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Zu diesem Buch Als die beiden Satiriker und Freunde Gabriel Laub und Hans-Georg Rauch für dieses Buch zusammenfande...
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Zu diesem Buch Als die beiden Satiriker und Freunde Gabriel Laub und Hans-Georg Rauch für dieses Buch zusammenfanden, entstand manchmal Übereinstimmung, manchmal auch ein ironischer Konflikt zwischen Bild und Text. So erfahren wir nun unter anderem, warum es überflüssig ist, sich eine Geliebte (wahlweise: einen Geliebten) anzuschaffen; warum ein Denkmal aus hartem Material sein sollte; warum es von ernsten Absichten zeugt, wenn ein Herr einer Dame statt Blumen eine ganze Schachtel Antibabypillen schenkt. Der verdutzte Leser nimmt fernerhin teil an der Entdeckung des eheförderlichen Gruppensex; weiß nunmehr von der Bedeutung des Wortes «Prinzip», das seine Bedeutung prinzipiell verändert hat, und erinnert sich an eine Zeit, als der Schnee noch weiß war.
Gabriel Laub, geboren 1928, lebt nach seiner Prager Studien- und Journalistenzeit seit 1968 als Schriftsteller in Hamburg. Er veröffentlichte über zwanzig Aphorismen- und Satirensammlungen, u. a. «Denken verdirbt den Charakter», «Gespräche mit dem Vogel» und «Entdeckungen in der Badewanne».
Hans-Georg Rauch, geboren 1939 in Berlin, studierte dort an der Hochschule für bildende Künste, ist Zeichner und Radierer und Mitarbeiter an zahlreichen, auch internationalen Zeitschriften. Im Rowohlt Verlag liegt ferner sein Band «Die schweigende Mehrheit» vor.
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Doppelfinten Texte und Zeichnungen von Gabriel Laub und Hans-Georg Rauch
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Rowohlt
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Umschlagzeichnung Hans-Georg Rauch
24.-33.Tausend März 1992 Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, November 1975 Copyright © 1975 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany 680-ISBN 3499 13138 2 Scanned and corrected by RedY
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Gabriel Laub / Hans-Georg Rauch • Doppelfinten
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Die Schöpfung «Also, lieber Gott», sagte Luzifer, der damals noch als Vorsitzender des himmlischen Betriebsrates im Aufsichtsrat des Weltalls Mitbestimmung ausübte, «DU mußt gestehen, daß DIR die Erde nicht ganz gelungen ist: Die Achse ist schief, bei den Polen ist die Kugel platt, einerseits zu viele unnütze Wasserflächen, andererseits Eis- und Sandwüsten... Das Stückchen Naturpark mit der Menagerie im Garten Eden als Vorzeigemuster ist ein reines Propagandaunternehmen. Im Namen der Belegschaft erkläre ich, daß kein Engel bereit ist, dorthin umzuziehen.» «Es war auch nicht für Engel gemeint», sagte Gott versöhnlich. «Ich weiß, daß die Erde nicht vollkommen ist, es war meine erste Arbeit dieser Art, ich hatte keine Vorbilder und kein Projekt.» «DU hast dich allzusehr beeilt. Ich begrüße, daß DU den siebenten Tag zum Ruhetag gemacht hast — das ist ein guter Ausgangspunkt für den Kampf um weitere Verkürzung der Arbeitszeit. Das bedeutet jedoch nicht, daß das Werk schon fertig sein mußte. Ich schlage vor, dieses mißratene Versuchsmodell zu verschmelzen und, bevor die Planeten in die Serie gehen, ein genaues Projekt auszuarbeiten.» «Das kann ich nicht tun», sagte der gute Gott, «des Menschen wegen, den ich zu meinem Ebenbild geschaffen habe. Er ist mir zwar nicht ganz ähnlich geworden, ich will ihn jedoch nicht vernichten.» «Die Menschen, diese komischen Geschöpfe...» erwiderte Luzifer, «DU weißt, daß ich nicht DEIN Verehrer und kein Schmeichler bin - ich schätze DICH aber allzusehr, um zu behaupten, daß diese Karikatur DEIN Ebenbild sei. DU mußt sie gar nicht vertilgen, laß ihnen ein bißchen Zeit, dann werden sie sich selber vernichten.» Es wurde beschlossen, die Erde solange nicht zu verschmelzen und sie als Rumpelkammer zu benutzen, für alles, was bei der Produktion anderer Planeten mißlungen ist.
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Das Paradies Das einzige, was sich in unserer Welt mit der Zeit wirklich ändert, ist die Vorstellung, die wir uns vom Paradies machen. Früher sah das Paradies der Automobilisten ungefähr so aus: Ein großes, weitläufiges Netz guter Straßen mit schnellen Wagen und freundlichen, fröhlichen Fahrern. Alle winkten einander zu und lächelten. Jeder Verkehrspolizist war ein Engel, jeder Motorist ein Heiliger. Der Erzengel Gabriel gab mit flammendem Schwert das Signal zu ewigem frohen Rennen; himmlische Chöre begleiteten die Musik der Motoren mit einem süßen Halleluja im Walzertakt. Gott der Gerechte war der Zielrichter. Heute wünscht sich ein Automobilist das Paradies anders: Im ganzen weiten Himmel gibt es nur einen einzigen Superwagen - das ist sein eigener -, sonst sind die paradiesischen Straßen vollkommen leer, die Engel waschen und polieren das Auto im Schweiße ihres Angesichts, und alle sieben Kreise des Himmels sind ein einziger unbegrenzter freier Parkplatz. Und fahren muß man auch nicht.
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Erfinder Man muß etwas gegen die Erfinder erfinden. Am besten wäre vielleicht, schon Kinder im Vorschulalter zu dephantasieren, das heißt ihre Phantasie zu sterilisieren. Der Vorgang müßte erst erfunden werden, aber er wird erfunden werden. Alles, was noch nicht erfunden ist, wird erfunden werden. Zum Unglück der Menschheit. Das geht doch immer so: Einer erfindet die Methode, Feuer zu machen, der andere erfindet Häuser aus Holz, dann kommt ein Dritter - oder war es auch der Erste? - und erfindet, wie man die Häuser mit Hilfe des Feuers niederbrennen kann. Wenn man einmal das Atom erfunden hat - denn es wurde zuerst erfunden und viel, viel später entdeckt -, muß man damit rechnen, daß man später die Atombombe erfinden wird, auch wenn das in der Praxis eine Weile gedauert hat. Freilich, viele Erfindungen haben unser Leben bequemer gemacht. Deshalb bemüht sich jetzt die ganze Medizin und noch einige Wissenschaften, Wege zu erfinden, um uns von unserer Bequemlichkeit loszureißen, die uns kaputtmacht. Hätte es nicht so viele Erfinder gegeben, müßten wir heute noch immer in den Wäldern leben und wilde Tiere jagen. Na und? Heute reisen wir Gott weiß wohin, um in einen richtigen Wald zu kommen; ein Hirschsteak können sich nur vermögende Leute leisten, die Jagd auf einen Hirsch nur die Reichen. Wilde Tiere haben wahrscheinlich in der ganzen Geschichte des Homo sapiens nicht so viele Menschen getötet, wie die Autos in einem Jahr. Auch die größten Erfindungen vermochten noch nicht, den Hungertod auf dieser Erde abzuschaffen, dafür bescherten sie uns den Infarkttod, den Krebstod und einige andere.
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Das Privatleben Mit dem Privatleben stimmt etwas nicht. Die Verfassung schützt seine Freiheit, die Gesetze und die Behörden sorgen dafür, daß kein Gesetz und keine Behörde das Privatleben des Bürgers einengt oder stört. Das ist sehr richtig und sehr gut. Andererseits aber, gäbe es keine Gesetze und keine Behörden, müßte man keine Behörden und keine Gesetze haben, die uns vor den Gesetzen und vor den Behörden schützen. Denn mehr können die Gesetze und Behörden für den Schutz des Privatlebens eines Menschen nicht tun. Sie können es nur von draußen schützen. Sobald man sich in seinem trauten Heim befindet, ist man nämlich kein Bürger mehr. Man ist Vater oder Kind, Ehefrau, Schwiegermutter, Bruder, Schwester, Schwager, Großmutter... und jeder von diesen Menschen kann jedem in sein Privatleben reinreden, es einengen, stören, beeinträchtigen... Jedes Familienmitglied beschränkt das Privatleben jedes Familienmitglieds schon allein durch seine Existenz. Und keiner kann ihn schützen. Solange es zu keinem Mord und Totschlag kommt, dürfen sich die Gesetze und Behörden nicht einmischen, sie sind eben dafür da, jede Einmischung zu verhindern. Dem schutzlosen Menschen bleibt nur eine Lösung übrig: Sein Privatleben ganz auf die Straße zu verlegen, wo er wieder zum Bürger wird und voll unter dem Schutz der Gesetze und Behörden steht.
