Vorwort Für Vittorio Somenzi
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er Charles Darwin war, wissen wir mehr oder minder alle. Man kann es leicht auf eine Formel bringen: Er war „der Vater der Evolutionstheorie“. Schon in der Schule lernt man ihn kennen! Heutzutage wissen die Kinder mehr über Dinosaurier als über Hühner, Kühe und andere domestizierte Tiere, die ihnen im übrigen ohnehin von der augenzwinkernden Reklame nur noch als Produzenten von verbrauchsgerecht abgepackten und mit Strohhalm versehenen Getränken oder von Überraschungseiern aus Schokolade präsentiert werden – all das ist offensichtlich ganz „natürlich“. Ebenfalls aus der Reklame sind wir gut informiert über die „Entwicklung“ der jüngsten „Spezies“ von Autos, Computern, Geschirrspülmaschinen und ähnlichem. Wir leben in einer Welt mit rapider „Evolution“. Auch im Bereich der Kleidung gibt es eine sehr schnelle „Entwicklung“, die man allerdings nicht unbedingt als Fortschritt bezeichnen mag. Die ökonomische und kulturelle „Entwicklung“ der Dritten Welt gehört zu den erklärten Zielen der „entwickelten“ Industrieländer – die wiederum ihre eigene „Entwicklung“ zügeln müssen, denn sie hat ihnen zwar Wohlstand gebracht, erweist sich aber auch als unvereinbar mit dem Tempo und der Art der „natürlichen Evolution“. Die Schere, die sich zwischen „natürlicher Evolution“ und „kultureller Entwicklung“ auftut, stellt uns Menschen vor ein bislang unbekanntes Problem: die Wahl zwischen dem Überleben unserer Gattung und dem Überleben der gesamten natürlichen Welt. So wird uns, hin- und hergerissen zwischen Katastrophenmeldungen auf der einen und unaufhaltsamem Fortschritt auf der anderen Seite, mehr und mehr bewußt, daß wir uns nunmehr unleugbar in der Situation von „entwickelten“ Menschen befinden. Was hat Darwin mit alledem zu tun? Ist es seine Schuld oder sein Verdienst, daß wir eine solche Sicht von der Welt und uns selbst haben? Oder sind wir nur einer intellektuellen Spielerei auf den Leim gegangen, bei der mit rein metaphorischen Hinweisen jongliert wird, mit unzweifelhaft suggestiven Begriffen wie „Entwicklung“, „Fortschritt“, „Überleben“? Hat seine Theorie – oder besser: haben die Begriffe seiner Theorie also nur eine Suggestion erzeugt, einen Sumpf von unerlaubten und ungerechtfertigten Gleichsetzungen? Solche Fragen mögen an eine Passage aus Robert Musils Epochenroman „Der Mann ohne Eigenschaften“ erinnern: „Stell dir bloß vor, wie das heute vor sich geht: Wenn ein bedeutender Mann eine Idee in die Welt setzt, so wird sie sogleich von einem Verteilungsvorgang ergriffen, der aus Zuneigung und Abneigung besteht; zunächst reißen die Bewunderer große Fetzen daraus, so wie sie ihnen passen, und verzerren ihren Meister wie die Füchse das Aas, dann vernichten die Gegner die schwachen Stellen, und über kurz bleibt von keiner Leistung mehr übrig als ein Aphorismenvorrat, aus dem sich Freund und Feind, wie es ihnen paßt, bedienen. Die Folge ist eine allgemeine Vieldeutigkeit. Es gibt kein Ja, an dem nicht ein Nein hinge. Du kannst tun, was du willst, so findest du zwanzig der schönsten Ideen, die dafür, und wenn du willst, zwanzig, die dagegen sind. Man könnte fast schon glauben, es ist wie in der Liebe und im Haß und beim Hunger, wo der Geschmack verschieden sein muß, damit jeder zum Seinen kommt.“ Barbara Continenza
Evolution/Revolution Unvermittelt taucht der Darwinismus als eine neue Konzeption der Welt auf, und in diesem Sinne pflegt man heute von der „Darwinschen Revolution“ zu sprechen.
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Ernst Haeckel, engagierter Anhänger Darwins, im Alter von 71 Jahren
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ie Wissenschaftshistoriker erwähnen oft und gern, daß Darwin in seinem berühmtesten Buch, der 1859 veröffentlichten Entstehung der Arten – eigentlich On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life (Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder Die Erhaltung der bevorzugten Rassen im Kampf ums Dasein) – niemals das Substantiv „Evolution“ verwendet. Außerdem beschäftigt er sich darin überhaupt nicht mit dem Menschen; vielmehr – auch das heben die Wissenschaftshistoriker hervor – tut er alles, dies zu vermeiden. Dennoch gilt das Datum der Veröffentlichung als Beginn einer Epoche. Im Jahre 1894, nicht einmal 40 Jahre nach Erscheinen der Entstehung der Arten, bietet der amerikanische Paläontologe Henry Fairfield Osborn (1857–1935), Verfasser einer der ersten Geschichten des Evolutionismus, das beste Beispiel für die immer radikalere Tendenz, überall Vorwegnahmen der Evolutionsidee aufzuspüren. In seinem Werk Von den Griechen zu Darwin. Historische Skizze der Entwicklung der Evolutionsidee schreibt er: „ ,Vor und nach Darwin‘ – das wird immer ein ante et post urbem conditam der Biologiegeschichte sein.“ Alles andere als neu, so Osborn, sei die Idee der Evolution, „die ihre nun erreichte Fülle mittels stetiger Bereicherungen innerhalb von 24 Jahrhunderten erlangt hat. [...] Es ist wohl wahr, daß vor 1858 die Spekulation stets die Tatsachen überwog, und daß die Fortentwicklung der Idee bisweilen auf der Stelle blieb oder auch Rückschritte machte; dennoch wuchs mit der Untersuchung auch die Überzeugung, daß das Gesetz der Evolution nicht auf einen Schlag aufgestellt wurde, sondern durch die beständige Entwicklung einer untergeordneten und mit ihr in Beziehung stehenden Idee, die erstmals als Ganzes von Lamarck und danach von Darwin erkannt wurde.“ Was Osborn hier nacherzählt, ist eigentlich die Evolution der Evolutionstheorie, und daß sie in ihrem Entwicklungsverlauf der Darwinschen Theorie selbst ähnelt, die den Gipfel, die Krönung und die endgültige Errungenschaft bildet, ist kein Zufall. Wie die Darwinsche Evolution der Lebewesen in kleinen Schritten vor sich geht, stufenweise und ohne schroffe Übergänge (Natura non facit saltus, die Natur macht keine Sprünge, besagt ein alter Aphorismus), so können wir
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uns auch das fortschreitende Wachstum der Erkenntnis vorstellen. Hier begegnet uns ein gutes Beispiel für die Vision einer kontinuierlichen und kumulativen Wissenschaft und in gewissem Sinne auch eine vorgreifende und ungefähre Übertragung der Evolutionstheorie auf den Wissensfortschritt: Bei diesem neueren Versuch, über die Wissenschaft und ihre Entwicklungsdynamik nachzudenken, wird der Darwinsche Evolutionsmechanismus von den Lebewesen auch auf das Entstehen und SichBehaupten neuer Ideen übertragen. Daß Evolution für Darwin nicht mit Fortschritt – also mit einer Entwicklung zu immer größerer Perfektion – gleichbedeutend war, scheint dabei nur ein Detail zu sein, über das man hinweggehen darf; ebenso werden die Unterschiede zwischen Darwins Theorie und derjenigen Lamarcks – ein in allen späteren Überlegungen immerfort wiederkehrendes Thema – bloß als Etappen auf einem langen Weg gesehen. „Die Zukunft“, so schloß Osborn, „wird erweisen, ob Darwins Vorläufer und Darwin selbst durch das Prinzip, dem er sein gesamtes denkerisches Leben gewidmet hat, die uralte Frage vollständig gelöst hat, oder ob wir nochmals auf einen Newton für unsere Naturphilosophie warten müssen.“ Mit seiner Bezugnahme auf Newton wählt Osborn eine ebenso gängige wie vieldeutige Anspielung, die schon wenige Jahre nach Darwins Tod dazu diente, Darwins Bedeutung hervorzuheben. Der „Newton des Grashalms“, auf dessen Geburt Kant noch nicht zu hoffen gewagt hatte, wurde nun mit Darwin identifiziert: Er vermochte letztendlich allein in Form von Naturgesetzen eine Erklärung für das „Mysterium der Mysterien“ zu geben, die Strukturierung und Differenzierung des Lebens auf der Erde. In der Kritik der Urteilskraft (1790) hatte Kant (1724 –1804) auf dem Gipfel seiner philosophischen und wissenschaftlichen Reflexion über den Charakter von Wissenschaft und Wissen behauptet: „Es ist nämlich ganz gewiß, daß wir die organisierten Wesen und deren innere Möglichkeiten nach bloß mechanischen Prinzipien der Natur nicht einmal zureichend kennen lernen, viel weniger uns erklären können; und zwar so gewiß, daß man dreist sagen kann: es ist für Menschen ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen, oder zu hoffen, daß noch etwa dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde.“
Darwin: Ein Leben für die Evolutionstheorie
Eine Farbtafel aus der „Historia naturalis ranarum“ des deutschen Naturforschers und Illustrators August Roesel von Rosenhof (1705–1759)
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„Das Große Rasenstück“ von Albrecht Dürer. Das Aquarell aus dem Jahre 1503 wird in der Albertina in Wien aufbewahrt.
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Doch der Zoologe Ernst Heinrich Haeckel (1834 –1919), selbsternannter Schüler und treuer Sachwalter Darwins sowie einer seiner führenden Anhänger in Deutschland, vertrat bereits in seiner Natürlichen Schöpfungsgeschichte von 1868 die Meinung, mit Darwin sei nun die Überwindung des traditionellen Konzepts erreicht, das eine Erklärung der Natur, vor allem der organischen, an bestimmte vorgegebene Ziele knüpfe. Auch Phänomene des Lebens könnten jetzt in ihrer Totalität erforscht und durch natürliche, rein mechanische Gründe erklärt werden. Darwin aber hatte mit der ihm eigenen Zurückhaltung und Diskretion am Ende der Entstehung der Arten geschrieben: „Wie anziehend ist es, ein mit verschiedenen Pflanzen bedecktes Stückchen Land zu betrachten, mit singenden Vögeln in den Büschen, mit zahlreichen Insekten, die durch die Luft schwirren, mit Würmern, die über den feuchten Erdboden kriechen, und sich dabei zu überlegen, daß alle diese so kunstvoll gebauten, so sehr verschiedenen und doch in so verzwickter Weise voneinander abhängigen Geschöpfe durch Gesetze erzeugt worden sind, die noch rings um uns wirken. [...] Es ist wahrlich etwas Erhabenes um die Auffassung, daß der Schöpfer den Keim alles Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder gar nur einer einzigen Form eingehaucht hat und daß, während sich unsere Erde nach den Gesetzen der Schwerkraft im Kreise bewegt, aus einem so schlichten Anfang eine unendliche Zahl der schönsten und wunderbarsten Formen entstand und noch weiter entsteht.“ Diese „Gesetze“, von denen Darwin spricht, „im weitesten Sinne genommen“, waren die Gesetze des Nachkommenüberschusses, der Erblichkeit, der Variabilität, der natürlichen Auslese, des Wandels des Artbildes, des Aussterbens der weniger perfekten Formen: Es war ein unzweifelhaft mechanischer Prozeß, den Darwin mit solcher Sorgfalt in der Entstehung der Arten beschrieben hatte, und auch wenn er, wie Haeckel eifrig betont, sicher noch nicht in der Lage war, die Entstehung der Arten auf physikalisch-chemischer Basis zu beschreiben, so kam doch sehr wohl der vereinheitlichende und materialistische Ansatz explizit und provokant zum Ausdruck. Haeckel verkündete triumphierend, Evolution sei von nun an das magische Wort, durch das man all die Geheimnisse, die uns umgeben, erklären oder zumindest einer Erklärung nahebringen könne. Nur wenige aber hätten dieses Wort wirklich verstanden, und nur wenige würden sich bewußt machen, daß seine Bedeutung darin bestehe, die Welt von Grund auf umzuwälzen. Läßt man rhetorische Zuspitzungen beiseite – und bei Haeckel war dies mit Sicherheit der Fall –, so erschien der Darwinismus plötzlich als neue Konzeption der Welt. Und in diesem Sinne wurde es üblich, den Ausdruck „Darwinsche Revolution“ zu verwenden, um den radikalen Wandel des Deutungsparadigmas zu bezeichnen, den das Aufkommen der Darwinschen Theorie in den biologischen Wissenschaften – und nicht nur dort – bedeutet. Einmal bringt Haeckel den Namen Darwins sogar mit Kopernikus in Verbindung, dem Urheber der anderen großen wissenschaftlichen Revolution. 1874 erklärt Haeckel in seiner Schrift Anthropogenie oder Entwicklungsgeschichte des Menschen, er habe erstmals die Verdienste der beiden Heroen um die Vernichtung des anthropozentrischen und des geozentrischen Weltbilds hervorgehoben; wie Kopernikus 1543 dem geozentrischen Dogma den Todesstoß versetzt habe, so
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habe Darwin 1859 dasselbe mit dem direkt damit zusammenhängenden anthropozentrischen Dogma getan. Und Haeckel betont weiter, er habe auch die sozusagen umstürzlerische Bedeutung der Darwinschen Theorie besonders deutlich gemacht: Die unvergleichliche Bedeutung, die die Deszendenztheorie für die Biologie besitze, beruhe vornehmlich darauf, daß sie uns auf mechanischem Wege die Entstehung organischer Formen erkläre und uns die Wirkursachen des Seins erkennen lasse. Doch so sehr man zurecht dieses Verdienst der Deszendenztheorie schätze, so verschwinde es doch fast vor der unermeßlichen Bedeutung, die schon eine einzige Konsequenz daraus aufweise. Diese unausweichliche Folgerung sei die Lehre vom tierischen Ursprung des Menschen. Das Schlagwort vom „Kopernikus der organischen Welt“ sollte kurze Zeit später noch einmal von Sigmund Freud (1856 –1939) aufgenommen werden, der selbst im Begriff stand, der Menschheit einen dritten „wissenschaftlichen Schock“ zu versetzen. In seiner Einführung in die Psychoanalyse (1916) schrieb Freud: „ Zwei große Kränkungen ihrer naiven Eigenliebe hat die Menschheit im Laufe der Zeiten von der Wissenschaft erdulden müssen. Die erste, als sie erfuhr, daß unsere Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist, sondern ein winziges Teilchen eines in seiner Größe kaum vorstellbaren Weltsystems. Sie knüpft sich für uns an den Namen Kopernikus [...]. Die zweite dann, als die biologische Forschung das angebliche Schöpfungsvorrecht des Menschen zunichte machte, ihn auf die Abstammung aus dem Tierreich und die Unvertilgbarkeit seiner animalischen Natur verwies. Diese Umwertung hat sich in unseren Tagen unter dem Einfluß von Ch. Darwin, Wallace und ihren Vorgängern nicht ohne das heftigste Sträuben der Zeitgenossen vollzogen.“ Der dritte aber und schockierendste Angriff auf die „menschliche Größensucht“, auf den Narzißmus des Menschen, sollte psychologischer Art sein und von Freud selbst geführt werden, indem er „dem Ich nachweisen will, daß es nicht einmal Herr ist im eigenen Hause, sondern auf kärgliche Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewußt in seinem Seelenleben vorgeht.“ Darwin hatte in der Entstehung der Arten vorausgesehen, daß durch die dort dargestellten Ideen „eine große Umwälzung der Naturwissenschaften“ bevorstehe. Und mit aller Gelassenheit hatte er erklärt: „Wenn wir die Lebewesen nicht mehr so betrachten, wie etwa die Naturvölker ein Schiff, d.h. als etwas über unsere Begriffe
Darwin: Ein Leben für die Evolutionstheorie
Die Entwicklung zum aufrechten Gang in einer Darstellung von Stephen Freedman (1987)
Eine Darstellung des kopernikanischen Systems aus den „Unterredungen über die Vielzahl der Welten“ von Bernard Le Bovier de Fontenelle (1657–1751). Er propagierte die neue Naturkonzeption, die mit der Aufklärung aufkam.
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Ernst Mayr (geboren 1904), einer der Väter der zeitgenössischen Evolutionslehre
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Gehendes; wenn wir vielmehr die Tiere und Pflanzen als etwas ansehen, das eine lange Geschichte hat, und in jedem zusammengesetzten Gebilde oder in jedem Instinkt das Gesamtergebnis vieler für seinen Besitzer nützlicher Abänderungen erblicken, in derselben Weise etwa, wie eine bedeutende mechanische Erfindung das Gesamtergebnis von Arbeit, Erfahrung und Verstand, vielleicht gar der Fehler einzelner Arbeiter ist – wenn wir in solcher Weise die Lebewesen betrachten, so wird das Studium der Naturwissenschaft wesentlich fesselnder sein.“ Dieser Textausschnitt zeigt uns ein Werk, das von ganz neuartigen Interpretationen des Lebendigen und der dafür zuständigen Wissenschaft überquillt – und zudem reich ist an bedeutenden philosophischen Implikationen: eine sich entwickelnde Welt anstelle einer statischen; die Ablehnung des Kreationismus; die Zurückweisung der kosmischen Teleologie; die Überwindung des Anthropozentrismus; eine vollkommen materialistische Erklärung dessen, was bislang als eine Art göttlicher „Plan“ verstanden worden war; die Ersetzung des Essentialismus mit seinen starren, apriorischen Klassifikationen durch ein Denken, dessen Begriffe von einer in stetem Fluß befindlichen Natur ausgehen. Aber war die „Darwinsche Revolution“ nun wirklich eine Revolution? War sie nicht viel eher das Ergebnis einer linearen Entwicklung, angereichert durch neue Fakten und Entdekkungen, oder – warum nicht? – eine Evolution im „Darwinschen“ Sinne, also die Modifizierung und Differenzierung einer Idee im Laufe eines stufenweisen Anpassungsprozesses durch Versuch und Irrtum hinsichtlich des zu lösenden Problems? Eine sorgfältige und detaillierte Untersuchung verschiedener wissenschaftstheoretischer und historischer Fragestellungen, die – oft kontrovers – den wissenschaftlichen Fortschritt rational zu rekonstruieren suchen, würde unseren Rahmen sprengen; noch dazu nimmt die „Darwinsche Revolution“ darin einen besonderen Rang ein, da sie auf zwei Ebenen eine Rolle spielt: als Forschungsobjekt, nämlich in der Frage, wie sehr oder wie wenig revolutionär sie war, und als Modell der Evolution der Erkenntnis, das mehr oder weniger anwendbar auf diese Fragestellung ist. Die Ergebnisse dieser Debatte sind integraler Bestandteil der historischen und theoretischen Rekonstruktion des Darwinismus, und in diesem Sinne wollen wir die Entwicklungen nachvollziehen. Fürs erste wollen wir uns damit zufrieden geben, den Ausdruck „Darwinsche Revolution“ zu akzeptieren, und zwar in einer vielleicht sehr unbestimmten und modernen Bedeutung: Der Begriff soll zunächst nur den – trotz aller Widerstände – unmittelbaren Erfolg von Darwins Theorie zum Ausdruck bringen sowie die fundamentale und diffuse Wirkung, die diese Theorie nicht nur im Bereich der Wissenschaft hatte, sondern auch in der ideologisch-philosophischen Meinung der zeitgenössischen Öffentlichkeit; dadurch kam es sofort zu dem, was Ernst Mayr, einer der prominentesten Repräsentanten der zeitgenössischen Darwinschen Evolutionsbiologie, den „Kampf um die Evolution“ genannt hat. ❑
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Der hippocampus minor: Mensch und Affe Nach der Entdeckung der Menschenaffen fürchten die Befürworter der Konstanz der Arten und die Kreationisten, durch die Gleichsetzung von Affe und Mensch könne ein unseliger Verfall der Moral eintreten.
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eshalb liefern sich bedeutende Wissenschaftler vor einer großen, aufgeheizten Menschenmenge wiederholt Wortgefechte und bekämpfen einander in wissenschaftlichen Zeitschriften und Tageszeitungen wegen eines ganz offensichtlich so nebensächlichen Aspekts wie der Frage nach der Existenz einer hippocampus minor genannten Struktur im Affenhirn? Wieso vermag diese anatomische Frage die öffentliche Meinung dermaßen zu polarisieren, daß es fast zu Schlägereien kommt? Richard Owen (1804 –1892), einer der maßgeblichen Protagonisten in diesem Streit, war zu seiner Zeit der bedeutendste Affen-Experte in Großbritannien. Bis zum Ende der dreißiger Jahre hatte er Forschungen über die Knochen beim Schimpansen und beim Orang-Utan veröffentlicht und Affenhirne in Alkohol präpariert; außerdem untersuchte er Fossilien, insbesondere von Reptilien, und prägte den Begriff „Dinosaurier“. Diesen Namen gab er 1841 einem bereits von anderen beschriebenen und damals Megalosaurus bezeichneten riesigen Fleischfresser. Durch die großen Forschungsfahrten zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert war bereits der Gedanke einer Beziehung zwischen allen Arten von Organismen aufgekommen, aber die Affen spielten nun plötzlich – wegen ihrer Ähnlichkeit mit dem Menschen – eine ganz besondere Rolle: Man erzählte allerlei phantastische Begebenheiten, die außerordentliche Verhaltenseigenschaften und Fähigkeiten von Affen bezeugten. Auch offenbarten die zwar ohne Frage menschlichen Völkerschaften, mit denen die Reisenden im Lauf ihrer Erkundungsfahrten in Kontakt kamen, in deren Augen häufig ein scheinbar so primitives und „tierisches“ Niveau, daß sie, je mehr sie sich vom weißen, zivilisierten Menschen unterschieden, desto mehr den Affen zu gleichen schienen. So konnte die erste Beschreibung eines Schimpansen aus dem Jahr 1699, obwohl sie die Vorstellung von der Menschlichkeit der Affen eher in Abrede stellte, im Pygmäen eine Art Zwischenglied annehmen, das mit dem Menschen 48 Merkmale und mit den anderen Vierhändern 34 Merkmale gemeinsam habe. Man kam daher auch leicht in Versuchung, die
Darwin: Ein Leben für die Evolutionstheorie
Sir Richard Owen in einer Photographie, aufgenommen 1855 von Maull und Polyblank
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Oben: das Frontispiz der 1740 in Stockholm veröffentlichten zweiten Auflage der „Systema naturae“ von Linné Unten: ein Bildnis von Georges-Louis Leclerc de Buffon aus dem Museum von Versailles
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Eingeborenenstämme als nach und nach bekannt gewordene „niedere“ Formen von Menschlichkeit zu betrachten. 1849 berichtete ein Missionar, daß in Westafrika eine schrecklich wilde und bisher noch nicht bekannte große Affenart lebe: der Gorilla. Owen wurde sofort aufgefordert, sich zu der beunruhigenden Ähnlichkeit zwischen diesem Tier und der menschlichen Gattung zu äußern, und wie bereits zuvor vermochte er dank seiner Erfahrung die erhitzten Gemüter zu beruhigen. 1855 aber kam nach vielen Schimpansen und Orang-Utans schließlich das erste lebende Exemplar eines Gorillas nach London. Es handelte sich um ein junges Weibchen, dem das Schicksal einer Jahrmarktsattraktion zuteil wurde. Kreuz und quer wurde das arme Tier als Schaustück auf Volksfesten durch das Land gefahren, erregte viel Staunen und gab neue Anregungen für eine Diskussion, die zuvor schon in wissenschaftlichen Kreisen eifrig geführt worden war, die nun aber durch das Schlagwort vom „Menschenaffen“ noch viel breitere Bevölkerungskreise erfaßte. Die Atmosphäre dürfte nicht sehr verschieden von der gewesen sein, die Georges Brassens in einem berühmten Chanson besungen hat: „Auf einem Platz in einer Stadt blickten die Leute voll Staunen auf den Gorilla, der von Zigeunern in einem Schaukäfig herangebracht wurde. Ohne jegliches Schamgefühl stierten die Klatschweiber des Stadtviertels den Affen an, und fragen Sie mich nicht, wohin und wie...“ Aber kehren wir zur wissenschaftlichen Debatte zurück, die zwar vielleicht nicht so spektakulär, aber mindestens genauso lebhaft und provokativ war. Bereits 1735 hatte der große schwedische Systematiker Linné (1707–1778) auf die unleugbare physische Ähnlichkeit zwischen Mensch und Affe hingewiesen; er hatte dafür plädiert, beide der gemeinsamen Gattung der Anthropomorphen oder Menschenähnlichen zuzuordnen. Linné war ein Befürworter der Konstanz der Arten par excellence und kämpfte für ein „natürliches System“, das durch die Unterscheidung von wesenhaften und unveränderlichen Merkmalen vor allem die ursprüngliche Aufteilung der Organismen in biologische Arten wiedergeben sollte, die ein göttlicher Künstler einst geschaffen hatte und die sich – abgesehen von winzigen, ganz zufälligen Unterschieden – seither von Generation zu Generation unverändert fortpflanzten. Darum wollte Linné die traditionelle Ansicht, derzufolge der Mensch eine intellektuell und moralisch höherwertige Schöpfung sei, nicht im geringsten zur Disposition stellen, und noch weniger wollte er das Konzept eines göttlichen Schöpfungsakts in Zweifel ziehen, wie ihn das Buch Genesis beschreibt. Gleichwohl war Linnés Systematisierung ohne Frage eindrucksvoll. Jedenfalls beharrte er auf seiner Position, als ob er seinen Kritikern nicht zutraute, die tiefgreifenden Differenzen, die sie ins Feld führten, auch tatsächlich vorweisen zu können. Paradoxerweise hatte der französische Naturforscher Georges-Louis Leclerc de Buffon (1707–1788) dafür gesorgt, daß die Unterschiede zwischen Mensch und Affe wieder zu besonderer Geltung kamen. Buffon war der große Gegenspieler von Linné und ließ sich auf einen Streit mit ihm ein. Dieser Zwist bildet einen wichtigen Einschnitt in der Biologiegeschichte, insbesondere für die biologische Systematik. Linné – so Buffon – stelle die Natur als ein System aus unveränderlichen und ein für alle Mal geschaffenen Wesen dar und unterwerfe dadurch die Naturgesetze zufälligen Regeln; Linné wolle in der Natur dort Trennungen vornehmen, wo man nicht trennen dürfe, und er wolle die Kräfte der Natur mit unserem schwachen Vorstellungsvermögen messen. Er ignoriere dabei absichtlich, so Buffon weiter, daß die Natur sich in unmerklichen Stufen entwickle; daher könnten solche Einteilungen überhaupt keinen Sinn haben, denn die Natur gelange von einer Art zur anderen, ja oft von einer Gattung zur anderen, mittels unmerklicher Nuancen. Hier sind wir beim Paradoxon in dieser Sache angelangt. Buffon gilt historisch betrachtet als Vorläufer des Evolutionismus, auch wenn seine Theorie keine echte Systematik aufweist, sondern eher den Versuch darstellt, die Welt der Lebewesen in all ihren kleinen Details zu beschreiben. Ohne sich auf irgendeine Systematik festzulegen, versuchte er, die Lebewesen – obwohl er ihre unendlich kleinen Nuancen und Transformationen nicht zu belegen ver-
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mochte – doch als Fortentwicklungen von einer ursprünglichen „Prägung“ zu deuten. Es war just der „Transformist“ Buffon, der damals den Menschen vor einer Zuordnung zu den Tieren bewahren sollte, während umgekehrt Linné, der Befürworter der Konstanz der Arten, ihn dazu verurteilte. „Wir haben gesagt, daß die Natur immer und überall in unmerklichen Schritten und Untertönen wirkt und schafft; diese Wahrheit, die an keinem Ort eine Ausnahme duldet, wird hier vollständig widerrufen; [...] denn wenn der Mensch zur Ordnung der Tiere gehörte, gäbe es in der Natur eine gewisse Anzahl von Wesen, die weniger vollendet sind als der Mensch und mehr vollendet als die Tiere, durch die man dann unmerklich und durch Zwischenstufen vom Menschen zum Affen gelangen könnte, was aber nicht geschehen kann: denn man gelangt schlagartig vom materiellen zum denkenden Sein, von intellektuellem Vermögen zu mechanischer Kraft, von der Ordnung und vom Plan zur blinden Bewegung, vom Nachdenken zum Begehren.“ Buffon hütete sich hier, die Andersartigkeit des Menschen auf moralischem und intellektuellem Gebiet hervorzuheben, während Louis-Jean-Marie Daubenton (1716 –1800), Naturforscher und Buffons Mitarbeiter beim Druck der Naturgeschichte, anatomische Indizien für den Unterschied zwischen Mensch und Affe gefunden hatte und dadurch die Auseinandersetzung auf ein weniger metaphysisches und wissenschaftlich solideres Terrain zurückbrachte. Zur Bewertung der unüberwindlichen Unterschiede – auch im Bereich der Anatomie – diente nun die Beinmuskulatur des Menschen, durch die er aufrecht zu gehen vermag, und das okzipitale Schädelloch, das sich nach Daubenton nur beim Menschen, nicht aber beim Affen, mitten in der Schädelbasis befindet, so daß auch in diesem Fall eine Beziehung zwischen dem aufrechten Gang und der Entwicklung des Schädels besteht. Eben diese Merkmale, die Daubenton dargestellt hatte, um einer unzulässigen Vermengung der „Naturgeschichte“ von Mensch und Affe vorzubeugen, wurden in der Folgezeit nur allmählich und vom entgegengesetzten Standpunkt aus zur Kenntnis genommen – so etwa von dem französischen Naturforscher Jules-Joseph Virey (1775 –1847) unter dem Stichwort „Mensch“ im 1817 erschienenen Neuen Wörterbuch der Naturgeschichte. Dort brachte Virey ausdrücklich das Problem der Beziehung zwischen dem physischen und dem geistig-moralischen Aspekt des Menschen zur Sprache und bekräftigte zugleich die Heterogenität wie auch die unauflösliche Einheit des Menschen; auf diese Weise vermochte er die physischen Ähnlichkeiten zwischen Mensch und Affe zu akzeptieren – und somit die ausschließlich auf diesem Gebiet feststellbare Abstammung des Menschen aus der Tierwelt: „Wenn wir denn unserem Körper nach Affen sind, so sind wir unserem Geiste nach fast Götter.“ Der Mensch sei das einzige zweihändige und zweifüßige Tier, schrieb Virey, aber andererseits könne man bei diesen Merkmalen eine Art Abstufung erkennen: „Der weiße Mensch hat eine aufrechte Haltung, der schwarze neigt dazu, sich zur Erde hin zu beugen, der Affe nimmt eine schräge Haltung ein, und die Vierfüßer schließlich halten ihren Körper in einer zum Erdboden hin parallelen Position, weil ihr Kopf noch geneigter ist als derjenige der Affen.“ Also lasse sich, so fuhr Virey fort, tatsächlich eine Abstufung des Lebens und der Fähigkeiten bei allen Körpern feststellen, so daß wir vom weißen zum schwarzen Menschen, vom schwarzen zu den Hottentotten und schließlich zum Orang-Utan „absteigen“ könnten.
Darwin: Ein Leben für die Evolutionstheorie
„Der wohlerzogene Affe“, ein Gemälde von Edwin Landseer aus dem Jahre 1827
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Die Stufenleiter der Schöpfung in einer Illustration aus der ersten Druckausgabe (1512) der Schrift „De nova logica“ (1304) von Raimundus Lullus
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Gerade entstand der neue Forschungszweig der wissenschaftlichen Anthropologie durch die Forschungen von Systematikern und vergleichenden Anatomen, die bis dahin ausschließlich deskriptive, morphologische Methoden angewandt hatten; die Annahme einer stufenweisen Modifikation anatomischer Merkmale eröffnete die Möglichkeit quantitativer Untersuchungen, bei denen durch Messungen das Wesen der Modifikationen noch genauer bewertet werden konnte. Mit diesen technischen Meßmethoden befaßte sich der holländische Mediziner und Physiologe Peter Camper (1722–1789). Er versuchte, die Schädel verschiedener menschlicher Rassen und Affenarten hinsichtlich ihres Gesichtswinkels – einer von ihm erfundenen Meßgröße – zu vergleichen. Bei dieser Analyse wurde ausschließlich der Knochenbau berücksichtigt: An den Schädeln wurden ideale Linien zwischen Ohren, Nase, Stirn und Kinn gezogen. Die Kreuzung dieser Linien erzeugte einen Winkel, der stetig anstieg: von 42° beim Schädel der schwanzlosen Affen über 58° beim Orang-Utan, 70° bei Schwarzen und Kalmücken, 80° bis 90° beim europäischen Menschen, bis zu 90° bei den in römischen Gemmen eingeschnittenen Bildnissen und bis zu 100° beim Idealkopf des griechischen Apollo, dem Ausdruck größter Schönheit und Vortrefflichkeit. Bei Camper sowie bei zahlreichen seiner Zeitgenossen, die ähnliche Versuche unternahmen, trafen verschiedene Forschungstraditionen zusammen: antike Physiognomie, Kunsttheorie, Anatomie und die gerade aufkommende Anthropologie; manche sehen in diesen Winkelmessungen auch Vorläufer der Phrenologie. Bei dieser Anordnung nach steigendem Gesichtswinkel läßt sich jedoch noch keinerlei Absicht erkennen, sie als sukzessive Ableitung höherer Niveaus aus niedrigeren zu interpretieren; das ist schon dadurch ersichtlich, daß auch das Haupt des Apollo, die Abbildung eines keineswegs aus der Natur stammenden Schönheitsideals, in die Reihe miteinbezogen wurde. Daß man noch nicht an Evolution dachte, zeigt auch die Tatsache, daß das übliche Bild, durch das die natürliche Welt dargestellt wurde, das der scala naturae (Leiter der Natur) oder der „Kette der Lebewesen“ war. Dabei handelt es sich um ein sehr altes Bild der Natur, bei dem jede Leitersprosse oder jedes Kettenglied, wenn auch in kontinuierlicher (und ausschließlicher räumlicher) Abfolge, eine eigene Ebene oder ein eigenes Segment bildet, das vom vorangegangenen unabhängig ist und sich sozusagen einem eigenen Schöpfungsakt verdankt. Das Bild der Leiter veranschaulicht eindrucksvoll die Idee einer zunehmenden Vervollkommnung; diese findet ihren stärksten Ausdruck in der höchsten Ebene, die selbstverständlich der Mensch einnimmt – sofern nicht noch überirdische Geschöpfe, etwa Engel, in Betracht gezogen werden. Jedenfalls konnte die Ähnlichkeit, die durch die Messungen zutage trat, den Gedanken an eine vorausgegangene Formgemeinsamkeit zwischen den einzelnen vermessenen Wesen nahelegen, die sich nun auf verschiedenen Stufen befinden. Dann war es nicht mehr weit zur Hypothese einer „Degenerierung“, wie sie Buffon in gewissem Sinne vorgebracht hatte, also einem Abdriften – das von den feindlichen Umständen in einer bestimmen Region herrührte – von einer ursprünglichen Prägung. So konnte man dann vom weißen Menschen zum Schwarzen „absteigen“, vom Schwarzen zum Hottentotten und so weiter. Sicher jedenfalls war, daß die Europäer, die dem Ideal am nächsten lagen, hier eine Bestätigung ihrer Überlegenheit gegenüber anderen „affenartigeren“ Rassen finden konnten. Im Jahre 1798 wendeten die zwei großen französischen Naturforscher Étienne Geoffroy Saint-Hilaire (1772 –1844) und Georges Cuvier (1769 –1832) die Technik der Gesichtswinkelmessung mit kleinen Abänderungen
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nochmals an. Die anatomischen Merkmale des Menschen wurden wiederum mit denen verschiedener Affenarten verglichen – aber außerdem setzte man die Daten mit Verhaltensmerkmalen in Beziehung, um so auf einen Zusammenhang zwischen Verhalten und Gesichtswinkel schließen zu können. Der Mandrill, ein besonders wildes und aggressives Tier, erreichte einen Gesichtswinkel von 30°, die „sehr lebhaften und umgänglichen“ Berberaffen zwischen 42° und 45°, die Meerkatzen, „lebhaft, munter, feinfühlig und besonders durch ihre Anmut und Freundlichkeit auffallend“, zwischen 50° und 60°, die Gibbonaffen und die OrangUtans zwischen 56° und 63° und der Mensch schließlich 70°. Auch innerhalb der menschlichen Art ergab sich über den gemeinsamen Wert von über 70° hinaus wiederum dieselbe Entsprechung zwischen dem Vorspringen des Gesichts und der Intelligenz: „Von den Völkern mit geneigter Stirn und vorstehendem Kiefer hat keines, was die seelischen Fähigkeiten angeht, die gleichen Eigenschaften wie der Durchschnitt der Europäer.“ Die Suche nach Verbindungen zwischen den einzelnen Teilen des Skeletts und der von jedem Teil hinsichtlich anderer Teile erfüllten Aufgabe sowie die Untersuchung jedes Teils in Hinsicht auf die Funktion, die er im ganzen hat, etablierte sich allmählich als eine neue Weise, die Welt der Lebewesen zu betrachten. Man beschränkte sich nicht darauf, einen Knochen als solchen zu beschreiben, sondern man wollte seine Form und Position im Hinblick auf die Funktion erklären, die er im allgemeinen Aufbau des Organismus besitzt. „Es gibt praktisch keinen Knochen“, schrieb Cuvier, „der in seinen Facetten, seinen Krümmungen und Ausbeulungen variiert, ohne daß dies nicht bei den anderen zu Änderungen in den Proportionen führt; aus der Untersuchung eines einzigen Knochens ist es somit – in bestimmen Grenzen – möglich, den Aufbau des gesamten Skeletts abzuleiten.“ Auf dieses Prinzip gründet sich die Paläontologie, die nicht mehr existierende Organismen auf der Grundlage von nur wenigen fossilen Anhaltspunkten rekonstruiert. Aber auch die Anatomie löste sich nun von der Ebene der strukturalen, statischen Beschreibung und betrachtete den Körper als dynamische Funktionseinheit. „Wenn sich ein Organ unnormal vergrößert“, schrieb Saint-Hilaire, „sind die Auswirkungen sofort in den benachbarten Teilen zu spüren, die sich von diesem Moment an nicht mehr in der gewohnten Weise entwickeln; kein Teil jedoch verschwindet völlig, sondern alle bleiben erhalten.“ Eine „Organisationsebene“ sorgt für die strukturelle Verknüpfung und weist die einzelnen Funktionen zu. Und es war eben diese Organisationsebene, über die Cuvier und Saint-Hilaire in einen erbitterten Streit gerieten, der 1830 öffentlich ausgetragen wurde und eine wichtige Etappe in der Geschichte der Biologie markiert. Cuvier unterschied in der Natur vier allgemeine Großgruppen von Tieren – Wirbeltiere, Weichtiere, Gliedertiere und Strahltiere –, die er als vollkommen voneinander unterschieden und heterogen ansah. Saint-Hilaire hingegen behauptete, es gebe eine ununterbrochene Kontinuität der Formen, eine Einheitlichkeit der Organisationsebene, die allen Tieren gemein sei. Cuvier mag sich zwar einerseits deutlich von traditionellen Deutungsmustern des Lebendigen gelöst haben, indem er die Idee der linearen und ununterbrochenen Aufeinanderfolge verwarf; aber andererseits blieb er – bei allem Interesse für die historischen Aspekte der Tierkunde und obwohl er sogar die Grundlagen für ihre prähistorische Erforschung legte – der Nestor aller Verfechter der Konstanz der Arten und ein unnachgiebiger Verteidiger der Katastrophentheorie: Er betrachtete die Fossilien nicht als Belege für die Verwandlungen, denen die Arten unterworfen sind, sondern einfach als Überbleibsel von Arten, die einst lebten und schließlich durch
Darwin: Ein Leben für die Evolutionstheorie
Eine Tafel mit Gesichtswinkeln aus einem Werk des holländischen Naturforschers Peter Camper; diese Ausgabe erschien postum im Jahre 1791.
