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Sehr geehrter Leser! Mit Dr. Glenn Morton hat Autor John Ball eine der faszinierendsten Figuren der Grusel- und Horror-Literatur geschaffen, wenn nicht die fesselndste und bedeutsamste überhaupt. Außergewöhnlich, initiativ, zielstrebig, ungeheuer ehrgeizig, geachtet, geehrt – genial – und doch hart, rücksichtslos, gehaßt: das ist DR. MORTON, Arzt und Wissenschaftler. Verbrecher und Mörder! Das sagen die anderen. Urteilen Sie selbst! Lassen auch Sie sich von der Ausstrahlung seiner schillernden Persönlichkeit und von seiner unheimlich zwingenden Geisteskraft gefangen nehmen. Er ist ein von seinen Ideen Besessener, ein Genie zwischen Gipfel und Abgrund. Fürchten Sie sich nicht vor dem Abgründigen in DR. MORTON, fürchten Sie sich nicht vor sich selbst. Schließen Sie das Fenster und löschen Sie das überzählige Licht. Eine angenehme Gänsehaut verträgt nur wenig Geräusch und knappe Helligkeit. Eine unheimliche Lektüre wünschen Ihnen Verlag und Redaktion ANNE ERBER VERLAG ERBER + LUTHER Verlagsgesellschaft mbH 7595 Sasbachwalden, Luther Haus, Postfach 5 LUTHER PRESSE Gescannt u bearbeitet von „schroeg“
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DR. MORTONS UNFREIWILLIGER GAST VON JOHN BALL
Dr. Glenn Morton war auf der Rückfahrt von seinem Cottage in der Nähe von Ashburton, Dartmoor. Ausnahmsweise hatte er sich von Grimsby abholen lassen. Er saß im Fond des Rolls-Royce Phantom V und beschäftigte sich mit der Lektüre der Times, als er spürte, daß die Fahrt sich abrupt verlangsamte. „Was gibt es, Grimsby?" „Ein Unfall, Sir, wenn ich mich nicht täusche." Wenige Yards später mußten sie halten. Morton ließ die Seitenscheibe nach unten gleiten und sah sich plötzlich einem geröteten Gesicht gegenüber, aus dem ihn zwei wasserhelle Blauaugen anstarrten. "Sie sind nicht zufällig Arzt, Sir?" fragte der Polizist. „Ich bin zufällig Arzt", sagte Morton. Er war schon ausgestiegen, bevor der andere weitere Fragen stellte. Im Graben neben der Straße lag ein schwerer Daimler Sovereign mit einem dezenten Wappen auf der Vordertür. Dr. Morton drehte sich fragend um, da er kein Unfallopfer sah. „Der Earl of Saffron, Sir. Wir haben ihn versorgt, so gut es ging. Er liegt dort drüben.” Dr. Morton betrachtete den Verunglückten. Er war bewußtlos und hatte offenbar einen Schock erlitten. Um den Hals trug er eine rotgefärbte Bandage. „Er hat geblutet wie ein Schwein, Sir — mit Verlaub", sagte der Uniformierte. „Wir wußten uns nicht anders zu helfen." „Wo ist das nächste Krankenhaus?" „In Winchester." „Das sind mehr als zehn Meilen, nicht?" „Im Dorf dort vorne gibt es einen Behandlungsraum. Aber ..." Dr. Morton ließ den bewußtlosen Earl, nachdem er ihm an Ort und Stelle eine Infusion gegen Schock verabreicht hatte, dort hinbringen. Der Behandlungsraum erwies sich als zwar sauber, aber primitiv ausgestattet. „Sie werden assistieren, Grimsby." „Jawohl, Sir." Sie standen nebeneinander an den beiden Waschbecken und wuschen sich die Hände. Fünf Minuten später standen sie neben dem Verunglückten, der sich zu regen begann. Der Bobby war ebenfalls im Raum und einige weitere Personen, die hier absolut nichts verloren hatten. Aber Morton nahm sich keine Zeit, sie zu verscheuchen. „Bandage abnehmen", sagte Morton. Grimsby kam der Anordnung nach. Der Earl of Saffron wendete stöhnend den Kopf. Eine Blutfontäne schoß fast yardhoch .in die Luft. Einige der Zuschauer schrien vor Schreck auf. Vielleicht schrie auch Saffron, aber das hörte man nicht. Die Fontäne fiel zurück, dem Earl ins Gesicht. Er spuckte und hustete und würgte und keuchte: „Ich sterbe. Oh, ich sterbe!" Dann hustete er das Blut durch die Gegend und dem neugierigen Polizisten, der sich zu nah herangewagt hatte, über die schöne Uniform. Im Moment war die Blutung gestoppt, denn Dr. Mortons Finger steckte in der Wunde. „Und jetzt?" fragte Grimsby. Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Die Sache war schwierig und spannend. Er hatte noch keine Ahnung, wie sein Chef sich aus der Affäre ziehen würde, aber er traute ihm zu, daß er mit der Situation fertig wurde. Seite 4
„Wir müssen ihn schlafen schicken, Grimsby. Und Sie stellen seine Blutgruppe fest. Ob's hier Konserven gibt?" „Sind vorhanden, Sir. Ich hab' eben nachgeschaut. Vorausgesetzt, er hat keine ausgefallene Blutgruppe." Der Earl wurde von Sekunde zu Sekunde unruhiger. Er wälzte sich hin und her, und Dr. Morton hatte alle Mühe, seinen Finger auf der zerstörten Halsschlagader zu halten. Auf Mortons Anweisung gab Grimsby dem Verletzten so viel Penthotal, daß er sich rasch beruhigte. Dann führte er den Intratrachealtubus ein. „Das hat er immerhin überlebt", murmelte Glenn Morton. „Aber wenn's mir nicht bald gelingt, diese verdammte Schlagader abzuklammern ..." Er hatte nur die linke Hand zur Verfügung, und das war ein arges Handikap. Einige Leute wurden blaß und zogen sich zurück, als sie sahen, wie er die Verletzung mit mehreren raschen Skalpellschnitten vergrößerte. Dann führte er die Klammer an seinem Finger vorbei in die Wunde. Grimsby schüttelte den Kopf. „Mit einer Hand?" fragte er zweifelnd. „Versuchen S i e' s!" sagte Morton. Grimsby, obwohl er sein Medizinstudium schon nach wenigen Semestern zwangsweise abgebrochen hatte, erwies sich auch in dieser prekären Situation als geschickter Mann. Eine halbe Minute später saß die Klammer. Dr. Morton konnte seinen Finger wegnehmen. Er drehte sich um und sah sich mehr als einem halben Dutzend Neugieriger gegenüber, die ihn mit großäugiger Verwunderung anstarrten. „Raus!" Keiner wich. Morton wandte sich an den Uniformierten: „Sorgen Sie dafür, daß die Leute verschwinden. Ich gebe Ihnen zehn Sekunden." „Jawohl, Sir!" Der Bobby salutierte. Er hatte jetzt wieder sicheren Boden unter den Füßen. Die Anweisung des Doktors war ein Befehl, und den führte er aus. Der Rest war Routine. Nachdem die Blutgruppe des Earls ermittelt war, stellte sich heraus, daß genügend Konserven vorhanden waren. Dr. Morton, der sich bereits als junger Assistent in der Unfallstation des Middlesex Hospital ausgiebig mit Vaskularchirurgie beschäftigt hatte, setzte eine saubere Naht und versorgte seinen Patienten für den Transport ins Krankenhaus. Der Transportwagen stand schon seit einer Weile vor der Tür. „Sie haben ihm das Leben gerettet, Sir", sagte Grimsby eine Viertelstunde später, als sie die Außenbezirke von London erreicht hatten. Morton, wieder in die Lektüre der Times vertieft, antwortete nicht darauf. „Der Earl of Saffron", sagte Grimsby nachdenklich. „Er könnte uns bei Gelegenheit nützlich sein." Morton sah von seiner Zeitung hoch und lächelte. „Was mich an Ihnen immer wieder fasziniert, Grimsby, ist die Tatsache, daß Sie in jeder Situation praktisch denken." Dr. Glenn Morton hatte William Grimsby zu sich bestellt, da es etwas zu besprechen gab. Als Grimsby eintrat, fand er jedoch außer seinem Chef auch Miss Cynthia Barrington vor, Mortons andere rechte Hand. „Morgen, Schwester", knurrte Grimsby, der die attraktive Cynthia an diesem Tag noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. „Haben Sie die Zeitung gelesen?" fragte Schwester Barrington mit leuchtenden Augen. „Sie sind voll von Dr. Mortons Bravourstück!" „Von mir schreiben sie nichts?" fragte Grimsby und grinste. „Ich sollte mich beschweren. Schließlich ..."
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„Schließlich haben Sie mir assistiert", vollendete Morton gutgelaunt, „und tatsächlich beachtlichen Anteil daran, daß der Earl den Unfall überlebt hat. — Ist noch etwas, Cynthia?" Sie begriff, daß er Grimsby unter vier Augen sprechen wollte und machte sich davon. Sobald sie den Raum verlassen hatte, veränderte sich Grimsbys Haltung. Eine Spur Vertraulichkeit kam zwischen den beiden Männern auf. „Philipp Gregory", sagte Dr. Morton. „Sagt Ihnen der Name was, Grimsby?" Der andere dachte nach, überlegte mit gerunzelter Stirn. „Sprechen Sie von dem Burschen, der seine Erzieherin umgebracht hat, Sir?" „Richtig. — Wenn auch das Gericht zu dem Schluß kam, die alte Dame sei von Gregory nur verprügelt worden und aus Angst aus dem Fenster gesprungen." „Wobei sie sich unter anderem das Genick brach", sagte Grimsby nickend. „Ich erinnere mich jetzt sehr gut an den Fall. Wir haben auch schon einmal darüber gesprochen. Damals, als man ihn zu lächerlichen 18 Monaten verurteilte." „So ist es", sagte Dr. Morton seufzend. „Inzwischen ist Philipp Gregory erneut unliebsam in Erscheinung getreten." „Ach?" „Es ist vertuscht worden. Kaum eine Zeile hat in den Zeitungen gestanden. Gregory 'hat seine Frau in einer Bar in Kensington fast erwürgt und zwei Gäste, die ihr zu Hilfe kamen, krankenhausreif geschlagen. Der eine lag mehrere Tage bewußtlos und hat einen Schaden zurückbehalten, der ihn lebenslang arbeitsunfähig macht. Gestern war die Verhandlung. Der Teufel weiß, wie Gregorys Anwälte es angestellt haben. Jedenfalls begnügen unsere Abendblätter sich mit lapidaren Fünfzeilenmeldungen, und statt den Namen des hoffnungsvollen jungen Mannes zu nennen, bringen sie nur die Initialien. Das Urteil ..." „Lassen Sie mich raten, Sir!" unterbrach Grimsby. „Freispruch?" „Allerdings. Gregory hatte sich mit seinen Opfern vorher geeinigt." „Was ihm bei seinem Vermögen nicht schwer gefallen ist." „Richtig. Er hat sich inzwischen scheiden lassen. Ich vermute, die Abfindung war so hoch, daß seine Frau keine Schwierigkeiten hat, die Szene ebenfalls aus ihrem Gedächtnis zu streichen." „Ein unsympathischer Zeitgenosse", murmelte Grimsby, der über Philipp Gregory nachdachte. „Ich habe gründlich darüber nachgedacht", sagte Dr. Morton knapp. William Grimsby wußte, was das bedeutete. Er sah seinen Chef mit schräg gelegtem Kopf an und wartete auf Anweisungen. „Wir müssen die Gerechtigkeit wieder herstellen, nicht wahr, Grimsby?" „Sehr wohl, Sir." „Er hat gemordet", sagte Morton langsam. „Bei seinem Naturell ist es nur eine Frage der Zeit, wann er das nächste Verbrechen begeht. Das heißt: Es wäre nur eine Frage der Zeit ..." „Haben Sie schon bestimmte Vorstellungen, Sir?" „Noch nicht. Wir wollen das auch nicht überstürzen. Jedenfalls benutze ich die nächste Gelegenheit, mich einmal mit dem jungen Mann zu unterhalten." „Was Ihnen nicht schwer fallen dürfte.” Dr. Morton nickte. „Auch etwas, was ich nicht verstehe. Die Londoner Gesellschaft, die sonst so rasch mit Verdammung und Verbannung reagiert, hätschelt diesen Burschen, als sei e r ' s, dem Unrecht geschehen ist. Er wird nach wie vor überall eingeladen." Grimsby schüttelte den Kopf. Seite 6
• „Der Gipfel der Unverschämtheit ist: Er geht auch nach wie vor überall hin." „Nicht mehr lange", erlaubte Grimsby sich zu bemerken. Dr. Morton änderte seine Haltung. Sein Gesichtsausdruck verlor jede Spur von Nachdenklichkeit. Für Grimsby war das Beweis genug, daß das Thema Philipp Gregory für diesmal abgeschlossen war. „Wie geht es in Brighton, Grimsby?" erkundigte Dr. Morton sich sachlich. Klar, daß Dr. Morton mit dieser Frage weder Lannix-Manor meinte noch die Klinik. „Mrs. Clandon geht es soweit gut", antwortete Grimsby nachdenklich. „Sie scheint auch die letzte Behandlung ohne für mich erkennbare Schäden zu überstehen. Aber psychisch ..." „Sie ist bald am Ende", stellte Dr. Morton sachlich fest. „Kein Wunder. Wenn man Sie einsperrte, Grimsby, oder mich ... Ich gebe zu, Mrs. Clandon tut mir leid. Wäre sie doch nur nicht Stone über den Weg gelaufen." „Aber was können wir tun, Sir?" „Nichts", sagte Morton sachlich. „Etwas schon." „Was meinen Sie?" fragte Morton interessiert und sah Grimsby erwartungsvoll an. „Wir könnten sie töten", antwortete Grimsby schlicht. „Es wäre eine Erlösung für sie." Dr. Morton antwortete nicht. Er schien Grimsby anzusehen, aber in Wirklichkeit sah er durch ihn hindurch und dachte über den Vorschlag nach. Arme Mrs. Clandon, dachte er. Der Tod als Erlösung. Such is life Dr. Glenn Morton, erfolgreicher Arzt, Mitglied des Königlichen Kollegiums der Chirurgen und eines halben Dutzends ähnlicher exklusiver Vereinigungen, Praxis in der Harley Street und Privatklinik in Brighton — dieser Dr. Glenn Morton, der scheinbar als Prototyp des Arztromans gelten konnte, wie ein großer Teil der weiblichen Bevölkerung ihn mit Herzen und feuchten Augen verschlingt, machte auch im Frack, mit einigen dezenten Ordensbändchen, eine fabelhafte Figur. Es gab ein paar Konservative, die's ihm übel nahmen, daß er sein Haar sehr lang und dazu noch einen Bart trug — aber natürlich tolerierten die meisten bei einem Mann von Mortons Zuschnitt solch kleine Extravaganzen. Und die anderen verstiegen sich höchstens zu der Bemerkung, Dr. Glenn Morton sei eine etwas schillernde Persönlichkeit. Die Party, die Glenn Morton besuchte, fand im feudalen Claridge's statt und wurde von einem Mitglied des Oberhauses veranstaltet. Morton verstand es, sich nach einiger Zeit dem allgemeinen Interesse schier jeder fragte ihn nach der Geschichte mit dem Earl of Saffron zu entziehen und eine ruhige Nische zu erreichen. Von hier aus konnte er das Objekt beobachten, das ihn veranlaßt hatte, der Einladung zu folgen. Philipp Gregory schien sich fabelhaft zu unterhalten. Er plauderte, lachte und trank unglaubliche Mengen. Wenn er so weitermacht, dachte Morton, gibt's vielleicht auch schon hier wieder einen Zwischenfall. Ich bin gespannt, wie man reagiert, wenn er in den geheiligten Hallen des Claridge's eine Schlägerei beginnt oder seine Tanzpartnerin zu erwürgen versucht. „Sie sind doch nicht menschenscheu, Glenn?" fragte eine sehr weibliche Stimme mit diesem sehr bestimmten Unterton, der jedem einigermaßen erfahrenen Mann verrät, was die Frage in Wirklichkeit bedeutet: 'Warum, zum Teufel, kümmerst du dich nicht um mich und gehst mit mir ins Bett? Merkst du denn nicht, wie scharf ich auf dich bin?' Glenn Morton drehte sich langsam um und lächelte Norah Partridge verbindlich an. „Ich hatte keine Ahnung, daß Sie hier sind, Norah. Eine angenehme Überraschung." Seite 7
„Wirklich?" fragte sie mit ihrer dunkelsten Stimme. „Sie zweifeln doch nicht an dem, was ich sage? Bitte nicht! Wenn Sie damit anfangen, mich für einen Lügner zu halten, wird bald ganz London das gleiche tun, und dann kann ich mir einen Nachfolger für meine Praxis suchen." „Ironisch wie immer", sagte Miss Partridge. „Ich frage mich, weshalb ich Sie nach wie vor für einen netten Menschen halte und eine Nacht mit Ihnen für eins der erstrebenswertesten Erlebnisse." „Sie sind ungewöhnlich direkt, Norah", sagte er mit einem Lächeln, das einen Teil seiner weißen, kräftigen Zähnen entblößte. „Sie sehen mich an wie ein Raubtier." Norah spielte ihre Unsicherheit vollendet. „Wie ein sehr hungriges Raubtier, Glenn ..." „Ich war in der Tat noch nicht am Bufett. Kommen Sie mit?" Norahs Seufzer klang enttäuscht. Warum hatte sie ihm auch diese Chance gegeben, sie miß zu verstehen? Immerhin — wenn sie zusammen zum kalten Bufett gingen, blieb sie vorläufig in seiner Nähe. Vielleicht ... „Nach wem halten Sie eigentlich ständig Ausschau?" Er ließ sich nichts anmerken, aber die Frage gab ihm zu denken. Hatte er Philipp Gregory tatsächlich so intensiv beobachtet, daß es auffiel? Das war nicht gut. Das durfte er sich nicht leisten. Glenn Morton beschloß, ab sofort wesentlich vorsichtiger zu sein. Er unterhielt sich mit Norah Partridge über alle Nichtigkeiten,, die ihr einfielen. War sicher, daß die Blicke, die er Gregory trotzdem hin und wieder zuwarf, keinem Menschen auffielen. Ein arroganter, überheblicher, dabei flacher Mensch, dachte er. Ein Bursche mit übler Veranlagung. Es wird Zeit, die Menschen von ihm zu erlösen. Er geantwortete Norahs Fragen; das verlangte ihm nur einen Teil seiner Konzentration ab. Den Rest schenkte er Überlegungen zum Thema Verbrechensvorbeugung. Man müßte potentielle Verbrecher erkennen können, bevor sie das erste Mal zuschlagen, dachte er. Aber selbst, wenn das irgendwann möglich werden sollte, werden zahllose Gesetze im Wege stehen. Die heutigen Formen des Zusammenlebens mögen für unsere Verhältnisse optimal sein — absolut gesehen sind sie es sicher nicht. „Hören Sie mir überhaupt zu, Glenn?" „Wie können Sie daran zweifeln, Norah?" „Also schön: Was habe ich gefragt?" „Ob ich mitkomme." „Und Ihre Antwort?" „Selbstverständlich. Wie könnte ich Ihnen das abschlagen, Norah? Aber Sie wollen doch jetzt noch nicht gehen?" Sie sah ihn von der Seite an. Todsicher hatte er ihre Frage richtig verstanden. Aber sie war sich absolut nicht darüber klar, ob er sie nicht absichtlich falsch interpretieren würde. So oft hatte sie schon versucht, Dr. Glenn Morton in ihre Sammlung berühmter Männer einzureihen, daß sie sich allmählich an Fehlschläge gewöhnte. Wie zufällig führte Dr. Morton Norah hinüber zum anderen Ende des langgestreckten Raums. Dorthin, wo Philipp Gregory sich übellaunig gegen die Wand lehnte und zuhörte, wie ein uralter Oberst über seine Erlebnisse aus vergangenen Kolonialzeiten schwadronierte. Warum hört er zu, wenn ihn das Gerede so sichtlich langweilt? fragt Glenn Morton sich. Höflichkeit? Bei Gregory ganz bestimmt nicht! Er nahm die anderen, die den Oberst umstanden, in Augenschein. Ein zauberhaftes junges Mädchen war darunter. Die Kleine stand Gregory genau gegenüber. Morton Seite 8
merkte, daß sie hin und wieder einen Blick zu dem jungen Mann warf, der leider ein Mörder war, wenn das Gericht ihn auch von diesem Vorwurf freigesprochen hatte. „Wer ist das?" fragte Morton beiläufig und deutete mit dem Kinn zu der Blonden hinüber. „Nichts für Sie, Glenn", sagte Norah sachlich. „Ich frage nur, weil das Gesicht mir noch nirgends begegnet ist." „Die Tochter von Colonel Sandringham." „Eine brave Tochter", sagte er spöttisch. „Hört ihrem Erzeuger so geduldig zu ... Aber könnte er nicht eher ihr Großvater sein?" „Natürlich. Das ist er auch. Sie ist die Tochter des jüngeren Sandringham. Er ist ebenfalls Colonel. Im Kriegsministerium." Dr. Mortons Interesse an der Kleinen schien von einer Sekunde zur anderen zu erlöschen. Diesen Eindruck gewann, Norah jedenfalls — und war sehr einverstanden. Morton dachte jedoch sehr intensiv darüber nach, ob und wie Miss Sandringham sich möglicherweise als Köder benutzen ließ, wenn er daranging, Philipp Gregory einzufangen. • „Ach, Sie sind's, Chefinspektor. Verzeihung." Der junge Beamte blieb zwischen Tür und Angel stehen und wußte nicht, was er tun sollte. Spratt grinste breit. „Was bringt Sie so durcheinander, Miller? Die Tatsache, daß Sie mich in meinem eigenen Büro finden?" „Ich wußte nicht, daß Sie noch da sind, Sir." „Sie hofften, mich nicht hier vorzufinden?" „Um die Wahrheit zu sagen: ja, Sir." „Erklären Sie mir das", verlangte Spratt. Er weidete sich an der Verlegenheit des anderen. „Es ist ... Es sind die Zeitungen, Sir." „Eh?" „Als Chefinspektor bekommen Sie alle Blätter. Und Sie sind so ziemlich der einzige hier im Yard, der sie nicht zerschneidet. Deshalb ... " „Ich verstehe", sagte Spratt. „Hier, nehmen Sie sie mit. Ich brauche sie nicht mehr." „Danke, Sir." Miller stolperte über seine eigenen Füße und hatte plötzlich große Eile, das Zimmer des Chefinspektors wieder zu verlassen. Ob der Alte ihm das Hereinplatzen übelnahm? Es gab Kollegen im Yard, die Spratt den Elefanten nannten. Weil er angeblich nie etwas vergaß. Der Fairneß halber, dachte Miller, muß ich aber auch sagen, daß er nur Verbrechern gegenüber als besonders nachtragend gilt. Daß er Kollegen aufs Korn nimmt, kann man ihm nicht nachsagen. „Miller!" Er war schon an der Tür, hatte den Griff in der Hand und drehte sich zögernd um. Sehr wohl war ihm nicht in seiner Haut. „Ja, Sir?" Spratt fixierte ihn schweigend. Er hielt eine dunkelblaue Mappe zwischen beiden Händen und sah Miller nachdenklich an. überlegte, ob er mit dem jungen Mann über seinen Verdacht sprechen sollte. Miller war zwar ein ausgesprochenes Greenhorn, aber er konnte, das wußte Spratt, logisch denken und vernünftige Schlüsse ziehen. Zu früh, dachte Spratt. Es ist noch zu früh, mit irgend jemand darüber zu reden.