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Partnerschaften «Ich glaube, o Herr», sagte der Erzengel Rafael, «es ist ein bißchen unvorsichtig, die Menschen so jeden allein herumlaufen zu lassen. So können sie allerlei Schlechtigkeiten treiben. Wäre es nicht besser, sie mindestens zu zweit zusammenzubinden? Dann wird einer den anderen hüten. Es können doch selten beide die gleichen Gauner sein. Und zu jeder Arbeit werden sie die doppelte Kraft haben. Auch das Beispiel wird wirken und zu festen Bindungen zwischen Völkern, Parteien und so weiter führen.» «Versuchen wir's», lächelte der Herr gütig, und er schuf zur Probe siamesische Zwillinge. Das verursachte aber viele Komplikationen. Gefiel ein Haus einem der Zwillinge und dem zweiten nicht, war es schlecht. Gefiel den beiden dieselbe Frau, war es auch nicht gut... Die Zwillinge begannen sich zu hassen, weil sie so fest miteinander verbunden waren. Der Erzengel sah nun ein, daß er sich geirrt hatte, und Gott trennte wieder die Menschen voneinander. Seit jener Zeit versuchen die Menschen immer wieder, feste Bindungen herzustellen. Sie können es aber nicht besser machen, als der liebe Gott.
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Nostalgie Betty ist wieder einmal in nostalgischer Stimmung. Sie sehnt sich nach den Zeiten, als sie noch emanzipiert war und einer kämpferischen Frauengruppe angehörte. Sie kämpften für die Abschaffung der Ehe, dieser Institution zur Versklavung der Frauen, für die Abschaffung der Männerherrschaft und wenn nicht für die Abschaffung, dann doch mindestens für die Kastrierung der Männer. Betty lebte damals sehr emanzipiert mit einer Lesbierin zusammen und hat es mit ihr getrieben, obwohl es ihr widerlich war. Betty war überhaupt sehr ungern emanzipiert. Damals sehnte sie sich nach einem lieben Ehemann, netten Haus und Kindern. Es war jedoch modern, emanzipiert zu sein, und sie sah keinen anderen Weg, einen Ehemann zu finden. Jetzt ist sie verheiratet und hat zwei süße Kinder. Ihr Mann Benno war ein radikaler Linker, mußte das aber aufgeben, weil sein Vater gestorben war, und er mußte die große Fabrik übernehmen. Als Fabrikant brauchte er eine repräsentative Frau mit Sinn für Haushalt. Er blieb jedoch seinen alten Prinzipien treu und bestand darauf, daß sie dazu noch emanzipiert sein muß. Betty - sie heißt übrigens nicht mehr Betty, sondern Hannedore, wie im Personalausweis - hat die Villa zu einem eleganten und gemütlichen Nest gemacht, ihre Kochkünste sind unter den Geschäftsfreunden ihres Mannes berühmt. Hannedore ist eigentlich glücklich, manchmal aber packt Betty die Nostalgie nach dem emanzipierten Leben ohne diese verdammten süßen Kinderlein, ohne den lieben langweiligen Mann, ohne den prachtvollen Hausfrauentrott. Es gibt jedoch keine Rückkehr. Was soll sie jetzt in einer Frauengruppe? Sie hat doch schon einen Ehemann!
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Galanterie Ich las in der Zeitung, daß ein Herr einer Dame statt eines Blumenstraußes eine Schachtel Antibabypillen mitgebracht habe und die Dame beleidigt gewesen sei. Ich kann nicht verstehen, warum. Im Gegensatz zu einem Blumenstrauß ist eine Schachtel Antibabypillen eine ausgesprochene Liebesgabe; denn einen Blumenstrauß kann man auch der eigenen Großmutter oder dem Chef schenken. Das Geschenk zeigte auch, daß der Herr keine oberflächlichen Absichten hatte, denn es war nicht eine Pille, sondern eine ganze Schachtel. Falls die beiden ledig waren, war das ein romantisches Geschenk - es war nicht nur eine Äußerung ergebener Liebe, sondern auch des Vertrauens. Der Herr gab doch der Dame die Möglichkeit in die Hand, selbst zu entscheiden, ob sie ihn durch eine gewollte oder eine vorgetäuschte Schwangerschaft zur Ehe zwingen würde, gegen die er sich nicht wehren könnte. Falls der Herr verheiratet war, war es ein Beweis der Korrektheit gegenüber dieser Dame; falls die Dame verheiratet war, war es auch ein Beweis der Korrektheit gegenüber ihrem Gatten. Man kann auch nicht sagen, daß der Herr geizig war, weil man sicher einen Blumenstrauß bekommen kann, der billiger ist als eine Schachtel Antibabypillen. Und außerdem kann man von dem Geschenk darauf schließen, daß es ein aufrichtiger, praktischer und unter keinem Komplex sexualer Minderwertigkeit leidender Mann war. Wir sehen also, daß eine Schachtel Antibabypillen besser und präziser als ein Blumenstrauß Gefühle und Absichten zum Ausdruck zu bringen vermag. Und daß der Herr, der sie geschenkt hat, ein anständiger Mann war und es gut meinte. Die Dame war aber trotzdem beleidigt. Na ja, anständige Männer, die es gut meinen, haben nie gute Chancen bei den Frauen gehabt.
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Unterwäsche Auf dem Balkon eines Hauses, in dem zufällig mehrere Schreibende wohnten, wurden einige Stücke weiblicher Wäsche zum Trocknen aufgehängt. Den Autor von historischen Romanen inspirierten die bunten Farben der Wäsche zu einer dramatischen Szene, in der ein Häuflein von Rittern erbittert die Fahne verteidigte. Der dicke kahlköpfige Lyriker aus dem ersten Stock schrieb ein langes romantisches Gedicht über das Geheimnis des ewig Weiblichen. Es war ein optimistisches Gedicht, voller Versprechungen. Den Untermieter aus der Dachwohnung, ein hagerer und bebrillter junger Poet, erinnerte die Wäsche an seine untreue Freundin Heike, die keine Unterwäsche trug, und zugleich an seine treue Freundin Monika, deren Büstenhalter einen widerspenstigen und heimtückischen Verschluß hatte. Das kurze Gedicht, das er schrieb, wäre eigentlich pessimistisch gewesen, wenn man es hätte verstehen können. Der Pornoautor, der sein tägliches Pensum erfüllen mußte, füllte mit Hilfe der Schreibmaschine jedes Stück Wäsche mit einer Frau, dann mit Pärchen, aus denen später gleichgeschlechtliche Paare wurden; schließlich hat er die Wäsche ganz gestrichen, denn Wäschefetischismus ist für einen harten Porno zu banal. Der Verfechter der Sittenreinheit regte sich bei dem Anblick der Wäsche sehr auf und schrieb einen feurigen Artikel gegen die Unsitte, intime Wäsche zur Schau zu stellen. Reinheitsapostel kommen sehr billig zu ihren Erregungen, denn ihnen reicht die Unterwäsche ohne Inhalt. Die Quellen der literarischen Inspiration sind unerschöpflich und unergründlich.
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Die Toten «Werte Todesgenossen», sagte der vor kurzem verstorbene Politiker, «ich habe diese Versammlung einberufen, um eine prinzipielle Frage zu klären. Ehrlich gesagt, wundere ich mich, daß bisher noch niemand von euch auf diese Idee gekommen ist - wir haben ja hervorragende Schädel in unseren Reihen und eine Ewigkeit Zeit zum Nachdenken. Kurz gefaßt: Wir Toten sind den Lebenden gegenüber in der Überzahl. Warum sollen wir ihnen die Macht überlassen!?» «Moment, lieber Kollege», rief dazwischen ein Statistiker, «ich bin schon seit achtzig Jahren im Grab und habe hier keine genauen Unterlagen, aber das Zahlenverhältnis muß nicht mehr stimmen. So wie die sich jetzt progressiv vermehren, kann der Fall eingetreten sein, daß mehr Menschen auf der Erde sind als unter der Erde; und wenn nicht jetzt, dann wird es in den nächsten Jahren so sein.» «Das ist noch ein Grund, eben jetzt die Macht zu ergreifen. Aber keine Sorge: Je mehr Lebende, um so mehr Tote. Die machen alles, um unsere Reihen zu stärken», erwiderte der Politiker. «Wir haben auch so Macht über die Lebenden», sagte mit Würde der Ideologe. «Ich bin erst über neunzig Jahre tot, und schon richtet sich die halbe Welt nach meinem Gedanken.» «Quatsch und Einbildung!» rief der Politiker. «Ich zählte auch zu deinen Anhängern, obwohl ich von dir kaum mehr als deinen Bart kannte! Ich weiß, wie man das macht: Man läßt sich in den dicken Büchern ein paar Sätze aussuchen, die man eben braucht und klebt sich auf die Stirn deinen Namen!» «Er hat recht, mein Junge», sagte sanft ein Kirchenvater, schon seit fünfzehnhundert Jahren tot, «uns geht es auch so.» «Wozu brauchst du Macht? Die Macht hat schon viele getötet, aber noch keinen lebendig gemacht», sagte ein altgriechischer Philosoph. «Was heißt wozu?» fragte der Politiker. «Macht ist Macht! » «Vergiß nicht, daß du keine Weiber mehr brauchst, kein Geld und keine Bestätigung, daß du mehr bist, als du bist. Laß uns in Ruhe tot sein», sagte der Philosoph. Und die Toten gingen auseinander, jeder in sein Grab.