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Vergleich anatomischer Merkmale von Säugetierschädeln aus dem „Tableau élémentaire de l’histoire naturelle des animaux“ (1797) von Georges Cuvier
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unvorhersehbare Katastrophen ausgerottet wurden. „Wenn die Arten sich schrittweise verändert hätten, dann müßten wir Spuren dieser schrittweisen Veränderungen finden, [...] und dies ist bis heute nicht geschehen.“ Geoffroy Saint-Hilaire wandte sich mit aller Energie gegen dieses Prinzip der Artkonstanz und vertrat die Auffassung, daß man die Strukturebene als ein Subjekt verstehen müsse, das sich hinsichtlich seiner Umwelt modifiziere und transformiere. Hingegen sah Cuvier die Strukturebene beharrlich als eine ursprüngliche Schöpfung an – geschaffen mit dem Ziel, eine bestimmte Funktion zu erfüllen, und somit unveränderlich. „Wenn man so denkt“, kritisierte Geoffroy Saint-Hilaire, „dann muß man schließlich zu dem Schluß kommen, daß ein Mensch, der eine Krücke benützt, auch von Anfang an für das Unglück bestimmt war, ein gelähmtes oder amputiertes Bein zu haben. Auf diese Weise werden wir aber Historiker von Sachverhalten, die noch andauern; zu der Funktion dringen wir erst vor, nachdem wir die Instrumente, die verantwortlich sind, studiert und zu verstehen versucht haben.“ Schon längst war Geoffroy Saint-Hilaire zum bekennenden Anhänger der transformistischen Thesen eines anderen französischen Naturforschers geworden: Jean Baptiste Lamarck (1744 –1829) starb gerade in dem Moment, in dem der Streit in seiner ganzen Schärfe ausbrach. Lamarck war aber auch schon vorher zur Zielscheibe von Cuviers sarkastischer Kritik geworden. Dieser ließ nicht einmal die günstige Gelegenheit aus, noch in der Trauerrede, die – Ironie des Schicksals – erst 1832, wenige Monate nach dem Tod von Cuvier selbst, verlesen und gedruckt wurde, Lamarcks Ideen anzugreifen: Diese Ideen seien vielleicht geeignet, die Vorstellungskraft eines Dichters oder Metaphysikers anzuregen, könnten „aber nicht einmal einen Augenblick einer Überprüfung von jemandem standhalten, der schon einmal eine Hand, einen Knochen oder auch nur eine Feder präpariert hat.“ Lamarck nimmt in der Debatte um die Evolutionslehre eine besondere Stellung ein. Das verdankt er in gewisser Weise gerade Cuvier, der, angetrieben von dem Wunsch, Lamarcks Thesen lächerlich zu machen, sie schließlich in einer fast karikaturistischen Form verbreitete und damit die Art und Weise wesentlich beeinflußt hat, in der die Lamarckschen Ideen in der Folgezeit rezipiert oder auch zurückgewiesen wurden. Dies gilt auch für Darwin, der die Ideen Lamarcks nicht für richtig hielt, aber dennoch in mancher Hinsicht „lamarckistisch“ dachte und als solcher von Darwinisten kritisiert wurde, die sozusagen darwinistischer waren als Darwin selbst. Während Cuvier, anders als Linné, zwei unterschiedliche Ordnungen für den Menschen und den Affen geschaffen hatte, klassifizierte Lamarck in seiner Zoologischen Philosophie (1809) den Menschen als einen zweihändigen Säuger und stellte in einer im Grunde materialistischen Sichtweise – die man bereits als eine Entwicklungs- und Transformationstheorie der Arten bezeichnen kann – eine echte Verbindung zwischen Mensch und Affe her. Lamarck wählte als Grundlage seiner zoologischen Systematik das Nervensystem und unterschied die Tiere nach dem Grad von dessen Kompliziertheit; demnach nahm er eine Trennung in apathisch, sensibel und intelligent vor und kam so zu einer naturalistischen Deutung des Geistes. Lamarck deutete den Geist als eine zunehmende Aneignung von immer komplexeren Fähigkeiten, die durch Interaktion zwischen Organismus und Umwelt erlangt werden. Dieses nunmehr vollständig transformistische SpeziesKonzept führte zu einem weiteren radikalen Perspektivenwechsel: zur Umkehrung der alten Taxonomie gemäß dem Modell der scala naturae, die vom Perfekteren zum weniger Perfekten „absteigt“. Lamarck schrieb: „Wenn es in der Tat wahr ist, daß alle Organismen Erzeugnisse der Natur sind, so kann man sich der Ansicht nicht verschließen, daß die Natur dieselben nur nach und nach und nicht auf einmal in einem zeitlosen Augenblick hervorgebracht hat. Wenn sie sie nun nacheinander gebildet hat, so ist Grund vorhanden zu glauben, daß sie bloß mit den einfachsten begonnen und erst zuletzt die verwickeltsten Organisationssysteme des Tier- und Pflanzenreiches hervorgebracht hat.“
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Die natürliche Ordnung gibt demnach die zeitlich-historische Abfolge wieder, in deren Verlauf die Arten modifiziert werden: den „Gang der Natur“. Und es sei die Natur, so Lamarck, die die Organismen, das Leben und selbst die Empfindungsfähigkeit geschaffen habe; die innerhalb gewisser, uns nicht bekannter Grenzen die Organe und die Fähigkeiten organischer Körper vervielfacht und unterschieden und ihre Existenz aufrechterhalten und verbreitet habe; die in den Lebewesen allein auf dem Wege der Bedürfnisse (die die Gewohnheiten hervorrufen und leiten) das Entstehen aller Handlungen und Fähigkeiten erzeugt habe, von den einfachsten bis zu denen, die Instinkt, Befähigung und schließlich das Denken ausmachen. Die Leiter der Natur ist also dynamisch und sozusagen auf den Kopf gestellt – mit einer weiteren wichtigen Konsequenz: Wenn bislang der Geist die Erklärung für die biologische Welt war, so ist es nun die biologische Welt, die eine Erklärung des Geistes ermöglicht. Der erste Teil der Zoologischen Philosophie schließt mit dem Abschnitt „Einige Bemerkungen über den Menschen“. Hier trägt Lamarck in streng hypothetischer Form seine Thesen über den Ursprung des Menschen und den schrittweisen Erwerb der für ihn charakteristischen Fähigkeiten vor. „Wenn der Mensch von den Tieren nur hinsichtlich seiner Organisation verschieden wäre, so würde es leicht sein zu zeigen, daß die Organisationscharaktere, deren man sich bedient, um aus seinen Varietäten eine besondere Familie zu bilden, alle das Produkt von alten Abänderungen in seinen Handlungen und von Gewohnheiten sind, die er angenommen hat und die den Individuen seiner Rasse eigentümlich geworden sind. Wenn in der Tat irgendeine Affenrasse, hauptsächlich die vollkommenste derselben, durch die Verhältnisse oder durch irgendeine andere Ursache gezwungen wurde, die Gewohnheit aufzugeben, auf den Bäumen zu klettern und die Zweige mit den Füßen sowohl als mit den Händen zu erfassen, um sich daran aufzuhängen, und wenn die Individuen dieser Rasse während einer langen Reihe von Generationen gezwungen waren, ihre Füße nur zum Gehen zu gebrauchen und aufhörten, von den Füßen den selben Gebrauch wie von den Händen zu machen, so ist es [...] nicht zweifelhaft, daß die Vierhänder schließlich zu Zweihändern umgebildet wurden und daß die Daumen ihrer Füße, da diese Füße nur noch zum Gehen dienten, die Entgegenstellbarkeit zu den Fingern verloren. Wenn überdies die Individuen, von denen ich spreche, bewegt durch das Bedürfnis, zu herrschen und zugleich weit und breit um sich zu sehen, sich anstrengten aufrechtzustehen und an dieser Gewohnheit von Generation zu Generation festhielten, so ist es ferner nicht zweifelhaft, daß ihre Füße unmerklich eine für die aufrechte Haltung geeignete Bildung erlangten, daß ihre Beine Waden bekamen und daß diese Tiere dann nur mühsam auf den Händen und Füßen zugleich gehen konnten. Wenn letztlich diese nämlichen Individuen den Gebrauch ihrer Kiefer als Waffen zum Beißen, Zerfleischen und Packen [...] aufgaben [...], so ist es ebenfalls nicht zweifelhaft, daß ihr Gesichtswinkel größer wurde, daß ihre Schnauze sich mehr und mehr verkürzte, schließlich vollständig verschwand und daß ihre Schneidezähne dann eine vertikale Stellung erlangten.“ Wenn man nun annimmt, so fährt Lamarck fort, daß die am meisten vollendete Rasse der Vierhänder in all ihren Gliedern und konstanten Verhaltensweisen die eben beschriebenen Ausformungen und Fähigkeiten erreicht hat, könnte sie allmählich die anderen Tierrassen dominieren, indem sie sich Respekt für diese „höchst bedeutende[n] Unterschiede“ verschafft. An dieser Stelle betrachtet Lamarck den „Orang von Angola“ (Simia troglodytes nach der Linnéschen Klassifizierung), „das vollkommenste aller Tiere“. Er beschreibt seinen Gang, der nur manchmal aufrecht ist und deshalb eine ungewöhnliche und nicht die normale Körperhaltung ist, um dann zu zeigen, wie auch beim Menschen – und das ist insofern „vollständig natürlich“ – die aufrechte Haltung einer ständigen aktiven Kontrolle bedarf,
Darwin: Ein Leben für die Evolutionstheorie
Oben: ein Porträt von Lamarck Unten: eine Manuskriptseite aus dem siebten Kapitel der „Zoologischen Philosophie“ von 1809, die jetzt im Muséum National d’Histoire Naturelle in Paris aufbewahrt wird
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Die „anatomische Leiter“, die nach Johann Kaspar Lavater (1741–1801) von der „häßlichen Bestialität“ eines Frosches bis zur idealen Schönheit Apollos führt
und zwar ab dem Moment, in dem die Wirbelsäule nicht die Körperachse repräsentiert und das Gewicht des Kopfes und des Leibes nicht mit dem Schwerpunkt des Körpers abgestimmt ist. Dies dient als Beweis dafür, daß auch der Mensch „einen dem der übrigen Säugetiere ähnlichen Ursprung“ verrate. Diese Hypothese baut Lamarck nun aus und kommt zu der Vermutung, daß die Individuen aufgrund irgendwelcher Bedürfnisse nach und nach artikulierte Laute entwickelt hätten mit dem Ziel, ihr Repertoire an kommunikativen Zeichen zu erweitern; durch die Ausbildung von Kehlkopf, Zunge und Lippen sei so die Möglichkeit des Sprechens entstanden. „Es werden also in dieser Hinsicht die Bedürfnisse allein alles gemacht haben: sie werden die Anstrengungen hervorgerufen haben, und die für die Artikulation der Laute geeigneten Organe werden sich durch ihren gewohnheitsmäßigen Gebrauch entwickelt haben.“ So kommt Lamarck zu dem Schluß: „Dies würden die Reflexionen sein, die man anstellen könnte, wenn der hier als die fragliche vorherrschende Rasse betrachtete Mensch sich von den Tieren nur durch seine Organisationscharaktere unterscheiden würde und wenn sein Ursprung nicht von dem ihrigen verschieden wäre.“ Wenn..., wenn..., wenn... Etwas behaupten, und es dann wieder verneinen – das scheint ein wenig Lamarcks Strategie zu sein. Was auch immer hier Vorsicht oder ironisches Augenzwinkern oder auch eine feinsinnige Art sein mag, mögliche Zensur zu umgehen – es hat jedenfalls zur Folge, daß der Mensch bei Lamarck ein Naturwesen mit allen daraus folgenden Konsequenzen für seine intellektuellen und moralischen Eigentümlichkeiten ist und daß er auch demselben Mechanismus unterworfen wird, dem der Wandel allen Lebens gehorcht: einer Umwelt, die durch ihre Veränderung neue Bedürfnisse herbeiführt; neue Bedürfnisse, die die Gewohnheiten verändern; neue Gewohnheiten, die die körperliche Struktur verändern; und schließlich die „Vererbung erworbener Eigenschaften“, die so traurige Berühmtheit erlangt hat. Geoffroy Saint-Hilaire, der ja wie gesagt ein Anhänger von Lamarcks Ideen war, hat dies jedoch großenteils mißverstanden, indem er den Umweltbedingungen einen viel direkteren Einfluß auf die Entwicklung der Organismen zuschrieb, als Lamarck jemals behauptet hatte. Cuvier, der diese Ideen stets bekämpfte, tat erst recht alles, damit sie mißverstanden wurden, und das gelang ihm glänzend. Aus der Auseinandersetzung mit Saint-Hilaire ging Cuvier als Sieger hervor, aber die Lehre des Artenwandels war nun zu einer unleugbaren Realität geworden. Just in diesen Jahren veröffentlichte der Naturforscher und Geologe Charles Lyell (1797–1875) in Großbritannien ein Werk, das großen Einfluß auf Darwin hatte: die Prinzipien der Geologie (1830 –1833). Dort findet sich eine eingehende Untersuchung der Lamarckschen Ideen, die Lyell schließlich von Grund auf ablehnt. Was den Menschen betrifft, so äußert er die Sorge, die Thesen Lamarcks könnten „den Glauben des Menschen an die edle Abstammung seiner Art“ zerstören. Richard Owen – mit dem wir oben den Anfang gemacht haben und der später als der „britische Cuvier“ bekannt wurde – war indessen dank seiner anatomischen, paläontologischen und systematischen Forschungen eine anerkannte Autorität. Obwohl Owen kein absolut statisches Naturkonzept vertrat, nahm er doch nur Modifikationen an, die mit seiner Vorstellung von „Typen“ in Einklang standen; dieses von den platonischen Archetypen inspirierte Konzept entsprach einer Art von idealen, auf strengen geometrischen Prinzipien basierenden Matrizen. Demnach gab es einige fundamentale Formen, die man durch Erforschung dessen, was Owen selbst Homologie nannte, entdecken konnte: teilweise stark ausdifferenzierte Strukturähnlichkeiten verschiedener Organismen. Zum Beispiel stammten die Flügel der Vögel und die Vorderglieder von Säugern nach Owen von einem gemeinsamen archetypischen Ursprung, und deren selbst bei Fossilien nachweisbare Modifikationen seien nichts anderes als die Verwirklichung eines göttlichen Plans idealer Fortentwicklung. Demgemäß übernahm und erweiterte Owen die sogenannte Wirbeltheorie des Schädels, wonach die Schädelknochen eine Transformation der letzten Wirbel der Wirbelsäule sein sollen. Die Säuger klassifizierte er aufgrund gewisser Gehirnmerkmale, wobei er dem Menschen eine besondere Unterklasse zuwies, die Archencephali. Er beharrte jedoch auf der deutlichen Ähnlichkeit von Händen und Füßen bei den Affen im Gegensatz zum Menschen. Wie bereits gesagt, kamen die Affen groß in Mode, überall waren sie Gesprächsthema. Mit großer Deutlichkeit wurde auch über den unseligen moralischen Rückfall gesprochen, den ihre biologische Annäherung an den Menschen bedeuten würde; man brauchte nicht viel Phantasie, sich die Folgen auszumalen, wenn der affenhafte Ursprung des Menschen zum Banner von Aufrührern würde, die es auf die öffentliche Ordnung abgesehen hatten...
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An diesem Punkt sind wir im Jahr 1857. Es hatte einige öffentliche Konferenzen gegeben, in denen kategorisch jederlei Artverwandtschaft zwischen Mensch und Affe dementiert wurde, und zwar mit dem Verweis auf den hippocampus minor. Eine kleine Erhebung im hinteren Teil beider Hirnhälften schuf eine klare Trennung zwischen dem menschlichen Gehirn und dem des Menschenaffen. Owen, nunmehr ein Mann von Einfluß und international anerkanntem Renommee, tat sich als Anwalt der Menschlichkeit hervor! Und das war genau nach Huxleys Geschmack. Weniger bekannt als Owen, aber gleichfalls in einem Karrierehoch, hatte Thomas Henry Huxley (1825 – 1895) nach einer kurzen Karriere beim Militär seine Neigung zur Wissenschaft entdeckt, der er – mit brillanten Ergebnissen bei der Erforschung wirbelloser Tiere – mit ganzem Herzen nachging. Huxley, der später der „Bluthund des Darwinismus“ werden sollte, hatte bis zu diesem Zeitpunkt keinerlei Neigungen zur Theorie des Artenwandels erkennen lassen. Als intellektuell reger und äußerst streitlustiger Charakter ging er keiner Auseinandersetzung aus dem Weg; außerdem empfand er eine tiefe, unzähmbare und auch eingestandene Antipathie gegen Owen, die auf Gegenseitigkeit beruhte. 1858 stieg Huxley für den Kampf gegen die Wirbeltheorie des Schädels und zugunsten der Kontinuität zwischen Pavian, Gorilla und Mensch in den Ring. Er widerlegte Owens Aussage, man könne den hippocampus minor im Affenhirn nicht ausfindig machen und spottete, der Grund seien wohl die schlechten Exemplare, die Owen konserviert habe. Huxley bestand ausdrücklich darauf, daß es unmöglich sei, „eine Grenzlinie zwischen einer instinktiven und einer rationalen Handlung zu ziehen“. Und so kam er zu der unausweichlichen und gleichwohl erschreckenden Schlußfolgerung: „Aus derselben Wurzel, aufgrund derselben natürlichen Ausgangslage ist der Mensch integraler Bestandteil der organischen Welt.“ Knapp zwei Jahre zuvor, 1856, hatte man in Deutschland in der Nähe von Düsseldorf ein Schädeldach und einige Knochen von Gliedmaßen gefunden, die zu einer Art gehörten, die man nun den Neandertaler nannte. Andere zuvor gemachte Funde waren unbeachtet in den Museen verschwunden, aber dieses Mal erregte der neue Fund Aufsehen. Im Unterschied zum Schädel des modernen Menschen war der des Neandertalers in die Länge gezogen und abgeflacht, wies eine Ausbeulung im hinteren Teil auf und hatte stark ausgeprägte Oberaugenwülste. Zunächst betrachtete man ihn als einen aus Vorzeiten stammenden europäischen Barbaren. Es kam zu einer regelrechten Diskussionswelle, und man stellte fest, daß sich durchaus Ähnlichkeiten mit einem Gorillaschädel fanden. Dies versuchte man als pathologische Abweichung zu erklären: Das Individuum habe an Rachitis gelitten, ferner den Ellenbogen gebrochen, und durch das ständige, vom Schmerz verursachte Zusammenziehen der Augenbrauen sei es zu der Verformung der vorstehenden Augenbrauenbögen gekommen. Oder aber man gelangte zu der Erklärung, es handle sich um einen Kosaken der russischen Invasionstruppen von 1814, der in der Höhle, in der nun seine Reste gefunden worden waren, erkrankt und gestorben sei – oder schlichtweg um einen Krüppel. Denen nun, die nachdrücklich die These vertraten, der Mensch aus dem Neandertal repräsentiere tatsächlich ein Bindeglied zu vergangenen Perioden der menschlichen Evolution, schloß sich sofort auch Huxley an. Er berechnete, daß das Gehirn, das sich in der Schädelhöhle des Neandertalers befunden hatte, ein Volumen von 1200 Kubikzentimetern gehabt haben mußte; das lag eher beim Mittelwert für heutige Menschen und jedenfalls weit über dem der größten Menschenaffenarten. Ließ man die Möglichkeit außer Acht, es handle sich um einen Krüppel aus jüngerer Zeit, so stand man vor dem Problem, wie ein Geschöpf mit so affenartigen Merkmalen ähnliche mentale Fähigkeiten wie ein moderner Mensch besessen haben konnte. Die Suche nach dem „fehlenden Zwischenglied“ begann. ❑
Darwin: Ein Leben für die Evolutionstheorie
Eine Illustration aus der „Naturgeschichte der Säugetiere“ von Geoffroy Saint-Hilaire
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Vom Pavian zur Metaphysik Am 16. August 1838 schreibt Darwin: „Der Ursprung des Menschen ist nun bewiesen. Die Metaphysik muß aufblühen. Wer den Pavian versteht, wird mehr zur Metaphysik beitragen als Locke.“
W Eines der ältesten Bilder eines Menschenaffen, wahrscheinlich eines Orang-UtanWeibchens, wurde in Fortunio Licetis Schrift „De monstris“ veröffentlicht und danach in zahlreichen Texten des 18. Jahrhunderts nachgedruckt.
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as aber tat Darwin in der Zwischenzeit? Er war nunmehr ein Herr von 50 Jahren sowie respektiertes und geschätztes Mitglied der wissenschaftlichen Gemeinschaft. Systematisch und mit fast obsessiver Hingabe arbeitete er seit Jahren an einem Projekt, dessen Zielrichtung er anfangs kaum vor sich selbst zu rechtfertigen vermochte und das er nun seit einiger Zeit mit großem Unbehagen und sozusagen in kleinen Dosen einem begrenzten Kreis vertrauenswürdiger und sorgfältig „selektierter“ Freunde bekannt machte. 1844 hatte Darwin in einem Brief an einen dieser Freunde, den Mediziner und Botaniker Joseph Dalton Hooker, eingestanden: „Ich bin beinahe davon überzeugt (ganz im Gegensatz zu der Auffassung, die ich anfänglich vertrat), daß die Arten nicht (es ist wie das Eingeständnis eines Mordes) unveränderlich sind.“ In seinen privaten Aufzeichnungen – den berühmten Notizbüchern, die er 1837 zu schreiben begonnen hatte und die wegen ihrer großen Offenheit eine wertvolle Informationsquelle darstellen – hatte Darwin sich bereits mit dem Problem des Zusammenhangs des Menschen mit anderen Tieren auseinandergesetzt. Das wagte er insbesondere in den Notizbüchern M und N (er bezeichnete die verschiedenen Bände mit alphabetischen Buchstaben), bekannt auch als Notebooks on Man, Mind and Materialism oder Metaphysical Notebooks. Dort beschäftigte er sich wiederholt mit dem Ausdruck von Emotionen, dem Bewußtsein, der Geist-Körper-Beziehung, der Unterscheidung zwischen Instinkt und Gewohnheit sowie Instinkt und höheren Fähigkeiten und mit einer Reihe von anderen Fragen, durch die er zu philosophischen, religiösen und moralischen Betrachtungen gelangte. Dabei ist häufig von den Affen die Rede, und Darwins Beobachtungen lassen kaum einen Zweifel, welche Haltung er zu diesem heiklen Problem einnahm. Zum ersten Mal sah er einen Menschenaffen – Jenny, einen weiblichen Orang-Utan von drei Jahren – am 28. März 1873 im Londoner Zoo. Das Tier hatte als einziger Orang-Utan den Winter in einem beheizten Pavillon überlebt, der gerade für Giraffen vorbereitet wurde. Wenig Monate später starb auch Jenny, zuvor jedoch war sie noch – schamhaft in Frauenkleider gesteckt – der Herzogin von Cambridge vorgeführt worden. Darwins Notizbücher sind reich an detaillierten Beobachtungen, spontanen Einfällen, Vermerken für spätere Vertiefungen und fast aphoristischen Reflexionen. Am 16. August 1838 schreibt er: „Der Ursprung des Menschen ist nun bewiesen. Die Metaphysik muß aufblühen. Wer den Pavian versteht, wird mehr zur Metaphysik beitragen als Locke.“ Einige Tage später macht er einen Vermerk über die Grimassen von Affen und überlegt, ob sie weinen oder lachen können. Nach einigen Überlegungen über Glück, In-
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tellekt und Instinkt fügt er am 30. August hinzu: „Der Geist des Menschen ist nicht vollendeter als die Instinkte der Tiere hinsichtlich aller sich verändernden Umstände oder hinsichtlich ihrer Körper. Unsere Abstammung ist der Ursprung all unserer schlechten Leidenschaften!! Der Teufel in Gestalt des Pavians ist unser Großvater!“ Am 4. September schreibt er dann: „Platon sagt im Phaidon, daß unsere notwendigen Ideen von der Präexistenz unserer Seele kommen und nicht aus unserer Erfahrung stammen. Lies Affen anstelle von Präexistenz.“ Nach ausführlichen Beobachtungen über die Ausdrucksfähigkeit beim Menschen und beim Affen notiert er am 23. September: „Das gesamte Thema des Ausdrucks erhält mehr als jedes andere Element der Struktur seinen Wert von seiner Verbindung mit dem Geist (dient als Beweis dafür, daß die Kluft im Geist keine Trennung zwischen Mensch und Tier zuläßt). Niemand kann diese Verbindung bezweifeln. [...] Vergleiche einen Eingeborenen aus Feuerland mit einem Orang-Utan, und wage zu sagen, der Unterschied sei so groß.“ Schließlich schreibt er am 3. Oktober: „Die Metaphysik so zu studieren, wie man sie immer studiert hat, scheint mir, als zerbreche man sich den Kopf über die Astronomie, ohne die Mechanik heranzuziehen. Die Erfahrung zeigt, daß man das Problem des Geistes nicht dadurch lösen kann, daß man die Burg direkt von vorne angreift. Der Geist ist eine Funktion des Körpers. Wir müssen eine stabile Grundlage schaffen, von der aus wir argumentieren können.“ Das ist nur eine kurze Auswahl, aber sie läßt den hippocampus minor, mit dem Owen gut 20 Jahre nach Abfassung dieser Notizen die Gefahren abzuwenden suchte, die der Stellung des Menschen in der Natur drohten, als ein lächerliches Bollwerk erscheinen. Von nun an diente dieser hippocampus minor im übrigen allmählich als Parodie – so in dem verbreiteten Kinderbuch The Water Babies (Die Wasserkinder), das Charles Kingsley (1819 –1875), Hofkaplan von Königin Viktoria, Professor für Geschichte in Cambridge, ein engagierter Publizist in sozialen Fragen und Gründer der sogenannten „christlichen Sozialisten“, im Jahre 1863 verfaßte; er war einer der wenigen Geistlichen, die nach Veröffentlichung der Entstehung der Arten für Darwin Stellung beziehen sollten. In diesem phantastischen Bericht mit unübersehbar pädagogisch-moralischen Absichten und einer starken Dosis Ironie – „nur ein Märchen, ganz Spaß und reine Erfindung, und deshalb sollt ihr kein Wort davon glauben, nicht einmal, wenn es wahr ist“ – wird der hippocampus minor zum hippopotamus major. „Auf nichts kann man sich verlassen außer auf den großen hippopotamus-Versuch. Wenn du einen hippopotamus major in deinem Gehirn hast, dann bist du kein Affe, auch wenn du vier Hände hättest und keine Füße, und wenn du affiger wärest als alle Affen im Zoo zusammen. Wenn aber einmal ein hippopotamus major in einem einzigen Affenhirn gefunden worden ist, dann wird nichts deine Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßmutter davor schützen, auch ein Affe gewesen zu sein.“ In diesem Punkt können wir sicherlich Owen und den Theologen recht geben, die hier ihre Befürchtungen bestätigt fanden, daß die über Jahrhunderte unangefochtene Sicht der Welt und des Menschen bedroht sei; und wir können verstehen, weshalb Darwin so vorsichtig war und so lange abwartete, bis er seine zweifellos umstürzlerische Theorie über die Veränderlichkeit der Arten in die Öffentlichkeit trug. Tatsächlich existierten zu diesem Zeitpunkt schon mindestens zwei schriftliche Fassungen dessen, was die Darwinsche Evolutionstheorie werden sollte; aber wer weiß, wann Darwin sich entschlossen hätte, an die Öffentlichkeit zu gehen, wenn ihm nicht in eben dem Jahr 1858, in dem Owen und Huxley ihren Streit austrugen, mit der Post vom 18. Juni die Abhandlung eines jungen Naturforschers namens Robert Wallace zugestellt worden wäre . . . ❑
Darwin: Ein Leben für die Evolutionstheorie
Ein Ureinwohner Feuerlands in einer Illustration von Conrad Martens. Der Zeichner war während des zweiten Teils der Fahrt an Bord der Beagle (aus C. Darwin, R. FitzRoy, und P. P. King: „Narrative of the Surveying Voyages of HMS Adventure and Beagle“).
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Die lange Fahrt an Bord der Beagle Als Darwin aufbricht, ist er ein junger Mann von 22 Jahren mit guten Grundkenntnissen in Naturkunde. Bei seiner Rückkehr ist er bereits berühmt; aber seine Theorie zeichnet sich erst in Umrissen ab.
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Alexander von Humboldt und Aimé Bompland, sein Begleiter auf der Südamerika-Expedition, auf einem Gemälde von Eduard Ender
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ur Lektüre während der Jahre in Cambridge gehörte vor allem ein Werk, das, zusammen mit dem Buch von Herschel, in Darwin „das glühende Bestreben [weckte], einen Beitrag, und wenn auch nur den allerbescheidensten, für das erhabene Gebäude der Naturwissenschaften zu liefern. Kein anderes Buch oder ein Dutzend anderer hatten auch nur annähernd einen solchen Einfluß auf mich wie diese beiden.“ Darwin meint die mehrbändige Personal Narrative of Travels von Alexander von Humboldt (1769 –1859), einen in London erschienenen Auszug aus der noch viel umfangreicheren Reise in die Aequinoctialgegenden des Neuen Continents in den Jahren 1799 –1804; darin berichtete der rastlose Reisende und unermüdliche Schriftsteller, von dessen enzyklopädischem Interesse der Titel seines monumentalen Spätwerks Kosmos zeugt, über seine SüdamerikaExpedition. Inspiriert von Humboldts Schilderungen träumte Darwin davon, eine Fahrt nach Teneriffa, einer der Kanarischen Inseln, zu organisieren, und er versuchte, auch Henslow und andere dafür zu gewinnen. „[...] ich erhielt eine Empfehlung an einen Kaufmann in London, um mich nach Schiffen erkundigen zu können; der Plan wurde aber durch meine Reise auf der Beagle völlig gegenstandslos.“ Am 29. August 1831 erreichte ihn in Shrewsbury ein Brief von Henslow: Kapitän Robert FitzRoy (1805–1865) von der Königlichen Marine ihrer Majestät suche einen jungen Mann mit bester Ausbildung als Reisebegleiter ohne Bezahlung, der bereit sei, sich auf der Brigg Beagle einzuschiffen, um an einer Vermessungsfahrt entlang der Küste Südamerikas teilzunehmen. Die Reise sollte zwei Jahre dauern, und die Abfahrt war für Ende September vorgesehen. Das Angebot schien Darwin geradezu auf den Leib geschrieben. Das Schiff war für wissenschaftliche Erkundungen ausgerüstet, und Darwins Ausbildung zum Naturforscher qualifizierte ihn zweifellos, das willkommene Angebot anzuneh-
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men. Es war für ihn in der Tat ein Glücksfall, so unerwartet wie begeisternd. Aber sein Enthusiasmus wurde zunächst von der überraschenden Reaktion seines Vaters gedämpft. Robert Darwin war alles andere als einverstanden und sah in der Reise nur eine weitere Gelegenheit für seinen ohnehin unsteten Sohn, sich wieder einmal um seine Pflichten zu drücken. Dennoch ließ er ihm eine Chance: „Wenn du irgendeinen Mann von gesundem Menschenverstand finden kannst, der dir zu der Reise rät, so will ich meine Zustimmung geben.“ Und so geschah es. Am 1. September begab sich Charles nach Maer, ungefähr 30 Kilometer von Shrewsbury entfernt; dort lebte sein Onkel Josiah Wedgwood, seit er die Leitung der väterlichen Firma übernommen hatte. Maer war ein Ort, den Charles über alles liebte und an dem er bei Cousins und Cousinen zahlreiche lange Ferienaufenthalte verbracht hatte. Dorthin ging er, wenn er ein Refugium suchte, um Kraft zu schöpfen; er hatte ein sehr gutes Verhältnis zu seinem Onkel Josiah und den anderen Mitgliedern der Familie Wedgwood. Charles verfaßte einen ausführlichen Bericht über die Vorbehalte des Vaters, und Josiah widerlegte sie Punkt für Punkt in einem Brief, den er umgehend nach Shrewsbury schickte und in dem er sich eindeutig auf die Seite seines Neffen schlug; er bot sogar an, Charles zu seinem Vater zu begleiten. Nun war Robert Darwin gezwungen, nachzugeben. Darwin brach umgehend nach Cambridge auf, um Henslow zu treffen, und fuhr dann nach London, um Kapitän FitzRoy kennenzulernen. Dieses Treffen fand am 5. September statt. Darwin war recht angetan, und auch FitzRoy muß einen guten Eindruck gehabt haben, sah er doch, obwohl er ein Tory war, über die grundlegenden Differenzen in ihren politischen Ansichten hinweg. Als einzigen Schönheitsfehler empfand er die Nase von Charles. „Später [...] erfuhr ich“, so Darwin in seiner Autobiographie, „daß ich sehr nahe daran gewesen wäre, zurückgewiesen zu werden, und zwar wegen der Form meiner Nase! Er war ein eifriger Anhänger Lavaters und war der Überzeugung, daß er den Charakter des Menschen nach der Form seiner Gesichtszüge beurteilen könne, und er bezweifelte es, ob irgend jemand mit meiner Nase hinreichende Energie und Entschlossenheit für diese Reise besitzen könne. Ich denke aber, er wurde später davon überzeugt, daß meine Nase falsch prophezeit hatte.“ Mit FitzRoy ging er nach Davenport, um die Beagle zu begutachten. Die Brigg, die wegen Reparaturen im Dock lag, erschien ihm heruntergekommen und vor allem unglaublich klein. Sie war 27 Meter lang und maß an ihrer breitesten Stelle 7,5 Meter. Das Schiff hatte nur zwei Kabinen. Die nur 3 mal 3,5 Meter große Heckkajüte sollte Darwin mit einem jungen Offizier von 19 Jahren teilen: John Lort Stokes, Vizekartograph der Expedition. Es gab nur drei Stühle und den großen Tisch, der für die nautischen Karten sowie für die Präparation und Konservierung der Objekte, die Darwin auf der Fahrt sammeln sollte, ausreichen mußte. Geschlafen wurde in Hängematten, und die von Darwin mußte über dem Tisch aufgehängt werden. Beim Versuch, sie auszuprobieren, fiel er einige Male heraus, und schließlich mußte er sie anders anbringen, damit er mit seinen 1,80 Metern Körpergröße auch ausgestreckt liegen konnte; wenn er in der Kajüte stand, mußte er den Kopf einziehen. Die andere Kajüte bewohnte FitzRoy; dort nahm Charles mit dem Kapitän die Mahlzeiten ein und durfte den Raum auch für andere Zwecke benutzen. Das Schiff barg überdies eine Bibliothek mit 245 Bänden und eine bemerkenswerte Auswahl an Instrumenten, darunter 22 Chronometer; sie waren zur Berechnung des Längengrades nötig und gingen am Ende der Fahrt nur um 33 Sekunden gegenüber der Greenwich-Zeit nach – ein Beweis für die Sorgfalt, mit
Darwin: Ein Leben für die Evolutionstheorie
Robert FitzRoy nach seiner Ernennung zum Vize-Admiral auf einem Gemälde von Francis Lane
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ATLANT ISCHER OZEAN
ASIEN
Falmouth 2. Oktober 1836
EUROPA
Azoren
Kapverdische Inseln 31. August 1836
INDISCHER OZEAN
Ascension 19. Juli 1836
Recife 12. August 1836
SÜDAMERIKA
AFRIKA
Salvador 1. August 1836
Cocos-Inseln 1. April 1836
St. Helena 8. Juli 1836 Mauritius 29. April 1836
Kapstadt 31. Mai 1836
Albany 6. März 1836
Sydney 12. Januar 1836
Hobart 5. Februar 1836
Ein Querschnitt durch die „Beagle“
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der FitzRoy für optimale Instrumente gesorgt hatte. Man wollte einige Karten der Küste Südamerikas verbessern, die auf einer früheren Expedition, an der FitzRoy ebenfalls teilgenommen hatte, erstellt worden waren; außerdem sollten Patagonien, Feuerland und die Falkland-Inseln genauer erforscht sowie bestimmte meteorologische Daten über das Meer und die Winde erfaßt werden. In der damaligen Phase gewaltiger wirtschaftlicher Expansion war es für Großbritannien höchst wichtig, die besten Routen und die strategisch günstigsten Landungsplätze zu erkunden, um den Lastschiffen größtmögliche Sicherheit zu garantieren. Die Beagle hatte 64 Menschen an Bord – außer den Offizieren lauter sehr junge Leute. Zur Besatzung gehörte ein Kunstmaler namens Augustus Earle, ein Mechaniker für die Instrumente, einige Diener, der Kapitän, Darwin, drei Eingeborene aus Feuerland und ein zwanzigjähriger Missionar. Die drei Feuerländer – ein Mann von 27 Jahren, dem man den Namen York Minster gegeben hatte, ein fünfzehnjähriger Junge namens Jemmy Button und das zehnjährige Mädchen Fuegia Basket – waren auf der letzten Reise nach England gebracht worden; ein vierter Mann war unmittelbar nach der Ankunft nach einer Pockenimpfung gestorben. Sie waren auf Kosten von FitzRoy aufgenommen und unterrichtet worden und sollten nun, nachdem sie auch bei Hofe vorgestellt worden waren, in einer Art Evangelisierungs- und Zivilisierungsprojekt für die Völker, denen sie entstammten, wieder in ihre Heimat zurückgebracht werden. Die Abreise wurde immer wieder hinausgeschoben – zunächst wegen der umfangreichen Repara-
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HER OZEAN ATLANTISC
NORDAMERIKA
PAZIFISCHER OZEAN
Plymouth 27. Dezember 1831
EUROPA
Madeira Kanarische Inseln
AFRIKA
Kapverdische Inseln 16. Januar 1832
ÄQUATOR
St. Peter und St. Paul Galapagos-Inseln 17. September 1835
SÜDAMERIKA Callao 19. Juli 1835
Tahiti 15. November 1835
Victoria Valparaiso 22. Juli 1834
Russell 21. Dezember 1835
Isla da Chiloé 21. November 1834
Feuerland 15. Dezember 1832
Recife
Fernando de Noronha Salvador 28. Februar 1832
Iquique 12. Juli 1835
Rio de Janeiro 4. April 1832 Montevideo 26. Juli 1832 Buenos Aires Bahía Blanca Falkland-Inseln 1. März 1833 10. März 1834
Die Route der Beagle
turen, die FitzRoy in Anbetracht der knappen Zeit persönlich leitete. Am 10. Dezember versuchte das Schiff in See zu stechen, wurde aber von kräftigen Winden wieder an Land getrieben. Beim zweiten Versuch geriet die Beagle in Untiefen; sie konnte sich zwar mit Hilfe der Flut wieder befreien, geriet nun aber in einen Hurrikan und rettete sich erst in letzter Minute wieder in den Hafen. Das Pech hielt bis Weihnachten an, dann heiterte das Wetter endlich auf; doch leider vergnügte sich nun die Besatzung in den zahlreichen Hafenkneipen. Am nächsten Tag wurde die Mannschaft ausfindig gemacht, und man schaffte die noch betrunkenen Männer an Bord. Manche ließ der wütende FitzRoy in Ketten legen, und sofort nach der Abfahrt sorgte er zu Darwins Bestürzung dafür, daß die Ungehorsamen eine ansehnliche Zahl von Peitschenhieben erhielten. Schließlich nahm der Dreimaster am Nachmittag des 27. Dezember 1831 im Hafen von Plymouth Fahrt auf. Das Abenteuer begann. „Die Reise der Beagle“, urteilt Darwin später in seiner Autobiographie, „ist das bei weitem bedeutungsvollste Ereignis in meinem Leben gewesen und hat meine ganze Laufbahn bestimmt.“ 1839 veröffentlicht er ein detailreiches Tagebuch, das in zahlreichen überarbeiteten Auflagen unter dem Titel Reise eines Naturforschers um die Welt berühmt wurde. Der 22jährige Darwin machte im Laufe der vier Jahre und neun Monate langen Reise einen außergewöhnlichen menschlichen und wissenschaftlichen Reifungsprozeß durch. Als er in seine Heimat zurückkehrte, hatte er sich in wissenschaftlichen Kreisen bereits einen Namen gemacht: Man schätzte die Qualität und den Reichtum der Materialien, die er gesammelt und beschrieben hatte, und die Sorgfalt und Scharfsinnigkeit seiner Beobachtungen, über die er unablässig seine Briefpartner informierte – allen voran Henslow, der dafür sorgte, daß das übersandte Material bekannt wurde. Jedesmal, wenn die Beagle ankerte, ging Darwin an Land, drang zu Pferd oder zu Fuß ins Landesinnere vor, durchquerte Wüstenebenen, bestieg Berge, überwand Flüsse und erkundete Waldgebiete. Überall sammelte er Musterexemplare von Tierarten – Vögel, Insekten, Reptilien, Fische, Säugetiere, meist wildlebende, aber auch gezüchtete –, beobachtete ihr Verhalten,
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Oben: Einen riesigen Ameisenhaufen zeigt diese Zeichnung aus der Ausgabe von 1890 von Darwins „Journal of Researches into the Natural History of the Various Countries Visited by H.M.S. Beagle“. Unten: Eine Rekonstruktion des Skeletts von Megatherium, ebenfalls aus dem „Journal“
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beschrieb sie, identifizierte sie, verglich sie mit ähnlichen Arten aus benachbarten Regionen und untersuchte ihre geographische Verbreitung; er sezierte die Tiere, analysierte ihren Mageninhalt, häutete, katalogisierte, konservierte sie, machte sich Notizen. Genauso ging er auch bei der Pflanzenwelt vor. Hunderte von Arten werden in der Reise eines Naturforschers gewissenhaft genannt – obwohl es sich hier nicht um einen rein wissenschaftlichen Text handelt – , ohne daß der Sinn für das Wunder und den Zauber verlorenginge, an denen Darwin, darin ganz Schüler Humboldts, sich erfreuen konnte und die er auch seinem Leser mitzuteilen vermochte. Darwin machte außergewöhnliche Entdeckungen. In Punta Alta in Brasilien stieß er auf gigantische Knochenüberreste von auf dem Land lebenden Säugetieren (Owen beschrieb sie später genauer in dem Band The Zoology of the Voyage of H.M.S. Beagle). Er fand außer vielen Knochenfragmenten auch neue Exemplare von Vierfüßern, darunter Teile von drei Schädeln und Knochen des Megatherium, „dessen kolossale Dimensionen durch seinen Namen ausgedrückt werden“; Knochen von Megalonyx; ein fast vollständiges Skelett von Scelidotherium: „es muß so groß wie ein Rhinozeros gewesen sein. Im Bau seines Kopfes kommt es [...] dem [...] Ameisenfresser am nächsten, nähert sich aber in anderen Beziehungen den Gürteltieren“; das Mylodon Darwinii, eine verwandte Gattung, aber von geringerer Größe; schließlich das Toxodon, „vielleicht eins der fremdartigsten Tiere, die je entdeckt worden sind. Der Größe nach glich es einem Elefanten oder Megatherium. Der Bau seiner Zähne beweist aber, wie Mr. Owen angibt, ganz unbestreitbar, daß es sehr nahe mit den Nagetieren verwandt war, mit der Ordnung, welche heutigen Tages die meisten der allerkleinsten Säugetiere umfaßt. In vielen Einzelheiten ist es mit den Pachydermen verwandt: Nach der Stellung seiner Augen, Ohren und Nasenlöcher zu urteilen, war es wahrscheinlich ein Wassertier, wie der Dugong und der Manati, mit denen es gleichfalls verwandt ist. Wie wunderbar sind die verschiedenen Ordnungen, welche in der Jetztzeit so scharf getrennt sind, in verschiedenen Punkten des Baues beim Toxodon miteinander verschmolzen!“ (Später mußte die Klassifikation des Toxodon modifiziert werden, weil man einen Irrtum bei der Rekonstruktion des Skeletts entdeckte.) Darwin liefert nicht nur trockene Berichte: Unterschiede und Ähnlichkeiten bei Arten, die sich im Lichte ihrer geographischen Verbreitung deuten lassen, führen ihn auf Fragen, für welche die klassischen Schemata keine befriedigenden Antworten liefern. Bei seiner Abreise gehen Darwins Vorstellungen noch konform mit der traditionellen, kreationistischen Perspektive; bei seiner Rückkehr ist er zwar aller Wahrscheinlichkeit nach noch kein Transformist, aber er ist auf eine Reihe ungelöster Probleme gestoßen, die, bevor sie eine korrekte Lösung finden können, erst einmal korrekt formuliert werden müssen. Während seiner Fahrt widmet er sich mit besonderem Eifer auch der Geologie. Er hat den ersten Band von Lyells Prinzipien der Geologie bei sich, die den Untertitel tragen: Ein Versuch, die früheren Veränderungen der Erdoberfläche durch die Einbeziehung von auch jetzt noch wirksamen Ursachen zu erklären. (Der zweite Band erreicht ihn 1832 in Montevideo, der dritte auf den Falkland-Inseln.) FitzRoy schenkte ihm den Band, und Henslow hatte ihn zwar zur Lektüre ermuntert, ihn aber auch davor gewarnt, „unter keinen Umständen die darin vertretenen Ansichten anzunehmen“. Darwin aber war geradezu begeistert von den uniformistischen Thesen Lyells. Lyell vertrat die Meinung, daß die Veränderungen der Erdoberfläche durch Kräfte bestimmt seien, die im Laufe der Zeit eine konstante und graduelle Wirkung ausgeübt hätten und auch jetzt
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noch aktiv seien. Nicht anders als John Hutton (1726 –1779) vor ihm vertrat er somit eine Gegenposition zum Katastrophismus – zu der Theorie also, nach der die Veränderungen der Erdoberfläche und das dadurch verursachte Artensterben das Resultat besonders schwerwiegender Katastrophen seien, etwa der Sintflut. Derlei Katastrophen seien nach der Schöpfung bei verschiedenen Anlässen wiederholt aufgetreten, und nach ihnen, so die unterschiedlichen Deutungen, seien entweder neue Schöpfungsakte erfolgt oder – wie beispielsweise Cuvier behauptete – Wanderungsbewegungen von Arten aus anderen Gegenden, so daß die von den Katastrophen heimgesuchten Gebiete wieder besiedelt worden seien. (Die Begriffe „Uniformismus“ und „Katastrophismus“ führte Whewell in einer Rezension der Prinzipien der Geologie ein.) Obwohl Lyell versuchte, die Natur und die Erdgeschichte mit Hilfe eines „Regelsystems sekundärer Ursachen“ zu interpretieren, war und blieb er dennoch ein Kreationist, wenn auch ein gemäßigter. Und er ging so weit, seinen naturalistischen Erklärungsansatz zwar auf die Vernichtung von Arten, nicht aber auf ihren Ursprung anzuwenden. „Wenn neue Arten von Mal zu Mal an die Stelle der vernichteten Arten treten, dann gibt es einen Punkt, über den keine klare Meinung besteht, solange nämlich die Daten, über die wir verfügen, unzureichend sind, um diese Frage zu lösen.“ Herschel kritisierte diese Einstellung, weil Lyell sich um eine Antwort auf die Frage nach dem „Geheimnis der Geheimnisse“ drücke. Whewell hingegen formulierte deutlich zwei einander ausschließende Alternativen: Entweder man akzeptiere die Lehre vom Wandel der Arten und nehme somit an, daß Arten, die in einer bestimmten geologischen Epoche gebildet worden seien, sich durch natürliche Ursachen im Laufe der Zeit in die Arten einer anderen Epoche verwandelt hätten – oder aber man glaube an viele aufeinanderfolgende Akte der Schöpfung und Auslöschung von Arten außerhalb des üblichen Laufes der Natur, also praktisch an Wunder. Whewell selbst votierte entschieden für die letztere Möglichkeit. Vor dem Dilemma sollte auch Darwin bald stehen. Bezüglich des Aussterbens und dessen graduellen Charakters hegte Darwin jedenfalls keine Zweifel; in der Reise eines Naturforschers berief er sich auf die „von Mr. Lyell so gut entwickelten Grundsätze“ und unterstrich, wie wenige Länder es gäbe, die sich so schlagartig verändert hätten wie die Gegenden auf dem südamerikanischen Kontinent nach dem Jahr 1535, als im Mündungsbereich des Rio de la Plata die ersten Siedler mit 72 Pferden angelangt seien. Von dem Moment an hätten durch die Einführung anderer domestizierter Tiere und deren enorme Verbreitung „Herden von Pferden, Rindern und Schafen nicht bloß das ganze Aussehen der Vegetation verändert, sondern haben das Guanaco, den Hirsch und den Strauß beinahe ganz vertrieben. [...] An manchen Orten vertritt wahrscheinlich das wilde Schwein das Peccari.“ Ähnlich in Australien: „Noch vor wenigen Jahren schwärmten in diesem Teil des Landes wilde Tiere; jetzt aber ist der Emu bis auf eine weite Entfernung hin zurückgetrieben und das Känguruh selten geworden. Für beide ist das englische Windspiel sehr verderblich. Es mag vielleicht noch lange dauern, ehe diese Tiere vollständig ausgerottet sind, aber ihr Schicksal ist bestimmt.“ Infolge der Einführung neuer Tierarten durch den Menschen hatte sich also zunächst eine schrittweise Dezimierung und dann die Vernichtung ganzer Tierarten vollziehen können. „Zuzugeben, daß Spezies allgemein selten werden, ehe sie aussterben, – nicht überrascht zu sein über die vergleichsweise Seltenheit einer Spezies einer anderen gegenüber, und doch irgendeine außerordentliche Kraft herbeizuziehen und sich ungeheuer zu wundern, wenn dann eine Spezies zu existieren aufhört, scheint mir auf das Gleiche hinauszulaufen, als wollten wir zwar zugeben, daß die Krankheit des Individuum der Vorläufer des Todes ist, – wären auch nicht überrascht über die Krankheit, wunderten uns aber doch, wenn der kranke Mensch stirbt, und wollten annehmen, daß er durch irgendeinen Gewaltakt umgekommen sei.“ Hier wird offensichtlich, daß Darwin die Idee einer stufenweisen Veränderung dem Katastrophismus vorzieht. Erst recht gilt dies auf dem Gebiet der Geologie, wo er in Lyells Einteilung der geologischen Zeitalter nach Gesteinsklassifikationen einen faszinierenden und wirksamen Deutungsschlüssel fand.