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„Lesen Sie, Miller", sagte er grinsend und deutete mit dem Kinn auf den Pakken Zeitungen, den der junge Mann unter dem Arm trug. „Sie werden noch Karriere beim Yard machen — bei Ihrem Eifer." „Ja, Sir", stotterte Miller gehorsam. Manchmal war's wirklich ganz unmöglich, aus Spratt schlau zu werden. Miller dachte noch Stunden später darüber nach, was der Chefinspektor wohl gemeint haben mochte. Er kam nicht drauf. Und er nahm nur wenig von dem auf, was er an diesem Abend, an dem er Bereitschaftsdienst hatte, in Spratts Zeitungen las. Ich sollte heimgehen, dachte Spratt. Daß ich hier herumsitze und über Dr. Morton nachgrüble, führt zu nichts. Ich verrenne mich in einen Verdacht, der sich — noch — nicht beweisen läßt. Ich kann's mir gar nicht leisten, viel Zeit an diesen Verdacht zu hängen. Niemand hätte Verständnis dafür, wenn ich darüber meine anderen Aufgaben vernachlässigte. Obwohl er das für vergebene Liebesmüh hielt, öffnete er die blaue Mappe noch einmal und sah die Notizen durch, die sie enthielt. Blaue Mappen hatte der Chefinspektor im Lauf der Jahre häufig angelegt. Offiziell gab es im Büro eines Chefinspektors keine blauen Mappen. Sie waren seine private Einrichtung, und manche Kollegen rissen ihre Witzchen darüber. Tatsache war aber, daß das, was Spratt in seinen blauen Mappen zusammentrug, immer wieder zur Lösung scheinbar unlösbarer Fälle verhalf. Und diesmal? „Es gibt ja gar keinen Fall Morton", murmelte Spratt. „Wenigstens bis jetzt nicht. Er existierte nur in meiner Phantasie. Oder?" Er ging erneut ein Blatt nach dem anderen durch, las die Namen, stellte sich die dazugehörigen Menschen vor, versank immer wieder in tiefes Nachdenken. „Grimsby", murmelte er schließlich. „Wenn es einen Fall Dr. Morton gibt, steckt er mit drin. Bis über beide Ohren, da wette ich meinen Kopf. Aber er gibt sich keine Blöße. So wenig wie Morton." Spratt schüttelte den Kopf. Vor einigen Tagen hatte er während einer Routinebesprechung schon den Mund geöffnet, um mit dem Superintendent über Dr. Glenn Morton zu sprechen. „Der hätte mich glatt rausgeworfen", sagte er jetzt, als ihm das einfiel und grinste. „Das muß man sich mal vorstellen: Chefinspektor Spratt gibt seiner Vermutung Ausdruck, daß der hoch gerühmte Chirurg Dr. Glenn Morton, dem vermutlich über kurz oder lang die persönliche Nobilitierung ins Haus steht, nichts anderes als ein gemeiner Mörder ist. Ein Mann wie Walker mit seinem intakten Weltbild und seinem Glauben an die Segnungen einer fest gefügten Hierarchie muß ja jeden, der so etwas denkt oder gar sagt, für verrückt halten." Die blaue Mappe wurde zugeklappt. Eine Weile blieb Spratt noch in seinem Sessel sitzen. Dann erhob er sich schwerfällig. Die blaue Mappe lag in der Schublade des Schreibtisches. Und die Schublade hatte Spratt sorgfältig verschlossen. Dr. Morton war es gelungen, Norah Partridge wenigstens für einige Minuten abzuschütteln, ohne daß sie sich hierüber ärgern konnte. Sie war nämlich selbst zu dem Schluß gekommen, es sei an der Zeit, daß sie sich zurückzog, um ihr Näschen zu pudern. Morton paßte den Augenblick ab, in dem Philipp Gregory sich aus der Gruppe löste, die immer noch um den alten Colonel geschart war und seinen Kolonial-Erlebnissen lauschte. Gregory gab Miss Sandringham ein Zeichen, aber entweder übersah sie's, oder sie wollte keine Notiz davon nehmen.
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Morton schien in Gedanken versunken. Der Zusammenprall mit dem jungen Gregory schien schierer Zufall. „Entschuldigen Sie", sagte Dr. Morton höflich. „Mr. Gregory, wenn ich mich nicht irre?" Der andere grinste: „Und Sie sind der Metzger, der Henry zusammengeflickt hat, wie?" „Henry?" Dr. Morton nahm die Bezeichnung 'Metzger' ohne jede sichtbare Regung hin. Aber er registrierte sie. „Den Earl of Saffron meine ich." „Ah, ja. Ich hatte kürzlich Gelegenheit, ihm zu Hilfe zu kommen." „Wenn man glaubt, was in den Zeitungen steht, konnte ihm außer Ihnen überhaupt niemand helfen, Morton." „Die Zeitungen übertreiben", sagte Glenn Morton bescheiden. „Das denke ich auch", sagte Gregory und grinste auf eine so unverschämte Art, daß es Morton in den Fingern zuckte. Aber er beherrschte sich. „Sie scheinen meinem Beruf keine großen Sympathien entgegenzubringen, Mr. Gregory." „Bei Gott, das können Sie laut sagen!" „Haben Sie denn Grund zu Ihrer Aversion?" Glenn Morton fragte das beiläufigverbindlich, im Plauderton. Er schien amüsiert. Philipp Gregory mußte zwangsläufig das Gefühl bekommen, daß der Chirurg ihn nicht ernst nahm. Morton spürte, daß die Provokation gelang. Obwohl er an Gregory vorbei zusehen schien, beobachtete er ihn sehr genau und wußte, es bedurfte nur noch eines kleinen Anstoßes, um den anderen zur Explosion zu bringen. „Wissen Sie, es gibt eine Menge Menschen, die auf Ärzte so reagieren wie Sie. Ich habe das oft genug beobachtet. Es handelt sich um einen Komplex." „Komplex?" bellte Gregory. Morton nickte. „Bei anderen ist es auch schlicht Dummheit. Schwer zu sagen, weshalb jemand im Einzelfall so reagiert." Gregory lief purpurrot an. Seine Nüstern blähten sich. Seine Diskussionsfähigkeiten waren so beschränkt, daß er nichts zu erwidern wußte. Er wußte nur, daß er diesem arroganten Burschen herzlich gern eins auf die Nase gegeben hätte. Und Glenn Morton spürte das. „Ich würde mich beherrschen, Gregory — an Ihrer Stelle", sagte er fast liebenswürdig. „Schon wieder ein Skandal — das wäre ein bißchen viel, finden Sie nicht auch? Könnte sein, daß man's Ihnen übel nimmt, wenn Sie hier eine Schlägerei anfangen. Außerdem bin ich gut in Form. Besser, denke ich, als die beiden Herren in der Bar in Kensington." Gregory stand mit geballten Fäusten vor ihm. Er atmete heftig, und nur die Tatsache, daß sie sich hier im Claridge's befanden und inmitten eines großen Teils der Londoner Society, hinderte ihn daran, über den anderen herzufallen. „Ich treffe Sie ein andermal, Morton", knirschte er. „Sehen Sie sich vor. Mir imponieren Sie überhaupt nicht. Wenn ich sie erwische ..." Er vollendete die Drohung nicht. Mit sonderbar steifen, unsicheren Schritten kehrte er zu der Gruppe um Colonel Sandringham zurück. Er brauchte Minuten, bis er merkte, daß Miss Sandringham verschwunden war. Morton, der versprochen hatte, auf Norah Partridge zu warten, beobachtete ihn. Er nickte zufrieden. Der Test war so verlaufen, wie er erwartet hatte. Ganz ohne Zweifel handelte es sich bei Philipp Gregory um einen pathologischen Fall.
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Ich muß ihn aus dem Verkehr ziehen, dachte Morton, bevor er weiteres Unheil anrichtet. „Eine Frage beschäftigt mich schon seit langem", hörte er Norah Partridge sagen, die unbemerkt zurückgekommen war. „Eine unter vielen, Glenn." Sie sahen sich an. Glenn Morton nahm das Lächeln auf, das sie ihm schenkte. Norah Partridge war eine sehr anziehende Frau. Er konnte sich denken —nein: er wußte, daß es Fragen gab, die sie ihm hier bestimmt nicht stellen würde, aber gar zu gern bei einer intimeren Gelegenheit. „Hoffentlich kann ich Ihren Wissensdurst befriedigen, Norah." „Sie können. Warum tragen Sie einen Doktor-Titel? Ich meine: Das ist doch bei uns völlig unüblich, für einen Chirurgen." „Allerdings", sagte er lächelnd. „Ich wundere mich oft, daß man mir die Frage nicht häufiger stellt. Beantworten läßt sie sich allerdings auf ganz einfache Weise. Der Doktor-Titel, den ich führe, ist kein medizinischer." „Sondern?" fragte Norah neugierig. „Ich habe ihn in Heidelberg erworben. Mit einer Arbeit über Heinrich VIII. in der englischen Literatur." „Interessant", sagte Norah überrascht. „Derartige Ambitionen habe ich bei Ihnen nicht vermutet, Glenn." Er zuckte die Achseln. Warum gerade Heinrich VIII.? fragte sich Norah. Was fasziniert den Mediziner Glenn Morton ausgerechnet an diesem Macht bessenen Renaissancemenschen, der ebenso brutal und selbstherrlich wie eitel und Pracht liebend war? Sie hätte ihn gern danach gefragt, aber — sie wagte es nicht. Das stellte sie zu ihrer eigenen Verwunderung fest. Später, als der Wagen vor ihrem Haus in Belgravia hielt, hatte sie allerdings keine Bedenken, ihre Ziele auf die gewohnt direkte Weise zu verfolgen. „Kommen Sie mit hinein, Glenn?" Morton hatte die Frage erwartet und seine Entscheidung längst getroffen. Er nickte schweigend und stieg aus. Norah nahm seinen Arm. Er spürte ihre Hüfte an seiner und dachte mit einem bedauernden Grinsen, das im Halbdunkel der Straßenbeleuchtung allerdings nicht zu sehen war, daß er schon romantischere Abenteuer erlebt hatte —und daß ihm Romantik in diesem Zusammenhang sehr sympathisch war. Die Frage, die Norah ihm plötzlich stellte, machte ihn hellwach und vorsichtig: „Was halten Sie eigentlich von Gregory?” Morton gab sich gleichgültig: „Unsympathischer Bursche. Kennen Sie ihn näher?" „Nein." „Lohnt auch nicht, denke ich." „Manche Leute meinen." „Ja?" fragte er höflich, als sie nicht weiter sprach. „Sie haben doch sicher auch von seinen Affären gehört." „Ach, diese unselige Geschichte mit seinem Kindermädchen — oder was das war. Liegt schon eine ziemliche Weile zurück." „Ich dachte jetzt eher an die Auseinandersetzung mit seiner Frau." Glenn Morton spielte den Ahnungslosen und ließ sich von Norah Partridge berichten, was sie über die Affäre wußte. Leider kam kaum etwas zutage, was ihm nicht schon bekannt gewesen wäre. Glenn Mortons Praxis in der Harley Street brachte — im Gegensatz zu der Klinik in Brighton — nicht nur viel Geld ein, sie hatte auch ein Vermögen gekostet. Morton hatte sich den Chancen seiner Kollegen, die links und rechts von seinem Domizil praktizierten, angeschlossen. Gediegener Luxus kennzeichnete die Warteräume für die meist gut betuchten Patienten, und die Ordination sowie alle Behandlungszimmer Seite 12
entsprachen mit ihrer Einrichtung immer dem letzten Stand medizinischer Technik und Erkenntnisse. Cynthia Barringtons Anwesenheit deutete darauf hin, daß auch Glenn Morton an diesem Vormittag hier in der Londoner Praxis auftauchen würde. Schwester, Barrington war Mortons rechte Hand — was dessen ärztlichen Beruf anging. Außerdem war sie als Krankenschwester eigentlich viel zu attraktiv — was nicht selten zu leicht verfälschten Puls- und Blutdruckwerten bei männlichen Patienten führte. Da Cynthia diese Reaktionen jedoch kannte, wußte sie sie auch zu berücksichtigen. Sie wartete bereits ungeduldig auf Morton. Ebenso ungeduldig wie der Patient in Warteraum 3, den Glenn für zehn Uhr bestellt hatte. Schwester Barrington entschuldigte ihren Chef: „Dr. Morton ist sonst sehr pünktlich. Etwas muß ihn aufgehalten haben. Ich bin aber sicher, daß er sehr bald hier ist." Der fleischige Mann nickte und schnaufte. Daß er so lange warten mußte, steigerte seine Angst vor dem Zusammentreffen mit dem Chirurgen. Immerhin sollte er heute erfahren, ob die Operation unumgänglich war oder ob er noch einmal so davonkam. William Harroghby war kein Held. Schwester Barrington hörte ein Geräusch im Nebenzimmer, entschuldigte sich bei Harroghby und ging hinüber. „Morgen, Cynthia", sagte Glenn Morton lächelnd. „Ich weiß, daß ich zu spät bin. Reißen Sie mir nicht den Kopf ab. Ich hatte eine anstrengende Nacht." Die Art seines Lächelns ließ bei Cynthia keinen Zweifel, wie das zu verstehen war. Noch vor relativ kurzer Zeit hätten solche Geständnisse sie dazu gebracht, den Kopf zu senken und zu erröten. Aber neuerdings hatte Glenn Morton sich angewöhnt, sie auch außerhalb der Praxis mehr und mehr ins Vertrauen zu ziehen. Cynthia war stolz darauf. Diese neue Art der Zusammenarbeit steigerte ihr Selbstgefühl. „Harroghby wartet nebenan. Er ist schon sehr nervös", verkündete sie. Jetzt, da beide Türen geschlossen waren, konnte sie das ungeniert sagen, ohne daß der Patient auch nur einen Laut vernahm. „Der arme Harroghby." Mortons Gesichtsausdruck strafte seinen mitleidigen Ton Lügen. „Wissen Sie, wer das ist, Cynthia?" „Ein millionenschwerer Makler." „Ja, und ein ehrenwerter Mann, he?" „Sie wissen vermutlich mehr als ich. Mir ist nichts Negatives über Mr. Harroghby bekannt — wenn man davon absieht, daß Reichtum in dieser Größenordnung mir immer verdächtig und fast unanständig erscheint." Glenn Morton nickte nachdenklich. „Heute spricht kein Mensch mehr darüber. Aber vor zehn oder zwölf Jahren sorgte Harroghby für Schlagzeilen." „Vor zehn oder zwölf Jahren habe ich mich noch nicht für Skandale interessiert", sagte Cynthia lächelnd. „Nein", erwiderte Glenn, der das Lächeln aufnahm. „Damals galt Ihr Interesse vermutlich den ersten Versuchen, mit Lippenstift und Make-up umzugehen und den Boys die Köpfe zu verdrehen." „So ungefähr ..." Sie lachten. Morton verstummte sehr plötzlich: „Es ging um Menschenhandel, Cynthia", sagte er mit hartem, verschlossenem Gesicht. „Sie meinen — Harroghby?" fragte sie zögernd und ungläubig. Morton nickte. „Menschenhandel? Vor zehn oder zwölf Jahren? Das kann doch nicht sein!" Seite 13
„So etwas kommt auch heute noch vor", murmelte Morton. „Damals war's in großem Stil aufgezogen. Ging über Aden, soviel ich weiß. Die Opfer kamen aus Südafrika. Harroghby hat dort unten fabelhafte Verbindungen." „Und ..?" Er verstand die Frage, ohne daß sie ausgesprochen wurde. „In gewissen orientalischen Ländern besteht großes Interesse an frischem Fleisch", sagte er hart. „Egal, ob männlich oder weiblich. Weißes Fleisch wird besonders hoch bezahlt." „Konnte man ihm nichts nachweisen?" „Harroghby?" Morton grinste bösartig. „Nein, der war damals zu klug. Er konnte zwar nicht verhindern, daß die Zeitungen seinen Namen nannten, aber die Beweise reichten nicht einmal zu einer Anklage." Cynthia Barrington fragte sich, weshalb Glenn Morton ihr das alles erzählte. Und warum er Harroghby überhaupt als Patienten angenommen hatte. Konnte sich zwischen beiden Männern überhaupt so etwas wie ein Vertrauensverhältnis ausbilden, das unbedingt notwendig war, wenn die Behandlung von Harroghbys Leiden Erfolg haben sollte? Sie sah die Krankengeschichte durch, bevor sie sie an Glenn Morton weitergab. „Werden Sie ihm zu der Operation raten, Dr. Morton?" „Er hat keine andere Wahl." „Und — werden Sie ihn selbst operieren?" „Ja, Schwester Barrington", sagte Morton. Seine Stimme veränderte ihren Klang nicht. Er sprach freundlich und ohne jede Spur von Ärger oder Spannung. Aber er hatte sie, Schwester Barrington' genannt. Für Cynthia war das deutlich genug. Sie stellte keine weiteren Fragen. Nach William Harroghby waren andere Patienten in der Praxis, die Cynthias ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen. Erst zur Lunchzeit fand sie eine Gelegenheit, sich mit Glenn Morton über etwas zu unterhalten, das sie ihm unbedingt sagen zu müssen glaubte. Sie waren in dem kleinen Zimmer hinter der Ordination, in dem Morton sich an anstrengenden Tagen zu entspannen pflegte und wo er auch den Lunch nahm, wenn er das Haus zu diesem Zweck nicht verlassen mochte. Cynthia Barrington übernahm es gern, ihn zu bedienen. Und Morton hatte lieber sie als eine der anderen PraxisHilfskräfte um sich. „Sie haben etwas auf dem Herzen, Cynthia", sagte er gutgelaunt. „Setzen Sie sich und machen Sie sich Luft. Wie wär's, wenn Sie diese Wildpastete probierten? Sie ist ausgezeichnet. Ich möchte sie öfter auf meinem Teller finden." Er ließ ihren Einwand nicht gelten. Zwei Minuten später saß Cynthia ihm an dem kleinen Eßtisch gegenüber und genoß den delikaten Geschmack der Pastete. Glenn Morton wußte zu leben. Das stellte sie bei dieser Gelegenheit nicht zum ersten Mal fest. Jede Flasche Wein, die auf seinen Tisch kam, hatte er selbst drüben auf dem Kontinent ausgesucht. „Gibt es Schwierigkeiten?" fragte er beiläufig und scheinbar uninteressiert. „Schwierigkeiten? Nein. Aber etwas finde ich seltsam." Er nickte und wartete geduldig, bis sie fort fuhr. „Spratt war wieder da." „Chefinspektor Spratt?" fragte Morton sehr ruhig. „Ja. Er war wieder in Brighton. In der Klinik." „Wann?" „Gestern. Ich konnte Sie nicht mehr erreichen, sonst ..." Glenn Morton winkte ab. „Schon gut. Was wollte er denn?" „Er sucht immer noch nach Mrs. Clandon." Seite 14
„Und hofft, sie in meiner Klinik zu finden?" fragte Morton mit leisem Spott. „Das wohl nicht. Aber er sucht nach Hinweisen. Nach Spuren. Und ..." Nein, sie konnte nicht weiter sprechen. Warum, war ihr selbst nicht ganz klar. Teilte sie etwa den Verdacht, den dieser Chefinspektor von Scotland Yard offenbar gegen Dr. Glenn Morton hegte? Fürchtete sie, Morton könne tatsächlich etwas mit Mrs. Clandons geheimnisvollem Verschwinden zu tun haben? Lächerlich! dachte Cynthia Barrington, über sich selbst verärgert und zwang sich, fort zu fahren: „Er war sehr neugierig. Ich sollte ihm Fragen beantworten, für die ich absolut nicht kompetent bin. Das habe ich ihm auch deutlich zu verstehen gegeben." „Sie machen sich doch keine Sorgen um mich, Cynthia?" fragte Morton lächelnd. „Ich gehe doch nicht fehl in der Annahme, daß es Fragen über mich waren, die Sie dem Chefinspektor nicht beantworten wollten." „Ja", sagte Cynthia, „Sie haben recht." „Wofür interessiert' er sich denn?" „Für Ihr Privatleben, Dr. Morton." „Ach nein. Für mein Privatleben", wiederholte Glenn Morton nachdenklich. „Spratt scheint ein sehr gründlicher Mann zu sein, Cynthia." „Ich finde ihn unverschämt!" Sie sagte das so heftig, daß Morton noch stärker lächelte. „Er tut seine Pflicht, Cynthia. Man muß ihn unterstützen, denken Sie nicht?" „Nein", sagte sie entschieden. „Wenn er herumschnüffelt und sich alle Mühe gibt, mich zu unloyalem Verhalten zu bringen ..." „Sie sind eine ausgezeichnete Mitarbeiterin, Cynthia" sagte Morton herzlich. „Mit Ihnen habe ich wirklich großes Glück. Ich hoffe, Sie spüren wenigstens manchmal, wie sehr ich Sie schätze." Cynthia errötete jetzt tatsächlich. Sie trank, um über ihre Verlegenheit wegzukommen, einen kleinen Schluck von dem ausgezeichneten Wein, einem Santenay von 1966. „Schmeckt er Ihnen, Cynthia?" Er wartete die Antwort nicht ab. „'66 war ein gutes Jahr für die Cote de Beaune. Runde und kräftige Kreszenzen. Les Gravieres ist eine der besten Lagen von Santenay — obwohl ich La Commune manchmal noch vorziehe." Er seufzte: „Manchmal überkommt mich der Wunsch, hier alles stehenund liegen zu lassen und rasch wieder mal auf Weinreise zu gehen." Er lächelte und schien den neugierigen Chefinspektor völlig vergessen zu haben. Aber in Wirklichkeit dachte er sehr intensiv über Spratt nach. Wenige Minuten später war sein Entschluß gefaßt, und als Schwester Barrington ihn alleingelassen hatte, murmelte er: „Ich werde ihn einladen. Ja, ich werde ihn nach Lannix-Manor bitten. Ich glaube, es ist an der Zeit, die Neugier 'des Chefinspektors zu befriedigen." Philipp Gregory besaß aus seiner Junggesellenzeit eine gut eingerichtete Wohnung in Woods Mews, Mayfair. Sie lag übrigens ganz in der Nähe von Glenn Mortons Haus am Grosvenor Square, aber davon wußte Gregory nichts. Es hätte ihn wohl auch kaum interessiert. An diesem Abend schon gar nicht, denn er hatte Gesellschaft. Ein naives Blondchen aus Southwark, das er auf einem Bummel durch die Petticoat Lane aufgelesen und mitgenommen hatte. War ihm nicht schwer gefallen, wie Philipp Gregory mit selbstbewusstem Grinsen noch einmal bei sich feststellte. Diese Hühnchen gingen ihm alle auf den Leim. Und sie waren so putzig in ihrer Beschränktheit. Man konnte sich köstlich über sie amüsieren. Genau das richtige für seinen Geschmack — und für eine Nacht. Seite 15
