Scan by Schlaflos
DAVID & LEIGH EDDINGS
Dämonenbrut Buch
Dem Lande Dhrall droht neues Ungemach. Eines der vier Götte...
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Scan by Schlaflos
DAVID & LEIGH EDDINGS
Dämonenbrut Buch
Dem Lande Dhrall droht neues Ungemach. Eines der vier Götterkinder hat eine Traumvision, in der das Vlagh, der Erzfeind von Menschen und Göttern, die Süddomäne des Landes mit seinen insektenartigen Horden attackiert. Doch damit nicht genug: Auch vom Meer her soll dem Traum zufolge em riesiges Heer von Soldaten das Imperium angreifen. Die Fremden sind von der festen Überzeugung getrieben, die Wüste im Zentrum von Dhrall sei ein Meer aus purem Goldsand. Die Verteidigungsarmee würde in einem Zwei-Fronten-Krieg bis zum letzten Mann aufgerieben werden. Während die aufgeschreckten Verteidiger alles daransetzen, die drohende Katastrophe abzuwenden, bemerken sie, dass noch eine dritte Partei ihre magischen Kräfte im Spiel hat, doch ob zum Guten oder zum Bösen, das weiß keiner ...
Autoren David Eddings wurde 1931 in Spokane, Washington, geboren und wurde 1982 mit seinem ersten Fantasy-Epos, der Belgariade, bekannt. Seither hat er teils alleine, teils in Zusammenarbeit mit seiner Frau Leigh von der Kritik viel beachtete Werke in der Tradition Tolkiens verfasst, die ihm eine ständig wachsende, begeisterte Leserschaft eingetragen haben. David und Leigh Eddings leben in Carson City/Nevada. Außerdem bei Blanvalet erschienen: Das wilde Land. Götterkinder 1 (24279)
David & Leigh Eddings
Dämonenbrut Götterkinder 2 Deutsch von Andreas Heiweg Die Originalausgabe erschien unter dem Titel The Dreamers, vol. 2, The Falls of Vash bei Voyager, HarperCollins-PM^fe^ers, London. Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Der Blanvalet Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House. 1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung Februar 2005 Copyright © der Originalausgabe 2004 by David & Leigh Eddings Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Wolfgang Sigl Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: GGP Media GmbH, Pößneck Verlagsnummer: 24280 Redaktion: Werner Bauer UH ■ Herstellung: H. Nawrot Printed in Germany ISBN 3-442-24280-0 www.blanvalet-verlag.de
Q
Es herrschte eine Zeit der Ungewissheit im Nest des Vlagh, denn noch immer war keine Erfolgsnachricht von den Krieger-Dienern eingetroffen, die durch die Bauten unter der Erdoberfläche zu dem riesigen Wasser unter dem Sonnenuntergang aufgebrochen waren. Zunächst war alles so verlaufen wie geplant: Die Krieger-Diener waren durch ebenjene unterirdischen Bauten auf das Land des Sonnenuntergangs zumarschiert und hatten die Menschenwesen getötet, wo sie nur konnten. Und die Freude unseres lieben Vlagh hatte keine Grenzen gekannt, denn wenn das Land des Sonnenuntergangs erst einmal uns gehören würde, gäbe es viel zu essen, und das Vlagh, das uns alle hervorgebracht hat, könnte weitere von uns hervorbringen, und unsere Anzahl würde ins Unermessliche ansteigen, und der Überverstand, von dem wir alle ein Teil sind, würde wachsen und mit jeder neuen Brut komplexer werden. Ungeduldig war unser Vlagh, denn keiner seiner Diener hatte bislang in irgendeiner Form die Nachricht vom Sieg übermittelt, und ohne diese Bestätigung konnte unser Vlagh keine Nachkommenschaft in die Welt setzen. Obwohl unser Vlagh seine Fühler in Richtung Land des Sonnenuntergangs ausstreckte, um den Überverstand nach dem Erfolg der Krieger von eigenartiger Gestalt zu befragen, antwortete dieser nicht, und das war überaus ungewöhnlich. Und während ein Tag nach dem anderen verstrich, nahm die Gereiztheit des Vlagh zu, denn sein Bedürfnis, sich fortzupflanzen, wurde aufgrund des Mangels an Sicherheit unterdrückt. Geht!, befahl das Vlagh den Krieger-Dienern, die das verborgene Nest bewachten. Geht und haltet Ausschau, und dann kehrt zurück und berichtet mir, was ich wissen muss. Viele Giftzahnbewehrte Krieger-Diener eilten von dannen, und jene von uns, die wir die wahren Diener sind und für das Vlagh und die Neugeborenen sorgen, versicherten unserem lieben Vlagh, dass alles so sei, wie es sein sollte. Nur stimmte das nicht. Die giftigen Krieger von eigenartiger Gestalt kehrten zurück und berichteten, dass sie nicht einmal jene von uns finden konnten, die den Bauten unter der Erdoberfläche gefolgt waren, ja, sie hatten sogar nicht einmal eine Spur dieser Bauten entdeckt. Dazu hatten sie, so das Schrecklichste, den Überverstand in jenem Gebiet nicht spüren können.
Und der Schmerz unseres lieben Vlagh kannte keine Grenzen, denn der Überverstand war stark geschwächt worden, und das würde so bleiben, bis die Arbeiter und die Krieger mit den Giftzähnen gefunden waren und sich ihr Bewusstsein wieder mit dem Überverstand vereint hatte. Dann erschien im Nest des Vlagh ein Arbeiter, dem mehrere Glieder fehlten und dessen Panzer schwere Verbrennungen zeigte, und dieser Arbeiter berichtete von heißem Licht, das aus den Bergen sprühte, und von roter Flüssigkeit, die heißer als Feuer durch die Bauten unter der Erde floss und alles verzehrte, was ihr in den Weg kam. Zum Schluss sagte der Arbeiter, was niemals hätte ausgesprochen werden dürfen: Es gibt keine mehr von uns. Die vielen, die durch die verborgenen Gänge in das Land des Sonnenuntergangs marschierten, wurden sämtlich von der roten Flüssigkeit, die heißer ist als Feuer, vernichtet, und wir alle sind nun weniger denn zuvor, weil es sie nicht mehr gibt. Damit war die Aufgabe des Arbeiters erledigt, und er starb. Und unser geliebtes Vlagh schrie in höchster Pein auf, denn die Nachricht des Arbeiters hatte seinen Trieb zur Fortpflanzung nun gänzlich erstickt. Und wir alle wurden durch diese Nachricht weniger, denn die vielen von zuvor waren nun weniger, und das Land unter dem Sonnenuntergang befand sich für alle Zeiten außerhalb unserer Reichweite. Die Trauer unseres Vlagh überstieg jegliches Begriffsvermögen, und diese Trauer brachte uns Zorn ein! 10
So geschah es nun, dass die Diener von eigenartiger Gestalt mit den Giftzähnen, die in den Ländern der Menschenwesen nach Wissen gesucht hatten, miteinander Rat hielten, und die Sucher des Wissens unterscheiden sich von den wahren Dienern, denn ihre Aufgabe hat sie verändert. Die Sucher des Wissens unterstehen nicht dem direkten Befehl des Vlagh, und sie sprechen über die Erkenntnisse, die sie gefunden haben, und unterbreiten manchmal sogar Vorschläge, wenn sie ihre entdeckten Kenntnisse zum Nest bringen. Und nun stimmten die Sucher des Wissens darin überein, dass das Land des Sonnenuntergangs für alle Zeiten dem Zugriff der Arbeiter und Krieger entrissen war, denn noch immer drang das flüssige Feuer aus den Bergen hervor, und sie schlugen einen anderen Plan vor, der sich aus dem Wissen ergab, welches sie gefunden hatten. Wäre es nicht besser, so sagten sie, in eine andere Richtung zu expandieren als zuvor? Die Berge oberhalb des Landes der längeren Sommer sind ruhig, da sich in diesen Bergen der Drang, Feuer zu speien, nicht bemerkbar macht, und außerdem gibt es im Land des längeren Sommers mehr Nahrung als im Land des Sonnenuntergangs. Weil das Vorhandensein von Nahrung den Fortpflanzungstrieb unseres Vlagh anregt, sollten wir da nicht ein Land suchen, in dem es viel zu fressen gibt? Wenn wir das täten, würde der Fortpflanzungstrieb wieder stärker werden, und bald würde es mehr von uns geben als vor dem Zeitpunkt, da die Arbeiter die Gänge unter der Erde zum Land des Sonnenuntergangs gebaut hatten. Und dadurch würde auch das Bewusstsein des Überverstandes, den wir alle teilen, gestärkt und in Höhen erhoben, die er nie zuvor erreicht hatte. Und unser geliebtes Vlagh ging mit dem Überverstand zu Rate, welche Möglichkeiten der Vorschlag der Sucher des Wissens biete, und der Überverstand hieß den Vorschlag gut, denn er hatte viel gelernt bei dem Versuch, das Land des Sonnenuntergangs zu erobern. Die Krieger von eigenartiger Gestalt waren vielen verschiedenen Wesen begegnet, während sie unterwegs zum Sonnenuntergang waren, und der Überverstand spürte, dass diese verschiedenen Formen sich als nützlich bei unseren Zusammenstößen mit den Menschenwesen im Land der längeren Sommer erweisen könnten, denn die Menschenwesen sind sehr hartnäckig und nur schwer zu verdrängen, wenn wir auf unser Ziel zumarschieren. Dann jedoch warnte der Überverstand das geliebte Vlagh, dass die größte Gefahr, der wir im Land der längeren Sommer gegenüberstehen würden - so wie schon im Land des Sonnenuntergangs -, nicht in den Menschenwesen bestehe, die sich uns in den Weg stellten, sondern in schlafenden Kindern und absonderlichen Steinen. Also wandten wir uns vom Land des Sonnenuntergangs ab und richteten unsere Aufmerksamkeit auf das Land der längeren Sommer, wo die Zweibeinigen ihre Nahrung aus dem Boden erzeugen und wo es viel Raum gibt; und Nahrung und Raum regen gewiss den Fortpflanzungstrieb unseres Vlagh an, und der Überverstand wird wachsen und sogar noch größer werden als vor der Minderung, die er durch die Vorfälle im Lande des Sonnenuntergangs erleiden musste, und das wird für uns alle ein Erfolg sein, denn wir alle haben an dem Erfolg teil, wenn der Überverstand wächst. Und gewiss wird eine Zeit kommen, wenn alle Länder der Menschenwesen uns gehören, und unsere Zahl wird ins Unermessliche steigen, und der Überverstand wird anwachsen, bis alles Wissen uns gehört und darüber hinaus die ganze Welt. Und erst dann werden wir zufrieden sein.
Ashads Traum
1 Im Verlauf der vielen Zyklen ist mein Stolz auf die Berge meiner Domäne beständig gewachsen. Sie besitzen eine Schönheit, mit der sich wohl kein anderes Land vergleichen kann. Meine Schwester Zelana liebt das Meer auf ganz ähnliche Weise, nehme ich an, doch, so glaube ich, wird das Meer dem Bergland niemals ebenbürtig sein. Die Luft im Gebirge ist rein und klar, und der ewige Schnee auf den Gipfeln führt diese Reinheit zur Vollkommenheit. Über endlose Äonen hinweg habe ich entdeckt, dass mir ein Sonnenaufgang über den Bergen das köstlichste Licht spendet, das ich je gekostet habe, und wann immer es mir möglich ist, steige ich beim ersten Licht auf die Schulter des Berges Shrak und trinke von der Schönheit dieses stets wiederkehrenden Naturereignisses. Gleichgültig, was der Tag dann bringen mag - der Geschmack eines Bergsonnenaufgangs erfüllt mich mit einer Heiterkeit, die mir nichts sonst geben kann. Es geschah an einem Tag im späten Frühling des Jahres, in dem die Wesen des Ödlands ihren ersten vergeblichen Anlauf unternommen hatten, Zelanas Domäne zu erobern, und von Elerias Flut und Yaltars Zwillingsvulkanen aufgehalten worden waren, da trat ich aus meiner Höhle unter dem Berg Shrak und wollte die Morgensonne begrüßen. Als ich an meinen gewohnten Platz zum Speisen kam, entdeckte ich die Wolkenbank im Osten, und durch solche Wolken erscheint der Sonnenaufgang stets noch prachtvoller. Ich schaute zu den Bergen in der Umgebung hinüber und hatte den Eindruck, der Sommer halte ein wenig langsamer als gewöhnlich Einzug in meine Domäne und der Schnee des Winters klammere sich weiterhin stur an die tiefer liegenden Berghänge. Mir erschien es wie ein Anzeichen für eine dieser periodischen Klimaveränderungen, die so häufig vorkommen, was die Menschen, die uns dienen, jedoch nicht wahrhaben wollen. Die Temperaturen auf Vater Erde sind eigentlich nie konstant, sondern nahezu vollkommen den Launen von Mutter Meer unterworfen; und wenn die Mutter sich frostig fühlt, geht auf den Vater eine Menge Schnee nieder. Das kann Jahrhunderte dauern. Nachdem ich jedoch einige Zeit über diese Möglichkeit nachgedacht hatte, verwarf ich sie wieder. Zelana hatte im Laufe des vergangenen Winters am Wetter herumgepfuscht, um die Invasion ihrer Domäne durch die Diener des Vlagh zu verzögern, bis ihre angeheuerte Armee aus dem Lande Maag
einträfe, und vermutlich würde es eine Weile dauern, bis alles sich wieder normalisiert hatte. Insgesamt jedoch war das Frühjahr zufrieden stellend verlaufen. Je länger ich darüber nachdachte, desto sicherer war ich, dass durch meine Entscheidung, die jüngeren Götter frühzeitig aus ihrem Schlafzyklus zu wecken und sie zu veranlassen, sich zu Kindern zurückzuentwickeln, tatsächlich jene alte Prophezeiung erfüllt worden war. Elerias Flut und Yaltars Zwillingsvulkane würden Zelanas Domäne auf ewige Zeiten vor weiteren Einfällen der Wesen aus dem Ödland schützen. Die Morgensonne stieg in großer Pracht über den Horizont und überzog die Wolkenbank im Osten mit strahlendem Rot, und ich schwelgte in diesem Licht. Das Licht des frühen Sommers fand ich schon immer belebender als das fahle Licht des Winters oder das staubige Licht des Herbstes, und beschwingten Schrittes spazierte ich den Berg hinunter in meine Höhle zurück. Meine kleine Spielzeugsonne erwartete mich am Eingang und flackerte mir ihre gewohnte Frage entgegen. Ich habe nur einen Blick auf das Wetter geworfen, Kleine, log ich. Stets schmollt sie verdrossen, wenn sie glaubt, ich würde das Licht der richtigen Sonne dem ihren vorziehen. Hausgenossen können recht eigentümlich werden. Schläft Ashad noch?, fragte ich sie. 16
Zur Antwort bewegte sie sich leicht auf und ab. Gut, sagte ich. Er hat in letzter Zeit nicht besonders gut geschlafen. Gewiss ist er besorgt wegen der Ereignisse in Zelanas Domäne. Vielleicht solltest du dein Licht ein wenig dämpfen, damit er länger schlafen kann. Er braucht die Ruhe. Sie fuhr zustimmend auf und ab und leuchtete schwächer. Zuerst war sie ein wenig verstimmt gewesen, als ich Ashad in die Höhle gebracht hatte, doch verging das rasch, und inzwischen hat sie meinen kleinen blonden Jungen so richtig lieb. Allerdings fehlt ihr nach wie vor das rechte Verständnis für Ashads Bedürfnis nach fester Nahrung, und deshalb schwebt sie oft über ihm und versorgt ihn mit Licht - nur für den Fall, dass er welches brauchen sollte. Ich ging durch den gewundenen Gang, der zu meiner Höhle führt, und bückte mich unter den an Eiszapfen erinnernden Stalaktiten hindurch, die von der Decke hängen. Sie waren wesentlich dicker und länger als zu Beginn meines gegenwärtigen Zyklus, und mittlerweile versperrten sie mir schon fast den Weg. Ihre Entstehung verdanken sie dem mineralreichen Wasser, das durch den Berg Shrak sickert, und mit jedem verstreichenden Jahrhundert werden sie sichtbar länger. Ich nahm mir vor, sie eines Tages abzuschlagen, doch im Augenblick hatte ich zu viel zu tun. Bei meinem Eintreffen in der großen Kammer, die unser Heim darstellt, schlief Ashad noch, und ich wollte ihn nicht stören. Meine Entscheidung, die Stellvertreter am Ende unseres Zyklus zu wecken, erschien mir weiterhin richtig, dennoch zeigte sich zunehmend, dass sie Erinnerungen an ihre Vergangenheit herübergerettet hatten. Ich setzte mich auf meinen Stuhl an dem Tisch, an dem Ashad seine Mahlzeiten einnahm richtiges Essen nannte er es -, und dachte über einige Angelegenheiten nach, die ich in dieser Weise nicht erwartet hatte. Ein wenig schuldbewusst gestand ich mir ein, dass ich mir unsere Stellvertreter hätte genauer anschauen sollen, ehe ich sie weckte, nun allerdings war es für solche Überlegungen zu spät. Ich hatte vermutet, die Kinder würden in erster Linie auf die Gefahren reagieren, die den Domänen ihrer Ersatzeltern drohten, und insofern hatte es mich arg überrascht, als Veltan mir erzählte, Yaltars Traum habe den Krieg in Zelanas Domäne vorausgesagt. Meiner Ansicht nach hätte Eleria uns davor warnen sollen. Als die eigentliche Krise dann eintrat, schob Yaltar alle Vorsicht beiseite und mischte sich mit seinen beiden Vulkanen in die Sache ein. Dies ließ eindeutig darauf schließen, dass sich Yaltar und Eleria in ihrem vorherigen Zyklus sehr nahe gestanden hatten und diese Vermutung fand eine Bestätigung in der Tatsache, dass Yaltar Eleria gelegentlich bei ihrem richtigen Namen genannt hatte, Balacenia, und Eleria in gleicher Weise von Vash gesprochen hatte Yaltars korrektem Namen. Mein >großer Plan< könnte doch einige Mängel aufweisen, räumte ich reumütig ein. Yaltars Lavastrom hatte das Problem zwar gelöst, doch hielt ich diese Vorgehensweise für ein bisschen übertrieben. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr schien mir das Problem im Kern darin zu bestehen, dass das Vlagh seine Diener im Laufe der letzten hundert Äonen bewusst verändert hatte. Die Modifikation verschiedener Lebensformen ist ein fortwährender Prozess, der stark in Verbindung mit Veränderungen der Umwelt steht. Manchmal funktionieren die Modifikationen, manchmal nicht. Jene Spezies, welche die richtigen Entscheidungen treffen, überleben, die falsche Wahl hingegen führt zum
Aussterben. In den meisten Fällen ist das Überleben allerdings reine Glückssache. Vor der Ankunft der behaarten Vorfahren dieser Wesen, die wir heute Menschen nennen, hatte sich im Lande Dhrall bereits eine Vielzahl anderer Spezies entwickelt, die jedoch zum größten Teil der falschen Fährte gefolgt und ausgestorben waren. Unglücklicherweise gehörte das Vlagh zu den Überlebenden. Ursprünglich war das Vlagh ein eher exotisches Insekt gewesen, das sein Nest am Ufer des Binnensees baute, der einst das Ödland bedeckt hatte. Infolge eines Klimawechsels war der See ausgetrocknet, und das Vlagh hatte aus reiner Not begonnen, seine Diener zu modifizieren. Auch wurde es unerlässlich, die sengende Sonne zu meiden, doch so weit ich die Angelegenheit einzuschätzen vermag, hatte das Vlagh bei seiner Suche nach einer Lösung nicht einfach 18
nur blind herumgestochert, sondern sich auf Beobachtungen verlassen. Ich bin mir fast sicher, dass zu diesem Zeitpunkt der Überverstand ins Spiel kam. Die Fähigkeit, Wissen zu teilen, hatte den Dienern des Vlagh einen enormen Vorteil gegenüber ihren Nachbarn verschafft. Was einer von ihnen sah, hatten alle gesehen. Die Spezies des Vlagh lebte zu jener Zeit oberirdisch - vermutlich in den Bäumen. Mehrere andere Spezies lebten hingegen unter der Erde, und die Sucher des Wissens - Spione, wenn man so will -, hatten diese Nachbarn beobachtet und sehr genaue Beschreibungen der angewachsenen Werkzeuge geliefert, mit denen sie ihre unterirdischen Gänge bauten. Daraufhin hatte der Überverstand diesen Entwurf gestohlen, das Vlagh hatte ihn umgesetzt, und in der nächsten Brut hatte es nur Arbeiter zum Graben gegeben. In den ausgedehnten Tunneln waren die Diener des Vlagh zwar vor der grellen Sonne geschützt, doch hatten sie damit lediglich ihr erstes Problem gelöst. Im Lauf der Jahrhunderte ging durch den Klimawechsel nach und nach die gesamte Vegetation der einst fruchtbaren Gegend zugrunde, und schließlich gab es nicht mehr genug Nahrung für die wachsende Population. Das Vlagh legte natürlich weiterhin seine Eier, allerdings brachte jede Brut weniger Nachkommen, und bald erschien dem Vlagh auch das Aussterben seiner eigenen Spezies möglich. Als die grabenden Insekten die Berge erreichten, stießen sie auf festes Gestein, und an diesem Punkt geriet ihr Vormarsch zum Stillstand. Nicht lange danach entdeckten sie jedoch die Höhlen unter diesen Bergen, und die Spezies, die eigentlich hätte aussterben sollen, existierte weiter. Was Höhlen betrifft, bin ich geteilter Meinung. Ich liebe meine, doch ihre hasse ich. Jedenfalls hatten die Diener des Vlagh in den Höhlen und Bergen andere Wesen entdeckt, und augenscheinlich erkannte der Überverstand, dass manche ihrer Eigenschaften sich als nützlich erweisen können; so hatte das Vlagh mit Experimenten begonnen - oder angefangen, herumzupfuschen -, und eigenartige sowie höchst unnatürliche Varianten geschaffen. Ich räume recht widerstrebend ein, dass das Experiment, aus dem jene Wesen hervorgegangen sind, die Sorgan Hakenschnabel aus dem Land Maag so lebhaft als Schlangenmenschen bezeichnete, einen sehr erfolgreichen Ausgang genommen hat, obwohl ich beileibe nicht genau verstehe, wie es dem Vlagh möglich war, ein Wesen zu erschaffen, das zum Teil Insekt, zum Teil Reptil und zum Teil warmblütiges Säugetier ist und außerdem noch einem Menschen ähnelt. Solche biologischen Unmöglichkeiten verärgern mich ohne Ende. Ohne den Genius des Schamanen Einer-Der-Heilt, so gebe ich hingegen gern zu, hätten die Wesen des Ödlands den Krieg in der Domäne meiner Schwester vermutlich gewonnen. Ashad gab einen seltsamen Laut von sich; deshalb erhob ich mich von meinem Stuhl und ging durch das Dämmerlicht der Höhle hinüber zu der Steinbank, die ihm als Bett diente, um mich zu vergewissern, ob alles in Ordnung war. Er lag mit geschlossenen Augen eingerollt unter seinem Fellmantel. Die Feststellung, dass unsere Träumerkinder nicht vom Licht allein leben können, hat uns alle ein wenig nervös gemacht. Mit solchen Dingen wollten wir eigentlich niemals Spielchen treiben. Dann stellte sich uns die Frage, ob sie atmen mussten. Veltans zehn Äonen auf dem Mond hatten uns ganz klar demonstriert, dass wir nicht zu atmen brauchen. Viele unserer lieben Menschen sind Fischer, und es passiert häufig, dass einer von ihnen ertrinkt. Obwohl unsere Träumerkinder eigentlich Götter sind, ließ ihr gegenwärtiger Zustand vermuten, dass sie Luft zum Atmen und Nahrung zum Essen brauchten, und keiner von uns wollte irgendein Risiko eingehen. Ashad atmete, und so kehrte ich zu meinem Stuhl zurück. Ich ließ meine Gedanken zu dem Moment schweifen, als Ashad in meine Höhle gekommen war. Wenn jemand mit ausgeprägtem Sinn für Sadismus gern einmal einen Gott im Zustand vollkommener Panik erlebt hätte, so hat er damals seine Chance verpasst. An jenem Tag herrschte überall in meiner Familie Panik. Sobald Ashad zu schreien
begann, war ich mit meinen Nerven am Ende. Schließlich erin20
nerte ich mich jedoch an eine Eigentümlichkeit, die bei den Bären meiner Domäne, aber auch bei den Hirschen, Menschen und Wildkühen zu finden ist. Bärinnen gebären ihre Jungen während der Winterschlafzeit, und die Kleinen kümmern sich ganz allein um das Säugen. Mir fiel ein, dass eine Bärin mit dem Namen Gebrochener Zahn für gewöhnlich in einer Höhle überwinterte, die nicht mehr als eine Meile entfernt lag. Noch immer völlig verschreckt nahm ich meinen schreienden Träumer und rannte zur Höhle von Mama Gebrochener Zahn. Sie hatte bereits dem kleinen Bären Langkralle das Leben geschenkt, und der saugte gerade an ihren Zitzen, als ich eintrat. Glücklicherweise brauchte ich mit ihm nicht zu streiten. Er war so nett, rückte ein wenig zur Seite, und ich überließ Ashad der Bärenmilch. Sofort hörte er auf zu brüllen. Eigenartigerweise - oder vielleicht auch nicht - waren Ashad und Langkralle eindeutig der Meinung, sie seien Brüder, und nachdem sie sich gemeinsam an der Milch von Mama Gebrochener Zahn satt getrunken hatten, begannen sie zu spielen. Ich blieb in der Höhle, bis Mama Gebrochener Zahn aufwachte. Sie schnüffelte kurz an ihren beiden Jungen - und ignorierte die Tatsache, dass einer der zwei keine Ähnlichkeit mit einem Bären hatte -, dann drückte sie die Kleinen sanft an ihren Bärenbusen, als wäre alles in schönster Ordnung. Gewiss, Bären sehen nicht besonders gut, und deshalb verlassen sie sich mehr auf den Geruchssinn; nach zwei Wochen, in denen sich Ashad auf dem Boden der Höhle herumgewälzt hatte, duftete er in der Tat wie ein kleiner Bär. Obwohl Ashad fast bis Mittag schlief, wirkte mein kleiner flachshaariger Junge beim Aufstehen müde. Er zog seinen ledernen Kittel an und gesellte sich zu mir an den Tisch. Guten Morgen, Onkel, begrüßte er mich und ließ sich erschöpft auf seinen Stuhl sinken. Ohne große Begeisterung holte er sich die große Schüssel mit roten Beeren heran, die er am Abend zuvor mitgebracht hatte, und begann zu essen, immer nur eine nach der anderen. Aus irgendeinem Grund schien er keinen rechten Appetit zu haben. 21
Machst du dir über etwas Sorgen, Ashad?, fragte ich ihn. Heute Nacht hatte ich einen schrecklichen Traum, Onkel, antwortete der Junge und spielte abwesend mit einem glänzenden schwarzen Stein, der ungefähr die doppelte Größe eines Adlereis besaß. Ich hatte das Gefühl, ich würde mitten in der Luft stehen und von oben aus dem Himmel auf die Domäne von Vash schauen. Das Land dort unten im Süden sieht ganz anders aus als unseres hier im Norden, nicht wahr? Da war es wieder. Offensichtlich kannte Ashad Yaltars richtigen Namen, so wie auch Eleria. Die Menschen im Süden sind Bauern, Ashad, erklärte ich ihm. Sie ernähren sich hauptsächlich von dem, was ihre Felder hervorbringen, und nicht von der Jagd wie die Menschen bei uns. Deshalb mussten sie die Bäume fällen, damit sie offenes Gelände für die Saat haben, und aus diesem Grund sieht ihr Land so anders aus als das hier oben. Was ist sonst noch in deinem Traum passiert? Ashad strich sich das Haar aus den Augen. Nun, fuhr er fort, anscheinend marschierte eine ganze Menge dieser hässlichen Dinger in die Domäne von Vash - diese Dinger, die erst kürzlich in Balacenias Domäne gekrochen sind. Der Junge legte den glänzenden schwarzen Stein auf den Tisch und aß ein paar rote Beeren. Und wieder! Nun war es nicht mehr zu übersehen, dass die Träumer die Barriere, die ich so sorgsam zwischen ihnen und ihrer Vergangenheit errichtet hatte, zu überwinden vermochten, wenn auch vielleicht unbewusst. Jedenfalls, erzählte Ashad, waren die Fremdlinge da, und sie kämpften gegen die hässlichen Dinger wie in Balacenias Domäne, doch dann wurde die Sache sehr verwirrend. Ein Haufen anderer Fremdlinge kam über die Mutter Meer von Süden her, aber sie waren wohl nicht sehr an dem Krieg interessiert, weil sie ihre Zeit mit den Bauern verbrachten und über jemanden sprachen, der Amar heißt. Diejenigen, die redeten, trugen schwarze Roben, und andere in roten Roben schubsten die Bauern herum und sorgten dafür, dass sie denen in den schwarzen Roben zuhörten, während die redeten. Das ging eine Weile so, dann wurden die Fremdlinge im Sü22
den ganz aufgeregt und rannten nach Norden zu einem großen Wasserfall, und die anderen Fremden die, die zuerst da gewesen waren - machten ihnen gewissermaßen den Weg frei, und schließlich waren alle am Wasserfall, und es sah aus, als würde jeder versuchen, den anderen umzubringen. Wie viel
Mühe ich mir auch gab ich begriff einfach nicht, was sich dort abspielte. Manchmal sind Träume so, habe ich gehört, Ashad. Ich brauche ja nicht zu schlafen, daher weiß ich es nicht aus eigener Erfahrung. Ich zögerte. Wo hast du diesen glänzenden schwarzen Stein gefunden?, fragte ich, eigentlich weniger aus echtem Interesse, sondern eher, um das Thema zu wechseln. Er lag in der Höhle, wo Mama Gebrochener Zahn Winterschlaf hält, erwiderte Ashad. Sie hatte drei Junge im vergangenen Winter, und während du deiner Schwester Zelana geholfen hast, ging ich zu ihrer Höhle, um mir die Kleinen anzuschauen. Sie sind schließlich so eine Art Brüder von mir und Langkralle, oder? Mama Gebrochener Zahn hat doch mich und Langkralle gesäugt, als wir noch klein waren, und jetzt säugt sie die neuen. Dadurch sind wir irgendwie verwandt, nicht wahr? Ich nehme an, ja. Also, die drei neuen Jungen machten diese lustigen Laute, die Bärenjunge immer von sich geben, wenn sie saugen, und Mama Gebrochener Zahn schmuste mit ihnen wie früher mit mir und Langkralle. Er nahm den glänzenden Stein in die Hand. Ist das ein Achat?, fragte er und hielt ihn mir entgegen. Ich nahm den Stein und hätte ihn beinahe fallen lassen, weil er eine solch intensive Kraft ausstrahlte. Ich glaube, du hast Recht. Schwarze Achate sind allerdings sehr selten. Er ist sehr hübsch, und er gefiel mir sofort. Daher fragte ich Mama Gebrochener Zahn, ob ich ihn haben dürfe, und sie hat ihn mir geschenkt. Seitdem habe ich ihn überallhin mitgenommen, doch irgendwann habe ich ihn verlegt, aber als ich heute Morgen aufgewacht bin, war er bei mir im Bett. Ist das nicht seltsam? Ich lachte. Offensichtlich leben wir im Jahr des >Seltsamen<, Ashad, antwortete ich. Jedes Mal, wenn ich mich umdrehe, ent23
decke ich wieder etwas neues Seltsames. Wie haben die anderen Bären den Winter überstanden? Gut, Onkel, gab Ashad zurück. Sie haben viele Junge. Er grinste plötzlich breit. Kleine Bären sind so niedlich. Sie machen so lustige Dinge, und die Mütter sind deswegen immer böse. Erst letzte Woche fischte Mama Gebrochener Zahn in einem Bach - sie warf die Fische ans Ufer, weißt du, wie Bären das eben machen -, doch die drei Kleinen glaubten, sie würde spielen, also schmissen sie die Fische zurück ins Wasser. Als sie sah, was die Jungen anstellten, rannte sie herbei, gab ihnen ein paar Knüffe und jagte sie auf einen Baum, von dem sie sich den ganzen Tag nicht mehr heruntertrauten. Ich lachte, doch sie knurrte mich nur an. Für sie war es wohl gar nicht so lustig. Wäre es schlimm für dich, wenn du noch ein paar Tage allein wärest, Ashad? Ich muss mich unbedingt mit meinem Bruder und meinen Schwestern unterhalten. Ich habe nichts dagegen, Onkel. Kürzlich war ich drüben im Dorf Asmie, und Tlingar hat mir versprochen, mir beizubringen, wie man diese Speerschleuder benutzt - diesen langen ausgehöhlten Stock, mit dem die Menschenwesen hier ihre Speere so weit werfen können. Tlingar kann, glaube ich, am besten von allen mit der Speerschleuder umgehen, oder? Jedenfalls sorgt er dafür, dass die Bewohner von Asmie regelmäßig zu essen bekommen, so viel ist sicher, stimmte ich zu. Ich bin nicht sehr lange unterwegs, Ashad. Wenn dir das Speerwerfen langweilig wird, kannst du zu Mama Gebrochener Zahn gehen und mit ihrem Nachwuchs spielen. Sollten die kleinen Bären wirklich so ausgelassen sein, wie du sagst, wird Mama Gebrochener Zahn inzwischen ziemlich erschöpft sein. Sie wird sich freuen, wenn sie sich ein wenig ausruhen kann. Wie heißt es doch so schön? >Sei nett zu den Nachbarn, dann sind sie nett zu dir.< Ich sollte wohl langsam aufbrechen, sonst kann ich nicht mehr mit Aracia sprechen, bevor diese Priester mit ihren dummen Zeremonien begonnen haben. Grüßt du Enalla von mir, Onkel? Schon wieder. Gerade hatte Ashad Aracias Träumerin Lillabeth beim richtigen Namen genannt. Trotz meiner vorsichtigen Einflussnahme holten die Träumer Stück um Stück die Realität durch die Barriere, die ich zwischen ihnen und der Vergangenheit errichtet hatte. Ich erschauderte bei dem Gedanken, was geschehen mochte, falls sie eines Tages auf wichtigere Dinge als ihre Namen stoßen würden. Daraufhin sagte ich meiner kleinen leuchtenden Sonne, sie möge zu Hause bleiben, und betrat den langen gewundenen Gang, der hinauf an die frische Luft führte. Das frühsommerliche Morgenlicht leuchtete golden, als ich aus meiner Höhle unter dem Berg Shrak trat. Ich rief meinen Blitz und ritt nach Südosten zur Domäne meiner Schwester Aracia. Aracias Domäne ähnelt sehr der Domäne unseres kleinen Bruders Veltan, auch dort erstrecken sich
riesige Weizenfelder von einem Horizont zum anderen wie ein grüner Teppich. Ich gebe es nicht gern zu, aber die Einführung des Weizenanbaus und des Brotes hat in den Domänen der beiden für wesentlich stabilere Lebensverhältnisse gesorgt, als in meiner und Zelanas Domäne herrschen, wo das Land überwiegend für die Jagd und die Fischerei genutzt wird. Nichtsdestoweniger muss aber doch mehr am Leben dran sein, als auf einem Stück vertrocknetem Brot zu kauen. Ich bin sicher, dass Aracia und Veltan mich als einen altmodischen Primitiven betrachten, nur - ich weiß es halt besser. Die Menschen ihrer Domänen sind kaum mehr als Vieh. Sie ziehen in Herden herum, und es würde mich nicht wundern, wenn das Wort Muh in ihrer Sprache häufig verwendet wird. Die Menschen meiner Domäne sowie auch der von Zelana sind hingegen ausgesprochen unabhängig. Niemand - nicht einmal ich oder Zelana - schreibt ihnen vor, was sie zu tun oder zu lassen haben. Aus meiner Sicht der Dinge ähneln diese Bauern im Süden und Osten eher den hirnlosen Dienern des Vlagh als richtigen Menschen. Das brauche ich Aracia und Veltan allerdings nicht unbedingt unter die Nase reiben. Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, ich erinnere mich. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es die Landwirtschaft war, die in Aracias Domäne zur Entstehung von Religion führte. Nachdem die Aussaat im Frühjahr geschehen ist, hat ein Bauer eigentlich bis zur Erntezeit im Herbst nichts zu tun, und das lässt ihm viel zu viel Zeit für überflüssiges Grübeln. Solange die Menschen ihre Aufmerksamkeit darauf richten, was sie morgen essen werden oder wie sie es vermeiden zu erfrieren, sobald der Winter Einzug gehalten hat, ist ihr Leben vor allem an praktischen Erfordernissen orientiert. Erst wenn sie zu viel Zeit haben, stellen sie Fragen wie Wer bin ich?, oder Wie bm ich hierher gekommen?, und die Sache wird anstrengend. In gewissen Abständen verlasse ich das Land Dhrall und beobachte die Fortschritte der Völker in fremden Ländern, und mir ist aufgefallen, dass die intelligenteren viel Zeit damit verbringen, über mysteriöse Götter nachzudenken. Im Lande Dhrall ist das natürlich nicht notwendig, weil es sehr wahrscheinlich ist, dass der Gott der betreffenden Gegend seinen Wohnsitz oben auf dem Berg oder einfach unten an der Straße hat. Manche der Menschen aus Aracias Domäne sahen gerade darin große Möglichkeiten. Aracia konnte das Wetter beeinflussen, wenn sie wollte, und dadurch gab es reiche Ernten, was wiederum übertriebene Dankesbezeugungen ihrer Untertanen hervorrief. Meinen eigenen Menschen hätte ich da offen ins Gesicht gelacht. Aracia hingegen genoss diese unterwürfigen und exzessiven Dankesbezeugungen. Tief im Innern liebt Aracia es, geliebt zu werden. Ich war in diesem Zyklus als Erster erwacht, und so hatte ich diesmal die Verantwortung für alles. Aracia, als Zweite, sehnte sich immer danach, die Erste zu sein, und aus diesem Grunde ermutigt sie die Menschen zu ihrer ausufernden Verehrung, und die Klügeren unter ihnen, die dieses Bedürfnis spüren, treiben die Dankbarkeit bis hin zum Absurden, errichten Tempel und Altäre und werfen sich jedes Mal zu Boden, wenn sie vorübergeht. Aracia findet das schrecklich nett von ihnen. Aracias Bedürfnis nach Verehrung hat viele der weniger arbeitsamen Menschen ihrer Domäne angelockt, und über die Jahre hin26 weg
entstand dadurch eine beachtliche Stadt, die wiederum die verschiedensten Händler angezogen hat. Ohne Zweifel ist Aracias Tempelstadt im Lande Dhrall das, was man überhaupt am ehesten als Stadt bezeichnen könnte. Die großen Steingebäude sind weiß verputzt, und die Dächer bestehen aus roten Ziegeln. Die schmalen Straßen sind gepflastert, und die Stadt hat eine Länge von mindestens einer Meile. Im Zentrum befindet sich Aracias riesiger Tempel mit leuchtend weißen Spitztürmen, die hoch gen Himmel aufragen. Ganz ehrlich gesagt, halte ich diesen Ort für ein wenig albern. Als mich mein Blitz in Aracias Thronsaal mit seinen Marmorsäulen absetzte, fielen ihre überfütterten Speichellecker entweder in Ohnmacht oder flohen vor Schrecken. Ich lächelte milde. Nichts auf der Welt erregt eine solche Aufmerksamkeit wie ein Blitz. Aracias goldener Thron stand auf einem marmornen Podest, und dahinter hingen rote Vorhänge. Hast du vielleicht schon einmal daran gedacht, dich vorher anzukündigen, wenn du mich besuchst, Dahlaine?, wollte meine prachtvoll gewandete Schwester in eisigem Tonfall von mir wissen. Habe ich doch gerade, entgegnete ich freiheraus. Bist du taub geworden, Aracia? Jedes Mal, wenn du Donner hörst, bin es höchstwahrscheinlich ich. Ich schaute mich im Thronsaal meiner Schwester um und entdeckte eine erkleckliche Anzahl Geistlicher, die sich hinter den Marmorsäulen am Rande des
riesigen Raums versteckten. Könnten wir uns vielleicht irgendwo unter vier Augen unterhalten, liebe Schwester? Du solltest einige Neuigkeiten erfahren, und ich habe nicht sehr viel Zeit. Du bist ein grober Kerl, Dahlaine. Wusstest du das schon? Das ist meine große Schwäche. Im Laufe der Jahre habe ich begriffen, dass Höflichkeit eine Zeitverschwendung ist, und im Augenblick habe ich leider eine Menge zu tun. Gehen wir? Schon vor langer Zeit hatte ich begriffen, dass man Aracias Aufmerksamkeit am besten durch Schroffheit erlangte. Sobald man ein wenig nachgab, kehrte sie zu ihrem Zeremonien-Getue zurück, und das dauerte in der Regel den halben Tag. Sie wirkte ziemlich beleidigt, erhob sich jedoch von ihrem goldenen Thron, stieg vom Podest und führte mich aus dem überladenen Thronsaal. Weswegen bist du denn so aufgeregt, großer Bruder?, fragte sie mich, während wir einen langen einsamen Gang entlangschritten. Warte, bis wir an einem abgeschiedenen Ort sind, schlug ich vor. Ungemach ist im Anzug, und ich glaube, wir sollten die Menschen deiner Domäne im Augenblick noch nicht beunruhigen. Aracia führte mich in ein ziemlich einfaches Zimmer und schloss die Tür hinter uns. Wir ließen uns einander gegenüber auf großen Holzstühlen nieder, die bei einem mit Schnitzereien verzierten Tisch standen. Bist du sicher, dass uns hier keiner deiner Menschen hören kann? Natürlich, Dahlaine, erwiderte sie. Dieser Raum ist einer der >besonderen< Orte. Niemand kann uns hören, weil dieses Zimmer eigentlich gar nicht existiert. Wie hast du denn das hinbekommen? Sie zuckte mit den Schultern. Man muss die Zeit ein wenig vorstellen. Dieser Raum ist zwei Tage älter als der Rest des Tempels, wir sprechen also sozusagen erst in zwei Tagen. Bemerkenswert schlau, bewunderte ich sie. Freut mich, dass es dir gefällt. Was also hat dich so aufgebracht, Dahlaine? Heute Nacht hatte Ashad einen dieser Träume, liebe Schwester. Offensichtlich hat das Vlagh in Zelanas Domäne seine Lektion nicht begriffen, und deshalb schickt es seine Diener nun nach Süden zu Veltans Domäne - oder zumindest wird es das in Kürze tun. Ashads Traum war ein wenig komplizierter als Yaltars, der die Invasionen von Zelanas Domäne voraussah, und selbst ich habe manches nicht ganz verstanden. Er hat mir von zwei getrennten - und anscheinend voneinander unabhängigen - Invasionen und einem sehr komplizierten Krieg an den Fällen von Vash erzählt. Und noch etwas beunruhigt mich. Ashad hat Yaltar bei seinem richtigen 28
Namen genannt - so, wie Yaltar ständig von Eleria als >Balacenia< spricht. Mir ist die Spucke weggeblieben, als Ashad >Vash< anstelle von Yaltar sagte. Ich habe dir gleich gesagt, Dahlaine, es war ein Fehler, unsere Stellvertreter ins Spiel zu bringen. Wenn unsere Träumer aufwachen und zu Sinnen kommen, könnte die Welt in sich zusammenstürzen. Es gelingt ihnen offenbar, einige meiner Barrieren zu umgehen, Aracia, räumte ich ein, aber jetzt ist es zu spät, um dagegen etwas zu unternehmen. Das Vlagh will uns aufs Neue mit seinen Dienern überrennen, und wir haben keine Zeit, eine neue Gruppe von Träumern großzuziehen. Hat Lillabeth schon einen dieser Träume gehabt? Jedenfalls hat sie mir nichts darüber erzählt, gab Aracia zurück. In letzter Zeit war hier allerdings sehr viel los. Kostet es dich tatsächlich so viel Zeit, dich anbeten und verehren zu lassen, Aracia? Nein, doch muss ich ständig zur Insel Akalla und mit Trenicia verhandeln. An Gold ist sie eigentlich nicht interessiert, deswegen muss ich etwas anderes finden, mit dem ich sie locken kann. Wer ist Trenicia?, fragte ich neugierig. Die Königin der Kriegerinnen von Akalla. Können Frauen tatsächlich gute Krieger sein? Wenn sie groß genug sind, gewiss. Trenicia ist so groß wie Sorgan Hakenschnabel, und sie kann auf jeden Fall geschickter mit dem Schwert umgehen als er. Beeindruckend, gab ich zu, aber wenn sie kein Gold will, wie bezahlst du sie dann? Mit Diamanten, Rubinen, Smaragden und Saphiren, antwortete Aracia. Sie sind zwar Kriegerinnen, aber nichtsdestoweniger Frauen, und deshalb lieben sie Schmuck. Für eine hübsche Diamantenkette würde eine Frau aus Akalla fast jeden umbringen oder doch zumindest jedes Wesen, das sich ihr in den Weg stellt.
Wenn die Frauen auf der Insel Akalla herrschen, was machen denn dann die Männer? 29
Die haben ungefähr die Stellung von Haustieren, Dahlaine. So wie ich Trenicia verstanden habe, haben die Männer von Akalla die Trägheit zu einer Kunstform erhoben. Auf Akalla ist alles Frauenarbeit. Sogar der Krieg? Der Gedanke erschütterte mich. Vor allem der Krieg. Die Männer von Akalla sind faul und ängstlich und im Allgemeinen zu nichts zu gebrauchen - außer als Zuchtstiere. Ich beschloss, auf diese Angelegenheit nicht weiter einzugehen. Mir ist kürzlich die Idee gekommen, dass wir vielleicht Trenicia und Ekial in den Krieg in Veltans Domäne mit einbeziehen sollten, sagte ich. Aller Wahrscheinlichkeit nach müssen sie früher oder später sowieso gegen die Diener des Vlagh antreten, und es kann nicht schaden, wenn sie möglichst früh erfahren, womit sie es zu tun haben. Da könntest du durchaus Recht haben, Dahlaine, stimmte Aracia zu. Wenn ich mich recht entsinne, waren die Maags und die Trogiten nicht allzu glücklich, als Zelana sich endlich entschloss, ihnen einige der Besonderheiten der Diener des Vlagh zu schildern. Vielleicht sollten wir es lieber mit Ehrlichkeit anstatt Täuschung versuchen. Was für ein ungeheuerlicher Vorschlag, Aracia, scherzte ich. Ich bin wirklich schockiert von dir! Äußerst schockiert! Ach, hör auf!, sagte sie. Und dann lachten wir beide. Mein Blitz brachte mich zum Rand des Ödlands, und ich spähte hinunter zum Sand und zu den Felsen, in der vagen Furcht, die Diener des Vlagh beim Anmarsch auf die Domäne meines jüngeren Bruders Veltan zu erblicken, doch so weit ich erkennen konnte, war die Wüste unten bar allen Lebens. Die Zwillingsvulkane am Ende der Schlucht oberhalb von Lat-tash spuckten weiterhin ihr Feuer in die Luft, als ich meinen Blitz in Zelanas Domäne lenkte, und ich war ziemlich sicher, die Eruptionen würden noch Jahre andauern. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr kam ich zu dem Schluss, dass ich die Fähigkeiten der Träumer strenger hätte beschränken sollen. Sie waren schließlich Kinder, und Kinder lassen sich manchmal von ihrer Begeisterung mitreißen. Allerdings sah ich dabei ein Problem: Wie hätte ich das anstellen sollen? Trotz ihrer mangelnden Reife verfügten die Träumer praktisch uneingeschränkt über die Naturkräfte, und ich musste mir ehrlicherweise eingestehen, dass sie vermutlich jede Barriere überwinden konnten, mit der ich sie von ihrer Vergangenheit trennte. Meine ursprüngliche Idee war mir wie die perfekte Lösung für ein schwieriges Problem erschienen, allerdings hätte es wohl nicht geschadet, wenn ich ein wenig länger darüber nachgedacht hätte. Ich schickte einen Suchgedanken aus und spürte Zelanas Gegenwart unten auf der Nordseite der Bucht, also lenkte ich meinen Blitz in diese Richtung. Zelana unterhielt sich gerade mit Rotbart und Langbogen in einem Dorf, das in einiger Entfernung von Lattash neu errichtet worden war und sich nun kurz vor der Fertigstellung befand. Die runden Hügel hinter dem neuen Dorf hatten sanftere Hänge als die steilen Gipfel im Osten von Lattash, im Norden befanden sich einige Waldstücke, und hinter diesen dehnte sich meilenweit eine Wiese aus. Muss das unbedingt sein, Dahlaine?, fragte Zelana gereizt, als ich mich zu ihnen gesellte. Kannst du nicht diesen schrecklichen Lärm vermeiden? Ich fürchte, nicht, Zelana. Mit einem Blitz kann man am schnellsten reisen, nur muss man sich leider mit dem Lärm abfinden. Ashad hatte einen Traum, und es scheint, unsere Vermutungen liegen nicht weit von der Wahrheit entfernt. Ashads Traum bestätigte, dass die Wesen des Ödlands als Nächstes Veltans Domäne angreifen werden. Gab es in dem Traum Hinweise darauf, wo genau wir auf die Diener des Vlagh stoßen werden?, erkundigte sich der Bogenschütze Langbogen. Irgendwo in der Nähe der Fälle von Vash, antwortete ich. 31
Neugierig sah ich Zelana an. Ich nehme an, du hast deine Meinung geändert und dich entschlossen, uns andere bei der Verteidigung unserer Domänen zu unterstützen. Das Land Dhrall ist eine Einheit, mein Bruder. Wenn das Vlagh einen Teil davon erobert, sind wir alle in Gefahr. Ich zögerte. Fühlst du dich ein wenig besser, liebe Schwester?, fragte ich. Wir waren sehr besorgt, als du dich plötzlich entschieden hast, in deine Grotte zurückzukehren.
Nein, Dahlaine, erwiderte sie bissig. Ich fühle mich überhaupt nicht besser, aber Eleria hat mich gezwungen, mich der Welt des Chaos wieder zuzuwenden. Gezwungen? Sie ist ein kleines Mädchen, Zelana. Wie kann sie dich zwingen? Sie hat mir gesagt, wenn ich Veltan nicht helfen wolle, würde sie die Sache selbst in die Hand nehmen. Sobald sie diese niedliche Maske abnimmt, die sie ständig trägt, zeigt sich dahinter ihre ganze Grausamkeit. Sie hat mir keine Wahl gelassen. Ich denke, ihre Perle hat damit etwas zu tun. Das ist möglich, möchte ich mal sagen, räumte ich ein. Diese Edelsteine haben offensichtlich großen Einfluss auf die Träume der Kinder. Ashad hat jetzt auch einen bekommen, und ich bin sicher, der ist für seinen Traum verantwortlich. Was für einen Edelstein hat er?, wollte Zelana neugierig wissen. Einen schwarzen Achat. Ganz hübsch; Ashad hängt sehr daran. Ich glaube, einen schwarzen Achat habe ich noch nie gesehen. Wo hat er ihn gefunden? Hinten in der Höhle von Mama Gebrochener Zahn. Wer ist Mama Gebrochener Zahn? Die Bärin, die ihn gestillt hat, als er ein Säugling war. War es nicht gefährlich, den kleinen Jungen einer Bärin zu überlassen? Ich schüttelte den Kopf. Nein, eigentlich nicht, erwiderte ich. Bärinnen gebären während des Winterschlafs, und wenn sie aufwachen, saugen die Jungen oder spielen in der Höhle. Die Bärin liebt automatisch die Kleinen, die sie stillt, und so bestand für Ashad keine Gefahr. Mama Gebrochener Zahn hatte ihren kleinen Bären Langkralle schon geboren, als ich Ashad zu ihr in die Höhle brachte, und Ashad und Langkralle betrachten sich als Brüder. Ich sah mich um. Wo ist übrigens Eleria? Mit Yaltar auf der Wiese hinter dem Wald, teilte mir Rotbart mit. Pflanzerin passt auf sie auf. Und wer ist Pflanzerin? Diejenige, die den Frauen des Stammes beibringt, wie man Ackerbau betreibt, erklärte Rotbart. Die Frauen gehen zu ihr, wenn sie Probleme haben. Sie kann manchmal sehr direkt sein, aber sie hat eine genaue Vorstellung von dem, was sie tut. Du verheimlichst mir doch nicht etwas, Dahlaine?, fragte Zelana eindringlich. Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen, hebe Schwester. Ashads Traum war hinsichtlich der Invasion in Veltans Domäne sehr eindeutig, was die Geschöpfe des Ödlands betrifft, allerdings ging es darin auch um eine zweite Invasion, die nicht vom Ödland ausging. Dieser Angriff kam vom Meer. Das ist lächerlich, Dahlaine, spottete Zelana. Hat sich das Vlagh jetzt mit der Königin der Fische verbündet? Ich gebe lediglich wieder, was Ashad mir erzählt hat, Zelana. Wo ist Veltan? Wir sollten ihm berichten, was für Schwierigkeiten im Anzug sind. Er ist draußen in der Bucht, auf dem Schiff des Trogiten-Kommandanten Narasan, antwortete Rotbart. Langbogen kann dich mit seinem Kanu hinbringen, wenn du möchtest. Ich würde es ja selbst machen, aber ich bin im Augenblick beschäftigt. Gibt es Ärger? Gewissermaßen. Die Feuerberge haben Lattash zerstört, also baut der Stamm hier draußen ein neues Dorf. Es wird zwar nicht so hübsch sein, dafür ist es jedoch viel sicherer. Ich schaute mir die teilweise fertig gestellten Hütten in der Nähe des Strandes an. Die sehen ganz anders aus als jene in Lattash, beobachtete ich, doch irgendwie kommen sie mir bekannt vor. 33
Sollten sie auch, meinte Langbogen, schließlich sind es Nachbauten der Hütten, wie man sie im Norden deiner Domäne konstruiert. Das ist Teil eines ziemlich hinterlistigen Schwindels, großer Bruder, sagte Zelana und lächelte schwach. Die Männer von Häuptling Rotbarts Stamm glauben, die Feldarbeit sei >Frauensache< und damit unter ihrer Würde. Die Frauen brauchten jedoch Hilfe, um den Boden zum Pflanzen vorzubereiten, und Langbogens Häuptling Alter Bär erzählte, dass manche Stämme in deiner Domäne in einem riesigen Grasland leben, wo es keine Bäume gibt, und sie würden ihre Hütten aus Soden und nicht aus Ästen bauen. Die Männer von Rotbarts Stamm bauten ihre neuen Hütten hier wie gewohnt aus Ästen und saßen dann herum und erzählten sich Geschichten aus dem Krieg. Doch in einer windigen Nacht warfen diese beiden Männer hier die neuen Hütten um. Als die Sonne aufging, spazierten sie mit ernsten Gesichtern umher und behaupteten, Äste seien nicht stabil genug für Hütten in dieser Gegend, weil der Wind so stark wehe, und die Männer des Stammes sollten draußen auf der
Wiese Soden stechen. Die Frauen des Stammes konnten daraufhin pflanzen. So hat Rotbarts Stamm nun stabile Hütten und im Winter reichlich zu essen. Außerdem wurde niemand beleidigt. Sehr schlau, sagte ich bewundernd. Dann runzelte ich die Stirn. Ist Häuptling Weißzopf etwas zugestoßen?, fragte ich. Die Zerstörung von Lattash hat seine Seele in Mitleidenschaft gezogen, erklärte Rotbart traurig. Er wusste, der Stamm muss einen neuen Ort zum Leben finden, aber er fühlte sich nicht in der Lage, die Menschen dorthin zu führen, denn sein Kummer - oder vielleicht sogar sein Gram - hatten ihn so entkräftet, dass er keine Entscheidungen mehr treffen konnte. Das wurde ihm bewusst, und so legte er die Last auf meine Schultern. Ich wollte es zwar eigentlich nicht, aber er hat mir keine andere Wahl gelassen. Du wirst das schon schaffen, Häuptling Rotbart, machte ich ihm Mut. Ich habe bemerkt, dass Männer, die eigentlich keine Macht und Verantwortung übernehmen wollen, meist die besseren Anführer abgeben als jene, die nach solchen Stellungen streben. 34
Gehen wir zu unserem kleinen Bruder, Zelana. Er sollte einige Neuigkeiten erfahren, und die Zeit läuft beständig weiter. Langbogen führte meine Schwester und mich zum Strand, wo sein Kanu auf dem Sand lag. Zelanas Bogenschütze hat so etwas an sich, das ich Furcht einflößend finde. Dieser Mann mit dem freudlosen Gesicht führt schon fast seit seiner Kindheit Krieg gegen die Wesen des Ödlands, und die Diener des Vlagh zu töten ist zu seinem einzigen Lebenszweck geworden. Er ist ein grimmiger Mann mit wenigen Freunden und besitzt eine fast übermenschliche Selbstbeherrschung. Mir erschien es, als würden wir alle diesen Mann gern bei uns haben. Wenn alles gut ging, würden wir die Diener des Vlagh zurückschlagen, wann und wo immer sie eine unserer Domänen angriffen, doch aller Wahrscheinlichkeit nach würde das an der Existenz des Vlagh rein gar nichts ändern. Langbogen würde dieses Problem vielleicht eines Tages für uns lösen. Ein einziger vergifteter Pfeil könnte die Wesen des Ödlands zum Aussterben verdammen, und das war selbstredend unser letztendliches Ziel. Langbogen zog sein Kanu ins Wasser und hielt es fest, damit Zelana und ich einsteigen konnten, dann schob er es noch ein Stück in die Wellen und schlüpfte geschmeidig ins Heck. Ich glaube, unser kleiner Bruder ist an Bord von Narasans Schiff, sagte Zelana. Vermutlich, stimmte Langbogen zu. Er paddelte über die Bucht zu dem riesigen Trogitenschiff von Kommandant Narasan; an der Reling erwartete uns der junge Soldat mit Namen Keselo. Ist etwas passiert?, fragte er, als Langbogen sein Kanu längsseits anlegte. Eigentlich nicht, antwortete Zelana. Wir sind nur hergekommen, um unserem kleinen Bruder zu sagen, dass wir langsam an die Arbeit gehen müssen. Hat Eleria wieder geträumt? Nein, junger Mann, erklärte ich ihm. Diesmal war es mein kleiner Junge, Ashad, und in seinem Traum haben sich eigentümli35
ehe Ereignisse zugetragen. Wir hoffen, Veltan kann sie uns vielleicht erklären. Ich hielt kurz inne. Wenn ich die Sache recht bedenke, könntest du uns die Geschehnisse vielleicht noch besser erklären als Veltan. Warum kommst du nicht mit? Gern. Euer Bruder ist hinten in Kommandant Narasans Kabine am Heck. Ist Narasan bei ihm?, wollte Zelana wissen. Nein, werte Dame. Der Kommandant ist auf der Seemöwe und bespricht sich mit Kapitän Sorgan. Gut, sagte ich. Ich bin mir nämlich nicht sicher, ob Narasan sehr glücklich sein wird über die Ereignisse in Ashads Traum. Ist dein Kommandant vielleicht besonders religiös? Nicht, dass es mir je aufgefallen wäre, meinte Keselo. Ist das von Bedeutung? Darüber unterhalten wir uns gleich. Gehen wir zu Veltan. Gut, sagte der junge Mann, drehte sich um und führte uns zu dem verzierten, fast hausähnlichen Aufbau am Heck des Schiffes. Höflich klopfte er an die Tür. Herein, rief Veltan von innen. Keselo öffnete die Tür und ließ uns eintreten. Die Kabine war wesentlich besser eingerichtet, als ich es mir vorgestellt hatte. Sie ähnelte mehr einem Zimmer in einem Haus als einem Raum auf einem Schiff. Die Decke war zwar nicht sonderlich hoch, da die Seeleute das Dach der Kabine als Achterdeck benutzten, und es gab Stützbalken, so dass die Decke nicht über denjenigen zusammenbrechen konnte, die in diesem Raum schliefen. In der hinteren
Wand befand sich ein großes Fenster, damit die Insassen der Kabine einen hübschen Ausblick hatten. Alles in allem erschien mir das Ganze ein wenig übertrieben, ich entschied mich jedoch, mich dazu nicht zu äußern. Veltan saß an einem großen Tisch und betrachtete eine Karte. Stimmt etwas nicht? Mein kleiner Ashad hatte letzte Nacht einen dieser Träume, und wir haben wenigstens in einer Hinsicht Recht. Die Diener des Vlagh werden bald kommen, ließ ich ihn wissen. 36 Hat er dir verraten, wann genau? >Wann< kommt in diesen Träumen nie vor, Veltan, erklärte ich ihm- Das solltest du inzwischen begriffen haben. Kommen wir zu dem komplizierteren Punkt. Ashad hat mir von einer zweiten Invasion in seinem Traum erzählt, und diese gewissen Eindringlinge haben eigentlich keine Verbindung zu den Dienern des Vlagh. Wer waren sie dann? Soweit ich es feststellen konnte, handelt es sich um Trogiten, und sie wollten mit deinem Volk über Religion sprechen. Wie viel weißt du über jemanden namens Amar? Nicht sehr viel, großer Bruder, meinte Veltan. Narasan hat für den amaritischen Glauben nur Verachtung übrig. Damit steht er nicht allein, Veltan, mischte sich Keselo ein. Jeder im trogitischen Weltreich mit ein wenig Anstand oder Intelligenz verschmäht die amaritische Kirche. Der Klerus ist korrupt, gierig ohne Ende und kennt keinerlei Ehrgefühl. Wie jeder weiß, ist diese >Kirche< nicht mehr als eine Erfindung der Priesterschaft, um den einfachen Leuten des Reiches ihren Besitz abzuschwatzen. Das kommt mir irgendwie bekannt vor, warf Zelana ein. Unsere liebe Schwester hat auch Priester, die sich ähnlich benehmen. Ich zuckte mit den Schultern. Es macht sie eben glücklich, nehme ich an. Daraufhin sah ich Veltan an. Wo ist der Rest von Narasans Armee?, fragte ich. Wenn ich recht verstanden habe, waren die Männer, die er nach Lattash geführt hat, nur eine Vorhut. Der Hauptteil von Narasans Armee befindet sich noch im Hafen von Castano an der Nordküste des Reiches. Warum fragst du, großer Bruder? Die zweite Invasion in Ashads Traum muss etwas mit den Trogiten zu tun haben, denn >Amar< ist eine trogitische Erfindung. Das stimmt allerdings, räumte Veltan ein. Worauf läuft das alles hinaus, Dahlaine? Ich blickte Keselo fragend an. Wenn ich richtig verstehe, sind die meisten Männer in Narasans Armee ähnlicher Meinung über diese so genannte Religion. Ist es möglich, dass einige anders darüber denken, es jedoch für sich behalten? 37
Nicht nach dem, was letztes Jahr im Süden des Imperiums passiert ist, antwortete der junge Soldat. Wir haben zwölf Kohorten als direkte Folge eines Hinterhalts verloren, den wir zu einem hochrangigen Angehörigen des amaritischen Klerus zurückverfolgen konnten. Deshalb hat Kommandant Narasan das Schwert an den Nagel gehängt und ist ins Bettlergeschäft gewechselt. Wenn irgendwer in der Armee auch nur ansatzweise behaupten würde, die amaritische Kirche besäße etwas auch nur von Ferne an Anstand Erinnerndes, würden seine Kameraden ihn grün und blau prügeln. Trotzdem sollten wir die Möglichkeit nicht ganz ausschließen, dass es einen Anhänger gibt, Keselo, meinte Veltan mit besorgter Miene. Wie ich gehört habe, werden die Amariten beim Klang des Wortes >Gold< unglaublich gierig, und wenn ich mich recht entsinne, gab es eine ausgiebige Diskussion über Gold in der Kaserne von Kaldacin. Nur um des Spaßes willen könnten wir einmal annehmen, einige Soldaten eurer Armee hätten in einer Taverne in Castano zufällig das Wort >Gold< fallen lassen, und jemand, der den Amariten nahe steht, hätte es gehört. Würde das nicht die zweite Invasion in Ashads Traum erklären? Es passt einfach nicht recht zusammen, widersprach Keselo. Die amaritische Kirche möchte vielleicht gern im Land Dhrall Fuß fassen, um Gold und Sklaven zu erbeuten, aber sie müsste dazu ganz genau wissen, wie man durch das Treibeis kommt, und Gunda und Padan haben als Einzige Karten über diesen Teil des Meeres. Das stimmt, räumte Veltan ein, allerdings hat Narasan mir gesagt, er könnte hunderttausend Soldaten aufbringen. Da braucht man nur eine einzige undichte Stelle, und jegliche Geheimhaltung ist dahin. Darin liegt sicherlich der Ursprung der zweiten Invasion im Traum deines kleinen Jungen, Dahlaine.
Es wäre zumindest eine Erklärung dafür, stimmte ich zu. Dann sah ich wieder Keselo an. Was genau sind eigentlich >Sklaven, fragte ich ihn. Davon habe ich noch nie gehört. Dann hast du bisher Glück gehabt. In den frühen Tagen des Imperiums war es eine verbreitete Sitte, die Menschen primitiverer 38 Kulturen zu fangen und sie den Landbesitzern des Imperiums zu verkaufen wie Vieh. Dann heuerten die Landbesitzer Männer mit peitschen an, welche die Unglücklichen zur Arbeit auf dem Feld antrieben. Vor hundert Jahren ungefähr kam diese Sitte außer Mode, doch vor einigen Jahrzehnten erkannte die Kirche der Amariten, dass ihr auf diese Weise viel Geld entgeht, und jetzt machen die Sklavenhändler wieder Geschäfte - und die Hälfte von ihnen gehören zum Klerus. Veltan wurde blass. Wenn diese Ungeheuer meiner Domäne auch nur nahe kommen, werde ich sie vernichten*. Nein, Veltan, widersprach ich ihm, das wirst du nicht tun. Töten ist uns ganz und gar verboten, und das weißt du. Wenn du es auch nur versuchst, wirst du verbannt, und diesmal nicht nur auf den Mond. Du wirst den Rest der Ewigkeit an einem Ort verbringen, an dem absolute Dunkelheit herrscht, und die einzigen Geräusche, die du hören wirst, werden deine eigenen Verzweiflungsschreie sein. Bestimmt finden wir eine Alternative, aber wenn du auch nur versuchst, irgendetwas zu töten, werde ich dich fesseln und so fest verknoten, dass du allein vier Zyklen brauchst, um deine Finger von den Zehen zu lösen. Deshalb heuert ihr also eine Armee an!, rief Keselo. Ich habe bisher nie verstanden, warum ihr euch nicht einfach mit einem einzigen Wink eurer Feinde entledigt. Also nur deswegen, weil euch jegliches Töten untersagt ist? Ich möchte, dass du sofort vergisst, was du gerade gehört hast, junger Mann, sagte ich eindringlich zu ihm. Verstehst du mich? Ja, natürlich, ich glaube schon. Gut. Ich sah meinen Bruder an. Du solltest Narasan besser mitteilen, er möge seine Flotte in See stechen lassen, schlug ich vor. In Zelanas Domäne sind wir fertig, demnach ist es an der Zeit, Weiterzuziehen. Ashads Traum war nicht sehr präzise, was den Zeitpunkt angeht, das scheint wohl ein Charakteristikum dieser Träume zu sein. Unsere Träumer können uns viele Einzelheiten von dem zeigen, was passieren wird, aber das Wann ist stets ein wenig vage. 39 Hat Ashad zufällig erwähnt, wo die große Schlacht vermutlich stattfinden wird?, fragte Veltan. Er sagte, in der Nähe der Fälle von Vash, kleiner Bruder. Sehr präzise ist er nicht geworden, und ich wollte ihn nicht bedrängen. Veltan zuckte zusammen. Das ist ein sehr wildes Land dort oben. Den Trogiten wird der Gedanke sicherlich nicht gefallen, in solchem Gelände kämpfen zu müssen. Schlimmer als die Schlucht oberhalb von Lattash kann es wohl kaum werden, oder?, fragte Zelana. Im Vergleich dazu erscheint deine Schlucht wie eine Blumenwiese, liebe Schwester, erwiderte Veltan verdrießlich. Am Ende meines letzten Zyklus war dieser Wasserfall überhaupt noch nicht da. Als ich erwachte, waren die Menschenwesen meiner Domäne darüber sehr aufgeregt. Ich bin mir nicht sicher, weshalb Vash diese Fälle erschaffen hat, doch sind sie ein überaus spektakulärer Anblick. Sie anzuschauen ist allerdings eine Sache, dort oben herumzulaufen eine ganz andere. Mich würde es nicht wundern, wenn Yaltars Zwillingsvulkane eine Folge dessen sind, was er als Vash angestellt hat. Der Fluss, der über die Fälle nach unten stürzt, entspringt in einem Geysir, der hundert Fuß in die Höhe schießt, und dort riecht es stark nach Erdbeben und Eruptionen. Südlich dieses Geysirs befindet sich eine Verwerfung, und die hat eine Steilwand von siebzig Schritt Höhe hinterlassen, ungefähr eine Meile vom Geysir entfernt. Da das Wasser über die Kante fließt, ist es unmöglich, an der Steilwand hochzuklettern, und jeder, der nach dort oben will, muss einen Weg am Wasserfall vorbei suchen. Plötzlich hielt er inne und schnippte mit den Fingern. Ich hätte mir gleich denken können, was kommt!, rief er. Letztes Frühjahr hat Omago mir erzählt, dass irgendwelche Fremden Fragen über die Fälle von Vash stellten. Zu der Zeit hatte ich andere Dinge im Kopf, deshalb habe ich mich nicht weiter darum gekümmert. Offensichtlich schickt das Vlagh schon eine Weile lang Spione in unsere Domänen. Wer ist Omago?, erkundigte sich Zelana. Ein sehr zuverlässiger Kerl, dessen Obstgarten an mein Haus 40
grenzt. Zudem ist er ein guter Zuhörer und weiß mehr über den Ackerbau als jeder andere in meiner Domäne. Die anderen Bauern suchen Rat bei ihm, und sie berichten ihm alles Ungewöhnliche, Jas sich ereignet. Dann leitet er es an mich weiter. Also ist er der Häuptling?, fragte Langbogen. So weit würde ich nicht gehen, Langbogen. Er gibt Ratschläge, keine Befehle. Das läuft doch auf das Gleiche hinaus, nicht wahr? Ein guter Häuptling macht es ebenso. Nur schlechte Häuptlinge kommandieren ihre Männer herum. Glücklicherweise können sie sich für gewöhnlich nicht lange halten. Damit hat er durchaus Recht, Veltan, stimmte ich zu. Vielleicht solltest du diesem Omago Bescheid sagen. Lass ihn wissen, was sich bei euch anbahnt, und er kann es weitererzählen. Dein Volk sollte wissen, dass die Geschöpfe des Ödlands im Anmarsch sind, denn sie müssen sich auf den Krieg vorbereiten. Das ist absurd, Dahlaine, spottete Veltan. Mein Volk weiß nicht einmal, was das Wort >Krieg< bedeutet. Deswegen habe ich schließlich Narasans Armee angeheuert. Omago kann vermutlich dafür sorgen, dass die Soldaten genug zu essen bekommen, mehr wird er für diesen Krieg wohl nicht leisten können. Er lächelte milde. Möglicherweise bekommen wir Schwierigkeiten, die Fremdlinge nach dem Krieg nach Hause zu schicken, wenn wir Ära für sie kochen lassen. Und wer ist Ära?, wollte Zelana wissen. Omagos Frau. Sie ist wunderschön und vermutlich die beste Köchin der Welt. Die Düfte aus ihrer Küche führen manchmal sogar mich in Versuchung. Ach, übrigens, Veltan, unterbrach ich ihn, Aracia und ich würden die Kommandanten der Armeen, die wir angeheuert haben, gern mit in deine Domäne bringen, damit sie die Vorgänge beobachten können. Ich bin sicher, früher oder später müssen sie ebenfalls gegen die Diener des Vlagh antreten, und es wäre vielleicht keine schlechte Idee, wenn sie mit eigenen Augen sehen, was auf sie zukommt. Kein Problem, großer Bruder, sagte Veltan und grinste unverschämt. Ich werde Narasan und Sorgan mitteilen, dass es Zeit zum Aufbruch nach Süden ist, und dann lasse ich mich von meinem Blitz nach Hause bringen, damit ich mich mit Omago unterhalten kann. Im Augenblick ist das alles, was wir tun können. Die ganze Sache schwebt ja noch im Ungewissen, und wir sollten die Dinge erst einmal auf uns zukommen lassen. Hast du nicht wenigstens ein einziges Mal etwas Neues vorzuschlagen?, fragte ich säuerlich. Rückblickend würde ich sagen, das machen wir schon von Anfang an. Von Anfang dieses Krieges an?, wollte Zelana wissen. Ich würde es darauf nicht beschränken, meine Schwester. Wir haben die Dinge stets seit Anbeginn der Zeit auf uns zukommen lassen, oder etwa nicht? Das macht das Leben interessanter, großer Bruder, sagte sie und grinste dabei spitzbübisch. Das Leben wird so langweilig, wenn man immer genau weiß, was passieren wird. Ich entschied mich, darauf nicht zu antworten.
Das Südland
Omagos Vater gehörten die Felder und Obstgärten im Norden von Veltans riesigem Haus, und aufgrund dieser Nähe betrachtete Omago Veltan eher als Nachbarn und weniger als Herrscher - oder Gott. Veltan machte nicht viel Aufhebens um seine Göttlichkeit, und deshalb fühlte sich Omago in seiner Gegenwart stets wohl. Schon in seiner Kindheit hatte Omago die Arbeit in den Obstgärten der Arbeit auf dem Feld vorgezogen, vor allem, weil es in den Obsthainen stets Schatten gab, doch im Frühjahr, während der Blüte, raubte ihm die Schönheit der Bäume regelrecht den Atem. Bald hatte er entdeckt, dass er mit dieser Liebe nicht allein war. Während die Obstbäume in Blüte standen, verbrachte Veltan fast seine ganze Zeit in den Gärten, und in den langen Stunden, in denen sich Veltan und Omago unterhielten, lernten sie sich besser kennen. Ihre Gespräche berührten viele Themen, und ohne es eigentlich zu bemerken, erhielt der junge Omago eine Bildung, die über das langweilige Geschäft von Graben, Säen und Ernten weit hinausging. Veltans Domäne im Süden des Landes Dhrall war zum Beispiel nur ein Teil des gesamten Kontinents. Es gab noch drei andere Domänen, die Veltans Bruder und seinen beiden Schwestern gehörten. Veltans Beschreibungen seiner Verwandten amüsierten Omago, und häufig lachte er schallend über sie. Die Schilderungen der Menschen, die im Norden und Westen lebten, fand er hingegen sehr reizvoll. Er konnte sich nicht vorstellen, sein Leben auf der Jagd zu verbringen. Gelegentlich hatte er sich mit dem Angeln versucht, aber große Erfolge durfte er dabei nicht feiern, und Jagd und Fischen erschienen ihm als sehr unzuverlässige Methoden, sich das 45
tägliche Brot zu sichern. Veltans Beschreibung der urzeitlichen Wälder, der edlen Hirsche mit ihren Geweihen und den in Rehleder gekleideten Jägern weckte dennoch gewisse Sehnsüchte in dem jungen Omago. Hier im Bauernland des Südens gab es wenig Abenteuer zu erleben, denn den Bewohnern kam es in erster Linie auf Beständigkeit an. Beständigkeit war gut für die Landwirtschaft, aber sie war eben nicht besonders aufregend. Veltan erzählte während dieser Frühjahrsgespräche nicht sehr viel über sich selbst, doch Omago hatte schon einiges über seine Eigenheiten gehört. Zunächst kamen die Geschichten der anderen Bauern dem jungen Omago fürchterlich übertrieben vor, doch während er Veltan besser kennen lernte, sah er sich widerstrebend gezwungen, sie trotzdem zu glauben. Nie hatte er beobachtet, wie Veltan etwas aß, und auch die Augen hatte er kein einziges Mal geschlossen. Kurz nach Omagos neuntem Geburtstag kam die Frage nach den Stellvertretergöttern auf. Die beiden saßen im Obstgarten, und ein Windstoß ließ Apfelblütenblätter auf sie herabschneien.
Du musst mir die Frage nicht beantworten, wenn du nicht möchtest, Veltan, meinte Omago ein wenig zögerlich, aber der alte Enkar hat mir erzählt, du seist nicht immer der Gott in diesem Teil von Dhrall gewesen. Er sagte, einstmals hätte sich jemand anders darum gekümmert. Stimmt das, oder wollte er mich einfach nur zum Narren halten? Veltan zuckte mit den Achseln. Es kommt der Wahrheit ziemlich nahe, Omago, antwortete er. Anscheinend schlafen wir nie, doch eigentlich stimmt das nicht. Wir haben ebenfalls Zyklen von Schlafen und Wachen, und nachdem wir lange Zeit auf den Beinen waren, werden wir ein wenig benommen. Wir können uns nicht mehr an alles erinnern und verhalten uns eigenartig. Das ist ein deutliches Zeichen dafür, dass wir Schlaf brauchen - und dann ist es für einen anderen Zweig der Familie an der Zeit aufzuwachen. Die passen dann auf, während wir schlafen. Nun, das ergibt ja durchaus Sinn - irgendwie, meinte Omago. Wie gut kennst du deine Vettern? 46
Vettern? Vettern sind die Kinder der Brüder und Schwestern der Eltern, erklärte Omago. Hast du das nicht mit >Zweig der Familie< gemeint? Doch, das passt ganz gut, jetzt wo du es sagst. Das muss ich mir merken. Hast du manchmal Gelegenheit, dich mit ihnen zu unterhalten? Ich spreche nicht im Schlaf, Omago. Im Prinzip kenne ich von meinem Vetter nur den Namen - und das vermutlich auch nur, weil es oben in den Bergen einen Wasserfall gibt, der nach ihm benannt ist. Hast du schon einmal von den Fällen von Vash gehört? Ja, allerdings bin ich nie da gewesen. Hat dein Vetter den Wasserfall erschaffen? Ich kann es dir nicht sagen, Junge. Als ich das letzte Mal aufgewacht bin, konnten die Menschen hier in der Gegend noch nicht so gut sprechen, und so habe ich von ihnen lediglich den Namen erfahren. Veltan hielt kurz inne. Vielleicht sollte ich dir vorerst einmal nicht mehr erzählen. Wenn du das verdaut hast, was du heute gehört hast, kannst du wiederkommen und mir weitere Fragen stellen, falls du möchtest. Das könnte eine Weile dauern, gab Omago zu. Vielleicht sollte ich mir meine Fragen reiflicher überlegen. Die Antworten sind mir immer ein bisschen unheimlich. Du wirst dich schon daran gewöhnen, Junge. Neugier ist eine gute Sache, man sollte nur ein wenig vorsichtig damit umgehen. Ist mir auch schon aufgefallen, stimmte Omago zu. Ist mir schon aufgefallen, dass es dir aufgefallen ist, sagte Veltan, und nichts in seiner Miene deutete auf ein Lächeln hin. Während Omago heranwuchs, fiel den anderen Bauern auf, wie gut er mit Veltan bekannt war, und das hielten sie für ausgesprochen nützlich. Ihnen fiel es leichter, bei Omago vorbeizuschauen und ihm alles zu erzählen, als zu Veltans Haus auf dem Hügel zu 47
gehen und es ihrem Gott persönlich zu berichten. Veltan machte zwar kein großes Aufhebens um seine Göttlichkeit, jedoch immerhin... Mit der Zeit wurde es fast zu einer Tradition. Jeden Tag kamen zwei oder drei Bauern zu Omago und erzählten ihm das, was Veltan ihrer Meinung nach wissen sollte, und wenn sich der Tag zum Ende neigte, trottete Omago zu Veltans einzigartigem Haus auf dem Hügel und gab die Neuigkeiten an den Lokalgott weiter. Omago betrachtete Veltan nicht wirklich als Gott, sondern eher als Freund. Im Laufe der Zeit genoss er diese täglichen Unterhaltungen immer mehr. Sie bildeten einen wunderbaren Tagesabschluss, und schließlich kehrte er jeden Abend bei Veltan ein, auch wenn er nichts zu berichten hatte. Die Jahreszeiten nahmen gemessen ihren Gang, und es erschien Omago, als verändere sich das Bauernland in der Umgebung von Veltans prachtvollem Haus im Rhythmus dieser Jahreszeiten. Er hatte gehört, dass die Menschen weit, weit im Süden in Städten lebten, doch fand er es stets ein wenig lächerlich, Menschen an einem Ort zusammenzupferchen. Der Hof seines Vaters umfasste viele Morgen Land und erstreckte sich über sanft geschwungene Hügel, wo jede Pflanze ihren Platz hatte Weizen im Westen und Süden, Gemüse im Norden, und der Obstgarten im Osten des im Schatten von Bäumen liegenden Hauses. Einige der Bauern glaubten offensichtlich, Schatten spendende Bäume seien Zeit- und Platzverschwendung - allerdings nur bis zum Mittsommer, wenn es heiß wurde und die Sonne ohne Erbarmen vom Himmel herunterbrannte. In dieser Gegend standen die strohgedeckten Häuser weit auseinander, und jedes befand sich ungefähr
im Zentrum des zugehörigen Ackerlandes. Das erschien Omago ausgesprochen praktisch. Das Tageslicht sollte man für die Arbeit nutzen, nicht zum Spazierengehen. Bis zu seinem einundzwanzigsten Geburtstag hatte Omago alle Bauern der Umgebung kennen gelernt, und er erzählte Veltan, was er von ihnen hielt und was sie ihm anvertraut hatten. 48
Ich würde die Sachen, mit denen Selga ankommt, nicht so ernst nehmen, Veltan, sagte er eines Abends. Ach? Selga hat da ein Problem. Er ist nicht besonders groß, und viele Leute übersehen ihn einfach. Dabei will er unbedingt bemerkt werden, und deshalb besucht er mich fast jeden Tag, um mir etwas zu erzählen - irgendetwas -, das ich an dich weiterleiten soll. Dann tue ich immer so, als habe er mir etwas sehr Wichtiges berichtet, das ich dir ganz bestimmt erzählen würde, sobald ich Gelegenheit finde, und versichere ihm, dir gegenüber zu erwähnen, dass er mich darauf aufmerksam gemacht hat. Danach fühlt er sich viel besser. Wie traurig, seufzte Veltan. Omago zuckte mit den Achseln. Jeder hat sein Päckchen zu tragen, Veltan. Deswegen braucht man nicht gleich in Tränen auszubrechen. Die Leute kommen und gehen. Das weißt du doch auch, oder? Manchmal bist du richtig grausam, Omago. Ich mache die Regeln nicht, ich halte mich nur daran, Veltan. Wie geht es deinem Vater in letzter Zeit? Diese Frage erschreckte Omago. Wie sehr er sich bemühte, vor seinem Freund etwas zu verbergen Veltan durchschaute ihn doch immer. Es wird nicht besser, fürchte ich, antwortete er traurig. Oft kann er sich nicht mehr an seinen eigenen Namen erinnern. Ständig fragt er nach Mutter. Ich glaube, er hat vergessen, dass sie letztes Jahr gestorben ist. Tut mir wirklich Leid, Omago, sagte Veltan aufrichtig. Ich wünschte, ich könnte ihm irgendwie helfen. Ich denke, das solltest du nicht tun, Veltan. Vater ist so müde, und wenn wir ihn noch länger hier behalten, wird er nur immer trauriger. Warum lassen wir ihn nicht einfach gehen? Das wäre vielleicht das Beste, was wir für ihn tun können. Was machst du da?, rief eine volltönende Frauenstimme hinter ihm, als Omago im nächsten Frühjahr wieder seinen Obstgarten besuchte. 49
Omago zuckte zusammen und fuhr herum. Tut mir Leid, entschuldigte sich die Frau. Ich wollte dich nicht erschrecken. Warum pflückst du denn diese grünen Äpfel? Sie war ziemlich groß, hatte langes kastanienbraunes Haar, sanfte grüne Augen und trug ein blaues Leinenkleid. Omago lächelte. Apfelbäume lassen sich im Frühjahr immer zu sehr hinreißen, erklärte er. Sie wollen unbedingt ganz viel Nachwuchs haben. Wenn ich die kleinen Apfelchen nicht ausdünne, werden sie im Herbst nicht größer als Eicheln sein. Das habe ich den Bäumen auch schon erklärt, aber sie wollen einfach nicht auf mich hören. Es ist wirklich schwierig, ihre Aufmerksamkeit zu erringen, vor allem im Frühjahr. Du bist Omago, nicht wahr? So nennt man mich. Du bist ein wenig jünger, als ich dachte. Aber du bist doch der gleiche Omago, zu dem die Leute gehen, wenn sie Veltan etwas mitteilen wollen, oder? Omago nickte. Willst du ihm auch etwas mitteilen? Nicht sofort eigentlich, nein. Ich wollte nur sichergehen, dass ich dich erkenne, falls es notwendig wird, dass ich ihm etwas mitteile. Du könntest auch zu seinem Haus gehen und es ihm selbst erzählen, weißt du. Vielleicht, aber man hat mir gesagt, er würde dir aufmerksamer zuhören, wenn du ihm die Sachen erzählst. Woher kennst du ihn so gut? Er kommt häufig in diesen Obstgarten zur Zeit der Blüte. Ein blühender Obstgarten ist schöner als jeder Blumengarten. Früher war es der Garten meines Vaters, und ich war noch ein Junge. Veltan und ich haben uns stundenlang unterhalten, daher kenne ich ihn vermutlich besser als alle anderen Leute hier in der Gegend. Aus diesem Grund haben die Bauern wohl entschieden, mich zu ihrem Gesandten zu machen. Du kommst nicht aus der Umgebung, wie?
Sie schüttelte den Kopf. Nein. Ich lebe nicht hier in der Gegend. Mein Beileid für den Tod deines Vaters. Omago zuckte mit den Achseln. Es hat uns nicht allzu sehr überrascht. In den letzten Jahren stand es nicht mehr so gut um seine Gesundheit. Du hast zu tun, sagte sie, und ich bin dir nur im Weg. War schön, dich kennen gelernt zu haben. Sie drehte sich um und wollte davongehen. Wie heißt du?, rief er ihr hinterher. Ära, erwiderte sie über die Schulter. Aus irgendeinem Grund ging Omago das fremde Mädchen nicht mehr aus dem Sinn. Eigentlich wusste er gar nichts über diese Ära. Sie hatte ihm nicht einmal freiwillig den Namen genannt, sondern erst, als er sie gefragt hatte. Offensichtlich war sie einige Jahre jünger als er, dennoch benahm sie sich ganz und gar nicht jugendlich. Sie hatte ihm einiges aus der Nase gezogen und selbst nicht viel preisgegeben. Er versuchte, sie mit einem Achselzucken abzutun, doch ständig erinnerte er sich an ihr kurzes Gespräch, und es war nicht nur das Gespräch. Sie war bei weitem das schönste Mädchen, das er je gesehen hatte. Ihr üppiges kastanienbraunes Haar erinnerte ihn an den Herbst, und ihre lebendige, volltönende Stimme klang in seinen Ohren weiter. Er verspürte den verzweifelten Drang, mehr über sie herauszufinden. Es war Frühjahr, und eigentlich hatte er sehr viel zu tun, doch gelang es ihm nicht, seine Aufmerksamkeit auf die Arbeit zu richten. Ich kann an gar nichts anderes mehr denken, Veltan, gestand er ein paar Tage später. Veltan lächelte. Hält sie sich noch in der Gegend auf?, fragte er. Das habe ich jedenfalls gehört, erwiderte Omago. Ich selbst habe sie zwar nicht gesehen, aber einige der Bauern. Alle erzählen mir, sie würde eine Menge Fragen stellen - und zwar hauptsächlich über mich. Du glaubst doch nicht, sie könnte vielleicht einfach wieder nach Hause gehen? Sie hat mir nicht einmal den Namen ihres Dorfes verraten. Wie in aller Welt soll ich sie jemals finden? Ich würde mir darüber nicht so viele Sorgen machen, Omago. Sie geht nicht fort. Woher weißt du das so genau? Veltan grinste nur breit, sagte jedoch nichts. Ich denke, es ist Zeit für uns, Omago, endlich zur Sache zu kommen, sagte die volltönende Stimme ziemlich entschlossen". Omago ließ seine Hacke fallen und fuhr herum. Wo warst du, Ära?, fragte er. Ich habe überall nach dir gesucht. Ja, ich weiß. Weder du noch ich werden wieder ein normales Leben führen können, ehe wir diese Angelegenheit nicht hinter uns gebracht haben. Ich heiße Ära, bin sechzehn Jahre alt und will dich. Omago fehlten die Worte. Sind bei euch im Dorf alle so rundheraus, Ära? Vermutlich nicht, gab sie zurück, aber ich verschwende nicht gern meine Zeit. Bist du interessiert? Ich kann an nichts anderes mehr denken als an dich, gestand er.
Gut. Gibt es noch etwas, über das wir reden sollten, ehe ich zu dir ziehe? Ich ... ich weiß nicht. Bis jetzt habe ich mir über solche Dinge nie Gedanken gemacht. Das ist süß, sagte sie und lächelte schelmisch. Komm, lass uns zu Veltan gehen und mit ihm die ganze Angelegenheit besprechen. Wenn es irgendeine Zeremonie geben soll, bringen wir sie hinter uns. Ich brauche noch ein wenig Zeit, um das Abendessen für dich zu kochen. Also heirateten Omago und Ära in diesem Frühjahr, und Omagos Leben war danach nicht mehr dasselbe. Eigentlich fand er nie viel über sie heraus, doch während die Jahreszeiten ins Land zogen, wurde es immer weniger wichtig. Die wunderbaren Gerüche, die aus ihrer Küche drangen, schläferten seine Neugier ein, weckten dafür jedoch seinen Appetit. In einer stürmischen Frühlingsnacht ungefähr zehn Jahre nach der Heirat von Omago und Ära stand Veltan bei ihnen vor der Tür. Omago schien es, als sei sein Freund der Panik nahe. Ich brauche Hilfe bekannte Veltan verzweifelt. Was gibt es für ein Problem?, fragte Omago. Das hier, antwortete Veltan und hielt ihm ein Fellbündel hin. Mein großer Bruder ist vorbeigekommen und hat mir das hier aufgehalst, und ich habe nicht die leiseste Ahnung, was ich damit anstellen soll. Er zog die Robe zurück und enthüllte einen Säugling. Ich glaube, es muss essen, aber ich habe keine Ahnung, was.
Ära nahm dem entgeisterten Gott das Kind ab und wiegte es im Arm. Ich werde mich um ihn kümmern, Veltan, sagte sie. Anscheinend hat er gar keine Zähne, Ära, meinte Veltan. Wie kann er ohne Zähne essen? Ich werde mich um ihn kümmern, wiederholte sie. In der Nähe wohnen einige Frauen, die gerade stillen. Sicherlich kann ich sie überreden, deinen kleinen Jungen zu füttern. Stillen?, fragte Veltan neugierig. Was ist Stillen? Du liebe Zeit, sagte Ära und verdrehte die Augen gen Himmel. Geh nur einfach nach Hause, Veltan. Ich sorge für den Kleinen. Sind sie immer so klein?, wollte Veltan noch wissen. In diesem Zustand habe ich noch keinen gesehen. Geh nach Hause, lieber Veltan. Alles wird gut werden. Ich fühle mich wie ein Idiot, gestand Veltan. Mein Bruder klopft an meine Tür, sagt mir, dieser kleine Junge sei einer der Träumer, und dann ist er wieder verschwunden, ohne mir viel zu erzählen. Um Kinder habe ich mich noch nie viel gekümmert und ich weiß gar nichts über sie. Irgendwann bekommt er doch auch Zähne, oder? Er wird sich prächtig entwickeln, Veltan. Geh heim - sofort. Gebieterisch zeigte Ära auf die Tür. 53
Im Lauf der nächsten Monate fand Omago nicht sehr viel Schlaf. Säuglinge neigen dazu, recht laut zu sein, erkannte er, und Veltan stand stets im Weg, wann immer Omago sich umdrehte. Ihm kam der Einfall, dass es möglicherweise an der Zeit sei, seiner Hütte einen Raum hinzuzufügen - oder zwei oder drei. Also begann er, Lehm und Stroh zu mischen, um Sonnengetrocknete Ziegel zu formen, mit denen man in Veltans Domäne üblicherweise "baute. Allerdings würde er auch das Dach erweitern müssen, was jedoch kein großes Problem darstellen würde. Im Westen und Süden seines Obstgartens hatte er ausgedehnte Weizenfelder, und so würde ihm nach der Ernte ausreichend Stroh für das Dach zur Verfügung stehen. Veltan unterhielt sich lange mit Ära, und die beiden entschieden, Yaltar sei ein passender Name für den jungen Träumer. Omago war sich nicht ganz darüber im Klaren, woher der Begriff Träumer stammte, aber er hatte genug andere Dinge im Kopf, um darüber lange zu grübeln. Yaltar begann in Omagos Hütte herumzulaufen, bevor er ein Jahr alt war, doch konnte er noch nicht sprechen. Es kostete Ära einige Mühe, dies Veltan zu erklären. Sprechen lernen ist das Wichtigste, was ein Kind während seiner ersten Jahre tut, sagte sie zu ihm. Ich dachte, das könnte es einfach, protestierte Veltan. Ich habe bislang keins gesehen, das von Geburt an sprechen konnte, gab Ära zurück. Vögel können doch auch ohne große Hilfe trillern und zwitschern. Die Sprache der Menschen ist eben ein wenig komplizierter, lieber Veltan, erinnerte Ära ihn. Ich schätze, Menschen könnten mit Trillern und Zwitschern nicht sehr viel ausdrücken. Nun ... Veltan behagte es nicht, wie viele Probleme so ein kleiner Junge aufwarf. Ich weiß nicht, warum Dahlaine mir den Jungen gebracht hat, ehe er überhaupt richtig funktioniert. Betrachte es als neue Erfahrung, Veltan. Du wirst die Menschen viel besser verstehen, nachdem du Yaltar von früher Kindheit an er54
zogen hast. Ära lächelte. Macht es nicht sehr viel Spaß?, fragte sie ihn. Im Augenblick habe ich nicht sehr viel Spaß daran, nein. Der wird sich später bestimmt einstellen, lieber Veltan. Allerdings möchte ich dafür nicht meine Hand ins Feuer legen. Als Yaltar ungefähr drei Jahre alt war, nahm Veltan ihn jeden Tag für ein paar Stunden mit in das Steinhaus auf dem Hügel, verließ sich jedoch weiterhin auf Ära, was das Sauberhalten und die Ernährung des kleinen Jungen betraf. Ist es wirklich notwendig, dass er so oft isst?, fragte Veltan Omagos Frau eines Abends. Du isst Licht, nicht wahr?, fragte sie zurück. Nun, ich würde es nicht direkt >essen< nennen, Ära, antwortete Veltan. Also gut, sagen wir >absorbieren<. Die Sonne scheint jeden Tag mehrere Stunden, also kannst du viel mehr Zeit mit dem Aufsaugen von Licht verbringen als Yaltar mit Essen, oder? . Nun, aus diesem Blickwinkel habe ich die Sache bisher nicht betrachtet, räumte Veltan ein. Du solltest aber darüber mal eingehend nachdenken, lieber Veltan. Wenn du jeden Tag so viel Licht aufnimmst, wirst du irgendwann fett werden, und ich schätze, den Menschen deiner Domäne wäre das nicht recht. Niemand nimmt einen fetten Gott ernst, das weißt du.