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Neue Ära Am 3. Dezember 2021 starb der letzte große europäische Guru. Er verhungerte zusammen mit seinen letzten zwölf Anhängern, zweiundsiebzig Stunden nach ihrer letzten Mahlzeit, die aus dreizehn Eichenblättern und sechsundzwanzig Grashalmen bestand - der letzten Überreste der ehemaligen europäischen Flora. Den Tod des Gurus hat niemand bemerkt. Die Zeit der Herrschaft der Gurus in Europa war längst vorbei. Nicht nur deshalb, weil ihre sanfte Philosophie nicht mit den drastischen magischen Kulten der afroeuropäischen Medizinmänner konkurrieren konnte, die der Mentalität des modernen Europäers viel mehr entsprechen. Der Sieg der magischen Ideologie der Menschenfresser über die der Vegetarier hatte durchaus materielle Gründe: Seit die Vegetation in Europa vernichtet wurde, gab es keine anderen Nahrungsquellen als das Menschenfleisch. Das Fernsehen, das letzte erhaltene Massenmedium, berichtete über den Tod des Gurus nicht. In allen seinen Sendungen lobte es den europäischen Großmagier Mnjanba, unter dessen Führung das Ernährungsproblem im Sinne der Autarkie, der Unabhängigkeit von der Natur, gelöst wurde. In einer sehr lustigen Kabarettsendung verspottete das Fernsehen das komische Häuflein von Emigranten, die mit ihrem hartnäckigen reaktionären Glauben an Wissenschaft und menschlichen Verstand irgendwo in den Bergen Asiens vegetieren.
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Die Lösung Nach dem Beschluß, die menschliche Ordnung als die geeignetste für den Dschungel einzuführen, sagte der Vorsitzende des Tierkongresses, ein Löwe mit internationalen Erfahrungen: «Wir müssen entscheiden, wem bei den tagtäglichen Auseinandersetzungen Hilfe zu leisten ist.» «Dem, der recht hat», meinte die Antilope aus Biafra. «In jedem Konflikt haben beide Seiten recht», antwortete der Löwe, «jeder hat das Recht, nicht gefressen zu werden, und jeder hat das Recht, zu fressen.» «Dann gibt es nur eine Lösung», sagte der Büffel aus dem Bibel-Zoo in Jerusalem, «jeder soll seinen Freunden zur Seite stehen.» «Freunde?» lachte die Hyäne aus dem Pariser Zirkus. «Was ist das? Man muß immer den größeren unterstützen. So kann man auch selbst einen größeren Bissen schnappen.» Dabei blieb es. Mit organisierter Hilfe wurden die Tiere je nach Größe verschluckt. Zuerst die Nagetiere, dann die Hyänen, und so weiter und so weiter. Am Ende blieben nur die zwei größten Elefanten übrig. Allerdings, als auch zwischen ihnen ein Konflikt ausbrach, existierte das Problem nicht mehr, wer wem helfen sollte. Es gibt also Probleme, die man auch politisch zu lösen vermag.
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Fremde Fremde sind Leute, die später gekommen sind als wir: in unser Haus, in unseren Betrieb, in unsere Straße, unsere Stadt, unser Land. Die Fremden sind frech: Die einen wollen so leben wie wir, die anderen wollen nicht so leben wie wir. Beides ist natürlich widerlich. Alle erheben dabei Ansprüche auf Arbeit, auf Wohnungen und so weiter, als wären sie normale Einheimische. Manche wollen unsere Töchter heiraten, und manche wollen sie sogar nicht heiraten, was noch schlimmer ist. Fremdsein ist ein Verbrechen, das man nie wiedergutmachen kann. Seit die Leibeigenschaft aufgehoben ist, gibt es überall viele Fremde. In den großen Städten sind sie schlecht zu erkennen, weil sie sich als normale Menschen zu tarnen verstehen. Darum wäre es nötig, alle Menschen zu verpflichten, je nach ihrer Herkunft eine Tracht zu tragen. Jedes Land sollte einen bestimmten Hut haben, jede Stadt eine Sorte Hosen, jede Straße ihre Halsbinde, jedes Haus Knöpfe mit der Hausnummer, jeder Betrieb Abzeichen. So sähe man gleich auf den ersten Blick, wen man zum Kaffee einladen, wem man einen niedrigeren Lohn zahlen und von wem man eine höhere Miete verlangen kann.
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Idylle Ich liebe kleine historische Städte mit schmucken, farbigen alten Häusern. Man findet hier immer ein kleines gemütliches Hotel, in einem halbmondförmigen Gäßchen, das für die Autos zu schmal ist. Ein Sinnbild der schlaftrunkenen Ruhe. Herrliche Ruhe! Höchstens einmal in einer halben Stunde fährt ein Wagen durch eine der beiden Hauptstraßen, die durch das Gäßchen verbunden sind. Auch für den Schall ist das Gäßchen zu eng, er versucht aus der Falle herauszukommen, irrt herum wie ein Betrunkener im Labyrinth, knallt mehrmals von den Wänden ab und donnert, konzentriert und gezielt, geradewegs auf den Kopf des Menschen im Bett. Das dauert aber höchstens bis Mitternacht, selten länger. Die halbstündigen Pausen würden gerade reichen, um wieder einzuschlafen, wenn nicht die schöne historische Uhr auf dem Haus gegenüber wäre. Sie zeigt durch melodisches Glockenspiel jede Viertelstunde an. Nach zwei, drei Stunden gewöhnt man sich daran. Gegen ein Uhr passieren die stille Gasse zwei Männer. Sie schweigen und ihre Schritte hallen in die Nacht, wie die schicksalhaften Schritte einer Militärpatrouille in einem spannenden Kriegsfilm. Dann herrscht Ruhe, von einem verirrten Auto abgesehen, das am unteren Ende der Gasse vorbeifährt und Gas gibt, und von der Uhr natürlich. Um vier meldet sich ein verrückter Hahn, der fast wie ein Hund bellt oder ist das vielleicht ein verrückter Hund, der fast wie ein Hahn kräht? Jedenfalls hat er ein unheimliches Pflichtbewußtsein und eine enorme Ausdauer. Inzwischen gehen schon die ersten Menschen zur Frühschicht. Das Gäßchen ist ein fabelhafter Verstärker, man kann, ohne aus dem Bett aufzustehen, erfahren, was es gestern zum Abendbrot gab und wie der Krimi im Fernsehen war. Um halb sieben kommt die Müllabfuhr. Das macht jedoch dem Menschen im Bett nichts mehr aus. Er muß sowieso aufstehen, um acht geht sein Zug. Er muß in die schreckliche lärmerfüllte Großstadt zurück.
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Großer Bruder Wären die Leute, die vor der allgemeinen elektronischen Datenerfassung über alle Bürger warnen, hundertprozentig anständig, hätten sie keinen Grund, sich dagegen zu wehren, daß man alles von ihnen weiß. Wenn man über einen Bürger alle Daten in Computern speichern wird, sagen sie, entsteht so etwas wie Orwells «Großer Bruder». Jemand, der zu den konzentrierten Informationen Zugang hat, kann dann die Menschen manipulieren, kann sich in ihre Privatsphäre einmischen das ist das Ende der Freiheit. Na und? Was ist Freiheit? Was gibt sie dem Bürger? Als freier Mensch muß man nur dauernd selbst entscheiden, was man tun und was man lassen soll, man muß für sich selbst verantwortlich sein und auch noch für andere mitverantwortlich; und wenn man etwas verpatzt hat, muß man sich selbst die Schuld geben. Freilich, auch heute kann man die Schuld auf die Gesellschaft, auf das System, auf die Erziehung und so weiter schieben - und man tut es. Einem freien oder, sagen wir lieber, einem relativ freien Menschen nimmt man es aber nicht immer ab, daß er so handeln mußte, wie er gehandelt hat. Bei einem total manipulierten ist alles klar. Es gibt in der Welt viele Millionen Menschen, denen ihre totalitäre Obrigkeit die Verantwortung abgenommen hat, und viele Millionen, die sich offenbar danach sehnen. Siehe die politischen Nachrichten in den Zeitungen.
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Gegner Die Gegner der Schwangerschaftsunterbrechung sind uneigennützig: Sie selbst wurden ja nachweislich nicht abgetrieben - mindestens nicht erfolgreich - und können nicht mehr abgerieben werden. Sie denken nur an die Menschheit. Die Gegner der Bevölkerungsbeschränkung sind weise: Sie haben gemerkt, daß es nicht so leicht ist, das Elend, die Kriege, den Völkermord und die Hungersnot aus der Welt zu schaffen, und versuchen es vom anderen Ende. Mehr Menschen schaffen mehr, denken sie. Hunger? Alle können nicht verhungern. Wenn heute 460 Millionen Menschen hungern, sind es elf bis zwölf Prozent der Menschheit; würde sich die Erdbevölkerung verdoppeln, bedeutet die gleiche Zahl von Hungernden nicht einmal sechs Prozent. Krieg? Wenn die Menschheit mehr Nachwuchs bekommt, wird der Verlust von einigen Millionen Individuen pro Jahr erträglicher, vielleicht sogar willkommen sein. Lobet die Weisheit der Weisen, die nur an das Wohl der Menschheit denken!
