaltspunkte, was es dereinst dargestellt hatte. »Warte!« Nadlun verzögerte seine Schritte. »Was ist denn jetzt schon wieder?« »Da sind sie.« Al Cairo und die Menschen hatten die Streben erreicht. Kein einziger Cyborg war ihnen verblieben. Sie waren auf sich allein gestellt. Jäh flammte Zorn gegen den Ewigen in Clyr auf. Der Alpha kletterte zwischen die Streben, gefolgt von Ted Ewigk und Nicole Duval. Zamorra bildete die Nachhut. Das sollte ihm zum Verhängnis werden. Wie aus dem Nichts war plötzlich ein Gkirr da und hob seine Waffe. Zamorra bemerkte nicht, wie das kleinwüchsige Wesen auf ihn anlegte. »Wir müssen ihn warnen«, forderte Nadlun. »Und uns selbst damit verraten?« In diesem Moment drehte sich Zamorra um. Instinktiv schien er die drohende Gefahr zu erahnen. Es war zu spät. Clyr sah, wie sich der Finger des Gkirr krümmte, um den Abzug seiner Waffe zu betätigen. Nadlun sprang aus der Deckung und huschte dahin wie ein Schemen. Ein Ewiger wäre zu spät gekommen, ein Mensch ebenfalls. Cyborgs besaßen andere körperliche Fähigkeiten. Die setzte Nadlun ein, ohne einen Gedanken an sein eigenes Schicksal zu verschwenden. Er handelte so, wie die Ewigen es von ihren Cyborgs erwarteten. Es gab nur einen Unterschied: Er tat es freiwillig und wurde nicht von seinem Programmgehirn dazu getrieben. Er erreichte Zamorra, bevor der Mensch von dem GkirrSchuss getroffen wurde, und stieß ihn aus der Schussbahn. Clyr unterdrückte einen entsetzten Schrei. Hilflos musste er mit ansehen, wie sich der Strahl in Nadluns Brust bohrte und ihn auf der Stelle tötete. Zamorra zögerte, seinen Freunden zu folgen. Der
Tod des Cyborgs schien ihm tatsächlich nahe zu gehen. Schließlich gab er sich einen Ruck und setzte seinen Weg fort. Unfähig, sich zu rühren, stand Clyr da. Für einige Sekunden war er möglichen Gkirr-Angreifern wehrlos ausgeliefert, weil er nur noch Augen für den toten Nadlun hatte. Für seinen Verbündeten und Stellvertreter. Für meinen Freund, verbesserte er sich mit einer plötzlichen Erkenntnis. Für einen Freund, den er im Stich gelassen hatte. Wie in Trance zog er sich zurück. Er eilte zur CAIRO und arrangierte es so, dass er mit dem Alpha und den Menschen gleichzeitig dort eintraf. Hinter ihnen ging er an Bord. Niemand schöpfte Verdacht, dass mit seinem Eintreffen etwas nicht stimmte. Alle gingen davon aus, dass auch er die Kämpfe überlebt hatte. Als einer der wenigen Cyborgs. Oder gar als Einziger von denen, die von Bord gegangen waren? Er bekam kaum mit, wie die Flucht von Ocron und vor den Raumgiganten der Gkirr ins All hinaus gelang. Stunden später erst erfuhr er, dass die FREIHEIT die Raumschlacht unbeschadet überstanden hatte. Offenbar war Tostard klug genug gewesen, sich unauffällig im Hintergrund zu halten. Clyr kehrte an Bord zurück, nachdem er seine Befehle von Al Cairo bekommen hatte. Er verdammte den Ewigen und seine Befehle. Bei nächster Gelegenheit verschwand die FREIHEIT im Hyperspace, um in den kommenden Monaten ständig auf der Flucht zu sein. Endlich fasste Clyr einen bedeutungsschweren Entschluss.
5. Dimensionstor Politisches Asyl für Cyborgs? Zamorra traute seinen Ohren nicht. »Wenn ihr mich fragt, der redet einen ziemlichen Stuss«, tat Gryf die Worte des schwarz Gekleideten ab. »Wer hier keine Falle wittert, mit dessen Nase stimmt etwas nicht.« »Das ist keine Falle«, verteidigte sich der Man in Black. »Unser Wunsch ist ehrlich gemeint. Mein Name ist übrigens Clyr.« »Clyr?«, echote Fooly. »Seit wann habt ihr Burschen denn Namen? Fall bloß nicht auf diesen Unsinn rein, Chef.« Auch Zamorra kam die Sache spanisch vor. Eine persönliche Namensgebung bedeutete Individualismus. Den besaßen die Cyborgs der Ewigen nicht. Sie waren kybernetische Geschöpfe, organische Roboter, die in immens hohen Stückzahlen produziert wurden. Ihr Dasein hatte nur einen Zweck, nämlich den Ewigen zu dienen. Einen eigenen Willen besaßen sie nicht, Eigeninitiative nur in den festgelegten Parametern. »Ich erwarte eine Erklärung«, verlangte er. Immerhin zeigte dieser Clyr, wie er sich bezeichnet hatte, keine Aggressivität. »Wir haben uns von der DYNASTIE DER EWIGEN losgesagt. Wir haben nichts mit ihr zu tun. Niemand darf uns einen Vorwurf machen, weil wir in ihr geboren wurden.« Der Cyborg lächelte unergründlich. »Doch wir sind froh darüber. Wäre das nicht geschehen, hätten wir auch nicht fliehen können.« Zamorra war völlig perplex. Was er sah und hörte, passte nicht zu den Cyborgs, wie er sie kannte. Kein Man in Black wäre auf die Idee gekommen, bei seinem Fertigungsprozess von einer Geburt zu sprechen. Kein Man in Black hatte je zuvor gelächelt. »Eure Programmgehirne verhindern eigenständiges Denken, Desertion erst recht.« Zamorra kannte den Aufbau der Cyborgs. Kleine, von den Ewigen programmierte Dhyarras bildeten ihre Gehirne.
»Stimmt. Wie Sie sehen, gibt es aber ein paar Ausnahmen, Professor.« Die Titulierung machte Zamorra klar, dass zumindest Clyr ihn kannte. Natürlich. Aus Zufall war das Ringschiff bestimmt nicht bei Château Montagne gelandet. Ihm kam der Verdacht, dass Clyr zu den Cyborgs gehört haben könnte, die Nicole und ihn entführt hatten, um sie auf die Spur von Ted Ewigks geliebter Carlotta zu bringen. Der Gedanke an Nicole versetzte Zamorra einen Stich. Mit diesem Problem hatte er genug zu tun. Nebenschauplätze, mit denen er seine Zeit vertat, konnte er beim besten Willen nicht brauchen. »Selbst wenn es stimmt, was du sagst«, wies er den Cyborg zurück, »seid ihr bei mir an der falschen Adresse. Ich bin nicht in der Position, euch Asyl zu gewähren. Darüber können nur Politiker entscheiden.« »Bei Ihnen sind wir sogar genau an der richtigen Adresse«, erwiderte Clyr. »Sie schulden uns etwas.« »Ich? Euch Cyborgs? Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz.« »Dann denken Sie an Ocron zurück. Mein Freund Nadlun hat sich dort geopfert, um Ihr Leben zu retten. Ja, Sie hören richtig. Auch ich war damals auf Ocron, als Sie mit Al Cairo gegen die Gkirr kämpften.« Verblüfft starrte Zamorra sein Gegenüber an. Er brauchte nicht lange zu überlegen, um sich an die dramatische Szene zu erinnern. Ein Man in Black hatte sich in den Strahlenschuss eines Gkirr geworfen, der Zamorra gegolten hatte. Als der Dämonenjäger den Energiestrahl gesehen hatte, hatte er mit seinem Leben abgeschlossen. »Ich sehe, Sie verstehen.« Wieder lächelte Clyr, eine Tatsache, die den Professor verunsicherte. Er glaubte nicht, dass ein Cyborg eine solche Gemütsbezeugung vortäuschen konnte. Doch wie war es möglich, dass die Men in Black plötzlich Gefühle besaßen? War im Imperium der Ewigen eine Lage eingetreten, die alles auf den Kopf stellte, was man bisher wusste? Selbst wenn es so war, hatte Nicole absoluten Vorrang.
»Dein …«, das Wort kam Zamorra schwer über die Lippen, »… Freund hat nur getan, worauf er programmiert war.« »Falsch. Wie ich und der Rest meiner Leute war auch er nicht mehr an die Grundprogrammierung seines Gehirns gebunden. Er entschied frei, was zu tun sei. Er folgte seinem Gewissen und starb als freies Individuum.« Konnte das wirklich zutreffen? So unwahrscheinlich es war, so faszinierend war die Vorstellung auch. Zamorra hatte schon zu viel erlebt, woran kein normaler Mensch glauben würde, um die Möglichkeit kategorisch auszuschließen. Ein atemberaubender Gedanke kam Zamorra. »Gibt es viele von euch?« »Da muss ich Sie enttäuschen. Nur mich und meine zwölf Begleiter.« »Gryf, was sagst du dazu?« »Ich habe ein wenig meine Telepathie spielen lassen. Nichts zu machen. Tut mir leid, Alter, aber die Burschen haben nun mal keine organischen Gehirne.« Zamorra steckte in der Zwickmühle. Wenn Clyrs Worte zutrafen, hatte er in der Tat eine Schuld abzutragen. Andererseits entsprachen seine Worte der Wahrheit. Er besaß überhaupt nicht die Kompetenzen, abtrünnigen Cyborgs Asyl zu gewähren. »Werdet ihr wieder starten, wenn ich euch bitte, das zu tun?« »Warum sollten Sie uns darum bitten? Nadlun und ich hatten auf Ocron einen anderen Eindruck von Ihnen. Wir waren sicher, Sie würden uns helfen.« »Mal ganz langsam, Freundchen«, mischte sich Fooly ein. »Der Chef hat andere Sorgen, als sich um ein paar Taschenrechnergehirne zu kümmern, mit deren Programmierung was schief gelaufen ist. Mademoiselle Nicole ist nämlich schwer krank, und uns läuft die Zeit weg.« »Wir kooperieren gern, wenn wir dazu in der Lage sind.« »Na klar. Kein Problem. Bringt uns ins Drachenland. Dann können wir vielleicht auch was für euch tun.« »Schon gut, Fooly.« Dazu war vielleicht ein Alpha in der Lage, aber wohl kaum ein paar entflohene Cyborgs. Niemand kannte die
Position des Drachenlands. In ihrem Fall handelte es sich nämlich nicht um eine galaktische Lage, sondern eine dimensionale. Die Raumschiffe der Ewigen beherrschten zwar den interdimensionalen Flug, doch der war wertlos ohne Koordinaten. »Haben wir Ihr Wort, uns zu helfen, wenn wir Sie ins Drachenland bringen?«, riss Clyrs Stimme Zamorra aus seinen Gedanken. »Ihr kennt den Weg?«, staunte Gryf. »Sollte an den uralten Legenden etwas dran sein, die von einem Krieg zwischen Ewigen und Drachen berichten?« Clyr antwortete nicht, doch seine wissende Miene sprach Bände. Zamorras Herzschlag beschleunigte sich. Da war der Strohhalm, nach dem er greifen konnte. »Wie wollt ihr das Drachenland denn erreichen?«, wollte Fooly wissen. »Es liegt nicht um die Ecke, sondern in einer anderen Dimension.« »Unter den Maschinen unseres Jägers ist auch ein Dimensionszapfer.« Der Jungdrache verzog spöttisch sein Gesicht. »Ein Dimensionszapfer, so, so. Ich kenne nur einen Bierzapfer, und der heißt Mostache. Aber ein Dimensionszapfer? Also ehrlich, Chef. Was die Kerle sich nicht so alles ausdenken.« »Ihr habt mein Wort, dass ich tun werde, was in meiner Macht steht«, versicherte Zamorra, statt auf Foolys Vorhaltungen einzugehen. »Versprechen kann ich allerdings nichts. Ich kann nur meinen Einfluss bei den richtigen Leuten geltend machen.« Clyr nickte in menschlicher Manier, als bereitete er sich schon auf sein künftiges Leben auf der Erde vor. Ein tiefes Seufzen drang an Zamorras Ohr. Es kam von Fooly. Zamorra verstand. Selbst wenn sie das Drachenland erreichten, dem Jungdrachen war ein Besuch in seiner Heimatwelt verboten.
Nicoles Lippen bebten bei jedem Wort. Wenn Zamorra sein Ohr an ihren Mund legte, konnte er verstehen, was sie sagte. Ein Sinn ließ sich in die unzusammenhängenden Bruchstücke jedoch nicht
bringen. Es schmerzte den Dämonenjäger, seine Gefährtin in diesem Zustand zu sehen. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Gesicht gerötet. Noch immer glühte ihre Stirn im Fieber. Er hatte ihr ihren schwarzen Lederoverall angelegt, den sie selbst als ihren Kampfanzug bezeichnete. »Ich gehe in die Zentrale«, sagte Gryf. »Ich möchte den Start miterleben.« Zamorra drückte Nicole einen Kuss auf die Stirn und schloss sich dem Druiden an. Über den eigenen Kummer durfte er nicht vergessen, dass er auch eine gewisse Verpflichtung der Menschheit gegenüber hatte. Wenn sich ihm die Möglichkeit bot, weitere Informationen über die DYNASTIE DER EWIGEN zu sammeln, durfte er sie nicht ungenutzt verstreichen lassen. Neben Clyr waren sechs weitere Cyborgs in der Lenkzentrale versammelt. Sie hatten ihre Plätze vor den Instrumentenpulten eingenommen und führten die Startvorbereitungen durch. Im Vergleich zu den Prozeduren an Bord irdischer Raumschiffe wie der Discovery ging alles viel schneller vonstatten. Für die Cyborgs war die Startsequenz nicht aufregender, als sich die Nase zu putzen. Kein Wunder nach all den Jahrtausenden, die die DYNASTIE bereits zwischen den Sternen unterwegs war. Der um seine Achse rotierende Ringraumer hob vom Boden ab und raste dem Himmel entgegen. Innerhalb weniger Sekunden durchstieß er die Erdatmosphäre und jagte oberhalb der Ekliptik der Grenze des heimischen Sonnensystems entgegen. Zamorra verließ es nicht zum ersten Mal, doch die Faszination der zurückbleibenden Planeten, die in einem Raster des Plasmabildschirm dargestellt wurden, blieb unübertroffen. »Wie stelle ich mir diese Dimension vor, in der die Drachenwelt liegt?«, fragte Gryf den Kommandanten. Clyr schaute von seinen Kontrollen auf. Er saß auf einem erhöhten Sichtplatz auf einer schwebenden Plattform. »Darüber sind sich die Ewigen uneins.« »Wenn sie dort waren, muss es Aufzeichnungen geben.« »Die Informationen sind äußerst vage«, enttäuschte der Cyborg
die beiden Menschen. »Tausende von Jahren sind vergangen, seit die Ewigen dorthin vordrangen. Sie dürfen nicht den Fehler machen, zu denken, dass sie weite Bereiche der anderen Dimension erforscht haben. Sie stießen mehr oder weniger durch Zufall auf die Drachenwelt. Die Sensation war so groß, dass beschlossen wurde, dort einen Brückenkopf zu errichten.« »Das scheint nicht geklappt zu haben.« Gryf gab sich keine Mühe, einen Anflug von Spott zu unterdrücken. »Ganz so weit her, wie mancherorts angenommen wird, scheint es mit der Macht der DYNASTIE wohl doch nicht zu sein.« Clyr schien darüber nicht unglücklich zu sein. »Zwei Mal haben die Ewigen selbst dabei versagt, Gaia zu erobern.« »Das weißt du? Ich bin überrascht, dass die Ewigen ihre Cyborgs mit solchen Informationen ausstatten.« »Das tun sie nicht. Zum Glück liefern die Bordcomputer umfangreiches Datenmaterial, das mir andernfalls verborgen geblieben wäre.« Zamorra warf dem Man in Black einen unauffälligen Blick zu. Zweifellos existierten in den Datenspeichern unzählige Informationen, die interessant für die Menschheit waren. Er war fest entschlossen, mit Clyr über deren Preisgabe zu verhandelt, wenn diese Mission erfolgreich abgeschlossen und Nicole geheilt war. »Was ist schief gegangen bei der Eroberung der Drachenwelt?«, nahm Zamorra den Faden auf, den Gryf begonnen hatte. »Nach allem, was wir wissen, geben die Ewigen eine Welt nicht freiwillig wieder her, wenn sie diese ihrem Imperium einverleibt haben. Es sei denn, der Planet ist bis auf die letzten Rohstoffe ausgebeutet und stellt auch keinen strategischen Wert mehr dar.« Einen größeren strategischen Wert als einen derartigen Brückenkopf in einer anderen Dimension konnte es für ein auf Expansion und Eroberung ausgerichtetes Volk wie die DYNASTIE DER EWIGEN überhaupt nicht geben. »Schief gegangen? So kann man kaum ausdrücken, was damals geschehen ist. Ich bin auf unterschiedliche Berichte in den Dateien gestoßen. Vieles musste ich mir selbst zusammenreimen. Am Ende
hat sich ein Gesamtbild ergeben.« »Das interessiert mich sehr.« Der Druide ließ sich auf einen freien Platz fallen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich nehme an, dass wir eine Zeit lang unterwegs sein werden. Es spricht also nichts dagegen, dass du uns Unwissende einweihst.« »Wollen Sie die Geschichte ebenfalls hören, Professor?« Zamorra nickte stumm. Clyr schwieg für eine Weile. Schließlich richtete er sich kerzengerade in seinem Kommandantensessel auf und erhob die Stimme.
Vergangenheit Wie Wetterleuchten irrlichterten Blitze vor dem dunklen Hintergrund. Blaue und gelbe Schlieren flammten auf, waberten tastend über die gesamte Breite des Plasmabildschirms, zerfaserten, tanzten einen wilden Tanz umeinander und vermischten sich. Kollabierten schließlich und fielen in einen Punkt zusammen, der nicht wirklich existierte, sondern allein vom trägen Auge für einen Sekundenbruchteil wahrgenommen wurde. Der Vergleich mit einem planetaren Wetterleuchten traf optisch zu, hinkte aber. Denn im Weltall gab es kein Wetterleuchten. »Was war das?« In der vor Aktivität berstenden Zentrale der GLANZ DES KRISTALLPLANETEN stand die Frage ihres Kommandanten Dar-Fi wie eine Anklage im Raum. »Hinweise auf einen gegnerischen Angriff?« »Negativ, Herr.« Gleich zwei Cyborgs bedienten die Ortungseinrichtungen des 750 Meter durchmessenden Ringraumers. Das Jagdboot befand sich auf einem Patrouillenflug am Rand des größten Sternenreichs, das die Galaxis jemals gesehen hatte. »Keine Einheiten in einem Umkreis von zehn Lichtjahren.« »Handelte es sich um die Ausläufer eines Hypersturms?« »Ebenfalls nicht. Das Phänomen passt zu keiner der bekannten
Raumanomalien. In der Datenbank finden sich keine Vergleichsmöglichkeiten. Offenbar wurde ein solches Phänomen nie zuvor gesichtet.« Trotzdem war es da gewesen. Auch wenn Dar-Fi Kommandant eines schwer bewaffneten Schiffes wie der GLANZ DES KRISTALLPLANETEN war, sah der Beta sich mehr als Entdecker denn als Krieger. Ungewöhnliche Zwischenfälle erweckten sein Interesse, besonders wenn es sich dabei um Neuland handelte. Denn Unbekanntes konnte sich irgendwann zu einer Bedrohung für das Imperium auswachsen, wenn man es ignorierte, statt es in angemessener Form zu untersuchen. »Energieortung? Irgendwas müssen wir aufgefangen haben.« DarFi blieb die Ruhe selbst. Im Gegensatz zu vielen seiner EwigenKollegen in ähnlichen Positionen putzte er seine Cyborgs nicht gleich herunter, wenn ihm etwas nicht schnell genug ging. Bei der beinahe unendlichen Lebenserwartung seines Volkes waren jederzeit ein paar Minuten verfügbar, in denen man seinen Kopf gebrauchen konnte. Aus Druck geborene Hetze schadete mehr, als dass sie Erfolge zeitigte. »Die Instrumente haben einen minimalen Aufriss im Gefüge festgestellt.« »So wie er beim Eintritt in den Hyperspace vorkommt?« »Negativ, Herr. Eine solche Übereinstimmung hätten die Rechner gemeldet.« Ein gutes Argument. Dar-Fis Blick wanderte über den Bildschirm. Von dem aufgetretenen Phänomen war nichts mehr zu sehen. Nur in einigen peripher geschalteten Rastern wurden permanent neue Daten eingeblendet. Auch wenn man nichts mehr sah, geschah dort draußen etwas. »Emissionen?« »Sind weiterhin aktiv. Sie weisen auf einen Riss hin. Es lässt sich nicht erkennen, was auf der anderen Seite liegt. Möglicherweise handelt es sich um einen Riss im Raum-Zeit-Gefüge.« »Negative Beschleunigung. Wir halten den derzeitigen Abstand
bei.« Mit Unregelmäßigkeiten im Raum-Zeit-Kontinuum legte man sich besser nicht an. Schon vor zehntausend Jahren hatten die Ewigen auf diese Weise Schiffe verloren. Niemand konnte sagen, wo sie wieder herausgekommen waren. Oder wann. Sie blieben für immer verschwunden, waren vielleicht sogar vernichtet worden. Dar-Fi sah den Weltraum als seinen Freund an. Als einen Freund allerdings, dem man den nötigen Respekt entgegenbringen musste, weil er auch über ein paar unangenehme Charaktereigenschaften verfügte. »Energiespitzen treten auf. Unsere Instrumente empfangen Werte, mit denen sie nichts anfangen können.« »Auf mein Display übermitteln.« Was vor seinen Augen erschien, war ihm völlig fremd. Solche Daten hatte er nie zuvor gesehen. Zahlen in diesen Kombinationen ergaben keinen Sinn. Sie wirkten wie willkürlich aneinander gefügt. »Kein Fehler im System?« »Negativ, Herr. Sämtliche Instrumente arbeiten im Rahmen normaler Parameter. Der Rechner hat bereits eine Routinediagnose durchgeführt. Es ist alles in Ordnung.« Dar-Fi hatte nichts anderes erwartet. Bei auftretenden Systemfehlern wurde automatisch eine Meldung ausgegeben. Er vertiefte sich in die wirren Zahlen. Auf eine unbestimmte Art faszinierten sie ihn. Er konnte den Blick nicht abwenden, und mit jeder Sekunde kamen sie ihm vertrauter vor. Es lag doch ein Schema in ihnen. Gedanklich gruppierte er verschiedene Zahlenfolgen um. »Alles ist verschoben«, murmelte er. »Herr?« Plötzlich wusste Dar-Fi, womit er es zu tun hatte. Nicht mit einem Einbruch aus einer anderen Raumzeit, sondern aus einer anderen Dimension, die vermutlich parallel zur eigenen existierte. Sie war nur einen Schritt entfernt, doch man musste wissen, wohin man seinen Fuß zu setzen hatte, wenn man in sie eindringen wollte. Die Ewigen forschten seit Jahren auf diesem Gebiet, doch bisher war ihnen der entscheidende Durchbruch versagt geblieben. Seine Handflächen wurden feucht vor Aufregung.
»Sind sämtliche Daten aufgezeichnet?« »Natürlich.« Offensichtlich meinte das Schicksal es gut mit ihm und seinem Volk. Denn mit etwas Glück konnten die Wissenschaftler aus seinen Aufzeichnungen die richtigen Schlüsse ziehen. Dar-Fi flog umgehend den Kristallplanet an, um seine Entdeckung weiterzugeben. Seine Hoffnung trog ihn nicht.
Wenige Jahre später steuerte Dar-Fi die gleiche Stelle im Weltraum an. Kein Quäntchen an ungewöhnlichen Energieemissionen deutete darauf hin, dass es hier zu einem außergewöhnlichen Phänomen gekommen war. Wahrscheinlich geschah es nur durch eine zufällige Überlappung, vielleicht alle tausend Jahre einmal, vielleicht nur alle paar Millionen Jahre. Dar-Fi dankte dem Schicksal, im richtigen Moment am richtigen Ort gewesen zu sein. Diesmal benötigte er keinen unerwarteten Zufall. Er dachte an die neu entwickelte Maschine, die in einem Hangar der GLANZ DES KRISTALLPLANETEN montiert war. Sie sollte dafür sorgen, dass der Aufriss erneut gelang, geplant und kontrolliert. »Versuch starten!«, ordnete er an. In seinem Hals war ein raues Kratzen. Er war dabei, Geschichte zu schreiben. Eine weitere Phalanx von Kontrolleinrichtungen war in die Lenkzentrale eingebaut worden. Erwartungsvoll hatten die EwigenWissenschaftler, die für den Bau des Dimensionszapfers verantwortlich waren, die Cyborgs davongejagt und sich vor den Kontrollen versammelt. Beiläufig verfolgte der Kommandant ihre aufgeregte Diskussion. Sie war zu fachspezifisch, als dass er jedes Wort verstanden hätte. »Energiematrix wird initiiert«, bestätigte einer von ihnen. »Das Dimensionsfeld baut sich auf.« Unzählige Kontrolllämpchen flammten auf. Vor Dar-Fis Augen verwandelte sich die Kontrollkonsole des Dimensionszapfers in einen Vorhang aus Lichtern. Solange sie blau blieben, war alles in
Ordnung. Sollte eins rot aufleuchten, gab es Schwierigkeiten. Dar-Fi riss seinen Blick von den Kontrollen los und wandte sich dem Plasmabildschirm zu. Ein hauchfeiner Schleier breitete sich eine Million Kilometer vor dem Jagdboot aus. Anfangs wie eine Trübung der Optiken wirkend, wandelte sich der Schleier in ein zartes Blau und nahm an Intensität zu. Das Glitzergewirr der Sterne verschwand dahinter. Der Kommandant zuckte zusammen, als Blitze in verschiedenen Farben aus dem Nichts entstanden und ein asymmetrisches Gitter bildeten. »Alles in Ordnung!«, rief einer der Wissenschaftler. »Eine solche Entwicklung haben wir erwartet.« Dar-Fi hielt ihn für einen Aufschneider. Niemand konnte den Ablauf des Versuchs voraussehen, geschweige denn dessen optische Begleiterscheinungen. Er ließ den Wissenschaftlern ihre infantile Freude, auch wenn ein wenig befremdlich war, dass hochrangige Forscher mit mehreren zehntausend Jahren Lebenserfahrung sich wie kleine Kinder benahmen. Das Gitternetz im Raum wurde durchgeschüttelt. Es wippte auf und nieder, als schlüge ein riesiger Unsichtbarer ein Bettlaken aus. Die Blitze richteten sich aus, bis sie ein schimmerndes Rechteck bildeten, das groß genug war, selbst einen Supra-Kreuzer passieren zu lassen. Die eingeblendeten Daten verrieten, dass es keine Ausdehnung in der dritten Dimension besaß. »Ein Spiegel ohne jegliche Dicke«, sagte jemand. »Ist das ein Dimensionstor, Kollegen?« »Möglich.« »Was soll es sonst sein?« Mit einer gewaltigen Lichtentladung, die jeder Sonne Konkurrenz machen konnte, faltete sich der zweidimensionale Spiegel auf ein Viertel seiner ursprünglichen Ausdehnung zusammen. Die Blitze, die ihn begrenzten, verschwanden im Nichts, aus dem sie gekommen waren, der Spiegel wurde zu einer milchigen Fläche, die zerlief wie verschüttete Flüssigkeit. »Das Tor dehnt sich wieder aus.«
»Nein, Kollegen. Es verharrt in seinem Zustand.« Dar-Fi verließ sich nicht auf die visuellen Eindrücke, sondern kontrollierte die Anzeigen der Instrumente. Sie bestätigten, was sich vor dem schwarzen Hintergrund abzeichnete. Das Feld besaß die Umrisse einer unregelmäßig geformten Lache mit etwas mehr als einem Kilometer Durchmesser. Seine Ausdehnung stagnierte. Es verlor seine milchige Verfärbung. Was blieb, war ein Abschnitt, der aussah, als hätte man ein Loch geradewegs aus dem Weltraum gestanzt. Dahinter waren keine Sterne zu sehen. »Die Massetaster sprechen an«, meldete die Ortung. »Auf der anderen Seite befindet sich etwas.« »Etwas? Geht es nicht genauer?« »Leider nein, Herr.« »Wie lange können wir das Feld aufrechterhalten?« »Theoretisch unbegrenzt, wenn der Dimensionszapfer nicht ausfällt oder in seiner Leistung nachlässt«, versicherte ein Wissenschaftler. »Ist damit zu rechnen?« »Ja – in einigen tausend Jahren.« Dar-Fi lag eine Zurechtweisung auf der Zunge. Er verzichtete darauf, obwohl die Wissenschaftler ausnahmslos rangniedriger als er und außerdem als Passagiere an Bord waren. Sie dachten nun mal nicht in den gleichen Bahnen wie andere Ewige. Er gab sich mit der Antwort zufrieden. Daher dachte er nicht lange über den nächsten Schritt nach. Ewige begaben sich nicht leichtfertig in Gefahr. In seinem Schiff und mit dem Dimensionszapfer an Bord fühlte er sich vollkommen sicher. »Fahrt aufnehmen!«, befahl er. »Wir schauen nach, was sich auf der anderen Seite befindet.« »Was?«, rief ein Wissenschaftler entsetzt. »Das war nicht geplant.« »Ich protestiere energisch«, pflichtete ihm ein Kollege bei. Seine Stimme drohte sich vor Panik zu überschlagen. »Wir geraten in unnötige Gefahr.« Dar-Fi ignorierte das Gekeife. Regungslos hockte er in seinem
Sessel und las die stetig schrumpfenden Entfernungsanzeigen ab. Als die GLANZ DES KRISTALLPLANETEN das Tor erreichte, schien sich die Luft in der Zentrale statisch aufzuladen. Reine Einbildung, sagte der Kommandant sich. Auf gewisse Weise tauchte das Jagdboot unter das Universum. Zumindest fasste der Verstand den Vorgang so auf. Dar-Fi blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Das Bild auf der anderen Seite zog ihn in seinen Bann.