Veltan runzelte leicht die Stirn und strich sich unwillkürlich über den Bauch. Ich wollte nur ein wenig sticheln, lieber Veltan, sagte Ära und lächelte ihn liebevoll an. Wenn du an Körperfülle zunimmst, halte dich einfach ein wenig von der Sonne fern. Sie betrachtete Yaltar, der sich ganz auf sein Essen konzentrierte. Hat er schon geträumt?, fragte sie leise. Bis jetzt hat er nichts erwähnt, meinte Veltan. Dann warf er Ära einen erschrockenen Blick zu. Woher weißt du darüber Bescheid? 55
Aus den alten Geschichten, lieber Veltan, und die alten Männer erzählen diese alten Geschichten sehr gern. In meinem Dorf erzählten sie stets stundenlang über die Träumer. Wenn ihre Geschichten auch nur entfernt dem nahe kommen, was tatsächlich geschieht, sollte Yaltar bald zu träumen anfangen, und das wäre ein deutliches Zeichen dafür, dass Ärger im Anmarsch ist. Darüber wirst du sicherlich mit deinem großen Bruder sprechen wollen. Sobald Yaltar allerdings anfängt, diese besonderen Träume zu haben, solltest du keinen großen Wirbel darum machen. Erschrick den Jungen nicht. Wenn du ihn verängstigst, bekommt er vielleicht Schwierigkeiten mit dem Einschlafen, und wenn er nicht schläft, träumt er nicht. Das willst du doch nicht, oder? Nicht im Mindesten, stimmte Veltan zu. Du kennst dich in solchen Dingen sehr gut aus. Das ist eine Begabung, erwiderte sie. Dann lachte sie ohne einen für Omago ersichtlichen Grund. Yaltar verbrachte mehr und mehr Zeit bei Veltan in dem Haus auf dem Hügel, und Ära brachte ihm die Mahlzeiten dorthin. Na, Ära, vermisst du ihn sehr?, fragte Omago sie. Ja, schon. Allerdings tut er das, was er tun sollte, daher werde ich mich nicht einmischen. Was möchtest du heute Abend essen, Omago? Alles, was du kochen möchtest, antwortete Omago. Überrasche mich. Er grinste sie an. Sehr lustig, gab sie schnippisch zurück. Nicht lange nach Yaltars sechstem Geburtstag schaute Veltan eines Morgens herein und teilte Omago und Ära mit, dass er dringend für einige Wochen verreisen müsse. Geh nur, Veltan, sagte Omago. Wir werden schon auf Yaltar aufpassen. Ich wusste, auf euch kann ich mich verlassen, meinte Veltan. Und damit brach er eilig auf. Ära runzelte die Stirn, sagte jedoch nichts. Nanton war ein großer bärtiger Schäfer mit einer großen Herde, die auf den Wiesen oberhalb der Fälle von Vash weidete. Nanton ging selten hinunter zu den Bauern, denn die Gefräßigkeit seiner Schafe machte diese stets sehr nervös. Sie stellen einen Haufen Fragen, die nichts mit dem zu tun haben, woran sie eigentlich interessiert sein sollten, Omago, berichtete Nanton leise. Sie behaupten, Händler aus Aracias Domäne zu sein, doch soweit ich sehen konnte, haben sie nichts, um Handel zu treiben. Warum auch sollten sich Händler oben in den Bergen herumtreiben?, fragte Omago und runzelte verwirrt die Stirn. Genau. Die einzigen Menschen dort oben sind Hirten wie ich, und wir brauchen diesen wertlosen Schmuck nicht, den die Händler aus dem Osten dummen Bauern und ihren Frauen aufschwatzen wollen. Da ist übrigens noch etwas. Ja? Die sehen nicht aus wie richtige Menschen. Sie sind sehr klein, und sie tragen graue Kleidung - mit Kapuzen, die den größten Teil ihres Gesichtes verbergen - und sie murmeln. Murmeln? Sie sprechen nicht deutlich, und sie lispeln alle auf die gleiche Weise. Eigenartig. Du sagst, sie stellen Fragen. Was für Fragen? Darüber, wie viele Menschen in der Nähe der Fälle von Vash leben. Ich fand, das ginge sie überhaupt nichts an, deshalb habe ich sie belogen. Nanton!, rief Omago. Werde mal erwachsen, sagte Nanton. Mir stieg der starke Geruch von >Unfreundlichkeit< in die Nase, also habe ich dafür gesorgt, dass sie sich ein bisschen Sorgen machen können. Ich habe behauptet, Tausende von uns würden durch diese Berge wandern, und dass wir alle schwer bewaffnet seien. Zuerst habe ich überlegt, ob ich ihnen mal schnell zeige, wie ich mit meiner Schleuder umgehen kann, aber dann habe ich entschieden, sie ihnen lieber nicht vorzuführen. Wenn meine Nase sich in Bezug auf die >Unfreund57
lichkeit< nicht geirrt hat, sollten sie so wenig wie möglich über uns erfahren. Damit könntest du Recht haben. Haben sie dir noch andere Fragen gestellt? Nichts, das viel Sinn ergeben hätte. Aus irgendeinem Grund schienen sie zu glauben, Veltan und seine Schwester Zelana würden sich hassen, und ihr und unser Volk würden ständig Krieg gegeneinander führen. Ich habe meine Antwort so vage gehalten wie möglich und erzählte ihnen, über die Jahre hinweg hätte ich Dutzende von Feinden getötet. Natürlich habe ich nicht erwähnt, dass es sich bei diesen Feinden um Wölfe handelte, nicht um Menschen, daher nehme ich an, sie haben es geschluckt. Ist Veltan noch lange auf Reisen? Ich weiß es nicht genau, Nanton. Er hat sich nicht klar darüber geäußert. Omago runzelte die Stirn. Wo weidet deine Herde im Moment? Oben in den Hügeln. Mein Neffe hütet sie, während ich unterwegs bin. Du wirst nicht so bald wieder mit deinen Schafen ins Gebirge zurückkehren, oder? Nicht, ehe der Schnee geschmolzen ist und ich die Tiere geschoren habe. Meine Herde hat im letzten Winter sehr viel Wolle produziert. Gut. Für gewöhnlich lässt du die Herde in der Nähe der Fälle von Vash weiden, nicht wahr? Fast immer. Dort gibt es gutes Gras und viel Wasser. Halte Ausschau nach diesen Fremden. Und falls sie wieder auftauchen sollten, wäre ich dir sehr dankbar, wenn du mir deinen Neffen herunterschickst. Veltan sollte umgehend darüber Bescheid wissen. Ich werde gut aufpassen, Omago. Nanton zog seinen Gürtel zurecht. Jetzt mache ich mich besser wieder auf, meinte er. In der Nähe meiner Herde gibt es eine junge Schäferin, und mein Neffe könnte leicht von seiner Hütearbeit abgelenkt werden. So etwas kommt in letzter Zeit häufig in dieser Gegend vor, 58 sagte Omago, doch seine Miene zeigte nicht die geringste Andeutung eines Lächelns. Ich glaube, es mag mit dem Frühling zu tun haben, und der ist schließlich nicht mehr fern. Nanton zuckte mit den Schultern. Jedenfalls würde sich ohne den Frühling die Herde nicht vergrößern, schätze ich. Sprechen wir jetzt über Menschen oder über Schafe? Über beide Herden vermutlich. Solange es genug Weiden gibt, ist es doch wunderbar. Kleine Kinder sind fast so hübsch wie Lämmer, und wenn sie groß sind, können wir sie arbeiten lassen. Schönen Tag noch, Omago. Damit drehte er sich um und ging davon. Du solltest besser Veltan davon erzählen, Omago, schlug der kleine Flachsbauer Selga vor. Die gehören nicht hierher, und die reden so seltsam. Ach?, fragte Omago. Was meinst du mit >seltsam<, Selga? Für mich hörte es sich so an, als wären ihrer Zunge beim Sprechen die Zähne im Weg. Ich glaube, das nennt man lispeln. Jedenfalls sind sie sehr klein. Ich bin ja selbst nicht der Größte, aber sie reichten mir kaum bis zur Schulter, und diese grauen Kapuzenmäntel sind weder aus Leinen noch aus Wolle gewebt, sondern aus etwas ganz anderem. Sie stellen alle möglichen eigentümlichen Fragen über Dinge, die sie überhaupt nichts angehen, also habe ich ihnen auch keine aufrichtigen Antworten gegeben. Du solltest Veltan darüber in Kenntnis setzen. Wenn diese winzigen Fremdlinge uns Schwierigkeiten machen wollen, haben sie von mir jedenfalls wenig Hilfe erhalten. Das wird Veltan sicherlich begrüßen, Selga. Hast du zufällig gesehen, aus welcher Richtung sie kamen? Soweit ich sagen kann, aus den Bergen in der Nähe der Fälle von Vash. Wenn ich noch einmal welche treffe, werde ich sie danach fragen. Sag Veltan, ich würde die Augen offen halten und versuchen, so viel wie möglich über sie herauszufinden. Das wird er sicherlich begrüßen, Selga. 59
Omago war sicher, dass Veltan über diese Fremden Bescheid wissen sollte, also ging er an jenem Abend vor dem Essen in der Dämmerung zu Veltans Haus hinüber, um sich mit Yaltar zu unterhalten. Er trat ein, stieg die Steintreppe hinauf und klopfte an der Tür des kleinen Jungen. Ich bin's, Yaltar, rief er. Yaltar öffnete die Tür. Komm rein, Omago. Hast du eine Ahnung, wann er wieder da sein wird?, fragte Omago und betrachtete mit einer gewissen Strenge das ungemachte Bett und die Unordnung im Zimmer.
Er hat es nicht genau gesagt, Omago, antwortete der Junge. Vermutlich hat er einiges zu erledigen. Sobald er nach Hause kommt, sag ihm bitte, ich müsse mit ihm sprechen, Yaltar, trug Omago dem kleinen Jungen auf. In letzter Zeit sind hier in der Gegend einige seltsame Dinge vorgefallen, und darüber sollte er besser Bescheid wissen. Ich sage es ihm ganz bestimmt, Omago, versprach der Junge und spielte mit einem eigenartigen Stein herum, der an einem Lederband um seinen Hals hing. Wo hast du denn diesen Opal gefunden, Yaltar?, fragte OmaDraußen vor der Tür, erzählte Yaltar. Ist er nicht hübsch? Wunderschön, stimmte Omago zu. Seltsam nur, dass du ihn einfach so gefunden hast. Soweit ich weiß, gibt es hier in der Umgebung keine Opale. Vielleicht ist er herumgewandert und hat sich verirrt - oder vielleicht war ihm einsam zumute. Steine fühlen sich fast nie einsam, Yaltar. Ära bereitet gerade das Abendessen zu. Komm doch mit, dann können wir gemeinsam essen. Hört sich ganz wundervoll an, Omago. Veltan kehrte ungefähr eine Woche später nach Hause zurück und schaute recht früh am Morgen bei Omago vorbei. Yaltar sagt, du wollest mir etwas mitteilen, meinte er. Und es könnte wichtig sein. 60
Das könnte es in der Tat, bestätigte Omago. Die Leute aus der Nachbarschaft haben mir erzählt, dass sich in letzter Zeit Fremde in der Gegend herumtreiben. Diese behaupten, sie seien Händler aus der Domäne deiner Schwester Aracia, aber sie beherrschen kaum unsere Sprache und haben nichts bei sich, womit sie Handel treiben könnten. Eigentlich stellen sie immer nur Fragen. Was für Fragen? Der Schäfer Nanton ist in den Hügeln auf sie gestoßen, und sie wollten Auskünfte über das Land oben bei den Fällen von Vash. Sie erkundigten sich, wie viele Menschen dort oben wohnen und ob sie Waffen haben. Nanton erzählte ihnen, er habe schon viele Feinde getötet. Er meinte natürlich Wölfe, aber er sagte einfach >Feinde< und beließ es dabei. Nanton kann sehr gut mit der Schleuder umgehen, aber das hat er ihnen nicht auf die Nase gebunden. Für Fremde hat er nicht viel übrig, und deshalb hat er ihnen nicht die ganze Wahrheit erzählt. Gut, lobte Veltan. Selga hatte ebenfalls eine Begegnung mit ihnen. Ich glaube, nachdem Nanton mit ihnen gesprochen hatte. Selga hat sich zunächst gefreut, als er sie gesehen hat. Er ist der kleinste Mensch, den ich kenne, und diese Fremden waren noch kleiner. Eknor und Benkar sind ebenfalls welchen begegnet, und sie haben mir berichtet, die Fremden wollten unbedingt wissen, wie gut du dich mit deiner Schwester Zelana verstehst. Ich habe das Gefühl, ihnen wäre ein wenig Zwist zwischen euch lieber. Das ist absurd! Ich gebe nur weiter, was ich gehört habe, Veltan. Ich dachte, du solltest es erfahren. Da muss ich sogleich mit meinem Bruder sprechen, sagte Veltan. Halt die Ohren offen, und falls es weitere dieser Besuche geben sollte, berichte mir bei meiner Rückkehr davon. Das werde ich tun, versprach Omago. Die Schneeschmelze führte in diesem Frühjahr fast zu einer Katastrophe. Der Schnee in den Bergen lag viel höher als gewöhnlich, 61
und der Frühlingswind, der ihn tauen ließ, war dieses Jahr nicht nur warm; er war regelrecht heiß. Alle Bäche, die aus den Bergen kamen, liefen des Nachts über, und dann kam das Hochwasser. Um die Sache noch zu verschlimmern, waren Veltan und Yaltar nicht da, also konnte niemand die Flut eindämmen, und den Bauern blieb nichts anderes übrig, als händeringend zuzuschauen, wie das Wasser ihre Felder überschwemmte. Die Schäfer, die gewöhnlich ihre Herden in der Region westlich der Fälle von Vash weideten, brachten die Nachricht über großes Ungemach in der Domäne von Veltans Schwester Zelana, aber sie hatten nicht viele Einzelheiten erfahren. Als die Flut langsam sank, kamen weitere Schäfer durchs Land, doch ihre Geschichten über die Ereignisse in Zelanas Domäne waren so unheimlich, dass Omago sie mit einer gehörigen Portion Skepsis betrachtete. Dann riss eines Nachts nach Beginn der Apfelblüte ein Donnerschlag Omago aus tiefstem Schlaf. Veltan ist zurück, mein Lieber, sagte Ära. Ich denke, wir sollten besser hoch zu seinem Haus gehen. Er müsste uns doch erzählen können, was in der Domäne seiner Schwester vor sich geht.
Da hast du sicherlich Recht, Ära, stimmte Omago zu. Die wilden Geschichten der Schäfer haben mich schon ganz nervös gemacht. Ich begleite dich, Herzliebster, sagte Ära rasch. Ich bin genauso gespannt wie du. Das kam Omago ein wenig eigenartig vor, doch dachte er nicht lange darüber nach. Sie stiegen also aus dem Bett, zogen sich an und gingen durch die warme Frühlingsnacht den Berg hinauf. Dort angekommen, erwartete Veltan sie bereits in der Tür. Ich hatte gehofft, ihr würdet vorbeischauen, sagte er. Tretet ein. Ich habe euch eine Menge zu erzählen und nicht sehr viel Zeit. Schön, dass du wieder zu Hause bist, Veltan, sagte Omago, während er und Ära hinter Veltan die Treppe hinauf zu dem Zimmer stiegen, in dem Yaltar den größten Teil seiner Zeit verbrachte. 62
Die Schäfer an der Grenze zur Domäne deiner Schwester haben mir wilde Geschichten erzählt, und ich wüsste zu gern, was dort oben tatsächlich vor sich geht. Du willst es vielleicht gern wissen, meinte Veltan trocken, aber ich schätze, es wird dir nicht allzu gut gefallen. Sie betraten das unaufgeräumte Zimmer, und Ära blickte sich um. Wo ist Yaltar?, fragte sie. Im Augenblick in der Obhut meiner Schwester, erwiderte Veltan. Ich finde, er ist noch nicht so weit, auf meinem Blitz mitzureiten. Klingt vernünftig, meinte Ära. Also gut, sagte Veltan, wie sich herausgestellt hat, ist Yaltar wirklich einer dieser Träumer, und sein Traum hat uns einen Blick in die Zukunft gewährt. Die Wesen des Ödlands sind in Zelanas Domäne einmarschiert, aber Yaltars Traum gab uns Zeit zur Vorbereitung. Zelana ist nach Westen aufgebrochen und hat eine Armee von Maagpiraten angeheuert, die den Krieg in ihrer Domäne austragen, und ich bin nach Süden gegangen und habe Berufssoldaten in Dienst gestellt, die uns helfen werden, unseren Teil des Landes von Dhrall zu verteidigen. Eine Vorausabteilung der trogitischen Soldaten habe ich in Zelanas Domäne geschickt, damit sie sich da nützlich machen können. Davon haben mir einige Schäfer berichtet, sagte Omago. Ich dachte, sie hätten sich die Geschichte ausgedacht. Nein, Omago, das alles stimmt tatsächlich. Die Fremdlinge sind fortschrittlicher als wir, ihre Waffen sind aus Eisen gefertigt oder in einigen Fällen aus Bronze. Alle Werkzeuge und Waffen hier im Lande Dhrall sind aus Stein oder Tierknochen gemacht, aber Metallwaffen sind wesentlich besser. Veltan zog ein Messer aus dem Gürtel und reichte es Omago. Das ist ein Eisenmesser, und sicherlich bemerkst du sofort, wie viel stabiler als Feuerstein oder Knochen es ist. Omago nahm das seltsam aussehende Messer und strich vorsichtig mit dem Daumen über die Schneide. Äußerst scharf, stellte er fest. Richtig, stimmte Veltan zu. Hat das Hochwasser großen Schaden bei euch angerichtet? Es hätte schlimmer kommen können, nehme ich an, erzählte Omago. Eine Anzahl Leute haben ihre Häuser verloren, und ich habe gehört, im Süden sollen einige Menschen ertrunken sein. Inzwischen fällt das Wasser, also werde ich wohl in Kürze genauere Zahlen erfahren. Diese Flut war vermutlich ziemlich schlimm, nur aber leider unbedingt notwendig. Die Diener des Vlagh sind in die Domäne meiner Schwester einmarschiert, und Zelanas Träumerin hat diese Flut beschworen, um die Feinde aufzuhalten, bis unsere angeheuerten Armeen bereit waren, sich ihnen zu stellen. In diesem Hochwasser sind Tausende Diener des Vlagh umgekommen, und das Vlagh musste neue Armeen aus dem Ödland schicken. Die feindlichen Streitkräfte wollten durch eine Schlucht einfallen, und unseren Kämpfern ist es gelungen, ihnen den Weg zu versperren. Wir können allerdings kaum abschätzen, wie lange der Gegner weiter versuchen wird, durchzubrechen. Diese Soldaten haben nicht sehr viel Verstand, aber früher oder später, so glaube ich, werden sie aufgeben und in eine andere Richtung ziehen. Wenn sie nach Süden kommen sollten, müssen wir auf sie vorbereitet sein vermutlich in der Umgebung der Fälle von Vash. Denkst du, deine Armee wird genug Zeit haben, dorthin zu gelangen, ehe wir überrannt werden?, wollte Omago wissen. Ganz bestimmt. Sie verfügt über große Schiffe, also wird sie den Seeweg einschlagen und nicht den Landweg. Ich werde meine Schwester überreden, mir ebenfalls Unterstützung zu senden. Die Bewohner ihrer Domäne sind Jäger und hervorragende Bogenschützen. Der Kommandant der Armee, die ich angeheuert habe, ist ein brillanter Stratege, und wenn er seine Leute erst einmal in Position gebracht hat, wird der Feind nicht mehr an ihm vorbeikommen. Vermutlich werden wir keine große Hilfe darstellen, sagte Omago zweifelnd. Immerhin sollten wir die
Fremdlinge mit Vorräten versorgen können, aber leider haben wir nichts, das auch 64 nur entfernt an Waffen erinnert. Die Schäfer benutzen Schleudern, um ihre Herden vor den Wölfen zu beschützen, doch darüber hinaus ... Omago ließ den Satz unbeendet in der Luft hängen. Wir werden mal schauen, Omago. Unterhalte dich mit den anderen Bauern und erkunde, wie sie die Lage einschätzen. Ich denke, das Wichtigste ist es, Vorräte anzulegen. Die trogitische Armee, die ich angeheuert habe, ist hunderttausend Mann stark, also brauchen wir eine Menge zu essen. Ich werde die Neuigkeiten unters Volk bringen, Veltan, und wir werden uns an die Arbeit machen. Natürlich war ich mir sicher, dass ich mich auf dich verlassen kann, antwortete Veltan. Langsam sollte ich mich wohl auf den Rückweg machen. Ich wollte dich nur vor dem warnen, was vermutlich auf uns zukommt, doch im Augenblick findet der Krieg in Zelanas Domäne statt, und deshalb möchte ich vor Ort sein, für den Fall, dass sie mich braucht. In Omago machte sich zunehmend Besorgnis breit. Er hatte keinerlei Erfahrung mit Kriegen und dementsprechend nicht die geringste Vorstellung von dem, was er zu erwarten hatte. Zerbrich dir nicht den Kopf, Herzliebster, sagte Ära, während sie den Hügel wieder hinuntergingen. Gib einfach dein Bestes und überlass Veltan die Sorgen. Im Moment kann ich ihm höchstens dabei helfen, sich Sorgen zu machen, Ära, erwiderte Omago düster. Das Metallmesser, das Veltan ihm geschenkt hatte, eröffnete Omago ungeahnte Möglichkeiten. Sofort fielen ihm Dutzende von Verbesserungen für ihre bisherigen Werkzeuge ein, aber darum würde er sich später kümmern. Zunächst fühlte er sich verpflichtet, sich auf Waffen zu konzentrieren. Soweit er abschätzen konnte, musste 65 eine Waffe zwei Funktionen erfüllen: den Feind verletzen und verhindern, dass der Feind einen selbst verletzte. Das Metallmesser konnte sicherlich bei jedem Feind, der sich zu nahe heranwagte, hübschen Schaden anrichten, doch wenn der Gegner ebenfalls über Waffen verfügte, mochte die Sache ein wenig heikel werden. Ich wünschte, dieses Ding hätte einen längeren Griff, murmelte er. Dann kam er sich plötzlich dumm vor. Eines seiner Werkzeuge - für seinen Obstgarten - bestand aus einer langen Stange, an der ein Querstück befestigt war, damit er die Äste der Obstbäume herunterziehen und die Früchte ernten konnte, ohne hinaufklettern zu müssen. Einen Griff, wie er ihn brauchte, hatte er in seinem eigenen Werkzeugschuppen! Also machte Omago das Experiment, entfernte das Querstück von einer der Stangen und befestigte stattdessen das Messer an der Spitze. Die Stange war nun kein Werkzeug mehr, sondern durfte mit Fug und Recht als Waffe bezeichnet werden. Omago stach einige Male probeweise mit der Stange in die Luft, und es erschien ihm, als habe die Waffe durchaus ihre Stärken. Wenn der Feind auf ihn zurannte, würde ein Stich in Bauch oder Gesicht den Gegner höchstwahrscheinlich verletzen und vielleicht sogar töten. Nicht nur das, die Länge der Stange verhinderte zudem, dass der Angreifer Omago zu nahe kommen konnte. Nun gut, murmelte er. Höchst interessant. Der Gedanke, andere Menschen absichtlich zu verletzen, war den Bauern von Veltans Domäne gänzlich fremd, doch falls die Geschichten, die Omago in letzter Zeit gehört hatte, der Wahrheit auch nur entfernt nahe kamen, waren diese anmarschierenden Feinde gar keine Menschen. Einige sahen möglicherweise wie Menschen aus, doch handelte es sich dabei um eine Täuschung. Insektenmenschen, dieser Begriff hatte sich in Zelanas Domäne eingebürgert, und das könnte sehr nützlich sein. Solange Omago das Wort Insekten bei der Beschreibung ihrer Feinde betonte, würden die hiesigen Bauern keine Schuldgefühle empfinden, wenn sie den Gegner vernichteten. Schon häufig waren große Heuschre66
ckenschwärme über die Felder hergefallen, und die Bauern hielten Feuer für einen durchaus angemessenen Weg, mit den nimmersatten Insekten umzugehen. Das Wort Insekten würde vielleicht sogar noch nützlicher sein als die Metallwaffen, denn es weckte in jedem Bauern sofort den Kampfgeist. Solche Möglichkeiten kamen Omago in den Sinn, und voller Begeisterung ging er zum Abendessen heim.
Warum grinst du so, Omago?, fragte Ära, als er sich an den Tisch setzte. Ich glaube, wir Bauern sind nicht ganz so hilflos, wie Veltan annimmt. Werkzeuge in Waffen zu verwandeln ist gar nicht so schwierig, und ich denke, ich bin sogar auf die Lösung eines weitaus größeren Problems gestoßen. Ja? Bauern zögern nicht, wenn es darum geht, ihre Felder gegen Insekten zu verteidigen, und wenn ich richtig verstanden habe, was Veltan uns über diese Eindringlinge erzählt hat, sind diese zumindest teilweise Insekten. Ich brauche mich also nur auf einen Berg zu stellen und >Insekten!< zu rufen. Sobald sie das Wort hören, kommen alle Bauern in Veltans Domäne angerannt, um mir zu helfen, sie totzutreten. Höchst interessant, Herzliebster, sagte Ära. Jetzt iss dein Abendessen, ehe es kalt wird. Omago schickte eine Nachricht an mehrere seiner Freunde, und an diesem Abend versammelten sie sich bei seinem Haus. Er führte sie in den Werkzeugschuppen und präsentierte ihnen seine neue Waffe. Alle zeigten sich sehr neugierig. Meinst du, Veltan könnte uns noch mehr von diesen Messern besorgen, Omago?, fragte der stämmige Weizenbauer Benkar. Wenn wir alle solche Metallmesser hätten wie du, könnten wir sie ebenfalls an Stangen binden und so den Fremdlingen helfen, wenn diese Insektenmenschen aus den Bergen herunterkommen. Ich bin nicht sicher, Benkar, zweifelte Omago. Die Fremdlinge wollen vielleicht nicht, dass wir ihnen im Weg stehen, wenn 6/ der Kampf beginnt, und ich habe ehrlich gesagt gar keine richtige Ahnung, wie nützlich das Messer eigentlich ist. Man sollte jedenfalls darüber nachdenken, Omago, meinte der bärtige Schäfer Nanton. Wenn ihr Bauern alle solche langen scharfen Stangen habt, könntet ihr den Vormarsch der Insektenmenschen verlangsamen, und dann würden ich und meine Schäfer Steine auf sie niederhageln lassen. In manchen der Geschichten aus Zelanas Domäne heißt es, die Fremdlinge hätten auf Zelanas Volk heruntergeschaut - bis ihre Bogenschützen anfingen, die Insektenmenschen zu Hunderten niederzumachen. Wenn auf mich jemand herunterguckt, schlage ich ihm die Zähne ein!, plusterte sich Selga auf. Wir müssen allerdings eine Weile lang damit üben, stellte der Bauer Eknor fest. Wie können wir üben, wenn Omago als Einziger in Veltans ganzer Domäne eines dieser Eisenmesser besitzt?, wollte Benkar wissen. Es ist die Stange, die vor allem wichtig ist, Benkar, erklärte ihm Eknor. Wir können einfach nur mit den Stangen üben. Wenn die Fremdlinge dann hier eintreffen, können sie uns Messer geben, die wir ans vordere Ende der Stange machen; danach sind wir bereit, an die Arbeit zu gehen. Vermutlich wird es sich gar nicht so sehr von dem unterscheiden, was wir bei der Weizenernte tun. Wir müssen nur in einer geraden Linie gehen - und Insektenmenschen anstelle von Weizen mähen. Omago gelang es, sein Lächeln zu unterdrücken. Die Sache lief besser, als er sich erhofft hatte. Beim Wort Insekten hatten sich die Bauern sofort auf seine Seite geschlagen, und offensichtlich erregte es ihre Streitlust. Demnach waren sie in Wirklichkeit möglicherweise gar nicht so wehrlos, wie Veltan geglaubt hatte. Nanton und Eknor hatten auf die Bedrohung genau so reagiert, wie Omago es sich gewünscht hatte. Alles wendete sich anscheinend zum Guten. jm Laufe der nächsten Tage gesellten sich immer mehr Schäfer und Bauern, die Omagos Warnung vor den Insektenmenschen gehört hatten, aus der Umgebung zu der neuen Armee. Eknor unterrichtete die Bauern darin, wie sie die noch harmlosen Stangen vor sich zu halten hatten und wie sie eine geschlossene Reihe bildeten, während Nanton den Schäfern beibrachte, über zunehmend größere Entfernungen ihre Ziele mit Steinen aus ihren Schleudern zu treffen. So ging es nun bereits zwei Wochen, als an einem sonnigen Nachmittag ein Donnerschlag den Boden erbeben ließ und plötzlich Veltan da war. Was machen wir denn hier, Omago?, fragte er. Mir ist aufgefallen, dass das Messer einen längeren Griff brauchte, erklärte Omago, also habe ich es an eine Stange gebunden, und so sah es mir eher aus wie eine Waffe denn wie ein Werkzeug. Die anderen Bauern fanden das sehr interessant, und wir hoffen, die Fremdlinge werden uns mehr von diesen Messern geben. Er blickte sich um und vergewisserte sich, dass keiner der anderen Bauern in Hörweite war. Ich habe ein wenig gemogelt, flüsterte er. Nachdem du mir erzählt hast, unsere Feinde seien
teilweise Insekten, nannte ich sie >Insektenmenschen<. Bauern werden sehr wütend, wenn jemand >Insekten< sagt, und nachdem ich die Nachricht verbreitet hatte, kamen sie alle angerannt und wollten kämpfen. Dann haben sich Nanton und die Schäfer mit ihren Schleudern zu uns gesellt. Ich glaube, die Fremdlinge werden ziemlich überrascht sein, wenn sie herausfinden, dass wir überhaupt nicht so hilflos sind, wie sie geglaubt haben. Sehr gut, Omago, lobte Veltan. Sobald Hase hier eintrifft, kann ich ihn bestimmt überreden, richtige Speerspitzen für unsere Bauern anzufertigen. Die sind noch besser als ein Messer, das man an eine Stange bindet. Wer ist Hase? Ein kleiner Maag, der Metall bearbeiten kann. Wenn deine Männer erst einmal Speerspitzen haben und Gift -, wird der Feind nicht mehr an euch vorbeikommen. Wieso Gift? Die Wesen des Ödlands sind zum Teil Schlangen, und ihre Zähne sind giftig. Oben in der Domäne meiner Schwester Zelana haben ihre angeheuerten Soldaten ihre Waffen in dieses Gift getaucht. Dadurch konnten sie Hunderte Diener des Vlagh töten. Jedenfalls hatte Dahlaines Träumer Ashad einen >dieser< besonderen Träume, und der Feind ist unzweifelhaft in unsere Richtung unterwegs. Ich glaube jedoch, wir brauchen uns keine großen Sorgen zu machen. Die Fremdlinge werden rechtzeitig eintreffen, um uns im Kampf gegen die Feinde zu helfen. Hoffentlich, sagte Omago. Die Bauern und Schäfer werden jeden Tag besser, aber ich möchte meinen, noch sind wir nicht in der Lage, selbstständig einen Krieg auszutragen. Nachdem die Aussaat erledigt war, fanden sich mehr und mehr Bauern ein, die von den Geschichten über das neue Werkzeug angelockt wurden. Wie Omago es erwartet hatte, waren die Neuankömmlinge neugierig auf das eiserne Messer, das Veltan ihm geschenkt hatte, und sie waren fürchterlich enttäuscht, weil er ihnen nicht sagen konnte, wo sie dieses von Veltan so genannte Metall herbekommen konnten. Einige von ihnen machten daraufhin auf der Stelle kehrt und gingen nach Hause zurück, doch viele traten auch in Omagos wachsende Armee ein. Die Ausbildung der Neuen erwies sich als sehr anstrengend, doch war Omago sicher, dass sich der Aufwand lohne, also stürzte er sich für die nächsten Wochen in diese Arbeit. Dann ertönte eines Morgens der wohlbekannte Donnerschlag und verkündete Veltans Heimkehr. Omago zog sich an, dann stieg er mit Ära den Hügel hinauf zu Veltans riesigem Haus. Die Sache ist besser gelaufen, als wir uns erhofft haben, erzählte Veltan ihnen. Zwar haben wir das Dorf Lattash unglücklicherweise verloren, doch scheint mir das ein kleiner Preis für den Sieg zu sein. Die Maags und die Trogiten kommen uns nun zu Hilfe. Wenn hier im Süden alles so gut endet wie im Westen, werden wir diesen Krieg gewinnen, und das könnte die Wesen des Ödlands 7° endlich zu der Überzeugung bringen, dorthin zurückzukehren, wo sie herkommen. Wunschdenken, lieber Veltan, sagte Ära. Leider sind Insekten nicht so klug. Wann werden die Fremdlinge hier eintreffen?, fragte Omago. Vermutlich innerhalb der nächsten Tage, antwortete Veltan. Zelana hat ein wenig auf das Wetter eingewirkt, deshalb ist der Wind ziemlich hilfsbereit. Er runzelte leicht die Stirn. Du solltest die Frauen vielleicht besser warnen, Ära. Narasan hat seine Soldaten ziemlich gut unter Kontrolle, aber Sorgans Maags sind ganz schöne Rüpel, und sie könnten auf dumme Gedanken kommen, wenn sie junge Frauen sehen. Ich werde es weitergeben, versprach Ära. Wie lange wird es wohl dauern, bis wir diese Metallmesser bekommen?, erkundigte sich Omago. Wir unterhalten uns mit Hase, sobald er hier eintrifft, erwiderte Veltan. Versteife dich nicht allzu sehr auf diesen Einfall mit den Messern. Ich habe mehrmals feststellen können, wie erfinderisch Hase sein kann. Wenn du ihm schilderst, was du mit der Waffe anrichten möchtest, findet er gewiss den besten Weg, wie man das zustande bringt. Die metallenen Pfeilspitzen, die er für Langbogen und die anderen Bogenschützen angefertigt hat, waren viel fortschrittlicher als die alten aus Feuerstein, die sie in der Vergangenheit verwendet haben. Das werde ich mir merken, sagte Omago. Soll ich meine Männer morgen mit zum Strand nehmen, wenn die Fremdlinge ankommen, Veltan?, fragte Omago eher zweifelnd. Wenn ich es recht sehe, bist du nicht sehr begeistert von der Idee, bemerkte Veltan. Eigentlich nicht, gestand Omago. Diese Fremden sind Be-
rufssoldaten, und offen gestanden sind meine Männer noch ein wenig ungeschickt. Die Fremdlinge lachen vielleicht über uns, wenn wir so tun, als wären wir Soldaten, und dadurch könnte ich leicht die Hälfte meiner Männer einbüßen. Wäre es nicht besser, wenn du zunächst mit den Fremden über diese Angelegenheit redest? Ich verstehe, worauf du hinauswillst, Omago. Also gut. Wir beide gehen allein hinunter zum Strand. Ära möchte auch gern mit. Sie hat Yaltar so lange nicht gesehen und vermisst ihn sehr. Hervorragende Idee. Ich wollte sie sowieso meiner Schwester vorstellen. Wann sollen wir aufbrechen? Nachdem du gefrühstückt hast; das müsste früh genug sein. Zelana hat mir gesagt, ihre Flotte treffe erst am Vormittag ein, und von hier sind es nur ungefähr zwei Meilen bis zum Strand. Veltan kniff die Augen zusammen. Nun, nachdem ich ausreichend Zeit hatte, mir die Sache durch den Kopf gehen zu lassen, sind mir ein paar Dinge aufgefallen, die man besser mit den Fremdlingen klären sollte. Einige der Offiziere muss ich unbedingt an Land bringen, doch sollten wir den Rest der Fremdlinge vielleicht an Bord ihrer Schiffe lassen, bis wir entscheiden, sie zu den Fällen von Vash zu führen. So können wir unliebsame Zusammenstöße zwischen den Soldaten und unseren Leuten möglichst verhindern. Wenn du es für das Beste hältst, meinte Omago zustimmend. Eine riesige Anzahl Segel am Horizont kündigte die Ankunft der Flotte an, und die schiere Menge allein verschlug Omago die Sprache. Ära, die neben ihm stand, schien hingegen nicht übermäßig erstaunt zu sein. Manchmal reagierte Ära schon eigentümlich. Während die Flotte im goldenen Sommerlicht näher kam, bemerkte Omago Unterschiede zwischen den einzelnen Schiffen. Einige wirkten sehr kräftig, andere dagegen eher dürr wie junge Schösslinge. Sie sehen sich nicht alle ähnlich, oder?, fragte er Veltan. Sie wurden für verschiedene Zwecke gebaut, erklärte Veltan. Die breiten langsamen sollten viele Menschen oder viel Fracht be72
fördern. Die schlanken sind schnell, damit sie die langsamen einholen und ausrauben können. Wären sie dann nicht eigentlich Gegner, lieber Veltan?, erkundigte sich Ära. Früher sind sie auch nicht besonders gut miteinander ausgekommen, räumte Veltan ein, aber die Bedrohung durch die Wesen des Ödlands hat sie gewissermaßen zusammengeschmiedet. Außerdem sahen sie ein wesentlich kleineres Boot, das sich rasch auf den Strand zubewegte, und Veltan betrachtete es mit einer gewissen Zuneigung. Das ist mein Boot, erklärte er Omago und Ära. Wofür wurde dieses Schiff gebaut, lieber Veltan?, fragte Ära. Es passt überhaupt nicht zu den anderen. Eigentlich ist es ein Fischerkahn, aber es ist sehr schnell, sagte Veltan stolz. Ich benutze es, wenn ich sehr eilig irgendwohin will. Hast du dafür nicht sonst deine Blitzdame genommen? Die ist zwar sehr schnell, aber auch sehr laut. Manchmal ist es wichtig, leise zu sein. An Bord des Fischerboots befanden sich vier Männer. Einer wirkte recht klein, einer mittelgroß, und die beiden letzten waren ziemlich groß und in Hirschleder gekleidet. Der Kleine ist der Maag namens Hase, von dem ich dir erzählt habe, Omago, erklärte Veltan. Der junge Bursche ist ein trogitischer Soldat namens Keselo, und die beiden anderen sind Langbogen und Rotbart, Bogenschützen aus Zelanas Domäne. Sie sind Jäger, nicht wahr?, fragte Omago. Veltan nickte. Sehr gute Jäger, meinte er. Rotbart ist vielleicht nicht ganz so gut wie Langbogen, allerdings muss man bedenken: Niemand ist so gut wie Langbogen. Soweit ich weiß, hat er sein Ziel noch nie verfehlt. Sein Pfeil trifft immer dorthin, wo er es will. Omago lächelte schwach. Als ich ein Junge war, habe ich davon geträumt, Jäger zu werden. Das muss ein aufregendes Leben sein. Vermutlich, Omago, aber Langbogen ist kein gewöhnlicher Jäger. Sein Krieg gegen die Wesen des Ödlands hat schon vor langer 73
Zeit begonnen. Er hasst sie aus tiefstem Herzen und tötet jedes, das er zu Gesicht bekommt. Eigentlich steht er in Diensten meiner Schwester Zelana, doch lässt er sich nur ungern etwas befehlen. Eleria ist die Einzige, auf die er hört, und gelegentlich lehnt er selbst ihre Bitten ab. Wird deine Schwester dann nicht ärgerlich?, fragte Ära. Nicht besonders. Zelana kennt seine Treue und weiß, dass er sein Bestes gibt, um ihr zu helfen, nur macht er es eben auf seine eigene Art. Veltan
zuckte mit den Schultern. Am Ende zählt vor allem das Ergebnis. Die Vorgehensweise ist nicht so wichtig. Wo ist Yaltar?, wollte Omago wissen. Er fährt mit Zelana und Eleria auf der Seemöwe - dem Schiff von Sorgan Hakenschnabel, dem Kommandanten der Maags, antwortete Veltan. Irgendwann einmal werde ich den Jungen zu einem Ausflug auf meiner Lieblingsblitzdame mitnehmen, aber im Augenblick ist er dafür noch ein wenig zu klein. Viel zu klein, bestätigte Ära sehr bestimmt. Das Boot, das Veltan aus dem Land der Trogiten mitgebracht hatte, landete als Erstes, und Veltan stellte Omago und Ära den Männern an Bord vor. Dies ist derjenige, von dem ich dir erzählt habe, Omago, sagte Veltan und legte Hase die Hand auf die Schulter. Wenn du ihm erklärst, was du brauchst, wird er es dir aus Metall hämmern können. Das hoffe ich, gab Omago zurück und betrachtete den kleinen Mann, den Veltan Hase nannte. Veltan kam vor einer Weile vorbei, erzählte er dem Maag, und berichtete, was in der Domäne seiner Schwester vor sich geht. Dann schenkte er mir ein Messer, um mir zu zeigen, was es mit diesem Material namens >Metall< auf sich hat. Ich habe darüber nachgedacht, und mir schien es ein sehr nützliches Werkzeug gegen die Wesen des Ödlands zu sein, wenn ich es an einer langen Stange befestige. Solche Werkzeuge nennen wir Speeres Omago, erwiderte Hase, und es gibt sie schon sehr, sehr lange. Wirklich? Ich dachte, auf diese Idee wäre ich ganz allein gekommen. Wir kennen uns hier mit Krieg nicht so gut aus. 74
Er hat eine schnelle Auffassungsgabe, Hase, meinte der junge Trogit Keselo. Obwohl er noch nie einen Speer gesehen oder auch nur davon gehört hat, hat er gleich einen erfunden. So scheint es, wie?, stimmte Hase zu und runzelte die Stirn. Wenn du weitere solcher Ideen hast, Omago, immer nur heraus damit. Dann hämmere ich dir, was du brauchst, und wir schauen uns an, ob funktioniert, was du dir ausgedacht hast. Wie bist du auf die Idee mit dem Speer gekommen? Omago zuckte mit den Achseln. Ich habe einen großen Obstgarten, und ich benutze lange Stangen mit Querstücken, um die oberen Äste nach unten zu biegen, damit ich die Früchte pflücken kann, ohne auf den Baum klettern zu müssen. Ich stand da also mit dem Messer in der einen und der Stange in der anderen Hand, und plötzlich machte es >puff< in meinem Kopf, und ich dachte, dass ich beide nur verbinden müsste. Wenn es wieder einmal >puff< macht, lass es mich sofort wissen, sagte Hase. Da kommen einige Skiffs herein, beobachtete der große Bogenschütze Langbogen. Sorgan, Narasan und ein paar der anderen sind bald hier. Gut, befand Veltan. Vor uns liegt eine Menge Arbeit, und mir bleibt nur wenig Zeit. Omago war ungemein überrascht, als er die riesigen Maags sah. So großen Menschen war er nie zuvor begegnet, und die verschiedenen Metallwaffen, die an ihren Gürteln hingen, beeindruckten ihn zutiefst. Die Trogiten waren von kleinerer Gestalt und ein wenig dunkler, aber auch sie waren hervorragend bewaffnet. Dann entdeckte Omago Yaltar hinter einer wunderschönen Frau, bei der es sich höchstwahrscheinlich um Veltans Schwester Zelana handelte, und einem vielleicht noch schöneren Mädchen, offensichtlich Zelanas Träumerin Eleria. Ära lief hinunter zum Wasser und schloss den Jungen in die Arme, und Yaltar klammerte sich voller Verzweiflung an sie, als sei ihm erst vor kurzem etwas Schreckliches passiert. 75 Hübsches Land, Veltan, meinte ein Trogit, dessen Haar an den Schläfen silbergrau war. Danke, Narasan, antwortete Veltan. Wo ist Gunda? Ich habe ihn nach Castano zurückgeschickt, damit er den Hauptteil der Armee herbringt, erwiderte der Trogit. Hoffentlich gibt es diesen offenen Kanal durch das Eis noch. Ganz bestimmt, versicherte Veltan ihm. Hattet ihr auf dem Weg hierher irgendwelche Schwierigkeiten? Nein, das einzige Problem mussten wir lösen, ehe wir die Segel gesetzt haben. Rotbarts Stamm war nicht gerade sehr glücklich, als wir damit rausrückten, dass der Häuptling eine Weile fort sein würde. Er hat den Rang ja noch nicht lange, und ganz offensichtlich gefällt ihm das Ganze auch nicht besonders. Deshalb ist sein Stamm überzeugt, er betrachte diese Reise nach Süden als eine Flucht. In seinem Stamm gibt es eine Dame namens Pflanzerin, und die hat ihm vor unserem Aufbruch einige wenig schmeichelhafte Dinge mitgeteilt. Können wir die Sache nicht endlich auf sich beruhen lassen, knurrte der rotbärtige Mann, der mit
Veltans Boot an Land gekommen war. Ich wollte es doch lediglich erklären, Rotbart, gab Narasan zurück. Mein Brötchengeber hat schließlich ein Anrecht darauf, über solche kleinen Streitereien unterrichtet zu werden. Rotbart drehte sich um, stolzierte davon und murmelte irgendetwas vor sich hin. Das ist Omago, Kommandant, stellte Veltan den Bauern vor. Ich kenne ihn schon, seit er ein kleiner Junge war, und die anderen Bauern und die Schäfer gehen zu ihm, wenn sie Probleme haben. Er ist sehr begabt, Kommandant, berichtete Keselo. Veltan hat ihm ein Eisenmesser mitgebracht, um ihm zu zeigen, was das Wort >Metall< bedeutet, und er hat im Handumdrehen den Speer erfunden. Den Speer gibt es schon seit Jahrhunderten, Keselo, höhnte ein sehr hagerer Trogit. Hier jedoch nicht, Jalkan. Die Bauern in dieser Gegend kennen 76
nicht einmal das Wort >Krieg<, und deshalb brauchten sie nie Waffen. Omago hat den Speer gerade eben noch als >Werkzeug< bezeichnet. Deshalb muss man wohl von einer vollkommen anderen Weltsicht ausgehen, nicht wahr? Die Bauern waren von Omagos Speer sehr beeindruckt, Kommandant Narasan, sagte Veltan, und sie hätten gern selbst jeder einen. Wozu brauchen Bauern Speere?, wollte der hagere Trogit Jalkan feixend wissen. Es reicht, Jalkan, fuhr ihn Kommandant Narasan entschieden an. Das ist durchaus eine legitime Frage, Kommandant, meinte Veltan. Manche Berichte über den Krieg in Zelanas Domäne sind über die Grenze herübergelangt, und Omago hat etwas über >Insektenmenschen< gehört. Jedes Mal, wenn ein Bauer das Wort >Insekt< hört, erwacht seine Kampflust. Ein Schwärm Heuschrecken kann die ganze Ernte eines Jahres in weniger als einem Tag vernichten. Nachdem Omago den anderen Bauern seinen Speer vorgeführt hatte, meldeten sich viele freiwillig, um uns im bevorstehenden Krieg zu unterstützen. Ein Weizenbauer namens Eknor schlug vor, sie könnten eine Linie mit ihren Speeren bilden, wobei sie die Waffen gerade vor sich halten und einfach über die Käfer hinwegmarschieren. Ich glaube, seine Idee erwuchs aus der Methode, mit der die Bauern in dieser Gegend traditionell ihren Weizen ernten. Wenn wir ihnen beibringen, wie sie eine Phalanx bilden, könnten sie sich in der Tat als nützlich erweisen, nicht wahr, Kommandant?, gab der junge Soldat Keselo zu bedenken. Das mag sein, stimmte Narasan zu. Sie brauchen allerdings Schilde. Was ist ein Schild?, wollte Omago von dem Kommandanten wissen. Eine Metallplatte, die wir uns an den linken Arm binden. Wir schützen damit unseren Körper vor den Waffen des Feindes. Wenn deine Männer sie richtig einsetzen, verwandeln die Schilde deine Armee in eine wandelnde Festung. 77
Sorgan kommt, Herr, machte Keselo den Kommandanten aufmerksam. Gut. Narasan sah Veltan an. Wo sollen wir unser Lager errichten?, fragte er. Darüber wollte ich gerade mit dir sprechen, Kommandant, erwiderte Veltan. Ich möchte dich nicht beleidigen, aber mir scheint es, uns wäre es lieber, wenn wir deine Armee - und natürlich auch Sorgans - zunächst an Bord der Schiffe lassen. Deine Männer sind diszipliniert, aber Sorgans Maags... ? Nun, sicherlich verstehst du, worauf ich hinauswill. Klar wie Kristall, Veltan. Der Frieden bringt in den Maags das Schlimmste zum Vorschein. Wir werden sowieso bald zu den Fällen von Vash aufbrechen, fuhr Veltan fort, und somit wäre es Verschwendung, für die kurze Zeit ein Lager zu errichten. Mein Volk hat Vorräte für deine Armee angelegt, und ich werde Anweisung geben, diese zum Strand zu bringen. In der Zwischenzeit gehe ich mit dir, Sorgan und einigen der anderen zu meinem Haus hinüber, wo ihr euch die Karte anschauen könnt. Ich habe Rotbart die Idee eines geformten Bildes abgeschaut, also könnt ihr euch in aller Ruhe einen Eindruck vom Gelände in der Nähe der Fälle verschaffen. Der Träumer meines großen Bruders Dahlaine hat vorausgesagt, wir würden den Krieg in dem Gebiet austragen, und deshalb solltet ihr euch mit dem Terrain vertraut machen. Ein hünenhafter Maag kam vom Wasser zu ihnen herüber. Das Land hier sieht ja viel flacher aus als drüben im Westen, Narasan, sagte er, und es gibt längst nicht so viele Bäume. Dagegen habe ich nicht so viel einzuwenden, Sorgan, erwiderte Narasan. Im Gegenteil stört es mich eher, zwischen Büschen Krieg zu führen. Das ist Omago. Der ist hier sozusagen der Anführer.
Der Häuptling, meinst du? Bei uns geht es nicht so förmlich zu, Sorgan, erklärte Veltan. Omago erteilt den anderen Bauern keine Befehle. Gelegentlich macht er einen Vorschlag, aber das ist dann schon alles. 78
Veltan denkt, wir sollten unsere Männer vielleicht besser an Bord der Schiffe lassen, berichtete Narasan. In ein paar Tagen geht es sowieso in die Berge, und es hat wenig Sinn, sie an Land kommen zu lassen und ein Lager zu errichten. Ganz deiner Meinung, Veltan, stimmte Sorgan zu. Ich würde dich und Narasan - und alle, die ihr sonst mitnehmen wollt - gern zu meinem Haus bringen, fügte Veltan hinzu. Dort habe ich eine Karte vorbereitet, die ihr euch anschauen solltet. Das Gelände, in dem wir diesmal kämpfen werden, ist viel steiler als die Schlucht oberhalb von Lattash. Sorgan zuckte mit den Schultern. Ich nehme Ochs und Schinkenpranke mit, sagte er. Wenn man die Sache richtig betrachtet, ist es ja eigentlich Narasans Krieg. Ich bin nur so zum Spaß mitgekommen. Das stimmt nicht, und das weißt du auch genau, Sorgan, brauste Narasan auf. Vielleicht nicht, erwiderte Sorgan und grinste hinterhältig, aber diesmal machen wir alles so, wie du sagst. Damit man dir die Schuld geben kann, wenn irgendetwas schief läuft. Zu liebenswürdig, Sorgan, meinte Narasan sauer. Nun, so bin ich halt. Ich dachte, das wäre dir längst aufgefallen, sagte Sorgan und grinste breiter. Omago sah, welche tiefe Freundschaft sich zwischen diesen beiden so verschiedenen Männern während des Kriegs im Westen entwickelt hatte, und das war gewiss nützlich, wenn der Ärger losging. Wie ist die Kirche hier im Lande Dhrall eigentlich organisiert?, wollte der dünne, in Leder gekleidete Trogit namens Jalkan neugierig von Omago wissen, während sie dem Pfad vom Strand durch die Weizenfelder zu Veltans Haus folgten. Ich verstehe nicht recht, was du meinst, gab Omago zurück. Was genau bedeutet >Kirche Priester. Diejenigen, die die Menschen bei ihren Gebeten führen und sich darum kümmern, dass sie nicht gegen die Gebote des Glaubens verstoßen. Jalkan schien das sehr zu interessieren. 79
Wir hier in Veltans Domäne haben so etwas nicht, antwortete Omago. Ich habe gehört, drüben in der Domäne von Veltans Schwester Aracia gebe es so etwas, aber Veltan denkt wohl, wir brauchten das hier im Südland nicht. Wenn jemand eine Frage an Veltan hat, geht er direkt zu ihm und stellt sie ihm. Willst du mir sagen, ihr redet direkt mit eurem Gott?, hakte Jalkan schockiert nach. Aber dafür ist er doch da, oder? Nur ... Jalkan fehlten die Worte. Andere Länder, andere Sitten, nehme ich an, sagte Omago. Hier im Süden gehen wir mit diesen Dingen ziemlich locker um. Wo sind denn die ganzen Goldminen?, wechselte Jalkan rasch das Thema. Darum geht es schließlich in diesem Krieg, oder nicht? Ich meine, diese Eindringlinge, gegen die wir kämpfen, die überfallen euch doch, weil sie euer Gold wollen? Das möchte ich stark bezweifeln. Ich glaube, die Diener des Vlagh sind nicht besonders an diesem gelben Metall interessiert, aus dem manche Leute Trinkbecher machen. Das Vlagh will unser Land und das, was wir darauf anbauen. Jalkan setzte eine misstrauische Miene auf und stolzierte abrupt davon. Ich würde diesem Kerl nicht alle Fragen beantworten, Omago, riet der große Bogenschütze Langbogen ihm leise. Die anderen Trogiten mögen ihn nicht besonders. Er ist sehr gierig, und er behandelt seine Männer ausgesprochen schlecht. Diese Fremdlinge sind schon ziemlich eigenartig, nicht? Langbogen lächelte schwach. Sie halten uns auch für eigenartig. Sie führen ihr Leben nach sehr komplizierten Regeln, und wir versuchen hingegen immer, alles einfach zu halten. Ich weiß nicht genau, wieso, aber das scheint manche von ihnen aus irgendeinem Grund zu beleidigen. Ich bin froh, wenn das alles vorüber ist und sie ihre Sachen einpacken und heimkehren. Da bist du nicht der Einzige, Freund Omago. Unmöglich!, rief Padan und starrte ehrfürchtig Veltans Haus an. Es besteht aus einem einzigen Felsen! Veltan zuckte mit den Schultern. Das hält das schlechte Wetter fern, erklärte er. Ich habe schon in Kaldacin bemerkt, wie viel kalte Luft durch die hübschen Häuser dort weht. Wie hast du das gebaut? Willst du es wirklich wissen, Padan?, fragte Veltan und grinste verschlagen. Padan warf ihm einen kurzen, leicht erschrockenen Blick zu. Ich glaube kaum, antwortete er einen
Moment später, denn mich beschleicht so das Gefühl, dass ich nicht mehr so gut schlafen kann, wenn du mir in allen Einzelheiten schilderst, wie du es gemacht hast. Gehen wir hinein, Freunde, sagte Veltan zu den Fremdlingen. Ich habe Rotbart seine Idee abgeschaut und eine detaillierte Karte von jener Region angefertigt, in der wir vermutlich auf den Feind stoßen werden. Ich denke, ihr solltet sie euch ansehen, damit ihr wisst, womit wir es zu tun haben werden. Omago wartete an der Tür, bis sich Ära zu ihm gesellte. Wo ist Yaltar?, fragte er sie leise. Ihm geht es nicht so gut, Liebster, antwortete Ära. Wenn ich ihn recht verstanden habe, musste er in Zelanas Domäne etwas Schreckliches tun, und das macht ihm stark zu schaffen. Zelana versucht ihn zu beruhigen, so gut sie kann, doch eigentlich hilft ihm nur eins: Elerias Hand zu halten. Willst du nicht bei ihnen bleiben?, fragte Omago sie. Ich denke, das wäre besser. Wir gehen in die Küche. Ich muss sowieso das Abendessen für die Fremdlinge zubereiten, und beim Geruch von Essen fühlt sich Yaltar für gewöhnlich besser. Omago lächelte. Beim Geruch von deinem Essen fühlt sich jeder besser, Herzliebste, sagte er zärtlich. So scheint es, nicht wahr? Aber jetzt geh, Liebster. Veltan braucht dich vielleicht, um den Fremdlingen alles zu erklären. Omago kehrte zu den anderen zurück, und sie folgten Veltan in ein großes Zimmer, das Omago, soweit er sich erinnern konnte, 81
noch nie gesehen hatte - was allerdings nicht weiter ungewöhnlich war. Dann und wann gestaltete Veltan sein Haus um und veränderte ohne ersichtlichen Grund die Lage der verschiedenen Räume. Dies ist mein Kartenraum, verkündete er mit einem gewissen Stolz. Er hat gewissermaßen deinen Kriegsraum in Kaldacin zum Vorbild, Kommandant Narasan, jedoch habe ich mir einige kleine Variationen erlaubt. Das ist mir bereits aufgefallen, meinte der trogitische Kommandant, in dessen Stimme Respekt mitschwang. Der Raum war kreisförmig gestaltet, und durch die Tür betrat man eine Art Balkon, der sich ungefähr zehn Fuß oberhalb des Bodens befand. Die Karte, die Veltan erschaffen hatte, stand unten, und nach dem, was Omago erkennen konnte, handelte es sich um eine perfekte verkleinerte Kopie des Berglandes in der Umgebung der Fälle von Vash. Wo kommt denn all das Wasser her?, erkundigte sich Sorgan Hakenschnabel. Ich sehe gar keine kleinen Bäche, die den Fluss speisen, der da über die Kante in den Abgrund stürzt. Es kommt aus der Erde, erklärte Veltan. Im Augenblick ist es recht ruhig. Doch in bestimmten Abständen wird es wild, und dann schießt das Wasser über hundert Fuß in die Luft. Hast du das so eingerichtet, Veltan?, wollte der junge Trogit Keselo wissen. Veltan schüttelte den Kopf. Ich denke, das wurde durch ein Erdbeben verursacht. Der Grund unter diesen Bergen ist ein wenig instabil. Das Gelände dort am Wasserfall ist wesentlich steiler als das in der Schlucht oberhalb von Lattash, bemerkte Sorgan. Der Aufstieg zum Geysir könnte uns Schwierigkeiten bereiten. Hast du vielleicht eine ungefähre Vorstellung davon, wann der Feind in dieses Gebiet einfallen wird, Veltan?, erkundigte sich Kommandant Narasan. Er könnte bereits unterwegs sein, Kommandant, mischte sich Padan ein. Wenn sie wieder unterirdische Tunnel gegraben haben, warten sie womöglich schon auf uns. Nein, widersprach der junge Trogit Keselo. Sie haben Jahr82
hunderte gebraucht, um ihre Gänge durch den Fels unterhalb der Treppe bis zu den alten Ruinen in der Schlucht zu treiben. Um bis zum Wasserfall zu gelangen, hatten sie noch nicht genug Zeit. Ich nehme an, Keselo hat Recht, Padan, meinte Narasan. Wenn es dort Tunnel gäbe, hätte der Feind vermutlich beide Domänen zur gleichen Zeit angegriffen. Ich schätze, diesmal werden wir nicht auf unterirdische Gänge stoßen. Mir scheint es eher, die bevorstehende Invasion ist ein Akt der Verzweiflung. Die Vulkane haben die Schlucht oberhalb von Lattash dauerhaft versperrt, und irgendetwas treibt den Feind dazu an, neue Gebiete zu erobern, aber es ist ihm offenbar gleichgültig, in welcher Gegend dieses Land liegt. Klingt das logisch in deinen Ohren, Sorgan? Ich habe mir zwar noch gar keine Gedanken darüber gemacht, allerdings ergibt es durchaus Sinn, räumte Hakenschnabel ein. Wenn die Sache so steht, sollten wir uns besser beeilen. Sobald wir dort oben eintreffen, müssen wir wahrscheinlich sofort mit dem Bau von Verteidigungsanlagen anfangen. Wir wollen diese Schlangenmenschen schließlich nicht in offenem Gelände empfangen, wenn wir das vermeiden können.
Damit hast du gewiss Recht, Sorgan, meinte Narasan. Der Rest meiner Armee wird bald hier sein, dennoch sollten wir eine Vorhut nach oben in das Gebiet oberhalb der Fälle schicken. Ich möchte auf jeden Fall verhindern, dass uns diese Schlangenmenschen wieder hinterrücks in den Rücken fallen wie beim letzten Mal. Für solche Überraschungen werde ich langsam ein bisschen zu alt. Ungefähr eine Stunde später trat Ära durch die Tür des runden Zimmers ein. Das Essen ist fertig, verkündete sie. Kommt und speist, ehe es kalt wird. Ich bin überzeugt, euch erwartet ein wahrer Genuss, meine 83 Herren, sagte Veltan, und der Stolz war ihm deutlich anzumerken. Ära ist vermutlich die beste Köchin der ganzen Welt. Dann verschwendet sie ihr eigentliches Talent, sagte Jalkan und warf ihr einen anzüglichen Blick zu. Eine Frau mit ihrer Ausstattung könnte in Kaldacin ein Vermögen verdienen. Omago überlief es heiß und kalt. Ich bin mir nicht ganz sicher, worauf du hinauswillst, Jalkan, sagte er trocken. Bist du blind, Mann? Diese Dienerin lässt mein Blut sieden. Ich würde eine Menge Gold zahlen, um sie für eine Nacht in mein Bett zu holen. Ohne weiter nachzudenken, schlug Omago dem hageren Trogiten die Faust aufs Maul und streckte ihn dadurch zu Boden. Jalkan erhob sich unsicher, spuckte Blut, Zähne und Flüche und griff nach seinem Messer. Keselo war jedoch schneller und hatte bereits sein Schwert gezogen. Der junge Mann setzte dem dürren Trogiten die Spitze der Waffe an die Kehle. Lass das Messer fallen, Jalkan, sagte er mit fester Stimme. Lass es auf der Stelle fallen, oder du bist ein toter Mann. Aber dieser Bauer hat mich geschlagen!, brüllte Jalkan. Das ist eine Beleidigung, die den Galgen verdient! Ich bin Offizier Nicht mehr, jetzt nicht mehr, verkündete Narasan entschieden. Ich habe mich schon viel zu lange mit dir herumgeärgert, und nun hast du mir den Grund geliefert, auf den ich gewartet habe. Deine Karriere in meiner Armee ist zu Ende, Jalkan, und ich bin erleichtert, dass wir dich los sind. Dazu hast du kein Recht!, brüllte Jalkan seinen Kommandanten an. Ich habe mein Patent mit Gold bezahlt. Dein Gold hast du gerade eingebüßt, Jalkan. Es ist vorbei. Narasan drehte sich um. Padan, leg diesen Schuft in Ketten und bring ihn zum Strand zurück. Ich werde später entscheiden, was ich mit ihm anfange - nachdem mein Zorn abgekühlt ist. Er wandte sich an Omago. Möchtest du diese Sache selbst in die Hand nehmen, oder soll ich es für dich erledigen? Ich bin mir nicht im Klaren über die Gebräuche im Lande Dhrall. Schließlich wurde deine Frau be84 leidigt, deshalb halte ich es für angemessen, wenn du über sein Schicksal entscheidest. Schaff ihn mir nur aus den Augen, Kommandant, sagte Omago, ballte die Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder. Dann werde ich mich um die Angelegenheit kümmern. Narasan blickte Padan an. Schaff diesen abscheulichen Lüstling hier raus, befahl er. Ist mir ein Vergnügen, Kommandant, sagte Padan und grinste breit. Willst du freiwillig gehen, abscheulicher Lüstling? Oder hättest du lieber bei jedem Schritt von mir einen Tritt in den Hintern? Nett ausgedrückt, Padan, meinte Rotbart voller Bewunderung. Mit solchen Wörtern habe ich mich schon immer gut ausgekannt, erwiderte Padan bescheiden. Am nächsten Morgen hatten sich etliche der Fremden bei Veltan im Kartenraum versammelt, als Omago eintraf. Ach, da bist du ja, Omago, begrüßte Veltan ihn. Hier sind einige Leute, die du kennen lernen solltest. Er deutete auf einen imposanten graubärtigen Mann, der Kleidung aus Tierfell trug. Das ist mein älterer Bruder Dahlaine vom Norden. Omago, sagte der Bärtige und nickte knapp. Höchst erfreut, dich kennen zu lernen, erwiderte Omago ein wenig unsicher. Irgendetwas an Veltans Bruder machte Omago nervös. Meine Schwester Zelana kennst du ja schon, fuhr Veltan fort, und dies ist meine andere Schwester Aracia. Aracia trug prächtige Kleider und eine erhabene Miene.
Meine Dame, sagte Omago höflich. Dahlaine und Aracia dachten, es wäre weise, die Anführer der Armeen, die sie angeheuert haben, hierher mitzubringen, damit sie alles beobachten können, erklärte Veltan. Sie werden vermutlich auch bald gegen die Wesen des Ödlands antreten müssen, und es kann nicht schaden, wenn sie wissen, was ihnen bevorsteht. 85 Lass mich das übernehmen, Veltan, sagte der bärtige Dahlaine. Er wandte sich an Omago. Veltan hat uns erzählt, du seist der Anführer seiner Armee. Ich weiß nicht, ob man meine Bauern wirklich als richtige Armee bezeichnen kann, erwiderte Omago. Wir sind mit Waffen nicht besonders vertraut, aber Kommandant Narasan hat versprochen, dass wir eine Ausbildung erhalten, soweit wir es brauchen. Hast du schon einmal von Pferden gehört?, fragte Dahlaine. Omago runzelte die Stirn. Ich fürchte nicht, gestand er. Ein Pferd ist so ähnlich wie eine Kuh - nur hat es keine Hörner, und es kann viel schneller laufen als eine Kuh, erklärte Dahlaine. Er streckte die Hand aus und legte sie einem schlanken Mann mit vernarbtem Gesicht auf die Schulter. Dies ist Prinz Ekial, der Anführer der Pferdemenschen. Vor einiger Zeit hat Ekials Volk die Pferde gezähmt und ihnen beigebracht, Lasten zu tragen. Nach einer Weile kam einem klugen Kerl die Idee, dass ein Pferd, wenn es schwere Säcke mit Getreide oder große Ladungen Feuerholz von einem Ort zum anderen schleppen kann, genauso gut auch Menschen zu befördern vermag - und ein Pferd kann viel schneller rennen als ein Mann. Die Pferdemenschen haben das eine Weile geübt, und dann gab es einen Krieg. In dem fanden die Pferdemenschen heraus, wie wirkungsvoll man vom Rücken eines Pferdes aus kämpfen kann. Da es im Lande Dhrall keine Pferde gibt, haben die Diener des Vlagh keine Ahnung, womit sie es zu tun haben werden. Ich bin ziemlich sicher, sie werden die Pferde nicht besonders mögen, und die Männer, die auf ihnen reiten, ebenfalls nicht - also diejenigen Diener des Vlagh, die überleben, und das werden nicht allzu viele sein. Setzt ihr euch tatsächlich auf den Rücken eines Tieres, wenn ihr irgendwohin wollt?, fragte Omago den narbengesichtigen Prinzen Ekial. Ekial zuckte mit den Achseln. Es ist leichter, als selbst zu laufen, antwortete er, und Pferde rennen gern. Wenn du ein gutes Pferd hast, kannst du einen Weg fünfmal schneller zurücklegen als zu Fuß. Können wir jetzt weitermachen?, mischte sich Zelanas ältere Schwester unwirsch ein. Ich habe noch einiges zu erledigen. Sie wandte sich an Omago. Und jetzt bitte nicht aufregen, Omago, sagte sie. Sie zeigte auf eine große Frau, an deren Ledergürtel ein sehr langes Messer hing. Dies ist Trenicia, die Königin der Kriegerinnen von der Insel Akalla. An verschiedenen Orten herrschen verschiedene Traditionen und verschiedene Sitten. Auf der Insel Akalla regieren die Frauen, und die Frauen kümmern sich um das Kämpfen. Und was machen dann die Männer?, fragte der Pferdemensch Ekial neugierig. So wenig wie möglich, antwortete die Kriegerin ironisch. Über die Jahre hinweg haben sie fast alle Aufgaben auf uns abgewälzt. Wir müssen die Felder bestellen, auf die Jagd gehen und Kriege führen. Die Männer sitzen herum, werden fett und streiten miteinander über etwas, das sie >Philosophie< nennen - wobei das meiste reiner Unsinn ist. Ist dein Schwert nicht ein wenig dünn?, fragte der Pferdemensch. Ich möchte meinen, es genügt nicht, um damit eine Rüstung zu durchdringen. Warum sollte ich meine Zeit damit verschwenden, irgendeiner Gegnerin auf die Rüstung zu dreschen, fragte Trenicia höhnisch. Die wichtigste Stelle an meinem Schwert ist die Spitze. Sie ist sehr scharf, und sie durchdringt ganz leicht den Feind. Im Bauch oder im Kopf gibt es jede Menge wichtige Organe. Meine Feindin verliert meist das Interesse am Krieg, wenn ich sie mit meinem Schwert ein paar Mal durchbohrt habe. Willst du damit sagen, du würdest Krieg gegen andere Frauen führen?, fragte Zelana gelinde überrascht. Wir müssen ja, erwiderte Trenicia. Die Männer von Akalla haben keine Ahnung, an welchem Ende sie das Schwert zu halten haben. Vor einigen Jahren gab es auf der Insel Streit darum, wer die wahre Königin ist. Jetzt müssen wir jedenfalls nicht mehr streiten. Jede noch lebende Anhängerin meiner Rivalin stimmt von ganzem Herzen zu, dass ich die Königin bin und dass ich die Befehle erteile. Sie lächelte fröhlich. Ist das nicht schön?, fragte sie in die Runde.
Aus unerfindlichem Grund überlief Omago angesichts der Kriegerkönigin ein Schauer. Unter ihrem hübschen Äußeren lauerte eine Wildheit, die beängstigend war. Dahlaine zog Veltan zur Seite, doch Omago war den beiden nahe genug, um ihre geflüsterte Unterhaltung zu verstehen. Hast du diesen Söldnern schon von der zweiten Invasion in Ashads Traum erzählt?, fragte Dahlaine leise. Noch nicht, antwortete Veltan. Ich weiß einfach nicht, wie ich es Narasan erklären soll, ohne ihn zu beleidigen. Deshalb hoffe ich, die Sache selbst regeln zu können - oder vielleicht mit Hilfe von Zelana. Sie kennt sich sehr gut mit Winden und Gezeiten aus, und vielleicht könnte sie eine herannahende Flotte für ein paar Jahrhunderte einfrieren. Dafür würde ich meine Hand nicht ins Feuer legen, Veltan, warnte Dahlaine. In Ashads Traum fand diese zweite Invasion eindeutig an der Südküste deiner Domäne statt. Deshalb muss es sich ja nicht unbedingt auch so ereignen, Dahlaine, widersprach Veltan. Schließlich träumte Eleria im Land der Maags, dass Sorgan und alle seine Männer getötet werden würden, doch Langbogen mischte sich ein und verhinderte, dass der Traum Wirklichkeit wurde. So wie ich es betrachte, sind diese Träume eher Warnungen als feststehende Gewissheiten. Nun, vielleicht, räumte Dahlaine ein, aber halte lieber Augen und Ohren offen. Diese runde Halterung passt genau über die Spitze des Speerschafts, Omago, erklärte der kleine Maag namens Hase am folgenden Tag, als die beiden in Omagos Hof bei der Arbeit waren. Dann klopfe ich mit dem Hammer die Spitze fest. Das ist wahrscheinlich besser, als einfach ein Messer an das Ende der Stange zu binden, gab Omago zu. Ich habe mir heute Nacht ein paar Gedanken darüber gemacht, sagte er, und mir ist wieder etwas eingefallen. Hat es wieder >puff< gemacht?, fragte Hase und grinste verschlagen. Nun, so ungefähr. Ich könnte mir vorstellen, ein Speer wäre noch wirkungsvoller, wenn er mehr als nur eine Spitze hätte. Ich glaube, einen Speer mit mehreren Spitzen habe ich noch nie gesehen. Omago ging in seinen Werkzeugschuppen und holte seinen hölzernen Heurechen. Dieses Werkzeug benutzen wir, um das Stroh wegzuräumen, nachdem wir den Weizen geerntet haben, erklärte er und hielt Hase den Rechen hin. Wenn die Zinken nach vorn und nicht nach unten ragen würden, wäre das nicht wirkungsvoller als nur eine einzige Spitze? Hase blinzelte und tippte abwesend mit dem Hammer auf den Amboss. Da könntest du eine hervorragende Idee gehabt haben, Omago, stimmte er zu. Ein gewöhnlicher Speer hat nur deshalb eine einzige Spitze, weil du lediglich jeweils einen Feind töten willst, doch mit dem Gift, das wir in der Schlucht verwendet haben, könntest du drei oder vier Schlangenmenschen mit einem Stich erledigen. Versuchen wir es mal und fragen dann den Käpt'n und Kommandant Narasan, was sie davon halten. Wenn deine Leute die Formation einnehmen, die du beschrieben hast, würden sie eine Menge vergifteter Spitzen vor sich hertragen. Wer ist auf die Idee gekommen, die Spitzen eurer Kriegswerkzeuge in das Gift zu tauchen? Langbogen oder Einer-Der-Heilt - ganz sicher bin ich nicht. Langbogen tötete bereits Schlangenmenschen, als er noch ein Junge war. Du wirst nicht glauben, wie gut er mit seinem Bogen umgehen kann. Hat er dir je erzählt, aus welchem Grund er die Schlangenmenschen so sehr hasst?, fragte Omago. Er nicht, aber in Lattash habe ich mich mit einem der Männer aus seinem Stamm unterhalten, und der hat mir verraten, ein Schlangenmensch habe das Mädchen ermordet, das Langbogen heiraten wollte, und danach hatte Langbogen nur noch einen einzigen Gedanken im Kopf: die Schlangenmenschen zu töten. 89 Schmieden wir mal einen dieser Rechenspeere und fragen den Käpt'n und Kommandant Narasan, was sie davon halten. Wenn es nur halb so gut funktioniert, wie es mir vorschwebt, wird ihnen dein Einfall sehr gut gefallen. Du hast ja ständig neue Ideen. Omago lächelte bescheiden. Vielleicht deshalb, weil ich so faul bin, Hase. Eines Tages fällt mir vielleicht ein Werkzeug ein, das die ganze Arbeit für mich erledigt. Dann kann ich bis Mittag im Bett liegen bleiben. Nun, nach dem Werkzeug suche ich schon, seit ich das erste Mal arbeiten musste, erwiderte Hase und grinste breit.
Keselo drehte den großen Metallschild um und zeigte Omago die Rückseite. Du musst den linken Arm durch diesen Lederriemen stecken und die Stange festhalten. Dadurch wird der Schild praktisch zu einer Erweiterung deines Armes und du kannst die Schwerthiebe deines Gegners abblocken - oder seine Stiche, wenn er einen Spieß verwendet. Die Wesen, mit denen wir es in der Schlucht zu tun hatten, besaßen keinerlei Waffen außer ihren eigenen Zähnen und Stacheln, und die Schilde haben sie ausreichend auf Abstand gehalten. Ich habe mich heute Morgen mit Hase unterhalten, und er stimmte mir zu, dass Holzschilde genauso gut seien wie welche aus Metall, da die Schlangenmenschen keine Schwerter und keine Äxte haben. Außerdem würden wir sowieso nicht genug Metall auftreiben, um alle Männer mit Metallschilden auszurüsten, und Holz ist leichter und besser zu tragen als Eisen oder Bronze. Und wenn der Schild aus Holz gemacht ist, kann Hase vermutlich eine Speerspitze in der Mitte anbringen, oder nicht?, schlug Omago vor. Keselo blinzelte. Daran habe ich noch gar nicht gedacht!, rief er. Wie in aller Welt bist du auf diese Idee gekommen, Omago? Die beiden Dinge haben sich einfach in meinem Kopf verbunden, gab Omago zurück. Eigentlich wollte ich nur einen Scherz machen, doch wenn die Speerspitze in Gift getaucht ist, hat man etwas, um sich zu verteidigen, wenn sich einer der Schlangenmenschen unter den Speerspitzen an den Stangen hindurchgeduckt hat. Du bist ein Genie, Omago! So weit würde ich nun auch wieder nicht gehen, Keselo, meinte Omago, und die Begeisterung des jungen Trogiten brachte ihn ein wenig in Verlegenheit. Wie ich es sehe, verlangt diese Phalanx, von der dein Kommandant gesprochen hat, einiges an Übung. Keselo nickte. Mindestens einige Wochen Drill, stimmte er zu. Also, wenn wir die Phalanxformation einnehmen, lassen wir die Schilde vorn überlappen, damit sie eine feste Mauer bilden. Dann schieben wir den Knauf unter den rechten Arm und halten den Schaft mit der rechten Hand. Den Griff des Schildes musst du fest mit der Linken halten, und den Schaft des Speeres genauso fest mit der Rechten. Am Anfang wirst du in beiden Armen ziemlichen Muskelkater bekommen, aber das legt sich nach einer Weile. Das Geheimnis der ganzen Sache ist, dass deine Soldaten sich als Gruppe bewegen müssen. Sie bilden eine Einheit, und sie müssen sich sehr gut verständigen. Wenn man die Phalanxformation benutzt, müssen die Männer die Speere fest an einer Stelle halten und dann im Gleichschritt vormarschieren. Sie schieben die Speerspitze durch ihre Bewegung in den Feind, anstatt im eigentlichen Sinne zuzustechen. Daran müssen wir uns sicherlich erst gewöhnen, meinte Omago zweifelnd. Ja, bestimmt. Wir fangen damit an, deinen Männern das Marschieren beizubringen. Das bedeutet, im Gleichschritt zu gehen. Jeder muss mit den anderen zusammen mit dem linken Fuß auftreten. Nach einer Weile wird es zur Gewohnheit, und dann können sie es im Schlaf - nun, fast jedenfalls. Ein Soldat zu werden ist doch komplizierter, als ich es mir vorgestellt habe, merkte Omago an. Es ist anstrengender als ehrliche Arbeit, erwiderte Keselo und grinste schwach. Meine Schiffe sind viel schneller als deine, Narasan, sagte Sorgan Hakenschnabel abends beim Essen. Ich kann die Bogenschützen der werten Dame Zelana in der halben Zeit herholen wie du mit deinen großen Kähnen. Aber nur halb so viele, hielt Narasan trocken dagegen. Wir können vermutlich die ganze Nacht darüber streiten, was besser ist schnell oder viele. Du hast einen seltsamen Sinn für Humor, Narasan. Niemand ist vollkommen, gab Narasan zurück. Wo genau liegt die Grenzlinie zwischen deiner Domäne und Zelanas, Veltan?, fragte Langbogen. Ich weiß nicht, ob ich es unbedingt eine Linie nennen würde, erwiderte Veltan. Warum fragst du? Die meisten Bogenschützen sind Jäger, und Jäger können ausdauernder laufen als die meisten anderen Leute, die den ganzen Tag nur herumsitzen. Jedes Schiff - ob nun Sorgans oder Narasans -muss den langen Weg übers Meer nehmen, um nach Lattash zu kommen. Die Bogenschützen könnten hingegen quer durchs Land laufen, und wenn ich mich an deine Nachgebaute Karte richtig erinnere, ist der direkte Weg von Lattash hierher nur halb so lang wie der, den ein Schiff zurücklegen müsste. Er sah Veltan mit einem schwachen Lächeln an. Wir könnten ein Rennen veranstalten, wenn ihr möchtet, und vielleicht können wir sogar Wetten abschließen. Ich glaube, ich würde mein Geld auf Langbogen setzen, Sorgan, verkündete Narasan. Aber nicht gegen mich, ganz bestimmt nicht, sagte Sorgan mürrisch. Eins habe ich inzwischen über
Langbogen gelernt -versuche niemals, ihn zu besiegen, gleichgültig worin. Am nächsten Morgen kam ein Trogit mit schütterem Haar namens Gunda vom Strand hoch, um sich mit Kommandant Narasan zu besprechen. Ich habe von einem Schreiber eine Kopie meiner Karte für Andar anfertigen lassen, berichtete er, und er wird den Hauptteil der Armee durch den Kanal im Eis führen. Dann habe ' ich ein Fischerboot gekauft, damit ich herkommen und feststellen kann, wo genau wir mit der Armee landen sollen. Schließlich werde ich zum oberen Ende des Kanals zurückkehren und Andar herbringen. Wie lange wird es noch dauern, Gunda?, fragte Narasan. Ungefähr zwei Wochen. Geht es schon los? Soweit wir wissen nicht, antwortete Narasan. Natürlich kann man nie sicher sein, wenn man es mit diesen Schlangenmenschen zu tun hat. Warum hast du Padan nicht mit raufgebracht? Nun, er ist ein wenig nervös, Kommandant, erklärte Gunda. Wenn er herkommt, wird er dir ein paar Dinge berichten müssen, die dich wohl nicht sehr glücklich machen werden. Die da wären? Ist das ein Befehl, Auskunft zu geben, Kommandant?, fragte Gunda. Ich möchte mir von Padan nicht nachsagen lassen, ich hätte ihn verpfiffen. Betrachte es also als Befehl, Gunda. Was ist unten am Strand los? Nun, Kommandant, als Padan gestern Morgen aufwachte, bemerkte er, dass Veltans Boot verschwunden ist. Was sagst du da?, wollte Veltan wissen. Es ist verschwunden, wiederholte Gunda, aber das Ganze kommt noch besser. Padan hat mir erzählt, Kommandant Narasan habe Jalkan seines Ranges enthoben und ihn in Ketten legen lassen. Nach einer Weile zählte Padan eins und eins zusammen und rannte hinunter zu dem kleinen Raum im Kiel, wo Jalkan an die Wand gekettet worden war - und nun ratet mal. Jalkan war auch nicht mehr da. Natürlich könnte es reiner Zufall sein, dass Veltans Boot und Jalkan beide in der gleichen Nacht verschwunden sind, aber ich würde lieber meinen Monatssold nicht darauf verwetten. Macht du vielleicht nur Scherze, Gunda?, verlangte Narasan zu wissen. Ich habe lediglich Bericht über das erstattet, was vorgefallen ist, Kommandant. Wenn ich mich recht entsinne, hast du es mir befoh93 len, und ein guter Soldat gehorcht stets Befehlen. Er setzte eine Unschuldsmiene auf. Und lachte dann schallend. Nachdem er ein wenig darüber nachgedacht hatte, musste Omago ehrlicherweise zugeben, dass die Fremdlinge ein wenig fortschrittlicher waren als die Bewohner des Landes Dhrall, aber ihre sozialen Strukturen ließen einiges zu wünschen übrig. Sie benahmen sich eher wie Kinder - und trugen dabei tödliche Waffen und waren bereit, unter jedem beliebigen Vorwand in den Krieg zu ziehen. Diese kindliche Aggression gereichte den Menschen des Landes Dhrall im Augenblick zum Vorteil. Die gegenwärtige Situation erforderte viele angeheuerte Männer, die töten konnten, und anscheinend hatten Veltan und seine Schwester die Besten gefunden, um sie gegen die Diener des Vlagh ins Feld zu schicken. Omago lächelte schwach. Die Fremdlinge staunten stets so sehr über die Verbesserungen, die er vorschlug. Offensichtlich war für die Fremdlinge das Bild der primitiven Wilden in Stein gemeißelt. Die Möglichkeit, jemand aus dem Lande Dhrall könnte Innovationen ihrer Waffen vorschlagen, überstieg ihre Vorstellungskraft. In gewissem Maße hing dieser blinde Fleck in der Wahrnehmung der Fremdlinge damit zusammen, dass sie keine Ahnung von - oder kein Interesse an - der umfassenden Ausbildung hatten, die Omago seit der frühen Kindheit von Veltan erhalten hatte. Mit großer Sicherheit hatte keiner der Trogiten oder Maags einen Gott als Lehrer gehabt. So waren ihm bestimmte Gedankenverbindungen gewissermaßen zur zweiten Natur geworden. Aus reiner Gewohnheit dachte Omago von Wirkung aus zu Ursache, und das erschien den Fremdlingen unnatürlich. Sie dachten in die andere Richtung. Ich brauche etwas, das diesen und diesen Zweck erfüllt, war die Grundhaltung, auf der die meisten Erfindungen beruhten, und nicht: Ich frage mich, was dieses Ding wohl kann, wenn ich es zusammenbaue, aber zweifellos war ihnen dieser Unterschied niemals in den Sinn gekommen. 94 Allerdings musste er sich einen schwerwiegenden Fehler eingestehen. Jalkans Beleidigung wäre die
perfekte Gelegenheit gewesen, eine ernsthafte Gefahr aus der Welt zu schaffen. Ich hätte ihn an Ort und Stelle umbringen sollen, murmelte Omago voller Bedauern. Narasan hat es mir ja geradezu angeboten, und ich habe es abgelehnt - vermutlich, weil ich die Trogiten nicht beleidigen wollte. Das war gewiss nicht das Letzte, was wir von diesem unflätigen Lüstling gesehen haben. Dann fiel ihm etwas ein. Hatte Ära möglicherweise diese Lüsternheit bewusst bei Jalkan ausgelöst? Omago war sicher, dass sie dazu in der Lage war. Das Gleiche hatte sie bei ihm gemacht, als sie zu ihm in den Obsthain gekommen war. Allein ihr Anblick hatte ihn hörig werden lassen. Wenn sie tatsächlich Jalkan in diese Richtung hatte treiben wollen, war ziemlich offensichtlich, was sie damit beabsichtigt hatte. Omago verfluchte sich. Er hatte ihr gegenüber versagt. Bestimmt hatte sie von ihm erwartet, dass er auf primitivste Weise reagieren würde Jalkan den Verstand aus dem Leib prügeln oder ihn mit dem eisernen Messer aufschlitzen. Wenn sie das wollte, hätte sie es mir doch sagen können. Er zuckte mit den Schultern. Nun, ja, seufzte er. Vielleicht beim nächsten Mal. Der Verrat
7 Jalkan von Kaldacin war der letzte Angehörige einer einst prominenten Familie des trogitischen Weltreichs. Viele seiner Vorfahren hatten ehrenvoll und würdig dem Palvanum gedient, andere standen historisch bedeutenden Imperatoren als Berater zur Seite. Über die Jahrhunderte hinweg hatte die Familie Reichtum, Ansehen und Macht angesammelt, und die Namen mehrerer ihrer Mitglieder waren auf öffentlichen Denkmälern verewigt. Im vergangenen Jahrhundert jedoch hatte der steile Abstieg von Jalkans Familie begonnen. Etliche Taugenichtse hatten den Reichtum mit Ausschweifungen, Glücksspiel und exzessivem Trinken leichtfertig vergeudet. Geldverleiher saßen ihnen auf den Fersen, und eine ganze Reihe von Jalkans direkten Vorfahren hatte ihre letzten Jahre im Schuldturm verbracht. Als Jalkan das Erwachsenenalter erreichte, war der Ruf der Familie bereits endgültig ruiniert, und ihm standen nur wenige Möglichkeiten für eine Karriere in Aussicht. Er erwog, sich einem der trogitischen Unternehmen anzuschließen, die gegenwärtig große Reichtümer im Lande Shaan erwarben. Der Gedanke, unwissende Wilde um ihr Gold zu betrügen, hatte durchaus seine Verlockungen, doch ließ Jalkan ihn sofort fallen, als in Kaldacin die Nachricht einer kolossalen Katastrophe eintraf. Irgendein Idiot hatte in betrunkenem Zustand am falschen Ort vor den falschen
Leuten mit seinen Erfolgen geprahlt, und nun tobten die Eingeborenen des Landes Shaan und schlachteten - und aßen! jeden Trogiten, den sie in die Finger bekamen. Jalkan wandte sich in Anbetracht der Aussicht, karges Geld mit harter, ehrlicher Arbeit verdienen zu müssen, der letzten Zuflucht der Halunken zu. In seine einfachste Kleidung gehüllt und mit ei99
nem ernsthaften, frommen Ausdruck im Gesicht nahm er drei- bis viermal am Tag an den heiligen Diensten des hiesigen amaritischen Konvents teil. Nach angemessener Zeit bemerkte einer der niederen Priester des heiligen Konvents Jalkan und machte den Oran auf ihn als möglichen Nachwuchs des Klerus aufmerksam. Der Oran unterhielt sich mit Jalkan und nahm ihn als Novizen auf, wobei er lediglich ein Drittel von Jalkans recht beschränkten Besitztümern als Zeichen des guten Willens verlangte. Jalkan zuckte zwar zusammen, stimmte jedoch schließlich zu. Seine ersten Monate als neues Mitglied des Klerus waren durchaus unangenehm, denn die amaritische Hierarchie widmete sich mit Hingabe dem Aussieben unwürdiger Novizen. Jalkan war so klug, nicht zu viel zu stehlen und jene seiner Mitnovizen zu verleumden, die übermäßig ehrlich oder eindeutig klüger waren als er. Sein Scharfsinn wurde von den Oberen bemerkt und fand ihre Zustimmung. Jalkans unmittelbarstes Ziel als Novize bestand darin, die nächste Stufe in der Priesterschaft zu erklimmen, den Hiera. Ein Hiera im amaritischen Glauben durfte keine schweren körperlichen Arbeiten verrichten, und er bekam sogar einen eigenen Raum. Die Räume der Hieras nannte man Zellen; zwar waren sie winzig, aber dennoch viel besser als die übel riechenden Schlafsäle im Erdgeschoss, wo die Novizen wie Vieh zusammengepfercht waren. Weil er ein wenig des Lesens und Schreibens kundig war, beschränkten sich Jalkans Pflichten als Hiera auf Arbeiten in der Verwaltung, und zu seiner Überraschung entdeckte er, dass fast die Hälfte des Imperiums der amaritischen Kirche gehörte. Die riesigen Grundbesitzungen der Kirche produzierten einen Großteil der Lebensmittel für das Reich - zu einem stattlichen Preis -, und allein die jährlichen Mietzinse für die verschiedenen Gebäude in der Hauptstadt Kaldacin brachten Schwindel erregende Summen in die Kassen. An einem düsteren Winternachmittag stieß Jalkan auf ein altes Dokument, in dem die Schließung eines heruntergekommenen ioo
Konvents im Armenviertel der Kaiserstadt Kaldacin verfügt wurde. Falls das verblichene Dokument die Wahrheit sagte, hatte man das Gebäude vor fast einem Jahrhundert geschlossen, und die Bücher der Kirche verrieten, dass es seitdem nicht eine einzige Kupfermünze an Einkünften beschert hatte. Wenn dies tatsächlich stimmte, so erkannte Jalkan, war er vermutlich der einzige Mensch auf der Welt, der überhaupt von der Existenz dieses Gebäudes wusste. Von Neugier getrieben hüllte sich Jalkan in seinen schweren Mantel und schlich durch die Stadt in das Viertel, in dem dieser Konvent liegen sollte. Eine bröckelnde Mauer umschloss das traurig aussehende Gebäude, das zum größten Teil von Bäumen und Büschen verborgen wurde. Jalkan war überaus enttäuscht. Er hatte gehofft, der verlassene Konvent würde einen gewissen Wert darstellen, doch war offensichtlich, weshalb sich keine Einkünfte daraus ziehen ließen. Ein kräftiges Niesen konnte das Gebäude zum Einsturz bringen. Als er sich gerade abwenden wollte, bemerkte er einen schwachen Lichtschein, der durch ein marodes Brett fiel, mit dem eines der Fenster teilweise verbarrikadiert war. Offensichtlich war das alte Haus doch nicht so verlassen, wie es auf den ersten Blick wirkte. Neugierig stieg Jalkan an einer niedrigen Stelle über die bröckelnde Mauer und trat auf das verrufene Gebäude zu. Beim Näher kommen hörte er Stimmen aus dem Innern; er stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte durch eine Ritze in dem Brett vor dem Fenster. Im Inneren des leer geglaubten Konvents saß ein unglaublich fetter Mann an einem einfachen Tisch, auf dessen einem Ende eine rauchende Lampe stand, und dieser fette Mann hielt ein wundervoll gearbeitetes Metalltablett in die Höhe. Das ist massives Silber, Esag. Es ist viel mehr wert als nur eine Goldkrone.