„Ist das wirklich deine Wohnung?" fragte Blondchen und klapperte bewundernd mit den Augendeckeln. „Denkst du, ich hab sie geklaut?" Es fiel Philipp nicht schwer, auf ihren Ton einzugehen. „Muß 'ne Stange Geld gekostet haben, die einzurichten." „Hübschen Haufen", bestätigte er. „Ich hab nämlich 'nen Blick dafür", sagte das Mädchen, während seine Fingerspitzen über die teuren Tapeten glitten und ihr Blick schon bei den Messing beschlagenen Schiffsmöbeln war, die diesen Teil des großen Livingrooms prägten. „Mindestens 5 000 Eier, alles in allem." „Kann hinkommen", sagte Philipp grinsend. „Aber inzwischen kriegst du's nicht mehr dafür. Alles wird teurer." „Ja!" seufzte sie. „Wem sagst du das?" „Sogar die billigen Mädchen", fügte Philipp seiner vorigen Bemerkung hämisch hinzu. „Wie meinst du das?" Für Augenblicke war Blondies Wohlbefinden beeinträchtigt. aber da Philipp nicht antwortete, vergaß sie rasch. Was ihr umso leichter fiel, als der gut aussehende junge Mann (wann interessierte sich so einer schon für sie?) plötzlich wieder auf Freundlichkeit umschaltete und sich zuvorkommend danach erkundigte, was sie trinken wollte. „Was gibt's denn?" fragte Blondie. „Alles, was du willst." Ihre Augen begannen zu glänzen. „Wirklich alles? Hast du auch Champagner?" „Ja. Ist wohl der Inbegriff des Genusses, he?" „Mann, ich finde Champagner toll!" sagte sie. „Hab noch nie welchen getrunken. Ich meine: Keinen echten, der aus Frankreich kommt. Hast du wirklich echten Champagner, Phil?" „Allerdings." Er nickte und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen. „Mach dir's inzwischen bequem." An der Tür drehte er sich noch einmal um: „Und tu mir einen Gefallen, Darling!" „Ja?" „Laß die Pfoten von meinen Sachen. Ich kann's nicht leiden, wenn jemand hier rumstöbert." Bevor Blondie etwas erwidern konnte, war er draußen. Sie starrte die Tür mit gerunzelter Stirn an. Was meinte er denn? Bildete er sich ein, daß sie klaute? Na, sowas! Blondie schüttelte den Kopf und begann, sich auszuziehen. Als Philiop Gregory mit einer Magnum im Arm zurückkam (er hielt sie wie ein Baby und fragte sich grinsend, ob Blondie den teuren Genuß wert war), fand er das Mädchen nackt vor. Blondie räkelte sich auf einer der mit teurem Rauleder bespannten Couches. Sie lächelte ihn unter halb gesenkten Wimpern hervor an, und daß sie einen Arm über ihre vollen Brüste und den anderen auf das behaarte Dreieck zwischen ihren Schenkeln gelegt hatte, betonte ihre Nacktheit nur noch, machte sie fast obszön. „Hatte ich gesagt, du sollst dich ausziehen?" knurrte Philipp. Er ärgerte sich über diese blöde Gans, die alles falsch machte. „Aber ... Du sagtest ... Stimmt was nicht, Phil?" „Schon gut", gab er unwillig zurück und brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. Blondie sah zu, wie er den Draht des Verschlußkorkens löste. Philipp arbeitete geschickt. Unauffällig schätzte er Entfernung und Winkel ab. Ging noch zwei Schritte auf das nackte Mädchen zu. Jetzt war der Draht gelöst. Er ließ ihn achtlos auf den
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Teppichboden fallen. Spürte, daß der Druck den Korken aus der Flasche drängte. Hielt ihn mit zwei Fingern fest. „Mann, ist die groß!" sagte Blondie atemlos. „So was hab ich überhaupt noch nicht gesehen. Nicht mal im Film!" Er lächelte sie freundlich an und ließ den Korken los — im gleichen Augenblick, in dem er den Flaschenhals in die richtige Richtung gebracht hatte. Das Plopp des Korkens und Blondies Schmerzensschrei kamen in der gleichen Sekunde. Philipp lachte vor Vergnügen laut auf. Blondie hielt sich mit beiden Händen das linke Auge zu. Der Schmerz war so schlimm, daß sie fürchtete, das Auge sei hin. Sie hörte Philipps Lachen und verstand überhaupt nichts. Wenn ei-sich schon so dämlich anstellte — warum lachte er dann noch, statt sich zu entschuldigen? Er stellte die Magnum vorsichtig auf einen der niedrigen Tische und ging zu dem Mädchen. „Zeig mal." Sie schüttelte den Kopf und preßte weiterhin beide Hände auf das getroffene Auge. Philipp zerrte sie brutal weg. Blondie wimmerte und wand sich und versuchte, wenigstens eine Hand freizubekommen. Aber das gelang ihr nicht. Philipp hielt jetzt ihre beiden schmalen Gelenke mit der linken Hand. Mit der rechten drehte er ihren Kopf. Sie hatte seiner Kraft nichts entgegenzusetzen. Hilflos und immer noch von dem scheußlichen Schmerz erfüllt, wimmerte sie und gab jeden Widerstand auf. „Sauberer Treffer", hörte sie Philipp murmeln. Dann lachte er erneut auf. „Man könnte meinen, du hast das absichtlich getan!" sagte sie schmollend. „Wirklich, Phil, wenn du wüßtest, wie weh das tut, würdest du nicht lachen!" „Aber ich habe es doch absichtlich getan, Kindchen", sagte er liebenswürdig. „Du hältst es doch nicht für einen Zufall? Enttäusch mich bitte nicht! Ich bin so stolz auf den Treffer ...!" Er lachte, als er ihren einäugigen, verdutzten Blick wahrnahm. Blondie begriff und war von ungeheurer Wut erfüllt. „Bist du verrückt, Phil?" fragte sie zornig. „Dir hat's wohl ins Hirn geregnet, was? Glaubst du, du kannst mit mir machen, was du willst, du ... du . .!?" „Genau", sagte er sanft, aber bestimmt und drückte die Nackte auf die Couch zurück. „Ich kann mit dir machen, was ich will." „Du bist verrückt", sagte Blondie und versuchte vergeblich, sich von seinem Griff zu befreien. Ihr Auge schwoll langsam zu, und der Schmerz war nach wie vor stark. Sie spürte das Wasser, das über ihre linke Wange lief. Es war nicht das erste Mal, daß ein Mann versuchte, mit Gewalt etwas bei ihr zu erreichen. Obwohl Blondie nicht sehr stark war, konnte sie sich absolut wehren. Sie war geschickt und zäh. Einige Sekunden hielt sie still und holte Atem. Gleichzeitig prüfte sie ihre Chancen. Im nächsten Moment rammte sie Phil ihren Kopf in den Magen. Das nahm ihm die Luft. Ließ ihn keuchen — auch vor Überraschung, denn er hatte mit einem so entschiedenen Angriff nicht gerechnet —' und machte, daß er Blondies Gelenke losließ. Sie schoß an ihm vorbei und stieß die Magnum vom Tisch. Der kostbare Inhalt sprudelte auf den teuren Teppichboden. Das waren zwei Eindrücke, die Philipp Gregory gleichzeitig aufnahm — und die ihn gleichermaßen aufregten. Sein Zorn verlor alle Dimensionen. Er stürzte hinter dem fliehenden nackten Mädchen her und erwischte es, bevor es die Tür zur Diele erreicht hatte. Brutal riß er Blondie an den
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Haaren zurück. Ihr Kopf flog in den Nacken. Ihr Schrei klang erstickt. Als Philipp den Griff lockerte, sank sie zusammen. Er ließ sie los und blieb breitbeinig neben ihr stehen. Sie weinte. Lautloses Schluchzen schüttelte ihren Körper. Eine Weile sah er zu, dann trat er nach ihr. Blondie rutschte ein Stück über den Teppichboden, bevor sie bäuchlings darauf liegen blieb. Ihr Schrei ging in ein Wimmern über. Sie wartete auf die nächste Mißhandlung und wußte nicht, was sie tun sollte. Am besten gar nichts, dachte sie. Sonst wird er noch wütender. Was hat er denn nur? Ich hab ihm doch nichts getan. Wirklich nicht! „Was bist du doch für ein erbärmliches Stück Scheiße", sagte Philipp. Seine Stimme klang belustigt. Obwohl er so ekelhafte Sachen sagte, schöpfte Blondie neue Hoffnung. Vielleicht war sein Anfall jetzt vorüber, und sie konnte aufstehen und sich anziehen? Oder auch mit ihm ins Bett gehen, wenn er das wollte. Vorsichtig drehte sie den Kopf und blinzelte mit dem unverletzten Auge zu ihm hoch. „Stimmt's?" fragte Philipp. „Was denn?" fragte sie schüchtern. „Zu blöd! Stimmt's, daß du ein erbärmliches Stück Scheiße bist?" „Was hast du nur, Phil?" fragte sie klagend. „Es war doch so nett mit uns, und ich hab mich wirklich gefreut, daß ich mitkommen durfte. Du warst so lieb — und dann ... Und jetzt ..." Er hatte gar nicht auf das gehört, was Blondie sagte. Der Klang ihrer Stimme genügte, um ihn erneut in Rage zu bringen. So, wie sie jetzt lag, war ihr Unterleib völlig ungeschützt. Sie sah ihn an und hatte den Körper leicht verdreht, so daß ihre linke Hüfte sich vom Teppich hob. Philipp holte kaum aus, aber hinter seinem Tritt steckte trotzdem große Kraft. Im ersten Moment konnte Blondie nicht einmal schreien. Der Schmerz nahm ihr einfach die Luft. Sie hatte den Mund weit aufgerissen und krümmte sich zusammen. Ihre Hände fuhren automatisch dorthin, wo er sie getroffen hatte. Es war die linke Leistenfurche. Blondie konnte nicht klar denken, aber sie glaubte, daß er ihr etwas gebrochen haben mußte. Ihre Angst war jetzt abgrundtief. Sie hatte begriffen, daß sie in wirklicher, echter Gefahr schwebte. Phil ging's nicht darum, ihr nur ein paar blaue Flecken beizubringen. Er würde sie ... Als Blondie wieder Luft bekam, reagierte sie ohne alle Überlegung. Sie begann, gellend zu schreien. Keine zwei Sekunden später lag Philipp neben ihr auf den Knien und preßte ihr eine Hand auf den Mund. Sie mochte sich wehren, wie sie wollte, er hielt ihren Kopf mühelos so fest, daß sie sich kaum rühren konnte. Allmählich ging ihr der Atem aus, aber als Philipp den Griff lockerte, begann sie trotzdem gleich wieder zu schreien. Wie eine Sirene! dachte er. Verrückt. Wenn ich sie schreien lasse, lockt sie mir die ganze Nachbarschaft zusammen. Das hat mir noch gefehlt! So ein blödes Ding ... Diesmal ließ er sie fast ersticken. Als sie schlaff wurde, nahm er die Hand weg, bereit, den brutalen Griff sofort zu erneuern, wenn Blondie zu schreien versuchte. Doch ihr fehlte die Kraft dazu. Philipp federte hoch. Sein Atem war zwar etwas beschleunigt, aber im übrigen schien die ganze Szene ihn überhaupt nicht berührt zu haben. „Bist du jetzt vernünftig?" fragte er fast freundlich. Blondie wimmerte. Man konnte das Wimmern für ein Ja halten. Phlipp nickte zufrieden. „Steh bitte auf."
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Bitte hatte er gesagt! Das kleine Wort machte Blondie ganz leicht und frei. Sie fand ihre Todesangst plötzlich lächerlich. Alles war nur ein Mißverständnis. Phil regte sich eben leicht auf, und sie hatte ihn irgendwie — unabsichtlich — verärgert. „Alles, was du willst, Phil", murmelte sie. Ihr Körper schmerzte, aber das war nicht schlimm. Schmerzen gingen bald vorbei, und nach ein paar Tagen würden sogar die blauen Flecken verschwunden sein, die sie sich geholt hatte. Sie lächelte Philipp Gregory an. Er betrachtete ihr Gesicht sehr interessiert, mit leicht zur Seite geneigtem Kopf. Was ist sie doch für ein dummes Luder! dachte er. Grimsby hatte seinen Auftrag, und alles, was ihn daran störte, war die Tatsache, daß er für seinen Geschmack zu rasch handeln mußte. Viel lieber hätte er noch einige Tage gewartet, den jungen Mann beobachtet, sich mit seiner Umgebung und seinen Gewohnheiten besser vertraut gemacht. Aber Dr. Morton wollte ihn jetzt haben. Ohne Aufschub. Und er hatte einen plausiblen Grund für seine Eile. „Er ist hinter der jungen Sandringham her, Grimsby", hatte er erklärt. „Reizendes, Mädchen. Auch unter normalen Umständen viel zu schade für den Burschen." „Fürchten Sie, daß er ihr was tut, Sir?" Achselzuckend hatte Glenn Morton gesagt: „Irgendwann bestimmt. Aber entscheidend ist, daß der alte Colonel Sandringham, ihr Großvater, eine Reise nach Algier plant. Wie ich hörte, will er seine Enkelin und Philipp Gregory mitnehmen." Grimsby hatte keine weiteren Fragen gestellt. Er war wie Dr. Glenn Morton der Ansicht, daß die Angelegenheit unter diesen Umständen keinen Aufschub duldete. Er parkte den unauffälligen, mehrere Jahre alten Austin A 60, der aussah wie Tausend andere, sich aber von seinen Brüdern durch einen kräftigen Dreilitermotor unterschied, der ihn in kürzester Zeit auf mehr als 100 Meilen zu beschleunigen vermochte, in der Nähe von Marble Arch, genehmigte sich in einem Pub an der North Row ein Stout und schlenderte dann wie ein müßiger Spaziergänger durch die abendlichen Straßen am Rande des Hyde Parks. Obwohl er sich Zeit ließ und einige Umwege machte, erreichte er nach einer knappen halben Stunde Woods Mews. Hier galt es. vorsichtig zu sein. Fremde, die sich unmotiviert und zu lange in dieser feinen Wohngegend aufhielten, konnten auffallen. Hierauf legte Grimsby begreiflicherweise absolut keinen Wert. Er schlenderte an Philipp Gregorys Haus vorbei und stellte zufrieden fest, daß der junge Mann offensichtlich zu Hause war. Sein Jaguar E-Type, ein Coupe mit zwölf Zylindern, das neueste Modell, wie Grimsby beiläufig registrierte, parkte hart am Rand des Trottoirs. Grimsby sah aber viel mehr als den Wagen und den Lichtschein, der aus mehreren Fenstern des ersten Stockwerks drang. Er erkannte, daß die Garagentür nicht fest geschlossen war. Wie er die Häuser hier kannte, gab's von der Garage aus vermutlich einen Zugang zur Wohnung. Es muß noch ein bißchen dunkler werden, überlegte Grimsby. In der Zwischenzeit kann ich mir noch ein Stout hinter den Knorpel gießen. Weiß der Teufel, wovon ich heute so durstig bin. Er kehrte gegen neun Uhr zurück. Die Dunkelheit ließ für seinen Geschmack immer noch zu wünschen übrig, aber sein geschulter Blick sagte Grimsby, daß niemand ihn beobachtete. Behutsam öffnete er die angelehnte Garagentür so weit, daß er in den stockfinsteren Raum, der dahinter lag, schlüpfen konnte. Seite 19
Drinnen blieb er eine Weile ruhig stehen und lauschte. Dann, als alles still blieb, leuchtete eine bleistiftdünne Taschenlampe auf, die trotz ihrer Winzigkeit erstaunlich viel Licht gab. Grimsby ließ den schmalen weißen Strahl über den Boden und die Wände huschen. Da war die Tür, die er erwartet hatte. Das Licht verlosch. Grimsby hatte sich den Weg eingeprägt. Er erreichte die Tür, ohne an eins der Hindernisse zu stoßen. Als von oben Stimmen ertönten und gleich darauf etwas Schweres auf den Boden fiel, so daß die Decke zu zittern schien, blieb Grimsby erneut stehen. Stirn runzelnd überlegte er. Philipp Gregory war also nicht allein. Sollte er umkehren und die Angelegenheit auf den nächsten Tag verschieben? Das kommt davon, dachte er, wenn man nicht genügend Zeit für die Vorbereitungen hat. Was Dr. Morton wohl an meiner Stelle tun würde? Von oben drangen ab und zu weitere Geräusche zu ihm. Einmal klang's wie ein Schrei. Vielleicht gab das den Ausschlag. Dem Burschen ist alles zuzutrauen, dachte Grimsby. Wer weiß, wen er da oben in der Mangel hat. Vielleicht kann ich helfen. Zu seiner Überraschung war die Tür, die von der Garage ins Haus führte, mit einem Yale-Schloß gesichert. Ungewöhnlich, aber kein Hindernis für einen Mann wie Grimsby. Er zog einen schmalen Zelluloidstreifen aus der Tasche. Seine Bewegungen waren sicher und ruhig wie die Glenn Mortons bei einer schwierigen Operation. Zwanzig Sekunden später gab die Tür nach. Grimsby stand am Fuß einer engen, steilen Treppe. Sie führte hinauf zur Wohnung. Grimsby setzte seinen Fuß auf die erste Stufe und verlagerte sein Gewicht langsam darauf. Ein leises Knarren ließ sich nicht vermeiden. Die nächsten Stufen waren nicht anders. Es dauerte eine ganze Weile, bis Grimsby den ersten Stock erreicht hatte. Jetzt stand er in einem kleinen Vorraum, von dem mehrere Türen abgingen. Er lauschte. Die Geräusche, die er von unten gehört hatte, auch die Stimmen und der Aufschlag des schweren Gegenstands, mußten aus einem Zimmer gekommen sein, das nicht hinter einer der Türen liegen konnte. Grimsby vergegenwärtigte sich die Außenansicht des Hauses in Woods Mews und zog seine Schlüsse auf die Architektur hinter der Fassade. Sekundenlang stand er mit angestrengtem Gesichtsausdruck in der Dunkelheit. Dann nickte er knapp und versuchte, die Tür zu seiner Rechten so geräuschlos wie möglich zu öffnen. Seine Vermutung stimmte. Er stand jetzt am Rand der eigentlichen Diele. Und genau gegenüber war vermutlich der Raum, in dem Philipp Gregory sich aufhielt. Leider nicht allein. Weshalb es galt, den nächsten Schritt mit peinlicher Genauigkeit zu überlegen. Blondie saß auf einer der mit teurem Rauleder bezogenen Couches und war immer noch nackt. Seit einer halben Stunde hatte Philipp Gregory sich überhaupt nicht mehr um sie gekümmert. Ihr war kalt. Sooft sie jedoch versucht hatte, nach ihrer Wäsche zu greifen, hatte er sie angefahren und ihr befohlen, sie solle sitzen bleiben und sich nicht von der Stelle rühren. „Mir ist kalt! Ich friere!" sagte sie jetzt klagend. „Was hast du denn, Phil? Ich werde gar nicht schlau aus dir." Philipp beendete seine Arbeit. Er schob den sorgfältig formulierten Brief in einen Umschlag, der an Miss Helen Sandringham adressiert war. „Du kleine Idiotin", sagte er und lächelte sanft. „Wie solltest du irgendwas verstehen?"
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Er stand von seinem Messing beschlagenen Schiffsschreibtisch auf und kam langsam zu der Couch hinüber. Blondie spürte, wie ihre Muskeln sich spannten. Da war sie wieder, die namenlose Angst. Blondie spürte, daß es ihr plötzlich übel wurde, als ihr Blick sich mit dem von Philipp traf. Sie fürchtete, sich übergeben zu müssen und wollte aufspringen, aber als sie das versuchte, spürte sie seine Hand auf der nackten Schulter. Mit hartem Griff stieß er sie auf die Couch zurück. „Ich muß ..." Blondie gurgelte und würgte und versuchte erneut, hochzukommen. Diesmal schleuderte Philipps Hand sie zu Boden. Der Brechreiz war vorbei. Zurück blieb entsetzliche Angst. Philipp Gregory ließ sich neben ihr auf die Knie nieder und betrachtete sie mit kühlem Interesse. „Was denkst du eigentlich, kleine Idiotin?" Sie wußte nicht, was sie dachte. Vor allem wußte sie nicht, was er hören. wollte. Ganz bestimmt aber würde sie nichts sagen, das ihm mißfiel. Nicht, wenn sich's vermeiden ließ. „Du bist selbst schuld", murmelte Philipp Gregory. „Hättest du nur das getan, was ich dir sagte, dann hättest du morgen früh verschwinden können." Die Angst zwang sie, gegen ihren Willen zu sprechen: „Ich — ich kann mich ja anziehen und gehen. Wenn du sowieso nicht in Stimmung bist, Phil ... Vielleicht treffen wir uns ein andermal. Vielleicht paßt's dann besser ..." Als er lachte, klang das beinahe liebevoll, ebenso wie seine Stimme: „Kleine Idiotin! Anziehen und gehen, he? Einfach so. Und mich verpfeifen. Ins nächste Polizeirevier rennen und den Bullen was vorjammern, daß ich dich mißhandelt hab? Vielleicht erzählst du denen sogar was von einem Mordversuch, wie?" „Bestimmt nicht!" keuchte Blondie, die es unheimlich fand, wie Phil Gregory offensichtlich in ihren Gedanken las. „So etwas würd ich doch nie tun, Phil! Ganz bestimmt nicht! Wie kannst du nur glauben ..." Ihre Stimme erstarb. „Zwei Ecken weiter ist eine Polizeiwache. In drei Minuten kannst du dort sein." Sie schüttelte heftig den Kopf. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Sie spürte die Hand, die im Begriff war, sich um ihren Hals zu legen. „Du bist so dämlich", sagte er bedauernd. „Wie die meisten. Wem geht eigentlich was ab, wenn ich dich erlöse?" „Erlösen?" krächzte sie tonlos. „Wenn ich dir den Hahn zudrehe. Kapierst du das ?"
Leseprobe aus ERBER'S GRUSELKRIMI-DOPPELBAND Seite 21
MORDFAMILIE von James Ronald „Das ist so eine Sache mit deiner Tante Octavia. Bei ihr, weißt du, können Streitigkeiten schlummern, aber niemals sterben. Wenn ich dein Vater wäre, dann würde ich Octavia den Hals durchschneiden. Es würde mir nichts ausmachen, es irgend einmal zu tun. Es würde eine Menge Probleme lösen. Dein Vater würde ihr Geld erben ...", Onkel Simon grinste verschmitzt, „und ich könnte ihn für den Rest meines Lebens laufend anpumpen." „Denkst du wirklich, sie wird es Vater vermachen?" fragte Ann dann nachdenklich. „Wem sollte sie es denn sonst hinterlassen? Nicht mir, das ist klar; und sie hat doch keine anderen Verwandten. Hunde kann sie nicht ausstehen. Sie haßt Katzen. Sie ist nicht an Mildtätigkeit interessiert. Oh, ich erwarte bestimmt, daß es dein Vater letzten Endes bekommen wird. Aber obgleich Tante Octavia über siebzig Jahre alt ist, dürfte es mindestens noch zehn Jahre dauern — wenn es nicht jemand anders arrangiert. Und ich habe die größte Lust, es selbst zu tun." „Um dann als Mörder gehängt zu werden", sagte Ann scharfsinnig. „Das", meinte Onkel Simon, „ist eben der Haken."