»Beim geringsten Anzeichen von Schwierigkeiten Schubumkehr!« Dar-Fi beobachtete die Reaktionen der Wissenschaftler. Sein Befehl beruhigte sie ein wenig, ohne ihre Vorbehalte völlig zu zerstreuen. Doch wie ihm selbst gelang es auch ihnen nicht, die Blicke vom Schirm zu nehmen. Die GLANZ DES KRISTALLPLANETEN passierte einen Tunnel aus bunten Lichteffekten, die von außen nicht zu sehen gewesen waren. Wie Korallenstöcke umspielten sie das Schiff. Sekunden nur verstrichen. In ihnen änderte sich alles. Dies war keine herkömmliche Wegstrecke. Das Jagdboot beschritt einen ganz neuen Pfad, der sich nicht durch Entfernungsangaben definieren ließ. Ohne den Zapfer war er unpassierbar. Ein Dimensionstunnel, ging Dar-Fi eine passende Bezeichnung durch den Kopf. Die Wissenschaftler gaben erstaunte Ausrufe von sich, als das Schiff den Durchgang verließ. Nun zeigte sich in ganzer Pracht, was die Zentralenbesatzung zuvor ansatzweise gesehen hatte. Zwei gelbe Sonnen vor einem schwarzen Hintergrund. Sie standen viel zu dicht zusammen, um nicht miteinander verbunden zu sein. Eine wies einen Durchmesser von 1,5 Millionen Kilometern auf, die andere war um zehn Prozent kleiner. Sie wurden jeweils von einem einzigen Planeten umkreist. Die Welt um die größere Sonne hatte ungefähr die Abmessungen des Kristallplaneten und umlief ihr Gestirn in einer lebensfreundlichen Entfernung von 150 Millionen Kilometern. Der Planet um die
kleinere Sonne war dagegen winzig. Schon die ersten Daten zeigten, dass es sich um einen öden Gesteinsbrocken handelte, auf dem nichts gedieh. Die Ortungseinrichtungen arbeiteten auf Hochtouren und lieferten eine Schwemme von Messergebnissen. »Eine Extrapolation zeigt, dass sich die Sonnen umkreisen.« Dar-Fi nickte. Ein typisches Doppelsternsystem, wie er schon zahlreiche in der Galaxis gesehen hatte. Nur die Aufteilung der Planeten war höchst ungewöhnlich. Es grenzte an ein Wunder, dass sie bei den ständigen Gravitationsveränderungen in dem System nicht längst aus ihren Bahnen ausgebrochen und in eine der Sonnen gestürzt oder in den Leerraum abgedriftet waren. »Wir erhalten ungewöhnliche Dimensionskonstanten.« »Dieses Sonnensystem ist in der Raum-Zeit verschoben.« »Umso erstaunlicher, dass anscheinend die gleichen physikalischen Verhältnisse herrschen wie bei uns.« Die Wissenschaftler überschlugen sich fast vor Begeisterung. Nichts war von ihrer Empörung über Dar-Fis Vorstoß geblieben. Dass das Jagdboot nicht beim Einflug in das Dimensionstor zerstört worden war, hatte ihre Ängste zerstreut. Der Kommandant dachte pragmatischer. »Existiert hier nur dieses eine Sonnensystem?« Auf dem Plasmabildschirm zeichnete sich das vertraute Schwarz des Weltalls ab, doch es waren keine Sterne zu sehen. In dieser Dimension schien das Universum bis auf ein einzelnes Sternensystem leer zu sein. »Die astronomische Abteilung empfängt keine Emissionen, nicht einmal Hintergrundstrahlung. Das ist unmöglich.« »Die Massetaster registrieren ebenfalls keine weiteren Raumkörper. Man könnte auf die Idee kommen, dass die Langstreckensensoren nicht funktionieren. Dabei arbeiten sie einwandfrei.« »Also gibt es wirklich nichts.« Der Kommandant hielt das für eine voreilige Schlussfolgerung. In dieser Dimension konnten durchaus Bedingungen herrschen, mit
denen die Ortungseinrichtungen der Ewigen nichts anfangen konnten. Wie bei dem Doppelsternsystem musste man vielleicht in unmittelbare Nähe von Sonnen kommen, um sie anmessen zu können. »Wir brauchen Namen für die Sternkataloge«, forderte ein Wissenschaftler. »Bei aller Bescheidenheit schlage ich vor …« »Ich taufe die größere Sonne auf den Namen Dar«, fiel ihm der Kommandant ins Wort. »Und die kleine auf den Namen Fi.« »Das ist … angemessen.« Die Stimme des Mannes sagte etwas anderes. Zumindest einen der beiden Sterne hätte er gern nach sich benannt gesehen. Dar-Fi legte im Grund keinen Wert auf eine solche Ehre, doch er gönnte den Forschern diesen Triumph nicht. Es war nicht seine Idee gewesen, sie mit auf die Mission zu nehmen. Sie gingen ihm auf die Nerven. Der Anblick auf dem Bildschirm war ungewohnt. Er schrie geradezu danach, sich mit der GLANZ DES KRISTALLPLANETEN auf den Weg zu machen, um nach weiteren Sternensystemen zu suchen. Ein jüngerer Kommandant als Dar-Fi hätte sich vielleicht von diesem Trieb leiten lassen, er selbst konzentrierte sich auf das nahe Liegende. Das Doppelsternsystem musste für die DYNASTIE DER EWIGEN in Besitz genommen werden. Besaß man in dieser Dimension erst einen Brückenkopf, waren folgende Expeditionen nicht mehr als ein Kinderspiel. Hier gab es zweifellos keine Gkirr. Wer also sollte sich den Ewigen in den Weg stellen? »Die Optiken liefern Aufnahmen der Oberfläche.« Neue Schirmraster entstanden, auf denen Ausschnitte des Dar umkreisenden Planeten dargestellt wurden. Es war eine trockene, sandige Welt. Neben vereinzelten Meeren, die nicht untereinander verbunden waren, wurde sie von gewaltigen Gebirgszügen geprägt. Die höchsten Gipfel ragten bis zu fünfzehn Kilometer auf, gigantische, zerklüftete Dächer von rauer Schönheit. »Die Bioscanner zeigen Leben an.« Die Meldung überraschte Dar-Fi nicht. Inmitten der Berge hatte er Strukturen entdeckt, die eindeutig künstlichen Ursprungs waren. Obwohl sie in die natürlichen Gegebenheiten eingefügt waren,
handelte es sich um Städte. Sie wirkten auf ihn grob und ungeschlacht. Archaisch. Es waren keine kühnen, architektonisch hochstehenden Bauwerke, wie er sie von daheim kannte, sondern sie erweckten den Eindruck, von den Angehörigen eines Naturvolks mit bloßen Händen in die Berge gegraben worden zu sein. Primitive Wesen. Da hatte die DYNASTIE leichtes Spiel. »Rohstoffvorkommen?« Die Bestätigung kam prompt. Ein Cyborg leierte eine Liste herunter, die Dar-Fi ein Lächeln entlockte. Der Planet strotzte vor Rohstoffen, hinter denen die Ewigen her waren. »Status des Dimensionstores?« »Unverändert etabliert«, frohlockte einer der Wissenschaftler. »Keine Probleme, wie erwartet.« »Die Optiken erfassen Flugwesen zwischen den Felsen«, meldete ein Cyborg. »Maximale Vergrößerung aktiv.« Dar-Fi schürzte die Lippen. Was sah er da? Riesige Vögel? Oder geflügelte Saurier? Jedenfalls waren es Tiere, keinesfalls die primäre Spezies dieser Welt. Die würde er noch früh genug zu Gesicht bekommen. Wer auch immer die waren, angesichts der Landung von Ewigen waren sie unwichtig. »Landung auf Gurdon einleiten.« Das uralte Worte aus der Sprache der DYNASTIE bedeutete so viel wie Ankunft. Kaum jemand benutzte es heute noch. Es schien Dar-Fi passend. In diesem Universum … Dar-Fi konkretisierte seinen Gedanken … in dieser Dimension kamen die Ewigen wirklich ganz neu an. Und ihm war dieser Schritt vorbehalten. Es wurde Zeit, dass er sich innerhalb der DYNASTIE für andere Aufgaben empfahl, doch daran konnte er später denken. Er wählte für die Landung eine Hochebene, die weit genug war, das Jagdboot aufzunehmen. Ein erhabenes Gefühl durchströmte Dar-Fi, als er die neue Welt an der Spitze einer Abteilung Cyborgs für die DYNASTIE DER EWIGEN in Besitz nahm. Er stand unter einem goldenen Himmel. In der Höhe kreuzten die geflügelten Tiere.
»Die Viecher greifen an!« Sofort scharten sich die Cyborgs um ihren Herrn, um ihn gegen die Attacke aus der Luft zu schützen. Ein halbes Dutzend der geflügelten Tiere stieß aus der Höhe herab. Dar-Fi verzichtete darauf, sich auszumalen, ob die Neugier sie trieb oder der Hunger. Er eignete sich nicht als Beute für Fleisch fressende Wildtiere. Die Cyborgs zogen ihre E-Blaster. Ein oder zwei Volltreffer sollten ausreichen, den Angreifern Respekt beizubringen. Es kam nicht dazu. Zu Dar-Fis Überraschung drehten die Geflügelten ab, bevor der erste Schuss fiel. In zweihundert Metern Entfernung landeten sie und steckten die Köpfe zusammen. Nach einer kurzen Zusammenkunft setzten sie sich wieder in Bewegung. »Sie kommen, Herr.« »Nicht schießen!« Ein eigenartiges Gefühl beschlich den Beta. Die Wesen wirkten intelligent auf ihn. Er konnte keinen bestimmten Grund dafür nennen. Vielleicht lag es an der besonnen Art ihres Näherkommens. Nach der Hälfte der Strecke erkannte er, dass er sich auch in ihrer Klassifizierung vertan hatte. Weder handelte es sich um große Vögel noch um Flugsaurier. Es waren … Drachen. Dar-Fi hatte schon viele Völker kennen gelernt, doch Drachen hatten für ihn stets ins Reich der Legende gehört. Diese hier waren groß. Der Größte von ihnen maß an die dreieinhalb Meter, die fünf anderen standen ihm nur wenig nach. Ihre grünen Panzer mit den brauen Maserungen wirkten beeindruckend, ebenso ihre stämmigen Schwänze und die Krallen an ihren Händen und Füßen. Sie trugen keine Kleidung, was allein sie in seinen Augen bereits zu Primitiven machte. Wenige Meter vor dem Ewigen blieben sie stehen. Der Große war anscheinend der Anführer. Er hob einen Arm und gab ein paar gutturale Laute von sich. Mit einem zwiespältigen Gefühl betrachtete Dar-Fi den mächtigen Schwanz und die Hörner auf dem
Rückenkamm des Wesens. Am Furcht einflößendsten waren die langen Reihen spitzer Zähne. Das ganze Geschöpf war eine einzige Waffe. Der Auffassung waren auch die Cyborgs. Der Beta registrierte ihre Nervosität. Sie fürchteten, dass sich der Drache im nächsten Moment auf ihren Herrn stürzen würde. Keiner von ihnen ließ seinen Blaster sinken. Sie waren bereit, sich zwischen den Ewigen und die Geschuppten zu werfen. Wieder gab der große Drache eine Folge kehliger Laute von sich. »Translator!«, zischte Dar-Fi. »Sie wollen uns etwas sagen.« Kein Cyborg hätte gewagt, Zweifel daran zu äußern. Sofort wurde das angeforderte Gerät aktiviert. Es brauchte nicht lange, um die unbekannte Sprache zu analysieren. Sie war vergleichsweise einfach aufgebaut. Dar-Fi nahm den Translator an sich. »Kannst du mich verstehen?« Ein Raunen ging durch die Reihen der Drachen. Sie drehten ihre Hälse und steckten die Köpfe zusammen. Als ihr Anführer das Drachenmaul öffnete, wurden aus seinem kehligen Grollen verständliche Worte in der Sprache der Ewigen. »Ich bin Gundar vom Rat der weisen Geschuppten. Wir begrüßen euch, Fremde.« Für einen Moment verschlug es dem Beta die Sprache. Das Wesen redete zu ihm. Ohne lange zu überlegen, antwortete er im gleichen schlichten Duktus. »Ich bin Dar-Fi von der DYNASTIE DER EWIGEN.« Sein Worte lösten ein grollendes Lachen aus. »Woher kommt ihr?« Gundar schaute nach oben. »Zweifellos von jenseits des Himmels. Aus einer anderen Welt in der Unendlichkeit.« Dar-Fis Verblüffung wuchs. Zweifellos kannten diese Primitiven weder Raumfahrt noch halbwegs fortschrittliche Astronomie. Trotzdem schien es für sie festzustehen, dass es andere bewohnte Welten gab. Der Beta war auf vielen bewohnten Planeten mit ähnlich niedrig stehenden Bewohnern gelandet. Fast ausnahmslos hatten sie entweder mit Furcht oder aggressiv reagiert. Das änderte allerdings nichts an seiner Einstellung zu den Drachen. Ihre
Primitivität war unübersehbar. Sie vermochten die Ewigen nicht aufzuhalten. »Du hast Recht. Doch sage mir, wie ihr diesen Planeten nennt.« »Dies ist das Drachenland.« Dar-Fi grinste. Drachenland. Simpel. Geradezu einfältig. Allein die Namensgebung dieser Welt warf ein bezeichnendes Licht auf den Entwicklungsstand seiner Einwohner. »Gibt es außer euch noch andere Wesen?« »Wir sind die Drachen. Wir sind allein.« »Jetzt nicht mehr«, rutschte es dem Beta heraus. Die kleinen Augen Gundars musterten ihn aufmerksam. »Wieso seid ihr gekommen?« »Du sprachst von einem Rat«, wich Dar-Fi aus. »Vom Rat der weisen Geschuppten. Ihm gehöre ich an. Seine Hallen befinden sich im Berg hinter uns.« Der Beta lächelte. Das alles ging viel zu einfach vonstatten. Es war der reinste Spaziergang. Da war er wahrlich anderes gewöhnt. »Führe mich dorthin. Ich werde zu euch allen sprechen.« »Ihr könnt nicht fliegen«, hielt ihm Gundar entgegen. »Du irrst dich.« Dar-Fi ließ drei mit Cyborgs bemannte Schweber aus seinem Schiff ausschleusen. Nichts konnte ihn noch aufhalten.
Die Drachen führten Dar-Fis Delegation zu einem nur wenige Kilometer entfernt gelegenen Tafelberg, der von einem prächtigen Bauwerk gekrönt wurde. Einst Teil des Berges, war er zur Gänze aus dem Gestein geschlagen. Aus der Luft war ein Konglomerat verschachtelter Trakte zu erkennen, die von Arkadenbögen gesäumt wurden und mit Emporen, Erkern und Fialen verziert waren. Steinerne Brücken verbanden Mauern und Türme, sehr alt offensichtlich. Die kühne und teilweise zerbrechlich wirkende Architektur passte nicht recht zu diesen grobschlächtigen Wesen, in denen Dar-Fi nicht viel mehr sah als in seinen sklavisch ergebenen Cyborgs.
Die Schweber landeten auf einem freien Platz, hinter dem sich von Strebepfeilern getragene Steinkuppeln erhoben. »Ich mahne zur Vorsicht, Herr. Überall sind diese Drachen.« Manche von ihnen waren an die fünf Meter groß. Nun, da er sich von seiner ersten Überraschung erholt hatte, nötigten sie Dar-Fi keinen Respekt mehr ab. Körperliche Abmessungen hatten nichts mit wahrer Größe zu tun. Groß war allein die DYNASTIE mit ihren Ewigen. Im Licht der beiden hoch am Himmel stehenden Sonnen waren die Drachen hingegen nicht mehr als Maden. Sklaven wie so viele andere. Sie wussten es nur noch nicht. Gundar führte den Besucher durch ein Tor und eine Halle zu einem unscheinbaren Durchgang. Ein kuppelartiger Gewölbedom schloss sich daran an. Bis auf einen runden, gänzlich aus Stein gemeißelten Tisch gab es keine Einrichtung, auch keine Dekoration. Dar-Fi kam sich vor wie in einer Gruft. »Der Rat der weisen Geschuppten.« Gundar deutete mit seinen Krallen zu dem Tisch mit sieben Sitzgelegenheiten. Sechs Drachen saßen um ihn versammelt. Er selbst nahm den einzigen freien Platz ein. »Unser Freund Dar-Fi von der DYNASTIE DER EWIGEN.« Freund, dachte der Beta verächtlich. Dargg-Hunde hatten auch keine Chance, jemals seine Freunde zu werden. Dabei waren die knurrigen Vierbeiner viel mehr wert, weil sie dem Kristallplaneten entstammten. »Wir kommen nicht als Freunde.« Seine Stimme hatte jegliche Verbindlichkeit verloren. »Die DYNASTIE kommt, um sich zu nehmen, was ihr zusteht.« »Ich verstehe dich nicht.« »Du wirst mich schon bald verstehen. Das Drachenland gehört von heute an der DYNASTIE.« Der Beta machte eine die Cyborgs in seinem Gefolge umfassende Geste. »Ihr werdet uns so verehren und zu Diensten sein, wie sie es tun.« Verständnislos redeten die Ratsmitglieder aufeinander ein. Ihre Dummheit ließ Dar-Fi kalt. Zu oft hatte er ähnliche Situationen erlebt. Bisher hatte sich noch jedes Volk der DYNASTIE
gefügt. Im Vergleich zu den Drachen waren manche davon mächtig gewesen. Doch nichts und niemand widerstand der Macht der Ewigen. »Schon bald schicken wir weitere Schiffe«, kündigte er an. »Sie werden Maschinen bringen, mit denen wir die Bodenschätze dieses Planeten abbauen.« Einer der Drachen erhob sich. Es war unmöglich, in seinem geschuppten Gesicht zu lesen. Er zögerte, als bereitete es ihm Mühe, die richtigen Worte zu finden. »Was du sagst, ist uns fremd. Wir hatten nie zuvor Besucher, doch wir wussten, dass sie eines Tages kommen. Als Freunde! Du sagst, ihr kommt nicht als Freunde?« »Du hast es begriffen. Meine Cyborgs bleiben hier, während ich zu meinem Schiff zurückkehre. Sie werden euch zeigen, was ihr zu tun habt.« Dar-Fi wandte sich von der Versammlung ab, um seine Ankündigung in die Tat umzusetzen. »Ihr seid uns nicht länger willkommen«, hielten ihn die Worte des Drachen zurück. »Bitte, geht. Verlasst das Drachenland!« Dar-Fi seufzte. Einen Narren gab es immer. Einen musste es geben, damit die anderen begriffen. Er zog seinen Blaster und erschoss den Drachen. Dann kehrte er zu seinem Schiff zurück.
6. Feuersturm Zamorras Gesicht hatte sich zu einer starren Maske verhärtet. »Diese verdammten Ewigen.« »Sie nehmen sich, was sie kriegen können«, pflichtete Gryf ihm bei. »Ich wage mir nicht vorzustellen, was sie auf der Erde angestellt hätten, wäre einer ihrer Invasionsversuche gelungen.« »Sie alle wären Sklaven«, mischte sich Clyr ein. »So wie wir alle es waren. Doch unser Beispiel zeigt, dass man sich von der Unterdrückung der Ewigen befreien kann.« Der Druide war anderer Meinung. »Davonlaufen und sich vor ihnen verstecken ist ja wohl kaum eine Befreiung aus der Unterdrückung. Zamorra, Ted Ewigk und andere haben gegen die Ewigen gekämpft.« »Und mit ihnen kooperiert. Besonders Ewigk, der selbst ERHABENER war.« »Ted gehörte niemals zu den Aggressoren«, verteidigte der Dämonenjäger seinen verschollenen Freund. »Mit ihm an der Spitze der DYNASTIE DER EWIGEN gab es keine Invasion wie im Drachenland. Er versuchte stets, einen gemäßigten Kurs zu fahren.« »Aber nicht uns Cyborgs gegenüber. Finden Sie das moralisch, Professor?« »Wir sind nicht hier, um über Moral zu diskutieren, Clyr. Vielleicht bekommen wir später einmal Gelegenheit dazu.« Der Kommandant der FREIHEIT lächelte. »Ich würde Ihnen diese Möglichkeit, sich für ihre Parteinahme auf Ocron zu rechtfertigen, gern geben.« Zamorra schluckte die Kröte. Aus seiner Sicht hatte Clyr Recht. Er, Zamorra, hatte mit Al Cairo paktiert. Zwar hatte er seine guten Gründe dafür gehabt, doch das änderte nichts an den Fakten. Der Professor selbst sah das anders. »Wir haben auf Ocron wichtige Informationen über die Geschichte
der Ewigen erlangt. Eines Tages können wir die vielleicht gegen die DYNASTIE einsetzen.« »Wie ist die versteckte Datei eigentlich nach Ocron gelangt?«, überlegte Gryf. »Darüber hat Al Cairo kein Wort verloren, oder?« »Nein. Wenn er das wusste, hat er es für sich behalten.« Zamorra traute dem arroganten Alpha nicht. Er konnte nicht sagen, ob er sich Cairo – wie hehr die Gründe auch sein mochten – ein weiteres Mal anschließen würde. Ted hatte das zwar getan, doch er und Cairo hatten bereits Seite an Seite gestanden, als Ewigk ERHABENER gewesen war. »Kannst du uns das sagen, Clyr?« »Es gibt … Hinweise.« Zamorra horchte auf. Er hatte nicht mit einer positiven Antwort auf Gryfs Frage gerechnet. »Du weißt es wirklich?« »Ich sagte bereits, dass ich mir vieles zusammenreimen musste. Der bisherige Teil meines Berichts ist definitiv richtig.« »Und nun folgen Vermutungen, Ahnungen und Spekulationen.« Clyr warf dem Druiden einen unergründlichen Blick zu. »Logische Schlussfolgerungen«, verbesserte er. »Sie fußen auf zwar umfangreichem, doch leider nur bruchstückhaft erhaltenem Datenmaterial. Im damaligen Krieg ist viel verloren gegangen. Anderes wurde aus bestimmten Gründen versteckt.« »Wie die Datei auf Ocron.« Zamorra nickte. »Ich frage mich, wer dafür verantwortlich ist.« »Die Drachen.« Zamorra, und Gryf starrten sich an, um wie aus einem Mund zu fragen: »Die Drachen waren in unserer Dimension?« »In gewissem Sinne, ja. Auch die Gkirr hatten ihren Anteil an der Datei.« »Die Gkirr? Wie passen die denn jetzt ins Bild?« Sicher, verwilderte Gkirr trieben sich auf Ocron herum. Außerdem wurde der Planet von ihnen gesichert. Doch es gelang Zamorra nicht, auch nur zwei Teile dieses Puzzles zusammenzusetzen. »Mal langsam, Alter«, fuhr Gryf ihm in die Parade. »Ich schlage vor, Clyr berichtet der Reihe nach weiter, bevor ich den Faden verliere.«
»Gute Idee«, stimmte der Cyborg zu. »Also schön, doch zunächst sehe ich nach Nicole.« Der Zustand seiner Gefährtin war unverändert. Behutsam träufelte Zamorra ihr etwas Wasser ein. Mehr konnte er nicht für sie tun. Daher begab er sich wieder in die Lenkzentrale des Jägers. Clyr setzte seinen Bericht fort.
Vergangenheit Wo noch vor kurzem eine im Sonnenlicht funkelnde Sandebene gelegen hatte, gähnte ein kilometerweiter Krater. Unsichtbare Transportfelder hoben riesige Brocken von etwas an die Oberfläche, das den Drachen unbekannt war. Die Ewigen sprachen von wertvollen Rohstoffen. Die erbeuteten Materialien wurden an Bord von Transportschiffen verladen, die starteten, sobald ihre Laderäume gefüllt waren. Sie zerstören unsere Heimat, wenn wir ihnen nicht Einhalt gebieten. Sirgar hatte die Stelle des getöteten Ratsmitglieds eingenommen. Gemeinsam mit Gundar und den fünf anderen stand er auf einer Anhöhe, von der aus das ganze Ausmaß der Zerstörung zu sehen war. Ähnlich sah es an anderen Stellen des Drachenlandes aus. Wir können sie nicht aufhalten. Wie sollen wir das tun? Indem wie sie bekämpfen. Wenn sie nicht freiwillig gehen, jagen wir sie davon. Wie üblich, wenn sie unter sich waren, unterhielten die Drachen sich in ihrer telepathischen Sprache. Kämpfen? Gundar war verblüfft. Du sprichst von kämpfen? Kampf war nie unser Weg. Nicht einmal, wenn Drachen in einen ernsthaften Streit gerieten, eskalierte die Situation jemals. Bevor es dazu kam, gingen die Streitenden auseinander und sich künftig so lange aus dem Weg, bis Sand über die Sache geweht war. Ich stimme dir zu. Bisher nicht. Doch anscheinend sind wir an einem
Wendepunkt in unserer Geschichte angelangt. Wenn wir nicht fähig sind zu kämpfen, werden wir untergehen. Wir dürfen das nicht, schlug sich Gardir auf Gundars Seite. Mit seinem Freund Fafnir stand er ein wenig abseits der restlichen Ratsmitglieder. Gundar wunderte sich, ausgerechnet von ihm Unterstützung zu bekommen. Sonst waren ihm Gardir und Fafnir nicht wohlgesonnen. Ständig opponierten sie und hatten ihre eigenen Ziele. Von euch habe ich nichts anderes erwartet, brauste Sirgar auf. Denkt ihr, ich habe nicht bemerkt, dass ihr mit den Ewigen sympathisiert und die schwarzen Männer unterstützt, wenn ihr euch unbeobachtet fühlt. Was versprecht ihr euch davon? »Deine Behauptung ist ungeheuerlich!« Schnaubend verfiel Gardir ins gesprochene Wort. »Die Ewigen verhalten sich uns gegenüber jedenfalls nicht so herablassend wie du. Sie respektieren uns.« Unsinn! Gundars Nackenkamm zuckte heftig. Sie respektieren uns nicht. Ihre schwarzen Männer haben Drachen getötet. Sie sind unsere Gäste, doch sie benehmen sich nicht wie Gäste. Gundar konnte sich Sirgars Vorwürfen nicht verschließen. Auch er selbst hatte den Verdacht, dass Gardir und Fafnir mit den Ewigen und ihren Helfern gemeinsame Sache machten. Unterstütze mich, Gundar, forderte Sirgar. Du bist am längsten im Rat. Auf dich werden die Drachen hören, und der Rest des Rates ebenfalls. Die drei Angesprochenen, Haggi, Frien und Wustan, hielten sich wie meist aus den Diskussionen heraus. Gundar hielt sie nicht für fähig, wichtige Entscheidungen zu treffen. Andererseits bedeutete ihre Zurückhaltung vielleicht Weisheit. Die Ewigen waren gekommen, sie würden auch wieder gehen. Drachen lebten lange, sehr lange. Da konnten die Ewigen bestimmt nicht mithalten. Oder etwa doch? Zum ersten Mal fragte sich Gundar, wieso sie diesen Namen trugen. Verhieß er etwa, dass sie ewig lebten? In dem Fall musste man sich im Drachenland vielleicht noch sehr, sehr lange mit ihnen herumschlagen. Ich verstehe dich, Sirgar. Gundar fühlte sich innerlich zerrissen. Trotzdem kann ich nicht tun, was du verlangst. Kampf ist nicht unsere
Sache. Immer waren die Drachen friedliebend. Wir dürfen das nicht ändern. Lasst uns in die Ratshöhle zurückkehren. Das trostlose Bild in der Ebene schlug ihm aufs Gemüt. Er machte Anstalten, sich in die Luft zu erheben. Haggi, Frien und Wustan schlossen sich ihm an. Sirgar verschränkte seine Arme vor der Brust und spähte in die Weite hinaus. Ich bleibe, während du dir Gedanken machen solltest. Tue es. Später unterhalten wir uns noch einmal. Gundar breitete seine Flügel aus und stieß sich vom Boden ab. Er achtete nicht auf Gardir und Fafnir. Sie waren ihm gleichgültig. Sie hatten ihre Meinung offen dargelegt. Seine Gedanken trieben durcheinander. Ein wenig fürchtete er sich vor der nächsten Unterhaltung mit Sirgar, weil er keine wirklichen Argumente gegen dessen Forderungen hatte. Vielleicht fiel ihm bis später noch eine Erwiderung ein. Gundar konnte nicht ahnen, dass es kein Später mehr gab.