Ich würde dir vielleicht sogar anderthalb bieten, Rabell, aber da ist ein Wappen eingraviert, und deshalb kann ich es nicht im Fenster meines Ladens ausstellen. Wenn dieser dumme Aristokrat, dem es deine Leute gestohlen haben, zufällig vorbeigeht und es entdeckt, hetzt er mir noch vor Sonnenuntergang die Gesetzeshüter auf den Hals. Jalkan hätte sich beinahe verschluckt. Ein Schlupfwinkel für Diebe!, keuchte er, und sie zahlen uns nicht ein Kupferstück an Mietzins! Ich kann dir das Tablett für zwei Kronen lassen, Esag, gab der fette Mann nach, aber tiefer gehe ich nicht. Du bist durch und durch ein Betrüger, Rabell, knurrte Esag. Du musst es ja nicht kaufen, wenn du nicht willst, sagte der Fette. Ich habe jede Menge anderer Kunden. Besagter Esag holte zwei Goldmünzen aus seinem Beutel, warf sie auf den Tisch und ging mit dem Silbertablett hinaus. Dann erschien ein stämmiger Rüpel mit einem kleinen Mädchen neben sich aus dem Schatten. Beim Feilschen bist du wirklich unschlagbar, Rabell, sagte er krächzend. Diesen Idioten könnte ich jeden Tag der Woche zum Frühstück verspeisen, Grol, höhnte Rabell. Er hielt ihm eine der Goldkronen hin. Das ist deine Hälfte, mein guter Freund. Darüber wollte ich eigentlich mal mit dir sprechen, Rabell, sagte der Rüpel. Mir erscheint unsere Vereinbarung nicht allzu gerecht. Ich meine, die Kleine und ich sind sozusagen Partner, und sie bekommt nicht ihren gerechten Anteil. Das müsst ihr zwischen euch ausmachen, Grol. Die Hälfte du, die Hälfte ich, so lautet unsere Abmachung. Du und die Kleine, ihr besorgt das Stehlen, und ich kümmere mich um den Verkauf. Grol murrte noch ein bisschen, nahm jedoch die Münze. Ich weiß nicht, wie lange die Kleine noch für uns stehlen kann, Rabell, sagte er. Aus irgendeinem Grund wird sie immer fülliger, und es fällt ihr immer schwerer, durch die winzigen Fenster in die Häuser einzusteigen. Bald muss ich mir ein anderes Kind suchen, das für mich die Stehlerei besorgt. Dein Problem, Grol, erwiderte Rabell. Und nun raus mit dir. Es warten noch ein paar, die mir ihre Beute anbieten wollen. 102
In dieser Nacht fand Jalkan keinen Schlaf. Als Mitglied des Klerus war es seine Pflicht, seinem Oran die Angelegenheit zur Anzeige zu bringen, doch er wusste nur zu gut, dass Oran Paldor sich den fetten Hehler Rabell, der in dem verlassenen Konvent seine Geschäfte führte, vorknöpfen und ihm einen ansehnlichen Teil seines Gewinns abnehmen würde. Außerdem war er sicher, dass Paldor keineswegs seinen Oberen von der Vereinbarung berichten würde. Paldor wäre Jalkan gewiss sehr dankbar, doch nicht dankbar genug, um ihn an den Gewinnen teilhaben zu lassen. Allerdings bot sich da eine weitere Möglichkeit, und die war viel, viel reizvoller als die schnöde Erfüllung seiner Pflicht. Dieses Gebäude ist Eigentum der Kirche, Rabell, erklärte Jalkan dem fetten Mann am nächsten Nachmittag in dem verfallenen alten Konvent. Du kannst dich hier nicht einfach ohne Erlaubnis einnisten. Ich schätze, du wirst eine Menge Schwierigkeiten bekommen. Reg dich nicht auf, erwiderte Rabell mit einer gewissen Resignation in der Stimme. Ich werde noch vor Sonnenuntergang verschwunden sein. Ich habe nicht gesagt, dass du verschwinden musst, Rabell. Ich meinte lediglich, du solltest der Kirche etwas für die Nutzung dieses prächtigen Konventgebäudes zahlen. Der richtige Ausdruck ist, glaube ich, >Grundzins<. Wenn du zahlst, kannst du bleiben. Komm zur Sache, Jalkan. Wie viel willst du? Oh, ich weiß nicht. Die Hälfte klingt ganz recht in meinen Ohren. Vergiss es. Ich kann meine Geschäfte auch woanders tätigen. Reg dich nicht auf, Rabell. Das war lediglich ein Vorschlag. Ich bin für Verhandlungen offen. Nicht, bevor du aufhörst zu lügen. Die Kirche ist an dieser Sache gar nicht beteiligt, und alles Geld, das ich dir geben werde, landet in deinem eigenen Beutel. Ist es nicht das, was dein gieriger Verstand ausgeheckt hat? Nun ... Habe ich es mir doch gedacht. Ich kann dich nur warnen: Blin103
zele nicht, Jalkan, denn wenn du es tust, werde ich verschwunden sein, sobald du die Augen wieder
aufschlägst. Ich kann dafür sorgen, dass es sich für dich lohnt, Rabell, sagte Jalkan ein wenig verzweifelt. Da solltest du lieber einen guten Vorschlag machen, knurrte Rabell. Ich bin ein Hiera in der amaritischen Kirche, und ich war schon oft in den Palästen der oberen Angehörigen des Klerus. Daher kann ich dir genau beschreiben, wo in diesen Palästen die Kostbarkeiten aufbewahrt werden. Das sollte dir doch etwas wert sein, oder nicht? Nun, vielleicht. Vor allem müsste ich wissen, wie diese Paläste bewacht werden. Die kleinen Kinder, die für uns das Stehlen besorgen, sind sehr wertvoll für uns, und ich werde keine Risiken eingehen. Wie in aller Welt bist du überhaupt auf diese Idee gekommen?, erkundigte sich Jalkan. Woher stammst du eigentlich, Jalkan?, fragte Rabell zurück. Das machen wir schon seit Generationen so. Als ich ein kleiner Junge war, galt ich als bester Dieb von Kaldacin. Ich konnte mich durch das Gitter jedes Fensters der Stadt schlängeln. Und wenn es keine Fenster gab, kroch ich durch ein Rattenloch. Er legte die Hände auf seinen Wanst. Seitdem habe ich allerdings ein wenig an Gewicht zugelegt. Das ist mir schon aufgefallen. Was denkst du, Rabell? Ist dir mein Wissen über die Aufbewahrungsorte der Schätze einen gerechten Anteil an der Beute wert? Wir können ja mal einen Versuch unternehmen, denke ich -aber unsere Abmachung gilt nur für die Orte, von denen du mir berichtest. Ich habe einige Banden da draußen, und die berauben hübsche Villen überall in der Stadt. Eine Sache verstehe ich noch nicht ganz, Rabell, räumte Jalkan ein. Könntest du nicht mehr Geld einnehmen, wenn du diese Kerle beseitigst, die den Kindern erklären, welches Haus sie ausrauben sollen? 104
Soll ich vielleicht selbst auf der Straße Wache stehen, während die Kinder in den Häusern stehlen gehen? Hast du den Verstand verloren? Ach, sagte Jalkan, dann ergibt das wahrscheinlich durchaus Sinn. Also, kommen wir zum geschäftlichen Teil, Jalkan, schlug der Fette vor. Ich muss einiges über diese Kirchenpaläste wissen, bevor ich eines meiner Kinder riskiere. Ich kenne genau den Richtigen, sagte Jalkan und rieb sich die Hände. Wie laufen die Dinge, Rabell?, fragte Jalkan den fetten Mann einige Tage später. Besser als erwartet, antwortete Rabell. Das Haus, auf das du mich aufmerksam gemacht hast, war eine Goldmine. Ich habe Grol und seine Kleine hingeschickt. Sie musste acht Mal von der Küche zum Fenster, um die ganze Beute rauszuschaffen. Dieses Geschirr und das Tafelsilber haben uns eine Menge Geld eingebracht. Ich habe mir noch ein paar andere Häuser angeschaut, sagte Jalkan. Ein paar von ihnen könnten wir sicherlich in Betracht ziehen. Rechnen wir erst einmal ab, dann können wir uns darüber unterhalten.
8 Ich fürchte, ich muss meinen Oran beleidigt haben, beschwerte sich Jalkan bei einem älteren Diener im Palast von Adnari Radan. Er behauptet, dass wir für die Kirchenbücher genaue Aufzeichnungen über jedes kircheneigene Gebäude in Kaldacin brauchen, aber ehrlich gesagt halte ich das schlicht für eine Lüge. Jedenfalls ist das die langweiligste Arbeit, die man mir übertragen hat, seit ich in die Kirche eingetreten bin, und ich werde alt und grau sein, bevor ich sie auch nur halbwegs geschafft habe. 105
Wir leben, um zu dienen, sagte der Diener fromm. Gewiss, gewiss, stimmte Jalkan ironisch zu. Ist dies das Studierzimmer des Adnari?, fragte er und zeigte auf eine reich verzierte Tür. Ich möchte ihn nicht stören. Im Augenblick ist er drüben im Konvent. Es wird nur ein paar Minuten dauern, sagte Jalkan. Bestimmt hast du noch andere Aufgaben zu erledigen. Ich werde nichts durcheinander bringen, und ich schließe die Tür hinter mir, wenn ich gehe. Ja, in der Tat habe ich zu tun, Hiera Jalkan, sagte der alte Mann. Brauchst du mich auch ganz sicher nicht? Ich bin jetzt schon seit Wochen mit dieser Arbeit beschäftigt, mein Freund, erwiderte Jalkan. Nicht
mehr lange, und ich mache alles im Schlaf. Der alte Mann lächelte und ging den Gang hinunter. Jalkan betrat Adnari Radans Studierzimmer und schaute sich um. Der Raum war mit lauter wertvollen Gegenständen gefüllt. Rasch notierte sich Jalkan die kostbarsten von ihnen. Anscheinend hatte Adnari Radan einen erlesenen Geschmack. Jalkan musste dieses Haus einfach für Rabell auf die Liste setzen. Pfeifend kehrte er nach Hause zurück und stieg gut gelaunt die Treppe zu seiner Zelle im ersten Stock hinauf. Dann blieb er plötzlich stehen. Drei Männer mit eisenharten Gesichtern und den typischen Uniformen der Kirchenregulatoren, den inneren Gesetzeshütern der amaritischen Kirche, erwarteten ihn. Er wollte die Treppe hinunterrennen, doch die Regulatoren waren zu schnell für ihn. Sie ergriffen ihn und stießen ihn an die Wand. Du stehst ab sofort unter Arrest, Hiera Jalkan, verkündete einer mit fast gelangweilter Stimme. Aber ich habe doch gar nichts verbrochen!, protestierte Jalkan. Wie zufällig versenkte einer der Regulatoren seine Faust in Jalkans Bauch, dass ihm die Luft wegblieb. Während er nach Luft schnappte, legten ihm die Regulatoren Ketten an. Wir nehmen dich in Gewahrsam, Hiera Jalkan, verkündete ei106
ner der anderen beiden Regulatoren. Du kommst mit uns, und wenn du Schwierigkeiten machst, prügeln wir dir die Seele aus dem Leib. Welches Vergehens werde ich beschuldigt?, wollte Jalkan wissen. Das geht dich nichts an, entgegnete der Regulator. Adnari Estarg hat uns befohlen, dich zu ihm zu bringen, und genau das werden wir tun. Jalkan begann heftig zu zittern. Adnari Estarg war der mächtigste Mann in der amaritischen Kirche, und ihm eilte ein fürchterlicher Ruf voraus. Die Kirchengesetze verboten die Todesstrafe für Priester und sogar für Novizen, doch war in Kaldacin allseits bekannt, dass Adnari Estarg Formen der Bestrafung kannte, denen man den Tod beinahe vorziehen würde. Die Regulatoren zerrten den zitternden Gefangenen durch die Straßen von Kaldacin zu dem prunkvollen Palast neben dem riesigen prächtigen Konvent, welcher das Zentrum des amaritischen Glaubens darstellte. Dann führten sie ihn über eine Marmortreppe in ein exquisit möbliertes Studierzimmer im ersten Stock des Palastes. Sie drückten ihn vor dem Thron eines wohlbeleibten Mannes in der roten Robe eines Adnari auf die Knie. Der Gefangene Jalkan, Exzellenz, sagte jener Regulator, der bislang das Reden übernommen hatte. Wunderbar, antwortete der rundliche Kirchenmann und rieb sich die Hände. Das wäre dann alles, meine Herren. Ich werde mich persönlich mit diesem abscheulichen Subjekt befassen. Wie du wünschst, Exzellenz, sagte der Regulator, verneigte sich leicht, ehe die drei das Studierzimmer verließen und die Tür hinter sich schlössen. Schändlich, Hiera Jalkan, sagte Adnari Estarg. Schändlich, schändlich, schändlich. Was soll ich nur mit dir anstellen, du ungezogener Junge? Der Adnari klang beinahe amüsiert. Erkennst du nicht, dass du einen heiligen Konvent entweiht hast, indem du ihn in einen Unterschlupf für Diebe verwandelt hast? 107
Er stand doch schon lange leer, Exzellenz, protestierte Jalkan. Dadurch wurde die Weihung nicht aufgehoben, Jalkan, beharrte der Adnari. Eigentlich war es gar nicht meine Idee, Exzellenz. Der alte Konvent stand seit langem leer, und der Anführer einer Diebesbande war ohne Erlaubnis eingezogen und tätigte seine Geschäfte dort. Warum hast du es deinem Oran nicht erzählt? Nun ... Verzweifelt suchte Jalkan nach einer Erklärung, die ihn nicht noch tiefer in Schwierigkeiten stürzen würde. Ich warte, Jalkan. Ich habe den Kopf verloren, Exzellenz, gestand Jalkan. Die Diebe verdienen so viel Geld, und ... Jalkan versagte die Stimme. Und du hast die Chance ergriffen, ihnen das meiste wieder abzunehmen, ja? Nur ein Viertel, Exzellenz, protestierte Jalkan. Zuerst dachte ich, mehr herausschlagen zu können, doch Rabell wollte sich nicht darauf einlassen. Rabell? Der fette Mann, der die Diebe beschäftigt. Sie stehlen, und er verkauft, was sie erbeutet haben. Der eigentliche Trick bei der Sache sind die Kinder. Adnari Estargs Blick schien Jalkan durchbohren zu wollen. Kinder?, rief er. Was haben Kinder damit zu tun?
Sie sind es, die die Einbrüche besorgen, Exzellenz. Wie ich es verstanden habe, benutzen die Diebe schon seit Jahren Kinder. Wer Kostbarkeiten in seinem Haus aufbewahrt, vergittert meist die Fenster, aber die Kinder, die Rabell beschäftigt, sind klein genug, um zwischen den Stangen hindurchzuschlüpfen und meist ohne Schwierigkeiten in die reichen Häuser hineinzugelangen. Rabell sagte mir, in seiner Kindheit sei er der beste Dieb von Kaldacin gewesen. Und welche Rolle spielst nun du in diesem ... Komplott, Hiera Jalkan? Äh ... das würde ich lieber für mich behalten, Exzellenz, erwiderte Jalkan nervös. 108
Sicherlich werden die Regulatoren einen Weg finden, deine Meinung zu ändern, Hiera Jalkan, drohte der Adnari. Nun ..., gestand Jalkan zögerlich, ich finde gewissermaßen die Häuser, in denen es viele Kostbarkeiten gibt. Und wie erlangst du Zugang zu diesen gewissen Häusern?, drängte der Adnari. Also, zum größten Teil sind es die Häuser - und Paläste - der reicheren Angehörigen unseres Klerus, Exzellenz. Ich erzähle ihnen, dass die Kirchenbeamten eine genaue Aufstellung jeglicher Kirchenbesitztümer brauchen und alle Kirchengebäude in das Kirchenregister eingetragen werden müssen. Das öffnet mir eine Menge Türen, und so kann ich mich in jedem Gebäude umschauen, das der Kirche gehört. Wenn ich viele Kostbarkeiten bemerke, erzähle ich Rabell davon, und er sorgt für den Einbruch. Ich bekomme ein Viertel der Beute. Er lässt die Diebe auch andere Häuser ausrauben, sagt er, doch Geld erhalte ich nur für diejenigen, von denen ich ihm berichte. Aha, jetzt ergibt das Ganze einen Sinn, stellte Adnari Estarg fest. Du bist sehr klug, Hiera Jalkan, aber du weißt, dass du ein schwerwiegendes Verbrechen begangen hast? Erneut begann Jalkan zu zittern. Zittere nicht so, lieber Junge, sagte Adnari Estarg zu ihm. Ich glaube eine Möglichkeit zu kennen, wie du für deine Sünden büßen kannst - allerdings zu einem gewissen Preis. Alles hat seinen Preis - oder hast du das schon gewusst? Ich zahle, was immer ich besitze, Exzellenz, gelobte Jalkan mit bebender Stimme. Das wirst du in der Tat tun, Jalkan. Also, kommen wir zum Geschäft. Wie viele dieser kleinen Kinder kann der Schurke Rabell zusammenholen? Ich bin mir nicht ganz sicher, Exzellenz. Bislang hatte ich wenig Kontakt mit ihren Aufpassern. Aufpasser? Das sind die Männer, denen die Kinder mehr oder weniger gehören. Sie entscheiden, welches Haus ausgeraubt werden soll, und 109
stehen draußen Wache, während das Kind im Inneren den Raub durchführt. Unser Geschäft scheint mir ja sehr gut organisiert zu sein. Unser Geschäft? Du wirst sicherlich Rabell gern darauf hinweisen, dass ich von nun an ebenfalls beteiligt bin. Ich werde einen Erlass darüber tätigen, dass der Umfang des Kirchenbesitzes an Gebäuden festgehalten werden soll, und setze mein Siegel darunter. Damit wirst du in Häuser und Paläste gelangen, von deren Existenz du vermutlich noch nicht einmal geträumt hast. Unser ruhmreicher Naos, Parok VII., ist inzwischen so senil, dass er den Tag nicht mehr von der Nacht unterscheiden kann. Das bedeutet, der dienstälteste Adnari - also ich - führt die Kirchengeschäfte, und was ich sage, ist Gesetz. Ich denke, unser erster Schritt sollte sein, diese >Aufpasser<, wie du sie nennst, in die Uniform von Kirchenregulatoren zu stecken. Das dürfte sehr nützlich sein. Niemand legt sich mit den Regulatoren an. Am besten gehst du gleich zu deinem fetten Freund und sagst ihm, von nun an würden die Dinge anders laufen. Ah, Exzellenz, sagte Jalkan. Im Augenblick kann ich nirgendwo hingehen. Man hat mir Ketten angelegt, schon vergessen? Ach, tatsächlich, Jalkan, erwiderte Adnari Estarg mit geheucheltem Erstaunen, wie habe ich das nur übersehen können? Die Dinge laufen von jetzt an ein wenig anders, Rabell, erklärte Jalkan, nachdem er in den alten Konvent zurückgekehrt war. Anders? Wie denn?, fragte der fette Mann misstrauisch. Nachdem ich Adnari Radans Palast ausgekundschaftet hatte, ging ich zu meiner Zelle zurück, um meine Notizen zu sortieren, aber dort warteten leider drei Regulatoren auf mich. Regulatoren}, rief Rabell. Wieso lebst du denn dann noch?
Die Regulatoren sind gar nicht so übel, Rabell. Sie haben mich mit Ketten gefesselt und durch die Stadt zum Palast von Adnari Estarg geschleppt. Rabells Gesicht wurde kreidebleich, und er begann zu zittern. Der Adnari hatte offensichtlich gerüchteweise von dem verIIO
nommen, was wir tun, also quetschte er die Wahrheit aus mir heraus. Wenn wir uns beeilen, können wir Kaldacin bis Sonnenuntergang verlassen haben, quiekte Rabell. Reg dich nicht so auf, Rabell. Nachdem der Adnari die Einzelheiten über unsere Geschäfte erfahren hatte, verkündete er, dass wir von nun an die Befehle von ihm erhalten. Ist das ein Scherz, Jalkan? Dir fällt gewiss auf, wie wenig herzlich ich darüber lachen kann. Jetzt bleib mal ganz ruhig, Rabell. Er hat mir gesagt, er würde eine Proklamation erlassen, der zufolge alle Gebäude und Besitztümer der Kirche in offiziellen Dokumenten aufgelistet werden sollen, und zwar sollten dabei auch die exakten Maße jedes einzelnen Raumes aufgeführt werden. Unter diese Anordnung setzt er sein Siegel und überlässt sie mir. Wen immer ich aufsuche, wird gezwungen sein, mir die Tür zu öffnen und mich einzulassen. In einer Woche oder so werden unsere Leute Häuser ausrauben, von deren Existenz wir nicht einmal geahnt haben - und die Aufpasser der Kinder werden die Uniformen der Kirchenregulatoren tragen, so dass uns niemand stören wird. Erstaunen und Verwunderung machten sich auf Rabells Gesicht breit. Wir werden reich, Jalkan!, jubelte er. Wir werden reich, reich, reich! Falls ich träume, weck mich bitte jetzt nicht auf! Nein, das ist bestimmt kein Traum, mein lieber Freund, versprach Jalkan. Und dann lachten beide wie die Verrückten. Der Regulator, der Jalkan einige Monate zuvor verhaftet hatte, klopfte höflich an Jalkans Zellentür und benahm sich diesmal wesentlich gesitteter. Adnari Estarg möchte sich mit dir unterhalten, Hiera Jalkan, sagte er freundlich. Ich komme sofort, erwiderte Jalkan und erhob sich rasch. Sie gingen durch die Straßen des imperialen Kaldacin zum Palast des Adnari, und Jalkan wurde sofort in Estargs Studierzimmer geführt. in
Ach, da bist du ja, Jalkan, begrüßte ihn der fette Kirchenmann. Die Dinge stehen gut für uns. Ja? Der heilige Naos Parok VII. hat offenbar ernstliche Probleme mit der Gesundheit. Seine Ärzte haben mich darauf hingewiesen, dass er nicht mehr lange unter uns weilen wird. Ich werde für seine Genesung beten, Exzellenz, verkündete Jalkan fromm. Natürlich tun wir alle das, stimmte Estarg zu, aber wir wollen es auch nicht übertreiben. Der Himmlische Amar ist sehr beschäftigt im Augenblick: mit dem Wechsel der Jahreszeiten, mit dem Sonnenauf- und -Untergang - all diesen lästigen Pflichten, die einen Gott so viel Zeit kosten. Parok VII. hat ein erfülltes Leben hinter sich. Die Kirche wird ihn vermissen, doch die Zeit schreitet voran, und sobald der heilige alte Narr verschieden ist, muss ein anderer an seine Stelle treten. Ich habe eine recht gute Vorstellung davon, wer den heiligen Thron besteigen wird, wenn der gute Parok uns verlässt, sagte Jalkan. Wie sich herausstellte, liefen die Dinge jedoch nicht ganz genauso, wie Hiera Jalkan und Adnari Estarg es erwartet hatten. Alle rechtgläubigen Menschen wissen, dass das mächtige Kaldacin das Zentrum des Universums ist, denn so hat es der Himmlische Amar beim Anbeginn der Zeit vorgesehen. Doch gab es auch Ketzer - und zwar vor allem im südlichen Teil des Imperiums -, die sich beharrlich weigerten, die Wünsche des Himmlischen Amar zu akzeptieren. Vernünftige Männer wussten, dass der Himmlische Amar in seiner unendlichen Weisheit Adnari Estarg als Nachfolger des heiligen Parok VII. zum Naos der Welt erwählt hatte, aber die Ketzer im Süden rebellierten und setzten 112
ohne weitere Konsultationen einen unbekannten Oran namens Udar auf den heiligen Thron des Naos. Die Kirchenmänner des mächtigen Kaldacin hielten das für entsetzlich lustig, und sie lachten lange und herzlich über diese ungeheuerliche Absurdität. Das Lachen verging ihnen allerdings, als zwölf Armeen aus dem Süden heranmarschierten und das mächtige Kaldacin umzingelten. Die Bürger von Kaldacin hielten das überhaupt nicht für angemessen, und deshalb wandten sie sich an die verschiedenen Armeen, deren Lager innerhalb der Stadtmauern lagen. Die Armeen folgten jedoch den Ratschlägen des allseits bekannten Kommandanten Narasan, der
erklärte: Wir lassen uns nicht in religiöse Auseinandersetzungen einspannen. Aber was sollen wir tun?, jammerten die weltlichen und geistlichen Oberhäupter. Ich würde zu einer Kapitulation raten, antwortete Narasan. Doch liegt das ganz bei euch. Damit drehte er sich um und ging davon. Kurz darauf brach die imperiale Regierung zusammen, und die Armeen des Südens stießen auf geringen Widerstand, als sie durch die Tore hereinmarschierten. Sie besetzten den kaiserlichen Palast und den heiligen Konvent der amaritischen Kirche. Die Ketzer aus dem Süden stellten den wahren Kirchenfürsten mehrere Ultimaten. Diese Ultimaten waren in formale Floskeln gekleidet, dennoch war ihre Aussage deutlich. Wenn ihr nicht genau tut, was wir euch sagen, werdet ihr das mit dem Leben bezahlen, würde es wohl recht gut wiedergeben. Die Zeremonie, in welcher der unbekannte Udar in den Rang des Naos erhoben wurde, dauerte weniger als eine halbe Stunde, und für seine Antrittsrede brauchte der Naos Udar IV sogar noch weniger Zeit. Er sagte: Der Himmlische Amar hat mich gesandt, die Kirche zu säubern, und ich werde ihm zu Gehorsam sein. Wenn sich mir jemand in den Weg stellt, werde ich ihn in den Staub stoßen. An diesem Punkt überlief Jalkan ein kalter Schauer. Wird irgendjemand in diesem Raum die Stimme zur Verteidigung dieses Schurken erheben?, fragte der amaritische Richter in seiner prunkvollen Robe und bedachte den in Ketten gelegten Gefangenen Jalkan mit einem verächtlichen Blick. Jalkan reckte den Kopf und schaute hoffnungsvoll zu seinem Freund Adnari Estarg hinüber. Estarg jedoch wandte den Blick ab, und Jalkans letzte Hoffnung schwand. Ich glaube also nicht, verkündete der Richter. Unglücklicherweise verbietet das Kirchengesetz die Todesstrafe für jegliche Angehörige des Klerus - sogar für jene der niederen Ränge, aus denen der Angeklagte stammt. Dieses Gericht entscheidet somit, dass der Angeklagte auf einem öffentlichen Platze fünfzig Hiebe erhalten und im Anschluss daran aus der Kirche verstoßen werden soll. Es möge weiterhin bekannt gegeben werden, dass kein Anhänger des amaritischen Glaubens mit dieser bösen Bestie verkehren, ihm keinen Schutz gewähren oder etwas zu essen geben darf, solange er lebt. Und nun schafft mir diesen Abschaum aus den Augen. Die Regulatoren zogen Jalkan bis auf seinen Lendenschurz aus, ketteten ihn an einen Pfahl in der Mitte des Platzes und peitschten ihn fast zu Tode, wobei sie sein Gewinsel um Gnade schlicht ignorierten. Er weinte und blutete heftig, als sie ihn losketteten. Rasch schnappte er sich seine Kleidung und floh unter dem spöttischen Gelächter der Menschenmenge, die sich versammelt hatte, um seiner Bestrafung beizuwohnen. In einer einsamen Gasse zog er sich an und murmelte Flüche vor sich hin. Alles war so gut gelaufen, dann plötzlich usurpierte dieser vermaledeite Udar den himmlischen Thron des Naos, und Jalkans Welt zerbrach in Scherben. Adnari Estarg hatte ihn verraten, um sich selbst zu schützen, aber der hohe Kirchenmann hatte vermutlich in dieser Hinsicht keine große Wahl gehabt. Im Augenblick musste sich Jalkan sowieso um Belangvolleres 114
kümmern. Es war von vorrangiger Wichtigkeit, in seine Zelle im Konvent zu gelangen, um seine Kleidung und seine Besitztümer zu holen, ehe die Nachricht von seinem Kirchenausschluss allgemein bekannt wurde. Weitaus bedeutsamer als seine Kleidung war jedoch der gut versteckte Beutel unter seiner Pritsche. Unter den gegenwärtigen Umständen war er unbedingt auf dieses Geld angewiesen. Ohne den Beutel und arm wie eine Kirchenmaus hätte er überhaupt keine Zukunftsaussichten mehr. Wie das Schicksal es wollte, war der Novize, der vor den Zellen Wache hielt, halb betrunken, und er winkte Jalkan ohne Fragen durch. Jalkan nickte ihm knapp zu und ging direkt zu seiner Zelle. Als er dort ankam, stieß er einen lauten Seufzer der Erleichterung aus. Nichts war bislang durchsucht worden. Sobald die Nachricht seiner Entlassung jedoch bekannt geworden wäre, würden seine ehemaligen Brüder Schlange stehen und die Möglichkeit nutzen, seine Zelle zu durchwühlen. Er kroch unter seine Pritsche und holte den abgetragenen alten Schuh hervor, der an der Wand lag. Das Gewicht des Schuhs ließ den ansonsten düsteren Tag ein wenig heller werden. Jalkan legte seine Kirchenrobe ab und kleidete sich in seine besten Gewänder, dann zog er den schweren Geldbeutel aus dem alten Schuh und stopfte ihn in die Spitze seines Stiefels. Er bedachte seine Zelle mit einem letzten Blick. Alles in allem war seine Zeit in der Kirche recht profitabel
gewesen, doch nun war es offensichtlich Zeit, Weiterzuziehen. Die jüngste Weigerung von Kommandant Narasan, sich in die Auseinandersetzungen innerhalb der Kirche hineinziehen zu lassen, bot eine interessante Möglichkeit. Jalkan war ziemlich sicher, sein mit Goldkronen gefüllter Beutel würde das Interesse von Kommandant Narasan auf sich lenken, und eine Karriere als Offizier in der Armee war vielleicht noch aufregender als eine in der Kirche. Einen Versuch ist es wert, murmelte er vor sich hin, während er seine Zelle verließ. Die Möglichkeiten, welche die Kirche bietet, habe ich ausgeschöpft, und all diese Beterei und dieses ZuKreuze-Kriechen hatte ich sowieso langsam satt.
10 Jalkan hatte gewisse Schwierigkeiten, sich an das Militärleben zu gewöhnen. Es verlangte viel mehr körperlichen Einsatz, als er aus seiner Zeit beim Klerus gewöhnt war, weswegen er sich ja auch nicht in guter Verfassung befand. Fünf Meilen vor dem Frühstück zu laufen brachte ihn zwar nach einigen Wochen in eine solche zurück, aber trotzdem gefiel es ihm nicht übermäßig. Dann begann seine Ausbildung am Schwert, und schon nach kurzer Zeit hasste er diesen schütteren Offizier namens Gunda, der sein Lehrer war. Jalkan hatte geglaubt, mit seinem sehr teuren Patent als Offizier in Kommandant Narasans Armee habe er sich auch einen gewissen Respekt erkauft, aber Gunda schien die Bedeutung dieses Wortes gar nicht zu kennen, und er verfügte ansonsten über ein recht farbenfrohes Vokabular. Jedes Mal, wenn Jalkan auch nur den geringsten Fehler machte, überhäufte Gunda ihn mit Flüchen und Spott. Mit der Zeit wurde Jalkan besser, doch konnte er die Notwendigkeit dazu immer noch nicht einsehen. Schließlich war er Offizier! Er sollte Befehle erteilen und sich nicht daran beteiligen, andere Menschen umzubringen. Das war die Aufgabe der gemeinen Soldaten, nicht der Offiziere. Ungefähr einen Monat, nachdem Jalkan sein Patent erworben hatte, wurde die Armee von Kommandant Narasan angeheuert, um in einem kleinen Krieg im Osten des Imperiums zu kämpfen. Der Offizier namens Padan nannte diesen Krieg eine kleine Unannehmlichkeit, wobei dieser Mann wirklich einen verrückten Sinn für Humor haben musste. Aus Jalkans Sicht der Dinge war Unannehmlichkeit eine große Untertreibung. Nach etwa einem Jahr hatte sich Jalkan allmählich an das Soldatenleben gewöhnt, und er begann sogar, es zu genießen. Da Kommandant Narasan der vielleicht beste und Begabteste Stratege im ganzen Imperium war, dauerten die Kriege, für die seine Armeen an116
geheuert wurden, meist nicht besonders lange, und der Ausgang war recht vorhersagbar so vorhersagbar, dass die gegnerische Armee oft schon kapitulierte, wenn sie nur erfuhr, gegen Narasans Truppen antreten zu müssen. Jalkan gefiel das. Der Sold war gut, und große Gefahren drohten ihm nicht. Seine Zeit in der Kirche erschien ihm plötzlich als Vergeudung. Eigentlich war er zum Soldaten geboren. In Jalkans drittem Jahr in Narasans Armee erwarb der Vater des jungen Keselo ein Patent für seinen Sohn. Zunächst war Jalkan sicher, er und der ziemlich fade junge Aristokrat würden bald Freundschaft schließen, doch Keselo benahm sich ihm gegenüber reserviert. Anscheinend hatte er nach seinen Jahren an der Universität von Kaldacin eine übertrieben hohe Meinung von sich selbst. Das hatte Jalkan auch schon während seiner Jahre in der amaritischen Kirche erlebt. Manche Männer konnten einfach die Tatsache nicht akzeptieren, dass ihre Bildung sie nicht zu besseren Menschen machte. Jalkan kehrte Keselo den Rücken; er brauchte sowieso keine Freunde. In Jalkans fünftem Jahr als Offizier in Narasans Armee trat ein Herzog aus dem Süden des Reiches mit einem äußerst großzügigen Angebot an Kommandant Narasan heran. Soweit Jalkan die Geschichte erfuhr, war kürzlich ein alter Baron ohne Erben gestorben, und die Herrscher zweier benachbarter Herzogtümer stritten sich bereits seit einem Jahr darüber, wer von ihnen die Baronie als Protektorat annektieren sollte. Der Herzog, der sich an Kommandant Narasan wandte, war des endlosen Streits müde und hatte sich entschieden, eine drastischere Lösung zu wählen. Das Geld war gut, und Kommandant Narasan stimmte rasch zu. Hingegen beschlichen Jalkan gewisse Zweifel. Im Süden des Reiches hatten die Ketzer dem Usurpator Udar IV auf den heiligen Thron des Naos der Amariten verholfen, und insofern hatte Jalkan guten Grund, niemandem aus diesem Landstrich über den Weg zu trauen. Wie sich herausstellte, waren Jalkans Zweifel durchaus begründet. Der gegnerische Herzog hatte
heimlich drei Armeen angeheuert, die sich Kommandant Narasans Truppen entgegenstellten, und zwar mit einem katastrophalen Ausgang. Narasans Reaktion auf die unglücklichen Ereignisse im Süden des Imperiums blieb für Jalkan ein Rätsel. Zwölf Kohorten hatte der Feind während der Schlacht niedergemetzelt, doch waren nur sehr wenige Offiziere gefallen. Die Verluste hatte es überwiegend bei den einfachen Soldaten gegeben, also wogen sie nicht so schwer. Narasan jedoch verfiel in tiefe Schwermut. Dann zerbrach er sein Schwert, verließ das Lager der Armee und arbeitete fortan als Bettler in einem heruntergekommenen Viertel von Kaldacin. Dieser Umstand eröffnete interessante Möglichkeiten. Zwar standen einige Offiziere im Rang über Jalkan, doch stellte das kein bedeutendes Hindernis dar. Jalkan kannte eine Anzahl Meuchelmörder, die sich für Geld dingen ließen und gewöhnlich für die hochrangigen Kirchenmänner tätig waren. Sobald er, Jalkan, Gunda, Padan - und ganz bestimmt auch Keselo - erst aus dem Weg geräumt hätte, wäre er der logische Nachfolger von Narasan. Diese Aussicht erwärmte ihm das Herz, und er schmiedete seine Pläne. Ohne Frage wurden die einfachen Soldaten der Armee viel zu gut bezahlt. Nachdem Jalkan das Kommando übernommen hätte, würde er mit seinem ersten Befehl den Sold mindestens um die Hälfte kürzen, und an möglichen Widerständlern würde er ein Exempel statuieren, woraufhin der Rest der Armee den Erlass des neuen Kommandanten anerkennen würde. Wenn er seine Pläne erfolgreich umsetzen könnte, verdiente Kommandant Jalkan bald so viel Geld, wie Adnari Estarg zusammenraffte. Jalkan hielt das für recht und billig. Eine strahlende Zukunft lag vor ihm. Und dann erschien dieser verfluchte Ausländer Veltan in Kaldacin, und in kaum einer Woche hatte er Jalkan einen Strich durch seinen großen Plan gemacht. Kommandant Narasan kehrte zur Armee zurück und bereitete Jalkans glorreicher Zukunft ein Ende, ehe sie begonnen hatte. 118
Nur mit Mühe verbarg Jalkan seine Enttäuschung, doch wenn er allein war, verbrachte er viel Zeit damit, neue Flüche zu erfinden.
11 Jalkan war sicher, dass der Ausländer Veltan den Kommandanten während der Verhandlungen belogen hatte, doch als die Vorhut nach langem Marsch von Kaldacin aus Castano erreichte, segelte Veltan in einem Fischerkahn in den Hafen und überreichte Narasan zehn Blöcke, die offensichtlich aus massivem Gold bestanden. Das erregte natürlich Jalkans Aufmerksamkeit, und er sorgte dafür, dass er in Narasans Kabine an Bord des großen trogitischen Schiffes war, welches der Kommandant für die Überfahrt seiner Offiziere angeheuert hatte, als dieser mit den Blöcken beladen zurückkehrte. Jalkan wollte unbedingt wissen, wo das Gold aufbewahrt wurde. Kommandant Narasan legte die Blöcke beinahe gleichgültig in die große Truhe am Fuß seines Bettes und reichte daraufhin Jalkan eine große Karte. Bring die zu Gunda, sagte er. Sie wird ihm den Weg durch das Eis zum Lande Dhrall zeigen. Ja, Herr!, antwortete Jalkan zackig und salutierte. Er war ziemlich sicher, dass an dieser Stelle striktes militärisches Benehmen angemessen war. Abermals eröffneten sich interessante Möglichkeiten, und Jalkan erachtete es als das Beste, seine Begierde nach dem Gold nicht preiszugeben. Nachdem Kommandant Narasan und Veltan mit dem Fischerkahn nach Norden in See gestochen waren, übernahm Gunda den Befehl über die Vorhut, und man traf Vorbereitungen für die Überfahrt von Castano zum Lande Dhrall. Jalkan stand plötzlich vor einer schwerwiegenden Entscheidung. Einerseits wusste er genau, wo die zehn Goldblöcke verstaut waren, und Kommandant Narasan hatte sich nicht einmal die Mühe 119
gemacht, die Truhe zu verschließen. Andererseits hatte ihnen Veltan erzählt, im Lande Dhrall warteten ganze Berge von Gold nur darauf, aufgelesen zu werden. Gewiss hätte sich Jalkan diese zehn Blöcke leicht aneignen und unbemerkt mit ihnen verschwinden können, doch damit wären die Goldberge im Lande Dhrall für immer außerhalb seiner Reichweite gewesen. Er verfiel in eine Art Lähmungszustand und vermochte keine Wahl zu treffen. Dann stach die Flotte in See, und er hatte keine Wahl mehr. Tiefes Bedauern stellte sich ein, als die Flotte das Treibeis zwischen dem trogitischen Weltreich und dem Lande Dhrall erreichte. Der Begriff Treibeis war eine riesige Untertreibung für etwas, das Jalkan eher als Gebirgszug aus Eisschollen bezeichnet hätte. Die Kanäle, denen die Schiffe folgen mussten,
waren beängstigend schmal, und die steilen Klippen des blauweißen Eises ragten höher und höher und noch höher auf, bis sie irgendwo mitten im Himmel endeten. Ungebeten tauchten eine Menge Wenn’s in Jalkans Gedanken auf, während die Flotte vorsichtig nach Norden zog. Wenn sich die Strömung dreht stritt sich in Jalkans Kopf heftig mit wenn der Wind plötzlich aus einer anderen Richtung weht. Dabei war die Ursache eigentlich nebensächlich, denn allein die Wirkung zählte. Die Eisberge würden langsam und unaufhaltsam zusammentreiben und die Schiffe zermalmen - und damit jeden an Bord der Schiffe. Zu diesem Zeitpunkt zog sich Jalkan unter Deck zurück und weigerte sich, die Eisberge um ihn herum weiterhin zur Kenntnis zu nehmen. Das Wetter klarte auf, als die Vorhut der Flotte im Hafen des Eingeborenendorfes Lattash eintraf, doch auf den Bergen, die hinter dem Dorf aufragten, lag viel Schnee. Kommandant Narasan stand am Strand, als die Schiffe vor Anker gingen, und begrüßte seine Offiziere an Land. In Jalkans Augen war das Dorf Lattash so primitiv, dass er halb erwartete, die Eingeborenen würden wie Hunde auf allen vieren laufen, und die schmuddeligen Maagpiraten waren auch nicht viel 120
besser. Allerdings boten sich auch hier wieder interessante Chancen. Eine gut ausgebildete Armee konnte diesen Primitiven alles abnehmen, was auch nur einen gewissen Wert besaß, ohne dabei in Schweiß zu geraten. Jalkan war glücklich, weil er sich nicht mit diesen wenigen Goldblöcken zufrieden gegeben hatte. Hier standen ihm einfach alle Möglichkeiten offen. Er wäre fast in schallendes Gelächter ausgebrochen, als Kommandant Narasan sie zu der Höhle führte, in der sie Veltans Schwester kennen lernten. Eine Höhle war ja nun wirklich das Allerprimitivste, was man sich vorstellen konnte. Dann erblickte er Zelana zum ersten Mal, und bei ihrem Anblick blieb ihm beinahe das Herz stehen. Sie war die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Mit Sorgan, dem Anführer der Piraten, war es so ähnlich, wenn auch in ganz anderer Hinsicht. Einem so riesigen Mann war Jalkan bisher nicht begegnet, und diese anderen, Ochs und Schinkenpranke, waren sogar noch größer. Aus irgendeinem Grund hielt Kommandant Narasan auch den kleinen drahtigen Maag Hase für einen außergewöhnlichen Kerl. Nach einer kurzen Beratung hielten Kommandant Narasan und der Pirat es für besser, ihre Männer an Bord der Schiffe im Hafen zu lassen, und das störte Jalkan nicht besonders. Je weniger er sich mit den Piraten und den Wilden abgeben musste, desto besser. Die Zeit schien still zu stehen, während das Warten auf die Schneeschmelze in den Bergen begann, aber Jalkan verspürte keinen Drang zur Eile. Dann kam der Tag, an dem ihnen ein alter Mann aus einem der Eingeborenenstämme eine wilde Geschichte über Wesen erzählte, die zum Teil Schlangen und außerdem sehr gefährlich waren. Jalkan tat dieses Märchen als Unsinn ab. Je weniger er sich mit diesen abergläubischen Wilden abgab, desto besser. Die Eingeborenen ließen sich im Folgenden über das Frühjahrshochwasser aus, als handele es sich dabei um ein Weltwunder. Manchmal waren sie so dumm, dass Jalkan fast glaubte, in ihren 121
Augen sei selbst der Sonnenuntergang am Abend eine Art Naturkatastrophe. Nun gut, er musste einräumen, dass die Flutwelle, die schließlich durch die Schlucht brandete, mit ihrer riesigen Wassermauer recht eindrucksvoll war, doch da er sich an Bord eines Schiffes im Hafen befand, bestand zu keinem Zeitpunkt irgendeine Gefahr für ihn, und so zuckte er lediglich mit den Schultern. Dann erfolgte dieses absurde Giftsammeln und im Anschluss daran das damit verbundene Bestreichen von Speer- und Pfeilspitzen. Er konnte nicht glauben, dass Kommandant Narasan sich tatsächlich darauf einließ. Als das Frühlingshochwasser zurückging, zerbrach sich Jalkan den Kopf nach einer Ausrede, um auf dem Schiff im Hafen zu bleiben, doch Kommandant Narasan ließ sich auf nichts ein, und so musste Jalkan mit den anderen an dem mühsamen Marsch durch die Schlucht ins Gebirge teilnehmen. Es gab mehrere Zusammenstöße mit den winzigen Kriegern des Feindes, doch Jalkan war klug genug, sich von diesen Auseinandersetzungen fern zu halten. Nachdem beide Armeen das Ende der Schlucht erreicht hatten, hielt sich Jalkan weitestgehend im Hintergrund, doch der schüttere Offizier Gunda übertrug ihm den Befehl über ein Bataillon gemeiner Soldaten, die eine Festungsanlage errichten sollten. Jalkan befolgte den Befehl buchstabengetreu.
Gemeine Soldaten, das war allgemein bekannt, sind faul, und dementsprechend benutzte Jalkan einen langen Stock, um sie zur Arbeit zu ermutigen. Damit erledigte er lediglich seine Aufgabe, und dennoch erteilte ihm Kommandant Narasan eine demütigende Rüge. Diese Ungerechtigkeit verdarb Jalkan für mehrere Tage die Laune. Dann erfolgten der Rückzug und die Eruption zweier Vulkane am Ende der Schlucht, und Letzteres war so offensichtlich das Werk von Zauberei, dass Jalkan die anschließende fröhliche Jubelfeier nicht fassen konnte. Waren diese Leute alle verrückt? Als Jalkan entdeckte, welche tatsächliche Wahrheit sich hinter diesem schrecklichen Krieg verbarg, hätte er beinahe den Verstand 122
verloren. Demütig betete er einen ganzen Tag zu Amar, er möge ihn beschützen - nicht nur vor den bösen Schlangenmenschen, sondern vor allem vor dieser Hexe Zelana. Er kannte verschiedene Gesten und Zeichen, mit denen er das Böse von sich fern halten konnte, und auf dem Rückmarsch zum Dorf an der Bucht waren seine Finger unermüdlich in Bewegung. Nach einer Zeit, die Jalkan wie eine Ewigkeit vorkam, ließ Kommandant Narasan endlich die Segel setzen, und sie stachen in Richtung Süden in See, um dort den Krieg auszutragen, für den sie eigentlich bezahlt wurden. Jalkan wünschte sich insgeheim, sie würden einfach weiter nach Süden segeln. Das Land Dhrall erschien ihm so dermaßen widernatürlich, dass er keine Worte mehr dafür fand. Die Domäne von Veltan gefiel Jalkan wesentlich besser als das Gebiet unter der Herrschaft seiner Schwester. Die Wälder in Zelanas Domäne hatten Jalkan Angst eingeflößt, und die wilden Jäger, die dort lebten, schienen wenig Respekt vor höheren Rängen zu haben. Sie nahmen überhaupt nicht zur Kenntnis, dass Jalkan ein Offizier war. Die Bauern in Veltans Domäne hingegen kannten offensichtlich ihren Platz. Auf dem Weg zu Veltans Wohnsitz fragte Jalkan einen dieser Bauern, er hieß Omago, nach den religiösen Gebräuchen der Eingeborenen aus, und schockiert stellte er fest, dass diese primitiven Wilden nichts besaßen, das auch nur entfernt an eine Kirche erinnerte, und zudem direkt und ohne Beihilfe des Klerus mit ihrem Gott sprachen. Jalkan schluckte seine Wut über diesen Umstand unwillig runter und wollte den dummen Bauerntölpel anschließend darüber aushorchen, wo sich die sagenhaften Goldminen befanden, doch der Eingeborene täuschte Unwissenheit vor. Jalkan fluchte still in sich hinein und stolzierte davon. Er würde schon noch jemanden finden, der ihm mehr Entgegenkommen zeigte. Hier im Land Dhrall boten sich ihm unglaubliche Möglichkeiten, aber Jalkan musste zunächst mehr herausfinden, ehe er sie nutzen konnte. Nachdem sie ein gutes Stück vom Strand entfernt waren, er123
reichten sie Veltans Burg, und ihr Gastgeber führte sie in seinen so genannten Kartenraum. Daraufhin verstrickten sich Kommandant Narasan und der Pirat Sorgan in eine langatmige Unterhaltung darüber, welche Taktiken in diesem Gelände angemessen oder weniger angemessen wären, und Jalkan hörte kaum zu. Natürlich war die Region um die Fälle von Vash reich an Gold. Ansonsten gäbe es schließlich keinen Grund, das Gebiet zu verteidigen, und ganz eindeutig war das Gold auch der Anlass für die feindliche Invasion. Das war klar wie ein Kristall. Die Vulkaneruption in der Domäne von Veltans Schwester Zelana hatte alle Goldvorkommen am Ende der Schlucht unter Lava begraben, und deshalb versuchten die Menschen des Landes Dhrall nun, die Lagerstätten hier in Veltans Domäne zu beschützen. Da Jalkan endlich begriffen hatte, was hier tatsächlich vor sich ging, war sein logischer nächster Schritt, einen Plan zu entwickeln, wie er davon profitieren könnte. Nach einer Weile trat eine bemerkenswert attraktive Bauersfrau ein und verkündete, dass das Abendessen bereit sei, und Jalkan machte ihr ein paar Komplimente. Jede Bauersfrau im Imperium hätte sich von seinen Worten geschmeichelt gefühlt, und kein Bauer hätte seine Bemerkungen auch nur im Mindesten als anstößig empfunden, doch dieser Hinterwäldler Omago hatte die Frechheit, gewalttätig zu reagieren. Ohne jede Vorwarnung schlug er Jalkan mit einem einzigen Hieb nieder. Jalkan erhob sich und griff nach seinem Messer, doch dieser unverschämte Keselo zog seine Waffe ebenfalls und bedrohte ihn. Daraufhin wandte Jalkan sich an Kommandant Narasan, um Gerechtigkeit zu erlangen. Angesichts der Situation ließen die Gesetze hier keinen Spielraum. Jeder Bauer, der einen Offizier niederschlug, musste auf der Stelle hingerichtet werden.
Kommandant Narasan weigerte sich jedoch, dem Gesetz Geltung zu verschaffen, und er wagte es sogar, das Patent zu widerrufen, das Jalkan mit teurem Geld erkauft hatte. Jalkan protestierte aufs Heftigste, doch Kommandant Narasan 124
ignorierte seine berechtigten Einsprüche und befahl schließlich zu Jalkans Unglauben, Padan solle ihn in Ketten legen und zum Wasser bringen, wo die Flotte auf weitere Befehle wartete. Und keiner von ihnen wollte einsehen, dass Jalkan seine Bemerkung gegenüber dieser Frau doch nur als Kompliment gemeint hatte.
12 Die krasse Ungerechtigkeit der ganzen Angelegenheit erfüllte Jalkan mit Zorn. Wieder und wieder waren seine Rechte und Privilegien als Offizier beschnitten worden, doch keiner seiner Offizierskollegen hatte sich erhoben und gegen seine Behandlung protestiert. Inzwischen ließ sich nicht mehr leugnen, dass Narasan das Patent lediglich des Goldes wegen verkauft hatte, und in Veltans Haus hatte der Kommandant die Gelegenheit wahrgenommen, Jalkan zu entlassen und das Gold trotzdem zu behalten. In Jalkan keimten Groll und Rachedurst. Er dachte nach und stieß bald auf eine extrem einfache Lösung. Schließlich war er sehr gut mit den oberen Rängen des amaritischen Klerus bekannt, und das Wort Gold würde ihre Ohren für seine Vorschläge öffnen. Das einzige Problem bestand darin, dass er früher oder später Gold vorweisen müsste, um ihre Unterstützung zu erlangen. Das stellte allerdings eine so große Schwierigkeit auch nicht dar. Immerhin wusste er, wie er mehr Gold in die Hände bekommen konnte, als jeder Kirchenmann je auf einem Haufen gesehen hatte. Noch war er im Frachtraum des Schiffes angekettet, das Kommandant Narasan als schwimmendes Hauptquartier diente, indes war auch das kein großes Hindernis. Während seines Noviziates bei den Amariten hatte er häufig mit verschlossenen Türen zu tun gehabt, und das Schloss dieser Ketten, die ihn fesselten, war nicht 125
besonders kompliziert. Obwohl Padan ihn genauestens durchsucht hatte, ehe er eingesperrt worden war, verfügte Jalkan dennoch über mehrere kleinere Waffen, die an seinem Körper verborgen waren, und mit dem kleinen Dolch, der in seinem Stiefel steckte, hatte er schon eine beachtliche Anzahl Türen geöffnet. Seine Freiheit war zum Greifen nahe. Hingegen würde ihm seine Freiheit hier im Lande Dhrall wenig nützen, doch die Lösung dieses Problems ankerte nicht weit entfernt von seinem Gefängnis. Jalkan lächelte. Man konnte es sicherlich ausgleichende Gerechtigkeit nennen. Veltan war nicht eingeschritten und hatte auch nicht widersprochen, als Narasan Jalkans Rechte verletzt hatte, und Veltan war so stolz auf dieses kleine Fischerboot... So wartete Jalkan ein paar Tage ab, zog schließlich den Stiefel aus, holte den verborgenen Dolch hervor und öffnete die Kette. Er legte das Ohr an die Wand seines Gefängnisses und lauschte. Alles schien draußen ruhig zu sein, also öffnete er die Tür und stieg über eine Leiter nach oben auf das nächtliche Deck. Noch eine Weile duckte er sich in den Schatten, dann schlich er zu Kommandant Narasans verschlossener Kabine am Heck. Er stocherte mit dem Dolch im Türschloss und wurde bald mit einem lauten Klicken belohnt. Die Truhe am Fußende des Bettes war wie zuvor unverschlossen, und Jalkan durchwühlte sie im Dunkeln, bis er einen der Blöcke fand, die Narasan dort untergebracht hatte. Nun hatte Jalkan eine schwierige Entscheidung zu treffen. Wie er wusste, musste er schwimmen, um zu Veltans Kahn zu gelangen, und Gold war schwer. Dementsprechend konnte er auf keinen Fall das gesamte Gold mitnehmen, denn dann wäre er unweigerlich untergegangen. Ums Haar wäre er weinend zusammengebrochen, als er sich entschied, nur zwei Blöcke zu nehmen. Leise vor sich hin fluchend verließ er die Kabine, wickelte eine der Strickleitern ab und stieg geräuschlos hinunter. Das Wasser war sehr kalt, und das Gewicht der beiden Goldblöcke machte es äußerst schwer, den Kopf über Wasser zu halten. Er 126
zitterte heftig vor Kälte und Erschöpfung, als er das Fischerboot erreichte. Nachdem er an Deck geklettert war, lag er keuchend eine Weile lang da, bis er wieder zu Atem kam. Daraufhin säbelte er das dicke Ankertau mit einem seiner kleinen Messer durch, was fast eine Viertelstunde dauerte. Endlich war das Tau durchtrennt, und Jalkan fühlte sich in Hochstimmung. Er war frei.
Also setzte er sich auf die Bank in der Mitte des Bootes, legte die Riemen ein und ruderte in Richtung des offenen Meeres los. Die Dämmerung stand kurz bevor, als er weit genug von der vor Anker liegenden Flotte entfernt war, um sich wenigstens halbwegs sicher zu fühlen, und die leichte Brise, die von Norden her wehte, erlaubte es ihm, die Riemen einzuholen und die Segel aufzuziehen. Das Imperium lag im Süden, also setzte Jalkan sich ans Ruder und steuerte das Fischerboot auf unermesslichen Reichtum zu. Adnari Estarg saß ungläubig da und wog den Goldblock, den Jalkan ihm gerade gegeben hatte, in der Hand. Warum gießen sie ihr Gold in Blöcke wie diese, Jalkan?, fragte er. Wären Münzen nicht nützlicher? Sie benutzen es nicht als Geld, Exzellenz, erklärte Jalkan. Es sind Primitive, und so weit ich es sagen kann, begreifen sie den Wert des Goldes überhaupt nicht. Immerhin würden sie recht gute Sklaven abgeben. Bekehrte, Jalkan, Bekehrte, berichtigte der Adnari. Bedeutet das nicht das Gleiche? Es klingt aber freundlicher, und mit dem Wort >Bekehrung< können wir unser Tun auch vor dem heiligen Udar IV rechtfertigen. Lebt er denn noch?, fragte Jalkan mit einer gewissen Überraschung. Ich hatte einige Gerüchte gehört, ehe Narasans Armee zum Lande Dhrall in See gestochen ist - die höheren Ränge des Klerus hätten beschlossen, ihn zu beseitigen. Er ist von Fanatikern umgeben, Jalkan. Unsere gedungenen Mörder gelangen einfach nicht in seine Nähe. Der Adnari blinzelte nachdenklich. Ich glaube, dieses Land Dhrall, von dem du berichtest, bietet so gute Möglichkeiten, die man sich einfach nicht entgehen lassen darf. Dort gibt es Gold - und Tausende potenzielle Sklaven. Das ist alles recht nett, aber ich nehme an, >Entfernung< könnte sogar noch wichtiger werden. Ich kann nicht ganz folgen, Exzellenz. Der Naos steckt seine Hand jedem Kirchenmann in den Geldbeutel, und er raubt uns alle aus. Ich denke, einen gerechten Anteil kann man ihm nicht verweigern, doch seine Definition von >gerecht< geht weit über das hinaus, was bislang üblich war. Schlimmer noch, er hat überall seine Spione, daher ist es uns unmöglich, unsere Gewinne vor ihm zu verbergen. Deiner Beschreibung nach ist dieses Land Dhrall weit genug entfernt, damit uns seine Schnüffler nicht in die Quere kommen. Wir werden sehen, was am Ende herauskommt, doch riecht es mir ganz nach >Abspaltung<. Natürlich werden wir in unserer Kirche auch weiterhin Amar verehren, doch schicken wir unser Geld nicht mehr nach Kaldacin. Die Händler und Kaufleute werden uns willkommen sein, doch die Gesandten des heiligen Udar werden unglückliche Unfälle erleiden, wenn sie uns besuchen. Nach einem Jahrzehnt können wir dann alle Bande mit der Kirche des Imperiums kappen und uns selbstständig machen. Er wird dich und deine Freunde aus der Kirche verbannen, nicht wahr?, vermutete Jalkan. Er kann es ja versuchen, erwiderte Adnari Estarg hinterlistig, doch wir werden einfach seine Proklamationen ignorieren und jeden Regulator töten, den er in unseren Teil der Welt schickt. Am Ende wird er schon begreifen. Wie viele Armeen werden wir brauchen, Jalkan? Auf dem Heimweg habe ich darüber nachgedacht, Exzellenz, sagte Jalkan. Ich glaube, wir sollten mit fünf beginnen. Eine halbe Million Männer sollten in der Lage sein, den südlichen Teil von Veltans Domäne zu besetzen. Damit hätten wir einen Fuß in der Tür. Veltan konzentriert sich gegenwärtig auf eine Invasion aus dem Norden, daher wird er uns wahrscheinlich nicht viele Truppen entgegensetzen. 128
Beginnen wir also mit fünf, stimmte der Adnari zu. Falls sich herausstellt, dass wir mehr brauchen, werden wir eben mehr anheuern. Ich dachte, Naos Udar würde den Kirchenschatz streng verwahren? In der Tat, Jalkan, meinte Adnari Estarg und lächelte schwach, aber dieser Schatz war nicht mehr besonders groß, als Udar den Heiligen Thron an sich gerissen hat. Ich hatte ihn nämlich beiseite geschafft, als ich die zwölf Armeen sah, mit denen er aus dem Süden heranmarschiert kam. Der Schatz ist gut verborgen, und ich allein kenne den Ort. Er zögerte kurz. Wir haben dich bei deiner Verhandlung nicht besonders gut behandelt, nicht wahr, Jalkan?, fragte er fast entschuldigend. Es gab kaum eine andere Wahl, Exzellenz. Der neue Naos wollte die Kirche unbedingt von allen säubern, die nicht aus seinem Teil des Imperiums kamen. Hättest du mich verteidigt, wärest du neben mir ausgepeitscht worden.
Wir werden dich für deine Entdeckung belohnen, Jalkan. Ja, Exzellenz, das wirst du bestimmt, erwiderte Jalkan entschlossen. Denn ich bin der Einzige, der weiß, wie man das Land Dhrall erreicht, und aus diesem Grund bin ich von großem Wert, nicht wahr? Der dicke Adnari sah Jalkan scharf an. Hast du tatsächlich gedacht, ich würde mich auf den Rücken rollen und den Toten spielen, Exzellenz?, fragte Jalkan. Wie klingen zwanzig Prozent? Zwanzig Prozent wovon? Von allem, Exzellenz vom Gold, von den Sklaven, vom Land, von allem eben. Unerhört! Estarg drohte zu explodieren. Das ist mein Preis, Exzellenz, sagte Jalkan offen. Du kannst ihn akzeptieren oder ablehnen. Wenn du das Spiel nicht auf meine Weise spielen willst, könnte meine Erinnerung an den Weg zum Lande Dhrall darunter leiden. Ich bin kein Kirchenmann mehr, Exzellenz, und deshalb bin ich jenen, die im Range über mir stehen, 129
auch nicht zu Gehorsam verpflichtet. Dementsprechend werde diesmal ich die Regeln bestimmen. Jalkan verspürte ein warmes Gefühl im Bauch, als er Estargs Bestürzung sah. Jalkan saß in einer verzierten Sänfte, ließ sich von acht Sklaven in Richtung Norden zum Hafen von Castano tragen und dachte über seine persönliche Sicherheit nach. Mit großer Gewissheit würden ihn die Kirchenmänner, die Estarg hinzugezogen hatte, als überflüssig betrachten, sobald ihr Heer das südliche Dhrall erreichte, und daher war es unerlässlich für ihn, weiterhin von entscheidender Wichtigkeit für den Feldzug zu sein. Die Lösung dieses Problems war ziemlich einfach. Er war der Einzige, der Veltans Karte von der Region um die Fälle von Vash zu Gesicht bekommen hatte, und da dort ganz offensichtlich die Goldminen lagen, garantierte die Kenntnis dieser Karte sozusagen seine Sicherheit. Das würde er groß herausstellen müssen, sobald sie die Küste von Dhrall erreichten. Diese Sicherheit würde jedoch abermals in Frage gestellt werden, sobald die Truppen die Goldminen eingenommen hatten. Jalkan zermarterte sich das Hirn, doch fiel ihm nichts Rechtes ein. Die einzige Antwort bisher war zwar einfach, nur wollte er sich nicht damit anfreunden. Er würde eine große Anzahl Soldaten anheuern - und bezahlen - müssen, die ihm als Leibwache dienten, und der Sold dieser Wachen würde exorbitante Summen verschlingen. Schlimmer noch, wenn er sie zu betrügen versuchte, würden sie ihn einfach ohne Schutz lassen - oder sich gar selbst gegen ihn wenden und ihn töten. Es würde sehr teuer werden, sich - und sein Geld - zuschützen. Jalkan seufzte verdrossen. Reichtum war wirklich eine Bürde. Ach, nun gut, murmelte er resigniert vor sich hin. Der Preis von Ruhm und Reichtum ist halt ganz offensichtlich sehr hoch. Er zuckte mit den Schultern. Aber dennoch ist es besser, diesen Preis zu zahlen, als ein armes und geschmähtes Dasein zu fristen.
Zwischenspiel im Land der Träume
Elenas Schlaf war in dieser Nacht von Sorgen gepeinigt. Die Geliebte schien zwar langsam wieder ganz die Alte zu sein, doch gab es Hinweise darauf, dass die Verwirrung, die sie zu der Flucht nach der Eruption von Yaltars Zwillingsvulkanen getrieben hatte, weiterhin anhielt. Der Zyklus der Geliebten näherte sich allerdings sowieso seinem Ende, und offensichtlich vernebelte die Müdigkeit ihr den Verstand. Unter normalen Umständen wäre das kein großartiges Problem gewesen, doch im Augenblick konnte man die Situation im Lande Dhrall wohl kaum als normal bezeichnen, und deshalb war es an der Zeit, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen. Eleria entschied voller Bedauern, dass ihre Kindheit wohl vorbei war und der Ernst des Erwachsenenlebens begann. Die Barriere, die Dahlaine errichtet hatte, als er sie, die jüngeren Götter, weckte und wieder zu Kindern machte, stellte kein großes Hindernis dar, also schob Balacenia sie schlicht zur Seite, und die Realität flutete auf sie ein. Das Gefühl der Dualität - also aus zwei getrennten und verschiedenen Individuen zu bestehen - war im ersten Augenblick ein wenig erschütternd, doch Balacenia, die niemals eine eigene Kindheit gehabt hatte, erfreute sich an Elenas Erinnerungen, und Elenas Liebe und Bewunderung für Zelana trieb ihr die Tränen in die Augen. Eine Zeit lang verweilte sie in diesem Zustand, schließlich jedoch löste sie sich aus ihren Tagträumen und suchte Kontakt zu ihren Geschwistern. Natürlich antwortete Vash als Erster, denn er und Balacenia standen sich schon sehr nahe, seit die Welt geboren worden war. Hast du mich gerufen, Eleria?, fragte er mit verschlafener Stimme. 133
Hör endlich mit Dahlaines dummem Spiel auf, Vash, sagte Balacenia. Wenn du diese lächerliche Barriere überwindest, kommen deine eigenen Erinnerungen zurück, und dann kennst du deine wahre Identität. Wir müssen uns über etwas sehr Wichtiges unterhalten, aber das geht nur, während wir träumen. Ich glaube, keiner von uns will, dass die Alteren zuhören. Sie hörte, wie Vash der Atem stockte, als die Realität über ihm zusammenschlug. Das ging aber schnell, bemerkte sie. Dies ist so irreal!, rief er. Lass Yaltar nicht los, lieber Vash, schlug Balacenia vor. Seine Erinnerungen gehören jetzt dir, und mehr Erinnerungen an eine Kindheit wirst du nie bekommen. Geh zu diesem imaginären Ort, wo wir uns früher immer getroffen haben, und warte dort. Ich hole Dakas und Enalla, sobald ich ihnen die Augen geöffnet habe. Ich werde dort sein, liebe Schwester, versprach er. Balacenia suchte den Kontakt zu Dakas, der zu ihrer Überraschung die Wirklichkeit schon selbst
entdeckt hatte. Natürlich war Dakas Dahlaine schon allein räumlich näher als die anderen, und deshalb hatte er längst erkannt, wie die älteren Stellvertreter sie täuschten. Wo genau ist denn dieser Ort, wo wir uns treffen wollen?, fragte er. Es ist kein realer Ort, Dakas, sondern ein Produkt der Fantasie. Vash und ich haben ihn erschaffen, damit wir uns dort treffen können. Dort ist es viel schöner als auf der richtigen Welt. Wende dich an Vash, und er wird dich hinführen. Ich werde da sein, große Schwester. Enalla bereitete mehr Schwierigkeiten. Sie hing verzweifelt an Lillabeths Kindheitserinnerungen. Ohne Frage hatte Aracia Lillabeth durch und durch verdorben, und Enalla fand den Gedanken abscheulich, erwachsen zu werden und ihre wahre Identität zu akzeptieren. Es dauerte eine Weile, doch Balacenias zukünftiger Rang als Älteste der Götter genügte schließlich als Druckmittel. Dennoch war Enalla ein wenig mürrisch, als sie sich zu ihren Brüdern gesellte. 134
Der Ort, an dem Balacenia und Vash sich während ihres letzten Zyklus häufig getroffen hatten, existierte nur in ihrer gemeinsamen Fantasie, und er war viel schöner als jeder Ort in der schnöden Realität. Die Aurora tränkte den Sternenübersäten Himmel über einem dunklen Wald, und die Träumer schwebten dort und labten sich genüsslich an dieser Schönheit. Wie habt ihr beide das gemacht?, fragte Dakas verwundert. Wir haben unsere Fantasie zusammengefügt, lieber Bruder, erklärte Balacenia. Zwar hat es eine Weile gedauert, bis es so klappte, wie wir wollten, doch hat es sich am Ende gelohnt. Sie blickte sich um und seufzte. Ich denke, wir sollten besser anfangen, sagte sie dann voller Bedauern. Also, in einer Sache sind wir sicherlich einig: Dahlaines Plan war ausgesprochen riskant, doch jetzt können wir daran nichts mehr ändern. Vermutlich hast du damit Recht, liebe Schwester, stimmte Vash zu, dessen Gesicht von der flammenden Aurora beleuchtet wurde. Da du in unserem nächsten Zyklus die Älteste sein wirst, halte ich es für weise, dich entscheiden zu lassen, wie wir uns in dieser Sache verhalten. Er sah Dakas und Enalla an. Würdet ihr dem widersprechen? Ich wäre mehr als glücklich, wenn diese Bürde auf den Schultern unserer göttlichen Schwester läge, antwortete Dakas. Im letzten Zyklus habe ich von dieser Last fast einen krummen Rücken bekommen. Ich habe ebenfalls nichts dagegen, stimmte Enalla abwesend zu und schaute hinauf zum wirbelnden Licht am Nachthimmel. Das ist das Schönste, was ich je gesehen habe, verkündete sie. Warte, bis du es bei Sonnenaufgang siehst, Enalla, sagte Vash stolz. Also gut, meinte Balacenia. Wir müssen gut Acht geben, damit wir das Gleichgewicht der Welt nicht stören, während wir und die Älteren gleichzeitig wach sind. Anscheinend können wir einiges mit den Naturgewalten anfangen, solange wir träumen, ohne die Welt sofort in den Grundfesten zu erschüttern, aber wir sollten nichts Derartiges wagen, solange wir wach sind. Ich glaube allerdings trotzdem, dass Dahlaine ein enormes Risiko eingegangen ist, sagte Enalla. Das zusätzliche Gewicht hätte dafür sorgen können, dass die Welt in die Sonne fällt, wisst ihr? Die Alternative war auch nicht sehr verlockend, Schwesterchen, erinnerte Dakas sie. Das Vlagh - oder wer auch immer die Wesen des Ödlands anführt - hat schon seit langem gegen die natürliche Ordnung der Dinge verstoßen, insofern mussten wir ganz einfach ein paar Risiken eingehen. Wir schweifen vom Thema ab, warf Balacenia ein, und möglicherweise bleibt uns nicht mehr viel Zeit, ehe einer von uns aufwacht. Ich habe den starken Verdacht, dass es zu katastrophalen Ergebnissen führen würde, wenn wir anfangen, unverhohlen mit den Naturgesetzen zu spielen. Während wir schlafen und träumen, können wir fast alles tun, doch sobald wir aufwachen, hört es auf. Gleichgültig, was passiert, wenn wir wachen, wir müssen es ertragen, bis einer von uns wieder schläft. Das ist doch leicht, große Schwester, sagte Vash und grinste breit. Dann muss eben zu jeder Tageszeit einer von uns schlafen. Die Fremdlinge nennen es >Schlafen während der Wache<, und sie halten es für eine Todsünde. Wir machen es genau andersherum, das wäre es dann. Wenn jeder von uns ein Viertel des Tages schläft, kann er während dieser Zeit gewissermaßen Wache über die anderen halten. Das erscheint mir sinnvoll, Balacenia, meinte Enalla. Der liebe Vash ist manchmal so klug jedenfalls von Zeit zu Zeit. Sie bedachte ihn mit einer spöttischen Grimasse. Sei lieb, Enalla, schalt Balacenia sie. Ich bin immer lieb, liebe Schwester - sogar, wenn ich mich entsetzlich langweile. >Lieb< Sein macht wirklich keinen großen Spaß. Aracia würde ich das aber nicht auf die Nase binden, Enalla, warnte Dakas. Sie hat doch diese fetten,
langweiligen Priester, die sie bei jeder Bewegung beobachten. Wenn du ihr Interesse am >NichtLieb< Sein weckst, würde die Kirche von Aracia vielleicht auseinander brechen. 136
Sie wird nicht nur auseinander brechen, wenn Aracia sich schlafen legt, Dakas, gab Enalla zurück. Diese fetten, faulen Priester machen mich krank, und sobald ich aufwache, werde ich als Erstes ihre dummen Tempel dem Erdboden gleichmachen. Danach werde ich ihnen sagen, dass ich sie nie wieder sehen will. Hoffentlich werden sie sich dann eine ehrliche Arbeit suchen. Vash hat die Lösung für unser Problem gefunden, verkündete Balacenia. Wenn einer von uns schläft, kann der- oder diejenige stets auf die Züge des Vlagh reagieren. Es ist doch offensichtlich, dass das Vlagh genau bis zu dem Zeitpunkt gewartet hat, an dem unsere Älteren in den Zustand der Senilität verfallen. Manchmal muss ich Zelana regelrecht drängen, damit sie sich in Bewegung setzt, und das gefällt mir nicht besonders. Habt ihr ähnliches Verhalten auch schon bei euren Älteren bemerkt? Dahlaine äußert sich in letzter Zeit immer ein wenig vage, antwortete Dakas. Manchmal vergisst er, dass Langkralle und ich fast Brüder sind, und er kann auch nicht mehr alle Häuptlinge der Dörfer auseinander halten. Veltan scheint ganz normal zu sein, berichtete Vash ein wenig zweifelnd. Allerdings war er schon immer ziemlich verrückt. Es ist so öde, wenn er ständig über seine Zeit auf dem Mond erzählt, aber Ära mahnt mich stets, meine guten Manieren nicht zu vergessen, wenn er wieder anfängt zu schwafeln. Ära magst du sehr gern, oder?, fragte ihn Enalla. Alle mögen Ära. Omago ist vermutlich der glücklichste Mann der Welt, seit er sie zur Frau hat. Jedenfalls ist sie eine wundervolle Köchin, so viel steht fest, stimmte Dakas zu. Unsere Älteren haben keine Ahnung von Essen.
Wir ja auch erst seit kurzer Zeit, erinnerte Enalla ihn. Ich glaube, wir haben eine der besten Sachen im Leben verpasst. Ist denn Aracia noch die Alte?, fragte Balacenia ihre Schwester. Enalla zuckte mit den Schultern. Sie ist reizbar, und ihre Priester übertreiben es ein wenig mit ihren ermüdenden Zeremonien, um sie bei Laune zu halten. 137
Offensichtlich geraten sie alle ein wenig ins Trudeln, sagte Balacenia. Für gewöhnlich wäre das kein Problem, doch wir befinden uns mitten im Krieg, und deshalb müssen wir einschreiten -natürlich ganz subtil - und auf sie aufpassen. Einige Male musste ich schon selbst zu Langbogen gehen und mich darum kümmern, dass bestimmte Dinge erledigt werden. Langbogen zu überreden, etwas zu tun, könnte schwieriger sein, als Zelana von einer Sache zu überzeugen, stöhnte Vash. Er musste sich tatsächlich erst daran gewöhnen, bestätigte Balacenia. Sie runzelte leicht die Stirn. Ich glaube, wir sollten enger in Kontakt bleiben als bisher, meinte sie. Das Vlagh hat sich wohl auf Überraschungen spezialisiert, und wir müssen uns jederzeit bereithalten. Das könnte ein Problem darstellen, liebe Schwester, warf Dakas ein. Du und Vash, ihr beide habt diese Art von Träumen schon einmal erlebt, aber Enalla und ich haben eigentlich gar keine Ahnung, worum es geht, und immerhin werden wir zusammen als Schläfer für einen halben Tag zuständig sein. Falls es zu einem Notfall kommt, während einer von uns schläft, wissen wir gar nicht, wie wir reagieren sollen - selbst vorausgesetzt, ihr könnt zu uns vordringen. Wenn ich schlafe, weckt mich nicht einmal Dahlaines Donner. Falls etwas schief geht, wirst du es schon merken, Dakas, versicherte Vash ihm. Mein Yaltar-Teil schlief wie ein Stein, als Eleria um Hilfe rief, und ich habe automatisch mit diesen schrecklichen Vulkanen reagiert. Das ging alles fürchterlich schnell, und was ich eigentlich getan habe, wurde mir erst nach dem Aufwachen bewusst. Hat uns Dahlaine eigentlich deinen Traum richtig wiedergegeben, Dakas?, fragte Balacenia. Ziemlich richtig, erwiderte Dakas. Natürlich hat der Traum nicht viel Sinn für mich ergeben, als ich wach wurde. Diese Sache mit der zweiten Invasion kann ich mir einfach nicht erklären. Er sah Vash an. Ich dachte, die Trogiten stehen in Veltans Diensten. Das stimmt - zumindest, was Narasans Armee betrifft, erwi138 derte Vash. Veltan hat mir nicht allzu viele Einzelheiten darüber erzählt, wie es ihm gelungen ist, eine Armee im Lande der Trogiten anzuheuern, daher habe ich keine Ahnung, wie die Lage dort ist. Balacenia blickte nach Osten und entdeckte ein schwaches Licht am Horizont. Es ist schon fast
Morgen, sagte sie zu den anderen, also werden die meisten von uns bald erwachen. Ich bleib noch mindestens bis mittags hier, weil ich nachdenken möchte. Es dürfte zwar, glaube ich, in nächster Zeit keinen Notfall geben, aber ich werde hier sein, wenn mich irgendwer von euch braucht. Und wenn du müde wirst, ruf mich, bot Dakas ihr an. Ich kann zu jeder Tageszeit schlafen. Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich mit Bären aufgewachsen bin. Und wenn du aufwachst, Dakas, kannst du mich rufen, sagte Enalla. Ich werde eine Zeit lang schlafen, und dann rufe ich Vash. Danach ist Balacenia wieder an der Reihe. Eine letzte Sache, ehe ihr geht, sagte Balacenia. Seid vorsichtig, wenn ihr mit den Alteren sprecht. Sowohl Vash und ich haben versehentlich schon unsere richtigen Namen benutzt. Falls das zu häuf ig passiert, werden die Alteren Verdacht schöpfen. Wir sollten dafür sorgen, dass sie zufrieden sind -und schläfrig. Schließlich sollen sie ja nicht merken, dass wir wach sind. Die anderen bekundeten ihre Übereinstimmung, und dann verschwanden sie aus der imaginären Welt. Balacenia wanderte allein durch die leuchtende Aurora, während der Horizont im Osten heller und heller wurde. Schließlich ging die Sonne in majestätischer Pracht auf und überzog den Himmel mit rosarotem Licht. Balacenias Herz füllte sich mit Traurigkeit, trug doch die Geliebte sich mit schweren Sorgen, und ihre Pein lastete auf Elenas Seite von Balacenias Seele. Und dann geschah etwas Unfassbares. Eine Frauengestalt trat aus dem Sonnenaufgang und kam auf Balacenia zu, hier, an diesem Ort, der nur in der gemeinsamen Fantasie von Balacenia und Vash existierte. Das hast du sehr gut gemacht, Liebes, sagte die Frau mit volltönender Stimme. 139
Balacenia erkannte die Stimme sofort und war aus irgendeinem Grunde nicht im Mindesten überrascht, dass Ära hier wie aus dem Nichts auftauchte. Es kam ihr ganz normal vor. Höflich nickte sie Omagos wunderschöner Frau zu. Ich wollte dich schon eine ganze Weile lang etwas fragen, Ära, sagte sie, vielleicht ist jetzt die richtige Zeit dafür. Und der richtige Ort. Ich werde das Gefühl nicht los, wir seien uns schon einmal begegnet. Das ist doch tatsächlich passiert, oder? Oh, ja, erwiderte Ära und lächelte liebevoll, doch vor langer, langer Zeit - sogar für deine Verhältnisse. Sie streckte die Arme aus, und Balacenia ging wie von selbst zu ihr. Du machst deine Sache wirklich gut, Balacenia, sagte Ära und hielt sie zärtlich im Arm. Ich war mir nicht sicher, ob Dahlaines Plan funktionieren würde, aber du hast die Verwandlung so gut hinbekommen, dass es keinen Hinweis darauf gab, was geschieht, während du selbst erkannt hast, wer du wirklich bist. Mir schien es, Dahlaines kleiner Plan würde nicht weit genug gehen, Ära. Das hat die ganze Zeit an Eleria genagt. Eigentlich war alles die Idee des Eleria-Teils von mir. Sie wusste, sie und die anderen Träumer würden Hilfe brauchen, deshalb hat sie mich gerufen. Balacenia lächelte. Bisher hat mich nie zuvor jemand geweckt, und ihre Kindheitserinnerungen haben mich zu Tränen gerührt. Du musst gut aufpassen, wenn Eleria ihren Charme einsetzt. In vielerlei Hinsicht ist sie eins mit dir, aber sie hat auch ihre kleinen Eigenheiten. Möglicherweise hat es damit zu tun, dass sie mit den Delphinen gespielt hat. Du wirst dich sicherlich an sie gewöhnen, aber vielleicht dauert es eine Weile. In der Zwischenzeit achte auf Zelana. Sie ist nicht mehr ganz Herrin ihrer Sinne. Es wird ihr doch wieder besser gehen, oder?, fragte Balacenia besorgt. Vermutlich in diesem Zyklus nicht mehr, liebe Balacenia. Sie schreitet auf ihren Schlaf zu, und es geht schneller, als Dahlaine erwartet hat, aber damit komme ich schon zurecht. Im Augenblick tröste deine Geliebte und beschütze sie, den Rest kannst du mir 140
überlassen. Und nun schlaf weiter, liebes Kind. Morgen ist ein neuer Tag. Dann erwachte Balacenia und fand sich in Elenas Bett wieder.
Der Ehrenmann
13 Narasan war im Lager der Armee seines Vaters geboren worden, und in gewissem Sinne hatte er sein ganzes Leben in der Armee verbracht, weshalb ihm der Gedanke, Kaufmann oder Regierungsmitglied zu werden, niemals gekommen war. Das Armeelager war ursprünglich in den Außenbezirken der Stadt Kaldacin angelegt worden und umfasste mehrere hundert Morgen Land. Die Kaiserstadt dehnte sich jedoch weiter aus und wuchs schließlich um das Lager herum; hochrangige Angehörige der Regierung hatten das Land gierig betrachtet, weil es einen riesigen Gewinn abzuwerfen versprach. Über die letzten Jahrzehnte hinweg hatte es oft Kaufangebote gegeben, doch eine lange Reihe von Narasans Vorgängern hatte sich standhaft geweigert, sich darauf einzulassen. Das Lager der Armee seines Vaters war in vielerlei Hinsicht eine Stadt für sich und verfügte über Verwaltungsgebäude, Offiziersquartiere, Kasernen, Waffenkammern und Lagerhäuser, Exerzierplätze, Paradeplätze und alle nur erdenklichen Übungsgelände. Von der eigentlichen Stadt war das Lager durch eine hohe Mauer und gut bewachte Tore getrennt. Die Steingebäude hatten alle die gleiche Größe, die gleichen mit Stuck verzierten Wände und die gleichen roten Ziegeldächer, und alles war gedrungen und viereckig und besaß eine Aura der Dauerhaftigkeit, an welche die ständig in Veränderung befindliche Stadt jenseits der Mauer nicht heranreichen konnte. Narasan hatte die Stadt draußen als Kind manchmal erkundet, doch sah er damals keine Notwendigkeit, sich dort herumzutreiben. Alles, was er wollte und brauchte, fand er im Lager - weshalb sollte er also in die Stadt gehen? Es gab gut beaufsichtigte Spielzimmer für die Kinder in den Gebäuden, in denen die Offiziersfamilien wohnten, doch hatten die Kinder ein bestimmtes Alter erreicht, durften die Jungen nicht mehr mit den Mädchen in den gleichen Räumen spielen. Die Frauen der Offiziere hatten ihre Gründe dafür. Vielleicht waren es die gleichen, aus denen die Spielplätze draußen stets weitab der Übungsgelände lagen. Mütter fanden die Sprache der Soldaten ausgesprochen flegelhaft, also versuchten sie, ihre Kleinen davor zu bewahren. Mit Holzschwert und Schild bewaffnet und unter der Aufsicht Versehrter Veteranen verbrachten Narasan und seine Freunde ihre meiste Zeit damit, Soldat zu spielen. Die Veteranen unterrichteten sie im Marschieren und im Schwertkampf und achteten darauf, dass sie sich mit ihren Spielzeugwaffen gegenseitig nicht verletzten. Narasans engste Freunde in der Kindheit waren Gunda und Padan, die Söhne von Unterkommandanten in der Armee seines Vaters. Gunda war stämmig und konnte schon als Knabe hervorragend mit dem Holzschwert umgehen. Padan war schlanker, und er schien Freude an Dingen
zu finden, die Narasan überhaupt nicht mochte. Schon früh entschied Narasan, den Rang seines Vaters nicht in den Vordergrund zu stellen, wenn sie zusammen spielten. Mit dem Status seines Vaters vor den Freunden zu protzen, erschien ihm unangemessen - und sogar ein wenig unehrenhaft. Mit der Zeit begriff Narasan, dass sich ihr Spielplatz im Schatten der großen weißen Offiziersquartiere gar nicht so sehr von den Exerzierplätzen der regulären Soldaten unterschied. So spielten die Kinder der Armee Soldat, bis sie alt genug waren, um selbst Soldat zu werden. Das erschien dem jungen Narasan wie der natürliche Lauf der Dinge. Mein Papa hat mir nicht gesagt, wie es passiert ist, Narasan, sagte Gunda an einem frostigen Morgen, als sie auf dem Spielplatz waren. Er sagt nur, Padans Papa sei während des Krieges jetzt im Süden ums Leben gekommen. Deshalb ist Padan wahrscheinlich in den letzten Tagen nicht hier gewesen. 146
Narasan war geschockt. Natürlich wusste er, dass Soldaten in Kriegen den Tod erleiden konnten, doch zum ersten Mal hatte es den Vater eines seiner besten Freunde erwischt. Was sollen wir denn zu Padan sagen, wenn er wiederkommt, Gunda?, fragte er. Woher soll ich das wissen?, gab Gunda zurück. Es ist das erste Mal, dass jemandem, den ich kenne, so etwas passiert. Vielleicht sollten wir gar nichts dazu sagen, schlug Narasan zögerlich vor. Und übers Wetter reden oder so? Ich weiß nicht. Am besten fragen wir einen Sergeanten danach. Ich nehme an, im Krieg sterben eben Menschen. Aus dem Grunde gibt es ja Kriege überhaupt, oder? Das passiert bestimmt nicht zum ersten Mal, und daher werden die alten Sergeanten wissen, wie man am besten mit so einer Situation umgeht. Vermutlich hast du Recht. Diese alten Sergeanten wissen alles, was mit dem Krieg zu tun hat. Wenn wir groß sind, können wir vielleicht einmal gegen die Armee kämpfen, die Padans Papa umgebracht hat. Wenn wir sie so richtig niedermachen, fühlt sich Padan bestimmt besser, meinst du nicht auch? Da hast du sicherlich Recht, Gunda, stimmte Narasan zu. Ich werde herausfinden, welche Armee das war, und wir knöpfen sie uns vor, sobald wir das Kommando übernommen haben. Er sah sich auf dem Spielplatz um. Allerdings weiß ich nicht, ob wir das irgendwem erzählen sollten. Möglicherweise ist das nicht besonders ehrenhaft, solchen Groll zu hegen. An etwas anderes kannst du wohl nie denken, wie, Narasan?, meinte Gunda. Gewiss sollten wir uns einigermaßen ehrenhaft benehmen, aber da jemand einem unserer Freunde wehgetan hat, ist Schluss mit der Ehre, und es geht vor, abzurechnen. Vermutlich hast du Recht, stimmte Narasan zu, nur sollten wir es trotzdem nicht jedem auf die Nase binden. Du wirst später Kommandant, Narasan, also machen wir es so, wie du es vorschlägst. Das war ... oh, vor vielleicht fünfzig oder sechzig Jahren, als die Armeen sich entschieden, nicht länger für den Imperator oder das dumme Palvanum zu arbeiten, in dem die ganzen Grafen und Barone ihre Zeit mit überflüssigen Reden verschwendeten, erzählte der runzlige alte Sergeant Wilmer den Jungen an einem verregneten Nachmittag, als das Wetter zu schlecht war, um zum Spielen nach draußen zu gehen. Es ging los, so hat man's mir erzählt, als die dummen Palvani ihre Köpfe zusammensteckten und uns Soldaten erklären wollten, wir bekämen zu viel Sold. Natürlich herrschte gerade Frieden, also hatten die Soldaten nichts anderes zu tun, außer ihre Schwerter zu wetzen und zu würfeln. Den Palvani gefiel das überhaupt nicht, und da haben sie uns den Sold halbiert - und dann, so fanden die Soldaten später heraus, haben die Palvani beschlossen, sie würden eigentlich gar nicht genug Geld für ihre Reden kriegen, und da haben sie sich einfach selbst mehr ausgezahlt was sie allerdings ziemlich geheim hielten. Können sie das denn einfach machen?, rief der junge Padan. Einfach in die Schatztruhe greifen und sich nehmen, was sie wollen? Nun, früher schon. Nachdem die Armeekommandanten davon Wind bekommen hatten, versammelten sie sich und entschieden, sie wollten nicht länger für das Palvanum und den Kaiser arbeiten, und so quittierten sie den Dienst. Allerdings blieben sie einfach in ihren Lagern. Es war dann eine Weile lang ganz schön was los, denn ein paar Herzöge und Barone in den Ostprovinzen wollten nicht mehr zum Imperium gehören und zahlten keine Steuern mehr, machten ihre Grenzen dicht und hängten jeden Steuereintreiber, der ihnen in die Hände fiel, am Galgen auf. Verstößt das nicht gegen das Gesetz?, fragte Gunda. Sergeant Wilmer lachte. Die Regierung hatte keine Armeen mehr, Junge, erklärte er. Da gab's niemanden, der in die Ostprovinzen ziehen wollte, um den Herzögen und Baronen zu sagen, dass sie
die Gesetze brachen. Also fingen die Palvani an, Reden zu schreiben und Befehle, dass die Armeen in die Ostprovinzen ziehen sollten, um diesen Herzögen und Baronen zu sagen, sie sollten 148 ihre Steuern wieder bezahlen, aber die Armeekommandanten sagten den geschwätzigen Palvani, was sie mit ihren Befehlen mal machen könnten, und so saßen die Armeen rum und warteten. Narasan und die anderen Jungen lachten. Nun, fuhr der Sergeant fort, es dauerte nicht lange, bis die Dummköpfe im Palvanum begriffen, wie der Hase lief, und so wetzten sie in die Lager der Armeen und erzählten den Soldaten, sie würden ihnen gern wieder das Gleiche zahlen wie vor der Kürzung, aber die Soldaten sagten Nein. Dann sagten sie, man müsse ihnen schon mindestens das Doppelte anbieten, um sie zu locken. Ihr könnt mir glauben, ein solches Geschrei habt ihr noch nie gehört! Die verzweifelten Palvani hüpften wild hin und her und drohten und erteilten Befehle, doch niemand gehorchte ihnen, und am Ende schlugen die Soldaten die Tore zu und antworteten nicht einmal mehr, wenn die Palvani draußen klopften. Hört sich an wie ein klarer Sieg für unsere Seite, Sergeant, befand Gunda. Es wird noch besser, meine kleinen Freunde, fuhr der Sergeant fort und nahm erst einmal einen ausgiebigen Schluck Bier aus seinem Krug. Diese vornehmen Palvani kehrten zu ihrem hübschen Versammlungshaus zurück und hielten eine Woche lang Reden, dann schlössen sich zwei weitere Ostprovinzen dem Aufstand an, und die Schlaffsäcke der Regierung wachten plötzlich auf. So, wie die Dinge standen, hätte es innerhalb eines Monats kein Imperium mehr gegeben. Also rannten sie wieder zu den Armeelagern und sagten unseren Kommandanten, sie würden so viel zahlen, wie die Soldaten verlangten, aber die Kommandanten erklärten: >Wir marschieren nicht los, bevor wir Geld gesehen haben.< Da fingen sie wieder an zu lamentieren, aber inzwischen wussten die Palvani, dass unsere Kommandanten meinten, was sie sagten, also gab die Regierung schließlich nach und zahlte den Soldaten ihr Geld, und damit war die Sache beendet. Wie ging denn der Krieg aus, Sergeant?, fragte Narasan neugierig. Sergeant Wilmer schnaubte. Das war gar kein richtiger Krieg, 149
Junge, antwortete er. Als die Herzöge und Barone aus dem Osten zehn Armeen sahen, die auf sie zumarschierten, gaben sie klein bei und trollten sich. Der alte Sergeant trank wieder einen Schluck Bier und sah die Jungen vor sich einen nach dem anderen an, während eine Windbö draußen den Regen an die Fenster klatschen ließ. Wenn ihr jungen Herren eines Tages mit eurer richtigen Ausbildung anfangt, werden eure Lehrer euch bestimmt eine ganz andere Geschichte erzählen, sagte er ernst, aber was ihr von mir gehört habt, ist die wahre Geschichte. Mein Sergeant hat sie mir erzählt, als ich nicht viel älter war als ihr jetzt, und er war selbst dabei. Von Zeit zu Zeit versuchen die Lehrer die Vergangenheit schönzufärben, denn für gewöhnlich sind die wirklichen Ereignisse ziemlich schmutzig. Die Wirklichkeit ist ganz und gar nicht so nett, wie es manchen Leuten recht wäre, also glaubt nicht alles, was eure vornehmen Lehrer euch erzählen, ohne es euch genau anzugucken. Narasan prägte sich diesen Ratschlag ein und nahm sich vor, ihn in der Zukunft zu beherzigen, während er sich das Regenzeug überzog, um nach Hause zu gehen. Er hatte gehört, dass manche Armeekommandanten in Palästen wohnten und sich wie Angehörige des Adels benahmen, doch Narasans Vater lehnte das ab, weil es nicht sehr ehrenhaft war. Als Narasan wieder daheim war, ging er in das mit Büchern voll gestopfte Arbeitszimmer seines Vaters. Sergeant Wilmers Geschichte hatte ihn nachdenklich gemacht, denn sie rückte seine geplante Karriere in ein vollkommen neues Licht. Hast du einen Moment Zeit, Vater?, fragte er. Was bekümmert dich, Sohn?, erwiderte sein Vater und legte das Dokument beiseite, das er gerade las. Was macht dir Sorgen? Nun, als es heute Nachmittag zu regnen begann, hat uns unser Lehrer nach drinnen geschickt, wegen des Wetters, und der alte Sergeant Wilmer war dort. Manchmal redet er schon sehr komisch, nicht wahr? Narasans Vater lächelte schwach. Das ist nur Gehabe, mein Junge. Er redet so, um eure Aufmerksamkeit zu wecken. VermutIJO
lieh hat er euch die Geschichte erzählt, wie unsere Armee entstanden ist? Woher weißt du das, Vater? Die Geschichte erzählt er allen Armeekindern, und das schon lange. Früher oder später hört jeder Junge Wilmers Bericht, woher wir eigentlich vor langer Zeit gekommen sind.