Darwin: Ein Leben für die Evolutionstheorie
Die Expedition durch die Anden auf einer Darstellung aus dem „Journal“
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Eine Karte aus der 1888 in Turin erschienenen italienischen Übersetzung von Darwins „The Structure and Distribution of Coral Reefs“
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Jedesmal, wenn er an Land ging, richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Gesteinsschichtung und die Art des Bodens; er suchte Zusammenhänge zwischen der stratigraphischen Ordnung und der Aufeinanderfolge der in den Gesteinsschichten auffindbaren Gruppen von Organismen. Im August 1834 brach er in Chile zu einer Exkursion in die Anden auf: „Ich ging in der Absicht dorthin, die großen Muschellager zu sehen, welche einige Yards über dem Meeresspiegel liegen und zu Kalk gebrannt werden. Die Beweise für die Erhebung dieser ganzen Küstenstrecke sind ganz unzweideutig: In der Höhe von einigen hundert Fuß sind alt aussehende Muscheln zahlreich, ich fand deren auch in 1300 Fuß Höhe. Diese Muscheln liegen entweder lose an der Oberfläche oder sind in eine rötlichschwarze vegetabilische Erde eingeschlossen. Ich war sehr überrascht, unter dem Mikroskop zu finden, daß diese Erde wirklich Meeresschlamm ist, voll von sehr kleinen Stückchen organischer Körper.“ Und 1835 beschreibt er, wie ebenfalls in den Kordilleren die Haupttäler sich dadurch auszeichnen, daß sie an ihren beiden Seiten terrassenartige Stufen aus Kieselsteinen und Sand haben: „Ich bin [...] überzeugt, daß diese Terrassen von Rollsteinen während der allmählichen Erhebung der Kordilleren von den Bergströmen angehäuft wurden, die in aufeinanderfolgenden Niveaus ihren Detritus an dem Strande der oberen Enden langer schmaler Meerarme absetzten, zuerst hoch oben in den Tälern und dann immer tiefer und tiefer hinab in dem Maße, wie sich das Land anhob. Wenn dies der Fall ist, und ich kann es nicht bezweifeln, so ist die großartige ununterbrochene Kette der Kodilleren [nicht] plötzlich in die Höhe geworfen [worden], wie es bis vor kurzem die ganz allgemeine Meinung der Geologen war und wie es noch immer eine häufige Ansicht ist [...] Es ist dem Geiste ganz unmöglich, ausgenommen durch einen sehr langsamen Prozeß, irgendeine Wirkung zu begreifen, welche durch eine Ursache hervorgebracht wird, die sich so häufig wiederholt.“ Schrittweise Veränderungen, unglaublich lange Zeiträume, unablässige und gleichförmige Einwirkungen derselben Naturkräfte – diese Beobachtungen und geologische Überlegungen brachten Darwin dazu, wichtige Beziehungen zwischen Aktivitäten von Vulkanen und Bergketten, zwischen vulkanischen Inseln und den Küstenrändern der Kontinente herzustellen. Und so stieß er auch auf die Frage nach dem mehr oder weniger unerwarteten Auftreten von verschiedenen Arten von Organismen in bestimmten geologischen Schichten, das er im allgemeinen der Mangelhaftigkeit der geologischen Zeugnisse zuschrieb. Er sollte auch das Glück haben, selbst Zeuge zwar katastrophaler, aber völlig natürlicher Ereignisses zu werden: Er erlebte den Ausbruch des Anden-Vulkans Osorno, das zerstörerische Erdbeben von Concepción am 2. Februar 1835 sowie verschiedene Seebeben; die Auswirkungen konnte er unmittelbar beobachten. Nach der Heimkehr von seiner Weltreise wurde Darwin Mitglied und später Sekretär der Geological Society, verfaßte mehrere Berichte über seine vulkanologischen Beobachtungen und die Geologie Südamerikas, und in den nachfolgenden Jahren veröffentlichte er grundlegende Arbeiten wie die Geological Obseravtions on the Volcanic Islands (1844) und die Observations in South America (1846), die mehrmals überarbeitet und wiederaufgelegt wurden. Das vielleicht bekannteste dieser Werke ist Coral Reefs (1842), in dem er zu Schlußfolgerungen gelangte, die von denen Lyells abwichen und die im wesentlichen heute noch als gültig betrachtet werden. „[...] ich hatte mir die ganze Theorie schon an der Westküste von Südamerika ausgedacht“, schreibt er in seiner Autobiographie, „noch ehe ich ein echtes Korallenriff gesehen hatte. Ich brauchte daher meine Ansichten nur durch eine sorgfältigere Untersuchung lebender Riffe zu verifizieren und zu erweitern. Dabei muß ich aber bemerken, daß ich während der zwei vorausgehenden Jahre meine Aufmerksamkeit unablässig auf die Wirkungen der intermittierenden Erhe-
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Links: Ein Blick auf die von einem Korallenriff umgebene Insel Bora Bora Rechts: Eine Originalskizze Darwins von demselben Atoll
bungen des Landes, in Verbindung mit Denudation und der Ablagerung von Sedimenten, auf die Küsten Südamerikas gerichtet hatte. Das führte mich mit Notwendigkeit darauf, eingehend über die Wirkungen einer Senkung nachzudenken, und es war dann leicht, in der Phantasie die fortdauernde Ablagerung von Sedimenten durch das Emporwachsen der Korallen zu ersetzen. Indem ich dies tat, entwickelte sich meine Theorie von der Bildung der Barriereriffe und Atolle.“ Lyell glaubte an eine Erhebung der von Korallen besiedelten vulkanischen Inseln und erklärte ihre kreisförmige Anordnung damit, daß sich die Korallen um den Rand des unter Wasser gelegenen Vulkankraters gruppiert hätten. Hingegen war Darwin der Ansicht, daß die Inseln langsam absinken; darum müssen die Korallen, die bekanntlich nur in einer Tiefe bis zu 35 und maximal 50 Metern überleben können, sich immer höher auftürmen, um stets in passender Tiefe unter dem Meeresspiegel zu bleiben. Während der Grund langsam absinkt, erhebt sich das Riff, so daß, wenn die Insel vollständig versunken ist, die charakteristische Form des Atolls entsteht. Lyell übernahm die neue Interpretation, und Darwin zeigte stets höchsten Respekt für die große Offenheit seines Lehrers gegenüber den wissenschaftlichen Leistungen anderer und für dessen Fähigkeit, sich über vorgefaßte Meinungen hinwegzusetzen. Auch in einigen anderen Punkten vertrat Darwin Gegenpositionen zu Lyell, und auf sehr großen Widerstand stieß er bei ihm mit den Thesen, die er in der Entstehung der Arten vertrat. Seine Hochachtung drückt er in der Autobiographie folgendermaßen aus: „Seine Aufrichtigkeit war höchst beachtlich. Er bewies dies dadurch, daß er sich zur Deszendenztheorie bekehrte, und zwar in hohem Alter und obgleich er dadurch große Berühmtheit erlangt hatte, daß er Lamarcks Ansichten bekämpft hatte. Er erinnerte mich einmal daran, daß ich vor vielen Jahren, als wir die Opposition der Geologen der alten Schule gegen seine neueren Ansichten besprachen, zu ihm gesagt hatte: ‚Wie gut wäre es doch, wenn jeder Mann der Wissenschaft mit sechzig Jahren stürbe, da er später ganz sicher allen neuen Lehren widersprechen würde.‘ Er hoffte aber, daß es ihm gestattet werden möchte, noch zu leben.“ Jedenfalls ließ sich Lyell schließlich wenigstens teilweise zu Darwins Ideen bekehren; von seinem anfänglichen Standpunkt aus hätte Lyell allen Grund gehabt, sie zu bekämpfen. Denn er hatte die transformistischen Thesen Lamarcks heftig attackiert. Er lehnte die Behauptung kate-
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Die Ruinen von Concepción nach dem Erdbeben auf einer Zeichnung von J. C. Wickham aus „Narrative of the Surveying Voyages of HMS Adventure and Beagle“ von King, FitzRoy und Darwin
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Eine Eingeborenenhütte auf Feuerland
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gorisch ab, man könne durch Fossilien eine Entwicklung zum Menschen hin dokumentieren; und er verurteilte die Art und Weise, mit der Lamarck die fossilen Zeugnisse behandelte, als widersprüchlich. Er betrachtete mit größter Sorge die Möglichkeit, daß die behauptete Kontinuität zwischen Tier und Mensch jegliche „Grenzlinie zwischen rational und irrational, zwischen verantwortlich und unverantwortlich“ bedeutungslos mache. Während seiner Reise hatte Darwin öfters Grund, über derlei Fragen nachzudenken. So war er vom Anblick der Einwohner Feuerlands völlig verblüfft: „Es war ohne alle Ausnahme das merkwürdigste und interessanteste Schauspiel, das ich je erblickte: Ich hätte kaum geglaubt, wie groß die Verschiedenheit zwischen wilden und zivilisierten Menschen ist: Sie ist größer als zwischen einem wilden und domestizierten Tier, insofern beim Menschen eine größere Veredelungsfähigkeit vorhanden ist. [...] Ihre ganze Haltung war verworfen und der Ausdruck ihrer Gesichter mißtrauisch, überrascht und entsetzt. [...] Die Sprache dieser Leute verdient nach unseren Begriffen kaum, artikuliert genannt zu werden.“ Auch die Begegnung mit anderen Stämmen war für ihn eine trostlose Erfahrung: erbärmliche, einsame Gestalten, fast nackt oder nur mit einem Guanako- oder Seehundfell bekleidet. „Elende, unglückliche Geschöpfe“, oft rachitisch, die Gesichter mit schwarzer Farbe beschmiert, die Haut schmutzig und schmierig, mit rauher Stimme und aggressiven Gesten. Sie würden zusammengekauert wie Tiere auf dem Erdboden schlafen und sich ausschließlich von dem ernähren, was sie fänden, was oft zur Folge habe, daß sie lange Hunger litten und Kannibalismus praktizierten. Es gebe auch keine Hinweise darauf, daß sie in irgendeiner Form an ein Leben nach dem Tode glaubten, obgleich sie bisweilen ihre Toten bestatteten. Ihre Geschicklichkeit sei insofern dem Instinkt der Tiere vergleichbar, als sie sich nicht durch gemachte Erfahrungen veränderten, so daß etwa das Kanu, der fortschrittlichste Ausdruck ihrer Fähigkeiten, seit über 250 Jahren unverändert geblieben sei. Die „edle Stellung“ des Menschen, von der Lyell so überzeugt war, ließ sich bei diesem Anblick nicht mehr so einfach aufrechterhalten. Auf der Beagle reisten ja bekanntlich auch drei Feuerländer mit, die wieder in ihr Heimatvolk integriert werden sollten, um dort einen Prozeß der Zivilisierung auszulösen. Wie ungeschliffen sie auch immer noch sein mochten, gab es nun eine Kluft, die sie, obwohl sie nur kurze Zeit in der zivilisierten Welt verbracht hatten, von ihrem Volk so stark unterschied, daß man fast nicht glauben wollte, daß hier ihre Ursprünge lagen. Und auch sie selbst hätten anfangs – dem Bericht von Kapitän FitzRoy zufolge – eine Abwehrhaltung eingenommen. Fuegia versteckte sich und wollte nichts sehen; die anderen beiden hätten, als sie auf den ersten Eingeborenenstamm stießen, von „Affen“ gesprochen, von „schmutzigen Dummköpfen“ und davon, daß dies doch „keine Menschen“ sein könnten. Dennoch ließ man sie zusammen mit einem jungen, eifrigen Missionar an Land zurück. Doch schon nach wenigen Monaten mußte FitzRoys Experiment als gescheitert gelten. Als die Beagle wiederkehrte, hatte der junge Missionar, all seiner Habe beraubt, seinen Versuch bereits aufgegeben (er sollte später zu neuen Zivilisationsversuchen nach Neuseeland gehen). Fuegia und York Minster waren, nachdem sie geheiratet hatten, durchgebrannt, hatten aber zuvor Jemmy Button alles gestohlen, was er besaß. Darwin berichtet folgende Episode: „Bald sahen wir ein kleines Canoe mit einer kleinen Flagge sich uns nähern, in dem einer der Leute sich die Farbe von seinem Gesicht abwusch. Dieser Mann war der arme Jemmy – jetzt ein magerer, elender Wilder mit langem unordentlichem Haar und nackt mit Ausnahme eines Stückchens Decke, das er um seine Lenden gebunden hatte. Wir erkannten ihn nicht wieder, bis er dicht bei uns war, denn er schämte sich über sich selbst und drehte dem Schiff den Rücken zu. Wir hatten ihn fett, rund, rein und gut
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bekleidet verlassen; ich habe niemals einen so vollständigen und traurigen Wechsel gesehen. Sobald er indes bekleidet und die erste Aufregung vorüber war, nahmen die Dinge ein ganz gutes Ansehen an. Er aß mit Kapitän FitzRoy zu Mittag und verzehrte seine Mahlzeit so reinlich wie früher. Er erzählte uns, er hätte ‚zu viel‘ (er meinte genug) zu essen, er fröre nicht, seine Verwandten seien sehr gute Leute, und er wünschte nicht, nach England zurückzugehen: Am Abend erkannten wir die Ursache dieser großen Änderungen in Jemmys Gefühlen bei der Ankunft seiner jungen, nett aussehenden Frau. [...] Er sagte, er habe ein Canoe für sich gebaut und rühmte sich, daß er etwas von seiner Muttersprache sprechen könne! Es war aber eine äußerst eigentümliche Tatsache, daß er seinem ganzen Stamm etwas Englisch gelehrt zu haben scheint [...] Jedermann an Bord war von Herzen traurig, ihm für das letzte Mal Lebewohl zu sagen.“ Von der „edlen Stellung“ des Menschen zu sprechen, war nun, nachdem man Menschen auf so niederem kulturellen Niveau kennengelernt hatte, in der Tat schwierig. „Ein ungezähmter Wilder“, schrieb Darwin im März 1833 an seine Schwester Caroline, „ist bestimmt das verwirrendste Schauspiel der Welt.“ Aber trotz aller Unterschiede der Rassen und Kulturen blieb die menschliche Art für Darwin eine Einheit. Er geriet nicht – wie viele seiner Zeitgenossen – in Versuchung, die „Trennlinie“ zwischen Mensch und Affe dadurch aufzulösen, daß man eine oder mehrere Menschengruppen als Trenn- oder Zwischenstufen einführte. Vielmehr gab ihm diese Erfahrung einen Hinweis darauf, wie breit auch innerhalb ein und derselben Art die Spanne der Veränderungen sein konnte. Aber seine Fahrt bot Darwin auch noch andere Anlässe, über den Menschen und die Zivilisation nachzudenken. In Buenos Aires gab es einen Aufstand, Banden von Soldaten wüteten in der Stadt; in Montevideo herrschte eine korrupte, ungebildete Schicht, und die Gewalt griff um sich; in Australien und Neuseeland ging die Zahl der Ureinwohner mehr und mehr zurück, weil die Neuankömmlinge sie dezimierten. In Argentinien wurde Darwin Zeuge des Vernichtungskrieges, den General Juán Manuel de Rosas gegen die Indianer führte. „Jedermann ist hier völlig davon überzeugt, daß dies der allergerechteste Krieg ist, weil er gegen Barbaren geführt wird. Wer würde glauben, daß in dieser Zeit solche Scheußlichkeiten in einem christlichen zivilisierten Lande begangen werden könnten? Die Kinder der Indianer werden erhalten, um als Diener oder vielmehr Sklaven verkauft oder weggegeben zu werden, und zwar für eine so lange Zeit, als die Besitzer dieselben glauben lassen können, daß sie Sklaven sind.“ In den spanischen Kolonien jedoch, so Darwin, würden die Sklaven stets besser behandelt als in den portugiesischen oder englischen. Über die Sklaverei empörte Darwin sich wohl am meisten. Diesem Thema widmet er einige der letzten Seiten seiner Reisetagebuchs. Am 19. August 1836 verläßt die Beagle Brasilien mit Kurs auf England, und Darwin notiert: „Ich danke Gott, daß ich nie wieder ein Sklavenland zu besuchen haben werde.“ Die Schilderung der Brutalität und der Grausamkeit, die er mitansehen mußte, wird hier zu einem Bekenntnis und einer Verurteilung zugleich: „Man male sich doch nur einmal selbst die Möglichkeit, die beständig über den armen Leuten schwebt, aus, daß Frauen und Kinder – diejenigen Gegenstände, welche die Natur selbst den Sklaven drängt, sein eigen zu nennen – von ihm gerissen und wie soviel Stück Vieh an den ersten besten Bieter verkauft werden! Und diese Handlungen werden von Leuten ausgeführt und verteidigt, welche bekennen, ihren Nächsten wie sich selbst zu lieben, welche an Gott glauben und welche beten, daß sein Wille auf Erden geschehe! Es macht unser Blut aufwallen und doch unser Herz erzittern, wenn wir bedenken, daß wir Engländer und unsere amerikanischen Nachkommen mit ihrem übermütigen Geschrei nach Freiheit so schuldbeladen sind: es ist indes ein Trost, sich sagen zu können, daß wir wenigstens ein größeres Opfer, als jemals von einer Nation, gebracht haben, um unsere Sünde gutzumachen.“ 1833 hatte das englische Parlament die Sklaverei verboten. Bevor wir nun aber Darwin wieder heimischen Boden betreten sehen, wollen wir uns noch einer Etappe seiner Reise zuwenden, die für die Entwicklung der künftigen Darwinschen Evolutionstheorie ganz besondere Bedeutung haben sollte. Am 17. September 1835 erreichte die Beagle die Insel Chatham (auf spanisch San Cristóbal) im Galapagos-Archipel, benannt nach den dort endemischen Schildkröten (spanisch galápagos). Es handelt sich um ein Dutzend Inseln vulkanischen Ursprungs, davon fünf größere, auf der Höhe des Äquators gelegen und ungefähr 700 Meilen östlich von Ecuador. Die Inselgruppe wurde 1832 von Ecuador annektiert, nachdem sie zunächst unter der Souveränität Spaniens und danach Englands gestanden hatte. Die Inseln liegen relativ nahe beieinander, und trotz ihrer geographischen Lage haben sie dank antarktischer Meeresströmungen, dar-
Darwin: Ein Leben für die Evolutionstheorie
Die drei Feuerländer an Bord der Beagle, Jemmy Button, York Minster und Fuegia Basket, nach einer Zeichnung von Kapitän FitzRoy
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Eine von James Colnett 1793 gezeichnete Karte der Galapagos-Inseln
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unter der sogenannte Humboldt-Strom, ein gemäßigtes Klima. So kommt es, wie Darwin erstaunt notierte, daß dort Pinguine, Seehunde, Seelöwen neben tropischen Vögeln, Leguanen, Schildkröten und Kakteen vorkommen. Soweit Darwin bekannt war, gab es keine eingeborene menschliche Population. Hier traf Darwin auf die berühmten Finken (eigentlich Ammern) und auf die mindestens ebenso berühmten Schildkröten. Bei diesen wiederum blieb ihm besonders ihr Geschmack im Gedächtnis: „Der Brustschild mit dem Fleisch daran geröstet [...] ist sehr gut; die jungen Schildkröten geben seine sehr gute Suppe; im übrigen aber ist das Fleisch meinem Geschmack nach nichtssagend.“ Er scheint jedoch nicht sofort die kleinen, aber deutlichen Unterschiede bemerkt zu haben, durch die sich die einzelnen Gruppen je nach ihrer Herkunftsinsel unterscheiden, obwohl er einen Hinweis dazu von Mr. Lawson, dem Vize-Gouverneur, erhielt, der „erklärte, die Schildkröten von den verschiedenen Inseln seien untereinander verschieden, und er könne mit Sicherheit sagen, von welcher Insel irgendeine hergebracht sei.“ Schon die Seeräuber, die diese Inseln seit dem Ende des 17. Jahrhunderts häufig aufgesucht hatten, waren auf die Schildkröten gestoßen, und auch die Walfänger, die hier während ihrer langen Jagdzüge Schutz fanden, plünderten die Inseln buchstäblich aus und nahmen die Schildkröten zu Hunderten als Frischfleischreserven auf ihre langen Fahrten mit. Kurz nach Darwin kam auch Herman Melville (1819 –1891) an Bord eines Walfängers auf die Galapagos-Inseln, und hier fand er Anregungen für seinen berühmten Roman Moby Dick. Um die Inseln, die man auch unter dem Namen Islas Encantadas kannte, rankten sich viele Märchen und Legenden, die nicht zuletzt durch die magische Atmosphäre angeregt wurden: Die Inselgruppe glich einer Halluzination, da sie durch die kräftigen Strömungen nicht leicht zu erreichen war und so manchmal ganz nahe zu sein schien, dann aber wieder unvermittelt verschwunden war. Die Seeleute glaubten, Schiffskapitäne würden im Moment ihres Todes in Schildkröten verwandelt. Anfangs richtete Darwin jedoch wenig Aufmerksamkeit darauf, die Schildkrötenarten zu unterscheiden, „und ich hatte bereits zum Teil die Sammlungen von zwei der Inseln untereinander gemengt. Es wäre mir doch nicht im Traume eingefallen, daß ungefähr fünfzig oder sechzig Meilen voneinander entfernt liegende Inseln, die meisten in Sicht voneinander, aus genau denselben Gesteinen bestehend, in einem ganz ähnlichen Klima gelegen und nahezu zu derselben Höhe sich erhebend, verschiedene Bewohner haben sollten; wir werden aber sofort sehen, daß dies der Fall ist. Es ist das Geschick der meisten Reisenden, sobald sie entdeckt haben, was an irgendeiner Lokalität das Interessanteste ist, von derselben eiligst fortgetrieben zu werden; ich muß aber gerade dafür dankbar sein, daß ich genügendes Material erhalten konnte, diese äußerst merkwürdige Tatsache in der Verbreitung der organischen Geschöpfe ermitteln zu können.“ Noch einmal macht Darwin also die Erfahrung, daß er das, was offensichtlich vor seinen Augen lag, nicht gesehen hatte – wie es auch auf der Expedition mit Sedgwick geschah, von der er in der Autobiographie berichtet hatte –; doch die von ihm gesammelten Materialien wurden, auch wenn sie in diesem Fall nicht fein säuberlich katalogisiert waren, nach der Heimkehr von Experten untersucht. Diese lieferten unter dem Eindruck ganz ähnlicher Resultate bei der Klassifikation der Exemplare von Leguanen und vor allem von Finken den Beweis dafür, daß es sich auch bei den Schildkröten um Organismen handelt, die zwar einander sehr ähnlich sind, aber offensichtlich doch in unterschiedliche Arten aufgeteilt werden können, deren jede für eine bestimmte Insel charakteristisch ist.
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Über die Finken schrieb Darwin in seinen Notizen (Ornithological Notes): „Wenn ich diese Inseln betrachte, alle in Sichtweite zueinander und jede nur im Besitz eines kärglichen Bestandes an Tieren, die sich nur in ihrer Struktur unterscheiden und die gleiche Stellung in der Natur einnehmen, dann komme ich zu dem Schluß, daß es sich nur um Varietäten handelt. [...] Wenn auch nur ein geringes Fundament für diese Beobachtungen existiert, dann muß die Zoologie des Archipels noch einmal untersucht werden; denn diese Tatsache könnte die Stabilität der Arten gefährden.“ Darwin neigte also dazu, die nur geringfügig unterschiedlichen Individuen auf den verschiedenen Inseln als Varietäten ein und derselben Art zu betrachten, und betonte auch ihre Ähnlichkeit mit anderen, auf dem Kontinent beobachteten Arten; aber dies widersprach zunächst noch nicht der traditionellen Interpretation. Auch Lyell neigte ja dazu, eine gewisse Flexibilität der Arten anzunehmen; er hielt sie für notwendig, um den Arten eine Verteilung um ihr „Schöpfungszentrum“ zu ermöglichen. Was Darwins Haltung in dieser Frage betrifft, gehen die Meinungen der Wissenschaftshistoriker auseinander: Die einen glauben, Darwin habe auf seiner Reise noch keine „Offenbarung“ über die Transmutation der Arten gehabt; nichts habe ihn veranlaßt, an etwas wie eine Evolution zu denken – fand er doch interessante, aber keineswegs problematische Variationen zwischen Gruppen. Andere hingegen sind der Ansicht, er habe sofort diejenigen Elemente erkannt, die für einen Wandel der Arten sprechen und so den Schluß zulassen, daß es eine andere kausale Erklärung für dessen Ursprung geben muß. Wir wollen hier aber keine historische Analyse vornehmen, so wichtig sie auch sein mag. Wir stützen uns auf die Aussagen von Darwin selbst in der Reise eines Naturforschers; aus ihnen geht klar hervor, welch große Bedeutung die Galapagos-Inseln für seine spätere Evolutionstheorie hatten. Man muß allerdings wissen, daß Darwin Teile seines Reiseberichts für die Neuauflage von 1845 überarbeitete und das Kapitel über die Galapagos-Inseln dabei beträchtlich verändert hat. Er war nicht so sehr darauf bedacht, einen historischen Bericht darüber abzugeben, was er bereits während seiner Reise erkannt hatte; vielmehr wollte er formulieren, was er mittlerweile dachte und was er glaubte, im Jahr 1845 öffentlich sagen zu können. Er befand sich nämlich zu diesem Zeitpunkt erst in der Mitte des langen Zeitabschnitts, der zwischen seiner Rückkehr nach England Ende 1836 und der Veröffentlichung der Entstehung der Arten 1859 lag; in dieser Zeit hatte er eine immense Menge an theoretischen und praktischen Arbeiten zu bewältigen, um zu einem Umriß seiner Vorstellungen von der Evolution zu gelangen. „Die Naturgeschichte dieser Inseln“, schreibt Darwin, „ist in hohem Grade merkwürdig und verdient sehr wohl der Aufmerksamkeit. Die meisten organischen Erzeugnisse sind eingeborene Schöpfungen, die sich nirgendwo anders finden; es besteht sogar eine Verschiedenheit zwischen den Bewohnern der verschiedenen Inseln; doch zeigen alle eine ausgesprochene Verwandtschaft mit denen von Amerika, obschon sie von diesem Kontinent durch
Darwin: Ein Leben für die Evolutionstheorie
Oben: Die Mimikry eines Leguans (Conolophus subcristatus) Unten: Eine Galapagos-Riesenschildkröte (Geochelone elephantopus) auf der Insel Isabel
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Die 14 Arten von Darwin-Finken, von denen 13 auf dem Galapagos-Archipel beheimatet sind
ein Stück offenen Meeres von 500 bis 600 Meilen Breite getrennt sind. Der Archipel ist eine kleine Welt für sich, oder vielmehr ein Amerika angehängter Satellit; von dort hat er einige verstreute Kolonisten herbezogen und den allgemeinen Charakter seiner eingeborenen Erzeugnisse erhalten. Bedenkt man die unbedeutende Größe dieser Inseln, so fühlt man sich nur um so mehr über die Zahl ihrer einheimischen Geschöpfe und über ihren beschränkten Verbreitungsbezirk überrascht. Wenn man sieht, daß jede Höhe von einem Krater gekrönt wird und daß die Verbreitungsgrenzen der meisten Lavaströme noch ganz deutlich sind, so werden wir zu der Annahme geführt, daß sich innerhalb einer, geologisch genommen, rezenten Periode hier noch der Ozean ununterbrochen ausbreitete. Wir scheinen daher in beiden Beziehungen, sowohl im Raume als auch in der Zeit, jener großen Tatsache – jenem Geheimnis aller Geheimnisse –, dem ersten Erscheinen neuer lebender Wesen auf der Erde, näher gebracht zu werden.“ Nun folgt eine äußerst penible Zusammenstellung der verschiedenen Vogelarten, unter ihnen „eine äußerst eigentümliche Gruppe von Finken, welche in der Struktur ihrer Schnäbel, den kurzen Schwingen, der Form des Körpers und dem Gefieder miteinander verwandt sind; es sind dreizehn Spezies, welche Mr. Gould in vier Untergruppen verteilt hat. Alle diese Spezies sind diesem Archipel eigentümlich; dasselbe ist auch mit der ganzen Gruppe der Fall [...]. Die merkwürdigste Tatsache ist die vollkommene Abstufung in der Größe des Schnabels bei den verschiedenen Arten [...]. Wenn man diese Abstufung und Verschiedenartigkeit der Struktur in einer kleinen, nahe untereinander verwandten Gruppe von Vögeln sieht, so kann man sich wirklich vorstellen, daß in Folge einer ursprünglichen Armut an Vögeln auf diesem Archipel die eine Spezies hergenommen und zu verschiedenen Zwecken modifiziert worden sei.“
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Bei dem erwähnten „Mr. Gould“ handelt es sich um John Gould (1804 –1881), einen der bedeutendsten Ornithologen des 19. Jahrhunderts, Tierpräparator bei der Zoological Society und Zeichner wunderbarer Tafeln mit Motiven aus dem Naturreich. Ihm vertraute Darwin seine Vogelsammlungen an. Von den Ergebnissen seiner Klassifizierungen leitete Darwin die eigenen Fragen ab – oder wurde besser gesagt darin bestätigt. „Warum sind auf diesen kleinen Stückchen Land, welche noch in einer späten geologischen Periode vom Ozean bedeckt gewesen sein müssen, welche aus basaltischer Lava bestehen und daher in ihrem geologischen Charakter vom amerikanischen Kontinent verschieden sind und auch ein eigentümliches Klima besitzen, – warum sind hier die eingeborenen Bewohner, die, wie ich noch hinzufügen will, der Art und der Zahl nach in von den auf dem Kontinent zu treffenden verschiedenen Verhältnissen miteinander vergesellschaftet sind, nach amerikanischen Organisationstypen erschaffen?“ Die Ungereimtheiten einer kreationistischen Erklärung traten nun immer mehr zutage, und im Deutungsrahmen von Raum und Zeit – geographische Verteilung und geologische Zeitspannen – deutete sich eine Lösung für das „Geheimnis aller Geheimnisse“ an. Aber Darwin drückte sich vorsichtig aus. Wir haben eben gesehen, daß er sich fragte, wie in strukturell vom Kontinent so verschiedenen Inseln dennoch Tiere „erschaffen“ worden sein könnten, die denen auf dem Kontinent so ähnlich waren. Doch auch andere Zweifel stiegen in ihm auf. „Die Verbreitung der Bewohner dieses Archipels würde auch nicht annähernd so wunderbar sein, wenn beispielsweise die eine Insel eine Spottdrossel und eine zweite Insel irgendeine andere davon ganz verschiedene Gattung hätte; – wenn die eine Insel ihre besondere Gattung von Eidechsen und eine zweite eine andere verschiedene Gattung oder gar keine [hätte] [...]. Das, was mich mit Verwunderung erfüllt, ist gerade der Umstand, daß mehrere der Inseln ihre besonderen eigenen Spezies von Schildkröte, Spottdrossel, Finken und zahlreichen Pflanzen besitzen, während doch diese Arten [...] dieselben Stellen in dem Naturhaushalt des Archipels ausfüllen. Man könnte vielleicht vermuten, daß einige dieser repräsentativen Arten, wenigstens was die Schildkröten und einige Formen der Vögel betrifft, sich später nur als gut markierte Rassen herausstellen dürften: dies dürfte für den philosophisch die Erscheinungen auffassenden Naturforscher von ganz gleich großem Interesse sein.“ Am Sonntag, dem 2. Oktober 1836, erreichte die Beagle England. Darwin machte sich sofort in einer Kutsche auf den Weg nach Shrewsbury. Während seiner Fahrt auf der Beagle hatte er 770 Seiten Tagebuch, 1383 Seiten mit geologischen und 368 Seiten mit zoologischen Anmerkungen geschrieben. Die Mannschaft an Bord hatte ihm den Spitznamen „der Philosoph“ gegeben. Er hatte 1529 in Alkohol konservierte Exemplare von Tierarten gesammelt; er brachte 3907 Felle, Knochen und sonstige trockene Objekte mit, nicht zu vergessen die kleine Schildkröte, die er auf den Galapagos-Inseln gefangen hatte und die nun schon fünf Zentimeter gewachsen war. ❑
Darwin: Ein Leben für die Evolutionstheorie
Ströme von sogenannter Stricklava in der Sullivan Bay auf der Insel San Salvador
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Die Rückkehr: „Meine Theorie“ entsteht Die auf der Reise gesammelten Materialien vertraut Darwin Experten an und beginnt seine „Notizbücher“ zu verfassen. Darin gebraucht er wiederholt den Ausdruck „my theory“, geht aber damit noch nicht an die Öffentlichkeit.
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Die vorletzte Seite aus dem Tagebuch, das Darwin während seiner Fahrt auf der Beagle führte
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m 4. Oktober kam Darwin spätnachts in Shrewsbury an. Man kann sich unschwer vorstellen, wie freudig ihn seine Schwestern und der Vater zu Hause empfingen. Die lange Reise hatte ihn verändert. „Daß sich mein Verstand,“ so schrieb er später in seiner Autobiographie, „infolge meiner Bestrebungen während der Reise entwickelt hat, wird durch eine Bemerkung verdeutlicht, die mein Vater machte, der der scharfsinnigste Beobachter war, den ich je gesehen habe, von skeptischer Einstellung und weit davon entfernt, an Phrenologie zu glauben; denn als er mich nach der Reise zum ersten Male sah, drehte er sich zu meinen Schwestern um und sagte: ‚Ei, die Gestalt seines Kopfes ist ganz anders geworden.‘“ Darwin gönnte sich keine lange Pause und reiste kurz darauf wieder ab. Er fuhr nach Cambridge, um Henslow zu begrüßen, und dann weiter nach London. Dort traf er zum ersten Mal Lyell und Owen und knüpfte Kontakte, um seine Sammlungen Fachleuten für biologische Klassifikation anzuvertrauen. Henslow übernahm die Pflanzen, Leonard Jenyns die Fische, F. H. Hope die Käfer, M. I. Berkeley die Pilze, Owen die fossilen Knochen, George Waterhouse die Säugetiere und einen Teil der Insekten, Thomas Bell die Reptilien, William Londsdale die Korallen, C. G. Ehrenberg die Infusorien und John Gould die Vögel. Im Februar 1837 verwendete Lyell in einem Vortrag als Präsident der Geological Society bereits Owens erste Daten über die Fossilien aus Südamerika. Darwin, der nun auch Mitglied der Gesellschaft geworden war und schon an einer kleinen Konferenz zu einem geologischen Thema teilgenommen hatte, assistierte ihm. Die Affinität zwischen ausgestorbenen und noch lebenden Arten, die aus den Arbeiten über die Fossilien klar hervorging, wurde von Lyell als eine „Aufeinanderfolge von Arten“ interpretiert und als Unterstützung für seine uniformistischen Thesen herangezogen: Die Tatsache, daß es sich bei den von Darwin gefundenen Fossilien um bisher unbekannte und für Südamerika typische Formen handelte, zeige, daß schon seit langen Zeiten jeder Kontinent von Formen bewohnt sei, die perfekt an die örtlichen Gegebenheiten angepaßt seien und die im Grunde ihre charakteristische Struktur beibehalten hätten. Owen sprach hierbei von der „Persistenz des Typs“.
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Im folgenden Monat lernte Darwin die Schlußfolgerungen kennen, zu denen Gould gelangt war. Die Finken und auch die Spottdrosseln von den Galapagos-Inseln gehörten unterschiedlichen, wenn auch eng verwandten Arten an. Gewisse Merkmale wie die Form des Schnabels variierten graduell, wodurch die Spezies der einen Insel sich von derjenigen einer anderen Insel abhob. Der isolierte Lebensraum mußte ganz offensichtlich bei dieser Differenzierung eine Rolle gespielt haben, wobei trotz allem die Ähnlichkeit dieser Arten mit denjenigen des Kontinents bestehen blieb. Darwin zog unterdessen nach London um, wo bereits sein Bruder Erasmus lebte; dort konnte er aus nächster Nähe verfolgen, welchen Verlauf die Untersuchung seiner Sammlungen nahm. Nun begann er mit der Bearbeitung seiner Reiseaufzeichnungen, mit der er bis September 1837 beschäftigt war. Sie wurden nach einer Reihe von Verzögerungen 1839 zunächst gemeinsam mit denen von FitzRoy veröffentlicht sowie wenige Monate danach separat unter dem Titel Journal of Researches into the Geology and Natural History of the Various Countries Visited by H.M.S. Beagle; 1845 erschien eine weitere, neu überarbeitete Auflage, die unter dem Titel Reise eines Naturforschers um die Welt bekannt wurde. Im Lauf desselben Jahres fing Darwin auch an, seine Notizbücher (Notebooks) zu schreiben. „Im Juli“, so schildert er in seiner Autobiographie, „begann ich mein erstes Notizbuch für Tatsachen in bezug auf den Ursprung der Arten, worüber ich lange nachgedacht hatte, und hörte während der nächsten zwanzig Jahre nicht auf, daran zu arbeiten.“ Das erste Notizbuch mit der Bezeichnung A, in dem es hauptsächlich um Geologie ging, ist fast vollständig verloren gegangen; die Notizbücher B, C, D und E, die man die Notizbücher über die Transmutation der Arten nennt, wurden zwischen Juli 1837 und Juli 1839 geschrieben. Darwin machte nun einen Sprung zu den Buchstaben M und N, mit denen er die bereits erwähnten Notizbücher über den Menschen, den Geist und den Materialismus (Notebooks on Man, Mind and Materialism) bezeichnete; sie wurden ähnlich wie die vorangegangenen zwischen Juli 1838 und Juli 1839 geschrieben. Ab einem gewissen Punkt hörte Darwin auf, Aufzeichnungen über die menschliche Art und die enge Verbindung zwischen Mensch und Tier von generellen Notizen über die Transmutation der Arten zu unterscheiden. Wie wenig Darwin hier eine Trennlinie zog, zeigt sich schon darin, daß diese beiden Themen auch in den Notizbüchern vor dem Juli 1838 behandelt werden; auch wird der Mensch häufig in den Notizbüchern über die Transmutation und nach und nach dann am Anfang der Notizbücher M und N zum Gegenstand der Reflexion. Ferner machte sich Darwin daran, einen vollständigen Bericht über die gesamten Arbeiten der einzelnen Spezialisten zu seinen Sammlungen herauszugeben; dank der Unterstützung Henslows erhielt er für dieses Projekt eine Förderung aus der Staatskasse in Höhe von 1000 Pfund. Das Werk, das in den Jahren 1838 bis 1843 erschien, trägt den Titel The Zoology of the Voyage of H.M.S. Beagle und besteht aus fünf Teilen, die sich den fossilen Säugetieren (Owen), den Säugetieren (Waterhouse), den Vögeln (Gould), den Fischen (Jenyns) und den Reptilien (Bell) widmen. Dieses Projekt vereinnahmte Darwin nicht wenig, aber dennoch fing er gleichzeitig an, sein Buch über Geologie zu schreiben. 1838 wurde Darwin, der sich nun Whewells Drängen nicht mehr entziehen konnte, Sekretär der Geological Society (bei der Entomological Society hatte er diesen Posten bereits inne). Während seiner Zeit als Sekretär wurde seinem alten Lehrer aus Edinburgh, Grant, wegen dessen lamarckistischen Ideen sozusagen der Prozeß gemacht. Grant behauptete, das Opossum, das älteste bekannte Säugetier, sei in Wirklichkeit ein Reptil. Dabei stützte er sich auf die Tatsache, daß bei Oxford in sehr altem Gestein ein fossiler Unterkiefer gefunden worden war; daraus könne man schließen, daß es bereits damals Säugetiere gegeben haben
Darwin: Ein Leben für die Evolutionstheorie
Vogelpärchen von den Galapagos-Inseln in einer Zeichnung von John Gould aus der „Zoology of the Voyage of H.M.S. Beagle“
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In diesem Stammbaum, der auf den 21. April 1868 datiert ist, skizziert Darwin die Beziehung zwischen dem Menschen und den anderen Primaten.