Den ganzen Tag über grübelte Gundar. Und wenn Sirgar nun doch Recht hatte? Unzählige Jahrtausende hatten die Drachen in Frieden gelebt – und allein. Ihren ersten Besuch von anderen Wesen aus der großen Schwärze hatten sie sich stets anders vorgestellt. Alles hatte sich verändert. Ihre Erwartungen waren enttäuscht worden. Vor seinen Augen sah er das Drachenland bluten. Krater wie der in der Sandebene hinter den Bergen waren wie Wunden, die, einmal geschlagen, nie wieder verheilen würden. Er schreckte hoch, als Frien in die Ratshöhle gestürzt kam. Es ist etwas Schreckliches passiert. Helle Alarmglöckchen klangen in Gundar. Was? Wo? Draußen in der Ebene. Dort, wo wir mittags waren. Sirgar ist … Friens telepathische Stimme versagte. Mit einem heftigen Zucken seiner Flügel flatterte Gundar über den Tisch. Ein übermächtiges Gefühl von Furcht griff nach ihm. Er schaffte es nicht, seine schlimmste Befürchtung zu besiegen. Es war mehr eine Ahnung.
Er stürzte aus der Ratshöhle und jagte himmelwärts. Ein schwarzer Schatten senkte sich ins Drachenland hinab. Ein Schiff der Ewigen. Es entfachte einen Windsturm und verschwand hinter den Bergen. Gundar hatte sich längst an den Anblick gewöhnt. Starts und Landungen waren zu einem vertrauten Anblick geworden. Er vermutete, dass es den Krater ansteuerte. Sein Flug leitete ihn in dieselbe Richtung. Ohne ihnen einen Blick zu gönnen, wie er es sonst immer tat, überwand er die bizarren Felsformationen und die tiefen Klüfte. Je näher er seinem Ziel kam, desto mehr verwandelte sich seine Ahnung in Gewissheit. Bis er sie schließlich vor Augen hatte. Sirgar lag 500 Meter unterhalb der Anhöhe, auf der sie gemeinsam gestanden hatten. Sein Körper war zerschmettert, seine Flügel gebrochen. Neben zahlreichen anderen Drachen waren auch Gardir und Fafnir da. Teilnahmslos standen sie neben dem toten Ratsmitglied. Was ist geschehen?, fragte er. Anscheinend ist er abgestürzt. Gundar schaute Gardir scharf an. Abgestürzt? Sirgar war ein virtuoser Flieger, wagemutiger als die meisten. »Nun hat ihn sein Wagemut das Leben gekostet.« Gundar mochte die überheblich ausgestoßenen Worte nicht. Er hatte einen ganz anderen Verdacht, der sich auf schreckliche Weise erhärtete, als Fafnir ein hämisches Lächeln nur unzureichend verstecken konnte. Ihr habt ihn getötet! Gundar unterdrückte seine telepathische Botschaft. Mit einem Schrei stieß er sich vom Boden ab und glitt über den Sand der Ebene dahin. Mit einem Mal wusste er, was er zu tun hatte. Das Raumschiff, dessen Landeanflug er gesehen hatte, schwebte ein paar hundert Meter über dem Krater. Dessen Ränder sahen aus wie die Umrisse eines riesigen Mauls. In mehreren Etagen fraßen sich Maschinen in die Gesteinsschichten, wirbelten Erdreich auf und schleuderten es in die Luft. Überall standen Wolken aus Dreck. Wie hatte er seine Augen nur so lange vor der Wirklichkeit
verschließen können? Sirgars Forderung, sich gegen die Ewigen aufzulehnen, war gerechtfertigt gewesen. Er hatte sie mit seinem Leben bezahlt. Daher musste jemand an seine Stelle treten, jemand, der mehr Einfluss beim Drachenvolk besaß. Gundar änderte seinen Kurs, als er eine Gruppe schwarzer Männer entdeckte. Sie standen auf einem ins Erdreich geschnittenen Sims. Die Helfershelfer der Ewigen zeigten mit keiner Regung, dass sie seine Annäherung bemerkten. Als er sie beinahe erreicht hatte, sah einer von ihnen auf. Was taten sie da? Es ließ sich nicht erkennen. Möglicherweise überwachten sie die Arbeit der Maschinen. Das werde ich euch austreiben! Sie konnten seine Nachricht nicht empfangen. Gundar wurde klar, dass die telepathische Sprache der Drachen eine Waffe gegen die Eindringlinge war. Nicht nur die. Die Drachen besaßen weitere Waffen, von denen die Ewigen und die schwarzen Männer nichts ahnten. Es wurde Zeit, dass sie sie kennen lernten. Er riss sein Maul auf und jagte einen Feuerstoß hinaus. Sechs seiner Feinde wurden von der flammenden Lohe erwischt. Er erwartete ihr Schreien, doch sie gaben keinen Laut von sich, als sie sich in Fackeln verwandelten. Diejenigen, die er nicht erwischt hatte, griffen nach ihren Waffen, deren Wirkung Gundar bereits kannte. Er ließ ihnen nicht die Zeit, sie einzusetzen. Mit einem breit gefächerten Feuerschwall fegte er die schwarzen Männer von den Beinen, bevor auch nur einer von ihnen einen Schuss abgeben konnte. Augenblicke später war keiner von ihnen übrig. Dafür registrierte Gundar andere Bewegungen. Sie stammten von zwei Ewigen. Fauchend warf er sich ihnen entgegen, um sie ebenfalls in Asche zu verwandeln. Im letzten Moment entschied er sich dagegen. Stattdessen entstand in seinem Geist ein Bild. Er entließ es in die Freiheit. Über dem Krater stand nicht länger ein Raumschiff der Ewigen, sondern ein riesiger Drache, fünfzigmal größer als sie es sonst waren. Zu seinem Bedauern konnte Gundar die vor Schreck
geweiteten Augen der beiden Ewigen nicht sehen. Ihre Reaktion zeigte ihm auch so die Panik, in die sie verfielen. Statt sich um ihn zu kümmern, begannen sie, auf ihr eigenes Schiff zu schießen. Gundar staunte, wie leicht sie sich täuschen ließen. Das gab ihm Hoffnung. Ein greller Blitz warnte ihn. Das Schiff in der Luft begann sich zu neigen. Mit ihren kleinen Waffen konnten die Ewigen es kaum beschädigt haben – es sei denn, sie hatten eine wichtige Einrichtung getroffen. Vielleicht den Antrieb, der es hergebracht hatte? Gundar raste seitlich davon und brachte sich über den Rand des Kraters in Sicherheit. Dabei vernachlässigte er das aufgebaute Bild. Aus dem Riesendrachen wurde wieder ein Raumschiff. Für die beiden Ewigen kam diese Erkenntnis zu spät. Das Schiff stürzte in den Krater und begrub sie und ihre Maschinen unter sich. Ein Zittern erschütterte das Land. Aufgeregt vibrierte der Sand. Eine kilometerhohe Fontäne aus Dreck und Staub verdunkelte den Himmel. Es ist eure Schuld, dachte Gundar. Was er begonnen hatte, konnte er nicht mehr aufhalten. Im Gegenteil war er entschlossen, einen Flächenbrand zu entzünden. Er floh von der Absturzstelle und rief alle Drachen, die er traf, zum erbitterten Widerstand auf. Tötet die schwarzen Männer! Tötet die Ewigen! Zerstört alles, was ihnen gehört! Von einem Drachen zum anderen wurde Gundars Aufruf weitergeleitet. Den Ewigen stand ein Krieg bevor, wie sie ihn nie zuvor erlebt hatten.
Du bist wahnsinnig! Gardir spie Gift und Galle. Deinetwegen haben viele Drachen den Tod gefunden! Der Vorwurf traf Gundar, weil er stimmte. Ohne ihn würden die Drachen sich nicht auflehnen. Andererseits zwang er sie nicht. Sie folgten ihm aus freien Stücken, so wie es inzwischen auch der Rat der weisen Geschuppten tat. Bis auf zwei seiner Angehörigen.
Wir hatten auch Tote zu beklagen, als wir uns wie Freunde verhielten, hielt er ihnen vor. Ich erinnere euch nur an Sirgar. Sirgar war ein Narr, der keinen Weitblick hatte!, keifte Fafnir. Nur deshalb ist er gestorben. Du bist ebenfalls ein Narr. Wollt ihr Gundar deshalb töten?, mischte sich Wustan ein. So wie ihr es mit Sirgar getan habt? Die Stimmung in der versteckten Höhle war aufgeheizt, während im ganzen Drachenland die Drachen den Eindringlingen mit kleinen Nadelstichen das Leben schwer machten. Gleichzeitig sammelten sie sämtliche Informationen über die Ewigen, die sie bekommen konnten. In dieser Hinsicht waren Drachen hilfreich, die ein doppeltes Spiel trieben. Sie erfuhren eine Menge über die Geschichte der Ewigen, von der einige der Eroberer voller Stolz berichteten. Gundars Eindruck beim Krater hatte sich rasch bestätigt. Gegen die besonderen Fähigkeiten der Drachen waren die Ewigen ratlos. Keiner von ihnen ließ sich mehr sehen. Sie schickten nur noch die schwarzen Männer. Auch die taten sich schwer. Denn die Drachen versteckten sich in den ausgedehnten Höhlensystemen in den Bergen. Die Raumschiffe beschossen die Berge zwar mit ihren mächtigen Waffen, drangen aber nicht bis zu den Höhlen vor. Auch Gardir und Fafnir spielten ein doppeltes Spiel. Im Gegensatz zu ihren Brüdern taten sie das nicht zum Wohle sämtlicher Drachen, sondern aus persönlichem Eigennutz. Davon war Gundar überzeugt. Wir haben über euch zu Gericht gesessen. In unserer Abwesenheit? Das ist unerhört. Hass schwang in Gardirs Stimme mit. Ihr könnt nichts gegen uns unternehmen. Wir sind Ratsmitglieder wie ihr. Ihr gehört dem Rat nicht länger an. Wir können euch nicht mehr trauen. Deshalb haben wir euch ausgeschlossen. Fafnirs Schwanz peitschte den Boden. Ein tiefes Grollen entrang sich seiner Kehle. Ohne Vorwarnung sprang Gardir. Ich werde dich töten wie Sirgar. Ich hätte es bereits draußen in der Ebene tun sollen. Gundar brachte sich mit einem geistesgegenwärtigen Satz vor den
ausgefahrenen Krallen in Sicherheit. Sofort setzte sein Angreifer nach und unternahm eine weitere Attacke. Von einem knackenden blauen Strahl getroffen, erschlaffte er mitten im Sprung. Nachdenklich wiegte Gundar den Blaster in der Hand, den sie einem verbrannten Helfer der Ewigen abgenommen hatten. Was für ein Glück, dass sich diese Waffen nicht nur zum Töten einsetzen ließen. Man konnte sie auch so einstellen, dass sie ihr Opfer nur für eine Weile betäubten. Ansonsten hätte er nicht auf Gardir schießen dürfen, ohne sich selbst schuldig zu machen. Keinem Drachen war es gestattet, einen anderen zu töten. Andernfalls drohte ihm die Verbannung. So wie Gardir und Fafnir. Er hat seine Schuld zugegeben. Ihr habt einen Drachen ermordet und wisst, welche Strafe darauf steht. Die Verbannung aus dem Drachenland für eintausend Jahre. Fafnir stierte ungläubig vor sich hin. Er schaffte es nicht, etwas zu seiner Verteidigung vorzubringen. Angesichts der erhobenen Waffe wagte er auch keinen Angriff. Du schweigst? Ein trotziger Ausdruck trat in Fafnirs Augen. Ihr könnt uns fortschicken, doch wir werden zurückkommen. Die Ewigen werden siegen. Sie werden alle, die ihnen geholfen haben, reich belohnen. Angewidert wandte Gundar sich ab. Es gab nichts mehr zu sagen. Die Drachen waren in der Lage, mittels ihres Geistes Weltentore zu erschaffen, die durch Raum, Zeit und Dimensionen reichten. Auf diese Art hatten sie in den zurückliegenden Jahrtausenden in verschiedene Welten geblickt. In eine davon würden sie ihre beiden für schuldig befundenen Brüder schicken. Wohin werdet ihr uns senden? Gundar sah Fafnir verweisend an. Zur Erde. Es war die Ironie des Schicksals, dass die Ewigen ausgerechnet von dieser Welt stammten. Doch das konnte Gundar ja nicht ahnen.
Er raste dicht über dem Boden dahin, verborgen vor den Optiken der Ewigen. Mit ihren bescheidenen Mitteln hatten sich die Drachen auf die überlegene Technik der Ewigen eingestellt. Sie nutzen das, was sich ihnen bot. Natürliche Gegebenheiten. Ihren unbändigen Willen. Und eine weitere Fähigkeit, die sie allein nicht einsetzen konnten. Die Stärke dazu brachten sie nur in einer großen Gruppe auf. Gundar sah sich um. Er war nicht allein. An die 200 Drachen begleiteten ihn. Er blickte zum fernen Horizont, hinter dem zu verschwinden, die Sonne sich anschickte. Dämmerung senkte sich über das Land. Rote Bänder streckten sich über den Himmel und schufen eine sinnverwirrende Atmosphäre, mit der die Drachen aufwuchsen. Gundar erhoffte sich davon einen Vorteil. In der Ferne erhob sich ein stählernes Monstrum in die Höhe. Der Turm stand in der Mitte einer kreisrunden Fläche, die die schwarzen Männer aus dem Sand geschmolzen hatten. Tagsüber funkelte sie im Sonnenlicht, nachts schimmerte sie in absolutem Schwarz. Ringschiffe landeten und starteten dort. Auch jetzt waren drei Schiffe auf dem Feld geparkt. Eine trügerische Ruhe herrschte. Gundar machte sich nichts vor. Die Ewigen und ihre Helfer besaßen Augen, die künstlichen Ursprungs waren und auch in der Nacht sahen. Nur die Ruhe bewahren, schickte er seine telepathische Stimme aus. Wir tun, was getan werden muss. Ein vielstimmiger stummer Ruf antwortete ihm. Alle waren bereit, das nötige Opfer zu bringen. Gundars Sinne waren auf den Turm gerichtet. Er wünschte, die Worte der Eindringlinge wären ihm nicht verborgen geblieben. Sie waren unfähig, sich telepathisch zu unterhalten. Der Klang ihrer Stimmen reichte nur wenige Meter weit. Späher hatten herausgefunden, dass sich Horden von schwarzen Männern in der Nähe des Turms aufhielten. Vermutlich diente er ihnen als Wohnhöhle. Ausschwärmen!
Zwei Kilometer trennten die Drachen noch von ihrem Ziel, als sie zu beiden Seiten hin ausschwärmten. Gundar behielt seinen direkten Kurs bei. Er verringerte seine Fluggeschwindigkeit, damit die Drachen außen auf den Flügeln genug Zeit hatten, in weitem Bogen auf die andere Seite des Turms zu gelangen. Gundars Aufregung wuchs. Noch waren sie nicht bemerkt worden, sonst hätten die schwarzen Männer längst etwas unternommen. Die Sonne verschwand endgültig hinter dem Horizont. Düsternis umfing das Land. Und wurde plötzlich von einem Lichtstrahl durchbrochen. Wie ein Blitz aus dem Himmel fuhr er durch die Dunkelheit. Er kam von der Spitze des Turms, zitternd, tastend, willkürlich hin und her springend. Gundar sah die meisten seiner Brüder nicht mehr. Bis einer von dem Lichtstrahl erfasst wurde. Sofort folgte ein weiterer Strahl. Todbringend fegte er den Drachen aus der Luft. Erlosch sofort wieder, während das Licht nach einer weiteren Beute suchte. Er verharrte in einem engen Bereich. Die schwarzen Männer begingen einen Fehler. Sie erwarteten einen Angriff aus dieser Richtung. Dass er aus allen Richtungen gleichzeitig kam, ahnten sie nicht. Dass der Angriff ganz anders aussah, als von Feuer speienden Drachen erwartet, schon gar nicht. Sechshundert Meter Distanz! Wie verabredet. Gundar landete und duckte sich in den Sand. Alle 200 Drachen taten es, bezogen in einem großen Kreis Stellung. Seine Stimme drang nicht zu ihnen durch. Wenn sie alle seine Gedanken teilten, war das auch nicht nötig. Gundar konzentrierte sich. Nur ein einziger Wunsch beherrschte noch seine Gedanken, der Wunsch nach Feuer. Nach einem Feuersturm, wie ihn das Drachenland bisher nicht erlebt hatte. Oft hatten sie damit gespielt und niemals ernst damit gemacht. Diesmal waren sie alle beseelt von der zerstörerischen Kraft des Feuers. Ihr gemeinsamer Wille entfachte es. Wie aus dem Nichts lohten Feuerbälle durch die Nacht. Sie tobten, als suchten sie nach einem Ziel. Erst vereinzelt, dann Dutzende,
schließlich Hunderte. Sie expandierten, fanden zueinander. Wurden eins. Der Feuersturm lebte. Nichts vermochte ihn mehr aufzuhalten, als er sich auf sein Ziel richtete. Mit Urgewalt stürzte er sich darauf. Er schluckte den Turm in einer aufwallenden Eruption, verschlang ihn vollständig, ließ nichts zurück. Nur einen Augenaufschlag danach griff er nach den Ringschiffen, verzehrte sie wie Papier. Gundar stieß einen Schrei aus, der die Welt überspannte. Es gelang. Es wirkte. Nicht nur an diesem Ort. Sondern überall im Drachenland, wo die Ewigen und ihre Helfer tätig waren.
Der Dimensionstunnel war etabliert. Die Wissenschaftler an Bord der GLANZ DES KRISTALLPLANETEN hatten sich nicht getäuscht. Dar-Fi beobachtete die Umgebung seines Schiffes auf dem Plasmabildschirm. Auf der anderen Seite, in der eigenen Dimension, hatten sich zwanzig Raumschiffe der DYNASTIE DER EWIGEN eingefunden. Es lag allein an der Zurückhaltung ihrer EwigenKommandanten, dass sie den Tunnel noch nicht benutzt hatten. »Wir messen ungewöhnliche Energieechos auf der anderen Seite an«, meldete der Cyborg, der an den Ortungseinrichtungen seinen Dienst versah. Dar-Fi fühlte sich von der Meldung belästigt. Er war dabei, den Eintritt der versammelten Flotte durch das Dimensionstor zu koordinieren. »Herkunft?« »Die Impulse sind sehr schwach. Eine genaue Klassifizierung lässt noch auf sich warten.« »Hm«, machte der Beta mürrisch. Er wollte Anweisung geben, ihn erst wieder damit zu belästigen, wenn feststand, welchen Ursprung die Impulse hatten, als eine andere Stimme ertönte. »Wir empfangen Aufnahmen einer Sonde, die das Drachenland überwacht. Sie übermittelt Explosionen.«
Augenblicklich hatte Dar-Fi alles andere vergessen. »Auf den Schirm!« Das Schwarz verschwand. Ein gigantischer Feuerball blendete den Kommandanten. Inmitten des Feuers erkannte er die Umrisse von drei Ringraumern, kurz nur, dann hatte die Feuersbrunst sie verschlungen. Der kleine Raumhafen! Was ging da vor sich? Dar-Fi war wie erstarrt. Nur mit Mühe kamen ihm die nächsten Worte über die Lippen. »Kein Funkspruch?« »Negativ, Herr.« Anscheinend waren die Cyborgs nicht mehr dazu gekommen, einen Notruf abzusetzen. Irgendetwas hatte die gesamte Anlage innerhalb von Sekunden vernichtet. Ein Angriff der Drachen? Nein, das war unmöglich. Über Waffen, die eine solche Vernichtung anrichteten, verfügten sie nicht. »Außerplanmäßige Meldungen der Schürfeinrichtungen einholen!«, forderte er. »Ich will von jeder Mine einen Bericht.« Eine solche Katastrophe war den wachhabenden Cyborgs in den planetaren Anlagen sicher nicht entgangen. Dar-Fi hätte im Drachenland gern selbst nach dem Rechten gesehen, doch er war vorsichtig genug, sich nicht in Gefahr zu begeben, solange er nicht wusste, was auf dem Planeten vor sich ging. »Keine Antwort auf unseren Funkspruch, Herr.« »Wie bitte?« Dar-Fi spürte, dass er blass wurde. »Erneut versuchen.« »Das ist bereits geschehen, Herr. Ich fürchte, sämtliche Empfangsstationen sind ausgefallen.« Der Beta hatte das Gefühl, in ein tiefes Loch zu stürzen. Er war für diese Mission verantwortlich. Das hieß auch, dass ihm die Kommandanten der anderen Schiffe zum Gehorsam verpflichtet waren. »Rundspruch an sämtliche Einheiten«, entschied er. »Alle Schiffe benutzen den Dimensionstunnel und fliegen das Drachenland an. Der gesamte Planet ist gründlich zu durchsuchen. Ich erwarte die unverzüglichen Berichte der Kommandanten.«
»Rundspruch wurde abgesetzt«, bestätigte der Cyborg an der Funkanlage. »Die ungewöhnlichen Energieechos sind jetzt deutlicher.« Dar-Fi hörte nur mit einem Ohr hin. Aufmerksam verfolgte er, wie die zwanzig Ewigen-Schiffe nacheinander in den Tunnel einflogen. Es handelte sich ausnahmslos um Jäger und Jagdboote. Die viel größeren Supra-Kreuzer und Schlachtschiffe hätten ihn nicht passieren können. »Sie stammen von Raumschiffen.« »Von Raumschiffen?« Kam da weitere unangekündigte Verstärkung? »Herr, es sind Gkirr. Sie nähern sich mit rasender Geschwindigkeit.« »Gkirr? Hier?« Ein Feuerball breitete sich am anderen Ende des Tunnels aus. Ein Jagdboot, das den Abschluss der Karawane gebildet hatte, war explodiert. Bildete Dar-Fi sich das nur ein, oder sah er tatsächlich die Umrisse der schwarzen Raumgiganten der Gkirr vor dem Hintergrund des Weltraums? Ehe er sich versah, tobte in einer Lichtminute Entfernung eine Raumschlacht. Ein Jäger verging in einer heftigen Explosion. Die Schiffe der Ewigen wehrten sich nach Kräften, doch sie konnten weder zurück noch seitlich ausweichen. »Wenn die Monstren den Tunnel zerstören, sitzen wir in dieser Dimension fest«, entfuhr es ihm. Sofort bereute er den Gefühlsausbruch vor den Cyborgs. Es war unwahrscheinlich, dass der Tunnel an sich Schaden nahm. Doch wenn die Glanz des Kristallplaneten zerstört wurde oder der Dimensionszapfer an Bord Schaden nahm, kollabierte der Übergang, und es gab kein Zurück. »Wir werden gerufen, Herr.« »Ignorieren!« Der Bildschirm zeigte, dass sämtliche Schiffe der Ewigen die Passage beendet hatten. Schon setzten einige Einheiten der Gkirr nach. Zum Glück waren die meisten ihrer Schiffe zu groß, um einzudringen. Das hinderte sie aber nicht daran, auf der anderen Seite zu warten, bis ihr Erzfeind sich wieder herauswagte.
Dar-Fi sah nur eine Möglichkeit. »Dimensionszapfer abschalten!« Die farbigen Lichteffekte erloschen, und mit ihnen der Dimensionstunnel. Dar-Fi fühlte sich von allem abgeschnitten, was ihm etwas bedeutete. Die DYNASTIE DER EWIGEN war weiter fort, als er das jemals für möglich gehalten hätte. Doch es blieb ihm keine Zeit, sich darüber zu sorgen. Denn hier in dieser fremden Dimension, die nicht die eigene war, tobte eine Schlacht zwischen den Ewigen und ihren viele hunderttausend Jahre alten Erzfeinden, den Gkirr.
Wir sind nicht die Einzigen, die Feuer entfachen, überlegte Haggi. Auch Gundar beobachtete die zahlreichen Lichtblitze am Himmel. Er fragte sich, was dort oben geschah. Nur in einem war er völlig sicher. Die Ewigen waren für die Blitze verantwortlich. Ein weiteres Feuer liegt noch vor uns, antwortete er. Das größte von allen. Sobald wir uns mit den anderen Gruppen vereint haben, werden wir es entzünden. Ihm war klar, dass das gelingen musste, bevor weitere Schiffe der Ewigen landeten. Er fürchtete sich vor einer Welle aus schwarzen Männern. Ohne einen Grund nennen zu können, hielte es Gundar für gewiss, dass es eine unerschöpfliche Anzahl von ihnen gab. Sie würden sich über das Drachenland ergießen wie Regentropfen vom Himmel, wenn es nicht gelang, die Ewigen ein für alle Mal zu vertreiben. Du glaubst wirklich daran, dass wir Erfolg haben werden? Gundar lächelte gütig. Wir alle müssen daran glauben, wenn wir die Ewigen loswerden wollen. Vielleicht ist es bereits zu spät. Haggi fuhr seine Krallen aus und deutete zum Nachthimmel empor. Gerade eben hatte es an einer Stelle aufgeblitzt, und nun stürzte etwas dem Planeten entgegen. Ein Schiff der Ewigen? Möglich. In dem Fall werden wir es ebenfalls mit unseren Gedanken verbrennen. Es geht weit entfernt von hier nieder.