Ich dachte, er hätte es sich ausgedacht. Nein, er hat es nicht erfunden, Narasan. Wilmers Bericht kommt der Wahrheit ziemlich nahe. Die Armeen jener Ära waren tatsächlich der kaiserlichen Regierung unterstellt, und sie haben sich unabhängig gemacht, weil es zu einem Streit über den Sold der einfachen Soldaten kam. Wir wollen, dass unsere Söhne wissen, was damals passiert ist, deshalb lassen wir Wilmer auf jede Generation unserer Kinder los. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, und das Licht der Kerze schimmerte auf seinem silbrigen Haar. Jedes Mitglied unseres Hochverehrten Palvanums hat seine eigenen Vorstellungen, wie die Regierung das Geld der Schatzkammer ausgeben soll, und der Sold der Armeen steht in der Regel ganz unten auf der Liste. Das ist aber nicht gerecht. Gerechtigkeit war für das Palvanum schon immer ein unbekannter Begriff, mein Sohn. Wenn Krieg im Anzug war, hielten die Palvani glühende Reden über die Tapferkeit der trogitischen Soldaten, doch im Frieden dachten sie nicht mehr an uns. Aus diesem Grunde haben wir dann eigentlich die Geschäfte selbst übernommen. Und das ist das Wichtigste an Wilmers Geschichte. Auf einen plötzlichen Impuls hin schnitt Narasan ein Thema an, das ihn schon seit einigen Monaten beschäftigte. Ich wollte ja eigentlich gar nichts darüber sagen, aber Gunda und ich haben uns unterhalten, nachdem Padans Vater letzten Winter im Krieg gestorben war, und wir dachten, wir sollten eines Tages vielleicht Krieg gegen die Armee führen, die ihn umgebracht hat. Seitdem wir darüber gesprochen haben, mache ich mir Gedanken. Wäre so etwas ehrenhaft? Ich meine, Soldaten sterben nun einmal im Krieg, und mir schien es zunächst, solchen Groll zu hegen sei nicht richtig. Narasans Vater schüttelte den Kopf. Die Treue eines Soldaten gehört zuallererst seinen Kameraden. Dort beginnt seine Ehre, mein Junge. Im Augenblick warte ich ebenfalls auf die Gelegenheit, dieser Armee, die den Vater deines Freundes getötet hat, das Licht auszublasen. Du wirst sie also niedermachen?, fragte Narasan begeistert. Du hast gut aufgepasst bei Sergeant Wilmer, Narasan, sagte sein Vater und grinste breit. Ja, in der Tat. Ich werde sie niedermachen. Ich werde sie so gründlich niedermachen, dass Enkel noch laufen und sich verstecken werden, wenn sie meinen Namen hören. Zwar werde ich dadurch bei gewissen Mitgliedern des Palvanums nicht beliebter werden, denn die betreffende Armee steht bei ihnen in der Gunst, aber so ist nun einmal das Leben. Gibt es auch ehrliche Menschen in der Regierung, Vater? >Ehrlich< und >Regierung< sind zwei Begriffe, die man nicht in einem Atemzug nennen sollte, Narasan. Sie widersprechen einander. Ich bin froh, dass ich in der Armee sein werde, sobald ich erwachsen bin, verkündete Narasan. Wenn ich recht verstanden habe, sind wir die einzigen ehrlichen Menschen im Imperium. So könnte man es durchaus sagen, ja, stimmte sein Vater lächelnd zu. Ungefähr ein Jahr später begannen Narasan, Gunda und Padan mit ihrer eigentlichen Ausbildung, und selbstverständlich handelte es sich bei ihren Lehrern um Berufssoldaten. In jedem Fach, in dem sie unterrichtet wurden, kam die Sprache auf das Thema Wir marschieren nicht, bevor wir Geld sehen. Padan, der einen etwas eigenartigen Sinn für Humor hatte, schlug immer wieder vor, man solle dieses exzellente Motto doch gleich auf die Banner schreiben. Narasan war ein wenig erschüttert, als ihre Lehrer tatsächlich über Padans dummen Vorschlag ernsthaft nachdachten. Der Unterricht war ausgesprochen langweilig, und die Jungen in Narasans Klasse bevorzugten die Übungen auf dem Exerzierplatz. Schwerter aus Stahl waren schwerer als solche aus Holz, und es dauerte eine Weile, bis die Jungen entsprechende Muskeln entwickelt hatten. Die Phalanx stellte einen zentralen Teil der trogitischen Taktik zu dieser Zeit dar, und die Jungen verbrachten endlose Stunden damit zu lernen, wie man im Gleichschritt marschiert, während sich die Schilde überlappen und man die langen Speere vor sich ausgestreckt hält. Geschlossenheit ist die Grundlage jeglicher Phalanxformation, und so brüllten die Drillsergeanten wieder und wieder Geschlossen! Geschlossen!, bis Narasan es nicht mehr hören konnte. Bald stellte er fest, dass ihn der Drillsergeant aus Leibeskräften anbrüllte, sobald er seinen Schild auch nur einen Zoll aus der Linie brachte. Kurz nach Narasans achtem Geburtstag wurde die Armee von Narasans Vater beauftragt, einen Sklavenaufstand in einer der westlichen Provinzen des Reiches niederzuschlagen. Sein Vater hatte zwar nie etwas Konkretes geäußert, dennoch vermutete Narasan, er lehne die Sklaverei ab. Narasan selbst hatte noch nie einen Sklaven gesehen, doch Gerüchten zufolge waren etliche Männer in der Armee ehemalige Sklaven. Wenn ein junger Mann am Tor des Lagers erschien und verkündete, er
wolle sein Leben von nun an beim Militär verbringen, stellte niemand viele Fragen. Auch hieß es, eine stattliche Anzahl Soldaten im Lager hätten in ihrer Vergangenheit an Verbrechen teilgenommen, aber auch denen stellte niemand ausführlichere Fragen. Als die Armee von ihrem Feldzug im Westen zurückkehrte, marschierte Narasans Onkel Kalan an der Spitze der Kolonne, und plötzlich überlief Narasan ein kalter Schauer. Es ist fast lächerlich, was da passiert ist, berichtete Kalan später Narasan und seiner Mutter traurig. Ein entlaufener Sklave fand einen abgebrochenen Speer, der nur noch einen halben Schaft hatte. Wir wussten nicht einmal, dass sich dieser Kerl in den Büschen versteckte, als wir den Hügel hinaufmarschierten. Er sah uns kommen, sprang auf, warf den Speer ungefähr in unsere Richtung und rannte wie ein verängstigter Hase davon. Ich glaube fast, der hat vorher noch nie einen Speer in der Hand gehabt, aber das verfluchte Ding traf meinen Bruder genau in den Hals, und er starb 153
auf der Stelle. Ich möchte wohl behaupten, dieser Halunke hätte den Speer tausendmal werfen können und hätte nicht noch einmal auch nur annähernd so gut getroffen. Habt ihr den Sklaven erwischt?, wollte Narasans Mutter niedergeschlagen wissen. Oh, ja, erwiderte Kalan grimmig, und er ist auf sehr langsame Weise unter großen Leiden gestorben. Das ist wenigstens ein Trost, sagte Narasans Mutter. Nicht viel, Teuerste, entschuldigte sich Kalan, nur kann ich dir leider nicht mehr bieten. Kurz darauf haben wir diesen dummen Aufstand niedergeschlagen. Die Männer waren sehr unglücklich darüber, was deinem Gemahl passiert ist, und deshalb haben sie an jedem Entlaufenen, der ihnen in die Hände fiel, ein Exempel statuiert. In den nächsten Jahren müssen die Sklavenbesitzer verstärkt für Nachwuchs sorgen, denn wir haben ihnen nicht viele Entlaufene lebendig zurückgebracht. Das ist wirklich zu schade, antwortete Narasans Mutter. Dann verließ sie den Raum, und Narasan hörte sie im Nachbarzimmer weinen. Während der nächsten Tage und Wochen war Narasans Mutter vollkommen aufgelöst. Narasan versuchte ohne großen Erfolg, seine eigene Trauer zu bewältigen, und sein Onkel half ihm, die schlimmste Zeit zu überstehen. Als Narasan wieder einigermaßen klar denken konnte, bemerkte er, dass seine Mutter nicht mehr recht bei Verstand war. Offensichtlich hatte sie die Trauer zu sehr mitgenommen. Narasan entschied an diesem Punkt, niemals zu heiraten. Das Leben eines Soldaten konnte von einem Moment auf den anderen zu Ende sein, doch die Trauer einer Soldatenfrau konnte ewig dauern. Überhaupt sollte ein richtiger Soldat mit seiner Armee verheiratet sein. Narasans Onkel Kalan wurde der Nachfolger als Kommandant der Armee, und er nahm seinen Neffen unter seine Fittiche. An seinem zwölften Geburtstag wurde Narasan in den Rang eines Kadetten erhoben - die Jungen, die aus der Armee hervorgingen, waren bereits so gut ausgebildet, dass man ihnen kleinere Aufträge anvertraute, sobald sie ein gewisses Alter erreicht hatten. Narasan zeichnete sich als Kadett aus, und mit fünfzehn bot man ihm ein Patent für einen sehr niedrigen Offiziersrang an. Ehe er zwanzig wurde, hatte er etliche Kriege hinter sich, und es war ganz offensichtlich, dass er es weit bringen würde, und zwar schnell - vorausgesetzt jedoch, er lebte lange genug, um die verschiedenen Ränge zu durchlaufen. Mit fünfunddreißig war er Unterkommandant, und seine Freunde aus der Kindheit, Gunda und Padan, waren nicht weit hinter ihm zurück. Die drei hatten ihren Dienst bislang ganz zur Zufriedenheit von Kommandant Kalan absolviert. Narasan war sich natürlich der Tatsache bewusst, dass sein Onkel ihn genauestens im Auge behielt, daher überraschte es nicht weiter, als sein Onkel auf dem Höhepunkt der Feier zu Narasans vierzigstem Geburtstag in der Offiziersmesse verkündete, er wolle sich zurückziehen und Narasan werde sein Nachfolger als Kommandant der Armee. Ich bin noch gar nicht bereit, den Befehl zu übernehmen, protestierte Narasan. Dann solltest du dich langsam beeilen, gab sein Onkel zurück, denn ob du willst oder nicht, von morgen an bist du Kommandant. Wie willst du deinen Ruhestand verbringen, Kommandant Kalan?, fragte Narasans Freund Gunda. Ich dachte, ich könnte vielleicht ein wenig Schlaf nachholen, antwortete Kalan. Da ich dann kein Soldat mehr bin, muss ich mich nicht mehr bei Sonnenaufgang aus dem Bett wälzen, wie ich das in den letzten vierzig Jahren getan habe. Mittag klingt doch auch nicht schlecht. Ich hole mir etwas zu essen und lege mich wieder schlafen, bis es Zeit zum Abendessen ist. Du bist ein grausamer Mann, Kommandant, protestierte Narasans Freund Padan. Wir müssen weiterhin im Morgengrauen raus, während du den ganzen Morgen die Wände mit deinem Schnarchen
zum Beben bringst. Kommandant Kalan grinste ihn an. Und ich werde noch besser 155
schlummern, wenn ich weiß, dass ihr aufstehen müsst, Padan, feixte er. Narasan war seit seiner frühesten Kindheit zum Kommandanten herangezogen worden, und trotz aller Vorbehalte gegen seine jüngste Beförderung fand er, sein neuer Rang passte zu ihm wie ein gut eingelaufener Stiefel. Mit einigen kleineren Kriegen erwarb sich Narasan einen hervorragenden Ruf, und andere Armeekommandanten taten kund, dass sie in Zukunft gegen diesen Narasan nur kämpfen würden, wenn man ihnen den Sold verdoppelte. In der Folge schickten Narasans Gegner häufig erst Kundschafter auf das Schlachtfeld, um nach Narasan Ausschau zu halten, weil einige Auftraggeber versucht hatten, seine Anwesenheit zu leugnen. Stellte sich heraus, dass er tatsächlich da war, kapitulierte die feindliche Armee für gewöhnlich sofort. Auf diese Weise war es für ihn ein Leichtes, Krieg zu führen. Eine der wichtigsten Pflichten eines Kommandanten war die Auswahl des Mannes, der an seine Stelle treten sollte, falls er auf dem Schlachtfeld fiel. Narasan hatte schon jemanden für diesen Posten im Auge - obwohl sein jugendlicher Neffe noch nicht einmal ein Patent erworben hatte. Allein, es schmerzte ihn zuzugeben, dass sein Neffe Astal mindestens zweimal so begabt war wie er selbst. Wenn der junge Bursche es schaffte, seine ersten Feldzüge zu überleben, würde er es vielleicht sogar schaffen, die versprengten Armeen des Imperiums wieder zu vereinen und so den Lauf der Geschichte erheblich zu beeinflussen. Angesichts der Korruption im Weltreich schämte sich Narasan manchmal fast, ein Trogit zu sein. Ein starkes Militär konnte dem Palvanum wieder Ehre eintrichtern und ein paar unüberwindliche Hürden zwischen Kirche und Regierung errichten. Ein überragender Armeekommandant würde die Dinge in kürzester Zeit wieder ins Lot bringen. Vielleicht würde er sogar in manchem Geschichtsbuch als derjenige bezeichnet, der die Rettung des Imperiums einfädelte, dachte er. Gott weiß, früher oder später muss das schließlich jemand tun. 156
14 Ich wäre bereit, dir zehntausend Goldkronen zu zahlen, Kommandant Narasan, behauptete der Herzog von Bergalta. Schon mit deinem Ruf allein wirst du die Angelegenheit regeln. Ein äußerst großzügiges Angebot, Hoheit, erwiderte Narasan und blickte hinaus auf den Exerzierplatz in der Mitte des Lagers. Ist diese Baronie solchen Aufwand wirklich wert? Nun, eigentlich nicht, nehme ich an. Im Grund läuft es darauf hinaus, dem Herzog von Tashan endlich Einhalt zu gebieten. Dieser Schwachkopf glaubt anscheinend, er käme mit allem durch. Nachdem der alte Baron Forlen bei seinem Tod keinen Erben hinterlassen hatte, verkündete Tashan frech, er annektiere die Baronie als >Protektorat<, und das ist mir doch sauer aufgestoßen. Schließlich bildete die Baronie immer eine Art Puffer zwischen meinem Herzogtum und seinem. Wenn ich ihm dies durchgehen lasse, steht er direkt an meiner Ostgrenze. Reumütig gestand sich Narasan ein, dass gerade der ausgezeichnete Ruf seiner Armee immer mehr solcher doch eher armseligen Streitereien provozierte. Er zuckte mit den Schultern. Vermutlich würde es genügen, gemütlich in die betreffende Region zu marschieren und ein wenig mit den Muskeln zu zucken, damit sich Herzog Tashan an den Verhandlungstisch setzte. Der Sold war gut, und höchstwahrscheinlich würde kein Tropfen Blut vergossen werden, daher nahm er das Angebot von Herzog Bergalta an. Vor allem jedoch akzeptierte Kommandant Narasan das Angebot, weil sein begabter Neffe Astal kürzlich sein Patent erhalten hatte und nun als niedriger Offizier in der neunten Kohorte diente. Ein leichter Feldzug ohne große Gefahren war wohl der beste Weg, damit sich ein junger Mann die ersten Sporen verdienen konnte. Astal war nicht der einzige Offizier in Narasans Armee, der erst kürzlich sein Patent erhalten hatte, daher würden auch andere junge Offiziere einiges lernen können. Wie Narasan aufgefallen war, zeigte auch der gebildete Keselo, Astais engster Freund, 157
großes Potenzial. Dazu kam noch ein dritter neuer Offizier, der allerdings überhaupt nicht viel versprechend wirkte. Er hieß Jalkan, und er war ein ehemaliger Priester der amaritischen Kirche. Das an sich sprach schon gegen ihn. Ohne Frage war das Imperium von Korruption verseucht, doch die amaritische Kirche war durch und durch verdorben. Nachdem er widerwillig Jalkan ein Patent verkauft hatte, bereute Narasan seine Entscheidung sofort. Jalkan stellte sich als faul, unglaublich
dumm, arrogant und übertrieben hart gegenüber den Männern unter seinem Befehl heraus. Nachdem Jalkan einige ernsthafte Schnitzer unterlaufen waren, begann Narasan, die Missetaten des hageren kleinen Offiziers aufzuschreiben. Ganz bestimmt würde ihm diese Liste in gar nicht allzu ferner Zukunft von Nutzen sein. Jalkan war offensichtlich davon überzeugt, dass der Kauf seines Patentes seine Position sicherte. Narasan sehnte sich nach dem Tag, an dem er Jalkan über diesen Irrtum aufklären konnte. Nach einer recht kurzen Besprechung im Kriegsraum marschierte Narasans Armee auf das Herzogtum von Bergalta zu und gelangte in leichten Etappen nach Süden. Inzwischen war Spätsommer, es herrschte angenehmes Wetter. Die Sklaven der Landbesitzer arbeiteten auf den Feldern und verliehen dem Marsch beinahe eine idyllische Stimmung. Die Armee näherte sich der Nordgrenze von Bergalta, und gegen Mittag an einem sonnigen Tag kehrte Unterkommandant Gunda von der Kundschaft zurück. Einen halben Tag vor uns liegt eine Bergkette, berichtete er. Die Straße führt über einen recht schmalen Pass, und wir sollten das Nachtlager aufschlagen, ehe wir diesen Pass erreichen - nur der Vorsicht wegen. Zwar haben wir keine Spur der gegnerischen Armee sichten können, aber warum ein Risiko eingehen? Die Straße wird sowieso steiler, und die Truppe kommt schneller voran, wenn die Männer ausgeschlafen sind. So wird es also gemacht, Gunda, stimmte Narasan zu. Würdest du mir noch einen Gefallen tun und ein Wort mit Morgas von der neunten Kohorte reden? Sag ihm, mir wäre es lieb, wenn Astal morgen an der Spitze marschieren könnte. Dadurch sollte er ein 158 bisschen Selbstbewusstsein gewinnen. Wenn wir ihn in die erste Reihe stellen, fühlt er sich wichtiger. Irgendwie kommt mir das bekannt vor, Narasan, meinte Gunda und grinste breit. Dein Onkel Kalan hat dich auch jedes Mal nach vorn geschickt, wenn wir auf dem Marsch waren. Es hat sich doch ausgezahlt, Gunda. Warum also sollte man es dann ändern? Wie gewöhnlich wurde Narasans Armee beim ersten Licht des folgenden Morgens von den Hörnern geweckt; nach dem Frühstück brach man das Lager ab und marschierte auf den Pass zu. Die Bergkette vor ihnen konnte man kaum als Gebirge bezeichnen, denn sie bestand eher aus relativ sanft ansteigenden Hügeln, die aus der flachen Ebene im Süden des Imperiums aufragten. Die Erde war eher steinig, und der hiesige Adel hatte offensichtlich entschieden, das Beackern des Bodens sei doch nur Verschwendung von Zeit und Mühe, weshalb die Hügel mit dichtem Buschwerk und kleinen Bäumen bewachsen waren. Narasans Neffe Astal ging an der Spitze der neunten Kohorte und führte die Armee den Hang zu dem schmalen Pass hinauf. Wie es Brauch war, marschierte der Träger des Armeebanners gleich hinter dem jungen Offizier. Der Ruf der Armee machte die meisten möglichen Gegner ziemlich nervös, deshalb legte Narasan sehr viel Wert darauf, das Banner gut sichtbar zu präsentieren, damit es gar nicht erst zu Missverständnissen kam. Gunda blieb bei Kommandant Narasan, um ihn über das vor ihnen liegende Gelände zu unterrichten. Wie schmal ist dieser Pass eigentlich genau?, erkundigte sich Narasan. Ziemlich eng, Narasan, antwortete Gunda. Ich würde sagen, nicht breiter als fünfzehn Mann nebeneinander. Wenn dieser Ausflug einen ernsthaften Anlass hätte, würde ich dir empfehlen, den Pass zu meiden, doch in einer Lage wie dieser wird schon nichts passieren. Astal muss seine Marschformation auflösen, um die Männer hindurchzubringen. Ich hasse solche engen Stellen. Wahrscheinlich brauchen wir den ganzen Tag, bis die Armee auf der anderen Seite angekommen ist. Wird die Straße dahinter wieder breiter? Nicht wesentlich. Glücklicherweise hat der Herzog von Tashan keine große Armee zur Verfügung. Falls uns dort gegnerische Truppen mit ein wenig Erfahrung auflauern würden, könnte dieser Pass die Hölle für uns werden. Narasan beschattete wegen der gerade aufgehenden Sonne die Augen und schaute hinauf zum Pass. Der Morgenhimmel war klar und blau, makellos und ohne Wolken, und zu beiden Seiten breitete sich am steilen Hang des Berges das Buschwerk fast wie ein grüner Teppich aus. Es war einer dieser schönen Tage. Astal ließ die neunte Kohorte in der Nähe des Passes anhalten und gab in barschem Militärton den Befehl, sich neu zu formieren. Seine Soldaten stellten sich in einer schmalen Zehn-Mann-Kolonne auf, daraufhin nahm Astal seinen Platz an der Spitze ein und erteilte das Kommando zum Weitermarsch. Narasan empfand einen gewissen Stolz auf ihn. Astal handhabte die Sache genau so, wie man es von ihm erwartete, und seine Männer marschierten in einwandfreier Ordnung hinter dem rotgoldenen
Banner. Wir werden den ganzen Tag und die halbe Nacht brauchen, bis wir wieder in flachem Gelände sind, meinte Gunda. Der Pass selbst ist nicht sehr steil, aber durch die Engstelle wird der Vormarsch stark verlangsamt. Er kratzte sich ausgiebig die Stirn. Aber das macht nichts. Wir haben ja schließlich keine feste Verabredung, Gunda, erinnerte Padan seinen Freund. Ich weiß, erwiderte Gunda. Mir behagt es einfach nicht, dass die Truppe so auseinander gezogen wird. Sollte uns hier jemand angreifen, sitzen wir ziemlich in der Patsche. Ich hasse Berge. Padan zuckte mit den Schultern. Warum gehst du dann nicht hinauf und befiehlst den Bergen, sie sollten sich klein machen? Zwar werden sie kaum auf dich hören, aber wenigstens hast du etwas zu tun, anstatt hier herumzustehen und dich über jeden kleinen Buckel in der Straße zu beklagen. 160
Sehr witzig, Padan, knurrte Gunda. Ha, ha, ha. Du solltest auch noch ein wenig an deinem Lachen arbeiten, Gunda, stichelte Padan weiter. Er wirkt nicht so recht überzeugend. Der mühsame Marsch durch den schmalen Pass dauerte an, während die Sonne am Morgenhimmel höher stieg, und der Vormittag war schon halb vergangen, ehe die zwölfte Kohorte den Kamm erreichte. Plötzlich ertönte lauter Lärm von der anderen Seite des Passes, und alarmiert sprang Narasan auf. Finde sofort heraus, was da vor sich geht!, rief er Gunda zu. Schon unterwegs!, antwortete Gunda knapp und rannte so schnell er konnte die schmale Straße zum Pass hinauf. Auf halbem Wege kam ihm ein Melder entgegen. Die zwei Männer unterhielten sich kurz, dann machte Gunda auf dem Absatz kehrt und hastete zurück, wobei er die ganze Zeit deftige Flüche ausstieß. Dort oben gibt es Schwierigkeiten, Narasan!, brüllte er. Auf der anderen Seite des Passes werden wir von einem feindlichen Heer angegriffen! Ausschwärmen!, brüllte Narasan seinen Männern zu. Vergesst die Straße! Vorwärts! Die Armee verteilte sich und kletterte an den Hängen des Bergzuges hinauf, doch kaum hatten sie die halbe Distanz zurückgelegt, erschienen auf dem Kamm zu beiden Seiten des Passes gut bewaffnete Soldaten in großer Zahl. Ich würde sagen, es sind drei Armeen, Narasan, berichtete Padan. Wir haben wohl kaum eine große Chance durchzubrechen. Auf der anderen Seite haben wir zwölf Kohorten, Padan! Das glaube ich nicht, sagte Padan frei heraus. Ich höre keinen Lärm mehr von drüben, und das bedeutet: Es gibt unsere Kohorten nicht mehr. Er spähte zum Kamm hinauf. Diese Banner dort sehen doch recht bekannt aus, oder?, fragte er durch die zusammengepressten Zähne. Das grüne ist auf jeden Fall das Banner von Galdans Armee, und das blaue sieht aus wie das von Forgak . Das dritte kann ich nicht richtig erkennen. 161
Tenkla, sagte Narasan knapp. Höchst interessant. Im vergangenen Jahr haben wir alle drei Armeen besiegt, und nun haben sie, scheint es, beschlossen, es uns richtig heimzuzahlen. Vermutlich haben sie sogar den kargen Sold in Kauf genommen - nur um die Gelegenheit zu haben, über uns herzufallen. Sollten wir weiter angreifen? Narasan ballte die Fäuste, eine nutzlose Geste. Nein, würgte er hervor. Das hat im Augenblick keinen Sinn. Wir haben bereits zwölf Kohorten verloren. Dieser dumme Krieg war das nicht wert. Lass zum Rückzug blasen, Padan. Bringen wir die Männer hier raus, damit wir nicht noch mehr unnötige Verluste haben. Narasan schob seine Trauer entschlossen beiseite und ließ seine Armee Aufstellung nehmen. Offensichtlich waren seine Männer enttäuscht darüber. Alle hatten Freunde in den zwölf verlorenen Kohorten gehabt, und so sehnte sich jeder nach Rache, während sie zur Kaiserstadt Kaldacin zurückmarschierten. Narasan hatte schon in früheren Kriegen Freunde und Verwandte verloren, und er war sicher, in einiger Zeit würde er seine Trauer überwunden haben und mit seinem gewohnten Leben fortfahren können. Diesmal war sein Gram jedoch schwerer, denn seinen Neffen Astal hatte er durch eigene Schuld verloren. Unter gewöhnlichen Umständen wäre die neunte Kohorte nicht vornweg durch den Pass gezogen. Narasan erkannte, dass viele seiner Entscheidungen aus reinem Egoismus zustande gekommen waren. Astal war für ihn so etwas wie der Sohn gewesen, den er nie haben würde, und er
hatte den Jungen vor Aufgaben gestellt, für die er noch nicht bereit gewesen war, nur um sein eigenes Ansehen zu erhöhen. Und das versetzte Narasan einen Stich wie von einem sehr scharfen Messer. Ganz sicherlich nicht!, sagte Narasan zu dem erbleichten Gunda. Tu ihn einfach in einen passenden Behälter und vergrab ihn auf dem Armeefriedhof. Ich will ihn nicht sehen! Hab mir schon gedacht, dass du so entscheiden würdest, Nara162
san, erwiderte Gunda durch die zusammengebissenen Zähne, aber es war meine Pflicht, dich wenigstens zu fragen. Ein paar Dinge kommen langsam ans Tageslicht. Wusstest du, dass Herzog Bergalta mit Adnari Estarg verwandt ist? Nein, das war mir nicht bekannt. Wie hast du das herausgefunden? Dieser junge Offizier Keselo hat es in Erfahrung gebracht. Er hat mir erzählt, Adnari Estarg und Herzog Bergalta seien Vettern, und einer von Bergaltas Dienern habe Astais Kopf hier im Lager abgegeben. Wenn ich mich recht erinnere, war Estarg sehr empört, als du dich geweigert hast, gegen die Armeen aus dem Süden zu kämpfen, die herkamen, um diesen Udar auf den Thron des Naos zu setzen, und unsere jüngste Niederlage riecht doch sehr stark danach, als hätte die Kirche ihre Finger im Spiel gehabt. Mich würde es nicht überraschen, wenn das Geld für diese Halunken aus dem Kirchenschatz gestammt hat und die ganze Sache von vornherein eine Falle war. Und ich war dumm genug, hineinzutapsen, fügte Narasan düster hinzu. Darüber solltest du dir nicht den Kopf zerbrechen, riet Gunda ihm. Wahrscheinlich gibt es dort unten im Süden jetzt ein großes Fest, aber lange wird es bestimmt nicht dauern. Wir haben keine Möglichkeit, ihnen den Spaß zu verderben, Gunda. Sie haben uns überlistet, und sie haben eine große Anzahl unserer Männer getötet. Vielleicht magst du dem nicht zustimmen, Narasan, aber Padan und ich haben uns kürzlich mit einigen dieser Kerle unterhalten, von denen du wohl schon gehört hast. Es waren solche, die sich darauf spezialisiert haben, bei Beerdigungen die notwendigen Ehrengäste zu liefern, die dann unter die Erde kommen. Es wird nicht mehr lange dauern, dann haben drei Armeen keine Kommandanten mehr, und zwei Herzogsthrone werden leer stehen. Das ist wohl kaum ehrenhaft, Gunda. Wie schade, Narasan. Ihre Falle war nun auch nicht gerade höchst ehrenhaft, und wenn sie das Spiel auf diese Weise spielen 163
wollen, gehen wir eben einen Schritt weiter. Dann lächelte Gunda seinen Kommandanten mit zusammengepressten Lippen an. Wir könnten ihnen Blumen zur Beerdigung schicken, wenn du möchtest. An der Küste von Castano wächst ein Kraut, das zum Himmel stinkt. Dann wüsste jedermann, was wir von ihnen halten. Du bist ein abscheulicher Kerl, Gunda. Ich weiß. Ist halt eine meiner Schwächen. Narasan sollte sich nicht lange über den klugen Plan seiner Freunde freuen. Rache änderte nichts an der grausamen Tatsache, welche die Katastrophe im Süden darstellte. Zu einem gewissen Grad hatte Narasan das Angebot von Herzog Bergalta angenommen, damit sein Neffe an der Spitze der Armee durch diesen Bergpass marschieren konnte. Oberflächlich betrachtet wollte er Astais Selbstvertrauen stärken, doch je länger er darüber nachdachte, desto mehr kam er zu der Ansicht, dass diese törichte Entscheidung aus reinem Egoismus erwachsen war. Aus dummem Stolz heraus hatte er Astal einer tödlichen Bedrohung ausgesetzt. Sein Gram stellte sich wieder ein, und dieser wurde von einem großen Schuldgefühl überlagert. Seine Fehlentscheidung hatte Astal und zwölf Kohorten seiner Armee das Leben gekostet, und wie man es auch drehte und wendete, diese schmerzhafte Wahrheit ließ sich nicht aus der Welt schaffen. An dieser Katastrophe trug allein er die Schuld, und er war überzeugt davon, nicht länger zum Kommandanten zu taugen. Und so brach er an einem düsteren Tag im frühen Winter sein Schwert über dem Knie wie einen dünnen Stock, zog sich seine schäbigste Kleidung an und übernahm auf der anderen Seite von Kaldacin den Posten eines Bettlers. Betteln war eine ziemlich einfache Beschäftigung, und sie ließ Narasan viel Zeit zum Nachdenken. Seine Fehlentscheidung in seinem letzten Krieg war nur ein Symptom für den Zerfall der trogitischen Gesellschaft. Hochmut und Gier hatten die Ehrenhaftigkeit verdrängt. Narasan betrachtete dies als untrügliches Zeichen dafür, dass die Welt selbst ihrem Ende zuging und bald zu existieren aufhören
würde. Aus diesen Gedanken zog Narasan einen gewissen Trost. Wenn er tatsächlich das Ende der Tage erlebte, würden Kummer und Schuldgefühle nicht mehr lange dauern, und dann durfte er bald seine letzte Ruhe genießen.
15 Der junge Fremde war eine stattliche Erscheinung, und er eilte einige Male an Narasans Arbeitsplatz vorbei. Die wachsende Niedergeschlagenheit war ihm anzusehen, was Narasan neugierig machte. Schließlich fragte er den jungen Burschen an einem stürmischen Wintertag, was ihm Kummer bereite. Ich bin auf der Suche nach jemandem, der mir mit einer Armee aushelfen kann, doch bis jetzt habe ich niemanden getroffen, der auch nur mit mir darüber reden will. Hast du schon mit den Soldaten selbst gesprochen? Ich dachte, das wäre nicht erlaubt. Narasan lachte. Der junge Mann wirkte hoffnungslos unschuldig und dabei so aufrichtig. Narasan erklärte ihm, wie der Hase lief, und fragte ihn schließlich, wozu er eine Armee brauchte. Zu Hause ist Ärger im Anflug, und es scheint, wir brauchen Berufssoldaten, die uns helfen, ihn zu bewältigen. Die Idee, irgendwo jenseits der Grenzen des Imperiums Krieg zu führen, fand Narasan ausgesprochen verlockend. Nach den jüngsten Ereignissen erschienen ihm Kriege hier zu Hause eher höchst unangenehm. Dann kam Keselo um die Ecke und versuchte wieder einmal, Narasan zur Rückkehr in die Armee zu überreden. Narasan lehnte natürlich ab und schickte den jungen Offizier ins Lager zurück. Ein guter Junge, erklärte Narasan dem Fremden, und wenn es ihm gelingt, nicht frühzeitig zu sterben, wird er es weit bringen. Ihm fiel ein, wie oft er das Gleiche über seinen Neffen gesagt hatte, und von neuem überfiel ihn die Trauer. 164 165
Der jugendliche Fremde, der sich Veltan nannte, wirkte ausgesprochen aufmerksam und erkannte sofort, dass da etwas an Narasans Herzen nagte. Ohne eigentlich den rechten Grund zu wissen, erklärte Narasan kurz, warum er seine Karriere beim Militär aufgegeben hatte. Die Zeit läuft davon, schloss er düster, und in einer Weile macht es sowieso keinen Unterschied mehr, was ich tue. Die Welt steht kurz vor ihrem Ende. Ich glaube, du hast etwas gesehen, was sonst nur wenige gesehen haben, meinte Veltan daraufhin, doch bist du noch nicht weit genug vorgedrungen. Die Welt nähert sich dem Ende eines Zyklus, nicht dem Ende aller Zeit. Verzweifle nicht, Narasan. Die Zeit hat kein Ende - und auch keinen Anfang, um die ganze Wahrheit zu sagen. Ein eigenartiges Gefühl der Ehrfurcht überkam Narasan. Dieser junge Fremde mit dem freundlichen Gesicht war nicht das, was er zu sein vorgab, und die Tiefe seiner Einsichten überstieg jegliche Vorstellungskraft. Veltan setzte sich achselzuckend über seine Seltsamkeiten hinweg und kam auf sein Ansinnen zu sprechen. Ich brauche deine Armee, Kommandant Narasan, sagte er, und ich werde für ihre Dienste mit Gold zahlen. Wenn alles gut läuft, werden wir siegreich sein, und der Sieg ist alles, was zählt, ob nun im Krieg oder beim Würfeln. Das ist aber eine sehr pragmatische Betrachtungsweise, erwiderte Narasan, und Gram und Schuldgefühl verblassten. Er erhob sich. Anscheinend ist der Urlaub zu Ende, sagte er. Es war ganz nett, mal herumzusitzen und nichts zu tun, aber es ist gut, wieder in den Harnisch zu steigen. Der Gedanke, einen Krieg jenseits der Grenzen des Imperiums zu führen, beunruhigte so manchen von Narasans Offizieren merklich, doch Narasan selbst gefiel die Vorstellung. Das Imperium barg viele schmerzliche Erinnerungen, und er war überaus bereit, sich auf eine Reise einzulassen. Die Skepsis wurde noch größer, als Veltan ihnen erklärte, dass das Land Dhrall im Norden lag, jenseits des Hafens von Castano 166 und des Meeres mit dem Treibeis, aber Narasan war geneigt, dem jungen Fremden zu vertrauen. Einige Andeutungen während ihres Gespräches wiesen darauf hin, dass Veltans Verstand deutlich den von gewöhnlichen Leuten überstieg, und Narasan war eigentlich nicht recht sicher, ob Veltan überhaupt ein Mensch war. Seine Behauptung, es gebe einen offenen Kanal durch das Eismeer, klang fast so, als könne - und werde - Veltan diesen Kanal persönlich anlegen. Damit allein würde er die Fähigkeiten normaler Menschen weit übertreffen.
Dann war da dieses mangelnde Interesse am Feilschen über die Summe, die er für die Dienste von Narasans Armee zahlen sollte. Den Kommandanten befiel das merkwürdige Gefühl, Veltan würde jeden verlangten Preis bezahlen, gleichgültig, wie hoch er auch sein mochte. Gewiss, bisher hatte Narasan noch kein Gold gesehen, und dennoch... Da die Armee nach Norden ziehen würde, war der Hafen von Castano der nächstliegende Ort, um von dort in See zu stechen, und nach Veltans Aufbruch entschied Narasan, dass er am besten Gunda, dessen Familie von dort stammte, hinauf zu der Hafenstadt schickte, um eine Flotte Schiffe anzuheuern, mit der die Armee in Veltans Heimat fahren konnte. Daraufhin würde Narasan eine Vorausabteilung nach Norden führen. Einige Tage, nachdem Narasans Truppe Castano erreicht hatte, segelte Veltan in einem klapprigen Fischerkahn in den Hafen und verblüffte Narasan, indem er ihm zehn Blöcke aus reinstem Gold präsentierte. Narasan hatte Gold in dieser Form zuvor nicht gesehen, er musste jedoch einräumen, dass es sehr hübsch aussah. Veltan schien sehr ungeduldig zu sein, und schließlich entschied er, sie beide sollten mit seinem Fischerkahn in das Land Dhrall voraussegeln, damit Narasan und ein Maagpirat namens Sorgan Hakenschnabel die Strategie für den gemeinsamen Feldzug in der Domäne von Veltans Schwester ausarbeiten könnten. Narasan hegte allerdings Zweifel an der Weisheit dieser Idee. Von den Piraten des Landes Maag hatte er gehört, jedoch noch nie einen kennen gelernt. Der Begriff grauenhafte Barbaren war in den Be167 Schreibungen häufig vorgekommen, und die beiden Wörter Barbaren und Strategie erschienen Narasan wie ein Widerspruch in sich. Auf der Reise nach Norden schilderte Veltan ihm die Situation im Lande Dhrall. Offensichtlich hatte Veltans Familie herausgefunden, dass ihr Feind seinen ersten Angriff gegen die Domäne von Veltans Schwester Zelana führen würde, und Veltan hoffte, Narasans Vorhut würde rechtzeitig bei einem Ort namens Lattash eintreffen, um die Truppen des Maagpiraten Hakenschnabel zu unterstützen. Und offensichtlich hing die ganze Sache dazu noch sehr stark vom Wetter ab. Im Hafen von Lattash lag eine große Flotte schmaler Schiffe vor Anker, und Narasan wurde sofort klar, welchen Vorteil die Maags in einem möglichen Seegefecht gegen die breiten trogitischen Schiffe haben würden. Die Maagschiffe waren so konstruiert, dass sie möglichst schnell fahren und nicht möglichst viel Fracht befördern konnten. Die Berge oberhalb des Dorfes Lattash lagen unter einer hohen Schneedecke, doch der Schnee verhüllte keineswegs, wie zerklüftet das Gelände war, in dem die Kämpfe voraussichtlich stattfinden würden. Das dämpfte Narasans ansonsten gute Stimmung ziemlich; er hatte schlechte Erinnerungen an Krieg in den Bergen. Das Dorf selbst war ebenfalls halb unter Schnee begraben, und während sie näher kamen, sah Narasan die primitiven Hütten der Eingeborenen. Die Menschen, die ihnen begegneten, waren zum größten Teil in Tierhäute gekleidet. Veltan erklärte ihm, die Eingeborenen der Domäne seiner Schwester seien vor allem Jäger und dazu hochbegabte Bogenschützen. Darin sah Narasan natürlich sofort einen potenziellen Vorteil. Ihm war es immer so vorgekommen, als seien die trogitischen Bogenschützen beklagenswert ungeschickt. Nachdem Veltan mit seinem Fischerboot am Strand angelegt hatte, führte er Narasan zu einem kuppelförmigen Hügel im Süden des Dorfes. Sie gingen durch einige einfach errichtete Hütten 168 an einer großen Zahl stämmiger Maags vorbei, die auf rot glühendes Eisen einschlugen, und gesellten sich zu einer Gruppe in Leder gekleideter Eingeborener am Eingang zu einer Höhle. Durch einen langen Gang gelangten sie in eine große Kammer, wo in einer Grube in der Mitte ein kleines Feuer brannte, höchstwahrscheinlich, um Licht zu liefern. Dann stellte Veltan Narasan seiner Schwester Zelana vor, die ganz sicherlich die schönste Frau war, die der Kommandant je zu Gesicht bekommen hatte, und anschließend einem kleinen Mädchen, das Narasan für die Tochter der werten Dame Zelana hielt. In der Höhle befanden sich noch weitere Leute, aber selbstredend war Narasan vor allem daran interessiert, den Maag Hakenschnabel kennen zu lernen. Er sollte in Kürze hier eintreffen, Kommandant Narasan, versicherte Zelana ihm. Dann kam ein sehr kleiner Maag namens Hase aus dem Gang und führte einen Klotz von einem Kerl mit krummer Nase herein. Augenblicklich begriff Narasan, wie der Mann an den Namen
Hakenschnabel gelangt war. Veltan stellte sie einander vor, und zu Narasans Überraschung gab Hakenschnabel unumwunden zu, früher seinen Lebensunterhalt als Pirat verdient zu haben. Durch dieses Eingeständnis wuchs der Maag sofort in Narasans Achtung. Mochte es auch seltsam sein - dieser Kerl hatte einen Sinn für Ehre und Anstand. Da war es vielleicht möglich, dass sie gut miteinander auskommen würden. Wie unnatürlich, murmelte Narasan vor sich hin. Später, nachdem Sorgan auf sein Schiff im Hafen zurückgekehrt war, verließ Narasan die Höhle und schaute zu den schneebedeckten Bergen oberhalb des Dorfes hinauf. So sehr ihm die Vorstellung missfiel, in solchem Gelände Krieg führen zu müssen, musste er sich dennoch wohl oder übel mit dem Gedanken abfinden. Narasan war im Zentrum des Zivilisiertesten Landes der ganzen Welt geboren, und nun sollte er in einem der primitivsten Länder 169 Krieg führen. Natürlich musste man sich an diesen Gedanken zunächst einmal gewöhnen, aber damit würde Narasan keine Schwierigkeiten haben. Wenn die rauen und unzivilisierten Maags in der Lage waren, sich auf die Besonderheiten dieses Krieges einzulassen, so empfand es Narasan als Ehrenpflicht, ihnen wenigstens das Wasser zu reichen. Ein Scheitern war nicht in Betracht zu ziehen.
16 Narasan und Sorgan verbrachten viel Zeit über Veltans skizzenhafter Karte, welche die Schlucht zeigte, die zum Dorf Lattash herunterführte, aber als sie die Karte diesem komischen Eingeborenen Rotbart zeigten, befand der sie aufgrund des Mangels an Details für wertlos. Daraufhin hatte der kleine Maag namens Hase eine Kartenskulptur anstelle einer flachen Zeichnung vorgeschlagen. Narasan war von der Genialität dieser Idee verblüfft gewesen; hätte er über eine solche Karte während des katastrophalen Feldzugs im Süden des Imperiums verfügt, wäre sein Neffe Astal vielleicht noch am Leben. Sorgans hagerer und säuerlicher Vetter Skell hatte eine Vorhut aus dem Lande Maag nach Lattash geführt und mit seinen Männern begonnen, ein Stück weit oben in der Schlucht ein Fort zu bauen. Doch ein jäh einsetzender Schneesturm hatte die Arbeiten unterbrochen, und deswegen war Hakenschnabel ziemlich besorgt. Er fragte Rotbarts Häuptling Weißzopf, wann der Schnee vermutlich schmelzen würde, damit Skells Männer weiterbauen könnten. Der silberhaarige alte Häuptling wirkte ein wenig überrascht, beschrieb dem Maag ausgesprochen lebhaft das jährliche Frühlingshochwasser in dieser Region und riet Sorgan dringend dazu, seine Männer aus der Schlucht zu holen. Dann erwähnte der Bogenschütze Langbogen die vage Möglich170
keit, dass die Invasoren, die gegenwärtig an dem Fluss lagerten, der sich durch die Schlucht zog, von diesen jährlichen Fluten vielleicht nichts wussten und in diesem Fall aufs Meer hinausgespült würden, sobald der Schnee schmolz. Narasan und Hakenschnabel, die sich nach und nach besser kennen lernten, schweiften bei ihren täglichen Besprechungen häufig vom anstehenden Thema ab und erzählten sich Geschichten über die Kriege, die sie in der Vergangenheit geführt hatten. Narasan hatte im Laufe seiner Zeit in der Armee häufig beobachtet, dass Kriegsgeschichten die Männer einander näher brachten, und in der gegenwärtigen Situation waren solche gemütlichen Gespräche möglicherweise wichtiger als Debatten über Strategie. Obwohl es ihm fast unnatürlich erschien, fand er diesen unzivilisierten Piraten immer sympathischer. Sorgans Vetter Skell hingegen war ein mürrischer Mann, der keinen Spaß verstand, und nachdem zwei Häuptlinge der Eingeborenen sie vor dem bevorstehenden Frühlingshochwasser gewarnt hatten, wollte er zu seinen Männern zurückkehren, die oben in der Schlucht die Festungsanlagen errichteten, und ihnen befehlen, sich auf die Ränder der Schlucht zurückzuziehen. Sorgan war sicher, dass sie durch dieses Verhalten den Feind alarmieren würden, und wiederum war es dieser brillante kleine Schmied namens Hase, der vorschlug, man könnte doch Skells Männer mit Hörnern warnen, sobald der warme Wind vom Meer hereinkäme. Hases scheinbar einfache Lösungen verschiedenster Probleme deuteten auf einen eindrucksvollen Grad an Intelligenz hin. Das Wetter klarte ein paar Tage später auf, und am Nachmittag eines der nächsten Tage traf Narasans Vorausflotte in der Bucht ein. Narasan ging hinunter zum Strand, um mit seinen Männern zu sprechen. Also gut, meine Herren, sagte er mit fester Stimme, ich möchte, dass ihr eure Meinung über die Maags für euch behaltet. Sollte ich irgendwelche höhnischen oder verächtlichen Bemerkungen hören - selbst
dann, wenn ihr unter euch seid -, werde ich denjenigen, der sie äußert, zur Rechenschaft ziehen. Die Maags sind unsere Verbündeten, deshalb wird niemand sie beleidigen. Er sah geradewegs den hageren Expriester an. Hast du mich verstanden, Jalkan?, fragte er. Zieh nicht so ein hochmütiges Gesicht und benimm dich anständig. Dann blickte er die anderen an. Außerdem verlange ich Höflichkeit im Umgang mit den Eingeborenen - und zwar zu eurem eigenen Besten. Ja, es sind sehr primitive Menschen. Doch falls jemand einen von ihnen beleidigt, wird derjenige möglicherweise den nächsten Sonnenuntergang nicht mehr erleben. Es herrschte eine gewisse Wachsamkeit auf beiden Seiten, als Narasan seine Offiziere den Maags vorstellte, und Sorgan schlug vor, es wäre vielleicht besser, wenn man jede Armee getrennt von der anderen auf jeweils einer Seite des Flusses marschieren ließe, sobald der Aufstieg in die Schlucht nach dem jährlichen Hochwasser begänne. An einem ruhigen und wolkigen Tag rief die werte Dame Zelana sie in ihre Höhle und berichtete ihnen über den Feind, mit dem sie es im bevorstehenden Krieg zu tun haben würden. Langbogen stellte ihnen einen älteren Eingeborenen namens Einer-Der-Heilt vor, der sie in die Welt der Absurdität und des Aberglaubens führte und ihre Feinde als Kreaturen beschrieb, die aus einer unmöglichen Mischung von Insekt, Reptil und Mensch bestanden. Narasan behielt die Fassung, obwohl er sich beherrschen musste, um nicht laut zu lachen, doch war er durchaus entsetzt, als Veltan die unglaublichen Behauptungen des alten Eingeborenen bestätigte. Dann beschrieb ihnen der Bogenschütze Langbogen, wie man toten Gegnern das Gift extrahieren und es gegen die lebenden Widersacher einsetzen konnte. Sorgan fand das aus einem Grund, den Narasan nicht verstand, recht amüsant. Offensichtlich hatte Sorgan einen eigenartigen Sinn für Humor. Wie die Eingeborenen vorhergesagt hatten, kam von Westen ein warmer Wind auf, und nicht lange danach brandete eine hohe Flutwelle durch die Schlucht. Narasan hatte eine solche Flut nicht er172
wartet, und die schiere Menge Wasser, die in die Bucht floss, erstaunte ihn. Die Trogiten und Maags blieben an Bord ihrer Schiffe und warteten, bis die Flut abebbte, doch Narasan ging an Land und schaute sich die ertrunkenen Feinde genauer an. Zufällig stand auch der alte Schamane Einer-Der-Heilt auf dem Damm, der sich zwischen Dorf und Fluss erhob, und er erklärte ihm die Eigenheiten der ertrunkenen Feinde. Sie waren nicht größer als ein halbwüchsiges Kind, und sie trugen eine Art Kapuzenmantel, der aus einem grauen Stoff gefertigt war. Dann öffnete der alte Mann einem der Wesen den Mund mit einem Stock und zeigte Narasan die Giftzähne. Ganz eindeutig handelte es sich bei diesen Fängen nicht um das Gebiss eines Menschen. Die Stacheln an den Unterarmen waren ebenfalls sehr unüblich. Narasans Zweifel an der Wahrheit der Legenden waren damit ausgeräumt. Wenn ich das gewusst hätte, murmelte er vor sich hin, hätte ich mehr Gold verlangt. Nach Abebben der Flut wurde das Wetter warm, und Narasan fand es fast angenehm, am Südufer entlang die Schlucht hinaufzumarschieren, obwohl der Boden sehr schlammig war. Die höchsten Gipfel waren noch mit Schnee bedeckt, und Rotbarts Behauptung, dieser Schnee sei ewig, vermochte Narasan nicht so ohne weiteres zu akzeptieren. Im Imperium gab es ebenfalls Berge, doch waren diese nicht annähernd so hoch wie die zerklüfteten Gipfel hier im Lande Dhrall. Während Narasan seine Männer in die Schlucht führte, bemerkte er weitere Besonderheiten. Nie zuvor hatte er so riesige Bäume und so dichtes Unterholz gesehen. Trotz Rotbarts Versicherung, dass die Flut die Schlucht von all ihren Feinden gesäubert habe, machte dieser dunkle Wald Narasan sehr nervös. Am späten Nachmittag meldete Sergeant Grolt, dass Keselo gerade signalisiert habe, die Piraten würden auf dem Nordufer das Nachtlager aufschlagen und einige grobe Befestigungen errichten, um sich nach Sonnenuntergang zu schützen. Narasan wäre zwar 173
gern noch ein Stück weitergezogen, jedoch hatte Sorgan zu diesem Zeitpunkt mehr oder weniger den Oberbefehl, und so ließ er die Männer anhalten und das Lager aufschlagen. Am folgenden Morgen ging es weiter, und kurz vor Mittag kam das teilweise fertig gestellte Fort von Sorgans Vetter Skell in Sicht. In Narasans Augen wirkte diese Verteidigungsanlage eher einfach, doch hatten die riesigen Felsen, die das Fundament bildeten, selbst die wilde Flut überstanden. Skell wusste anscheinend übers Bauen gut Bescheid. Die Maags auf dem Nordufer hielten an, als sie ins offene Gelände oberhalb von Skells Fort kamen, und Narasan sah, wie Keselo mit seiner Flagge winkte, um Sergeant Grolt auf sich aufmerksam zu
machen. Die beiden tauschten mehrere Minuten lang Signale aus. Narasan gestand sich im Stillen ein, dass er keine Ahnung hatte, worüber sich die beiden unterhielten. Vielleicht sollte ich diese Signale irgendwann mal lernen, murmelte er. Sergeant Grolt kam vom Rande der Felsbank zurück und meldete, dass Sorgan sich gern mit Narasan unterhalten würde, ehe sie weiter die Schlucht hinaufzogen. Narasan hielt das für eine gute Idee. Die Flaggensprache war doch ein wenig eingeschränkt, wenn es um Einzelheiten ging, und an dieser Stelle bot sich ihm und Sorgan vielleicht zum letzten Mal die Gelegenheit, sich zu unterhalten, ehe sie das obere Ende der Schlucht erreichten. Obwohl sich mittlerweile eine Art Freundschaft zwischen Sorgan und Narasan entwickelt hatte, waren sie über das beste Vorgehen zu diesem Zeitpunkt uneins. Sorgan vertrat die Auffassung, sie sollten östlich von Skells Fort Position beziehen, bis die Festungsanlage fertig wäre und ihnen den Rückzug deckte, falls sie oben in der Schlucht überraschend angegriffen wurden. Narasan hielt es dagegen für klüger, schnellstens ans Ende der Schlucht zu ziehen und dort eine Festung zu errichten. Der Streit wurde ein wenig hitzig, bis Keselo einen Kompromiss vorschlug, in dem beide Möglichkeiten ihre Berücksichtigung fanden. Sorgan wirkte enttäuscht angesichts dieses vernünftigen Vorschlags. Narasans neuer Freund schien hitzige Debatten sehr zu mögen, und Keselo hatte Hakenschnabel schlicht den Wind aus den Segeln genommen. Auch während der nächsten Tage blieb das Wetter angenehm. In der Nähe der Kluft am Ende der Schlucht wuchsen die Bäume nicht mehr so hoch, und das Unterholz lichtete sich. Der obere Teil der Schlucht erinnerte fast an einen Park, und in der Ferne leuchteten die schneebedeckten Gipfel, während sich vor ihnen ein kleiner Bach durch eine kleine Wiese schlängelte, die von immergrünen Bäumen umstanden war. Der Bogenschütze Langbogen erwartete sie und führte Narasan, Gunda, Padan und Jalkan zu der schmalen Kluft, von wo aus sie das trockene Ödland weit unter ihnen überschauen konnten. Dann lenkte er ihre Aufmerksamkeit auf eine felsige Bergkette in einer Meile Entfernung in der Wüste. Dort sind sie, sagte er. Narasan schaute voller Respekt zu der feindlichen Armee, die sich auf diesem Bergkamm versammelte. Soweit er es sagen konnte, erstreckte sich das Heer von Horizont zu Horizont. Nicht viel später trafen Sorgan und seine Männer ein, und Sorgan schien die Größe der feindlichen Armeen ebenfalls zu beunruhigen. Allerdings schlug die Stimmung sofort um, als der junge Keselo herausfand, dass der sandige Hang, der hinunter zum Ödland führte, in Wirklichkeit eine Treppe aus Steinblöcken war. Diese Treppe bot ausreichendes Baumaterial, und die Festung, die Narasans Männer damit errichten konnten, würde praktisch uneinnehmbar sein. Dann erwarb sich Keselo weitere Punkte auf Narasans Liste zukünftiger Kommandanten, als er vorschlug, ihre Aktivitäten mittels Rauch zu verschleiern. Am Vormittag des zweiten Tages beobachtete Narasan den Ex-Priester Jalkan dabei, wie er voller Schadenfreude seine Männer zu härterer Arbeit antrieb, indem er mit einer Gerte auf sie einschlug. Narasan wäre fast der Versuchung erlegen, das Schwert zu ziehen. Stattdessen begnügte er sich mit einer anständigen Rüge. 175
Einmal noch, du nichtsnutziger kleiner Schurke, murmelte Narasan vor sich hin. Einmal noch, und du fliegst Als die Festung fertig war, gratulierte Sorgan Narasan zu ihrer Konstruktion, doch danach gab es bis zum ersten Angriff des Feindes nichts mehr zu tun. Nicht lange nach Tagesanbruch am folgenden Morgen hallte aus der Wüste ein hohles Gebrüll herüber, das unmöglich aus einer menschlichen Kehle stammen konnte, und Tausende von Feinden rannten durch die Wüste auf die nun sinnlos gewordene Treppe zu. Langbogens Schützen standen auf der Brustwehr der Festung, und als die feindlichen Soldaten in Reichweite kamen, setzte Langbogen sein Hörn an die Lippen und ließ das Todeslied für fast die Hälfte aller Angreifer ertönen. Die Wolke von Pfeilen, die von der Mauer aufstieg, verdunkelte die aufgehende Sonne, und eine Lawine toter Gegner rollte die Treppe hinunter und brachte Unordnung in die nachfolgenden Reihen. Trotzdem setzte das Heer den blinden Angriff fort, bis der letzte feindliche Soldat getötet war und ehe einer von ihnen die Festung überhaupt erreicht hatte. Narasan lächelte kurz. Die Sache schien heute Morgen recht gut zu laufen.
Am frühen Nachmittag hörte Narasan einen lauten Donnerschlag - obwohl nicht eine einzige Wolke am Himmel stand. Dann, nicht lange danach, stieg Veltan die Treppe zur Festung herauf. Er wirkte gelinde überrascht - und erfreut -, dass sie die Festung so rasch hatten errichten können, doch der eigentliche Grund für seine Anwesenheit war, dass er mit dem Bogenschützen Langbogen sprechen musste. Er schien ein wenig beunruhigt zu sein, weil sie während des Marsches durch die Schlucht nicht auf Feinde gestoßen waren. Langbogen jedoch war nirgendwo zu entdecken, und das Gleiche galt auch für Keselo und Hase. Sorgan war wütend darüber, allerdings kamen die drei Verschollenen die Treppe herauf, ehe sein Zorn zum Ausbruch gelangte. 176 Das seltsame Trio erzählte ihnen eine schauerliche Geschichte, die eine ganze Reihe von Unwägbarkeiten enthielt - Tunnel, Höhlen und prähistorische Ruinen hoch oben an den Seiten der Schlucht; Veltan jedoch nahm diesen Bericht sehr ernst. Narasan lief es kalt über den Rücken, als er sich die Möglichkeit ausmalte, dass sie hier oben abgeschnitten waren und in der Falle saßen - und vielleicht keine Chance zur Flucht hätten. Langbogen dagegen hatte schon eine Lösung ausgearbeitet. Dieser Bogenschütze verfügte über eine Abgebrühtheit und Vernunft, was Narasan großen Respekt abverlangte. Nichts, was der Feind unternahm, schien ihn jemals aus der Ruhe zu bringen, und stets war er im nächsten Augenblick bereit, auf die Überraschungen des Gegners zu reagieren. Nun ja, Langbogen war ein Jäger und kein Bauer oder Händler, und dies mochte eine große Rolle gespielt haben, als sich diese Charaktermerkmale bei ihm herausgebildet hatten. Hakenschnabels Stellvertreter war ein Mann namens Ochs, ein Name, der eher seine Größe und weniger seinen Charakter beschrieb. Ochs fand Hases Bemerkung, er sei doch nur der Köder an Langbogens Angelhaken, überhaupt nicht witzig. Narasan sah, was der kluge kleine Maag im Sinn hatte, entschied sich jedoch, sich darauf nicht einzulassen. Langbogens sorgfältig geplanter Hinterhalt gegen die dummen Feinde, die sich in den prähistorischen Ruinen einige Meilen die Schlucht hinunter versteckten, war ein meisterhafter Plan, und nur wenige feindliche Soldaten - wenn überhaupt welche - würden dieses Gemetzel überleben. Zumindest sah es zunächst so aus. Dann plötzlich wurde deutlich, dass der Feind nicht ganz so dumm war, wie er sich den Anschein gegeben hatte, denn zuvor unsichtbare Angreifer sprangen aus sehr gut verborgenen Erdhöhlen in der Nähe der nördlichen Felsbank und stürmten auf Ochs' Soldaten zu. Narasan, der von der südlichen Bank zuschaute, war vom unerT-77
warteten Gang der Ereignisse wie gelähmt. Offensichtlich wusste der Feind genauso gut wie die Maags, auf welche Weise man einen Köder auswerfen musste. Der Überraschungsangriff kostete Ochs mindestens ein Viertel seiner Männer, doch der riesige Maag erholte sich rasch von dem Schock, formierte seine Truppe neu und machte nun die Gegner nieder. Auch Narasan erholte sich bald von dem Schreck und rief nach Sergeant Grolt. Er musste jetzt eine Besprechung mit Sorgan Hakenschnabel abhalten, denn ihr ganzer Plan stand nun auf dem Spiel. Keselo und Sergeant Grolt wechselten eine Reihe Signale, und dann stiegen Sorgan und mehrere andere Männer überaus wachsam vom Nordrand der Schlucht zum Fluss hinunter. Sorgan bewegte sich sehr, sehr langsam, aber angesichts der Umstände wäre Narasan den Berg auch nicht hinuntergestürmt. Kurz bevor Sorgan mit seinen Männern den Fluss in der Schlucht erreichte, hörte man ein tiefes Grollen tief aus der Erde, auf das ein scharfes Krachen wie das eines brechenden Stockes folgte, und dann bebte der Boden unter Narasans Füßen. Sorgan lief durch den schmalen Bach, wobei er offensichtlich versuchte, alle möglicherweise lauernden Feinde zu verscheuchen, und Narasan streckte dem Freund die Hand entgegen, um ihm das steile Ufer hinaufzuhelfen. Dann ging es daran, klare Worte zu wechseln. Die versteckten Erdhöhlen des Gegners hatten ihren ursprünglichen Plan zunichte gemacht, und nun standen sie einer gänzlich neuen Situation gegenüber. Sie hatten sich gerade ein anderes Vorgehen überlegt, als erneut ein Grollen einem Erdstoß vorausging, der wesentlich heftiger als der erste war. Dann ertönte ein ohrenbetäubender Donnerschlag, ein Blitz blendete sie, und wie aus dem Nichts stand Veltan vor ihnen. Lauft!, rief er. Lauft um euer Leben! Bringt eure Leute aus dieser verfluchten
Schlucht in Sicherheit! Und im nächsten Moment schrie Rotbart, der das obere Ende 178
der Schlucht beobachtet hatte: Feuerberg!, drehte sich um und rannte.
17 Rotbarts verquerer Sinn für Humor verließ ihn an dieser Stelle, wie Kommandant Narasan auffiel. Natürlich kein Wunder, denn da die Zwillingsvulkane am Ende der Schlucht flüssige Lava meilenweit in die Luft spien, blieb auch den Männern in Narasans Armee das Lachen in der Kehle stecken, während sie den Pfad entlang oben am Rand der Schlucht zur Bucht von Lattash eilten, wo sie sich, wie sie hofften, auf ihren Schiffen in Sicherheit befinden würden. Der Pfad war ziemlich schmal, und deshalb ging ihre Flucht langsam vonstatten, doch Gunda und Padan gelang es, den Rückzug in geregelte Bahnen zu lenken. Narasan beobachtete, dass sogar jene Soldaten, die sich ständig auf dem Marsch über die Geschwindigkeit beschwerten, nun freiwillig rannten. Immer wieder schaute er in die Schlucht hinunter und sah, dass die glühende Lava mit ihnen Schritt hielt. Das bereitete ihm durchaus Sorgen. Seine Männer würde einen gewissen Vorsprung brauchen, um die Schiffe zu erreichen - solange sie sich nicht entschieden zu schwimmen. Als sie in die Nähe von Skells Fort kamen, hielt Narasan an. Das Fort war aus massiven Felsen errichtet, und die schmale Lücke in der Mitte, die man für den Fluss gelassen hatte, würde nicht sehr viel Lava durchlassen. Das Fort war gebaut worden, um einen Feind aufzuhalten, und nun schien es seine Aufgabe auch zu erfüllen, als der Feind Unvorhergesehenerweise aus flüssiger Lava bestand. Die ersten Rinnsale der Lava ließen aus dem Teich, der sich vor dem Fort gebildet hatte, eine riesige Dampfwolke aufsteigen, die Narasan die Sicht versperrte. Er murmelte ein paar Flüche und ging dann zu einer Stelle, wo er die hintere Seite des Forts sehen ^79
konnte. Dort sprudelte der Fluss durch die Lücke, doch Lava ließ sich nirgendwo entdecken. Die Lava verwandelte sich offensichtlich in festen Stein, wenn sie auf Wasser stieß, und dieser Stein verstärkte das, was ursprünglich als Fort gedacht war, zu einem regelrechten Damm. Narasans Gedanken gingen jedoch darüber noch hinaus. Angesichts der Hitze der Lava hätte der Teich sich schlicht in einer einzigen Wolke auflösen sollen, doch das war nicht der Fall. Offensichtlich sorgte jemand - oder etwas - für neues Wasser, das schneller hinzufloss, als die Lava es verdampfen konnte. Dieser Umstand erfüllte Narasan mit großer Erleichterung. Skells Damm würde mithilfe des Wassers lange genug halten, damit Narasans Männer mit den Beibooten zu ihren Schiffen im Hafen rudern konnten. Demnach würden er und seine Leute überleben - sogar angesichts dieser Naturkatastrophe, die aus den Eingeweiden der Erde hervorbrodelte. Meine Güte, mir sträubten sich vielleicht die Nackenhaare, Kapitän Pantal, sagte Narasan zu Gundas Vetter, dem Schiffsmeister des Schiffes, auf dem sie von Castano hergekommen waren, aber wir haben Glück gehabt. In dieser verfluchten Schlucht sind wir in arge Schwierigkeiten geraten, doch diese beiden Vulkane haben das Problem für uns gelöst. Hier sind wir wirklich in einem eigenartigen Teil der Welt, Kommandant, stimmte Pantal zu. Kaum dreht man sich einmal um, ist gleich die nächste Naturkatastrophe im Anzug. Ja, ist mir auch schon aufgefallen, erwiderte Narasan. Haben wir wenigstens unsere Aufgabe einigermaßen erledigt, Kommandant? Ich glaube, hier gibt es nicht mehr so viel für uns zu tun. Haben wir ausreichend Proviant für die Reise in Veltans Domäne? Wir müssen lediglich noch unsere Wasserfässer auffüllen, antwortete Pantal. Wann sollen wir in See stechen? Zuerst muss ich mit Sorgan Hakenschnabel sprechen. Sicherlich wird er sich uns anschließen. Wir haben uns darüber unterhalten, ehe wir in die Schlucht aufgebrochen sind. Ungeachtet dessen, 180
was wir über die Maags gehört haben, scheinen sie ja doch ein gewisses Ehrgefühl zu besitzen. Wir haben Sorgan hier im Westen geholfen, und dementsprechend fühlt er sich verpflichtet, uns im Süden zu unterstützen. Diese Vulkane haben ihn möglicherweise dazu gebracht, seine Meinung zu ändern, aber ich bin sicher, dass er sich wieder anders entschließen wird, wenn Veltan ihm Gold anbietet. Die Maags sind gierige Halunken, nicht wahr? Wir sind alle gierig, Kapitän Pantal. Wir arbeiten für Geld, nicht aus Menschenliebe. Ich werde mit Sorgan reden und mir anhören, was er zu sagen hat.
Vielleicht müssen wir jedoch noch eine Weile hier bleiben. Der Damm oben in der Schlucht wird die Lava nicht mehr lange aufhalten, daher könnte es notwendig werden, Sorgan zu helfen, die Eingeborenen zu evakuieren. Du bist derjenige, der bei uns die Entscheidungen trifft, Kommandant, und wir machen, was du von uns verlangst. Einige Tage später suchten Rotbart und Langbogen Kapitän Pantals Schiff auf, um über ein Thema zu sprechen, das ihnen eine Menge Sorgen bereitete. Kapitän Hakenschnabel war inzwischen ziemlich überzeugt, dass die werte Dame Zelana verschwunden war, weil sie ihn um das Gold betrügen wollte, welches sie ihm für seine Dienste in ihrer Domäne versprochen hatte. Narasan glaubte zwar fest, Sorgan sei im Irrtum, doch der stämmige Maag presste jeden Tag die Zähne fester aufeinander. Narasan war aller Wahrscheinlichkeit nach bei dem kommenden Krieg in Veltans Domäne auf Sorgans Hilfe angewiesen, Sorgan hingegen weigerte sich, über eine Teilnahme auch nur nachzudenken, solange Zelana nirgendwo aufzutreiben war. Langbogen hatte bereits eine praktische Lösung gefunden. Hinsetzen und abwarten. Ich bitte um Verzeihung?, fragte Narasan verwirrt nach. Langbogen erinnerte ihn daran, dass Veltan die trogitische Armee brauchte, damit sie die bevorstehende Invasion seiner Domäne verhinderte, und wenn die trogitischen Schiffe weiterhin hier 181
vor Anker lägen, würde Veltan wohl herkommen und klären wollen, was ihren Aufbruch verzögerte. Dann sagst du ihm, du würdest nicht in See stechen, ehe Sorgan sein Gold von Zelana erhalten hat. Veltan ist klug genug, um zu verstehen, worauf du hinauswillst, und er wird sich für uns um diese Angelegenheit kümmern. Die Sache klärte sich überraschend schnell. Veltan kam zurück in die Bucht von Lattash und wollte wissen, warum Narasans Armee noch vor Anker lag, und als Narasan ihm erklärte, er würde hier sitzen bleiben, bis Zelana Sorgan bezahlt hätte, machte sich Veltan sogleich zur Insel Thurn auf, um mit seiner Schwester zu sprechen. Offensichtlich hatte Veltan in seiner Familie doch mehr zu sagen, als es zuvor den Anschein gehabt hatte, denn nach wenigen Tagen lief sein schäbiger Fischerkahn mit Zelana an Bord wieder in die Bucht ein. Nachdem die Maags in aller Eile eine unglaubliche Menge Gold aus Zelanas Höhle geholt hatten, berichtete Veltan Narasan, dass seine Schwester einer Besprechung zugestimmt habe, und so versammelten sie sich am Nachmittag in Narasans Kabine. Der Vorschlag der werten Dame Zelana, Sprechen wir über Gold, meine Herren, lenkte die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich. Sorgan war überzeugt, seine Dienstherrin beabsichtige, die Menge Gold zu verkleinern, die sie ihm für seine Dienste zahlen wollte jetzt, nachdem der Krieg in ihrer Domäne beendet war -, doch sie verblüffte alle mit der Ankündigung, dass sie die Bezahlung verdoppeln wolle. Das erschien Narasan höchst ungewöhnlich für einen Herrscher. Schließlich suchten die Regierenden stets nach Möglichkeiten, Einsparungen zu tätigen, und Zelana verfuhr genau umgekehrt. Narasan nahm dies als Hinweis darauf, dass dieser Krieg vielleicht wesentlich länger dauern würde, als Veltan ursprünglich vorgeschwebt hatte. Da das Land Dhrall aus vier separaten Domänen bestand, würden zwei Feldzüge erst die Hälfte dessen darstellen, was die Zukunft bereithielt. Narasan zuckte mit den Schultern. Er war Soldat von Beruf, und über den Sold hier konnte er nicht kla182
gen. In mancher Hinsicht hatte ein langer einzelner Krieg deutliche Vorteile gegenüber mehreren kurzen. Man lernte den Feind genauer kennen, auch verbesserte sich das Verhältnis zu den Verbündeten. Ich denke, das ist immer noch besser als ehrliche Arbeit, entschied er trocken.
18 Als die vereinigte Flotte durch den schmalen Einlass aufs offene Meer hinausfuhr, erkannte Narasan, dass die Wellen dort wesentlich höher waren als in der geschützten Bucht, und das fand er durchaus erfrischend. Das Meer erzeugte ein Gefühl der Freiheit in ihm, das Landbewohnern fremd war. Dadurch begann Narasan, auch Sorgan Hakenschnabel besser zu verstehen. Natürlich entsprach die Bauweise der Seemöwe gewissermaßen Sorgans Persönlichkeit. In vielerlei Hinsicht ähnelte die Seemöwe ihrer Namensvetterin: Sie war schnell, anmutig - und immer hungrig. Die Maags waren so höflich und fuhren den breit gebauten trogitischen Schiffen nicht davon, die ihnen hinterher schwankten, und Sorgan blieb in Rufweite, während die Flotte an der Westküste von Zelanas Domäne entlangsegelte. Auf Veltans Bitte hin hatte man seinen alten Fischerkahn mit einem
langen Tau an eines der Trogitenschiffe gehängt. Aus unersichtlichem Grund schien Veltan dieses Boot zu mögen, und Sorgan hatte es befürwortet, das kleine Gefährt mitzunehmen. Wir halten auf unbekannte Gewässer zu, Narasan, erklärte er, und der kleine Kahn kann das Loten für uns übernehmen, wenn wir nahe an die Küste kommen. Loten?, fragte Narasan neugierig. Die Wassertiefe messen - und Riffe und verborgene Felsen entdecken. Ein Schiff, dem gerade der Rumpf aufgerissen wurde, wird nicht mehr lange schwimmen, und leider habe ich bislang nicht gelernt, auf dem Wasser zu gehen. Die Küste von Zelanas Domäne war dicht bewaldet, und die riesigen Bäume verlangten Narasan ihren Respekt ab. Der Wald in der Schlucht war mit dichtem Unterholz bewachsen gewesen, doch hier draußen hatten die Riesenbäume das Gebüsch offensichtlich mit ihren endlos herabregnenden Nadeln erdrückt, und sie standen in einzigartiger Pracht da, fast wie ein überdimensionaler grüner Tempel. Die Luft an der Küste war feucht, und die Sonnenstrahlen, die zwischen den säulenartigen Stämmen nach unten vordrangen, leuchteten wie goldene Pfeile. Narasan bedauerte es, als der Wald dem Ackerland von Veltans Domäne Platz machte. Ein paar Tage nach ihrem Aufbruch schallte ein fröhlicher Hornton von der Seemöwe herüber, und Sorgans Langschiff steuerte auf sie zu. Ahoi, Narasan!, rief Sorgan. Stimmt etwas nicht?, fragte Narasan. Nicht, dass ich wüsste. Ich soll dir von der werten Dame Zelana ausrichten, dass wir uns bald nach Osten halten werden - wahrscheinlich irgendwann morgen. Wir umfahren die Südspitze des Landes ihres Bruders und halten dann nach Norden. Sein Haus liegt ein Stück weiter die Ostküste hinauf. Ihrer Beschreibung nach brauchen wir noch etwa eine Woche bis zehn Tage. Am Vormittag des nächsten Tages umrundeten sie eine große Halbinsel, und Gunda kam mit seinem Vetter, dem Kapitän Pantal, zum Heck. Wenn du nach rechts schaust, kannst du die Insel Arash sehen, teilte Gunda ihm mit. Vielleicht wäre es keine schlechte Idee, mit einem Schiff durch den Kanal nach Castano zu segeln und Andar zu sagen, dass er den Hauptteil unserer Armee hier hoch bringen soll. Auf die Weise wären wir bereit, falls der Krieg aus irgendeinem Grund früher losgeht, als wir damit rechnen. Keine schlechte Idee, Gunda, stimmte Narasan zu. Ich rede mit Sorgan darüber und teile es ihm mit, damit er nicht denkt, dass du dich einfach davonmachst. Gunda warf ihm einen strengen Blick zu, sagte jedoch nichts. Auf das blecherne trogitische Trompetensignal hin kam die See184 möwe näher. Die Hörner der Maags, fand Narasan, klangen viel heiterer. Warum auch immer, der Klang von Trompeten hatte Narasan stets gestört. Sorgan stand an der Reling, als die Seemöwe in Rufweite kam. Probleme, Narasan?, rief er. Nein, bislang habe ich keine bemerkt, antwortete Narasan. Natürlich ist es früh am Tage, so dass heute noch alles Mögliche passieren kann. Warum siehst du immer so schwarz, Narasan? Eine meiner Schwächen. Wir sind ziemlich dicht an dem Kanal, der durch das Treibeis zur Nordküste des Imperiums führt. Gunda wird dorthin segeln, den Hauptteil unserer Armee einsammeln und hier heraufbringen. Keine schlechte Idee, Narasan. Das wird uns ein wenig Zeit sparen, und wir sind dann vorbereitet, falls die Schlangenmenschen wieder etwas gegen uns aushecken. Und du wirfst mir vor, ich würde schwarz sehen? Man sollte immer alles schwarz sehen, Narasan. Wenn die Dinge dann ein gutes Ende nehmen, ist die Überraschung umso angenehmer. Sie segelten an zwei weiteren vorspringenden Halbinseln an der Südküste des Landes Dhrall vorbei, und dann wandte sich die Flotte nach Norden. An Bord der Seemöwe führte die werte Dame Zelana Sorgan zur Heimstatt ihres jüngeren Bruders. Das Land an der Ostküste war wesentlich flacher als an der Westküste, und Narasan bemerkte, dass sich die riesigen Getreidefelder der Bauern ins Landesinnere erstreckten, so weit das Auge reichte. Veltan hatte seine Domäne nicht sehr ausführlich beschrieben, doch Narasan war ziemlich sicher, dass eine Standesgesellschaft wie die im Imperium hier nicht existierte. Der hagere Ex-Priester Jalkan weigerte sich schlicht, diese Möglichkeit auch nur in Betracht zu ziehen, und sein nie aufhörender Spott verärgerte Narasan so sehr, dass er wieder anfing, nach Gründen zu suchen, aus denen er den
Halunken entlassen konnte. 185
Während sie an der Küste entlangsegelten, schickte Sorgan Hakenschnabel klugerweise immer Veltans Fischerkahn vor der Seemöwe her, um nach Untiefen Ausschau zu halten. Narasan lächelte in sich hinein. Offensichtlich liebte Sorgan die Seemöwe sehr, und er bemühte sich, sie zu beschützen. Auf eine eigentümliche Art und Weise war die Seemöwe für Sorgan so etwas wie ein Eheweib, und er würde lieber sterben, als sie einer Gefahr auszusetzen. In den nächsten Tagen ging es langsam die Küste hinauf, und am Vormittag des dritten Tages wendete Veltans Fischerkahn scharf nach links und führte sie zum Strand. Narasan beschattete die Augen und entdeckte Veltan, der dort mit einigen anderen wartete. Kapitän Pantal ließ den Anker ein Stück vom Strand entfernt werfen, und Narasan, Jalkan und Padan fuhren in einem kleinen Skiff an Land. Narasan fiel auf, dass Sorgan ebenfalls ein Skiff benutzte, zusammen mit Ochs, Schinkenpranke, Zelana und den beiden Kindern, doch schien er nicht ganz so schnell zu rudern - anscheinend aus Höflichkeit. Dieses Benehmen überraschte Narasan. Höflichkeit bei einem Maag? Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Keselo und die anderen hatten sich bereits zu Veltan gesellt, und Keselo unterhielt sich mit einem ernsthaften Eingeborenen, der einen unbeholfen gefertigten Speer in der Hand hielt. Keselo schien von der Erfindungsgabe des Eingeborenen beeindruckt zu sein, und er schlug eine ziemlich interessante Möglichkeit vor. Wenn der kluge kleine Schmied namens Hase die Eingeborenen mit Speerspitzen und Schilden versorgte, könnte man die Einheimischen vielleicht so weit ausbilden, dass sie eine Phalanx bilden konnten. Zwar würden sie es wohl kaum zu erstklassigen Soldaten bringen, aber die Wesen des Ödlandes waren schließlich auch keine taktischen Genies. Selbst wenn die Eingeborenen nur einigermaßen gut gedrillt waren, würden sie sich möglicherweise im bevorstehenden Krieg als sehr nützlich erweisen. Glaubst du, Keselo, du könntest sie drillen?, fragte Narasan den jungen Offizier. 186
Ich würde es jedenfalls gern versuchen, Herr, antwortete Keselo. Na, dann mal ruhig los. Und halte mich auf dem Laufenden. Ja, Herr\, erwiderte Keselo und salutierte zackig. Nachdem Sorgan und seine Freunde an Land gekommen waren, brachte Veltan sie alle zu einem viel benutzten Pfad, der ins Binnenland führte. Als Narasan das Haus sah, das aus einem einzigen Felsen bestand, bestätigte dies zunächst das, was er von Anfang an vermutet hatte. Veltan - und auch sein Bruder und seine Schwestern - mochten sich äußerlich vielleicht den Anschein von Menschen geben, doch lag nun offen, wie weit sie sich von Normalsterblichen unterschieden, so dass diese Bezeichnung im Zusammenhang mit ihnen fast lächerlich klang. Mit seinem zurückhaltenden Benehmen verhehlte Veltan die Wahrheit zu einem gewissen Grad, doch das riesige Haus brachte sie ans Licht, und damit war sie nicht mehr zu leugnen. Rätselhaft war vor allem, warum ein Wesen mit solch offensichtlich unbegrenzter Macht in die Kaiserstadt Kaldacin gekommen war, um eine Armee anzuheuern, die gegen einen Feind vorging, der eigentlich vom Niveau her noch unter den Menschen stand. Narasan war sich ziemlich sicher, dass Veltan - oder seine Schwester - die Wesen des Ödlands mit einem einzigen Gedanken hätte auslöschen können. Da haben wir eine seltsame Situation hier, murmelte er vor sich hin. Veltan führte sie in ein Zimmer, das er seinen Kartenraum nannte, und Narasan erfasste mit einem einzigen Blick, dass es sich um eine Mischung aus dem Kriegsraum im Armeestandort von Kaldacin und Rotbarts Skulpturenkarte in Zelanas Höhle handelte. Von dem Balkon aus, der die Miniaturreplik des Ortes säumte, an dem der Krieg vermutlich stattfinden würde, konnte man das gesamte Gelände des voraussichtlichen Schlachtfeldes in allen Einzelheiten studieren. Die Umgebung der Wasserfälle wirkte nicht gerade einladend, doch sah Narasan sofort, dass sie die Gegend auch ohne große Unterstützung der ansässigen Bauern beliebig 187 lange würden halten können, wenn sie den Bereich um den Geysir besetzten. Natürlich musste man zunächst einmal, das war das Wichtigste, dorthin gelangen. In diesem Augenblick trat die unglaublich schöne Gemahlin des Bauern Omago ein und rief zum Abendessen. Veltan verkündete ihnen mit Stolz in der Stimme, dass diese hübsche Dame die wahrscheinlich beste Köchin der Welt sei. Daraufhin gab dieser haarige Schwachkopf Jalkan einige obszöne Bemerkungen zum Besten, und
Narasan wäre am liebsten im Erdboden versunken. Glücklicherweise ergriff der kräftig gebaute Gemahl selbst Maßnahmen mit der Faust, ehe Veltan erzürnt die Hand heben und Narasans gesamte Armee auslöschen konnte. Der Kommandant erwischte sich bei dem Wunsch, dass Omago ruhig hätte ein wenig weiter gehen können. Omago hatte doch diesen Speer in der anderen Hand, und er ließ die Gelegenheit ungenutzt verstreichen, Narasans Armee vor größeren Verlegenheiten zu bewahren. Jalkan kam laut schreiend und fluchend auf die Beine, spuckte Blut und griff nach seinem Dolch, doch Keselo hielt den Idioten mit dem Schwert zurück, indem er ihm sehr glaubhaft androhte, ihn auf der Stelle umzubringen. Narasan hoffte inständig, Jalkan würde einen weiteren Fehler begehen, der Keselo einen Grund lieferte, Ernst zu machen. Unglücklicherweise verdarb Jalkan die Sache - wie immer. Nachdem Narasan jedoch die Fassung wiedererlangt hatte, begriff er, dass dieser peinliche Zwischenfall genau das war, auf das er schon lange gewartet hatte. Jalkan schrie etwas über seinen Rang als Offizier in Narasans Armee, doch Narasan hob das Offizierspatent auf, ohne zu zögern -und dazu in aller Öffentlichkeit -, und befahl Padan, den Narren in Ketten zu legen und zum Strand zurückzuschaffen. Im Anschluss daran bot er dem Gemahl der Dame an, sich persönlich mit der Bestrafung Jalkans zu befassen - auch mit dem Speer, falls er wollte. Omago schien in Versuchung zu geraten, lehnte jedoch widerwillig ab. 188 Narasan war zunächst schrecklich enttäuscht, doch würde ihm schon die richtige Strafe einfallen, damit Veltan überzeugt wäre, dass er die richtige Armee angeheuert hatte. In den nächsten Tagen verbrachten Narasan und Sorgan viel Zeit im Kartenraum. Der Fluss, der von den Wasserfällen zum Meer floss, lag in einiger Entfernung nördlich von Veltans Haus, daher wäre die beste Vorgehensweise vermutlich, mit den Schiffen zur Flussmündung zu segeln, da es, so wie auch im vorangegangenen Krieg, nur eine Route gab, auf welcher der Feind einfallen konnte. Wir müssen unsere Leute möglichst schnell dorthin verfrachten, Narasan, meinte Sorgan nachdrücklich. Wer immer sich da oben zuerst in Stellung bringt, gewinnt einen enormen Vorteil. Das leuchtet mir ein, alter Freund, stimmte Narasan zu. Alt?, protestierte Sorgan. Oh, tut mir Leid, nur so eine Redensart. Narasan runzelte die Stirn. Ich denke, wir sollten uns mal mit Veltans Freund unterhalten - diesem Burschen, der sich darauf spezialisiert hat, Männern die Zähne auszuschlagen, wenn sie seine Frau beleidigen. Du hättest den Idioten Jalkan auf der Stelle umbringen sollen, Narasan. Und dabei die Karte mit Blut besudeln? Mach dich nicht lächerlich, Hakenschnabel. Jalkan knöpfe ich mir vor, wenn ich wieder Zeit habe. Im Augenblick bin ich beschäftigt. Mir ist aufgefallen, dass Hase und Keselo gut mit dem Bauern auskommen, der Jalkan diese Lektion in guten Manieren erteilt hat. Ich glaube, die drei sind aus dem gleichen Holz geschnitzt, befand auch Sorgan. Sie haben ständig neue Ideen. Wusstest du, dass dein Keselo Omago und den anderen Bauern jetzt beibringt, wie sie ihre Speere wirkungsvoller einsetzen können? Narasan nickte. Er hat mir erzählt, er würde sie in den Grundzügen der Phalanxformation unterweisen. Wenn Keselo genug Zeit hat, um sie auf Vordermann zu bringen, werden sie uns sicherlich von Nutzen sein. Ich nehme jede Hilfe an, die ich kriegen kann, meinte Sorgan. 189 Dem kann ich mich nur anschließen. Im Augenblick jedoch brauchen wir einen Führer, der unserer Vorhut zeigen kann, wie man an dem Wasserfall vorbeikommt, ohne ins Meer gespült zu werden. Die Männer sollen schließlich Verteidigungsanlagen bauen und nicht schwimmen üben. Die beiden Fremden, die Veltan am folgenden Morgen in den Kartenraum führte, waren eigenartige Typen. Prinz Ekial war groß, und sein Gesicht war von Narben geprägt, die von schweren Wunden zeugten. Die bis an die Zähne bewaffnete und ohne Frage äußerst gefährliche Kriegerkönigin Trenicia gehörte zu jener Ar Mensch, die niemand, der über ein wenig Verstand verfügte, je beleidigen würde. Zwar reichte sie in der Größe nicht ganz an Sorgar heran, doch fehlte ihr nicht viel dazu. In den ländlichen Regionen des Imperiums kursierten alte Mythen über solche Kriegerinnen doch bis heute hatte Narasan ihnen nicht viel Glauben geschenkt Trenicia räumte diese Zweifel aus. Veltan teilte Narasan und Sorga mit, dass Prinz Ekial und Königin Trenicia als Beobachter anwesend seien, und zwar aus dem Grund, weil sie vermutlich in nicht allzu ferner Zukunft in anderen Gegenden des
Landes Dhrall gegen die Wesen des Ödlands kämpfen würden. Beim Abendessen, als ein jeder die vorzüglichen Speisen genoss die Omagos Frau zubereitet hatte, schlug Sorgan vor, man könne auch Langbogens Bogenschützen im bevorstehenden Krieg einsetzen, woraufhin sich Langbogen jedoch dagegen aussprach, sie mit dem Schiff herzuholen, noch ehe jemand diesen Gedanken überhaupt ins Spiel gebracht hatte. Offensichtlich hatte er sich im Kartenraum die Entfernungen vergegenwärtigt, und so erklärte er Narasan und Sorgan eher beiläufig, die Bogenschützen würden den Weg über Land in der halben Zeit zurücklegen als übers Meer. Am nächsten Morgen studierten Narasan und Sorgan im Kartenraum eingehend die Gegend um den Wasserfall. Ich sehe keine Möglichkeit, wie wir dort hinaufgelangen, Narasan, bekannte Sorgan. Das ist glatter Fels, über den tonnenweise Wasser nach unten stürzt. 190
Das sehe ich auch so, Sorgan, pflichtete Narasan ihm bei, und diese Steilwand scheint nirgendwo in der Nähe irgendwelche Durchlässe zu haben. Wir könnten natürlich eine Rampe bauen, aber dafür benötigten wir vermutlich den größten Teil des Sommers. Veltans Freund Omago kam herein und gesellte sich zu ihnen. Du bist genau derjenige, Omago, den wir jetzt brauchen, sagte Sorgan. Kennst du dich in der Umgebung dieses verdammten Wasserfalls aus? Nicht besonders, aber ich habe Nanton eine Nachricht geschickt. Er ist Schäfer, und er lässt seine Herde dort oben weiden, also möchte ich meinen, er kennt jeden Baum und jeden Strauch in der Gegend beim Vornamen. Ich habe ihn gebeten, die Männer auf euren Schiffen an der Flussmündung zu empfangen und sie zu den Weiden oberhalb der Fälle zu führen. Du bist uns immer eine Nasenlänge voraus, Omago, meinte Narasan. Wir haben uns schon mehr oder weniger darauf geeinigt, dass wir eine größere Anzahl Männer zu den Wasserfällen schicken sollten, um Verteidigungsanlagen zu errichten, damit wir den Feind zurückhalten können, ehe der Hauptteil der Armee eintrifft, doch auf Veltans Karte haben wir keinen Weg nach oben gefunden. Die Karte ist schon sehr genau, sagte Omago, aber wenn Schafe nach Gras suchen, finden sie stets einen Weg, ihr Futter zu erreichen, und wohin Nantons Schafe gehen, folgt er ihnen. Möglicherweise handelt es sich um steile und schmale Pfade, doch wo Schafe durchkommen, schaffen es auch Menschen. Sorgan blinzelte. Skell, denke ich, sagte er. Noch mal ganz langsam, Sorgan, sagte Narasan. Das ging mir ein wenig schnell. Ich denke, wir sollten Skell hinaufschicken, damit er sich die Sache zusammen mit Omagos Schäfer anschaut. Skell weiß genau, wonach er Ausschau halten muss, und er wird die besten Stellen für unsere Forts finden. Das würde uns eine Menge Zeit sparen. Und falls dort oben schon Schlangenmenschen sind, ist Skell gerissen genug, um sich an ihnen vorbeizuschleichen und uns zu warnen. 191
Veltan hätte uns bestimmt gewarnt, wenn die feindlichen Streitkräfte bereits in Position wären, Sorgan, meinte Narasan. Du machst dir zu viele Sorgen. Ich glaube, ich schicke Padan mit. Padan kann Markierungen anbringen, damit meine Armee den Weg findet. Sorgan, mein Freund, die Sache erscheint mir leichter, als wir zunächst angenommen haben. Leichte Kriege haben mir schon immer gefallen, Narasan. Was mich betrifft, sind das die besten, in die man geraten kann.
19 Bei Sonnenaufgang am nächsten Tag stachen zwei Maagschiffe mit fast zweihundert Mann an Bord Richtung Norden in See. Narasan hielt das für wenig, doch Skell wollte offenbar nicht mehr Leute für diesen Auftrag einsetzen. Wenn man es richtig bedenkt, Narasan, markiert Skell doch nur den Weg für uns, damit wir wissen, wie wir nach oben kommen, erklärte Sorgan ihm. Er wird Kundschafter aussenden, die geeignete Stellen für die Forts suchen, aber mehr braucht er eigentlich nicht zu machen. Wir folgen ihm im Abstand von wenigen Tagen, er wird also nicht ein halbes Jahr allein dort oben bleiben. Vermutlich hast du Recht, räumte Narasan ein. Du machst dir ständig solche Sorgen, Narasan. Narasan lächelte. Berufskrankheit, nehme ich an, sagte er. Im Laufe der Jahre bin ich zu der Erkenntnis gelangt, dass alles, was schief gehen kann, auch schief gehen wird. Skell hat zwei Dinge bei sich, die ihn retten werden, wenn etwas schief läuft.
Und? Sie heißen Langbogen und Rotbart. Ich glaube, niemand von uns würde gegen die beiden ankommen. Manchmal lässt mich Langbogen richtig schaudern. Ständig ist er einem mindestens drei Schritte voraus. 192
Hat jemand daran gedacht, der werten Dame Zelana zu erzählen, dass die beiden Skell begleiten? Warum soll sich Veltan nicht darum kümmern?, schlug Sorgan vor und grinste breit. Eine hervorragende Idee, Sorgan, erwiderte Narasan, allerdings ohne das geringste Lächeln. Was meinst du, Narasan? Sollen wir die Bauern mitnehmen? Noch sind sie nicht sehr gut. Vielleicht sollten wir sie trotzdem mitnehmen, antwortete Narasan. Ich bin ziemlich sicher, dass Veltan es gern sähe, wenn wir sie an der Sache beteiligen, und er ist schließlich derjenige, der uns bezahlt. Zu Anfang waren sie ein wenig ungeschickt, doch inzwischen machen sie sich gut. Es ist schließlich ihre Heimat, und stören werden sie uns bestimmt nicht. Ich mag es nicht, mit Laien zu kämpfen, beschwerte sich Sorgan. Man weiß nie, wann sie die Waffen fallen lassen und davonrennen. Narasan zuckte mit den Schultern. Wir können sie ja in Reserve halten, bis wir sicher sind, dass sie auch tun, was sie tun sollen. Dann können wir sie nach und nach immer mehr an den Kampfhandlungen beteiligen. In seinem ersten Krieg ist natürlich niemand der perfekte Soldat, doch wir sind alle erst mit der Zeit zu dem geworden, was wir heute sind, oder? Wahrscheinlich hast du Recht, Narasan. Ich glaube, so etwas wie geborene Krieger gibt es nicht - sieht man einmal von Langbogen ab. Der hat sicherlich schon als Säugling Pfeilspitzen zum Zahnen bekommen. Wie sieht es mit unserem Vorrat an Gift aus? Beim letzten Mal war das unser entscheidender Vorteil. Wir haben genug, bis wir wieder ein paar Schlangenmenschen umgebracht haben. Daran muss man sich auch erst einmal gewöhnen, nicht? Man trifft selten einen Feind, der einen mit dem versorgt, was man braucht, um ihn zu bekämpfen. Jedenfalls sind es keine sehr intelligenten Feinde, das ist mal si193
eher, stimmte Sorgan zu, aber diese Schlangenmenschen würden Intelligenz nicht einmal erkennen, wenn man sie ihnen auf die Nase binden würde. Alles in allem war Narasan zufrieden mit ihrem eher einfachen Plan. Der Krieg in Zelanas Domäne hatte ihn gelehrt, dass es katastrophale Folgen haben konnte, wenn man sich zu sehr auf eine Idee versteifte. Als Individuen waren ihre Gegner, die Wesen des Ödlands, über alle Maßen dumm, doch Narasan war zu der Erkenntnis gelangt, ihr wahrer Feind hier im Lande Dhrall bestand nicht aus einem einzigen Individuum. Das Konzept eines Gruppenbewusstseins war ihm fremd - er fand es sogar absurd -, allerdings hatte Narasan längst begriffen, welch verheerende Auswirkungen es haben könnte, wenn man Möglichkeiten aus seinem Denken ausschloss, nur weil sie absurd erschienen. Glücklicherweise hatten sie Hilfe, aber erneut war er verunsichert, wer ihnen da eigentlich half. Das Frühlingshochwasser, das die feindlichen Eindringlinge aus der Schlucht oberhalb von Lattash gespült hatte, schien ein Naturereignis gewesen zu sein, das sich jedes Jahr wiederholte, doch hätten die Angehörigen von Häuptling Weißzopfs Stamm ihr Dorf tatsächlich an einem Ort gebaut, der regelmäßig von einer Naturkatastrophe dieses Ausmaßes bedroht wurde? Daran hatte Narasan seine Zweifel. Veltan und seine Familie verfügten ohne jeden Zweifel über Fähigkeiten, die ein gewöhnlicher Mensch unmöglich besitzen konnte, als jedoch die Zwillingsvulkane am Ende der Schlucht plötzlich explodiert waren, war Veltan offensichtlich nicht rechtzeitig über die Vorgänge im Bilde gewesen. Seine hektische Warnung, auf die hin sich Maags und Trogiten auf die Ränder der Schlucht verkrochen, hatte vielmehr panisch und verwirrt gewirkt. Irgendetwas unterstützte sie in diesem Krieg, nur war Narasan beim besten Willen nicht in der Lage, zu erkennen, was. Er war dankbar für die Hilfe von diesem unbekannten Freund, dennoch hätte er sich wesentlich behaglicher gefühlt, wenn er gewusst hätte, wer - oder was - dieser Freund war.