Versäumen Sie nicht diesen spannenden Doppelband, den Ihr Zeitschriften- oder Bahnhofsbuchhändler für Sie bereithält. Sollte dieser Band dort bereits ver griffen sein, so schreiben Sie bitte an: ANNE ERBER VERLAG 7595 SASBACHWALDEN, POSTFACH 5
Ohne zu überlegen, versuchte Blondie es auf eine andere Art:
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„Das wirst du doch nicht tun, Phil! Ganz bestimmt nicht. Ich weiß, du könntest so etwas nie und nimmer machen. Du bist doch ein Gentleman, Phil. Ich hab gleich gewußt, dir kann ich vertrauen, mit dir kann ich mitgehen, ohne Angst zu haben ..." Er schnitt ihr das Wort ab — durch eine Geste und ein Knurren. „Genug", sagte er. „Du widerst mich an. Ich hatte bestimmt nicht vor, dir was zu tun — wenn du dich nur nicht so blöd angestellt hättest! Wie kamst du nur auf den Gedanken, dich auszuziehen, während ich im Keller war?" „Aber du hast doch selbst gesagt ..." „Was?" „Mach dir's bequem, hast du gesagt, Phil, Darling!" „Und da mußt du dich gleich ausziehen, du Sau?" „Ich dachte ... Ich wußte doch nicht ... Du hast doch drüben in der Lane selbst gesagt, ich soll mitkommen, und wir machen uns einen fickfröhlichen Abend!" Er zuckte nur mit den Achseln. Zwecklos, ihr verständlich machen zu wollen, daß der Fehler bei ihr lag. Völlig zwecklos. Sie würde es nie • und nimmer begreifen. „Weißt du eigentlich, wer ich bin?" Sie nickte. „Na?" „Philipp Gregory." „Geh zum Teufel! Daß du meinen Namen weißt, ist mir klar! Hab ihn dir ja selbst gesagt. — Hast du vorher nie von Philipp Gregory gehört?" „Bist du berühmt?" fragte sie, ängstlich und naiv. 26 Gregory lachte. „Berühmt, ja. So berühmt, daß alle Zeitungen über mich geschrieben haben. Damals, als ich die Alte aus dem Fenster geworfen hatte." Sie begriff nicht. Machte er Witze? Fragend sah sie ihn an. Uri. Gregory begann, mit Einzelheiten aufzuwarten. So lange, bis ihr Gesichtsausdruck ihm verriet, daß es jetzt gefunkt hatte. „Na?" „Und das warst du?" fragte sie schaudernd. „Du hast sie also wirklich umgebracht. Es hieß doch ..." „Ja, es hieß", sagte er grinsend. „Bin gespannt, was man sagen wird, wenn man deine Leiche findet. Ich verspreche dir jedenfalls, diesmal wird man mich überhaupt nicht mit dem Mord in Verbindung bringen. Erstens wird eine Weile vergehen, bis man deine Überreste findet, und zweitens bin ich dann weit vom Schuß. In Nordafrika." Er sprach mit solcher Bestimmtheit, daß nicht einmal ein Mädchen vom bescheidenen geistigen Zuschnitt Blondies daran zweifeln konnte, daß er's völlig ernst meinte. Sie schüttelte stumm den Kopf. „Bitte!" keuchte sie kaum vernehmbar. „Tu's nicht, Phil! Warum denn? Ich hab dir doch nichts getan, Phil. Ich ..." Seine Hand krachte mit dem Rücken in ihr Gesicht. Sie wimmerte und versuchte, dem nächsten Schlag auszuweichen. Die Haut über ihrem Wangenknochen war aufgeplatzt. „Genug!" knirschte er. „Halt den Mund, du mieses Stück Fleisch. Ich mach dich jetzt fertig, und dann bring ich dich rüber in den Park." Er grinste. Sein Gesicht war fratzenhaft verzerrt. „Magst du den Hyde Park, he? Ich kenn ein fabelhaftes Versteck. Hab ich vor vielen Jahren entdeckt. Als Junge. Ich wette, selbst die Gärtner wissen nichts davon." Diesmal schlug er mit der Faust zu. Er traf Blondie an der Schläfe und merkte daran, wie ihr Körper schlaff wurde, daß er sie bewusstlos geschlagen hatte.
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Das ärgerte ihn. Brachte ihn um einen Teil seines Vergnügens. Er blickte sich um. Die Magnum, halb ausgelaufen, stand wieder auf dem Tisch. Zu trinken war das Zeug jetzt ohnehin nicht mehr. Viel zu warm. Außerdem hätte er gar keine Zeit gehabt, Champagner zu trinken. Gregory stand auf, um die Magnum zu holen und Blondie das prickelnde Getränk übers Gesicht zu gießen. Ein Geräusch ließ ihn mitten im Schritt einhalten. Blitzschnell und völlig lautlos wich er drei Schritte zurück, nahm unterwegs die Magnum vom Tisch und stand gleich darauf im Schatten der üppigen Vorhänge zwischen zwei hohen, schmalen Fenstern. Die Tür wurde geräuschlos aufgeschoben. Da sie sich zu Gregory hin öffnete, konnte er noch nicht erkennen, wer es war, der ihm diesen unerbetenen Besuch abstattete. Draußen in der Diele war es dunkler als hier im Livingroom, weshalb auch kein Schatten ins Zimmer fiel. Philipps Blick streifte für Sekundenbruchteile den Messing beschlagenen Schreibtisch. In dessen linker oberer Schublade lag eine 38er Special Bodyguard, ein hahnloser Fünfschuß-Revolver, mit dem er ausgezeichnet umzugehen verstand. Aber die Entfernung war zu groß. Er konnte den Versuch nicht riskieren, an die Waffe zu kommen. Wie der andere auch immer bewaffnet war, Philipp mußte damit rechnen, daß er in diesem Fall schneller war. Grimsby sah das bewußtlose, nackte Mädchen auf dem Fußboden und ahnte, wo Philipp Gregory sich verborgen hielt. Er wußte, daß Gregory auf ihn wartete. Er wußte nicht, w i e er auf ihn wartete. Mit einer Schußwaffe? Einem Messer? Grimsby maß die Entfernung ab. Fast im gleichen Moment schnellte er sich vom Boden, segelte horizontal durch den Raum, kam mit allen Vieren auf und rollte sich hinter die schwere, rauhlederbezogene Couch. Schon im Abrollen hatte er nach seinem langen, schmalen Messer gegriffen, hielt es jetzt an der Klinge und setzte zum Unterarmwurf an, als er Philipp Gregory kaum zwischen den Vorhängen entdeckt hatte. Das Messer, eine absolut tödliche Waffe in Grimsbys Hand, sauste durch den Raum. Schon im ersten Drittel ihres Flugwegs passierte sie die entgegenkommende Magnum. Gregory war im Vorteil gewesen, und er hatte ihn genutzt. Die schwere Champagnerflasche streifte Grimsbys Kopf, ohne ihm ernstlich zu schaden. Gregory, der instinktiv gewußt hatte, daß der andere ein Messer werfen würde, lag flach auf dem Boden. Die schmale Klinge steckte ein knappes Yard über ihm in der Wand. Der Horngriff zitterte noch. 27 Alle Achtung! dachte Grimsby. Daß er's geschafft hat, meinem Messer auszuweichen ... Na, ich hab's mit einem Profi zu tun. Hab ihn unterschätzt. Soll nicht wieder vorkommen. Sein Gehirn arbeitete mit der Präzision eines Computers, der für seine Aufgabe programmiert ist und sie auch dann erfüllt, wenn sich unvorhergesehene Schwierigkeiten ergeben. Das Messer, das er jetzt in der Hand hielt, war nicht zum Werfen bestimmt (obwohl Grimsby sich notfalls nicht scheuen würde, es dazu zu benutzen). Es glich in etwa einem Bowiemesser und schien Grimsby für die Fortsetzung des Kampfs bestens geeignet, da Gregory ja offensichtlich keine Schußwaffe hatte. Grimsby richtete sich langsam auf. Er hätte irgendeinen Gegenstand greifen und nach Gregory schleudern können; im nächsten Moment wäre er über ihm gewesen. Aber er hielt Gregory immer noch nicht für gefährlich genug, daß er zu solchen Mitteln greifen mußte. Seite 24
Langsam ging er auf den anderen zu, der sich ebenso langsam aufrichtete, sich an der Wand hochschob, dann blitzschnell nach dem Messer mit dem Horngriff faßte und es aus der Wand riß. Nicht schnell genug. Grimsby sch'ug's ihm aus der Hand. „Das war meine Waffe", sagte er grinsend. Im Augenblick sah's so aus, als hätte Gregory keine Chance mehr. Er wich behutsam seitlich aus. Grimsby blieb im gleichen Abstand. Er hielt das Messer mit der breiten Klinge so, daß er jederzeit einen Stich oder auch einen Wurf ausführen konnte — aus dieser kurzen Distanz brauchte er's dazu nicht einmal zu drehen. „Wer sind Sie?" „Darüber plaudern wir später." „Was wollen Sie von mir?" „Ich habe den Auftrag, Sie abzuholen", sagte Grimsby höflich. „Weshalb? Wohin?" Grimsby zuckte bedauernd die Achseln. „Sie werden sich gedulden müssen, Gregory." Philipp Gregory blieb plötzlich stehen und streckte die linke Hand beschwörend aus. Grimsby war auf der Hut. Er verhielt ebenfalls mitten im Schritt. „Lassen wir doch das Theater", schlug Gregory vor. „Ein Bulle sind Sie jedenfalls nicht. Könnten Sie das verdammte Messer nicht wegstecken?" „Wer ist das da?" fragte Grimsby, statt zu antworten. Mit einer Kopfbewegung deutete er auf Blondie, die immer noch in tiefer Bewußtlosigkeit regungslos dalag. „Ein Mädchen." „Seh ich selbst. Was haben Sie mit ihr gemacht?" „Gar nichts." „Ach, sie ist von Natur aus so still", sagte Grimsby sarkastisch. Er spürte die Unsicherheit des anderen. Vielleicht machte er den Fehler, anzunehmen, sie mindere seine Gefährlichkeit. „Zum Teufel mit der dummen Gans", stieß Gregory hervor. „Mag sein, ich hab sie ein bißchen zu fest angepackt. Aber die wird schon wieder." „Zwei Schritte zurück!" befahl Grimsby. Gregory zögerte, doch dann kam er der Aufforderung nach. Grimsby ließ ihn nicht aus den Augen, während er sich zu dem bewußtlosen Mädchen hinabbeugte. Ihr Atem ging flach, aber er zweifelte nicht daran, daß sie tatsächlich bald wieder zu sich kommen würde. Also war es am besten, wenn er mit Philipp Gregory so rasch wie möglich verschwand. „Sie sagten, Sie wollen mich abholen...?" Grimsby nickte nur. „Und wenn ich mich weigere?" „Das würde Ihnen nichts nutzen", sagte Grimsby mit einem fast freundlichen Lächeln. Eine Bewegung mit dem breiten Messer deutete den Grund an. „Wohin sollen Sie mich bringen?" „Es ist völlig überflüssig, daß Sie mir Fragen stellen. Zu gegebener Zeit werden Sie alles Notwendige erfahren." Grimsby sprach ruhig und besonnen. Er ging auf Philipp Gregory zu. Sein Plan war klar. Um dem anderen das Scopolamin beizubringen, das den für die Reise gefügig machen würde, mußte er ihn kurzfristig mattsetzen. Das war kein Problem. Grimsby hatte den passenden Schlag im Repertoir. Richtig angewandt, würde er Philipp Gregory höchstens für ein oder zwei Minuten bewußtlos machen.
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Mit dem Messer hielt er den regungslos Dastehenden in Schach. Die freie Hand fuhr blitzschnell nach oben und nach vorn. Aber Grimsby hatte seinen Gegner unterschätzt. Das war ihm lange nicht mehr passiert. Gregory war um den Bruchteil einer Sekunde schneller. Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand packten Grimsbys Oberlippe. Der Griff war schraubstockhart. Grimsby schossen Tränen in die Augen, und er stieß einen Schrei aus, als Gregory seine Oberlippe umdrehte. Im Reflex versuchte er, mit dem Messer zuzustoßen, aber auch das klappte nicht. Gregorys harte Handkante traf seinen Unterarm. Das Messer fiel auf den Teppichboden. Grimsbys Arm hing kraftlos herab, als gehöre er nicht zu ihm. Der Rest barg keine Schwierigkeiten. Mit eir em Schlag ähnlich dem, der ihm zugedacht gewesen war, zog Gregory Grimsby endgültig aus dem Verkehr. Mit einem Schlag allerdings, der wesentlich härter war und dessen Wirkung bestimmt zehn bis 15 Minuten anhalten würde. Philipp Gregory fluchte so ordinär wie ein Dockarbeiter. An diesem Abend ging alles schief. Erst die beschränkte Blonde, die ihn zwang, Dinge zu tun, die gar nicht vorgesehen waren — und dann dieser Bursche, der ihn beinah geschafft hätte. Gregory durchsuchte Grimsbys Taschen. Wer hatte den Kerl auf ihn angesetzt? Wer war hinter ihm her? Und weshalb? Die Durchsuchung brachte ihn nicht weiter. Philipp Gregory nahm sich einen Scotch mit wenig Wasser, setzte sich in einen der mit teurem Rauhleder bezogenen Sessel und ordnete seine Gedanken. Er brauchte etwa vier Minuten, um zu einem Schluß zu kommen. Befriedigt nickte er. Es gab wohl keine andere Möglichkeit. Jetzt, da er sich entschieden hatte, fühlte er sich schon besser. Blondie und der Bursche mußten verschwinden. Alle beide. Er mußte sie beide umlegen und zu dem Versteck im Hyde Park bringen. Alles andere war zu riskant — auch wenn die Idee etwas Verlockendes hatte, die Sache so zu inszenieren, als hätten der Mann und das Mädchen sich gegenseitig umgebracht. In der Wohnung hier ging das nicht, er wäre unweigerlich in die Affäre hineingezogen worden. Nein, nein, es war wirklich am besten, wenn er sie jetzt und hier erledigte, einige Stunden abwartete, sie dann in das Hyde-Park-Versteck brachte, sobald die Straßen leer waren und man den Park geschlossen hatte und anschließend so rasch wie möglich aus England verschwand. Für's erste. Blondie regte sich. Fast widerwillig stand Philipp Gregory auf und ging zu ihr hinüber. Breitbeinig blieb er über ihr stehen. Als sie die Augen aufschlug und stöhnte, sah sie in sein lächelndes Gesicht. Sie hatte Mühe, das Geschehen zu rekonstruieren. Eiskalte Angst preßte ihr Herz zusammen, aber Philipps Lächeln war wie ein lichter Hoffnungsstrahl in finsterer Nacht. Unsicher versuchte sie, das Lächeln zu erwidern. „Wie geht es dir?" fragte Gregory freundlich. „Ich ..." Sie versuchte, sich aufzurichten. Aber da Philipp stehen blieb, wo er stand, stieß sie gegen sein Knie. Da ließ sie sich wieder zurückfallen. Sie fühlte sich sehr schwach und matt und hatte das Gefühl, daß es da eine ganze Menge Dinge gab, die sie nicht verstand und an die sie sich im Augenblick gar nicht klar zu erinnern vermochte. Als sie sich umsah, blieb ihr Blick an dem Körper hängen, der nicht weit entfernt auf dem Teppich bedeckten Boden lag. Sie zuckte zusammen und stieß einen erschreckten Laut aus.
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„Keine Angst, Mädchen", sagte Philipp zufrieden. „Vor dem brauchst du dich nicht zu fürchten." Blondies Blick kehrte zu ihm zurück. Fragend. „Der wird auch sterben", sagte Philipp freundlich. „Direkt nach dir." „Nach mir", wiederholte Blondie flüsternd. „Warum sagst du so etwas, Phil? Du wirst mich doch nicht umbringen?" Ihr Kichern klang hysterisch. „Nein, nein! Ich weiß, du machst nur Spaß, Phil. Sowas könntest du gar nicht tun, Phil! Ich weiß, du willst mir nur Angst machen, Phil. Du ..." Ihre Stimme brach ab. Die Augen traten unnatürlich weit hervor, noch ehe Philipp Gregorys Hände sich um ihren Hals legten. Sie begriff, daß er sie wirklich umbringen würde. Und daß es keine Rettung mehr gab. Philipp Gregory wunderte sich nur leicht über die Tatsache, daß Blondie nicht den geringsten Versuch unternahm, sich zu wehren. Sie hatte sich offenbar in ihr Schicksal ergeben. Sehr bequem, dachte er. Was hätte sie auch davon? Es würde ihre Qual nur verlängern, wenn sie sich wehrte. Er verrichtete seine Arbeit so sachlich wie eine beliebige alltägliche Verrichtung. Erst als der Körper des Mädchens schlaff wurde, löste er den Griff seiner Hände. Blondie aus Southwark, die er ein paar Stunden früher in der Petticoat Lane gesehen und aus einer Laune heraus angesprochen hatte, war tot. Jetzt konnte er sich dem Burschen zuwenden, der ihm beinahe gefährlich geworden wäre. Beinahe! dachte Philipp Gregory, während er selbstgefällig grinste. Ihm wurde man immer nur beinahe gefährlich. Weil er zu clever und zu geschickt und zu gut in Form war, als daß ihn jemand wirklich erwischen konnte. Ob er den Mann ebenfalls erwürgte? Gregory schüttelte den Kopf. Bei einem Mädchen — ja, da war das Erwürgen angebracht. Zu spüren, wie man das Leben mit seinen Fingern allmählich aus dem Körper einer Frau preßte — das verschaffte angenehme Sensationen. Bei einem Mann aber war das ganz anders. Mit gerunzelter Stirn sah Gregory auf den immer noch Bewußtlosen hinab. Nicht weit entfernt lag das Messer mit der breiten Klinge. Sollte er ihn mit seiner eigenen Waffe ? Nein, entschied Gregory. Kein Blut, wenn's nicht unbedingt sein mußte. Möglich, daß er irgendwann erklären mußte, wie das Blut in seine Wohnung hier in Woods Meins gekommen war. Keine unnötigen Komplikationen. Ein plötzlicher Einfall ließ Philipp Gregory wie elektrisiert herumfahren. Der Kongo! Dieses Ding, das er sich bei seiner letzten Reise nach Nordafrika besorgt und mit dem er eine Reihe von ,Trockenübungen` absolviert hatte. Ein Holzstab mit zwei Halbkugeln an den Enden. Sah aus wie eine Miniaturhantel und war in den Händen 'dessen, der damit umzugehen wußte, eine absolut tödliche Waffe. Wo hatte er den Kongo hingetan? „Er muß im Schlafzimmer sein", murmelte Gregory, während er Grimsby einen prüfenden Blick zuwarf. Den Kongo zu holen, würde keine 30 Sekunden in Anspruch nehmen. Und so lange hielt die Bewußtlosigkeit des Burschen bestimmt noch an. Aber war's nicht ein Risiko, das er da einging? Ein Risiko, das er sich nicht leisten konnte? Zeit spielte keine Rolle. Zeit hatte er genug. Wenn er den Kongo ausprobieren wollte, mußte er abwarten, bis der Kerl zu sich kam. Ihn zu töten, während er bewußtlos war —das schien Philipp Gregory völlig reizlos. Ein Risiko?
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Er dachte, während er den Kongo aus der Schublade der Kommode in seinem Schlafzimmer nahm, darüber nach und schüttelte den Kopf. Er mit dem Kongo gegen einen unbewaffneten Mann, der noch dazu eine Weile brauchen würde, bis er wieder ganz da war. Nein, das war kein Risiko. Da brauchte er keine Bedenken zu haben. Seine linke Hand hielt den Kongo so, daß die beiden Halbkugeln links und rechts herausschauten. Wie er'; geübt hatte, bewegte Philipp den Unterarm. Blitzschnell mußte es gehen. Der Gegner durfte die Bewegung gar nicht realisieren. Erstaunlich, was man mit so einem kleinen, harmlos aussehenden Ding anstellen konnte. Sogar die Kräfte einer Frau reichten aus, um mit Hilfe des Kongos einen Mann durch einen einzigen Schlag zu töten. Natürlich konnte man den Kongo auch verwenden, um den Gegner nur kampfunfähig zu machen. Philipp Gregorys Augen glitzerten. Er stellte sich vor, daß er in Algier andere Möglichkeiten finden würde, den Kongo auszuprobieren. Nein, er würde sich bestimmt nicht langweilen, während er auf Helen Sandringham wartete. Wie's schien, kam er gerade im richtigen Augenblick in den Livingroom zurück. Der Bursche bewegte sich und stöhnte leise. Jetzt dauerte es nicht mehr lange, bis er die Augen öffnete und begriff, in welcher Situation er sich befand. Die Vorfreude auf diesen Augenblick ließ Philipp grinsen. Ich werde ihn hochkommen lassen, dachte er. Er soll sich einbilden, daß er wirklich eine Chance hat. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird er gar nicht wissen, was ein Kongo ist. Aber er wird ihn auch nicht sehen, bevor's zu spät ist. Philipp Gregory hielt die linke Hand auf dem Rücken. Grimsby schlug die Augen auf und schüttelte den Kopf. Er war zu sich gekommen, als Gregory den Raum betreten hatte. Und jetzt war er völlig intakt. Langsam, um den anderen zu keiner übereilten Reaktion zu provozieren, richtete er sich auf. Er grinste und gab sich so harmlos wie möglich. „Scheint, daß wir 'ne kleine Auseinandersetzung hatten, wie?" „Und Sie haben den kürzeren gezogen", ergänzte Gregory höflich. Er war sehr aufmerksam, denn er machte sich über die Gefährlichkeit seines Gegners keine Illusionen. Auch mit dem Kongo in der Hand konnte er sich's nicht leisten, überrascht zu werden. Als Grimsby die nächste Bewegung machte, spannten sich Gregorys Armmuskeln. Er war bereit, jederzeit zuzuschlagen. Grimsby wußte genau, wie er's anstellen wollte. So tun, als sei er noch benommen, leicht taumelnd auf die Beine kommen, in der richtigen Entfernung zu Gregory, und dann ... Dann war alles weitere ein Kinderspiel. Er würde ihn so zusammenschlagen, daß Gregory weder Scopolamin noch sonst etwas brauchte. Wie ein Bündel würde er ihn nach unten tragen und in seinem eigenen Wagen wegbringen. Grimsbys Kopf war ungefähr in der Höhe von Gregorys Bauch. In diesem Moment zuckte Gregorys Arm nach vorn, in Richtung auf Grimsbys rechte Schläfe. Aber noch bevor der Kongo das Ziel traf, gab es einen kurzen, trockenen Laut. Die Bewegung des Arms brach jäh ab. Gregory krümmte sich und griff mit der rechten Hand nach dem linken Arm. Er begriff noch nicht ganz. Aber etwas hatte seine Schulter getroffen und ihm die Möglichkeit genommen, den Burschen mit dem Kongo zu erschlagen. Sein linker Arm hing jetzt kraft- und nutzlos herab. Der Kongo kullerte über den Teppichboden. Auch Grimsby brauchte zwei Sekunden, ehe er begriff. Als er den Schlag ahnte, hatte er sich seitlich nach hinten geworfen. Wahrscheinlich wäre die Reaktion zu spät gekommen, doch das würde man nie mehr mit letzter Sicherheit klären können. Seite 28
Jedenfalls hatte der Schwung Grimsby etwa zwei Yards von Gregory weggebracht. Er rollte sich ab und kam auf die Füße. Noch bevor die Tür aufschwang und eine schlanke Gestalt in ihrem Rahmen stand, kapierte Grimsby alles. „Danke, Sir", sagte er leicht näselnd. „Ich glaube, ich war in einer ziemlich unangenehmen Situation." Dr. Glenn Morton trat aus der dunklen Diele in den Livingroom. Er schraubte den Schalldämpfer von der kleinkalibrigen Waffe, die eine überraschend große Durchschlagskraft besaß und verstaute beides, Waffe und Schalldämpfer, in der Innentasche seines leichten Wettermantels. „Wer ist sie?" fragte Morton und deutete mit dem Kinn auf das nackte Mädchen. Grimsby, der Blondie zwar nicht vergessen, seit seinem Auftauchen aus der Bewußtlosigkeit aber auch keinen Gedanken an sie verschwendet hatte, beugte sich über den leblos daliegenden Körper. „Tot", sagte er sachlich, während er sich aufrichtete. „Gregory muß sie getötet haben, während ich außer Betrieb war, Sir." Er wandte sich nach Philipp Gregory um: „Sie war Ihnen im Weg, nehme ich an. Ebenso wie ich." Gregory schwieg. Sein Gesicht war sehr blaß, und er spürte, wie ihn seine Kräfte verließen. Er wankte zu einem der Sessel, aber bevor er sich hinein-sinken lassen konnte, war Grimsby bei ihm und hielt ihn fest. „Du bleibst stehen, Bürschchen", zischte er. „Wär doch schade um die Bezüge." Er drehte ihn herum und betrachtete die Wunde. Ein sauberer Schuß. Morton verstand, mit Schußwaffen umzugehen. Fast so perfekt wie mit dem Skalpell. Gregory verlor viel Blut. Sein Hemd war getränkt damit, und bald würde der rote Saft auf den Teppichboden tropfen. Da Grimsby aber längst über die Situation nachgedacht hatte und sicher war, zum gleichen Schluß wie Glenn Morton gekommen zu sein, wußte er, daß man Blutspuren in Gregorys Wohnung tunlichst vermeiden mußte. Er packte Gregorys linken Unterarm. Gregory schrie vor Schmerz auf und ließ sich widerstandslos ins Nebenzimmer dirigieren. Dort fand Grimsby ein Hemd, das er in breite Streifen riß und Gregory um den Oberkörper wand.