Alle sollen sich aufmachen, damit wir rechtzeitig zur Stelle sind. Die Form des Objekts war nicht zu erkennen, da es so schwarz war wie die Nacht. Lediglich seine Unterseite leuchtete. Sie schien zu glühen. Außerdem zog es einen feurigen Schweif hinter sich her. Es ist schnell. Viel zu schnell, fand Gundar. Das sah weniger nach einer Landung wie bei den Ringschiffen als nach einem unkontrollierten Absturz aus. Er erhob sich in die Luft und flog in die weiten Sandebenen hinaus. Diesmal waren es keine 200 Drachen, die ihm folgten, sondern viele tausend. Wenn es wirklich Ewige oder schwarze Männer waren, machten sie einen Fehler, nur mit einem Schiff zu kommen, mochte es auch noch so mächtig sein. Berge flogen unter ihm dahin, schmale Grate und grazile Felsnadeln, dazwischen grüne Täler mit Wasserläufen und sandige Weiten von immerwährender Trockenheit. Trocken war auch die Luft, angenehm warm dazu. Genau so, wie Drachen es seit jeher am liebsten hatten. Die schwarzen Männer in ihren eigenartigen Gewändern und die Ewigen in ihren silberfarbenen Panzern konnten sich im Drachenland nicht wohlfühlen. Gundar wünschte, er hätte ihnen das auf freundliche Weise verständlich machen können. Doch dazu war es zu spät. Zwischen Drachen und Ewigen würde niemals Freundlichkeit sein. Die Kilometer flogen nur so dahin. Gundar empfand ein Gefühl der Freiheit wie seit der Ankunft von Dar-Fi nicht mehr. Er war nicht bereit, sich die Freiheit ein zweites Mal nehmen zu lassen. Er mobilisierte sämtliche Kräfte, als das leuchtende Objekt verschwand. Erst hinter einer Bergkette sah er es wieder. Es lag zwischen den felsigen Ausläufern, in zwei Teile geborsten. Feuer züngelte an manchen Stellen, an anderen stieg dichter Rauch auf. Das sind keine Ewigen. Woher willst du das wissen? Haggi hielt sich an seiner Seite, als sie zwischen den Felsen landeten. Die Schar der Drachen verteilte sich in dem unübersichtlichen Gelände, um sich jederzeit aus
verschiedenen Richtungen auf mögliche Feinde stürzen zu können. Die Schiffe der Ewigen sind rund. Sie gleichen den Ringen, mit denen Jungdrachen spielen. Das dort vorn ist unförmig, und nicht erst seit dem Aufprall. Gundar glaubte nicht, dass jemand in dem fremden Schiff lebte. Zu hart war es aufgeschlagen, zu sehr zerstört worden. Aber vielleicht gab es ja auch niemanden, den es beherbergte. Er erinnerte sich an die Lichtblitze am Himmel. Stammten sie von einem Kampf? Ob es ein Feind der Ewigen ist? Ein Feind der Ewigen wäre unser Freund. Er würde uns bestimmt helfen. Vielleicht. Ich glaube, wir werden es gleich erfahren. In dem Loch in der Mitte bewegt sich etwas. Die Umrisse eines Wesens wurden sichtbar. Es war viel kleiner als die Ewigen, nicht größer als ein Jungdrache. Handelte es sich womöglich ebenfalls um ein Jungwesen? Es trug ein silbrig schimmerndes Kleidungsstück, das den gesamten Körper bedeckte und nur den Kopf freiließ. Der war im Vergleich zu dem dünnen Körper proportional viel zu groß. In seiner Hand hielt es etwas, das entfernt an die Blaster der Ewigen erinnerte. »Wir sind keine Feinde.« Gundar versuchte seiner Stimme einen freundlichen Klang zu verleihen, um den Fremden nicht zu erschrecken. Das kleine Wesen hielt inne und sah zu ihm herüber. In seinem Gesicht hatte es zwei besonders große Augen. Ob man damit entsprechend weit sehen konnte? Es zog etwas aus seiner Kleidung und hantierte damit herum. Gundar war sicher, dass es sich nicht um eine Waffe handelte, sonst hätte das Wesen das kleine Kästchen vor sich hochgehalten. Laute ertönten. Sie klangen wie eine Melodie, blieben dabei unverständlich. Was macht er?, fragte Haggi. Ist das Gesang? Er spricht zu uns. Gundars feine Sinne verrieten ihm, dass das grazile Wesen versuchte, mit ihm zu kommunizieren. »Wir verstehen dich nicht. Wer bist du?«
Der Blick des Kleinen ging von Gundar zu dem Kästchen und wieder zurück. Seine dünnen Lippen öffneten sich. »Ich bin Gkirr.« Der Klang der Worte änderte sich nicht. Sie drangen aus dem kleinen Kasten. Anscheinend handelte es sich um ein den Translatoren der Ewigen ähnliches Gerät. Es übersetzte Gkirrs Worte in die Sprache der Drachen. All das war so umständlich. Gundar bedauerte, dass nicht alle Völker die Telepathensprache der Drachen beherrschten. Ihnen hatte die Natur wirklich ein großes Geschenk gemacht. »Ich bin Gundar. Das ist Haggi.« »Flügelwesen.« Gundar meinte, eine versteckte Geringschätzung zu vernehmen. »Dies ist unsere Welt. Drachenland.« Zögerte der Kleine mit einer Antwort? »Die Gkirr sind an eurer Welt nicht interessiert. Wir kamen nur, um gegen unsere Feinde zu kämpfen.« »Gegen die Ewigen?« »Sie waren der Feind, sie sind der Feind, sie werden es immer sein. Sie haben mein Schiff abgeschossen, so wie unsere anderen. Das ist ihnen nur gelungen, weil sie in der Überzahl waren.« Gundar glaubte Hass in der Aussage zu erkennen. »Nur ich und meine Mannschaft leben noch. Sie ist dabei, die Brände an Bord zu löschen.« »Euer Schiff ist zerstört?« »Es kann diesen Planeten nie wieder verlassen. Bald werden die Ewigen landen und nach uns suchen, um uns zu töten.« »Sie werden nicht landen. Dazu lassen wir ihnen keine Gelegenheit.« Die Antwort bestand aus eigenartigen Geräuschen. »Du weißt nicht, wovon du sprichst«, fügte Gkirr hinzu. »Gegen die Ewigen könnt ihr nichts ausrichten.« Die Behauptung klang abfällig. Gundars Gedanken überschlugen sich. Bei Gkirr – war das nun sein Eigenname, die Bezeichnung für sein Volk oder beides in einem? – handelte es sich also wirklich um einen Feind der Ewigen. Trotzdem warnte etwas den Drachen, dem Kleinen nicht zu
vertrauen. Eine unbestimmte Bedrohung ging von ihm aus. Mochte er auch noch so ungefährlich erscheinen, sein Volk stellte keine geringere Gefahr dar als die Ewigen und die schwarzen Männer. Er und seine Mannschaft durften nicht im Drachenland bleiben, aber auch keinen Schaden erleiden. Schließlich hatten sie den Drachen nichts getan. »Wir können euch in eure Dimension zurückschicken, doch nur euch. Euer Schiff ist zu groß, um es durch ein Weltentor zu schicken.« In Gkirrs großen Augen flackerte es hektisch. »Was verlangst du dafür?« Gundar verstand nicht, was Gkirr meinte. »Wir verlangen, dass du gehst.« »Wir haben Beiboote an Bord.« Gkirr nannte Abmessungen, mit denen der Drache nichts anfangen konnte. »Die meisten sind unbeschädigt. Ist euer Weltentor groß genug, sie aufzunehmen?« »Zeige sie uns. Dann geben wir dir eine Antwort.« Stumm drehte Gkirr sich um und kletterte wieder in sein Schiff. Minuten vergingen, in denen Haggis Ungeduld wuchs. »Wenn er gegen die Ewigen gekämpft hat, besitzt er mächtige Waffen. Vielleicht schießt er auf uns.« »Das wäre töricht. Er kann denken. Wenn er und die Seinen zurück in ihre Heimat gelangen wollen, brauchen sie unsere Hilfe.« Die Ewigen waren es, die Gundar viel mehr Sorgen bereiteten. Ihr Kampf dort oben war beendet. Nun sammelten sie sich vermutlich. Wie lange ließen sie auf sich warten? Die Drachen mussten sich vor deren Landung zur großen Gemeinschaft zusammenschließen. Eine Öffnung entstand in dem zerstörten Raumschiff. Eine Art Tor fuhr kreischend in die Höhe. Es war deformiert und blieb mit einem Ruck stehen, bevor es seine Endposition erreichte. Aus dem entstandenen Spalt löste sich eine flache Wanne, der Unterbau schwarz wie das Raumschiff, die obere Verschalung semitransparent. Im Innenraum waren weit über fünfzig Gkirr untergebracht. So viele, hauchte Haggi telepathisch. Ich empfinde die Bedrohung, die
von ihnen ausgeht. Auch Gundar war beim Anblick der zahlreichen Gkirr nicht wohl. Das Gefühl verstärkte sich, als in kurzem Abstand drei weitere Wannen ins Freie kamen. Dicht gedrängt saßen Gkirr in ihnen. Gundar war froh, dass sich Tausende Drachen in den Felsen hinter ihm verborgen hielten. Ein Gedankenruf von ihm reichte aus, damit sie angriffen. Die kleinwüchsigen Wesen wurden Gundar unheimlich. Sie hatten wie Sarrg-Insekten in ihrem Stock in dem schwarzen Raumschiff gelebt. Nebeneinander landeten die Wannen. Gundar war drauf und dran, seine Brüder zu alarmieren, doch die Kleinen machten keine Anstalten auszusteigen. Nur Gkirr kletterte ins Freie. »Passen unsere Beiboote durch euer Weltentor?« »Das tun sie.« Gundar war erleichtert darüber. »Wohin wird es uns bringen? Können wir damit unsere Welt erreichen?« »Es führt in eure Dimension. Eure Welt kennen wir nicht. Die Passage des Weltentors führt nur zu einem bestimmten Planeten. Auf diese Weise haben wir ihn einst besucht. Er ist verlassen. Niemand lebt dort.« »Von dort aus werden wir Kontakt zu unserem Volk aufnehmen.« »Um euren Kampf gegen die Ewigen fortzusetzen?« »Das tun wir, solange es nötig ist. Bis die DYNASTIE DER EWIGEN vernichtet ist.« Gundar wagte sich einen solchen Krieg nicht vorzustellen. Ewige und Gkirr erschienen ihm so mächtig, dass sie bis ans Ende aller Zeiten gegeneinander kämpfen würden. Das Drachenland lag abgeschieden in seiner eigenen Dimension, doch wie die Ereignisse der letzten Zeit zeigten, war es nicht sicher. Die Ewigen hatten einen Weg gefunden, es zu erreichen. Sie konnten es jederzeit wieder tun. So gesehen, brauchten die Drachen Freunde auf der anderen Seite. Ein Gedanke kam Gundar. In der anderen Dimension gab es viele Völker. Die meisten führten keinen Krieg, sondern waren friedlich. Die Drachen hatten eine Menge über die Geschichte der Ewigen herausgefunden. Diese Informationen mussten drüben verfügbar
sein, wenn jemand kam, der sich ebenfalls gegen die Ewigen stellte. Je mehr Gegner die Ewigen hatten, desto weniger Zeit blieb ihnen, sich gegen das Drachenland zu wenden. »Du wirst dafür sorgen, Gkirr«, sagte er. Plötzlich wusste er, was er zu tun hatte. In seinen Augen flackerte es. »Ihr werdet sämtliche vorhandenen Informationen dokumentieren und so aufbewahren, dass sie den Ewigen nicht in die Hände fallen. Sichert Ocron. Haltet die Ewigen von dort fern.« Drachenmagie wurde aktiv. Andere besaßen furchtbare Waffen, die Drachen hingegen hatten gelernt, die Macht des Geistes zu zähmen. Wir hätten unsere Kräfte gleich zu Beginn gegen die Ewigen einsetzen sollen, dachte Gundar. Eine schwarze Glocke bildete sich aus dem Nichts. Gkirr sah sie nicht, spürte sie nicht, empfand tief in seinem Innersten nur das, was sie mit ihm tat, ohne dagegen aufbegehren zu können. Wie eine Woge spülte sie von ihm zu den Insassen der Beiboote. Es war kein telepathischer Befehl, denn dafür waren nur andere Drachen empfänglich. Gundar gab etwas von sich selbst. Die Magie enthielt ihn, verteilte ihn auf die Gkirr, beseelte sie für den Rest ihres Lebens und ging für einige Generationen sogar auf ihre Nachfahren über. Aus stumpfen Augen starrte Gkirr ihn an. »Lass uns zu dem Weltentor aufbrechen«, verlangte er. »Wir brauchen nicht aufzubrechen. Im Drachenland sind Weltentore überall dort, wo wir sie brauchen.« Obwohl er sich geschwächt fühlte, zögerte Gundar nicht, ein Tor zu schaffen. Flimmernd bildete es sich. Ein leuchtender Bogen von fünf Metern Höhe entstand, annähernd ebenso breit. Flackernd baute sich ein Feld darunter auf. Wie verschwommene Visionen wellten Bilder dahinter. Nicht von dieser Welt und nicht aus diesem Universum. Nicht einmal aus dieser Dimension. »Geht!« Gkirr stieg zurück in das Beiboot und startete es. Es hob vom Boden ab und schwebte in das Feld, gefolgt von den restlichen Booten. Sekunden nur, dann waren sie verschwunden wie Schatten,
die nie existiert hatten. Schon kamen sie auf dem Planeten an, den Gundar für sie ausgewählt hatte. Auf Ocron.
Feuer!, forderte Gundar mit geistiger Stimme. Feuersturm! Feuer!, antwortete es mehrtausendfach. Feuersturm! Dicht gedrängt standen die Drachen, berührten einander, fühlten ihren Nächsten, fühlten alle anderen. Sie teilten einen Willen und gaben sich ihm hin. Für eine kurze Weile vergaßen sie, wer sie waren, erinnerten sich nicht länger an ihre Namen. Sie dachten und handelten wie eine Entität. Die Feuer, die sie im ganzen Drachenland gelegt hatten, um die schwarzen Männer zu zerstören, waren nur eine Andeutung ihrer Macht gewesen. Sie hatten sie kontrolliert und im Zaum gehalten. Nun ließen sie all ihre Macht frei. Winzige Pünktchen fielen vom Himmel, überall über dem Drachenland. Die meisten von ihnen an anderen Stellen des Planeten, weshalb sie nicht zu sehen waren. Es hinderte die Drachen nicht. Ihre Kraft war so groß wie ihre Welt, überschwemmte sie und griff ins Weltall hinaus, aus dem sich die Eindringlinge näherten, um nach ihren vernichteten Minen zu sehen. Ihnen war das gleiche Schicksal bestimmt. Die Luft begann zu flimmern. Sie vibrierte und zeigte Trugbilder. Millionen von tanzenden Flämmchen, Myriaden irrlichternder Erscheinungen, die Krallen gebaren. Lodernde Krallen. Die Drachengemeinschaft erblickte fliegende Ringe, die Raumschiffe der Ewigen. Noch hatten die Ewigen den Weg nicht wieder errichtet, durch den sie eingedrungen waren. Sie fühlten sich sicher, erwarteten keine Gefahr von Seiten der Drachen. Die Vernichtung ihrer Anlagen sollte ihnen Warnung genug sein, doch sie waren zu dumm, um zu begreifen. Das wurde zu ihrem Untergang.
Tausende Stimmen riefen das Feuer herbei wie eine, potenziert zu einer Urgewalt. Die Flammenkrallen wuchsen sich zu Blitzen aus, zu Lohen von vielen Kilometern Länge. Brennende Bälle, größer als die Ratshöhle, jagten schneller auf die Ringschiffe zu, als irgendwer reagieren konnte. Doch keine noch so geistesgegenwärtige Kursänderung hätte geholfen, dem Feuer auszuweichen. Der Sturm, den Gundar gefordert hatte, war allgegenwärtig. Es gab kein Entkommen vor dem verzehrendsten Element der Natur. Es war ein Verbündeter der Drachen, die mit Feuer getauft wurden und im Einklang mit ihm lebten. Hoch droben glomm das Drachenland, brannte der Weltraum. Die Ringschiffe selbst verwandelten sich in flammende Bälle. Zerbarsten. Zerstieben ins Nichts. Viel später löste sich Gundars Wille von der Gemeinschaft, wurde wieder zu seinem eigenen. Er dachte an Dar-Fi, diesen Narren. Dar-Fi lebte nicht mehr. Oder, wie die Ewigen es ausdrückten, er war hinübergegangen. Kein einziges Trümmerstück der zahlreichen Explosionen fiel auf die Drachenwelt, nur etwas anderes überstand die verheerende Vernichtung. Blaue Sternensteine, auch Dhyarras genannt. Weder verglühten sie in der Atmosphäre, noch verschwanden sie auf Nimmerwiedersehen im Weltraum. Als suchten sie nach neuen Trägern, fielen sie auf den Planeten. Gundar fürchtete, weitere Ewige mit ihren schwarzen Männern könnten kommen. Deshalb entschied er, die magische Macht der Drachen, die durch den Feuersturm gestählt war, auf andere Weise einzusetzen. Noch einmal versammelten sie sich. Gemeinsam schufen sie einen Flammenschirm, der ihre ganze Welt umspannte. Kein Raumschiff und keine Waffe konnte ihn durchdringen. Als die Ewigen viele Sonnenumläufe später immer noch nicht zurückgekehrt waren, erlosch der Flammenschirm wieder. Erst danach erinnerten die Drachen sich wieder an die blauen Sternensteine. Sie sahen keinen Nutzen in ihnen, doch die blauen Steine waren schön anzuschauen. Daher sammelten die Drachen sie auf und verwendeten sie als Schmucksteine.
Die prächtigsten Stücke erhielten die Ratsmitglieder, um sie fürderhin an ledernen Schnüren um die Hälse zu tragen. So wurden die blauen Dhyarras zu Insignien des Rates der weisen Geschuppten.
7. Der Traum des ERHABENEN »Das Drachenland?« Der Alpha gab sich Mühe, sein Erschrecken zu verbergen. Dennoch hatte seine erste Reaktion an Panik erinnert. Wenn er als Anführer der Invasionsflotte von solchen Zweifeln geplagt wurde, wie erging es da erst seinen Untergebenen? »Gerüchte«, zischte Nazarena Nerukkar drohend. »Panikmache, die ich nicht akzeptiere, Wel'tep. Geschweige denn, dass ich sie durchgehen lasse.« »Wir wissen beide, dass mehr daran ist. Die überlieferten Daten lassen keinen Zweifel, dass unsere Schiffe damals vor den Drachen geflohen sind. Jedenfalls die, die noch die Chance dazu hatten. Es waren die wenigsten.« Damals. Ein eigenartiges Wort. Bei den Ewigen besagte es alles und gar nichts. Der ERHABENEN missfiel, damit konfrontiert zu werden. Sie bedauerte, nicht rechtzeitig sämtliche Daten, die dieses Thema betrafen, aus allen Speichern der DYNASTIE DER EWIGEN gelöscht zu haben. Außer den dimensionalen Koordinaten natürlich. Darauf war sie angewiesen. Es wäre ohnehin nicht durchführbar gewesen. Im unübersichtlichen Imperium war es unmöglich, Zugriff auf sämtliche Speicher zu bekommen. »Fürchtest du dich vor Gerüchten, die unsere Feinde in Umlauf gesetzt haben?« »Ich fürchte mich nur vor Wahrheiten, gegen die wir machtlos sind. Gibt es eine Garantie dafür, dass es sich lediglich um Gerüchte handelt? Wenn, dann sind es nicht die einzigen. Angeblich soll auf Ocron …« »Ich rede nicht von Ocron«, unterbrach Nazarena den Alpha barsch. »Ich will den verdammten Namen nicht hören. Ich rede von diesem angeblichen Feuersturm, wie er der Fantasie von Kindern
entstammen könnte. Ich weiß nicht, ob er jemals stattgefunden hat, doch eins ist gewiss. Damals war ich noch nicht die ERHABENE. Sonst wäre es nicht zu einer solchen Katastrophe gekommen«, behauptete sie trotzig. Wel'tep wagte keinen Widerspruch. Dafür ließ sich in seinem Gesicht ablesen, wie wenig er von dem unmittelbar bevorstehenden Einsatz hielt. Nazarena Nerukkar hätte einen anderen Flottenkommandanten bestimmt, wenn sie einen gekannt hätte, der nicht von der gleichen Furcht beseelt gewesen wäre. Das Desaster nach dem ersten Vorstoß ins Drachenland war bei den Ewigen zu einem kollektiven Trauma geworden. Das war der einzige Grund, warum kein ERHABENER einen weiteren Versuch gewagt hatte, in der anderen Dimension Fuß zu fassen. Dabei gab es keine zweite Möglichkeit, in kurzer Zeit einen solch enormen Machtzuwachs zu erlangen. Wenn es denn gelingt, mahnte eine lautlose Stimme in der ERHABENEN. Sie hatte lange über ihrem Plan gegrübelt und ihn für gut befunden. Was aber, wenn sie sich irrte? Vielleicht sah sie zu zuversichtlich in die Zukunft. Am liebsten hätte sie selbst an dem Unternehmen gar nicht teilgenommen, sondern eine Flotte losgeschickt und den Verlauf der Dinge in ihrem Palast abgewartet. Eine solche Verlautbarung wäre über die Maßen töricht gewesen. Natürlich hätte niemand den folgenschweren Fehler begangen, ihr öffentlich Feigheit vorzuwerfen. Zumindest niemand in ihrem Umfeld. Doch eine solche Aktion ließ sich nicht geheim halten. Ihr erbitterter Widersacher Al Cairo hätte davon Wind bekommen, und nicht nur er. Eine bessere Vorlage für seine galaxisweiten Intrigen konnte sie ihm nicht liefern. Dieser elende Emporkömmling! Sie verfluchte ihn. Ohne es zu wissen, hatte er sie in der Hand und lenkte ihre Schritte. Allein dafür hatte er hundertfach den Tod verdient. »Sind die Vorbereitungen abgeschlossen?«, fragte sie. Wel'tep machte eine bejahende Geste. »Ich habe die Zielkoordinaten für alle Schiffe freigegeben.« Nazarena Nerukkar wusste, dass die andere Dimension nur durch
einen Zufall entdeckt worden war. Man musste die räumlichen Koordinaten anfliegen, die sich mit denen des Drachenlandes deckten, damit die interdimensionale Verbindung zustande kam. Zumindest vermutete die ERHABENE das. Darüber gab es leider keine verlässlichen Informationen. Kein Ewiger hatte je versucht, einen Dimensionstunnel an einer anderen Stelle im Raum zu schaffen. Wozu auch, wenn es da drüben wirklich nur das sagenumwobene Doppelsternsystem gab und sonst nichts? Nun, bald würde sie es wissen. »Flotte in Marsch setzen!«, befahl sie. »Ich werde mich ihr in Kürze anschließen.« Sie ließ den Alpha stehen, um sich zu ihrer MACHTSPIEL zu begeben. Dort hatte sie noch ein paar Vorbereitungen zu treffen. Auch wenn sie sich dem Flottenkommandanten gegenüber unerschrocken zeigte, handelte sie wie die meisten Ewigen. Risiken minimieren, wenn sie sich schon nicht ganz ausschließen ließen. Dieser angebliche Feuersturm war ein solches Risiko. Ob es ihn gab oder nicht, war unerheblich, wenn man vorausschaute und vorbeugte. Man durfte es halt gar nicht erst zu einem solchen Schreckgespenst kommen lassen. Nazarena hatte einen Plan, wie sie es verhindern konnte.
Die MACHTSPIEL fiel ohne die leiseste Strukturerschütterung aus dem Hyperspace. Nur die Instrumente zeigten den Rücksturz in den Normalraum. An Bord des gewaltigen Supra-Kreuzers war kein Unterschied festzustellen. Der riesige Plasmabildschirm, der den gesamten vorderen Bereich der Lenkzentrale einnahm, zeigte dreißig Schiffe, die die ERHABENE unter Wel'teps Kommando in den Einsatz befohlen hatte. Angesichts dieses Aufmarsches kam sie sich beinahe lächerlich vor. Mit viel geringeren Kapazitäten hatte sie schon Welten unterworfen, deren Bewohner weiter entwickelt waren als
die geflügelten Urzeitviecher des Drachenlandes. Trotzdem war sie auf sämtliche Forderungen Wel'teps eingegangen. In Kürze erwartete sie noch einmal die gleiche Streitmacht. Wir bekommen diese Welt, war sie sicher. Oder wir bombardieren sie so intensiv, dass sie für alle Zeiten unbewohnbar wird. Das war der zweite Schritt vor dem ersten, doch sie erwartete nicht, dass es überhaupt so weit kam. Bevor sie den Schiffen Angriffsbefehl erteilte, kamen die Legionen von Cyborgs zum Einsatz. Die Bodentruppen würden diese Drachen schon zermürben, davon war sie überzeugt. Dieses Versäumnis des damaligen ERHABENEN war der Anfang vom Ende gewesen. Nazarena Nerukkar hatte aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. Das war das Gute an Fehlern. Andere durften sie begehen, doch man selbst durfte sie auf keinen Fall wiederholen. In ihrem Kopf spukte immer noch die drohende Gefahr des Feuersturms. Die Vorstellung, dass sämtliche das Drachenland anfliegende Truppen bereits vernichtet wurden, bevor sie überhaupt einen Fuß auf den Planeten setzten, erforderte besondere Maßnahmen. Wortlos nickte sie einem ihrer Offiziere zu, der nur auf ihren stummen Befehl gewartet hatte. Er leitete ihn umgehend weiter. Die ERHABENE sah es, als ein aus der MACHTSPIEL ausgeschleuster Atmosphärengleiter durch den Dimensionstunnel jagte und Kurs auf die Drachenwelt nahm. Er war nicht nur klein und unscheinbar, der Pilot hatte strikte Anweisung, auf der Nachtseite des Planeten zu landen, um seine Ladung zu positionieren. War das erst geschehen, hatte sie die Drachen in der Hand. All ihre unsichtbaren Kräfte nützten ihnen dann gar nichts mehr. An die glaubte die ERHABENE indes ohnehin nicht.
Der Gleiter jagte durch die Atmosphäre der dunklen Seite des Planeten entgegen, ohne entdeckt zu werden. Die Drachen besaßen keine Geräte, mit denen sie Energieemissionen anmessen konnten. Sie ahnten nichts von dem drohenden Verhängnis, das auf sie
zukam. Sanft setzte der Gleiter auf. Die vier Cyborgs, die aus der Pilotenkanzel ins Freie kletterten, machten sich keine Gedanken über den Standort. Eine Stelle war so gut wie jede andere für ihr Vorhaben. Wichtig war nur, dass sie abgeschieden lag und nicht durch einen Zufall entdeckt wurde. Doch selbst in dem Fall wären die Drachen hilflos gewesen. Was sollten sie gegen die stärkste Waffe ausrichten, welche die Natur selbst geschaffen hatte? Die Cyborgs arbeiteten stumm und zielgerichtet. Mit ihren EBlastern schufen sie ein großes Loch im Wüstensand. Als es tief und breit genug war, öffneten sie den Laderaum des Gleiters und aktivierten ein Antischwerkraftfeld, um den Inhalt ins Freie zu hieven. Das ovale Artefakt mit seinen zwei Metern Länge war in der Dunkelheit der Nacht kaum zu sehen. Es handelte sich um einen schwarzen Dhyarra, wie ihn die Ewigen als Energielieferanten für die Antriebe ihrer Raumschiffe benutzten. Da Dhyarras ihre Energie direkt aus Weltraumtiefen sogen, besaßen sie eine nahezu unbegrenzte Kapazität. Normalerweise wurde die gezähmt und in bestimmte Bahnen gelenkt. An Bord von Raumschiffen gab es eine Vielzahl von Sicherheitseinrichtungen, die Unfälle verhinderten. Bisher war kein Ewiger so verrückt gewesen, zu erforschen, was geschah, wenn ein großer schwarzer Dhyarra sich vollsog und blitzartig entlud. Nazarena Nerukkars Wissenschaftler hatten den Kristall bis an die Grenzen seiner Kapazität aufgeladen, ohne ihn mit einer Abflussmöglichkeit für die aufgestauten Energiemengen zu versehen. Nur ein Impulsdämpfer hinderte ihn daran, seine Energie abzugeben. Das Gegenstück dazu befand sich an Bord eines Jagdbootes, das sich dem Planeten schon bald mit anderen Schiffen nähern würde. Schaltete es ab, geschah das im gleichen Moment mit dem Kontrollgerät am Dhyarra. Die verheerende Entladung ließe vom Drachenland nur ein paar durch die Ewigkeit treibende Gesteinsbrocken übrig. Der Plan der ERHABENEN war so einfach wie Erfolg versprechend. Die Drachen konnten ihren berüchtigten Feuersturm
nicht einsetzen, wenn sie sich und ihre Welt nicht selbst zerstören wollten. Von dem Antischwerkraftfeld getragen, senkte sich der schwarze Kristall in die Erde. Die Cyborgs bedeckten ihn mit Erde, bis nichts mehr zu sehen war. Rasch kletterten sie in den Gleiter und starteten. Dicht über dem Boden huschte das Fahrzeug dahin, bis es den Terminator im Westen überflog und die Tagseite des Planeten erreichte. Auch jetzt sprachen die vier Cyborgs kein Wort. Es gab nichts zu sagen. Erst als einer von ihnen eine Entdeckung machte, erhob er mit ausgestrecktem Arm die Stimme. »Dort hinüber!« Mehr gab es nicht zu sagen. Der Gleiter schoss auf eine Drachengruppe zu. Einen Kilometer vor dem Zusammentreffen ging er zu Boden und landete. Die Cyborgs sprangen heraus und warteten, um ihre Ungefährlichkeit zu demonstrieren, mit erhobenen Händen auf die Drachen. Ihre Waffen ließen sie im Gleiter zurück, dafür waren alle vier Translatoren eingeschaltet. Vorsichtig näherten sich die Drachen. Viel Zeit war vergangen, doch sie hatten die schwarzen Männer in Diensten der Ewigen nicht vergessen. »Wir sind gekommen, um mit eurem Rat zu sprechen«, empfing sie einer der Cyborgs. »Führt uns zu ihm. Wir haben Nachrichten, die lebenswichtig für euch sind.« Die Drachen zögerten. Erst nachdem sie sich vergewissert hatten, dass die schwarzen Männer keine Waffen trugen, ergriffen sie sie und erhoben sich mit ihnen in die Luft. Weit ging der Flug über das Land. Zwei Stunden verstrichen, bis das Gebirge mit der Ratshöhle in Sicht kam. Wenig später standen die Cyborgs vor den sieben Ratsmitgliedern. Gundar, der inzwischen den Vorsitz innehatte, erhob sich von seinem Platz. »Warum kommt ihr? Was habt ihr uns zu sagen?« Nach ein paar Minuten wusste er um die entsetzliche Gefahr, in der das Drachenland schwebte. Und Gundar wünschte, er hätte
seine Frage niemals gestellt.