Skell Jodanson von Kormo
20 Skell und sein jüngerer Bruder Tori hatten das Licht der Welt in der Hafenstadt Kormo an der Westküste des Landes Maag erblickt, und zwar als Söhne des berühmten Kapitäns Jodan von Kormo. Kapitän Jodans Langschiff war die Hai, und allein der Name löste im Herzen jedes Trogiten, der das westliche Meer befuhr, Furcht und Schrecken aus. Es hatte niemals ein Zweifel bestanden, dass Skell und Tori ebenfalls das Handwerk des Seemanns erlernen würden, und ihre Kindheit war infolgedessen eine Zeit der Ungeduld und der Sehnsucht gewesen. Während sie heranwuchsen, wurde es im Hafen von Kormo Brauch, dass jeder Kapitän sein Schiff gründlich durchsuchen ließ, ehe er in See stach, denn es bestand stets die Möglichkeit, dass sich einer von Jodans Jungen an Bord versteckt hatte. Skell und Tori wurden gute Schwimmer, vor allem deshalb, weil sie mindestens zwei- bis dreimal in der Woche von irgendeinem Langschiff über Bord geworfen wurden. Schließlich hatte Kapitän Jodan die Nase von den Beschwerden voll, mit denen ihn andere Kapitäne überhäuften, und so entschied er sich endlich, die Jungen zur See fahren zu lassen. Skell und Tori hatten immer geglaubt, wenn ihr Vater sich endlich erweichen und sie zu Seeleuten werden lassen würde, dürften sie an Bord seines Schiffes, der Hai, anheuern, aber in diesem Punkt war Kapitän Jodan gänzlich anderer Meinung. In früheren Jahren hatte er gelegentlich Schiffskameraden gehabt, die ebenfalls Söhne von Kapitänen waren, und in der Regel erweckten sie den Eindruck, faul und unfähig zu sein, und meist wurden sie vom Rest der Mannschaft verachtet. Schon vor langer Zeit hatte er sich daher geschworen, seine Jungen sollten sich von ganz unten nach oben durcharbeiten und sich jede Beförderung ebenso verdienen wie andere Seeleute. 197
Wie es der Zufall wollte, war Kapitän Jodan in seiner Jugend mit dem inzwischen berüchtigten Dalto Großnase zur See gefahren, und die beiden Kapitäne waren ihr Leben lang in Freundschaft verbunden geblieben. Als Jodan nun fand, seine Söhne seien reif, zur See zu gehen, suchte er seinen Freund auf und überließ ihm die Jungen, damit sie als Matrosen an Bord von Daltos Schiff, der Schwertfisch, dienen sollten. Skell und Tori waren sehr aufgeregt, als die Schwertfisch an einem schönen Frühlingstag den Hafen von Kormo verließ, und sie standen am Bug und schauten mit jungenhafter Erwartung aufs Meer hinaus, als Kapitän Großnase sie entdeckte. Das war der Zeitpunkt, an dem die Jungen die wichtigste Regel der Matrosen lernten: Erwecke stets den Eindruck, überaus beschäftigt zu sein, sobald der Kapitän sich auf Deck zeigt. Die nächsten drei Tage schrubbten sie auf Knien die Decksplanken, und damit war die Sache längst nicht ausgestanden. Wann immer eine unangenehme oder schwierige Aufgabe anfiel, rief Dalto nach Skell und Tori. Die Jungen waren sich einig, dass sie bei erster Gelegenheit von Bord gehen würden, doch hatte die Schwertfisch viel Proviant und Wasser geladen, und aus diesem Grund blieb sie endlose
Monate auf See. Und Skell und Tori hockten auf den Knien und schrubbten das Deck. In ihrer freien Zeit - in deren Genuss sie nur spärlich und in großen Abständen kamen - begannen sie, die See zu lieben. Ständig befand sich das Meer in Veränderung, und bisweilen war es so schön, dass das Spiel von Licht und Schatten auf den Wellen ihnen den Atem raubte. Für gewöhnlich erwischte sie Kapitän Großnase dann beim Faulenzen und erteilte ihnen eine strenge Rüge. Später - viel später - sollte Skell an diese erste Reise zurückdenken und die Absichten hinter dem Verhalten des Kapitäns erkennen. Er hatte von vornherein die Intention verfolgt, den Jungen beizubringen, dass der Ruhm ihres Vaters nichts mit ihrem eigenen Status zu tun hatte. Großnase ließ sie ganz unten anfangen, weil jeder Matrose dort beginnen musste. Sie mussten zuerst beweisen, dass sie würdig waren, andere Aufgaben zu übernehmen als das 198 Deck zu schrubben oder eimerweise das stinkende Bilgenwasser aus dem Kielraum zu schleppen. Als die Schwertfisch in den Hafen von Kormo zurückkehrte, hatten sich Skell und Tori bereits zu Ruderern hochgearbeitet, und nun fühlten sie sich wie richtige Seeleute. Die Schwertfisch lag eine Weile im Hafen von Kormo, und ehe sie wieder in See stach, heuerte der Vetter der beiden Jungen, Sorgan, als Matrose an. Sorgan war schon auf einigen anderen Maagangschiffen gefahren, da er ein paar Jahre älter war als seine Vettern. Er neigte dazu, sich seinen jüngeren Verwandten gegenüber herablassend zu benehmen, und Skell entschied an diesem Punkt, man müsse einmal klarstellen, wer in der Familie den höheren Rang bekleidete, denn schließlich waren sie die Söhne von Kapitän Jodan, während Sorgan lediglich der Sohn der Schwester ihres Vaters war. Dadurch fühlte sich Sorgan schwer beleidigt, und so verprügelte er Skell anständig - zum größten Vergnügen der übrigen Mannschaft. Skell gelang es, seinem Vetter nur einen einzigen gut platzierten Hieb zu verpassen, und dieser eine Schlag verhalf Sorgan Hakenschnabel zu seinem Namen. Die Schwertfisch raubte weiterhin die breiten Trogitenschiffe in den Gewässern vor der Küste von Maag aus, wobei sie gelegentlich auch von der Südküste aus bis zum Land Shaan vordrang, wo Daltos Mannschaft auf der Suche nach Gold die Lager von Trogiten überfiel. Aus diesem Grund erlernten Skell, Tori und Sorgan auch die Grundzüge des Landkrieges. Das Gold war natürlich der Hauptgrund, weshalb die Maags zur See fuhren, doch im Laufe der Jahre begriff Skell, dass auch das Meer selbst ihn in seinen Bann geschlagen hatte. Gold war hübsch, doch konnte es mit der Schönheit des Anblicks nicht mithalten, den die Sonnenstrahlen boten, wenn sie zwischen Wolken durchbrachen und das Wasser glitzern ließen, oder wenn der Mond aufging und das Meer in bleichem Licht badete. Die See befand sich in ständigem Wandel, und wie jeder andere Maag, der das Seemannsleben gewählt hatte, begann Skell sie zu lieben. Wie jeder Seemann 199
genoss er es, wenn die Schwertfisch in einen Hafen einfuhr, doch wusste er, dass das Meer seine wahre Heimat war. Nachdem Skell zehn Jahre lang an Bord gewesen war, lief die Schwertfisch in den Hafen von Weros ein, und die Mannschaft ging an Land, um sich zu vergnügen. Kapitän Großnase hatte sie ermahnt, dass das Schiff in drei Tagen wieder in See stechen würde und dass er auf niemanden warten würde, der sich verspätete. Skell und Tori kamen gerade noch rechtzeitig an Bord, Sorgan hingegen nicht, und so segelte die Schwertfisch davon und ließ den Vetter hinter sich zurück. Skell und Sorgan hatten ihre Meinungsverschiedenheiten längst beigelegt, und Skell vermisste nun den Sohn der Schwester seines Vaters sehr. An einem verregneten Nachmittag kurz nach Skells siebenundzwanzigstem Geburtstag lief die Schwertfisch in den Hafen von Kormo ein, und die Hai lag dort ebenfalls vor Anker. Kapitän Jodan ruderte mit seinem Skiff herüber, unterhielt sich kurz mit Kapitän Großnase, dann kam er wieder an Deck und erklärte seinen Söhnen, sie seien gerade auf die Hai versetzt worden - als erster und zweiter Maat. Ihre Vorgänger, so schien es, waren vor ein paar Wochen bei einer Wirtshausprügelei ums Leben gekommen. Über diese Zwangslage war ihr Vater mitnichten glücklich, doch blieb ihm keine andere Wahl. Auf halbem Weg zur Hai hielt er an und erteilte ihnen eine strenge Lektion darin, was angemessenes Benehmen bedeutete. Sie waren jetzt Offiziere, und deshalb würden sie die anderen Seeleute an Bord der Hai nicht mehr zu ihren besten Freunden zählen dürfen. Seid immer ernst, so lautete der Kern seiner Ansprache. Lachen und Grinsen waren nicht erlaubt. Er schloss seine Rede mit: Und nennt mich niemals >Papa<. Ich bin der >Kapitän<, und wehe euch, ihr vergesst das auch nur einmal!
Die Hai machte wie die Schwertfisch und die meisten anderen Maagschiffe dieser Zeit Jagd auf die schwankenden Kähne aus dem trogitischen Weltreich, obwohl Kapitän Jodan, soweit Skell sich erinnerte, nicht ein einziges Mal das Wort Trogit verwendete, sondern stets nur von Trogs sprach. Skell musste sich jedes Mal zu200
sammenreißen, wenn sein Vater diesen Begriff verwendete, denn aus irgendeinem Grund fand er das Wort Trog ausgesprochen lustig. Nachdem die Söhne von Kapitän Jodan einige Jahre lang auf der Hai als Offiziere gedient hatten, lief das Schiff eines Tages in den Hafen von Weros ein, um frische Bohnen zu laden. Verschimmelte Bohnen schmecken nicht besonders gut, und die Mannschaft beschwerte sich schon seit längerem über diesen Missstand. Skell halste die Aufgabe, die frischen Bohnen zu kaufen, Tori auf, und dann schlenderte er die Straße am Hafen entlang, um sich einen Krug Starkbier zu genehmigen, wobei aus dem einen Krug ruhig ein halbes Dutzend werden durften. Voller Überraschung entdeckte er seinen Vetter Sorgan bei der Arbeit an einem heruntergekommenen Schiff, das an einem der langen Kais festgemacht war. Ahoi, Sorgan!, rief er, baust du jetzt Schiffe, anstatt auf ihnen zu segeln? Sehr lustig, Skell, knurrte Sorgan und ließ den Hammer fallen, mit dem er neue Bretter festnagelte, die das Deck bilden sollten. Dieses Schiff wird die Seemöwe - falls Ochs, Schinkenpranke und ich alle Lecks im Rumpf abdichten können. Noch sieht es nicht nach viel aus, aber gib uns halt noch ein bisschen Zeit. In Vetter Sorgans Stimme schwang unüberhörbar großer Stolz mit. Dann hast du dir also tatsächlich ein eigenes Schiff gekauft, Sorgan?, fragte Skell und kam auf den Anleger. Gewiss doch, Vetter, antwortete Sorgan. Von jetzt an gehört mir der Kapitänsanteil von jeder Beute, wenn wir ein Trogitenschiff ausrauben. Skell betrachtete das Schiff. Da hast du noch eine Menge zu tun, Vetter, sagte er skeptisch. Deine Seemöwe zu reparieren, das wird dich eine hübsche Stange Geld kosten. Sorgan blinzelte ihn verschlagen an. An Geld ist in Weros leicht zu kommen, Skell. Ein Seemann, der sechs Monate auf See war, hat ziemlichen Durst, und bis Mitternacht ist er für gewöhnlich so hinüber, dass er weder Blitz noch Donner wahrnimmt, selbst wenn es um sein Leben ginge. Wenn das Geld mal wieder knapp wird, 201
schicke ich Ochs und Schinkenpranke in den Hafen auf die Suche nach Seeleuten, die noch Geld im Beutel haben. Du bist ein Dieb, Sorgan, warf Skell seinem Vetter vor. Alle Maags sind Diebe, Skell. Die Trogiten geben uns schließlich ihr Gold auch nicht deshalb, weil wir so nett aussehen. Wir müssen sie bedrohen, damit wir bekommen, was wir wollen. Grüß Tori und deinen Papa von mir, ja? Mach ich, Vetter, sagte Skell. Sorgan deutete mit dem Daumen auf seine Nase, und beide lachten. Während der nächsten Jahre liefen die Geschäfte an Bord der Hai sehr gut, und Skell beobachtete, dass Kapitän Jodan einen erheblichen Anteil seiner Beute beiseite legte. Dann, kurz nach Skells fünfunddreißigstem Geburtstag, rief Kapitän Jodan seine Söhne in die Kabine. Bei ihrem Eintreten fiel Skell auf, wie schneeweiß das Haar seines Vaters geworden war. Zuvor hatte er das nie bemerkt, vermutlich, weil der Kapitän für gewöhnlich einen Eisenhelm trug, wenn er das Deck betrat. Ich habe genug, verkündete Kapitän Jodan. Den größten Teil meines Lebens habe ich auf See verbracht, und jetzt bin ich es leid. Ich werde von nun an auf dem trockenen Land leben, und aus diesem Grunde gehört die Hai jetzt dir, Skell. Skell widerstand nur mit Mühe dem Drang, Freudensprünge zu vollführen und auf dem wackligen Tisch seines Vaters zu tanzen. Es gibt allerdings eine Bedingung, Skell, erklärte Kapitän Jodan seinem ältesten Sohn. Von jetzt an bekomme ich ein Fünftel von allem, was du erbeutest. Und versuch nicht, mich zu betrügen. Falls ich dich dabei erwische, verkaufe ich die Hai, und du fängst wieder als einfacher Seemann an. Die Mitteilung trübte Skells Freude doch sehr, und diese Trübung sollte noch Jahre andauern. Die Mannschaft der Hai atmete auf, als Kapitän Jodan sich aufs Altenteil zurückzog, und Skell begriff schon bald, dass er dringend ein paar Dinge an Bord klarstellen musste. Zunächst einmal war er 202
seiner Jugend zum Trotz der Kapitän der Hai, und die Mannschaft hatte seine Befehle zu befolgen.
Aus irgendeinem Grund allerdings schienen die Männer ihn nicht recht ernst zu nehmen, und das betrübte Skell sogar noch mehr. Schließlich betrat eines Abends Skells blonder Bruder Tori die unaufgeräumte Kabine. Du gehst die Sache falsch an, großer Bruder, begann Tori mit seiner Kritik und setzte sich an Skells Tisch. Du lächelst zu häufig. Die Mannschaft wird dich nicht ernst nehmen, solange du dieses dumme Grinsen im Gesicht trägst. Wenn die Mannschaft Respekt für dich aufbringen soll, musst du versuchen, so auszusehen wie Papa. Er hat nie gelächelt. Du musst grimmig und böse aussehen - selbst wenn du innerlich lachst. Wenn ich das versuche, werde ich innerlich platzen, Tori. Ich glaube, das wirst du nicht, widersprach Tori. Rede dir immer nur ein, du würdest deine wahren Gefühle vor der Mannschaft geheim halten. Dann schleichst du in deine Kabine und lachst, so viel du willst. Tori blickte sich in der Kabine um. Außerdem kannst du dir durchaus mal die Zeit nehmen, hier aufzuräumen. Falls Papa zufällig vorbeikommt und dieses Durcheinander in seiner Kabine sieht, wird er dich bei lebendigem Leib häuten. Ich hatte in letzter Zeit viel zu tun, Tori. Vielleicht damit, ein sauberes Hemd zu finden? Nun, denkst du nicht, es ist an der Zeit für uns, mir ein Schiff zu besorgen? Wozu brauchst du ein Schiff? Na, dann stelle ich die Frage eben andersherum, großer Bruder. Möchtest du wirklich, dass ich an Bord der Hai bleibe? Wenn du die Sache richtig betrachtest, bin ich mindestens so ehrgeizig und gierig wie du, und wenn du mich auf der Hai behältst, komme ich möglicherweise auf dumme Gedanken, die dir gewiss nicht besonders gefallen werden. Hast du mich verstanden? Das wäre Meuterei, Tori! Ja, den Begriff habe ich in diesem Zusammenhang schon manchmal gehört. Wie kann ich dir denn ein Schiff kaufen, Tori? Papa nimmt ein Fünftel von allem, das wir erbeuten. 203
Tori zuckte mit den Schultern. Dann müssen wir eben ein Schiff für mich stehlen. Papa will nur Gold. Er hätte nicht viel Verwendung für das Fünftel eines Schiffes, selbst wenn wir ein so großes Stück absägen könnten. Skell kratzte sich am Kinn und blickte durchs Fenster. Gaiso, denke ich. Ich kann dir nicht ganz folgen. Die Mannschaft jedes Schiffes, das in Gaiso anlegt, macht sich geradewegs in die Tavernen auf vermutlich, weil die Wirte in Gaiso den Grog nicht so stark mit Wasser verdünnen wie die in anderen Städten. Die wenigen Männer, die an Bord der Schiffe Wache halten, trinken ihren Grog aus Fässern, und die dürften ebenfalls ziemlich betrunken sein. Wenn wir uns in den Hafen von Gaiso schleichen, so ungefähr gegen Mitternacht, sollten wir dir ein Schiff aussuchen können, das dir gefällt, und es dann stehlen. Anschließend takeln wir es mit Segeln in einer anderen Farbe auf und ändern noch einige andere Dinge, und niemand wird je merken, dass wir es gestohlen haben, oder? Das ist eine verflucht gute Idee, Skell. Natürlich, erwiderte Skell und grinste. Meine Ideen sind immer die besten. Ich könnte dir auch ein paar meiner Leute für eine Zeit lang überlassen, aber du musst selbst deine Mannschaft anheuern. Aber fang nicht an, dein Geld zu vergeuden, denn du wirst mir ein Fünftel von dem zahlen, was das Schiff dir einbringt. Ein Fünftel} Du musst mir helfen, Papa zu unterstützen. Er soll doch nicht verhungern, oder? Das ist nicht gerecht, Skell! Mit Gerechtigkeit hat das auch nichts zu tun, kleiner Bruder. Wenn du nicht zustimmst, bekommst du eben kein Schiff - und drohe mir nicht noch einmal mit >Meuterei< -, ehe du nicht bereit bist, von nun an auf Grog und Bier zu verzichten. Denn wenn du nicht zustimmst, Papa zu unterstützen, werde ich dich irgendwo aussetzen, sobald du das nächste Mal betrunken bist. Was wirst du dann tun? 204
Du bist ein grausamer, unerbittlicher Mann, Skell. Natürlich. Ich bin der Kapitän der Hai. Man erwartet Grausamkeit und Unerbittlichkeit von mir. Sind wir uns einig? Welche Wahl habe ich schon? Keine, kleiner Bruder. Ich lasse den Leuten niemals eine Wahl. Und so kam es, dass die Hai in einer düsteren Nacht unbeobachtet in den Hafen von Gaiso einlief, und
Tori suchte sich ein Schiff aus, das ihm gefiel. Die Hai schob sich neben dieses Schiff, und Tori führte die Mannschaft zum Entern an, welche die wenigen Wachen an Bord schlicht über die Reling warf. Daraufhin lichteten Tori und seine Männer den Anker und segelten hinter der Hai her aus dem Hafen hinaus. Die Brüder versteckten sich in einer abgelegenen Bucht und ließen von der Mannschaft an dem gestohlenen Schiff Veränderungen vornehmen, bis kaum mehr etwas an sein vorheriges Aussehen erinnerte. Aus irgendeinem Grund entschied sich Tori, es Lerche zu nennen. Skell begriff ums Verrecken nicht, weshalb er diesen Namen wählte. Für gewöhnlich hatten Maagschiffe bedrohliche Namen, und Lerche schien überhaupt nicht zu passen. Manchmal hatte Tori schon einen seltsamen Sinn für Humor. Nachdem sich Skell schwer den Kopf zerbrochen hatte, kam er zu dem Schluss, dass der grimmige und schon etwas ältere Seemann Grock wohl am besten als erster Maat der Hai geeignet sei. Grock war einer dieser ernsten Männer, die selten lächelten, aber er war schon seit zehn Jahren auf der Hai, und daher kannte er sich mit allen Eigenheiten des Schiffes aus. Zudem konnte er gut Leute einschätzen, und auf seinen Vorschlag hin ernannte Skell Baldar Klumpfuß zum zweiten Maat. Er ist ein guter Seemann, Käpt'n, sagte Grock. Wegen des schlimmen Fußes humpelt er zwar ein bisschen, aber er hat keinen Unfug im Kopf. Jüngere Seeleute sind manchmal ein bisschen dumm, doch Klumpfuß weiß sie zu nehmen. Dann ist er unser Mann, stimmte Skell zu. Also, ich denke, wir sollten besser die Küste hinauf nach Kormo segeln. Mein Bruder braucht eine Mannschaft für die Lerche, und ich möchte meine 205
Männer wieder an Bord haben, ehe wir uns wieder auf die Trogjagd machen. So, wie die Dinge im Augenblick stehen, haben wir zwei Schiffe ohne ausreichende Besatzung, und sogar diese Badewannen, die die Trogs Schiffe nennen, können uns davonfahren. Aye, Käpt'n, stimmte Grock zu. Als die beiden Schiffe wieder vollständige Mannschaften hatten, gingen die Brüder an die Arbeit zurück und raubten jedes Trogschiff aus, das ihnen in den Weg kam - natürlich nur, damit Papa glücklich war. Kapitän Jodan baute sein Haus am Meer aus, und nach einer Weile ähnelte es eher einem Schloss als der bescheidenen Residenz eines im Ruhestand lebenden Seemannes. In den nächsten Jahren liefen die Geschäfte gut, dann jedoch kam ein entsetzlich schlauer Trog auf die Idee mit der Ramme, einem dicken Pfahl, der auf Wasserhöhe quer am Bug jedes Trogschiffes eingebaut wurde. Skell machte auf unliebsame Weise Bekanntschaft mit einer dieser Rammen, und es gelang ihm gerade noch so eben, die Hai in den Hafen von Kormo zu bringen, bevor sie unterging. Seine eigentlich vorgetäuschte Grantigkeit entsprach nach dieser Beinahekatastrophe eine Zeit lang ziemlich stark seiner wahren Laune. In Kormo hörte Skell, während die Hai in der Werft repariert wurde, höchst interessante Gerüchte, und sobald sie wieder seetüchtig war, machte er sich auf die Suche nach der Seemöwe. Wenn es stimmte, was man sich erzählte, war Vetter Sorgan auf Gold gestoßen, und Skell meinte, es sei nur höflich, wenn er seinem Verwandten beim Zählen helfen würde. Die Flotte, die Sorgan zusammengestellt hatte, lag im Hafen von Kweta, als die Hai in die Bucht segelte, und Sorgan schien sich über die Ankunft seines Vetters zu freuen. Als er Skell die Goldblöcke zeigte, die er im Kielraum der Seemöwe gestapelt hatte, geriet Skell vor Begeisterung ganz aus dem Häuschen. Allerdings beunruhigten ihn doch einige Dinge. Ihr Auftragge206
ber würde eine Frau sein, und das machte Skell Sorgen, und noch besorgter wurde er, als er sie kennen lernte. Bei der werten Dame Zelana handelte es sich vermutlich um die schönste Frau, die er je gesehen hatte, unter ihrer unglaublich hübschen Oberfläche hingegen war sie härter als Stein. Dann gab es da einen Eingeborenen namens Langbogen, der offensichtlich ihre Leibwache darstellte. Langbogen gehörte zu jener Sorte Mann, bei dem jeder mit ein wenig Verstand sich äußerste Mühe gibt, ihn um keinen Preis zu provozieren. Langbogen umgab eine Kälte, angesichts derer Skell zu frösteln begann. In Zelanas Gesellschaft befand sich dazu ein weiterer Eingeborener namens Rotbart. Rotbart hätte es beinahe geschafft, Skells strenge Pose, die er jahrelang eingeübt hatte, zu zerstören. Jedes Mal, wenn Rotbart den Mund aufmachte, musste Skell davonschleichen, damit er nicht in aller Öffentlichkeit laut loslachte. Nachdem Skell und Sorgan die Angelegenheit ausgiebig besprochen hatten, entschieden sie, Skell solle mit einer kleineren Flotte vorausfahren zu einem Ort namens Lattash an der Westküste des
Landes Dhrall, um Zelanas Domäne so lange zu beschützen, bis Sorgan mit der Hauptflotte einträfe; Tori würde an der Küste von Maag bleiben und Nachzügler auflesen. Skell war bei der Aussicht auf einen Landkrieg nicht allzu begeistert, doch die Bezahlung schien zu stimmen, und das vor allem zählte. Die Reise von Kweta ins Land Dhrall dauerte länger, als Skell erwartet hatte. Offensichtlich war das Meer, das sich vor der Küste im Osten des Landes Maag ausbreitete, viel größer, als Skell sich je hätte vorzustellen vermocht. Der witzige Eingeborene Rotbart versicherte ihm dauernd, es gebe das Land Dhrall wirklich - solange es den Göttern nicht langweilig geworden ist und sie es haben verschwinden lassen. Rotbart hielt diese Bemerkung anscheinend für lustig, Skell hingegen war nicht gerade in der Stimmung zu lachen. Sie waren schon zwei Wochen auf See, und er verspürte eine starke Anspannung. Endlich jedoch sichteten sie Land und erreichten schließlich die Bucht von Lattash. Nachdem sie Anker geworfen hatten, gingen 207
für Skell allerdings schon die Probleme los. Die verschiedenen Kapitäne hatten Sorgan hoch und heilig versprochen, sich im Land Dhrall anständig zu benehmen, aber sie hatten wohl hinter dem Rücken die Finger gekreuzt. Die Annahme, dass die Primitiven im Dorf Lattash schwach und hilflos und daher leichte Beute für die Freibeuter aus Maag seien, erwies sich hingegen als schwerwiegender Denkfehler. Maagseeleute, die nach Gold oder Unterhaltung suchten, fingen sich rasch einen Pfeil ein, und Skell musste etliche Unholde bestrafen - und zwar mit äußerster Strenge. Es brauchte mehrere Auspeitschungen, bis er seine Ansicht deutlich gemacht hatte, und dennoch hatte er das Gefühl, am besten sei es, die Seeleute ganz vom Dorf fern zu halten. Es spielt eigentlich keine Rolle, welche Entschuldigung wir vorbringen, Käpt'n, meinte Grock. Es zählt nur, ob wir diese Rüpel aus dem Dorf schaffen, ehe die Eingeborenen alle Männer der Flotte umgebracht haben. Wir sind doch angeheuert worden, um einen Krieg auszutragen, nicht wahr, Käpt'n?, fragte Baldar Klumpfuß. Das hat mir mein Vetter Sorgan jedenfalls gesagt, stimmte Skell zu. Soldaten, die auf dem trockenen Land Krieg führen, verbringen eine Menge Zeit damit, Forts und Barrikaden zu bauen, habe ich gehört. Da der Feind von Osten kommt und dieser Fluss aus den Bergen oberhalb des Dorfes durch eine schmale Schlucht herunterfließt, könnten wir den anderen Käpt'ns erzählen, dein Vetter Sorgan habe dir den Befehl erteilt, dort oben ein Fort zu bauen, das den Feind zurückhält. Davon hat er aber gar nichts gesagt, Klumpfuß, widersprach Skell. Lüg sie eben an, Käpt'n, schlug Baldar vor. Wir wollen sie schließlich nur davor bewahren, sich umbringen zu lassen, oder? Das stimmt schon, ja. Als Sorgans Flotte endlich eintraf, hatte ihre Auftraggeberin, die schöne Zelana, anscheinend entschieden, ein wenig mehr Offen208
heit gegenüber den Verbündeten sei angebracht. Zuerst beschrieb einer der alten Häuptlinge der versammelten Stämme das jährliche Hochwasser. Darüber erschrak Skell ziemlich, denn die meisten seiner Männer waren oben in der Schlucht und würden dort in der Falle sitzen - und ertrinken -, wenn die Beschreibung der Flutkatastrophe auch nur annähernd der Wirklichkeit entsprach. Daraufhin folgte die Sache mit dem Gift. Skell hatte bereits Geschichten über Giftschlangen gehört, doch niemals eine gesehen -und ihm wäre es lieber gewesen, wenn es so geblieben wäre. Langbogen, der trübgesichtige Leibwächter der werten Dame Zelana, beruhigte Skell jedoch mit seiner Beschreibung ihrer Absichten, denn er wollte das Gift der erlegten Feinde benutzen, um die übrigen Feinde zu töten. Darin lag, so fand Skell, eine gewisse Gerechtigkeit. Was ihn während des Krieges in Zelanas Domäne am meisten beunruhigte, war das Bündnis mit den Trogs. Ohne Frage handelte es sich bei Kommandant Narasans Männern um hervorragende Soldaten, die ihnen eine große Hilfe gewesen waren, doch erschien es Skell einfach unnatürlich, mit Trogs ein Bündnis einzugehen. Die Eingeborenen hatten sie davor gewarnt, dass die Flut - die ihnen am Ende von großem Nutzen war - ein jährlich wiederkehrendes Ereignis in dieser Region sei, insofern hatte Skell sie mehr oder weniger als Naturereignis hingenommen, doch der plötzliche Ausbruch zweier Vulkane am Ende der
Schlucht - ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als ihnen diese Eruption ausgesprochen gelegen kam -, war doch eine andere Angelegenheit. Die Eingeborenen hatten höchst unwahrscheinliche Erklärungen vorgeschoben, Skell hingegen glaubte fest, dass die werte Dame Zelana dabei ihre Finger im Spiel hatte. Das wiederum warf unangenehme Fragen auf. Wenn Zelana Berge explodieren lassen konnte, wann immer es ihr gefiel, wozu brauchte sie dann eine angeheuerte Armee? Schließlich hatte es mit dem Krieg ein Ende, da die Eindringlinge vernichtet waren; Sorgan und der Trogkommandant hatten Freundschaft geschlossen, und Sorgan bot seine Hilfe in dem Krieg an, den auszufechten die Trogs angeheuert worden waren. Skell 209
war durchaus skeptisch, was das betraf - bis Zelana und ihr Bruder ihnen auf großzügigste Weise noch mehr Gold anboten. Da entschied Skell, dass er genauso gut auch noch eine Weile weitermachen konnte.
21 Im Frühsommer stach die gemeinsame Flotte von Maags u g in See und segelte südwärts zur Domäne von Zelanas ju g Bruder Veltan, und nun fühlte sich Skell ein wenig wohler. Im Sommer gab es selten Probleme mit schlechtem Wetter. Nachdem sie eine nicht näher bestimmte Grenze passier , erkannte Skell, dass Veltans Domäne vor allem ein Bauernland war. Es gab auch Berge oben im nördlichen Teil des Gebietes, allerdings in ausreichender Entfernung. Skell begriff sofort, aus Grund Veltan Trogs angeheuert hatte, um diesen Krieg zu fuhren. Trogsoldaten waren von geraden Linien besessen, und Berge den meist im Weg, wenn man es auf exakt ausgerichtete anlegte. Die Flotte wandte sich nach Osten, als sie die Südküste des Landes Dhrall erreichte, und dann ging es nach Norden, immer an der Küste entlang. Veltans schäbiges kleines Fischerboot fuhr voraus, und offensichtlich hatten die Männer an Bord des Kahns - Langbogen, Rotbart, Hase und Keselo - nach einer bestimmten Landmarke Ausschau gehalten, da der Kahn plötzlich auf die Küste zuhielt und ohne große Vorwarnung auf dem Strand anlandete. Skell te einige besonders kernige Flüche vor sich hin, weil die ti schwankte, als Grock das Ruder herumriss. Der weiße Sandstrand wirkte viel sauberer als alle anderen, die Skell im Laufe seines Seemannslebens gesehen hatte, und die Weizenfelder auf den sanften Hängen, die sich vom Strand aus erhoben, leuchteten saftig grün. Dies war ein schönes Land, das konnte man 210
nicht leugnen, trotzdem zog Skell das offene Meer vor. Er befahl seinen Männern, ein Stück vor dem Strand den Anker zu werfen. Die Hai hatte größeren Tiefgang als Veltans Fischerkahn, und Skell stand nicht der Sinn danach, unnötige Risiken einzugehen. Kommandant Narasan und mit ihm andere gingen an Land, um sich mit Zelanas jüngerem Bruder zu treffen, doch aus irgendeinem Grund hielt sich Vetter Sorgan zurück. Das verblüffte Skell, denn es erschien ihm ganz so, als versuche Sorgan, sich höflich zu benehmen. Einfach unnatürlich, murmelte er in sich hinein. Offensichtlich hatte Sorgan zu viel Zeit mit den Trogs verbracht, und ihre Sitten hatten auf ihn abgefärbt. Nach einer Weile kam auch Sorgan endlich an Land, und Skell übergab Grock das Kommando und ruderte zum Strand, um herauszufinden, was nun eigentlich vor sich ging. Er hielt sich im Hintergrund, lauschte und beobachtete still. Sorgan und die Trogs waren überrascht, dass ein Bauer namens Omago eine stattliche Anzahl anderer Bauern versammelt hatte, mit denen er bei der Verteidigung von Veltans Domäne helfen wollte. Skell war skeptisch. Wenn die hier im Lande Dhrall ansässigen Menschen den Feind aus eigener Kraft abwehren konnten, wozu nahmen dann Zelana und ihre Verwandten Mühe und Kosten auf sich, um Berufssoldaten aus anderen Teilen der Welt zu holen, damit sie das Kämpfen übernahmen? Veltan schlug vor, man möge in sein Haus gehen, um einen Blick auf seine Skulpturenkarte zu werfen. Für die Trogs, so schien es, hatte Rotbarts Miniaturnachbildung der Schlucht oberhalb von Lattash etwas sehr Nützliches. Sorgan ließ den anderen den Vortritt und winkte Skell zu sich. Ich denke, du bleibst besser an Ort und Stelle, Vetter, sagte er. Vermutlich wäre es keine gute Idee, wenn unsere Männer hier am Strand oder in den Dörfern der Umgebung herumlaufen. Es soll schließlich nicht wieder zu solch dummen Zwischenfällen kommen wie bei deiner Ankunft in Lattash, oder? Ganz sicherlich nicht, stimmte Skell zu. Ich werde den Kapitänen auf den anderen Schiffen Bescheid
geben, dass es dir lieb 211
wäre, wenn sie ihre Männer vorläufig an Bord behalten. Wir wissen ja sowieso noch nicht, wo genau wir in den Krieg ziehen werden, daher besteht ja durchaus die Möglichkeit, dass wir nicht lange hier bleiben, und es würde eine Weile dauern, die Seeleute wieder einzusammeln, wenn man sie erst einmal an Land lässt. Damit hast du in der Tat Recht, meinte auch Sorgan. Skell ruderte zur Hai zurück, und dann schickte er Grock und Baldar los, um den anderen Maagkapitänen Sorgans Entscheidung zu überbringen, die Männer sollten an Bord der Schiffe bleiben. Anschließend ruderte er hinüber zur Lerche, um seinem Bruder zu sagen, dass sie vermutlich in nicht allzu langer Zeit wieder aufbrechen würden. Vetter Sorgan zieht wohl seine Lehren aus schlechten Erfahrungen, sagte Tori, während sie am Heck der Lerche standen und den leuchtenden Abendhimmel bewunderten. Diesmal müssen wir vielleicht nicht die Hälfte der Kapitäne auspeitschen. An dem Tag habe ich mir wenig Freunde gemacht, räumte Skell ein, aber wenn ich diese Dummköpfe nicht ausgepeitscht hätte, wären alle Männer der Flotte von den Bogenschützen erschossen worden. Wer kommt denn da zurück zum Strand?, fragte Tori und zeigte auf einen in schwarzes Leder gekleideten Trog, der einen anderen Trog hinter sich herzog. Skell musste blinzeln, da das Licht bereits langsam schwand. Ich glaube, das ist Padan, sagte er. Und wen zerrt er hinter sich her? Woher soll ich das wissen? Vielleicht hat einer der Trogs gegen die Regeln verstoßen. Das würde mich jedenfalls nicht im Mindesten wundern, Skell. Die Trogs haben einfach für alles Regeln - wie oft das Herz schlagen muss, wie oft man blinzeln darf, wann man atmen sollte - für alle diese wichtigen Dinge, die für jeden Soldaten derjenige entscheidet, der den Befehl über diese dumme Armee hat. Sie sind ganz schön pingelig in manchen Dingen, was?, 212
stimmte Skell zu. Vermutlich ist es nichts Wichtiges, aber vielleicht sollten wir zu Narasans Schiff rudern und Padan fragen, was passiert ist. Padan kam gerade aus dem Kielraum, als Skell mit seinem Skiff an dem breiten Trogschiff anlegte. Ahoi, Padan, rief er. Ist etwas vorgefallen, über das wir Bescheid wissen sollten? Ich glaube, gerade ist etwas Wunderbares passiert, Skell, antwortete Padan und lächelte breit. Haben wir Gold gefunden?, fragte Tori. Nun, gewissermaßen. Habt ihr beiden mal diesen arroganten Expriester Jalkan kennen gelernt? Gut genug, um nichts mit ihm zu tun haben zu wollen, gab Tori zurück. Weißt du, ich glaube, jeder, der je mit diesem Halunken zu tun hatte, denkt ganz genauso. Nun, also Veltans bester Freund, der, dem diese Weizenfelder in der Umgebung seines Hauses gehören, ist ein Bauer namens Omago, und der ist mit einer wunderschönen Frau verheiratet, die vermutlich die beste Köchin der Welt ist. Wir studierten gerade Veltans Karte, als Omagos Frau reinkam und uns zum Essen rief. Jalkan hat sie regelrecht mit den Augen verschlungen und unflätige Bemerkungen gemacht, bei denen Kommandant Narasan beinahe in Ohnmacht gefallen wäre. Daraufhin hat Omago, der Bauer, Jalkan mit einem Fausthieb zu Boden gestreckt und ihm die Zähne ausgeschlagen. Ach, da wäre ich gern dabei gewesen, sagte Tori. Es kommt noch besser, meinte Padan und grinste noch breiter. Jalkan begann herumzubrüllen, er werde den Bauern für seinen Mangel an Respekt gegenüber jemandem bestrafen, der im Rang nur ein oder höchstens zwei Stufen unter Gott selbst stehe, doch Kommandant Narasan entriss ihm seine Göttlichkeit, indem er ihn mit sofortiger Wirkung von seinem Offiziersposten suspendierte. Der Kommandant befahl mir, den Schurken in Ketten zu legen und ihm bei jedem Schritt zurück zum Strand einen Tritt in den Hintern zu verpassen. Wenn dein Fuß müde wird, kann ich dich gern ablösen, Padan, 213
bot Tori an. Wir drei würden es vermutlich schaffen, Jalkan eine ganze Woche lang zwischen der Burg und dem Strand mit Fußtritten hin und her zu scheuchen. Skell spitzte die Lippen. Wir könnten sogar Wetten abschließen, schlug er vor. Die Gelegenheit zu einer guten Wette lasse ich nie aus, stimmte Padan zu. Allerdings sollten wir vorher einige Regeln absprechen - was den längsten Tritt betrifft. Und außerdem könnten wir auch auf den kräftigsten Tritt wetten. Na, da hätten wir doch wenigstens was zu tun, außer immer nur zuzuschauen, wie die Flut kommt und
geht, fügte Tori hinzu. Allerdings würde es vermutlich mit der Zeit doch langweilig. Wenn es keinen Spaß mehr macht, könnten wir darüber nachdenken, dem Kerl eine anständige Beerdigung zu verschaffen. Aber er ist doch noch gar nicht tot, Tori, wandte Padan ein. Ach so? Der Bauer namens Omago berichtete Narasan, dem Trog, und Vetter Sorgan, dass er einen Schäfer namens Nanton kenne, der ihnen einen Weg um die Fälle von Vash zeigen könne, falls sie hinauf in die Berge mussten, um nach der wahrscheinlichsten Einfallsroute des Feindes zu suchen, und Sorgan rief Skell in den runden Raum, wo sich die Karte befand. Narasan und ich haben entschieden, dass du vermutlich am besten geeignet bist, um die Kundschafter anzuführen, Skell, sagte er. Was gibt es sonst für Neuigkeiten?, knurrte der Nörgel’ nicht herum, Skell. Guck dir einfach die Gegend dort oben an und such nach der wahrscheinlichsten Route, auf welcher der Feind einfallen wird. Dann baust du Forts, um den Gegner aufzuhalten. Und zeigst du mir auch, wie ich mein Hemd anziehen muss, Vetter? Hör jetzt auf!, knurrte Sorgan. Geht das oft so zwischen euch?, erkundigte sich Narasan mit amüsierter Miene. 214
Ständig, erwiderte Sorgan und verdrehte die Augen gen Himmel. Skell hält sich für lustig, aber ich lache schon lange nicht mehr über seine Scherze. Wie lange wird es dauern, bis Gunda den Rest deiner Armee hergeholt hat? Genau vermag ich das kaum zu sagen, Sorgan. Ich habe den Befehl über die Armee einem sehr zuverlässigen Mann anvertraut -Unterkommandant Andar. Er wird wissen, was zu tun ist, sobald Gunda ihn mit der Nachricht erreicht, er solle aufbrechen. Sein schwierigstes Problem wird dann darin bestehen, Schiffe für die achtzigtausend Mann aufzutreiben. Das ist der größte Unsicherheitsfaktor. Bestimmt wird Gunda eine Möglichkeit finden, uns über den Stand der Dinge auf dem Laufenden zu halten, sobald er annähernd weiß, wie lange es noch dauern wird. Sorgan zuckte mit den Schultern. In der Zwischenzeit haben wir ja genug zu tun. Veltans Karte ist wirklich ganz fürchterlich neckisch, und ich werde mich bestimmt sicherer fühlen, wenn sich Skell die Gegend in der Wirklichkeit angeschaut hat. Neckisch? Narasan klang belustigt. Vielleicht habe ich dort oben in der Schlucht zu viel Zeit mit Eleria verbracht, sagte Sorgan und schüttelte den Kopf. Also gut, meinte Skell. Wir müssen ja nicht auf Gunda warten. Tori und ich brechen auf und schauen uns die Gegend an. Gebt uns ein paar Tage, und wir werden herausgefunden haben, wo man die Forts am besten errichtet. Im Anschluss daran können meine restlichen Männer heraufkommen und mit den Arbeiten anfangen. Bis Gunda eintrifft, stehen die Fundamente, und dann kann Gunda ja übernehmen. Was hältst du davon, Narasan?, fragte Sorgan. Hört sich gut an. Du wirst ungefähr fünf Schiffsmannschaften brauchen, wenn du dort hochgehst, oder?, fragte Sorgan Skell. Jetzt mal ernsthaft, Vetter, knurrte Skell. Toris Mannschaft und meine sind vermutlich schon zu viele Leute. Ich will keine Invasion durchführen, sondern ich will mich nur ein bisschen um215
schauen, und je weniger Männer hinter mir hertrotten, desto schneller komme ich voran. Ich weiß ganz genau, welche Aufgaben anstehen, Sorgan, also steh mir nicht im Weg herum und lass mich einfach machen. Skell und Tori stachen beim ersten Licht des folgenden Tages in See, vor allem, um die Bucht verlassen zu haben, ehe Sorgan aufwachte und ihnen weitere Schiffe aufhalste. Aus irgendeinem Grund schien Sorgan immer zu glauben, mehr sei besser. Darüber hatten sie sich auch als junge Männer schon häufig gestritten. Skell und sein Bruder brauchten zwei Tage, bis sie die Mündung des Flusses Vash erreicht hatten, und Skell verbrachte die Zeit damit, den Bogenschützen Langbogen besser kennen zu lernen. In der Schlucht oberhalb von Lattash hatten sich einige Dinge ereignet, die Langbogens großes Wissen über den Feind offenbar werden ließen, und damit war er ein äußerst wertvoller Mann für sie. Am späten Nachmittag des ersten Tages gesellte sich Skell zu Langbogen am Bug der Hai. Ich habe den Großteil meiner Zeit drüben in der Domäne von Zelana mit dem Bau dieses Forts verbracht, mit dem wir die Schlucht blockieren wollten, erzählte er, deshalb weiß ich gar nicht so viel über unseren
Feind. Wie ich gehört habe, kennst du dich besser mit unseren Gegnern aus als jeder andere, deshalb finde ich, sollte ich mich mal mit dir unterhalten. Gibt es da Dinge, die ich wissen sollte? Das Wichtigste ist sicherlich, dass die Wesen des Ödlands keine Angst haben, erwiderte Langbogen. Sie sind tapfere Männer, meinst du? Ich würde sie nicht >tapfer< nennen, Skell. >Dumm< käme der Sache schon näher, aber das ist auch nicht ganz richtig. Die einzelnen Individuen besitzen nichts von dem, was wir als Intelligenz bezeichnen. Sie tun genau das, was das Vlagh von ihnen verlangt -selbst wenn es unmöglich scheint. Ich würde sagen, dann trifft >dumm< vielleicht doch recht gut. Langbogen zuckte mit den Schultern. Ihr Verstand funktioniert nicht so wie unserer - vermutlich, weil sie einzeln genommen 216
eigentlich keinen Verstand haben. Was einer von ihnen weiß, wissen die anderen auch, und ihre Entscheidungen werden durch dieses Gruppenbewusstsein getroffen. Im Zentrum dieses Bewussteins steht >Das-man-Vlagh-nennt<. Das Vlagh erteilt die Befehle, und ein Diener des Vlagh wird versuchen, diese auszuführen, selbst wenn er der Einzige ist, der noch am Leben ist. Das würde ja auch wieder auf >dumm< hindeuten, oder? Wir betrachten es vielleicht so, sie aber nicht. Natürlich wissen sie nicht, dass sie sterblich sind. In ihrer Vorstellung leben sie ewig, und nichts kann sie umbringen. Wie hast du das alles herausgefunden, Langbogen? Ich bin ein Jäger, Skell, und das Erste, was ein Jäger lernt, ist, wie seine Beute zu denken. Wenn ihm das nicht gelingt, bekommt er nicht sehr häufig zu essen. Langbogen blickte auf das schäumende Wasser vor dem Bug der Hai. Du hast die meiste Zeit deines Lebens hier auf dem Antlitz von Mutter Meer verbracht, ja? So ist das für gewöhnlich bei Seeleuten, Langbogen. Hast du auch viel Zeit mit Angeln verbracht? Ja, doch. Wieso? Wenn du angelst, musst du schließlich an den Haken einen Köder machen, von dem du glaubst, dass die Fische ihn mögen. Nun, wenn ich welche fangen will, ja. Dann muss ein guter Angler also lernen, wie ein Fisch zu denken, oder nicht? Ich hätte die Sache zwar niemals von dieser Seite betrachtet, aber vermutlich hast du Recht, räumte Skell ein. Welcher Köder ist denn der Beste, wenn du nach Schlangenmenschen angelst? Ich hatte recht guten Erfolg mit Menschen, erwiderte Langbogen und lächelte schwach. Menschen}, fragte Skell entsetzt. Nur nicht aufregen, Skell. Wenn du den Wesen des Ödlands Menschen vorsetzt, kommen sie aus ihren Verstecken und versuchen, den Feind zu töten, und das macht es leicht, sie mit Pfeilen zu treffen. Die Diener des Vlagh haben keine Ahnung, was ein Pfeil ist, deshalb verstehen sie nicht, weshalb ihre Freunde fallen. Man 217
kann es auch anders anfangen, allerdings geht es mit Menschen als Köder am besten. Fluten und Vulkane sind auch keine schlechten Methoden, doch sie zu erzeugen - nun, das kann ziemlich kompliziert werden. Besser ist es, wenn man zu einfachen Mitteln greift. Spät am Nachmittag des nächsten Tages erreichten sie die Mündung des Flusses Vash, und Omagos bärtiger Freund Nanton erwartete sie am Strand auf der Nordseite. Skell und Omago ruderten in einem der Skiffs von der Hai an Land, und Omago stellte Skell ihrem Bergführer vor. Kommen die Männer von beiden Booten mit?, erkundigte sich Nanton bei Skell. Von beiden Schiffen, berichtigte Skell geistesabwesend. Was? Wir nennen sie Schiffe, nicht Boote. Worin besteht denn der Unterschied? Ganz sicher bin ich mir nicht, gab Skell zu. Jedenfalls habe ich mir auch schon Gedanken darüber gemacht, wie viele Männer wir mitnehmen sollen, seit wir von Veltans Haus hierher unterwegs sind, und mir scheint es, etwa ein Dutzend Männer wären für den ersten Ausflug nach oben genug. Wir wollen uns schließlich erst einmal kurz umsehen. Das Wichtigste ist, den Weg so zu markieren, dass die Armeen, die später kommen, wissen, an welcher Stelle es hinaufgeht. Seid ihr schon auf Feinde gestoßen? Im Sommer bisher nicht, sagte der Schäfer. Im letzten Frühjahr haben ein paar herumgeschnüffelt und
neugierig Fragen gestellt, doch oben bin ich noch keinem begegnet. Können sie etwa sprechen? Das überraschte Skell ein wenig. Diejenigen, die wir getroffen haben, konnten es. Sie behaupteten, Händler zu sein, doch habe ich ihnen nicht geglaubt. Ich glaube, sie haben einfach nur herumgeschnüffelt. Skell blickte zum Fluss. Wie weit ist es bis zum Wasserfall?, wollte er wissen. Ungefähr zweimal so weit wie von hier bis zu Veltans Haus. Wir werden allerdings nicht so weit hinauffahren, sondern nur bis 218
zu einer Stelle, wo ein Bachbett nach oben führt. Hier unten vor der Mündung ist der Fluss ganz ruhig. Gut. Wir können mein Schiff und das meines Bruders bis zu diesem Bach rudern, und von dort nehme ich fünfzehn Mann und steige nach oben. Wir schauen uns ein wenig um, und dann schicke ich jemanden nach unten, der den Rest der Männer nachholt. Das wäre vermutlich das Vernünftigste, stimmte Nanton zu. Ist deine Schafherde oben, Nanton?, wollte Omago wissen. Im Augenblick ja. Wenn es dort oben Krieg geben sollte, werde ich sie jedoch auf sichere Weiden führen. Das hört sich an, als würdest du dich ziemlich gut in den Bergen auskennen, meinte Skell. Ich habe fast mein ganzes Leben dort oben verbracht - zumindest die Sommer. Im Herbst ziehe ich mit der Herde nach unten ins Tal. Wäre es nicht einfacher, sie ganz hier unten im flachen Land zu lassen?, fragte Skell. Möglicherweise, doch das Gras oben in den Bergen ist besser, und ich muss die Schafe nicht die ganze Zeit von den Äckern verscheuchen. Bauern sind in der Regel ziemlich besorgt, wenn sie ein paar hundert Schafe im Anmarsch sehen. Ich frage mich, warum, sagte Skell, ohne auch nur im Mindesten zu lächeln.
22 Sie brauchten drei Tage, um die zwei Schiffe den ruhig Dahinfliessenden Vash hinaufzurudern, bis zu der Stelle, wo der Bach aus den Bergen kam. Skell ließ die Hai oberhalb dieses Baches ankern, dann ruderte er mit seinem Skiff hinüber zur Lerche, um sich mit seinem Bruder zu besprechen. Ich habe das Gefühl, Omagos Freund möchte nicht so gern eine große Truppe hinter uns wissen, wenn er uns in das Gebiet führt, das wir erkunden müssen, daher 219
sollten wir also besser nicht zu viele Männer mitnehmen. Nanton kennt sich hier oben gut aus, deshalb kann er mir viel Zeit sparen, solange ich ihn nicht gegen uns aufbringe. Es heißt also wieder einmal: >Bitte die Eingeborenen nicht verärgern, richtig?, meinte Tori. Wir sollten uns so ruhig wie möglich verhalten. Warum bleibst du nicht hier? Lass die Männer am Ufer Anleger bauen. In Kürze werden etliche Schiffe den Fluss heraufkommen, und die werden eine große Anzahl Männer bringen. Wir sollten ihnen das Anlegen so leicht wie möglich machen, sonst bilden die Trogschiffe eine Reihe bis runter zur Mündung. Wen willst du mitnehmen? Nanton natürlich, und Omago, antwortete Skell und blinzelte zu dem kleinen schmalen Bach hinüber, außerdem Langbogen und Rotbart. Narasan will, dass Padan den Weg kennzeichnet, daher sollte er auch mitkommen. Das ist alles? Gehst du nicht ein bisschen zu weit, Skell? Skell zuckte mit den Schultern. Wir schauen uns doch lediglich ein bisschen um, kleiner Bruder, sagte er. Ich nehme auch noch Grock mit - nur für den Fall, dass ich jemanden brauche, der euch benachrichtigt, wenn es dort oben unangenehm wird, und mit Hase und Keselo runden wir die Sache ab. Die beiden kommen bestens mit Langbogen aus, deshalb sind sie sehr nützlich. Ich möchte mich schnell und leise bewegen, und ich glaube, mehr Männer brauche ich nicht. Du bist ausgesprochen sparsam, Skell. Es sind genug Männer, kleiner Bruder. Man muss sich nicht mehr aufhalsen, als man braucht. Skell und seine kleine Truppe brachen beim ersten Licht des neuen Tages in die schmale Schlucht auf, die das Bachbett bildete, und bald wurde klar, dass dies kein Spaziergang werden würde. Das Buschwerk zu beiden Seiten des Baches war dicht, und die hohen immergrünen Bäume sperrten den Sonnenschein aus. Skells Truppe stieg in fast fortwährendem Dämmerlicht hinauf. Grock, der 220
erste Maat der Hai, war klug genug gewesen, ein Seil mitzunehmen, und sie waren kaum eine
Viertelmeile weit gekommen, als deutlich wurde, wie oft sie es würden benutzen müssen, denn der Bach stürzte eher zu Tal, als dass er floss. Skell kam es vor, als würden sie alle fünfzig Fuß den nächsten schäumenden Wasserfall erreichen. Glücklicherweise war Hase ein recht flinker kleiner Kerl, und er schlang sich Grocks Seil um die Schultern und kletterte über die Felsen nach oben, band das Seil an einen großen Baum und ließ es dann zu den Männern unten hinab. Skell war sicher, dass sie bis Mittag eigentlich mehr auf diese Weise geklettert als normal gegangen waren. Wie in aller Welt kann man hier eine Schafherde hochtreiben?, fragte er den Schäfer. Der bärtige Nanton lächelte. Wenn ein Schaf wirklich etwas will - frisches Gras oder einen Bock, der ebenfalls Gesellschaft sucht -, kann es auch an einer steilen Felswand hochklettern. Allerdings hat es vier Füße und sehr scharfe Hufe. Du magst deine Schafe, wie? Schafe hüten ist viel leichter als buddeln und pflanzen, und ich habe schon immer gedacht, >leicht< sei besser als >schwer<. Würdest du mir da nicht auch zustimmen? Dem kann ich nicht widersprechen, meinte Skell, trotzdem habe ich den Eindruck, diese Kraxelei gehe eher in die Richtung von >schwer<, oder sollte ich mich da täuschen? Immer noch besser als ehrliche Arbeit, oder nicht?, erwiderte Nanton milde. Ein paar Stunden später bewegte sich die Sonne im Westen auf den Horizont zu, und Skell ließ anhalten. Das reicht für heute, verkündete er. Ich denke, es ist keine gute Idee, hier im Dunkeln zwischen den Büschen herumzuklettern. Zwar sind vermutlich keine Insektenmenschen in der Nähe, aber wir wollen kein Risiko eingehen. Guter Gedanke, stimmte Hase zu. Die kleine Gruppe der Kundschafter stand früh am nächsten Morgen auf, und nachdem sie etwas gegessen hatten, setzten sie den 221
mühsamen Marsch fort und zogen sich Hand um Hand an Grocks Seil nach oben. Von Zeit zu Zeit band Padan einen gelben Faden an die Stämme und Büsche, um den Weg für Narasans Armee zu markieren, die bald hier entlangkommen würde. Das ist nur ein Vorschlag, sagte der junge Trog namens Keselo am Vormittag, doch ich glaube, Kommandant Narasans Armee würde hier schneller vorankommen, wenn wir Seile an den steileren Stellen spannen. Dieses Seil, das Grock mitgebracht hat, war bisher sehr nützlich. Grock weiß, was er tut, das ist mal sicher, stimmte Skell zu. Er blickte sich um. Wo ist er überhaupt? Er hat Omago gesagt, er wolle schauen, ob es nicht einen Weg nach oben durch offeneres Gelände gibt. Ich nehme an, Büsche mag er nicht so gern. Allzu versessen bin ich auch nicht darauf. Büsche bieten gute Verstecke, wenn man einen Feind aus dem Hinterhalt angreifen will, sagte Keselo, aber das ist auch schon alles, wozu sie gut sind. Welche Seite sieht sich Grock an? Er ist über den Bach gesprungen und zur Wand der Schlucht auf der anderen Seite hinüber. Ich denke, viel Glück wird er nicht haben. In der Wand dort drüben gibt es jede Menge lockere Steine. Vielleicht hat er doch Glück, meinte Skell. Hoffen wir es jedenfalls. Meine Hände werden langsam taub, weil wir uns ständig am Seil hochziehen müssen. Ach, da kommt er schon zurück, Kapitän Skell, sagte Keselo und beschattete die Augen. Er rennt!, rief der junge Trog. Wenn er stolpert und stürzt, wird er vermutlich fast bis zum Fluss hinunterkullern. Skell starrte den steilen Hang hinauf. Dieser Volltrottel!, rief er. Grock! Du wirst dir noch den Hals brechen! Ich habe Gold gefunden, Käpt'n!, schrie Grock zurück. Gold Tonnenweise, oben in der Felswand! Bleib, wo du bist!, befahl Skell. Ich komme hoch! Er gab Keselo einen Wink. Gehen wir hin und schauen uns die Sache an. 222
Aye, Käpt'n, antwortete Keselo und imitierte damit die normale Erwiderung, die auch ein gewöhnlicher Maag gegeben hätte. Grock zitterte heftig und leckte mit der Zunge an einem dunklen Stein. Lass mich mal sehen, verlangte Skell. Aye, antwortete Grock und reichte Skell das dunkle Felsstück. Hier ist es, Käpt'n, sagte er und zeigte auf einen glänzenden gelben Fleck auf der Oberfläche des Steins. Ich bin dran vorbeigegangen, da hat eine Bö die Fichten bewegt, und die Sonne blitzte plötzlich auf diesem Fleck. Man hätte es nicht
glauben mögen. Also bin ich hin und habe es mir angeschaut. Wird vielleicht ein bisschen Arbeit, es aus der Wand zu schlagen, aber es dürfte sich auf jeden Fall lohnen. Skell war überhaupt nicht aufgefallen, dass er den Atem angehalten hatte, und nun ließ er die Luft in einem einzigen Stoß heraus. Ah - Kapitän Skell, sagte der junge Trog. Ich denke, wir sollten dies zuerst Hase zeigen. Er kennt sich besser mit Metallen aus als jeder andere, und er wird uns sicherlich sagen können, ob es sich tatsächlich um Gold handelt. Was soll es denn sonst sein?, wollte Grock wissen. Es ist gelb, und das heißt Gold, oder? Hase!, brüllte Skell. Ich brauche dich! Komm mal her! Der kleine drahtige Schmied von der Seemöwe rannte den steilen Hang hinauf. Gibt es Schwierigkeiten?, erkundigte er sich. Möglicherweise, antwortete Skell, möglicherweise aber auch nicht. Er reichte ihm den Stein, den Grock ihm gegeben hatte. Sieh dir das mal an und sag uns, was du davon hältst. Ist der gelbe Fleck möglicherweise Gold? Oder etwas anderes? Das ist leicht herauszufinden, meinte Hase. Er zog das Messer aus der Scheide und schlug mit der Spitze über den gelben Fleck, wobei sich ein Funken bildete. Tut mir Leid, Käpt'n Skell, aber das ist kein Gold. Es ist zwar hübsch, denke ich, aber bei Gold sprühen keine Funken, wenn man mit einem Messer draufschlägt. Ich habe von diesem Metall gehört, doch sehe ich es zum ersten Mal mit eigenen Augen. 223
Bist du auch ganz sicher?, fragte Grock, und die bittere Enttäuschung in seiner Stimme konnte man kaum überhören. Das kann man schnell feststellen, sagte Hase. Hat jemand eine Goldmünze in der Tasche? Keselo reichte dem Schmied eine recht große Münze. Hase schlug das Messer über die Kante der Münze. Keine Funken, Käpt'n Skell, stellte Hase fest. Soweit ich gehört habe, ist dieses gelbe Zeug eine Art Eisenerz, das mit etwas Gelbem verunreinigt ist. In Weros hat man sich jahrelang eine Geschichte erzählt, von einem Burschen, der ein großes Vorkommen dieses besonderen Erzes gefunden hatte. Jahrelang hat er es aus dem Stein gehauen, und er war sicher, jeden Tag reicher zu werden. Als er schließlich herausbekam, dass es gar kein Gold war, ist er zur Bucht hinunter und hat sich ertränkt. Skell bedachte diesen jungen Trog Keselo mit einem strengen Blick. Du hast gleich gewusst, dass es kein Gold ist, oder? Ich war mir ziemlich sicher, Kapitän Skell, gab Keselo zu. Aber ich dachte, Hase wäre derjenige, der dies am besten entscheiden könne. Ich glaube, man nennt es >Eisenpyrit<. Es besteht überwiegend aus Eisen, doch ist es mit Schwefel verunreinigt. An manchen Orten wird es angeblich anstelle von Feuersteinen benutzt, wenn man etwas anzünden möchte. Demnach ist es wertlos?, fragte Skell und klang nun ebenfalls enttäuscht. Nicht ganz wertlos. Zum größten Teil besteht es aus Eisen, und Eisen ist nicht wertlos; außerdem kann man Feuer damit anzünden. Also gut, seufzte Skell, dann müssen wir es zunächst weiterhin mit ehrlicher Arbeit versuchen. Tut mir Leid, Grock, aber mir scheint, heute werden wir keine reichen Männer. Während sie zum Bach hinunterstiegen, juckte es Skell ein wenig im Nacken, und er blickte sich genau um. Er war fast sicher, dass ihn jemand beobachtete, doch war niemand zu sehen, daher tat er das Gefühl mit einem Schulterzucken ab. 224
Sie sind zwar vielleicht nicht die klügsten Tiere der Welt, räumte Nanton Langbogen gegenüber ein, während sie, gefolgt von Skell, dem gewundenen Bachbett nach oben folgten, aber sie sind sehr anhänglich, und ihre Wolle ist recht wertvoll. Wird es dir nicht langweilig, auf einem Hügel zu sitzen und ihnen den ganzen Tag zuzuschauen, wie sie Gras fressen? Langeweile ist der angenehme Teil des Lebens mit einer Schafherde, Langbogen, antwortete Nanton. Immer, wenn es nicht langweilig ist, wünsche ich mir, ich hätte einen anderen Beruf ergriffen. Sich mit einem Rudel hungriger Wölfe abzugeben, das kann ganz schön aufregend werden. Ist es nicht schwierig, mit einer Schleuder zu zielen? Nicht, wenn man jeden Tag übt. Nach einer Weile wird die Schleuder fast zur Verlängerung der Hand. Aha, machte Langbogen, und du verfehlst demnach nie dein Ziel, wenn du einen Stein nach einem Wolf oder einem Hirsch schleuderst, oder?
Nicht, dass ich mich erinnern könnte. Woher weißt du das, Langbogen? Ich habe das gleiche Problem mit meinem Bogen. Man kann es den anderen Leuten nur schwierig klar machen, nicht wahr? Ich habe es Vorjahren aufgegeben, erwiderte Nanton. Natürlich kommt man nur selten auf dieses Thema zu sprechen. Das Leben eines Schäfers ist eher einsam, daher stehen nicht ständig Zuschauer herum, wenn ich ein Rudel Wölfe verjage. Tötest du sie nicht, wenn sie sich an deine Schafe heranmachen? Nicht so oft. Für gewöhnlich treffe ich einen Wolf an der Lende. Dann verschwindet er heulend im hohen Gras. Das verängstigt die anderen Wölfe, und alle rennen davon. In dem Talkessel oberhalb der Fälle leben fünf oder sechs Rudel, und ich habe sie gelehrt, sich von meinen Schafen fern zu halten. Wölfe sind kluge Tiere, und sie lernen ziemlich schnell, dass manche Dinge gefährlich sind. Gibt es noch andere Tiere in dieser Gegend? Nanton breitete die Hände aus. Die üblichen - Hirsche, Vögel, 22 5 Hasen und Eichhörnchen, und dann die Fledermäuse, die abends rauskommen und Insekten fressen. Na, das ist eine Idee, meinte Langbogen und grinste breit. Fledermäuse fressen Insekten, nicht wahr? Da unsere Feinde ja zum Teil Insekten sind, sollten wir uns vielleicht mit den Fledermäusen unterhalten und ihnen mitteilen, dass aus dem Ödland Futter zu ihnen unterwegs ist. Ich weiß nicht, aber so eine große Fledermaus habe ich noch nie gesehen, Langbogen, gab Nanton zurück, und außerdem spreche ich kein Fledermausisch. Darüber könnten wir uns mit Veltan unterhalten. Wenn er eine Woche oder so mit den Fledermäusen herumfliegt, versteht er ihre Sprache vielleicht und kann ein Bündnis mit ihnen schließen. Den Versuch wäre es wert, stimmte der Schäfer zu. Ich würde jede Hilfe annehmen, die ich kriegen kann. Skell ließ sich ein wenig zurückfallen. Anscheinend war Langbogen doch nicht ganz so unnahbar, wie er bislang geglaubt hatte. Aus der beiläufigen Unterhaltung zwischen dem Schäfer und dem Bogenschützen mochte man das jedenfalls schließen. Skell wusste, dass Langbogen und Rotbart gute Freunde waren, und er hatte auch die Freundschaft zwischen Langbogen, Hase und Keselo bemerkt. Offensichtlich öffnete Langbogen gerade auch eine Tür für den Schäfer. Skell war es zwar schleierhaft, aber der eisige Bogenschütze glaubte wohl, der Schäfer könne im Krieg von Wert für sie sein. Darüber sollte man vielleicht doch einmal nachdenken, räumte Skell schließlich ein.
23 Am nächsten Tag erreichten sie gegen Mittag das Ende des schmalen Bachbetts, und Skell bestaunte den wundervollen Anblick, den der Talkessel bot. Nanton der Schäfer hatte von einer Wiese gesprochen, aber eine so riesige Wiese hatte Skell nie zuvor gesehen. 226
Vom Südende des Tales bis zu seinem nördlichen Rand erstreckte es sich über mindestens zehn Meilen. Das grüne üppige Gras war hier und da mit Baumgruppen durchsetzt. Skell hatte vorher nicht ganz verstanden, was Veltan mit dem Geysir gemeint hatte, der die Hauptquelle des Vashs bilden sollte, und dementsprechend schüchterte ihn die riesige Fontäne ein, die Unmengen an Wasser fast hundert Fuß in die Höhe stieß. Offensichtlich gingen da unter der Erde einige interessante Dinge vor sich. Der Talkessel war an drei Seiten von zerklüfteten Bergketten gesäumt. In dem südlichen Gebirgszug gab es eine schroffe Kluft, wo die Wassermassen des Geysirs in die Tiefe stürzten - die Fälle von Vash. Der nördliche Bergzug wies in der Mitte eine wesentlich breitere Kluft auf, und Skell war ziemlich sicher, dass dieser Bruch von großer strategischer Bedeutung sein würde. Veltans Karte zufolge lag nördlich dieses Talkessels das Ödland, und diese Lücke war mit Sicherheit die Route, auf der die Eindringlinge einfallen würden. Hübsch hier, nicht wahr?, meinte Padan und schaute über die Wiese hinweg. Gar nicht so übel anzuschauen, schätze ich, stimmte Skell zu. Dann zeigte er auf die Lücke im nördlichen Bergrücken. Wir sollten uns in diesem Talkessel ein wenig umgucken, aber am besten konzentrieren wir uns auf jene Gegend da oben im Norden. Der Feind wird aus dieser Richtung kommen, und diese Kerbe zwischen den Bergen scheint mir ungefähr eine Meile breit zu sein. Vetter Sorgan und dein Kommandant sollten in ein paar Tagen eintreffen, und ich glaube, wir haben hier oben nicht ausreichend Leute, um dieses Loch zu blockieren, bis dein Freund Gunda mit dem
Hauptteil eurer Armee auftaucht. Wenn der Feind mit seinem Angriff aus der Wüste bis nächsten Monat wartet, wären wir gewappnet, doch sollte er sich schon nächste Woche zeigen, stecken wir ziemlich in der Patsche. Die Lücke zwischen den Bergen war offensichtlich relativ jung, denn die Felsflächen an der Scherung zeigten kaum Anzeichen von 227
Verwitterung. Der Hang, der von der Wüste unten heraufführte, war mit Geröll übersät, was darauf hindeutete, dass irgendwann eine Naturkatastrophe den Bergzug gespalten hatte. Habt ihr hier oft Erdbeben, Nanton?, erkundigte sich Langbogen bei dem Schäfer, während sie dastanden und zum Ödland hinunterschauten. Hin und wieder, ja, antwortete Nanton. Für gewöhnlich sind sie allerdings nicht heftig genug, um eine solche Lücke in ein Gebirge zu reißen. Skell blinzelte den Hang hinunter. Wie schade, dass die Felsen alle auf der Nordseite hinabgerollt sind, merkte er an. Auf der anderen Seite wären sie uns viel nützlicher. So würde ich das nicht unbedingt sehen, Skell, sagte Padan nachdenklich. Wenn Kommandant Narasan und dein Vetter Sorgan mit ihren Männern hier sind, könnten sie eine Reihe von Wällen quer über den Hang errichten. Das bringt den Angriff des Feindes ins Stocken und gibt unseren Leuten ausreichend Zeit, hier oben eine stärkere Mauer zu bauen. Damit erhöht sich unsere Chance, den Feind aufzuhalten, bis Gunda eintrifft. Das erinnert mich an etwas, das ich fast vergessen hätte, sagte Skell. Ahoi, Grock!, rief er. Aye, Käpt'n?, antwortete Grock. Steig runter zu meinem Bruder am Fluss und sag ihm, er möge mit seinen Männern allmählich heraufkommen. Und es ginge viel schneller, wenn sie Seile als Hilfe benutzen - so wie wir es mit deinem gemacht haben. Sag meinem Bruder, er soll mehrere Seile nebeneinander festmachen. Sonst wird es nämlich den ganzen Sommer dauern, wenn Narasans Leute nur einer nach dem anderen vorankommen. Wird erledigt, Käpt'n, antwortete Grock. Damit drehte er sich um und machte sich quer über die Wiese zu dem Bachbett auf. Da wäre noch eine andere Sache, über die wir nachdenken sollten, Käpt'n Skell, warf Hase ein. Langbogens Bogenschützen sind unterwegs in den Bergen und werden sich hier zu uns gesellen, und wenn sie erst eingetroffen sind, kann der Feind unsere 228
Männer nicht mehr so leicht bei der Arbeit am Fort stören. Die meisten Angreifer werden dann nämlich damit beschäftigt sein, zu sterben. Da hat er Recht, Skell, stimmte Padan zu. Mit Speeren und Schwertern können wir den Feind bestenfalls zum Stehen bringen. Die Bogenschützen sind in der Lage, die Flut in die andere Richtung zu lenken. Er blickte Langbogen an. Hast du eine Vorstellung davon, wann deine Freunde ungefähr ankommen werden? Langbogen kratzte sich an der Wange. Vermutlich erst in einigen Wochen, schätzte er. Sie müssen durch die Berge, daher kommen sie nur sehr langsam voran. Wenn Vetter Sorgan und Kommandant Narasan tatsächlich zu dem Zeitpunkt nach Norden aufgebrochen sind, den sie geplant hatten, dürften sie mittlerweile schon unten, wo der Bach in den Vash mündet, vor Anker liegen, schätzte Skell, und sobald Grock ihnen berichtet, wie die Dinge hier oben stehen, können sie mit dem Aufstieg beginnen. Ich würde sagen, sie werden innerhalb von zwei Tagen hier sein, und dann können sie mit der Arbeit an der Hauptfestungsanlage beginnen. Im Augenblick sind zwar noch einige Dinge in der Schwebe, doch wenn sich jeder um seine Aufgabe kümmert, dürften wir in einigen Tagen die Angelegenheit im Griff haben. Die Sonne versank hinter dem zerklüfteten Gebirgszug im Westen des Talkessels, als sie zu dem weiterhin Wasser speienden Geysir zurückgingen. Sonnenuntergänge in den Bergen sind sehr hübsch anzuschauen, können sich aber mit jenen auf dem Meer nicht messen. Sie zündeten in einiger Entfernung zum Geysir ein Feuer an, und Hase kochte einen großen Topf Bohnen. Dann stand Omago auf, um Holz nachzulegen, duckte sich jedoch, als eine Fledermaus aus dem Dämmerlicht angeflattert kam. Ich wünschte, diese Biester würden damit aufhören!, beschwerte er sich. Es liegt am Feuer, Omago, erklärte Nanton. Feuerlicht zieht Insekten an, und die Fledermäuse sind hungrig. 229
Langbogen riss unvermittelt den Kopf hoch und griff nach seinem Bogen. Stimmt was nicht?, erkundigte sich Hase und erhob sich. Bin mir nicht sicher, antwortete Langbogen. Irgendetwas ist nicht so, wie es sein sollte. Er blickte sich um, und plötzlich wurde seine Miene ernst. Ich glaube, es ist Zeit, sich die Nachbarn mal ein wenig genauer anzuschauen. Er holte einen Pfeil aus dem Köcher, den er um die Schulter geschlungen hatte, legte den Pfeil auf, zog die Sehne und schoss. Der Pfeil sauste in die Luft, und ein Stück vom Lagerfeuer entfernt fiel eine tote Fledermaus zu Boden. Langbogen ging hinüber, hob die Fledermaus an den Flügelspitzen hoch und betrachtete sie eingehend. Du solltest besser mal herkommen, Freund Rotbart, sagte er grimmig. Ärger?, fragte Rotbart und stand auf. Sieh es dir selbst an. Langbogen hielt ihm die tote Fledermaus hin. Rotbart zuckte zusammen. Ich denke, ich sollte mich am besten aufmachen und nach den Bogenschützen suchen, sagte er knapp. Was gibt es für Ärger?, wollte Skell wissen. Dies, antwortete Langbogen und wandte sich an Skell, um ihm die tote Fledermaus zu zeigen. Skell wich instinktiv vor dem abscheulichen Tier zurück. Es hatte die Flügel einer Fledermaus, den gewohnten pelzigen Körper und auch Krallenfüße, doch der Kopf war der einer Biene - oder möglicherweise auch einer Ameise - mit vorspringenden Mandibeln, die aus dem unteren Gesichtsteil ragten. Dazu hatte das Wesen hervortretende Augen und seltsame Fühler, die oben aus dem Kopf wuchsen. Nicht anfassen, Freund Skell, warnte Rotbart. Ich rieche Gift. Wieder Zähne und Stacheln? Wie bei den Schlangenmenschen? Ich weiß nicht genau, sagte Rotbart, aber ich halte es nicht für klug, mit den bloßen Fingern danach zu suchen. Er sah seinen Freund an. Mir scheint, sie sind uns wieder einmal zuvorgekom230
men, nicht wahr, Langbogen? Diesmal war ich sicher, wir wären vor ihnen da. Wie ist es dir aufgefallen, dass es keine gewöhnlichen Fledermäuse sind? Sie flogen nicht so gut wie eine Fledermaus, Freund Rotbart, und ich habe bemerkt, wie sie an mehreren Insekten vorbeigeflattert sind. Eine richtige Fledermaus hätte sich die Beute nicht entgehen lassen. Wie können wir uns gegen einen fliegenden Feind wehren?, rief Padan. Langbogen kann die Biester mit Pfeilen aus dem Himmel holen, erklärte Hase dem verängstigten Trog. Ich habe mal gesehen, wie er einen ganzen Schwärm Gänse abgeschossen hat. Ich würde keine Zeit verschwenden, Freund Rotbart, sagte Langbogen. Es ist ganz offensichtlich, dass das Vlagh sich wieder einmal in die natürliche Ordnung der Dinge eingemischt hat, daher brauchen wir die Bogenschützen bald, und zwar hier und nicht hinter den Bergen. Er hielt kurz inne und runzelte leicht die Stirn. Jetzt, nachdem ich ein wenig darüber nachgedacht habe, sieht die Sache vielleicht gar nicht so schlecht aus, wie ich zunächst angenommen habe. Wir haben keines dieser eigenartigen Geschöpfe während des Kriegs in Zelanas Domäne gesehen, und demzufolge handelt es sich bei ihnen vermutlich um das Ergebnis eines neuen Experiments. Falls das zutrifft, tappen sie vermutlich mehr oder weniger blind herum und versuchen herauszufinden, warum sie eigentlich hier sind und worin ihre Aufgabe besteht. Meinst du etwa, sie hätten keine Ahnung, was es heißt, einen Krieg auszutragen?, fragte Hase. Sie werden keine Ahnung haben, wie wir unsere Kriege austragen, stimmte Langbogen zu. Wenn es sich tatsächlich um eine neue Lebensform handelt, wird sie mindestens zwanzig Brüten brauchen, bis sie einigermaßen verstanden hat, wozu sie in der Lage ist. Diese Tiere leben nicht lange genug, um das alles innerhalb einer Generation zu begreifen. Ich würde sagen, in ihrem jetzigen Stadium sind sie allenfalls dazu fähig, herumzufliegen und uns zu beobachten. Kundschafter, meinst du?, fragte Skell. Genau. Sie leben nicht lange genug, um mehr zu erlernen. Unser Schamane, Einer-Der-Heilt, hat mir vor langer Zeit einige Dinge über die Diener des Vlagh erklärt. Ihre Lebenszeit ist auf höchstens sechs Wochen beschränkt, nachdem sie ihre endgültige Gestalt erreicht haben, und deshalb können sie nicht sehr viel lernen. Sie häufen ihr Wissen über Generationen an, deshalb werden diejenigen, denen wir später begegnen, viel klüger sein als die von heute. Vielleicht sollten wir diese tote Fledermaus dann verstecken, schlug Hase vor und schaute sich rasch
um. Ich kann dir nicht ganz folgen, Hase, sagte Keselo. Wenn sie nicht wissen, was Pfeile ihnen antun können, werden sie auch keinen Verdacht schöpfen, oder? Dann halten sie den Bogen nur für einen Stock und denken sich nichts dabei, wenn einige hundert Bogenschützen Pfeile auflegen und den Bogen spannen. Somit könnten wir es eine Woche oder zwei tote Fledermäuse regnen lassen, ehe sie begriffen haben, was eigentlich vor sich geht. Gute Idee, meinte Skell. Decken wir die tote Fledermaus also mit Ästen zu und tun wir so, als wäre nichts passiert. Ich bin nicht sicher, ob das funktionieren wird, Käpt'n Skell, sinnierte Hase, aber mir ist gerade eingefallen, dass wir uns diese Fiederviecher mit einem Fischernetz vom Leib halten könnten, damit sie uns nicht beißen, und wenn sie sich in dem Netz verfangen, können wir sie morgens bei Tageslicht mit unseren vergifteten Speeren pieken. Damit würden wir ihre Zahl deutlich verringern, nicht wahr? Netter Einfall, Hase, sagte Padan, aber wo bekommen wir ein Fischer netz her? Das dürfte kein Problem werden, Padan, erwiderte Skell. Jedes Maaglangschiff hat ein Fischernetz an Bord. Wenn wir Fische fangen, brauchen wir nicht so häufig zurück in einen Hafen und Bohnen kaufen. Ich werde mit Vetter Sorgan sprechen, sobald er eintrifft, aber nachdem er diese tote Insektenfledermaus gesehen hat, wird er Hases Vorschlag sicherlich befürworten. Der Gedanke an fliegende Feinde wird ihm nicht besser behagen als mir. 232
Skells Bruder kam gegen Vormittag des folgenden Tages aus der schmalen Schlucht des Baches und gesellte sich zu dem Kundschaftertrupp, der sich in der Nähe des Geysirs aufhielt. Na, so etwas sieht man ja nicht sehr oft, sagte er und zeigte auf den Geysir. Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so eine Wasserhose an Land gesehen habe. In seltsamen Ländern passieren seltsame Dinge, Tori, sagte Skell. Spannen deine Männer Seile am Bach entlang? Sie sind nur eine Stunde hinter mir zurück, und Vetter Sorgan und die Trogs sind ebenfalls schon unterwegs. Gut. Wir brauchen vermutlich schon bald die ersten Verteidigungsanlagen. Habt ihr Feinde entdeckt? Oh, ja. Wir haben sie zunächst nicht als Feinde erkannt, doch sie waren bereits da. Wieder diese Löcher im Boden? Von denen haben wir bis jetzt keine entdeckt. Es könnte natürlich trotzdem welche geben, aber die einzigen Feinde, die wir bisher gesehen haben, fliegen. Das meinst du nicht ernst? Ich fürchte doch, Tori. Dieses Vlagh hat wieder Experimente gemacht, und nun gibt es Fledermäuse, die alles beobachten. Fledermäuse}, fragte Tori ungläubig. Mich hat es auch nicht gerade glücklich gemacht, Tori. Wir müssen uns nur verkriechen, bis die Bogenschützen eintreffen zumindest gilt das für die Zeit nach Sonnenuntergang. Tagsüber haben wir keine gesehen. Sind sie giftig - wie die Schlangenmenschen, gegen die wir in der Schlucht gekämpft haben? Rotbart behauptet es zumindest. Langbogen hat eine dieser Fledermäuse abgeschossen, und so konnten wir uns das Tier anschauen. Stell dir vor: Rotbart sagte mir, er würde das Gift riechen. Wie können wir uns denn nach Sonnenuntergang vor ihnen schützen?, fragte Tori aufgeregt. 233
Ganz ruhig, Tori, sagte Skell. Dieser kluge kleine Schmied von der Seemöwe hat sich schon etwas einfallen lassen. Wir brauchen nur Fischernetze, und jedes Maagschiff der Flotte hat davon ja ausreichend im Kielraum. Sobald eine dieser Insektenfledermäuse sich im Netz verfängt, stellt sie kein Problem mehr für uns dar. Manchmal kann ich es fast nicht mehr ertragen, wie schlau dieser Bursche ist. Freu dich lieber, dass er auf unserer Seite steht, kleiner Bruder, sagte Skell.
24 Vetter Sorgan und Narasan der Trog kamen gegen Mittag an diesem Tag aus der schmalen Schlucht und erreichten Skells kleinen Trupp Kundschafter bei dem Geysir. Ahoi, Skell!, rief Sorgan. Hast du schon Schlangenmenschen hier oben gesehen? Nicht einen Einzigen, Vetter, antwortete Skell.
Dann sind wir vor ihnen hier, meinte Skell. Ich würde nicht unbedingt gleich zu feiern anfangen, Sorgan, sagte Skell. Möglicherweise werden wir die Schlangenmenschen bald vermissen. Was soll das denn heißen? Wir haben es mit einer ganz neuen Art Feind zu tun, Sorgan. Die wir gesehen haben, konnten fliegen. Das ist nicht lustig, Skell. Lache ich etwa, Vetter? Das denkst du dir doch bloß aus. Ganz und gar nicht. Dort drüben an dem Reisighaufen liegt ein Toter. Er hat Fledermausflügel und einen Insektenkopf. Komm und sieh es dir selbst an. Eines Nachts sind Dutzende herumgeflogen, und Langbogen hatte eines dieser untrüglichen Gefühle, die ihn manchmal beschleichen, also hat er eine der Fledermäuse mit dem Pfeil abgeschossen. Wie sich herausstellte, hat sein Gefühl ver2
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mutlich viele Leben gerettet. Wenn sie in der Dunkelheit herumflattern, sehen sie fast aus wie gewöhnliche Fledermäuse, doch sobald man genauer hinschaut, sind sie überhaupt nicht mehr >gewöhnlich<. Die Fledermäuse haben einen Insektenkopf, und um den Spaß noch zu erhöhen, riechen sie nach dem Gift, das die Schlangenmenschen im Frühjahr in der Schlucht hatten. Wir haben den Kadaver aufbewahrt, du kannst es dir also selbst ansehen. Skell führte sie zu dem Lager in der Nähe des Geysirs und enthüllte den Kadaver der Insektenfledermaus. Die Verwesung hatte bereits eingesetzt, deshalb stellte sich Skell so, dass er den Wind im Rücken hatte. Wie ihr sehen könnt, erklärte er ihnen, sieht sie wie eine gewöhnliche Fledermaus aus - oder wie eine Maus mit Flügeln -, bis auf den Kopf. An der Stelle würde man eher sagen: >Insekt<. Bist du sicher, dass dieses Ding giftig ist?, fragte Narasan skeptisch. Rotbart sagte, er könne das Gift riechen, erwiderte Skell. Ich glaube ihm. Jedenfalls werde ich das dumme Ding nicht mit bloßen Händen anfassen, um es auszuprobieren. Haben sie schon welche von deinen Leuten getötet?, fragte Narasan. Bislang nicht. Langbogen meint, diese Insektenfledermäuse würden zunächst nur kundschaften. Fledermäuse wären gute Kundschafter, nicht wahr? Ich hoffe zumindest, dass der Feind sie nur zum Kundschaften benutzt. Wenn die ganze feindliche Armee nur aus Insektenfledermäusen besteht, hätten wir eine Menge Ärger am Hals. Allein bei dem Gedanken an einen Feind, der fliegen kann, gefriert mir das Blut in den Adern. Hase hatte einen Einfall, der funktionieren könnte. Er schlug vor, wir sollten die Fischernetze heraufholen und damit jeden Ort, an dem wir uns nach Sonnenuntergang aufhalten, überspannen. Möglicherweise hilft das, sagte Narasan, weiterhin skeptisch. Wie weit von hier entfernt befindet sich die wahrscheinlichste Route der Invasion? Nur ein paar Meilen weiter nördlich, antwortete Skell. Ich glaube, dort könnten wir auch auf Probleme stoßen. Es gibt dort einen Gebirgszug, der eine Barriere zum Ödland darstellt, doch vor einer Weile hat ein Erdbeben eine Lücke hineingerissen, die mindestens eine Meile breit ist. Wir werden lange brauchen, um dieses Loch mit einem Fort zu sichern, die Sache lässt sich also keineswegs so leicht an wie in der Schlucht von Lattash. Schauen wir uns die Sache halt mal an, knurrte Sorgan. Der Trog-Kommandant blickte die Geröllhalde hinunter zur kahlen Wüste des Ödlands. Abhängig davon, wie viel Zeit uns bleibt, könnten wir diese losen Steine benutzen, um Barrieren zu bauen, die den Feind zurückhalten, bis wir eine Mauer quer durch die Gebirgslücke errichtet haben, meinte er. Nur müsste der Feind sich dazu auf dem Boden fortbewegen, entgegnete Sorgan. Wenn wir es mit den gleichen Schlangenmenschen wie in der Schlucht zu tun haben, wären solche Barrieren sicherlich klug, doch wenn sie über die Hindernisse Hinwegfliegen können, fallen sie über uns her, ehe wir zweimal geblinzelt haben. Er schaute sich um. Wo ist Langbogen?, wollte er gereizt wissen. Er hat mir heute Morgen gesagt, er wolle sich den Gebirgszug im Westen anschauen, Käpt'n, berichtete Hase. Ich glaube, er will sichergehen, dass sich der Feind nicht wieder in unseren Rücken schleicht wie in der Schlucht. Sorgan grunzte. Hat Rotbart dir ungefähr sagen können, wann die Bogenschützen eintreffen werden? Nachdem er die Insektenfledermäuse gesehen hat, ist er sofort losgelaufen, Käpt'n, sagte Hase. Er wird sie zur Eile antreiben. Gut. Wer werden sie brauchen, denke ich. Schwerter und Speere werden diesmal nicht viel nutzen.