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Howard Phillips Lovecraft Meister des Unheimlichen und des Horror von J. E. Weigand Howard Phillips Lovecraft, der Vater des Cthulhu-Mythos„ ist der Meister des literarischen Grauens. Seiner Feder entsprang eine ezenerie des oft unfaßbaren, immer aber unbezwingbaren Schreckens,: die einmalig genannt werden kann in ihrer unwirklichen Logik und ihrer -unvergleicblichen Dichte der Aussage. Lovecraft steht ganz in der Tradition eines Edgar - Allan Poe, den er freilich in seiner düsteren Weltschau und seiner Fähigkeit, unmenschliche, übernatürliche Wesenheiten in einer alltäglichen Umgebung zu beschreiben, bei weitem übertrifft. Lovecraft hat in seinen Erzählungen ein, fast möchte man sagen „natürliches" Verhältnis zum Unheimlichen. Das Unfaßbare ist für ihn nicht ein Etwas jenseits allem Vorgegebenen, sondern es ist Teil eines Ganzen und fügt sich in das Leben und Denken des Menschen harmonisch, ja notwendig ein. Sein Leben Howard Phillips Lovecraft wurde am 20. August 1890 in Providence (Rhode Island) geboren. Er verbrachte eine nicht gerade schöne Jugend, bedingt durch die Herrschsucht seiner den normalen Anforderungen des Lebens gegenüber überängstlichen Mutter und durch den frühen Tod seines Vaters. Auch kränkelte er laufend, so daß er seine jungen Jahre meist zu Hause verbrachte. Daraus entwickelte sich ein frühreifes Wesen, Vorbedingung vielleicht für die Formung seines ungewöhnlichen literarischen Talents. Märchen und Sagen fesselten zuerst seine Aufmerksamkeit; darin unterschied er sich in nichts von anderen Kindern. Er selbst beschreibt in seiner Autobiographie, in welchem Maße er von „Tausendundeine Nacht" beeinflußt worden ist. Schon hier ist z. B. eine direkte Verbindung herzustellen zu dem „Necronomicon", jenem geheimnisvollen Buch, das in seinem Cthulhu-Mythos eine so entscheidende Rolle spielt. Einziges Kind und dauernd unter Erwachsenen, flüchtete er sich bald in eine Traumwelt eigener Prägung. Gefördert wurde diese Entwicklung noch durch die altertümliche Anlage seiner Heimatstadt, deren verwinkelte Gassen und düstere Häuser der Phantasie des Kindes viele Anregungen gaben, die später ihren Niederschlag in Lovecrafts Novellen fanden. Schon früh begann er zu schreiben. Inspiriert durch Zeichnungen Gustav Dores entstand seine erste Erzählung bereits im Alter von sieben Jahren. Sie ist allerdings, wie so vieles aus seiner frühen Produktion, nicht erhalten, da H. P. Lovecraft in späteren Jahren von seinen Erzählungen alle jene rücksichtslos ausmerzte, die seinen hohen Ansprüchen nicht mehr gerecht werden konnten. Kurze Zeit später zog das geheimnisvolle Reich der Chemie ihn in seinen Bann. Damit begann ein neues, entscheidendes Stadium in seiner Entwicklung. Die Naturwissenschaften nahmen nun einen immer breiteren Raum in seinem Leben ein. Nach der Chemie fesselten ihn bald darauf zusätzlich die Geographie und vor allem die Astronomie. Besonders in der letzten Disziplin verfügte er bald über ein solches umfangreiches Wissen, daß er eine eigene kleine Zeitschrift, das „Rhode Island Journal of Astronomy", herausgeben konnte. Dazu kam eine rege Tätigkeit für lokale Zeitungen.
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Neben Gedichten entstanden in jener Zeit auch die ersten ernsthaften Versuche, die Welt des Grauens literarisch zu fassen. Auch von diesen Versuchen hat Lovecraft später das meiste eigenhändig vernichtet. Unzweifelhaft aber wurde in jenen Jahren der Grundstein gelegt zu seiner späteren Meisterschaft. Nachdem er wegen anderer weitläufiger Interessen das Schreiben unheimlicher Geschichten immer wieder für einige Zeit unterbrochen hatte, geriet er schließlich im Jahre 1914 an die „United Amateur Press Association", deren Mitglied er sogleich wurde. Es handelte sich dabei um einen Zusammenschluß literaturbegeisterter Anfänger, die ihre Produkte in eigenen Zeitschriften veröffentlichten und sich durch gegenseitige Kritik zu fördern versuchten. Aus dieser Vereinigung kam letztlich der entscheidende Anstoß für Lovecraft, mit dem Schreiben seiner Horror-Erzählungen fortzufahren und daraus seinen Brotberuf zu machen. In regelmäßiger Folge entstanden nun seine Storys. Die Gründung des Magazins „Weird Tales" verschaffte ihm ab 1923 die Möglichkeit, seine Geschichten einem größeren Leserkreis zugänglich zu machen. Wie Lovecraft selbst schreibt, steht seine Produktion aus jenen zwanziger Jahren zum großen Teil unter dem Einfluß von Edgar Allan Poe und Lord Dunsay. Sein Gesundheitszustand, bis dahin stets schwächlich und anfällig, besserte sich gerade in dieser Zeit entscheidend, so daß er nun endlich auch größere Reisen unternehmen konnte, die ihm wiederum Anregungen für sein Schaffen vermittelten. Die literarische Qualität seiner Erzählungen verfeinerte sich merklich. Mehrmals wurden seine Geschichten in Anthologien aufgenommen. Die ersten Buchveröffentlichungen erschienen. Neben „Weird Tales" waren nun auch Magazine wie „Amazing" oder „Astounding" regelmäßige Abnehmer seiner Stories. Während der ganzen Zeit führte er neben seiner schriftstellerischen Arbeit eine umfangreiche, regelmäßige Korrespondenz mit zahlreichen Autoren. Diese Korrespondenz nahm einen erheblichen Teil seiner Zeit in Anspruch. Gewiß ist dadurch manche gute Lovecraft-Geschichte ungeschrieben geblieben. Andererseits verschaffte ihm dieser Briefwechsel nach allen Seiten den überaus wichtigen Kontakt zu den Menschen, da Lovecraft besonders in späteren Jahren nur noch selten ausging, tagsüber ruhte und in der Nacht seine Phantasie in der Welt des Horrors umherschweifen ließ. Aus LUTHERS GRUSELMAGAZIN Nr. 9 2. Teil und Schluß in Dr. Morton Nr. 3
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Keine elegante, aber eine wirksame Lösung des Problems. Dr. Glenn Morton blieb im Livingroom nicht untätig. Er fand den Brief, den Gregory geschrieben hatte, las ihn, steckte ihn zufrieden nickend in den Umschlag zurück und verschloß ihn. Besser konnte es gar nicht kommen, dachte er. Gregory arbeitet uns in die Hände. Als Grimsby, den anderen vor sich herschiebend, zurückkam, sagte Morton: „Packen Sie einen kleinen Koffer für unseren Freund. Setzen Sie ihn in seinen Wagen und bringen Sie ihn weg. Wie besprochen." Grimsby nickte. „Wo steht der Austin?" Grimsby gab Auskunft und nahm den Schlüssel zu dem alten A 60 aus der Tasche. „Sind Sie zu Fuß hier, Sir?" „Ja. Ich hatte ein ungutes Gefühl und habe deshalb einen Abendspaziergang gemacht." Er lächelte. Grimsby gab das Lächeln zurück. Er wußte, daß Morton ihm keinen Vorwurf machen würde, aber er fühlte sich momentan trotzdem nicht sehr wohl in seiner Haut. Die Panne hätte nicht passieren dürfen. So etwas gab's einfach nicht. Hatte es nicht zu geben. Nicht bei dieser Art Arbeit. „Nein, behalten Sie den Schlüssel", sagte Morton. „Ich gehe zu Fuß nach Grosvenor Square zurück. Den Austin können Sie später holen." „Sie bleibt hier", sagte Grimsby. Er fragte nicht. Es war nur eine Bestätigung des Entschlusses, den Dr. Morton gefaßt hatte. „Ja, sie bleibt hier. Unser junger Freund hat einen Brief geschrieben, der uns sehr zustatten kommt", sagte Morton und lächelte Gregory an. Der war zu schwach, um zu reagieren. Er konnte — eine Folge des Blutverlusts — im Augenblick ohnehin nicht klar denken. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu der Party im Claridge's zurück, und er fragte sich, warum ihn sein Instinkt damals nicht vor Dr. Glenn Morton gewarnt hatte. „Was macht er?" fragte Dr. Glenn Morton. Grimsby, der eben aus einem Teil des Haupthauses von Lannix Manor zurückgekehrt war, zu dem nur Morton und er ungehinderten Zutritt hatten, lächelte zufrieden. „Gregory geht es den Umständen entsprechend gut. Ich habe darauf verzichtet, ihn noch einmal unter ScopolamM zu setzen." Morton nickte. „In Ordnung. Ich bin auch der Ansicht, daß er kein Beruhigungsmittel mehr braucht. Der Blutverlust ist fast ausgeglichen, und die Wunde heilt gut. Er wird bald in der richtigen Verfassung für unsere Versuche sein, Grimsby." „Ja, Sir", sagte der andere bescheiden. Wenn sie allein waren, wurde sein Ton oft vertraulich, fast kumpelhaft. Doch seit seinem Versagen in Gregorys Wohnung in Woods Mews ... Kurz gesagt, Grimsby hielt es für angebracht, eine Weile auf jede Vertraulichkeit zu verzichten. Diese Buße hatte er sich selbst auferlegt. „Eigentlich hat alles wunderbar geklappt", hörte er Dr. Morton sagen. „Wir haben Philipp Gregory, und Scotland Yard hat die Leiche eines Mädchens — in seiner Wohnung gefunden. Miss Sandringham hat den Brief, den Gregory geschrieben hat und den ich abgeschickt habe, wie erwartet an die Polizei weitergegeben, nachdem die Zeitungen über den Mord geschrieben hatten. Ein bemerkenswert kluges Mädchen."
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Er lächelte zufrieden und brachte seinen schwarzen Ledersessel in die RelaxStellung. Grimsby stand mit leicht schräggelegtem Kopf da, sah ihn an und hörte interessiert zu. „Philipp Gregory ist verschwunden. Nach allen Anzeichen sehr überstürzt abgereist. Schon das ist ein halbes Eingeständnis seiner Schuld. Rechnet man seine Vergangenheit hinzu ..." „Die Überwachung der Grenzen war vergeblich", sagte Grimsby und erlaubte sich, Mortons Lächeln mit einem Grinsen zu erwidern. „Nicht einmal Spratt wird auf die Idee kommen, daß ein Zusammenhang zwischen Gregorys Verschwinden und Dr. Glenn Morton besteht." „Spratt", sagte Dr. Morton nachdenklich. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. „Der tüchtige Chefinspektor Spratt ..." Nachdem Grimsby vergeblich auf eine Fortsetzung gewartet hatte, fragte er mit leichtem Näseln: „Was hat eigentlich in dem Brief an Miss Sandringham gestanden, Sir?" „Nicht viel. Nur, daß er aus persönlichen Gründen nicht auf die gemeinsame Abreise warten könne, und daß er hoffe, sie bald in Algier zu sehen. Dazu ein paar der üblichen Floskeln. Na ja, der Brief paßte jedenfalls wunderbar. An der Echtheit gibt es keine Zweifel. Ich habe mir auch Mühe gegeben, Gregorys Fingerabdrücke nicht zu verwischen. Habe den Bogen nur an den Rändern berührt." „Der Yard wird Interpol einschalten", sagte Grimsby vergnügt. „Man wird Gregory überall zwischen London und Algier suchen. Und dann wird man die Suche noch ausdehnen. Aber sie wird vergeblich sein. Denn Philipp Gregory sitzt schon auf Nummer Sicher." „Und er hat seinen Richter schon gefunden", ergänzte Dr. Morton sachlich. „Ich glaube, er ist sehr geeignet für die neue Versuchsreihe." Morton nickte. Seine Gedanken beschäftigten sich schon mit etwas anderem. „Grimsby, mit Spratt muß etwas geschehen." „Wird er unangenehm?" „Dazu dürfen wir es nicht kommen lassen." Grimsby schwieg eine Weile, bevor er fragte: „Sie haben Pläne in bezug auf den Chefinspektor, Sir?" „Er ist gefährlich. Natürlich reizt es mich, ihn zu holen, um mich ungestört mit ihm zu unterhalten. Aber ich bin nicht sicher, daß dieses Vergnügen das Risiko wert ist." Grimsby begriff und sagte: „Wahrscheinlich wäre es am besten, wenn Mr. Spratt einen Unfall hätte." „Der müßte aber sehr echt wirken." „Selbstverständlich. Einen zweifelsfreien Unfall, Sir. Wie er uns alle täglich treffen kann — in der heutigen Zeit mit all ihren Gefahren." Dr. Morton schwieg ziemlich lange. „Spratt ist in Brighton", sagte er dann. „Schon wieder?" Morton nickte. „Denken Sie, daß ich mich ein wenig um ihn kümmern sollte, Sir?" „Ich denke, daß Sie im Augenblick nichts Besseres tun könnten, Grimsby." Wenn es darauf ankam, konnte Grimsby fast jeden Menschen selbst in ungünstigster Umgebung unbemerkt beschatten. Morton staunte immer wieder über diese Fähigkeit und hatte einmal bemerkt, er wünsche sich, Zeuge zu sein, wie Grimsby einem einzelnen Mann ungesehen in knappstem Abstand quer durch die Sahara folge ...
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Chefinspektor Spratt von Scotland Yard unbemerkt durch Brighton zu folgen, war für Grimsby eine der leichtesten Übungen. Er beschattete ihn drei Stunden, doch das Ergebnis war gleich Null. Keinerlei Anhaltspunkte für das, was der Chefinspektor beabsichtigte und ebenso wenig die geringste Möglichkeit, einen Unfall zu inszenieren. Aber daß das so schnell gelingen würde, hatte Grimsby ohnehin nie erwartet. Chefinspektor Spratt hatte den Dienstwagen samt Chauffeur in der Nähe des Strands warten lassen. Als er den bejahrten Daimler V 8 bestieg, konnte Grimsby nur vermuten, wohin er sich jetzt wenden würde. Er. nahm ein Taxi nach Lannix Manor, stellte dort von der Garage aus eine Verbindung zu Dr. Morton her und schilderte die ergebnislose Verfolgung in knappen Worten. „Wollen Sie ihm nach London folgen, Grimsby?" „Ja — falls er wirklich auf dem Weg nach London ist." „Was für ein Fahrzeug nehmen Sie?" „Den Jensen FF. Spratt kennt ihn nicht, und er ist schnell genug, Spratts Vorsprung aufzuholen." „Lassen Sie von sich hören, Grimsby, sobald sich etwas ergibt. Ich wünsche Ihnen viel Glück." „Danke, Sir." Zwei Minuten später rollte der schnelle Jensen FF durch die Straßen von Brighton. Als er die A 23 erreichte, gab Grimsby Gas. Er fuhr schnell und konzentriert. Trotzdem dauerte es bis kurz vor Horley, bevor er Spratts alten Daimler sichtete. In gebührendem Abstand folgte er ihm durch die endlosen Straßen der Londoner Vorstädte. Spratt ließ sich nicht zum Yard fahren. Er stieg in der Nähe des Berkeley Square aus und ging zu Fuß weiter. Das veranlaßte Grimsby, den Jensen FF bei nächster Gelegenheit zu parken und dem Chefinspektor ebenfalls zu Fuß zu folgen. Was der wohl für ein Ziel hat? fragte er sich. Ob er tatsächlich zu Dr. Mortons Haus geht? Die Richtung hat er jedenfalls eingeschlagen. Nun, zunächst kehrte Chefinspektor Spratt in einem Pub in der Mount Street ein. Durch die Scheiben sah Grimsby, daß er sich nicht nur ein Bier, sondern auch Besteck und Teller bringen ließ. Geduldig wartete er in einiger Entfernung auf der anderen Straßenseite. Glenn Morton erhob sich aus dem elisabethanischen Sessel in der Bibliothek von Lannix Manor und überzeugte sich noch einmal, daß er ungestört war. Gewisse Sicherheitsvorkehrungen durfte man nie außer Acht lassen, auch wenn man überzeugt war, daß das Personal — sorgfältig ausgewählt und ohne Ausnahme schon mehrere Jahre im Haus — die gegebenen Anordnungen beachtete. Diese Anordnungen besagten unter anderem, daß Dr. Morton, hielt er sich in der Bibliothek auf, nicht gestört werden durfte. Ließen sich solche Störungen nicht vermeiden, so war das Telefon zu benutzen. Keinesfalls wollte Dr. Morton in seinen Studien durch ein plötzlich in der Bibliothek stehendes Dienstmädchen unterbrochen werden. Die Bibliothek hatte nur einen einzigen Zugang. Im Vorraum hielt sich niemand auf. Glenn Morton schloß die Tür und ging zum anderen Ende des rechteckigen Raums, der ringsherum wandhoch mit Bücherwänden versehen war, einzig durch Fenster und Türen unterbrochen. Der Eingangstür gegenüber gab es eine zweite, schmalere. Sie führte in den Kartenraum, den ein früherer Besitzer von Lannix Manor eingerichtet hatte. Morton durchschritt das kleine Zimmer und drückte einen versteckt angebrachten Knopf. Eine scheinbar fest installierte Karte von Großbritannien glitt zur Seite. Dahinter kam eine andere Karte zum Vorschein. Ein detailgetreuer Stadtplan von London —im Jahre 1837. Ein weiterer Knopf, ebenso versteckt angebracht wie der erste, ließ auch
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den Stadtplan von London zur Seite gleiten. Jetzt war's eine Karte von Irland, die die Wand bedeckte. Glenn Morton lächelte. Er liebte dieses Spiel. Natürlich gab es eine Möglichkeit, schneller in die geheimen Räume von Lannix Manor zu gelangen. Das halbe Dutzend Karten diente nur der Irreführung eventueller Spitzel. Selbst wenn eine nach der anderen zur Seite geglitten war, wenn der Polizist, der Dr. Glenn Morton eines Tages auf die Spur kam, vor der getäfelten Wand stand, war er nicht am Ziel — aber vermutlich so entmutigt, daß er die weitere Suche nach einem Geheimgang aufgab. Das System, das die Wand für Dr. Morton öffnete, war sehr kompliziert. Trotzdem brauchte er weniger als drei Sekunden zur Ausführung der richtigen Handgriffe in der richtigen Reihenfolge. Geräuschlos schoben sich die Kassetten der Täfelung ineinander. Der Durchgang war breit genug selbst für sperrige Gegenstände. Auf der anderen Seite genügte es, einen einzigen Knopf zu drücken. Gleich darauf war nicht nur die Täfelung wieder in ihre normale Stellung zurückgeglitten, auch die sechs Karten hingen wieder an Ort und Stelle. Der Gang führte schräg nach unten. Er verbreiterte sich auf gut anderthalb Yards und knickte nach Süden ab. Ein eventueller Eindringling mit gutem Ortssinn hätte gewußt, daß er sich jetzt nicht mehr unter den Dächern von Lannix Manor befand, sondern irgendwo zwischen dem Herrschaftshaus und den alten Stallungen. Dr. Morton blieb stehen. Seine Fingerspitzen glitten über die gut verfugten Steine zu seiner Rechten. Er spürte die winzige Erhebung. Sie gab nach. Gleich darauf konnte er den Gang verlassen. Hinter ihm schloß sich die Maueröffnung wieder. Hatte er sich eben noch in einem jahrhundertealten Gang befunden, in dem es muffig roch, so war er jetzt in einer geradezu steril wirkenden Umgebung. Niemand, der's nicht wußte, wäre auf die Idee gekommen, daß der hell geflieste Gang, von dem links und rechts mehrere Türen abgingen, sich mehrere Meter unter der Erde befand. Eine ausgezeichnete Klimaanlage sorgte dafür, daß die Luft immer angenehm temperiert war und über die notwendige Feuchtigkeit verfügte. Von einer ganz ähnlichen Anlage unter der Privatklinik Dr. Mortons unterschied das hier sich nur dadurch — aufden ersten Blick —, daß es keine Treppe gab, die nach oben führte. Der breite Flur endete auf beiden Seiten blind; jedenfalls schien es so, denn die Verbindung zu dem muffig riechenden Gang am einen Ende war für den Ungeübten nicht zu sehen. Und öffnen ließ sie sich nur, wenn man die richtige Kombination auf einer kleinen Tafel mit zehn Tasten, die von Null bis Neun numeriert waren, drückte. Hinter der zweiten Tür auf der linken Seite lag Philipp Gregory in einem Klinikbett. Morton hatte die Kugel aus seiner Schulter entfernt und ihn mit der gleichen Sorgfalt versorgt wie irgendeinen anderen seiner Patienten. Gregory sah ihn haßerfüllt an. Dr. Morton schien das nicht zu bemerken. Mit freundlichem Lächeln trat er ans Bett und erkundigte sich: „Wie geht es Ihnen, Mr. Gregory?" Keine Antwort. „Was ich von Grimsby hörte, war sehr ermutigend. Ich glaube, er hat Ihren Zustand völlig richtig beurteilt. Sie sind so gut wie gesund. Die kleine Wunde an Ihrer Schulter stört Sie kaum noch, oder?" Philipp Gregory wäre ihm liebend gern an die Kehle gesprungen. Daran hinderten ihn jedoch die breiten Riemen, mit denen er ans Bett gefesselt war. „Schade, daß Sie so unzugänglich sind", sagte Morton. „Auf diese Weise entgeht Ihnen manches." Er legte eine Pause ein und sah Gregory über den Rand seiner Brille hinweg an. Wenn er die Augengläser trug, so wie jetzt, wirkte er älter und irgendwie unbeholfen. Schon mancher hatte sich dadurch Seite 35
täuschen lassen — und das bitter bereut. „Sie werden nicht erfahren, was ich mit Ihnen vorhabe — und das interessiert Sie doch sicher. Nein?" Dr. Morton sah seinen unfreiwilligen Gast fragend an, mit einem fast schüchtern wirkenden Lächeln auf den Lippen. „Weshalb bin ich hier?" fragte Gregory. Es war mehr ein Knurren. Trotz seiner ungünstigen Lage fiel's Gregory schwer, die Wut zu unterdrücken, die ihn ganz ausfüllte. Er wußte,, daß das unklug war, aber er konnte nicht anders. „Sie sind also daran interessiert, mit mir zu sprechen", stellte Dr. Morton fest, angelte mit dem linken Fuß nach einem Stuhl und ließ sich darauf nieder. „Und Sie möchten wissen, weshalb Sie hier sind. — Nun, das ist eine Frage, auf die es mindestens zwei Antworten gibt." Er musterte Gregory mit dem immer noch freundlichen und ein wenig schüchternen Lächeln. So harmlos wirkte er im Moment, daß Gregory sich zu einer unklugen Bemerkung hinreißen ließ. „Sie können mich nicht einfach hier festhalten! Man wird mich vermissen und nach mir suchen. Wissen Sie, was auf Entführung und Freiheitsberaubung steht, Morton?" „Wissen Sie, was auf Mord steht, Gregory?" fragte Glenn Morton ruhig und freundlich zurück. „Sehen Sie, Ihre Bemerkung war voreilig, junger Freund." „Ich bin nicht Ihr Freund", konterte Gregory wütend. Glenn Morton nahm die Abfuhr mit einem Lächeln zur Kenntnis. Er sprach im Plauderton, als seien sie sich auf einer Party im Claridge's oder im Dorchester begegnet: "Auf Mord steht im allgemeinen eine zumindest sehr lange Freiheitsstrafe, Gregory. Nun haben Sie mit unserer Justiz ja sehr angenehme Erfahrungen gemacht. Überraschende Erfahrungen, die der sogenannte kleine Mann nur mit Kopfschütteln quittiert. Auch ich habe mich darüber gewundert — und geärgert. Um auf Ihre Frage zu antworten: Ein Grund, weshalb Sie hier sind, ist die Tatsache, daß ich etwas dagegen habe, wenn ein Mörder nicht wie ein Mörder bestraft wird." „Was maßen Sie sich denn an!" stieß Gregory wütend heraus. „Ich bin wegen Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt worden, nicht wegen Mord!" „Leider", sagte Morton sanft. „Es w a r kein Mord!" schrie Gregory, der spürte, daß eine für ihn ganz neue Angst sich in seinem Inneren breit machte und allmählich mehr und mehr Besitz von ihm ergriff. „Es war kein Mord! Ich konnte nichts dazu, daß die dumme Gans sich aus dem Fenster gestürzt hat! Und Sie ... Sie haben kein Recht ..." „Und das Mädchen in Ihrer Wohnung in Woods Mews?" fragte Glenn Morton sanft. „Das Mädchen, das nackt und tot auf dem Boden lag, als ich Sie dabei überraschte, wie Sie meinen Mitarbeiter umbringen wollten?" „Er war's!" schrie Gregory. „Er hat's getan! Er hat sie umgebracht, ich weiß nicht, weshalb. Ich konnte ihr nicht rechtzeitig zu Hilfe kommen. Er wollte mich auch umbringen, ich habe mich nur verteidigt!" Dr. Morton wehrte ab. „Lassen wir dieses Märchen, Gregory", sagte er sachlich. „Sie stehen hier nicht vor einem Gericht, das sich von der Geschicklichkeit Ihrer Anwälte einwickeln läßt, die Sie sich dank Ihres Vermögens leisten konnten. Sie haben es diesmal einzig und allein mit mir zu tun. Und ich habe das Urteil bereits gefällt." „Sie sind wahnsinnig", flüsterte Gregory und sah den Arzt aus aufgerissenen Augen an. „Komplett wahnsinnig! Sie können doch nicht Ihre private Rechtsprechung ... Sie haben kein Recht ..."