Die unglaubliche Last der Verantwortung drückte Gundar nieder. Er stützte sich auf die steinerne Tischplatte. Nie zuvor war sie ihm so kalt erschienen. Regungslos standen die schwarzen Männer in der Ratshöhle. Sie sprachen nicht, und sie machten keine Anstalten zu gehen. Mit dem Überbringen ihrer Nachricht hatten sie ihre Aufgabe erledigt. »Ich glaube euch nicht.« Gundars Stimme war so schwach, dass er den Eindruck hatte, sie käme aus weiter Ferne. »Ihr lügt. Wenn die Schiffe der Ewigen kommen, werden wir sie zerstören, wie wir es schon einmal taten.« »Wir sind Cyborgs. Wir lügen nicht. Wenn ihr auch nur ein Schiff der Herren zerstört, werdet ihr alle sterben.« »Ich … glaube ihm«, wisperte Haggi. Auch seine Stimme war so dünn wie das Schilfrohr an den Wasserläufen. Gundar bedachte ihn mit einem tadelnden Blick. Dabei durfte er seinem Stellvertreter keinen Vorwurf machen. Es gelang ihm selbst ja nicht einmal, sein Entsetzen vor den schwarzen Männern zu verbergen. Seltsamerweise zeigten sie keinen Triumph über ihren Sieg, nicht die kleinste Regung. Es schien ihnen nichts zu bedeuten, was sie taten. Sie waren bereit, eine ganze Welt mit sämtlichen Einwohnern zu vernichten, ohne dabei etwas zu empfinden. »Wir können die Raumschiffe der Ewigen nicht angreifen, doch ihr seid hier. Wir können euch töten.« »Das ändert nichts.« »Ist euch euer Leben nichts wert?« »Unsere Existenz endet so, wie sie begonnen hat. Im Dienst der Herren. Allein das Schicksal der Herren ist wichtig.« »Ist das so? Wenn ihre Schiffe kommen, verbrennen wir sie trotzdem.« Abscheu und Trotz sprachen aus Gundar. Er wusste es selbst. »Das werden wir nicht tun«, erwiderte Haggi. »Nein, doch das brauchen die Ewigen nicht zu erfahren. Vielleicht
kommen sie nicht, wenn sie keine Bestätigung von ihren schwarzen Männern erhalten.« Eine geringe Hoffnung, geradezu winzig. Außer ihr blieb Gundar nichts. Dann dürfen wir die hier nicht gehen lassen. Sonst verraten sie den Ewigen, dass wir friedlich bleiben werden. Was sollen wir tun? Wenn wir sie töten, wird der schwarze Dhyarra uns vernichten. »Er wird uns nur vernichten, wenn wir unseren Feuersturm gegen die Ewigen einsetzen, gegen ihre Herren. Was aus ihren Dienern wird, ist den Ewigen egal. Sie wollen das Drachenland. Nur wegen der schwarzen Männer werden sie es nicht vernichten.« Gundar sah die regungslos Dastehenden der Reihe nach an. »Ist es nicht so?« »Ja«, antwortete der Wortführer der Cyborgs tonlos. »Es ist unsere einzige Chance, die Ewigen zu täuschen«, entschied Gundar. Er warf sich nach vorn und zerfetzte den nächsten Cyborg mit seinen Krallen. Einen anderen packte er mit dem Maul und riss ihn in zwei Stücke. Bevor die Ratsmitglieder einschreiten konnte, tötete er auch die zwei verbliebenen Cyborgs. »Hoffentlich war das kein Fehler«, sorgte sich Haggi. »Nein, denn nun können die schwarzen Männer den Ewigen nichts mehr verraten.« Gundar ahnte nicht, dass der Wortführer der Cyborgs Sekunden vor seinem Ende einen Funkspruch abgesetzt und Wel'tep über den Verlauf des Gesprächs unterrichtet hatte. Noch zur gleichen Stunde schickte Nazarena Nerukkar Bodentruppen ins Drachenland, um es zu besetzen. Für Foolys Volk setzte die Götterdämmerung ein.
Gundar gestand sich ein, dass seine Zuversicht verfrüht gewesen war. Wie Sternschnuppen fielen die Raumschiffe der Ewigen vom Himmel. Statt vier schwarzen Männern kam eine unüberschaubare Flut von ihnen. Zahlreich wie die Sandkörner in den Ebenen entstiegen sie den gelandeten Ringschiffen. Sie schwärmten aus und durchkämmten die Sandebenen und die gewaltigen Gebirge. Die Drachen versteckten sich rechtzeitig. Aus sicherer Entfernung
beobachteten sie das erfolglose Vorgehen der schwarzen Männer. Von deren Herren ließ sich keiner sehen. Gundar war entschlossen, einen Angriff zu wagen, sobald er einen silberfarbenen Overall entdeckte. Doch die Ewigen kamen nicht. Vertrauten sie so sehr auf ihre Helfer, dass sie es nicht für erforderlich hielten, sich im Drachenland selbst ein Bild von der Lage zu machen? Ein Gedanke, der ihm viel mehr zusagte, kam Gundar. Waren die Ewigen vielleicht zu feige, um selbst zu kommen? Wir können uns nicht ewig vor ihnen verbergen. Das war auch Gundar klar. Wenn die Drachen die Eindringlinge nicht behelligten, würden die schwarzen Männer sich irgendwann wie selbstverständlich daranmachen, neue Schürfminen zu errichten und sich im Drachenland niederzulassen. So weit durfte es nicht kommen. Das werden wir auch nicht. Eine kleine Weile warten wir noch ab. Wenn keine Ewigen kommen, greifen wir die schwarzen Männer an. Versprichst du dir davon wirklich einen Erfolg? Es sind so viele. In Haggis telepathischer Stimme schwang beim Anblick der Eindringlinge Hoffnungslosigkeit mit. Und alle tragen sie Waffen. Wir haben die Ewigen schon einmal davongejagt. Es wird uns wieder gelingen. Es lag an Gundar, den Drachen Mut zu machen. Er verdrängte den Gedanken, dass sie dabei auf ihre stärkste Waffe verzichten mussten, wollten sie nicht das Ende ihrer Welt heraufbeschwören. Wie willst du das anstellen? Wir werden sie rösten wie Sandwürmer, die ihre Köpfe unvorsichtig ins Freie strecken. In den folgenden Tagen änderte sich das Bild, das sich den Drachen präsentierte, nur wenig. Kundschafter meldeten, dass die schwarzen Männer in die verwaiste Ratshöhle eingedrungen waren. Wenn sie geglaubt hatten, dass die Drachen sie dort widerstandslos erwarteten, waren sie Narren. Gundar entschied, dass es an der Zeit war, ihnen einen Denkzettel zu verpassen. Und danach? Er wusste es nicht. Alles hing davon ab, wie die Ewigen auf eine solche Attacke
reagierten. Der Vorsitzende der Ratsversammlung rief eine große Drachenschar zusammen. Still wie eine laue Brise zogen sie tief in der Nacht durch die unübersichtlichen Gebirgsklüfte. Bis Gundars Ruf zum Angriff folgte.
Feuerbälle warfen schlaglichtartige Bilder. Flammenzungen fegten zwischen die Felsen und teilten die Nacht. Wo Sekunden zuvor noch Stille geherrscht hatte, brandete das wütende Toben der angreifenden Drachen auf. Ihr Zorn gegen die Eindringlinge entlud sich in schierer Mordlust. Die schwarzen Männer, die in kleinen Gruppen zwischen den Felsen patrouillierten, wurden von einer Brandung der Wut überrollt. Wer nicht vom Feuer verzehrt wurde, wurde als hilfloser Spielball des orkanartigen Ansturms an den Felsen zerschmettert oder in einen Abgrund geschleudert. Erleichterung und Bitterkeit erfassten Gundar in gleichem Maß. Erleichterung darüber, dass der Angriff kaum auf Gegenwehr traf. Vereinzelte Blasterschüsse irrten umher, viel zu ungezielt, um wirklich gefährlich zu werden. Auf der anderen Seite Bitterkeit darüber, dass sein Volk zu solchen Taten gezwungen wurde. Drachen konnten kämpfen, doch sie hatten es stets vermieden. Es gab keinen Feind, der Kämpfe heraufbeschworen hätte. Bis zu dem Tag, an dem die Ewigen kamen. Und nun töteten sie die schwarzen Männer, als hätten sie nie etwas anderes getan. Der Gedanke erschreckte Gundar. Dahin war die Friedfertigkeit der Drachen. Seit sie die Ewigen beim ersten Mal davongejagt hatten, hatte er gehofft, dass es nie wieder nötig würde, das Leben anderer zu nehmen. Er verdammte die Ewigen und ihre Schergen. Er wünschte sie ans Ende alle Welten und aller Zeiten, und doch konnte er sich nicht dem verwehren, was getan werden musste. Aus dem Eingang, der zur Drachenstadt führte, strömten schwarze Männer, so reich an der Zahl, dass Gundar sie nicht zu zählen vermochte. Sie hatten sich in der Ratshöhle und den
steinernen Hallen ringsum versteckt. Sie haben uns erwartet, schrie Haggi in höchster Not telepathisch auf. Ein blassroter Energiestrahl verfehlte ihn um Schuppenbreite. Gundar verbrannte den Schützen unter sich mit einem heißen Atemstoß. Er schickte eine lodernde Kugel hinterher, die mehrere schwarze Männer in lebende Fackeln verwandelte. Haggi reagierte sofort und tat es ihm gleich. Zu Dutzenden stürzten sich die Drachen in die Tiefe. Ihr Feuer erleuchtete die Umgebung taghell. Schreie drangen an Gundars Ohren. Sie stammten von Drachen, denn die Gegner schrien nicht, wenn sie getroffen wurden. Sie starben stumm, als existierten sie überhaupt nicht. Es war erschütternd und deprimierend in einem, doch nichts im Vergleich zu den ermordeten Drachen. Ihre Todesschreie brannten sich in Gundars Verstand. Sie weckten Hass auf die Eindringlinge, schürten ihn, peitschten den Ratsvorsitzenden auf. Er vergaß die Gefahr, in der auch er selbst schwebte. Die blassroten Hochenergiestrahlen waren überall. Er kümmerte sich nicht darum, wich ihnen rein instinktiv aus, als er sich in die Tiefe stürzte und über den Köpfen der Feinde dahinrauschte. Er kannte keine Gnade, denn auch die schwarzen Männer kannten derlei nicht. Nur tot waren sie zu ertragen. Vergessen waren all die Zweifel, die er eben noch gehegt hatte. Die Veränderung ergriff so schnell Besitz von Gundar, dass er es nicht einmal bemerkte. Viel später erst sollte er merken, was mit ihm geschehen war. Jetzt nicht. Er ließ sich hinreißen und tötete so viele Feinde, wie er konnte. Die Drachen waren wie entfesselt. Nichts konnte sie in ihrer Rage aufhalten, auch nicht die eigenen Verluste. Der Grund versank in Feuer, Leichen und Asche. Geschwärzt zeigten sich die Felsstätten um die Ratshöhle im Licht der bald aufgehenden Sonne. Erst als in den Höhlen und Kammern kein schwarzer Mann mehr am Leben war, beruhigten sich die Drachen. Sie besannen sich zu klaren Gedanken. Gundar war erschüttert über sie, erschüttert über sich selbst. Selbst einer unschlagbaren Übermacht wären sie in dieser Nacht nicht
gewichen, und wenn es ihrer aller Leben gekostet hätte. Als die Drachen ihre Verwundeten und Toten wegtrugen, nahm er diese Lehre mit. Wenn es einen weiteren Kampf gab, war er nicht nur mit Mut zu führen wie diesmal, sondern zudem mit kühlem Kopf.
Die Hochebene wurde im Süden und Westen von bizarr geformten Felsnadeln begrenzt, im Norden und im Osten fiel der Berg steil ab. Rege Betriebsamkeit herrschte auf ihr. Aus einem künstlich errichteten Sockel von beinahe fünfzig Metern Durchmesser erhoben sich Metallstreben knochengleich in die Höhe. Zwischen ihnen wuchsen von den Seiten her mehrere Ebenen auf die Mittelachse zu. Eine unüberschaubare Anzahl schwarzer Männer war mit irgendwelchen Tätigkeiten beschäftigt. Was tun sie da?, wunderte sich Haggi. Etwas wie das im Aufbau begriffene Monument war im Drachenland fremd. Sie bauen eine Art Turm. Gundar war nicht wohl bei dem, was er sah. Hoch ragten die Streben auf. Er stellte sich Wände zwischen ihnen vor. Bei den Abmessungen würde der Turm gigantische Ausmaße annehmen, wenn er fertig gestellt war. Die Ratshöhle mit sämtlichen angrenzenden Kammern und Kavernen ließ sich mühelos in seinem unteren Viertel unterbringen. Noch war das Innere leer. Es gab keinen Hinweis darauf, was es später aufnehmen sollte. Zweifellos etwas, das gegen die Drachen gerichtet war. Ringsum waren viele hundert schwarze Männer auf der Hochebene postiert. Sie unterstützten die Bauarbeiten nicht, sondern spähten in alle Richtungen. Nach dem ersten erfolgreich verlaufenen Überfall bei der Ratshöhle hatte Gundar weitere Schläge gegen die Eindringlinge geführt. Von Mal zu Mal waren die Verluste unter den Drachen größer geworden. Inzwischen rechneten die schwarzen Männer mit weiteren Überfällen und hatten sich darauf eingestellt. Das metallische Bauwerk sicherten sie besonders gut. Ein direkter Angriff scheidet aus, teilte Gundar seinem Stellvertreter mit. Sie würden zu viele von unseren Kämpfern töten.
Die Drachen verbargen sich hinter den unzugänglichen Felsnadeln. Da ihr Versteck nur aus der Luft zu erreichen war, bestand keine Gefahr, dass sie entdeckt wurden. Gundar gab seiner Gefolgschaft ein Zeichen. Kraft durchströmte ihn, als er sich geistig mit ihnen verband. Er wurde stärker, als er es allein jemals sein konnte. Lasst uns rufen!, forderte er. Ruft mit aller Kraft, zu der ihr fähig seid. Wieder konzentrierten sich alle Drachen auf ein gemeinsames Ziel. Sie drängten ihre eigenen, persönlichen Gedanken beiseite und wurden zu einer kollektiven Macht, die Berge versetzen konnte. Oder einreißen, wenn es sein muss, dachte der Ratsvorsitzende. Keine Flotte von Ewigen-Schiffen widerstand dem, was sich unsichtbar abspielte. Unscheinbare kleine Zweibeiner, die keine Ahnung hatten von der geistigen Kraft, die über sie herfiel, schon gar nicht. Am Himmel über der Hochebene begann die Luft zu flimmern, als die von tiefstem Willen beseelten Drachen etwas aus seinem Schlaf rissen, das in Wahrheit schon immer da gewesen war. Es schlummerte in ihnen und wartete nur darauf, sich einen Weg in die Freiheit zu bahnen. Das und noch viel mehr konnten sie in Zeiten höchster Not freisetzen. Schlieren durchwoben die Luft wie Leuchtkaskaden, bildeten zitternde Umrisse von etwas Archaischem, das nach Beute lechzte und sich durch nichts aufhalten ließ, wenn es in die Freiheit entlassen war. Sie bildeten eine Gestalt von überwältigender Schönheit, die Essenz allen Geistes der Drachen, vereint zu einem von ihnen. Die feinen Linien füllten sich mit Substanz, die Kreatur mit Leben. Gigantisch erhob sie sich über der Basis des fremden Bauwerks, mit bebenden Flanken, die Schwingen bis über die Begrenzungen der Hochebene hinaus ausgebreitet. Die schwarzen Männer bemerkten das drohende Verhängnis. An zahlreichen Stellen gleichzeitig eröffneten sie das Feuer. Die Strahlen ihrer Blaster huschten himmelwärts wie der Schein in dunkelster Nacht entzündeter Reisigbündel. Sie bohrten sich in den ins Riesenhafte erwachsenen Drachen, trafen ihn in die Flanken, den von keinen Hornplatten scheinbar ungeschützten Bauch, fraßen sich
irisierend in seinen Schädel. Donnergrollen erfüllte die Hochebene. Der mehrere hundert Meter lange Schwanz des Riesendrachen peitschte die Luft, seine Krallen schnappten nach imaginären Gegnern. Unsicherheit befiel die schwarzen Männer. Verwirrung, weil sie der irrealen Gestalt nichts anhaben konnten. Die meisten stellten das Feuer ein, weil sie nicht gegen ein Trugbild ankämpften, das ihnen ohnehin nichts anhaben konnte. Gundar bedauerte sie beinahe ein wenig für ihre Ungläubigkeit. Die ihnen verging, als ein pulsierender Feuerstrahl in ihre Reihen fuhr. Den meisten blieb nicht mehr die Zeit, ihren Fehler zu bereuen. Sie endeten als verkohlte Schlackehäufchen. Die Überlebenden suchten ihr Heil in der Flucht, als sie begriffen, dass ihre Waffen nichts gegen die Erscheinung ausrichteten. Ein Schiff!, gellte Haggis telepathischer Warnruf. Es musste versteckt irgendwo gelauert haben. Vielleicht hatte es zuvor die an dem Turm arbeitenden Cyborgs abgesetzt. Es kümmert sich nicht um uns, beruhigte Gundar die versammelten Drachen. Stattdessen stürzte es sich auf das riesige Abbild der Planetenbewohner. Im Rumpf verborgene Waffen spien mächtige Feuerlanzen, die durch den Drachengiganten hindurchgingen, ohne ihm gefährlich zu werden. Er schüttelte sich, riss das Maul zu Furcht erregendem Gebrüll auf und jagte dem Schiff einen feurigen Brodem entgegen, der es gierig einhüllte. Weg von hier!, rief Gundar seinen Brüdern zu. Weicht zurück in eure Verstecke! Bei den überlebenden schwarzen Männern gab es keine Ordnung mehr. Sie waren viel zu durcheinander in dem um sie herum tobenden Chaos. Die halbe Hochebene stand in Flammen, und von oben fiel das Schiff wie ein glühender Stein herab, einen Schweif aus Feuer und Rauch hinter sich herziehend. Ungebremst bohrte es sich in die Grundmauern des Turms und verging mit ihnen in einer heftigen Explosion.
Nur eine Hand voll Cyborgs entkam der Katastrophe. Sie hatten nichts Eiligeres zu tun, als die MACHTSPIEL zu informieren. An Bord ihres Flaggschiffs bekam Nazarena Nerukkar einen Tobsuchtsanfall.
8. Im Drachenland Gebannt hatte Zamorra Clyrs Schilderung gelauscht. Die Drachen hatten die Gkirr nach Ocron geschickt, auf jene Welt, zu der Al Cairo ihn und seine Freunde gebracht hatte. »Die Informationen in der versteckten Datei stammten von den Drachen. Wahrscheinlich haben die Gkirr sie angelegt, als sie auf Ocron festsaßen und auf Rettung von ihrer Heimatwelt warteten.« »Zumindest setzen sich ein paar Teile dieses Puzzles zusammen.« Gryf zog die Stirn in Falten. »Gleichzeitig werden aber neue Fragen aufgeworfen. Ein paar der historischen Eckdaten aus der Geschichte der Ewigen können die Drachen nicht gekannt haben.« »Darüber habe ich auch nachgedacht«, warf Clyr ein. »Ich vermute, dass die Gkirr ihrerseits Wissen, das sie über die DYNASTIE besaßen, der Datei hinzugefügt haben. Ich sagte ja, dass ich mir einiges selbst zusammengereimt habe. Im Grunde stimmt meine Schilderung, in Details kann sie aber von der Wahrheit abweichen. Das werden wir wohl nie erfahren.« »Das ist keine Erklärung dafür, warum die Datei bis vor kurzem dort lagerte. Auch nicht für die Anwesenheit der verwilderten Gkirr auf Ocron.« »Du hast es doch gehört, Alter. Irgendwie hat der Drache Gundar das Kunststück vollbracht, die nach Ocron geschickten Gkirr in seinem Sinne zu manipulieren. Sie hinterlegten die Dateien und bewachten sie, wer weiß wie lange.« »Letzten Endes ist sie trotzdem einem Ewigen in die Hände gefallen.« »Und dir. Damit hat Gundar erreicht, was er wollte.« »Das scheint mir sehr spekulativ. Bei den ganzen Unwägbarkeiten bestand nur eine kleine Chance, dass sein Plan aufgeht.« »Was willst du? Er ist aufgegangen. Gundar muss ein helles Köpfchen gewesen sein. Natürlich ist das alles spekulativ, doch uns
bleibt nichts anderes als Spekulationen. Wenn du mich fragst, liegt Clyrs Auslegung der Vergangenheit verdammt nah an der Wahrheit.« »Und die verwilderten Gkirr auf Ocron? Wir haben sie erlebt. Sie waren nicht mehr Herr ihrer Sinne.« »Sie hatten doch von den Drachen den Befehl, Ocron gegen die Ewigen zu sichern. Wie wir wissen, haben sie das auch getan. Womöglich hat aber genau dieser Befehl etwas in ihren Köpfen angerichtet. Dadurch wurden sie so, wie du sie erlebt hast. Darum auch die zerfallenen Gebäude und das Chaos, auf das ihr, Nicole, Ted und du, gestoßen seid. Irgendwie hat sich die ganze Sache verselbständigt. Vielleicht wissen die Gkirr gar nicht mehr, weshalb sie Ocron seit Generationen bewachen.« Gryfs Erklärungsversuche waren in sich schlüssig. Trotzdem hätte Zamorra etwas darum gegeben, Beweise zu haben. Es war gleichgültig, zumindest im Moment. Der Zweck dieser Mission war, seiner Gefährtin zu helfen. »Wie lange brauchen wir noch bis ins Zielgebiet?« »Wir sind bald da, Professor. Ich aktiviere die Langstreckensensoren.« Clyr nahm einige Einstellungen vor. Seine Miene verdunkelte sich. »Was ist los?« »Wir sind nicht die Ersten. In dem ganzen Raumsektor, in dem ein Übergang ins Drachenland möglich ist, sind Raumschiffe der Ewigen aufmarschiert.« Clyr unterbrach sich. Als er fortfuhr, klang seine Stimme eisig. »Ein Dimensionstunnel ist aktiv. Er wird von einem Supra-Kreuzer bewacht. Den kenne ich aus den Dateien. Es ist die MACHTSPIEL.« Zamorra zuckte zusammen. Die MACHTSPIEL war das Schiff von Nazarena Nerukkar, der ERHABENEN der DYNASTIE DER EWIGEN. »Wie es aussieht, haben wir uns einen ungünstigen Zeitpunkt ausgesucht«, stöhnte Gryf. »Was kann Nazarena hier wollen?« »Für die Anwesenheit der Ewigen an diesem Ort kann es nur einen Grund geben«, überlegte Clyr. »Nach all der Zeit versucht die
DYNASTIE abermals, ins Drachenland vorzudringen. Ich frage mich, ob Ihr und Al Cairos Besuch auf Ocron damit zu tun hat, Professor.« Das hätte Zamorra auch gern gewusst. Hatte die ERHABENE davon erfahren? Genug Wind aufgewirbelt hatte Cairos Flotte bei der Raumschlacht mit den Gkirr ja. Er konnte nicht ausschließen, dass sie damit eine Lawine losgetreten hatten, die nun richtig ins Rollen kam. »Hoffentlich kommt die nicht auf die Idee, uns anzufunken.« »Was soll das heißen, Professor? Ich wollte gerade den Befehl zur Umkehr geben.« »Kommt nicht in Frage.« Zamorras Züge verhärteten sich. Wenn sie aufgaben, war Nicoles Schicksal besiegelt. »Wir fliegen weiter.« Die Blicke der Cyborgs in der Lenkzentrale richteten sich auf ihren Kommandanten. Sie alle waren besorgt, was Zamorra daran erinnerte, es nicht mit tumben Befehlsempfängern zu tun zu haben. Diese Men in Black besaßen nicht nur einen eigenen Verstand, sondern darüber hinaus sogar Emotionen. »Man wird uns vernichten.« »Wieso sollte das jemand tun?«, mischte sich Gryf ein. »Wir sind an Bord eines Jägers der DYNASTIE. Wir gehören zu Nazarena.« »Ich verstehe, was Sie meinen«, dehnte Clyr. »Sie wollen es mit Dreistigkeit versuchen. Damit gehen wir ein hohes Risiko ein.« »Das leugne ich gar nicht. Ich kann nur an Sie appellieren, uns nicht im Stich zu lassen, Clyr.« Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Cyborgs. »Zum ersten Mal haben Sie mich gesiezt, Professor«, stellte er fest. »Das ist gar nicht so schwer, wenn man ein Anliegen hat, nicht wahr?« Zamorra fühlte sich seltsam berührt. Clyr hatte Recht. Zamorra schämte sich fast ein wenig dafür, bisher wie selbstverständlich die vertrauliche Anrede benutzt zu haben, während Clyr die formale Variante gewählt hatte. »Es tut mir leid. Ich werde …« »Schon gut, Professor«, fiel Clyr ihm ins Wort. »Bleiben Sie beim Du. Wir sind es nicht anders gewohnt. Es erinnert uns daran, woher
wir kommen und was uns gelungen ist.« »Sicher?« »Ganz sicher!« »Also gut. Ohnehin ändert die Form der Anrede nichts an meinem Anliegen. Dies ist euer Schiff. Hier entscheidet ihr allein. Wir können euch nur bitten.« »Es ist schön, dass Sie das einsehen.« Mit einem Ruck setzte sich Clyr in Bewegung. Er ging von einem seiner Leute zum nächsten. Mit jedem tauschte er einen kurzen Blick. »Einwände?« Die Cyborgs schwiegen. »Da haben Sie Ihre Antwort. Wir fliegen weiter.« »Danke«, krächze Zamorra. Jedem Besatzungsmitglied war die Gefahr bewusst, in die sie sich begaben. Trotzdem gingen die Cyborgs das Risiko ein, obwohl sie nichts davon hatten. Sie taten es, um Nicole zu helfen, so wie Nadlun sich auf Ocron für Zamorra geopfert hatte. Der Dämonenjäger war entschlossen, sich dafür zu revanchieren, wenn die Zeit reif war. »Es wird auffallen, wenn wir uns als einzelnes Schiff nähern.« Clyr trat an eine der Konsolen. »Wir benutzen den Hyperspace für einen kurzen Sprung möglichst dicht an die anderen Schiffe heran.« »Nicht verrechnen«, forderte Gryf. »Ich habe wenig Lust, beim Austritt aus dem Hyperspace mit einem anderen Schiff zu kollidieren.« »Wie man bei den Menschen so schön sagt … wenn das geschieht, sind wir platt wie die Flundern.« Clyr grinste übers ganze Gesicht. »Das glaube ich einfach nicht. Der Kerl besitzt ja eine sonnige Ader.« »Es geht doch nichts über menschlichen Humor. Ich liebe ihn.« Clyr wurde schlagartig wieder ernst, als die FREIHEIT in den Hyperspace eintrat.