Die Trogs sind beim Bauen von Festungen besser als wir, sagte Skell zu dem Pferdemenschen Ekial mit dem Narbengesicht. Wie wir gehört haben, gibt es überall im Land Trog-Festungen. Ich dachte, sie würden >Trogiten< genannt. Warum kürzt du es auf >Trog< ab?, fragte Ekial. 236 Ach, das haben mein Bruder und ich so von unserem Vater übernommen. Er glaubte, das Wort >Trogit< hätten sie nur erfunden, um sich wichtig zu machen. Papa hielt nicht viel von den Trogs. Was sie Schiffe nennen, sind doch eher schwimmende Waschzuber. Das macht uns die Arbeit allerdings sehr viel leichter, da wir jedes Trogschiff in Sichtweite binnen eines halben Tages einholen konnten. Aus welchem Grund wolltet ihr sie einholen? Damit wir ihnen ihr Gold rauben konnten, das sie irgendeinem Volk im Westen gestohlen haben. Wieso steht ihr dann in diesem Krieg auf der gleichen Seite? Die werte Dame Zelana hat meinen Vetter Sorgan angeheuert, um eine Flotte zusammenzustellen und hierher ins Land Dhrall zu kommen und einen Krieg für sie auszutragen. Sie ist Dahlaines Schwester, nicht wahr? Das habe ich jedenfalls so gehört, ja. Wie ist es, wenn man seine ganze Zeit auf dem Wasser verbringt?, fragte Ekial. Ein besseres Leben gibt es nicht, erklärte ihm Skell. Solange man ein gutes Schiff hat und gut im Wind liegt, ist es fast so schön wie fliegen. Die Luft ist sauber, und die Wellen funkeln in der Sonne wie Juwelen. Jetzt klingst du richtig poetisch, Skell, sagte Ekial und lächelte schwach. So wird man eben, wenn man sein Leben auf See verbringt. Was hat euch zu der Entscheidung veranlasst, einen Krieg auf dem trockenen Land zu führen? Geld, Ekial. Die werte Dame Zelana hat mehr Gold, als sie zählen kann, und Vetter Sorgan hat ungefähr hundert Blöcke davon ins Land Maag gebracht, um eine Armee anzuheuern. Das kommt mir bekannt vor, meinte Ekial. Dahlaine hat es genauso gemacht, als er nach Malavi kam, um Pferdemenschen zu werben. Ich glaube, ein Pferd habe ich noch nie gesehen, gestand Skell. Ich habe gehört, sie seien so ähnlich wie Kühe - nur hätten sie keine Hörner. 2
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Es gibt noch einige andere Unterschiede, erklärte Ekial. Pferde laufen gern, und ein gutes Pferd kann den ganzen Tag laufen, wenn du es darum bittest. Im Land Malavi haben wir nicht viele Bäume, daher dehnt sich das Grasland hunderte Meilen in alle Richtungen aus. In gewisser Weise fühlen wir uns auf dem Weideland genauso wie ihr Maags auf dem Meer. Nur werdet ihr nicht nass, wenn ihr vom Pferd fallt. Ja, das kommt eher selten vor. Plötzlich gab es einen grellen Blitz und einen krachenden Donnerschlag, und Veltan stand vor ihnen. Wo ist Narasan?, wollte er sogleich wissen. Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, hat er sich mit Sorgan den Hang zum Ödland angeschaut. Skell drehte sich um und rief einen der Männer, die an dem Wall arbeiteten. Du da! Such Narasan und sag ihm, Veltan wolle ihn sehen! Aye, Käpt'n, rief der Seemann zurück und lief den Hang hinunter. Stimmt etwas nicht?, erkundigte sich Ekial bei Veltan. Wir haben Ärger unten im Süden, meinte Veltan knapp. Eine ganze Flotte trogitischer Schiffe landet an den Stränden dort, und ich fürchte, diese Soldaten sind uns nicht freundlich gesonnen. Skell schickte Boten aus, um die wichtigsten Männer in der Lücke zum Ödland zu versammeln, während Veltan hin und her ging und Flüche vor sich hin murmelte. Was ist denn los, Skell?, fragte Sorgan, als er eintraf. Ärger im Anzug, Vetter, meinte Skell knapp. Gibt es sonst noch etwas Neues? Lass die Scherze, Sorgan, schnaubte Skell. Das ist eine ernste Angelegenheit. Wir haben jetzt zwei Invasionen anstatt nur einer. Das geht mir aber jetzt ein wenig schnell, Skell. Warum erzählst du mir nicht ein paar Einzelheiten? Veltan ist gerade eingetroffen, und er will mit uns reden. Soll er doch berichten, was vor sich geht. Er hat es schließlich gesehen,
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nicht ich. Zur Abwechslung machen wir es diesmal gleich beim ersten Mal richtig. Bis die anderen sich in Skells provisorischem Lager versammelt hatten, war es Veltan gelungen, sein Temperament wieder zu bezähmen. Also gut, meine Herren, begann er, nachdem ihr hier heraufgezogen seid, habe ich beunruhigende Nachrichten von der Südküste meiner Domäne erhalten, und ich schaute vorbei, um mir die Sache selbst anzusehen. Augenscheinlich gibt es im trogitischen Weltreich einige Leute, die großes Interesse am Land Dhrall hegen, und sie sind hergekommen, um sich umzugucken. Eine riesige Flotte trogitischer Schiffe liegt in einer großen Bucht zwischen zwei Halbinseln an der Südküste vor Anker, und die Männer dieser Flotte haben mehrere Dörfer besetzt und fast alle Einwohner gefangen genommen. Die meisten Männer sind offensichtlich Soldaten, die rote Uniformen tragen, doch andere sind wohl keine Soldaten, denn sie sind in schwarze Roben gekleidet und unbewaffnet. Priester, sagte Narasan entsetzt, und die Soldaten in roter Uniform gehören zur Armee der Kirche. Das erklärt einiges, was ich nicht recht verstehen konnte, meinte Veltan. Jedenfalls haben die Soldaten mehrere Lager mit Zäunen errichtet und die Gefangenen dort Zusammengetrieben. Und die mit den schwarzen Roben gehen in diese Lager und halten Reden an mein Volk. Das kommt mir irgendwie bekannt vor, sagte Padan. Lass mich raten. Die Priester wollen deinem Volk Märchen über Amar erzählen - wie wunderbar er ist und wie jeder, der nicht das Gesicht in den Staub drückt, wenn der Name Amar erwähnt wird, nach dem Tode nicht ins Paradies eingehen wird. Ist es ungefähr so? Demnach passiert das nicht zum ersten Mal, sagte Veltan. Ja, das ist schon öfter vorgekommen, antwortete Padan. Wenn ich mich recht entsinne, habe ich die Korruption der amaritischen Kirche erwähnt, als du mich überredet hast, das Betteln aufzugeben und mich wieder meinem Beruf zuzuwenden, Vel239
tan, merkte Narasan an. Die Kirche hat Korruption zu einer Kunstform erhoben, die vollkommen auf Habgier gründet. Der Gedanke, auch nur eine einzige Kupfermünze könnte ihnen entgehen, bereitet den Angehörigen des Klerus schlaflose Nächte. Entschuldige, Kommandant, sagte der junge Keselo, aber ist es nicht eigenartig, dass die Flotte der Kirche den Weg durch das Treibeis gefunden hat, nicht lange, nachdem Jalkan - ein früherer Priester geflohen ist und Veltans Kahn gestohlen hat? Eigentlich gar nicht so eigenartig, Keselo, antwortete Narasan kalt. Du hättest ihn erledigen sollen, als du die Gelegenheit hattest, Narasan, meinte Skell. Mein Bruder Tori und ich hatten eine interessante Idee, nicht lange nach deinem Befehl, Jalkan in Ketten zu legen. Wir haben ein wenig herumgescherzt, ihn abwechselnd mit Tritten in den Allerwertesten den Strand hinauf- und hinunterzubefördern. Aber wir entschieden, auf Dauer könnte das anstrengend werden, und daher schlug Tori vor, wir könnten ihn genauso gut gleich beerdigen - ob er nun tot sei oder nicht. Interessante Idee, stimmte Narasan zu. Da habe ich wohl tatsächlich einen schweren Fehler begangen. Er sah Veltan an. Sind die Sklavenschiffe schon eingetroffen? Mein Bruder hat mir davon erzählt, antwortete Veltan. Zuerst dachte ich, er scherzt. Ich fürchte nicht, Veltan, meinte Narasan. Das gehört gewissermaßen zur Tradition. Die Soldaten treiben die Eingeborenen zusammen, die Priester reden ihnen ein, der trogitische Gott werde sie bestrafen, wenn sie sich weigern, und dann kommen Sklavenschiffe, nehmen die Leute auf, bringen sie ins Reich zurück und verkaufen sie an ausgewählte Trogiten, die zu faul sind, um selbst zu arbeiten. So geht es schon seit Jahrhunderten. Dieses Mal wird das nicht passieren, sagte Skells Vetter Sorgan entschlossen. Zufällig habe ich eine große Flotte von Langschiffen unten an der Küste, und sobald ich wieder dort bin, werde ich die Schiffe versammeln und zu dieser großen Bucht fahren. Die Trogiten sind vielleicht mit dem Schiff hergekommen, aber ich 240
habe eine recht gute Vorstellung davon, wie man es einzurichten hat, dass sie zu Fuß nach Hause laufen müssen. Ach ja?, fragte Narasan. Dazu benutzt man Feuer, sagte Sorgan und grinste bösartig. Ich brenne jedes trogitische Schiff in dieser Bucht bis zur Wasserlinie nieder, und anschließend versenke ich die Sklavenschiffe. Er warf Veltan einen misstrauischen Blick zu. Du wusstest doch, dass dies passieren würde, nicht wahr, Veltan?, mutmaßte er. Es ist sicherlich kein Zufall, dass du den richtigen Mann zur richtigen Zeit am
richtigen Platz hast. Also ..., meinte Veltan und klang durchaus so, als wollte er sich rechtfertigen. Habe ich es mir doch gedacht, sagte Sorgan. Tut mir schrecklich Leid, Narasan, fuhr er fort, aber es scheint, als könne ich dir hier oben beim Krieg nicht helfen, weil ich an der Südküste gebraucht werde. Ich werde mich darum kümmern, dass unser zweiter Feind dir nicht in den Rücken fällt, während du hier oben zu tun hast. Ah, gut, sagte Narasan spöttisch bedauernd. Ich denke, damit werde ich schon zurecht kommen, Sorgan, aber ohne dich ist es irgendwie nicht das Gleiche. Dann lachten beide. Alles in allem war Skell gar nicht so sehr enttäuscht darüber, dieses Mal nicht gegen die Wesen des Ödlands kämpfen zu dürfen. Er würde mit seinem Vetter Sorgan durch die Schlucht des Bachs zu seinem Schiff zurückkehren und dann mit der Hai zur Südküste von Veltans Domäne segeln, um einen Seekrieg auszutragen. Skell wusste, wie man zu Lande kämpfte, wenn es notwendig war, aber er bevorzugte den Kampf auf dem Meer, und die Aussicht, eine komplette Trogflotte niederzubrennen, erfüllte ihn mit einem warmen Gefühl der Vorfreude. Dann spürte er wieder dieses Prickeln, und er war sich sicher, jemand, den er nicht sehen konnte, beobachtete ihn, und dieses Gefühl verdarb ihm fast den ganzen Spaß.
Die Herzliebste
25 Der Duft des Bratens, den Ära gerade in einem ihrer Ziegelöfen hatte, verriet, dass vielleicht noch ein Hauch Knoblauch fehlte, um den Geschmack abzurunden. Gewürze bildeten stets das Herz der feinen Küche, und Aras Nase hatte sie schon immer auf die richtige Fährte gebracht, solange sie sich erinnern konnte, und das war durchaus länger, als irgendjemand vermuten mochte. Sie verteilte den geriebenen Knoblauch auf dem Braten und schob den Topf zurück in den Ziegelofen. Das unaufhörliche Murmeln der Gedanken jener in ihrer Umgebung erschien ihr an diesem Nachmittag ein wenig leiser als sonst. Sie hörte natürlich Omago, aber daran war nichts Ungewöhnliches. Mit ziemlicher Sicherheit würde sie Omagos Gedanken noch hören können, wenn er eine halbe Welt entfernt wäre. Den Gedanken ihres Mannes wohnte eine fast poetische Schönheit inne, und diese Schönheit hatte sie ursprünglich zu ihm hingezogen. Der Traum von Dahlaines kleinem Jungen beunruhigte Ära sehr. Zu Beginn war in Ashads Traum
alles so gelaufen, wie sie es beabsichtigt hatte, doch dann war Ashad abgeschweift. Nun sahen sie sich der fernen Möglichkeit einer zweiten Invasion von Veltans Domäne gegenüber, die aus dem Süden erfolgen würde. Die Motive des Vlagh waren eindeutig, aber Ära konnte beim besten Willen nicht begreifen, welche Absichten die Fremdlinge aus dem Süden dabei verfolgten, indem sie über das Land Dhrall herfielen. Dahlaines ursprünglicher Plan war gar nicht so schlecht gewesen, hatte indes seine Tücken. Dahlaine hatte auf diese Weise die Mauer umgangen, die zwischen den beiden Generationen von Göttern stand die Mauer, die ihnen außerdem verbot, jegliches Leben auszulöschen -, doch an jenem Punkt hatte Dahlaine einen schweren Fehler begangen, da er die Träumer freigab, ohne Kontrolle über die Mächte zu haben, die von den Träumen entfesselt werden mochten. Ära war keine andere Wahl mehr geblieben. In der Vergangenheit hatte sie sich als Beobachterin stets zurückgehalten, doch Dahlaines dumme Entscheidung zwang sie hingegen, sich einzumischen und die Sache in die Hand zu nehmen. In einem sehr realen Sinn hatte Dahlaine die Träumer versorgt, doch Ära versorgte die Träume. Manchmal allerdings gingen die Träumer ihre eigenen Wege, und das verärgerte Ära ohne Ende. Dann erinnerte sie sich an etwas, das im Land der Maags geschehen war. Elerias Traum im Hafen von Kweta hatte sich eher als Warnung und weniger als Ankündigung einer absoluten Gewissheit entpuppt, und diese Warnung hatte Zelanas Bogenschützen geholfen, die Bedrohung durch den skrupellosen Maag Kajak abzuwenden. Konnte es sich bei Ashads Traum über die zweite Invasion von Veltans Domäne ebenfalls um eine Warnung handeln? Wenn das der Fall war, würde es in der wirklichen Welt vielleicht niemals geschehen. Zunächst einmal musste Ära mehr über die Menschen aus diesem fernen Lande im Süden in Erfahrung bringen. Sobald sie dieses Volk verstanden hatte, wäre sie vielleicht in der Lage, diese zweite Invasion zu verhindern, ehe sie überhaupt stattfand. An einem wunderschönen Morgen im Frühsommer teilte Veltan Omago und Ära mit, dass die angeheuerten Armeen an diesem Tag eintreffen würden und dass Yaltar noch immer sehr betrübt war wegen der katastrophalen Auswirkungen, die sein Traum mit den explodierenden Bergen gezeitigt hatte. Ära war ziemlich sicher, das Schuldgefühl des kleinen Jungen mildern zu können, daher beschloss sie, mit Veltan und ihrem Lebensgefährten hinunter zum Strand zu gehen. Noch ehe die ausländischen Schiffe die Küste erreichten, spürte Ära plötzlich den Wirrwarr, den die Flut der Gedanken der verschiedenen Männer an Bord bildeten. Vor allem waren sie natürlich neugierig. Die Ausländer hatten bis zum vergangenen Winter 246
nichts von der Existenz des Landes Dhrall geahnt, und daher war ihre Neugier verständlich. Außerdem stellte sie Besorgnis fest. Die Wesen des Ödlands waren vom Vlagh so manipuliert worden, dass sie mit nichts anderem in der Welt auch nur Ähnlichkeit besaßen, und das beunruhigte die Fremdlinge sehr. Immer wieder tauchte der Name von Zelanas Bogenschützen, Langbogen, auf. Mit wenigen Ausnahmen hatte dieser eiskalte Mann die Ausländer beeindruckt. Ära tastete sich behutsam in den Kopf des Bogenschützen vor und stellte fest, dass er keineswegs das kalte unmenschliche Ungeheuer war, für das ihn viele hielten. Er handelte zwar kühl, sobald die Situation es erforderte, doch hatte er ansonsten normale Gefühle. Dann berührte sie kurz ein Bewusstsein, angesichts dessen Verderbtheit es sie vor Schrecken und Ekel schüttelte. Einer der trogitischen Soldaten war der korrupteste und verdorbenste Mann, dem Ära je begegnet war, und sein einziger Antrieb bestand in einer maßlosen Gier. Soweit es diesen speziellen Soldaten betraf, war der Krieg mit den Dienern des Vlagh von keiner großen Bedeutung. Was er hingegen wirklich wollte, war das Gold des Landes Dhrall, und zwar bis zur letzten Unze. Dann bildeten mehrere Teile plötzlich ein Ganzes, und Ära begriff: Hier hatte sie die Quelle des zweiten Teils von Ashads Traum gefunden. Nun, ja, murmelte sie, wenn das nicht interessant ist? Was denn, Ära?, fragte Omago. Nichts, Herzliebster, antwortete sie. Ich habe nur laut gedacht. Ära nahm ihren Mut zusammen und drang erneut in die widerwärtigen Gedanken dieses Jalkan genannten Fremdlings ein, und sie fand nichts Gutes. Stattdessen stieß sie auf Arroganz in Hülle und Fülle, auf Gier, Grausamkeit, Feigheit und, vielleicht noch wichtiger, auf eine enorme Wollust. Na, das könnte die Lösung des Problems darstellen, dachte Ära. Wenn diese Bestie nicht mehr hier ist, wird die zweite Invasion in Ashads Traum möglicherweise gar nicht stattfinden.
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An diesem Punkt sah Ära eine Reihe interessanter Möglichkeiten. Wenn sie Jalkans Wollust so sehr anstacheln konnte, dass er bestimmte Grenzen überschritt, würde Omago ganz gewiss entsprechend reagieren. Sie war natürlich gezwungen, auf primitive Mittel zurückzugreifen, und das erfüllte sie mit Sorge. Das Endergebnis würde jedoch rechtfertigen, was sie zu tun hatte. Nach einem kurzen Gespräch am Strand führte Veltan eine Anzahl der Fremdlinge und zwei der Jäger aus Zelanas Domäne zu seinem Haus und dort in einen Raum, wo er eine Miniaturkopie des Geländes bei den Fällen von Vash aufgestellt hatte. Ära begann mit den Vorbereitungen zum Abendessen für Veltans Gäste, während Zelana, Eleria und Yaltar zuschauten. Ära konzentrierte sich allerdings kaum auf das Kochen. Sie verdrängte den Abscheu und wandte ihre Sinne in der Zeit rückwärts bis zu dem Punkt, wo sie den überwältigenden Paarungstrieb in jedem lebenden Männchen auslösen konnte, und, wie es bei allen Warmblütern der Fall war, gehörte dazu ein bestimmter Duft. Dieser Duft würde Jalkans Wollust auslösen, doch würde er zudem Omago zu roher Gewalt treiben, und das würde Ashads zweite Invasion ein für alle Mal aus der Welt schaffen. Als Ära in Veltans Kartenraum ging, um den Männern zu sagen, das Abendessen sei bereit, verströmte sie diesen primitivsten aller Gerüche, und Jalkan reagierte darauf, wie erwartet, mit einigen höchst unzweideutigen Bemerkungen, die nicht verhehlten, mit welchen Augen er Ära betrachtete. Omago reagierte auf diese Bemerkungen höchst angemessen, nur leider ging er nicht weit genug. Im letzten Moment ließ ihn sein angeborener Anstand zögern. Den Trieben seines primitivsten Instinkts zum Trotz tötete Omago den Feind nicht... Ära brauchte den Rest des Tages und den größten Teil der Nacht, um ihrer eigenen Urinstinkte wieder Herr zu werden, und am nächsten Tag fühlte sie sich wie ausgewrungen. Instinkte können manches bewirken, wenn sonst nichts hilft, aber sie kosten viel Kraft - besonders, wenn sie am Ende doch nicht zum anvisierten Ziel führen. 248
Es überraschte sie nur mäßig, als einige Tage später die Nachricht von Jalkans Flucht in Veltans Haus eintraf. Egal, was Ära anstellte Ashads Traum schien ihr immer einen Schritt voraus zu sein. Gleichgültig, was sie auch versuchte, der Traum durchkreuzte ihre Pläne. Aus irgendeinem Grund, den sie ganz und gar nicht begreifen konnte, war diese zweite Invasion absolut notwendig. Ich gebe auf, sagte sie und rang hilflos die Hände. Ohne Frage würde Omago in den bevorstehenden Krieg verwickelt werden, daher lauschte Ära aufmerksam den Beratungen in Veltans Kartenraum, und es war so, wie sie es sich gleich hätte denken können: Omago meldete sich freiwillig, mit einem Kundschaftertrupp die Küste hinauf zur Mündung des Vashs zu segeln, gemeinsam mit Sorgan Hakenschnabels Vettern Skell und Tori. Wie es manchmal passiert, hatte Ära eine starke Vorahnung, dass sich etwas höchst Bedeutsames ereignen würde, als ihr Gatte und der kleine Trupp Maags und Trogiten einen Weg erkundeten, den Nanton der Schäfer für sie ausgesucht hatte. Ära hatte schon vor langer Zeit gelernt, solche Vorahnungen niemals zu ignorieren, und so entschloss sie sich, den Kundschaftertrupp zu begleiten unauffällig, versteht sich. Während die beiden Maaglangschiffe entlang der Ostküste von Veltans Domäne nach Norden segelten, folgte Ära ihnen neugierig, und als Skell und einige seiner Freunde die Schiffe verließen und mit dem Schäfer an einem kleinen Nebenfluss des Vash, eher einem Bach, einen steilen Weg entlang nach oben stiegen, war Ära in Gedanken bei ihnen, wobei ihre Vorahnungen mit jeder zurückgelegten Meile stärker und stärker wurden. Gegen Vormittag des zweiten Tages, während sie weiterhin mühsam durch das schmale Bachbett nach oben kletterten, machte der stämmige Maag Grock eine aufregende Entdeckung. Ich habe Gold gefunden, Käpt'n!, rief er. Gold Tonnenweise in der Steilwand dort! Die anderen liefen ihm entgegen, und Grock zitterte heftig, als er Skell einen hellen gelben Splitter in einem Stück dunklen Steins 249
zeigte. Das muss doch Gold sein, Käpt'n?, fragte er und zitterte immer noch. Das einzige Gold, das ich je gesehen habe, hatte die Form von Münzen oder vielleicht von Ketten, die manche als Schmuck tragen, erwiderte Skell skeptisch. Dann schlug Keselo, der junge trogitische Soldat, vor, der kleine Schmied von Sorgans Langschiff sei wohl derjenige, der mit Gewissheit feststellen könne, um welches Metall es sich handelte. Ära spürte die gewaltige Enttäuschung bei Skell und den anderen, als Hase ihnen bewies, dass es sich
bei dem Fund nicht um Gold handelte. Keselo hatte offensichtlich von Anfang an gewusst, dass Grocks Entdeckung keineswegs das darstellte, wonach es aussah, und Ära erkundete die Gedanken des jungen Mannes. Grock hatte eine eigenartige Mischung aus Eisenerz und Schwefel entdeckt. Dies, so erkannte Ära, hatte die Vorahnung ursprünglich ausgelöst. Wenn Jalkans Gier nach Gold der Grund für die zweite Invasion in Ashads Traum war, konnte dieses falsche Gold eines Tages von großem Wert sein. Ära zog ihre Gedanken von Skells Kundschaftertrupp zurück, ging in ihre Küche und dachte über diese interessanten Möglichkeiten nach. Es erforderte einiges Experimentieren, bis Ära die richtige Mischung gefunden hatte, aber ihre Küche war genau der passende Ort für Experimente, und bei ihrem dritten Versuch erzeugte sie eine beträchtliche Menge jenes gelben Materials, das mit dem identisch war, welches Grock in den Bergen gefunden hatte. Mit den Ergebnissen ihrer Experimente war sie sehr zufrieden bis sie die Häufchen glitzernden Sandes überall in ihrer Küche bemerkte. Augenblicklich ging sie los, den Besen zu holen. 250
26 Die kleine Gruppe von Männern, die der Schäfer Nanton auf die Grasebene oberhalb der Fälle von Vash geführt hatte, erkundete eifrig die Gegend. Das Gelände war offener als die Schlucht von Lattash, und das erfüllte die Seefahrer mit Besorgnis. Angesichts der Anzahl von Dienern, die das Vlagh zum Angriff aus dem Ödland schicken konnte, verstand Ära diese Besorgnis. Als sich der Abend über das kleine Lager in der Nähe des Geysirs senkte, kamen die Fledermäuse heraus, und plötzlich bemerkte der Bogenschütze Langbogen etwas, das Ära frösteln ließ. Ein einziger Pfeil bestätigte die Richtigkeit von Langbogens Vermutung. Die Fledermäuse waren nicht das, was sie zu sein schienen, und Ära verspürte den plötzlichen Drang, ihren geliebten Gatten sofort nach Hause zu holen. Nach einer kurzen Beratung kam der kluge kleine Schmied mit Namen Hase auf die Idee, Fischernetze als Schutz gegen die fliegenden Feinde zu verwenden, und das minderte die Anspannung bis zu einem gewissen Grad. Dann unterhielt sich Langbogen kurz mit dem stämmigen Rotbart. Pfeile, so war nicht zu leugnen, würden gegen fliegende Feinde die beste Abhilfe schaffen, und Rotbart brach nach Westen auf, um die Bogenschützen, die aus Zelanas Domäne unterwegs waren, zur Eile zu drängen. Dann schickte Skell den Goldjäger Grock zurück, um mehr Männer zu holen - und Fischernetze. Die entschlossene Sachlichkeit der Männer half Ära, ihrer Panik Herr zu werden, und sie entschied, noch abzuwarten, ehe sie sich ihren Gatten unter dem Arm nehmen und mit ihm verschwinden würde. Skells Bruder Tori erreichte den Talkessel am folgenden Tag, und Narasan und Sorgan waren nur wenige Stunden hinter ihm zurück. Skell führte sie zu einer Lücke in den Bergen an der Nordseite und zeigte ihnen die Stelle, wo der Einfall der Diener des Vlagh auf ihrem Weg nach Süden am wahrscheinlichsten sein würde. 251
Dann traf Veltan mit seinem Lieblingsblitz ein und unterrichtete die Freunde von der zweiten Invasion, die schon in Ashads Traum vorgekommen war und die nun von Süden her ihren Verlauf nahm. Er beschrieb den Raubzug im Südteil seiner Domäne, und Ära holte daraufhin ihr Bewusstsein in die Küche zurück, um es gleich danach Richtung Süden auszusenden und sich die Sache selbst anzuschauen. An der Südküste von Veltans Domäne ragten mehrere große Halbinseln in die Mutter Meer hinein, und sie umschlossen große, gut geschützte Buchten. Entlang der Küste dieser Landzungen gab es mehrere Bauerndörfer, und die Weizenfelder erstreckten sich meilenweit ins Landesinnere. Doch nicht die Weizenfelder erregten Aras Aufmerksamkeit. Eine große Anzahl der plumpen trogitischen Schiffe mit roten Segeln lag in der Bucht vor Anker, und die bewaffneten Soldaten dieser Schiffe gingen in der Nähe der Dörfer an Land. Die Soldaten trieben die Bewohner der Küstenorte mit vorgehaltenen Schwertern zusammen und bauten vor jeder Siedlung einen Pferch, als wären die Menschen nicht besser als das Vieh. Ära brauchte eine Weile, bis sie ihre aufschäumende Wut wieder im Zaum hatte, und dabei half es ihr nicht, dass sie beobachtete, wie unbewaffnete Trogiten in wallenden schwarzen Roben die Pferche betraten und den verängstigten Dorfbewohnern Predigten über den einzigen wahren Gott der Welt
hielten. Als einer der Bewohner des größten Dorfes an der Küste dieser Bucht einen fetten Trogiten, der gerade seine Predigt gehalten hatte, darauf aufmerksam machte, dass der Gott dieser Gegend Veltan hieß, schlugen ihn zwei der rot uniformierten Soldaten bewusstlos. Sie hätten es noch weiter getrieben, doch Ära wehrte den Stockhieb eines der Ausländer sanft ab, und dadurch hätte er beinahe versehentlich seinem Kameraden den Kopf eingeschlagen. Hinter dieser Invasion steckte offensichtlich dieser scheußliche Trogit Jalkan, und als Ära sich anschickte, in Gedanken nach ihm zu suchen, war er nicht schwer auszumachen. Vor einem Bauern252
dorf in der Mitte der Küste der großen Bucht ankerten mehrere Trogitenschiffe mit roten Segeln. Die Bewohner waren allesamt eingepfercht, und die trogitischen Priester und ihre Soldaten hatten sich ihre Hütten angeeignet. Jalkan befand sich in der größten dieser Hütten, und er war nicht allein. Er unterhielt sich mit einem fetten Kerl in reich verzierter Robe. Niemand hat mir gegenüber jemals erwähnt, wo genau diese Minen liegen, Adnari Estarg, sagte Jalkan gerade. Ich nehme allerdings an, sie befinden sich oben in den Bergen. Wir brauchen genauere Angaben als >oben in den Bergen<, Jalkan, sagte der fette Mann. In diesem primitiven Teil der Welt könnte es Gold geben, aber wenn wir den Ort nicht kennen, an dem es liegt, ist es für uns genauso gut, als würde es sich auf der Rückseite des Mondes befinden. Deshalb haben wir doch die Regulatoren mitgebracht, Exzellenz. Die Regulatoren kennen Wege und Möglichkeiten, jeden zum Sprechen zu bringen. Das Gold ist hier, so viel steht fest. Du hast die Blöcke gesehen, die ich dir in Kaldacin gezeigt habe. Sie beweisen, dass es in diesem Teil der Welt Gold gibt, und um es zu finden, müssen wir lediglich die Regulatoren auf die Eingeborenen loslassen. Nachdem die Eingeborenen gesehen haben, wie einige ihrer Freunde bei der Befragung durch die Regulatoren einen höchst grausamen Tod erlitten haben, werden sie sicherlich zur Zusammenarbeit bereit sein. Wie lange wird es dauern, bis die Sklavenschiffe hier eintreffen? Mindestens eine Woche. Die Sklavenhändler kaufen; sie begeben sich nicht selbst auf die Jagd. Das ist doch hervorragend. Die Regulatoren brauchen nicht lange, um zu erfahren, was wir wissen müssen, und danach können wir die Eingeborenen an die Sklavenhändler verkaufen und sie somit aus dem Weg schaffen. Möglicherweise verdienen wir mit den Sklaven so viel Gold, wie wir in den Goldminen finden. Gold werde ich niemals ausschlagen, Jalkan, sagte der fette Mann und grinste breit. Ära zog sich ein wenig zurück. Das Gespräch der beiden hatte sie 253 erschüttert. Diese Menschen waren Ungeheuer. Ihre Bereitschaft, die Einwohner unter Einsatz von Folter zu verhören, stellte ein ernsthaftes Problem dar. Die Menschen des Landes Dhrall hatten sich niemals für Gold interessiert, und deshalb wussten die Bauern im Süden vermutlich nicht einmal, was das Wort bedeutete. Doch dann hatte sie eine Idee. Wenn die Trogiten so auf Gold erpicht waren, konnte Ära es sicherlich so einrichten, dass sie genug Geschichten darüber hörten, um sie schier in den Wahnsinn zu treiben. Sie richtete ihre Gedanken auf die einfachen Pferche, wo die trogitischen Soldaten die Dorfbewohner eingesperrt hielten, und beschwor einen uralten Mythos, den sie allen im Pferch in den Kopf einpflanzte. Von nun an würde jeder der Bauern, zu dem jemand Gold sagte, automatisch und Wort für Wort Aras absurde Geschichte herunterbeten. Mit einem schwachen Lächeln lehnte sie sich zurück und wartete darauf, dass der Spaß beginnen möge. Die Trogiten, die Jalkan Regulatoren genannt hatte, bewachten nun die Eingeborenen, und es waren raue, brutale Männer in schwarzen Uniformen, offensichtlich, um sie von den Soldaten in Rot zu unterscheiden. Derjenige, auf den sich Jalkan und sein fetter Freund vor allem stützten, hieß Konag, und Ära konnte ihn ganz und gar nicht leiden. Sie dachte, es wäre bestimmt schön, wenn er derjenige wäre, der die von ihr beschworene Geschichte Jalkan und Estarg übermittelte. Am Vormittag betrat also dieser Konag das Lager der Dorfbewohner und nahm sich einen ziemlich verängstigten Bauern vor. Wir müssen etwas über die Berge im Norden erfahren, sagte Konag. Wenn du uns sagst, was wir wissen wollen, werde ich dafür sorgen, dass du mehr zu essen und einen bequemeren Schlafplatz bekommst. Ich würde es dir gern sagen, Fremder, antwortete der Bauer, nur weiß ich nicht sehr viel über diese Berge. Ich bin nie weit von daheim fortgekommen. Was möchtest du denn wissen?
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Wo ist das Gold?, fragte Konag. Die Augen des Bauern begannen zu leuchten. Ach so. Das hättest du gleich sagen sollen. Alle hier wissen, wo das Gold ist. Aha? Wieso das? Vor langer, langer Zeit wurde ein Mann aus unserem Dorf seines Bauerndaseins überdrüssig und zog in die Berge weit im Norden, um nach anderem Land zu suchen. Schließlich erreichte er einen mächtigen Wasserfall, der aus den Bergen zum Ackerland unten herunterstürzte. Dann fand er einen schmalen Pfad, der ihn in das Bergland führen sollte, und dort erlebte er ein Wunder, wie er es nie zuvor gesehen hatte. Jenseits der Berge befand sich ein weites Gebiet, wo weder Bäume noch Gras wuchsen, denn das Land bestand lediglich aus Sand, und zwar nicht aus weißem Sand, wie an den Stränden der Mutter Meer, wo sie Vater Erde berührt. Der Sand hinter den Bergen war hell und gelb und glitzerte im Ödland mit großer Schönheit, und seitdem wissen alle Menschen im Land Dhrall, dass der Sand im Ödland aus reinem Gold besteht, und dieser Sand reicht weiter, als das Auge blicken kann. Und nachdem er dies gesehen hatte, kehrte der abenteuerlustige Bauer nach Hause zurück und ging niemals wieder weg, um nach seltsamen neuen Dingen Ausschau zu halten, denn er hatte erfahren, was hinter den Bergen lag, und seine Neugier war befriedigt. Alles in allem war Ära mit dem Mythos zufrieden, den sie den Dorfbewohnern im Pferch eingeimpft hatte. Es beinhaltete Abenteuer, Geheimnis und ein Ende, bei dem ein großer Schatz eine Rolle spielte. Zwar handelte es sich bei der Geschichte um eine Lüge, aber immerhin um eine gute Lüge. Konag reagierte auf die Erzählung des Bauern wie betäubt, drehte sich abrupt um und lief zu Jalkan. Der Bauer, der gerade Aras Mythos erzählt hatte, wirkte hingegen ziemlich verwirrt - was nicht so sehr erstaunte, denn er konnte sich an nichts davon erinnern. Das ist unmöglich, Regulator Konag!, rief der fette Priester mit Namen Estarg, nachdem der schwarz uniformierte Trogit ihm die 255
Geschichte des Bauern berichtet hatte. So viel Gold gibt es auf der ganzen Welt nicht. Ich wäre da nicht so sicher, Adnari, meinte Jalkan. Veltan hat Kommandant Narasan zehn Blöcke reinen Goldes im Hafen von Castano überbracht, und er hat sich dabei so benommen, als wären sie gar nichts. Ära steigerte die Habgier der drei Trogiten noch, indem sie ihnen ein anschauliches Bild von Gold in die Köpfe pflanzte. Ich würde dort hochgehen und einen Blick riskieren, Adnari, meldete sich Konag freiwillig. Wie willst du denn den Ort finden, von dem dieser Bauer geredet hat?, erkundigte sich Jalkan. Ich nehme Regulatoren mit. Die können alle Bauern, die wir unterwegs treffen, ausquetschen. Stiehl mir nichts von meinem Gold, wenn du dort ankommst, Konag, mahnte der fette Priester. Von unserem Gold, Adnari, korrigierte Jalkan. Ein guter Anteil des Goldes da oben gehört mir. Der fette Mann starrte ihn wütend an. Überprüfen wir die Sache doch erst einmal, ehe wir uns über das Verteilen streiten, meine Herren, schlug Regulator Konag vor. Vielleicht handelt es sich schlicht um eine Legende. Wenn dieser Bauer gelogen hat, schlitze ich ihm mit einem Messer den Bauch auf, verkündete Jalkan, und zwar mit einem stumpfen. Der Bauer hat doch gesagt, jeder in der Gegend würde die Geschichte über den Burschen kennen, der das Gold gefunden hat, wandte der fette Estarg ein und blinzelte verschlagen. Ehe du also gleich in die Wildnis losrennst, solltest du vielleicht andere Leute befragen, ob sie die Geschichte kennen. Wenn nicht, hat uns der erste Bauer angelogen, und wir können ihm gemeinsam den Bauch aufschlitzen. Alle eingepferchten Bauern bestätigten natürlich Aras Mythos, und einen Tag später stellte Regulator Konag ein Dutzend seiner 256 schwarz uniformierten Männer zusammen und führte sie durch die Felder auf die Berge zu, welche die Nordgrenze von Veltans Domäne bildeten. Ihre Route lag ein Stück westlich der stärker bevölkerten Küste, und deshalb begegneten ihnen selten wirkliche Bauern, doch Ära schickte ihnen einige imaginäre Bauern, die aushelfen sollten - und den Mythos wiederholen. Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr kam sie zu dem Schluss, dass Konag und seine Männer tatsächlich über die Berge klettern und ein weites Feld von Gold entdecken mussten. Allerdings genügte es, wenn sie glaubten, das Gold gesehen zu haben.
Dies würde auch ein Problem lösen, das sie beschäftigt hatte, seit sie begonnen hatte, ihren Plan zu entwickeln. In dem Talkessel oberhalb der Fälle von Vash befanden sich eine große Anzahl Seeleute von Sorgan und Soldaten von Narasan, und Ära wollte unbedingt vermeiden, dass Konag und seine Männer davon erfuhren. Meine Güte, murmelte sie, man braucht sich ja nur umdrehen, da bekommt man das Gefühl, es gebe neue Träumer, die uns helfen. Und dann lachte sie. Konag und seine Männer träumten, sie würden schnaufen und prusten, als sie die Höhe des imaginären Passes erreichten, der zu dem Talkessel oberhalb der Fälle von Vash führte, dennoch eilten sie - in ihrem Traum zumindest - weiter bis zu der Lücke in der nördlichen Gebirgskette. Und dort blieben sie stehen und staunten von Ehrfurcht ergriffen über das Wunder, das sich vor ihren Augen bis zum Horizont ausbreitete. Ein Meer von Gold glitzerte in der Morgensonne, und mehrere von Konags hartgesottensten Regulatoren weinten gar bei dem Anblick. Ära gönnte ihnen dieses Traumbild für eine Stunde, ehe sie die Männer wieder nach Süden umkehren ließ. Alle fühlten sich entsetzlich erschöpft, als sie den Fuß des riesigen Wasserfalls erreichten, daher entschieden sie, einen Tag Rast in ihrem alten Lager einzulegen - das sie in Wirklichkeit überhaupt 2 57 nicht verlassen hatten. So vermischte sich die Realität mit dem Traum bis zu dem Punkt, an dem Konag und seine Männer absolut davon überzeugt waren, es handele sich um die Wahrheit. Ära war recht zufrieden damit, wie die Sache gelaufen war. Dann gab sie Konag und seinen Regulatoren ein Gefühl der Dringlichkeit ein, daher erhoben sie sich früh am folgenden Morgen und brachen noch vor Sonnenaufgang nach Süden auf. Jalkan und Adnari Estarg hätten es bevorzugt, die Neuigkeiten geheim zu halten, doch Ära war ihnen bereits einen Schritt voraus. Konags Regulatoren verspürten plötzlich den überwältigenden Drang, jedem, den sie trafen, von dem zu erzählen, was sie unterwegs gesehen hatten, und so wusste bald die Hälfte der Kirchensoldaten im Lager an der Südküste von Veltans Domäne über das goldene Feld Bescheid, ja, sogar noch, ehe Konag es seinen Vorgesetzten berichtet hatte. Konag machte sich direkt zu der Hütte auf, die Jalkan und Estarg bei ihrer Ankunft für sich beschlagnahmt hatten. Nun?, fragte Jalkan bei Konags Eintreten. Hat der Idiot die Wahrheit gesagt? Nein, erwiderte Konag mit ernstem Gesicht. Der fette Kirchenmann stöhnte. Ich wusste, das war zu schön, um wahr zu sein, jammerte er. Nein, Exzellenz, widersprach Konag. Wenn man es recht betrachtet, kommt die Geschichte des Eingeborenen der Menge an Gold, die sich dort oben befindet, nicht einmal nahe. Der goldene Sand, der die Wüste hinter den Bergen bedeckt, reicht bis zum Horizont. Meine Männer und ich waren hoch in den Bergen, also würde ich schätzen, es sind mindestens fünfzig Meilen bis zum Horizont, und ich habe keine Ahnung, wie breit die Wüste ist. Hast du etwas von dem Sand mitgebracht?, fragte Jalkan gierig. Adnari Estarg hat uns das nicht befohlen, gab Konag zurück. Wir sollten nur die Geschichte des Bauern überprüfen und im Anschluss daran sofort zurückkehren. Ich hätte es zu gern mit eigenen Augen gesehen, Konag, jammerte Jalkan voller Enttäuschung. 258
Es ist gar nicht so weit nach Norden, Jalkan, erklärte Konag ihm. Du kannst hinaufsteigen und es dir anschauen, wenn du so viel Wert darauf legst.
27 Ära beobachtete in Gedanken die Südküste von Veltans Domäne, um einen besseren Eindruck davon zu erhalten, wie viele Trogiten sich dort inzwischen aufhielten. Natürlich gab es an der ganzen Küste Dörfer, und diese waren von Kirchensoldaten besetzt worden, die die Bevölkerung in Sklavenpferche gesperrt hatten. Im Verlauf weniger Tage erreichte die Nachricht von Konags Entdeckung diese anderen Dörfer, und eine wachsende Anzahl von Soldaten befand, das Leben in der Armee sei ihrer nicht mehr würdig. Zunächst verschwanden die Fahnenflüchtigen im Schutz der Dunkelheit, doch dann impfte Ära den zurückgebliebenen Soldaten eine wachsende Unrast ein. Ihre Botschaft erreichte ihr Ziel. Wenn ihr zu lange wartet, werden diejenigen, die schon desertiert sind, alles Gold bekommen, und für euch bleibt nichts mehr übrig. Dieser Satz schien gute Dienste zu leisten.
Die Soldaten verließen nun am helllichten Tage ihre Posten, und wenige Tage später entsandten die Priester, die theoretisch den Befehl über die verstreuten Dörfer hatten, dringende Nachrichten an Adnari Estarg, in denen sie baten, weitere Soldaten zu schicken. Allerdings gab es nun keine Soldaten mehr, da sie Bataillonsweise desertierten. Ein paar Tage später trafen auch keine Boten mehr ein, und nun erschienen die Priester persönlich und baten um Hilfe. Adnari Estarg befahl den Priestern, in ihre Dörfer zurückzukehren, und einige gehorchten dem Befehl - aber eigentlich nicht sehr viele. Ära dehnte ihre Dringlichkeitsmahnung auf die Priester selbst aus, und bald gesellten sich diese zu den Deserteuren. Aras Gedanke erreichte auch das Dorf, wo Jalkan und Adnari Estarg zunehmend unter Druck gerieten. Ihre wachsende Panik rief ein gewisses Entzücken bei ihr hervor. Den Bauern mit Namen Bolan mochte Ära besonders gern, denn er hatte ihren Mythos des Goldes so gut wiedergegeben, dass Konag in die Falle gegangen war, also wendete sie sich ihm zu und machte ihn auf die Tatsache aufmerksam, dass die Sklavenpferche nicht mehr von Soldaten bewacht wurden und es somit eigentlich keinen Grund mehr gebe, in ihnen zu verweilen. Bolan begriff dies sofort, und nachdem die wenigen Priester, die sich noch im Dorf aufhielten, an diesem Abend zu Bett gegangen waren, rissen Bolan und seine Freunde die Westwand des Pferches ein und verschwanden in die Nacht. Früh am folgenden Morgen kamen sieben trogitische Schiffe in Sicht, alle vollständig schwarz bemalt, und Ära glaubte genau zu wissen, wer - und was - die Männer an Bord waren. Wenn sie mit ihrer Vermutung richtig lag, war Bolan und den übrigen Dorfbewohnern gerade noch rechtzeitig die Flucht gelungen. Eine Anzahl Männer mit rauen Gesichtern begab sich an Land, und einer der wenigen zurückgebliebenen Priester ging ihnen am Strand entgegen. Ich werde Adnari Estarg deine Ankunft mitteilen, Kapitän Brulda, sagte der junge Priester zu demjenigen, der anscheinend der Anführer dieser neuen Fremdlinge war. Der grimmige Kerl lachte. Das würde ich an deiner Stelle nicht tun, junger Mann, riet er. Wenn du Estarg vor Mittag weckst, werden ihm eine Menge unangenehmer Dinge einfallen, die er mit dir machen kann. Wo sind die Sklavenpferche? Wir würden uns die Ware gern selbst anschauen, ehe uns Estarg seine Märchen über diese neuen Sklaven auftischt. Der Adnari würde dich doch niemals belügen, Kapitän, empörte sich der junge Priester. Oh, tatsächlich?, fragte Brulda sarkastisch, und die Sonne geht morgen im Westen auf? Estarg würde die Wahrheit nicht ein260
mal dann erkennen, wenn man sie ihm auf die Nase bindet. Wir wollen die Sklaven sehen, Junge. Führe uns hin. Bist du sicher, dass diese Sklaven gesund sind?, fragte einer der Fremden den Priester, während der sie zum Pferch führte. Wir haben letztes Jahr unten an der Küste von Tanshall fünf Schiffsladungen Sklaven gekauft, und mehr als die Hälfte sind uns innerhalb einer Woche an einer Krankheit krepiert. Oh, sie sind gesund, versicherte der Priester ihm, und sie sind sogar schon Bauern, also brauchen ihre neuen Besitzer ihnen die Arbeit auf dem Feld nicht erst beizubringen. Da könnten wir womöglich einen höheren Preis erzielen, stimmte der Sklavenhändler zu. Der leere Pferch und seine eingerissene Westwand brachten die Besucher jedoch ziemlich aus der Fassung, und sie eilten ins Dorf zurück, um die Angelegenheit mit Adnari Estarg zu besprechen. Du Idiot!, brüllte Brulda den fetten Kirchenmann an. Warum hast du denn bei diesem wackligen Pferch keine Wachen aufstellen lassen? Wovon redest du, Brulda?, wollte Estarg wissen, der noch halb zu schlafen schien. Deine Sklaven sind in der Nacht ausgebrochen, du Narr! Dein Sklavenpferch ist leer! Unmöglich! Geh doch selbst nachschauen, du Dummkopf! Jalkan stürmte aus der Hütte und kehrte nach einer Weile fluchend zurück. Sie sind verschwunden, Adnari, verkündete er. Sie haben die wackelige Westseite des Pferches irgendwann im Lauf der Nacht einfach umgestürzt und sind davongerannt. Dann geh und jage sie!, schrie Estarg. Ich? Ganz allein? Mach dich nicht lächerlich! Aber mein ganzes Geld läuft davon! Hilf ihm, Brulda!
Nein, bei deinem Leben, Estarg, sagte der Sklavenhändler. Ich bin hergekommen, um Sklaven zu kaufen, nicht, um sie zu fangen. Das Zanken und Schreien dauerte noch eine Zeit lang fort, und Ära amüsierte sich köstlich dabei. 261
Dann sah sie etwas, das ihr den Tag weitaus mehr zu versüßen versprach. Denn in diesem Moment liefen mehrere Dutzend Langschiffe der Maags, angeführt von Sorgan Hakenschnabels Seemöwe, in die Bucht ein. Die Schiffe brennen, Adnari! Der junge Priester, der die Sklavenhändler am Strand begrüßt hatte, stürmte voller Panik in die Hütte. Was sagst du da?, brüllte der Sklavenhändler Brulda. Gerade sind Piratenschiffe aufgetaucht und haben alle Schiffe in der Bucht in Brand gesetzt! Die Reaktion der versammelten Schurken in der Hütte fand Ära insgesamt doch recht befriedigend. Wenn sechs Männer gleichzeitig durch eine Tür wollen, stoßen sie an physikalische Grenzen. Schließlich gelang es dem Sklavenhändler Brulda unter Einsatz seines kurzen Schlagstocks, sich hindurchzuzwängen. Meine Schiffe!, schrie er in höchster Not. Meine Schiffe brennen! Tu doch jemand etwas! Rettet meine Schiffe! Leider gab es für die Trogiten am Strand nichts, womit sie irgendein Schiff in der Bucht hätten retten können, und die Männer, die sich an Bord aufhielten, mussten ins Wasser springen und an Land schwimmen, wenn sie nicht bei lebendigem Leib verbrennen wollten. Die Maags kannten sich offensichtlich mit ihrem Handwerk aus, und nichts außer einem Sturzregen hätte das Feuer eindämmen können, doch leider zeigte sich am blauen Himmel nicht das kleinste Wölkchen. Die Trogiten am Strand beobachteten bestürzt, wie in Rauch und Flammen aufging, was sie als Einziges wieder nach Hause zurückbringen konnte. Als Eroberer waren sie hergekommen, und nun war die Falle für sie selbst zugeschnappt. Ach, nein, murmelte Ära mit gespieltem Mitleid. Wie schade. Dann lachte sie. Ihr standen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, die schockierten Trogiten ihr spöttisches Gelächter hören zu lassen, aber sie entschied sich dagegen. Bei ihrem kleinen Komplott hielt sie weitere hübsche Überraschungen für diese Halunken bereit, und sicherlich würden diese ihr mehr Freude machen, wenn die Trogiten nicht darauf gefasst waren. Du übertreibst, Jalkan, behauptete Adnari Estarg. Diese Eingeborenen sind kaum streitlustiger als Schafe. So etwas würden sie nicht wagen. Ich würde mein Leben nicht darauf verwetten, erwiderte Jalkan in aller Offenheit. Wir haben sie nicht besonders gut behandelt, als wir hier gelandet sind, daher würde es mich nicht überraschen, wenn sie Pläne schmiedeten, zurückzukehren und uns alle umzubringen. Amar würde das niemals zulassen!, protestierte der junge Priester, der die Sklavenhändler am Strand begrüßt hatte. Werde erwachsen, Junge, sagte Brulda, der Sklavenhändler. Amar ist nur ein Mythos, und wir leben in der realen Welt. Er wandte sich an Jalkan. Besitzen diese Eingeborenen überhaupt Waffen? Im ersten Krieg habe ich einen Bogenschützen gesehen, der über eine Viertelmeile hinweg tödliche Pfeile verschießen konnte, Brulda. Diese Eingeborenen wissen ganz genau, wie sie einen Feind umbringen können, und im Augenblick wären mit >Feind< wir gemeint. Wenn uns die fünf Armeen, mit denen wir hergekommen sind, weiterhin zur Verfügung stehen würden, gäbe es überhaupt keine Probleme, doch leider sind sie desertiert, als sie von dem Gold in den Bergen gehört haben, also sind wir allein und ohne Schutz. Sollten wir hier bleiben, wird wohl keiner von uns die nächste Woche lebend überstehen. Das trifft den Nagel auf den Kopf, nehme ich an, räumte Brulda ein. Ich sehe da keine große Wahl für uns. Wenn wir weiter atmen wollen, müssen wir ebenfalls nach Norden ziehen und versuchen, die Deserteure wieder Zusammenzutreiben. Ära lächelte. Sie hatte den Schurken wirklich nicht viele Möglichkeiten gelassen, und der Sklavenhändler Brulda hatte sogleich die richtige gewählt. 262
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Ich brauche einige deiner Männer, Brulda, beharrte der fette Priester, vermutlich zwanzig oder so. Wofür? Sie müssen eine Sänfte für mich bauen, in der ich sitzen kann, sollten wir tatsächlich hinter den Deserteuren herlaufen müssen. An diesem Punkt brach Brulda in Gelächter aus. Was ist daran so
lustig?, wollte Estarg wissen. Du glaubst doch nicht im Ernst, meine Männer würden dich tragen, Estarg, oder? Ich bin ein Adnari der Kirche von Amar, Brulda, verkündete Estarg hochmütig. Deine Männer haben die religiöse Verpflichtung, mir auf jede Weise zu dienen, die ich für angemessen halte. Es ist unter meiner Würde, wie ein Gemeiner auf den eigenen Füßen zu gehen. Dann bleib hier. Mir ist das gleichgültig. Ich ziehe nach Norden - und zwar so schnell ich kann. Ich verbiete es!, schrie Estarg. Verbiete, was du willst, fetter Mann, entgegnete Brulda, aber ich habe aufgehört, Befehle von dir anzunehmen, als meine Schiffe brannten. So, wie die Dinge nun liegen, ist jeder auf sich selbst angewiesen. Wenn du mit uns anderen nach Norden willst, wirst du gehen müssen - auf deinen eigenen Füßen. Das ist unerhört! Du weißt doch, wie man geht, oder, Estarg?, fragte Brulda und grinste bösartig. Aber ... Estarg legte beide Hände unter seinen Bauch. Die Devise heißt Gehen oder Sterben, Estarg, und es liegt ganz bei dir. Ära verabscheute diesen Sklavenhändler, und dennoch musste sie eingestehen, dass er genau den richtigen Ton für den Adnari getroffen hatte. Alles in allem war Ära zufrieden damit, wie die Sache ausgegangen war. Es gab jetzt zwei feindliche Armeen in Veltans Domäne, allerdings handelte es sich bei beiden nicht um Armeen im landläufigen 264
Sinne des Wortes. Die Diener des Vlagh wurden von dem Bedürfnis nach mehr Land und mehr Nahrung getrieben, daher würden sie ohne Verstand nach Süden vorpreschen, ohne Rücksicht darauf, was - oder wer - ihnen im Weg stand. Die Diener von Jalkan - oder eigentlich die von Estarg - wurden von ihrer Gier nach Gold getrieben, und sie würden ebenso ohne Verstand nach Norden stürmen, gleichgültig, was ihnen im Weg stand. In ferner, ferner Vergangenheit hatte Ära einmal jemanden von einem Krieg der gegenseitigen Vernichtung sprechen gehört. Das war sicherlich eine eigenartige Ausdrucksweise, aber in dieser Situation passte es recht gut zu den Ereignissen, die sich bald zutragen würden.
Die Südküste
28 Tori Jodanson von Kormo war durchaus erleichtert, als Vetter Sorgan sich freiwillig für diesen speziellen Seekrieg meldete. Die Berge waren hübsch anzuschauen, allerdings behagte es Tori nicht, an Orten zu kämpfen, wo der Feind sich hinter Bäumen verstecken oder aus dem Hinterhalt angreifen konnte. Stattdessen bevorzugte er offene Räume, wo er genau sah, welche Manöver der Gegner machte. Und außerdem war er sicher, die Lerche würde es ihm nicht verzeihen, wenn er sie nicht an dem Spaß teilnehmen lassen würde. So sind eben manche Schiffe. Nach dem Abendessen wurden die Fischernetze aufgehängt, um die Insektenfledermäuse abzuwehren, und danach brachte Skell einen Punkt zur Sprache, den Sorgan möglicherweise übersehen hatte. Ich denke, wir könnten da auf ein Problem stoßen, Sorgan, sagte er. Oh? Und zwar? Diese kleine Schlucht mit dem Bach hinunter zum Fluss ist nicht sehr breit, und im Augenblick sind dort die Trogs unterwegs. Sie kommen hoch, wir dagegen wollen nach unten. Ich nehme an, wir könnten uns zum Fluss durchkämpfen, aber das würde unseren Narasan womöglich verärgern. Sorgan runzelte die Stirn. Da könntest du Recht haben, Skell, räumte er ein. Ich werde mich mal mit diesem Schäfer unterhalten, der uns den Weg gezeigt hat, bot sich Tori an. Er kennt die Gegend besser als sonst jemand, und falls es einen anderen Weg gibt, um zurück zum Fluss zu gelangen, wird er ihn kennen. Das klingt sehr vernünftig, Sorgan, stimmte Skell mit seinem Bruder überein. 269
Sorgan nickte. Warum gehst du nicht gleich zu ihm und fragst ihn, Tori?, meinte er. Wir müssen dringend nach Süden, und herumsitzen und Däumchen drehen bringt uns nicht weiter. Weißt du, Vetter, entgegnete Tori, ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal Däumchen gedreht habe. Geh schon, Tori, meinte Sorgan müde. Omagos Freund Nanton, der Schäfer, hatte seine Herde zum südlichen Ende der Grasebene geführt, vermutlich, damit die Soldaten am Nordende nicht in Versuchung gerieten, seine Schafe als Braten zu verwenden, und Tori fand ihn neben einem kleinen Feuer bei der Betrachtung des Sternenübersäten Himmels. Ist es nicht sehr einsam hier?, fragte Tori. Ich meine, man kann schließlich mit niemandem reden. Ich kann mit meinen Schafen reden, antwortete Nanton. Sie antworten zwar nicht so häufig, aber sie hören ganz gut zu. Stimmt etwas nicht? Also, sagte Tori und setzte sich ans Feuer, dieses Bachbett, das du uns gezeigt hast, hat sich als recht praktisch erwiesen, doch inzwischen drängeln sich die Trogs darin. Vetter Sorgan und wir anderen aus dem Land Maag müssen jedoch möglichst schnell zum Fluss zurück. Über den Wasserfall seid ihr im Nu unten, sagte der Schäfer und ließ sich keinerlei Lächeln anmerken, aber das wäre vielleicht keine so gute Idee. Er runzelte leicht die Stirn. Es gibt einen weiteren Bach eine Meile nördlich vom ersten. Ich würde niemandem empfehlen, dort hochzusteigen, aber nach unten geht es gut, wenn man genug Seile hat. Es ist zwar nicht unbedingt eine regelrechte Steilwand, unterscheidet sich allerdings auch nicht sehr davon. Würden deine Männer an Seilen nach unten klettern können? Wir sind Seeleute, Nanton. Wir verbringen mindestens die Hälfte unserer Zeit damit, Seile hinauf- und hinunterzuklettern. Wie lange würden wir bis zum Fluss zurück brauchen? Nicht länger als einen halben Tag. Bergab geht es schneller als bergauf. Nun, ich glaube, da könntest du Recht haben, Nanton!, rief Tori mit gespielter Überraschung. Warum habe ich nicht gleich daran gedacht? Der scheinbar humorlose Eingeborene lachte tatsächlich, und Tori vermerkte einen Punkt auf einer imaginären Strichliste. Er fühlte sich immer gut, wenn er jemanden zum Lachen brachte. Tori war schon halb zum Lager der Maags zurückgekehrt, als er begriff, dass nicht alle Probleme damit gelöst wären, zum Fluss zurückzukommen, und deshalb suchte er Kommandant Narasan auf. Im trogitischen Lager herrschte Ordnung, im Gegensatz zu dem seines Vetters Sorgan, wo die Zelte und Barrikaden kreuz und quer standen. Trogs schienen von geraden Linien besessen zu sein, aus welchem Grund auch immer. Nachdem Tori einige Soldaten gefragt hatte, wo er Kommandant Narasan finden würde, entdeckte er schließlich das große Zelt des Freundes seines Vetters Sorgan.
Wir hätten da ein kleines Problem, Kommandant, sagte Tori, nachdem er eingetreten war. Oh? Was bereitet dir Sorgen, Kapitän Tori? Ich hoffe, du wirst nicht beleidigt sein, sagte Tori, aber deine Schiffe drängen sich unten auf dem Fluss so sehr, dass die Flotte von Vetter Sorgan nicht nahe genug herankommen kann, um uns an Bord zu nehmen, nachdem wir unten eingetroffen sind. Wenn wir die zweite Invasion abwehren sollen, müssen wir jedoch schnell nach Süden gelangen. Gibt es eine Möglichkeit, den Kapitänen zu befehlen, ihre Schiffe zur Seite zu bewegen, damit wir durchkönnen? Für mich persönlich nicht, Tori, antwortete Narasan, aber ich kenne eine Möglichkeit, wie du das erledigen kannst. Du willst mich zum General in deiner Armee machen, Narasan?, fragte Tori. Ich fühle mich überaus geschmeichelt, doch würde das nicht das Misstrauen der Kapitäne erregen? Sehr lustig, Tori, gab Narasan zurück. Was ich wirklich machen kann, ist Folgendes: Ich schreibe Befehle, unterzeichne das Papier und überreiche es dir. Wenn du unten am Fluss bist, wedelst du mit dem Papier, und meine Schiffe machen Platz. 270
Was für eine brillante Idee!, freute sich Tori. Warum habe ich nicht selbst daran gedacht? Musst du dich eigentlich über alles lustig machen, Tori?, fragte Kommandant Narasan. Manchmal bist du genauso schlimm wie Rotbart. Lachen ist gesund, Kommandant. Ich bin es meinen Freunden schuldig, sie so viel wie möglich zum Lachen zu bringen. Warum gehst du nicht zu Sorgan und bringst ihn zum Lachen oder deinen Bruder? Ich glaube, Skell weiß überhaupt nicht, wie das geht. Oh, er weiß es schon, Kommandant, aber er mag es nicht. Unser Vater hat ihm damals befohlen, niemals zu lachen, und Skell tut immer, was Papa ihm sagt - oder in diesem Fall, was Papa ihm sagt, nicht zu tun. Ich kann Skell zum Lachen bringen, wenn ich will, doch zuerst muss ich ihm einen Stiefel ausziehen. Das ging mir jetzt ein bisschen schnell, Tori. Es ist schwierig, jemanden an den Fußsohlen zu kitzeln, wenn er Stiefel trägt, Kommandant. Vetter Sorgan unterhielt sich mit Veltan, als Tori bei ihm eintraf. Ich glaube, ich muss in den Kartenraum, wenn wir wieder in deinem Haus sind, sagte Sorgan gerade. Wir haben dem südlichen Teil deines Territoriums kaum Aufmerksamkeit geschenkt, als wir uns die Karte angeschaut haben. Von dort unten haben wir keine Schwierigkeiten erwartet, da die Schlangenmenschen ja aller Wahrscheinlichkeit nach von Norden kommen. Sind die Türen deines Hauses vielleicht abgeschlossen oder irgendwie versperrt? Im Land Dhrall sperren wir die Haustüren nicht ab, Sorgan. Und wie verhindert ihr, dass euch alles gestohlen wird? Veltan lächelte, antwortete jedoch nicht. Ach, meinte Sorgan und wirkte leicht verlegen. So etwas tut ihr nicht? Nein, Kapitän. Wir bestehlen uns nicht gegenseitig. Wir überlassen das Stehlen dem Vlagh und seinen Untergebenen. Der Kartenraum ist offen. Schau dir alles in Ruhe an. 272
Die Maags aus Vetter Sorgans Flotte hatten ihre gewöhnlichen Strickleitern im Krieg in der Schlucht von Lattash sehr nützlich gefunden, und deshalb hatten sie nun Dutzende davon zum Talkessel oberhalb der Fälle von Vash mitgebracht. Nantons Beschreibung des zweiten Weges entsprach ziemlich genau den tatsächlichen Verhältnissen, erkannte Tori, und die Strickleitern waren die fast perfekte Lösung für ein Problem, das ansonsten ernsthafte Schwierigkeiten bereitet hätte. Sorgan, Skell und Tori brauchten weniger als einen halben Tag, um den Fuß des beinahe senkrecht abfallenden Bachbetts zu erreichen. Dann suchten sie am Flussufer nach Padans Freund, dem Brigadekommandanten Danal. Ganz bestimmt nicht!, meinte der schlanke dunkelhaarige Offizier entschieden, als Vetter Sorgan ihm schlicht befahl, die Schiffe aus dem Weg zu schaffen. Ach - warum lässt du mich diese Angelegenheit nicht klären, Vetter?, schlug Tori vor. Auf dich wird er kaum mehr hören als auf mich, Tori. Ich muss einfach nur in einem anderen Tonfall mit ihm reden, Vetter Sorgan, erwiderte Tori milde und reichte dem sturen Trog Narasans Schreiben.
Danal las den von Narasan unterschriebenen Befehl zweimal und fügte sich schließlich. Ich denke, es wird ungefähr eine Stunde dauern, bis wir unsere Schiffe auf die andere Flussseite gebracht haben, sagte er. Bereitet euch das Probleme? Eigentlich nicht, antwortete Tori. Unsere Männer sind noch in dem steilen Bachbett unterwegs, aber wir müssen die Schiffe hierher holen, damit die Leute an Bord gehen können. Vermutlich sind wir morgen Vormittag wieder aus dem Weg. Das würde ich begrüßen, Kapitän Tori, sagte Danal. Er zögerte kurz. Ist der Kommandant absolut sicher, dass an dieser zweiten Invasion Trogiten beteiligt sind?, fragte er. Unsere Hinweise stammen aus einer sehr verlässlichen Quelle, Brigadekommandant. Anscheinend interessiert sich die trogitische Kirche sehr für das Land Dhrall. 273
Die Kirche}, rief Danal ungläubig. So haben wir gehört. Könnt ihr Hilfe gebrauchen? Tori grinste. Ich denke, das bekommen wir schon hin, mein Freund, sagte er. Habe ich recht verstanden, dass du die Kirche nicht sehr magst? Das Gegenteil von >mögen< würde besser passen, Kapitän Tori. Ich hasse die trogitische Kirche! Wir werden ihr auch in deinem Namen den Hintern versohlen - und sie vermutlich ohne Abendessen auf ihr Zimmer schicken. Ich hatte an eine etwas härtere Strafe gedacht. Ich auch, Danal. >Hintern versohlen< trifft nicht ganz das, was wir mit diesen Halunken vorhaben. Gut. Ich schaffe meine Schiffe aus dem Weg. Danal drehte sich um und ging zum Ufer. Was war das für ein Stück Papier, Tori?, erkundigte sich Sorgan. Ein Befehl von Kommandant Narasan, Vetter. Habe ich dir nicht erzählt, dass ich den im Ärmel stecken hatte? Das muss ich ganz vergessen haben. Ich muss wirklich mehr auf die Einzelheiten achten.
29 Du musst die Sehne ganz zurückziehen, Eisenfaust, tadelte Tori seinen ersten Maat. Wir werden gute hundert Schritt von diesen Trogschiffen entfernt sein, wenn wir vorbeifahren, und unsere Brandpfeile sollen die Schiffe treffen und nicht im Wasser landen. Wasser brennt nicht allzu gut. Wie in aller Welt bist du auf diese Idee gekommen, Käpt'n?, wollte Eisenfaust wissen. Hast du mal diesen Eingeborenen mit Namen Langbogen gese2
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hen, wie er einen Schlangenmann mit einem Pfeil durchbohrt, Eisenfaust? Ich hatte das Glück, an Bord der Lerche bleiben zu dürfen, als alle hinauf in die Schlucht gerannt sind, Käpt'n. Ein gebrochenes Bein würde ich nicht gerade Glück nennen, alter Freund, widersprach Tori. Ich brauchte nicht an Land zu gehen, Käpt'n, und mehr Glück kann man an einem Ort wie diesem nicht haben. Ist dieser Langbogen, über den ständig alle reden, wirklich so gut? Vermutlich ist er in der ganzen weiten Welt der Beste. Jedenfalls bin ich sicher, dass Vetter Sorgan und der große Bruder Skell wieder Fackeln werfen werden, um die Trogschiffe zu vernichten, aber ich finde, mit einem Bogen kann man einen Brandpfeil fünf- oder sechsmal weiter schießen als irgendwer in der Welt eine brennende Fackel schleudern kann, und ich habe ungefähr ein Dutzend Männer mit Pfeil und Bogen, daher wird es Pfeile auf die Trogschiffe hageln. Auf die Weise müssen wir nicht ständig hin- und hersteuern, um dicht an die feindlichen Schiffe heranzukommen. Wenn du und die anderen gut schießen könnt, huschen wir an diesen Kähnen vorbei und lassen sie wie ein Freudenfeuer hinter uns zurück. Eisenfaust grinste breit. Ich denke, das würde den Trogs am Strand den Tag ganz schön vermiesen, was, Käpt'n? Darauf läuft die Sache eigentlich hinaus. Den Trogs den Tag zu vermiesen macht beinahe so viel Spaß, wie beim Würfeln zu gewinnen. Eisenfaust betrachtete die Wellen, die an die anderen Langschiffe schlugen. Hast du nicht gesagt, dein Vetter wolle bei Veltans Haus anlegen?, fragte er. Das hat er mir jedenfalls gesagt. Wieso? Ich überlege nur, ob ich nicht auf den anderen Schiffen mal herumhorche, ob jemand Lust auf eine Wette hat.
Nach dem Motto >Wetten, wir können mehr Trogschiffe in Brand setzen als ihr, fragte Tori. So ungefähr würde ich es ausdrücken, Käpt'n. Wie sieht es denn bei dir mit Geld aus, Eisenfaust? 2
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Mein Beutel ist nicht so schwer, dass ich mit krummem Rücken laufen muss, Käpt'n. Vielleicht könnte ich dir ein wenig aushelfen, wenn dir das Geld ausgeht. Halbe-halbe? Hört sich gut an. Ich werde den anderen Männern sagen, sie sollen noch ein wenig Schießen üben, Käpt'n. Sie müssen gut in Form sein, wenn wir anfangen, die Trogschiffe anzuzünden - vor allem, wenn wir Geld auf sie gesetzt haben. Tori kratzte sich am Kinn. Mal schauen, was mein Vetter und mein großer Bruder von einer Wette halten, sagte er. Wenn sie wetten, wird es ihnen bestimmt nicht allzu gut gefallen zuzuschauen, wie wir entlang der Küste schwimmende Freudenfeuer entfachen. Wie schade, meinte Tori mit gespieltem Bedauern. Gegen Mittag am folgenden Tag kam der Strand bei Veltans Haus in Sicht, und Vetter Sorgan führte Skell und Tori an Land, um sich die Karte anzuschauen. Wie sie sahen, ragten dort unten mehrere Halbinseln ins Meer und bildeten große Buchten. Das habe ich mir schon gedacht, meinte Sorgan. Am besten blockieren wir die Öffnung der ersten Bucht und setzen dann alle Schiffe in Brand. Daraufhin ziehen wir weiter zur zweiten. Wir wollen schließlich nicht, dass irgendein Schiff entkommt. Denn wenn auch nur eines fliehen kann, wird es vermutlich zur trogitischen Küste zurückkehren und weitere Schiffe und Männer zusammenrufen. Deshalb müssen wir die Falle zuschnappen lassen, damit es für sie nur einen Weg gibt, auf dem sie Hilfe suchen können: auf dem Lande und zu Fuß. Skell beugte sich über das Geländer des Balkons über der Karte und betrachtete die Replik der Südküste. Ich sehe keine großen Siedlungen dort, merkte er an. Es scheinen eher viele kleine Dörfer zu sein. Wenn die Kirchentrogs versuchen, die Bewohner Zusammenzutreiben, um sie an die Sklavenhändler zu verkaufen, 276 benötigen sie nur vier oder fünf Schiffe, die vor jedem Dorf ankern. Das macht die Sache für uns wesentlich einfacher. Wir werden nicht auf eine massierte Flotte stoßen, daher brauchen wir einfach nur in die Bucht zu segeln und alle Schiffe in Brand zu stecken, auf die wir stoßen. Danach ziehen wir zur nächsten Bucht und wiederholen das Ganze. Die Trogs werden keine Schiffe mehr haben, um ihre Freunde vor uns zu warnen, und dementsprechend können wir auf einen Schlag ihre gesamte Flotte an der Küste versenken. Das klingt durchaus richtig, Skell, stimmte Sorgan zu. Anschließend fahren wir hinaus auf See, verteilen uns und sorgen dafür, dass keine weiteren Trogschiffe mehr die Küste erreichen. Diejenigen, die schon hier sind, sitzen ohne Hoffnung auf Verstärkung in der Falle. Nachdem ihre Flotte versenkt wurde, werden sie vermutlich gar nicht erst versuchen, in die Berge zu ziehen. Ohne Schiffe haben sie keine Rückzugsmöglichkeit mehr, falls sie auf einen überlegenen Gegner stoßen. Nur ein Idiot würde ein solches Risiko eingehen. Zuerst kommt das Feuer, dann die Blockade. Die zweite Invasion findet hier ihr Ende. Klingt gut, Vetter, meinte auch Skell. Zwar hatte Tori durchaus seine Zweifel, behielt diese jedoch für sich. Ich glaube, Teer wäre besser, Käpt'n, meinte Hasenzahn, der zweite Maat der Lerche. Wenn man Teer anzündet, bleibt er an allem kleben, das er berührt, und dadurch könnte sich das Feuer besser als mit Ölgetränkten Lumpen verteilen. Damit dürfte er Recht haben, Käpt'n, stimmte Eisenfaust zu. Und wir sollten für die Pfeilschützen einen großen Topf mit kochendem Teer auf Deck stellen. Auf diese Weise könnten wir viel mehr Brandpfeile auf die Trogschiffe abschießen. Einen Versuch ist es wert, erklärte sich Tori einverstanden. Wir haben viel Geld investiert, deshalb sollten wir alles tun, damit die Sache auch so läuft, wie wir es uns vorgestellt haben. Uns bleibt ja noch ein wenig Zeit, Käpt'n, meinte Eisenfaust. Früher oder später wird uns schon einfallen, wie wir es am besten machen. Ist dir eingefallen, wie wir verhindern, dass die Männer auf den anderen Schiffen sehen, was wir hier
treiben? Wenn sie das Gleiche tun wie wir, könnte unsere Wette leicht den Bach runtergehen. Unsere Pfeilschützen üben unter Deck, Käpt'n, antwortete Eisenfaust. Da ist es ein bisschen dunkel, aber wir stellen eine Laterne über die Ziele, damit die Schützen sehen, wohin ihre Pfeile fliegen. Das ist vielleicht nicht ganz so wie in der Wirklichkeit, aber ziemlich nah dran. Trogschiffe sind mächtig groß, also kann man sie kaum verfehlen. Möglicherweise fahren wir doch ein bisschen näher an die Trogkähne ran. Wir würden ja blöd dastehen, wenn unsere erste Welle Brandpfeile im Wasser landet und die Schiffe gar nicht trifft. Und wir würden alles bis zum letzten Hemd verlieren, fügte Hasenzahn hinzu. Das musstest du jetzt wieder betonen, was?, schalt Tori. Bis wir nicht wissen, ob unser Plan gelingt, werde ich keine Minute mehr ruhig schlafen können. Keine Sorge, Käpt'n, sagte Eisenfaust. Wir werden schon dafür sorgen, dass unser Vorhaben gelingt. Es muss einfach. Wir haben jede Münze eingesetzt, die auf der Lerche vorhanden ist, und falls es nicht so läuft, wie wir wollen, könnte die Mannschaft auf die Idee kommen, uns über Bord zu werfen. Danke, Eisenfaust, erwiderte Tori tonlos. Sorgans Seemacht näherte sich der Südspitze der östlichsten Halbinsel, als eine riesige Flotte schlingernder trogitischer Schiffe auf sie zusegelte. Es herrschte eine gewisse Anspannung an Bord der Piratenschiffe bis ein kleiner Fischerkahn auf die Seemöwe zusteuerte. Wie sich herausstellte, handelte es sich bei dieser Trogflotte keineswegs um die der Kirche, sondern um den Hauptteil von Narasans Armee. Gunda unterhielt sich kurz mit Vetter Sorgan, ehe er zu seiner 278
Flotte zurückkehrte und weiter die Küste hinaufsegelte. Sorgan schickte mehrere Boote aus, um alle davon zu unterrichten, Gunda ohne Störung passieren zu lassen, und nachdem die trogitischen Schiffe vorbeigezogen waren, befahl Sorgan, die Segel der Seemöwe zu setzen und weiter an der Küste entlangzufahren. Als die Flotte das Südende der ersten Halbinsel erreichte, gab Vetter Sorgan das Signal zum Anhalten. Während des Kampfes in der Schlucht bei Lattash hatten sie die Nützlichkeit von Flaggenzeichen kennen gelernt, und Vetter Sorgan hatte eine einfache Version der komplizierteren trogitischen Zeichensprache entwickelt. Sorgans Kode umfasste lediglich vier Befehle - Halt!, Schneller!, Weg hier!, und Wir müssen reden -, allerdings genügten diese vier vorerst. Tori ruderte hinüber zur Seemöwe, um herauszufinden, ob sich Veränderungen am Plan ergeben hatten. Sind wir so weit bereit?, fragte Sorgan, als Tori und Skell sich in seiner Kabine am Heck der Seemöwe eingefunden hatten. Wir wissen, was wir zu tun haben, Vetter, sagte Skell. Fangen wir an. Ich denke nicht. Warten wir lieber bis zum ersten Licht morgen früh. So können sich die Ruderer ausruhen. Wenn die Sache losgeht, müssen wir uns so schnell wie möglich bewegen. Ich glaube, Schnelligkeit ist nicht so wichtig, Sorgan, meinte Skell skeptisch. Wir müssen jedes Mal ziemlich langsam werden, sobald wir uns einem trogitischen Schiff nähern. Da wir Fackeln werfen, müssen wir außerdem warten, bis wir sicher sein können, dass das betreffende Schiff brennt und das Feuer außer Kontrolle geraten ist. Wenn nur ein Trog auf einem der Schiffe halbwegs wach ist, wird er unsere Fackeln packen und über Bord werfen, damit das Schiff nicht Feuer fängt. Da hat er durchaus Recht, Vetter Sorgan, räumte Tori zähneknirschend ein. Damit die Sache so läuft, wie wir wollen, sollten wir vermutlich alle Trogschiffe entlang der Küste an einem Tag in Brand setzen. Ich wüsste nicht, wie das möglich sein könnte, Tori, wider279
sprach Skell. Man braucht eine Weile, bis ein Schiff richtig brennt. Wir können nicht einfach vorbeisegeln und >Feuer< rufen. Tori murmelte Flüche vor sich hin, als sein Traum von den Reichtümern, die er mit den Wetten gewinnen würde, zerplatzte. Also gut, Vetter, sagte er zu Sorgan, wenn du auf allen Schiffen bekannt geben lässt, dass jegliche Wetten für ungültig erklärt sind, werde ich dir erklären, wie wir alle Trogschiffe entlang der Küste an einem einzigen Tag abfackeln können.
Ich habe mich schon gewundert, was du in der Hinterhand hast, als du und dein erster Maat bei Veltans Haus herumgelaufen seid und Wetten abgeschlossen habt, meinte Vetter Sorgan. Raus damit, Tori. Nicht, ehe du mir dein Wort gegeben hast, dass die Wetten nicht mehr gelten, Vetter. Wenn meine Mannschaft ihr Geld verliert, weil die Wetten nicht für ungültig erklärt wurden, werden die Männer mich über Bord werfen, sobald die Küste außer Sicht ist. Also gut, ich verspreche dir, allen in der Flotte mitzuteilen, dass die Wetten nicht mehr gelten. Also: Wie können wir alle Trogschiffe an einem einzigen Tag in Brand stecken? Bögen, Pfeile und Teer, erklärte Tori missmutig. Teer?, fragte Skell. Wie setzt man Teer in Brand? Wir hatten recht guten Erfolg damit, eine Fackel dranzuhalten, großer Bruder. Wenn man zwanzig oder dreißig Brandpfeile in die Seite eines Trogschiffes schießt, wird es brennen - selbst an einem regnerischen Tag. Ich weiß nicht, ob ich an Bord der Hai genug Männer habe, die mit Pfeil und Bogen umgehen können, gestand Skell ein. Dann musst du dich eben mit Fackeln begnügen. Das liegt ganz bei dir. Nun, wenn ihr mich entschuldigt, ich werde jetzt Trogschiffe niederbrennen - unglücklicherweise nur um des Spaßes willen, denn meine >Gewinne< habe ich gerade abgeschrieben. 280
30 Tori fand eine gewisse Befriedigung darin, die trogitischen Schiffe, die vor den kleinen Dörfern an der Südküste von Veltans Domäne ankerten, in Brand zu setzen. Die Trogiten hatten ein derart arrogantes Gehabe an sich, angesichts dessen er sich immer ein wenig beleidigt gefühlt hatte. Außerdem hatte sich die Mannschaft der Lerche gut auf diesen Einsatz vorbereitet, und obwohl die Männer nicht so geschickt waren wie Langbogen, gelang es ihnen, ihre Brandpfeile in die Seiten der übergroßen Kähne vor dem Strand zu schießen. Das Ergebnis überraschte selbst Tori. Ein Schiff, auf das gerade mehrere Dutzend Brandpfeile niedergehagelt sind, wird unausweichlich in Flammen aufgehen und tatsächlich einem schwimmenden Freudenfeuer ähneln, wie Tori es beschrieben hatte. Es war auch unterhaltsam, den Besatzungen zuzuschauen, wie sie von den brennenden Schiffen ins Wasser sprangen, aber dennoch fühlte sich Tori gemeinsam mit seiner Mannschaft um ihren rechtmäßigen Gewinn betrogen. Eisenfaust!, rief er seinen ersten Maat. Aye, Käpt'n? Ich glaube, wir können ruhig ein bisschen an Fahrt aufnehmen. Nur wenige unserer Pfeile landen im Wasser, also machen wir unsere Sache wohl gut. Die Wetten gelten zwar nicht mehr, trotzdem würde ich Vetter Sorgan gern beweisen, dass wir die besten Schiffsverbrenner der ganzen weiten Welt sind. Das werden wir schon hinkriegen, Käpt'n. Eisenfaust kicherte. Die Lerche schoss los und fuhr Sorgans Flotte davon. Die Männer auf den anderen Schiffen waren nicht so geübt im Umgang mit Pfeil und Bogen, deshalb mussten ihre Schiffe langsam fahren und blieben weiter und weiter hinter der Lerche zurück. Tori hatte das Gefühl, beinahe Sorgans Zähneknirschen hören zu können, während sein Vetter zuschaute, wie die Lerche die meisten Schiffe in der Bucht in Brand setzte. 281
Am Ende der Bucht befahl Tori, die Ruder einzuholen und zu ankern. Die Seemöwe näherte sich eine Weile später. Was machst du, Tori?, rief Sorgan. Vor uns liegen weitere Buchten mit vielen trogitischen Schiffen. Warum hältst du an? Ich finde, für heute habe ich genug getan, Vetter, und ich will dich und die anderen Kapitäne nicht um den Spaß bringen. Jetzt habe ich dir ja gezeigt, wie es geht, und den Rest der Trogschiffe wirst du ohne meine Hilfe schaffen. Sehr lustig, Tori, knurrte Sorgan. Und wie gedenkst du den Rest des Tages zu verbringen? Ich schaue mal, ob die Fische beißen. Tori drehte sich um und ging über das Deck der Lerche auf seine Kabine zu. Ich wünsche dir noch einen schönen Tag, Vetter, rief er, und wenn du fertig bist, schau mal vorbei, dann werde ich dir verraten, bei welchem Köder die Fische in diesen Gewässern am besten beißen. Vetter Sorgan erfand etliche neue Schimpfworte, während die Seemöwe davonfuhr. Tori hatte das bohrende Gefühl, irgendetwas stimme hier nicht, doch kam er einfach nicht dahinter, was. Er schritt auf Deck der Lerche hin und her und starrte zum Strand hinüber.
Mir scheint, wir haben den Trogs einen ordentlichen Schrecken eingejagt, Käpt'n, sagte Eisenfaust. Ich glaube, heute habe ich nicht mehr als drei oder vier von ihnen am Strand gesehen. Sollten die nicht eigentlich eine große Armee dort haben? Tori blinzelte. Das stimmte nicht! Am Strand müssten sich eigentlich Trogs drängen und voller Entsetzen zuschauen, wie ihre einzige Möglichkeit der Heimreise in Flammen und Rauch aufgingWir sollten vielleicht an Land gehen und herausfinden, was es damit auf sich hat, sagte er freudlos. Aber nicht du, Käpt'n, widersprach Eisenfaust entschlossen. Ich und die Mannschaft gehen auf keinen Fall das Risiko ein, dich zu verlieren. Du bist so hartgesotten wie alle anderen Kapitäne, 282
aber fünfmal so klug. Einen so guten Käpt'n findet man nicht leicht. Ich bin gerührt, Eisenfaust, antwortete Tori überrascht. Jetzt übertreib nicht gleich, Käpt'n, nörgelte Eisenfaust. Also gut. Wenn ich ein Dutzend Männer mitnehme, würdest du dich dann besser fühlen? Wenn ich sie aussuchen darf, Käpt'n, ja. Der Strand war verlassen, als Tori und seine Männer anlandeten, daher gingen sie wachsam auf das Dorf in der Nähe zu. Trogs begegneten sie keinen, doch die Dorfbewohner wirkten durchaus froh, sie zu sehen. Können wir euch irgendwie helfen?, wurde Tori von einem rundgesichtigen Einheimischen gefragt. Vielleicht mit ein paar Auskünften, antwortete Tori. Was ist mit den Trogs passiert? Wir haben gehört, hier unten im Süden von Veltans Domäne sollten sich Tausende aufhalten, aber abgesehen von den Schiffsmannschaften in der Bucht haben wir keine gesehen. Die sind schon vor einer Weile weggerannt, erzählte der Dorfbewohner. Und wir werden sie auch nicht sehr vermissen. Sehr nett waren sie nämlich nicht zu uns. Sie sind den Strand hochgestürmt, haben mit ihren Waffen herumgefuchtelt und uns in einen Pferch gesperrt, den ich nicht einmal meinen Schweinen zumuten würde. Nach einer Weile wurden sie ganz aufgeregt wegen etwas, das keinen Sinn ergab, und dann liefen sie alle nach Norden davon. Eigenartig, meinte Tori. Wenn sie zurückkommen, werden sie euch bestimmt nicht mögen. Warum habt ihr ihre Boote in Brand gesetzt? ' Veltan wollte sie nicht hier haben, also sind wir heruntergesegelt, um sie zu überreden, sich davonzumachen. Hat jemand einen Grund erwähnt, weshalb sie einfach fortgelaufen sind? Nichts, das in meinen Augen großen Sinn ergibt, erwiderte der Dorfbewohner. Natürlich ergeben viele Dinge, die hier in 283
letzter Zeit passiert sind, keinen Sinn. Aber sie waren wirklich aufgeregt wegen irgendetwas, als sie nach Norden aufgebrochen sind. Im Norden gibt es nicht viel außer Ackerland, sagte Tori. Dahinter kommen die Berge. Tori runzelte die Stirn. Hast du zufällig gehört, ob sie über Gold gesprochen haben? Die Miene des Dorfbewohners wurde leer. Dann begann er auf seltsame Weise zu sprechen, als würde er etwas rezitieren, das er vor langer Zeit auswendig gelernt hatte. Vor langer, langer Zeit wurde ein Mann aus unserem Dorfe seines Bauerndaseins überdrüssig, begann er, und zog in die Berge weit im Norden, um nach anderem Land zu suchen. Schließlich erreichte er einen mächtigen Wasserfall, der aus den Bergen zum Ackerland unten herunterstürzte. Dann fand er einen schmalen Pfad, der ihn in das Bergland führen sollte, und dort erlebte er ein Wunder, wie er es nie zuvor gesehen hatte. Jenseits der Berge befand sich ein weites Gebiet, wo weder Bäume noch Gras wuchsen, denn das Land bestand lediglich aus Sand, und zwar nicht aus weißem Sand, wie an den Stränden der Mutter Meer, wo sie Vater Erde berührt. Der Sand hinter den Bergen war hell und gelb und glitzerte im Ödland mit großer Schönheit, und seitdem wissen alle Menschen im Land Dhrall, dass der Sand im Ödland aus reinem Gold besteht, und dieser Sand reicht weiter, als das Auge blicken kann. Und nachdem er dies gesehen hatte, kehrte der abenteuerlustige Bauer nach Hause zurück und ging niemals wieder weg, um nach seltsamen neuen Dingen Ausschau zu halten, denn er hatte erfahren, was hinter den Bergen lag, und seine Neugier war befriedigt. Hier hielt der Dorfbewohner inne, und sein Gesicht wirkte verwirrt. Ich glaube, ich weiß nicht, wovon du sprichst, Fremder, fügte er dann
hinzu. Ist auch nicht so wichtig, nehme ich an, erwiderte Tori, als würde ihn dies nicht sonderlich interessieren. Danke für die Auskunft, Freund. Was immer die Trogs so immens aufgeregt hat, ist vermutlich nicht sehr wichtig - nur sind sie eben von dannen gezogen. Das ist alles, was zählt, stimmte der Dorfbewohner zu. 284
An diesem Ort hatte sich gerade etwas sehr Eigenartiges ereignet. Ganz offensichtlich wusste der Dorfbewohner nicht einmal, dass er eine Geschichte erzählt hatte, die gewiss aus dem Mund von jemand anderem stammte, aber was hatte dieses Rezitieren ausgelöst? Es muss etwas gewesen sein, das ich gesagt habe, murmelte Tori, aber soweit ich mich erinnern kann, habe ich ihn nur gefragt, ob es mit Gold zu tun hat. Er blinzelte. Natürlich!, riet er. Es war das Wort >Gold<, das ihn alles vergessen und diese Geschichte erzählen ließ. Nicht weit entfernt stand ein anderer Dorfbewohner, und Tori ging hinüber zu dem Mann. Hallo, Fremder, sagte er, wollen wir uns nicht über Gold unterhalten? Sofort wurde der Gesichtsausdruck des Dorfbewohners leer. Vor langer, langer Zeit wurde ein Mann aus unserem Dorfe seines Bauerndaseins überdrüssig ..., begann er. Tori ließ ihn stehen und vor sich hin reden. Ein anderer Mann kam aus einer der schlichten Hütten. Gold, sagte Tori. Vor langer, langer Zeit..., begann der Mann. Kichernd kehrte Tori zum Strand zurück. Er musste sich eingestehen, dass es reines Glück gewesen war, immerhin jedoch war er gerade über den Grund gestolpert, der das plötzliche Verschwinden der Trogs erklärte. Offensichtlich begannen die Dorfbewohner jedes Mal, wenn sie das Wort Gold hörten, diese Geschichte in gleichem Wortlaut zu rezitieren, ohne sich dessen bewusst zu sein. Ich frage mich ..., dachte Tori laut. Er blickte zum Strand. Das nächste Dorf war ungefähr eine Meile entfernt. Schauen wir doch mal, ob wir es herausfinden, sagte er dann zu sich selbst. Die Sonne ging bereits unter, als Tori und seine Männer zur Lerche zurückkehrten. Na, Käpt'n, erkundigte sich Eisenfaust, hast du herausbekommen, was mit den Trogs passiert ist? Tori zuckte mit den Schultern. Sie sind nach Norden gezogen, antwortete er, und ich hatte sogar das Glück, den Grund dafür zu 285 erfahren. Wir könnten es noch in anderen Dörfern versuchen, aber ich glaube, notwendig ist das nicht. Jemand - und ich habe keine Ahnung, wer - hat mit diesen Leuten in fünf verschiedenen Dörfern, in denen ich heute war, etwas Seltsames angestellt. Sobald man ihnen gegenüber das Wort >Gold< erwähnt, erzählt jeder exakt die gleiche Geschichte - und alle benutzen sogar dieselben Wörter. Ich habe sie heute so oft gehört, ich könnte sie vermutlich selbst aufsagen - und würde nicht einen Fehler machen. Nun, das würde ich auch seltsam nennen, Käpt'n, sagte Eisenfaust skeptisch. >Seltsam< ist noch untertrieben, meinte Tori. Ich wünschte, ich wüsste, wer dahinter steckt. Wer immer es war, steht wohl auf unserer Seite, aber beschwören möchte ich es nicht. Ich hoffe, er steht auf unserer Seite, denn er ist zu Dingen fähig, von denen ich noch nicht einmal gehört habe. Gegen einen solchen Gegner möchte ich nicht antreten. Dann lachte Tori. Bestimmt wird es Vetter Sorgan auf die Palme bringen, und Veltan wird auch nicht sehr glücklich darüber sein. So langsam wird das Spielchen interessant. Du hast dir das nur ausgedacht, Tori, sagte Vetter Sorgan einen Tag später, als die Seemöwe in die Bucht zurückkehrte, in der Tori wartete. Wenn du mir nicht glaubst, versuch es doch selbst. Du brauchst nur >Gold< zu sagen, und jeder Einheimische hier in der Bucht erzählt dir wortwörtlich die gleiche Geschichte und wird sich anschließend nicht mehr dran erinnern. Das ist lächerlich. Versuch es doch. Solch einen Unsinn habe ich noch nie gehört. Versuch's! Das ist doch Spinnerei, Tori. Versuch's! Also gut, ich werde es versuchen, und wenn sich herausstellt, dass du gelogen hast, wirst du großen
Ärger bekommen. 286
Da mache ich mir keine Sorgen, Vetter. Ich weiß genau, was du hören wirst, wenn du >Gold< sagst, denn ich habe es selbst ein paar Dutzend Mal ausprobiert. Sorgan schnaubte und verließ Toris Kabine auf der Lerche, wobei er die Tür hinter sich zuschlug. Mehrere Stunden später kehrte er zurück, und die Verblüffung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Das ist das Seltsamste, was ich je erlebt habe, verkündete er. Sobald ich nur das Wort >Gold< gesagt habe, erzählte jeder Bauer die gleiche Geschichte. Die Mienen wurden leer, die Augen glasig, und sie sagten Wort für Wort alle das Gleiche. Habe ich es dir nicht gleich gesagt, Vetter?, zeterte Tori selbstgefällig. Freu dich nicht zu früh, Tori, gab Sorgan zurück. Du weißt, die Trogs marschieren nach Norden, und sie kümmern sich nicht einmal darum, was wir mit ihren Schiffen anstellen. Das heißt, wir sind letztlich gescheitert. Wir wollten ihre Schiffe verbrennen, weil wir glaubten, das würde sie aufhalten, aber das hat nicht geklappt. Inzwischen können wir diese Trogs vermutlich nicht einmal mehr einholen. Sie haben einen zu großen Vorsprung. Darüber habe ich auch schon nachgedacht, Vetter, stimmte Tori zu. Was machen wir also? Du, nicht wir, Tori, widersprach Sorgan entschlossen. Irgendwer muss zu diesem Talkessel zurückkehren und Narasan -und Veltan - Bericht über die Angelegenheit erstatten. Diesen trogitischen Eindringlingen hat es nicht das Mindeste ausgemacht, dass wir ihre Schiffe verbrannt haben. Dann wirst du Veltan erzählen, dass außerdem jemand seine Bauern auf seltsame Weise beeinflusst hat. Das hätte er gewiss auch selbst anstellen können, nur ergäbe das einfach keinen Sinn, oder? Finde ich auch, stimmte Tori zu. Setz volle Segel, Tori, und mach so schnell du kannst. Ob es uns gefällt oder nicht, wir haben nun zwei Invasionen, und in meiner Macht steht es leider nicht, diejenige aufzuhalten, die Narasan in nicht allzu vielen Tagen erreichen wird. 287
Ich werde ihm die Nachricht überbringen, so schnell ich kann, versprach Tori. Besser wäre noch schneller.
31 Das Glück war auf Toris Seite, und die Lerche segelte mit Rückenwind rasch die Ostküste von Dhrall entlang, doch Tori war sich trotzdem sicher, dass das eigentlich mit Glück wenig zu tun haben mochte. Irgendjemand hatte hier in letzter Zeit ganz offensichtlich die Finger im Spiel. An einer Reihe von Ereignissen während des Kriegs in Zelanas Domäne war recht deutlich geworden, dass solcherlei Einmischungen in diesem Teil der Welt durchaus nicht ungewöhnlich waren, und trotzdem hatte Tori beim besten Willen keine Vorstellung davon, wer dieser Unbekannte war, der sich nun wieder eingemischt hatte. Wenn er auf ihrer Seite stand, hätte er versuchen müssen, die zweite Invasion aufzuhalten, aber anscheinend hatte er sie eher angetrieben. Die Geschehnisse unten an der Südküste ergaben einfach keinen Sinn. In der vagen Hoffnung, Veltan möge zu Hause sein, ging Tori mit der Lerche vor dem vertrauten Strand vor Anker und stieg hinauf zu diesem eigenartigen Gebäude. Bei seiner Ankunft erwartete ihn die Gattin von Veltans Freund Omago dort, als habe sie von seinem Eintreffen gewusst. Ära, das Weib eines Bauern, war die hübscheste Frau, die Tori je gesehen hatte, und ihm würde für immer schleierhaft bleiben, weshalb diese Schönheit sich mit diesem schwerfälligen Bauern Omago vermählt hatte. Bestimmt wären für sie bessere Partien drin gewesen. Veltan ist vermutlich gerade nicht zu Hause?, fragte er sie. Ich fürchte, dem ist so, antwortete sie in ihrer Wohltönenden Stimme. Wolltest du ihn sprechen? Da gibt es etwas, das er unbedingt erfahren sollte, gute Frau, erwiderte Tori. Ich hatte gehofft, ich würde ihn hier erwischen. In 288
letzter Zeit habe ich viel Glück gehabt, aber damit scheint es nun vorbei zu sein. Er zuckte mit den Schultern. Na, ja, einen Versuch war es wert. Hast du etwas über die Lage in den Bergen gehört? Nichts Genaues. Ich glaube, die Diener des Vlagh haben mit ihrem Angriff noch nicht begonnen. Das ist schon etwas. Narasans Männer müssen zunächst diese Mauer fertig stellen, die den Feind aufhalten soll, und eine Mauer von einer Meile Länge zu bauen, dauert sicherlich eine Weile. Weswegen wolltest du Veltan eigentlich sprechen?, erkundigte sie sich. Wenn er zufällig vorbeikommt, könnte ich es ihm sagen. Hat es mit der Invasion im Süden der Domäne zu tun?