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Seine Stimme erstarb. Der Blick in Dr. Glenn Mortons Gesicht hatte ihm gezeigt, daß jeder Einwand vergeblich war. „Kommen wir zur zweiten Antwort auf Ihre Frage", sagte Morton ruhig. „Sie sind hier, weil ich eine Versuchsperson für eine Reihe von interessanten Experimenten brauche. Nach meiner Beurteilung eignen Sie sich ausgezeichnet für meine Zwecke. Sie sind jung und stark und sehr widerstandsfähig. Ich könnte mir keine bessere Versuchsperson wünschen. Und da Sie Ihre Freiheit und Ihr Leben nach meiner Ansicht ohnehin verwirkt haben, brauche ich mir auch keine Sorgen zu machen, nicht wahr? Ich kann meine Experimente ohne alle Skrupel in Angriff nehmen." „Experimente?" krächzte Gregory, dem seine Stimme fast den Dienst versagte. „Was für Experimente?" „Was für eine Ausbildung haben Sie, Gregory?" erkundigte Morton sich interessiert. „Nach meinen Informationen haben Sie sich durchs College gemogelt und auch auf der Universität nur einem anderen den Platz gestohlen. Aber vielleicht gibt's da Interessen und Kenntnisse, von denen ich nichts weiß? Nein? — Nun, es ist schade, daß Sie nichts davon verstehen. Ich hätte Ihnen gern erklärt, worauf die Wirkung von Nervengasen beruht und worin sich meine Entwicklung von den bisher bekannten Mitteln unterscheidet. Aber ..." „Nervengas?" Gregorys Stimme schrillte. Es war die nackte Angst, die ihn jetzt beherrschte, und er machte sich keine Illusionen über seinen Zustand. Seine Widerstandskraft war —zumindest für den Augenblick — gebrochen. Er brachte es nicht einmal mehr fertig, diesen Burschen mit seinem penetranten Grinsen zu hassen. Er hatte nur noch Angst, Angst, Angst. „Nervengas", wiederholte Dr. Morton. „Ich weiß selbst nicht, warum ich meine Zeit damit verschwende. Vermutlich ist es die Unzulänglichkeit aller anderen Entwicklungen auf diesem Sektor gewesen, die mein Interesse geweckt hat. Ja, und nun bin ich so weit, daß ich mein Präparat am Menschen versuchen möchte. Sie verstehen das, nicht wahr, obwohl Sie ein Ignorant sind — und ein Verbrecher, nebenbei gesagt: Irgendwann kommt man mit Tierversuchen nicht weiter. Glücklicherweise habe ich jetzt Sie." Er stand auf und rückte den Stuhl an seine frühere Stelle. Gregory starrte ihn an wie das Kaninchen die Schlange. Er hatte die Zähne so fest aufeinander-gebissen, daß die Backenknochen sich weiß abzeichneten. „Sie sollten sich nicht so exaltieren, junger Freund, wirklich nicht. Sie müssen sich ganz entspannen. Wie soll ich sonst zu hieb- und stichfesten Ergebnissen kommen?" Als Gregory eine Stimme hörte, hatte er Mühe, zu glauben, daß das wirklich er selbst war, der da sprach. „Tun Sie's nicht, Dr. Morton! Tun Sie's nicht! Ich tauge nicht dazu! Lassen Sie mich frei! Ich — ich besorge Ihnen andere Versuchspersonen. Soviel Sie haben wollen — bestimmt! Jede Menge! Und Geld, Dr. Morton, Sie brauchen doch Geld für Ihre Untersuchungen! Ich kann Ihnen Geld zur Verfügung stellen. Ich bin reich. Sie wissen doch, daß ich reich bin! Sie können alles haben, und ich tue alles, was Sie von mir verlangen! Wenn Sie einen Assistenten brauchen, Dr. Morton ... Ich bin ziemlich ungebildet, stimmt, aber ich bin geschickt! Vielleicht ... Wenn Grimsby und ich ... Wenn wir zusammen ... Ich meine, ich könnte Ihnen sehr nützlich sein, Dr. Morton, ich ..." Glenn hatte ihn reden lassen, ohne sich zu rühren. Aber er beobachtete ihn sehr genau. Als Gregory jetzt erschöpft abbrach, war Mortons Stimme sanft und gleichmütig wie fast während des ganzen Gesprächs: „Nein, Gregory. Ich danke für Ihr Angebot, aber ich muß es ablehnen."
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Er löste einen der Lederriemen, überzeugt, daß Gregory im Augenblick überhaupt nicht fähig war, irgendwelche Dummheiten zu machen. Geschickt drehte er seinen Gefangenen halb herum, löste den Verband und betrachtete die kleine Wunde. Die Ränder vernarbten bereits. „Ich könnte sofort beginnen", sagte er nachdenklich zu sich selbst. „Alles ist vorbereitet für den ersten Versuch." „Nein!" wimmerte Gregory von Angst geschüttelt. „Aber Sie müssen Ihr Gleichgewicht erst wiedererlangen, junger Freund. Außerdem möchte Grimsby dabeisein, nehme ich an. Diese Nervengas-Geschichte interessiert ihn mehr als all meine anderen Experimente. Es wäre unfair von mir, ihm dieses Vergnügen vorzuenthalten." Er drehte Gregory wieder auf den Rücken. Dann zog er ein flaches Etui aus der Tasche und bereitete die Injektion vor. „Ich will das nicht!" sagte Gregory und versuchte, an den anderen Rand des Bettes zu rücken. „Keine Spritze!" Seine Stimme klang hysterisch. Dr. Morton schien den Einwand nicht zu hören. Er zog die Spritze auf und prüfte sie. Dann griff er nach Gregorys nacktem Arm. Gregory wehrte sich. Der gelöste Riemen gab ihm einige Bewegungsfreiheit. Mortons Hand fuhr blitzschnell durch die Luft. Sie traf Gregorys linke und dann die rechte Wange mit dem Rücken. Gregorys Kopf flog hin und her. „Seien Sie vernünftig!” bellte - Morton. Die Wirkung der Schläge und der Worte war augenblicklich. Ohne weiteren Widerstand ließ Gregory zu, daß Dr. Morton seine Armbeuge mit alkoholgetränkter Watte behandelte und ihm anschließend die Injektion gab. „Was ist das?" fragte er hinterher matt. „Nichts, was Sie beunruhigen müßte", erklärte Morton, jetzt wieder freundlich. „Ein Mittel, das hilft, Ihre angeknackste Psyche zu stabilisieren. In wenigen Minuten werden Sie sich sehr wohl fühlen und selbst zu der Überzeugung kommen, daß es dumm wäre, mir Widerstand entgegenzusetzen und meine Experimente durch widerspenstiges Verhalten zu beeinträchtigen." Er wandte sich zur Tür, blieb aber noch einmal stehen und sagte im Plauderton: „Es ist doch so, Gregory: Ihre Chance, jemals lebend hier herauszukommen, ist sehr, sehr gering. Wenn Sie mich aber noch ärgern, indem Sie mein Spiel nicht mitspielen, ist die Chance gleich Null." Chefinspektor Spratt ging, nachdem er seine frugale Mahlzeit beendet und das Pub verlassen hatte, tatsächlich in Richtung Grosvenor Square weiter. Am Roosevelt Memorial setzte er sich auf eine Bank und beobachtete Dr. Mortons Haus — soweit er in der Dunkelheit, nur beim Licht der Laternen, überhaupt etwas davon erkennen konnte. Grimsbys Geduld wurde abermals auf eine harte Probe gestellt. Immerhin konnte er sich's jetzt bequem machen und sich ebenfalls auf eine der Parkbänke setzen. Natürlich dachte er über die Möglichkeit nach, daß Chefinspektor Spratt hier am Grosvenor Square seinen bedauerlichen Unfall erlitt. Aber er schüttelte selbst den Kopf. Zu unwahrscheinlich. Was sollte ihm schon passieren? Sollte er von der Bank fallen und sich dabei das Genick brechen? Nein, nein. Außerdem wäre es Dr. Morton sicher nicht recht gewesen, wenn den Chefinspektor das Schicksal so dicht bei seinem, Mortons, Haus ereilte. Grimsby hätte sich Spratt mühelos bis auf zwei, drei Meter nähern können, ohne entdeckt zu werden. Doch wozu? Bestimmt führte der Chefinspektor keine Selbstgespräche, die zu belauschen sich gelohnt hätte. Und so dunkel war's nicht, daß Grimsby befürchtet hätte, Spratt könnte ihm plötzlich aus den Augen geraten. Seite 38
Es dauerte mehr als eine halbe Stunde, ehe der Mann vom Yard sich erhob, seine steifgewordenen Glieder dehnte und dann langsam auf Dr. Mor tons Haus zuging — und daran vorbei. Er wählte die Upper Brook Street bis zur Park Lane, wandte sich dann nach rechts — und bog tatsächlich in Woods Mews ein. Grimsby war hinter ihm und machte sich seine Gedanken. War's möglich, daß der Chefinspektor eine Verbindung zwischen dem Verschwinden von Philipp Gregory und Dr. Glenn Morton sah? Grimsby konnte sich nicht vorstellen, wie das zugehen sollte. Aber wenn's so war — dann wurde es wirklich allerhöchste Zeit, daß Spratt etwas zustieß. Dann mußte Spratt seinen Unfall unbedingt noch in
Leseprobe aus GRUSEL+ HORROR-CABINET Nr. 14 DAS PHÄNOMEN DES TODES von Doris Grünning Wie eine Fontäne sprang der Blutstrahl mit jedem Stoß des Herzens in die Freiheit. Er hielt noch immer die Klinge in der rechten Hand. Die linke konnte er nicht mehr bewegen. Offensichtlich hatte er irgendwelche Sehnen verletzt. So brachte er es nicht fertig, sich auch an der rechten Hand die Ader aufzuschneiden. Eine schreckliche Übelkeit würgte ihn, und er senkte den Arm wieder in das blutigrote Wasser. Die Kacheln hinter dem _Becken waren durch den hervorschießenden Strahl blutbespritzt, und die einzelnen Tropfen rannen nun in dünnen, immer länger werdenden Fäden zum Fußboden hin. Versäumen Sie nicht diesen spannenden Doppelband, den Ihr Zeitschriften- oder Bahnhofsbuchhändler für Sie bereithält. Sollte dieser Band dort bereits vergriffen sein, so schreiben Sie bitte an: ANNE ERBER VERLAG 7595 SASBACHWALDEN, POSTFACH 5
dieser Nacht haben — und bevor es ihm gelang, seine Wohnung oder den Yard zu erreichen oder telefonischen Kontakt zu einem seiner Mitarbeiter aufzunehmen. Wenn er was ahnt, dachte Grimsby, dann befinden sich seine Ahnungen jedenfalls noch in einem frühen Stadium. Sonst würde er anders vorgehen. Wenn ich ihn heute abserviere, kann ich ziemlich sicher sein, daß es nicht zu spät ist. Spratt ist ein alter Fuchs und weiß, wie die Hasen laufen. Solange er nicht mehr als einen vagen Verdacht hat, wird er nichts ausposaunen. Von der gegenüberliegenden Straßenseite aus sah er zu, wie Spratt in seinen Hosentaschen kramte, endlich den gesuchten Schlüssel fand und die Haustür aufsperrte. Kaum war der Chefinspektor in Gregorys Haus verschwunden, huschte Grimsby über die Straße und machte sich auf seine bewährte Art am Garagentor zu schaffen. Glücklicherweise war das Tor durch eins der Yaleschlösser gesichert, deren Öffnung Grimsby schieres Vergnügen bereitete. Er schob das Tor nach einer knappen halben Minute zur Seite und verschwand in der Garage. Diesmal brauchte er sich nicht Seite 39
einmal seiner bleistiftdünnen Taschenlampe zu bedienen. Er glitt lautlos durch das Dunkel, öffnete die zweite Tür und stieg die schmale Treppe hinauf, die er auch bei seinem ersten Besuch in Gregorys Haus benutzt hatte. Diesmal bin ich vorsichtiger, dachte er grinsend. Spratt wird mich bestimmt nicht überraschen wie dieser Gregory. Er wird mich nicht einmal bemerken — bis es zu spät ist. Bedauerliche Duplizität der Ereignisse: Erst kommt in diesem Haus ein blondes Mädchen zu Tode, dann stürzt ein bekannter Chefinspektor vom Yard die Treppe hinunter und bricht sich das Genick ... Grimsby grinste wölfisch. Dr. Morton würde sehr zufrieden mit ihm sein. Er hatte jetzt das erste Stockwerk erreicht und blieb stehen, um zu lauschen. Er wartete darauf, die Schritte Spratts zu hören. Dann galt es nur noch, den günstigsten Augenblick abzuwarten. „ ... nichts weiter gefunden", sagte eine Stimme, die Grimsby\nicht kannte. Dann sprach — unverkennbar — Spratt: „Ich hab's nicht anders erwartet, Miller. Wie sind Sie hergekommen?" „Mit dem Bus, Sir." „Dann rufen Sie im Yard an. Man soll uns einen Wagen schicken." Grimsby wußte, daß die Jagd auf den Chefinspektor für diese Nacht zu Ende war. Stand es dafür, zu warten, bis der Wagen vom Yard kam und die beiden Beamten abholte? Möglich, daß er noch etwas hörte, das für Dr. Morton und ihn von Interesse war. Er hatte sich gerade entschieden, zu bleiben, als er Spratts Stimme vernahm: „Wir werden Siegel anlegen. An die Haustür und auch an das Garagentor. Für alle Fälle." „Selbstverständlich, Sir", erwiderte der andere. Da machte Grimsby sich davon. War- • um sollte er ohne Not ein Siegel zerstören? Zu Fuß kehrte er zu dem Jensen FF zurück. Unterwegs dachte er noch einmal über alles nach, was er an diesem Tag mit Chefinspektor Spratt erlebt hatte. Die Wahrscheinlichkeit, daß Spratt einen Zusammenhang zwischen Dr. Morton und Gregory vermutete, schien ihm jetzt gleich Null. Höchstwahrscheinlich war Spratt nur nach Woods Mews gegangen, weil er seinen Mitarbeiter dort wußte. Trotzdem: Spratt war gefährlich und mußte aus dem Verkehr gezogen werden. Am besten gleich morgen. Grimsby nahm sich vor, noch in dieser Nacht mit Dr. Glenn Morton darüber zu sprechen. Vorausgesetzt, der schlief noch nicht, wenn Grimsby nach Lannix Manor zurückkehrte. „Los, los" befahl Grimsby früh am nächsten Morgen. Er hatte Philipp Gregory, nachdem der die letzte Tasse Tee zum Frühstück in sich hineingeschüttet hatte, ganz losgebunden. Jetzt zog er dem Gefangenen die Decke weg und gab ihm mit ungeduldiger Handbewegung zu verstehen, daß er endlich aufstehen sollte. „Los, ins Bad. Machen Sie sich fertig. Mit Beeilung, aber sorgfältig." Grimsby gestattete sich ein Lächeln: „Dr. Morton liebt es nicht, wenn seine Versuchspersonen ungepflegt aussehen." Philipp Gregory blieb jäh stehen und drehte sich um. „Was starren Sie mich so an?" fragte Grimsby. „Sie haben doch von Dr. Morton selbst gehört, wozu er Sie bestimmt hat!" Als Gregory keine Anstalten traf, seinen Weg ins Badezimmer fortzusetzen, gab Grimsby ihm einen derben Stoß. Gregory taumelte auf die offene Badezimmertür zu. Grimsby lehnte sich gegen den Rahmen und sah ihm zu. Philipp Gregory war nackt bis auf den Verband. „Sie schlottern ja vor Angst!" stellte Grimsby mißbilligend fest.