Nazarena Nerukkar schäumte vor Wut. Die geflügelten Primitiven hielten sie zum Narren. Mit einer beiläufigen Bewegung zog sie den E-Blaster, den sie an der Seite trug, und erschoss den Cyborg an der
Funkanlage. »Ich will keine schlechten Nachrichten mehr hören!«, stieß sie verärgert aus. Schon wieder hatte sie auf dem Planeten zwei Kontingente Cyborgs verloren. Dessen Eroberung hatte sie sich wahrlich einfacher vorgestellt. Allmählich bekam sie eine Ahnung davon, wieso vor langer Zeit der erste Invasionsversuch des Drachenlandes gescheitert war. Es war nicht damit getan, die Gefahr des Feuersturms aus den Überlieferungen auszuschalten. Die Drachenwesen besaßen noch andere Fähigkeiten, sich gegen eine technisch hoch überlegene Macht zu behaupten. »Wieso finden wir sie nicht?«, herrschte sie Wel'tep an, mit dem sie in Funkverbindung stand. »Die Drachen beherrschen die Kunst des Versteckens perfekt, ERHABENE.« »Unsinn! So perfekt kann eine solche Kunst gar nicht sein. Wir besitzen Einrichtungen, mit denen wir sie längst hätten finden müssen.« Egal, wie tief die Höhlen auch waren, in denen sich die Geflügelten verbargen, sie konnten weder den Infrarotortern noch den Bioscannern entgehen. Und doch war es so. »Wir kommen gegen die Magie nicht an. Ich würde den Planeten bombardieren, ERHABENE.« Nazarena Nerukkar unterdrückte den Impuls, den Alpha einen Narren zu schimpfen. Wenn sie ihn bloßstellte und ihn als Flottenbefehlshaber damit des Respekts seiner Untergebenen beraubte, konnte sie ihn gleich wie einen Cyborg erschießen. Trotzdem war seine Antwort eines Mannes in seiner Position nicht würdig. Sie legte keinen Wert darauf, das Drachenland zu bombardieren. Sie wollte es besitzen. Selbst den taktischen Zug mit dem als Bombe verwendeten Dhyarra hatte sie nur gemacht, weil sie sicher war, ihn nicht wirklich zünden zu müssen. »Wenn die Drachen Magie einsetzen, kann die nicht gegen unsere Bordsysteme wirken«, hielt sie Wel'tep entgegen. »Seelenlose Maschinen sind nicht anfällig gegen derlei.«
Ganz sicher war sie sich jedoch nicht. Mit ihren Trugbildern verwirrten die Drachen auch die Cyborgs, und deren Programmgehirne mussten gegen Beeinflussungen ebenfalls immun sein. Sie waren es aber nicht. Den Berichten zufolge wandelten sich irgendwelche Trugbilder, die sie sahen, sogar in Realität um. Was ging auf dieser Welt vor sich? Immer stärker setzte sich in der ERHABENEN die Erkenntnis durch, es mit einem Phänomen zu tun zu haben, wie es die Ewigen in den Jahrhunderttausenden ihrer Expansion nicht angetroffen hatten. Das Drachenland nahm unter sämtlichen Welten des Universums eine Sonderstellung ein – und das dimensionsübergreifend. Das Gleiche galt für seine Bewohner. Elende Primitivlinge!, dachte Nazarena Nerukkar verächtlich. »Status der KATHIRA?« »Sie steht unverändert im geostationären Orbit über dem Standort des schwarzen Dhyarras.« Die KATHIRA war der Jäger, der das Kontrollgerät für den Dhyarra an Bord hatte. Sie war Nazarenas Faustpfand, dass die Drachen nicht doch auf die Idee kamen, ihren fürchterlichen Feuersturm zu entfachen. Und wenn sie es doch taten? Wenn sie begriffen, dass sie schlussendlich zum Untergang verdammt waren, griffen sie vielleicht zu diesem letzten Mittel gegen die Ewigen. Die ERHABENE verdrängte die Schreckensvision mit Macht. Sie hatte es oft genug erlebt. Kein Volk des Universums war so dumm. Lieber lebten sie in Knechtschaft, bevor sie alle starben. »Zwei weitere Abteilungen Cyborgs sollen durch den Tunnel gehen und im Drachenland landen.« »Es wird ihnen so gehen wie allen anderen bisher«, wagte Wel'tep kühn Widerspruch. Und wenn schon! Nazarena Nerukkar plante ohnehin, in Kürze weiteren Nachschub anzufordern. Was scherten eine ERHABENE banale Fragen der Logistik? Schließlich konnte sie über unbegrenzte Kapazitäten verfügen. Die Cyborgproduktion auf der Stahlwelt lief auf Hochtouren. Es war kein Problem, ein paar Millionen Kunstwesen ins Feuer zu schicken. Ich habe noch nicht einmal angefangen, dachte sie entschlossen. Ihr
werdet euch noch wundern da unten. Zumal sie einen Entschluss gefasst hatte. »Ich werde mit einer starken Schutztruppe selbst durch den Tunnel gehen und im Drachenland landen. Die MACHTSPIEL bleibt hier in Warteposition.« Die ERHABENE tastete nach ihrem Machtkristall. Nein, um ihre Sicherheit machte sie sich angesichts des primitiven Gegners keine Sorgen.
Gryf gab einen entsetzten Aufschrei von sich. »Ich habe es doch geahnt. Der Bursche wird uns zermalmen.« Eine stählerne Wand stand in Flugrichtung, in der unzählige Lichter wie Sterne funkelten. Es waren winzige Sichtfenster in der Außenhülle des Supra-Kreuzers. Es war der einzige Vertreter dieses Schiffstyps, also handelte es sich um die MACHTSPIEL der ERHABENEN. Automatisch gruppierten sich die Raster des Plasmaschirms und lieferten Bildausschnitte. »Je auffälliger wir uns verhalten, desto weniger kümmert man sich um uns«, konterte Clyr. »Wenn von der FREIHEIT und allen an Bord nur noch ein paar verwehende Gaswolken übrig sind, braucht sich keiner mehr um uns zu kümmern. Ich merke schon, ich sollte ein paar Vampire mit Schaschlikstäbchen durchs Herz garnieren, statt durchs Weltall zu fliegen.« »Hör auf zu jammern«, hielt ihm Zamorra entgegen. Dabei war es auch ihm nicht ganz geheuer, sich in unmittelbarer Nachbarschaft zur ERHABENEN der DYNASTIE DER EWIGEN aufzuhalten. »Du bist der Einzige von uns, der sich mit dem zeitlosen Sprung an Bord der MACHTSPIEL retten kann.« »Ich glaube nicht, dass der ERHABENEN an meiner Aufwartung besonders viel liegt.« Der Cyborg-Pilot flog den Jäger mit geringer Geschwindigkeit in Richtung des Dimensionstunnels. Nun sah Zamorra aus der Nähe, was Clyrs Beschreibung nur unzureichend hatte wiedergeben
können. Die verästelte Struktur der Leuchterscheinungen, die den Tunnel begrenzten, erinnerte an einen farbenprächtigen Korallenstock. Er schätzte, dass drei Dutzend Schiffe der ERHABENEN in der Nähe versammelt waren. »Anscheinend bereiten sie sich auf den großen Sturm vor.« »Fragt sich, wie weit sie kommen. Wenn die Drachen wieder ihren Feuerzauber einsetzen, bleibt bei den Ewigen kein Auge trocken. Dann sehen wir ebenfalls ziemlich alt aus. In dieser Kiste hier können wir keine weiße Fahne setzen, um auf uns aufmerksam zu machen.« Zamorra grinste. »Glaubst du, ich habe dich zur Unterhaltung mitgenommen?« Der Druide kniff die Augen zusammen. »Ich wusste, dass das dicke Ende nachkommt. Was soll ich tun?« »Wenn wir auf der anderen Seite sind, benutzt du den zeitlosen Sprung, um ins Drachenland zu kommen. Es muss dir gelingen, ein Mitglied des Rats der weisen Geschuppten zu finden. Schildere unsere Situation. Mach den Drachen klar, dass wir ihre Hilfe brauchen. Sie sollen nicht alles vernichten, was sich ihrer Welt nähert. Wir sind nämlich auch dabei.« »Warum delegierst du die leichtesten Aufgaben eigentlich immer an andere, Alter?« »Weil ich weiß, auf wen ich bauen kann, mein Freund. Nicole baut auch auf dich.« Gryf nickte. »Geht klar. Schluss mit den Albereien. Die Lage ist zu ernst. Verlass dich drauf. Ich werde die Drachen schon weich klopfen. Aber was anderes. Wie soll ich euch später wiederfinden?« »Finde du die Drachen. Die finden dann uns.« »Auch eine Logik«, fand der Druide. Die FREIHEIT hatte den Tunnel erreicht. Mit gemächlicher Geschwindigkeit flog sie in die Röhre. Kein Schiff versuchte sie aufzuhalten. Es gab nicht einmal einen Funkspruch mit der Forderung einer Legitimation. Zamorras Rechnung schien aufzugehen. Unbeschadet erreichte sie die andere Seite. Zamorra spürte, wie ein Schauer über seinen Rücken lief, als er
das Doppelsternsystem erblickte. Das lag nicht an den beiden Sonnen, sondern an dem großen Planeten, der eine von ihnen umlief. Dies war das legendäre Drachenland, die Welt, von der Fooly stammte. Unzählige Sagen und Geheimnisse rankten sich darum. Seit diesem Flug und Clyrs Schilderungen noch mehr, als Zamorra bisher gedacht hatte. Was hätte wohl sein kleiner Freund dafür gegeben, in diesem Augenblick an seiner Seite zu sein? Doch so schwer es auch fiel, Fooly musste warten. Niemand vermochte zu sagen, wie viele Jahre noch. Doch nicht nur er kam aus diesem Zauberreich, sondern auch die Drachen Fafnir und Gardir, und indirekt sogar dessen Wiedergänger Olang. Der hatte Nicole ins Drachenland entführt und trug die Schuld an ihrem dramatischen Zustand. Ihr Partner verdrängte die schmerzhafte Erinnerung. Sie lenkte vom Wesentlichen ab. Die FREIHEIT näherte sich dem Drachenland. »Jäger und Jagdboote in der Luft und am Boden.« »Keine Schäden?« »Negativ. Sie sind intakt.« »Das ist eigenartig. Wieso haben die Drachen nicht die gleiche Taktik wie bei der ersten Invasion angewendet? Sie könnten die Schiffe mit ihrem Feuersturm hinwegfegen. Wieso verzichten sie auf diese Möglichkeit?« »Vielleicht stimmen die überlieferten Geschichten nicht. Es gibt keinen Beweis für diesen Feuersturm.« Ein untrügliches Gefühl sagte Zamorra, dass etwas anderes hinter der Zurückhaltung der Drachen steckte. Aus irgendeinem Grund konnten sie ihre Macht nicht einsetzen. Die FREIHEIT schwenkte in die Umlaufbahn um das Drachenland ein und tauchte in die äußeren Atmosphäreschichten. »Es ist so weit, Gryf.« »Nehmen Sie das hier mit.« Clyr reichte dem Druiden ein kleines Kästchen. »Es ist ein Translator, durch den Sie sich mit den Drachen unterhalten können.« »Danke.« Gryf nickte. »Passt gut auf Nicole auf. Ich beeile mich, so gut es geht. Wir sehen uns.« Mit diesen Worten verschwand er.
Geschafft!, schoss es Zamorra durch den Kopf. »Wir werden gerufen, Kommandant.« Jäh erlosch Zamorras Zuversicht. »Ignorieren!«, befahl Clyr atemlos. Etwas anderes konnten sie ohnehin nicht mehr tun. »Entweder lassen sie uns durch, oder wir merken es gleich.« »Sichtkontakt! Die stellen sich uns in den Weg!« Ein gellender Alarmton heulte durch die Lenkzentrale der FREIHEIT. »Wir werden angegriffen! Zwei Jäger!« Das waren die Ewigen, oder zumindest die Men in Black, und Zamorra hatte befürchtet, von den Drachen vom Himmel geholt zu werden. Da hatte er die Rechnung ohne die DYNASTIE gemacht. Ein harter Schlag traf das Schiff. Die Darstellung auf dem Plasmabildschirm kippte seitlich weg. Die FREIHEIT trudelte und drehte sich um ihre Achse. Zamorra taumelte, schaffte es aber, auf den Beinen zu bleiben. Schon setzten die Angreifer nach.
Der Horizont schien endlos weit. Über der Sandebene, in die es ihn verschlagen hatte, flimmerte die Luft. Gryf schätzte, dass die Temperatur mindestens 25 Grad betrug. Die Ebene streckte sich in alle Himmelsrichtungen. Kein Laut war zu hören. Ihm am nächsten lag eine monströse Gebirgskette im Osten, deren höchste Gipfel mit dem Himmel verschmolzen schienen. Es gelang ihm nicht, die Entfernung abzuschätzen. »Und nicht das kleinste Lüftchen«, murmelte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Danke, Zamorra.« Er schaute zum Himmel empor. Es war kein Raumschiff zu sehen. Dafür entdeckte er in der Ferne winzige dunkle Pünktchen vor dem Blau. Sie waren nur Sekunden da, um zwischen den Bergen zu verschwinden, doch er war nicht sicher, sie sich nicht nur eingebildet zu haben. Er zögerte, lauerte darauf, dass irgendetwas geschah. Und wurde
enttäuscht. Hätte er es nicht besser gewusst, wäre er davon ausgegangen, seinen Fuß auf eine unbewohnte Welt gesetzt zu haben. Andererseits durfte er nicht erwarten, die Drachen in diesem trockenen Ödland anzutreffen. Denkfehler, warf er sich vor. Voreingenommenheit. Denn die Drachen mochten diese klimatischen Verhältnisse durchaus angenehm finden. Ihm fehlte das Wissen, um das beurteilen zu können. Es war auch möglich, dass der gesamte Planet nur eine kleine Drachenpopulation beheimatete. Wie über so vieles andere, was das Drachenland anging, gab es auch darüber keine Informationen. Auch Fooly war bei solchen Fragen ziemlich ratlos, außerdem stand er nicht zur Verfügung. Leider halfen solche Überlegungen Gryf nicht weiter. Er musste sein Glück an einer anderen Stelle des Planeten versuchen Er stöhnte auf. Das konnte ja eine schöne Suche werden. Hoffentlich gestaltete sie sich nicht so langwierig wie die nach der berühmten Stecknadel im Heuhaufen. Kurzerhand wählte er einen markanten Berg aus und konzentrierte sich darauf. Abermals führte er den zeitlosen Sprung durch. Und stand zwischen Felsformationen von rauer Schönheit. Gryf lauschte und vernahm gutturale Geräusche, am ehesten mit dem Quaken irdischer Frösche vergleichbar. Der Druide verzog das Gesicht. Die Laute stammten sicher nicht von Drachen. Trotzdem orientierte er sich in die Richtung, aus der sie kamen. Obwohl die meisten Felsen um ihn herum ziemlich steil waren, entdeckte er eine gangbare Passage. Sie endete vor einer Geröllhalde, die wenig Vertrauen erweckend aussah. Abrupt war das Quaken verstummt. Vermutlich stammte es von einheimischen Tieren, die vor ihm geflohen waren und sich in Ritzen oder Spalten verkrochen hatten. Gryf umging das lose Gestein weiträumig. Gelegentlich warf er dabei skeptische Blicke nach oben, doch es gab keinen weiteren Steinschlag. Schließlich blieb ihm nichts anderes übrig, als über ein paar Felsen zu klettern, wollte er den beschrittenen Weg nicht zurückgehen. Natürlich hätte er wieder springen können, doch
hinter den Felsen konnte auch ein bodenloser Abgrund gähnen. Er wusste selbst nicht, was er sich von seiner Kletterpartie versprach. Immerhin führte sie ihn in einen natürlichen Pass, der eine ziemliche Steigung aufwies. »Puh«, machte Gryf, stieg aber entschlossen weiter. Eine halbe Stunde später stand er auf einer Terrasse im Berg, von der aus er in die Ferne schauen konnte. Vor ihm lag ein grünes Tal, durch das sich ein träge fließender Fluss wand. Gryf war überrascht. Doch zweifellos brauchten auch die einheimischen Drachen ebenso Wasser zum Leben wie die Menschen. Jenseits des Tals schloss sich ein weiteres Gebirge an. Der Druide kniff die Augen zusammen. In der Ferne bewegten sich Gestalten am Himmel. Waren das Drachen? Er verneinte die Überlegung sofort. Was er sah, war viel zu groß. Was aber flatterte dann so aufgeregt durch die Luft? Er besann sich auf seine telepathischen Kräfte. Wie alle Silbermond-Druiden beherrschte er diese grundlegende magische Fähigkeit seines Volkes, und noch einige andere wie die Illusion oder die phasenweise Präkognition. Verwaschene Eindrücke entstanden in seinem Geist. Die Absender waren zu weit entfernt, um klare Gedanken oder Bilder von ihnen zu empfangen. Sie kommen von dort drüben. Doch Gryf war sicher, dass sie nicht von den Gestalten am Himmel stammten. Abermals versuchte er zu erkennen, womit er es zu tun hatte. Es gelang nicht, also blieb nur eine Möglichkeit. Wieder setzte er den zeitlosen Sprung ein. Er landete inmitten eines überbordenden Chaos.
»Ausweichmanöver! Feuer erwidern!« Die FREIHEIT machte einen Satz. Zamorra, eben noch vor einer Konsole stehend, warf sich geistesgegenwärtig in einen freien Sessel. Ein durchdringendes Summen erfüllte die Lenkzentrale des Ringschiffes. Es raste mit irrwitziger Geschwindigkeit dem Erdboden entgegen.
Jedes irdische Raumschiff würde verglühen, die FREIHEIT trotzte der Reibungshitze. Wie ein Stein sackte sie ab, bis der Pilot sie mit brachialer Gewalt aus dem Kurs riss. Zamorra lag eine harsche Bemerkung auf der Zunge. Er schluckte sie. Feuerlanzen irrten durch die Luft und gingen ins Leere. Ohne das abrupte Manöver wären sie zu Volltreffern geworden. Auf dem Plasmabildschirm wurde die Planetenoberfläche rasend schnell größer. Ein Gebirge, weit größer als der Himalaya, zeichnete sich darauf ab. Offenbar waren die beiden anderen Schiffe auf direktem Weg dorthin gewesen. Ausschnittsraster zeigten die tanzenden Gegner. Wieder feuerten sie. Doch der Pilot der FREIHEIT beherrschte sein Handwerk. Hakenschlagend tauchte sie zwischen den Strahlenbahnen hindurch. Und zahlte mit gleicher Münze heim. Gleich vier Feuerbahnen aus verschiedenen Geschützpolen griffen nach den Gegnern. »Treffer«, rief jemand. Zamorra machte sich nicht die Mühe, nach dem Absender der Meldung zu sehen. Sein Blick war auf den Schirm fixiert. In einem der gegnerischen Schiffe klaffte ein Loch in der Außenwand, durch das ein Auto hätte einparken können. Trotzdem ging es zum nächsten Angriff über. Besonders groß schien der Schaden also nicht zu sein. »Das geht nicht mehr lange gut. Sie kommen schon wieder von zwei Seiten.« Zamorra fühlte sich hilflos. Der Ausflug drohte zum Desaster zu werden. Statt Nicole zu retten, brachte er sie schneller um, als das Drachenfieber es vermocht hätte. Er war drauf und dran, aufzuspringen, um nach ihr zu sehen, und blieb doch auf seinem Platz sitzen. Er konnte nichts für sie tun. Vielleicht erwies es sich noch als wichtig, dass er den Überblick über die Lage behielt. Das Drachenland raste auf sie zu, so schien es. Schon waren die Schneekappen auf den Gipfeln zu sehen. »Ursprünglichen Kursvektor der beiden Schiffe extrapolieren.«
Während ringsum das Chaos tobte, blieb Clyr gelassen. Er erinnerte ein wenig an einen der normalerweise seelenlosen Cyborgs, so gut hatte er seine Gefühle unter Kontrolle. »Unter Berücksichtigung des Dimensionstunnels und der Position unseres Zusammentreffens.« Zusammentreffen! Zamorra schnaubte. Ein wirklich niedlicher Euphemismus. Schon wieder schlug die FREIHEIT einen Haken. Gleichzeitig huschte von rechts ein Schatten in den Sichtbereich. Zamorra sah das Verhängnis auf dem Schirm. Der Schatten war ein Ringschiff, das nur wenige Meter entfernt schien, und zwar auf Kollisionskurs. Keine Sorge, wisperte eine trügerische Stimme in ihm. Die wollen sich auch nicht selbst umbringen. Zamorra wusste es besser. Die Cyborgs besaßen keine Sicherung gegen eine Selbstopferung. Schon gar nicht, wenn ihre ERHABENE hinter dem Dimensionstunnel wachte. »Das Ziel war mit 87-prozentiger Wahrscheinlichkeit ein Talkessel inmitten des Gebirges«, antwortete ein Besatzungsmitglied auf Clyrs Anfrage. Dessen Stimme klang wesentlich nervöser als die des Kommandanten. »Taktische Daten werden eingeblendet.« Ein neues Raster bildete sich an der Peripherie des Schirms. Eine Zahlenkolonne huschte darüber, mit der Zamorra nichts anfangen konnte. Ein harter Schlag fegte die FREIHEIT beiseite. Anhand der Bilder auf dem Schirm war zu sehen, dass sie trudelte. »Ein zufälliges Ziel?«, überlegte der Dämonenjäger laut. »Oder gibt es dort etwas Besonderes? Vielleicht eine Bastion der Drachen? Dann läge dort auch ein mögliches Ziel für uns.« »Oder eine Todesfalle, aus der wir nicht mehr rauskommen.« »Das sind Vermutungen.« »Bei Ihnen auch, Professor. Allein daraufhin opfere ich nicht mein Schiff und meine Männer.« Zamorra presste die Lippen zusammen. Clyr hatte Recht. Er konnte dem Kommandanten nichts vorwerfen, doch die Sorge um Nicole machte ihn schier verrückt. Sie waren entdeckt, es blieb keine Zeit für einen Rückzieher. Wenn sie umkehrten, bekamen sie keine
zweite Chance für einen Anflug. Nazarenas Schergen waren jetzt aufgescheucht. Was trieb bloß Gryf? Auch um seinetwegen durften sie nicht fliehen. Sie konnten ihn nicht einfach zurücklassen. Mit einem Ruck wurde der Meister des Übersinnlichen in seinen Sitz gedrückt. »Weiterer direkter Treffer! Andruckspitzen schlagen durch!« Zamorra hatte es gemerkt. Ein quälender Druck lag auf seiner Brust. Seine Rippen schmerzten. »Rückzug!«, befahl Clyr. »Tut mir leid, Professor, aber wir kommen nicht durch.« Auf dem Bildschirm blitzte es auf. Ein gegnerisches Schiff hatte einen satten Treffer eingesteckt. Offenbar hatte es eine Explosion an Bord gegeben. Eine Fahne aus Feuer und Rauch hinter sich herziehend, stürzte es ab. »Das ist unsere Chance«, behauptete Zamorra wider jede Vernunft. Er begriff es, als die FREIHEIT abermals getroffen wurde. »Antrieb ausgefallen! Stabilisatoren versagen!« »Abdrehen.« Plötzlich klang Clyrs Stimme hoffnungslos. »Unmöglich. Wir können nur versuchen, einigermaßen unbeschadet zu landen.« Das war der Pilot. »Wenn man überhaupt noch von einer Landung sprechen kann.« Zamorra hielt es nicht mehr auf seinem Platz. Er sprang auf und lief zu Nicole.
Wütendes Schreien drang an Gryfs Ohren, hysterisches, angriffslustiges Keifen. Er duckte sich, bereit, einen möglichen Angreifer abzuwehren. Über ihm kreisten die Gestalten, die er bereits aus der Ferne gesehen hatte. Es waren verzerrte Schimären, aus der Form geratene Trugbilder, die mit viel gutem Willen zumindest zur Hälfte als Drachen zu identifizieren waren. Sofort wusste er, dass es keine echten Drachen waren. Sie waren geschaffen worden, lebten nicht wirklich. Mit Illusionen kannte er
sich aus, da auch er selbst in der Lage war, welche zu erzeugen. Intuitiv begriff er, dass es dennoch einen gewaltigen Unterschied gab. Seine Illusionen konnten verwirren, diese hier stellten eine echte Gefahr dar. Obwohl mehr Schein als Sein, besaßen sie zerstörerische Kräfte, die ihnen von anderen verliehen worden waren. Von den richtigen Drachen? Wenn ja, wo steckten die? Er konzentrierte sich auf telepathische Impulse. Tatsächlich hatte er dieses Mal Erfolg, ohne ihre Herkunft lokalisieren zu können. Sie kamen von überall und nirgends. Gryf blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, denn die Schimären stürzten sich vom Himmel. Er warf sich zur Seite, bevor er zur Beute wurde. Da erst begriff er, dass er überhaupt nicht das Ziel ihrer Attacke war. In seinem Rücken prangten zu einem verwirrenden Konglomerat zusammengefügte elektronische Einrichtungen. Men in Black hantierten daran und versuchten sie vor den Drachenschimären zu schützen. Sie leisteten verzweifelten Widerstand. Natürlich waren sie mit E-Blastern bewaffnet. Gryf warf sich hinter einen Felsen, um nicht von einem verirrten Schuss getroffen zu werden. Es war ihm noch nie gelungen, die schwarz Gekleideten auseinander zu halten. Auch jetzt schaffte er es nicht. Die Cyborgs feuerten auf die Angreifer, deren Ziel die Maschinen waren. Mit bloßen Krallen rissen sie die Anlagen auseinander. Eine Schimäre packte zwei Cyborgs und schleuderte sie davon. Mit verrenkten Gliedern blieben sie vor einem Felsen liegen. Mehrere Men in Black konzentrierten ihr Feuer auf einen der unwirklichen Drachen. Ein halbes Dutzend blassroter Strahlen fraß sich in ihn hinein. Es gelang ihnen nicht, ihn zu töten. Dafür verlor er weiter an Form. Er zerfloss zu einer amöbenartigen Erscheinung, stetig bemüht, seine Gestalt wieder zu erlangen. Gryfs Eindruck hatte ihn nicht getrogen. Die Illusionen lebten nicht wirklich. Unangreifbar waren sie jedoch auch nicht, wie das Beispiel zeigte. Das Trugbild verschwamm, zerriss, zerstieb zu nichts.