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Sparsamkeit «Wer spart, ist reich», sagt die Werbung. Wahr ist: Wer reich ist, kann leicht sparen. «Eine echte deutsche (chinesische, tschechische, französische usw.) Frau ist sparsam», heißt die alte Weisheit. Frau Anna wollte eine echte Frau sein. Sie zog in eine kleinere Wohnung um, ging nicht mehr zum Friseur, kaufte keine neuen Kleider und fütterte ihren Mann nur mit Nudeln. Infolge dieser Methode hatte ihr Mann immer häufiger Abendsitzungen und Geschäftsreisen, and Frau Anna mußte es aufgeben. Dann stürzte sie sich auf Sonderangebote und Ausverkaufsaktionen. Sie hatte zwar an dem Preisunterschied viel eingespart, ihr Haushaltsgeld war jedoch immer schon in der ersten Woche zu Ende. Not ist die Mutter der Erfindung. Frau Anna erfand eine neue Sparmethode, die einzig wirksame. Sie besucht die teuersten Geschäfte, sucht sich da die schönsten Pelze, Diamantringe und Sportwagen aus, die sie haben möchte, fragt nach dem Preis - und kauft nichts. Die so entstandenen Ersparnisse trägt sie in ein Heft ein. Frau Anna hat auf diese Art in den letzten zwei Monaten sechsundachtzigtausend Mark gespart. Sie hat zwar nicht mehr Geld als früher, aber sie ist zufrieden.
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Eine Legende Der Fallschirm funktionierte tadellos, der Pilot landete weich im Schnee. Die Jäger des Volkes Tja-sin brachten ihn in das große Iglu. Für die Tja-sin war das Tal die ganze Welt; das undurchdringliche Gebirge - von Dämonen bewohnt -, das war der Rand der Erde. Ohne Flugzeug gab es von hier keinen Weg. Der Mann, der vom Himmel gekommen war, ging mit den Männern zur Jagd und verwöhnte die Kinder, die ihm die kleine Loki geboren hatte, mit warmem Rentierblut. Er wollte von der großen Welt erzählen, aber noch ehe er die Sprache mit den wenigen Worten und den vielen Intonationen gelernt hatte, wußte er nicht mehr, ob die große Welt nicht nur sein Traum gewesen war. Der Mann, der vom Himmel gekommen war, lebte im Iglu zwanzig Jahre. Die Tja-sin wissen jetzt, daß die Himmelmenschen riesige Iglus und Flügel haben. Die Himmelmenschen lieben die Tja-sin - haben sie doch einen Boten zu ihnen geschickt - und sorgen dafür, daß sie Tiere zum Jagen haben. Lokis ältester Sohn ist Schamane. Er hat vom Vater ein Spieglein geerbt; damit ruft er jeden Morgen die Sonne zurück und heilt Kranke. Die Tja-sin sind glücklich.
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Utopie Er war ein Schriftsteller-Utopist. Er verfaßte literarische Visionen über eine künftige gerechte Gesellschaft. Doch eines Tages gab er es auf selbst für einen Utopisten war das Trugbild einer gerechten Gesellschaft zu utopisch. Kein Mensch wollte dafür etwas bezahlen aber auch ein Utopist muß in der Gegenwart leben. Jetzt schreibt er Science-fictions. Auf seinem Tisch liegen Zeitungsberichte über den neuesten Mondflug, und aus seiner Schreibmaschine fließen Dialoge der Zukunft: «Wissen Sie, Frau Meier, wir waren wieder drei Wochen auf der Venus, aber das ist schon ziemlich unerträglich... diese Hitze, diese Leute, die mit den Reisebüros kommen...» «Der Verteidigungsminister verlangt neue Geldsummen für das Mondabwehrsystem...» - «Man hat mir ein Aktienpaket der Marsbergwerke angeboten, sehr günstig! Glauben Sie, die steigende Tendenz wird dauerhaft sein?...» Solche optimistischen Visionen, die die Allmacht der Menschheit mindestens in der Zukunft — bestätigen, sind heute gefragt, darum liefert er sie. Doch, da ein Science-fiction-Autor ja einige wissenschaftliche Kenntnisse besitzen muß, weiß er auch, daß nicht alles so sein wird, wie er es beschreibt. Und das freut ihn: Es sollen wenigstens auf den anderen Planeten Plätze bleiben, von denen man noch träumen kann. Er hofft, daß die Wissenschaft einmal haltmacht... Aber er weiß: Auch das ist eine Utopie.
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Das Prinzip Das Wort «Prinzip» stammt vom lateinischen «principium», das «Anfang», «Ursprung», «Grundlage» heißt, hat aber im Laufe der Zeit seine Bedeutung prinzipiell geändert. Heute bedeutet es eher «Ende», «Schluß» und «basta!» Denn ein Prinzip oder ein Mensch mit Prinzipien ändert sich nie, aus Prinzip. Das Prinzip duldet grundsätzlich keine anderen Prinzipien, sonst wäre es kein Prinzip. «Prinzip» ist ein harter Begriff, und wenn zwei Prinzipien aufeinanderprallen, gibt es Funken, die schon viele Brände in der Geschichte verursacht haben. Man ist aus Prinzip ein Linker oder ein Rechter, das heißt, daß man prinzipiell alles ablehnt, was die anderen sagen, mögen sie noch tausendmal recht haben. Im Prinzip können sie natürlich nie recht haben, weil sie sich nach anderen Prinzipien richten. Man führt prinzipielle Kämpfe und verteidigt seine Prinzipien, koste es, was es koste, vor allem wenn andere Menschen die Kostenträger sind. Prinzipielle Leute geben aber ihre Prinzipien nicht auf, auch wenn sie selbst dadurch untergehen sollten oder die ganze Welt. Denn Prinzip ist Prinzip. In dem Begriff «Prinzip» sind jedoch prinzipielle Widersprüche inbegriffen. Zum Beispiel gibt es nachweislich Menschen, die ihre Prinzipien verraten. Wer sind aber diese Leute? Die Prinzipienlosen können es nicht sein, sie haben nichts zu verraten. Es sind also doch die Prinzipiellen. Was wiederum ein logischer Unsinn ist. Oder: Wenn man «im Prinzip» mit einer Sache einverstanden ist, heißt das, daß man nicht ganz oder auch gar nicht einverstanden ist. Diese Widersprüche kann nur ein Prinzip erklären, das Prinzip aller Prinzipien, das immer gilt. Und dies lautet: Das Prinzip bin ich. Womit das Wort zu seinem principium - also Ursprung - zurückkehrt.
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Das Denkmal Alle Herrscher hatten in ihren Städten schöne Denkmäler, nur der Herzog von Bumbatz konnte sich keines leisten, weil er sein Steuereinkommen für drei Jahre im voraus beim Pokern verspielt hatte. Er ließ seine Kleider, Schuhe, Gesicht und Hände vergolden, dann am Schloßplatz einen kleinen Sockel bauen und stand am Tage als sein eigenes Denkmal dort. Für die Nächte hatte er zu diesem Dienst seinen Kultusminister verpflichtet. Der Herzog erlebte viel Unangenehmes, denn nur der Hofstaat, der das Geheimnis kannte, beugte sich vor dem Denkmal und lobte den Herrscher. Andere Passanten, vor allem die Droschkenkutscher, die am Platz ihren Stand hatten, ehrten den Herzog mit Worten, die sein goldiges Gesicht vor Scham kupferrot werden ließen. Die Tauben beschmutzten ihn von oben, die Kinder von unten. Als er hörte, wie sich die jungen Leute zum Stelldichein beim «goldenen Trottel» verabredeten, gab er auf. Die Moral: Ein Denkmal sollte aus Stein oder anderem unempfindlichen Material sein.
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Fremde Frauen Herr A. wälzte sich schlaflos im Bett und überlegte: «Verflixt! Warum liege ich da eigentlich mit diesem fremden Frauenzimmer? Sie hat die gleiche Figur wie meine Frau - etwas breite Hüften, kleine Brüste, die mich seinerzeit so rührten, sehr traurige Augen - genau wie meine Frau. Sie umarmt mich und liebt mich, unterwürfig und ohne Begeisterung, genau wie meine Frau. Genau wie meine Frau triezt sie mich, wenn ich meine Schuhe nicht auf den dafür bestimmten Platz stelle, sie macht genauso einen schwachen Kaffee und unterhält mich genauso vom Fernsehen, vom Shopping und von den Kleidern, die sie im Schaufenster sah... Sie hört genauso unaufmerksam zu, wenn ich ihr von meinen Sorgen erzähle und fragt dann nach etwas Gleichgültigem und Unwichtigem... Sie erkundigt sich genauso telefonisch, was sie abends kochen soll, und ob ich pünktlich nach Hause komme, damit das Abendbrot nicht kalt wird, und sie beendet genauso jedes Mahl mit der Bemerkung, daß es ohnehin überflüssig ist, wenn ich so viel esse, da ich bloß noch Haut und Knochen bin... Genau wie meine Frau strengt sie sich nicht sehr an, sich schön zu machen, wenn wir einen Abend zu zweit zu Hause verbringen, und ärgert sich genau wie sie, wenn ich anfange, von meiner Arbeit zu reden... Heute ging sie sogar mit den Lockenwicklern schlafen, was doch eine Geliebte nie und nimmer tut...» Herr A. wachte nun vollkommen auf, wurde sich dessen bewußt, daß er zu Hause war, bei der eigenen Ehefrau, und überlegte: «Verflixt! Warum liege ich da eigentlich mit diesem fremden Frauenzimmer?»