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müsse. Grant deutete dies als einen Fortschritt von niedereren zu höheren Formen. Aber genau das ist für einen Kreationisten nicht akzeptabel: Die Säugetiere können in jedem Moment erschaffen worden sein, und zwar in einer Gestalt, die bereits perfekt an die Gegebenheiten angepaßt ist. Fortschritt ist eine Irrlehre der Lamarckisten. Darwin trat nicht an die Öffentlichkeit. In seinen Anmerkungen zitiert er öfters Lamarck und geht so weit, ihn als „prophetischen Geist in der Wissenschaft“ zu bezeichnen. Aber im Grunde neigt Darwin dazu, sich von Lamarck zu distanzieren. „Meine Theorie ist sehr verschieden von der Lamarcks“, schreibt er in Notizbuch B. Und „my theory“ wird von nun an zu einem immer wieder verwendeten Ausdruck. Nun existiert also eine Darwinsche Theorie, aber Darwin hat beschlossen, sie privat zu halten – ja sehr privat sogar, und zwar so lange, bis er auf alle noch ungelösten Fragen eine befriedigende Antwort finden würde. Wer die Transmutation verteidigt, läuft Gefahr, scharf angegriffen zu werden. Grant ist eines von vielen Beispielen. Darwin weiß, daß Grant sich irrt – das Opossum ist kein Reptil –, aber er weiß auch, daß Grant recht hat, wenn er die Theorie einer Transformation der Arten im langen Lauf der Naturgeschichte vertritt. Der gefundene Unterkiefer stammt von einem alten Säugetier, „dem Vater aller Säugetiere lange vergangener Zeiten“, schreibt er in Notizbuch B, und hier finden wir auch eine Skizze, die ungefähr einem Baum gleicht: „Die organisierten Wesen stellen einen Baum dar, mit unregelmäßigen Verzweigungen. Manche Zweige sind häufiger verzweigt – hieraus die Gattungen. So viele Endknospen, wie sterben, entstehen auch wieder neu. Am Tod von Arten ist nichts außergewöhnlicher als am Tod von Individuen.“ Und dieses Bild verwendet Darwin weiter: „Der Baum des Lebens sollte vielleicht eher Koralle des Lebens genannt werden, auf der Grundlage toter Zweige. So daß keine Übergänge sichtbar sind.“ An die Stelle des alten, vorherrschenden Bildes der scala naturae oder der Kette der Lebewesen, das für den Kreationismus so passend und funktional ist, setzt Darwin nun dieses neue Bild; es ist zwar in Wirklichkeit gar nicht so neu, gerät aber hier zum Emblem für eine neue Konzeption der lebendigen Welt. Der traditionell zur Darstellung familiärer Abstammung verwendete Baum wird zu einem prägnanten theoretischen Bild, das die Entfaltung des Lebens, seine Differenzierung durch Verästelungen darstellen soll – nicht nur im Raum, sondern auch und vor allem in der Zeit. Der Baum veranschaulicht und begründet durch seinen einheitlichen Ursprung den historischen Prozeß der Evolution. Durch ihn läßt sich die Theorie einer auf Modifizierungen basierenden Deszendenz – oder wie man allgemeiner zu sagen pflegt: die Evolutionstheorie – versinnbildlichen. Darwin denkt in seinen Aufzeichnungen weiter über die Lebensdauer von Arten nach, über die Notwendigkeit des Aussterbens, die sexuelle Reproduktion, die Mischung von Merkmalen infolge der Paarung und die „Widerwärtigkeit“ von Kreuzungen. Er skizziert einen weiteren Baum, bei dem er vor allem die Unregelmäßigkeit der Verästelungen hervorhebt. Dann wieder beschäftigt er sich mit den Instinkten, mit dem Einfluß der Umweltbedingungen, mit den Gewohnheiten – denjenigen, die zu Instinkten werden, und denjenigen, die oft der organismischen Struktur vorausgehen –, mit der Vererbung, auch mit der Erblichkeit des Geistes, mit der Neigung zur Veränderung. Lamarck ist hier ohne Frage präsent, aber Darwin präzisiert: „Die Veränderungen sind nicht das Ergebnis des Willens der Tiere, sondern eines Gesetzes der Anpassung, wie Säure und Base.“ Und später: „Lamarcks Wille, absurd. Nicht übertragbar auf Pflanzen.“ Darwin gesteht sich dadurch ein, daß seine Theorie nicht mit Lamarck in Einklang steht, und von den Positionen der Kreationisten hat er sich nun unwiederbringlich verabschiedet. Seine Notizen lassen keinen Zweifel: „Um zu vermeiden, klar zu sagen, wie sehr ich an den Materialismus glaube, sage ich nur, daß Emotionen, Instinkte, Grade von Intelligenz, die erblich sind, dieses sind, weil das Gehirn eines Kindes seinen Vorfahren ähnelt. (Und die Phrenologen sagen, daß das Gehirn sich verändert.)“ Ausdrücklich polemisiert er gegen die Naturtheologen: „Wir können es Trabanten, Planeten, Sonnen, dem Universum, ja ganzen
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Darwin, Lyell und Hooker auf einem Gemälde, das sich im Royal College of Surgeons in London befindet
Systemen von Universen zugestehen, von Gesetzen bestimmt zu sein, aber beim kleinsten Insekt wollen wir, daß es in einem Augenblick durch einen besonderen Akt geschaffen wurde, versehen mit seinen Instinkten, seiner Stellung in der Natur, seinem Lebensraum.“ Auch den Irrtum des Anthropozentrismus greift er scharf an: „Daß die Umstände den Bienen ihren Instinkt gegeben haben, ist nicht weniger wunderlich, als daß sie dem Menschen den Intellekt gegeben haben.“ Darwin wagte sich nun schon an die Grenze des Vorstellbaren. Jetzt eine Publikation zu wagen, wäre Wahnsinn gewesen – sowohl angesichts seiner sozialen und politischen Beziehungen als auch hinsichtlich der wissenschaftlichen Theorie, die er nun eifrig aufzubauen suchte. Denn einerseits gab es den Kreationismus, und wie sehr er sich vor dessen Vertretern hüten mußte, wußte Darwin sehr wohl. Es überrascht nicht, wenn er sich in den Notebooks die Verfolgung der ersten Astronomen ins Gedächtnis ruft. Gerade hatte Whewell in seiner Geschichte der induktiven Wissenschaften (1837) von neuem über die heliozentrische „Häresie“ gesprochen, über die Urteile der Inquisition, durch die Galilei zum Schweigen gebracht wurde und Giordano Bruno gar auf dem Scheiterhaufen sterben mußte. Whewell sprach mit Geringschätzung über Galilei und Bruno und warf ihnen Arroganz vor, während er in sanftem Ton die Vorgehensweise der Inquisitoren rechtfertigte, die in maßvoller Weise, und nur von den Umständen gezwungen, eingeschritten seien. Auf der anderen Seite gab es den Lamarckismus (oder das, was sich selbst Lamarckismus nannte und was Darwin, von Lyell geprägt, als solchen ansah): Voluntarismus, innerer Antrieb, Begehren, Fortschritt. Den Lamarckismus, der sich in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung – man denke nur an Grant! – nicht durchzusetzen vermochte, hatten sich Radikale zu eigen gemacht, weil er gut zu ihren Vorstellungen von natürlicher Selbstentwicklung und Fortschritt paßte; und diese Radikalen waren antiklerikal und materialistisch. Sie kämpften für Reformen, aber von extremistischen Positionen aus. Sie wiegelten die Massen auf, die sich in jener Periode schwerster Wirtschaftskrisen besonders leicht aufhetzen ließen. Es war die Zeit der Maschinenstürmerei: Den Maschinen schrieb man die Schuld an der wachsenden Arbeitslosigkeit zu. Die Radikalen förderten diesen Aufruhr und suchten die Umsetzung der Poor Law Emendment Bill zu verhindern; diese Novelle des sogenannten Armengesetzes wurde von den Whigs unterstützt und beseitigte praktisch jede Form von staatlicher Unterstützung für die Armen, wodurch es zu einem aggressiven Wettbewerb um Arbeitsplätze kam. Auch Darwin war ein Whig, entstammte der wohlhabenden Schicht und dachte nicht daran, seine Privilegien aufzugeben. Er konnte nicht riskieren, daß seine Ideen über die Transformation der Arten zu politischen Zwecken mißbraucht würden. Die Radikalen waren überdies auch Anti-Malthusianer, und gerade eben war Darwin bei Malthus auf eine wichtige Interpretationshilfe für einige seiner Probleme gestoßen. ❑
Darwin: Ein Leben für die Evolutionstheorie
Der Stich von Gustave Doré zeigt ein Armenviertel in London.
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Der Kampf ums Dasein: eine Idee, mit der man arbeiten kann Nachdem Darwin zu dem Schluß gekommen ist, daß die Arten sich graduell verändern, muß er die erstaunliche Anpassung an die Umwelt erklären. Durch Malthus gelangt er zur Analogie zwischen künstlicher und natürlicher Zuchtwahl.
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us Darwins Autobiographie wissen wir, daß er im Oktober 1838 An Essay on the Principle of Population (Essay über das Gesetz der Bevölkerungsentwicklung) von Reverend Thomas Robert Malthus (1766 –1834) gelesen hat. Um genau zu sein: Zwischen dem 28. September und dem 3. Oktober las Darwin die sechste Auflage aus dem Jahr 1826, die gegenüber der Erstauflage von 1798 wichtige Veränderungen enthielt. Die Lehre von Malthus dürfte Darwin aber gleichwohl schon vor diesem Zeitpunkt nicht unbekannt gewesen sein, zumal seit langer Zeit eine öffentliche Debatte über die Bevölkerungsentwicklung geführt wurde sowie über demographische und soziale Maßnahmen zur Verbesserung der miserablen Lage der Arbeiterschaft. Auch in Darwins Familie waren derlei Themen diskutiert worden. Nicht nur die von der oberen Mittelschicht erwarteten Steuererleichterungen waren für die Darwins von ureigenstem Interesse, insbesondere für Charles selbst, dessen finanzielle Lage von einem Kapital abhing, das sein Vater umsichtig angelegt hatte; der Bruder von Charles, Erasmus, unterhielt damals auch intensiven Kontakt zu der Schriftstellerin Harriet Martineau, die von ihren Gegnern nicht ohne Grund als „Malthusianerin“ bezeichnet wurde. Harriet Martineau kannte Malthus persönlich – manche mitleidslosen Historiker berichten, daß die beiden, obwohl sie schwerhörig war und er eine Hasenscharte hatte, einander letztlich doch verstanden –, und von seinen Ideen ausgehend verfaßte sie eine beträchtliche Anzahl kleiner Schriften und populärer Romane, die großen Erfolg hatten. Einige davon kursierten sogar auf der Beagle. Harriet Martineau war eine Persönlichkeit, die auch in der Politik einiges Gewicht besaß. Sie wurde vornehmlich von den Whigs unterstützt, denen jeder propagandistische Beitrag gegen das ihnen verhaßte „Armengesetz“ sehr gelegen kam. Darwin selbst beschreibt in der Autobiographie, welche Rolle Malthus in dieser Phase der Arbeit an der Evolutionstheorie für ihn spielte. Dort wirft er an einer Stelle nochmals einen Blick auf seine Entwicklung bis zu diesem Punkt und erklärt dann, wie er zu der Schlußfolgerung gelangte, daß das auf der Beagle gesammelte Material sich deuten ließ, wenn man annahm, daß die Arten sich graduell verändern. Dies gelinge nur, wenn man „die zahllosen Fälle erklären konnte, in denen Organismen aller Art ihrer Lebensweise wunderbar angepaßt sind“. Die perfekten Anpassungen – traditionell eine Voraussetzung der Naturtheologie – verlangten nun ihrerseits nach einer Erklärung. Zu diesem Zweck trug Darwin „nach echten Baconschen Grundsätzen“ und „ohne irgendeine Theorie“ möglichst viele Tatsachen über die Variation von Tieren und Pflanzen in der Natur zusammen – vor allem aber in domestiziertem
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Zustand. Er sammelte eine riesige Menge an Daten über Tauben, Hunde, Pferde und allerlei sonstige zahme Tiere, indem er sich systematisch, unter anderem durch gedruckte Fragebögen, an Tierzüchter und Gärtner wandte. Die bekannte Vorliebe der Engländer für Tiere und Gärten hatte auf diesem Gebiet ein besonders fruchtbares und auch wirtschaftlich gewinnbringendes Betätigungsfeld gefunden, und auch Darwin selbst züchtete bald Tauben und später auch andere Vögel zu Studienzwecken. Er machte darüber Aufzeichnungen und gelangte zu der Frage, wie das Auge des Kenners eine riesige Fülle unmerklicher Variationen zwischen Individuen derselben Rasse auszumachen vermag, um die für seine Zwecke günstigsten auszuwählen und dann die jeweiligen Merkmale durch gezielte Paarung zu bewahren. „Ich nahm bald wahr, daß Zuchtwahl der Schlüssel zum Erfolg des Menschen beim Hervorbringen nützlicher Rassen von Tieren und Pflanzen ist.“ Was ihn anfangs faszinierte, war vor allem der Variationsmechanismus, und vermutlich erst dann erkannte er klar die Analogie, die sich zwischen der vom Züchter vorgenommenen Selektion und der in der Natur stattfindenden herstellen läßt. Mit Sicherheit wurde ihm diese Analogie deutlich, als er das letzte seiner Notizbücher verfaßte. Dort schreibt er: „Es ist ein schöner Teil meiner Theorie, daß domestizierte Rassen von Organismen durch genau die gleichen Mittel wie die Arten entstehen – aber letztere in viel größerem Maße perfekt und unendlich viel langsamer.“ Zuvor gab es aber noch eine Phase, in der es Darwin nicht klar war, „wie [...] Zuchtwahl auf Organismen angewendet werden könne, die im Naturzustand leben.“ Zu diesem Zeitpunkt las Darwin das Buch von Malthus, „und da ich hinreichend darauf vorbereitet war, den überall stattfindenden Kampf um die Existenz zu würdigen, namentlich durch lange fortgesetzte Beobachtung der Lebensweise von Tieren und Pflanzen, kam mir sofort der Gedanke, daß unter solchen Umständen günstige Abänderungen dazu neigen, erhalten zu werden, und ungünstige, zerstört zu werden. Das Resultat hiervon würde die Bildung neuer Arten sein. Hier hatte ich nun endlich eine Theorie, mit der ich arbeiten konnte; ich war aber so ängstlich darauf bedacht, jegliche Voreingenommenheit zu vermeiden, daß ich mich entschloß, eine Zeitlang auch nicht einmal die kürzeste Skizze davon niederzuschreiben.“ Hier kommt eine Art Neuordnung von Darwins Sichtweise zum Vorschein, und es gibt umfangreiche Sekundärliteratur, die sich mit dieser Phase beschäftigt; historisch gesehen entwickelte sich die Theorie, durch die Darwin zur natürlichen Selektion gelangte, tatsächlich erst, nachdem er bei Malthus die These von der unvermeidlichen Kluft zwischen Zuwachsrate der Bevölkerung und Zunahme der Ressourcen gefunden hatte. Was Darwin selbst gewissermaßen als eine unvermittelte Intuition seines dafür schon sensibilisierten Geistes beschreibt, konnte nur durch eine komplexe Wechselwirkung zwischen verschiedenen Elementen entstehen: Variation, Erblichkeit, sexuelle Reproduktion, Isolation, Sterilität, Unterscheidung zwischen Varietäten und Arten, natürliche Selektion, Deszendenz, Anpassung, Analogie zwischen natürlicher und künstlicher Selektion. Einige dieser Elemente hatten bereits ihren Platz auf dem Gebiet gefunden, an dem Darwin in dieser Zeit arbeitete; andere traten allmählich an die Stelle zuvor noch ungelöster Fragen, die sich aber dank Malthus nun einer Lösung näherten. Wir wollen uns hier nicht auf die abenteuerliche Puzzle-Arbeit einlassen, mit der die Wissenschaftshistoriker aus Notizen, Briefen (ungefähr 14 000 hat Darwin geschrieben und erhalten), Zeitungsartikeln, Besprechungen und Zusammenkünften das Entstehen der Darwinschen Theorie in dieser besonders interessanten Phase zu rekonstruieren suchen. Andererseits möchten wir klarstellen, daß das bislang aus der Autobiographie Zitierte nicht einfach mit naivem Vertrauen in das, was ein Wissenschaftler – in diesem Fall Darwin – über sich sagt, für bare Münze genommen werden sollte: Natürlich darf man eine Autobiographie nicht als unwi-
Darwin: Ein Leben für die Evolutionstheorie
Titelblatt der ersten Auflage von Jonathan Swifts Satire „Ein bescheidener Vorschlag“
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Kinderarbeit im England des 17. Jahrhunderts
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derlegbares Dokument betrachten. Aber gerade aus der relativen Unzuverlässigkeit können wir – neben der Art des Autors, sich auszudrükken, und der wohlüberlegten Auswahl derjenigen Aspekte, über die er spricht – wichtige indirekte Hinweise ableiten. Daß Darwin zum Beispiel ausdrücklich schreibt, das „Baconsche“ Methodenideal habe ihn auf seiner Suche geleitet, ist bewußt gewollt und soll bekräftigen, daß sein Vorgehen durchaus mit dem zeitgenössischen Wissenschaftskonzept induktiven Schließens übereinstimmte. Auch über diesen Punkt gibt es eine Reihe von Forschungsarbeiten, die widerlegen, daß die Darwinsche Methode tatsächlich auf der induktiven Vorgehensweise, also dem absolut vorurteilsfreien Ausgehen von beobachteten „Tatsachen“ beruhe. Wir werden im folgenden noch Gelegenheit haben, einige wissenschaftstheoretische Aspekte der Darwinschen Theorie anzusprechen. Im Augenblick wollen wir lediglich unterstreichen, daß Darwin der Meinung war – oder zumindest die Behauptung für nötig hielt –, er habe bei seinem Vorgehen eine bestimmte Regel befolgt. Was nun die wirkliche Struktur seiner Theorie in diesen Jahren des Nachdenkens, Ausarbeitens und Forschens nach neuen Daten angeht, wollen wir uns einstweilen mit Darwins zurückhaltenden Hinweisen abfinden. Betrachten wir statt dessen, wie Darwin durch Malthus darauf gebracht wurde, seine Aufmerksamkeit auf die Idee eines „Kampfes ums Dasein“ zu konzentrieren. Diese Idee war ihm wohlbekannt, da sie in den Schriften zahlreicher Naturforscher von Linné über Lamarck bis selbst zu Lyell zu finden war; aber nun konnte Darwin sie als ein natürliches Äquivalent zur künstlichen Selektion begreifen, so daß er zur Formulierung jener Theorie der natürlichen Auslese gelangte, an der er 20 weitere Jahre arbeiten sollte. Malthus war – wie bereits gesagt – für die Whigs eine wichtige Inspirationsquelle in der Frage, wie man die Fürsorgepolitik für die armen Schichten reformieren solle. Er lehrte als Professor für Geschichte und politische Ökonomie am Haileybury College, einer von der East India Company für die Ausbildung ihrer jungen Mitarbeiter gegründeten Einrichtung. Seinen berühmten Essay über das Gesetz der Bevölkerungsentwicklung, in Hinsicht auf die künftige Verbesserung der Gesellschaft, mit Anmerkungen zu den Spekulationen von Mr. Godwin, Mr. Condorcet und anderer Autoren schrieb er im Jahr 1798, wenige Jahre nach der Französischen Revolution. Offen polemisierte er darin gegen Utopisten und Fortschrittsphilosophen, die die These von der Vervollkommnung des Menschen und der Gesellschaft vertraten und nun in der Revolution eine günstige Gelegenheit sahen, ihre egalitären Lehren zu verbreiten. In diesen Kontext muß man die radikale Position einordnen, die Malthus zum Armutsproblem einnahm und der er ein ethisches und wissenschaftliches Fundament zu geben suchte. Er meinte, die Aufhebung sämtlicher Armengesetze sei die beste Lösung, um den Wohlstand des englischen Volkes in seiner Gesamtheit zu vergrößern. Trotz ihrer gut gemeinten Absicht hätten diese Gesetze, so Malthus, gerade das Gegenteil der ursprünglichen Ziele erreicht. Die Subventionierung des Elends bedeute in der Tat nichts anderes als Verteuerung der Nahrungsmittel, erhöhte Arbeitskosten und Verfall der Sitten, kurz: verschlechterte Lebensbedingungen für alle. In gewissem Sinne
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schienen ihm diese Gesetze die Armen, für deren Schutz sie sorgen sollten, geradezu hervorzubringen. Das Schicksal der Armen liege jedoch allein in ihren Händen, und da die körperlichen Bedürfnisse den größten Antrieb für den Geist lieferten, bedeute die fürsorgliche Erleichterung ihrer Leiden zugleich auch, daß man dadurch die natürliche Trägheit und Lasterhaftigkeit der Armen unterstütze. Folglich müsse das vor allem für die unteren Klassen folgendes bedeuten: Heirat erst in fortgeschrittenem Alter, sexuelle Enthaltsamkeit sowie auch die Anwendung „unnatürlicher Praktiken“ wie Abtreibung und Kindestötung. Man beachte, um wieviel „humaner“ sich das Rezept von Malthus gegenüber der „kostenlosen und fast unbeschwerlichen“ Lösung ausnimmt, die Jonathan Swift (1667–1745) ungefähr 70 Jahre früher vorgeschlagen hatte, um ähnliche Probleme in Irland zu lösen. Im Hauptwerk der sogenannten „kannibalistischen“ Literatur, seiner Schrift Ein bescheidener Vorschlag (1729), stellte Swift zur Diskussion, man könne Kinder im Alter von einem Jahr doch einfach verkaufen, und zwar „an Leute, die im Königreich Rang und Ansehen genießen“. Denn Kinder dieses Alters seien „ausreichend für eine gute Mahlzeit. Ein Kind dürfte zwei Gänge ergeben bei einer Gesellschaft mit Freunden; wenn die Familie allein speist, dann dürfte auch das hintere oder vordere Viertel eine ansehnliche Portion ergeben, und wenn man es in ein bißchen Pfeffer und Salz einlegt, dann kann man es gut nach vier Tagen kochen, besonders im Winter.“ Swifts Lösungsvorschlag war freilich ein satirisches Pamphlet ... Die Vorschläge von Malthus stützten sich auf Konzepte, die in philosophischen und ökonomischen Werken des 18. Jahrhunderts und Forschungen über bereits vorangegangene Bevölkerungsexpansionen zu finden waren. Malthus berief sich ausdrücklich auf David Hume (1711–1776) und Adam Smith (1723–1790), aber im Grunde war die Vorstellung, der Umfang der Bevölkerung hänge direkt mit der Produktion von Nahrungsmitteln zusammen, eine Art Gemeinplatz. Die von vielen geteilte Hoffnung, dieser Zusammenhang würde schließlich zu einem natürlichen Gleichgewicht führen, war stets daran gescheitert, daß sich in den unteren Schichten der Gesellschaft zunehmend Armut breitmachte. Wie Malthus nun anhand demographischer und statistischer Daten zu zeigen suchte, klafften die Nahrungsressourcen, die mit arithmetischer Progression zunähmen, und das unkontrollierte Bevölkerungswachstum, das mit geometrischer Progression ansteige, unweigerlich immer weiter auseinander. Daher gelte nur dank der stetigen Wirkung des unerbittlichen „Gesetzes der Not“, daß die Bevölkerungszunahme der Zunahme der Nahrungsmittel entspreche. Obgleich Malthus sich in erster Linie mit der menschlichen Gattung beschäftigte, war die Situation bei den anderen Arten durchaus ähnlich: „Im Tier- und Pflanzenreich hat die Natur den Lebenssamen mit der verschwenderischsten und freigebigsten Hand weit umhergestreut. Dafür hat sie an Lebensraum und an Unterhaltsmitteln, die zur Ernährung notwendig sind, gespart. Die Lebenskeime auf unserem Fleckchen Erde würden, falls sie ausreichend Nahrung und Platz zur Ausbreitung hätten, im Lauf einiger Jahrtausende Millionen von Welten auffüllen. Die Not als das übermächtige, alles durchdringende Naturgesetz hält sie aber innerhalb der vorgegebenen Schranken zurück. [...] Auch das Menschengeschlecht vermag ihm durch keinerlei Bestrebungen der Vernunft zu entkommen.“ Wenn das Problem sich also unter simpleren Bedingungen auch bei Tieren und Pflanzen stelle – hier werde die Überzahl durch Nahrungs- oder Platzmangel sowie in der Tierwelt zusätzlich durch Fleischfresser eliminiert –, dann müsse bei den Menschen, wo der Antrieb zur Fortpflanzung nicht minder heftig sei, die Vernunft dafür sorgen, daß dieser Antrieb gebändigt werde.
Darwin: Ein Leben für die Evolutionstheorie
Jonathan Swift
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Zwei Seiten aus einer 1852 gedruckten französischen Ausgabe des „Essay über das Prinzip der Bevölkerungsentwicklung“ von Malthus
Sowohl in der Gesellschaft wie in der Natur (abgesehen von relativ wirksamen und zweckmäßigen „Verhütungsmitteln“ beim Menschen) führe daher die Notwendigkeit, die überbordende Fruchtbarkeit der Arten an die Ressourcen anzupassen, zu einem unumgänglichen Wettkampf, den man als ein Naturgesetz ansehen könne. Der Pessimismus, der sich in der Unausweichlichkeit von Kampf und Leiden zeigt, wird jedoch auch bei Malthus in den Rahmen eines Planes der Vorsehung gestellt: „Um die unablässigsten Anreize dieser Art zu bieten und den Menschen dazu zu drängen, die gnadenreichen Absichten der Vorsehung [...] zu unterstützen, ist es die göttliche Bestimmung, daß die Bevölkerung viel rascher zunehmen soll als die Nahrung. Dieses allgemeingültige Gesetz [...] ruft ohne Zweifel viele einzelne Übel hervor, doch vermag eine kleine Überlegung uns vielleicht zu beruhigen, daß nämlich das Gute, das es erzeugt, ein großes Übergewicht besitzt. Starke Anreize scheinen notwendig, um Anstrengungen zu bewirken; um diese zu steuern und die Vernunftfähigkeit herauszubilden, scheint es absolut notwendig, daß das Höchste Wesen stets nach den allgemeingültigen Gesetzen handelt. Die Beständigkeit der Naturgesetze – die Gewißheit, mit der wir dieselben Wirkungen von denselben Ursachen erwarten dürfen – ist die Grundlage für die Vernunftfähigkeit. Wenn [...] Gott häufig seine Absicht änderte [...], würde sich vermutlich eine schlimme Abstumpfung der menschlichen Fähigkeiten ergeben. Sogar die körperlichen Bedürfnisse der Menschen würden diese nicht länger zur Anstrengung antreiben, wenn sie nicht vernünftigerweise erwarten könnten, daß ihre Bemühungen von Erfolg gekrönt würden, wenn sie in die richtige Richtung gelenkt werden. [...] Dieser Beständigkeit verdanken wir all die größten und edelsten Bestrebungen des Denkens; wir verdanken ihr den unsterblichen Geist eines Newton.“ Malthus bekennt sich somit voll und ganz zur Naturtheologie. Auch für ihn lenkt Gott in seinem Schöpfungsplan durch unabänderliche Naturgesetze die Geschicke der Welt, und zu diesen Gesetzen gehört unter anderem auch der „Kampf um die Existenz“ – ein Ausdruck, den Malthus in diesem Zusammenhang benutzt, wenn auch nicht in seiner speziellen Bedeutung, und den auch schon Lyell und andere Autoren gebrauchten. Hier aber erhält der Ausdruck – wie der Verweis auf Newton zeigt – die Wucht einer aus Berechnungen ableitbaren Idee; dadurch kann er, nunmehr in der Natur begründet und wissenschaftlich gerechtfertigt, auch als Begründung und Rechtfertigung für das ökonomische Modell des laisser-faire
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gelten, das inmitten der industriellen Revolution so gut zu den Interessen des aufkommenden Kapitalismus paßte. Von der Ökonomie zur „Ökonomie der Natur“ war nur ein kleiner Schritt: eine vielsagende und eindrucksvolle Analogie, und überdies auch in den Schriften der Naturforscher bereits weit verbreitet. Hier stoßen wir auf den Kern einer weiteren großen Diskussion um die Frage, was die Biologie – und insbesondere Darwin und die Theorie der natürlichen Zuchtwahl – der Ökonomie und den Sozialwissenschaften verdankt, indem sie Erklärungsmodelle für die Funktionsweise der Gesellschaft aufgreift und auf den Bereich natürlicher Vorgänge anwendet. Die Frage ist – wie könnte es anders sein? – äußerst kompliziert, und zwar in verschiedener Hinsicht. Wenn die Biologie Modelle aus der Ökonomie übernommen hat, so ist auch das Gegenteil der Fall. Man könnte sagen, daß gerade Malthus die Legitimation seiner These in der Natur gefunden hat; und ein entsprechendes Phänomen, nur in umgekehrter Richtung, ließe sich später auch der Darwinschen Theorie zuschreiben: Sie wurde ins Gesellschaftliche (rück)übertragen und führte dort zum sogenannten Sozialdarwinismus. Das Problem hat also ganz offensichtlich eine ideologische Dimension: Wenn die Abhandlung von Malthus nichts anderes war als der Versuch, mit wissenschaftlichen Mitteln und sozusagen als Naturgesetz den status quo und ein bestimmtes ökonomisches Modell zu rechtfertigen, dann könnte man umgekehrt von der Theorie Darwins sagen, sie habe Strukturen, Konflikte und Auseinandersetzungen der zeitgenössischen viktorianischen Gesellschaft auf die Natur projiziert. Beim Übergang vom einen Kontext zum anderen transportieren die Analogien und Metaphern, oft nur implizit, auch Wertsysteme, die man im wissenschaftlichen Diskurs nicht vermuten sollte. Andererseits eröffnen die Analogien und Metaphern immer wieder einen zuvor nicht sichtbaren Raum für Interpretationen; auf diese Weise entsteht der Rahmen für neue, vom ursprünglichen Impuls relativ unabhängige Theorien. An dem Tag, an dem Darwin den Essay über das Gesetz der Bevölkerungsentwicklung zu lesen begann, notierte er in sein Notizbuch: „28. September 1838. Wir sollten uns nicht über den Wechsel der Anzahl von Arten durch kleine Veränderungen in der Beschaffenheit der Lokalität wundern. (Ich zweifle nicht daran, daß jeder, wenn er intensiv darüber nachdenkt, zur Auffassung gelangt, daß die Zunahme der Tiere exakt proportional zur Anzahl derer ist, die überleben können.) – Nicht einmal die kraftvolle Sprache von [...] De Candolle vermag mit der gleichen Eindringlichkeit wie Malthus die Idee des Kampfes der Arten wiederzugeben. – (Die Zunahme der Tiere kann nur von positiven Hindernissen unterbunden werden, es sei denn, daß Hungersnot die Begierde unterdrückt.) – In der Natur nimmt die Produktion nicht zu, solange keine anderen Hindernisse als das positive Hindernis des Hungers und folglich des Todes die Oberhand haben. – Zunehmende Population in geometrischer Progression in weit weniger Zeit als 25 Jahren – jedoch bis zu diesem einen Satz von Malthus hatte niemand klar das große Hindernis unter den Menschen wahrgenommen. – Sogar nur wenige üppige Jahre lassen die menschliche Population zunehmen, und eine durchschnittliche Ernte verursacht Tod [...] – in Europa zum Beispiel muß bei jeder Art im Mittel die gleiche Anzahl getötet werden, Jahr für Jahr, durch Raubtiere, durch Kälte usw. – sogar eine Art von Raubtieren, deren Zahl abnimmt, muß sofort den ganzen Rest beeinflussen. [...] Der letztendliche Grund für all diese Verkeilungen muß darin bestehen, passende Strukturen auszusortieren und sie an den Wandel anzupassen – der Form nach das zu tun, was Malthus als den letztlichen Effekt (wenn auch durch das Mittel des Willens) dieses Bevölkerungsreichtums auf die Energie des Menschen aufzeigt. Man kann sagen, daß es eine Kraft von Hunderttausenden von Keilen gibt, die sich in jede Art von angepaßter Struktur in die Lücken der Ökonomie der Natur hineinrammen, oder eher noch diese Lücken bilden, indem sie schwächere [Strukturen] verdrängen.“
Darwin: Ein Leben für die Evolutionstheorie
Thomas Robert Malthus
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Auf diesen Notizblättern berechnete Darwin das Anwachsen einer Population von Elefanten, wenn es nicht durch Nahrungsmangel eingeschränkt wird.
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Diese Notizen scheinen eilig hingeworfen, als ob sie dem schnellen Gang der Gedanken folgen wollten; aber in der Tat haben wir hier die erste Formulierung der Theorie der natürlichen Selektion. Hier ist anscheinend ein selbständiger Prozeß der Ausarbeitung in Gang gekommen und hat den Weg für Bilder und Reflexionen frei gemacht, die, je mehr sie sich allmählich organisieren, nach und nach ihren ursprünglich gesellschaftlichen Kontext hinter sich lassen und gewandelt wiederkehren – sich sozusagen ineinander „verkeilen“, wie es Darwin bildlich ausdrückt –, um sich an ein anderes theoretisches Umfeld anzupassen. Die „Ökonomie der Natur“ beginnt sich nun als ein Prozeß dynamischer Interaktion zwischen Arten, aber auch und vor allem zwischen den Arten und ihrer Umwelt herauszubilden. Die Arten selbst präsentieren sich jetzt als dynamische Strukturen. Sie sind Populationen, also Gruppen von Organismen, die ihrerseits wieder untereinander interagieren. Der Kampf ums Dasein findet nicht nur zwischen verschiedenen Arten statt, sondern auch zwischen Organismen innerhalb der gleichen Art. Kleine Veränderungen der Umwelt spiegeln sich in großen Veränderungen der Anzahl von Individuen einer Art wider. Bei der riesigen Überproduktion an Leben – durch den malthusianischen Fortpflanzungstrieb, der sich nicht zügeln läßt – überleben manche, andere nicht. Man muß sich gegen Raubtiere schützen, aber auch gegen Kälte und Nahrungsmangel. Es gilt, einen eigenen Platz zu finden, ja ihn zu erobern. Es findet eine Auslese der angepaßten Strukturen statt – der Terminus „natürliche Selektion“ tritt noch nicht auf –, und auch die Strukturen passen sich an. Das Bild der Keile erschüttert jegliche Vision von einer prästabilierten Harmonie. Es ist, als ob die Kraft von hunderttausend Keilen die Angepaßtesten (und Kräftigsten) von den weniger Angepaßten (und weniger Kräftigen) trennt. Das ist die „Theorie, mit der ich arbeiten kann“, von der Darwin in seiner Autobiographie spricht. Malthus, der große Gegner der These von der organischen Vervollkommnung des Menschen und der anderen Arten, hatte mit seinem Prinzip der geometrisch wachsenden Population Darwin den Anhaltspunkt für eine Theorie gegeben, die allen Überzeugungen von Malthus widersprach und sie sogar auf den Kopf stellte. Darwin war sich dessen stets bewußt, und in der Entstehung der Arten schreibt er: „Da also mehr Individuen ins Leben treten als bestehen können, so muß auf jeden Fall ein Kampf ums Dasein stattfinden, entweder zwischen Individuen derselben oder verschiedener Arten oder zwischen Individuen und äußeren Lebensbedingungen. Das ist die Lehre von Malthus mit verstärkter Kraft auf das ganze Tier- und Pflanzenreich angewendet, denn in unserem Fall ist keine künstliche Vermehrung der Nahrungsmittel und keine vorsichtige Eheenthaltung möglich. [...] Der Elefant vermehrt sich langsamer als alle anderen Tiere, und ich habe mir die Mühe gemacht, das wahrscheinliche Minimum seiner natürlichen Vermehrung zu berechnen. Man kann als ziemlich sicher annehmen, daß er nach dreißig Jahren seine Fortpflanzung beginnt und sie bis zum neunzigsten Lebensjahr fortsetzt, daß er während dieser Zeit sechs Junge hervorbringt und bis zum hundertsten Jahre lebt. In diesem Falle würde es nach Verlauf von 740 bis 750 Jahren etwa 19 Millionen Elefanten als Abkömmlinge eines Paares geben.“ ❑
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Das Privatleben: familiäre Liebe und innere Konflikte Hochzeit, Kinder, Krankheit: Persönliche Wechselfälle und theoretisches Nachdenken spitzen Darwins inneren Konflikt mit der Religion zu. Eine Lösung findet er im Agnostizismus.
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anche haben es als eine Reaktion auf die malthusianische Ermahnung zur Enthaltsamkeit (!) gedeutet, andere nehmen an, Darwin habe sich von den Ratschlägen seines Vaters überzeugen lassen, sich jetzt schleunigst zu vermählen, wenn er Kinder wolle, zumal er die Schwelle von dreißig Jahren überschritten habe – wie auch immer: Fest steht, daß Darwin im November 1838 um die Hand seiner Cousine Emma Wedgwood anhielt. Aber ihn quälten Sorgen, und besonders beunruhigte ihn sein Gesundheitszustand. Die bereits erwähnten Symptome, die ihn für den Rest seines Lebens begleiten sollten, traten nun immer häufiger auf. Sein Arbeitsrhythmus war dicht gedrängt, er las immerfort, machte sich Notizen und schrieb Berichte. In seinem Kopf gärte es, und die Ideen, die da heranreiften, waren für ihn ein weiterer Grund zur Sorge. Jemanden zu finden, der sich um ihn kümmerte, konnte daher durchaus als weise Entscheidung gelten. Zu diesem Entschluß gelangte er durch eine sorgfältige Untersuchung des Problems, und glücklicherweise sind uns seine Aufzeichnungen darüber erhalten geblieben. Darwin ging auf folgende Weise vor: [Das ist die Frage] HEIRATEN
NICHT HEIRATEN
Kinder – (so Gott gefällt) –, ein beständiger Partner (Freund im Alter), der sich für einen interessiert, jemand, den man lieben kann und mit dem man spielen kann – besser jedenfallls als ein Hund – ein Heim, und jemand, der sich um das Haus kümmert – Annehmlichkeiten der Musik und weibliches Geplauder. Diese Dinge sind gut für die Gesundheit. Zwang, Verwandte zu besuchen und zu empfangen, aber schrecklicher Zeitverlust. Mein Gott, der Gedanke ist unerträglich, sein ganzes Leben wie eine geschlechtslose Biene mit Arbeit, Arbeit und nichts weiter zu verbringen. – Nein, nein das geht nicht. Man stelle sich vor, sein ganzes Leben einsam in einem verräucherten, schmutzigen Londoner Haus zuzubringen. – Male dir nur eine hübsche, sanfte Frau auf einem Sofa aus, bei einem guten Kaminfeuer, und Bücher und vielleicht Musik – vergleiche diese Zukunftsvision mit der schäbigen Wirklichkeit der Great Malborough Street. Heirate, heirate, heirate. Q.E.D.
Keine Kinder (kein zweites Leben), niemand, der im Alter für einen sorgt. – Was für einen Sinn hat die Arbeit ohne die Anteilnahme von guten und lieben Freunden – die außer den Verwandten dem Alten gute und liebe Freunde sind. Freiheit zu gehen, wohin man will – Auswahl der Gesellschaft und wenig davon. Unterhaltung mit klugen Männern in Clubs. Kein Zwang, Verwandte zu besuchen und in jeder Kleinigkeit nachgeben zu müssen – Ausgaben und Sorgen für Kinder – vielleicht Streitereien. Zeitverlust – kann abends nicht lesen – Verfettung und Trägheit – Sorgen und Verantwortung – weniger Geld für Bücher etc. – bei vielen Kindern gezwungen, sein Brot zu verdienen. – (Doch dann ist es sehr schlecht für die Gesundheit, zu viel zu arbeiten.) Viellleicht mag meine Frau London nicht; dann lautet das Urteil auf Verbannung und Degradierung zu trägen, faulen Narren.