Von ihrem Erfolg beflügelt, wendeten die Cyborgs sich mit vereinten Kräften dem nächsten Ziel zu. Mehrere von ihnen wurden zerfetzt, während sie schossen. Es war immer wieder der gleiche unheimliche Vorgang, wenn sie starben. Sie kümmerten sich nicht darum, sondern kämpften bis zum finalen Atemzug im Dienst ihrer Herren. Auch die Schimären hatten nichts zu verlieren. Einen seltsameren Kampf hatte Gryf nie erlebt. Keiner der Beteiligten legte Wert darauf, ihn zu überstehen. Einmal freigesetzt, ging es nur darum, dass sie möglichst viel Zerstörung anrichteten. Das taten sie. Während es den Men in Black mit einer konzertierten Anstrengung gelang, einen weiteren Pseudodrachen zu zerstäuben, fielen die restlichen über die Maschinen her und machten ihnen den Garaus. Eine heftige Stichflamme raste aus einer Verkleidung, gefolgt von einem summenden Funkenbogen. Er schlug auf die Cyborgs über und verbrannte sie. Gryf zog den Kopf ein und duckte sich hinter den Felsen. Keinen Augenblick zu früh. Schon vergingen die Reste der Maschine in einer vernichtenden Explosion. Metallfetzen und Gestein des Untergrunds sirrten umher. Die Luft erhitzte sich. Als der Druide wieder aufsah, war er allein. Nichts war von den Gegnern übrig. Bei den Men in Black hatte das nicht viel zu sagen. Nazarena Nerukkar würde halt neue schicken. Doch was war mit den Drachenschimären? Wer hatte sie erzeugt? Scharrende Geräusche beantworteten Gryfs stumme Frage. Bewegungen entstanden hinter den Felsen. Gestalten, die viel größer waren als er selbst, betraten den Schauplatz des zu Ende gegangenen Kampfes. Trotz seines hohen Lebensalters von 8.000 Jahren hatte er außer Fooly noch keine leibhaftigen Drachen gesehen. Sie machten keinen besonders friedfertigen Eindruck. Gryf war versucht, sich mit dem zeitlosen Sprung in Sicherheit zu bringen. Es gelang ihm, sich zu beherrschen. Schließlich war er gekommen, um mit den Drachen in Kontakt zu treten. »Wer bist? Du siehst nicht so aus, als ob du zu den schwarzen Männern gehörst. Ein Ewiger bist du ebenfalls nicht. Wir wissen,
dass alle Ewigen ihre silberfarbenen Overalls tragen.« Unwillkürlich zuckte der Druide bei den gesprochenen Worten zusammen. Er hatte erwartet, dass die Drachen sich telepathisch an ihn wenden würde, doch das war Unsinn. Woher sollten sie wissen, dass er ebenfalls telepathisch begabt und durchaus in der Lage war, sich auf diese Weise mit ihnen zu verständigen? Der Translator, den er von Clyr bekommen hatte, funktionierte jedenfalls. »Ich bin Gryf ap Llandrysgryf von der Erde.« »Von der Erde?« Die Drachen steckten die Köpfe zusammen und tuschelten aufgeregt. Natürlich, sie oder zumindest ihre Anführer kannten die Erde. »Was willst du hier?« Der Druide wägte seine Worte genau ab. Wenn er einen Fehler machte, würden Foolys Artgenossen mit ihm kaum sanfter umspringen als mit den Men in Black. »Eine Freundin von mir ist am Drachenfieber erkrankt. Sie benötigt eure Hilfe.« »Du lügst. An Drachenfieber kann man nur im Drachenland erkranken.« »Ich lüge nicht. Nicole Duval war vor nicht langer Zeit mit dem Drachen Gardir hier. Damals muss sie sich die Krankheit zugezogen haben.« »Gardir? Du kennst Gardir?« Der Drache, der anscheinend so etwas wie der Wortführer der Gruppe war, klang erstaunt. Wieder flüsterten die Drachen aufgeregt miteinander. »Woher weißt du, dass es sich bei der Krankheit deiner Freundin um Drachenfieber handelt?« »Mein Freund Fooly hat es mir gesagt.« »Fooly?« »Ein Jungdrache, der auf der Erde lebt. Bei Professor Zamorra, einem anderen Freund von mir.« »Foolys Geschichte ist allen Drachen bekannt. Würdest du ihn nicht persönlich kennen, wüsstest du nicht einmal seinen Namen. Vielleicht handelt es sich aber auch nur um eine Falle der Ewigen.« Wenn ihr das glauben würdet, hättet ihr erst gar nicht darüber
nachgedacht, mich zu eurem Ratsvositzenden Gundar zu bringen, fokussierte Gryf einen Gedanken. Erstaunte Ausrufe wurden laut. Der Wortführer vergaß sogar, auf die gleiche Art zu antworten, in der Gryf sich an ihn gewandt hatte. »Du bist Telepath.« »Eigentlich stamme ich vom Silbermond. Alle Druiden beherrschten die Telepathie.« »Vielleicht sprichst du die Wahrheit.« Der Drache hatte sich wieder gefangen. »Doch wir haben unsere eigenen Sorgen.« »Die Ewigen, ich weiß. Wir haben ihre Flotte gesehen.« Gryf überlegte, wie er die Drachen umstimmen konnte. Plötzlich kam ihm eine Idee. »Gundar hat vor langer Zeit gegen Dar-Fi gekämpft und die Ewigen schon einmal vertrieben. Vielleicht können wir euch helfen, damit euch das erneut gelingt.« »Du weißt von Gundar und Dar-Fi?« »So ist es.« »Die Ewigen sind auch eure Feinde?« »Sagen wir es mal so. Wir sind selbst schon ein paar Mal mit ihnen zusammengestoßen und mögen sie nicht besonders.« Der Drache stapfte nachdenklich auf und ab. »Uns bleibt keine Zeit«, sagte er. »Bald schon werden die Ewigen und ihre schwarzen Männer merken, was hier geschehen ist, und herkommen, um nachzuschauen. Ich werde dich zu Gundar tragen.« Gryf blieb nichts anderes übrig, als sich den mächtigen Krallen anzuvertrauen. Kurz darauf erhoben die Drachen sich mit ihrem Gast in die Lüfte.
»Vernichtet diese Verräter endlich! Wir sind zu zweit gegen ein Schiff. Muss ich etwas Verstärkung anfordern, ihr Versager?« Nazarena Nerukkars Zorn füllte die Lenkzentrale des Jägers aus. Sie konnte nicht glauben, was hier geschah. Irgendwer wagte es, sich ihr zu widersetzen. Handelte es sich um einen durchgedrehten Ewigen, der in diesen Wirren eine Gelegenheit sah, die ERHABENE auszuschalten? Nur der ambitionierte Al Cairo, der begierig darauf
war, die DYNASTIE DER EWIGEN an ihrer Stelle anzuführen, war zu einem solchen Verrat fähig. Sie hatte keine Ahnung, wo in der Galaxis er sich derzeit aufhielt. Jedenfalls war er nicht vor Ort. Das allerdings sagte gar nichts. Einer ihrer Agenten hielt sich in Al Cairos Nähe auf. Vielleicht war es dem Alpha im Gegenzug gelungen, ein paar Schläfer in ihren Reihen zu etablieren. Wel'tep, dieser Versager, unternahm nichts. Wahrscheinlich bekam er auf der anderen Seite des Dimensionstunnels nicht einmal mit, was hier geschah. Nazarena Nerukkar erschrak. War ihr Flottenkommandant wirklich so schlafmützig, oder war er an dem schmutzigen Spiel beteiligt? Sie nahm sich vor, ihn nach ihrer Rückkehr auf die MACHTSPIEL intensiv zu durchleuchten. Sein Pech, wenn es ihm nicht gelang, sich glaubhaft zu verteidigen. Er wäre nicht der erste Alpha, den sie aus dem Weg räumte, weil sie sich von ihm bedroht fühlte. »Wir haben die Verräter getroffen«, meldete ein Cyborg. Nazarena nickte stumm. Das war überfällig. Trotzdem machte der feindliche Jäger keine Anstalten abzudrehen. Sie glaubte nicht an einen Zufall, ihn ausgerechnet in diesem Anflugkorridor anzutreffen. Sie war unterwegs zum inzwischen von den Drachen verlassenen Steingewölbe, das als deren Ratshöhle fungierte. »Vernichtet den Verräter endgültig«, forderte die ERHABENE. Zweifellos wäre es besser gewesen, Gefangene zu machen, um sie zu verhören, doch damit konnte sie sich zurzeit nicht auch noch belasten. Die gegen die legitimierten Ansprüche der Ewigen aufbegehrenden Flügelwesen bereiteten ihr schon viel zu lange Probleme. Es wurde Zeit, dass sie dieses Kapitel zu einem Abschluss brachte, um sich endlich anderen Projekten zuwenden zu können. Ein harter Ruck riss sie aus ihren Gedanken. Sekundenlang schwang die Schiffszelle wie eine Glocke. Der Boden unter ihren Füßen vibrierte. Verwirrt sah die ERHABENE sich um, doch sofort kehrte wieder Ruhe ein. »Schwerer Treffer, Herrin.«
»Das wurde ja auch Zeit.« »Wir sind schwer getroffen worden, Herrin.« Ungläubig fuhr Nazarena Nerukkar aus ihrem Sitz in die Höhe. Das gab es doch nicht! Diese Barbaren wagten es allen Ernstes! Hätte sie nicht gewusst, dass Cyborgs zu so etwas gar nicht fähig waren, wäre sie auf die Idee gekommen, dass die Meldung beißenden Zynismus enthielt. »Abdrehen! Wir ziehen uns in den Raum zurück!« »Unmöglich, Herrin. Wir haben Feuer an Bord. Die automatischen Löscheinrichtungen sind aktiv und bringen den Brand unter Kontrolle. Doch die Maschinenschäden infolge der Explosion sind zu groß. Uns bleibt nur die Landung.« Eine Explosion. Deshalb also der Ruck, den sie zu leichtfertig abgetan hatte. Die ERHABENE stand kurz davor, die Kontrolle über sich zu verlieren. Am liebsten hätte sie zu ihrem E-Blaster gegriffen und damit einen der Cyborgs für deren kollektive Unfähigkeit zur Rechenschaft gezogen. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Mit einer unbedachten emotionalen Geste verschlimmerte sie die Lage womöglich noch. »Besteht die Gefahr eines Absturzes?« »Negativ, Herrin. Lediglich unsere Manövrierfähigkeit ist stark eingeschränkt.« »Wie weit von dem Tafelberg entfernt gehen wir nieder?« »In seiner unmittelbaren Nähe im Talkessel.« Das war immerhin etwas. »Nach der Landung werde ich auf unser Begleitschiff überwechseln.« »Das gegnerische Schiff geht ebenfalls auf der Oberfläche nieder. Es stürzt ab, voraussichtlich auf den Tafelberg.« Diese elenden Verräter lebten also immer noch. Nicht mehr lange! Aus einem Impuls heraus änderte Nazarena Nerukkar ihr Vorhaben, keine Gefangenen zu machen. Wenn das Schicksal ihr schon in die Hände spielte, wollte sie diese Gunst auch nicht ungenutzt lassen. »Unser Begleitschiff soll den Feind vernichten. Aber bringt mir jemanden von der Besatzung lebendig.«
Die ERHABENE freute sich schon darauf, die Befragung eines gefangenen Verräters persönlich vorzunehmen. Wenn er tatsächlich zu Al Cairo gehörte, standen ihm ein paar unangenehme Stunden bevor. Nazarena Nerukkar ahnte nicht, dass an Bord ihres Kampfgegners ebenfalls niemand gut auf Al Cairo zu sprechen war. Eine Frau ganz besonders nicht.
9. Gefangene des Feuerwalls Der Flug dauerte nicht sehr lange. Die Drachen brachten ihn zu einer Höhle in den abgeschiedenen Regionen der Berge. In großer Höhe befand sich eine Öffnung in der Felswand, die durch bloßen Zufall kaum zu entdecken war. Im Inneren des Berges gab es zahlreiche Kavernen. Gryf schaute sich vorsichtig um. Dutzende von Drachen waren versammelt. Ein paar wenige von ihnen trugen lederne Schnüre um den Hals, an denen blaue Dhyarras baumelten. Unwillkürlich fühlte sich der Druide an Clyrs Erzählung erinnert. Gleichzeitig dachte er daran, was Nicole nach ihrer Entführung durch Gardir/Olang zugestoßen war. Ein großer Drache, der einen Dhyarra trug, trat auf ihn zu. Eine instinktive Ahnung beschlich Gryf, auch ohne dass er seine telepathischen Kräfte benutzte. Ich bin Gundar, bestätigte der Drache seine Vermutung. Der Vorsitzende des Rats der weisen Geschuppten. Verzeih mir, alter Knabe, antwortete Gryf jovial, wie es seine Art war. Angeblich sollt ihr Drachen ja steinalt werden. Trotzdem hätte ich nicht erwartet, den legendären Gundar noch lebendig anzutreffen. Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Drachen, als er zwei blitzende Zahnreihen zeigte. Ich bin telepathisch über deine Ankunft unterrichtet worden. Ich fürchte nur, dass ich weder dir noch deinen Freunden helfen kann. Du kannst ihnen nicht nur helfen. Du musst ihnen sogar helfen. Ich muss? Wir Drachen müssen um unsere Freiheit kämpfen. Eine Freundin von mir hat … … sich mit Drachenfieber angesteckt. Ich weiß. Ich erinnere mich sogar an sie. Sie kam mit Gardir ins Drachenland und stand vor dem Rat. Nicht freiwillig, verteidigte der Druide Nicole. Gardir hat sie entführt. Sonst wäre sie nicht krank geworden.
Das stimmt. Wir können jedoch nichts dafür. Da war Gryf anderer Meinung. Ihr tragt sogar die Schuld an Nicoles Zustand. Was willst du damit sagen? Gundar schnaufte. Kleine Flämmchen züngelten vor seinen Nüstern. Wendet euch an Gardir. »Gardir ist tot«, wechselte Gryf zur menschlichen Sprache. »Das ändert nichts. Hättet ihr ihn nicht auf die Erde verbannt, hätte er Nicole nicht ins Drachenland entführen können. Mit euren Verbannungen macht ihr es euch ziemlich leicht. Sollen doch die anderen für euch die Kastanien aus dem Feuer holen. Bei Fooly zeigt ihr auch keine Rücksicht.« Fooly ist ein anderer Fall. Sein Aufenthalt auf der Erde hat seine Gründe. Es ist zu seinem eigenen Besten. Darüber hätte Gryf gern mehr erfahren. Leider blieb keine Zeit, um nachzuhaken. Zamorra und die verbündeten Cyborgs konnten längst in der dicksten Klemme stecken. Mit den verdammten Ewigen war nicht gut Kirschenessen. »Wenn es zu seinem eigenen Besten ist, seid ihr auch Zamorra verbunden. Er und Nicole haben Fooly aufgenommen und kümmern sich um ihn. Was wirklich nicht immer einfach ist, wie ihr mir glauben könnt.« Du hast den Ratsvorsitzenden gehört, mischte sich geifernd ein anderer Drache ein. Er trug ebenfalls einen Dhyarra. Wir können euch nicht helfen. Beruhige dich, Haggi. In Gundars kleinen Augen blitzte es auf. Warst du nicht eben noch der Meinung, dass wir zuschlagen müssen, wenn sich die Schiffe der schwarzen Männer gegenseitig angreifen? Gryf horchte auf. »Gegenseitig? Das würden die niemals tun.« Der Meinung bin ich auch. Die logische Folgerung ist, dass sie gegen deine Freunde kämpfen. Unsere Späher berichteten von einem Kampf in großer Höhe. Es waren zwei Schiffe gegen eines. Die FREIHEIT. Wir müssen sofort etwas unternehmen, um sie zu unterstützen. Wenn es durch eure Dickköpfigkeit nicht schon zu spät ist. Gundar überhörte den offenen Vorwurf. Er tat ein paar Schritte auf und ab. Dann blieb er wieder vor dem Druiden stehen.
»Du hast mich überzeugt«, sprach er nun ebenfalls laut aus. »Wir haben schon zu lange gezögert. Die Ewigen sind unsere Feinde, doch wir haben eine positive Affinität zu eurer Welt.« Gryf atmete erleichtert auf, als Gundar seine Drachen telepathisch zusammenrief.
»Nici«, flüsterte Zamorra besorgt. »Alles wird gut. Wir landen gleich bei Foolys Volk.« Wenn die Situation doch wirklich so einfach gewesen wäre. Er beugte sich über seine Gefährtin. Ob seine Worte wohl ihren Geist erreichten? Ihre Augen waren geschlossen. Sie atmete flach. Er konnte nur vermuten, dass ihr Zustand unverändert war. Er setzte sich neben sie auf die Liege, auf die sie gebettet war. Hatte er zu hoch gepokert? Die Lage war völlig verfahren. Aussichtslos, wenn er ehrlich zu sich selbst war. Clyrs Schiff schien so schwer beschädigt, dass eine Flucht aus dem Drachenland damit nicht mehr möglich war. Das bedeutete, dass sie von hier nicht mehr wegkamen, es sei denn, es gelang ihnen, ein anderes Schiff zu kapern. Nach dem vorangegangenen Kampf waren sie aufgeflogen. Die Hatz würde schon bald losgehen. Zamorra sah auf, als ein Stoß durch das Schiff lief. Es wurde bis in seine Grundfesten erschüttert. Gleich darauf erstarben die unterschwelligen Geräusche der Maschinen. Sie waren gelandet. Zumindest das war einigermaßen glimpflich vonstatten gegangen. Nun kam es darauf an, das Schiff möglichst rasch zu verlassen und ein Versteck zu suchen. Nazarenas Schergen tauchten zweifellos in Kürze auf. Zamorra hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als einer von Clyrs Cyborgs den Medoraum betrat. »Wir gehen von Bord. Ich soll Sie nach draußen führen.« Zamorra nickte und griff nach Nicole, um sie von ihrer Liege zu heben. »Ich trage sie«, hielt ihn der Cyborg zurück. »Für mich bedeutet die Frau keine Last.«
Für mich auch nicht, dachte Nicoles Gefährte verärgert. Trotzdem ließ er dem Cyborg den Vortritt. »Pass nur gut auf sie auf.« »Bei mir ist sie in sicheren Händen.« Zamorra fragte sich, woher der Man in Black diese Plattitüde hatte. Sie sollte ihn vermutlich beruhigen. Sicherheit gab es in ihrer Situation nämlich nicht. Weder für Nicole noch für ihn, und auch für keinen Angehörigen der Besatzung. Abgesehen von den Drachen, zu denen sie bisher keinen Kontakt hatten, waren sie von Feinden umgeben, die sie tot sehen wollten. Spielerisch hob der Cyborg Nicole auf und lief aus dem Raum. Zamorra folgte ihm durch die Gänge des Schiffes, bis sie ein Schleusenschott erreichten, das ins Freie führte. Draußen wurden sie schon von Clyr und seinen Männern erwartet. »Die FREIHEIT ist nur noch Schrott«, befand ihr Kommandant. An mehreren Stellen war die Hülle des Ringschiffes aufgerissen, an anderen war es zu Stauchungen gekommen, durch die sich das Metall aufgefaltet hatte. Sie waren vermutlich bei der Landung entstanden. Dafür, dass das Schiff einem Wrack stärker ähnelte als einem Jäger der Ewigen, war es weich gelandet. Trotzdem würde es nie wieder starten. Zamorra musste sich mit der Ewigen-Technik nicht auskennen, um das zu erkennen. »Wohin wenden wir uns?«, fragte er. Clyr deutete zu einem prächtigen Bauwerk, das sich über weite Teile des Tafelbergs ausdehnte. Das Konglomerat ineinander verschachtelter Trakte war zum größten Teil aus dem Gestein herausgeschlagen. Zwischen gewölbten Kuppeln verliefen mit Emporen, Erkern und Fialen verzierte Arkadengänge. In luftiger Höhe verbanden steinerne Brücken die Türme und Mauern. Zamorra war beeindruckt. »Was ist das?« »Dies war der Versammlungsort des Rates der weisen Geschuppten«, vermutete Clyr. »Die Bauten sehen aus, wie in den Erzählungen beschrieben.« »Wenn sich Ewige darin verbergen, laufen wir direkt in eine Falle.«
Wind kam auf und fegte über den Tafelberg. Von oben stieß ein der FREIHEIT baugleiches Ringschiff herab. »Weg von hier!«, trieb Clyr seine Männer an. »Bewegt euch! In die Steinanlagen!« Die Cyborgs wurden von den Beinen gerissen, als der Wind sich zu einem Orkan ausweitete. Ein mächtiger Energiestrahl fegte herab und bohrte sich in das Wrack. Zamorra überschlug sich und spürte einen dumpfen Schlag. Die Luft wurde aus seinen Lungen gepresst. Vor seinen Augen wurde es düster. Seine Gedanken drohten in Schwärze zu versinken. Er durfte nicht das Bewusstsein verlieren! Mit äußerster Willenskraft schaffte er es, seinen Geist aus dem Wattebausch zu befreien, in den er stürzte. Blitze flackerten vor seinen Augen. Konturen nahmen Gestalt an. Die ganze Welt schien sich zu bewegen. Er brauchte ein paar Sekunden, bis er begriff. Entgegen seinem Empfinden war er für eine kurze Zeitspanne geistig weggetreten. Hinter der FREIHEIT war das andere Ringschiff gelandet. Men in Black waren ringsum unterwegs und bekämpften sich. Da waren nicht nur Clyrs Männer. Es gelang Zamorra, sich aufzurichten. Verzweifelt schaute er sich nach Nicole um. Tote Cyborgs bedeckten den Boden. Sie waren kaum voneinander zu unterscheiden, doch er bildete sich ein, denjenigen, der Nicole getragen hatte, mit einer hässlichen Brandwunde in der Brust nur ein paar Meter entfernt liegen zu sehen. Ein blassroter Energiestrahl ging dicht an ihm vorbei. Die Luft knisterte unter der Entladung. Zamorra spürte, wie sich seine Nackenhärchen aufrichteten. »Nici!«, schrie er. Zwei Men in Black kamen mit angeschlagenen Waffen in seine Richtung gerannt. Sie legten auf ihn an. Zielten, um ihn umzubringen … … da entdeckte er seine Gefährtin. Drei Cyborgs liefen mit ihr zu dem tempelartigen Gebäude. Keine von Clyrs Männern. Trotz allem
war er bei der Einschätzung sicher. Feinde, die Nicole entführten. Er wollte loslaufen, um sie zu verfolgen. Da schossen die beiden Angreifer, die es auf ihn abgesehen hatten. Er war viel zu langsam, um den Energiestrahlen auszuweichen. Bevor er reagieren konnte, prallte etwas hart gegen ihn. »Deckung, Professor! Sind Sie lebensmüde?« Es war Clyr. Der Abtrünnige warf ihn zu Boden, überschlug sich gemeinsam mit ihm und zog ihn mit sich. Seinen überlegenen Cyborgkräften hatte der widerstrebende Zamorra nichts entgegenzusetzen. Clyr hielt ihn immer noch fest, als sie sich in den Trümmern der FREIHEIT versteckten. Doch sie steckten in einer Sackgasse. Weiter zurückweichen konnten sie nicht vor dem gegnerischen Ansturm. »Wo sind deine Männer?«, fragte Zamorra. »Tot.« Trauer und Tragik erfüllten das Wort. »Sie sind alle tot. Ich bin der Letzte.« Stumm und mit erhobenen Blastern näherten sich die Cyborgs der Ewigen. Sie hatten Zamorra und Clyr fast erreicht. Doch dann nahmen sie den Himmel unter Beschuss. Drachenhorden, die vom Himmel fielen wie Racheengel. Feuerkugeln zerplatzten auf dem felsigen Untergrund und zauberten ein Meer aus Feuer, in dem nichts überleben konnte. Der lodernde Atem der Drachen tobte über die Cyborgs hinweg wie Fegefeuer. Die gaben noch Schüsse aus ihren Blastern ab, als sie nur noch stolpernde Lohen waren, ungezielt, zufällig, mit dem letzten Rest Loyalität ihren Herren gegenüber. Nacheinander sanken sie kraftlos zu Boden, verwandelten sich in Asche, die von den Flügelschlägen der Drachen fortgeweht wurde. Kamen die Bewohner des Drachenlandes aus eigenem Antrieb, oder hatte Gryf sie gefunden und als Hilfe in höchster Not hergeführt? Zamorra entdeckte den Druiden nicht. Gryf, wo steckst du?, dachte er mit höchster Intensität. Mit einem Satz sprang er aus seiner Deckung. Überall war Feuer, doch davon ließ er sich nicht aufhalten. Die Angst um Nicole trieb
ihn an und ließ ihn wie mechanisch agieren. Seine Lippen formten stumme Worte, die Spitzen seiner Finger woben magische Zeichen in die Luft. Vor Zamorra änderte sich die Lichtbrechung, wurde alles verschwommen. Er spürte Feuchtigkeit auf der Haut, Wassertropfen rannen über sein Gesicht und benetzten seine Haare und die Kleidung. Inmitten der Flammen bildete sich eine Gasse kühler, zirkulierender Luft. Zamorras weiße Magie widersetzte sich dem Feuer, das wie ein Vorhang über ihm zuschlug. Es erreichte ihn nicht. Auch nicht Clyr, der dem Menschen, ohne zu zögern, folgte. »Was ist das, Professor?«, rief der Cyborg ihm nach. »Was geschieht hier?« Der Flügelschlag der Drachen fachte den Feuerzauber an, obwohl er kaum Nahrung zum Verbrennen fand. Gierig versuchten die Flammen, den Dämonenjäger zu packen, doch sie prallten gegen eine unsichtbare Wand. Zwischen ihnen sah Zamorra Ausschnitte von Bildern, teils verwirrend, teils informativ. Von den Men in Black blieb nichts als Erinnerung. Sie waren es, gegen die die Drachen wüteten. Gegen ihn war ihre Kraft nicht gerichtet. Er sah zwei Drachen, die sich in seine Richtung bewegten. Anscheinend hatten sie vor, ihn aus der Gefahr zu holen, doch er wollte sich nicht retten lassen. »Es geschieht nur das, was geschehen soll«, rief er, wobei er sich auf seine Magie konzentrierte, einen uralten Zauber, mit dem die höchsten Priester von Teotihuacán vor 1.500 Jahren den Regengott Quetzalcoad um Beistand gebeten hatten. »Jedenfalls scheint es zu wirken.« Clyr hatte zu Zamorra aufgeschlossen. »Was haben Sie vor?« »Nicole befreien.« Zamorras Stimme klang angriffslustig. Er trug einen E-Blaster in der Hand. »Du wirst mich nicht davon abhalten.« »Das habe ich nicht vor, Professor. Ich werde Sie unterstützen. Es ist das einzig Sinnvolle, was ich noch tun kann. Meine Brüder sind tot. Ich bin allein.« Ein mit Giebeln gekröntes Tor lag vor Zamorra. Bevor er es sah,
kannte er es aus Nicoles Erlebnisbericht. Hier war sie gewesen. In die angrenzende Halle hatten die Drachen sie nach ihrer Befreiung aus Olangs Klauen geführt. Das Tor war geöffnet. Zamorra stürmte hindurch. Die Halle dahinter lag verlassen. Seine Schritte hallten zwischen den steinernen Mauern. Am jenseitigen Ende gab es einen weiteren Durchgang. Zamorra glaubte eine Bewegung dahinter zu erkennen. Ohne an die Gefahr zu denken, stürmte er durch die Halle. »Zamorra! Sei vorsichtig!« Die Warnung kam nicht von Clyr, der an seiner Seite war. Sie stammte von Gryf. In Begleitung eines Drachen lief auch der Druide in die Halle. Offenbar waren seine Bemühungen, die Drachen zu einem Bündnis zu bewegen, von Erfolg gekrönt. Zamorras Freude über das Auftauchen des Freundes wog nur kurz angesichts der dramatischen Lage, in der Nicole steckte. Es war geradezu grotesk, dass sie dem Tod ausgerechnet auf einer Welt potentieller Freunde ins Auge sah, nachdem sie unzählige Male den Kreaturen der Hölle getrotzt hatte. Der Dämonenjäger betrat einen kuppelartigen Gewölbedom. Ein runder, gänzlich aus Stein gemeißelter Tisch stand in der Mitte. Nicole lag darauf. Sie atmete schwach. Zamorras Erleichterung darüber war grenzenlos. Sie wurde getrübt durch die drei Men in Black, die seine Gefährtin entführt hatten. Mit erhobenen Blastern standen sie hinter dem Tisch, die Waffenmündungen auf Nicole gerichtet. »Lasst sie frei«, forderte Clyr. »Dann wird euch nichts geschehen.« Die Cyborgs zögerten, als sie sich mit einem aus ihren Reihen konfrontiert sahen. Leider nicht lange. Sie überwanden ihre Verwunderung viel zu schnell. »Du gehörst nicht zu uns. Du hast dich mit den Feinden der ERHABENEN verbündet.« »Was wollt ihr von Nicole?«, fragte Zamorra. Beiläufig registrierte er, dass Gryf und der Drache in den Gewölbedom kamen. Zahlenmäßig waren sie überlegen. Nur half ihnen das nicht, solange
die wehrlose Nicole mit der Waffe bedroht wurde. »Die ERHABENE hat uns beauftragt, Gefangene zu machen. Gebt den Weg frei, sonst werden wir zuerst die Menschenfrau und danach euch töten.« Zamorra zuckte zusammen. Er zweifelte nicht daran, dass die gefühllosen Cyborgs ihre Drohung in die Tat umsetzten, wenn man versuchte, sie aufzuhalten. Deren Worte machten noch etwas anderes deutlich. Nazarena Nerukkar persönlich hielt sich in der Nähe auf. Wahrscheinlich nicht, wie beim Anflug vermutet, auf ihrem Flaggschiff, der MACHTSPIEL, sondern im Drachenland. »Uns bleibt keine Wahl«, murmelte Zamorra. »Wenn wir nicht tun, was sie verlangen, töten sie Nicole.« »Du hast Recht, Alter«, pflichtete Gryf bei. »Wir müssen zurück. Von hinten kann man zuweilen mehr ausrichten. Ich habe mich darauf schon telepathisch mit Gundar verständigt.« Die Namensnennung konnte Zamorra nicht mehr überraschen. Ein paar Schritte von ihm entfernt stand Gundar, der aus Clyrs Schilderung bekannte Vorsitzende des Rats der weisen Geschuppten. Viel mehr gaben ihm Gryfs übrige Worte zu denken. Von hinten kann man zuweilen mehr ausrichten. Zamorra verstand. Jedenfalls glaubte er das. Wenn er sich nicht täuschte, plante der Druide einen Rettungsversuch mit hohem Einsatz, nämlich mit Nicoles Leben. Das stand ohnehin auf dem Spiel. »Uns bleibt wohl nichts anderes übrig«, zeigte er sich einverstanden. »Nun geht endlich«, drängte der Cyborg, der Nicole am nächsten stand. Zamorra tat so, als wollte er sich umdrehen, um die Halle zu verlassen. Die Blicke der drei Men in Black richteten sich auf ihn. Für einen Sekundenbruchteil nur waren sie abgelenkt und achteten nicht auf seine Begleiter. Den Moment nutzte Gryf für den zeitlosen Sprung. Ohne erkennbaren Zeitverlust tauchte er hinter den Cyborgs wieder auf und streckte einen von ihnen nieder. Die beiden
Verbliebenen fuhren herum – und begingen damit den nächsten Fehler. Schneller, als irgendeiner der Humanoiden sehen konnte, tat Gundar mit flatternden Schwingen einen Satz und warf sich schützend über Nicole. Zamorra und Clyr schossen gleichzeitig. »Gute Arbeit, Jungs«, lobte Gryf. Zu seinen Füßen lagen reglos die drei Men in Black. Gundar gab Nicole frei. »Drachenfieber«, stellte er fest. »Es ist so, wie ihr vermutet habt.« Zamorra stürzte zu seiner Gefährtin. »Kannst du sie heilen?«, fragte er ohne lange Umschweife. »Die schwarzen Männer werden uns keine Zeit dazu lassen. Bald schon werden weitere kommen. Oder sogar die Anführerin der Ewigen persönlich. Wir haben beobachtet, wie unterhalb des Tafelbergs ein weiteres Raumschiff abgestürzt ist. Eine Frau ist mit vielen schwarzen Männern ausgestiegen.« »Ihr habt sie nicht angegriffen?« »Gryf hat uns überzeugt, dass wir zuerst der Menschin und ihren Freunden helfen müssen. Außerdem wäre es unser aller Untergang, wenn wir die ERHABENE der Ewigen angriffen.« »Das verstehe ich nicht.« Zamorra dachte an Clyrs Erzählung, in der von der stärksten Waffe der Drachen die Rede gewesen war. »Warum setzt ihr nicht wie vor langer Zeit gegen Dar-Fi euren Feuersturm gegen sie ein?« Finstere Wölkchen huschten über Gundars Gesicht. »Das können wir nicht, weil sie uns in der Hand hat.« Gundar erzählte von der Bedrohung, die von dem irgendwo im Drachenland versteckten schwarzen Dhyarra ausging. Zamorras Gedanken überschlugen sich. Ein anderes Detail aus Clyrs Bericht war ihm im Gedächtnis haften geblieben. »Wieso habt ihr euren Flammenschirm um das Drachenland nicht wieder errichtet?« »Weil wir längst nicht mehr mit den Ewigen gerechnet haben. Sie haben uns überrascht. Als wir sie bemerkten, waren ihre Schiffe bereits auf unserer Welt. Wir haben auch zu lange gezögert. Ohne den schwarzen Dhyarra …«
Gundar ließ den Rest des Satzes offen. Zamorra verstand ihn auch so. Ohne den schwarzen Dhyarra könnten die Drachen nun ihren Feuersturm entfachen oder den Flammenschirm aufbauen. Durch den riesigen schwarzen Sternenstein waren ihnen die Hände gebunden. Doch die Situation hatte sich verändert. Zamorra stieß ein humorloses Lachen aus. »Wir werden die ERHABENE mit ihren eigenen Waffen schlagen«, erklärte er. »Gundar, rufe all deine Drachen zusammen.« Wenn der Bluff allerdings nicht wirkte, war er auch mit seinem Latein am Ende.