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Romantik Heute hat Gräfin Agnes ihren großen Tag. Beim Turnier wird ihr Mann, Graf Wolfram, mit ihrem Liebhaber, dem jungen Baron Edelbert kämpfen. Es wird ein Kampf auf Leben und Tod sein, und alles ihretwegen, aus Liebe zu ihr. Ach, wie romantisch das ist! Und alle Freundinnen wissen, worum es geht, und beneiden die Gräfin. Als Graf Wolfram überraschend aus einem Feldzug zurückkehrte und ihre Liebschaft mit dem Baron entdeckte, wollte er ihn zum Duell auffordern; der König hat jedoch Duelle verboten und konfisziert die Güter von Duellanten. Um das nicht zu riskieren, verlegten die beiden Ritter ihren Kampf auf das Turnier. Gräfin Agnes liebt beide, den tapferen, charaktervollen Wolfram und den temperamentvollen, leichtsinnigen Edelbert, sie ist aufgeregt und im voraus traurig, daß einer von ihnen heute sterben muß. Aber es ist so romantisch! Sollte der Graf fallen, kann sie dann das wunderschöne schwarze Kleid aus indischer Seide anziehen, das schon fertig in der Truhe liegt. Und sie wird als selbständige Herrin keine Schwierigkeiten haben, den Seidenhändler zu bezahlen und auch den Juwelier, der schon ungeduldig wird. Im Trauerjahr wird sie natürlich Edelbert nicht empfangen können, sie wird sich mit den unerfahrenen, aber ach, so süßen Zärtlichkeiten ihres Pagen begnügen müssen. Nach einem Jahr wird sicher der alte Graf von Hochdorf um ihre Hand anhalten, er hat es schon seit langem auf die Jagd des Grafen Wolfram abgesehen, und seine dritte Frau ist vor kurzem gestorben. Sie wird ihn heiraten, denn der Graf ist reich und nicht eifersüchtig. Sollte Wolfram siegen, wird er von dem König wahrscheinlich die zwei Dörfer des geköpften Freiherrn von Münzburg bekommen, er hat sich im Krieg verdient gemacht. Sie wird ihm schon bei der Versöhnung das Geld für die Kaufleute abbetteln. Gräfin Agnes ist angenehm erregt, es ist ja alles so romantisch!
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Die Freiheit Echte Freiheit haben nur diejenigen, die in einem festen Käfig eingesperrt sind. Sie sind frei von der Last, freie Entscheidungen treffen zu müssen. Sie sind frei von der Verantwortung für alles, was geschieht, weil sie es weder beeinflussen, noch verhindern können. Sie sind frei von den Sorgen über ihre eigene Zukunft – sie gehört ihnen nicht. Sie sind frei von der Vergangenheit - im Käfig zählt keine Vergangenheit. Nur die Gegenwart ist real: der Eimer Wasser, das Bündel Heu oder das Stück Fleisch. Sie haben die Freiheit zu denken, was sie wollen — diese Freiheit kann man ihnen nicht nehmen —, sie sind aber frei von der Notwendigkeit zu denken, da das Denken ihnen nichts nützt. Sie haben die Freiheit zu glauben, daß es nichts Besseres gibt als einen Käfig, und damit die Freiheit, glücklich zu sein. Ist der Käfig fest genug, sind sie frei von der Versuchung, nach Freiheit zu streben. Sie sind frei von der Freiheit selbst.
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Fortschritt «Du sagst, daß du nicht an den Fortschritt glaubst. Schau dir mal deine Frau an. Früher mußten sich die Frauen, die von der Natur benachteiligt oder von der Zeit geschädigt worden waren, künstlicher Ersatzteile bedienen. Jeder unvorsichtige Mann riskierte, daß seine Partnerin auf einmal die Perücke, die falschen Zähne, die Kunststoffbrust und den Schaumgummihintern ablegt, und er es mit einem bloßen Torso zu tun haben würde. Der Fortschritt der Medizin hat diese Gefahr beseitigt.» «Na gut, meine Frau hat sich durch plastische Operationen und Hormonkuren eine neue Nase, dann ein neues Gesicht, einen vollen Busen und einen schicken Po verschafft. Sie sieht immer jung aus. Du kennst aber aus der griechischen Philosophie das Paradoxon über das vielfach renovierte Schiff. Ist das noch immer die Frau, die ich geheiratet habe?» «Aber, alter Junge, über ein Schiff kann man nachdenken, ob es nach ein paar Jahren noch dasselbe ist - doch nicht über Ehefrauen, selbst wenn sie keine Operationen durchgemacht haben.»
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Enthüllung Sie waren alle jung, ernst und leidenschaftlich. Sie wollten für die Menschheit volle Arbeit leisten. Bruchteile, Einzelheiten und Körnchen verschmähten sie. Nur das Ganze war für sie ganz genug. A. war Publizist. Er wollte den Menschen die Wurzeln des Bösen enthüllen. B. war Moralist. Er wollte den Menschen die Wohltat des Guten enthüllen. C. war ein Ästhet. Er wollte das Schöne enthüllen. D. war ein Poet, er wollte allen sein Inneres enthüllen. E. war Naturwissenschaftler, er versuchte die komplizierten Gesetze des Lebens zu enthüllen. F. war Historiker, G. Politologe, H. Futurologe, sie wollten die Gefahren enthüllen, die der Menschheit drohten, drohen und drohen werden. Sie bemühten sich sehr. Aber alles, was herauskam, waren nur winzige Bruchteile. Als sie älter und weiser geworden waren, vereinigten sie ihre Kräfte, um alles auf einmal zu enthüllen. Sie entdeckten den Striptease.
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Autorität Ist die Zeit, in der wir leben, tatsächlich so antiautoritär, wie man es allgemein glaubt? Selbst dieser Glaube wird mit Hilfe des autoritären Denkens erzeugt: Die einen verkünden einfach autoritativ, sie seien antiautoritär, und die anderen beugen sich der Autorität der Deklarationen, wagen es nicht, sie anzuzweifeln. So leicht verschafft sich das Antiautoritäre die Autorität. Denn die Menschen suchen begierig nach einer Autorität, die ihnen Befehle erteilt, Anweisungen gibt, verbindliche Regeln vorsetzt. Es braucht nur ein dicklicher Jüngling aus Indien zu sagen, er sei die Gottheit - schon wiegt man ihn mit Gold und Diamanten auf. Scharlatane, Gurus, Propheten, Hellseher, Pseudorevoluzzer aller Schattierungen, interplanetare Päpste, Krischna-Jünger, Verkünder des Weltuntergangs und des Weltaufblühens - alle haben Zulauf. Es brauchen nur einige Artikel zu erscheinen, deren Autoren wissenschaftliche Titel führen — die Autorität der Wissenschaft! —, und Tausende von stockgesunden Menschen laufen zum Arzt, obwohl ihnen nichts fehlt, im Gegenteil, sie haben einige Pfunde übrig. Die Gegner des autoritären Denkens sind nicht anders als die anderen. Sie stellen sich - übrigens, in den meisten Fällen sehr autoritär - gegen die Autorität einer Theorie, einer Lehre, eines Gesellschaftssystems und ordnen sich einer anderen Autorität der gleichen Kategorie unter. Sie sind Anbeter der Antiautorität. Nach den Gesetzen der mathematischen Logik ist die Antiautorität der Autorität gleich, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Da man offenbar ganz ohne Autoritäten nicht auskommen kann, sind mir jene Menschen am liebsten, die sich selbst als Autorität für sich selbst anerkennen, ohne diese Anerkennung von anderen zu verlangen.
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Ästhetik Vor sieben Jahrzehnten klagte der polnische Dichter Tadeusz BoyZeleński in seinem «Gebet eines Ästheten», der Mensch allein störe in seiner ästhetischen Unvollkommenheit die Harmonie des modernen Interieurs. Er bat den lieben Gott, den Menschen doch der Kunst anzupassen. Es säßen im Himmel all die Raffaels und van Dycks, mit denen könne man schon einen künstlerischen Beirat gründen. Der Dichter konnte die Entwicklung der Kunst natürlich nicht voraussehen. Der allwissende Gott jedoch konnte das und, Gott sei Dank, er hörte nicht auf das Gebet des Satirikers.
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Allein für die Gnade, daß unter uns keine Frauen herumlaufen, die modernen Aktbildern oder gar figürlichen Metallplastiken ähneln, kann man dem Herrn ein paar Seuchen und Kriege verzeihen. Auch für die modernen Künstler ist es ein Glück - sie wären zu scheußlichen Naturalisten geworden. Sie könnten aber die Unsterblichkeit erwerben — Gott hätte sie nämlich nie zu sich genommen, um ihnen nicht einen Platz im Beirat geben zu müssen. Was Gott tut, das ist wohlgetan.