In der Tat, erwiderte Tori verdrossen. Vetter Sorgan war überzeugt, wir würden mit den Trogs zurechtkommen, doch unser Plan ist gescheitert. Ach? Zwar haben wir alle trogitischen Schiffe verbrannt, erzählte Tori, und damit hätten wir die Invasion eigentlich beenden sollen, allerdings nahm die Sache einen anderen Ausgang. Was ist geschehen? Jemand hat unseren großartigen Plan durchkreuzt. Ich weiß, Veltan, die werte Dame Zelana und ihre Verwandten können alles Mögliche zustande bringen, zu dem andere nicht in der Lage sind, aber anscheinend läuft im Lande Dhrall jemand herum, der zu noch seltsameren Dingen in der Lage ist. Dieser Jemand hat etwas geschafft, was sogar Veltan nicht gelungen wäre. Tatsächlich? Dieser andere Jemand hat jedem einzelnen Einheimischen an der Südküste ein ziemlich lächerliches Märchen eingeimpft, und alle wiederholen dieses Märchen wortgetreu von Anfang bis Ende, sobald sie das Wort >Gold< hören. Wie hast du das herausgefunden, Tori?, fragte Ära überrascht. Ich habe mich mit einem der Dorfbewohner unterhalten - Bolan heißt er, glaube ich -, und zufällig erwähnte ich im Laufe der Unterhaltung das Wort >Gold<. Daraufhin wurde sein Blick leer, und er betete das ganze Märchen herunter, obwohl sein Verstand während289 dessen zu schlafen schien. Ich dachte schon, er sei dem Wahnsinn verfallen, doch nachdem er die Geschichte beendet hatte, wachte sein Verstand wieder auf, und er fuhr fort, als sei nichts geschehen. Wie eigenartig, meinte Ära. Es wird sogar noch eigenartiger. Zunächst ergab es keinen Sinn, dann hatte ich die Idee, mich in mehreren Dörfern umzuschauen, und überall, wo ich >Gold< sagte, bekam mein Gegenüber einen leeren Blick und erzählte mir dieselbe Geschichte. Jemand - oder auch etwas - treibt dort unten ein recht vertracktes Spiel, und das Märchen hat die Trogs noch verrückter gemacht als die Eingeborenen das Wort >Gold<. Die Kirchensoldaten sind allesamt nach Norden losgerannt, als hätte ihnen jemand die Schwanzfedern in Brand gesteckt. Da lachte Ära. Das ist aber lustig ausgedrückt, sagte sie und lächelte durchtrieben. Die Mehrheit der Schiffe von Kommandant Narasan ankerte in der Bucht vor der Mündung des Vash, deshalb war der Fluss nicht mehr so verstopft wie zu dem Zeitpunkt, als Vetter Sorgan mit seinen Männern von hier aufgebrochen war. Tori übergab Eisenfaust den Befehl über die Lerche und eilte Nantons Weg durch das Bachbett hinauf, um Veltan zu berichten, dass die Sache im Süden nicht wie erhofft gelaufen war. Gegen Mittag des nächsten Tages kam er oben an und sah, wie fleißig die Trogiten am Nordende des Talkessels gewesen waren. Sie bauten eher eine Mauer denn eine Festung, und diese besaß bereits eine Höhe von zehn Fuß. Es dauerte eine Weile, bis er Narasan und Gunda gefunden hatte, da sie ungefähr auf der Mitte des Hangs zum Ödland waren. So bald zurück, Tori?, meinte Narasan, als sich Tori zu ihnen gesellte. Die Sache ist anscheinend besser gelaufen, als wir erwartet haben. Ich glaube, >besser< ist nicht das richtige Wort, Kommandant, erwiderte Tori. Natürlich haben wir die trogitischen Schiffe verbrannt. Dafür haben wir einen Tag gebraucht, aber die Kirchensol290
daten, die Priester und die Sklavenhändler waren längst verschwunden. Verschwunden? Willst du sagen, sie marschieren in unsere Richtung? Ich würde nicht gerade >marschieren< sagen, Kommandant. >Rennen< wäre wohl richtiger. Ich verstehe nicht ganz, Tori, mischte sich Gunda ein. Wir sollten am besten Veltan suchen, schlug Tori vor. Dort unten im Süden ist etwas sehr Seltsames vorgefallen, und Veltan ist doch Experte für >Seltsames<, oder nicht? Um es einfach auszudrücken: Die Invasionsarmee hat sich aufgelöst, und alle Soldaten liefen blindlings in diese Berge hinauf, als würde ihr Leben davon abhängen. Jemand hat dort unten sein Spielchen getrieben, und es handelt sich um ein Spielchen, das nur Veltan und seine Familie verstehen dürften. Vermutlich hält er sich in der Nähe des Geysirs auf, meinte Narasan. Gehen wir zu ihm. Narasans
Blick war hart, und der Kommandant zeigte eine grimmige Miene. Ich habe es selbst immer wieder ausprobiert, erzählte Tori der werten Dame Zelana und ihrem jüngeren Bruder. Jedes Mal, wenn ich >Gold< zu einem der Dorfbewohner sagte, bekam der Betreffende einen leeren Gesichtsausdruck und wiederholte die gleiche dumme Geschichte. Ich habe mir das Ganze die ersten Male angehört, bei den nächsten bin ich einfach weggegangen und habe den Mann mit sich selbst reden lassen. Veltan sah Tori blinzelnd an. Hat die Geschichte irgendwelche seltsamen Gefühle in dir ausgelöst?, fragte er. Langeweile, jedenfalls nach einer Weile. Nachdem ich die Geschichte fünfmal gehört hatte, war sie nicht mehr besonders interessant. Ich würde sagen, wir haben es mit einer selektiven Wirkungsweise zu tun, kleiner Bruder, schloss die werte Dame Zelana. Die Geschichte löst bei Trogiten höchste Aufregung aus, erzielt hingegen keinerlei Effekt bei den Maags. 291
Es könnte sogar noch darüber hinausgehen, Schwesterlein, vermutete Veltan. Er sah Tori nachdenklich an. Erinnerst du dich gut genug an die Geschichte, um sie für uns zu rezitieren? Wahrscheinlich vorwärts und rückwärts, wenn du willst, sagte Tori. Also lass hören. Soll ich auch so ein leeres Gesicht machen? Nicht notwendig. Nur die Geschichte. Tori räusperte sich. Vor langer, langer Zeit wurde ein Mann aus unserem Dorfe seines Bauerndaseins überdrüssig und zog in die Berge weit im Norden, um nach anderem Land zu suchen. Während er fortfuhr, bemerkte er, dass Veltan Kommandant Narasan genau beobachtete. ... Und nachdem er dies gesehen hatte, kehrte der abenteuerlustige Bauer nach Hause zurück und ging niemals wieder weg, um nach seltsamen neuen Dingen Ausschau zu halten, denn er hatte erfahren, was hinter den Bergen lag, und seine Neugier war befriedigt. Hat die Geschichte einen besonderen Eindruck auf dich gemacht?, fragte Veltan Narasan. Sie war durchaus unterhaltsam, aber ich weiß nicht, was du von mir hören möchtest. Das liegt möglicherweise daran, dass du kein Priester bist, Kommandant, mutmaßte Tori. Ist es nicht eine der Regeln der trogitischen Kirche, dass alles Gold in der Welt ihr gehört? Er hat eine rasche Auffassungsgabe, nicht wahr, Veltan?, meinte die werte Dame Zelana. Demnach ist die >Wirkungsweise< noch selektiver, als ich ursprünglich angenommen hatte. Anscheinend ist sie vor allem auf Angehörige des trogitischen Klerus gezielt - und auf ihre Söldner. Warum werden sie dann alle in die Berge geschickt?, protestierte Veltan. Warum nicht einfach zurück auf das Antlitz von Mutter Meer? Wer auch immer auf diesen klugen Einfall gekommen ist, wird damit wohl etwas bezwecken wollen, meinte Zelana. Je länger Veltan, die werte Dame Zelana und Narasan die Angelegenheit besprachen, desto exotischer wurden ihre Erklärungsansätze. Tori erschien es, als stocherten sie einfach im Dunkeln herum. Offensichtlich hatte er hier die falschen Leute ausgesucht. Er brauchte jemanden, der von der praktischen Seite an die Sache heranging, und eigentlich wusste Tori genau, wen er fragen sollte, aber sicherlich wären Veltan und die werte Dame Zelana beleidigt gewesen, wenn er sich einfach davongemacht hätte. Am späten Nachmittag hatten die vermeintlichen Experten alle möglichen - und verschiedene unmögliche - Erklärungen durchexerziert und gaben auf. Höflich bedankte sich Tori bei ihnen und schlenderte davon, als hätte er nichts Wichtiges vor. Sobald er außer Sichtweite war, machte er sich jedoch direkt zu Langbogens Lager in dem Wald hinter dem Geysir auf. Während des Kriegs in Zelanas Domäne hatte Langbogen das unaufhörliche Geschwätz der Trogiten - und sogar das der Maags - offensichtlich sehr gestört, da er die Ruhe bevorzugte. Als Tori nun bei Langbogens Lagerfeuer ankam, saßen dort jedoch der junge Trogit Keselo und Hase, der Schmied von Vetter Sorgans Schiff Seemöwe. Wir haben ein Problem, verkündete Tori. Davon haben wir schon gehört, Kapitän Tori, sagte Keselo. Ich dachte, dein Vetter Sorgan wolle sich darum kümmern. Sorgan hat das Problem leider nicht lösen können, gestand Tori reumütig. Zwar haben wir jedes trogitische Schiff verbrannt, das an der Südküste vor Anker lag, aber ich glaube, die Trogs haben nicht
einmal bemerkt, dass ihre Schiffe versenkt wurden. Anscheinend treibt dort unten jemand ein höchst exotisches Spielchen. Ein Spielchen?, fragte Hase. Ja, genau. Die Kirchentrogs haben bei ihrer Ankunft alle Bewohner der Dörfer in Pferchen Zusammengetrieben. Dann bedrohten andere Trogs in schwarzen Uniformen die Gefangenen mit haarsträubenden Dingen, wenn diese ihnen nicht verraten würden, wo das gesamte Gold des gesamten Landes Dhrall verborgen ist. 292
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Regulatoren, erklärte Keselo grimmig. Sie sind Experten in der feinen Kunst der Folter. Diesmal brauchten sie keine Folter anzuwenden, berichtete Tori, jedes Mal, wenn ein Trog - oder wer auch immer - gegenüber einem der Einheimischen das Wort >Gold< fallen lässt, verfällt dieser in eine Art Trance und betet ein Märchen herunter von einem Bauern, der in die Berge gezogen ist und dort einen Ort gefunden hat, der mit Gold anstelle von Staub bedeckt ist. Wenn ein Trog diese Geschichte hört, lässt er alles stehen und liegen und rennt wie ein verängstigter Hase nach Norden - das sollte jetzt keine Beleidigung sein, entschuldigte sich Tori bei dem kleinen Schmied. Es macht mir nichts mehr aus, Käpt'n Tori, gab Hase zurück. Das habe ich schon tausendmal gehört. jedenfalls, fuhr Tori fort, hat sich die Geschichte unter den Trogs verbreitet, und die Priester, die eigentlich den Befehl haben, stellten plötzlich fest, dass sie gar keine Armee mehr haben, weil die Soldaten, die für ihren Schutz zuständig waren, einfach entschieden hatten, keine Soldaten mehr sein zu wollen, und so schnell sie konnten in unsere Richtung eilten. Als es keine Wachen mehr gab, haben die Einheimischen schlicht die Zäune eingerissen und sind ausgebrochen. Keselo lachte schallend. Es wird noch besser, sagte Tori. Kurz bevor wir eintrafen, fuhr eine Anzahl schwarzer Schiffe in die Bucht, und die Sklavenhändler gingen an Land, um die Eingeborenen von dem fetten Priester zu kaufen, aber die Gefangenen waren schon weg. In diesem Moment erschienen wir und setzten die Schiffe in Brand, und darüber waren sie nicht sehr froh - insbesondere, weil ihnen klar wurde, dass die Eingeborenen nun die Messer wetzen und Äxte und Speere schärfen würden, um ihnen zu demonstrieren, wie unbeliebt sie sind - und es gab ja niemanden mehr, der sie beschützen konnte. Den Priestern und Sklavenhändlern blieb keine große Wahl, also verließen sie die Dörfer in Richtung Norden und hofften gegen alle Wahrscheinlichkeit, sie könnten die Soldaten vielleicht einholen und so den nächsten Sonnenuntergang erleben. 294
Seine Geschichten sind noch lustiger als die von Rotbart, meinte Keselo zu den anderen. Wenn du fertig bist mit Lachen, komme ich zum unangenehmen Teil, sagte Tori. Angesichts der Anzahl Schiffe, die wir verbrannt haben, müssen es eine halbe Million Trogiten sein, die ungefähr in unsere Richtung unterwegs sind. Wir sollten besser eine Möglichkeit finden, sie von uns abzulenken, sonst fallen die Insektenmenschen von einer und die Trogmenschen von der anderen Seite über uns her. Er schaute in Langbogens Feuer. Im ersten Moment, das muss ich zugeben, habe ich gedacht, derjenige, der sich diese wilde Geschichte ausgedacht hat, wolle uns helfen, inzwischen bin ich allerdings nicht mehr so sicher. Diese trogitischen Soldaten haben den Verstand verloren, als sie das Märchen gehört haben, also können sie vermutlich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Dementsprechend werden sie wohl von niemandem Befehle annehmen, oder? Vermutlich nicht, stimmte Keselo zu. Sie haben jede Form von Disziplin abgelegt. Langbogen starrte stur in den Sonnenuntergang. Mir gefällt es gar nicht, wie diese Sache riecht, sagte er. Nachdem die Bauern den Soldaten ihre Geschichte erzählt haben, ist deren Verstand verdunstet wie Wasser auf heißem Stein. Ich würde sagen, diese Soldaten denken im Augenblick auf gleichem Niveau wie das Vlagh. Ganz sicher ist das Vlagh nicht glücklich über das, was seinen Dienern in der Schlucht oberhalb von Lattash zugestoßen ist. Der Überverstand war vermutlich sogar noch weniger glücklich, da der Tod tausender seiner Diener die Fähigkeiten des Gruppenbewusstseins stark reduziert hat. Daher dürfte es momentan wichtiger sein, das Leben der verbliebenen Diener zu schützen, statt neues Territorium zu erobern. Das ergibt durchaus Sinn, meinte Hase. Worauf willst du hinaus, Langbogen? Ich bin mir nicht sicher, antwortete Langbogen. Dann blinzelte er. Schafe!, rief er. Ich hatte es die ganze Zeit vor Augen und habe es nicht gesehen! 295
Ich kann dir nicht ganz folgen, sagte Hase. Ganz bestimmt gab es früher mal eine Zeit, als die Schafe wilde Tiere waren - so ähnlich wie Hirsche. Dann kamen die Menschen vorbei und zähmten sie. Ich habe noch immer nicht verstanden. Menschen sind nicht die einzigen Wesen, die andere Wesen für ihre eigenen Zwecke abrichten. Ameisen zähmen Blattläuse für ihre Zwecke, und andere Insekten sind dazu ebenfalls in der Lage. Das Vlagh braucht Soldaten, die das Kämpfen übernehmen - und das Sterben -, um den Überverstand zu schützen. Wenn wir zu viele Diener des Vlagh töten, bricht der Überverstand zusammen. Somit brauchte das Vlagh Sklaven, und es hat die Kirchensoldaten im Süden mit dem Wort >Gold< unterworfen. Ist dieses dumme Ding wirklich so klug?, wollte Tori ungläubig wissen. Es ist nicht nur ein einziges Ding, Tori. Was einer von ihnen sieht, sehen alle, und nachdem sie es gesehen haben, sucht der Überverstand nach einer Möglichkeit, auszunutzen, was sie entdeckt haben. Ich gebe es nicht gern zu, aber im Augenblick scheint der Überverstand gut zu funktionieren. Das ist ja schrecklich!, rief Tori. Wie können wir in einer solchen Situation gewinnen? Hetz mich nicht, sagte Langbogen und imitierte dabei den rauen Tonfall von Vetter Sorgan. Ich denke schon drüber nach.
Die große Mauer
32 Unterkommandant Gunda war an Bord der Aszendent, dem Schiff eines entfernten Vetters, nach Süden zum Hafen von Castano gesegelt, und als er dort ankam, erkannte er plötzlich, dass die Heimat seiner Vorfahren nicht annähernd so schön war, wie er sie in Erinnerung hatte. Im Hafen selbst schwamm der Abfall auf dem Wasser, und die Steinsäulen der Piere, die weit in den Hafen ragten, waren mit schleimigen grünen Algen überzogen. Die prachtvollen Gebäude waren vom ständigen Rauch, der aus den Schornsteinen aufstieg, grau und schmuddelig geworden. Gunda legte die bequeme Kleidung ab, die er auf der Überfahrt getragen hatte, zog seine schwarze Lederuniform mit poliertem Brustpanzer und Helm an und schnallte sich den Schwertgurt um. Es handelte sich schließlich um eine Art offiziellen Besuch, und daher empfand er die Uniform als angemessen.
Die Uferseite von Castano war mit Anlegern zugebaut, und wie vermutlich über jedem Hafen der Welt hing auch hier der durchdringende Geruch von faulendem Fisch in der Luft. Die Straßen der Stadt waren schmal und schmutzig, und die meisten Menschen, denen Gunda begegnete, trugen den stolzen Ausdruck im Gesicht, mit dem anscheinend jeder Trogit im Reiche geboren wird. Das Land Dhrall war sehr primitiv, dafür jedoch sauber - weitaus sauberer jedenfalls als der Ursprung der Zivilisation. Gunda seufzte und durchquerte Castano in Richtung Südtor. Es war Frühsommer, und Gunda glaubte fest, die sanften Hügel im Süden von Castano würden ihm eine Entschädigung für seine Enttäuschung bieten, aber die Hügel erschienen ihm nicht halb so eindrucksvoll, wie er sie in Erinnerung hatte. Ständig sah er vor seinem inneren Auge die Bilder vom westlichen Dhrall, wo hohe 299
Berge vom Meer aus aufragten und sich riesige Bäume bis in den Himmel reckten, und im Vergleich dazu fand er das Hügelland von Castano eher mickrig. Das vorübergehende Lager des Hauptteils von Kommandant Narasans Armee lag südlich von Castano, und im Grunde war es eine Kopie des Lagers in Kaldacin, bestand nur eben aus Zelten. Aufgrund dieser Ähnlichkeit beschlich Gunda beinahe das Gefühl, als käme er nach Hause. Er ging durch das offene Tor in der Palisade aus Baumstämmen, die das Lager umschloss, erwiderte zackig den Gruß der beiden Wachen, und ging direkt zum einzigen festen Gebäude. Zelte waren vielleicht zum Schlafen geeignet, aber das Hauptquartier einer Armee erforderte Solideres. Die Schreiber und Verwaltungsbeamten in dem großen zentralen Raum erhoben sich bei seinem Eintreten und nahmen Haltung an. Rühren, meine Herren, sagte Gunda. Die strengen militärischen Umgangsformen hatten Gunda aus irgendeinem Grunde schon immer gestört. Wo sitzt Unterkommandant Andar? Den Gang ganz hinunter, Unterkommandant, antwortete ein sehr junger Offizier und zeigte zum hinteren Teil des zentralen Raums. Gunda nickte und durchquerte die Amtsstube. Unterkommandant Andar war ein bisschen größer als der durchschnittliche Trogit, und wie bei den meisten hochrangigen Offizieren in Narasans Armee zeigten sich auch bei ihm bereits silbergraue Haare an den Schläfen. Er war ein durchsetzungsfähiger, zuverlässiger Mann, und Narasan hatte ihm deshalb den Befehl über den Hauptteil der Armee übergeben, solange sie noch hier im Imperium stationiert war. Als Gunda den Raum betrat, rügte Andar gerade einen sehr jungen Offizier für einen unbedeutenden Fehler. Der Unterkommandant hatte eine tiefe, dröhnende Stimme, und er konnte beim geringsten Anlass markige Worte finden. Als er Gunda sah, ließ er den jungen Soldaten auf der Stelle abtreten. 300
Hat der Junge etwas Schlimmes angestellt?, erkundigte sich Gunda. Eigentlich nicht, erwiderte Andar. Er ist nur ein wenig zu sehr von sich selbst überzeugt, das ist alles, deshalb war es mal an der Zeit für einen Dämpfer. Wie läuft es im Norden, Gunda? Wir haben nichts mehr von euch gehört, seit die Vorhut Castano verlassen hat. Nun, den Krieg im westlichen Dhrall haben wir gewonnen gewissermaßen, antwortete Gunda ein wenig zögerlich. Er nahm den Helm ab und strich sich abwesend das Haar nach vorn, um die ersten kahlen Stellen zu verbergen. Dort drüben gehen eine Menge Dinge vor sich, die ich nicht richtig begreife. Er schaute sich in Andars Zimmer um. Sind die Wände einigermaßen dick?, fragte er seinen Freund. Ein paar der Vorkommnisse in Dhrall sollten lieber nicht unter den Soldaten die Runde machen. Wir können offen reden, versicherte Andar ihm, ... solange du nicht gerade brüllst. Gut. Gunda setzte sich auf einen Stuhl neben dem Schreibtisch. Ihr seid auf einige Probleme gestoßen, nehme ich an, knurrte Andar. Auf mehr als nur einige, alter Freund, antwortete Gunda. Vermutlich wirst du es nicht glauben, aber unser verehrter Kommandant hat einen schweren Anfall von Freundschaft zu einem Maagpiraten namens Sorgan Hakenschnabel erlitten. Das darf doch wohl nicht wahr sein! Ich fürchte doch. Das Eigenartige daran ist, es hat sich sogar ausgezahlt. Die Maags sind ein undisziplinierter Haufen, aber sie verstehen zu kämpfen. Sie sind Ungeheuer, Gunda! Mag sein, aber nicht solche Ungeheuer wie jene, gegen die wir kämpfen müssen.
Barbaren, nehme ich an? Mehrere Stufen unterhalb von Barbaren, Andar. Ich würde sie kaum als richtige Tiere bezeichnen. 301
Könntest du das vielleicht ein wenig genauer erklären, Gunda? Ich wüsste doch zu gern, womit wir es zu tun haben werden. Das wird dir sicher gar nicht gefallen, meinte Gunda düster. Ich finde, Narasan hätte mehr Gold verlangen sollen. So schlimm? Schlimmer noch. Wenn ich richtig verstanden habe, was man mir erzählt hat, sind die Dinger, gegen die wir in den Krieg ziehen, nur zum Teil menschlich. Die übrigen Teile sind eine Mischung aus Insekt und Schlange. Ich glaube, bei dir fehlen ein paar Tonbecher in der Truhe, höhnte Andar. In dem Teil der Welt fehlen bei jedem ein paar Tonbecher in der Truhe, Andar. Wir ziehen offenen Auges in einen Albtraum. Ein kleiner Biss genügt, und man kann dich ins Grab legen. Das ist überhaupt nicht lustig, Gunda. Siehst du mich etwa lachen? Ich denke mir das nicht aus, Andar. Du solltest mir lieber jedes Wort glauben, was ich dir sage, denn davon könnte irgendwann dein Leben abhängen. Sind diese Eingeborenen tatsächlich so hilflos, wie unser Auftraggeber angedeutet hat?, wollte Andar wissen. Die Eingeborenen von Veltans Domäne möglicherweise ja, aber in Zelanas Domäne gibt es einen Bogenschützen, der anscheinend einfach nicht weiß, wie man danebenschießt. Der hat uns auch erklärt, wie wir den Feind mit seinem eigenen Gift töten können. Ist denn das mit unserem Berufsethos vereinbar? Wir kämpfen gegen Insekten, Andar, nicht gegen Menschen. Ethos spielt keine Rolle, wenn dein Gegner kein Mensch ist. Gunda hielt kurz inne. Du wirst sicherlich eine Zeit lang brauchen, bis du ausreichend Schiffe gemietet hast, um alle Männer zu Veltans Domäne zu bringen, meinst du nicht auch? Eine ganz schöne Weile, fürchte ich. Aus irgendeinem Grund lieben Kapitäne das Feilschen, und manchmal dauert es einen halben Tag, nur ein einziges Schiff zu mieten. Hattest du vor, deine Heimkehr mit einem ausgedehnten Besuch in den hiesigen Tavernen zu feiern? Eher nicht, entgegnete Gunda. Ich weiß ziemlich sicher, wo der Kommandant und der Rest der Vorhut wahrscheinlich hinziehen werden, aber ich bin nicht sicher, ob das der Ort ist, an dem der nächste Krieg ausgetragen wird. Ich glaube, ich schaue mich mal am Wasser um und suche mir einen dieser kleinen Fischerkähne wie dieser, mit dem Veltan und Narasan seinerzeit ins Land Dhrall aufgebrochen sind, ehe unsere Vorhut in See stach. Einer der Schreiber kann meine Karte kopieren, damit ihr den Weg durch den Kanal hinauf zur Südküste findet. Ich fahre inzwischen voraus und frage Narasan, wo genau wir mit der Flotte landen sollen. Daraufhin kehre ich zurück zu euch. Ich treffe euch vermutlich im Eiskanal und kann euch dann zu dem Ort führen, wo Narasan uns erwartet. Das würde uns doch einiges an Zeit ersparen, Gunda. Andar kniff leicht die Augen zusammen. Haben wir viele Männer dort oben verloren? Mindestens einige Tausend. Jalkan gehört nicht zufällig zu den Gefallenen?, fragte Andar mit vager Hoffnung. Ich fürchte nicht. Der Kommandant hat ihm mehrmals eine Rüge erteilt, doch das war schon alles. Wie schade, bedauerte Andar. Du darfst die Hoffnung niemals aufgeben, mein Freund, sagte Gunda und grinste. Es ist nur eine Frage der Zeit. Früher oder später wird irgendwer Jalkan umbringen, und dann streichen wir uns das Datum im Kalender an. Wozu? Ich dachte, man könnte vielleicht einen Feiertag daraus machen. Ja, das wäre für mich ein ganz besonders hoher Feiertag, mein Freund, stimmte Andar zu. Gunda schaute sich während der nächsten Tage auf der heruntergekommenen Hafenseite von Castano nach einem Fischerboot um, das zu einem vernünftigen Preis zu erstehen war, und derweil 302
machte sich Andar an die ermüdende Aufgabe, eine ausreichende Zahl Handelsschiffe anzuheuern, um die Armee zu Veltans Domäne zu befördern. Obwohl Andar Zugang zur Schatzkammer der Armee hatte, war Gunda überzeugt davon, dass sein Freund sich fürchterlich aufregen würde, falls sein Fischerboot zu teuer war.
Schließlich fand Gunda ein Boot, das ihm geeignet erschien, und er stellte Andar dem Fischer vor, der es verkaufen wollte. Und damit begann eine angeregte Feilscherei, während Gunda die schäbige Hafentaverne verließ und zu seinem entfernten Vetter, dem Kapitän der Aszendent, ging, um sich von ihm die Grundzüge des Steuerns beibringen zu lassen. Obwohl Gunda an der Küste aufgewachsen war, wusste er praktisch nichts über Schifffahrt. Am nächsten Morgen schien die Sonne hell, und am Himmel stand kein Wölkchen, also ging Gunda hinunter zum Hafen und beschäftigte sich ein wenig mit seinem neuen Spielzeug. Zunächst stellte er sich ungeschickt an und zog sich Flüche von den Kapitänen der anderen Schiffe zu, während er durch den Hafen kreuzte, nach ein paar Tagen jedoch bekam er langsam Übung. Inzwischen war er davon überzeugt, dass er auf See zurechtkommen würde, wenn er nicht gerade in einen Orkan geriet. Dann kehrte er zum Lager der Armee zurück und erkundigte sich, wie Andar vorankam. Ich habe noch viel zu tun, räumte Andar ein. Es ist schwierig, Schiffe aufzutreiben. Wie viele brauchst du noch? Mindestens hundert. Hunderttausend Mann kann man nicht auf einer Hand voll Schiffe befördern. Ich nehme die Albatros und steche in See. Die Albatros ? Das ist ein schöner seetüchtiger Name, oder nicht? Ich meine, ein Albatros ist doch eine Art Verwandter der Seemöwe, nicht wahr? Ich weiß nicht, ob ich den Namen wählen würde, Gunda. Ich habe gehört, Seeleute mögen diese Vögel eigentlich nicht. Ein Albatros soll angeblich Unglück bringen. 304
Das ist bloß Aberglauben, Andar. Andar zögerte kurz. Ist Narasan eigentlich wieder ganz der Alte?, fragte er dann ernst. Er war eine Zeit lang ziemlich durcheinander, nachdem sein Neffe unten im Süden gefallen ist. Er machte den Eindruck, als wäre alles in Ordnung. Ich glaube, einen Krieg in einem ganz anderen Teil der Welt zu führen hat ihm geholfen, über das Unglück mit seinem Neffen hinwegzukommen. Padan schaut ihm ein wenig über die Schulter, und er wird uns sagen können, ob unser glorreicher Führer wieder ganz der Alte ist. Ich werde hinauffahren und in Erfahrung bringen, wo wir mit unserer Armee an Land gehen sollen, dann kehre ich zurück und führe dich hin. Vorausgesetzt, ich finde genug Schiffe, um alle Männer gleichzeitig hinüberzubefördern, knurrte Andar. Vielleicht muss ich zwei Fahrten machen. Aus irgendeinem Grunde sind Schiffe im Augenblick in Castano rar. Viel Erfolg, alter Freund, sagte Gunda. Wir sehen uns auf jeden Fall in einigen Wochen. Meinetwegen brauchst du dich nicht zu beeilen, Gunda. Bezahlt werde ich so oder so. Am nächsten Tag stach Gunda beim ersten Licht in See, und als die Albatros den Hafen verließ und das offene Meer erreichte, zeigte das Boot, was es konnte. Gunda merkte, dass es, hatte er die Segel erst einmal richtig gesetzt, durch die Wellen schnitt wie ein gut gewetztes Messer. Die Segel knatterten fröhlich, und das Wasser zischte unter dem spitzen Bug, während die Albatros nordwärts rauschte. Gunda spürte die Wellen unter dem Rumpf des Bootes, wenn es hindurchpflügte. Die Sonne ging unter, und Gunda entschied, einen Treibanker zu werfen, damit die Albatros bis zum nächsten Morgen die Position nicht allzu sehr veränderte. Dann schöpfte er das Wasser hinaus, das sich im Laufe des Tages angesammelt hatte. Die Albatros war wirklich ein gutes Boot, doch hatte sie offensichtlich ein paar Lecks, um die man sich kümmern musste. 3°5 Am nächsten Morgen segelte er weiter, und am späten Nachmittag tauchte der Südrand der Eiszone am Horizont auf. Die Albatros kam wesentlich schneller voran als die schlingernden trogitischen Handelsschiffe, auf denen die Vorhut ins Land Dhrall verfrachtet worden war. Bist wirklich ein kleiner Schatz, sagte er liebevoll zu seinem Boot. Bis Sonnenuntergang war Gunda in das Südende des Kanals eingefahren und vertäute die Albatros sorgfältig an einem Eisberg. Es war nicht der rechte Zeitpunkt, irgendwelche Risiken einzugehen. Zum sanften Schwanken der Albatros auf den Wellen schlief er gut, fast wie in einer Wiege. Beim ersten Licht erwachte er, setzte erneut die Segel und fuhr vorsichtig durch den meilenbreiten Kanal weiter, derweil die Sonne über den Horizont stieg und ihn begrüßte. Am nächsten Tag erreichte die Albatros das Nordende des Kanals, und nachdem Gunda diesen endlich verlassen hatte, atmete er auf. Zwar hatte ihm im Kanal zu keiner Zeit eine konkrete Gefahr gedroht, aber das hoch aufragende Treibeis sorgte doch für ein flaues Gefühl im Magen.
Hinter der Eiszone wehte ein kräftiger Rückenwind, und dieAl-batros schoss mit ungezügelter Begeisterung dahin. Gunda versuchte seine fast romantischen Anwandlungen angesichts der Segelfahrt zu unterdrücken. Richtige Seeleute würden solche Empfindungen wohl kaum noch wahrnehmen, aber schließlich gab er auf. Ach, was soll's, murmelte er vor sich, solange wir uns amüsieren, macht es keinen Unterschied, oder? Er brauchte zwei Tage, um die Südküste von Veltans Domäne zu erreichen, und einen Tag später kam er bei der östlichsten Halbinsel an. Die Südküste, so fiel ihm auf, bestand zum größten Teil aus Ackerland, und die kleinen Dörfer am Wasser wirkten sauber und adrett. Jetzt im Frühsommer hob sich der leuchtend grüne Weizen auf den Feldern kontrastreich von den schneeweißen Sandstränden ab, und über den blauen Himmel zogen Schäfchenwolken dahin. Als er nach Norden schwenkte, um mit der Albatros an der Ostküste von Veltans Domäne entlangzusegeln, begriff Gunda plötz306
lieh, warum ihm Castano bei seinem letzten Besuch so hässlich erschienen war. Beschämt musste er sich eingestehen, dass das glorreiche trogitische Imperium im Vergleich zum sauberen, offenen Land Dhrall ein schmutziger, beengter Ort war, in dem es wie in einem offenen Abwasserkanal stank. Es war am Nachmittag des nächsten Tages, als er die seltsam gemischte Flotte aus breiten trogitischen Kähnen und schmalen Maaglangschiffen entdeckte, die vor einem weißen Sandstrand vor Anker lagen. Er näherte sich der Sieg, dem Schiff seines Vetters Pantal, und dabei fiel ihm auf, wie ihn sein Freund Padan aus der Entfernung genau beobachtete. Hallo, Padan, rief Gunda. Bist du das, Gunda?, fragte Padan und wirkte ziemlich überrascht. Wo ist der Rest der Armee? Vermutlich noch immer in Castano. Andar hat Schwierigkeiten, genug Schiffe zu finden. Ich bin nicht ganz sicher, aber möglicherweise muss er zwei Fahrten machen, um alle unsere Männer herzubringen. Gunda vertäute die Albatros an der Ankerkette der Sieg. Ich muss mit Narasan reden. Wenn er inzwischen erfahren hat, wo wir auf den Feind stoßen werden, brauche ich die genaue Position, damit ich die Armee dort landen lassen kann. Keine schlechte Idee, räumte Padan ein. Komm an Bord. Da gibt es ein paar Dinge, die du besser wissen solltest. An einer Strickleiter kletterte Gunda aufs Deck der Sieg und schüttelte oben dem alten Freund die Hand. Wir haben dich vermisst, Gunda, sagte Padan. Mit diesem kleinen Fischerboot hast du mich richtig erschreckt. Es sieht fast so aus wie Veltans Kahn, und ich habe schon gedacht, er würde wieder auftauchen. Oh? Ist Veltan fortgesegelt? Es war nicht Veltan, der mit dem Kahn davongefahren ist. Der hagere Jalkan hat endlich den Fehler begangen, auf den wir alle gewartet haben. Narasan hat ihn entlassen, und ich habe ihn in Ketten zum Strand geführt. Das ist die beste Neuigkeit, die ich seit Jahren gehört habe, 3°7 sagte Gunda und grinste breit. Was hat der Mistkerl gesagt, das unseren glorreichen Führer so in Rage gebracht hat? Er hat die Gattin von Veltans engstem Freund beleidigt. Na, das muss ja eine Beleidigung gewesen sein. Sie reichte aus. Narasan hätte fast der Schlag getroffen, als er hörte, was der Kerl von sich gab, und der Gemahl der Dame reagierte angemessen - nun, vielleicht nicht ganz so angemessen, wie wir uns alle erhofft hatten. Er versetzte dem armen kleinen Jalkan einen Hieb aufs Maul, doch bin ich sicher, unser glorreicher Führer hätte eine tödlichere Züchtigung bevorzugt. Jalkan erhob sich schreiend und verlangte die sofortige Hinrichtung von Veltans Freund, aber Narasan hat ihn einfach aus der Armee entlassen. Damit bekommt dieser ganze Krieg doch gleich einen viel menschlicheren Zug. Aber was hat Veltans Fischerkahn mit der Sache zu tun? Dazu wollte ich gerade kommen. Ich brachte den Schurken zum Strand und sperrte ihn in einem Verschlag im Frachtraum der Sieg ein, den ich für sicher hielt. Jalkan wurde an die Wand gekettet, und die Tür wurde von außen verriegelt. Ich dachte, es sei unmöglich, aus diesem Gefängnis zu entkommen, doch heute Morgen stellte ich fest, dass ich mich geirrt habe. Irgendwie hat er die Ketten geöffnet, den Riegel zurückgeschoben und ist geflohen. Veltans Kahn hat nicht weit entfernt vor
Anker gelegen, und als ich aufwachte, war Jalkan mitsamt Boot verschwunden. Mann, in deiner Haut möchte ich nicht stecken!, rief Gunda. Ja, erwiderte Padan grimmig. Narasan wird mich vermutlich bei lebendigem Leib rösten. Ich habe die Sache versaut, Gunda, und Narasan wird sich mich ordentlich vorknöpfen. Armer Junge, sagte Gunda mit spöttisch gespieltem Mitleid. Wo finde ich denn unseren glorreichen Führer jetzt? Er muss mir mitteilen, wo genau ich mit seiner Armee an Land gehen soll. Vermutlich ist er noch in Veltans Haus - im Kartenraum höchstwahrscheinlich. Padan zögerte. Du könntest nicht zufällig noch eine Weile für dich behalten, was ich dir gerade erzählt habe? 308
Das wäre nicht anständig, Padan, entgegnete Gunda, und auf Anstand habe ich immer großen Wert gelegt. Kommandant Narasan war höchst unzufrieden, als er von Jalkans Flucht erfuhr. Warum hat Padan keine Wachen aufgestellt?, wollte er wissen. Darüber musst du mit Padan selbst reden, Narasan, antwortete Gunda. Im Augenblick möchte ich nur wissen, wo Andar mit seiner Armee an Land gehen soll. Vermutlich hat er Castano schon verlassen, daher werde ich ihn wohl in dem Kanal durch das Eis treffen. Gehen wir in Veltans Kartenraum, schlug Narasan vor. Ein paar Tagesfahrten nördlich von hier mündet ein großer Fluss ins Meer, den werdet ihr ein Stück hinauffahren und dann an Land gehen. Er hielt kurz inne. Wie hat du einen so großen Vorsprung vor der Hauptflotte gewonnen, Gunda?, fragte er. Gunda zuckte mit den Schultern. Ich habe mir in Castano einen Fischerkahn besorgt, erzählte er. Den habe ich auf den Namen Albatros getauft. Er ist fast doppelt so schnell wie die anderen trogitischen Schiffe. Narasan zuckte zusammen. Wie viel hast du dafür bezahlt? Kann ich nicht sagen, alter Knabe, erwiderte Gunda frohlockend. Andar hat den Schlüssel zur Schatztruhe, also habe ich ihm das Feilschen überlassen, während ich die Albatros im Hafen überredet habe, im Wasser zu segeln und sich nicht zum Fliegen in die Lüfte zu erheben. Sehr lustig, Gunda. Freut mich, dass dir meine Geschichte gefällt, alter Freund. Du hast da ein kleines Problem, Vetter, sagte Pantal am nächsten Morgen, als Gunda vom Strand aus zur Sieg ruderte. Ja? Ich hoffe, du wolltest nicht ausgerechnet heute Morgen aufbrechen. Doch, das hatte ich eigentlich so geplant, meinte Gunda. 309
Nun, im Augenblick hält deinen Kahn nur das Tau, mit dem er an die Ankerkette der Sieg gebunden ist, vom Meeresgrund fern. Was soll das denn heißen? Schau es dir selbst an, schlug Pantal vor und warf die Strickleiter über die Reling. Gunda stieg die Leiter hinauf und folgte seinem Vetter auf die andere Seite der Sieg. Dort blieb er stehen und betrachtete voller Unglauben die Ankerkette. Wie Pantal es beschrieben hatte, spannte sich das Tau von der Albatros straff nach unten, und Gunda sah die verschwommenen Umrisse seines Kahns unter der Oberfläche. Was ist passiert?, rief er. Die meisten Leute würden es wohl nennen: >gesunken<, gab Pantal zurück. Hat irgendein Halunke ein Loch in den Boden geschlagen? Pantal schüttelte den Kopf. Letzte Nacht hatte ich Wachen aufgestellt. Niemand ist der Sieg nahe gekommen. Wer hat dir den Kahn verkauft? Ein Fischer in Castano. Lass mich raten. Ein ziemlich abweisender Kerl, der volltrunken war? Kennst du ihn? Nicht mit Namen, aber solche Leute gibt es in Castano wie Sand am Meer. Er war schon in die Jahre gekommen, und er hatte all die Wehwehchen und Zipperlein, die mit dem Alter einhergehen. Hast du schon mal das Wort >kalfatern< gehört, Gunda? Nicht, dass ich wüsste. Was bedeutet es?
Es bedeutet eine sehr unangenehme Arbeit, Vetter. Schiffe jeder \ Größe sind aus Brettern gebaut. Ist dir das schon einmal aufgefallen? Versuch nicht, komisch zu sein, Pantal. Gleichgültig, wie eng der Schiffsbauer die Bretter des Rumpfes zusammensetzt, nach einer Weile wird trotzdem Wasser einsickern. Seeleute entledigen sich dieses Problems mit Hammer, Beitel und jeder Menge Werg. Du stopfst das Werg zwischen die Bret310
ter und stocherst und hämmerst, bis es gut sitzt. Trotzdem sickert weiter Wasser ein, aber das ist dir nur recht. Denn das Werg wird nass und dehnt sich aus, und dadurch wird der Rumpf versiegelt. Nachdem du den Rumpf kalfatert hast, wird die Albatros schwimmen wie ein glasierter Krug. Wie oft muss ich das machen? Für gewöhnlich jedes Jahr. Falls du oft in rauen Gewässern herumschipperst, vielleicht zweimal im Jahr. Jetzt verstehst du vermutlich, weshalb dieser alte Fischer dir seinen Kahn verkaufen wollte. Der Gedanke an das Kalfatern hat ihm Albträume beschert. Vetter, ich habe nicht die geringste Ahnung, wie ich das machen soll, gestand Gunda. Das habe ich mir schon gedacht, Vetter. Ich lasse die Sache von meinen Männern für dich erledigen aber es wird dich etwas kosten. Irgendeinen Haken gibt es ja immer, meinte Gunda säuerlich. Im Leben ist nichts umsonst, Vetter, erwiderte Pantal. Warum gehen wir nicht in meine Kabine und reden über den Preis? Pantals Männer zogen die Albatros an die Oberfläche, schöpften sie aus und hievten sie auf den Strand. Dann begannen sie mit der langwierigen Arbeit des Kalfaterns. Du hast wirklich Glück gehabt, Gunda, sagte Pantal. Musstest du auf dem Weg hierher oft schöpfen? Gunda zuckte mit den Schultern. Zwei oder drei Mal, wenn ich mich recht entsinne. Der alte Fischer meinte, sie habe ein paar kleine Lecks und ich solle das im Auge behalten. Wieso ist der Kahn so plötzlich voll gelaufen und gesunken? Pantal zuckte mit den Schultern. Dafür gibt es verschiedene Ursachen - kälteres Wasser, eine große Welle, die gegen die Seite schlägt, oder ein größeres Stück Dichtung hat sich gelöst. Genau kann man es nicht sagen. Du hättest leicht dort draußen absaufen können, weißt du? Wenn ich wieder in Castano bin, werde ich mich mit diesem al3"
ten Fischer unterhalten, knurrte Gunda. Wie lange wird es wohl dauern? Mehrere Tage auf jeden Fall. Könntest du nicht mehr Männer daran setzen? Im Augenblick ist es sehr wichtig, dass die Albatros wieder seetüchtig wird. Sie würden sich nur gegenseitig im Weg stehen, Gunda. Der Kahn ist nicht so groß, und in ihrem Rumpf ist kein Platz für zwei Dutzend Männer. Die Tage zogen sich endlos dahin, während Pantals Männer die Albatros kalfaterten, und Gunda verbrachte den größten Teil der Zeit in Veltans Kartenraum und studierte die Gegend, wo der Krieg aller Wahrscheinlichkeit nach stattfinden würde. Narasan würde den Rest seiner Armee bald brauchen, das war nicht zu übersehen. Die Albatros war der schnellste Weg, sie herzulotsen, doch langsam machte sich Gunda Gedanken, ob nicht eine andere Lösung notwendig werden würde.
33 Der Rumpf ist jetzt wieder dicht, verkündete Pantal an einem Nachmittag einige Tage später, und das Boot wird dich überraschen. Seit Jahren hat man es vernachlässigt, und jetzt, nachdem es kalfatert wurde, wird es durchs Wasser schneiden wie ein heißes Messer durch Butter. Na, hoffentlich, antwortete Gunda, ich wollte schon vor vier Tagen wieder in Castano sein. Nun, so schnell wird es nicht ganz sein, Gunda, aber man weiß ja nie. Na, dann wollen wir mal sehen. Ich habe in den letzten Nächten den Himmel beobachtet, und zurzeit haben wir Vollmond. Wenn das Wetter so klar bleibt, brauchte ich bei Sonnenuntergang den Anker nicht zu werfen. Eine so gute Idee ist das nicht, Vetter, sagte Pantal skeptisch. 312
Aber wenn du unbedingt nachts segeln musst, halte dich fern von jeder Küste oder von Inseln. Die Albatros hat zwar nicht viel Tiefgang, trotzdem ... Ich passe gut auf, Vetter, versicherte Gunda ihm, doch die Zeit wird langsam knapp, und Narasan braucht seine Armee hier und nicht in Castano. Pantals Einschätzung der runderneuerten Albatros entpuppte sich als Untertreibung. Manchmal schien der Kahn regelrecht zu fliegen, während Gunda an der Ostküste von Veltans Domäne entlangrauschte. Als er die Spitze der ersten Halbinsel an der Südküste erreichte, musste er jedoch gegen den dort herrschenden Wind ankämpfen. Widerwillig holte Gunda die Segel ein und griff zu den Rudern. Glücklicherweise änderte der Wind die Richtung, ehe die Blasen an seinen Händen zu bluten begannen, und Gunda hisste wieder das Segel. Dann entdeckte er eine Strömung an der Nordseite der Eiszone, die ihn nach Westen zog, und so erreichte er nach nicht einmal zwei Tagen den Kanal. Natürlich nutzte er den Vollmond aus, und er kam ebenso schnell voran wie auf dem Hinweg. Seine Augen brannten vor Müdigkeit, als er in den Kanal einfuhr, aber er hatte herausgefunden, dass er mit vier bis fünf Stunden Schlaf in der Nacht auskam. Zwar verspürte er eine wachsende Müdigkeit, doch versprach er sich, richtig auszuschlafen, sobald er Castano erreicht hatte. Spät am Nachmittag des vierten Tages nach seinem Aufbruch von Veltans Hafen sichtete er die Nordküste des Imperiums vor sich. Gut, gut, murmelte er der Albatros zu. Hast du wirklich gut gemacht, Kleines. Ich bin stolz auf dich. Sobald wir den Hafen erreichen, können wir den Schlaf nachholen. Ist das nicht schön? Dann lachte Gunda trocken. Vielleicht fehlt mir inzwischen doch ein Tonbecher in der Truhe? Ich hatte fast eine Antwort von ihr erwartet. Offensichtlich brauche ich wirklich dringend Schlaf. Im Hafen von Castano wurde er jedoch schlagartig wieder hell3*3
wach. Soweit er sehen konnte, lagen an jedem Anleger und Kai große breite Schiffe, und die Männer an Bord dieser Schiffe trugen die unverkennbaren roten Uniformen der Kirchensoldaten. Was machen die hier?, rief Gunda. Diese Idioten! Er setzte die Albatros ein Stück weiter die Küste hinauf auf den Strand, vertäute sie an einem großen Baum und ging um die Stadtmauer herum zu dem Armeelager im Süden der Stadt. Wo hast du gesteckt, Gunda?, wollte Andar bei seinem Eintreten mit tiefer, knurriger Stimme wissen. Ich wurde im Lande Dhrall aufgehalten, antwortete Gunda. Was ist in Castano los? Überall liegen Schiffe der Kirche. Die reden mit niemandem, Gunda, berichtete Andar. Die Kirchenarmeen haben sich vor drei Tagen in Marsch gesetzt, und dann tauchte die Flotte auf. Sie haben den gesamten Hafen besetzt, ich kann also meine Männer nicht auf die Schiffe bringen, die ich angemietet habe. Wohin sie eigentlich wollen, weiß ich auch nicht, aber es sieht aus, als würden sie einen großen Feldzug planen. Gunda begann zu fluchen - und zwar ausgiebig. Habe ich etwas Falsches gesagt?, fragte Andar. Jalkan!, schimpfte Gunda. Gunda, ich verbitte mir solche Worte. Es sind Kinder in der Nähe. Zeit für sie, erwachsen zu werden. Als Narasans Flotte Veltans Haus erreichte, gingen Narasan und einige andere hinauf, um eine Karte zu studieren, die Veltan angefertigt hatte, und dann kam die Frau eines seiner besten Freunde herein und sagte, es sei Zeit zur Abendessen. Ich habe diese Dame gesehen, sie ist so schön, dass einem Mann das Herz stehen bleiben kann. Jalkan ist ja nicht gerade der Hellste, aber offensichtlich wurde es bei ihm noch dunkler, als er sie sah, und er gab ein paar Bemerkungen von sich, die in einer solchen Situation nur ein Idiot machen konnte. Der Gemahl der Dame schlug Jalkan zu Boden, und Narasan entließ Jalkan von seinem Offiziersposten, ließ ihn sodann in Ketten legen und im Kielraum eines der Schiffe einsperren. Dann können wir jetzt feiern. 3*4
Leider nicht. Irgendwie konnte Jalkan sich befreien, und dann stahl er Veltans Kahn und segelte davon. Wir wissen beide genau, wohin er sich gewandt hat, nicht wahr? Angesichts dessen, was in Castano los ist, würde ich sagen, er ist vermutlich zur Obersten Bruderschaft in Kaldacin gegangen, und höchstwahrscheinlich hat er dort laut das Wort >Gold< gesagt. Und allem Anschein nach haben ihm einige der höheren Kirchenmänner geglaubt. Das würde erklären,
warum sich die Kirche jeden Anleger hier in Castano unter den Nagel gerissen hat. Wir können nichts dagegen unternehmen. Kannst du in etwa abschätzen, wie viele Kirchensoldaten an Bord dieser Schiffe sind? Kirchenarmeen haben ihre eigenen Banner, Gunda, so wie die richtigen Armeen auch. Ich habe sie beobachten lassen, und bislang konnte ich fünf verschiedene Kirchenarmeen identifizieren. Gunda zuckte zusammen. Das wären dann eine halbe Million Mann Andar. Wir sind schon mit dem einen Krieg genug beschäftigt wir brauchen nicht noch einen anderen. Konntest du irgendwie in Erfahrung bringen, wann die Kirchenflotte in See sticht? Vermutlich in den nächsten beiden Tagen, antwortete Andar. Und du solltest noch etwas wissen, Gunda. Gestern trafen einige Schiffe mit schwarzen Segeln ein, und die Männer an Bord haben sich lange mit den Kirchenobersten unterhalten. Da kann man sich denken, was das zu bedeuten hat. Sklavenhändler?, fragte Gunda. Was haben sie ..., er unterbrach sich. Natürlich!, rief er. Sie planen gar nicht, die Ostküste hinaufzufahren und Narasan anzugreifen. Sklaven sind fast ebenso wertvoll wie Gold, und die Kirchenarmeen werden gegen niemanden kämpfen müssen, wenn sie lediglich Sklaven jagen wollen - jedenfalls nicht in einer Gegend, wo die Werkzeuge und Waffen aus Stein gefertigt werden. Da könntest du Recht haben, Gunda. Zu schade, dass der Gemahl dieser hübschen Dame nicht ein oder zwei Schritte weitergegangen ist. Ein Schwert im Bauch oder eine Axt im Schädel hätten dieses Problem gelöst, ehe es überhaupt entstanden wäre. Ich habe ihn kennen gelernt - kurz. Er ist einer diese Leute, bei denen der Anstand aus jeder Pore dünstet. Offensichtlich wollte er nicht weiter gehen als bis zu diesem Schlag aufs Maul. Anständige Leute können einem das Leben manchmal richtig schwer machen, jammerte Andar. Wie Andar vorhergesagt hatte, verließ die Kirchenflotte den Hafen von Castano zwei Tage später, und Gunda legte seine Uniform beiseite, zog sich schmuddelige Zivilkleidung an und legte ein zusammengerolltes Fischernetz auf den Bug der Albatros. Dann segelte er in nördliche Richtung los. Rasch ließ er die schlingernden Schiffe der Kirche hinter sich und erreichte die Treibeiszone am späten Nachmittag des folgenden Tages. Eine halbe Meile vor dem Südende des Kanals warf er die Netze aus und wartete. Es war schon fast dunkel, als die ersten Schiffe mit roten Segeln an der Mündung des Kanals eintrafen und vor Anker gingen. Was hat sie so lange aufgehalten?, murmelte Gunda zur Albatros. Wie er es sich schon gedacht hatte, lichteten die Schiffe der Kirche bei Sonnenaufgang den Anker und segelten in den Kanal. Also, sagte Gunda zur Albatros, das würde die Frage beantworten, Kleines. Das Boot antwortete nicht direkt darauf, doch wippte es leicht auf und ab, was ein Zeichen seiner Zustimmung zu sein schien. Kehren wir also nach Castano zurück, Kleine. Wir sollten Andar besser mitteilen, was diese Kirchenleute vorhaben. Andar setzte sich über etliche Regeln hinweg, als er die Soldaten von Narasans Armee an Bord der angemieteten Schiffe gehen ließ. Es wurden Proteste laut, als er verkündete, die Offiziere würden keine separaten Quartiere haben, und bei dem guten Wetter gab es auch keinen Grund, dass jeder ein Dach über dem Kopf hätte. Die Schiffe, die in See stachen, waren bis zum Äußersten beladen, aber immerhin befand sich die gesamte Armee auf dem Weg nach Norden, trotz der Tatsache, dass diese Schiffe unter normalen Umständen nicht ausgereicht hätten. Manchmal musste man eben Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen, aber Andar neigte gelegentlich zum Übertreiben. Gunda hatte ein langes Tau am Bug der Albatros befestigt und band das andere Ende am Heck des führenden Schiffes, der Triumph, fest, und als die Triumph sich dem Kanal durch die Eiszone näherte, ging er zu der überfüllten Kabine, die Andar zu seinem Hauptquartier gemacht hatte. Ich denke, wir sollten vorsichtig sein, wenn wir im Norden aus dem Kanal kommen, mahnte er an. Am besten bleibst du außer Sicht der Südküste. Falls wir richtig gezählt haben, lagern fünf Kirchenarmeen dort, und es könnte sich als vorteilhaft erweisen, wenn sie nichts von unserer Anwesenheit bemerken. Ich werde mit der Albatros ein wenig näher ranfahren und mir anschauen, was die Kirchenleute vorhaben. Geh bloß kein Risiko ein, Gunda, mahnte Andar. Narasan wird mich zum Frühstück verspeisen, solltest du dich umbringen lassen. Ich passe schon auf, Andar. Ich muss nur herausfinden, ob die Kirchenschiffe irgendwo an der Küste ankern. Dessen bin ich mir zwar einerseits sicher, möchte aber trotzdem Gewissheit haben. Wir wollen
ja nicht noch auf die Suche nach ihnen gehen müssen. Einige Seeleute halfen Gunda, die Albatros an die Triumph heranzuziehen, dann ließ er sich am Seil hinunter und löste den Knoten am Bug seines Kahns. Rasch setzte er die Segel, umschiffte die Triumph und segelte in Richtung Nordende des Kanals davon. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, als die Albatros das offene Meer erreichte, und Gunda segelte im schwindenden Licht zur Küste von Dhrall weiter. Der Mond stand in seinem letzten Viertel, daher würde Gunda genug Licht haben, nachdem er erst einmal aufgegangen war, und deshalb ankerte er nördlich der Eiszone und wartete auf den Trabanten. Es war vermutlich schon fast Mitternacht, als der Mond aufging; Gunda lichtete den Anker und ruderte die Albatros auf die Küste zu, denn er war überzeugt, wenn er die Segel eingeholt ließ, würde der Kahn von der Küste aus so gut wie unsichtbar sein. 316
Die Dörfer an der Küste waren leicht zu lokalisieren wegen des Lichts in den einfachen Hütten, und Gunda ruderte langsam von einem Dorf zum anderen. Vor den Dörfern lagen etliche Schiffe der Kirche vor Anker. Gunda konnte nicht viele Einzelheiten erkennen, aber in der Nähe der Dörfer schien es Einfriedungen zu geben, und die wurden offensichtlich streng von rot uniformierten Kirchensoldaten bewacht. Da hatten wir wohl Recht, Kleines, murmelte er der Albatros zu. Ich denke, wir haben genug gesehen. Kehren wir zu Andar zurück.
34 Die Triumph und die Flotte erreichten drei Tage später die östlichste Halbinsel an der Südküste, und Gunda sah mit Bestürzung die gesamte Flotte der Maaglangschiffe aus dem Norden kommen. Die Situation war ziemlich angespannt, bis es Gunda gelang, Sorgans Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Aus irgendeinem Grunde wirkten die Maags sehr streitlustig. Gunda stieg an einer Strickleiter zur Albatros hinunter und ruderte zur Seemöwe. Was ist los?, rief er dem stämmigen Ochs zu. Wir haben einen zweiten Krieg am Hals, rief Ochs zurück. Wie habt ihr das denn herausgefunden?, wollte Gunda wissen. Ich dachte, das würden nur wir wissen. Wir waren oben in den Bergen, als Veltan aus dem Nichts auftauchte und uns berichtete, eine ganze Flotte trogitischer Schiffe sei hier im Süden gelandet. Der Käpt'n hat ihm versprochen, dass wir uns darum kümmern. Das ist sinnvoll, erwiderte Gunda und legte mit der Albatros an der Seemöwe an. Ich sollte mich besser mit Sorgan unterhalten. Möglicherweise kann ich ihm ein paar Antworten auf gewisse Fragen liefern. Komm nur an Bord. Ochs ließ eine Strickleiter über die Re318
ling hinunter, und Gunda stieg hinauf. Unterdessen kam Sorgan vom Heck der Seemöwe nach vorn. Was ist hier unten los, Gunda?, erkundigte er sich. Auf den Schiffen dort draußen befindet sich der Rest der Armee von Kommandant Narasan, Sorgan, erklärte Gunda. Wir sind zur Mündung des Vash unterwegs, so wie es mir der Kommandant in Veltans Burg befohlen hat. Bei meiner Rückkehr nach Castano hatte die Kirche jeden Pier und jeden Kai beschlagnahmt, und fünf Kirchenarmeen wurden gerade eingeschifft. Schließlich segelte die Flotte nach Norden. Ich bin ihnen in meinem Kahn gefolgt, und sie fuhren geradewegs zu dem Kanal durch die Eiszone. Ist es nicht eigenartig, dass nicht lange nach Jalkans Flucht eine ganze Flotte der Kirche mit fünf Armeen durch diesen Kanal segelt? So ist die Sache also gelaufen!, rief Sorgan. Konntest du herausfinden, welches Ziel sie haben? Ja, Kapitän Sorgan, antwortete Gunda und grinste breit. Wir haben uns mit unserer Flotte außer Sicht gehalten, doch ich bin mit meinem Kahn an die Südküste gerudert. Vor jedem Bauerndorf ankern vier bis fünf Schiffe der Kirche, und vermutlich werden auch bald Sklavenschiffe eintreffen. Sklavenschiffe?, wiederholte Ochs und kniff die Augen zusammen. Ich fürchte, ja. Sklavenhandel ist eine alte Sitte der Kirche, leider. Im Imperium ist er schon seit Jahrhunderten gang und gäbe. Die Sklavenschiffe haben schwarze Segel, die der Kirche rote. So sieht jeder, der vorbeikommt, wie fürchterlich wichtig die Kirche ist. Plötzlich grinste Sorgan. Ich denke, ich weiß eine Möglichkeit, dass sie Rot nicht mehr so schön finden werden, Gunda. Und? Feuer ist doch auch zum Teil rot, oder nicht? Nachdem meine Leute ihre Schiffe in Brand gesetzt haben, werden sie sich vermutlich wünschen, das Wort >rot< nie gehört zu haben.
Was für eine wundervolle Idee!, freute sich Gunda. Warum habe ich nicht daran gedacht? 319 Sorgan lachte boshaft. Wenn du Narasan siehst, sag ihm, ich würde mich um unser kleines Problem hier unten kümmern. Das mache ich, Kapitän Sorgan. Ich wünsche einen schönen Tag. Gunda grinste den Piraten an und stieg wieder in die Albatros. Einige Schiffe lagen noch vor dem Strand von Veltans Burg, der größte Teil der Flotte war jedoch längst nach Norden gesegelt, und daher sah Gunda keinen triftigen Grund, anzuhalten. Die Küste nördlich der Burg war zerklüfteter als jene im Süden, und schon wenige Meilen landeinwärts ragten Gebirge in die Höhe. Malerische Gegend, sagte Andar und zeigte zu den Bergen. Genieß den Ausblick, solange du noch kannst, mein Freund, erwiderte Gunda. So schön wirst du die Berge nicht mehr finden, wenn es ans Klettern geht. Narasan hat mir eine Karte des Gebiets gezeigt, in dem wir vermutlich auf den Feind stoßen werden, und meine Laune hat das nicht gerade verbessert. Ein schmaler Pass führt nach oben, in dem nicht mehr als fünf Männer nebeneinander gehen können, und deshalb wird es eine Weile dauern, bis wir die ganze Armee oben haben. Andar seufzte. Nun gut, sagte er. Für schwierige Kriege gibt es höheren Sold. Nun, wenn du am Zahltag noch lebst, erinnerte Gunda seinen Freund. Am späten Nachmittag des folgenden Tages erreichten sie die Mündung des Vash, und offensichtlich lagen die meisten Schiffe, die die Vorhut hergebracht hatten, nahe der Mündung vor Anker. Gunda sah die Sieg, das Schiff seines Vetters Pantal, in der Mitte der Flotte, und Gunda und Andar ruderten mit der Albatros hinüber, um in Erfahrung zu bringen, wie die Dinge standen. Wir haben nicht viel gehört, Gunda, räumte der stämmige Pantal ein. Die Gruppen, die durch diese Schlucht - oder wie immer du das nennen willst - nach oben marschieren, nehmen den ganzen Platz ein, deshalb kann niemand herunterkommen und uns mitteilen, was oben los ist. 320
So geht das im Bergland, meinte Gunda. Wie weit flussaufwärts liegt der Pass? Ungefähr zwei Tage Fahrt. Kennst du Brigadekommandant Danal? Gunda nickte. Er ist schon fast so lange in Narasans Armee wie Padan und ich. Am Anfang des Passes dort hat er mehr oder weniger den Befehl. Der Kerl ist sehr brauchbar. Seine Männer haben Anleger am Nordufer errichtet, und zwar in den Fluss hinein, und wenn man auf beiden Seiten des Schiffes Anleger hat, kann man seine Soldaten sehr schnell ausschiffen. Allerdings hatte er Probleme mit der Beförderung des Proviants. Mit einem Hundert-Pfund-Sack auf dem Rücken bewegt man sich nicht sehr schnell. Gibt es unterwegs auf dem Fluss Stromschnellen?, fragte Andar. Pantal schüttelte den Kopf. Hier unten ist der Fluss ziemlich ruhig. Weiter oben, sagen die Eingeborenen, wird er wilder, aber das soll nicht unsere Sorge sein. Gut, befand Andar. Wir fahren morgen früh weiter flussaufwärts. Vermutlich werden wir einige Zeit brauchen, um die Truppen auszuschiffen, also sollten wir damit möglichst rasch anfangen. Beim ersten Licht fuhr die Triumph weiter, und Gundas Freund Andar betrachtete ehrfürchtig die großen Bäume am Ufer. Wie lange, würdest du sagen, braucht ein Baum, um so groß zu werden?, fragte er Gunda. Ich habe keine Ahnung, antwortete Gunda. Aber mindestens fünfhundert Jahre. Manche der ganz Großen haben möglicherweise über tausend Jahre auf dem Buckel. Kannst du dir etwas vorstellen, das tausend Jahre lebt? Das ist bestimmt nicht sonderlich aufregend. Als Baum kannst du nicht viel unternehmen, weil deine Wurzeln dich an einem Ort festhalten. Letzte Nacht, bevor ich eingeschlafen bin, habe ich nachgedacht, sagte Andar. 321
Ob du lieber auf dem Bauch oder auf dem Rücken schlafen willst? Ein bisschen ging es schon darüber hinaus, Gunda. Dein Vetter hat doch gesagt, die Männer, die Proviant und Ausrüstung befördern, würden die Sache verlangsamen. Daran kann ich mich erinnern, ja. Man kann sich doch schneller bewegen, wenn man nicht so viel zu tragen hat, oder? Ich spreche nur ungern Binsenwahrheiten aus. Andere halten einen dann für dumm. Willst du dir jetzt anhören, was ich zu sagen habe, oder lieber dumme Scherze machen? Tut mir Leid. Was für einen großartigen Plan hast du? Mit nur fünfundzwanzig Pfund würde ein Mann doch nicht so langsam sein, oder?
Nicht besonders. Worauf willst du hinaus? Wir haben achtzigtausend Mann. Wenn jeder fünfundzwanzig Pfund durch diese Schlucht trägt, können wir Narasan zwei Millionen Pfund an Ausrüstung und Vorräten vor die Füße legen. Gunda blinzelte. Hast du dir das tatsächlich im Halbschlaf ausgedacht, Andar? Nun, eigentlich nicht. Ich musste schon ein wenig auf Papier rechnen. Zwei Millionen Pfund sind tausend Tonnen. Davon sollte eine Armee eine Weile lang essen können, denke ich. Unsere Soldaten müssen ja sowieso hinauf, und die Vorräte zu tragen ist sinnvoller, als sich die Landschaft anzuschauen. Wo hast du denn jemanden gefunden, der so klug ist und all diese Seile im Pass gespannt hat, Danal?, fragte Gunda und starrte in die steilwandige Schlucht. Das war ein junger Bursche namens Keselo, glaube ich, antwortete Brigadekommandant Danal. Hätte ich mir gleich denken können, meinte Gunda. Ist der wirklich so hell im Kopf?, fragte Andar. Manchmal ist er fast so hell, dass er im Dunkeln leuchtet, gab Gunda säuerlich zurück. Aus irgendeinem Grund ärgert mich das. Junge Soldaten sollten dumm sein, und Keselo bricht ständig diese Regel. >Weise< ist uns alten Veteranen vorbehalten, aber Keselo wildert in fremdem Territorium. Er straffte sich. Wahrscheinlich sollten wir besser weiterziehen und Narasan verkünden, dass wir mit dem Rest seiner Männer angekommen sind. Vergiss dein Gepäck nicht, Gunda, erinnerte Andar ihn. Ich habe es aber sehr eilig, protestierte Gunda. Für die höheren Offiziere ist es Pflicht, den einfachen Soldaten ein Vorbild zu sein, erinnerte Andar ihn. Das musstest du mir unbedingt unter die Nase reiben, was? Es gehört schließlich zu meinen Pflichten, Gunda, erwiderte Andar mit breitem Grinsen. Ich bin verpflichtet, dich an die Dinge zu erinnern, zu denen du verpflichtet bist. Das ist eine schwere Bürde für mich, aber ich glaube, ich bin stark genug, sie zu tragen. Nimm den Rucksack, Gunda. Streite nicht mit mir. Was in diesem Rucksack soll denn unseren Kommandanten erfreuen? Bohnen, nicht wahr, Danal?, fragte Andar. Danal nickte. Bohnen}., wollte Gunda wissen. Du willst mich Bohnen schleppen lassen? Wären dir Steine lieber? Der Talkessel oberhalb des schmalen Passes war eine weite Wiese, auf der sich hie und da eine Baumgruppe fand. Das einzig Ungewöhnliche war die Quelle des Vash. Gunda hatte von solchen Geyiren gehört, jetzt jedoch sah er zum ersten Mal einen. Er erschauderte bei dem Gedanken, welcher Druck unter der Erde herrschen musste, damit das Wasser hundert Fuß und mehr in die Höhe geschleudert wurde, und zwar in solcher Menge, dass es die Hauptquelle eines Flusses bildete, der an seiner Mündung fast eine Meile breit war. Ein alter Sergeant lungerte im Schatten eines Baumes am Ende 322
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des Passes herum, erhob sich und salutierte, als Gunda aus dem steilen Hohlweg kam. Die Männer des Kommandanten haben ihr Lager am Nordende des Talkessels errichtet, Herr, berichtete er und zeigte auf einen Gebirgszug, der in der Mitte eine breite Lücke aufwies. Nach dem, was ich gehört habe, erwartet er dich und den Rest seiner Armee. Hat der Feind schon angegriffen?, erkundigte sich Gunda. Nicht, dass ich wüsste, Herr. Nun, immerhin etwas, würde ich sagen. Gunda nahm seinen Rucksack wieder auf und ging weiter zu Narasans Lager. Der nördliche Gebirgszug schien in vergangenen Zeiten von einer Naturkatastrophe heimgesucht worden zu sein, und die Überreste sahen fast aus wie eine Stadtmauer, die ein Jahr oder länger Katapultbeschuss hatte erdulden müssen. Vermutlich waren es die eigenartigen Felsen, die Gunda dazu brachten, die natürliche Formation mit einem menschlichen Bauwerk zu vergleichen. Die Gipfel, die den Gebirgszug geformt hatten, waren fast einheitlich schwarz, und beim Einsturz waren sie in unzählige Brocken mit glatten Oberflächen zerbrochen. Gunda sah sie sogar auf dem rötlichen Hang,
der zu einer sehr großen Senke hinabführte - die ebenfalls rot war und sich vom Fuß des Hangs her ausdehnte. Gunda wusste, rötliche Felsen - oder rötlicher Sand - deuteten auf Eisen hin. Das war verwirrend. Wenn es hier so viel Eisenerz gab, warum stellten die Eingeborenen ihre Werkzeuge und Waffen aus Stein her? Er zuckte mit den Schultern und betrat das Lager im Süden der Bergkette. Du warst aber schnell, Gunda, grüßte Narasan, als Gunda sich bei ihm meldete. Wir hatten schon die Befürchtung, du könntest mit der Kirchenflotte im Süden zusammengestoßen sein. Wir hatten Glück, antwortete Gunda. Als ich in Castano eintraf, hatte die Kirche jeden Anleger im Hafen beschlagnahmt. Sie segelten nach Norden ab, und ich folgte ihnen, um herauszufinden, ob unsere Vermutungen bezüglich ihres Ziels richtig waren. Was in der Tat zutraf. Dann fuhr ich nach Castano zurück, und Andar hatte derweil alle Regeln gebrochen - keine schlimmen Sachen: So bekamen die Offiziere keine separaten Quartiere, und nicht jeder hatte während der Überfahrt ein Dach über dem Kopf. Auf diese Weise konnte er die gesamte Armee einschiffen, allerdings lagen manche Schiffe so tief im Wasser, dass schon ein leichter Sturm sie versenkt hätte. Narasan zuckte zusammen. Es ist Sommer, alter Freund. Die Gefahr eines Sturmes auf See ist zurzeit sehr gering. Jedenfalls begegneten wir Sorgan in der Nähe der Südküste, und die Aussicht, Kirchenschiffe zu verbrennen, schien ihm große Freude zu machen. Meine Freude wäre noch größer, wenn ihm das gelingt, räumte Narasan ein. Der Gedanke, einen Feind im Norden und den anderen im Süden stehen zu haben, stimmt mich nicht gerade fröhlich. Was ist eigentlich in dem Rucksack, den du auf dem Rücken trägst, Gunda?, fragte Padan. Versprich mir, nicht zu lachen, ja, Padan?, forderte Gunda grimmig. Warum sollte ich lachen? Auf die Idee ist Andar nachts im Traum gekommen. Der Proviant der Armee liegt unten am Fluss auf einem großen Haufen. Danal hat eine Anzahl Soldaten abgestellt, um die Sachen nach oben zu transportieren, doch wegen des schweren Gepäcks sind sie fürchterlich langsam, und das behindert die übrigen Soldaten. Andar schlug also vor, das Gewicht zu reduzieren und die Last auf viele Rücken zu verteilen, so dass nun jeder Soldat, der den Pass hinaufsteigt, fünfundzwanzig Pfund Proviant trägt. Das wäre mir niemals eingefallen, gestand Narasan. Was trägst du, Gunda?, drängte Padan. Gunda ballte die Hand zur Faust und hielt sie Padan unter die Nase. Bohnen, sagte er, einfach nur Bohnen, und wage es nicht zu lachen, Padan. Nicht im Traume würde ich daran denken, alter Freund, erwiderte Padan und lächelte nicht einmal. 325
Gut. Dann darfst du deine Zähne behalten. Gunda wandte sich wieder an Kommandant Narasan. Hat schon jemand die Schlangenmenschen gesichtet? Nein, antwortete Narasan, aber der Feind weiß, dass wir hier sind. Es scheint, dieses Ding, das die Eingeborenen das >Vlagh< nennen, hat wieder Experimente betrieben. Im Ergebnis sind dabei Kundschafter herausgekommen, nur diesmal keine Schlangen, sondern Fledermäuse. Und sie haben Giftzähne. Fliegende Schlangen?, rief Gunda. Die Sache ist nicht ganz so schlimm, wie es sich anhört, Gunda, beschwichtigte ihn Padan. Dieser kluge kleine Maag, der für Hakenschnabel arbeitet, hat Fischernetze als Schutz vorgeschlagen, und das scheint gut zu funktionieren. Bis jetzt wurde noch niemand gebissen. Dieses >bis jetzt< behagt mir gar nicht, Padan, knurrte Gunda. Die Sache ist äußerst beunruhigend. Man muss eben alle Möglichkeiten im Auge behalten, alter Freund. Ich bin froh, dass du hier bist, Gunda, meinte Narasan. Di bist ein Experte in Sachen Festungsbau, und wir haben gerade ein ziemliches Problem. Ach? Wenn du dich umschaust, siehst du, dass dieser Talkessel vor! steilen Bergketten umgeben ist - außer auf der Nordseite, und da ist nun einmal die Richtung, aus welcher der Feind angreifen wird. Die Lücke zwischen den Bergen ist etwa eine Meile breit. Ich denke, es würde fast den ganzen Sommer dauern, eine Festung quer hindurch zu errichten. Padan hat schon ein Fundament anleget lassen, aber die Arbeit geht langsam voran. Du musst damals, als wir noch Jungen waren, bei der entsprechenden Lektion geschlafen haben, Narasan, erwiderte Gunda prompt. Wenn man einen so großen Raum blockieren will, baut man eine
Mauer, keine Festung. Nachdem wir das Problem im Unterricht besprochen hatten, habe ich einen Ausflug in die Gegend östlich von Kaldacin gemacht, zu der Mauer, die die Städte Falka 326
und Chalan trennt. Die Menschen in diesen Städten sind aus irgendeinem Grund nie miteinander ausgekommen, daher haben die Herrscher gemeinsam eine Mauer errichten lassen, die sie nun trennt. Insekten - oder Schlangen, was das betrifft - haben wohl wenig Schwierigkeiten, eine Mauer zu überwinden, widersprach Padan. Doch, wenn alle hundert Fuß Türme aus der Mauer nach vorn ragen, Padan - und besonders dann, wenn auf diesen Türmen Bogenschützen stehen. Bogenschützen können sie schon von der Mauer pflücken, ehe sie angefangen haben zu klettern, oder etwa nicht? Damit könntest du Recht haben, Gunda, räumte Padan ein. Versuchen wir es, sagte Narasan. Dieses Problem raubt mir schon seit einiger Zeit den Schlaf. Du kannst dich jetzt schlafen legen, glorreicher Führer, sagte Gunda spöttisch. Der mächtige Gunda ist zurück. Du bist ein wenig aufsässig, Gunda, meinte Narasan säuerlich. Es freut mich, dass es dir gefällt, glorreicher Führer. Also, was soll ich mit diesen Bohnen anstellen. Ich werde langsam müde, weil ich sie die ganze Zeit herumschleppen muss. Es heißt >Basalt<, Unterkommandant Gunda, erklärte Keselo. Im Imperium stoßen wir nur selten darauf, aber in vulkanischen Gegenden kommt es häufig vor. Wieso zerbricht es in solche viereckigen Blöcke?, wollte Gunda wissen. Ich bin mir nicht sicher, Herr. Unser Lehrer an der Universität von Kaldacin hat uns nicht sehr viele Einzelheiten über jene Gesteinsarten beigebracht, die im Imperium nicht verbreitet sind. Hast du eigentlich irgendetwas nicht studiert, Keselo?, fragte Gunda neugierig. Nicht sehr vieles, Herr, gestand Keselo. Ich habe damals wein Bestes getan, eine Entscheidung zu vermeiden. Theologie habe ich allerdings ausgelassen. Die Lehrer in der Abteilung waren amaritische Priester, und die Studenten mussten während des Un327
terrichts einen Teller für Spenden herumgehen lassen. Diese Leute tun wirklich so gut wie alles, um an das Geld der Welt heranzukommen, nicht? Wir verdienen unser Geld wenigstens. Zurück zum Thema Gestein. Ist es hart genug, um Gebäude daraus zu errichten - oder Festungsanlagen ? Der Basalt ist nicht ganz so fest wie Granit, Herr, aber da der Feind diesmal nicht über Katapulte oder Rammböcke verfügt, sollte Basalt standhalten. Das war alles, was ich wissen wollte, sagte Gunda. Mit flachen Steinen kann man besser arbeiten als mit runden, und diese flachen schwarzen Steine liegen hier überall herum. Das kommt vermutlich daher, dass wir um uns herum überall Vulkane haben. Feuerberge, meinst du?, fragte Gunda erschrocken. So nennt Rotbart sie. Nicht jeder Vulkan spuckt Feuer. Manche spucken nur Asche und keinen flüssigen Fels. Gibt es eine Art Warnung, wenn so etwas bevorsteht? Für gewöhnlich ereignen sich erst ein paar Erdbeben, ehe die Spitze des Berges weggesprengt wird. Gunda schauderte. Keselo schaute über den Grasbewachsenen Talkessel hinweg. Da kommt Hase, sagte er. Sollte der nicht mit Sorgan im Süden unterwegs sein? Veltan hat ihn sich ausgeliehen, erklärte Keselo. Was für eine interessante Idee. Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich das letzte Mal jemanden ausgeliehen habe. Hase kam von den Wiesen zu ihnen herauf. Ich habe gehört, ihr wollt hier eine Mauer bauen?, fragte er. Das ist unser Plan, antwortete Gunda. Würde es euch stören, wenn ich einen Vorschlag mache? Eigentlich nicht, sagte Gunda. Was hast du denn für einen Einfall? Wenn ihr oben angelangt seid, könntet ihr dann vorn und hinten Stangen von ungefähr vier Schritt Länge einlassen? Das dürfte nicht so schwierig sein. Wozu sollen die Stangen gut sein? Um die Fischernetze zu halten.
Ich glaube, allzu viele Fische werden nicht versuchen, über die Mauer zu springen, Hase. Dem würde ich durchaus zustimmen. Allerdings werden wir höchstwahrscheinlich Insektenfledermäuse zu sehen bekommen. Langbogen glaubt, im Augenblick fliegen sie nur herum, um sich anzugucken, was wir treiben, aber Rotbart war sicher, bei der, die Langbogen abgeschossen hat, habe er Gift gerochen. Wenn sie sich in Fischernetzen verfangen, werden sie vermutlich niemanden mehr beißen können. Keine schlechte Idee, aber ich denke, sie würden uns im Weg sein, wenn der Feind die Mauer hochklettert. Fledermäuse fliegen nur bei Nacht, habe ich gehört, erwiderte Hase. Wir können die Netze tagsüber hochziehen, damit sie uns nicht im Weg sind, und sie bei Sonnenuntergang wieder herunterlassen. Das würde sicherlich funktionieren, räumte Gunda ein. Des Nachts Krieg zu führen macht sowieso nicht viel Spaß. Die flachen schwarzen Steine, die Keselo als Basalt bezeichnet hatte, waren gut geeignet, und, da Gunda nun die Mehrheit von Narasans Armee zum Bau der Mauer heranzog, machten die Arbeiten größere Fortschritte als erhofft. Wenn die Schlangen, Insekten, Fledermäuse ... was auch immer ... noch ein paar Tage mit ihrem Angriff warteten, würde die Mauer - zusammen mit den Türmen - fertig sein, und was auch immer aus dem Ödland heranstürmten würde, hätte ein Problem. Narasan verbrachte den Großteil seiner Zeit damit zu beobachten, wie der Bau von Gundas Mauer voranschritt, er hielt jedoch auch ein Auge auf die Wälle, die Padans Männer auf dem Hang errichteten, der zur Sohle des von den Eingeborenen so genannten Ödlands führte. Die Wälle wurden in fast klassischen Halbkreisen gestaltet, grenzten auf der rechten Seite in Höhe von Gundas 328 329
Mauer an die Bergkette, erstreckten sich halbkreisförmig über den Hang bis zu den Bergen auf der linken Seite. Der Hang war mit Basaltbruchstücken übersät, daher herrschte kein Mangel an Baumaterial. Der erste Steinwall befand sich recht nahe an Gundas Mauer, und nachdem dieser fertig war, begannen Padans Männer mit einem zweiten. Falls Padan genug Zeit blieb, würde er vermutlich Wälle bis zur Wüste bauen. Alles in allem ergaben die Wälle und Gundas Mauer eine anständige Standard-Befestigungsanlage. Allerdings gab es auch einige lokale Besonderheiten. Gunda hatte gehört, dass manche trogitischen Armeen angespitzte Pfähle vor den Wällen in den Boden rammten, um den Feind beim Sturm zu behindern, aber bestimmt waren diese Pfähle im Weltreich zuvor nicht in Gift getaucht worden. Insgesamt verspürte er Zufriedenheit mit ihrem Vorhaben. Wirkungsvoll hatten sie die Lücke, die der eingestürzte Berg hinterlassen hatte, geschlossen, und aller Wahrscheinlichkeit nach könnten sie ihre Befestigungsanlagen gegen fast jeden Feind über den Sommer halten. An einer Seite der Wälle bildete der junge Keselo die hiesigen Bauern in den Grundzügen der Phalanxformation aus, und Gunda musste dem Jungen zugestehen, dass er sehr gut war. Hast du dir eigentlich Keselo mal genauer angesehen, Narasan?, fragte Gunda. Der Junge hat wirklich einiges drauf, ist dir das schon aufgefallen? Ich beobachtete Keselo schon seit einer Weile, Gunda, antwortete Narasan. Er ist gut, nicht? Ja. Wenn er uns erhalten bleibt, könnte er es in unserer Armee weit bringen. Bis zur Spitze, meinst du? Das sollte man nicht ausschließen, Gunda. Er ist äußerst intelligent und ein hervorragender Lehrer. Ich habe gedacht, diese Bauern würden uns in diesem Krieg nicht von Nutzen sein, doch Keselo hat erstklassige Soldaten aus ihnen gemacht, und das in kürzester Zeit. Natürlich hatten sie noch keine Feindberührung, aber sie werden ihre Position bei einem Angriff sicherlich verteidigen. 33° Werden wir sehen, meinte Gunda. Dies ist schließlich kein gewöhnlicher Krieg, deshalb würde ich keine Wetten abschließen. Gundas Mauer war fast fertig gestellt, als Veltan aus seinem Lager in der Nähe des Geysirs kam, um Narasan mitzuteilen, dass Langbogens witziger Freund Rotbart gerade mit mehreren tausend Bogenschützen aus Zelanas Domäne eingetroffen war. Er hat sich mit Langbogen in den westlichen Bergen getroffen, sagte Veltan, und er hat einiges in Erfahrung gebracht, das du und deine Männer wissen sollten. Zum Beispiel, wo Langbogen in letzter Zeit gesteckt hat?, fragte Padan. Der war beschäftigt, gab Veltan zurück.