Nazarena Nerukkar wartete auf eine Nachricht, dass die verräterische Besatzung des Jägers überwältigt und gefangen genommen worden war. Sie wartete vergeblich. Die den Ewigen eigene Furcht hielt sie dennoch davon ab, mit Beibooten auf den Tafelberg zu fliegen, um nachzusehen, was dort geschah. Sie schreckte auf, als die Helligkeitsverhältnisse sich von einem Moment auf den anderen änderten. Es wurde etwas dunkler, so als hätte sich eine gewaltige Wolke vor die Sonne geschoben. Als die ERHABENE den Kopf in den Nacken legte, war der zuvor blaue Himmel verschwunden. Ein Meer aus dunkelrotem Feuer reichte, so weit das Auge sah. Erschüttert begriff sie, dass das Weltall hinter dem rollenden Feuerwall verschwunden war. Ob es so auf dem ganzen Planeten aussah? Sie war davon überzeugt. Was war das für eine Teufelei der Drachen? Unwillkürlich kam ihr der legendäre Feuersturm in den Sinn. »Herrin, Drachen nähern sich«, warnte einer ihrer Cyborgs. »Sollen wir sie töten?« Drei Drachen kamen vom Tafelberg herab. Das war ein schlechtes Zeichen. Die ERHABENE wusste sofort, dass die Cyborgs ihres Begleitschiffes zerstört waren. Das Schiff etwa auch? Dann saß sie fest, bis man sie entdeckte. Zorn wallte in ihr auf. Das tat sie
ohnehin unter diesem brennenden Himmel. Als die Drachen näher kamen, bemerkte sie, dass sie Lasten trugen. Nein, keine Lasten – Gestalten. Einen Cyborg und … Nazarena Nerukkar glaubte an eine Sinnestäuschung. Das waren zwei Menschen, Männer von der Erde. Den einen kannte sie nicht, bei dem anderen handelte es sich um Professor Zamorra. Seine Gefährtin und ihn hatte die ERHABENE auf die Todesspur von Ted Ewigks geliebter Carlotta gesetzt. Wie kam Zamorra ins Drachenland? Die Drachen setzten die Menschen und den Cyborg ab. Ausnahmslos waren sie bewaffnet, mit Blastern der Ewigen. Deswegen sorgte sich Nazarena nicht. Ehe auch nur einer von ihnen seine Waffe gegen sie erheben konnte, wären sie alle tot. Drei Dutzend loyaler Cyborgs überwachten jede Bewegung. »Nazarena Nerukkar«, sagte Zamorra. Seine Stimme drückte eisige Entschlossenheit aus. Was wollte er von ihr? Es hieß, dass sein Amulett sogar einen Schutz gegen Dhyarras bot, doch das musste sich erst beweisen. Unauffällig hielt sie nach dem Amulett Ausschau. Entweder trug Zamorra es nicht bei sich, oder es war unter seiner Kleidung verborgen. »Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuchs?« Sie gab sich Mühe, ihre Stimme möglichst spöttisch klingen zu lassen. »Die Ehre ist nicht auf meiner Seite.« In Zamorras Augen funkelte es so kalt, wie seine Worte waren. Sie begriff, dass sie diesen Mann nicht täuschen konnte. Dabei war er nicht mehr als ein armseliger Mensch. »Ich habe schon Wesen getötet, nur weil sie mich unaufgefordert angesehen haben. Also verschwenden Sie nicht meine Zeit, sondern verraten Sie mir, wie ich Ihnen helfen kann. Anscheinend sitzen wir ja beide auf diesem Planeten fest.« »Sie haben es also begriffen«, mischte sich der andere Mann ein. »Der Feuerwall, den die Drachen um ihre Welt gelegt haben, lässt sich nicht durchdringen. Nicht von innen und nicht von außen. Daran beißt sich sogar Ihre MACHTSPIEL die Zähne aus. Eine ganze Flotte Ihrer mächtigsten Schiffe wäre aufgeschmissen, selbst
Ihre Sternenschiffe.« »Gryf vergaß zu erwähnen, dass die Menschen das Drachenland durch ein Weltentor verlassen können, Sie jedoch nicht, ERHABENE.« Die Anführerin der DYNASTIE DER EWIGEN starrte den Cyborg fassungslos an. Nie zuvor hatte es einer von ihnen gewagt, unaufgefordert zu ihr zu sprechen. Sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Durch seine Hilfe waren die Menschen also ins Drachenland gelangt, auch wenn sie nicht erkannte, zu welchem Zweck. Vermutlich hatte er den Jäger gesteuert, gegen den sie gekämpft hatte. Der Cyborg konnte nur in Diensten Al Cairos stehen. »Ich werde diesen lächerlichen Feuerwall mit einem Gedanken auslöschen.« Sie nahm ihren Machtkristall in die Hand und konzentrierte sich auf ein bestimmtes Bild. Vor ihren Augen lief eine comicähnliche Szene ab, die durch die Magie entstehen sollte. Wie ein Vorhang riss der Feuerwall auseinander und gab den Weg ins All hinaus frei. Die ERHABENE ächzte, als es nicht funktionierte. Wie war das möglich? Ihr Dhyarra verweigerte ihr den Gehorsam? Sie bemerkte, dass der große Drache den Kopf wandte und zum Berg hinaufschaute. Eine Armee von Drachen war dort oben aufgezogen. Sie standen dicht gedrängt und hielten sich bei den Händen. Erst jetzt bemerkte sie, dass der Drache, der Zamorra getragen hatte, einen kleinen blauen Sternenstein um den Hals trug. Nazarena Nerukkar verwünschte den Tag, an dem sie auf die Idee gekommen war, das Drachenland zu erobern. Sie spielte mit dem Gedanken, mit ihrem schwarzen Dhyarra zu drohen. Wenn er die aufgestauten Energien aus Weltraumtiefen freisetzte, war es um das Drachenland geschehen. Nur würde ihr niemand glauben, dass sie das tat, weil es auch ihren eigenen Tod bedeutet hätte. »Es ist schön, dass Sie das einsehen, ERHABENE.« Der Mann, der Gryf genannt worden war, lächelte. »Oh, verzeihen Sie bitte, dass ich meine telepathischen Fähigkeiten zu erwähnen vergaß. Na,
Schwamm drüber. Reden wir doch mal Tacheles. Die Drachen sind bereit, für Sie und Ihre Leute ein Fenster im Feuerwall zu öffnen, damit Sie verschwinden. Mitsamt Ihrem schwarzen Dhyarra wohlgemerkt. Habe ich etwas vergessen, Zamorra?« »Du hast vergessen zu erwähnen, dass die Drachen ihren Feuersturm entfesseln, wenn die Ewigen und ihre Cyborgs nicht verschwinden. Sie sind bereit, es darauf ankommen zu lassen, ob der schwarze Dhyarra tatsächlich zündet.« Nazarena Nerukkar verzog keine Miene, um sich vor Menschen und Drachen keine Blöße zu geben. »Sie bluffen doch, Zamorra. Sie wollen so wenig sterben wie ich.« »Wir haben es nicht nötig zu bluffen. Clyr erwähnte doch schon, dass wir durch ein von den Drachen initiiertes Weltentor gehen, bevor der Dhyarra hochgeht.« Der ERHABENEN schwindelte. Clyr? Ein Cyborg, der einen Namen trug? Hier stimmte viel mehr nicht, als sie zunächst angenommen hatte. Der Cyborg konnte nicht zu Al Cairo gehören. Dazu war der Alpha viel zu arrogant. Er hätte das niemals zugelassen. Er schätzte die Cyborgs noch viel geringer, als die ERHABENE es tat. »Dieser Planet ist ein Fehler, Zamorra. Das werden Sie noch begreifen.« »Das finde ich nicht. Mir gefällt es hier.« »Dann bleiben Sie doch. Mir ist die Lust darauf vergangen.« »Das bedeutet, Sie stimmen dem Vorschlag der Drachen zu?« »So ist es. Ich gebe zu, ich habe mittlerweile jegliches Interesse am Drachenland verloren.« Ein trotziges Lächeln umspielte die Lippen der gleichermaßen schönen wie eiskalten Frau. »Gaia ist viel interessanter für mich und die DYNASTIE DER EWIGEN. Ich glaube, ich werde mich in nächster Zeit mehr mit Ihrer Erde beschäftigen.« »Ein guter Rat«, drohte Gryf. »Lassen Sie das besser. Denn jedes Mal, wenn Ihre glorreiche DYNASTIE versucht hat, die Erde zu erobern, hat sie ein Sternenschiff verloren.« Nazarena Nerukkar überhörte die Provokation. »Ich finde, wir
sollten uns jetzt trennen.« »Dort oben liegt ein intakter Jäger.« Zamorra deutete über die Schulter hinter sich. »Sie können ihn benutzen. Vergessen Sie vor Ihrem Abflug nicht, Ihren schwarzen Dhyarra aufzusammeln.« »Und kommen Sie nicht auf die Idee, ihn wieder auszuschleusen, bevor sie den Feuerwall passieren«, fügte der Druide hinzu. »Sie wissen ja …« Er tippte sich mit den Zeigefingern gegen die Schläfen. Die Drachen und ihre neuen Freunde überwachten den Flug der ERHABENEN und ihrer Cyborgs zum Jäger auf dem Tafelberg. In kürzester Zeit waren die Angehörigen der DYNASTIE DER EWIGEN in seinem Inneren verschwunden. Eine halbe Stunde später war der schwarze Dhyarra aus der Sandebene geborgen und an Bord verladen. Nazarena Nerukkar forderte sämtliche Ewigen-Schiffe, die sich im Drachenland aufhielten, auf, die im Feuerwall geschaltete Lücke zu benutzen, bevor die Passage sich wieder schloss. Bis dahin war alles gut verlaufen. Seine größte Sorge quälte Zamorra hingegen immer noch. Seiner Gefährtin ging es unverändert schlecht.
Lichtpunkte glommen in der Schwärze der Nacht auf. Es gab keine künstliche Beleuchtung. Nicht einmal die Fackeln an den Wänden brannten. Die Lichtpunkte bewegten sich und hinterließen Kondensstreifen in der Luft. Zamorra erahnte den Tisch im Gewölbedom mehr, als ihn zu erkennen. Nicole lag auf dem Rücken darauf. Sie bewegte sich nicht. Er konnte nicht sehen, ob sie atmete. Wenige Minuten vorher hatte sie es noch getan, flacher denn je zuvor. Knistern drang an sein Ohr, als die strahlenden Punkte zu Linien wurden und Figuren bildeten. Zamorra hatte derlei Formen nie zuvor gesehen. Ausnahmslos unterschieden sie sich voneinander. Manche hatten zwei Köpfe, andere drei Arme oder vier Beine. Wieder andere glichen krallenbewehrten Tentakelgeschöpfen, abstoßenden Monstren, denen man lieber nicht im Dunkeln
begegnen wollte. Eine Kreatur, die einzig aus einem gewaltigen, von Flaum umrahmten Maul bestand, schwebte über Nicoles Kopf. Der Dämonenjäger spürte, wie seine Handflächen feucht wurden. Gegen Gestalten, wie sie sich vor seinen Augen aus Lichtphotonen bildeten, pflegte er sonst zu kämpfen. Nein, mit Lichtphotonen hatte er es bestimmt nicht zu tun. Die Bezeichnung war viel zu physikalisch, viel zu real. Hier geschah etwas anderes. Die Drachen agierten auf einer metaphysischen Ebene, der Zamorra vertrauten Parapsychologie viel verwandter als sogenannter aufgeklärter Wissenschaft. Unwillkürlich erwachte sein berufsbedingter Instinkt in ihm. Er konnte nur hoffen, dass die Drachen wussten, was sie taten. Die sieben Ratsmitglieder standen mit geschlossenen Augen um den Tisch herum. Sie gaben einen auf- und abschwellenden Ton von sich, die schlichteste Art von Musik, die man sich vorstellen konnte. Die Gestalten umschwirrten Nicole und führten einen irren Tanz auf. Mehrmals hatte er den Eindruck, dass sie ihm bekannte Gesichter annahmen. Es waren Gesichter von Menschen, zu denen Nicole eine Beziehung hatte. Doch wie sollte das möglich sein? Woher hätten die Drachen sie kennen sollen? Zamorra führte die Assoziationen auf seine eigene Unruhe zurück. Die Lichtgestalten wirbelten durcheinander, bis sie sich nicht mehr voneinander trennen ließen. Sie waren eine Kreatur mit unzähligen Köpfen, Extremitäten, aufgerissenen Mäulern, hervorquellenden Augen, Nasen, Ohren, Nüstern, Schuppen, Krallen und Reißzähnen. Sie stieß einen klagenden Laut aus, der in der steinernen Halle wie das räudige Jaulen eines Kojoten auf einem uralten Friedhof klang. »Was …?« »Ruhig bleiben!«, zischte Gryf. Zamorra nickte. Vor Beginn des Rituals hatten die Drachen ihm eingeschärft, dass er sich nicht einmischen durfte, gleichgültig was auch geschah. Aus schreckgeweiteten Augen verfolgte er, wie die Kreatur über Nicoles Brust schwebte und in ihr versank. Es wurde stockdunkel, bis sich eine leuchtende Kugel aus dem Nichts schälte. Sie schwebte in mehreren Metern Höhe unter der Dachkuppel.
Für einen Moment brach der Singsang der Drachen ab, nur um gleich mit doppelter Lautstärke wieder einzusetzen, als ein Krampf durch den Körper der Französin lief. Sie bäumte sich auf und sank wieder in sich zusammen. Deutlich hob und senkte sich nun ihre Brust. Ihr Atem ging stoßweise. Die Drachen traten vor und berührten ihren Körper mit den ausgefahrenen Krallen. »Sie glüht«, wisperte Gundar. »Das reicht nicht aus. Sie muss brennen. Das Fieber muss brennen. Feuer bekämpft man mit Feuer.« Die Drachen sangen nicht weiter. Eine unheimliche, bleierne Stille senkte sich über die Versammlung. Lichttropfen fielen von der Kugel unter der Decke, auch sie immateriell. Jedenfalls, wenn man normale Maßstäbe anlegte. Wie sonst hätten sie einfach in Nicoles Körper eindringen können, ohne eine Spur zu hinterlassen. Scheinbar eindringen, dachte Zamorra. Was hier geschah, widersprach allem Gewohnten. Dabei hatte doch gerade er tagtäglich mit Übersinnlichem zu tun, dessen Existenz 99 Prozent der Menschheit vehement abstritten. Wieso also fiel es ihm so schwer, einfach nur zu glauben? Weil seine eigenen Heilzauber ausgerechnet bei seiner Gefährtin versagt hatten? In diesem Moment schlug Nicole die Augen auf. Zamorra wollte zu ihr eilen, doch Gryf hielt ihn fest. Nicoles Kopf schien in Licht zu baden. Was in sie eingedrungen war, bahnte sich durch ihre Augen einen Weg in die Freiheit. Ein Lichtkokon aus unzähligen Flammen umwob sie. Immer klarer wurde ihm, dass alles, was mit den Drachen zu tun hatte, irgendwie vom Feuer gelenkt wurde. Drachen und Feuer gehörten im Drachenland viel enger zusammen als die Elemente anderenorts. Es fragte sich nur, ob die Drachen das Feuer beherrschten oder umgekehrt. Das Licht löste sich von Nicole. Die Flammen verwandelten sich zurück in Tropfen, die zur Kuppeldecke aufstiegen und in der leuchtenden Kugel verschwanden. »Es hat begonnen«, raunte Gundar. »Nun muss es enden, wenn wir die Menschin retten wollen.«
Wenn … das Wort erschütterte Zamorra, und doch konnte er nichts tun. Sollte er die Worte mitbekommen? Wozu sonst sprach Gundar sie aus, statt telepathisch mit seinen Brüdern zu kommunizieren? Er schloss die Augen, als es jäh aufflammte. Als er sie wieder öffnete, dauerte es ein paar Sekunden, bis er wieder sehen konnte. Zamorra erschauderte. Aus aufgerissenen Mäulern spien die Drachen Feuer auf den Steintisch. Es überschwemmte ihn, verschlang ihn. In den grellen Entladungen verschwanden seine Umrisse in einem übermannsgroßen Feuerball, in dessen Mittelpunkt Nicole eingeschlossen war. Der Dämonenjäger schrie auf. Er riss sich aus Gryfs Griff los, machte drei Schritte vor, zögerte. Er musste Nicole da rausholen, egal was es ihn kostete. Zamorra dachte nicht nach, sondern sprang. Seine Oberarme schlugen auf die Steinplatte. Schmerz zuckte bis in seine Fingerspitzen. Reflexartig riss er die Hände nach oben. Sie waren unversehrt. Der Stein war kühl, das Feuer, in dem er gefangen war, ebenfalls. Es strahlte keine Hitze aus, entzog sie im Gegenteil dem Körper seiner Gefährtin. Er legte Nicole eine Hand auf die Stirn. Kein Fieber war zu spüren, keine erhöhte Temperatur. Immer noch hielt Nicole die Augen geöffnet. Bewegung kam in ihren starren Blick. Sie schaute ihn an. Lächelte. Und fuhr sich mit der Zungenspitze über die spröden Lippen. »Was ist geschehen?« »Das ist …« Eine lange Geschichte. Zamorra versagte die Stimme. Das Feuer erlosch, die Kugel unter der Kuppeldecke löste sich auf. Zurück blieb abgrundtiefe Dunkelheit, bis die Drachen mit dosierten Flammen die Fackeln an den Wänden entzündeten. Es war vorbei. Zamorra konnte es nicht fassen. Gryf dafür umso mehr. Er konnte es kaum erwarten, endlich zur Erde zurückzukehren. »Seht euch doch mal an«, sagte er vorwurfsvoll. »Ihr habt euch, aber was ist mit mir? Ich bin sicher, Teri hat schon Sehnsucht nach
mir. Und die anderen Mädels erst mal.« Trotzdem blieben die Freunde noch bis zum nächsten Tag im Drachenland. Die Drachen hatten Nicoles Leben gerettet, weil sie es als ihre Pflicht ansahen. Zu mehr waren sie nicht zu bewegen. Besonders verweigerten Gundar und die anderen Ratsmitglieder jedes Wort, das Fooly betraf. »Werden wir uns wiedersehen?«, fragte Zamorra zum Abschied. »Ihr könnt uns nicht besuchen«, lehnte Gundar ab. »Das Weltentor, das wir für euch schaffen, funktioniert nur in eine Richtung. Ihr könnt es ein einziges Mal benutzen, danach erlischt es.« Zamorra war nicht ganz zufrieden mit dieser Antwort. Insgeheim hatte er aber nichts anderes erwartet. »Was ist mit dir, Clyr?« »Ich habe keine Heimat. Meine Brüder sind tot. Wenn Gundar nichts dagegen hat, würde ich gern im Drachenland bleiben.« »Wenn du bleibst, wird es für immer sein. Es wird kein weiteres Weltentor geben.« »Einverstanden.« »Vielleicht bekommt ihr ja bald wieder Besuch aus einer anderen Richtung«, flachste Gryf. »Ich würde der guten Nazarena Nerukkar gönnen, dass sie sich auch mit Drachenfieber infiziert hat.« Der Aufbruch gestaltete sich kurz und schmerzlos. Gemeinsam traten Zamorra, die genesene Nicole und Gryf durch das Weltentor, das sie zur Erde brachte. Es blieb danach noch wenige Minuten stabil. Als es begann, sich aufzulösen, sprang Clyr hindurch. Ein Leben unter den ihm ähnlichen Menschen war zweifellos interessanter als eins unter Drachen.
Epilog Ein kalter Wind pfiff durch die Straße. Er machte dem einsamen Mann nichts aus, der neugierig vor den Auslagen der Schaufenster stehen blieb. Er begriff nicht, was er sah. Da, wo er herkam, gab es die angepriesenen Gegenstände nicht. Eine Weile rätselte er über ihren Sinn, dann gab er die fruchtlosen Bemühungen auf. Er wandte sich ab und ging die belebte Straße weiter. Er brauchte eine Unterkunft für die bevorstehende Nacht. In der Innentasche seines Jacketts steckte ein Bündel Geldscheine. Es hieß, dass man für Geld auf dieser Welt alles bekommen konnte, selbst eine Schlafmöglichkeit. Er wusste nur noch nicht genau, wie er dieses Geschäft einfädeln sollte. »Hey, Mann, ich glaube, ich habe dich im Kino gesehen.« Die Stimme machte den Mann aufmerksam. Er hielt inne und sah sich um. Zwei Jungen, nicht älter als dreizehn oder vierzehn Jahre, hockten auf den Stufen, die zu einem Hauseingang führten. Sie musterten ihn ungeniert und feixten miteinander. »Im Kino? Mich? Das glaube ich kaum. Ich war noch nie im Kino.« Das war noch so eine Tätigkeit, die er sich für die Zukunft vornahm, um mitreden zu können, wenn er darauf angesprochen wurde. »Du könntest aber einer von diesen beiden Typen sein«, beharrte der Junge. »Kann er nicht«, widersprach dessen Freund. »Sieh ihn dir doch an. Für Tommy Lee Jones ist er zu jung und für Will Smith viel zu weiß.« Die beiden Jungen grinsten vor sich hin. »Ich kenne diese Namen nicht.« Der Mann machte Anstalten weiterzugehen. »Und du bist doch einer von den Men in Black. Dann eben ein anderer aus dem Verein. Ich wette, du hast schon eine Menge
Außerirdischer gekillt.« »Ich bin kein Man in Black. Ich bin … ich war ein Cyborg. Jetzt bin ich das aber nicht mehr. Außerdem habe ich nicht viele Außerirdische gekillt. Nur ein paar Gkirr, und selbst das bedauere ich.« »Schrill!«, keifte der zweite Junge. »Der ist ja noch viel durchgeknallter, als es auf den ersten Blick aussah.« »Hm«, machte der Mann nachdenklich. »Wisst ihr vielleicht, wo man hier schlafen kann?« »Übernachten? Hast du Geld?« »Ich habe Geld. Man sagte mir, dass ich dafür auch übernachten könne.« Die beiden Jungen johlten vor Vergnügen und klatschten sich vor Begeisterung auf die Schenkel. Der Mann verstand nicht, was sie so belustigte. Das Konzept des Humors bedurfte noch einiger Studien. »Geh die Straße hundert Meter weiter«, sagte einer der Jungen. »Dann siehst du auf der anderen Straßenseite ein Schild. Hugo's Inn. Dort kannst du für Geld übernachten. Der Alte fragt auch keinen danach, wie viele Außerirdische man schon umgebracht hat.« »Das ist gut.« Grußlos ging der Mann weiter die Straße entlang, bis er das angegebene Haus erreichte. Tatsächlich wurden dort Zimmer angeboten. Der Mann lächelte. Er freute sich darauf, endlich wieder zu schlafen. Und zu träumen. ENDE
Vorschau Das dunkle Kind von Christian Montillon Ihre Geburt verläuft unter schrecklichen Umständen, doch niemand ahnt, was wirklich geschehen ist. Sie wächst heran, und an ihrem vierten Geburtstag beginnt die magische Zeitbombe zu ticken … Professor Zamorra gerät auf ihre Spur und damit in einen Strudel katastrophaler Ereignisse. Als er die wahren Hintergründe erkennt, ist es bereits zu spät. Das Chaos nimmt seinen Lauf – und ein Geheimnis aus tiefster Vergangenheit offenbart sich …