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Grippensex Grippe ist eine akute fieberhafte Krankheit, deren Epidemien meist im Frühjahr auftreten. Wenn keine Komplikationen auftreten, ist sie nicht gefährlich, es gibt jedoch kein Mittel, mit dem man sie unterbrechen kann. Sie geht von allein vorbei. Wenn man noch bedenkt, daß das Wort «Grippe» von dem Begriff «greifen» stammt, also etwa «Die Ergreifende» bedeutet, ist die Ähnlichkeit mit der Liebe geradezu auffallend. Wollte man das sexuelle Leben auf primäre sexuelle Handlungen reduzieren, ist die Rolle der Grippe in der Liebe eher negativ. Um so größer ist ihre positive Wirkung im Bereich der sekundären sexuellen Beziehungen. Grippe fördert die Moral, festigt das Familienleben und unterstützt die Idee der Ehe. Allein die Gefahr einer Grippeerkrankung wirkt schon moralisch: Sie mindert die Lust an Gruppensex, am Abenteuer in Nachtlokalen. Die Krankheit selbst dann dezimiert Sexparties und zwingt Lüstlinge in Solobetten. Mit Grippe bleibt man zu Hause und genießt die Wärme des trauten Heimes in jedem Sinne des Wortes. Besonders den Männern verschafft eine Grippe die glücklichsten Ehetage: Man kann sich pflegen und bedienen lassen, man kann ungestört die Zeitung lesen und fernsehen, ohne Vorwürfe zu hören, daß die Speisekammer noch immer nicht gestrichen ist, die Lampe im Wohnzimmer nicht repariert, der Mülleimer voll und daß man lieber die Tante besuchen sollte, als so herumzuliegen. Man kann selber meckern und nörgeln, anstatt - wie üblich - das Objekt von Meckern und Nörgeln zu sein. Einen grippekranken Mann zeigt sich die Ehe von der besten Seite. Wenn eine Ehefrau erkrankt, und der Mann Kinder in die Schule expedieren, Einkäufe machen und Grießbrei kochen muß, wird sein Verständnis für die Vorteile einer gesunden Ehe gestärkt. Der Einfluß der Grippe auf die zwischengeschlechtlichen Beziehungen muß also positiv gewertet werden, wenn man natürlich diese Beziehungen nicht auf den nackten Grippensex (Pfui!) reduzieren will.
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Der Leierkasten Warum verachtet man den Leierkasten? Solch ehrliche Wesen wie er sind heute rar. Bescheiden. Unkompliziert. Er schenkt Musik, ohne den Anspruch zu erheben, Musik zu machen. Er spielt bekannte und beliebte Melodien und spielt nicht den Individualisten. Er gibt das wieder, was man in ihn hineingelegt hat und verbirgt nicht, daß er nach dem Willen dessen spielt, der die Kurbel dreht. Er täuscht nicht vor, etwas Neues erfunden zu haben, macht keine Revolutionen in der Kunst, Pop-, Op-Hop- oder Tropmusik ist nicht seine Sache. So gut er kann, wiederholt er zeit seines Lebens dasselbe, ob es idyllische sentimentale Schlager oder revolutionäre Lieder sind. Denn seine Tugend ist Treue. Der Leierkasten ist wie ein Mönch-Prediger oder wie ein kleiner Parteifunktionär, der nicht unbedingt die ganze Heilige Schrift beziehungsweise das ganze Programm der Partei kennen muß. Er glaubt, daß diejenigen, die die Kurbel drehen, Bescheid wissen. Der Leierkasten ist nicht mehr modern, die Kurbeldreher schämen sich seiner, verkleiden ihn als Schallplatte, Tonband oder Kassette, die gar nicht mehr bescheiden sind und tun, als ob sie keine Leierkästen wären. Sie sind es aber, denn ohne Leierkästen, egal in welcher Form, geht es nicht. Ohne Leierkästen, deren Tugend die Treue ist, könnten die Kurbeldreher nichts anfangen.
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Die Macht Ein Jüngling las im Schaufenster einer Buchhandlung die Parole: «Das Wissen ist die größte Macht.» Da er dringend Macht brauchte, um der sommersprossigen Ilse zu zeigen, was sie verlor, als sie ihn abwies, begann er Bücher zu kaufen. Zuerst kaufte er einen dicken Roman und las ihn. Er fühlte sich aber nach der Lektüre nicht mächtiger. Und doch half ihm das Buch, einen stärkeren Jungen zu besiegen - als der die Macht des Wissens bezweifelte, hat er ihm mit dem schweren Volumen eine Beule auf die Stirn gesetzt. Er wechselte über zur wissenschaftlichen, dann zur militärwissenschaftlichen Literatur. Dennoch hatte er nicht das Gefühl, Macht zu besitzen. Schließlich wollte er eine Enzyklopädie bestellen, weil sie wahrscheinlich die ganze Macht des Wissens enthält. Eine Enzyklopädie durchzustudieren, dauert aber ziemlich lange, und der junge Mann hatte es eilig, weil Ilse immer älter wurde; sie war schon fast siebzehn. Deshalb legte er sich ein chemisches Handbuch und Chemikalien zu und bastelte eine Bombe: endlich ein Machtinstrument. – Man muß sehr vorsichtig sein, wenn man Parolen ausgibt - sie haben nun mal die Eigenschaft, falsch verstanden zu werden.
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Maulkörbe Der Polizeiminister kam mit einem großartigen Projekt: Es soll für alle Staatsbürger über vierzehn Pflicht werden, einen Maulkorb zu tragen. «Warum?» fragte der senile Kultusminister. «Menschen beißen doch nicht.» «Sie reden aber.» «Na gut... Unter der Bedingung, daß die Entwürfe der Abteilung für Kunstgewerbe in meinem Ministerium vorgelegt werden. Man muß die ästhetischen Bedürfnisse der Menschen berücksichtigen.» «Gesetzlich kann ich nur weiche, elastische Maulkörbe anerkennen», fügte der Justizminister, ein bekannter Humanist, hinzu. «Wir haben kein Geld», sagte der Finanzminister; «eben haben Sie acht Millionen für Gummiknüppel, Tränengas und Wasserwerfer bekommen, mein lieber Polizeiminister.» «Aber die Produktion kostet nur einen Gulden pro Maulkorb - und die Polizei wird dafür drei Gulden Gebühren kassieren.» «Farbige und geschmückte Maulkörbe würden Luxussteuer einbringen», erwog der Finanzminister. «Meine Herren», sagte der Herrscher gütig, «in meinem Land hat jeder eine Familie, ein Häuschen, irgendeinen Besitz. Jeder hat eine Arbeitsstelle oder möchte sie haben. Maulkörbe sind völlig überflüssig.»
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Paradestückchen Ein kleiner Fürst hatte ein ganz kleines Fürstentum mit siebenunddreißig Bewohnern, sogar nur sechsunddreißig, denn der alte Hirte hatte im voraus einen Totenschein erhalten, um Schwierigkeiten bei der Beerdigung zu vermeiden, weil der Arzt das Fürstentum nur einmal im Jahr besuchte. Besonders stolz war der Fürst auf seine Armee, die zwölf Mann zählte. Mit dieser Armee wollte er einst die ganze Welt erobern. Er übte mit ihr jeden Vormittag. Und jeden Nachmittag gab es eine Militärparade. Einmal hatte der Fürst aber bemerkt, daß die Gewehre bei der Parade nicht sehr ästhetisch wirkten; da hat er sie zuerst durch Spieße, dann durch lange Gladiolen ersetzt. Die Pläne der Welteroberung hatten sich zwar damit ein bißchen verschoben, der Fürst war aber inzwischen erwachsen geworden und hatte eigentlich keine Lust mehr, die Welt zu erobern. Die Paraden sind tatsächlich viel schöner und viel billiger geworden. Leider kann man mit einer solchen Entwicklung nur selten und nur bei ganz kleinen Armeen rechnen.
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Der Preis In einem Lande wurde ein Wettbewerb um den Titel des größten Weisen ausgeschrieben. Als Preis wurden 3000 Gulden ausgesetzt. Zum Wettbewerb meldete sich die gesamte Bevölkerung. Einen Tag später wurde ein anderer Wettbewerb ausgeschrieben - um den Titel des größten Trottels. Der Preis war 10 000 Gulden. Alle meldeten sich vom ersten Wettbewerb ab und nahmen am zweiten teil. Nur einer nicht. Und er gewann die zehntausend.