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Das stimmte gar nicht. Er wollte den anderen provozieren und war mit dem Ergebnis einverstanden: Gregory reagierte kaum. Dr. Morton würde mit seinem Zustand zufrieden sein. Grimsby brachte den Mann in einen der anderen Räume. Gregory sah sich um. Im Augenblick hatte er wahrscheinlich keine Chance, zu entkommen. Er war nackt und wehrlos und wußte nicht einmal, wo er sich befand. Aber etwas anderes hatte Gregory durchaus: Hoffnung. Er würde vielleicht eine Weile brauchen — aber bestimmt eine Möglichkeit finden, aus seiner Gefangenschaft zu entkommen. Wahrscheinlich, dachte er, muß ich Grimsby überwältigen. Oder auch Morton. Mit allen beiden werde ich sicher nicht fertig. Ich muß zusehen, daß ich mir eine Waffe besorge. Irgendwas, womit ich zuschlagen kann. Vielleicht auch ein Messer. „Übrigens", sagte Grimsby, „ist dieses kleine Dingsda eine ausgezeichnete Waffe, dieser Kongo. Ich habe mir erlaubt, ihn aus Ihrer Wohnung mitzunehmen. Wenn man das Prinzip erkannt hat, lernt man schnell, damit umzugehen, nicht wahr, Gregory?" Er wandte sich um und sah Grimsby an. Der hatte seinen Kongo. Vielleicht trug er ihn bei sich? Vielleicht gelang es ihm, dranzukommen? Der Kongo war möglicherweise die Lösung. Er tötete schnell und lautlos und ließ sich —dank seiner geringen Abmessung — fast überall verstecken. „Natürlich möchte ich das Ding gern ausprobieren", erklärte Grimsby grinsend. „Wenn Sie also beabsichtigen, Dummheiten zu machen, Gregory Nur zu!" Er griff in die Tasche. Als seine Hand wieder zum Vorschein kam, hielt sie den Kongo. Absolut richtig, wie Gregory feststellte. Und das ging ihm verdammt an die Nieren. Es erinnerte ihn daran, daß er früh aufstehen mußte, um mit Grimsby fertigzuwerden. Nein, seine Aussichten waren ganz bestimmt nicht rosig. Der Kongo verschwand wieder. Gregory sah sich weiter im Raum um, immer auf der Suche nach einer Waffe, die er bei Gelegenheit in seinen Besitz bringen konnte. Aber hier gab es so gut wie nichts. Einen Arbeitstisch vor einer rechteckigen, offenbar sehr dicken Glasscheibe. Zwei Stühle vor dem Tisch. Einige Papiere auf der Tischplatte. Dazwischen glaubte Gregory einige Schalter zu erkennen. Neben dem Tisch führte eine schmale Tür in den angrenzenden Raum. Er konnte seiner Neugier nicht widerstehen, machte einige Schritte auf den Tisch zu und starrte durch die Glasscheibe nach nebenan. Er sah in eine Art Zelle. Glatte Wände, glatter Fußboden, völlig leer, gleichmäßig ausgeleuchtet. Langsam wandte er sich zu Grimsby um. In seinen Augen stand eine ängstliche Frage, die er nicht unterdrücken konnte. Grimsby nickte. Er schien sehr zufrieden. „Ja, Gregory. Das ist Ihr Aufenthaltsort für den ersten Teil unseres Experiments. Aber Sie brauchen keine Angst zu haben. Sie werden es überleben." Gregory hatte das Bedürfnis, etwas zu sagen. Was,wußte er selbst nicht. Er kam auch nicht dazu, sich zu äußern,• denn Dr. Glenn Morton kam herein, begrüßte Grimsby, murmelte minutenlang mit ihm und wandte sich dann seiner Versuchperson zu. „Sie sind in Ordnung, Gregory?" Philipp Gregory gab keine Antwort.' „Kommen Sie her." Mortons Stimme war ruhig und nicht laut. Sie duldete trotzdem keinen Widerspruch. Gregory, der wußte, daß es unklug gewesen wäre, sich jetzt zu widersetzen, ging langsam auf den Chirurgen zu. Seite 41
„Drehen Sie sich um." Er gehorchte. Dr. Morton löste den Verband und betrachtete die vernarbte ' Wunde. „Ausgezeichnet", sagte er. „Sobald wir Zeit finden, werden wir die Fäden ziehen." „Das kann ich erledigen", schlug Grimsby vor. Gregorys Kopf fuhr herum, ohne daß er etwas dagegen unternehmen konnte. Er starrte Grimsby ins grinsende Gesicht und schluckte. „Ja, das können Sie tun", sagte Dr. Morton. Gregory würgte seine Widerspruch hinunter. Grimsby öffnete die schmale Tür zu dem zellenartigen Raum mit der rechteckigen, dicken Glasscheibe. „Bitte", sagte er höflich. „Wenn Sie sich jetzt hier hineinbegeben möchten, Gregory." Philipp setzte einen Fuß vor den anderen. Er war weiß Gott kein Feigling und hatte sich, wie er selbst glaubte, wieder ziemlich gut in der Hand — aber jetzt wurden seine Knie weich. Er atmete mit offenem Mund und verspürte den brennenden Wunsch, irgendwas zu tun, das ihn vor der Zelle bewahrte. Aber was? Es gab nichts. Also ging er auf die schmale Tür zu und hindurch und hörte im nächsten Augenblick, wie die Tür geschlossen und offenbar verriegelt wurde. Er war allein, ausgeliefert, völlig schutz- und hilflos. So allein aber wiederum nicht: Er hörte Dr. Mortons ruhige Stimme, die vermutlich durch einen Lautsprecher an der Decke der Zelle kam. Gregory blickte nach oben. Die Decke bestand aus Lochplatten. Er konnte nicht erkennen, was sich dahinter verbarg. „Sie sind in einer Art Gaskammer, Gregory. Ich empfehle Ihnen, sich auf den Boden zu setzen, die Beine anzuziehen und die Knie mit den Händen zu umfassen. Sie werden Ihre ganze Kraft brauchen für das, was jetzt kommt." Gregory stand in der Mitte der Zelle und starrte auf die Glasscheibe. Eigentlich hätte er auf der anderen Seite Morton und Grimsby erkennen müssen, aber er sah nur verwischte Schatten. Die Scheibe mußte irgendwie behandelt Lein, sä daß man nur von einer Seite richtig hindurch sehen konnte. „Haben Sie mich nicht verstanden, Gregory?" fragte Dr. Morton ruhig. „Selbstverständlich können Sie es halten, wie Sie es wollen. Meinetwegen bleiben Sie so stehen. Aber dann wird es noch unangenehmer." Gregory blieb stehen. Eine Trotzreaktion, nahezu unbewußt. „Wie Sie wünschen", sagte Morton kühl. Philipp Gregory hörte das Zischen. Es war sehr leise und klang vielleicht gerade deshalb so gefährlich. Er hob den Kopf, weil das Zischen von oben kam, von der mit Lochplatten verkleideten Decke her. Zu sehen war im Augenblick nichts. Und jetzt verstummte das Zischen auch schon wieder. Eine Panne? Sekundenlang erfüllte ihn wilde Hoffnung. Doch dann spürte er das Prickeln auf seiner Haut, das rasch stärker wurde. Er begann sich zu kratzen. Das half nicht. Im Gegenteil: Dort, wo er sich kratzte, wurde das Prickeln stärker, wurde zum Stechen. Er 'hatte einmal eine Nervenentzündung gehabt und erinnerte sich jetzt an die damals ausgestandenen Schmerzen. Das hier war anders. Das war schlimmer. Im Augenblick waren die Schmerzen noch auszuhalten, doch spürte Philipp Gregory, wie er zunehmend nervöser wurde. Als die erste große Schmerzwelle seinen Körper durchflutete, schloß er die Augen. Er spürte, wie sein Herz raste und bekam keine Luft. Die zweite Woge war viel schlimmer als die erste. Alle seine Nervenenden schienen bloß zu liegen. Gregorys Beine versagten ihm den Dienst. Er sank zusammen, Seite 42
versuchte den Kopf zwischen den Armen zu verstecken, in der törichten Hoffnung, so wenigstens das Gesicht vor diesem unmenschlichen Schmerz zu bewahren. Es half 'licht. Nichts half. Philipp Gregory wünschte sich, das Bewußtsein zu verlieren. Er gab einem plötzlichen Impuls nach, richtete sich auf und rannte mit dem Kopf gegen die Wand. Doch entweder war diese Wand zu weich gepolstert, oder er hatte nicht mehr genügend Kraft. Wimmernd und schreiend wälzte er sich auf dem Boden. Die schmerzenden Nadeln durchdrangen seinen ganzen Körper. Er fühlt sich aufgespießt von Tausenden solcher Nadeln. Ungefähr 20 Minuten dauerte seine Qual. Dann merkte er, wie sein Körper erschlaffte, wie er allmählich ruhiger wurde und die Schmerzen nachließen. Wie durch einen Nebel sah er Grimsby in der geöffneten schmalen Tür stehen. Grimsby packte ihn unter den Schultern und schleifte ihn hinaus. Gregory spürte, wie man ihn auf eine Bahre legte. Dr. Morton und Grimsby trugen ihn hinüber in sein Zimmer. Grimsby rollte einen Tisch mit verschiedenen Meßgeräten herein. Eine knappe Stunde arbeitete Dr. Morton an seinen Messungen und Untersuchungen. Gregory wünschte sich, einzuschlafen. Aber dazu ließ Dr. Morton es nicht kommen. „Wie fühlen Sie sich?" fragte er. Und Gregory, gegen seinen Willen, hörte sich antworten: „Besser." „Wir haben mit einer kleinen Dosis angefangen", erklärte Morton. mählich werden wir sie steigern. Ich bin gespannt, wieviel Sie aushalten, Gregory." Der schüttelte nur den Kopf. Er wollte widersprechen, aber er spürte die Aussichtslosigkeit eines solchen Versuches. „Im Lauf der Experimente werden Sie auch die letzte Spur eigenen Willens verlieren", sagte Glenn Morton sanft. „Sie werden zu einer folgsamen Marionette, Gregory. Können Sie sich das vorstellen?" Keine Antwort. Nachdem Dr. Morton das Zimmer verlassen hatte, räumte Grimsby die Geräte und Apparate zusammen. „Ich schnalle Sie nicht fest, Gregory. Sie können sich in Ihrem Zimmer und nebenan im Bad frei bewegen. Wenn Sie glauben, daß Sie irgendeinen Trick versuchen müssen ..." Grimsby lächelte aufmunternd. „Vielleicht komme ich auf diese Weise zu einer Gelegenheit, Ihre entzückende kleine Waffe auszuprobieren." Gregory starrte die Tür an, die sich hinter Grimsby geschlossen hatte. Im Augenblick brachte er nicht einmal die Kraft auf, Grimsby zu hassen. Chefinspektor Spratt verließ den Yard und trat auf das Victoria Embankment hinaus. Er hatte die Absicht, zu Fuß zu seiner Wohnung zu gehen und vorher noch einen kleinen Spaziergang entlang der Themse zu unternehmen. Ein Wagen glitt langsam und fast lautlos an seine Seite und hielt. Der Chefinspektor schaute sich nach dem auffallend orangerot gespritzten Fahrzeug um. Es war ein riesiger RollsRoyce, ein Phantom V. Der Fahrer stieg aus und lächelte Chefinspektor Spratt freundlich an. „Grimsby?" fragte Spratt überrascht. „'n Abend, Chefinspektor. Dr. Morton läßt Sie grüßen und fragen, ob Sie heute Zeit hätten, hinaus nach Brighton zu kommen." „Weshalb?" fragte Spratt. Grimsby zuckte die Schultern. „Ich kann's Ihnen nicht genau sagen, aber da ist wohl irgendwas mit Mrs. Clandon." „Ist sie aufgetaucht?" fragte der Chefinspektor interessiert. Seite 43
„Glaube nicht. Wenn ich richtig informiert bin, hat Dr. Morton eine Nachricht bekommen." „Von Mrs. Clandon?" Grimsby schüttelte den Kopf. „Über sie." Die Geschichte klang seltsam. Warum hatte Dr. Morton ihn nicht im Yard angerufen, wenn er ihm etwas zu sagen hatte? „Wenn es Ihnen heute nicht paßt, ruft Dr. Morton Sie morgen früh an", sagte Grimsby. Er schien sich zu langweilen. Spratt gab sich einen Ruck. Albern, dachte er. Was sehe ich eigentlich in diesem Dr. Morton? Einen Superman? Er wird sich's einfallen lassen und einen Chefinspektor von Scotland Yard entführen! Von der Tür des Polizeipräsidiums weg. Lächerlich! Grimsby öffnete die hintere Tür des Rolls und wartete, bis der Chefinspektor eingestiegen war. Alles lief so, wie Dr. Morton es vorausgesagt hatte. Er triumphierte, aber nichts von seinem Triumph drang in seine Gesichtszüge. „Ist der neu?" fragte Spratt unterwegs. Er meinte den Wagen. „Fast neu", sagte Grimsby. „Wenn ich mich nicht irre, hatte Dr. Morton früher einen schwarzen Phantom V, Grimsby." „Sehr richtig, Sir." „Auffallende Farbe, die er sich da ausgesucht hat, nicht wahr?" „Jawohl, Sir. Aber es ist ja nur für diesen Abend." „Bitte?" Chefinspektor Spratt glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Scheinbar beiläufig betätigte Grimsby einen Schalter. Spratt spürte einen kleinen Stich im Rücken und zuckte nach vorn. Er war so mit Grimsbys Auskunft beschäftigt, daß er der Sache keinen Gedanken schenkte. Man hat das ja manchmal: einen plötzlichen Nervenschmerz, der im nächsten Moment vergessen ist. „Verstehen Sie nicht, Sir? Ich konnte Sie nicht im schwarzen Rolls abholen. Irgendwer hätte uns beobachten und den Wagen später als den von Dr. Morton identifizieren können. Sollte uns tatsächlich jemand beobachtet haben, wird er sich jetzt bestimmt an die auffallende Farbe erinnern. Vielleicht hat er sich auch die Nummer gemerkt. Sie ist selbstverständlich ebenfalls geändert worden." Britische Polizisten tragen keine Schußwaffe, wie man allgemein weiß. Chefinspektor Spratt machte da seit einigen Tagen eine Ausnahme. Seine Hand griff nach dem Versteck der unauffälligen kleinen Browning. Aber er war bereits zu schwach. Grimsby, der ihn im Rückspiegel beobachtete, während er den schweren Wagen sicher durch den abendlichen Verkehr lenkte, nickte zufrieden: „Diese intramuskuläre Injektion ist eine sehr verläßliche Sache", sagte er mehr zu sich selbst als zu Spratt. Der Chefinspektor spürte, wie ihm die Sinne schwanden. Grimsbys Stimme drang noch einmal durch den Nebel, der ihn jetzt umgab: „... eine leicht lösliche Farbe, von der keine Spur zurückbleiben wird. Die Wissenschaft gibt uns heute Möglichkeiten, mit denen ..." Irgendwo zwischen London und Brigthon bog Grimsby von der A 23 ab, benutzte einige abgelegene Straßen und gelangte zu einem einsam stehenden Landhaus mit verschiedenen Nebengebäuden. Er fuhr den Rolls-Royce in die geräumige Garage, zog einen Overall über undbegann zu arbeiten. Eine knappe Stunde später verließ ein schwarzer Phantom V die Garage. Er trug jetzt wieder die Nummer G-M 1. Chefinspektor Spratt saß aufrecht im Fond und schlief.
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Eine sonderbare Frühstücksgesellschaft hatte sich in dem behaglich möblierten kleinen Raum eingefunden, der sich in nichts von einem normalen Frühstückszimmer unterschied, als durch das Fehlen von Fenstern. Dr. Glenn Morton trug einen eleganten hellgrauen Anzug, ein Hemd aus Honanseide und — letzter Befehl der Herrenmode — eine acht Zentimeter breite Schleife. Seine Tischgenossen waren weniger korrekt gekleidet. Sowohl Philipp Gregory als auch Chefinspektor Spratt trugen ausschließlich Bademäntel, die noch dazu nicht ganz auf ihre Körpermaße abgestimmt waren und schon deshalb ein wenig lächerlich wirkten. Der Chefinspektor war noch nicht dazu gekommen, auch nur eine einzige Frage zu stellen. Er hatte es versucht, als Grimsby in sein Zimmer — in seine Zelle — gekommen war, aber Grimsby hatte nur den Kopf geschüttelt und ihm ziemlich grob zu verstehen gegeben, er möge den Mund halten. So lange, bis Dr. Morton ihm zu reden erlaubte. „Ich sag das nur einmal", hatte Grimsby hinzugefügt. „Wenn Sie wissen, was gut für Sie ist, halten Sie den Schnabel." Der Chefinspektor wußte, was im Augenblick gut für ihn war. Er sah seinen Verdacht in vollem Umfang bestätigt und 'machte sich keine Illusionen über seine Lage und Mortons Gefährlichkeit. Grimsby servierte das Frühstück, das er hier unten in den gut getarnten Räumen unter Lannix Manor zubereitet hatte. Er war für den Moment völlig in die Rolle des perfekten Butlers geschlüpft und erkundigte sich höflich bei Spratt: „Tee oder Kaffee, Sir?" „Tee, bitte", sagte Spratt automatisch. Dr. Morton brach sein Schweigen erst, als Grimsby mit seinen Verrichtungen fertig war. Er trank einen Schluck von dem köstlichen heißen Tee, den er lediglich mit einer Spur Zucker versehen hatte, sah Spratt und Gregory abwechselnd über den Rand seiner Tasse an und sagte liebenswürdig plaudernd: „So trifft man sich wieder, Mr. Spratt. Sie haben bestimmt nicht erwartet, Mr. Philipp Gregory, den Scotland Yard wegen Mordes an einem harmlosen kleinen Mädchen aus Southwark sucht, in meinem Haus zu begegnen." „Allerdings nicht", murmelte Spratt. Bevor er Fragen stellte, wollte er soviel wie möglich in Erfahrung bringen, das hatte er sich fest vorgenommen. Solange Morton ihm freiwillig Informationen lieferte, bestand keine Gefahr, ihn zu verstimmen. Gregory verstand überhaupt nichts mehr. Grimsby war in sein Zimmer gekommen, hatte ihm den Bademantel gegeben und ihm gesagt, daß er mit Dr. Morton und Chefinspektor Spratt vom Yard frühstücken werde. „Und Sie halten den Rand, Gregory", hatte er hinzugefügt. „Wenn Sie ungefragt das Maul aufmachen, werd ich's Ihnen stopfen, kapiert?" Das hatte er immerhin begriffen. Deshalb schwieg er. „Sie sind bemerkenswert gelassen, Chefinspektor", sagte Morton in diesem Moment freundlich. „Wirklich, Ihre Ruhe verdient meine Bewunderung. Aber ein Chefinspektor von Scotland Yard muß sich wohl beherrschen können." Spratt antwortete nur mit einem leichten Kopfnicken. Er führte die Gabel mit Rührei zum Mund. Natürlich war ihm absolut nicht nach Essen zumute, aber er zwang sich dazu. Was immer auch Morton mit ihm vorhatte: Er mußte zusehen, daß er körperlich in Form blieb. „Beantworten Sie mir eine Frage, Spratt. Wie weit sind Ihre Ermittlungen gegen mich gediehen?" „Ermittlungen?" fragte Spratt scheinbar verständnislos. „Sie brauchen sich nicht zu verstellen. Daß Sie mich schon seit einer ganzen Weile verdächtigen, weiß ich. Ihr Interesse an meiner Person wollen Sie doch nicht Seite 45
leugnen, Spratt? Weshalb wären Sie sonst immer wieder in Brighton und in meiner Klinik aufgetaucht? Weshalb hätten Sie mein Haus am Grosvenor Square und meine Praxis in der Harley Street beobachtet? Auch hier in der Nähe von Lannix Manor haben Sie sich herumgetrieben." Er lächelte. „Oh ja, Chefinspektor, während Sie versuchten, mich zu beobachten, habe ich Sie beobachten lassen. Sie merken, ich bin sehr offen. Den Grund können Sie sich denken, nicht wahr?" Spratt antwortete nicht. Ja, er konnte sich den Grund denken. Nur zu gut konnte er das! Es kostet ihn alle Kraft, keine Reaktion zu zeigen. Irgendwie brachte er's fertig. Oder bildete er sich das nur ein? Morton beobachtete ihn sehr genau. Ein zufriedenes Lächeln lag auf seinem Gesicht. „Sie kennen den Grund", wiederholte er langsam. Dann wandte er sich zu seinem anderen Gast: „Auch Mr. Gregory weiß, weshalb ich so wenig Zurückhaltung übe. Das stimmt doch, Mr. Gregory?" Philipp nickte gehorsam. „Er weiß, daß er keine Chance hat, hier herauszukommen." „Nicht einmal als Leiche", sagte Grimsby fröhlich. Gleich darauf wurde sein Gesich wieder ernst. Er legte —wie zur Entschuldigung — eine Hand vor den Mund. Dr. Morton schüttelte jetzt betrübt den Kopf: „Sie möchten sich nicht mit mir unterhalten, Spratt? Das finde ich schade. Ich bin eigens heruntergekommen, um das Frühstück gemeinsam mit Ihnen einzunehmen, und jetzt bringen Sie den Mund nicht auf." Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: „Wenigstens nicht zum Sprechen. Das Frühstück scheint Ihnen allerdings zu munden." Chefinspektor Spratt hielt es für angebracht, seine Taktik zu ändern. Er legte die Gabel aus der Hand, sah Morton fest an und sagte: „Damit kommen Sie nicht durch!" Dr. Morton seufzte. „Ich habe es erwartet, Spratt. Ich habe erwartet, das Sie das sagen. Alle sagen das. Immer die gleichen Worte. Allmählich wird das langweilig." „Vor allem, weil es nicht stimmt", ließ Grimsby sich vernehmen. In seiner Stimme war ein Glucksen, so, als könne er sein Lachen nur mühsam unterdrükken. Dr. Morton warf ihm einen strafenden Blick zu. Grimsby entschuldigte sich und wurde wieder ganz zum korrekten Butler. Seine Rolle machte ihm großen Spaß. „Natürlich wird man Sie vermissen, Chefinspektor. Vermutlich läuft die Fahndung nach Ihnen schon auf vollen Touren. Es wird auch nicht lange dauern, bis die Zeitungen ein großes Geschrei erheben. Ist auch verständlich, nicht wahr? Wann kommt es schon vor, daß ein höherer Beamter von Scotland Yard spurlos verschwindet? Sehen Sie, das ist der springende Punkt: Spurlos, Spratt! Sie sind spurlos verschwunden. Niemand wird mich oder Grimsby mit Ihrem Verschwinden in Verbindung bringen. Niemand wird Sie hier suchen." Er sah Spratt an, der schweigend dasaß, die Hände links und rechts von seinem Teller, auf dem das Rührei mit Speck langsam kalt wurde, zu Fäusten geballt. „Und selbst wenn man Sie hier sucht — finden wird man Sie nicht", sagte Morton leise und langsam. Spratt wußte, daß es zwecklos war, daß er sich nur lächerlich machte, aber er konnte sich nicht überwinden, den Versuch bleiben zu lassen: „Ich weiß gar nicht, was das ganze soll, Dr. Morton. Sie haben Mr. Philipp Gregory Unterschlupf gewährt. Wir suchen Mr. Gregory wegen Mordes. Natürlich könnte man Ihnen vorwerfen, daß Sie ihm Beihilfe geleistet haben. Aber wenn Sie ihn uns jetzt übergeben..." Morton lachte belustigt. Seite 46
„Was soll das, Spratt? Ich bitte Sie! Ich hätte nichts dagegen, ein wenig Komödie zu spielen, ganz und gar nicht. Aber das ist doch unterstes Niveau! Das ist nicht mal ein Schwank, was Sie jetzt zu inszenieren versuchen!"
Hier eine Leseprobe aus HORROR-EXPERT Nr. 26 DAS UNHEIMLICHE SANATORIUM von Andre Caroff Diesmal bin ich hellwach. Nein, das Geschrei ist Wirklichkeit. Ich kann es jetzt nicht mehr auf das Konto eines Traums oder auf meinen Halbschlaf abbuchen. Mir ist nur noch nicht klar, woher es kommt. Es ist überall und nirgends ... Dann kommt alles genau so wie in der Nacht zuvor. Ich greife zum Lichtschalter und knipse ihn an. Im Zimmer wird es hell, und im gleichen Augenblick ist alles still. Eine ganze Weile lausche ich angestrengt. Ich verhalte mich völlig reglos. Aber es ist nicht das geringste Anzeichen dafür zu entdecken, daß hier noch vor wenigen Minuten ein grauenhafter Spuk getobt haben soll. Absolute Stille liegt über dem ganzen Haus. Plötzlich knarrt draußen auf dem Gang der Fußboden. Kurz danach klopft es bei mir an der Tür. Mechanisch sehe ich auf meinen Reisewecker. Es ist drei Uhr morgens. Gestern war es auch um drei, als Patricia zu mir kam ... „Herein!" sage ich mit gedämpfter Stimme. Versäumen Sie nicht diesen spannenden Doppelband, den Ihr Zeitschriften- oder Bahnhofsbuchhändler für Sie bereithält. Sollte dieser Band dort bereits ver griffen sein, so schreiben Sie bitte an: ANNE ERBER VERLAG 7595 SASBACHWALDEN, POSTFACH 5
Spratt zuckte die Achseln. Er zwang sich zu einem Lächeln. „Na gut. Sie haben die besseren Karten." „Wenn es s o wäre ... Sie hätten dann immer noch eine Chance zum Bluffen, Spratt. Aber ich habe, um bei Ihrem Vergleich zu bleiben, einen Royal Flush -- und Sie sitzen mit völlig leeren Händen da. Mit leeren Händen kann man nicht einmal bluffen, Spratt." Spratt gab sich einen Ruck: „Ich habe begriffen. Und wie geht es weiter, Dr. Morton?" „Das wird sich zeigen", sagte der leichthin. „Zunächst einmal möchte ich, daß Sie mir berichten, was Sie bis zum gestrigen Abend gegen mich unternommen haben." „Sie glauben, daß ich Ihnen das sage?" „Selbstverständlich." „Sie sind sehr naiv", sagte Spratt und schüttelte den Kopf. „Naiv? Ich? Oh nein, Chefinspektor. Ich würde so etwas nicht behaupten, wenn ich nicht ganz sicher wäre, daß ich die Mittel in der Hand habe, Sie zum Sprechen zubringen." Er nahm einen Schluck Tee und stellte seine leere Tasse zurück. „Darf ich Ihnen nachgießen, Sir?" fragte Grimsby höflich.