Darwin: Ein Leben für die Evolutionstheorie
Die Tagebuchseiten, auf denen Darwin die Vor- und Nachteile des Heiratens gegenüberstellte
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Emma Darwin auf einer Zeichnung von George Richmond, die sich heute in Down House befindet
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Quod erat demonstrandum; und auf der Rückseite desselben Blattes ging er seine Gedanken noch einmal durch und kam zu der Schlußfolgerung: „Da es sich als notwendig erwiesen hat zu heiraten – Wann? [...] Der alte Herr meint bald, denn sonst ist es schlecht, wenn man Kinder bekommt [...]. Doch was wäre, wenn ich morgen heiratete: es gäbe unendlich viele Mühen und Ausgaben bei der Beschaffung und Einrichtung eines Hauses – Streit wegen fehlender Geselligkeit – Höflichkeitsbesuche – Peinlichkeiten – alle Tage Zeitverlust – (es sei denn, die Frau wäre ein Engel und hielte einen zur Arbeit an) – Und wie sollte ich es schaffen, alle meine Aufgaben zu erfüllen, wenn ich verpflichtet wäre, jeden Tag mit meiner Frau einen Spaziergang zu machen. – Eheu!! Ich würde niemals Französisch lernen – oder den Kontinent besuchen – oder nach Amerika reisen, oder in einem Ballon aufsteigen, oder eine einsame Wanderung in Wales machen – armer Sklave, du wirst es schlechter haben als ein Neger – Und dann die entsetzliche Armut (es sei denn, die Frau wäre besser als ein Engel und hätte Geld). Doch was soll’s, mein Junge – Nur Mut – Man kann nicht so ein einsames Leben führen, hinfällig im Alter, ohne Freunde und kalt und kinderlos sich ins Gesicht starren, das bereits runzlig zu werden beginnt. Was soll’s, vertraue dem Glück – halte scharf Ausschau. – Es gibt viele glückliche Sklaven.“ All das spricht nicht gerade für ein leidenschaftliches, romantisches Temperament, zumindest wenn man Darwins Vorgehen in dieser Angelegenheit betrachtet... Nachdem er aber nun einmal den festen Entschluß gefaßt hatte, zu heiraten, fiel seine Wahl mit aller Entschlossenheit auf Emma: Sie war mit Sicherheit reich, sprach Französisch, Italienisch und Deutsch, trieb gerne Sport, besonders Bogenschießen, spielte Klavier – sie war Schülerin von Chopin gewesen –, und mußte sich für ihn somit sicher als „ein Engel“ erweisen. Er begab sich einige Male nach Maer in das Haus der Wedgwoods. Bei einem dieser Besuche betrachtete er auf einem Spaziergang mit großem Interesse Regenwürmer, die in ihrer gemächlichen und fast nicht erkennbaren Tätigkeit eine riesige Menge Erde umgegraben hatten. Kurze Zeit später legte er vor der Geographical Society zu diesem Thema, das ihn im Laufe seines Lebens noch öfters beschäftigen sollte, einen kurzen Bericht vor; im Oktober 1881, wenige Monate vor seinem Tod, erschien sein letztes Buch, Die Bildung der Ackererde durch die Tätigkeit der Würmer mit Beobachtungen über deren Lebensweise (The Formation of Vegetable Mould, through the Action of Worms, with Observations on their Habits), und darin befaßte Darwin sich genau mit den unglaublichen Verwandlungen des Erdbodens, die diese kleinen Geschöpfe im Laufe langer biologischer Zeiträume durch ihre Verdauungsfunktionen zu erzeugen vermögen. Das Buch wurde ein echter Erfolg: Innerhalb weniger Monate fanden sich 3500 Käufer. Aber auf dem besagten Spaziergang wurde Darwin nicht von Emma begleitet. Am 11. November – „der Tag der Tage“ notierte er in sein privates Tagebuch – entschloß er sich, um ihre Hand anzuhalten; und Emma sagte ja. Sie mieteten ein neues Haus in London, wo sie bis September 1842 wohnen sollten. Am 29. Januar 1839 heirateten sie. Darwin schrieb in sein Tagebuch: „Habe heute in Maer im Alter von dreißig Jahren geheiratet; bin nach London zurückgekehrt.“ Das ist alles. Die nächste Notiz stammt vom 5. Februar: „Begann Deutsch [zu lernen].“ Und am 7. Februar: „Habe mich wieder mit dem Artikel über die Korallenriffe beschäftigt.“ Man muß fairerweise zugeben, daß seine Aufzeichnungen im Tagebuch immer sehr spärlich waren. Vermerkt wurden im Grunde nur Reisen, der Anfang und das Ende bestimmter Arbeiten sowie mit besonderem Eifer das Auf-
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treten von Beschwerden. Am 27. Dezember desselben Jahres notiert er: „Um 9.30 Uhr wurde uns ein Sohn geboren.“ Das war William Erasmus (1839–1914). Diese Geburt bot Darwin eine neue Forschungsgelegenheit, vor allem, weil er nun seine Beobachtung aus nächster Nähe anstellen konnte. Von den ersten Lebenstagen seines Sohnes an beobachtete er kontinuierlich und systematisch dessen Verhalten, notierte die Beobachtungen fein säuberlich und stellte, wo immer möglich, Parallelen zum Verhalten von Tieren her. Er führte auch kleine Experimente durch, erzeugte etwa unvermittelt Geräusche, um herauszufinden, ab welchem Alter Kinder die Herkunft von Tönen zu erkennen vermögen, oder bewegte Objekte schnell und knapp vor den Augen des Kindes, um Reflexe nachweisen zu können, die unabhängig vom bewußten Erleben der eigenen Reaktionen auftreten. Er beschäftigte sich mit der fortschreitenden Entwicklung der Bewegungskoordination und anderer Fähigkeiten des Kindes. Vor allem aber richtete er sein Interesse auf das Entstehen von Emotionen und ihren Ausdruck – in erster Linie Zorn und Angst – und betonte, wie früh das Kind imstande war, Gesichtsausdrücke bei anderen zu erkennen. Darwins Aufmerksamkeit galt dabei vor allen dem Ausdruck, weniger den Emotionen als solchen oder ihrem jeweiligen subjektiven Gehalt; er versuchte, ein Klassifikationsverfahren für die objektiv beobachtbaren Aspekte von Gemütsäußerungen aufzustellen – ganz im Gegensatz zu den zahlreichen kurz zuvor entstandenen Aufzeichnungen in seinen Notizbüchern, bei denen er introspektiv und selbstanalytisch vorgegangen war. Er stieß auch auf das Problem der Gedankenassoziationen sowie auf die Frage nach dem ersten Auftreten von kommunikativem Verhalten und von artikulierter Sprache. Er verglich das Verhalten des Kindes mit dem eines Affen, etwa bei der Beobachtung des eigenen Bildes in einem Spiegel. Was sich hier abzeichnet, ist eine echte Methode zum Beobachten und Vergleichen von Verhaltensweisen – mit dem Ziel, den Zusammenhang zwischen den psychischen Funktionen bei Tieren und Menschen so-
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Down House
Darwin mit seinem ältesten Sohn William
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Die Tochter Annie im Alter von acht Jahren
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wie ihren gemeinsamen Ursprung nachzuweisen; diese Frage hatte Darwin schon in den Notizbüchern besonders intensiv beschäftigt. Seine Aufzeichnungen darüber wurden erst 1878 als Biographische Skizze eines Kindes in der Zeitschrift „Mind“ veröffentlicht, als man dort verschiedene Artikel über das Problem des natürlichen Ursprungs der Sprache zusammenstellte. Angeregt wurde dies durch die Debatte, die sich an die Veröffentlichung von Darwins Schrift Die Abstammung des Menschen (The Descent of Man) im Jahr 1871 und die baldige Wiederauflage 1874 anschloß, worin Darwin öffentlich zur Biologie des Menschen Stellung nahm. Noch 1878 stellte Darwins immerhin 37 Jahre alte Skizze mit ihrem originellen und ungewöhnlichen Ansatz eine Pionierleistung im Bereich der Kinderpsychologie dar; zuvor waren Arbeiten dieser Art in der wissenschaftlichen Literatur nur äußerst sporadisch aufgetaucht. Nach Doddy, wie William liebevoll genannt wurde, kamen neun weitere Kinder zur Welt: Annie im Jahr 1841, Mary im Jahr darauf (sie starb nach drei Wochen), Henrietta 1843, George 1845, Bessy 1847, Francis 1848, Leonard 1850, Horace 1851 und schließlich 1856 Charles Waring; er litt vermutlich am DownSyndrom und starb mit 18 Monaten bei einer Scharlach-Epidemie, in deren Verlauf auch mehrere Geschwister angesteckt wurden. Darwin scheint trotz seiner vielen Arbeit ein liebender und eifriger Vater gewesen zu sein, der auch Zeit fand, mit seinen Kindern zu spielen. Stets achtete er auf ihren Gesundheitszustand, denn er fürchtete, sie könnten von ihm seine niemals zweifelsfrei diagnostizierte Krankheit geerbt haben. Außer dem Tod zweier Kinder im Säuglingsalter – in jener Zeit war die Kindersterblichkeit noch sehr hoch – traf ihn vor allem der Tod seines zweiten Kindes Annie mit zehn Jahren besonders schwer. Der Zustand des erkrankten Kindes hatte sich immer weiter verschlechtert, bis Darwin schließlich keinen anderen Ausweg mehr sah, als es einer Hydrotherapie zu unterziehen, die damals von dem berühmten Dr. Gully praktiziert wurde. Ihn hatte Darwin einige Zeit zuvor – obwohl er seine Therapie anfangs als Scharlatanerie abgetan hatte – auch schon einmal selbst als letzte Hoffnung gegen seine Krankheit aufgesucht. Bei der Hydrotherapie handelte es sich um eine Kur mit Duschbädern, Massagen, Umschlägen und Reinigungsbädern – alles mit kaltem Wasser und begleitet von strenger Diät und Spaziergängen. Der Kur lag die Vorstellung zugrunde, chronische Krankheiten würden durch unzureichende Blutzufuhr in den inneren Organen ausgelöst. Das Ganze war eine Mischung aus Homöopathie und Mesmerismus, garniert mit einem Schuß Handlesekunst, die bei den Wohlhabenden groß in Mode war; sie litten sozusagen an der „Viktorianischen Krankheit“, einer mehr oder minder umfangreichen Skala von Symptomen, die sich letzten Endes auf psychosomatische Störungen zurückführen ließen. Dr. Gully hatte zahlreiche prominente Patienten: Charles Dickens und seine Frau, Thomas Carlyle und Gemahlin, George Eliot, Alfred Tennyson, Herbert Spencer, um nur einige zu nennen. Darwin hatte sich damals nach der Therapie besser gefühlt, aber für die kleine Annie war nichts mehr zu machen. Darwin mußte die Hoffnung aufgeben, sie von ihrem Leiden befreien zu können, und brach die Kur ab. Der Tod des kleinen Mädchens verschärfte ein ungelöstes und bislang unterdrücktes Problem in Darwins Beziehung zu seiner Frau, das mit ihrer Religiosität zusammenhing. Emma war tief gläubig und fand in ihrem Glauben Trost. Charles hingegen hatte sich schon vor seiner Verheiratung Schritt für Schritt und unausweichlich von der Religion entfernt; doch der Respekt vor den Gefühlen seiner Frau und das Wissen, daß ihr seine Einstellung Kummer bereitete, boten ständig Anlaß zur Besorgnis.
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Charles Darwin ΟΟ Emma Wedgwood 1809 – 1882 1839 1808 – 1896
William 1839 1914
Annie 1841 1851
Mary Eleanor 1842 ✝ im Alter von drei Wochen
Henrietta 1843 1930
George 1845 1925
Elizabeth 1847 1926
Francis 1848 1925
In der Autobiographie schildert er, wie ihn „sehr langsam, der Unglaube [beschlich], bis er schließlich vollständig war“, und wie sich in ihm „Skeptizismus oder Rationalismus“ entwickelten. Die extreme Schwierigkeit, wenn nicht gar Unmöglichkeit, das Universum und den Menschen als „das Resultat blinden Zufalls oder der Notwendigkeit“ zu begreifen, legen den Glauben an eine Erste Ursache nahe, die einen dem Menschen in gewisser Weise ähnlichen Intellekt besitzt. „Dann entsteht aber wieder der Zweifel: Kann man sich auf den Geist des Menschen verlassen, der, wie ich völlig glaube, sich aus einem so niederen Geist wie dem der niedersten Tiere entwickelt hat, wenn er solch großartige Schlußfolgerungen zieht? Haben wir es hier nicht mit dem Ergebnis eines Zusammenhangs von Ursache und Wirkung zu tun, der uns als notwendig erscheint, aber wahrscheinlich nur von der ererbten Erfahrung abhängt? Man darf ebenfalls nicht die Möglichkeit der ständigen Einflößung des Glaubens an Gott in die Gemüter der Kinder außer acht lassen, einer Einflößung, die eine außerordentlich starke und vielleicht erbliche Wirkung auf deren Gehirn ausübt, das noch nicht vollständig entwickelt ist, so daß es für sie genauso schwer wäre, den Glauben an Gott aufzugeben, wie für einen Affen, seine instinktive Furcht und Abscheu einer Schlange gegenüber aufzugeben. Ich darf mir nicht anmaßen, auch nur das geringste Licht auf solche abstrusen Probleme zu werfen. Das Geheimnis des Anfangs aller Dinge ist für uns unlösbar, und ich für meinen Teil muß mich bescheiden, ein Agnostiker zu bleiben.“ Den Begriff „Agnostizismus“ prägte Julian Huxley, um diese spezielle Haltung gegenüber religiösen Fragen zu bezeichnen, die sich von jeder Art von „Gnosis“ (religiöser Erkenntnis) distanziert. In einer Abhandlung mit dem Titel Agnostizismus schrieb Huxley 1889: „Als ich intellektuelle Reife erlangte und mich zu fragen begann, ob ich ein Atheist, ein Theist oder ein Pantheist, ein Materialist oder ein Idealist, ein Christ oder ein Freidenker sei, stellte ich fest, daß ich, je mehr ich lernte und reflektierte, desto weniger eine Antwort geben konnte, bis ich endlich zu dem Schluß gelangte, daß ich mich mit keiner von diesen Bezeichnungen identifizieren konnte, ausgenommen die letzte. Die einzige Sache, in der all die braven Leute übereinstimmten, war die Sache, in der ich mich von ihnen unterschied. Sie waren sich alle ziemlich sicher, eine bestimmte gnosis erworben zu haben – mehr oder weniger erfolgreich das Problem der Existenz gelöst zu haben, während ich ziemlich sicher war, es nicht gelöst zu haben und vielmehr sehr stark davon überzeugt war, daß dieses Problem unlösbar sei. Und mit Hume und Kant auf meiner Seite glaubte ich, auch nicht überheblich zu sein, wenn ich an meiner Meinung festhielt.“ Bevor Darwin für sich das negative Etikett des Agnostikers akzeptierte, mußte er einen langen inneren – vornehmlich theoretischen – Prozeß beenden. Das Problem der Religion tangierte nicht nur sein Verhältnis zu Emma, sondern auch direkt und explizit seine Vorstellung von den Naturgesetzen, ihrer Einheitlichkeit und somit ihrer notwendigen Geltung für sämtliche Aspekte der Natur inklusive des Menschen. Er selbst hielt hinsichtlich der Überzeugungen, zu denen er zur Zeit der Entstehung der Arten gelangt war und die sich später zum Agnostizismus wandelten, die Bezeichnung Theist für angebracht. Dies galt als ein eleganter Kompromiß, um dem Konflikt zwischen Wissenschaft und Glauben aus dem Weg zu gehen, der in der viktorianischen Kultur und Gesellschaft stark empfunden wurde. In diesem Sinne erscheint dieser Konflikt manchen Interpreten weniger unüberbrückbar, als er gewöhnlich dargestellt wird: Sie geben zu, daß eine gewisse Kontinuität zwischen dem naturalistischen Denken und einer Naturtheologie besteht, die gerade durch das „Naturgesetz“ zu einer Verherrlichung der Größe des Schöpfers gelangte. So läßt sich in den leidenschaftlichen und zugleich besonnenen Stellungnahmen der Agnostiker eine Art innere Religiosität wahrnehmen, die es ihnen, obgleich sie zur Verteidigung der Wissenschaft antraten, dennoch gestattete, eine unversöhnliche Opposition gegenüber der Religion zu vermeiden. ❑
Darwin: Ein Leben für die Evolutionstheorie
Leonard 1850 1943
Horace 1851 1928
Charles Waring 1856 1858
Darwin ungefähr zu der Zeit, in der seine Arbeit über die Cirripedien veröffentlicht wurde
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Die Variation: „Ich habe diese Arten verflucht“ In den Jahren 1842 und 1844 schreibt Darwin zwei Entwürfe seiner Theorie; darin ordnet er seine Gedanken und Beobachtungen und sammelt neue Daten. Acht Jahre widmet er der systematischen Arbeit über die Cirripedien.
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Eine Tafel aus „Mémoire sur la famille des Mélastomacées“ von De Candolles aus dem Jahre 1828
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er 35seitige, mit Bleistift geschriebene Entwurf, den Darwin im Sommer 1842 verfaßte – der erste planmäßige Versuch einer Theorie der Evolution –, verrät einen gewissen vorsichtigen Respekt gegenüber der „allgemein angenommenen Meinung“, derzufolge „die Myriaden von Organismen, die diese Welt bevölkern, durch so und so viele unterschiedliche Schöpfungsakte geschaffen worden sind.“ Doch, so fährt Darwin fort, „da wir über den Willen eines Schöpfers nichts wissen – sehen wir keinen Grund anzunehmen, daß zwischen den so geschaffenen Organismen irgendwelche Beziehungen existieren sollten; oder aber, sie könnten gemäß irgendeinem Schema erschaffen worden sein. Doch wäre es erstaunlich, wenn dieses Schema mit dem übereinstimmen sollte, das der Abstammung von Gruppen von Organismen von denselben Eltern [...] zugrunde liegen würde. [...] Solange man der Ansicht war, daß Organismen unmöglich variieren oder sich irgendwie in einer komplizierten Art und Weise an andere Organismen anpassen könnten, und zudem von ihnen durch eine unübersteigliche Schranke von Unfruchtbarkeit geschieden seien, war es gerechtfertigt, trotz einer gewissen Wahrscheinlichkeit zugunsten einer gemeinsamen Abstammung, eine getrennte Erschaffung nach dem Willen eines allwissenden Schöpfers anzunehmen; oder, denn das kommt auf dasselbe hinaus, mit Whewell zu sagen, daß der Anfang aller Dinge über den Verstand des Menschen hinausgehe.“ In den vorangegangenen Abschnitten hatte Darwin sich mit Variationen bei Tieren in domestiziertem sowie in natürlichem Zustand befaßt und bemerkt, daß einige dieser Variationen auch von den Lebensgewohnheiten abhängen – „Nichtgebrauch führt zu Atrophie“ – und dann erst erblich werden könnten. „Natürliche Zuchtwahl“ ist dann auch der Titel eines
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Abschnitts, in dem er notiert: „De Candolles Krieg in der Natur könnte – sieht man das zufriedene Aussehen der Natur – zunächst angezweifelt werden [...]. Bedenkt man aber die enorme geometrische Vermehrungskraft jedes Organismus und daß jedes Land unter gewöhnlichen Umständen bis zur höchsten Möglichkeit mit Organismen besetzt sein würde, so sieht man, daß er vorhanden sein muß. Malthus bezüglich des Menschen – bei den Tieren keine moralische Hemmung – sie erzeugen Nachkommen in dem Teil des Jahres, wo Vorräte am üppigsten oder Jahreszeit am günstigsten [...]. Brauchte es noch Beweise, so setze man irgendeinen besonderen Wechsel des Klimas bei uns voraus, und wie erstaunlich würden einige Stämme zunehmen, auch eingeführte Tiere – das Nachdrängen ist stets vorhanden – Fähigkeit alpiner Pflanzen, andere Klimate zu ertragen – man denke an unzählige Samen, die umhergestreut werden – Wälder gewinnen ihren alten Prozentsatz zurück – Tausende von Keilen werden in den Haushalt der Natur hineingetrieben. Dies alles erfordert viel Nachdenken; Malthus studieren und die Vermehrungsstatistik nachrechnen [...].“ Die Gedanken, die zuvor nur fragmentarisch aufgezeichnet worden waren, tauchen nun in einer planmäßigen Überarbeitung wieder auf und bilden jetzt ein echtes Erklärungsschema. Hier haben wir den ersten Entwurf zur Entstehung der Arten. Auch die möglichen Einwände gegen eine Theorie der natürlichen Selektion zieht Darwin in Betracht: „Es kann eingewendet werden, daß derartig vollkommene Organe wie Auge und Ohr nie auf diese Weise gebildet werden konnten.“ Darwin verweist auf die graduelle Entwicklung, durch die die verschiedenen Strukturen ausgebildet wurden: „Die Abstufungen, durch welche hindurch jedes individuelle Organ, und jedes Tier mit seinem Aggregat von Organen bei seiner gegenwärtigen Stufe angelangt ist, werden wahrscheinlich nie erkannt werden können und stellen sämtlich große Schwierigkeiten dar. Ich möchte bloß zeigen, daß die Vorstellung nicht so monströs ist, wie es anfänglich erscheint und daß, falls gute Gründe für die Annahme, daß verschiedene Arten von gemeinsamen Voreltern abstammen, vorgebracht werden können, die Schwierigkeit, sich die Struktur der Zwischenform vorzustellen, nicht genügt, ihretwegen die ganze Theorie abzulehnen.“ In einem Abschnitt mit dem Titel „Über Variation bei Instinkten und anderen geistigen Eigenschaften“ diskutiert er im einzelnen die geistigen Fähigkeiten verschiedener Tiere in wildem und domestiziertem Zustand, wobei er betont, er wolle sich nicht mit dem Ursprung des Gedächtnisses, der Aufmerksamkeit und anderer Fähigkeiten des Geistes beschäftigen, „sondern nur mit ihren Unterschieden in jeder der großen Abteilungen in der Natur.“ In einem zweiten Teil mit der Überschrift „Über die Zeugnisse aus der Geologie“ befaßt er sich mit den Fossilien. Er betont seine Überzeugung, „daß, wenn man innerhalb gewisser großer Gruppen alle Formen sammeln würde, man einer absolut vollkommenen Abstufung nahekommen würde.“ Er stellt heraus, wie die Auffassungen mancher Geologen, Lyell unter bestimmten Aspekten miteingeschlossen, als Einwände gegen seine Theorie geltend gemacht werden könnten. Aber: „Falls die Geologie uns nur einzelne Seiten von Kapiteln gegen Ende einer Geschichte darbietet, entstanden durch Herauszerren von ganzen Bündeln von Blättern, und wenn jede Seite nur eine kleine Portion von Organismen jener Zeit illustriert, dann stimmen die Tatsachen vollkommen mit meiner Theorie überein.“ Darwin behandelt auch die geographische Verbreitung der Arten und nutzt dafür unter anderem die auf den Galapagos-Inseln gesammelten Daten. Er widmet sich dem großen Problem der Klassifikation und der Zufälligkeit der zur Einteilung von Organismen herangezogenen Kriterien: „Die Art der Klassifikation, die, wie jeder fühlt, die korrekteste ist, wird als ‚natürliches System‘ bezeichnet, aber niemand kann dies eigentlich definieren. [...] Wenn mit vollem Ernst behandelt, sollte das natürliche System ein genealogisches sein.“ Er betrachtet die Ähnlichkeiten des Typs bei den großen Klassen der Tiere: „Wenn wir z.B. Fledermaus, Pferd, Delphinflosse, Hände betrachten, die alle dieselbe Struktur [...] besitzen, so sehen wir, daß ein tiefes gemeinschaftliches Band zwischen ihnen besteht; dies zu illustrieren ist die Grundlage und das Ziel dessen, was wir als ‚natürliches System‘ bezeichnen, und welches den Grund legen soll zu einer Erkenntnis der echten und der adaptiven Eigenschaften. Nun findet diese wunderbare Tatsache der Übereinstimmung zwischen Hand, Huf, Flügel, Flosse sofort ihre Erklärung [...].“ Er untersucht die theoretische Deutung von sogenannten abortiven Organen – das heißt von solchen, die uns zwar nutzlos erscheinen, die aber nur „mit ebenso auserlesener Sorgfalt gestaltet“ worden sein können. Er verweist dabei kritisch auf Lamarck und unterstreicht: „keine Tendenz zur Vervollkommnung.“ Nach alledem resümiert er schließlich: „Dies sind meine Gründe zu der Annahme, daß spezifische Formen nicht unveränderlich sind.“ Das ist das bereits oben zitierte „Einge-
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Oben: Augustin-Pyramus De Candolle Unten: In solchen Gegenden in den Anden, in denen die geologischen Schichten gut sichtbar sind, entdeckte Darwin zahlreiche fossile Muscheln.
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Eine Tafel aus Darwins 1844 veröffentlichten „Observations on the Volcanic Islands“
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ständnis eines Mordes“, von dem Darwin 1844 in einem Brief an den Botaniker Joseph Hooker (1817–1911) spricht; ihm wollte Darwin auf Anraten Henslows, der dafür selbst keine Zeit hatte, die Katalogisierung der auf den Galapagos-Inseln gesammelten Pflanzen anvertrauen. Einige Zeilen nach dem prophetischen Eingeständnis, daß die Arten nicht unveränderlich sind, fügt Darwin hinzu: „Es liegt viel Größe darin, die jetzt existierenden Tiere entweder als die geradlinigen Verwandten von Formen, die unter tausend Fuß Erde begraben liegen, oder als die Miterben eines noch älteren Vorfahren anzusehen. Es stimmt mit den Gesetzen, die nach unserer Kenntnis durch den Schöpfer der Materie eingeprägt worden sind, überein, daß die Erschaffung und Vertilgung von Formen, ebenso wie Geburt und Tod der Individuen, als die Wirkung sekundärer Mittel aufzufassen sind. Es ist entwürdigend, daß der Schöpfer endloser Weltensysteme einen jeglichen von den Myriaden kriechender Parasiten und Würmer einzeln geschaffen haben soll, von denen es an jedem einzigen Tag zu Land und zu Wasser auf dieser unserer Erde gewimmelt hat. [...] Aus Tod, Hungersnot, Raub und dem verborgenen Kampf in der Natur ist, wie wir jetzt sehen, gerade die höchste Leistung, die wir uns vorstellen können, die Erschaffung der höheren Tiere, direkt hervorgegangen. Zweifellos übersteigt es zunächst unser bescheidenes Fassungsvermögen, uns Gesetze vorzustellen, welche die Fähigkeit besitzen, individuelle Organismen zu erschaffen, von denen jeder durch meisterhafte Herstellung und weitestgehende Anpassung charakterisiert ist. Es verträgt sich allerdings besser mit der Beschränktheit unserer Fassungskraft, anzunehmen, daß jeder Organismus des ‚Werde‘ eines Schöpfers bedürfe, doch in demselben Verhältnis würde auch die Existenz entsprechender Gesetze unsere Vorstellung von der Macht eines allwissenden Schöpfers steigern.“ Man spürt hier deutlich, wie Darwin versucht – bevor er im Agnostizismus die Lösung findet –, seine Theorie aus einem sonst qualvollen Konflikt herauszuhalten. An diesem Punkt mußte Darwin das theoretische Schema des Entwurfs weiter ausbauen. Seine Theorie war zwar hinreichend ausformuliert und in sich geschlossen, doch nun mußte sie mit allen verfügbaren Daten abgestimmt werden; außerdem galt es, weitere Fakten zu sammeln – über künstliche Zuchtwahl, über die Variation und ihre Ursachen, über fossile Zeugnisse, embryonale Entwicklung, geographische Verbreitung. Es gab noch viel zu tun, damit die Theorie keine Angriffsfläche für Einwände bot. London war durch wirtschaftlichen Niedergang und soziale Unruhen zu einer Stadt geworden, in der man nicht leben konnte. Charles und Emma waren auf dem Land groß geworden. Jetzt hatten sie zwei Kinder, und das dritte war unterwegs: Die Stadt war für sie kein geeigneter Platz mehr. Mit Hilfe des Vaters – Charles selbst hatte mit seiner Arbeit noch nichts verdient – erwarben sie ein Haus in Down, einem kleinen Dorf in Kent, zwei Wegstunden von London entfernt. Am 17. September 1842 zogen sie in Down House ein. Das Anwesen, ein früheres Pfarrhaus, war geräumig, hatte einen Garten und sieben Hektar Wald. Im Laufe der Jahre gab es zahlreiche Umbaumaßnahmen und Erweiterungen. Auch ein Nachbargrundstück wurde hinzugekauft; dort pflanzte Darwin Büsche und Bäume und legte einen Weg an, den sandwalk (Sandweg), auf dem er täglich spazierenging. Von nun an verbrachte er den größten Teil seiner planvoll eingeteilten Tage in seinem großen, behaglichen Arbeitszimmer. Aber er führte kein zurückgezogenes Leben. Er fuhr fort, regelmäßig die wissenschaftlichen Gesellschaften zu besuchen, und Down House wurde zum Treffpunkt für einen Kreis von Freunden und Kollegen.
Berühmte Wissenschaftler
Nachdem Darwin sich in seinem Haus eingerichtet hatte, begann er sich wieder systematisch mit den Materialien und Aufzeichnungen zu beschäftigen, die er von der Fahrt mit der Beagle mitgebracht hatte. 1842 war seine Arbeit über die Korallenriffe erschienen; 1843 wurde nun auch der letzte Band der Zoologie der Beagle veröffentlicht; 1844 schloß er seine Arbeit über die vulkanischen Inseln ab; 1845 erschien die zweite überarbeitete Auflage seines Reisetagebuchs, und 1846 wurde auch die Geology of South America publiziert. Dazwischen aber beschäftigte er sich stets mit dem Problem der Arten. Anfang 1844 nahm er nochmals seinen Entwurf zur Hand und begann eine erweiterte Version von ungefähr 230 Seiten zu erarbeiten. Aber auch sie war nicht zur Veröffentlichung gedacht. In einem Brief an seine Frau vom 5. Juli 1844 gibt er ihr sorgfältig Instruktionen für den Fall, daß er sterben sollte, bevor die endgültige Abfassung vollendet ist: „Ich habe soeben die Skizze meiner Arten-Theorie beendet. Wenn, wie ich glaube, meine Theorie mit der Zeit selbst nur von einem einzigen kompetenten Beurteiler akzeptiert werden sollte, so wird sie ein beträchtlicher Fortschritt der Wissenschaft sein. Daher schreibe ich dies für den Fall meines plötzlichen Todes als meinen feierlichsten und letzten Wunsch nieder, den Du gewiß genauso auffassen wirst, wie wenn er rechtskräftig in mein Testament aufgenommen wäre: daß Du 400 Pfund für ihre Veröffentlichung aufwenden [...] wirst.“ Als Herausgeber schlug er Lyell vor, eventuell zusammen mit Hooker oder Henslow. Viele Jahre später jedoch, im Jahr 1854, als er sich daran machte, eine dritte Ausarbeitung vorzunehmen und ganz offensichtlich befürchtete, sie nicht mehr vollenden zu können, fügte er noch hinzu: „Hooker ist sicher der geeignetste, um mein Buch über die Arten zu betreuen.“ Der erweiterte Text von 1844 fußte auf dem vorherigen Entwurf, doch die Argumentation war schwungvoller, und die Daten wurden sorgfältiger geordnet und beschrieben. Zum damaligen Stand der Theorie äußert Darwin sich in der Autobiographie folgendermaßen: „Zu jener Zeit übersah ich aber ein Problem von großer Bedeutung, und ich wundere mich, nach dem Prinzip des Kolumbus und seinem Ei, wie ich dasselbe und seine Lösung nur habe übersehen können. Dieses Problem ist die den von ein und demselben Stamme herkommenden organischen Wesen innewohnende Neigung, in ihren Charakteren bei ihrer weiteren Modifikation zu divergieren. [...] Ich kann mich selbst noch der Stelle auf der Straße erinnern, wo mir, während ich in meinem Wagen saß, die Lösung einfiel; und das geschah lange Zeit nach meiner Übersiedelung nach Down. Die Lösung ist, wie ich glaube, die, daß die modifizierten Nachkommen aller vorherrschenden und zunehmenden Formen dazu neigen, vielen und in hohem Grade verschiedenartigen Stellen im Naturhaushalt angepaßt zu werden.“ Anfang 1845 übergab ihm Hooker die Ergebnisse seiner Arbeit über die auf den Galapagos-Inseln gesammelten Pflanzen. Ein weiteres Mal fand sich darin die Bestätigung, daß die Arten sich von Insel zu Insel unterschieden. In den vorangegangenen Monaten hatte Darwin begonnen, Hooker Teile seiner Theorie vorzustellen, und war damit auf vorsichtiges Interesse und großzügige Bereitschaft gestoßen. Erst Anfang 1847 übergab er ihm eine Kopie seines Entwurfs; Hooker erkannte zwar nicht sofort den tiefen Sinn der Theorie, unterzog aber alle darin behandelten Themen einer aufmerksamen und kritischen Analyse. Darwin schätzte Hookers Einwände, da sie technischer Art waren und frei von den traditionellen Vorurteilen, die den wissenschaftlichen Diskurs hemmten.
Darwin: Ein Leben für die Evolutionstheorie
Der Botaniker Joseph Hooker auf einer Photographie des Londoner Studios Maull und Polyblank von 1855
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Im Herbst 1844 erschienen jedoch auch die Vestiges of the Natural History of Creation; die anonyme Schrift sorgte einerseits für Aufsehen und hohe Verkaufszahlen, löste aber andererseits Verwirrung und heftige Angriffe aus. Sedgwicks Reaktion kennen wir schon: Sie war so giftig und voller Empörung, daß sie viel Sympathie für ihr Opfer hervorrief. Zugleich wurde das Objekt der Empörung nun fast zu einem Symbol für die Loslösung von konservativer, klerikaler Macht stilisiert. Darwin fand die Kritik von Sedgwick inakzeptabel, obwohl er das Werk selbst mit gemischten Gefühlen betrachtete: Zwar brach es ein Tabu, indem es die Transmutation propagierte, aber dies geschah durch Behauptungen ohne jeglichen wissenschaftlichen Gehalt. Auch Hooker mißfiel das Werk nicht ganz und gar, aber er konnte nicht hinnehmen, daß man über Themen dieser Art „spekulierte“. Bei anderer Gelegenheit hatte er über diejenigen geschimpft, die „über die Arten sprechen wollen, ohne jemals eine von ihnen detailliert beschrieben zu haben.“ Man kann nicht umhin festzustellen, daß Naturgeschichte – wie schon im 18. Jahrhundert und nach der Reform der Klassifikation durch Linné – noch immer soviel bedeutete wie Identifizierung einer Ordnung; die Tätigkeit der Biologen und Zoologen beschränkte sich fast ausschließlich auf deskriptive Studien zur Systematik; Klassifikation und Wissenschaft galten als Synonyme. Darwin hatte die taxonomische Bearbeitung des Materials der Beagle praktisch an andere „verpachtet“. Mittlerweile waren zehn Jahre vergangen. Nun war er gerade dabei, all die Werke, die er sich seit der Rückkehr von seiner Reise vorgenommen hatte, abzuschließen. Nur noch ein winziges Tierchen war übrig, eine Art Kleingarnele, die er 1835 an der Küste von Chile gefangen hatte. Es handelte sich um ein Cirripedium unbekannter Art, und bislang hatten die Forschungen über diese Klasse von Organismen besonders unbefriedigende Resultate erbracht. Hier sah Darwin darum eine günstige Gelegenheit, auch auf dem Gebiet der Klassifikation jenen Kredit zu erwerben, der ihm Schutz vor Angriffen gegen seine eigentliche Kompetenz bieten konnte. Als er im Oktober 1846 die Arbeit daran aufnahm, ahnte er wohl nicht, wie umfangreich, komplex und für seine Theorie ergiebig sie letztlich werden sollte. Er begann Material verschiedenster Herkunft zu sammeln und dehnte seine Arbeit auch auf fossile Exemplare aus, bis schließlich eine erschöpfende Monographie in drei dicken Bänden vorlag, die sowohl die lebenden Arten (Living Cirripedia) als auch die fossilen (Fossil Cirripedia) behandelte und zwischen 1852 und 1854 veröffentlicht wurde. 1853 erhielt er für seine wissenschaftlichen Erfolge bei der Erforschung der Korallen und vor allem der Cirripedien die Royal Medal. Er mußte sich für die Entdeckung dieser fast unbekannten Welt mit neuen Instrumenten ausrüsten, mit denen sich derart kleine Organismen sezieren ließen, und auch sein Mikroskop benötigte ein besseres Objektiv. Doch was er sah, faszinierte ihn. Er erforschte die anatomische Struktur, die Reproduktionsmechanismen, die Lebenszyklen, die Entwicklungsphasen, die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den noch lebenden und den fossilen Arten – und vor allem die Variation. Die Cirripedien entpuppten sich als äußerst variable Organismen. Diese „verdammte Variation“, schrieb Darwin 1850 an Hooker, „gefällt mir als Spekulation ganz gut, aber als Systematik finde ich sie abscheulich.“ Die Variation bereitete ihm tatsächlich großes Kopfzerbrechen, und je verzweifelter er Arten zu identifizieren und sie von Varietäten zu unterscheiden suchte, desto mehr integrierte er die Variation in seine Evolutionstheorie. „Mit knirschenden Zähnen habe ich diese Arten verflucht und mich gefragt, welche Verbrechen ich begangen habe, daß ich so bestraft werde.“ Wenn das fertige Werk sich letztlich, wie man behauptet hat, als schlüssiger und entscheidender Beweis für Darwins Theorie erwies, wenn Darwin also das im Bereich der Systematik Entdeckte als Beleg für seine Hypothesen zu den Evolutionsmechanismen zu nutzen vermochte, dann wußte er auch sehr wohl, welches „Verbrechens“ er sich hier schuldig machte: Von ihm selbst stammte ja das „Eingeständnis des Mordes“. Doch was er publizierte, war ein einwandfreier Beitrag zur Systematik; nichts darin deutete auf die Ideen, die ihn geleitet hatten und für die er im Laufe seiner Untersuchungen die Bestätigung fand. ❑
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Eine Tafel mit Cirripedien aus Haeckels „Kunstformen der Natur“
Berühmte Wissenschaftler
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Darwin: Ein Leben für die Evolutionstheorie
Die „Darwinisten” Ein ausgewählter Kreis befreundeter Naturforscher erhält Einblick in die neue Theorie. Doch im Sommer 1858 – Darwin ist gerade mit einer dritten Überarbeitung beschäftigt – erreicht ihn ein Artikel von Wallace.
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70 Richard Owen in einer Karikatur aus der Zeitschrift „Vanity Fair“
nfang der fünfziger Jahre machte Darwin die persönliche Bekanntschaft Huxleys, ebenfalls Mitglied des Rats der Royal Society, und 1853 bat er ihn, seine Arbeit über die Cirripedien zu rezensieren. Im selben Jahr erschien aus Anlaß der zehnten Auflage der Vestiges, denen weiterhin ein bemerkenswerter Erfolg beschieden war, eine wütende Rezension von Huxley, in der er die Transmutation der Arten, die unsinnige Idee des Fortschritts und die fehlende Wissenschaftlichkeit in der Argumentation des Buches anprangerte. Darwin konnte auf der einen Seite nicht anders, als dieser Attacke, deren Intelligenz und Genauigkeit er schätzte, zuzustimmen – es war in der Tat auch nicht seine Vorstellung von Evolution –, andererseits mußte er sich aber auch selbst angegriffen fühlen: Wie sollte sein Konzept der Evolution einer derartigen Attacke entgehen? Dies waren die Jahre des Zwists zwischen Owen und Huxley: Der hippocampus minor war nur einer der Streitpunkte, und nicht alles, worüber die beiden Gegner stritten, bezog sich auf ein wissenschaftliches Problem oder eine Theorie. Huxley stellte sich gegen Owen und verurteilte dessen Angriffe gegen Lyell als unannehmbar – wie auch Darwin und sein Freundeskreis –, aber er war auch zugleich unnachgiebig in seiner Ablehnung der Transmutation der Arten. Obendrein war er auch Anti-Malthusianer. Über Darwins Arbeit zur Systematik der Cirripedien äußerte er hingegen bei einigen Gelegenheiten größte Bewunderung. Darwin fing an, sich für Huxley zu interessieren; er verfolgte seine Rezensionen, seine Arbeiten und seine feurigen Vorträge. Und er lud ihn – später auch mit Familie – zu den Treffen in Down House ein, die immer mehr dem Austausch mit einer sorgsam ausgewählten Gruppe befreundeter Naturforscher dienten. In dieser „selektierten“ Gruppe gab es eine bemerkenswerte Variation (an Grundpositionen). Da waren Leute wie Hooker, der nunmehr engen Kontakt zu Darwin pflegte, aber noch schwankte, ob er bestimmte Komponenten von Darwins Theorie vollständig akzeptieren könne, oder der Entomologe Thomas Vernon Wollaston (1822–1878), der völlig mit Darwins Theorie übereinzustimmen schien, sie aber tatsächlich auf der Suche nach versöhnenden Kompromissen verdrehte. Dann gab es Huxley, der für Darwin noch nicht ganz zu durchschauen war, und nicht zuletzt Lyell. Lyell hatte Voraussetzungen und Konsequenzen der Theorie erfaßt; vor allem letztere machten ihm Angst, wenn er sah, was sich – sogar auf den Marktplätzen – bei der Debatte über den Menschen abspielte. Obwohl er Darwins Ideen nicht teilte, stellte er sich auch nicht gegen sie, sondern versuchte, nicht nur die Theorie als solche zu verstehen, sondern auch die evolutionistische Sichtweise im allgemeinen. Dabei mußte er unweigerlich seine Kritik an Lamarck im Lichte von Darwins Behauptungen überdenken, bis er schließlich – wie bereits angemerkt – von Darwins Theorie stets als der „von Darwin modifizierten Theorie von Lamarck“ sprach. Darwin reagierte auf diese Gleichsetzung immer heftiger und schrieb Lyell später: „Schließlich bezeichnen Sie meine Auffassung wiederholt als eine Modifikation von Lamarcks Entwicklungs- und Fortschrittslehre. Wenn das Ihre wohlerwogene Meinung ist, so ist dazu nichts zu sagen, doch ich habe diesen
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Eindruck nicht. Plato, Buffon, mein Großvater vor Lamarck und andere haben die offensichtliche Ansicht vertreten, daß die Arten, wenn sie nicht einzeln erschaffen worden sind, von anderen Arten abstammen müssen, und darüber hinaus kann ich nichts Gemeinsames zwischen der Entstehung der Arten und Lamarck erkennen.“ Darwin fügte noch hinzu, eine derartige Vermischung seiner Ideen mit denjenigen, die in einem Buch dargestellt worden seien, das er nach zweimaligem Lesen als „erbärmlich“ beurteile und aus dem er nichts gewonnen habe, sei der Akzeptanz der Entstehung der Arten äußerst abträglich. Außerdem sei bei Lamarck notwendigerweise eine Fortschrittsvorstellung impliziert, die mit seiner Theorie nichts zu tun habe. Darwin war also umgeben von einer Gruppe von Forschern, die ihm nicht nur zusätzliche für seine Theorie nützliche Daten und Informationen zu liefern vermochten, sondern auch ein ganzes Spektrum von kritischen Einwänden und Interpretationen, auf die seine Theorie möglicherweise stoßen würde. Die relativ heterogene Gruppe – jeder widmete sich einem anderen Forschungsgebiet und konnte somit einen eigenen Blickwinkel einbringen – zeigte diese Heterogenität auch bei ihrer „Bekehrung“ zur Theorie, zumal jedes Mitglied unterschiedliche, zuweilen sehr wichtige Elemente billigte oder zurückwies. Die „Darwinisten“ waren somit, schon bevor die Entstehung der Arten erschien, untereinander sehr verschieden, und nicht zuletzt darum wurde der „Darwinismus“ zu einem derart komplexen Phänomen, das sich nur schwer auf ein paar Wesensmerkmale reduzieren läßt. Zu den neuen Mitgliedern, die sich der Gruppe während der fünfziger Jahre anschlossen, gehörte Alfred Russel Wallace (1823 – 1913), ein junger Naturforscher, fast Autodidakt und mittellos; er reiste um die ganze Welt und machte Jagd auf seltene Tiere, um sie dann an Sammler zu verkaufen. Nachdem er einige Berichte über seine Naturaliensammlung vorgelegt und ein Reisetagebuch veröffentlicht hatte, nahm er Anfang der fünziger Jahre eine Korrespondenz mit Darwin auf, kehrte aber 1854 wieder nach Ost-Indien zurück. 1855 erschien sein Aufsatz On the Law which has regulated the Introduction of New Species, in dem er Beweise für die Evolution der Arten vorlegte, ohne allerdings irgendwelche Hypothesen über zugrunde liegende Mechanismen anzustellen. Es war Lyell, der Darwin auf Wallace aufmerksam machte; Darwin fand ihn etwas dubios, ermunterte ihn aber dennoch brieflich, mit seiner Arbeit fortzufahren, denn er selbst habe vor zwanzig Jahren vor genau denselben Problemen gestanden. Ende 1857 schrieb Darwin an Wallace, der ihm von seinen Forschungen über die Verbreitung von Arten auf Inseln berichtet und sich nach Darwins Plänen erkundigt hatte: „Ich bin sehr froh zu hören, daß Sie sich mit der Verbreitung und ihren theoretischen Grundlagen beschäftigen. Ich bin fest davon überzeugt, daß ohne Spekulation keine guten und originellen Beobachtungen gemacht werden können. [...] So wenige Naturforscher interessieren sich überhaupt für etwas anderes
Darwin: Ein Leben für die Evolutionstheorie
Thomas Henry Huxley im Jahre 1857
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Alfred Russel Wallace im Jahre 1854
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als die reine Beschreibung von Arten.“ Dann fügte er hinzu: „Sie fragen mich, ob ich auch den ‚Menschen‘ behandeln werde. Ich glaube, ich werde das ganze Thema meiden, weil es so sehr von Vorurteilen belastet ist; allerdings gebe ich durchaus zu, daß es für den Naturforscher das höchste und interessanteste Problem ist.“ Während Owen und Huxley mittlerweile die Waffen kreuzten, fiel für Darwin eine Entscheidung: In seiner Arbeit, die nur sehr langsam Fortschritte machte und voraussichtlich nicht innerhalb der nächsten zwei Jahre erscheinen würde, sollte nicht der geringste Hinweis über den Menschen stehen. Es ging um die dritte Überarbeitung seines Buches über die Arten. Lyell drängte ihn, endlich an die Öffentlichkeit zu gehen und wenigstens einige Teile seiner Theorie zu publizieren, zum Beispiel seine Versuche mit Tauben. Doch Darwin entschied sich für eine umfassende und gründlich belegte Version und suchte immer noch neue Beweise für seine Hypothesen. Denn seit einiger Zeit war er dabei, eine Reihe von Experimenten durchzuführen, um unter anderem den Phänomenen der Selektion und der geographischen Verbreitung auf die Spur zu kommen. Im Laufe der Zeit war bei ihm eine kleine Taubenzucht entstanden, der er nach und nach verschiedene Rassen aus unterschiedlichen Teilen der Erde hinzufügte. Er untersuchte ihre Ähnlichkeiten und Unterschiede, um anhand gemeinsamer Merkmale Beziehungen zwischen den Gruppen festzustellen und möglicherweise zu einem gemeinsamen Ursprung zu gelangen. Er führte auch einige Experimente zur Selektion durch, wobei er Kenntnisse, die er aus der Literatur und dem direkten Umgang mit Züchtern erlangt hatte, in die Praxis umsetzte. Wie schon bei den Cirripedien wurde er auch hier von dem Material, das ihm aus allen Richtungen zuströmte, fast überwältigt – Skelette, Gerippe von toten Tieren, lebende Exemplare –, und es blieb nicht bei Tauben: Mittlerweile machte er auch Versuche mit Samen und ging der Frage nach, wie es bestimmte Pflanzenarten geschafft haben konnten, auf Inseln zu gelangen, die durch beträchtliche Zwischenräume vom Festland getrennt sind. Darwin konnte nicht an die „Landbrücken“ glauben, die nach Meinung Lyells und anderer vielfach existiert hätten und, nachdem kontinentale Arten darüber zu mehr oder weniger weit entfernten Inseln gelangt wären, in den Tiefen des Meeres versunken seien. Darwin suchte den verschiedenen Möglichkeiten, wie Samen transportiert werden können, auf die Schliche zu kommen. Zu seiner Überraschung fand er heraus, daß viele Samen auch noch sprießen konnten, nachdem sie lange Zeit in Salzwasser verbracht hatten. Viele Dutzende Flaschen mit Salzwasser standen monatelang in jedem Winkel, und das nicht nur in Darwins Haus. Auch seine Söhne spannte er für seine teils äußerst mühseligen Experimente ein, manchmal sogar ganze Schulklassen aus den umliegenden Pfarreien. Manche Samen versanken und gingen ein, doch andere blieben wider alle Erwartung am Leben und ließen sich sogar noch nach achtzig Tagen zum Keimen bringen – Pfeffersamen sogar noch nach fünf Monaten. Darwin berechnete, welche Distanzen auf den Wellen schwimmende Samen innerhalb dieser Zeitspannen zurücklegen können, und die Ergebnisse reichten ohne weiteres aus, seine Theorie zu stützen. Seinen Berechnungen zufolge konnten tropische Samen in ihrer Hülse vom Golfstrom bis an die Küste Norwegens gelangen und noch keimen.