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Revolution GmbH Für die «Revolution GmbH» haben wir in allen Großstädten Deutschlands strategisch gelegene Grundstücke für Barrikadenbau aufgekauft, Baugenehmigungen besorgt und auch Hochhausgaragen für die Wagen der Revoluzzer gebaut. Unsere Fabriken in Spanien und Süditalien (dort sind die Lohnkosten noch erträglich) produzierten vorgefertigte Barrikadenteile der Marke «Bar-Rikade», mit eingebauten Elektroheizkörpern, Air-Condition, Barautomaten, Duschen, Kühl- und Gefrierschränken, Stereoanlagen, Fernsehapparaten und Antibabypillen-Automaten. Mit den Brauereien, Weinkellereien, Whiskyherstellern und Wodka-Importeuren wurden entsprechende Lieferverträge abgeschlossen, Molotow-Cocktails werden in unserem Auftrag von Heimarbeitern hergestellt. Eine große Charterflotte stand bereit, um die Revolutionäre aus den Urlaubsorten in aller Welt zu holen, sollte die Revolution in der Ferienzeit anfangen. Zweitausendsiebenhundert geschulte Deutsch-Deutsch-Dolmetscher wurden vorbereitet, um zwischen den Revoluzzern und eventuell an der Revolution interessierten Arbeitern zu vermitteln. Unsere Rechtsabteilung hat drei Millionen Persilscheine und AlibiDossiers für Leute aus Politik, Wirtschaft und dem Staatsapparat ausgearbeitet, die auch nach dem Sieg der Revolution gute Posten haben möchten. Der Ertrag vom Verkauf dieser Dokumente diente zur Finanzierung unseres Unternehmens. Außerdem haben wir eine Presseund Anzeigen-Kampagne gestartet, um Spenden aus der Industrie und auch Zuschüsse vom Bund und von den Ländern zu bekommen. Alles lief gut, solange die Angestellten der «Revolution GmbH» nicht streikten, um Mitbestimmung und höhere Löhne zu erreichen. Wir waren erschüttert, daß eben unsere Arbeitnehmer der Verlockung dieser reformistischen Forderungen unterlagen. Außerdem, wollten wir höhere Löhne zahlen, lohnt sich die ganze Revolution nicht. Wir haben unsere Firma liquidiert und die Grundstücke mit Gewinn verkauft.
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Die Sänfte Die Ehe ist eine Sänfte, ein Beförderungsmittel, das nicht gerade für das zwanzigste Jahrhundert gedacht war. Soll es keine Sklaven und keine Untertanen geben, kann man mit einer Sänfte nicht viel anfangen. Und was sollen zwei Menschen mit einer Sänfte tun? Wollen sie beide sitzen, kommen sie nicht vom Fleck. Wollen sie beide tragen, kommen sie zwar fort, aber wozu brauchen sie dann das Gestell mitzuschleppen, in dem keiner sitzt? Manchmal kann einer den anderen dazu bringen, daß er allein trägt - damit schafft man aber nicht viel, die Sänfte braucht zwei Träger. Ab und zu kann sich einer der Partner in der Sänfte tragen lassen, wenn sich ein Dritter findet, der mitmacht. Unser Jahrhundert hat die Sänfte geerbt, ein schweres, antiquiertes Stück, und kann es nicht wegwerfen, zumal es noch kein besseres Beförderungsmittel für unsere Kinder gibt. Wenn Kinder oben sitzen, hat die Sänfte einen Sinn, aber sie wird auch dadurch nicht moderner. Man könnte getrost noch hundert Jahre auf Mondflüge verzichten, könnte man mit den für die Raumfahrt bestimmten Mitteln ein Vehikel für die Kinder - und vielleicht auch für uns - bauen, das moderner wäre als die alte Sänfte.
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Verbesserung Die Guillotine wurde als Instrument zur Verbesserung der Menschheit erfunden. Sie köpfte Konterrevolutionäre und Revolutionäre, konterrevolutionäre Revolutionäre und revolutionäre Konterrevolutionäre. Die einzige unentbehrliche Voraussetzung für die Guillotinierung ist der Besitz eines Kopfes. Kopflose Menschen stehen fast außer Gefahr, enthauptet zu werden. Offensichtlich ist der Kopf die Quelle alles Bösen oder vielmehr die Einheit von Kopf und Körper. Alle, die eine neue, bessere Welt bauen wollen, und alle, die die alte, bessere Welt erhalten möchten, stimmten überein: Je mehr Köpfe von den Körpern abgetrennt werden, desto schneller werden die Menschen brav sein und richtig denken. Die Guillotine ist aber schon veraltet, und auch moderne mechanische Mittel reichen nicht aus - zu viele Köpfe bleiben noch immer an ihren Plätzen. Jetzt müssen sich die Biologen einschalten und ein kopfloses Geschlecht züchten. Oder mindestens Menschen mit ganz locker aufgesetzten Köpfen, die damit auch austauschbar und konfiszierbar sein werden. Nur die Wissenschaft kann die Welt endgültig verbessern.
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Vererbung Wieder und wieder sah der Herr, daß die Menschen keine Engel sind. Er schickte darum eine Kohorte von Cherubinen auf die Erde. Sie sollten mit Adams Nachkommen Ehen schließen, um das irdische Geschlecht zu verbessern. Da die Engel geschlechtslos sind, durften sie je nach Belieben männliche oder weibliche Gestalt annehmen. Im Himmel entstand nun die Frage, welches der so gezeugten Kinder als Engel und welches als Mensch anerkannt werden sollte. Moses verteidigte den Standpunkt des jüdischen Gesetzes, daß ein Kind nach der Mutter, Petrus den katholischen, daß es nach dem Vater zu beurteilen sei. Nach einer erregten Debatte wurde entschieden, nach dem Ergebnis zu urteilen. Es stellte sich aber heraus, daß die Engelmenschen weder Engel noch bessere Menschen waren. Nur einen wirklichen Engel gab es in dieser Generation, der aus einer heimlichen Ehe zwischen zwei Engeln stammte, die einander schon im Paradies geliebt hatten. Die Moral: Die menschliche Natur ist außerordentlich stark.
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Weißer Schnee John erzählt gern seinem kleinen Bruder, was er in der Schule Neues erfahren hat: «Stell dir vor, vor hundert Jahren - im zwanzigsten Jahrhundert - brauchten die Menschen überhaupt keine Luftfilter. Sie atmeten die Luft einfach nur so ein. Selbst in den großen Städten waren in der Atmosphäre weniger als fünfzig Prozent Auspuffgase und Flugasche... Von Strontium 90 waren in der Luft nur unbedeutende Spuren - sie trugen damals auch keinen Strahlenschutzpanzer... Heute ist ein Säugling bereits zwanzig Minuten nach der Geburt besser für das Leben ausgerüstet, als damals die Erwachsenen.» «Die müssen aber komisch ausgesehen haben! » «Hm .. . Wäre es aber nicht schön, mal einen Sommer lang wie diese Naturmenschen zu leben? Ohne Maske und Panzer in einem Freibad schwimmen zu können?» «Und wie war das mit der Schneeballschlacht? Wenn du jetzt jemandem mit einem Schneeball den Luftfilter verstopfst, wird sein Gesicht im Nu schwarz wie Schnee. Wie machten die das denn damals?» «Damals war der Schnee weiß! » «Weißer Schnee? So ein Quatsch!»
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Die Wurzel «Diese Zeichen sind zweifellos Galgen und die Ziffern eine Geheimschrift. Das haben wir beim Lehrer gefunden», meldete der Polizeiminister dem Präsidenten der Republik Namlosia. Noch einen Tag vorher war der Präsident Wachtmeister und der Minister seine Mannschaft. Jetzt gab es sieben Polizisten, denn der Aufbau der Polizei ist die erste Aufgabe jedes freien Staates. «Daß die Galgen für uns bestimmt waren, ist ja klar», sagte der Minister, überzeugt, daß seinem polizeilichen Scharfsinn nichts entgehen kann. «Spionage und Verschwörung der Intelligenz?» fragte der Präsident. Auch er war ja noch vor kurzem Polizist. Der Lehrer — die gesamte Intelligenz der Republik — wurde in Fesseln hereingeführt. «Was soll das bedeuten?» fragte ihn streng der Präsident. «Radix... zum Wurzelziehen...» Der Lehrer konnte nur schwer sprechen, seine ehemaligen Schüler hatten ihm unterwegs vier Zähne ausgeschlagen. «Ach, zum Ziehen? Wurzel?» höhnte der Präsident. «Die Wurzeln unserer Revolution, unserer Unabhängigkeit, was? Minister, lassen Sie das Todesurteil austrommeln; wegen verräterischer Tätigkeit im Dienste fremder Mächte. Und lassen Sie einen Galgen bauen - Radix heißt das auf intelligentisch, nicht wahr, Herr Lehrer?» Die Freiheit der Republik war gerettet.
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Der Drache Nach zehntausend Jahren Gefangenschaft, zu der ihn ein guter Zauberer verurteilt hatte, flog der Drache aus seinem Berg. Endlich wird er den Menschen zeigen, was Furcht bedeutet! Die Panne passierte nach fünfzehn Flugminuten: Beim Zusammenstoß mit einem Düsenjäger kam der Drache ums Schwanzende und damit auch ums Flugvermögen. Nach drei Tagen mühsamen Kriechens stieß er auf die von Stacheldraht und Minenfeldern starrende Staatsgrenze. Man ließ ihn nicht durch, weil er keine Reisepapiere hatte. Feuerspeien half gar nichts - die Grenzposten hatten ihre Vorschriften. Der Drache hatte Hunger, seine Versuche, sich durch Drohungen ein paar Jungfrauen zum Fraß zu verschaffen, blieben ohne Erfolg: Erstens, Jungfrauen sind Mangelware, and zweitens, im Zeitalter der Bombe hat keiner Angst vor Drachen. Ein Lunaparkbesitzer erbarmte sich seiner, versah ihn mit Maulkorb und Feuerlöscher und installierte ihn als Karussell. Kinder reiten auf ihm mit Vergnügen und ohne Furcht. Erst als ein General sein Bild als Emblem der für Straßenkampf geschulten Eliteeinheiten verwendete, begann der Drache den Menschen wieder Furcht einzuflößen.