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„Bitte." Sein Gesicht wandte sich wieder dem Chefinspektor zu: „Sie haben bestimmt Kenntnis von den sogenannten Wahrheitsdrogen. Was sollte mich abhalten, Sie damit zu behandeln, Spratt?" Der andere hüstelte. Er hatte so etwas erwartet und wußte tatsächlich keinen Grund zu nennen, der Morton abzuhalten imstande gewesen wäre. „Es gibt aber auch noch andere Mittel, Sie gefügig zu machen", fuhr Morton lächelnd fort. „Mittel, die wesentlich unangenehmer sind als die Wahrheitsdrogen. Mr. Gregory kann Ihnen darüber berichten, Spratt. Nicht wahr, Mr. Gregory?" Philipp wimmerte. Die Tasse, die er eben genommen hatte, klapperte auf die Untertasse zurück. „Ich bin ziemlich sicher, daß Ihre Verdachtsmomente noch nicht ausreichten, Konkretes gegen mich zu unternehmen, Spratt. Sie sind ein vorsichtiger Mann. Und meine Tarnung ist so gut, daß man sie kaum durchdringen kann. Andererseits bin ich daran gewöhnt, kein unnötiges Risiko einzugehen. Deshalb sind Sie hier. Und deshalb werde ich auch keine Zeit verschwenden, ich werde die Information, die ich brauche, so schnell wie möglich aus Ihnen herausholen. Mit oder ohne Unterstützung. Ganz wie Sie wollen, Chefinspektor." „Und dann?" fragte Spratt, dem es mit Mühe gelang, äußerlich ruhig zu bleiben. Morton zuckte die Achseln. „Wir werden sehen. Ich habe noch keine festumrissenen Pläne mit Ihnen. Aber ich könnte mir denken, daß es meinen Forschungen dienlich wäre, Sie in die zur Zeit mit Mr. Gregory laufende Versuchsreihe einzubeziehen." Spratt blickte Philipp Gregory an, den Mann, der wegen Mordes gesucht wurde und der scheinbar spurlos aus England verschwunden war. So spurlos wie ich, dachte Spratt. Gregory begann erneut zu wimmern. „Ich werde Ihnen keinerlei Informationen liefern", sagte Spratt bestimmt. „Aber ich garantiere Ihnen, daß Ihr Spiel binnen kurzem zu Ende ist, Morton." „Sie bluffen", sagte Dr. Morton freundlich lächelnd. „Sie agieren weit unter Ihrem Niveau, Chefinspektor. Das enttäuscht mich." Dr. Morton schien von einem Augenblick zum anderen jedes Interesse an einer Fortsetzung der Unterhaltung verloren zu haben. Er beendete sein Frühstück ruhig und in völligem Schweigen. Spratt war verwirrt. Er wußte nicht, was er davon halten sollte. Aber kaum hatte Dr. Morton die letzte Tasse Tee getrunken, gab er einen Beweis für die Entschiedenheit, mit der er seine Ziele verfolgte. „Bringen Sie Mr. Spratt zurück in sein Zimmer", sagte er zu Grimsby. „Fesseln Sie ihn an sein Bett. Ich versorge Mr. Gregory und komme dann nach, um dem Chefinspektor die Injektion zu geben." Spratt öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Aber da packte Grimsby, der vor fünf Sekunden noch den perfekten Butler gespielt hatte, ihn grob unter dem Arm und zog ihn vom Stuhl hoch. „Los, los, Freundchen. Der heitere Teil ist beendet!" „Sie sind sich darüber klar, daß es ein großes Risiko ist, Grimsby. Trotz allem." „Selbstverständlich, Sir", sagte Grimsby. „Möglicherweise ein Risiko, das wir gar nicht einzugehen brauchten —oder?" „Ich verstehe nicht, Sir." „Es gibt die verschiedensten Möglichkeiten. Mag sein, daß man die blaue Mappe schon gefunden hat. Daß Spratts Schreibtisch längst geöffnet wurde, um Anhaltspunkte für sein Verschwinden zu finden. In diesem Fall ist die Mappe für uns unerreichbar. Es wäre also töricht, sich noch in Gefahr zu begeben." Seite 48
„Und wenn das so ist, Sir?" fragte Grimsby respektvoll. „Ja, dann haben wir's mit anderen Möglichkeiten zu tun. Entweder mißt man dem Inhalt der blauen Mappe keine große Bedeutung zu — oder man sucht den Chefinspektor auch bei uns. In London, eher aber hier draußen in Brighton. In der Klinik und hier in Lannix Manor. Finden wird man ihn allerdings nicht." Da Dr. Morton völlig ruhig blieb, sah auch Grimsby keinen Grund, sich aufzuregen. „Irgendwann wird man den Schreibtisch des Chefinspektors sicher öffnen", sagte er. „Falls man's noch nicht getan hat. Ich bin dafür, Klarheit zu schaffen. Wir haben doch auch längst alles für eine solche Situation vorbereitet, Sir." Dr. Morton nickte. „Gut, Grimsby. Sie haben grünes Licht." Grimsby benutzte den alten Austin A 60, um nach London zu fahren. Er durchquerte Stockwell, Kennington und Newington, fuhr auf der London Bridge über die Themse und bog rechts ab. Hier in Whitechapel kannte er sich ebensogut aus wie irgendwo sonst in London. Um den Tower fuhr er herum und gelangte dann in das Gewirr der trostlosen Straßen und Gassen an den St. Katharine Docks. Er parkte den Wagen und ging den Rest des Weges zu Fuß. Grimsby besaß hier ein Haus. Ein dunkles Loch, nicht mehr wert als der Grund, auf dem es stand. 51 Wochen im Jahr war es unbenutzt. Aber während der restlichen Tage kam seine Existenz Grimsby — und Dr. Morton —sehr zustatten. Als Schlupfwinkel und Standort für rasche Kostümwechsel. Vor allem aber als Durchgangsstation. Denn eine der Eigenheiten des alten Gemäuers war der Hinterausgang, der auf einen schmalen, von hohen Mauern gesäumten Durchgang mündete. Niemand konnte ihn. aus den Nachbarhäusern einsehen. Eine ideale Einrichtung, wenn Grimsby sein Haus beispielsweise als Grimsby betreten, es aber als Bobby verlassen wollte. Die Polizeiuniform lag schon seit langem bereit. Nichts fehlte. Nichts war nachgemacht, Grimsby hatte eine komplette Original-Ausrüstung zusammengetragen, und sie paßte wie für ihn gemacht. Er musterte sich im Spiegel und war sehr zufrieden. Bevor er das Haus verließ, verstaute er seine eigenen Kleider an der gleichen Stelle, an der die Uniform samt Zubehör versteckt gewesen war. Da Grimsby zu Fuß ging, dauerte es eine Weile, ehe er das Victoria Embankment erreichte. Von der Blackfriars Bridge an schlenderte er an der Themse entlang, schlenderte im typischen Bobby-Schritt das ganze Embankment entlang, das der äußeren Krümmung der Themse folgt und gelangte so bis Richmond Terrace. Er hatte New Scotland Yard erreicht. Jetzt begann der heiklere Teil seiner Mission. Grimsby machte sich nichts vor. Was er beabsichtigte, war. selbst für einen Mann seines Zuschnitts ein Himmelfahrtskommando. Und wenn er erwischt wurde... Nun, es gab da ein übereinkommen mit Dr. Morton, vor geraumer Zeit getroffen. Wenn er in eine aussichtslose Lage kam und die Gefahr bestand, daß Dr. Morton dadurch unmittelbar bedroht wurde, hatte er Schluß zu machen. Die kleine Gelatinekapsel war immer und überall bereit. Grimsby betrat den Yard durch einen der Seiteneingänge. Er benahm sich ungezwungen und mit der Sicherheit dessen, der täglich hier ein- und ausgeht. Andere Uniformierte begegneten ihm. Manchmal gestattete er sich ein flüchtiges Lächeln, wie man's für Kollegen bereithält, denen man irgendwann schon über den Weg gelaufen ist, ohne sie näher zu kennen. Chefinspektor Spratt hatte gründlich geplaudert. Er hatte nicht nur von der blauen Mappe in seinem verschlossenen Schreibtisch berichtet, sondern auch die Lage seines Büros und den Weg dorthin beschrieben. Seite 49
Ohne Verdacht zu erregen oder gar angehalten zu werden, gelangte Grimsby ins richtige Stockwerk. Das war also die Tür zum Vorzimmer des Chefinspektors. Darin saß die Sekretärin, die er sich mit einem Kollegen teilte. Und dort, die Tür ohne Schildchen, mußte demnach der direkte Eingang zu Spratts Zimmer sein. Grimsby ging daran vorbei, bis er ein Treppenhaus erreichte. Er zog ein Notizbuch aus der Tasche und tat so, als suche er eine bestimmte Eintragung. In Wirklichkeit beobachtete er den langen Flur. Er war jetzt völlig leer. Grimsby kehrte zu der Tür zurück, hinter der Spratts Zimmer lag. Sie war nicht verschlossen, und Grimsby überzeugte sich mit einem raschen Blick, daß das Zimmer leer war. Lautlos glitt er hinein und schloß die Tür hinter sich. Aus dem Nebenzimmer klang Schreibmaschinengeklapper. Die Verbindungstür war nur angelehnt. Grimsby bewegte sich langsam darauf zu, warf einen Blick durch den Türspalt, drückte die Klinke und schloß die Tür, ohne daß der geringste Laut zu hören gewesen wäre. Dann wandte er sich dem Schreibtisch zu. Er atmete auf, als er merkte, daß die von Spratt bezeichnete Schublade verschlossen war. Aus der Hosentasche zog er ein von ihm selbst angefertigtes Werkzeug, das recht unscheinbar wirkte, für Arbeiten wie die hier aber bestens geeignet war. Das Schloß des Schreibtischs widerstand seinen Bemühungen denn auch nicht länger als sieben oder acht Sekunden. Grimsby zog die Schublade vorsichtig heraus. Da lag sie, die blaue Mappe. Er grinste, während er sie an sich nahm, in der Mitte der Länge knickte und sie in seinen Uniformrock schob. Er hörte das Knarren der Tür und fuhr herum. „Was machen Sie denn hier?" fragte eine erstaunte Stimme, die zu einem ebenso erstaunten Mann von etwa 50 Jahren gehörte, der jetzt zwei Schritte auf Grimsby zukam und die rechte Hand ausstreckte. Er hatte gerade noch gesehen, daß der Bobby etwas in seiner Jacke verstaut hatte. „Ich wollte nur ... Ich habe ..." Grimsby stotterte. Er schien völlig verwirrt. „Was haben Sie? fragte der andere scharf. „Wer sind Sie? Was haben Sie in Chefinspektor Spratts Zimmer zu suchen?" „Ich ..." „Geben Sie schon her, Mann!" „Was?" fragte Grimsby dümmlich und starrte sein Gegenüber mit schräggelegtem Kopf an. „Was Sie eben in Ihre Jacke gesteckt haben. Los, los, Mann!" Grimsby zuckte die Schultern. Armer, ertappter Sünder. Seine Hand schob sich zögernd in die Jacke. Er sah den anderen an, der ungeduldig noch nähergekommen war, so daß die Hand des halb ausgestreckten Arms Grimsby fast berührte. Grimsby zog die Hand heraus. Der andere bekam riesengroße Augen und öffnete den Mund, um zu schreien. Aber daraus wurde nichts mehr. Denn das Messer mit der langen, schmalen Klinge war schneller. Es drang durch den Anzug und zwischen zwei Rippen hindurch genau ins Herz. Es drang so leicht ein wie in Butter. Grimsby fing den schweren Körper des etwa 50jährigen Mannes auf und ließ ihn sanft zu Boden gleiten. Dann zog er die Klinge heraus, wischte sie sorgfältig am Anzug des Toten ab und verstaute das Messer am gewohnten Platz. Vorsichtig öffnete er die Tür nach draußen. Am anderen Ende des Flurs stand eine Frau an einem der Teeautomaten und wartete darauf, daß ihr Pappbecher sich füllte.
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Grimsby trat auf den Gang hinaus und schlenderte zum Lift. Er fuhr hinunter und verließ den Yard durch die gleiche Tür, durch die er ihn betreten hatte. Am Ufer der Themse entlanggehend, brachte er das Victoria Embankment hinter sich. Bei der Blackfriars Bridge verließ er den Fluß und gelangte durch die Upper Thames Street, an der Cannon Street Station vorbei und durch die Great Tower Street nach Whitechapel, in die Nähe seines Hauses. „Tüchtiger Fußmarsch", murmelte er. „Ich denke, ich habe mir eine ausgiebige. Mahlzeit im Berlin Room verdient." Hin und wieder verspürte Grimsby eine Vorliebe für deutsche Küche. Bevor er sich jedoch den Genüssen hingab, die ihn im Berlin Room, Knightsbridge, erwarteten, rief er Dr. Glenn Morton an, der sich um diese Zeit in seiner Privatklinik in Brighton befand. „Ich konnte Ihren Auftrag ausführen, Sir", sagte er artig. „Fein, Grimsby. Niemand hatte etwas einzuwenden gegen die Transaktion?" Grimsby räusperte sich. „Ein kleiner Widerspruch wurde laut, Sir. Aber er verstummte sofort, als ich die richtigen Argumente brachte." Dr. Morton schwieg sekundenlang. ;,In Ordnung, Grimsby', sagte er dann. „Ich sehe Sie später in Lannix Manor." „Unsere Vorratskammern füllen sich, wenn ich das so sagen darf, Sir." Grimsby lächelte und rieb sich die Hände. „Das macht Ihnen wohl Vergnügen?" fragte Morton mit hochgezogener Augenbraue. „Ich kann es nicht leugnen, Sir. Wozu hätten wir denn unsere Verstecke auch so großzügig ausgebaut, wenn wir sie nicht benutzten?" Dr. Morton nickte. „Daß ich für die Versuche mit dem Nervengas jetzt Gregory und Spratt zur Verfügung habe, stimmt mich zufrieden. Auch Mrs. Clandon hat meine Forschungen mit dem künstlichen Blut erheblich vorangebracht. Ich habe mir die Ärmste vorhin angesehen. Körperlich geht es ihr nicht schlecht, aber sie zeigt deutliche Zeichen einer fortschreitenden geistigen Zerrüttung." „Das ist doch gut", erwiderte Grimsby. „Wenn sie verrückt wird, können Sie die Experimente mit ihr fortsetzen. Das macht ihr dann nichts mehr aus, und wir brauchen sie nicht vorzeitig zu töten." Dr. Morton sah Grimsby aufmerksam an und sagte nach einer Weile: „Manchmal beunruhigt mich Ihre Sachlichkeit, mein Lieber. Manchmal finde ich sie nahezu unmenschlich." Grimsby senkte geschmeichelt den Blick, deutete eine knappe Verbeugung an und rieb mit der linken Hand die zur Faust geballte rechte. „Begleiten Sie mich, Grimsby." Dr. Morton griff nach den neuesten Londoner Zeitungen und erhob sich. Sie gingen in die Bibliothek und verließen sie gleich darauf wieder durch die Tür, die zu dem kleinen Kartenraum führte. Lächelnd sah Dr. Morton zu, wie eine Karte nach der anderen zur Seite glitt, bis die Täfelung sichtbar wurde. „Wie steht es mit den Vorräten für unsere Gäste?" fragte er Grimsby. „Ich habe sie ergänzt. Bei dieser Gelegenheit darf ich erwähnen, daß der andere Zugang nachgesehen werden muß." „Ach?" Dr. Morton hob fragend eine Augenbraue. Der zweite Zugang zu den unterirdischen Räumen befand sich in einer der Garagen, die man in den ehemaligen Stallungen von Lannix Manor eingerichtet hatte. Dieser Zugang wurde vor allem dann benutzt, wenn neue, Gäste' ankamen oder die Vorräte ergänzt werden mußten.
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„Nichts Bedeutsames", versicherte Grimsby. „Mir ist nur aufgefallen, daß dicht über dem Fußboden an einer der Schmalseiten ein schwacher Luftzug zu verspüren ist. Vermutlich genügt es, die Dichtung auszuwechseln." „Kümmern Sie sich darum, Grimsby." „Selbstverständlich, Sir." Sie hatten den Gang erreicht, von dem links und rechts mehrere Türen abgingen. Dr. Morton betrat Spratts Zimmer. Grimsby blieb dicht hinter ihm. Der Chefinspektor saß, in den nicht für seinen umfangreichen Körper bestimmten Bademantel gehüllt, auf dem Bett. Er hob den Kopf und sah die beiden Männer an. Sein Blick war müde. Er hatte dicke Tränensäcke unter den Augen. „Wie geht es Ihnen, Chefinspektor?" fragte Dr. Morton höflich und freundlich. „Haben Sie sich von der Injektion erholt? Noch ein bißchen schwach, wie? Das braucht Sie nicht zu beunruhigen. Die Nebenwirkungen vergehen schnell." Er griff nach Spratts Handgelenk und prüfte den Puls. Zufrieden nickend ließ er den Arm los. „Ich habe Ihnen Lesestoff mitgebracht, Spratt." Er warf die Zeitungen auf das Bett. Spratt streifte sie nur mit einem Seitenblick. Er verbot sich, danach zu greifen, aber dann fuhr er zusammen. Er hatte eine der Schlagzeilen gelesen: „Superintendent Fisher im Yard erstochen!" Er griff nach der Zeitung, entfaltete sie und las die Unterzeile: „Unerhörtes Verbrechen. Polizeioffizier im Büro des verschwundenen Kollegen ermordet." Dr. Morton ließ ihm Zeit, den Bericht zu lesen. Er wartete, bis Spratt die Zeitung sinken ließ und den Kopf hob, um ihn anzustarren. Dann zuckte er die Achseln. „Ein dummer Zufall", sagte er im Plauderton. „Grimsby hatte Ihre blaue Mappe bereits unbemerkt an sich gebracht, als dieser Fisher hereinkam und Krach zu schlagen begann. Da blieb dem guten Grimsby nichts anderes übrig, als ihn so rasch wie möglich zum Schweigen zu bringen. Wußten Sie eigentlich, daß Grimsby ausgezeichnet mit Messern umzugehen versteht? Ja? Ach, richtig, Sie hab"n sich ja eine Notiz über den Tod der armen Miß Knowles und ihrer alten Tante gemacht. Sehr gut kombiniert, Spratt, wirklich. Sie waren nur ein bißchen zu langsam." Er fixierte den anderen und fuhr nach einer Weile fort: „Und so wird es immer sein. Möglich, daß einer Ihrer Kollegen bei Gelegenheit ebenfalls Verdacht schöpft und beginnt, mich zu beobachten. Aber er wird ebenfalls zu langsam sein. So wie Sie, Spratt.” „Sie sind ein Teufel, Morton", sagte Spratt tonlos. Dr. Morton winkte ab: „Was soll denn das, Spratt? Warum so theatralisch? Das können wir uns doch sparen, oder? — Ich bin übrigens nicht heruntergekommen, nur um Ihnen die Zeitungen zu bringen." „Sondern?" fragte Spratt, ohne den anderen anzusehen. Er wußte nicht, ob es ihm gelang, die Angst ganz aus seiner Stimme fernzuhalten. Aber allein die Tatsache, daß er gefragt hatte, bewies ja schon, daß er nervös war. „Ihnen steht eine interessante Zeit bevor, Chefinspektor. — Es stört Sie doch nicht, daß ich Sie hin und wieder mit Ihrem Titel anrede? Alte Gewohnheit, Sie verstehen. — Ich sprach schon von meinen Versuchen, an denen auch Mr. Gregory dankenswerterweise teilnimmt. Heute werde ich erstmals zwei Personen gleichzeitig der Wirkung des Nervengases aussetzen. Ich erhoffe mir davon wertvolle Vergleichszahlen." „Los!" sagte Grimsby, der plötzlich neben Spratt stand. Er griff nach Spratts Arm und drehte ihn so, daß Spratt aufstehen mußte. Seite 52
„Nur, damit Sie nicht auf dumme Gedanken kommen, Chefinspektor", sagte er grinsend. Spratt wehrte sich nicht. Er ließ sich in das Zimmer mit der großen rechteckigen Glasscheibe und von dort in den angrenzenden Raum mit der Lochplattendecke führen — wie ein Stück Vieh zur Schlachtbank. Er ahnte, daß das, was ihm bevorstand, schwer zu ertragen sein würde. Zu deutlich erinnerte er sich an Gregorys Wimmern und an das Klappern der Teetasse, als Dr. Morton während des Frühstücks die Behandlung erwähnt hatte. Aber Gregory hatte es schließlich überlebt. „Ich werde es auch überleben", murmelte Spratt. Er wußte nicht, daß Dr. Morton draußen jedes Wort verstand. „Sie werden es überstehen, Spratt", sagte Morton, während Grimsby eben Gregory hereinführte und ihm den Bademantel abnahm, ebenso wie er's mit dem Chefinspektor getan hatte. „Sie werden es diesmal überstehen und das nächste Mal und noch ziemlich oft, nehme ich an. Aber hinterher werden Sie nicht mehr derselbe sein. Mit jeder Behandlung wird sich Ihre Psyche ein wenig verändern. Und die Summe dieser Veränderungen wird einen ganz anderen Menschen aus Ihnen machen. über kurz oder lang wird es keinen Chefinspektor Spratt mehr geben." Er wandte sich um. „Ebensowenig wie einen Philipp Gregory. — Zu schade, daß Sie beide das nicht richtig mitbekommen können. Daß Sie Ihrer allmählichen Wandlung nicht zuschauen können ..." Grimsby schob Philipp Gregory durch die schmale Tür in die Kammer und verschloß sie sorgfältig. Spratt hob den Kopf, als er das leise Zischen hörte. Neben ihm sank Gregory in die Knie, versuchte den Kopf zwischen den Armen zu schützen und begann zu wimmern wie ein Kind. ENDE
... und hier eine Leseprobe aus dem nächsten Band: DR. MORTON 3 „BAD IN HCL" Das Experiment hatte zu Grimsbys vollster Zufriedenheit funktioniert. Er wußte jetzt, daß man einen Angreifer auf diese Weise tatsächlich überwältigen und ziemlich endgültig aus dem Verkehr ziehen konnte. Die Praxis hatte die Theorie bestätigt. Grimsby massierte die Finger einer Hand mit denen der anderen. Er konstatierte, daß zwei Fingernägel abgebrochen waren, obwohl er sie ziemlich kurz trug. Das spielte jedoch keine Rolle. Er verließ Steinhauers Zimmer, machte sich nicht einmal die Mühe, abzuschließen und öffnete eine andere Tür, die zu einem selten benutzten, aber nicht unwichtigen Raum führte. Die sehr wirksame Klimaanlage, die den ganzen Keller versorgte, hielt auch diesen Raum angenehm temperiert und frei von allen Gasen. Auf Knopfdruck öffnete das Becken sich. Die zwei Hälften der Abdeckung glitten geräuschlos auseinander und gaben den Blick auf eine blau schimmernde Flüssigkeit frei, die die mit einem Spezialglas fugenlos ausgekleideten Wände bis etwa zehn Inches unter dem Rand bedeckte. Die Bewegung der Abdeckung hatte ^ die Oberfläche leicht gekräuselt. Grimsby starrte darauf, verträumt, wie es schien. Er stand still da, bis die Oberfläche sich völlig beruhigt hatte. Seite 53
Dann drehte er sich um und ging zu Steinhauer zurück. Er war bei Bewußtsein „Aufstehen", befahl Grimsby knapp. Mit viel Mühe gelang es Steinhauer, der Anordnung zu folgen. „Ziehen Sie sich aus!" Dabei mußte er ihm helfen. Anschließend trieb er den nackten Mann vor sich her zu dem Raum mit dem geheimnisvollen Becken. „Was soll ich hier?" fragte Steinhauer flüsternd und kaum vernehmbar. „Baden", antwortete Grimsby barsch. „Ich — will — nicht — baden", flüsterte Steinhauer angestrengt. Er stand am Beckenrand und schwankte. Das Wasser in der eigenartigen Badewanne schimmerte seltsam. Und in der Luft lag die Spur von einem fremdartigen Geruch. Nein, Steinhauer wollte ganz bestimmt nicht baden. Nicht jetzt und nicht in diesem Becken. „Es ist ja Ihr letztes Bad", hörte er Grimsby sagen. Die Stimme klang kalt wie Stahl. „Ein Säurebad. Wenn Sie es hinter sich haben, werden Sie nicht mehr existieren." „Nein!" schrie Steinhauer. Oder bildete er sich nur ein, zu schreien? Er spürte den Stoß und fiel. Er fiel in eine Hölle aus brennendheißer Säure und hielt noch sekundenlang die Luft an, ein Reflex. ein letzter, untauglicher Rettungsversuch. Grimsby blieb in einiger Entfernung vom Säurebad stehen und wartete ab, bis das Sprudeln aufhörte und die Oberfläche wieder völlig ruhig war. Man konnte bis auf den Grund sehen. Von Walter Steinhauer aus Innsbruck gab es keine Spur mehr. Dr. Glenn Morton untersuchte und behandelte Mr. Fox jetzt täglich. Die Untersuchung war jeweils nach kürzester Zeit beendet, und Dr. Morton nickte jedesmal sehr zufrieden. Die Behandlung in einem eigens dafür hergerichteten Raum unter der Privatklinik gestaltete sich langwieriger, doch war Dr. Morton mit ihrem Ergebnis ebenfalls mehr als zufrieden. Am letzten Tag durfte Grimsby Zeuge sein. Er saß ruhig auf einem Stuhl, im Hintergrund cTes Zimmers, sah und hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Mr. Fox, der von den beiden kleinen Operationen nur kaum sichtbare Narben zurückbehalten hatte, saß Dr. Morton gegenüber und schien völlig wach und recht aufgeschlossen zu sein. • Er wirkt wie immer, dachte Grimsby beeindruckt. Er wirkt exakt, so wie ich ihn voll der Mattscheibe her kenne. Morton unterhielt sich mit ihm. Stellte ihm Fragen. Wenn die Fragen Mr. Fox nicht behagten, reagierte er in der Art, die man von ihm gewohnt war: aggressiv, bissig, zynisch. „Wo waren Sie während der letzten Wochen, Mr. Fox?" fragte Dr. Morton. „Ich habe Urlaub gemacht." „Ah. Darf man wissen, wo?" „In Fulpmes, einem Dorf in der Nähe Innsbrucks." „Wirklich? Ich habe mich erkundigt, Mr. Fox. Sie waren nur wenige Tage in Fulpmes, zu Anfang und zu Ende Ihres Urlaubs. Was haben Sie dazwischen gemacht? Wo waren Sie?"
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Mr. Fox' Gesicht verzog sich unwillig. „Das geht Sie nichts an. Meine Privatsache. Was bilden Sie sich eigentlich ein? Bin ich Ihnen Rechenschaft schuldig?" Dr. Morton gab Grimsby ein Zeichen. Grimsby stand auf und ging langsam auf Fox zu. „Aber mir werden Sie es sagen", bellte er. „Ich bin Walker, Superintendent beim Yard. Also? Wo waren Sie, Mr. Fox?" Fox zischte wie eine Schlange: „Hauen Sie ab, Mann! Setzen Sie sich in Ihr Zimmer im Yard und studieren Sie Ihre Vorschriften! Dann merken Sie, daß es Sie einen Dreck angeht, was ich in meinem Urlaub gemacht habe!" Versäumen Sie nicht, sich diesen. ungewöhnlich spannenden Gruselkrimi zu besorgen. Für nur 1,— DM überall im Zeitschriften- und Bahnhofsbuchhandel erhältlich. GRUSEL KRIMI BESTSELLER AUS DEM ANNE ERBER VERLAG Im Buch- und Zeitschriftenhandel sowie im Bahnhofsbuchhandel nicht erhältliche Ausgaben können Sie beim Verlag direkt bestellen. Bitte benutzen Sie diesen Bestellschein. BESTELLSCHEIN an den ANNE ERBER VR LAG, 7595 Sasbachwalden, Postfach 5
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