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Wallace auf einem Gemälde, das sich heute im Royal College of Surgeons of England befindet
Aber das war ihm nicht genug. Er suchte herauszufinden, ob Samen auch an Vogelfedern haften bleiben; er untersuchte den an Vogelfüßen klebenden Schlamm und fand darin sogar Tierlarven; er durchsuchte Exkremente, um herauszufinden, ob die Samen auch gegen Magensäfte unempfindlich sind; er analysierte die ausgeschiedene Nahrung von Raubtieren im Zoo, nachdem er ihnen kleine zuvor mit Samenkörnern gefütterte Vögel zum Fressen gegeben hatte. Sogar nach dreißig Tagen im Körper einer toten, in Salzwasser schwimmenden Taube waren Samen noch keimfähig. Im Oktober 1856 gab er Hooker die ersten beiden Kapitel seiner neuen Überarbeitung zu lesen; dort ging es vor allem um die Variation im Zustand der Domestikation. Unterdessen setzte er seine Experimente fort und suchte den Kontakt zu anderen Forschern, um weitere Informationen zu erhalten. Außer mit Hooker nahm er auch einen Briefwechsel mit dem Amerikaner Asa Gray (1810 –1888) auf, einem Botaniker in Harvard, der über die geographische Verbreitung der Arten arbeitete, und im September 1857 schrieb er ihm einen ausführlichen Brief, in dem er seine Position darlegte. Anfang 1857 hatte er nach Vollendung eines sehr langen Kapitels über Fruchtbarkeit und Sterilität den Abschnitt über den „Kampf ums Dasein“ begonnen; es gab bereits Hunderte von Blättern, übervoll mit Daten. Noch vor dem Sommer machte er sich an den Abschnitt über die Variation, dann ging er zu dem Teil über natürliche Auslese über. Er beschloß, das Buch Natural Selection zu nennen. Bis zum Ende des Jahres hatte er das Kapitel über die Bastardbildung abgeschlossen, und die Arbeit ging weiter. Im März 1858 waren es bereits zehn Kapitel, und Darwin schätzte, nun lägen zwei Drittel des Werks vor. Doch wegen akuter Beschwerden mußte er jetzt – wie schon einige Male in den vergangenen Jahren seit Neubearbeitung seines Entwurfs – die Arbeit unterbrechen; oft waren schwere Erschöpfungszustände schuld,
Darwin: Ein Leben für die Evolutionstheorie
Der amerikanische Botaniker Asa Gray
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Schon Alexander von Humboldt hatte sich sehr für den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Arten und der Umwelt, in der sie leben, interessiert. Die Tafel zeigt den Vulkan Chimborazo; die beigefügten Tabellen enthalten Angaben zu verschiedenen Umweltfaktoren in der jeweiligen Meereshöhe.
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dann wieder die Angst, er könne sich an den Krankheiten anstecken, die einige der Kinder befallen hatten. Am 18. Juni 1858 erreichte ihn, kurz nachdem er seine Arbeit wieder aufgenommen hatte, ein ungefähr zwanzigseitiger Artikel von Wallace mit dem Titel On the Tendencies of Varieties to Depart Indefinitely from the Original Type (Über die Neigung der Varietäten, unbegrenzt vom ursprünglichen Typus abzuweichen). Wenige Tage danach starb Charles Waring, sein jüngstes Kind, im Alter von knapp achtzehn Monaten. „Meine Pläne wurden aber zunichte gemacht, denn Anfang des Sommers 1858 schickte mir Mr. Wallace, der sich damals im Malaiischen Archipel befand, eine Abhandlung [...], und diese Abhandlung enthielt genau dieselbe Theorie wie die meinige.“ Wenn die beiden Theorien in Wirklichkeit auch nicht exakt identisch waren, so ähnelten sie einander doch verblüffend. Wallace sprach von Varietäten, vom „Kampf ums Dasein“, von Wachstumsrhythmen, welche die Populationen in Abhängigkeit von den Ressourcen durchmachten; er sprach von teilweise sehr kleinen Veränderungen, die das Überleben einer Art zu begünstigen oder zu erschweren vermögen. Er führte vor Augen, daß „die Lehre vom Zufall und von den Mittelwerten, obgleich sie auch, wenn man sie auf ein begrenztes Feld überträgt, niemals zuverlässig sein kann, doch zu immer näher am theoretischen Wert liegenden Ergebnissen führt, wenn man sie auf eine große Zahl anwendet. Und wenn man es mit einer unendlichen Anzahl von Exemplaren zu tun hat, dann wird sie sogar absolut genau. Nun, die Skala, die die Natur umfaßt, ist so riesig – die Anzahl der Individuen und Zeitperioden, mit denen sie arbeitet, reichen so nah an die Unendlichkeit heran, daß jede Ursache, so geringfügig sie auch sein mag und so sehr sie auch von den zufälligen Umständen verdeckt und behindert werden mag, am Ende doch zu ihren vollen, gesetzmäßigen Wirkungen führt.“ Er nahm
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auch zu Lamarck Stellung, und dank Wallace wird uns klar, warum einem beim Namen Lamarck unweigerlich das ominöse Giraffen-Beispiel einfällt. Wallace schreibt, daß Lamarcks Hypothesen über die fortschreitenden Änderungen in den Arten, die dadurch zustande kommen, daß die Tiere die Entwicklung ihrer eigenen Organe zu vergrößern versuchen, „oft und ohne große Hindernisse von den Autoren zurückgewiesen wurden, die sich mit den Varietäten und den Arten beschäftigt haben.“ Dann fügt er an: „Die Giraffen haben ihren langen Hals nicht dadurch erhalten, daß sie versuchten, die Blätter an den hochgelegeneren Zweigen zu erreichen, und zu diesem Zweck ständig ihre Hälse streckten, sondern dadurch, daß die Varietäten, die einen längeren Hals hatten als ihre gewöhnlichen anderen Artgenossen, sich einen neuen Nahrungsbereich innerhalb des gleichen Territoriums sichern konnten wie ihre Gefährten mit kürzeren Hälsen, doch waren jene bei der ersten Nahrungsknappheit eher in der Lage, zu überleben.“ Nun kam er auf die von einem zentralen Typus ausgehenden Divergenzlinien zu sprechen, auf die Abfolge verwandter Arten, auf das Fehlen von festen Beschränkungen, so daß die Varietäten sich immer weiter von ihrem Ausgangstypus entfernen können, und schloß mit einem deutlichen Hinweis auf den stufenweisen Charakter dieses Prozesses: „Diese Entwicklung, in kleinen Schritten und verschiedenen Richtungen, stets kontrolliert und korrigiert von den notwendigen Lebensbedingungen, durch die allein die Existenz geschützt werden kann, könnte – so möchte ich meinen – bis zur Übereinstimmung mit sämtlichen Phänomenen des organischen Lebens zu Ende verfolgt werden, ihrer Auslöschung und Aufeinanderfolge in vergangenen Zeitaltern und all den außerordentlichen Modifikationen der Form, des Instinkts und der Gewohnheiten, die sie zeigen.“ In einem Brief an Lyell kommentierte Darwin voller Bestürzung, der junge Wallace hätte, wenn er sein – Darwins – Manuskript gelesen hätte, keine bessere Zusammenfassung davon machen können. Auf Anraten von Lyell und Hooker wurde der Aufsatz von Wallace zusammen mit einem Auszug aus Darwins Arbeit sowie dem Brief, den Darwin am 5. September 1857 an Asa Gray gesandt hatte – darin hatte er seine Position kurz dargestellt und das Prinzip des Artenwandels durch erbliche Variabilität erläutert –, der Linnean Society vorgelegt. Die beiden Arbeiten wurden gemeinsam im Laufe der Sitzung vom 1. Juli 1858 verlesen. Voran gingen ihnen zwei Briefe von Lyell und Hooker, in denen diese beglaubigten, daß ihnen Darwins Ansichten bereits seit 1844 bekannt waren und daß seine Theorie im Grunde seit 1839 ohne große Veränderungen bestand. Ferner betonten sie, daß Darwin und Wallace „unabhängig und ohne Kenntnis voneinander dieselbe geniale Theorie über das Auftreten und die Weiterentwicklung von Varietäten und über die spezifischen Formen auf unserem Planeten entwickelt haben.“ „Trotzdem“, kommentiert Darwin in seiner Autobiographie, „erregten unsere gemeinsamen Erzeugnisse sehr wenig Aufmerksamkeit, und die einzige veröffentlichte Bemerkung über sie, deren ich mich erinnern kann, rührte von Professor Haughton in Dublin her, dessen Urteil dahin ging, daß alles, was neu in ihnen sei, falsch sei, und daß das Richtige alt sei. Dies beweist, wie notwendig es ist, daß jede neue Ansicht in ziemlicher Ausführlichkeit mitgeteilt werden muß, um die öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen.“ Die Tatsache, daß die Theorie anfangs fast vollständig ignoriert wurde – der damalige Präsident der Linnean Society, Thomas Bell, konstatierte in seinem Jahresbericht: „In der Tat weist dieses Jahr keine der einzigartigen Entdeckungen auf, die den Wissenschaftszweig, in den sie fallen, sozusagen revolutionieren“ –, scheint die These zu bestätigen, Darwin habe, überdies genau gleichzeitig mit Wallace, nichts anderes getan, als in systematischer Form auszusprechen, was, wie man so schön sagt, „in der Luft lag“. Wallace selbst, dessen Meinung späterhin immer mehr von der Darwins abwich, betonte stets, die Theorie der natürlichen Auslese stamme ausschließlich von Darwin, und sein eigener Artikel „hätte niemals jemanden überzeugt und wäre allenfalls als eine geistreiche Spekulation betrachtet worden, während Dein Buch das Studium der Naturgeschichte revolutioniert hat.“ Das einzige Verdienst, das Wallace für sich in Anspruch nahm, war, das Werkzeug gewesen zu sein, durch das Darwin angetrieben wurde, innerhalb kurzer Zeit sein Werk zu schreiben und zu veröffentlichen. ❑
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Die Entstehung der Arten Nach zwanzigjähriger Arbeit erscheint Darwins Hauptwerk. Es folgen weitere Auflagen, in denen er sukzessive auf die Kritik an seiner Abstammungslehre eingeht.
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b September 1858 überarbeitet Darwin intensiv sein großes Manuskript über die Arten. Er benötigt noch dreizehn Monate und 10 Tage, und Ende November 1859 erscheint „ohne Zweifel die Hauptarbeit meines Lebens“. Der Titel, auf den er sich mit seinem Verleger Murray einigt, lautet: On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life; die erste Auflage beträgt 1250 Stück, aber die Bestellungen übertreffen bei weitem die Anzahl der verfügbaren Exemplare. Die zweite Auflage erscheint im Januar 1860, die dritte, bei der am Anfang ein „Geschichtlicher Überblick über die Entwicklung der Ansichten von der Entstehung der Arten“ eingefügt ist, im Jahr 1861. In diesen wie auch in der vierten Auflage von 1866 werden keine wesentlichen Veränderungen am Text vorgenommen; die fünfte Auflage von 1869 enthält hingegen wichtige Bearbeitungen, und noch mehr die sechste und letzte von 1872, in der zusätzlich ein Kapitel, das siebte, über Einwände gegen die natürliche Zuchtwahl eingefügt wird. Die kurze Einleitung beginnt mit einem Hinweis auf Tatsachen wie die geographische Verbreitung und die Geologie, über die Darwin auf der Fahrt mit der Beagle einige Einsichten gewonnen hatte; sie versprechen „Licht zu werfen auf die Entstehung der Arten, das Geheimnis aller Geheimnisse, wie einer unserer größten Philosophen sie nannte“ – Darwin meint Herschel. Dann skizziert er den allgemeinen Aufbau und das Ziel seines Werkes: „einen klaren Einblick in die Mittel zu gewinnen, durch welche solche Abänderungen und Anpassungen bewirkt worden sind.“ Eine aufmerksame Untersuchung domestizierter Tiere und Kulturpflanzen, so Darwin, sei eine gute Möglichkeit, dieses „schwierige Problem“ zu lösen. Im ersten Kapitel, das sich der „Abänderung im Zustande der Domestikation“ widmet, betrachtet er die Ursachen für die Veränderlichkeit, die sowohl in der Natur des Individuums selbst liegen als auch in den sich ändernden Lebensbedingungen, sowie die Auswirkungen der Gewohnheit und des Gebrauchs oder Nichtgebrauchs einzelner Teile. Darwin präzisiert nun, die einzigen im Rahmen seiner Theorie wirksamen Variationen seien die erblichen; doch sowohl die Gesetze, welche die Abänderungen lenkten als auch diejenigen, nach denen sich die Vererbung vollziehe, seien größtenteils unbekannt. Er betont die Schwierigkeit, domestizierte Rassen als Abkömmlinge ursprünglich getrennter Arten oder als einfache Varietäten einzuordnen, und zählt dann eine Reihe von Fakten über Zucht und Kreuzung bei domestizierten Rassen auf. Dabei hebt er die bedeutende Rolle der vom Menschen entweder überlegt und systematisch oder unbewußt durchgeführten Selektion hervor: „Wir können nicht annehmen, daß alle diese Rassen plötzlich so vollkommen und zweckentsprechend hervorgebracht worden sind, wie wir sie vor uns sehen, und wir kennen auch wirklich von einigen die Geschichte genau genug. Der Schlüssel zu allem diesem ist das Vermögen des Menschen, immer wieder Individuen zur Zuchtwahl auszuwählen, kurz: sein akkumulatives Wahlvermögen. Die Natur schafft allmähliche Veränderungen, und der Mensch gibt ihnen die für ihn nützliche Richtung.“ Das zweite Kapitel über die „Abänderung im Naturzustande“ beginnt mit einer – man möchte fast sagen paradoxen – Äußerung Darwins: „Auch will ich hier
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nicht die verschiedenen Deutungen erörtern, die man dem Worte ‚Arten‘ gegeben hat. Keine einzige hat alle Naturforscher befriedigen können, indessen weiß jeder im allgemeinen, was mit dem Ausdruck ‚Arten‘ gemeint ist; gewöhnlich schließt die Bezeichnung das unbekannte Element eines besonderen Schöpfungsaktes ein. Und beinahe ebenso schwer definierbar ist ‚Varietät‘; gewöhnlich versteht man darunter ganz allgemein die ‚Gemeinsamkeit der Abstammung‘, obwohl diese selten nachweisbar ist.“ Diese Weigerung Darwins, den zentralen Begriff seiner Theorie zu erklären, hat ohne Zweifel große Interpretationsprobleme hervorgerufen – und ebenso seine Äußerung wenige Seiten später, er halte „die Bezeichnung ‚Art‘ für willkürlich [...], gewissermaßen aus Bequemlichkeit auf eine Reihe von Individuen angewendet, die einander sehr ähnlich sind, daß sie also von der Bezeichnung ‚Varietät‘ für die minder unterschiedlichen und mehr schwankenden Formen nicht wesentlich abweicht“. So wurde etwa die Auffassung vertreten, Darwin habe sich nicht vom „essentialistischen“ Spezies-Begriff – der die Arten von alters her nach bestimmten „wesentlichen“ und daher unveränderlichen Merkmalen definierte – zu lösen vermocht. Darwin habe sich gescheut, gegen diesen Begriff deutlich zu opponieren; daher habe er den Begriff „Art“ nach rein praktischen Kriterien angewandt, um damit gewisse Gruppen von Organismen zu identifizieren, die als solche nicht wirklich in der Natur existierten, da ja das einzige wirklich existierende Wesen das Individuum sei. Die Frage nach der Definition des Art-Begriffs ist unerschöpflich; sie geht weit über Fragen der biologischen Systematik hinaus und hat generell damit zu tun, mit welchen Kategorien wir die Welt um uns zu fassen suchen. Es handelt sich also im Grunde um ein logisches und wissenschaftstheoretisches Problem, das sich in der biologischen Systematik und in der Frage nach der Definition des Art-Begriffs konkretisiert. Das Problem ist ganz offensichtlich grundlegend für die Formulierung biologischer Theorien im allgemeinen und der Evolutionstheorie im besonderen, aber es beschränkt sich beileibe nicht darauf. Doch bildet es hier einen zentralen Punkt, und bis heute ist das Problem Gegenstand heftiger Diskussionen, die auch die Evolutionstheorie nicht beseitigen konnte – oder die sich vielleicht in gewissem Sinn durch die Abstammungstheorie sogar noch verschärften. Der Zusammenhang zwischen realer Existenz, Unveränderlichkeit und Unterschiedlichkeit der Arten bildete eine unantastbare Voraussetzung, die leider in einen offensichtlich unlösbaren logischen Widerspruch geriet. So bemerkte unmittelbar nach der Veröffentlichung der Entstehung der Arten einer der heftigsten Kritiker der Evolutionstheorie, der Schweizer Naturforscher und Geologe Louis Agassiz (1807–1873), ihm scheine hinsichtlich der allgemeinen These von der Veränderlichkeit der Arten, auf der man so beharrlich insistiere, viel Verwirrung zu herrschen. Wenn es wirklich keine Arten gebe, wie die Befürworter der Theorie der Transmutation behaupteten, wie könnten sie dann variieren?
Darwin: Ein Leben für die Evolutionstheorie
Das Titelblatt der ersten Auflage der „Entstehung der Arten“
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Eine Tafel aus den „Untersuchung über die Gletscher“, in der Louis Agassiz die Idee der „Eiszeit“ vertrat
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Andere Interpreten wiederum glauben, Darwin sei sich sehr wohl der Schwierigkeit bewußt gewesen, die Verbindung zwischen Realität und Unveränderlichkeit der Arten zu kappen; eben darum habe er wohlweislich erst gar nicht versucht, den Art-Begriff neu zu definieren, und sich statt dessen auf das berufen, was die Naturforscher mit „Art“ bezeichneten. Das ermöglichte ihm den Standpunkt, der Terminus „Art“ lasse sich auf der Ebene der Definition nicht vom Terminus „Varietät“ unterscheiden; dadurch konnte er seine Vorstellung untermauern, Evolution beruhe darauf, daß Varietäten nichts anderes seien als am Anfang ihrer Entwicklung stehende Arten. Sein Augenmerk richtete sich daher auf die zahlreichen kleinen individuellen Unterschiede, welche die Systematiker seit jeher in Verlegenheit gebracht hatten und die nun eben gerade das Rohmaterial für die Evolution bildeten: „Niemand glaubt, daß alle Individuen einer Art genau nach demselben Modell gebildet sind. Solche individuellen Unterschiede sind aber für uns von größter Wichtigkeit, denn sie sind häufig ererbt, wie jedem bekannt sein wird. Sie liefern der natürlichen Zuchtwahl das Material zur Anhäufung, so wie der Mensch in seinen Zuchtprodukten die individuellen Unterschiede in bestimmter Richtung anhäuft.“ Das war‘s! In diesen wenigen Zeilen steckt der Kern der Evolutionstheorie. Aber Darwin fährt unbeirrt fort, die Schwierigkeiten zu beschreiben, denen ein systematischer Naturforscher begegnet, wenn er die Unterschiede und Abweichungen zwischen Arten und Varietäten angeben will. Er bringt Beispiele, dokumentiert bestimmte Fälle und verdeutlicht noch einmal seine These: „Der Übergang von einer Stufe zur anderen kann in manchen Fällen lediglich von der Natur des Organismus und den verschiedenen äußeren Umständen herrühren, denen er lange Zeit ausgesetzt war. Die wichtigeren und besser angepaßten Eigenschaften sind aber sicherlich der anhäufenden Tätigkeit der Zuchtwahl, die später erklärt werden soll, und der Wirkung des vermehrten oder verminderten Gebrauchs der Teile zuzuschreiben. Eine sehr ausgeprägte Varietät dürfte daher eine beginnende Art sein; ob diese Annahme gerechtfertigt ist, muß nach dem Gewicht der in diesem Werk vorgebrachten Tatsachen und Ansichten beurteilt werden.“ Das dritte Kapitel trägt den Titel „ Der Kampf ums Dasein“. Hier beruft sich Darwin auf De Candolle, auf Lyell sowie auf Malthus und sein Prinzip, demzufolge die Zahl der Organismen in geometrischer Progression zunimmt. „Da also
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mehr Individuen ins Leben treten als bestehen können, so muß auf jeden Fall ein Kampf ums Dasein stattfinden, entweder zwischen Individuen derselben oder verschiedener Art oder zwischen Individuen und äußeren Lebensbedingungen.“ Er belegt mit Beispielen, welche komplexen und teilweise unerwarteten Beeinflussungen zwischen Lebewesen stattfinden, so daß die Widerstände, die sich der numerischen Vergrößerung einer Art in den Weg stellen, von einer Vielzahl verketteter und oft schwer zu trennender Ursachen abhängen. Er erläutert, wie durch diesen Kampf – nicht nur zwischen Arten, sondern vor allem zwischen Individuen und Varietäten ein und derselben Art, die zwar dieselben Gewohnheiten und Konstitutionen besitzen, sich aber dennoch in einer im allgemeinen noch härteren Konkurrenz befinden, als gegenüber anderen Arten – „jede Veränderung, wie gering sie auch sein und aus welchen Ursachen sie auch entstanden sein mag, wenn sie nur irgendwie dem Individuum vorteilhaft ist, auch zur Erhaltung dieses Individuums beitragen und sich gewöhnlich auch auf die Nachkommen vererben [wird]. [...] Ich habe dieses Prinzip, das jede geringfügige, wenn nur nützliche Veränderung konserviert, ‚natürliche Zuchtwahl‘ genannt, um seine Beziehung zu der vom Menschen veranlaßten künstlichen Zuchtwahl zu kennzeichnen. Indessen ist der von Herbert Spencer gebrauchte Ausdruck ‚Überleben des Tüchtigsten‘ besser und zuweilen ebenso bequem.“ Es war, wie man glaubt, eine Reaktion auf den Vorwurf des Anthropomorphismus in der Wahl des Ausdrucks „natürliche Zuchtwahl“, daß Darwin in der letzten Ausgabe der Entstehung der Arten Spencers Definition „Überleben des Tüchtigsten“ übernahm. Doch das führte in erster Linie zu neuer Kritik: Die ganze Theorie der natürlichen Selektion stelle sich letzten Endes als eine hohle Tautologie heraus – diejenigen, die überleben, sind die Tüchtigsten, aber wer sind die Tüchtigsten, wenn nicht eben gerade die, die überleben? – und sei somit ohne jeden Erklärungswert. Der Bezug auf Spencers Denken trug sicher nicht dazu bei, Klarheit in Darwins Evolutionsbegriff zu bringen. Darwin hielt überdies nicht allzuviel von Spencer. In seiner Autobiographie schreibt er: „Seine Schlußfolgerungen überzeugten mich nie [...]. Ich muß sagen, daß seine fundamentalen Schlußfolgerungen [...] vielleicht vom philosophischen Standpunkt von großem Wert sein mögen, daß sie aber ihrem Charakter nach, wie mir scheint, keine ernste wissenschaftliche Bedeutung besitzen.“ Spencer faßte Evolution als Fortschritt auf, als Entwicklung vom Homogenen zum Heterogenen, als Entfaltung bereits innewohnender Möglichkeiten, und in diesem Sinne machte er eifrig Gebrauch von der Analogie mit der Ontogenese, also der Entwicklung des Individuums. Dies war in der Tat bis zu jenem Zeitpunkt die genaue Bedeutung des Begriffs „Evolution“, und das erklärt auch, weshalb Darwin in der Entstehung der Arten an keiner Stelle dieses Substantiv verwendet, sondern statt dessen von Abstammung mit Modifikationen spricht. Spencers Interesse an der Evolution rührte von der Sozialtheorie her und vermischte sich dann mit dem Lamarckismus – paradoxerweise gerade aufgrund der Lektüre von Lyell –, so daß
Darwin: Ein Leben für die Evolutionstheorie
Der Schweizer Naturforscher und Geologe Louis Agassiz
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es sogar überdies zu einem Kurzschluß zwischen Lyells Vorstellungen und der Fortschrittsidee führte. Kein Wunder, daß aus der Verflechtung von biologischem Darwinismus und sozialem Evolutionismus ein Interpretationsknäuel entstand, welches das Etikett „Sozialdarwinismus“ trägt und all die Rückfälle mit sich brachte, von denen schon die Rede war. Also betont Darwin mit gutem Grund ausdrücklich, daß er den Begriff „Kampf ums Dasein“ „in einem weiten metaphorischen Sinn“ gebraucht, „der die Abhängigkeit der Wesen voneinander, und was noch wichtiger ist: nicht nur das Leben des Individuums, sondern auch seine Fähigkeit, Nachkommen zu hinterlassen, mit einschließt.“ Gleichwohl konnte er die besagte „kriegerische“ Interpretation des Darwinismus nicht verhindern, durch die Darwin als ein Theoretiker verstanden wurde, bei dem die Natur, um es mit Tennysons Gedicht In memoriam (1850) zu sagen, „rot an Zähnen und Klauen“ war. So entstand das Bild einer Welt, in der die Organismen, um zu überleben, nicht anders können, als miteinander zu kämpfen und sich gegenseitig umzubringen. Trotzdem entwickelte Darwins Argumentation sich explizit unter Einbeziehung der ökologischen Dimension und der geographischen Verbreitung der Organismen: „Mit Recht kann man sagen, daß zwei hundeartige Raubtiere in Zeiten des Mangels um Nahrung und Dasein miteinander kämpfen; aber man kann auch sagen, eine Pflanze kämpfe am Rande der Wüste mit der Dürre ums Dasein [...]. Von einer Pflanze, die jährlich Tausende von Samenkörnern erzeugt, von denen aber im Durchschnitt nur eines zur Entwicklung kommt, läßt sich mit noch viel größerem Rechte sagen, sie kämpfe ums Dasein mit jenen Pflanzen ihrer oder anderer Art, die bereits den Boden bedecken.“ So stieß der Darwinismus auf Zustimmung oder Ablehnung gerade wegen der vermeintlichen moralischen Rechtfertigung mit naturalistischen Argumenten, die er den auf Konkurrenz und Wettbewerb beruhenden Modellen sozialer und ökonomischer Entwicklung zu liefern schien. Um einige Mißverständnisse zu klären, auf die die Verwendung des Begriffs „natürliche Zuchtwahl“ gestoßen war, fügte Darwin ein ganzes Kapitel ein, in dem er erklärte, wie von den unzähligen individuellen Unterschieden und Variationen die günstigen erhalten bleiben und die ungünstigen eliminiert werden: „Manche glauben, die natürliche Zuchtwahl bringe Varietäten hervor, während sie doch nur solche Veränderungen festhält, die einem Organismus unter seinen Lebensverhältnissen nützen. [...] Andere haben eingewendet, daß die Bezeichnung ‚Zuchtwahl‘ bewußtes Wählen seitens der abzuändernden Tiere bedeute, und es wurde hinzugefügt, daß die Pflanzen keinen Willen hätten und daß also der Ausdruck auf sie nicht passe. In solchem buchstäblichen Sinne ist die Bezeichnung ‚natürliche Zuchtwahl‘ allerdings falsch; allein wer hat jemals dem Chemiker einen Vorwurf gemacht wegen des Ausdrucks der ‚Wahlverwandtschaft‘ der verschiedenen Elemente? [...] Es wurde auch gesagt, ich spräche von der natürlichen Zuchtwahl als von einer tätigen Kraft oder Gottheit; wer aber wird einem Autor Vorhaltungen machen, wenn er von der Anziehungskraft sagt, sie beherrsche die Bewegung der Planeten? Jeder weiß, was mit solchen bildlichen Ausdrücken gemeint ist, die schon der Kürze wegen notwendig sind. Es ist ja auch schwer, das Wort ‚Natur‘ genau zu bestimmen. Ich verstehe darunter die vereinigte Wirkung und Leistung vieler Naturgesetze und unter Gesetzen die nachgewiesene Aufeinanderfolge der Ereignisse.“ Darwin distanzierte sich von finalistischen Interpretationen jeder Art: Kein Zweck, kein bewußter Wille, keine geheimnisvolle Macht steuert den Selektionsprozeß. In diesem Zusammenhang streifte Darwin auch kurz ein Thema, dem er sich in der Abstammung des Menschen ausführlicher widmen sollte: die geschlechtliche Selektion. Sie hängt nicht vom dem gegen andere lebende Individuen oder gegen äußere Bedingungen geführten Kampf ums Dasein ab, „sondern vom Kampf zwischen den Individuen eines Geschlechts, gewöhnlich des männlichen, um den Besitz des anderen. Das Schlußergebnis für den erfolglosen Mitbewerber ist nicht dessen Tod, sondern eine geringe oder gar keine Nachkommenschaft.“ Die natürliche Zuchtwahl kann zum Aussterben oder zur Divergenz der Charaktere führen, und letztere führt Darwin als ein weiteres Prinzip ein, um zu erklären, wie es geschehen könne, „daß, je mehr die Abkömmlinge einer Art in Körperbeschaffenheit, Lebensweise oder Gewohnheiten voneinander abweichen, sie desto mehr befähigt sein werden, viele und verschiedene Stellen im Haushalt der Natur einzunehmen und sich damit an Zahl zu vermehren.“ Im einzigen Schaubild des ganzen Werkes werden die Divergenz der Charaktere und das Aussterben erläutert. Es handelt sich dabei um eine rein theoretische Schematisierung der Abstammung mit Modifikationen im Laufe langer Zeitperioden und
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illustriert die Art und Weise, „wie sich dieser von der Divergenz der Charaktere abgeleitete Vorteil in Verbindung mit den Prinzipien der natürlichen Zuchtwahl und des Aussterbens betätigt.“ Das Diagramm ist nichts anderes als eine genealogische Klassifikation, in der die Verbindungen zwischen den Unterordnungen der einzelnen Organismen-Gruppen ersichtlich sind. „ Es ist wirklich wunderbar [...], daß die Tiere und Pflanzen aller Zeiten und Orte so nahe verwandt sind, daß sie Gruppen bilden, die anderen Untergruppen übergeordnet sind, in der Weise nämlich, daß Varietäten einer Art am nächsten und daß Arten einer Gattung weniger eng und ungleichmäßig verwandt sind und Sektionen und Untergattungen bilden; daß Arten verschiedener Gattungen noch weniger verwandt sind und daß Gattungen, die in verschiedenem Grade verwandt sind, Unterfamilien, Familien, Ordnungen, Unterklassen und Klassen bilden. [...] Wären die Arten unabhängig voneinander erschaffen worden, so wäre keine Erklärung für diese Einteilung möglich; sie erklärt sich jedoch aus der Vererbung und der Wirkung der natürlichen Zuchtwahl, die Aussterben und Divergenz der Charaktere zur Folge hat [...].“ Wir stehen hier vor einer gewaltigen Entwicklung in der Theorie und der Methodologie: Das „natürliche System“, nach dem die Systematiker immer suchten, findet jetzt in der – durch Differenzierung und Selektion vermittelten – genealogischen Verknüpfung seine Begründung; die frühere metaphysischessentialistische Rechtfertigung wird überflüssig. Nun muß man nicht mehr nach einem Merkmal oder einer Gruppe von vielen notwendigen und hinreichenden Merkmalen suchen, um die Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu bestimmen; sie läßt sich nun durch die Existenz einer kontinuierlichen Reihe vermittelnder Gruppen begründen, welcher die Verbindung herstellen. An die Stelle der alten scala naturae, des Sinnbildes einer linear zunehmenden Perfektion in einer unveränderlichen und vorbestimmten Welt, tritt nun das Bild des Baumes, dem Darwin in der folgenden Beschreibung theoretischen Gehalt gibt: „Die grünen und knospenden Zweige stellen die bestehenden Arten dar und die im vorhergehenden Jahr entstandenen Zweige die vielen ausgestorbenen Arten. In jeder Wachstumsperiode haben alle Zweige das Bestreben, sich nach allen Seiten hin zu erstrecken und die benachbarten Äste und Zweige zu überwachsen und zu unterdrücken, ebenso wie im großen Kampf ums Dasein Arten und Artengruppen andere Arten zu meistern suchen. [...] So wie Knospen durch Wachstum neue Knospen erzeugen und diese wieder, wenn sie lebenskräftig sind, ausschlagen, zu neuen Zweigen werden und schwächere Zweige zu überwinden suchen, so glaube ich, geschieht es auch seit Generationen am großen Lebensbaum, der die Erdrinde mit seinen toten, dahingesunkenen Ästen erfüllt und die Erdoberfläche mit seinem ewig neu sich verästelnden schönen Gezweige belebt.“ Wie kommen nun aber die Variationen, das Rohmaterial, aus dem eine Auslese vorgenommen werden kann, zustande? „Unsere Unkenntnis der Gesetze der Abänderung ist groß“, unter-
Darwin: Ein Leben für die Evolutionstheorie
Der Baum der Evolution, wie er in der vierten Auflage von Haeckels „Anthropogenie oder Entwicklungsgeschichte des Menschen“ dargestellt wurde
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Gregor Mendel (dritter von rechts) auf einem Erinnerungsphoto des Klosters in Altbrünn
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streicht Darwin. Seine Strategie besteht darin, die Variation im Grunde genommen als einen „blinden Fleck“ zu betrachten. Dieser sollte sich erst viel später auflösen – mit den Fortschritten der Genetik und der Wiederentdeckung der in Vergessenheit geratenen Mendelschen Gesetze. Erst Mitte unseres Jahrhunderts hat uns die Strukturaufklärung der DNA, die erst kurz zuvor als Erbsubstanz erkannt worden war, die Entschlüsselung des sogenannten genetischen Codes ermöglicht. In ihm sind die Informationen festgehalten, nach denen sich der Bauplan der Lebewesen richtet, sowie ihre Entwicklung im Wechselspiel mit der Umwelt. All dies war Darwin noch unbekannt – und eigentlich für ihn sogar unvorstellbar, wenn man den Rahmen seiner Theorie betrachtet, in der die Variation den Rang eines wichtigen Phänomens erhielt, während die Erklärung der Erblichkeit von Merkmalen oder ihrer Übertragung von den Eltern auf die Kinder noch tief in der Theorie der Mischvererbung, der sogenannten blending inheritance, verwurzelt war. Daß der Nachwuchs Merkmale aufweise, die in der Mitte zwischen denjenigen der Eltern lägen, war eine allgemein geteilte Ansicht und schien auch unmittelbar einleuchtend. Auch Darwin schloß sich diesem Konzept an, obwohl es in seiner Theorie erblicher Merkmale, die – wie Fleming Jenkins 1867 anmerkte – infolge von Kreuzungen „verwässert“ würden, bedeutende Probleme verursachte. Wenn man in eine Dose mit weißer Farbe ein paar Tropfen schwarze Farbe einrührt (die Variation), erhält man ein Grau, aus dem sich nicht wieder ein reines Schwarz gewinnen läßt; und wenn daraufhin einige Tropfen dieser Mischung in weißer Farbe verrührt werden, muß die Farbänderung verschwinden. Der Einwand war begründet, und Darwin war sich dessen wahrscheinlich vor der Kritik von Jenkins nicht in demselben Maße bewußt wie anderer Schwierigkeiten seiner Theorie. Der Analyse dieser Schwierigkeiten widmete er das sechste Kapitel der Entstehung der Arten, dem er später nochmals ein weiteres Kapitel hinzufügte; darin ging er auf die Kritiken ein, die seit Veröffentlichung der früheren Auflagen vorgebracht worden waren. Bezüglich der Ursachen der Variation suchte Darwin in erster Linie zu erklären, wie er es gemeint hatte, daß die Variation auf „Zufall“ zurückzuführen sei. Die moderne Evolutionsbiologie verwendet den Ausdruck „zufällige Mutation“ ganz in der Darwinschen Bedeutung: Der Begriff „zufällig“ verweist nicht auf ein Fehlen von Ursachen, sondern vielmehr auf die Tatsache, daß die Mutationen – was auch immer ihre Gründe sind – kein vom elterlichen Erbe veranlaßter Versuch sind, der von sich aus auf eine bessere Anpassung des Organismus an die Umwelt zielt. Mutationen gehen sozusagen nicht in dieselbe Richtung wie die Veränderungen der Umwelt, um etwa eine geeignete Lösung für die neuen Probleme zu finden, vor welche die Umwelt den Organismus stellt; genau in diesem Sinne sind sie zufällig, nicht zweckbestimmt. Erst die Selektion greift a posteriori ein: Sie prüft, erhält oder eliminiert das, was sich von Mal zu Mal als nützlich oder schädlich für das Individuum, und folglich auch für die Art, erweist. Darwin hatte allen Grund zur Sorge, falsch verstanden zu werden – das heißt so, als argumentiere er mit Vorsehung oder Zweckursachen –, und versuchte deshalb zu präzisieren, das Wort „Zufall“ sei „natürlich keine richtige Bezeichnung, aber sie läßt wenigstens unsere Unkenntnis der Ursachen besonderer Veränderungen durchblicken“. Im Anschluß daran wagt er den Versuch, mögliche Gründe für die Variation festzulegen, und stellt zwischen ihr und den „Lebensbedingungen [...], denen die betreffenden Arten seit vielen Generationen ausgesetzt waren“, Beziehungen her, um dann jedoch sofort zu bemerken, er könne „Beispiele anführen [...], daß gleiche Varietäten derselben Arten unter den denkbar verschiedensten Lebensbedingungen entstanden und andererseits ungleiche Varietäten unter scheinbar den gleichen äußeren Verhältnissen. [...] Tatsachen dieser Art lassen mich weniger
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Gewicht auf den direkten Einfluß der Lebensbedingungen legen, als auf die Neigung zu variieren, deren Ursache unbekannt ist.“ Er beteuert auch, es könne als vollkommen unzweifelhaft gelten, „daß der Gebrauch gewisse Teile kräftigt und vergrößert, während der Nichtgebrauch sie schwächt; und es geht ferner daraus hervor, daß solche Modifikationen erblich sind.“ Hier führt er unter anderem als Beispiel die Augen des Maulwurfs und die Atrophie der Flügel des Vogel Strauß an, dem die Ausbildung von großen Füßen mehr als die Flügel dazu dienen, sich den speziellen Gefahren seiner Umwelt zu entziehen. Er spricht von der Wirkung des Klimas, besonders auf die Pflanzen, und von der Beziehung zwischen den Variationen der verschiedenen Teile des Organismus, vor allem während der Wachstums- und Entwicklungsphase; er unterstreicht die größere Variabilität spezifischer Merkmalen im Vergleich zu den älteren und somit konsolidierten Gattungsmerkmalen; er geht auch auf die Reversion ein, die man nicht nur mit Hilfe der Annahme deuten könne, „daß plötzlich ein Individuum auf einen durch Hunderte von Generationen entfernten Ahnen zurückschlägt, sondern daß in jeder der aufeinanderfolgenden Generationen das betreffende Merkmal gleichsam latent vorhanden war, bis es schließlich unter günstigen Umständen wieder erwachte.“ Beträchtliche Auswirkungen lassen sich auch auf die konstitutionellen Unterschiede zurückführen, die das Verhalten hervorruft. Daraus zieht Darwin den Schluß: „Was schließlich immer die Ursache der geringen Unterschiede zwischen Nachkommen und Eltern sein möge (und eine Ursache muß immer vorhanden sein): Wir haben Grund zu der Annahme, daß es die stete Anhäufung nützlicher Unterschiede war, was alle wichtigen Modifikationen des Körperbaus in Beziehung zu den Lebensgewohnheiten einer jeden Art entstehen ließ.“ Die Tatsache, daß Darwin Umwelt, Klima, Gewohnheiten und Gebrauch oder Nichtgebrauch von Körperteilen zu den möglichen, mehr oder weniger direkten Ursachen der Variation zählte, wurde in der Folgezeit als eine Art Rückfall in den Lamarckismus gedeutet. Da aber Lamarck – anders, als man ihm gemeinhin unterstellt – nicht die These einer direkten Wirkung der Umwelt auf den Organismus vertreten hatte, begann man, diese Konzepte erst im Laufe der Zeit, als „Lamarckismus“ und „Darwinismus“ immer radikaler im Sinne alternativer und unvereinbarer Positionen verstanden wurden, als Indizien für eine lamarckistische Interpretation der Evolution zu etikettieren. Dies geschah unter anderem als Folge der klaren Unterscheidung, die der deutsche Biologe August Weismann (1834–1913) in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts zwischen Somatoplasma und Keimplasma vornahm, das heißt zwischen Körperzellen – sie werden durch äußere Einflüsse modifiziert, sind vorläufig und verschwinden zusammen mit dem Individuum – und Keimzellen, in denen die Erbmerkmale hinterlegt sind und die vor solchen Einflüssen vollkommen geschützt sind. Von nun an wurde die Vererbung erworbener Eigenschaften und der direkte Einfluß der Umwelt auf die erbliche Konstitution des Organismus gleichsam zum Aberglauben erklärt und der Lamarckismus somit als unsinnig gebrandmarkt. So sehr
Darwin: Ein Leben für die Evolutionstheorie
Diese Abbildung aus Weismanns Buch „Die Entstehung der Sexualzellen bei den Hydromedusen“ zeigt den Kopf eines weiblichen Hydroideums mit Tentakeln sowie Knospen mit Eiern.