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Das Elefantengesetz Der alte Tiger wurde zum Diktator des Dschungels gewählt. Die Tiger hatten dafür gesorgt, daß alle Tiere wählen, die Papageien waren Wahlagitatoren, die Hyänen Stimmenzähler. Als erstes hatte er das Elefantengesetz herausgegeben, denn er fürchtete sich vor den Elefanten und verachtete sie. «Dumme Tiere», dachte er, «sie versuchen nicht einmal, die Macht zu erobern; sie sind zu groß, um sich fressen zu lassen, und selber fressen sie niemanden; sie sind einfach zu faul, um zu jagen, und fressen lieber Gras. Na wartet, ich werde euch schon lehren, Mäuse zu fressen!» Die Elefanten wurden als Träger und Holzfäller zum Arbeitsdienst verpflichtet, die jungen Männchen unter dem Kommando von Tigern zum Kriegsdienst ausgebildet. Das Gehirn hat bei den Elefanten ein verhältnismäßig kleines Gewicht, sie haben sich untergeordnet. Es fanden sich sogar ehrgeizige junge Elefanten, die sich an den Ideen des Tigers begeisterten. Sie wollten Raubtiere werden, um zum Dschungeladel zu gehören. Sie versuchten sogar, Fleisch zu fressen, obwohl sie davon nur schreckliche Magenschmerzen bekamen. Der Tiger beabsichtigt nun eine neue Anordnung für die Elefanten: Sie sollen auf Bäume klettern lernen und für ihn Singvögel fangen.
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Die Pistole Ein junger Pavian hat eine Pistole mit vielen Patronen gefunden. Der Besitz der Pistole hat ihn auf sehr radikale Gedanken gebracht das ist bei einem jungen Affen kein Wunder. Er hat den alten Herdenführer erschossen und die Führung übernommen. Sodann hat er sich entschlossen, seine Herde zum mächtigsten Dschungelvolk zu machen. Er wollte zuerst die Elefanten ausrotten. Es hat sich aber erwiesen, daß man mit einer Pistole keinen Elefanten umbringen kann. Und die Löwen haben ihm rasch gezeigt, daß sie vor ihm keine Angst haben. Und die Schlangen konnte er einfach nicht treffen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als auf Paviane zu schießen. Zuerst hat er alle Männchen erschossen, unter der Anklage, sie wollten die Macht in der Herde erobern. Die Weibchen hat er als Mitverschwörerinnen umgebracht - schweren Herzens wider eigenem Willen. Er konnte nicht anders. Eine Pistole und ein politischer Traum verpflichten zu radikalen Taten.
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Nichts «Mich kann man nicht bestehlen. Ich bin ein erfahrener, sorgfältiger, wachsamer, schlauer, durchtriebener, mit allen Wassern gewaschener Mensch. Und ich besitze nichts, was eines Diebstahls wert wäre.» «Unsinn, jeder Mensch besitzt irgend etwas. Und man stiehlt einfach alles.» «Ich besitze rein gar nichts. Kennen Sie die Geschichte, wie ein Millionär in den Besitz seiner Millionen gelangte? Dreißig Jahre lang war er fleißig, bescheiden, sparsam und arbeitsfreudig und sparte sich zehntausend Mark zusammen. Dann starb seine Tante und vermachte ihm zwei Millionen. Ich bin in der umgekehrten Lage; dreißig Jahre lang habe ich mich durch Faulheit, Leichtsinn, Freigebigkeit, Maßlosigkeit, Gleichgültigkeit und Versnobtheit bemüht, nichts zu besitzen. Dann kam die Katastrophe und nahm mir den Rest. Heute habe ich keine Heimat, keine Wohnung, keine Familie, keinen Platz an der Sonne, den man stehlen könnte.» «Sie selbst kann man stehlen, mein Herr. So was passiert oft.» «Mich selbst? Mein Körper ist schwach, ausgemergelt, krank, verbraucht, verlebt, ich habe zwei linke Hände und erlernte nie einen richtigen Beruf. Meine Seele ist leer, verfault, böswillig, größenwahnsinnig, unzuverlässig, unfähig irgend etwas aufzunehmen oder hervorzubringen. Und darüber hinaus - ich bin jederzeit bereit, beides für einen Pappenstiel zu verkaufen.»
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Die Friedensschlacht Die einen sagten: PEACE. Die anderen sagten: MIR. Dann riefen sie LONG LIVE THE PEACE und DA ZDRAWSTWUJET MIR. Sie skandierten diese friedlichen Sätze immer lauter, jede Seite wollte die andere übertönen. Der Schrei war so stark, daß man die kleineren Chöre mit ihren LA PAIX, POKÓJ BÉKÉ oder PACE kaum hören konnte. FRIEDEN war gar nicht zu vernehmen, da die meisten Deutschen amerikanisch oder russisch skandierten, und die Schweizer und Österreicher ihre Neutralität wahrten. Im Nahen Osten dröhnte es in verwandten Sprachen SCHALOM und SALAM. Der Chor der Chinesen war so stark, daß man das erste Wort nicht verstehen konnte, das zweite war jedoch WANGSE, und das bedeutet ES LEBE ZEHNTAUSEND JAHRE. Man konnte nicht feststellen, welche Seite lauter nach dem Frieden rief, zumal es keine Schiedsrichter gab, denn die Neutralen wollten neutral bleiben. Von eigenem Geschrei betäubt, schlugen die Friedenskämpfer aufeinander los. Von drei Seiten. Manche sagen, daß es von fünf Seiten war, aber fünf Seiten gibt es doch gar nicht, es konnten höchstens vier sein. Genau werden wir es nie erfahren. Es gibt zuwenig Zeugen, die die Friedensschlacht überlebt haben.
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Inhaltsverzeichnis Die Schöpfung 6 Das Paradies 8 Erfinder 10 Das Privatleben 12 Partnerschaften 14 Nostalgie 16 Galanterie 18 Unterwäsche 20 Die Toten 22 Neue Ära 24 Die Lösung 26 Fremde 28 Idylle 30 Großer Bruder 32 Gegner 34 Sparsamkeit 36 Eine Legende 38 Utopie 40 Das Prinzip 42 Das Denkmal 44 Fremde Frauen 46 Romantik 48
Die Freiheit 50 Fortschritt 52 Enthüllung 54 Autorität 56 Ästhetik 58 Grippensex 60 Der Leierkasten 62 Die Macht 64 Maulkörbe 66 Paradestückchen 68 Der Preis 70 Revolution GmbH 72 Die Sänfte 74 Verbesserung 76 Vererbung 78 Weißer Schnee 80 Die Wurzel 82 Der Drache 84 Das Elefantengesetz 86 Die Pistole 88 Nichts 90 Die Friedensschlacht 92
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Literatur für KopfHörer Armin Mueller-Stahl liest Vladimir Nabokov Der Zauberer 2 Tonbandcassetten im Schuber (66005) Walter Schmidinger liest Italo Svevo Zeno Cosini Das Raucherkapitel 1 Tonbandcassette im Schuber (66007) Uwe Friedrichsen liest Kurt Tucholsky Schloß Gripsholm 3 Tonbandcassetten im Schuber (66006) Panter, Tiger & Co. 1 Tonbandcassette im Schuber (66026) Erika Pluhar liest Simone de Beauvoir Eine gebrochene Frau 2 Tonbandcassetten im Schuber Eva Mattes liest Roald Dahl Küßchen, Küßchen! Die Wirtin. Der Weg zum Himmel. Mrs. Bixby und der Mantel des Obersten 1 Tonbandcassette im Schuber (66001) 96
Produziert von Bernd Liebn Eine Auswahl Rowohlt Cassetten Uwe Friedrichsen liest Roald Dahl ...und noch ein Küßchen! Geschmack. Gift. Lammkeule 1 Tonbandcassette im Schuber (66019) Christian Brückner liest John Updike Der verwaiste Swimmingpool Der verwaiste Swimmingpool, Wie man Amerika gleichzeitig liebt und verläßt 1 Tonbandcassette im Schuber (66004) Christian Brückner liest Jean-Paul Sartre Die Kindheit eines Chefs 3 Tonbandcassetten im Schuber (66014) Peter Rühmkorf liest Peter Rühmkorf Der Hüter des Misthaufens 1 Tonbandcassette im Schuber (66008) Hans Michael Rehberg liest Henry Miller Lachen, Liebe, Nächte Astrologisches Frikassee 2 Tonbandcassetten im Schuber (66010)
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