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Zwei Hähne aus Darwins Schrift „Das Variieren der Tiere und Pflanzen im Zustande der Domestikation“
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sich Darwin seinerseits vom Lamarckismus distanziert hatte, war es weniger der Gebrauch oder Nichtgebrauch von Organen oder der direkte Einfluß der Umwelt, was er am Lamarckismus ablehnte, zumal man diese Punkte damals noch nicht als spezifische Aspekte der Lamarckschen Theorie ansah, sondern als allgemein verbreitete und akzeptierte Meinungen im Umfeld des Konzepts einer Art schwachen Erblichkeit. Was Darwin am Lamarckismus zurückwies, war der innere Antrieb, der zu einer Wirkung führte, der Finalismus, das Fortschrittsdenken, und desto mehr sah er dadurch die Notwendigkeit, plausible natürliche Ursachen für eine reiche und nicht zielgerichtete Variation zu finden, auf die sich der rein mechanische Ablauf der Selektion zurückführen ließ. Auf den ungefähr 900 Seiten seines Werkes Das Variieren der Tiere und Pflanzen im Zustande der Domestikation (Variation of Animals and Plants under Domestication), das 1868 erschien, präsentierte Darwin eine enorme Menge an Beobachtungen und Informationen zur Unterstützung seiner in der Entstehung der Arten ausgeführten Ideen. Doch vor allem ist diese Schrift wegen der „provisorischen Hypothese der Pangenesis“ bekannt, einer Theorie der Erblichkeit erworbener Merkmale, die manche Interpreten als eine ad-hoc-Theorie ansehen, wenn nicht sogar als eine Spekulation, mit der Darwin den im Zusammenhang mit der Evolutionstheorie aufgetretenen Schwierigkeiten entkommen wollte. Die Pangenesis-Theorie suchte viele verschiedene Phänomene der Reproduktion, der Entwicklung, der Erblichkeit und der Variation zu erklären. Dabei ging Darwin von der Existenz winziger Partikel, der „Gemmulae“, aus und berief sich dabei auf Buffon, Spencer und andere Autoren, die, wenngleich in anderem theoretischem Zusammenhang, ähnliche Vorstellungen entwickelt hatten; auch gewisse Einflüsse seines Großvaters Erasmus lassen sich hier nicht ausschließen. Die im ganzen Körper verteilten Gemmulae müssen vom Körpergewebe zu den Fortpflanzungsorganen wandern, um eine Erklärung dafür zu liefern, daß erworbene Merkmale, also etwa der intensivere oder schwächere Gebrauch eines Körperteils, erblich sein können. Diese Theorie erwies sich sehr schnell als falsch und wurde unbrauchbar, sobald die Erblichkeit erworbener Merkmale widerlegt und durch wissenschaftliche Theorien zurückgewiesen worden war. Einige Interpreten sehen in Darwins Gemmulae immerhin eine richtige Vermutung hinsichtlich der Vererbung in Form abgrenzbarer Teilchen, die dann ihre Bestätigung in den Experimenten Gregor Mendels (1822 –1884) und später in der Mutationstheorie von Hugo de Vries (1848 –1935) gefunden habe. Es ist bedeutsam, daß Darwin bereits in seiner Schrift Das Variieren der Tiere und Pflanzen Gelegenheit hatte, auf eine Reihe von Kritiken und Mißverständnissen einzugehen, die unter anderem der Botaniker Asa Gray vorbrachte. Dieser hatte sich sofort zur Evolution und zur natürlichen Selektion bekannt und war zu einem der größten Verteidiger des Darwinismus in Amerika geworden; er konnte sich aber dennoch nicht von der Vorstellung eines Schöpfungsplans lösen. Darwin nimmt einen Vergleich zu Hilfe: Er stellt die Bildung von Strukturen, die ihre Anpassung durch nicht vorherbestimmte Variation erreichten, der Konstruktion eines Gebäudes gegenüber, bei dem Steine benutzt werden, die man am Fuße eines Abgrundes findet: „Die Formen der Steinfragmente am Grunde unseres Abhangs können zufällig genannt werden; dies ist aber nicht streng korrekt; denn die Form eines jeden hängt von einer langen Reihe von Ereignissen ab, welche sämtlich natürlichen Gesetzen unterliegen [...]. Aber in Bezug auf den Gebrauch, welchen man mit den Fragmenten machte, kann ihre Form streng zufällig genannt werden; und hier finden wir uns einer großen Schwierigkeit gegenüber, durch deren Erwähnung ich mir wohl bewußt werde, die Grenzen meines eigentlichen Bereiches zu überschreiten. Ein allwissender Schöpfer muß jede Konsequenz, welche den von ihm eingesetzten Gesetzen folgt, vorausgesehen haben; kann man aber vernünftigerweise behaupten, daß der Schöpfer absichtlich angeordnet habe, wenn wir die Worte im gewöhnlichen Sinne gebrauchen, daß gewisse Felsfragmente gewisse Formen annehmen sollen, damit der Baumeister sein Gebäude
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errichten kann? Wenn die verschiedenen Gesetze, welche die Form jedes Fragments bestimmt haben, nicht wegen des Baumeisters vorausbestimmt waren, kann man mit irgendwelcher größerer Wahrscheinlichkeit behaupten, daß der Schöpfer wegen der Züchter jede der unzähligen Abänderungen bei unseren domestizierten Tieren und Pflanzen speziell angeordnet habe, wobei doch viele dieser Variationen für den Menschen von keinem Nutzen und für die Geschöpfe selbst nicht wohltätig, sondern weit häufiger schädlich sind? Ordnete er an, daß der Kopf und die Schwanzfedern der Tauben variieren sollen, damit der Züchter seinen grotesken Kröpfer und seine Pfauentaube züchten könne? Ließ er den Bau und die geistigen Eigenschaften des Hundes variieren, damit eine Rasse gebildet werden könne von unbezähmbarer Wildheit, mit Kinnladen, welche zur Befriedigung der rohen Jagdlust des Menschen einen Bullen festhalten können? Wenn wir aber den Grundsatz in einem Falle aufgeben – wenn wir nicht annehmen, daß die Abänderungen des ursprünglichen Hundes absichtlich so geleitet wurden, daß z. B. das Windspiel, jenes vollkommene Abbild der Kraft und der Symmetrie, gebildet werden könne –, so haben wir keinen Schatten von Grund zu der Annahme, daß Abänderungen absichtlich und speziell in ihrer Richtung bestimmt worden seien, welche, ihrer Natur nach gleich und das Resultat derselben allgemeinen Gesetze, die Grundlage dargeboten haben, auf welcher sich durch natürliche Zuchtwahl die Bildung der am vollkommensten angepaßten Tiere in der Welt, mit Einschluß des Menschen, erhoben haben. [...] Wenn wir annehmen, daß jede besondere Abänderung von Anbeginn der Zeit an voraus angeordnet war, so muß uns die Plastizität der Organisation, welche zu vielen schädlichen Strukturabweichungen führt, ebenso wie jene üppige Kraft der Reproduktion, welche unvermeidlich zu einem Kampfe ums Dasein und als Folge hiervon zu der natürlichen Zuchtwahl oder dem Überleben des Passendsten führt, als überflüssige Gesetze der Natur erscheinen. Andererseits ordnet ein allmächtiger und allwissender Schöpfer jedes Ding an und sieht jedes Ding voraus. Hierdurch werden wir einer Schwierigkeit gegenüber gebracht, welche ebenso unlöslich ist wie die des freien Willens und der Prädestination.“ Die Antwort an Asa Gray eröffnete auch ein Feld für Interpretationen, denen zufolge Darwin mit der Pangenesis-Theorie eine Neubestimmung der Rolle der natürlichen Zuchtwahl habe vornehmen wollen. Auf andere Kritiken antwortete er im siebten Kapitel der Entstehung der Arten, das in die sechste Auflage von 1872 aufgenommen wurde. Hier ging er insbesondere auf die Einwände ein, die der englische Zoologe Jackson Saint-Georges Mivart (1827–1900) – auch er zunächst ein begeisterter Anhänger von Darwins Ideen, später jedoch einer seiner schärfsten Kritiker – gegen die natürliche Selektion in einem 1871 veröffentlichten Buch vorgetragen hatte, dessen Titel Über die Schöpfung der Arten (On the Genesis of Species) schon viel über die Absichten des Autors verrät. Mivart betonte seinen Glauben an die göttliche Macht und warf Darwin unter anderem vor, die natürliche Selektion könne keine Erklärung für die Anfangsstadien nützlicher Strukturen liefern. Darwin diskutiert nun eine riesige Menge von Fallbeispielen, um zu zeigen, wie die Gewohnheit, der Gebrauch und die Entsprechung zwischen schrittweiser Veränderung der Struktur und Funktionswechsel durch natürliche Selektion eine vollständige Erklärung bieten könne, daß Organismen schrittweise neue, angepaßte Strukturen erwerben. Er scheut auch nicht davor zurück, mit Mivart über die einzigen beiden von ihm genannten Beispiele aus dem Pflanzenreich zu streiten, in denen es – man beachte den Zufall! – um die Gestalt von Orchideen und die Bewegung von Kletterpflanzen ging. Genau diesen beiden Themen hatte Darwin, nachdem er wie gewöhnlich eine immense Menge an Experimenten absolviert hatte, zwei Arbeiten gewidmet, die nach der ersten Auflage der Entstehung der Arten publiziert wurden. In seinem Werk Die verschiedenen Einrichtungen, durch welche Orchideen von Insekten befruchtet werden (On the Various Contrivances by which Orchids are Fertilized by Insects, 1862) erklärt Darwin die Vorteile der Fremdbestäubung und erläutert, wie die Orchideen wunderbar angepaßte Strukturen entwickelt haben, um zu diesem Zweck Insekten anzulocken; in der Schrift Die Bewegungen und Lebensweise der kletternden Pflanzen (The Movements and Habits of Climbing Plants, 1864) beleuchtet er die verschiedenen Strategien, die die Pflanzen verfolgen, um durch Emporranken den Vorteil zu erlangen, „das Licht und die freie Luft
Darwin: Ein Leben für die Evolutionstheorie
Eine englische Brieftaube aus „Das Variieren der Tiere und Pflanzen im Zustande der Domestikation“
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Die Ranke einer Kletterpflanze, die den Stengel einer anderen Pflanze umklammert
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mit so wenig Aufwand an organischer Substanz als nur möglich zu erreichen“. Die beiden Studien boten – neben der großen Menge an Informationen, die sie enthielten – die Möglichkeit, neue Bestätigungen für Darwins Erklärungsschema zu finden, und gerade dadurch stellten sie natürlich einen fundamentalen Angriff auf die Idee eines Schöpfungsplans dar. Kein Wunder, daß sie zur Zielscheibe für diejenigen Kritiker wurden, die, obgleich sie sich zur Evolution bekannten, dennoch nicht hinnehmen konnten, daß ein metaphysisches Naturkonzept durch ein materialistisches ersetzt wurde und an die Stelle eines göttlichen Schöpfungsplans ein blinder, mechanischer Prozeß trat. Es war somit auch nicht die Idee einer Evolution als solche, die auf größeren Widerstand stieß; vielmehr etablierte und verbreitete sie sich bemerkenswert rasch – ganz im Gegensatz zur Idee der natürlichen Selektion. Die Evolution wurde schnell „eine Tatsache“, die Selektion blieb hingegen bei vielen Leuten und für lange Zeit „eine Hypothese“ – und das war durchaus schädlich, ließ man doch, wenn man von einer Hypothese sprach, abschätzig durchblicken, daß es sich dabei um eine nicht wissenschaftliche und von Tatsachen nicht bestätigte Spekulation handle. Historisch betrachtet ist es daher unklug, die Begriffe „Darwinismus“ und „Evolutionismus“ als Synonyme zu verwenden, da viele Leute, auch im engsten Freundeskreis Darwins, sich als Evolutionisten bezeichnen konnten, während sie gleichzeitig einige Komponenten von Darwins Theorie, die diese eben als „darwinistisch“ charakterisierten, zurückwiesen. Auch der Darwinsche Gradualismus – kleine, zufällige Variationen werden einer Selektion unterzogen, wodurch es im Laufe großer Zeiträume zur Modifikation von Arten und zur Entstehung neuer Spezies kommt – war von Anfang an herber Kritik ausgesetzt, da er sich gegen die essentialistische, auf wesensmäßigen Unterscheidungen basierende Konzeption der lebendigen Welt richtete. So geschah es, daß der graduellen Evolution, wie Darwin sie in seiner Theorie formuliert hatte, die Idee einer Evolution „in Sprüngen“ entgegengesetzt wurde, derzufolge plötzliche große Variationen die Bildung neuer Arten auslösen. Aus metaphysischer Sicht, so wurde argumentiert, gebe es einen klaren Grund, die sprunghafte Evolution der stufenweisen Entwicklung vorzuziehen: Der „Saltationismus“ (von lateinisch saltus, Sprung) erlaube, die Getrenntheit der Arten aufrechtzuerhalten und die essentialistische Definition der Spezies – wenn auch nur mit knapper Not – zu retten. Vielleicht sind die Arten ja nicht ewig, kommentierte dies ironisch der Wissenschaftsphilosoph David Hull, einer der heutigen Teilnehmer an der unerschöpflichen Darwinismus-Debatte, aber dafür zumindest voneinander getrennt. Darwin hingegen war sich in dieser Hinsicht absolut sicher, und in seiner Entgegnung auf Mivart in der letzten Auflage der Entstehung der Arten bekräftigte er seine Position noch einmal: „ Mivart nimmt ferner an (und einige Naturforscher stimmen ihm darin bei), daß neue Arten ‚plötzlich‘, d. h. durch plötzlich erscheinende Änderungen‚ entstehen. [...] Es sei kaum anzunehmen, meint er, daß der Vogelflügel ‚anders entstanden sei als durch verhältnismäßig plötzliche Abänderung einer besonders abweichenden und auffallenden Art‘ [...]. Diese Schlußfolgerung, die große Sprünge und Unterbrechungen der Reihe voraussetzt, dünkt mich sehr unwahrscheinlich. [...] Die Erfahrung lehrt uns, daß jähe, gut ausgeprägte Variationen bei unseren Haustieren und Kulturpflanzen nur vereinzelt und nach langen Zwischenräumen vorkommen. Kämen sie im Naturzustande vor, so würden sie [...] in der Regel durch zufällige Vernichtungsursachen und durch spätere Zwischenkreuzungen verlorengehen; dasselbe ist bekanntlich auch im Zustande der Domestikation der Fall, wenn plötzliche Abänderungen nicht sorgfältig erhal-
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ten und ausgesondert werden.“ Trotz seines Hinweises auf die Isolation als grundlegendes Element für die Bildung von Rassen unter domestizierten Tieren neigt Darwin ganz im Gegensatz zu dem, was er in den ersten Phasen der Formulierung seiner Theorie vertreten hatte, hier dazu, die Isolation als fundamentalen Mechanismus in der Natur unterzubewerten. Dies ist wiederum der Ausgangspunkt einer anderen, wichtigen und auch innerhalb der späteren Evolutionsbiologie geführten Debatte um die unumgängliche Rolle geographischer Isolation für die Bildung neuer Arten; das heißt, es geht es um die Frage, ob die natürliche Selektion ausreicht, um Isolationsmechanismen zwischen beginnenden Arten aufzubauen, die ihnen dann die endgültige Trennung von der ursprünglichen Art sichern. Darwins Position zur Frage des Gradualismus und zur Wichtigkeit der Selektion ist klar und eindeutig. Das Kapitel, in dem er sich der Untersuchung der Einwände gegen seine Theorie widmet, schließt mit den Worten: „Wer der Meinung ist, daß irgendeine alte Form sich plötzlich durch eine geheimnisvolle Kraft oder Neigung verändert habe, z. B. plötzlich Flügel bekam, der ist fast zu der Annahme gezwungen, daß viele Individuen [...] gleichzeitig variierten. [...] Er wird ferner annehmen müssen, daß viele Organe, die allen anderen Teilen desselben Geschöpfes sowie den umgebenden Bedingungen vortrefflich angepaßt sind, plötzlich auftraten, aber wird für solch ein kompliziertes und wundervolles Zusammenpassen auch nicht den Schatten einer Erklärung beibringen können. [...] All das zusammengenommen heißt aber, wie mich dünkt, in den Bereich des Wunders eintreten und die Wissenschaft verlassen.“ Im folgenden wendet Darwin sich den Instinkten zu. Das Verhalten war ein höchst delikates Thema, und Darwin schickt voraus, man habe es nicht „mit dem Ursprung der geistigen Fähigkeiten zu tun“. Man könnte böswillig anmerken: typischer Fall von vorauseilendem Gehorsam. Darwin verfolgt hier eine ähnliche Strategie wie bei seinem Art-Begriff: Er schreibt, er wolle nicht versuchen, eine Definition des Instinkts zu geben, und beschränkt sich darauf, zu erklären: „Wenn eine Handlung, zu deren Ausführung wir Menschen Erfahrung brauchen, von einem Tier, besonders von einem jungen Tier vollkommen ohne Erfahrung ausgeführt wird, oder von vielen Individuen gleichzeitig, ohne daß sie den Zweck der Übung kennen, so sagt man gewöhnlich, sie sei ‚instinktiv‘ “. Nun kommt er rasch auf den Ursprung der Instinkte zu sprechen, für den er denselben Mechanismus verantwortlich macht, der auch in der Evolution überhaupt wirksam ist: „Ich [sehe] keinen Grund, warum die natürliche Zuchtwahl nicht Instinktabänderungen fixieren und, soweit sie nützlich sind, anhäufen sollte. Auf diese Weise sind nach meiner Meinung die kompliziertesten und wundersamsten Instinkte entstanden. Wie Abänderungen des Körperbaus durch Gebrauch oder Gewohnheit entstanden und vermehrt, durch Nichtgebrauch vermindert oder verlorengegangen sind, so war es zweifellos auch bei den Instinkten der Fall. Ich glaube allerdings, daß in vielen Fällen die Wirkung der Gewohnheit gegenüber der Wirkung der natürlichen Zuchtwahl eine untergeordnete Rolle spielt bei sog. spontanen Instinktabänderungen, d. h. bei Variationen, die aus denselben unbekannten Ursachen auftreten wie geringe Abweichungen des Körperbaus.“ Auch hier folgen nun zahlreiche Beispiele von domestizierten und wildlebenden Tieren sowie die Diskussion einiger Spezialfälle, die gegen die Theorie zu sprechen scheinen. Das neunte Kapitel widmet sich der Bastardbildung. Darwin sucht zu zeigen, daß die Unfruchtbarkeit zwischen Arten und Varietäten graduell ist und nicht – wie man auf Grundlage der klassischen Theorie allgemein anzunehmen pflegte – absolut eindeutig. Die beiden folgenden Kapitel befassen sich mit Geologie und tragen die Überschriften „Die Lückenhaftigkeit der geologischen Urkunden“ und
Darwin: Ein Leben für die Evolutionstheorie
Das Titelblatt eines Buches aus dem Jahr 1885, das Stellungnahmen gegen die „Darwinsche Torheit“ zusammenfaßte
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Diese Abfolge unterschiedlicher Schädel von Tauben benutzte Darwin, um die Möglichkeit der Selektion zu illustrieren. Die Abbildung stammt aus der Schrift „Das Variieren der Tiere und Pflanzen im Zustande der Domestikation“.
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„Die geologische Aufeinanderfolge organischer Wesen“. Darwin kann hier seine geologischen Fachkenntnisse einbringen, um auf den „ernsthafteste[n] Einwand, der gegen meine Theorie erhoben werden kann“, zu antworten: die Tatsache, daß die Geologie keine ununterbrochene organische Kette zeigt. Darwin führt eine lange Reihe von Beweisen dafür an, „daß die geologischen Urkunden sehr unvollständig sind; daß nur ein kleiner Teil der Erde geologisch sorgfältig untersucht ist; daß nur bestimmte Klassen organischer Wesen lange fossil erhalten blieben; daß die Zahl der in unseren Sammlungen aufbewahrten Individuen und Arten gar nichts bedeutet im Vergleich zu der Zahl der Generationen, die während einer einzigen Formationszeit untergingen; daß zwischen den meisten Formationen große Zeiträume verstrichen sein müssen, da sich nur während der Senkungsperioden genügend dicke fossilreiche Ablagerungen anhäufen konnten, um spätere Abtragungen zu überdauern, daß deshalb wahrscheinlich während der Senkungsperioden mehr Tiergeschlechter untergingen und während der Hebungsperioden mehr Variationen entstanden, und daß die geologischen Urkunden der letzteren am wenigsten vollkommen erhalten blieben; daß sich die einzelnen Formationen nicht kontinuierlich ablagerten; daß die Dauer der einzelnen Formationen wahrscheinlich kurz war im Vergleich mit der Durchschnittsdauer der Arten; daß die Einwanderung großen Anteil hatte am Auftreten neuer Formen in einer Gegend oder Formation; daß weitverbreitete Arten am häufigsten variierten und neue Arten entstehen ließen; daß Varietäten anfangs nur lokal waren, und daß schließlich höchstwahrscheinlich (obgleich jede Art eine Reihe von Übergangsstadien durchlaufen mußte) die Perioden, während derer die Art solchen Modifikationen unterlag, nach Jahren gemessen wohl lang waren, aber nur kurz im Vergleich zu den Zeiten, in denen die Arten unverändert blieben.“ In diesem Zusammenhang geht er auch auf einen anderen Kritikpunkt ein: das Problem der Datierung. Die Einwände stammten von William Thomson (1824 – 1907), dem späteren Lord Kelvin, und einer Gruppe von Physikern, die durch Berechnen der Abkühlungsgeschwindigkeit eines Körpers von der Größe der Erde zu dem Schluß gekommen waren, daß es die Erde keineswegs – wie Lyell anfangs geglaubt hatte – seit unendlichen Zeiten geben kann: Sie könne nicht älter als 100 Millionen Jahre alt sein, am ehesten wohl 24 Millionen Jahre. Das war weit weniger, als Darwin aufgrund geologischer Schätzungen angenommen hatte, und somit auch viel weniger, als für eine so große Menge an organischen Veränderungen, wie sie die Theorie der natürlichen Selektion vorsah, notwendig gewesen wäre. Nach dieser Kritik überprüfte Darwin nochmals, wie die geologischen Tatsachen zu der Theorie einer Abstammung mit Modifikationen paßten. Das zwölfte und dreizehnte Kapitel behandeln die „Geographische Verbreitung“. Hier untersucht Darwin im Detail die Probleme der Migration, die Rolle der geographischen Schranken, die die Arten daran hindern, bestimmte Regionen zu kolonisieren, gleichzeitig aber auch die Bildung der Arten beeinflussen. Er geht auf die vielfältigen Ausbreitungsmöglichkeiten ein, durch die die Arten in verschiedene Regionen gelangen können, um sich dann dort durch Modifikation an die örtlichen Bedingungen anzupassen. Ferner stellt er die Regeln, welche die Dauer und zeitliche Kontinuität der Arten bestimmen, denen gegenüber, die den Raum betreffen, und konstatiert: „In beiden Fällen sind sie durch das gemeinsame Band der gewöhnlichen Zeugung verknüpft, in beiden Fällen waren die Gesetze der Veränderung dieselben und sind die Abänderungen durch dieselben Mittel der natürlichen Zuchtwahl gehäuft worden.“ Im vorletzten Kapitel geht es um die „Gegenseitige Verwandtschaft der Lebewesen; Morphologie, Embryologie, rudimentäre Organe.“ Durch die Betrachtung der Klassifikationsprobleme bekräftigt Darwin nochmals die Bedeutung der genealogischen Rekonstruktion, da ja die gemeinsame Abstammung die einzige bekannte Ursache für die starke Ähnlichkeit zwischen den Lebewesen sei. Die Bedeutung morphologischer Merkmale, sowohl bei Embryonen wie auch in der Entwicklung, und die Bedeutung rudimentärer Organe werden genau dann verständlich und theoretisch begründbar, wenn man annimmt, daß eine natürliche Klassifikation genealogisch sein muß. So kommen wir also nun zum Schluß dessen, was Darwin „eine lange Kette von Beweisen“ nennt. Nach einer ausführlichen Zusammenfassung betont er die Wissenschaftlichkeit seiner Arbeitsmethode: „Es ist kaum anzunehmen, daß eine falsche Theorie so ausgezeichnet die verschiedenen angeführten Tatsachen zu erklären vermöchte wie die Theorie der natürlichen Zuchtwahl. Man hat behauptet, meine Art der Beweisführung sei unklar. Allein ich verwende die gleiche
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In der „Entstehung der Arten“ widmet Darwin ein Kapitel dem Problem, daß die fossilen Belege für den graduellen Fortgang der Evolution äußerst unvollständig sind.
Methode, die bei der Beurteilung der gewöhnlichen Lebenserscheinungen benutzt und oft von den größten Naturforschern angewandt worden ist. Auf dieselbe Weise gelangte man zu der Theorie von der Wellenbewegung des Lichts, und die Annahme, daß sich die Erde um ihre eigene Achse bewege, ist bis vor kurzem kaum durch einen direkten Beweis gestützt worden. Es ist kein begründeter Einwurf: Die Wissenschaft habe bisher kein Licht über das viel höhere Problem vom Wesen oder vom Ursprung des Lebens verbreitet. Wer kennt denn das Wesen der Anziehungskraft oder der Schwerkraft? Niemand zögert, die aus dem unbekannten Element der Anziehung hergeleiteten Resultate anzuerkennen, obwohl einst Newton von Leibniz beschuldigt wurde, er habe ‚geheime Eigenschaften und Wunder in die Philosophie eingeführt‘.“ Man bedenke: Darwin hatte die erste Auflage der Entstehung der Arten mit Zitaten von Bacon und Whewell begonnen – in den späteren Auflagen ließ er sie weg – und sich in der Autobiographie und in den Notizbüchern oft auf das wissenschaftliche Prinzip berufen, man müsse induktiv von Tatsachen ausgehen. Heute hingegen – nachdem sich viele Untersuchungen mit der Frage beschäftigt haben, auf welche Weise Darwin zur Formulierung der Evolutionstheorie gelangte und auf welchen logischen Grundlagen sein Denken beruhte – besteht fast einhelliger Konsens, daß Darwin folgerichtig und streng eine hypothetisch-deduktive Methode anwandte: Seine Erfolge beruhten keineswegs darauf, daß er von einer reinen Datensammlung ausging, sondern waren vielmehr das Resultat seiner Fähigkeit, eine Theorie zu entwickeln und Hypothesen zu formulieren, um sie dann zu überprüfen. Was Darwin in dem eben zitierten Abschnitt der Entstehung der Arten erklärte, läßt sich vielleicht als methodologisches Eingeständnis auffassen und als Beleg für seine Absicht, seine Vorgehensweise zu legitimieren. Wahrscheinlich muß man hier auch die Kritik berücksichtigen, die als Reaktion auf die Entstehung der Arten von einigen der bedeutendsten Vertretern der offiziellen Wissenschaftsphilosophie vorgebracht wurde – und natürlich auch von Wissenschaftlern wie Sedgwick und Owen. Teilweise haben wir einige dieser empörten Reaktionen ja bereits erwähnt, und wir können hier noch die von Herschel hinzufügen, der von der natürlichen Selektion als dem „Gesetz von Kraut und Rüben“ (law of higgledy-piggledy) sprach. Allerdings bleibt anzumerken, daß Darwin auch in späteren Werken darauf bestand, sich selbst als einen Baconianer und seine Methode als rein induktiv zu bezeichnen. Kurz vor dem Ende der Entstehung der Arten findet sich noch ein kurzer Absatz, der ganz den Eindruck erweckt, als habe Darwin ihn absichtlich ganz unauffällig zwischen all die Beobachtungen und Vermutungen des Schlußkapitels gesetzt. Wir sollten ihn daher nicht übergehen, zumal er gewaltige Konsequenzen sowohl für die weitere Entwicklung seiner Arbeiten hatte als auch – und vor allem – für die Wirkung, die sein Werk entfalten sollte: „In einer fernen Zukunft sehe ich ein weites Feld für noch bedeutsamere Forschungen. Die Psychologie wird sicher auf der von Herbert Spencer geschaffenen Grundlage weiterbauen: daß jedes geistige Vermögen und jede Fähigkeit nur allmählich und stufenweise erlangt werden kann. Licht wird auch fallen auf den Menschen und seine Geschichte“. ❑
Darwin: Ein Leben für die Evolutionstheorie
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Zur Naturgeschichte des Geistes „Licht wird auch fallen auf den Menschen und seine Geschichte“, schreibt Darwin am Ende der „Entstehung der Arten“. Nach langem Schweigen wendet er sich in den siebziger Jahren diesem großen Thema zu. Eine Karikatur des Bischofs von Oxford, Samuel Wilberforce. Er war einer der Hauptakteure in der Polemik gegen die Evolutionstheorie.
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bgesehen von einigen Andeutungen war in der Entstehung der Arten vom Menschen keine Rede. Darwin hatte sich bewußt für dieses Vorgehen entschieden; vielleicht handelte es sich dabei nicht nur um einen taktischen Schachzug, um den Vorurteilen gegen seine Theorie aus dem Weg zu gehen – wie er in einem Brief an Wallace schrieb –, sondern um eine polemische Entscheidung, die mit Darwins Ablehnung des Anthropozentrismus zusammenhing. Den Menschen in der Entstehung der Arten zu „ignorieren“, bedeutete, ihm eine zentrale Rolle abzusprechen und ihn einfach denselben Gesetzen zu unterwerfen, die auch für jedes andere Lebewesen gelten. In diesem Punkt waren es die anderen, die nun die unvermeidlichen Konsequenzen zogen und den Streit entfachten. Im Jahr vor dem Erscheinen der Entstehung der Arten hatte die Diskussion um den hippocampus minor, oder allgemeinverständlicher gesagt: um den „Menschenaffen“, in der Auseinandersetzung zwischen Owen und Huxley besondere Schärfe erreicht; vor allem war diese Streitfrage auch außerhalb der wissenschaftlichen Kreise zum Gesprächsstoff geworden und führte obendrein noch zu politisch-ideologischen Forderungen, die in Karikaturen, Witzzeichnungen und Reimen eine satirische Note bekamen, zum Beispiel durch das bekannte Satire-Blatt „Punch“. Man sollte daher die Reaktionen auf die Entstehung der Arten im engeren Bereich der Wissenschaft näher betrachten. Dort nämlich stieß die Idee der Evolution in der Tat, ohne daß ein lauter Aufschrei zu vernehmen war, recht rasch auf allgemeine Zustimmung – freilich, wie bereits gesagt, oft auf Kosten der Theorie der natürlichen Selektion und des Darwinschen Gradualismus. Viel spektakulärer waren die Reaktionen in der Presse und in wissenschaftlichen Publikationen, die von der breiten Öffentlichkeit, aber insbesondere von den wirtschaftlich und kulturell gehobenen Schichten gelesen wurden. Bedeutende Untersuchungen haben sich damit befaßt, wie die englische Presse nach der Veröffentlichung der Entstehung der Arten Darwins Theorie aufnahm. Demnach wurde in den Rezensionen immer klarer Stellung bezogen, und es bildeten sich zwei mehr oder weniger separate Meinungsblöcke pro oder contra Darwin heraus; dabei blieb es jedoch unvermeidlich bei der antiquierten Sichtweise auf den Menschen und bei der Erklärung der natürlichen Welt durch göttliche Vorsehung. Gegen die „moderne Irrlehre“ argumentierte selbstverständlich die religiöse Presse, und sie nutzte dafür jede Form von Angriffen: von Verleumdung
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über Verspottung bis hin zu Analysen, mit denen die logische und methodologische Struktur von Darwins Gedankengängen zerstört werden sollte. Gegen Ende der sechziger Jahre, als der Erfolg der Evolutionstheorie bereits deutlich wurde und Darwins Metaphern sich, wenn auch mißverstanden, sogar im Sprachgebrauch festsetzten, suchten die Angreifer nachzuweisen, die unter den Experten verbreitete Theorie sei gar nicht die Darwinsche, da die natürliche Selektion von vielen abgelehnt werde. Der Versuch der einen wie der anderen Seite, verschiedene Wissenschaftler für sich zu gewinnen, führte selbst dann nicht immer zum Ziel, wenn man sich der jeweiligen Orientierung sicher glaubte. Henslow zum Beispiel protestierte öffentlich dagegen, zu den „Darwinisten“ gerechnet zu werden. Lyell, der sich sehr zurückhielt, äußerte sich 1863 in seiner Schrift Über das Alter des Menschen so vorsichtig, daß man dies gegen Darwin verwenden konnte, was wiederum diesen sehr enttäuschte; erst 1868 anläßlich der zehnten Auflage der Prinzipien der Geologie bezog Lyell eindeutig Stellung. Auf der Gegenseite enttäuschte auch Owen schließlich die Erwartungen derer, die glaubten, er sei vollkommen unnachgiebig, vor allem als er in seiner „Derivationstheorie“ das „konstante, vorbestimmte Werden organischer Formen“ vertrat. Die wissenschaftliche Unhaltbarkeit dieser Theorie brachte ihn noch mehr in Verruf als die Auseinandersetzung mit Huxley über den hippocampus minor; letztere fand ihren Abschluß 1863 mit der Publikation von Huxleys Buch Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur. Darin stellte Huxley Äußerungen und populäre Vorträge zusammen, in denen er die Ergebnisse der vergleichenden anatomischen Forschung zu Mensch und Menschenaffe behandelte; er kam zu dem Schluß, „daß die anatomischen Verschiedenheiten, welche den Menschen vom Gorilla und Schimpansen scheiden, nicht so groß sind als die, welche den Gorilla von den niedrigen Affen trennen. [...] Die anatomischen Verschiedenheiten zwischen dem Menschen und dem menschenähnlichen Affen berechtigen uns sicher zu der Ansicht, daß er eine besondere, von ihnen getrennte Familie bildet; da er aber weniger von ihnen abweicht, als sie von anderen Familien derselben Ordnung verschieden sind, so haben wir kein Recht, ihn zu einer besonderen Ordnung zu erheben. Und so kommt denn der vorausblikkende Scharfsinn des großen Gesetzgebers der systematischen Zoologie, Linné, zu seinem Rechte; ein Jahrhundert anatomischer Untersuchung bringt uns zu seiner Folgerung zurück, daß der Mensch ein Glied derselben Ordnung ist (für welche der Linnésche Name Primates beibehalten werden sollte) wie die Affen und Lemuren.“ Dies war Huxleys erstes Buch, obwohl er bereits ein angesehenes Mitglied der wissenschaftlichen Gemeinschaft war und obendrein als gefürchteter Volksredner und pointierter Polemiker galt – spätestens seit der berühmt gewordenen Episode, in der er 1860 öffentlich gegen Samuel Wilberforce, den Bischof von Oxford, auftrat, einen vorzüglichen Ornithologen, hinter dem als „graue Eminenz“ Owen stand. Gegen Ende einer überfüllten Konferenz hatte Wilberforce sich unvorsichti-
Darwin: Ein Leben für die Evolutionstheorie
Thomas Henry Huxley auf einem Gemälde von J. Collier aus dem Jahre 1883
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Das Titelblatt der ersten italienischen Ausgabe von Huxleys Werk „Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur“, das im englischen Original 1863 erschienen war.
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gerweise an Huxley gewandt und ihn gefragt, ob er denn mütterlicherseits oder väterlicherseits vom Affen abstamme. Die Strafe folgte auf dem Fuße. Huxley schildert dies so: „So erhob ich mich also und sagte ungefähr folgendes: Ich habe aufmerksam die Stellungnahme des Herrn Bischof verfolgt, aber ich vermag darin nicht ein einziges neues Element oder Argument zu entdecken, mit Ausnahme allerdings – um ehrlich zu sein – der mir gestellten Frage bezüglich der Vorlieben, was meine Vorfahren angeht. Ich sagte, ich hätte mir niemals träumen lassen, daß sich die Diskussion auf ein derartiges Thema erstrecken würde, daß ich aber sehr wohl bereit sei, mich auch auf diesem Gebiet dem hochwürdigen Prälaten zu stellen. Wenn er also, so fuhr ich fort, mir die Frage stelle, ob ich es vorzöge, einen kläglichen Affen als Großvater zu haben anstatt eines von der Natur reich begabten Menschen, der über viele Mittel und Einflußmöglichkeiten verfügt, der jedoch all diese Fähigkeiten und all sein Ansehen einzig zu dem Zwecke nützt, eine wissenschaftliche Diskussion der Lächerlichkeit preiszugeben, dann würde ich ohne zu zögern behaupten, daß mir der Affe lieber wäre.“ Doch selbst Huxley stand Darwins Theorie reserviert gegenüber. Er betrachtete die natürliche Selektion als eine wahrscheinliche, aber nicht endgültig experimentell bestätigte Hypothese; den Gradualismus – die schrittweise Entwicklung, wie Darwin sie vertrat – hielt er für eine „nicht notwendige Schwierigkeit“, wo doch die Annahme, daß es in der Natur Sprünge geben könne, der Theorie viele Einwände erspart hätte; die Idee einer genealogischen Klassifikation hielt er lange Zeit für problematisch. Seine Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur waren, wie gesagt, eher ein Buch contra Owen als eines pro Darwin. Doch gleichwohl wurde Huxley zu „Darwins Bulldogge“ – und zwar durchaus mit dessen Zustimmung, denn Darwin vermochte so ungestüme und rauflustige Auseinandersetzungen nicht zu ertragen und nannte Huxley dankbar seinen „guten und bewundernswerten Agenten für die Verbreitung verdammenswerter Irrlehren“. Dies mag als weiterer Beweis gelten, wie schwierig die kulturelle Situation war, in der die Darwinsche Theorie aufkam. Um so verblüffender erscheint daher der Briefwechsel mit Wallace; er war anfänglich ein „KoAutor“ der Theorie der natürlichen Selektion und ein „radikaler Selektionist“ gewesen (er selbst definierte sich als einen „größeren Darwinisten als Darwin“). Doch später versuchte er, in unflexibler Weise seine Überzeugungen auf die natürliche Selektion als alleinige Natur-Ursache anzuwenden und gelangte schließlich zu einer spiritualistischen Hypothese über den Ursprung des Geistes und des menschlichen Bewußtseins. Eine höhere Intelligenz, so schrieb Wallace, habe die Entwicklung des Menschen in einer festgelegten und auf ein spezielles Ziel gerichteten Weise geleitet. Zu dieser Schlußfolgerung gelangte er gerade durch eine extrem adaptionistische Interpretation: Die Selektion, die nur das Nützliche erhalte, könne niemals die Entwicklung eines Gehirns rechtfertigen, wie es sich im primitiven Urmenschen ausgebildet habe; denn dessen Struktur ermögliche eine Leistungsfähigkeit, die eindeutig weit über alles hinausgehe, was die tatsächlichen Lebensbedürfnisse erforderten. Darwin hatte Mühe zu glauben, daß Wallace auf so eine Idee verfallen war. „Ich hoffe“, schrieb er ihm 1869, „du hast deine und meine Schöpfung nicht vollständig ermordet.“ So war es in gewisser Weise wiederum Wallace, der Darwin aus der Reserve lockte. Nach der ersten Veröffentlichung der Entstehung der Arten hatte Darwin krampfhaft all seine Energie darauf verlegt, jeden Aspekt seiner Theorie, der kritisiert worden war, noch einmal zu überdenken. Ohne sich Ruhe zu gönnen, versah er die späteren Auflagen der Entstehung der Arten mit Erweiterungen, zusätzlichen Belegen und Korrekturen; persönlich überwachte er die nunmehr zahlreichen Übersetzungen; auch seine brieflichen Kontakte intensi-
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vierte er, um weitere Informationen und Bestätigungen seiner Daten zu erhalten; ebenso setzte er seine Versuche mit Pflanzen und Tieren fort und veröffentlichte weitere wichtige Arbeiten, darunter 1868 das umfangreiche Werk Das Variieren der Tiere und Pflanzen. Dabei faßte er zum ersten Mal den Plan, auch ein Kapitel über den Menschen einzufügen, ließ dieses Vorhaben aber wegen der ohnehin schon gewaltigen Ausmaße dieses Buches wieder fallen. Schließlich aber rang er sich doch zu einem Entschluß durch: „Als ich aber merkte,“ schreibt Darwin in seiner Autobiographie, „daß viele Naturforscher die Lehre von der Entwicklung der Arten vollständig akzeptiert hatten, schien es mir ratsam zu sein, derartige Notizen, wie sie in meinem Besitze waren, auszuarbeiten und eine spezielle Abhandlung über den Ursprung des Menschen herauszubringen.“ Zu der Veränderung des kulturellen Klimas, von der Darwin hier spricht, hatten in der Zwischenzeit auch eine Reihe anderer Forschungsarbeiten beigetragen, die sich allesamt dem Programm einer Verwissenschaftlichung der Psychologie widmeten; ausgehend von den Fortschritten der Neurophysiologie und experimentellen Psychophysiologie (die den Zusammenhang zwischen Gehirnfunktion und Verhalten beleuchtet) war man zu einer physiologischen Analyse des Verhaltens und psychologischen Meßtechniken gelangt. Die Psychologie betrachtete sich als unabhängig von der traditionellen Philosophie, fand in den Naturwissenschaften ein neues Fundament und bot so auf einmal der biologischen Forschung die Legitimation für eine wissenschaftliche Analyse des Geistes, die Darwin nun in Angriff nahm. Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl (The Descent of Man and Selection in Relation to Sex) erschien nach dreijähriger Arbeit 1871, und bereits 1874 folgte eine zweite, überarbeitete Auflage. Auch in diesem Fall gingen Darwins Notizen fast ins Unermeßliche, und schließlich entstand ein zweibändiges Werk, das, wie schon der Titel sagte, vom Begriff der geschlechtlichen Selektion handelte – einem Aspekt seiner Theorie, bei dem die Meinungsverschiedenheit mit Wallace besonders groß war. „Es ist oft und mit Nachdruck behauptet worden“, schrieb Darwin, „daß der Ursprung des Menschen nie zu enträtseln sei. Aber Unwissenheit erzeugt viel häufiger Sicherheit, als es das Wissen tut. Es sind immer diejenigen, welche wenig wissen, und nicht die, welche viel wissen, welche positiv behaupten, daß dieses oder jenes Problem nie von der Wissenschaft werde gelöst werden.“ Und das prinzipielle Ziel des Werkes bestand nun darin, zu prüfen, ob der Mensch wie die anderen Arten von bestimmten früher existierenden Formen abstamme, wie es zu diesem Entwicklungsprozeß gekommen sei und welche Bedeutung die Unterschiede zwischen den sogenannten menschlichen Rassen hätten. In der Abstammung des Menschen formulierte Darwin klar das naturalistische Konzept des Menschen, zu dem er seit der Zeit seiner Notizbücher neigte, und erläuterte es als das Prinzip der Kontinuität zwischen dem Menschen und den anderen Tieren; dabei ging er ebenso auf die physischen wie auf die geistigen, moralischen und sozialen Merkmale ein. Er behandelte die Kombinationen von Verstandesfähigkeiten, durch die „höhere geistige Fähigkeiten“ möglich sind – wie Neugier, Nachahmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Vorstellungskraft, Verstand, Abstraktion, Sprache oder Bewußtsein. Damit wollte er allerdings keine syste-
Darwin: Ein Leben für die Evolutionstheorie
Gegen Ende des Jahrhunderts wurden Darwin und die Evolutionstheorie zu einer beliebten Zielscheibe der Karikaturisten. Die Zeichnung unten erschien in der satirischen Zeitschrift „Punch“ und trägt die Unterschrift: „Der Mensch ist nur ein Wurm.“
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Ein Männchen eines Paradiesvogels stellt sein Hochzeitsgewand zur Schau.
matische Psychologie entwickeln, sondern nachweisen, inwiefern sich solche Themenbereiche als Konsequenz aus der Evolutionstheorie ableiten lassen. Er beschäftigte sich auch mit der Genealogie des Menschen, und nachdem er hierfür die Wirksamkeit der gleichen Gesetze betont hatte, die auch zu der unterschiedlichen Ausprägung der niedrigeren Tiere geführt hatten, schrieb er: „Der Mensch hat sich in einem so rapiden Verhältnisse vervielfältigt, daß er notwendig einem Kampfe ums Dasein und in Folge hiervon der natürlichen Zuchtwahl ausgesetzt worden ist. Er hat viele Rassen entstehen lassen, von denen einige so verschieden von einander sind, daß sie oft von Naturforschern als distinkte Arten klassifiziert worden sind. Sein Körper ist nach demselben homologen Plane gebaut wie der anderer Säugetiere. Er durchläuft dieselben Zustände embryonaler Entwicklung. Er behält viele rudimentäre und nutzlose Bildungen bei, welche ohne Zweifel einstmals eine Funktion verrichteten. [...] Wäre der Ursprung des Menschen von dem aller übrigen Tiere völlig verschieden gewesen, so wären diese verschiedenen Erscheinungen bloße nichtssagende Täuschungen; eine solche Annahme ist indessen unglaublich. Auf der anderen Seite aber sind sie wenigstens in einer großen Ausdehnung verständlich unter der Annahme, daß der Mensch mit anderen Säugetieren von irgendeiner unbekannten und niederen Form abstammt.“ Nun geht er die Tierreihe durch und kommt schließlich zur Einordnung des Menschen: „Und da der Mensch von dem genealogischen Standpunkte aus zu dem Stamme der catarhinen oder altweltlichen Formen gehört, so müssen wir schließen, wie sehr sich auch unser Stolz gegen diesen Schluß empören mag, daß unsere frühen Urerzeuger wahrscheinlich in dieser Weise bezeichnet worden wären. Wir dürfen aber nicht in den Irrtum verfallen, etwa anzunehmen, daß der frühere Urerzeuger des ganzen Stammes der Simiaden, mit Einschluß des Menschen, mit irgendeinem jetzt existierenden Affen identisch oder mit ihm auch nur sehr ähnlich gewesen sei.“ Im Anschluß hieran beschäftigt sich Darwin mit der Bedeutung der Unterschiede zwischen den sogenannten menschlichen Rassen vom klassifikatorischen Standpunkt aus, und nachdem er nochmals betont hat, daß sie sich aus einem einzigen gemeinsamen Stamm unterschiedlich ausgebildet haben, kommt er auf die geschlechtliche Selektion zu sprechen. Die Unterschiede zwischen den
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Rassen nämlich, und zwar auch die relevanten Unterschiede, könnten nicht auf die natürliche Selektion zurückgeführt werden, und zwar mit der Begründung, „daß nur wohltätige Abänderungen auf diese Weise erhalten werden können; und soweit wir im Stande sind, hierüber zu urteilen (doch sind wir über diesen Punkt beständig der Gefahr eines Irrtums ausgesetzt), ist nicht eine einzige der Verschiedenheiten zwischen den Menschenrassen von irgendwelchem direkten oder speziellen Nutzen für dieselben.“ Um die Rolle der geschlechtlichen Selektion bei der Ausdifferenzierung der menschlichen Rassen in geeigneter Weise erläutern zu können, hält es Darwin nun für notwendig, „das ganze Tierreich Revue passieren zu lassen“: In den folgenden elf Kapiteln geht er rund 300 Seiten lang auf die Prinzipien der geschlechtlichen Selektion und die sekundären Geschlechtsmerkmale ein, die sich vor allem bei den Männchen der jeweiligen Arten zeigen, beginnend mit den Krustentieren, über Insekten, Fische, Amphibien, Reptilien, Vögel – ihnen sind sogar vier Kapitel gewidmet – bis hin zu den Säugetieren und zum Menschen. Die geschlechtliche Selektion, erklärt Darwin, hänge nicht vom Kampf ums Dasein ab, sondern „vom Kampf zwischen den Individuen eines Geschlechts, gewöhnlich des männlichen, um den Besitz des anderen. Das Schlußergebnis für den erfolglosen Mitbewerber ist nicht dessen Tod, sondern eine geringe oder gar keine Nachkommenschaft. Die geschlechtliche Zuchtwahl ist weniger streng als die natürliche. Gewöhnlich werden die lebenskräftigsten Männchen, die ihrem Platz in der Natur am besten angepaßt sind, die meisten Nachkommen hinterlassen.“ Außer dem Kampf der Männchen um den Besitz der Weibchen und dem entsprechenden Erwerb von Funktionsstrukturen, die der Überlegenheit gegenüber Artgenossen desselben Geschlechts dienen, untersuchte Darwin auch eine Reihe anderer sekundärer Geschlechtsmerkmale bei Arten, in denen der Geschlechtsdimorphismus besonders markant ist. Diese Merkmale wie etwa Farbenpracht, Gefieder, auffällige Zeichnungen der Federn und jede andere Art von Schmuck – einschließlich der verschiedenen stimmlichen Ausdrucksmöglichkeiten wie des Gesangs – lassen sich wiederum vor allem bei den Männchen feststellen und nur schwer als Vorteile für deren Kampf ums Überleben interpretieren: Sie machen das Tier besonders auffällig, behindern sogar seine Bewegungsfähigkeit – man denke nur an den Schwanz eines Pfaus – oder setzen es im schlimmsten Fall der
Darwin: Ein Leben für die Evolutionstheorie
Einige junge Woodabe-Männer aus Niger haben sich für das Gerewol-Fest herausgeputzt, bei dem die Mädchen den schönsten Mann des Jahres wählen.
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Ein knurrender Hund auf einer Zeichnung von T. W. Wood. Sie wurde als Illustrationen in Darwins Buch „Der Ausdruck der Gemütsbewegungen“ abgedruckt.
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Gefahr aus, einem Raubtier zum Opfer zu fallen. Diese Merkmale, erklärt Darwin, seien „das Resultat geschlechtlicher und nicht gewöhnlicher Zuchtwahl [...], da unbewaffnete, nicht mit Ornamenten verzierte oder keine besonderen Anziehungspunkte besitzende Männchen in dem Kampfe ums Dasein gleichmäßig gut bestehen und eine zahlreiche Nachkommenschaft hinterlassen würden, wenn nicht besser begabte Männchen vorhanden wären. [...] Im Ganzen läßt sich nicht zweifeln, daß fast bei allen Tieren, bei denen die Geschlechter getrennt sind, ein beständig wiederkehrender Kampf zwischen den Männchen um den Besitz der Weibchen stattfindet. [...] Aber in einer großen Menge von Fällen gelangen die Männchen, welche andere Männchen besiegen, nicht in den Besitz der Weibchen unabhängig von einer Wahl seitens der letzteren. Die Bewerbung der Tiere ist durchaus keine so einfache und kurze Angelegenheit, als man wohl denken möchte. Die Weibchen werden durch die geschmückteren oder sich als die besten Sänger zeigenden oder die am besten gestikulierenden Männchen am meisten angeregt oder ziehen vor, sich mit solchen zu paaren.“ Hier kam nun die Fähigkeit der Weibchen ins Spiel, anhand der Schönheit eine Wahl zu treffen. Diese These fand viele Kritiker, darunter auch Wallace, der die Vorstellung nicht teilen mochte, einen ästhetischen Sinn nicht nur dem Menschen, sondern auch Tieren zuzusprechen. Man könnte nun viele Passagen zitieren, in denen Darwin ausdrücklich erklärt, daß derlei Fähigkeiten auch im Tierreich existieren; ebensogut könnte man andere Textstellen anführen, in denen er versucht, die falsche Interpretation zu berichtigen, derzufolge eben dieser Schönheitssinn bei Tieren mit dem beim kultivierten Menschen vergleichbar sei. Einen besser passenden Vergleich, so Darwin, könne man zwischen dem Schönheitsempfinden der Tiere und demjenigen in primitiven Kulturen ziehen, die jedes leuchtende, glänzende oder sonstwie sonderbare Objekt bewunderten und sich damit schmückten. Andererseits zögert Darwin auch keineswegs, Äußerungen wie die folgende zu machen: „Ich glaube, es ist nun gezeigt worden, daß der Mensch und die höheren Tiere, besonders die Primaten, einige wenige Instinkte gemeinsam haben. Alle haben dieselben Sinneseindrücke und Empfindungen, ähnliche Leidenschaften, Affekte und Erregungen, selbst die komplexeren, wie Eifersucht, Verdacht, Ehrgeiz, Dankbarkeit und Großherzigkeit; sie üben Betrug und rächen sich; sie sind empfindlich für das Lächerliche und haben selbst einen Sinn für Humor. Sie fühlen Verwunderung und Neugierde, sie besitzen dieselben Kräfte der Nachahmung, Aufmerksamkeit, Überlegung, Wahl, Gedächtnis, Einbildung, Ideenassoziation, Verstand, wenn auch in sehr verschiedenen Graden.“ Der Unterschied zwischen dem Geist des Menschen und dem der höheren Tiere ist, so groß er auch sein mag, kein genereller, sondern lediglich ein gradueller. Das ist die Grundthese, und der Streit um die Existenz eines Sinns für das Schöne – wobei das Schöne relativ ist und nicht absolut, wie es eine bestimmte Richtung der Naturtheologie wollte, derzufolge die Schönheit der Natur zur Freude des Menschen erschaffen worden war – konnte die Überzeugungskraft und Schlüssigkeit seiner Argumentation nicht ins Wanken bringen. Wiederum war die Argumentation sehr zielstrebig und detailliert belegt. Ganz im Gegensatz zu dem Ton, der sonst so oft in Diskussionen über Fragen des Menschen oder des Geistes herrschte, enthielt sich Darwin jeglicher Provokation. Das einzige provokante Element, wenn man so sagen kann, war der Gebrauch einer derart offen anthropomorphen – und dadurch unmittelbar angreifbaren – Ausdrucksweise, daß man nur schwer zu glauben vermag, daß es sich hier nicht um eine bewußte Wahl handelte. Zwar ist es gewiß schwierig, das Verhalten und die Fähigkeiten von Tieren mit anderen Begriffen zu beschreiben als solchen, die man sonst ausschließlich für den Menschen verwendet – gerade wenn es darum geht, die Gemeinsamkeiten zu unterstreichen. Doch dieser Anthropomorphismus war alles andere als ein Kompromiß, und die Annahme liegt nicht fern, daß er dazu dienen sollte, den Anthropozentrismus zu attackieren. Indem Darwin Tiere mit menschlichen und Menschen mit
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tierischen Begriffen beschrieb, realisierte er die naturalistische Synthese, welche die notwendige und folgerichtige Konsequenz aus dem Prinzip der Kontinuität zwischen allen Lebewesen war. Die Fähigkeit der Weibchen, nach ästhetischen Kriterien zu wählen, bedeutete einen entscheidenden theoretischen Übergang zur Naturgeschichte des Geistes: „Ein jeder, welcher das Prinzip der Entwicklung annimmt und doch große Schwierigkeiten empfindet, zuzugeben, daß weibliche Säugetiere, Vögel, Reptilien und Fische den hohen Grad von Geschmack erlangt haben, welcher wegen der Schönheit der Männchen vorauszusetzen ist und welcher im allgemeinen mit unserem eigenen Geschmacke übereinstimmt, muß bedenken, daß die Nervenzellen des Gehirns beim höchsten wie beim niedersten Gliede der Wirbeltierreihe die direkten Abkömmlinge derjenigen sind, welche der gemeinsame Urerzeuger dieses ganzen Unterreichs besessen hat. Denn hiernach können wir verstehen, woher es kommt, daß gewisse geistige Fähigkeiten sich bei verschiedenen und sehr weit voneinander stehenden Tiergruppen in nahezu derselben Weise und nahezu demselben Grade entwickelt haben.“ Nicht weniger bedeutend und schlüssig war der Begriff der geschlechtlichen Zuchtwahl für die Theorie in ihrer Gesamtheit. Denn gerade dadurch, daß auch für die Wirkung der natürlichen Selektion Grenzen anerkannt wurden, öffnete sich der Weg für eine breitere Interpretation des Selektionsmechanismus im allgemeinen: eher im Sinne einer unterschiedlichen Reproduktionsrate statt als bloßes Überleben des am besten Angepaßten – also gerade in jene Richtung, in die sich die Evolutionsbiologie in unserem Jahrhundert entwickelt hat. Doch trotz alledem, oder vielleicht gerade deswegen, wurde die geschlechtliche Selektion zur Zielscheibe zahlloser Einwände und Angriffe bis in jüngere Zeit – unter anderem hieß es, sie sei eine simple ad-hoc-Hypothese, die lediglich die Lücken der Theorie verdecken solle. Andererseits wurde gerade dieser Begriff wiederum Anlaß vieler neuer Theorieansätze zu tierischem und menschlichem Verhalten unter spezieller Bezugnahme auf die Evolutionstheorie. In der Abstammung des Menschen kündigt Darwin auch an, er wolle sich ausführlich mit einem anderen, anscheinend noch spezielleren Aspekt beschäftigen, der aber für die Rekonstruktion einer Naturgeschichte des Geistes nicht minder bedeutend sei. „Ich hatte beabsichtigt“, schreibt er in der Einleitung, „den vorliegenden Bänden einen Versuch über den Ausdruck der verschiedenen Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den niederen Tieren hinzuzufügen. Sir Charles Bells wundervolles Buch hatte meine Aufmerksamkeit vor vielen Jahren schon auf diesen Gegenstand gelenkt. Dieser berühmte Anatom behauptet, daß der Mensch mit gewissen Muskeln ausgerüstet sei, ausschließlich zu dem Zwecke, seine Gemütsbewegungen auszudrücken. Da diese Ansicht offenbar mit dem Glauben in Widerspruch steht, daß der Mensch von irgendeiner anderen und niedereren Form abstammt, so wurde es für mich notwendig, dieselbe eingehender zu betrachten. Ich wünschte gleichermaßen festzustellen, inwieweit die Gemütsbewegungen in derselben Weise von den verschiedenen Menschenrassen ausgedrückt werden; aber wegen des Umfangs des vorliegenden Werkes hielt ich es für besser, diese Abhandlung selbständig zu veröffentlichen.“ Der Ausdruck der Gemütsbewegung bei dem Menschen und den Tieren (The Expression of Emotions in Man and in Animals) erschien bereits 1872, nur ein Jahr nach der Abstammung des Menschen. Wieder handelt es sich um ein äußerst voluminöses Werk: Nach einer Einleitung und drei Kapiteln über die Prinzipien des Ausdrucks folgen zwei weitere über die Mittel des Ausdrucks und die speziellen Ausdrucksformen bei den Tieren. Der gesamte Rest des Buches bis zu den Schlußbemerkungen befaßt sich mit den speziellen menschlichen Ausdrucksformen. Darwin untersucht hier eine breite Palette von Gefühlsausdrücken – Leiden und Weinen, Freude und Ausgelassenheit, Überlegung, Haß und Zorn, Verachtung
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Die Haltung eines Katers, der sich vor einem Hund fürchtet. Auch diese Darstellung zeichnete Wood für Darwin nach der Natur.
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Der Gesichtsausdruck eines „enttäuscht schmollenden“ Schimpansen, wiederum auf einer Zeichnung von Wood
und Abscheu, Überraschung und Furcht und schließlich das Phänomen des Errötens, „die menschlichste aller Ausdrucksformen“, – und fügt nach Möglichkeit jedem von ihnen eine schematische Beschreibung mit Begriffen aus der neuromuskulären Physiologie sowie ein großes Repertoire an Beispielen bei. Nach einem raschen, aber doch eingehenden Überblick über die zahlreichen Werke zu den Ausdrucksformen von Gefühlen distanziert Darwin sich von der traditionellen Physiognomik, die er definiert als „das Erkennen des Charakters aus dem Studium der beständigen Form der Gesichtszüge“. Er äußert sich auch kritisch über viele Autoren, unter ihnen berühmte Physiologen wie Pierre Gratiolet und Charles Bell, dessen erstmals 1806 veröffentlichte Schrift Anatomy and Der Ausdruck des Abscheus: Darwin versah sein Buch „Der Ausdruck der Gemütsbewegungen“ mit einigen Photographien; da zu jener Zeit – aus phototechnischen Gründen – die Posen sehr lange eingenommen werden mußten, war Darwin dabei auf Schauspieler angewiesen.
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Philosophy of Expression 1844 in dritter Auflage erschienen war. Diese Autoren „scheinen [...] fest davon überzeugt gewesen zu sein, daß die Arten, natürlich mit Einschluß des Menschen, in ihrem gegenwärtigen Zustande ins Dasein traten. Sir Ch. Bell, welcher diese Überzeugung hatte, behauptet, daß viele unserer Gesichtsmuskeln ‚bloße Werkzeuge für den Ausdruck‘ seien, oder ‚eine spezielle Einrichtung‘ für diesen einen Zweck darstellen. Aber schon die einfache Tatsache, daß die menschenähnlichen Affen die nämlichen Gesichtsmuskeln wie wir besitzen, macht es sehr unwahrscheinlich, daß diese Muskeln bei uns ausschließlich dem Gesichtsausdrucke dienen; denn ich denke doch, daß niemand anzunehmen geneigt sein wird, daß Affen mit speziellen Muskeln begabt worden sind nur zu dem Zwecke, ihre widerlichen Grimassen darzustellen. Es lassen sich in der Tat bestimmte, vom Ausdrucke unabhängige Gebrauchsweisen mit großer Wahrscheinlichkeit für beinahe alle Gesichtsmuskeln nachweisen.“ Nachdem er sich streitlustig mit der Theorie unabhängiger Schöpfungen auseinandergesetzt hat („Nach dieser Theorie kann alles und jedes gleichmäßig gut erklärt werden; in Bezug auf die Lehre vom Ausdruck hat sie sich verderblich erwiesen, ebenso wie auf jeden andern Zweig der Naturgeschichte.“), stellt er schließlich seine Grundthese über den Gefühlsausdruck auf: „Beim Menschen lassen sich einige Formen des Ausdrucks, so das Sträuben der Haare unter dem Einflusse des äußersten Schreckens, oder das Entblößen der Zähne unter dem der rasenden Wut, kaum verstehen, ausgenommen unter der Annahme, daß der Mensch früher einmal in einem viel niedrigeren und tierähnlicheren Zustande existiert hat. Die Gemeinsamkeit gewisser Ausdrucksweisen bei verschiedenen, aber verwandten Spezies, so die Bewegung derselben Gesichtsmuskeln während des Lachens beim Menschen und bei verschiedenen Affen, wird etwas verständlicher, wenn wir an deren Abstammung von einem gemeinsamen Urerzeuger glauben. Wer aus allgemeinen Gründen annimmt, daß der Körperbau und die Gewohnheiten aller Tiere allmählich entwickelt worden sind, wird auch die ganze Lehre vom körperlichen Ausdrucke der Seelenzustände in einem neuen und interessanten Lichte betrachten.“ Darwin gibt keine Definition des Begriffs „Gemütsbewegung“ (emotion); in Wirklichkeit beschäftigt er sich damit auch gar nicht, sondern er interessiert sich in erster Linie für die direkt beobachtbaren Ausdrucksformen als solche, obgleich ihre Flüchtigkeit und die von unserem Vorstellungsvermögen suggerierten Deutungen oft in die Irre führen können. Unter andern zitiert er zu diesem Thema wiederholt die experimentellen Forschungen des Neurologen Guillaume-Benjamin Duchenne (1806–1875), dessen Werk Méchanisme de la physionomie humaine ou analyse électrophysiologique de l’expression des passions 1862 erschienen war. Durch elektrische Reizung von Gesichtsmuskeln gelang es Duchenne, Ausdrucksformen hervorzurufen, die dem authentischen Ausdruck nahekamen, so daß er die jeweiligen physiologischen Grundlagen analysieren konnte. Darwin kam nun auf die Idee, das reiche photographische Material von Duchenne zu nutzen, um durch Versuche Einsicht in die Fähigkeit zu erlangen, die verschiedenen Ausdrucksformen zu identifizieren. Dazu arbeitete er mit Testpersonen, die weder von den teilweise künstlichen Techniken wußten, die angewandt worden waren, noch den Zusammenhang rekonstruieren konnten, der spontan zu diesem oder jenem Ausdruck geführt hatte; somit vermochten sie auch keine Beziehung zu dem entsprechenden „mentalen Zustand“ herzustellen. Die Photographie begann damit als Hilfsmittel wissenschaftlicher Forschung zu dienen, und Der Ausdruck der Gemütsbewegungen war einer der ersten solchen Texte; er enthielt außer Photographien von Duchenne auch einige, die Darwin sehr sorgfältig ausgewählt hatte. Teilweise waren sie mit eigens dafür engagierten Schauspielern hergestellt worden, denn die photographische Technik jener Zeit erforderte noch das lange Halten einer Pose, so daß es schwierig gewesen wäre, spontane Ausdrucksformen aufzunehmen. Aus demselben Grund gab Darwin für die Tafeln in seinem Werk auch Zeichnungen in Auftrag, in denen die Künstler Tiere in bestimmten Ausdruckshaltungen wirklichkeitsgetreu abzeichnen mußten.
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Oben: Der Ausdruck von Überraschung Unten: Eine Aufnahme der von Duchenne durchgeführten Experimente mit elektrischer Stimulation von Gesichtsmuskeln
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Eine weitere Karikatur Darwins
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Darüber hinaus verknüpfte Darwin noch eine Reihe anderer Methoden miteinander, die er auch detailliert beschrieb. Wie bereits in seinen Notizbüchern oder in dem Tagebuch, das er nach der Geburt seines Sohnes zu schreiben begonnen hatte, führte er, um den instinktiven – nicht durch den Ausdruck bei anderen erlernten – Ursprung nachzuweisen, Beobachtungen an Kindern durch, „denn sie bieten, wie Sir Ch. Bell bemerkt, viele seelische Erregungen ‚mit außerordentlicher Kraft‘ dar.“ An zweiter Stelle „kam mir der Gedanke, daß man Geisteskranke studieren müsse, da sie Ausbrüchen der stärksten Leidenschaften ausgesetzt sind, ohne sie irgendwie zu kontrollieren.“ Ferner „hatte ich auch gehofft, von den großen Meistern der Malerei und Bildhauerkunst eine große Hilfe zu erhalten, welche so eingehende Beobachter sind [...], habe aber, mit wenig Ausnahmen, dadurch keinen Vorteil erlangt. Der Grund hiervon ist ohne Zweifel der, daß bei Werken der Kunst die Schönheit das hauptsächliche, oberste Ziel ist; und stark kontrahierte Gesichtsmuskeln zerstören die Schönheit.“ Darwin zitiert auch die berühmten Conférences sur l‘expression des différentes caractères des passion des Malers Charles Le Brun aus dem Jahr 1667, die zwar „manche gute Bemerkungen“ enthielten, aber auch „überraschenden Unsinn“. Darwin hielt es überdies für wichtig, „zu ermitteln, ob dieselben Weisen des Ausdrucks, dieselben Gebärden bei allen Menschenrassen, besonders bei denjenigen, welche nur wenig mit Europäern in gesellige Berührung gekommen sind, vorkommen, wie so oft, ohne viele Belege zu geben, behauptet worden ist. Sobald nur immer dieselben Bewegungen der Gesichtszüge oder des Körpers bei mehreren verschiedenen Rassen des Menschen dieselben Seelenbewegungen ausdrükken, können wir mit großer Wahrscheinlichkeit folgern, daß derartige Ausdrucksarten echte sind, d. h. daß sie angeborene oder instinktive sind.“ Zu diesem Zweck benutzte Darwin seit 1867 einen Bogen mit sechzehn Fragen, um deren Beantwortung er Missionare und Beamte in den Kolonien bat. Diese Antworten bestätigten ihm, „daß ein und derselbe Zustand der Seele durch die ganze Welt mit merkwürdiger Gleichförmigkeit ausgedrückt wird.“ Schließlich nahm Darwin auch genaue Beobachtungen des Ausdrucks bei Tieren vor, „weil es die sicherste Grundlage für eine Verallgemeinerung in Betreff der Ursachen und des Ursprungs der verschiedenen Bewegungen des Ausdrucks darbietet.“ Im ersten Kapitel formuliert Darwin drei Prinzipien: das „Prinzip zweckmäßig assoziierter Gewohnheiten“, das „Prinzip des Gegensatzes“ und das „Prinzip, daß Handlungen durch die Konstitution des Nervensystems verursacht werden, von Anfang an unabhängig vom Willen und in einer gewissen Ausdehnung unabhängig von Gewohnheit“. Er findet Belege für die allgemein anerkannte Auffassung, daß die prinzipiellen Ausdrucksformen angeboren und erblich sind. Es gelingt ihm aber auch, eine plausible Erklärung für ihre Entstehung zu geben, nämlich als Handlungen, die ursprünglich zu einem bestimmten Zweck ausgeführt wurden, dann aber gewohnheitsmäßig und später erblich wurden. Oft dienten sie dann nicht mehr dazu, irgendeinen tatsächlichen Vorteil zu erlangen, und wurden darum später auch bewußt und absichtlich als Mittel der Kommunikation gebraucht. „Da die meisten Bewegungen des Ausdrucks allmählich erlangt worden und später instinktiv geworden sein müssen, so scheint es in gewissen Graden a priori wahrscheinlich, daß auch das Wiedererkennen derselben instinktiv geworden ist.“ Darwin schließt seine Arbeit mit der Bemerkung, er hoffe, daß die Frage des Gefühlsausdrucks in Zukunft noch eingehender „besonders seitens jedes fähigen Physiologen“ untersucht werde. Nach den beiden großen Werken über den Menschen arbeitete Darwin nun wieder über die Pflanzen. 1875 veröffentlichte er neben einer erweiterten Ausgabe seiner Arbeit über Kletterpflanzen und der zweiten Ausgabe der Schrift Das Variieren der Tiere und Pflanzen auch ein Buch über Insektenfressende Pflanzen (Insectivorous Plants). 1876 folgte eine Arbeit über Selbstbefruchtung und Kreuzbefruchtung, im Jahr darauf eine Untersuchung der verschiedenen Formen von
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Blumen und eine neue Ausgabe seines Buches über die Orchideen, 1880 schließlich ein neues Werk: Das Bewegungsvermögen der Pflanzen (The Power of Movements in Plants). In vielen dieser Arbeiten befaßte er sich in der Tat mit extrem primitiven und elementaren psychologischen Funktionen und versuchte, durch die ausführliche Analysen der pflanzlichen Physiologie zu erklären, wie auch Pflanzen in der Lage seien, „sich zu verhalten“ oder Bewegungen zu vollziehen, auf Reize zu reagieren und Informationen von einem Teil des Organismus an einen
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Das letzte Photo von Charles Darwin, aufgenommen im Jahre 1881 von Herbert Rose Barraud
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anderen weiterzuleiten. Mit Hilfe seines Sohnes Francis führte er verschiedenste Experimente über die komplizierten Funktionen in fleischfressenden Pflanzen durch – die er schon seit 1860 beobachtet hatte –, überprüfte die unterschiedlichen Reaktionen der Blätter auf nichtorganische und auf organische Körper, versuchte den chemischen Prozessen auf die Spur zu kommen, die es den kleinen Tentakeln ermöglichen, sich zusammenzuziehen und Beute zu fangen, und bot den Pflanzen allerlei Nahrung an – gebratenes Fleisch, Knorpel, Knochen, Zahnschmelz, Harnstoff und so weiter –, um die Verdauungsprozesse zu erforschen. Schließlich verabreichte er auch Substanzen wie Strychnin und Nikotin, deren Auswirkungen auf das tierische Nervensystem bekannt waren und die auch auf die Pflanzen eine stimulierende und toxische Wirkung ausübten; hingegen blieben Pflanzen unempfindlich gegenüber Morphium, Atropin, Kurare und dem Gift einer Kobra. Die Ähnlichkeit zu „vielen unbewußt von den niederen Tieren ausgeführten Handlungen“ liege auf der Hand: „Es ist kaum eine Übertreibung“, schreibt Darwin 1880, „wenn man sagt, daß die [...] Spitze des Würzelchens, welche das Vermögen, die Bewegung der benachbarten Teile zu leiten, hat, gleich dem Gehirn eines der niederen Tiere wirkt; das Gehirn sitzt innerhalb des vorderen Endes des Kopfes, erhält Eindrücke von den Sinnesorganen und leitet die verschiedenen Bewegungen.“ Darwins letztes, nur wenige Monate vor seinem Tod veröffentlichtes Werk beschäftigte sich mit den Regenwürmern, die „in der Geschichte der Erde eine bedeutungsvollere Rolle gespielt [haben], als die meisten auf den ersten Blick annehmen dürften.“ Auch in diesen kleinen Geschöpfen, die, was ihre Sinne angeht, kärglich ausgestattet sind – „[...] man kann nicht sagen, daß sie sehen, obgleich sie so eben noch zwischen Hell und Dunkel unterscheiden können; sie sind vollkommen taub und haben nur ein schwaches Riechvermögen; nur der Gefühlssinn ist gut entwickelt“ –, konnte Darwin „einen gewissen Grad an Intelligenz [...], anstatt einem bloßen blinden instinktiven Antriebe“ feststellen, nachdem er mit ihnen zuvor sorgfältig Versuche gemacht hatte: So konstruierte er verschieden geformte künstliche Blätter, um herauszufinden, mit welchen Strategien die Regenwürmer sie ins Innere ihrer unterirdischen Gänge zogen. Während dieses letzte Werk gerade in Druck ging, fügte Darwin es noch der Selbstbeurteilung seiner Publikationen hinzu, die er in der 1876 begonnenen und seither regelmäßig bearbeiteten Autobiographie vornahm. Dort steht im Schlußabsatz: „Daher ist mein Erfolg als der eines Mannes in der Wissenschaft, wie gering oder groß derselbe auch gewesen sein mag, soweit ich es beurteilen kann, durch komplizierte und verschiedenartige geistige Eigenschaften und Bedingungen bestimmt worden. Von diesen sind die bedeutungsvollsten gewesen: Liebe zur Wissenschaft, uneingeschränkte Geduld, lange Zeit über irgendeinen Gegenstand nachzudenken, Fleiß beim Beobachten und Sammeln von Tatsachen – und ein ordentliches Maß von Erfindungsgabe wie auch von gesundem Menschenverstand. Bei so mäßigen Fähigkeiten, wie ich sie besitze, ist es wahrhaft überraschend, daß ich die Meinungen von Wissenschaftlern über einige wichtige Fragen in beträchtlichem Maße beeinflußt habe.“ Charles Darwin starb am 19. April 1882 und wurde mit allen Ehren in der Westminster Abbey bestattet. Ein zeitgenössischer Druck zeigt die Begräbnisfeierlichkeiten für Charles Darwin in Westminster Abbey.
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Bereits im Jahr nach Veröffentlichung der Entstehung der Arten waren eine von Asa Gray besorgte amerikanische sowie eine deutsche Ausgabe erschienen; 1862 folgte die französische, und 1864, zugleich mit der russischen Ausgabe, brachte der Zanichelli-Verlag eine italienische Übersetzung mit dem Titel Sull’ origine delle specie per elezione naturale, ovvero conservazione delle razze perfezionate nella lotta per l‘esistenza auf den Markt, die von Giovanni Canestrini und Leonardo Salimbeni nach der dritten Auflage herausgegeben wurde. Die italienischen Wörterbücher jener Zeit berücksichtigten das Stichwort „selezione“ nicht, so daß das englische Wort selection von Canestrini mit „elezione“ wiedergegeben wurde – einem Begriff, der im Dizionario della lingua italiana als „Ausübung des freien Willens“ definiert wurde. Der Begriff „selezione“ wurde erst 1872 in den vierten Band des Dizionario della lingua italiana aufgenommen, in einer Definition, die man zu Recht eine „Schmäh-Definition“ der Bearbeiter Niccolò Tommaseo und Bernardo Bellini genannt hat: „Selektion. Ein Wort, von dem die Wissenschaftler der Bestialität und des Morasts, um die menschliche Freiheit zu leugnen, behaupten, sie komme allen Dingen zu. Sie sagen, daß der Mensch und jedes Ding durch Selektion von selbst geschaffen wurden; aber sie erklären nicht, wie diese Wahlverwandtschaft sich mit der Notwendigkeit verträgt, daß sie ihr dann eine universelle Alleinherrschaft zuschreiben müßten.“ Doch 1892, zehn Jahre nach Darwins Tod, leitete Enrico Morselli als Herausgeber eine Aufsatzsammlung Darwin e il darwinismo mit der feierlichen Widmung ein: AM ZEHNTEN JAHRESTAG DES TODES VON CHARLES ROBERT DARWIN DER DIE METHODE DER BIOLOGISCHEN WISSENSCHAFTEN REFORMIERTE UND DADURCH DEN GEHALT MENSCHLICHEN WISSENS VERÄNDERTE
Das Titelblatt der ersten italienischen Ausgabe der „Entstehung der Arten“
Schließen wollen wir, wie wir begonnen haben – mit Musils Mann ohne Eigenschaften: „Kann man sich zum Beispiel vorstellen, daß der Mensch noch eine Seele haben wird, sobald er sie biologisch und psychologisch völlig zu begreifen und behandeln gelernt hat? Trotzdem streben wir diesen Zustand an! Das ist es. Das Wissen ist ein Verhalten, eine Leidenschaft. Im Grunde ein unerlaubtes Verhalten; denn wie die Trunksucht, die Geschlechtssucht und die Gewaltsucht, so bildet auch der Zwang, wissen zu müssen, einen Charakter aus, der nicht im Gleichgewicht ist. Es ist gar nicht richtig, daß der Forscher der Wahrheit nachstellt, sie stellt ihm nach. Er erleidet sie. Das Wahre ist wahr, und die Tatsache ist wirklich, ohne sich um ihn zu kümmern: er hat bloß die Leidenschaft dafür, die Trunksucht am Tatsächlichen, die seinen Charakter zeichnet, und schert sich den Teufel darum, ob ein Ganzes, Menschliches, Vollkommenes oder was überhaupt aus seinen Feststellungen wird. Das ist ein widerspruchsvolles, ein leidendes und dabei ungeheuer tatkräftiges Wesen!“ ❑
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Lebensdaten
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1809 1817 1825 1828 1831
Charles Darwin wird in Shrewsbury, einem Städtchen am Fluß Severn, als Kind von Robert Waring Darwin und Susannah Wedgwood geboren.
1836 1839 1841 1842 1844 1847 1848 1851 1858
Am 2. Oktober erreicht die „Beagle“ wieder die britische Küste. Darwin läßt sich in London nieder.
1859 1871 1872 1881
Er veröffentlicht „Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl“ (On the Origin of Species by Means of Natural Selection).
1882
Am 15. Juli stirbt überraschend die Mutter. Im selben Jahr beginnt für Darwin der Unterricht an der Shrewsbury School. Er immatrikuliert sich an der medizinischen Fakultät der Universität Edinburgh. Er bricht das Medizinstudium ab und wechselt nach Cambridge mit dem Ziel, Pastor der Anglikanischen Kirche zu werden. Er schifft sich als Naturforscher auf der Brigg Beagle ein, die unter dem Kommando von Kapitän Robert FitzRoy am 27. Dezember von Plymouth aus zu einer Reise um die Welt aufbricht.
Im Januar heirate er seine Cousine Emma Wedgwood; im Dezember kommt ihr erster Sohn William zur Welt. Die älteste Tochter Annie wird geboren. Im Herbst zieht Darwin mit seiner Familie nach Down House in die Nähe von Orpington in Kent um. Er beginnt die Arbeit an der Evolutionstheorie. Er fängt an, die Monographie über die Cirripedien zu schreiben; dafür wird er acht Jahre brauchen. Der Vater stirbt. Die älteste Tochter Annie stirbt. Darwin hält vor der Linnean Society einen Vortrag über die Evolution durch natürliche Selektion und legt einen Aufsatz gleichartigen Inhalts vor, den ihm Alfred Wallace aus Südost-Asien geschickt hatte. Der jüngste Sohn Charles Waring stirbt.
Er veröffentlicht „Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl“ (The Descent of Man and Selection in Relation to Sex). Er veröffentlicht „Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren“ (The Expression of the Emotions in Man and Animals). Darwin vollendet seine „Autobiographie“ und veröffentlicht „Die Bildung der Ackererde durch die Tätigkeit der Würmer“ (The Formation of Vegetable Mould, through the Action of Worms). Am 19. April stirbt Darwin in Down House; am 26. April findet sein Begräbnis in Westminster Abbey statt.
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Literaturhinweise Adrian Desmond, James Moore: Darwin. München 1995. Ilse Jahn et al.: Geschichte der Biologie. Theorien, Methoden, Institutionen, Kurzbiographien. Stuttgart 1998. Eve-Marie Engels (Hg.): Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert. Frankfurt/Main 1995. Ernst Mayr: Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt. Heidelberg 1984. Als Übersetzungen wurden herangezogen: Charles Darwin: Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl. Übersetzt von Carl W. Neumann. Stuttgart 1963. Charles Darwin: Essay zur Entstehung der Arten. Mit einer Einführung von Heribert M. Nobis (Hg.). Übersetzt von Maria Semon, teilweise überarbeitet und ergänzt von Euthymios Papadimitriou. München 1971. Charles Darwin: Mein Leben 1809–1882. Herausgegeben von seiner Enkelin Nora Barlow. Frankfurt/Main – Leipzig 1993. Charles Darwin – ein Leben. Autobiographie, Briefe, Dokumente. Siegfried Schmitz (Hg.). München 1982. Charles Darwin: Reise eines Naturforschers um die Welt (Voyage of a naturalist round the world). Übersetzt von J. Victor Carus. 2. Auflage, Stuttgart 1899. Charles Darwin: Das Variieren der Tiere und Pflanzen im Zustande der Domestikation. Übersetzt von J. Victor Carus. 2 Bände, Stuttgart 1899. Charles Darwin: Die Bewegung und Lebensweise der kletternden Pflanzen. Übersetzt von J. Victor Carus. Stuttgart 1876. Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl. Übersetzt von J. Victor Carus. 2 Bände, Stuttgart 1875. Charles Darwin: Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren. Übersetzt von J. Victor Carus. Stuttgart 1872. Charles Darwin: Das Bewegungsvermögen der Pflanzen. Übersetzt von J. Victor Carus. Stuttgart 1899. Charles Darwin: Die Bildung der Ackererde durch die Tätigkeit der Würmer mit Beobachtung über deren Lebensweise. Übersetzt von J. Victor Carus. 2. Auflage, Stuttgart 1899. Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Anna Freud et. al. (Hg.). Band 11, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. London 1940 (Nachdruck Frankfurt/Main 1978). Thomas Henry Huxley: Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur. Eingeleitet und übersetzt von Gerhard Heberer. Stuttgart 1963. Kant’s gesammelte Schriften. Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg.). Band 5, Kritik der praktischen Vernunft, Kritik der Urteilskraft. Berlin 1913 (Nachdruck 1974). Jean-Baptiste de Lamarck: Zoologische Philosophie. Nach der Übersetzung von Arnold Lang, neu bearbeitet von Susi Koref-Santibañez, eingeleitet von Dietmar Schilling, kommentiert von Ilse Jahn. 3 Bände, Leipzig 1990–1991. Thomas Robert Malthus: Das Bevölkerungsgesetz. Nach der 1. Auflage, London 1789, übersetzt von Christian M. Barth (Hg.). München 1977. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Adolf Frisé (Hg.). Hamburg 1952.
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DARWIN: Ein Leben für die Evolutionstheorie von Barbara Continenza Copyright © 1998 by Le Scienze S.p.A. Piazza della Repubblica 8, 20121 MILANO Italienische Originalausgabe bei Le Scienze S.p.A. Piazza della Repubblica Übersetzung: Michael Spang Redaktion: Dr. Michael Springer Schlußredaktion: Katharina Werle Wissenschaftliche Mitarbeit: Prof. Dr. Wolfgang Neuser Verantwortlich für den Inhalt: Dr. habil. Reinhard Breuer Produktion: Klaus Mohr, Tel. (0 62 21) 504-730. Layout: Sibylle Franz, Karsten Kramarczik, Natalie Schäfer Marketing und Vertrieb: Annette Baumbusch, Markus Bossle; Tel. (0 62 21) 504-741/742, e-mail:
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Titelbild: Montage aus dem letzten Photo von Charles Darwin, das Herbert Rose Barraud 1881 aufgenommnen hat, und den berühmten Darwinfinken, die fast alle auf dem Galapagos-Archipel beheimatet sind, aber trotz ihres Namens zu den Ammern gehören.
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Antoine Laurent de Lavoisier (1743 – 1794)
Albert Einstein (1879 – 1955)
Spektrum der Wissenschaft stellt in seiner neuen Sonderheftreihe „Biographien“ Leben und Werk großer Wissenschaftler vor. Ein Abonnement umfaßt vier Ausgaben, die vierteljährlich erscheinen. Der Jahresbezugspreis beträgt DM 55,20 (anstatt DM 67,20 bei Einzelkauf) frei Haus; für Schüler oder Studenten auf Nachweis DM 48,–. Die nächsten Sonderhefte stellen die Wissenschaftler Lavoisier und Einstein vor. Eine Bestellkarte finden Sie nebenstehend im Heft.