Rotbart unterhielt sich gerade mit der werten Dame Zelana, als Narasan und seine Offiziere ins Lager kamen. Das verwirrte Gunda ein wenig. An manchen Tagen war Zelana da, an anderen nicht, und an manchen Tagen, wenn sie da war, wurde sie von dem kleinen Mädchen Eleria begleitet, an anderen Tagen jedoch nicht. Die Gewohnheiten von Veltans Familie durchschaute Gunda einfach nicht. Was genau hat Langbogen in letzter Zeit getrieben?, fragte der kleine Maag mit Namen Hase den Bogenschützen Rotbart. Ständig ist er in die Berge gerannt. Er ist oben auf dem Kamm der westlichen Berge, antwortete Rotbart. Zumindest war er dort, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Wie mir zu Ohren gekommen ist, soll es im Süden Schwierigkeiten geben. Wir haben gehofft, Langbogen würde sich darum kümmern, sagte Kommandant Narasan. Ich habe alle Bogenschützen der Armee abgestellt, ihm zu helfen, die zweite Invasion abzuwehren. Das hat er erwähnt, meinte Rotbart. Jetzt dürfte alles leichter für ihn werden, denn nun hat er Bogenschützen, die wissen, mit welchem Ende man den Pfeil auflegen muss. Ganz sicher möchte ich dich nicht beleidigen, Freund Narasan, aber deine Bogenschützen sind leider nicht sehr gut. Üben sie eigentlich nie? 331
Da steht ihnen leider das Regelwerk der Armee im Weg, Freund Rotbart, erklärte Padan. Trogitische Soldaten sind verpflichtet fünf Stunden jeden Tag mit Marschieren zu verbringen und weitere fünf Stunden den Schwertkampf zu üben. Da bleibt ihnen nicht viel Zeit, ihre Fertigkeiten am Bogen zu verbessern. Warum tragen sie überhaupt Schwerter? Tradition, erwiderte Padan und zuckte mit den Schultern. Armeeoffiziere - und natürlich auch die Ausbilder - halten die Tradition für heilig. Soldaten sollen sich eben mit Schwertern gegenseitig umbringen. Der Bogen wird eher mit Abscheu betrachtet. Jemanden zu töten, der mehr als fünf Fuß entfernt ist, empfindet man als unanständig. Rotbart sah Kommandant Narasan an. Er macht doch nur Scherze, oder? Im Prinzip nicht, entgegnete Narasan und klang dabei ein wenig verlegen. Vielleicht ist es an der Zeit, über eine Änderung der Regeln nachzudenken. Wäre das nicht der Anfang vom Ende der Welt?, fragte Padan. Narasan ignorierte den Kommentar. Fahr fort, Rotbart. Langbogen hat mir erzählt, er habe die meiste Arbeit erledigen müssen, als diese Leute in roter Kleidung durch einen der schmalen Gräben kamen. Ich schätze, deine Bogenschützen können diese Leute in Rot sehen, auch wenn sie ihre Pfeile nicht in ihre Nähe lenken können, also hat Langbogen sie als Wachen in jeden Graben gestellt, der von unten herauf führt. Da er jetzt über Männer verfügt, die wissen, was sie zu tun haben, wird alles viel besser laufen. Die Leute in der roten Kleidung werden uns nicht mehr viel Ungemach bereiten. Wir brauchen diese Bogenschützen hier, Rotbart!, protestierte Gunda. Unsere gesamte Verteidigungsstrategie hängt von diesen Schützen ab. Dann haben wir ein interessantes Problem. Wir können natürlich gern darüber streiten, nur hat Langbogen leider schon die Hälfte der Bogenschützen, die ich über die Berge geführt habe, und ich glaube, er wird sie kaum ziehen lassen. 332
35 Ein paar Tage später legten Gundas Männer letzte Hand an der Mauer an, und Gunda war davon überzeugt, die Sache habe einen guten Ausgang genommen. Die flachen Basaltsteine waren stabil, wenn auch ein wenig rau. Im Imperium hätte er für dieses Bauwerk Hohn und Spott geerntet, aber er befand sich nicht im Imperium, und Gunda hatte zu wenig Zeit gehabt - und eigentlich auch keine Lust -, um diese Mauer mit poliertem Marmor zu verkleiden. Narasan hatte so gut wie jeden Sergeanten beleidigt, als er die Bogenschützen vom Hauptheer abzog und dem Befehl von Rotbart unterstellte. Zumindest konnten die Bogenschützen nun das eine Ende des Pfeils vom anderen unterscheiden - was insgesamt keine sehr beeindruckende Leistung war, da sie inzwischen von morgens bis abends mit ihren Bögen übten. Gegen Mittag dieses Tages stieg unten am Hang zum Ödland eine große Staubwolke auf. Sofort benachrichtigte Gunda Kommandant Narasan, und es dauerte nicht lange, bis sich die Beobachter auf Gundas Mauer drängten - mit dabei zwei Personen, die offensichtlich nicht aus dem Lande Dhrall stammten. Ekial mit dem Narbengesicht wirkte dabei gar nicht so fehl am Platz, doch die
Kriegerkönigin Trenicia löste bei Gunda Schreck - und Ehrfurcht! - aus. Ich würde sagen, wir bekommen bald Besuch, knurrte Andar. Aber ich habe gar nichts Passendes zum Anziehen!, protestierte Padan. Ist er oft so?, erkundigte sich Andar bei Gunda. Andauernd, erwiderte Gunda. Er hält es für lustig, dabei lache ich schon seit Jahren nicht mehr darüber. Er schaute den Hang hinunter, dann blickte er Veltan an. Vielleicht täusche ich mich, sagte er, aber mir scheint die Talsohle der Wüste in dieser Gegend tiefer zu liegen als am Ende der Schlucht bei Lattash. Hier befand sich die tiefste Stelle des Binnensees, der in früheren Zeiten das Ödland bedeckte, erklärte Veltan. Ich habe zwar 333
nie Messungen vorgenommen, doch glaube ich, diese Senke liegt sogar noch unter dem Spiegel von Mutter Meer. Wenn du nett mit Mama redest, füllt sie das Schluckloch vielleicht wieder mit Wasser, schlug Padan vor. Mama? Veltan wirkte bei dem Wort verwirrt. Würdest du dich nicht mit dem Kosenamen bei ihr einschmeicheln?, fragte Padan und täuschte mit großen Augen Unschuld vor. Ich nehme an, unser kleiner Bruder möchte es darauf nicht ankommen lassen, meinte Zelana. Er hat sich bei ihr schon einmal in die Nesseln gesetzt, und sie hat ihn ohne Abendbrot zum Mond geschickt. Sind dort unten wirklich so viele Feinde?, fragte Andar und betrachtete voller Respekt die Staubwolke. Vermutlich wirbeln sie nur Staub auf, um ihre wahre Zahl zu tarnen, meinte Danal. Solches Vorgehen ist nicht unüblich. Wenn man nicht über so viele Mann verfügt wie der Gegner, will man ihn das nicht wissen lassen, und wenn man mehr hat, möchte man sie ebenfalls verbergen. Das wäre möglich, sagte die werte Dame Zelana, aber vermutlich ist es eine neue Brut. Nach den Ereignissen in der Schlucht waren dem Vlagh nicht viele Diener geblieben, also musste es massenhaft neue in die Welt setzen. Vielleicht hat es wieder experimentiert. Das Vlagh erzeugt ständig neue Arten von Nachwuchs. Damit habe ich immer noch so meine Probleme, räumte Keselo ein. Ist es tatsächlich so, dass wir von Frauen angegriffen werden? Die kräftige Kriegerin von der Insel Akalla griff nach ihrem Schwert. Veltan legte ihr die Hand auf den Arm. Er wollte dich nicht beleidigen, Königin Trenicia, sagte er. Aber er ist mit eurer Kultur nicht vertraut. Man sollte sie ihm wohl mal erklären, verkündete die Kriegerkönigin grollend. Ich würde die Diener des Vlagh nicht als >Frauen< betrachten, Keselo, mahnte die werte Dame Zelana. Zwar sind es Weibchen, 334
aber die Mehrheit aller Insekten sind Weibchen. Die Männchen haben nur eine Aufgabe - über die wir uns jetzt wohl kaum unterhalten müssen. Der junge Keselo wurde puterrot. Zelana lachte belustigt. Ist er nicht ein süßer Junge?, sagte sie zu den anderen. Jedenfalls produziert das Vlagh mit einer einzigen Brut Zehntausende von Nachkommen. Aber das müssten doch noch Säuglinge sein, widersprach Andar. Richtig, stimmte Zelana zu, aber die Kindheit eines Insekts dauert nur ungefähr eine Woche. Danach sind sie ausgewachsen. Und die Weibchen auch? Genau. Das Leben eines Insektenmännchens muss höchst interessant sein, grübelte Padan. Die Sache hat durchaus einige Haken, junger Mann, warnte Zelana ihn. Nachdem das Männchen seine Pflicht erledigt hat, ist es von keinerlei Nutzen mehr, daher beißen die Diener des Vlagh -Weibchen, versteht sich - ihm den Kopf ab und werfen ihn zusammen mit dem Rest auf den Abfallhaufen. Immer noch interessiert an einem Leben als Insektenmännchen, Padan?, fragte Gunda milde. Ich werde lieber noch einmal darüber nachdenken, gestand Padan schaudernd ein. Eine Stunde später kam Wind auf, der die Staubwolke auseinander trieb, und die Beobachter auf Gundas Mauer waren von der schieren Anzahl der feindlichen Krieger, die zielstrebig durch die rötliche Wüste zogen, wie gelähmt. Ich glaube, es ist an der Zeit, unsere Positionen einzunehmen,
meine Herren, sagte Narasan grimmig zu seinen Offizieren. Bilde ich es mir nur ein, oder sind die Wesen da unten wesentlich größer als jene, mit denen wir es in der Schlucht zu tun hatten ? Gunda blinzelte. Schwer zu sagen auf diese Entfernung, aber du könntest Recht haben. Er wandte sich an Veltan. Ist das Vlagh zu so etwas in der Lage? Ich meine, kann es die Größe seiner Soldaten einfach innerhalb eines Monats verdoppeln? Vermutlich, antwortete Veltan. Das Vlagh imitiert. Wenn es eine Eigenschaft entdeckt, die ihm nützen könnte, stattet es die nächste Brut mit dieser Besonderheit aus. Die Männer aus dem Land Maag sind sehr groß, also hat das Vlagh, nehme ich mal an, diese Eigenschaft kopiert. Warum hat es seine Krieger nicht von Anfang an größer gemacht?, fragte Hase. Größere Geschöpfe brauchen mehr Futter, erklärte Veltan, und da draußen im Ödland gibt es nicht viel zu fressen. Seit dem Kampf in der Schlucht gibt es jedoch mehr zu fressen, und deshalb kann das Vlagh sich jetzt größeren Nachwuchs leisten. Bäume und Büsche, meinst du? Nein, eigentlich nicht, antwortete Veltan. Kriege hinterlassen Tote. Nach dem Krieg gab es viel zu fressen. Die Vulkane haben zwar etliches verbrannt, doch offensichtlich haben die Diener des Vlagh genug gerettet, um die größeren Krieger zu füttern. Das ist ja ekelhaft!, rief Keselo. Veltan zuckte nur mit den Schultern. Das Vlagh denkt nicht in unseren Kategorien, Keselo, sagte er. Es tut, was immer notwendig ist, um das zu erlangen, wonach es strebt. Außerdem war im Ödland nie genug Futter vorhanden, um ausreichend Diener zu ernähren, damit das Vlagh sein letztendliches Ziel erreichen kann. Wenn man recht darüber nachdenkt, führt es diesen Krieg vielleicht genau aus diesem Grund. Gunda!, rief Andar von einem benachbarten Turm. Schau mal hinter die erste Reihe der Angreifer. Ich denke, diesmal haben wir es noch dazu mit einer völlig anderen Spezies von Feinden zu tun. Gunda spähte durch den Staub am Ende des Hanges. Zuerst fiel ihm nichts Ungewöhnliches auf, dann entdeckte er eine eigenartige Bewegung am Boden. Eine Windböe fegte den Staubvorhang auseinander. Schildkröten?, fragte er. Warum in aller Welt sollte das Vlagh Schildkröten einsetzen? 336
Sie sind ungefähr zehn Fuß lang, Gunda, stellte Padan fest, und wenn ich richtig zähle, haben sie acht Beine. Spinnen? Gunda staunte. Teils Schildkröte, teils Spinne? Das ergibt doch keinen Sinn. Leider doch, Gunda, widersprach Veltan. Ich glaube, das Vlagh hat unseren trogitischen Freunden eine sehr gute Idee gestohlen. Er streckte die Hand aus und klopfte Gunda an die metallene Brustplatte. Diese Idee, fuhr er fort. Jetzt hat das Vlagh Soldaten, die Rüstung tragen. Aber weshalb Spinnen anstelle von Reptilien?, fragte Padan. Veltan zuckte mit den Schultern. Spinnen können sich schneller bewegen, und sie können Netze weben. Er runzelte die Stirn. Ich bin mir nicht ganz sicher, antwortete er, aber ich glaube, Spinnengift ist noch tödlicher als Schlangengift. Na, da haben wir uns ja auf etwas eingelassen, stöhnte Padan. Die größere Spezies Schlangenmenschen führte einige kleinere Angriffe gegen die äußersten Steinwälle, zog sich jedoch zurück, als die Sonne sich dem Horizont im Westen näherte. Kommandant Narasan rief seine Männer zu einer Besprechung zusammen. Wurde auch Zeit, murmelte Gunda vor sich hin, als er die Treppe auf der Rückseite der Mauer hinunterstieg und sich zu den anderen gesellte. Diese Gegner sind mindestens doppelt so groß wie jene, mit denen wir es in der Schlucht zu tun hatten, berichtete Keselo, aber sie sind nicht so beweglich und schnell, scheint es mir. Größer heißt eben auch langsamer, warf Hase ein. Ich habe das schon früh im Leben gelernt, allerdings aus der Entgegengesetzten Perspektive. Es ist möglich - oder sogar wahrscheinlich -, dass es sich bei unserem Widersacher um die erste Brut dieser großen Schlangenmenschen handelt, widersprach Veltan. Sie brauchen mehrere Generationen, um sich an die veränderte Größe anzupassen. Sollten wir dann diesen Krieg nicht besser gewinnen, ehe sie mit ihrer neuen Größe umzugehen gelernt haben?, fragte Padan. 337
Darauf würde ich mich nicht unbedingt verlassen, mein Freund, widersprach Gunda. Wenn das, was in der Schlucht passiert ist, einen Hinweis auf ihre Fähigkeiten gibt, könnten sie uns einfach überraschen, und wenn man gegen Giftzähne kämpft, heißt >Überraschung< für gewöhnlich tot. Sind diese Großen irgendwo bis an den Wall herangekommen, Keselo?, fragte Narasan. Nein, Herr, antwortete Keselo. Mir schien es, sie würden lediglich beobachten. Hast du eine Vorstellung, wie dick ihre Panzer sind?, fragte Rotbart. Eigentlich nicht, räumte Keselo ein. Sie haben sich im Hintergrund gehalten. Ein Pfeil mit Eisenspitze könnte die Panzer vielleicht durchschlagen, aber meine Hand würde ich dafür nicht ins Feuer legen. Möglicherweise sollten wir über Katapulte nachdenken, Kommandant, schlug Andar vor. Wenn spitze Geschosse den Viechern nichts ausmachen, dann vielleicht schwere. Da könnte was dran sein, stimmte Brigadekommandant Danal zu. Ein Fünfzig-Pfund-Stein würde diese Panzer zerschmettern, oder? Einen Versuch ist es jedenfalls wert, denke ich, meinte Narasan. Dann gesellte sich Sorgan Hakenschnabels jüngerer Vetter Tori zu ihnen ans Feuer. Wie läuft es im Süden?, fragte Veltan. Gut, erwiderte Tori ein wenig skeptisch, wir haben alle Schiffe der Trogs verbrannt, aber ich bin nicht sicher, ob uns das großartig weitergeholfen hat. Dort unten gehen seltsame Dinge vor sich. Warum erzählst du die Geschichte nicht von Anfang an, Kapitän Tori, schlug Narasan vor. Ich musste auf eine Wette verzichten, die ich unmöglich hätte verlieren können, beschwerte sich Tori verdrossen. Hm, da komme ich jetzt nicht richtig mit, meinte Narasan verwirrt. Vetter Sorgan und mein großer Bruder Skell wollten es auf die 338 altmodische Art machen. Sie wollten an jedes Trogschiff heransegeln und es mit Fackeln in Brand setzen. Ich habe meine Männer üben lassen, mit Pfeil und Bogen zu schießen. Die Wette war einfach. Wer von uns die meisten Schiffe in Brand setzen würde, hätte gewonnen. Damit hätte ich meinem Vetter Sorgan und meinem Bruder Skell noch die letzte Münze abnehmen können, doch erinnerten sie mich an meine >Verantwortung<, also fühlte ich mich verpflichtet, ihnen zu zeigen, wie man diese Flotte am schnellsten vernichtet. Jeder Krieg verlangt Opfer, Kapitän Tori, tröstete ihn Narasan. Kannst du bitte jetzt zur Sache kommen? Tori zuckte mit den Schultern. Wir haben die Schiffe verbrannt, doch das war ihnen gleichgültig. Sie waren längst aus der Gegend verschwunden, als wir eintrafen. Verschwunden}', rief Gunda. Wohin? Vermutlich sind sie hierher unterwegs, antwortete Tori. Könntest du die Geschichte vielleicht noch mal und dann von Anfang an erzählen, Kapitän?, bat Narasan. Ich kann es versuchen. Nach dem, was ich gehört habe, sind die Kirchenarmeen über die Küste hergefallen, haben die Bewohner gefangen genommen und sie in Sklavenpferchen Zusammengetrieben. Dann haben irgendwelche höchst unangenehmen Kerle in schwarzer Kleidung sie mit Folter bedroht, falls sie nicht zur Zusammenarbeit bereit wären. Und natürlich spielte das Wort >Gold< eine wichtige Rolle, und deshalb ist ihr Feldzug auch gescheitert. Jedes Mal, wenn einer der Eingeborenen das Wort >Gold< hörte, begann er sofort, ein dummes Märchen aufzusagen, über einen Bauern, der vom Rübenanbau die Nase voll hat und eine Abenteuerreise in die Berge unternimmt. Allerdings nicht genau hierher, denn in jener Wüste bestand der Sand aus Gold. Das ist absurd!, höhnte Padan. Für die Trogs nicht, sagte Tori und grinste. Jeder Trog, der das Märchen hörte, glaubte es aufs Wort. Diese Kirchenarmeen lösten sich auf, weil die Soldaten in Scharen desertierten. Als wir ankamen und die Schiffe abbrannten, waren an der gesamten Süd339
küste kaum mehr als tausend Soldaten zurückgeblieben, und die Priester mit ihren Freunden, den Sklavenhändlern, rannten hinter den Soldaten her und schrien: >Kommt zurück! Kommt zurück!<, doch die Soldaten ignorierten sie und rannten weiter nach Norden, als ginge es um ihr Leben. So läuft der Hase also!, rief Narasan. Jetzt haben wir unsere zwei Invasionen. Ich würde das, was da von Süden kommt, nicht gerade eine Invasion nennen, Kommandant,
widersprach Tori. Es ist eher eine heranstürmende Horde von Menschen. Was ist aus den eingesperrten Bewohnern geworden?, wollte Veltan wissen. Nachdem die Soldaten davongerannt waren, gab es niemanden mehr, der sie bewachte, die Eingeborenen haben also die Zäune niedergerissen und sind nach Hause gegangen. Die Priester und die Sklavenjäger mussten zuschauen, wie ihnen ein Vermögen davonlief. Natürlich hatten wir ihre Schiffe längst verbrannt, daher hätten sie die Sklaven sowieso nicht ins Trogland transportieren können. Tori blinzelte nachdenklich. Ich kann es zwar nicht beweisen, sagte er, aber ich habe das starke Gefühl, dort unten hat jemand sein Spielchen getrieben. Jemand, der sehr ungewöhnliche Fähigkeiten besitzt, muss diesen Schwindel inszeniert haben, der die Kirchentrogs so verrückt gemacht hat. Das Lustige daran ist eigentlich, dass es nur bei den Trogs wirkt. Ich habe die Geschichte selbst ein Dutzend Mal gehört, habe aber den Kopf nicht verloren. War es immer die gleiche Geschichte?, erkundigte sich die werte Dame Zelana neugierig. Exakt die gleiche. Ich könnte sie hier ja wiederholen - Wort für Wort -, aber einige meiner Freunde hier sind zufällig Trogs, und es wäre wohl nicht gerade höflich, aus ihrem Hirn Rührei zu machen, oder? Mehrere hundert Insektenfledermäuse zappelten am nächsten Morgen in Hases Fischernetzen. Langbogen hatte ihnen gesagt, dass die fliegenden Feinde vermutlich Späher waren, dennoch wa340
ren sie giftig, und bei dem Gedanken daran fröstelte Gunda. Er schickte einen Trupp seiner Soldaten mit langen, Giftgetränkten Speeren die Mauer entlang, um die hilflos flatternden Tiere zu erledigen, und eine zweite Gruppe Männer hinterher, die dicke Lederhandschuhe trugen und die toten Kundschafter des Feindes aus den Netzen holten und beseitigten. Die große Spezies von Feinden, die Sorgan Hakenschnabel die Schlangenmenschen nannte, attackierte ein paar Mal probeweise die Steinwälle am Hang, doch blieb ein Großangriff zunächst aus. Die Riesenwesen mit den Schildkrötenpanzern hielten sich zurück, was Gunda nicht sehr viel ausmachte, da die Mannschaften, die die Katapulte bedienen sollten, ihre Vorbereitungen noch nicht abgeschlossen hatten. Gegen Mittag näherte sich der Bogenschütze Langbogen über die Wiese im Talkessel, um mit Kommandant Narasan und Veltan zu reden. Gunda stieg die Treppe auf der Rückseite der Mauer hinunter und trat zu der kleinen Gruppe, die den Bogenschützen empfing. Kommen immer noch Kirchensoldaten durch diese Gräben heraus?, fragte Padan. Ich glaube, die Gräben haben sie aufgegeben, antwortete Langbogen. Die Schäfer haben uns jeden Weg gezeigt, auf dem man den Talkessel erreichen kann, und überall sind Bogenschützen postiert. Diese Soldaten brauchten eine Weile, bis sie begriffen, dass sie auf diesem Weg den Talkessel nicht erreichen können, deshalb haben sie sich nun am Fuß des Wasserfalls versammelt. Wollen sie schwimmen?, fragte Padan. Langbogen lächelte milde. Bisher jedenfalls nicht, gab er zurück. Offensichtlich haben sie es aufgegeben, einen leichten Weg nach oben zu finden, also suchen sie einen schwierigen. Oh?, meinte Padan. Etwa mit Leitern? Langbogen schüttelte den Kopf. Selbst verblendete Fanatiker würden nicht auf diesen Gedanken kommen. Es scheint eher, sie haben entschieden, dass sie eine Straße brauchen, und deshalb bauen sie eine. 341
Ich glaube, ich verstehe nicht recht, Langbogen, sagte Narasan. Sie haben in einigem Abstand zu den Fällen begonnen, erklärte Langbogen, und bauen nun eine Rampe entlang der Westwand der Schlucht, in welche die Fälle stürzen. Einfach so in offenem Gelände?, wollte Padan wissen. Ich hätte nicht einmal Kirchensoldaten für so dumm gehalten, so etwas zu versuchen, während deine Bogenschützen oben auf sie warten. Sie werden nicht weit kommen, wenn es den ganzen Tag Pfeile auf sie herabhagelt. Sie haben eine Möglichkeit gefunden, sich vor diesem besonderen Hagel zu schützen, sagte Langbogen. Ach? Ich glaube, man nennt es >Dach<, Padan, erklärte Langbogen. Es scheint ein sehr hübsches Dach zu sein, denn es bewahrt sie davor, nass zu werden ... oder tot. Ich glaube, eine stattliche Anzahl von ihnen wird nach oben durchkommen, falls sie diese Rampe fertig stellen. Ob es uns nun behagt oder nicht, anscheinend werden wir uns hier mit zwei feindlichen Armeen auseinander setzen müssen.
Das Meer aus Gold
36 Gegen Mittag beschloss Langbogen, es sei vermutlich nicht verkehrt, Zelana und ihren Bruder über die Lage in Kenntnis zu setzen und eine Art Besprechung einzuberufen, ehe ihre ausländischen Freunde womöglich Entscheidungen trafen, die leicht in die Katastrophe führen konnten. Während er hinunter in den Talkessel ging, der den riesigen Geysir umgab, ließ er seine Gedanken zu jenem Tag im tiefen Wald zurückschweifen, an dem Zelana und Eleria ihn aufgesucht und überredet oder genauer, genötigt - hatten, ihre Familie in dem bevorstehenden Krieg zu unterstützen. An diesem Tag hatte sein Leben eine grundlegende Wendung genommen. In vielerlei Hinsicht bedauerte Langbogen es. Das einsame Leben im Walde war schlicht gewesen, nichts hatte ihn bei der Jagd gestört, und diese Jagd war seit dem Tod von Trübes Wasser sein einziger Lebensinhalt gewesen. Er wusste genau, wie er die hirnlosen Diener des Vlagh zur Strecke zu bringen hatte, und in dieser fortgesetzten Vergeltung fand er große Genugtuung. Es war ein warmer Tag und ein sehr angenehmer dazu, als Langbogen zu dem Geysir hinunterging. Das Grasland gefiel ihm nicht so gut wie der Wald, doch entdeckte er auch hier eine gewisse Schönheit. Langbogen konnte viel weiter schauen, dennoch vermisste er die Bäume und die Aufregung der Jagd. Im Krieg starben mehr Diener des Vlagh, da hatte Eleria Recht behalten, ganz so, wie sie es an dem Tag gesagt hatte, als er Zelana und das kleine Mädchen kennen gelernt hatte, aber Kriege waren kompliziert, und eine große Zahl Menschen musste von einem Ort zum anderen ziehen, und dann gab es ständig diese endlosen und ermüdenden Beratungen und Streitereien. 345 Ich eigne mich nicht für all diese Dinge, gestand sich Langbogen reumütig ein. Vielleicht hätte ich besser über die ganze Angelegenheit nachdenken sollen. Der Geysir, die Quelle des Vash, bot einen atemberaubenden Anblick - eine riesige Wassersäule, die hundert Fuß in die Höhe steigt und sich dann einer Blüte gleich auffächert. Zelana und das Kind Elena hatten sich ein einfaches Lager errichtet, das weit genug von dem Geysir entfernt war, damit es außerhalb des Sprühregens lag, der bei der leisesten Brise von der Fontäne herunterkam. Langbogen verbesserte sich; der Ort, wo die beiden den größten Teil ihrer Zeit verbrachten, konnte wohl kaum Lager genannt werden, denn es gab dort nur ein einfaches Bett, in dem Eleria schlief, und einen Holzeimer, der zur Hälfte mit Obst für sie gefüllt war. Zelana brauchte weder ein Bett noch Essen, denn sie war vollkommen; sie brauchte überhaupt nichts. Eleria lief wie immer mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu, und als er sie auf den Arm hob, sagte sie ebenfalls wie immer - Küsschen!
Langbogen lächelte und küsste das entzückende Kind. Bekomme ich auch eins?, fragte Zelana. Alles zu seiner Zeit, antwortete Langbogen. Ich dachte, es wäre vielleicht keine schlechte Idee, wenn du und dein Bruder Veltan euren ausländischen Freunden einen kleinen Besuch abstattet. Manche Dinge, die hier in letzter Zeit geschehen sind, könnten sie ein wenig durcheinander gebracht haben. Ach ja? Wie es scheint, steht die zweite Invasion aus dem Süden vor der Tür. Sorgans Vetter Tori hat uns eigenartige Dinge über die Ereignisse erzählt, als die Armeen der trogitischen Kirche an der Südküste der Domäne deines Bruders gelandet sind. Er sagte, sobald die Kirchensoldaten das Wort >Gold< erwähnten, hätten die dortigen Bauern eine Geschichte über einen riesigen Haufen Goldsand erzählt, den es irgendwo im Ödland geben soll, und sobald die Soldaten die Geschichte gehört hatten, seien sie in diese Richtung losgerannt, um so viel zusammenzuraffen, wie sie nur tragen können. 346 Davon habe ich schon gehört, Langbogen, antwortete Zelana. Zuerst dachte ich, das Vlagh könnte diese List ersonnen haben, um Narasans Armee zu zerstören, aber ich habe noch einmal darüber nachgedacht. Wäre das nicht ein wenig zu kompliziert für das Vlagh? Eigentlich nicht, meinte Zelana. Auch in Kajaks Versuch, die Seemöwe im Hafen von Kweta anzugreifen, waren die Diener des Vlagh verwickelt. Ja, aber da ging es nur um einige wenige Maags. Diesmal reden wir von ungefähr einer halben Million Menschen - und Kajak hatte das Gold tatsächlich gesehen, weil Sorgan es ihm auf der Seemöwe gezeigt hatte. Die Trogiten dagegen haben nur ein vages Volksmärchen gehört, und weshalb sollten sie daraufhin Narasans Armee angreifen? Das ergibt keinen Sinn. Gib mir nicht die Schuld daran, Langbogen, entgegnete Zelana. Sag es dem Vlagh. Tut mir Leid, Zelana. Mich stört es einfach, wenn etwas nicht logisch ist, das ist alles. Ursprünglich bin ich gekommen, um dir und deinem Bruder vorzuschlagen, zu Gundas Mauer zu gehen und Narasan alle verrückten Ideen, die ihm möglicherweise kommen könnten, auszutreiben. Der Gedanke, von zwei Seiten angegriffen zu werden, verunsichert ihn sehr, und wir sollten ihn besser ein wenig beruhigen. Das kostet dich aber ein Küsschen, Langbogen, sagte sie und grinste. Sie versammelten sich spätnachmittags, während die Sonne sich schon der Gebirgskette im Westen näherte, hinter Gundas schwarzer Basaltmauer. Narasan und die meisten Offiziere waren zugegen, Hase und Tori vertraten gewissermaßen Sorgan. Nur um sicherzugehen, dass wir alle darüber Bescheid wissen, worum es eigentlich geht, warum erzählst du uns nicht, was du am Wasserfall gesehen hat, Langbogen? Da gibt es nicht viel zu berichten, Narasan, antwortete Langbogen. Die Kirchenarmeen haben offensichtlich langsam begrif347
fen, dass sie durch die verschiedenen Bachbetten nicht nach oben kommen, da wir dort Bogenschützen postiert haben und sie mit Pfeilen beschießen, wenn sie es versuchen. Jetzt haben sie sich unterhalb der Fälle versammelt und bauen eine Rampe an seiner Seite der Schlucht. Das ist töricht, Langbogen, verkündete Hase. Deine Bogenschützen können sie den ganzen Tag von oben mit Pfeilen beschießen. Langbogen schüttelte den Kopf. Sie haben die Rampe überdacht, kleiner Freund. Soweit ich sehen kann, ist das Dach nicht sehr stabil, bietet ihnen jedoch Sichtschutz, und ein Bogenschütze muss sein Ziel sehen können. Er hielt kurz inne und blinzelte in den rosafarbenen Sonnenuntergang. Ihre Rampe ist nicht besonders breit, fügte er hinzu. Ich denke, wir könnten eine größere Anzahl Bogenschützen aufstellen, wenn sie in den Talkessel strömen. Allerdings brauchen wir viele Pfeile. Diesmal bist du auf dich allein gestellt, Langbogen, sagte Hase und grinste. Mein Amboss ist noch an Bord der Seemöwe, deshalb kann ich dir wenig helfen. Dann runzelte er die Stirn. Irgendwie kommt mir das bekannt vor, Langbogen. Der Gedanke an das Gold an Bord der Seemöwe hat Kajak auch den Kopf verdreht, und jetzt haben offensichtlich mehrere trogitische Armeen das gleiche Problem. Darüber sollten wir vielleicht nachdenken, Veltan, sagte Zelana zu ihrem Bruder. Als du im Lande Maag zu mir unterwegs warst, bist du doch in Weros auf Hinweise gestoßen, dass das Vlagh Diener ins Land Maag geschickt hatte, die Einfluss auf Kajak ausübten. Ein paar Maagpiraten aufzuhetzen ist eine Sache, liebe Schwester, erwiderte Veltan skeptisch, hier reden wir jedoch über fünf trogitische Armeen und die halbe Priesterschaft der amaritischen Kirche.
Ich glaube, das ist ein wenig weit gegriffen. Unmöglich ist es aber nicht, kleiner Bruder. Das Vlagh hat seine Diener ausgeschickt, um uns zu beobachten - sogar, als wir weit vom Lande Dhrall fort waren -, und demnach ist es sich bewusst, 348
welche Wirkung Gold auf die Fremden haben kann. In einem sehr realen Sinn haben wir das Gold als Köder benutzt. Ich habe Sorgan damit angelockt und du Narasan. Warum sollte das Vlagh nicht herausgefunden haben, wie gut sich Gold als Köder eignet? Wenn seine Diener da draußen den amaritischen Priestern mit Gold vor der Nase herumwinken - und all diesen Soldaten der Kirche -, wäre es durchaus möglich, dass es viele von ihnen angelockt hat, und nun rennen sie blindlings vom Süden herauf, da die Gier sie übermannt hat und sie überhaupt keine Ahnung haben, was sie eigentlich erwartet, wenn sie gewinnen. Und was sollte das sein?, fragte Gunda sie verwirrt. An dieser Stelle mischte sich Langbogen ein. Nachdem sie hier heraufgekommen sind und euch und eure trogitischen Freunde niedergeworfen haben, braucht das Vlagh sie nicht mehr, erklärte er. Falls das der Fall wäre, könnten die Diener des Vlagh ihre neuen Freunde zum Abendessen einladen, und zwar zu einem, bei dem die Freunde das Hauptgericht bilden. Wie schrecklich!, entfuhr es Gunda entsetzt. Oh, ich weiß nicht, Gunda, meinte Andar. Wenn du zwei Feinde hast, und einer frisst den anderen, löst das die Hälfte deiner Probleme, oder nicht? Also gut, sagte Narasan etwas ungehalten, die Sache gefällt uns nicht, trotzdem müssen wir irgendetwas unternehmen. Falls jemand eine Idee hat, wäre es jetzt an der Zeit, sie kundzutun. Wir haben den Vorteil, dass wir uns auf höherem Gelände befinden, dachte Danal laut nach. Das Dach über der Rampe hält vielleicht Pfeile ab, doch vermutlich ist es nicht stabil genug, um Schutz gegen herabfallende Felsen zu bieten. Insbesondere, wenn sie aus zweihundert Fuß Höhe kommen, fügte Andar hinzu. Diese Rampe ist eine interessante Idee, doch hat sie ein paar Makel - oder wird sie zumindest haben, wenn wir einige fünf Tonnen schwere Felsen daraufgeworfen haben. Er runzelte die Stirn. Das sollten sie doch eigentlich selbst wissen, oder? Die Kommandanten der Kirchenarmeen sind zwar nicht sonderlich helle, doch sogar ein Idiot müsste das erkennen. 349 Ihre Hirne sind in Tiefschlaf gefallen, erklärte Sorgans Vetter Tori. Das habe ich euch doch schon gesagt. Sobald einer der Bauern unten im Süden diese Legende von den Ozeanen aus Gold erzählte, rannten die Soldaten in diese Richtung los, als hinge ihr Leben davon ab. Sie denken nicht mehr, daher erkennen sie auch keine Schwachstellen in einem Plan, den sich ein paar Schwachköpfe ausgedacht haben. Irgendjemand beeinflusst sie irgendwie. So etwas könnte das Vlagh versuchen, kleiner Bruder, meinte Zelana. Ich muss zugeben, es riecht ein wenig nach dem Vlagh, stimmte Veltan zu, doch so weit wir bisher feststellen konnten, sind dort unten fünf Kirchenarmeen. Das sind eine halbe Million Männer, Zelana! Einige von ihnen sollten zumindest ein wenig bei Verstand sein, oder? Zelana schüttelte den Kopf. Das Vlagh ist daran gewöhnt, mit großen Zahlen von Dienern umzugehen, und bei seinen Geschöpfen gibt es kein selbstständiges Denken. Sie hielt inne. Wenn das Denken dieser Kirchensoldaten auf das Niveau von Insekten gefallen ist, wäre der einzige Gedanke, den sie im Moment klar fassen können, jener, dass andere das Gold vor ihnen erreichen. Damit könntest du Recht haben, liebe Schwester, stimmte Veltan düster zu. Sie müssen zuerst einmal den Wasserfall überwinden, ehe sie uns größere Schwierigkeiten bereiten, sagte Narasan entschlossen, während er seinen eisernen Brustpanzer zurechtschob. Dann blickte er Padan an. Warum nimmt du nicht ein paar tausend Mann und gehst hinunter zum Südrand des Talkessels, alter Freund? Probieren wir doch einmal aus, was Kirchensoldaten davon halten, wenn ihnen fünf Tonnen schwere Felsen auf den Kopf fallen. Wenn du es möchtest, werden wir es selbstverständlich tun, verkündete Padan und imitierte dabei gekonnt den Maagdialekt. Hanswurst, murmelte Narasan und lächelte schwach. Das klang alles sehr logisch, doch Langbogen hatte seine Zweifel. Irgendetwas Sonderbares ging hier vor sich, und Langbogen 35° würde sicherlich keine Ruhe finden, bis er herausgebracht hatte, was.
Die Beratung unter den schwarz gekleideten Trogiten ging auch nach Sonnenuntergang weiter, aber Langbogen sah darin keinen Nutzen. Zelana, die in hauchdünne Gaze gekleidet war, saß ein Stückchen von Veltans angeheuerten Soldaten entfernt an einem kleineren Feuer, und die kleine Eleria schlief in ihren Armen. Leise gesellte sich Langbogen zu ihr. Wie schmeckt das Licht von Feuer?, fragte er neugierig. Rauchig, antwortete sie. Nicht annähernd so angenehm wie das Licht in meiner Grotte, jedoch immer noch besser als Dunkelheit. Was machen Veltans Soldaten? Sie streiten, sagte Langbogen. Es gibt einige Unstimmigkeiten über die genaue Vorgehensweise. Wenn du möchtest, begleite ich dich zu deinem kleinen Lager am Geysir zurück, und dann kann sich Eleria in ihr Bett legen. Mir macht es nichts aus, sie zu halten, Langbogen, sagte Zelana und betrachtete zärtlich das Gesicht des kleinen Mädchens, aber du hast Recht. Vermutlich wird sie in ihrem Bett besser schlafen. Langbogen lächelte und half ihr auf. Dann nahm er die schlafende Eleria in seine Arme. Die Sache entwickelt sich in eine andere Richtung als erwartet, Zelana, sagte er leise, während sie hinunter zum Geysir gingen. Gundas Mauer und die Barrikaden, die Padan mit seinen Männern am Hang gebaut haben, würden die Wesen des Ödlands vermutlich aufhalten können - wenn die Bogenschützen aus deiner Domäne nicht gezwungen wären, die zweite Invasion zurückzuschlagen. Um alles noch zu verschlimmern, hat Narasan gerade eine stattliche Anzahl Männer zu den Fällen geschickt, um das Dach über der Rampe zu zerstören. Dabei brauchen wir die Männer hier. Wir benötigen überhaupt mehr Männer, aber es stehen uns keine zur Verfügung. Warum gehst du nicht hinunter in den südlichen Teil der Domäne deines kleinen Bruders und sagst Hakenschnabel, er solle 351
dorthin gehen, wo er hingehört, Geliebte?, schlug Eleria mit verschlafener Stimme vor. Die Probleme haben wir hier oben, nicht da unten. Hast du denn nicht geschlafen?, fragte Zelana etwas verwirrt. Wie soll ich schlafen, wenn ihr beide ständig redet, erwiderte Eleria grämlich. Da du es bist, die Hakenschnabel bezahlt, da sollte er doch auch tun, was du von ihm verlangst, oder nicht? Sollen seine Männer die Felsen auf die bösen Leute aus dem Süden werfen, und dann bringst du seine Männer wieder her, damit sie tun können, was dein kleiner Bruder ihnen sagt. Ich glaube, sie hat Recht, meinte Langbogen kläglich. Natürlich habe ich Recht, sagte Eleria. Ich habe immer Recht. Jetzt schuldest du mir ein Küsschen. Schlaf einfach weiter, Kleine, sagte Zelana. Sie hat Recht, Langbogen. Ich gehe hinunter zur Südküste und sage Hakenschnabel, er soll so schnell wie möglich herkommen. Sie hielt inne und warf Langbogen einen hinterhältigen Blick zu. Dann schuldest du mir auch ein Küsschen, nicht wahr? Langbogen bevorzugte es, keine Antwort zu geben. Beim ersten Licht am folgenden Morgen ging Langbogen zu Veltan und Narasan, die auf dem zentralen Turm von Gundas Mauer standen. Haben sie sich schon in Bewegung gesetzt?, fragte er leise. Noch nicht, antwortete Veltan. Vermutlich warten sie, bis die Sonne aufgeht. Er spähte den Hang hinunter. Wo genau hast du Omagos Männer postiert, Kommandant? Keselo hat sie an den Außenrändern der Steinwälle eingesetzt, erwiderte Narasan. Wenn die Sache hier so verläuft wie in der Schlucht, wird die Hauptmacht des Feindes eher das Zentrum und nicht die äußeren Wälle angreifen. Omagos Männer haben noch keine Kampferfahrung, und über die Jahre hinweg haben wir festgestellt, dass dies der beste Weg ist, neue Krieger in den Ernst der Schlacht einzuführen. Ich möchte dich gewiss nicht beleidigen, Veltan, aber ich fürchte leider, einer stattlichen Anzahl deiner Leute wird es am Mut zum Töten mangeln. 352
Möglicherweise überraschen sie dich, Narasan. Omago kann sehr klug sein, wenn es notwendig ist, und er hat immer wieder betont, die Wesen des Ödlands seien vor allem Insekten - gleichgültig, wie sie aussehen -, und Bauern hassen Insekten aus tiefstem Herzen. Warten wir es ab, gab Narasan skeptisch zurück. Langbogen schaute im Dämmerlicht des frühen Morgens den Hang hinunter. Es gibt Bewegung, sagte er leise und zeigte zum felsigen Ödland. Ich kann überhaupt nichts ..., begann Veltan. Ah, jetzt sehe ich sie. Sie sind ein ganzes Stück von der ersten Barrikade entfernt, nicht wahr?
Während des Kampfes in der Schlucht haben wir sie einige Male überrascht, erklärte Langbogen. Offensichtlich gefallen Überraschungen dem Vlagh nicht. Ich muss wohl zugeben, dass ich mich nicht so gut mit ihnen auskenne, sagte Veltan ein wenig reumütig. Der wahre Experte in meiner Familie ist Dahlaine. Vor dem Erscheinen der Menschen hat er äonenlang Insekten studiert. Nach dem, was er mir erzählt hat, ist das Vlagh so etwas wie der Häuptling. Wenn es eine Eigenschaft entdeckt, die es für nützlich hält, versucht es, sie zu vervielfältigen. Ich bin hier auf Vermutungen angewiesen, aber ich würde behaupten, fast sämtliche Experimente schlagen fehl, und die veränderten Geschöpfe sind schon tot, ehe sie aus den Eiern schlüpfen. Gelegentlich überlebt jedoch eines, und dieses erzeugt das Vlagh dann zu Tausenden. Anschließend beginnt es, mit den Überlebenden zu experimentieren. Das würde jedenfalls diese neuen Spezies von Feinden erklären, grübelte Narasan. Die Kleinen, auf die wir in der Domäne deiner Schwester gestoßen sind, haben sich nicht bewährt - vor allem angesichts der Naturkatastrophen. Diesmal haben wir Feinde, die fliegen können, und Feinde mit Rüstung. Nicht zu vergessen die anderen Feinde, die aussehen wie richtige Menschen, fügte Langbogen hinzu. Dieser Krieg könnte wirklich interessant werden. 353
Langweilig wäre mir lieber, meinte Narasan dazu. Interessante Kriege neigen dazu, mir auf die Nerven zu fallen. So wie auch in dem Krieg in Zelanas Domäne, begann der Angriff auf die vordersten Wälle mit einem hohlen Gebrüll, das irgendwo aus den hinteren Reihen der heranstürmenden Streitmacht ertönte. Langbogen fiel auf, dass die größeren Diener des Vlagh sich nicht annähernd so schnell bewegten wie die kleineren, und sie würden gute Ziele für die trogitischen Bogenschützen abgeben, die Rotbart ausgebildet hatte. Als die Sonne über die Gebirgskette im Osten stieg, kam Hase die Treppe zur Mauer herauf. Kannst du Keselo dort unten sehen?, fragte er. Ich habe nicht so viele Freunde unter den Trogiten, und ich möchte ihn nicht verlieren. Er ist drüben auf der linken Seite von dem, was Narasan >die Steinwälle< nennt. Narasan meinte, das sei eine verbreitete Methode, um die Soldaten am Anfang der Schlacht zu beruhigen. Ich fürchte, diese Bauern werden sich nicht allzu gut halten, Langbogen, sagte der kleine Maag skeptisch. Wenn du aus jemandem einen Krieger machen willst, musst du mit wesentlich jüngeren Männern anfangen als denen, die Omago zusammengestellt hat, und außerdem muss der Sold besser sein. Man wird sehen. Über den Hang zum Ödland verteilt standen mehr als ein Dutzend brusthoher Barrikaden, und Narasans Soldaten bemannten gegenwärtig - gemeinsam mit Veltans Bauern - die unterste und von Gundas Mauer Entfernteste, daher konnten Langbogen und sein kleiner Freund nicht sehr viele Einzelheiten erkennen. Dennoch schien es, die Trogiten hatten nicht viele Schwierigkeiten, die übergroßen Schlangenmenschen zurückzuschlagen. Gegen Mittag ertönte irgendwo aus der Ferne des Ödlands ein weiteres kommandierendes Brüllen, und die Überlebenden des Feindes drehten sich um und flohen in die rötliche Wüste. Also, das haben wir in der Schlucht ja nicht erlebt, sagte Hase. Ich dachte, diese Insektenmenschen wären zu dumm, um zu wissen, wie man davonrennt. 354 Vielleicht haben sie etwas gelernt, bot Langbogen als Erklärung an. Braucht man zum Lernen nicht Gehirn?, höhnte Hase, und Insekten haben doch keins, oder? Sie haben ein Gehirn, kleiner Freund, widersprach Langbogen, aber sie tragen es nicht mit sich herum. Es ist vielmehr das Vlagh - oder wahrscheinlicher der >Überverstand< - für das Denken zuständig. Der >Überverstand< hat vielleicht endlich begriffen, dass man einen Krieg nicht gewinnt, indem man seine Krieger unnütz vergeudet. Der goldene Sommernachmittag nahm seinen Lauf, und es folgten keine weiteren Angriffe von den Dienern des Vlagh. Die Zaghaftigkeit des ersten Angriffs hatte die Männer auf Gundas Mauer ein wenig nervös gemacht. Immer deutlicher wurde, dass die meisten von Narasans Offizieren inzwischen Langbogens Vermutung teilten, der zufolge der Feind schließlich zu der Erkenntnis gekommen war, wie wenig Erfolgsaussichten blinder Ansturm hatte. Mir gefällt das ganz und gar nicht, Narasan, gestand Gunda. Wenn dieses Ding dort draußen anfangen
sollte zu denken - sogar nur ein kleines bisschen -, hätten wir eine Menge Arger hier. Diese kleinen Schlangenmenschen, mit denen wir es in der Schlucht zu tun hatten, waren nicht einmal schlau genug, um Tag und Nacht auseinander zu halten, aber diese großen? Ich weiß nicht. Wenn einer von ihnen zufällig einen Stein aufhebt und damit nach uns wirft, befinden wir uns plötzlich in einem vollkommen anderen Krieg. Du sprichst das Offensichtliche aus, Gunda, meinte Narasan. Im Augenblick können wir einfach nur flexibel bleiben. Wenn der Feind sich etwas Neues ausdenkt, müssen wir darauf reagieren -und zwar schnell. Die Sonne stand tief über der westlichen Gebirgskette, als Keselo zur Mauer hochkam. Rasch stieg er die Strickleiter herauf und trat zu Langbogen und den anderen auf dem zentralen Turm. Diesmal sehen unsere Feinde ein wenig größer aus, Kommandant, berichtete er Narasan. 355 Das haben wir uns auch schon gedacht, antwortete Narasan. Sind dir sonstige Besonderheiten aufgefallen? Sie bewegen sich unbeholfen, Herr, und sie sind nicht so schnell wie die kleinen in der Schlucht. Haben sie immer noch Giftzähne und Stacheln?, erkundigte sich Gunda. Keselo nickte. Daran hat sich nichts geändert. Ihre Giftzähne sind größer, und die Stacheln an den Unterarmen länger. Demnach müssten sie auch größere Giftdrüsen haben, oder?, fragte Hase. Wir haben keinen auseinander genommen, um das zu untersuchen, Freund Hase. Und wie viele habt ihr schätzungsweise erledigt?, fragte Gunda. Mehrere hundert, antwortete Keselo. Ich bin allerdings nicht am Wall entlanggelaufen, um sie zu zählen. Unser Gift auf den Speerspitzen scheint zu genügen, um sie zu töten. Zuerst hatte ich deswegen Sorgen, um ehrlich zu sein. Falls das Gift, das wir in Lattash gesammelt haben, seine Wirkung verloren hätte, würden wir ziemlich in der Patsche sitzen. Ich bin eigentlich aber aus einem anderen Grund gekommen: Ich wollte fragen, ob ich Omagos Bauern weiter in der Mitte einsetzen darf. Sie fühlen sich da draußen auf ihrem Posten ein wenig abgestellt, weil er relativ sicher ist. Nachdem sie gesehen haben, wie richtige Soldaten die Sache angehen, wollen sie ein wenig mitmischen. Du hast den Befehl über sie, Keselo, sagte Narasan. Die Entscheidung liegt bei dir. Und natürlich auch die Verantwortung für alle Fehler, die dir unterlaufen, fügte Gunda hinzu und grinste. Danke, Gunda, erwiderte Keselo sauer. Dann blickte er Narasan an. Nach dem Rückzug des Feindes hatte ich eine Idee, Herr, sagte er. Wenn wir uns nach Einbruch der Dunkelheit hinter den zweiten Wall zurückziehen und das Stück zwischen den beiden mit vergifteten Pfählen spicken, wird der Feind bei seinem nächsten Angriff morgen bestimmt verwirrt sein. 356
Das ist keine schlechte Idee, Keselo, stimmte Gunda zu. Und dann verlegst du deine Männer morgen Nacht wieder hinter den vordersten Wall. Falls der Feind glaubt, du hättest diesen aufgegeben, wird er versuchen, einfach darüber hinwegzustürmen, und deine Männer können seine halbe Armee ohne großen Aufwand vernichten. Und in der darauf folgenden Nacht fallen wir hinter den dritten Wall zurück?, fragte Keselo. Gunda blinzelte. Nun, warum bin ich eigentlich nicht darauf gekommen?, sagte er. Du bist ein gefährlicher junger Mann, Keselo. Nachdem wir eine Woche lang vor und zurück marschiert sind, wird der Feind so verwirrt sein, dass er nicht mehr weiß, wo er denn nun angreifen soll. Während sich die Nacht herabsenkte, entrollten die trogitischen Soldaten auf Gundas Mauer die Fischernetze, um die Insektenfledermäuse fern zu halten. Langbogen war zwar sicher, die veränderten Fledermäuse dienten dem Vlagh hauptsächlich als Kundschafter, doch Narasan wollte kein Risiko eingehen. Dahlaine, der graubärtige Älteste von Zelanas Familie, gesellte sich auf dem zentralen Turm zu ihnen. Nach Einbruch der Dunkelheit scheinen sie sich nicht mehr zu bewegen, meinte er. Heute Nacht sind viele Insektenfledermäuse unterwegs, großer Bruder, antwortete Veltan. Die beißen vielleicht nicht, aber sie fliegen durch die Dunkelheit. Haben die Männer am Hang genug Netze zur Verfügung? Wir haben ihnen Netze gegeben, aber vermutlich brauchen sie die nicht, Dahlaine. Soweit wir bisher feststellen konnten, haben die Insektenfledermäuse noch niemanden gebissen. Ihre Aufgabe besteht
wohl darin, uns zu beobachten und dem Vlagh Bericht zu erstatten. Du irrst dich, Veltan. Wenn die Kämpfe einmal begonnen haben, beteiligen sich alle Diener des Vlagh daran. Im Augenblick sind die Netze das einzige Mittel, das Leben deiner Soldaten zu schützen. 357
Langbogen hingegen war eine andere Möglichkeit eingefallen. Jedes Lebewesen, das nach Sonnenuntergang andere beobachten soll, muss über die Fähigkeit verfügen, bei Nacht sehen zu können, nicht wahr?, fragte er Veltans Bruder. Sicherlich, stimmte Dahlaine zu. Und würde nicht ein sehr helles Licht ein Wesen, das immer nur in der Dunkelheit aus seinem Schlupfloch kommt, blenden? Dahlaine blinzelte und brach plötzlich in schallendes Gelächter aus. Geh nicht weg, Langbogen, kicherte er. Ich bin gleich zurück. Es gab einen Blitz und einen Donnerschlag, und Dahlaine war verschwunden. Augenblicke später folgte ein zweiter Blitz und erneutes Krachen. Dahlaine war zurück und hielt eine kleine glühende Kugel in der linken Hand. Schaut nicht direkt hinein, Freunde, warnte er. Das ist schlecht für die Augen. Dann öffnete er die Hand, und der kleine Gegenstand stieg in die Luft auf und leuchtete heller und heller, während es sich nach oben bewegte. Ungefähr eine Meile über Gundas Mauer hielt das Ding inne, und das Licht, das davon ausstrahlte, wurde noch intensiver und flutete die Mauer und den Hang hinunter zum Ödland, als wäre wie aus heiterem Himmel Mittag. Die Insektenfledermäuse in der Umgebung kreischten vor Schmerzen und flohen eiligst vor dem Licht. Was in aller Welt ist das?, fragte Gunda voller Ehrfurcht. Eines meiner Spielzeuge, antwortete Dahlaine. Wenn es größer wäre, würde man es wohl eine Sonne nennen.
37 Beim ersten Licht am nächsten Morgen stieg Langbogen die Strickleiter an der Außenseite von Gundas schwarzer Mauer hinunter und ging den Hang hinab, wobei er locker über die Barri358 kaden aus rauem Stein sprang, die Padans Männer errichtet hatten. Angesichts der Flinkheit jener kleinen Diener des Vlagh, mit denen sie es in der Schlucht zu tun gehabt hatten, hätte Langbogen höhere Barrikaden als wirkungsvoller empfunden, doch wollte er darüber nicht streiten. Sein eigentlicher Grund für diesen frühen Besuch an der vordersten Barrikade bestand darin, mit den Männern zu sprechen, die bereits Erfahrungen mit den jüngsten Experimenten des Vlagh gesammelt hatten. Er fand Brigadekommandant Danal und Unterkommandant Andar, die das typische schwarze Leder und glänzende Eisen der Trogiten trugen und sich leise in der Mitte der Barrikade unterhielten. Du bist aber früh auf, meinte Danal, als Langbogen zu ihnen kam. Gibt es Probleme? Noch nicht, erwiderte Langbogen. Ich habe die neuen Wesen bislang nicht aus der Nähe gesehen, deshalb wollte ich mich mit den Männern unterhalten, die schon gegen sie gekämpft haben. Habt ihr große Unterschiede festgestellt? Sie sind plumper als die in der Schlucht, berichtete Danal. Manchmal sieht es aus, als würden sie über ihre eigenen Füße stolpern. Langbogen nickte. Das ist nicht ungewöhnlich. Wenn ich mich richtig entsinne, hatte ich das gleiche Problem, als ich noch gewachsen bin. Da der Körper so rapide wächst, kann sich der Verstand nicht schnell genug an die neue Größe anpassen, und dann stolpert man leicht über jeden Grashalm. Haben gestern auch die mit den Schildkrötenpanzern angegriffen? Ich habe jedenfalls keinen von denen gesehen, antwortete Unterkommandant Andar mit seiner tiefen dröhnenden Stimme. Du vielleicht, Danal? Nein, meinte Danal, und ich denke, mir wäre es auch lieber, wenn es so bliebe. Ein Feind mit Giftzähnen ist schlimm genug, aber ein giftiger Gegner mit Rüstung könnte noch viel, viel schlimmer werden. 359 Hat Keselo schon von seinem Einfall erzählt, sich jeweils nachts hinter den nächsten Wall zurückzuziehen?, fragte Langbogen. Andar nickte. Eine interessante Idee, nur wird es nicht gelingen, solange nicht jemand dieses helle Licht über dem Hang ausmacht. Wir brauchen die Dunkelheit, damit sie nicht sehen können, was wir
tun. Rauch wäre vielleicht gut, schlug Danal vor. Allerdings braucht man dazu Feuerholz, widersprach Andar. Bis heute Abend haben wir ja noch Zeit zum Nachdenken, beschwichtigte Langbogen sie. Wie machen sich eure Bogenschützen? Sie sind besser als früher, sagte Danal. Zwar noch nicht so gut wie deine Männer, jedoch treffen sie immerhin bei jedem zweiten Schuss. Wahrscheinlich schießen sie zu früh, vermutete Langbogen. Ihr könnt eine Linie ziehen - zwanzig oder dreißig Fuß vor dem Wall. Dann sagt ihr ihnen, sie sollen ihre Pfeile erst fliegen lassen, wenn der Feind diese Linie überquert hat. Das versuchen wir mal, knurrte Andar. Langbogen ging ein wenig zur Seite und schickte einen stillen Gedanken an Zelana. War da etwas?, fragte sie in diesem überheblichen Ton, von dem sie wusste, wie sehr er ihn ärgerte. Die Sonne deines Bruders ist wirklich hübsch, Zelana, sagte er, aber wenn die Männer Keselos List ausprobieren sollen, brauchen sie Dunkelheit. Wenn Dahlaine die kleine Sonne abzieht, kommen die Fledermäuse vermutlich wieder, Langbogen, erinnerte sie ihn. Sie zögerte. Würde Nebel sie nicht genauso gut verbergen wie Dunkelheit?, fragte sie. Dahlaines kleine Sonne könnte weiterhin die Fledermäuse verscheuchen, und der Nebel würde die Bewegungen von Narasans Armee vor den Dienern des Vlagh verbergen. An Nebel hatte ich noch nicht gedacht, räumte Langbogen 360 ein, wahrscheinlich, weil Nebel zu dieser Jahreszeit in den Bergen so selten vorkommt. Könntest du bei Sonnenuntergang für eine Nebelbank sorgen? Natürlich, Langbogen. Das solltest du doch längst wissen. Sie zögerte. Es kostet dich allerdings wieder ein Küsschen. Langbogen war sich eigentlich sicher, dass Zelana ihn mit Elerias Lieblingsforderung nur aufziehen wollte - nun, man wusste nie! Als die Sonne aufging, verkündete ein unmenschliches Gebrüll den Beginn des zweiten Kriegstages in der südlichen Domäne. Langbogen ging hinter dem Wall hin und her und riet den schlecht ausgebildeten trogitischen Bogenschützen zu warten, bis die feindliche Streitmacht sich dicht genug vor ihnen befand, und erst dann die Pfeile loszulassen. Ist das wirklich eine so gute Idee, sie so nahe herankommen zu lassen, Herr?, fragte einer der jüngeren Bogenschützen ernst. Es ist besser, als die Pfeile zu verschwenden, erwiderte Langbogen. Wenn sie nahe genug sind, könnt ihr nicht danebenschießen. Außerdem wird der Stapel von Toten diejenigen behindern, die von hinten herandrängen. So musst du es betrachten, junger Freund. Mit deinem Bogen baust du eigentlich eine neue Barrikade, und du benutzt die Toten als Baumaterial. Der junge Trogit lachte nervös. Von dieser Seite habe ich es noch gar nicht gesehen, Herr, räumte er ein. Das Nette daran ist, dass man das Baumaterial nicht selbst schleppen muss, oder? Man sollte stets die harte Arbeit dem Feind überlassen, stimmte Langbogen zu. Das werde ich mir merken, Herr, und es allen meinen Freunden erzählen. Gute Idee. Sergeant Rotbart hätte es uns gleich sagen sollen, als wir angefangen haben. Sergeant Rotbart?, wiederholte Langbogen ungläubig. So nennen wir ihn, seit er mit unserer Ausbildung begonnen hat. Meinst du, damit könnten wir ihn beleidigt haben? 361
Oh, antwortete Langbogen und gab sein Bestes, um nicht in schallendes Gelächter auszubrechen, vermutlich nicht. Rotbart sieht die Dinge nicht so verkniffen. Dann fiel ihm etwas ein. Sein eigentlicher Titel lautet allerdings >Häuptling<. Das werde ich ebenfalls meinen Freunden mitteilen. Man sollte doch immer die korrekten Titel benutzen, oder? Da stimme ich dir voll und ganz zu, junger Freund, erwidert Langbogen mit ernstem Gesicht. Rotbart gab zwar immer mit seinem Sinn für Humor an, allerdings würde sein Freund kaum lachen, wenn die trogitischen Bogenschützen ihn mit dem Titel anredeten, den er in Lattash so verzweifelt von sich gewiesen hatte.
Aus dem jüngsten Experiment des Vlagh waren jämmerlich ungeschickte Krieger hervorgegangen, stellte Langbogen fest, als er den Angreifern zuschaute, wie sie aus dem Ödland herantrampelten. Immerhin wusste er aus Erfahrung, dass die nächsten Brüten im Gegensatz zu diesen ersten Generationen ihre Fähigkeiten verbessert haben würden. Die kleineren Versionen hatten vermutlich jahrhundertelang in den Wäldern von Zelanas Domäne gelauert, daher hatten sie Zeit gehabt, die meisten ihrer ursprünglichen Mängel zu korrigieren. Einer-Der-Heilt hatte einige Zeit gebraucht, diesen Umstand seinem Schüler zu erklären, wie sich Langbogen reumütig erinnerte. Der einzelne Diener des Vlagh war unfähig, irgendetwas zu lernen. Veränderungen jeder Art entwickelten sich von Generation zu Generation. Im Laufe der Zeit würden auch diese neuen Spezies besser und gefährlicher werden, doch im Augenblick stellten sie keine große Bedrohung dar. Der blinde Angriff der zu groß geratenen Diener des Vlagh dauerte bis zum späten Nachmittag an, und der Stapel von Leichen vor der trogitischen Barrikade war auf zwanzig Fuß angewachsen und damit höher als diese selbst. Dann beendete das hohle Gebrüll aus dem Ödland den Angriff wieder, und nicht lange danach wälzte sich Zelanas Nebelbank heran. Kein schlechter Tag, knurrte Unterkommandant Andar. Wir 362
sind noch immer hier, und sie sind dort draußen, also würde ich sagen, heute haben wir gesiegt. Nutzen wir den Nebel aus, solange er da ist, schlug Brigadekommandant Danal vor. Vermutlich brauchen wir den größten Teil der Nacht, um diese vergifteten Pfähle in den Boden zu rammen. Andar schauderte. Mich fröstelt richtig, wenn ich daran denke, dass wir dieses Gift als Waffe benutzen, verkündete er. Wer hatte eigentlich die Idee? Mein Lehrer, Einer-Der-Heilt, erklärte Langbogen. Unsere Feinde sind giftig, und diejenigen, die wir heute getötet haben, liefern uns das Gift, um jene zu töten, die uns morgen angreifen werden. Dann lachte er plötzlich. Was ist so lustig?, wollte Andar wissen. Ihr kennt doch Rotbart, nicht wahr? Der unsere Bogenschützen ausgebildet hat? Langbogen nickte. Rotbart hat einen ganz besonderen Sinn für Humor. Ich bin sicher, er würde versuchen, das, was ich gerade gesagt habe, noch einen Schritt weiter zu treiben: Wenn die Feinde von heute die Feinde von morgen töten, könnten wir doch fischen gehen und diesen Krieg einfach ihnen überlassen. Wir sollten zumindest so tun, als würden wir arbeiten, widersprach Danal. Wenn wir nicht beschäftigt aussehen, könnte unser Arbeitgeber auf den Gedanken kommen, er brauchte uns überhaupt nicht, und dann bekommen wir keinen Sold. Sag das nicht zu laut, Danal, schalt ihn Andar. Zelanas Nebelbank, die durch die kleine Sonne ihres Bruders erhellt wurde, verbarg die Tätigkeiten von Narasans Männern vor den Feinden im Ödland, ließ aber auch noch genug Licht durch, um die vergifteten Pfähle zwischen der vordersten Barrikade und der nächsten einzurammen. Daher konnten sie ihre Arbeit doppelt so schnell erledigen wie in stockfinsterer Nacht. Jetzt gilt es zu warten, knurrte Andar schließlich. Du könntest ein wenig Schlaf nachholen, schlug Danal vor. 363
Bestimmt wird dich dieses Großmaul draußen in der roten Wüste rechtzeitig wecken, damit du dir anschauen kannst, wie die Insektenmenschen auf Zehenspitzen durch unsere Pfähle schleichen. Ich habe einen äußerst festen Schlaf, Danal. Ist mir schon aufgefallen. Das Geräusch deines festen Schlafes kann man meilenweit hören. Was soll das wieder heißen? Du schnarchst, Andar. Manchmal so laut, dass du damit Festungen aus Stein beben lassen könntest. Genau in diesem Augenblick ertönte aus dem Ödland das vertraute Brüllen, und die neue Brut Schlangenmenschen watschelte im Licht des frühen Morgens heran. Das wär's dann wohl mit deinem Nickerchen, Andar, meinte Danal. Die unbeholfenen Feinde kletterten über ihre toten Kameraden, erreichten die vorderste Barrikade und machten einen recht verwirrten Eindruck, weil sie auf keinerlei Widerstand trafen.
Zeigen wir ihnen, dass wir hier sind, Danal, schlug Andar vor. Gut, stimmte Danal zu. Ich möchte gern einen Schlachtruf hören, meine Herren!, befahl er, und ein lauter Schrei löste sich aus vielen Kehlen hinter der zweiten Barrikade. Die Feinde hinter der zweiten Barrikade liefen eine Weile lang mal hierhin, mal dahin, dann ertönte wieder das Gebrüll aus dem Ödland. Das ging aber schnell, sagte Langbogen, während die Wesen des Ödlands hinter der zweiten Barrikade weiter den Hang hinaufzogen. Ich verstehe das nicht ganz, sagte Andar. Veltan hat uns erklärt, dass diese Insektenmenschen einen so genannten >Überverstand< hätten, erläuterte Langbogen. Was einer von ihnen weiß, wissen sie irgendwie alle, und was einer von ihnen sieht, sehen die anderen ebenfalls. Können sie etwa ihre Augäpfel weitergeben?, wollte Andar wissen. 364
Nicht ganz, meinte Langbogen. Ich glaube, es hängt eher mit Nähe zusammen. Wenn sie sich so ausgebreitet haben, sind sie immer dicht genug beieinander, um ihr Wissen innerhalb kürzester Zeit zum Vlagh zu schicken. So ähnlich wie die Sache, die sich Hase in Lattash ausgedacht hat, oder?, fragte Danal. So ähnlich, ja, stimmte Langbogen zu. Ich kann dem nicht folgen, sagte Andar. In den Bergen lag eine Menge Schnee, berichtete Danal, und die Eingeborenen warnten uns vor einer Besonderheit dieser Gegend. Wie ich es verstanden habe, weht jedes Jahr im Frühling ein warmer Wind vom Meer her und lässt über Nacht den Schnee schmelzen. Das verursacht ein Hochwasser. Oben in der Schlucht waren Maags, und wir mussten sie vor dem warmen Wind warnen. Der kluge kleine Maag namens Hase schlug vor, Hörner einzusetzen, um eine Warnung zu den Maags oben in der Schlucht zu schicken, wenn es Zeit sei, höheres Gelände aufzusuchen. Die Maags brachten sich in Sicherheit, doch die Schlangenmenschen, die auf dem Vormarsch waren, hatten das nicht begriffen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viele Feinde bei diesem Hochwasser ertrunken sind. Guter Vergleich, Danal, sagte Langbogen. Die Wesen des Ödlands blasen allerdings kein Hörn. Sie verwenden Berührungen. Das Vlagh weiß mit ziemlicher Sicherheit innerhalb von Minuten, was hier vor sich geht. Der Ruf, den wir gerade gehört haben, war vermutlich der Befehl, den Angriff fortzusetzen. Demnach sind sie viel durchtriebener, als man mir bisher weismachen wollte, meinte Unterkommandant Andar. Wenn sie so schnell ihr Wissen austauschen können, haben sie einen deutlichen Vorteil, oder? Während des Kampfes in der Schlucht haben sie das nicht gemacht, erinnerte sich Danal. Mir ist es auch nicht aufgefallen, ja, stimmte Langbogen zu. Ich würde sagen, das Vlagh hat aus dem ersten Krieg weitaus mehr gelernt, als wir bislang wahrgenommen haben. 365 Aber eine Sache haben sie offensichtlich noch nicht begriffen, bemerkte Danal. Nämlich, dass wir unsere Pfähle in Gift getaucht haben. Sie sterben wie die Fliegen. Langbogen spähte über die Barrikade und sah, dass der feindliche Angriff ins Stocken geriet, als die vorderen Reihen die vergifteten Pfähle erreichten. Dann ertönte ein schärferes Brüllen aus dem Ödland, und die unbeholfenen Feinde hielten abrupt im Sturm inne und verharrten. Langbogen murmelte einen Fluch. Wo liegt das Problem?, fragte Andar. Eure Giftpfähle werden uns nicht viel helfen, fürchte ich, antwortete Langbogen. Anscheinend hat das Vlagh erkannt, wie tödlich sie sind, und jetzt hat es seiner Armee befohlen, den Vormarsch zu stoppen. Das ist doch gar nicht so schlecht, Langbogen, meinte Danal. Wenn die Armee nicht weiter vormarschiert, ist der Krieg vorüber, und wir haben gewonnen. Unsere Pfähle haben sie aufgehalten. Fragt sich nur, für wie lange, sagte Andar skeptisch. Immerhin stehen sie noch da. Nach einer Weile werden sie Hunger bekommen und irgendwo hingehen, um etwas zu fressen, meinte Danal. Es war bereits Vormittag, als die achtbeinigen Schildkröten über die vorderste Barrikade hasteten. Die
Wörter hasten und Schildkröte schließen sich eigentlich gegenseitig aus, aber Langbogen fiel keine andere Weise ein, es zu beschreiben. Mit nur wenigen Ausnahmen gehören Schildkröten zu den langsamen Reptilien, deren Panzer eine schnellere Fortbewegung als Kriechen unmöglich macht. Die langen Spinnenbeine hingegen hoben den vom Panzer umschlossenen Körper einfach hoch, so dass dieses Wesen sich überraschend flink bewegen konnte. Die gepanzerten Feinde schoben sich zwischen den verharrenden Insektenmenschen durch und marschierten durch die Pfähle vor, wobei sie diese abknickten, während sie sich voranbewegten. 366
Danal fluchte. Das nenne ich Mogeln. Ich würde es ihre Imitation nennen, widersprach Andar. Die Schildkrötenpanzer dienen dem gleichen Zweck wie unsere Brustpanzer, also hat das, was Langbogen als den >Überverstand< bezeichnet, begriffen, wie nützlich eine Rüstung sein kann, und ein Duplikat geschaffen - da dieses Schildkröteninsekt jedoch acht Beine hat und nicht nur vier, kann es sich schneller bewegen als eine gewöhnliche Schildkröte. Außerdem können ihm Pfeile nichts anhaben, möchte ich meinen, fügte Langbogen hinzu, und wenn es dazu noch Netze weben kann wie eine normale Spinne, dürfte die Sache bald recht interessant werden. Innerhalb eines halben Tages haben sie die meisten Pfähle aus dem Weg geschafft, Kommandant, berichtete Andar am Abend, als sie sich auf dem zentralen Turm von Gundas Mauer trafen. Glücklicherweise sind sie anscheinend keine Nachtwesen, daher haben sie bei Sonnenuntergang den Rückzug angetreten. Ist es überhaupt jemandem gelungen, eines von diesen Geschöpfen zu töten?, wollte Gunda wissen. Andar schüttelte den Kopf. Pfeile prallen von ihnen ab, und sie haben seltsamerweise keine Anstalten gemacht, den zweiten Wall anzugreifen, somit konnten wir nicht ausprobieren, ob Speere und Spieße eine bessere Wirkung haben. Aber ich glaube, auch Speere können diesen Panzer nicht durchdringen. Das sieht nach ziemlichem Ungemach aus, Narasan, meinte Gunda. Unser Hauptgegner ist weiterhin dieses Vlagh, und es hat ganz offensichtlich während des Kriegs in der Schlucht eine Menge dazugelernt. Seine Soldaten sind inzwischen größer - und zudem gepanzert. Wenn uns nicht bald etwas Schlaues einfällt, wird dieser Gegner über uns hinwegstürmen. Ich werde mal meinen großen Bruder suchen, sagte Veltan. Er ist der Experte in Insektenfragen und wird uns einiges erzählen können. Langbogen warf einen kurzen Blick auf die helle Sonnenimitati367
on von Dahlaine, die immer noch fröhlich strahlte. Dabei kamen ihm verschiedene Fragen in den Sinn. Wenn Dahlaines Spielzeugsonne so hell war, um den Insektenfledermäusen Schmerzen zu bereiten, warum stellten die anderen Diener des Vlagh den Vormarsch ein, sobald die richtige Sonne unterging? Dieser Krieg war wesentlich komplizierter als der vorherige - vermutlich, weil das Vlagh in dem Konflikt in Zelanas Domäne viel gelernt hatte, und Lernen und Insekt passen nicht recht zusammen. Veltan, Dahlaine und Zelana trafen kurze Zeit später auf dem Turm ein, und Narasan gab ihnen eine Beschreibung der größeren feindlichen Soldaten und der achtbeinigen Schildkröten. Die solltet ihr nach Möglichkeit meiden, warnte Dahlaine. Acht Beine deutet auf Spinne hin, junger Mann, und Spinnen sind weitaus gefährlicher als Schlangen. Ich dachte, Schlangen wären schon das Schlimmste, sagte Hase. Dahlaine schüttelte den Kopf. Schlangengift tötet - für gewöhnlich sehr schnell. Spinnengift lähmt die Beute. Die meisten Spinnen fangen ihre Beute mit Netzen. Dann beißt die Spinne den Gefangenen und spritzt ihm das lähmende Gift ein, damit er nicht fliehen kann, bis die Spinne wieder Hunger hat. Manchmal hat eine Spinne vier oder fünf Mahlzeiten im Netz hängen, die darauf warten, verspeist zu werden. Wie entsetzlich!, entfuhr es Hase. Es kommt noch schlimmer, fuhr Dahlaine fort. Eine Spinne hat keine Kiefer - oder Zähne -, und aus dem Grund kann sie ihre Nahrung nicht kauen. Ein wichtiger Teil des Giftes ist ein Verdauungssaft, der die inneren Organe und das Fleisch der Beute verflüssigt. Dann kann die Spinne diese Flüssigkeit heraussaugen aus was immer - oder wen immer - sie fressen will. Anschließend bleiben nur noch Haut und Knochen übrig. Wir sollten uns lieber etwas überlegen, wie wir diese Viecher töten können, sagte Langbogen. Vielleicht Feuer?, schlug Keselo vor.
Feuer wäre eine Lösung, stimmte Dahlaine zu. 368 Gibt es eine Stelle am Spinnenkörper, der nicht vom äußeren Panzer geschützt wird? Dahlaine dachte darüber nach. Vermutlich die Augen. Daraufhin lächelte er schwach. Da hättest du einige Ziele, Langbogen. Wie? Eine Spinne hat acht Augen, wusstest du das? Nein, antwortete Langbogen, das wusste ich nicht. Immerhin bietet uns das gewisse Möglichkeiten. Vielleicht ist die Lage nicht ganz so hoffnungslos, wie wir zunächst dachten.
38 Langbogen hatte in den vergangenen Nächten wenig geschlafen und war hundemüde. Er ging ein Stück auf die Wiese hinaus und legte sich westlich vom Geysir hin. Dahlaines Vorschlag, die Schildkrötenpanzerspinnen könnten ein leichtes Ziel für seine Pfeile sein, hatte sein Gefühl der Hilflosigkeit gelindert, und er fiel in einen tiefen Schlaf, noch ehe er den Kopf ins Gras gebettet hatte. Nicht viel später hörte er eine Frauenstimme, die ihm irgendwie bekannt vorkam und die sagte: Geh fort, tapferer Krieger, geh fort. Rasch setzte er sich auf und schaute sich um, doch nirgends war jemand zu sehen. Zwar hatte er das sichere Gefühl, diese volltönende Stimme zu kennen, nur fiel ihm einfach nicht ein, in welchen Zusammenhang er sie bringen sollte. Er legte sich hin und schlief augenblicklich wieder ein. Geh fort, Langbogen, Beschützer von Zelana, geh fort. Setze dich nicht unnötig der Gefahr aus. Tritt zur Seite, tapferer Langbogen, tritt zur Seite. Erneut rappelte er sich hoch, allerdings war noch immer niemand zu sehen. Langsam wurde die Sache ärgerlich. Quäl mich nicht, mur369 melte er und legte sich abermals hin. Ich will nur ein bisschen schlafen. Doch ein weiteres Mal ertönte die Stimme der Frau aus der Nacht, und diesmal war ihr Ton befehlend. Im Namen von Trübes Wasser befehle ich dir, von hier Fortzugehen. Dieser Krieg ist meiner, nicht deiner, und ich werde dir den Sieg schenken, wenn du nur zur Seite treten willst. Und damit verschwand die Stimme aus Langbogens Kopf, und er sank in traumlosen Schlaf. Hast du versucht, mich letzte Nacht zu erreichen?, schickte er eine stumme Frage zu Zelana, als die Sonne am nächsten Morgen aufging. Nein, ich war es nicht, Langbogen, antwortete sie mit stiller Stimme. Bist du sicher, dass du nicht nur geträumt hast? Für einen der Träumer war die Stimme zu alt, Zelana. Hängt das nicht gewissermaßen davon ab, was du mit >alt< genau meinst, Langbogen?, fragte sie kokett. Hör auf damit, schalt er. Wer immer - oder was immer - das war, wollte mich überreden, meine Sachen zu packen und Fortzugehen. Dann war ich es bestimmt nicht. Ohne dich könnte ich nicht leben, lieber, lieber Langbogen. Können wir jetzt mit dem Spielchen aufhören?, fragte er barsch. Tut mir Leid. Sie zögerte. Glaubst du, es war vielleicht das Vlagh - oder einer seiner intelligenteren Diener? Ich weiß nicht, wie. Wer auch immer es war, erteilte mir den Befehl, im Namen von Trübes Wasser Fortzugehen, und das Vlagh kann unmöglich wissen, welche Bedeutung sie für mich hat. Möglicherweise war es doch nur ein Traum, Langbogen. Gelegentlich haben mir Menschen schon von so realen Träumen erzählt, bei denen sie die Grenze zwischen Traum und Realität nicht mehr genau ziehen konnten. Nun, vielleicht hast du Recht, sagte Langbogen skeptisch. 370
Im Laufe der Nacht hatte Unterkommandant Andar seine Truppe hinter die dritte Barrikade zurückgezogen, und obwohl es voraussichtlich nicht sehr viel Wirkung zeigen würde, hatten sie den offenen Raum zwischen den Wällen erneut mit vergifteten Pfählen gespickt. Langbogen und Hase trafen bei ihren Freunden ein, ehe die Sonne aufging. Ihr seid spät, knurrte Andar mit tiefer Stimme. Wir haben verschlafen, antwortete Langbogen achselzuckend.
Da gibt es etwas, das ich dich fragen wollte, sagte Andar. Wie ich gehört habe, weißt du über die Insektenmenschen mehr als jeder andere, daher kannst du mir vielleicht erklären, was es mit diesem Rückzug jeden Abend auf sich hat. Bei jedem Angriff töten wir mehrere hundert ihrer Kameraden, dennoch drehen sie sich einfach um, wenn die Sonne untergeht. Am nächsten Tag müssen sie dann von vorn beginnen und abermals das erobern, was sie zuvor bereits besetzt hatten. Das ist doch irgendwie dumm, nicht wahr? Dummheit gehört zum Wesen der Insektenmenschen, mischte sich Hase ein. Vielleicht wissen sie gar nicht, dass die Sonne morgen wieder aufgehen wird. Möglicherweise denken sie, die Sonne werde abends sterben und für den Rest der Ewigkeit werde es dunkel bleiben - entweder das, oder die große Mama wird einsam, wenn die Sonne untergeht. Die große Mama? Das Vlagh. Wenn ich Zelana richtig verstanden habe, legt das Vlagh die Eier, aus denen die Insektenmenschen schlüpfen. Da es die Eier legt, ist es doch gewissermaßen die Mutter, oder? Das denkt er sich nur aus, oder?, wollte Andar von Langbogen wissen. Nicht ganz, antwortete Langbogen und zuckte mit den Schultern. Ich bin zwar nicht sicher, ob die Diener des Vlagh so fühlen wie wir gegenüber unseren Müttern, aber das Vlagh ist tatsächlich die Mutter eines jeden unserer Feinde, und sie tun alles, was in ihren Kräften steht, um ihrer Mutter die ganze Welt zu schenken vielleicht zum Geburtstag. Wann ist denn sein Geburtstag?, fragte Andar. Schwer zu sagen, antwortete Langbogen. Wie ich gehört habe, ist das Vlagh schon über hundert Millionen Jahre alt, und was damals genau geschah, hat sich zwischenzeitlich im Dunst der Geschichte verflüchtigt. Jetzt denkst du dir etwas aus, warf ihm Andar vor. Da wäre ich mir nicht so sicher. Langbogen blickte über die Barrikade hinweg. Gut, sagte er. Deine Männer haben wieder Pfähle eingeschlagen. Das wird diese Spinnenwesen anlocken. Wir brauchen ein totes Exemplar und zwar ziemlich bald. Wozu? Damit wir es untersuchen können und vielleicht weitere Schwächen finden. Deine Bogenschützen sind nicht gut genug, um Spinnenaugen zu treffen, die hundert Schritt entfernt sind. Oder? Soweit ich weiß, ja, stimmte Andar zu. Durch die Erfindung von brennenden Katapultgeschossen stiegen die manchmal behäbigen Trogiten sehr in Langbogens Meinung. Naphtha, Pech und Teer in der richtigen Mischung würden höchstwahrscheinlich nicht nur die großen Insektenmenschen, sondern auch die Spinnen mit den dicken Panzern beunruhigen. Soweit Langbogen wusste, reagierte jedes Lebewesen unmittelbar auf Feuer. Wenn jemand brannte, lenkte ihn das doch erheblich von anderen Dingen ab, entschied Langbogen. Das einzige Problem bestand darin, dass die Geschosse relativ ungezielt in den Reihen der heranmarschierenden Feinde landeten. Langbogen erlegte zwar mehrere Dutzend der Spinnen mit den harten Panzern durch vergiftete Pfeile, indem er auf ihre Augen schoss, doch die Kadaver, die er in intaktem Zustand bergen wollte, wurden zumindest teilweise von dem wahllos wütenden Feuer zerstört. Andar!, rief er schließlich. Könntest du bitte aufhören, Feuer hinauszuschleudern? Du brennst ja alles nieder. Das hatten wir doch auch vor, Langbogen. Wenn ein Verfahren erfolgreich läuft, sollte man nichts dran ändern, sage ich immer. Genau darin liegt das Problem. Es ist eben kein Erfolg jeden372
falls für mich. Ich will eine rohe Schildkröte, keine gekochte oder geröstete. Ach, daran habe ich gar nicht gedacht. Wie lange brauchst du wohl, um eine zu töten und den Kadaver zu bergen? Langbogen ließ den Blick über den mit Pfählen gespickten Hang zwischen der zweiten und der dritten Barrikade schweifen, die ungefähr hundert Schritt weiter unten lag. Dort lagen mehrere hundert Kadaver von toten Feinden - größtenteils vollkommen verbrannt - zwischen den Barrikaden, aber keine war heil. Warum sagst du deinen Männern nicht, sie sollen eine Weile Pause machen?, schlug er vor. Vermutlich sind sie nach der schweren Arbeit müde. Sollen ruhig ein paar Feinde näher herankommen. Ich entscheide dann, welchen ich will, töte ihn und berge den Kadaver. Dann können
deine Männer weiterkochen. Er blickte über den Wall hinaus und sah mehrere der großen Insektenmenschen, die sich vorsichtig näherten, aber die Spinnen mit den harten Panzern hielten sich zurück. Ganz offensichtlich sorgten die trogitischen Feuergeschosse bei den Dienern des Vlagh für Nervosität. Als die heranmarschierenden Insektenmenschen den offenen Raum zwischen den Barrikaden erreichten, ohne mit Feuer beschossen zu werden, wurden die Spinnen verwegener und strebten über die Barrikade den Hang hinauf. Nicht die beste Entscheidung, murmelte Langbogen vor sich hin, während er einen Pfeil aus dem Köcher zog. Die neueren Diener des Vlagh waren anscheinend intelligenter als diejenigen, mit denen Langbogen und seine Freunde es in der Schlucht zu tun gehabt hatten, doch reichte diese Intelligenz nur bis zu einer gewissen Vorsicht. Feuer lenkte nach wie vor die Aufmerksamkeit eines jeden Geschöpfes in der ganzen Welt auf sich. Langbogen wartete, bis eine der Panzerspinnen nur noch ein paar Meter von der Barrikade entfernt war, dann schoss er seinen Pfeil direkt auf eines der großen Augen am Kopf des Untiers ab. Sofort brach das Wesen zusammen, woraufhin mehrere trogitische 373
Soldaten über die Barrikade sprangen und den toten Feind hinter die Mauer zerrten. Mehr brauchen wir nicht, Andar!, rief Langbogen. Ihr könnt mit dem Feuer weitermachen! Ich dachte schon, du wirst nie fertig, brüllte Andar. Dann ließen die Katapulte wieder Feuer auf die Diener des Vlagh regnen. Dahlaine verbrachte den Nachmittag damit, das jüngste Experiment des Vlagh sorgsam zu untersuchen. Dieses Ding dort draußen schafft es immer wieder, mich zu erstaunen, sagte er zu Langbogen, Veltan und Zelana, nachdem er fertig war. Diese Schöpfung ist nicht, was sie zu sein scheint. Hier gibt es keinen Hinweis auf ein Reptil. Bei dem Ding handelte es sich schlicht und einfac um eine veränderte Spinne. Der Panzer sieht aber gar nicht nach Spinne aus, großer Bruder, wandte Veltan ein, während sich Hase und Narasan zu ihnen gesellten. Der Panzer ist lediglich eine Modifikation des gewöhnlicher Außenskeletts der Spinne, Veltan. Das Vlagh hat den Wert der trogitischen Brustpanzer erkannt und sich nach einem Tier umgeschaut, das etwas Ähnliches besitzt - ein Schildkrötenpanzer also Dann hat es diesen Panzer einer Spinne hinzugefügt, damit sie die Pfeile abwehren kann, die so viele seiner Diener im Krieg bei unserer Schwester getötet haben. Ich mache mir eher über die Tatsache Sorgen, dass das Vlagh mit Spinnen experimentiert. Eigentlich gibt es keine Verbindung zwischen Spinnen und den gewöhnlichen Dienern des Vlagh. Zum Beispiel unterscheidet sich der Speiseplan einer Spinne stark von dem eines gewöhnlichen Dieners des Vlagh. Was wir hier haben, ist gewissermaßen die Kreuzung einer Katze mit einer Maus. Das ist absurd, Dahlaine!, protestierte Zelana. Das Vlagh ist eben absurd, liebe Schwester. Ist dir das noch nicht aufgefallen? Was mich jedoch besonders verblüfft, ist der Grund, aus dem das Vlagh sich Spinnen als gepanzerte Diener 374
wählt. Es gibt mehrere Arten von Käfern, die vermutlich den gleichen Zweck erfüllt hätten, und Käfer sind mit den Spezies des Vlagh viel näher verwandt als Spinnen. Spinnen sind Einzelgänger, und die ursprünglichen Diener des Vlagh leben in Gruppen. Die Welt der Insekten ist höchst kompliziert, wie?, merkte Hase an. In der Tat, stimmte Dahlaine zu. Verbessere mich, wenn ich falsch liege, sagte Narasan, aber mir kommt es so vor, als hätten Andar und Danal die beste Lösung für das Problem gefunden. Insekten jeder Art verfügen über keinerlei Erfahrung mit Feuer. Pfeile und Speere waren im letzten Krieg nützlich, doch nun stehen wir gepanzerten Feinden gegenüber, und wir sollten uns auf das Wesentliche konzentrieren, nämlich auf Feuer. Da hat er nicht Unrecht, meinte Veltan. Insekten, Spinnen, Schlangen oder eine Mischung aus allem kennen sich mit Feuer nicht aus - abgesehen von der Angst davor. Zur Abwechslung mal ihnen Schrecken zu bereiten, ist nicht verkehrt. Sie haben uns mit ihrem Gift schockiert, und jetzt bekommen sie es mit Feuer zurück. Das klingt durchaus gerecht, befand auch Dahlaine.
Willst du nicht auf mich hören, tapferer Krieger?, riss die sanfte Stimme Langbogen aus dem Schlaf. Der Sieg ist mein, wenn du zur Seite treten wirst. Obwohl sie es nicht wissen, gehören die Armeen, die aus dem Süden kommen, mir, und sie kommen auf mein Geheiß. Ich befehle dir, zur Seite zu treten und sie nicht mehr zu behindern. Geh fort von hier. Stehe nicht mehr zwischen mir und meinem Sieg. Langbogen richtete sich mit aufgerissenen Augen auf, als ihm plötzlich eine Reihe Dinge klar wurden. Toris Bericht über das lächerliche Märchen, das die Bauern im Süden von Veltans Domäne jedes Mal erzählten, wenn sie das Wort Gold hörten, und die trogitischen Soldaten, die darauf wie besessen reagierten, ergab 375
plötzlich einen Sinn. Jemand - und zwar eine Frau - benutzte das Gold als Köder, und sie hatte damit eine halbe Million Kirchensoldaten an Land gezogen. Aber wofür? Je länger Langbogen darüber nachdachte, desto sicherer war er, dass dieses wiederholte Geh-mir-ausdem-Weg seines Traumes genau das bedeutete. Und der Befehl richtete sich bestimmt nicht nur an Langbogen allein. Auch seine Freunde sollten zur Seite treten, damit die beiden Feinde, die die südliche Domäne getrennt bedrohten, übereinander herfallen und sich gegenseitig auslöschen würden. Guter Junge, sagte die inzwischen vertraute Stimme liebevoll. Ich habe doch gewusst, du würdest mich verstehen - irgendwann. Ich muss mit dir reden, Zelana, schickte Langbogen seinen stillen dringenden Ruf am folgenden Morgen aus. Wieder eine Katastrophe? Ich glaube nicht. Ich denke, deine Brüder sollten sich dazu gesellen, und Narasan am besten auch. Bereitet dir etwas Sorgen, Langbogen? Ob >Sorgen< das richtige Wort ist, weiß ich nicht. Falls ich mich nicht sehr irre, bekommen wir Hilfe - von jemandem, von dessen Existenz wir bislang nicht einmal etwas geahnt haben. Das ist nicht nett, Langbogen. Lass mich nicht so zappeln. Tut mir Leid, aber ich versuche im Moment, eins und eins zusammenzuzählen. Vielleicht treffen wir uns am Geysir. Noch sollten wir davon nichts preisgeben - und vor allem darf das Vlagh nichts davon erfahren. Hoffentlich ist es etwas Gutes, Langbogen. Sollte ich nur halbwegs richtig liegen, geht es weit über gut hinaus. Langbogen verließ den Wald, in dem er für gewöhnlich schlief, ging zum lauten Geysir und dachte unterwegs über sein Erlebnis nach. Als er den Geysir erreichte, der die Hauptquelle des Flusses Vash 376 bildete, waren Zelana und ihre Brüder bereits eingetroffen, außerdem Hase, Keselo, Gunda, Tori und Narasan. Was gibt es denn, Langbogen?, fragte Hase. Erinnern wir uns einmal zurück, sagte Langbogen. Aus Ashads Traum haben wir erfahren, dass eine zweite Invasion in Veltans Domäne stattfinden würde, und die fünf Kirchenarmeen standen an der Südküste fast schon vor der Tür, ehe wir von Veltans Haus überhaupt hierher aufgebrochen waren. Diese Angelegenheit ist doch längst erledigt, Langbogen, protestierte Gunda. Vielleicht, aber wir sollten uns die Sache erneut vor Augen führen. Die Kirchensoldaten trieben die Einheimischen zusammen, rieben sich erwartungsvoll die Hände und warteten auf die Sklavenschiffe. Das haben wir doch alles schon gehört, sagte Narasan. Ich weiß, nur haben wir den Umständen möglicherweise nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt. Ehe die Sklavenhändler den Strand erreicht hatten, passierte nämlich etwas Eigentümliches. Tori erzählt uns, jedes Mal, wenn einer der Bauern das Wort >Gold< hört, verfällt er in eine Art Trance und erzählt ein altes Märchen das wahrscheinlich gar nicht so alt ist, denn Omago kennt es überhaupt nicht. Nachdem die Kirchensoldaten die Geschichte gehört haben, entscheiden sie sich völlig spontan dafür, ihr Leben in der Armee aufzugeben, und laufen so schnell sie können nach Norden. Nachdem sie durch Schluchten und Gräben und Pässe versucht haben, hier heraufzugelangen, versammeln sie sich in der Schlucht des Flusses, um eine Rampe zu bauen, obwohl der Ort nun wirklich nicht dafür geeignet ist, und sie verfolgen dieses Ziel mit einer Entschlossenheit, die an Wahnsinn grenzt. Er blickte Narasan an. Du kennst dich mit den Kirchenarmeen aus. Entspricht das ungefähr ihrem gewöhnlichen Vorgehen? Vermutlich nicht, räumte Narasan ein, aber der Gedanke an die riesigen Massen von Gold, das auf dem Boden dieses Tales herumliegt und nur darauf wartet, eingesammelt zu werden, dürfte ihnen das
letzte Fünkchen Verstand geraubt haben. 377
Hat diese Aussicht allen den Verstand geraubt? Würden nicht wenigstens einige einen Beweis verlangen? Ich sehe schon, worauf du hinauswillst, Langbogen, sagte Narasan. Diese Kirchensoldaten benehmen sich nicht normal, aber das rührt nicht an der Tatsache, dass sie uns von hinten in den Rücken fallen, und ich kann nicht gegen sie und die Insektenmenschen gleichzeitig kämpfen. Wie kommst du darauf? Jemand - oder etwas - spricht zu mir, während ich schlafe. Die Sprache ist sehr förmlich, fast altertümlich, aber es läuft darauf hinaus, dass ich den Weg freimachen soll. Dieser Wer - oder dieses Was - scheint zu glauben, die Kirchenarmeen und die Diener des Vlagh würden sich gegenseitig vernichten, wenn wir nur aus dem Weg gehen und aufhören würden, Felsen auf die Rampe zu werfen, die die Kirchenarmeen bauen. Seit wann gehörst du zu den Träumern, Langbogen? So eine Art Traum ist es nicht, antwortete Langbogen. Die Kinder lassen mit ihren Träumen Dinge geschehen. Ich glaube, ich soll euch einfach nur überreden, aus dem Weg zu gehen. Wessen Stimme hörst du denn?, fragte Hase. Ich bin nicht ganz sicher, gab Langbogen zu. Ich kenne sie zwar ganz bestimmt, komme jedoch nicht darauf, wem sie gehört. Ich denke, wir brauchen schon einen handfesten Beweis, bevor wir unsere Verteidigungsanlagen aufgeben, meinte Gunda, und die Skepsis war ihm deutlich anzumerken. In deinem Traum gibt es mir schlicht zu viele Unwägbarkeiten, Langbogen. Damit wäre ja eigentlich alles gesagt, fügte Dahlaine hinzu. Falls jemand - oder etwas - die Kirchensoldaten beeinflusst, würde ich eher glauben, es sei das Vlagh und nicht ein unbekannter Freund und Helfer. Wenn wir uns zurückziehen und die Kirchenarmeen sich mit den Dienern des Vlagh verbünden, könnten wir Veltans Domäne verloren haben, ehe der Sommer vorbei ist. Wir halten die Augen offen, doch solange wir keine unwiderlegbaren Beweise erhalten, können wir nicht einfach unsere Sachen einpacken und von dannen ziehen. 378
Sie sind ziemlich starrköpfig, nicht wahr?, sagte Tori leise zu Langbogen, als die beiden auf dem zentralen Turm von Gundas Mauer standen. Wahrscheinlich deshalb, weil sie im Süden nicht dabei waren, als sich dieser großartige Plan der Trogs in Nichts auflöste, bloß weil diese Bauern ein erfundenes Märchen erzählten. Dann schaute der junge Maag hinunter ins Ödland. Das könnte damit zu tun haben, weißt du. Es würde deiner Theorie wesentlich mehr Gewicht verleihen, wenn der Sand dort unten nicht rot, sondern gelb wäre. Selbst das hätte sie nicht überzeugt, widersprach Langbogen. Sie sind ausgesprochen stur, Tori, und manchmal hängen sie an ihren Meinungen fest, als wären sie in Stein gemeißelt. Da kommt wohl ein Unwetter auf uns zu, meinte Tori und zeigte über die Bergkette nach Westen. Langbogen runzelte die Stirn und betrachtete die wirbelnde Wolke, die sich höher und höher über die Berge erhob. Das ist kein Unwetter, Tori, sagte er. Es sieht eher aus wie ein Sandsturm. Die hasse ich, verkündete Tori. Sand kriecht in die Kleider und schleicht sich in die Kehle, wenn diese dummen Dinger so herumwirbeln. Langbogen runzelte erneut die Stirn. Aus der Richtung sollte der Sturm eigentlich gar nicht kommen, sagte er. Die Westseite des Gebirges ist mit Bäumen und Büschen bewachsen. Ich glaube, um eine Wolke von dieser Größe zu bilden, gibt es dort gar nicht genug Sand. Aber sie ist gelb, und auf sehr viele gelbe Bäume stößt man hier nicht, oder? Die gelbe Wolke wälzte sich den Hang hinunter und trieb über das wüste Ödland hinweg. Gutes Kind!, rief Tori der Wolke zu. Geh, belästige die Insektenmenschen und lass uns in Ruhe! Daraufhin schien die gelbe Wolke buchstäblich in sich zusammenzusinken, fiel auf das Ödland und bedeckte es mit einem dichten stumpfen Gelb. Schließlich legte sie sich über den Sand. 379
Und damit war sie verschwunden - fast so, als wäre sie vom Sand aufgesogen worden. Die Sonne kam wieder hervor, und Langbogen starrte ungläubig auf das, was sich im Norden vor ihm bis zum Horizont ausbreitete. Gute Güte!, presste Tori hervor. Da draußen, das ist ja alles Gold! Bis jetzt dachte ich, es wäre nur Eisenerz, aber es ist Gold Plötzlich lachte Langbogen. Nicht ganz, Freund Tori, sagte er. Es mag wie Gold aussehen, trotzdem
bleibt es Eisen. Ich würde sagen, unsere unbekannte Freundin hat gerade einen neuen Köder in ihre Falle gelegt, in der sie vermutlich eine halbe Million Trogiten fangen will. Gerade ist dort unten etwas passiert, das unsere Aussichten auf Erfolg wesentlich erhöht.
39 Narasans Soldaten standen auf Gundas Mauer und schauten in ehrfürchtigem Schweigen hinunter auf das glitzernde Ödland. Ich finde, du solltest deinen Männern lieber sagen, sie sollen keine Löcher in die Luft starren, Narasan, schlug Langbogen vor. Außerdem setzen die Wesen des Ödlands ihren Angriff fort, und wenn deine Männer nicht langsam die Verteidigung wieder aufnehmen, haben wir bald Gesellschaft hier oben. Narasan riss den Blick von dem riesigen Meer glitzernden gelben Sandes los und sah sich um. Zurück auf die Posten!, brüllte er seine Männer an. Ihr werdet nicht bezahlt, um euch die Landschaft anzuschauen! Dann setzte er eine verlegene Miene auf. Ich weiß nicht, ob das wirkt, Langbogen. Mir schwirrt ja selbst der Kopf bei dem Anblick von diesem glitzernden Sand. So muss das auch sein, Freund Narasan. Das soll dir nämlich helfen, nicht zu vergessen, dass es sich nur um eine Goldimitation handelt, und nicht um richtiges Gold. Nun fangen die Dinge schließlich an, zusammenzupassen. Zuerst erzählen die Bauern die Geschich380
te über diesen Burschen, der hier heraufkam und sah, was wir gerade sehen. Dann glaubten die Kirchensoldaten diese Geschichte ohne einen einzigen Beweis zum Anfassen und eilten hier herauf, um sich etwas zu holen, das bis vor einem Moment noch überhaupt nicht existierte. Da hat doch jemand seine Finger im Spiel, und im Gegensatz zu Zelana würde ich behaupten, es ist nicht das Vlagh. Hoffentlich nicht, wünschte sich auch Narasan. Wenn das Vlagh eine solche Illusion erzeugen kann, die einfach so aus dem Nichts in der Wüste erscheint, dann werde ich gewiss meine gesamte Armee verlieren. Kommandant Narasan!, rief ein Soldat von einem der anderen Türme, von hinten kommen Piraten. Rasch drehten sich Narasan und Langbogen nach Süden um. Plötzlich musste Narasan kichern. Ich glaube, da ist gerade Hilfe eingetroffen. Das ist doch Sorgan Hakenschnabel. Oder nicht? Langbogen nickte. Er ist aber sehr schnell zurückgekehrt. Ich möchte annehmen, da hatte Zelana ihre Finger im Spiel. In letzter Zeit scheinen ziemlich viele Leute ihre Finger im Spiel zu haben, würdest du nicht auch meinen?, erwiderte Narasan und lächelte schwach. Aber ich würde es nicht zu laut sagen, entgegnete Langbogen. Sorgan Hakenschnabel blieb wie angewurzelt stehen, als er oben auf Gundas Mauer ankam und das Meer aus Gold im Norden sah. Gute Götter!, rief er und starrte hinaus auf das glitzernde Ödland. Das ist nicht echt, erklärte ihm Langbogen, sondern lediglich dieses falsche Gold, das Grock gefunden hat, als wir durch Nantons Pass heraufkamen. Irgendjemand treibt hier seine Spielchen. Dafür hätte ich gern einen Beweis, Langbogen, widersprach Sorgan. Für mich sieht es durchaus wie echtes Gold aus. Langbogen ist ziemlich sicher, dass es sich um eine List handelt, Hakenschnabel, berichtete Narasan, aber für dies eine Mal bin ich auf deiner Seite. Ich möchte ebenfalls einen Beweis dafür, dass es kein Gold ist, ehe ich es glaube. 381
Hase!, rief Langbogen, wir brauchen dich! Der kleine Maag stieg die Treppe zum zentralen Turm hinauf. Kannst du von hier oben aus feststellen, ob der glitzernde Sand tatsächlich echtes Gold ist oder nur noch mehr von diesem falschen?, fragte Sorgan. Hase schaute blinzelnd zum Ödland. Nicht mit vollkommener Sicherheit, Käpt'n, gab er zurück. Ich müsste es schon in die Hand nehmen, um es zu beurteilen. Das ist im Augenblick ein wenig schwierig, sagte Narasan. Da stehen jede Menge uns unfreundlich gesonnener Kreaturen im Weg. Hase betrachtete erneut mit zusammengekniffenen Augen das Ödland. Von dem Berg dort an der westlichen Bergkette könnte man einen Eimer an einem Seil hinunterlassen, aber ich bin nicht sicher, wie viel ich damit aufsammeln könnte. Was ich wirklich brauche, ist... Er hielt unvermittelt inne und schlug die Hand vor die Stirn. Warum bin ich eigentlich nicht gleich darauf gekommen, sagte er. Ich habe schließlich hier in meinem Geldbeutel etwas, mit dem ich herausfinden kann, woraus der Sand
besteht. Ach?, fragte Sorgan. Was denn? Ich habe es von einem anderen Schmied gekauft, als wir im Hafen von Kormo waren. Man nennt es >Magneteisenstein<. Ich hatte davon gehört und hielt es für interessant, habe aber bislang noch keine vernünftige Einsatzmöglichkeit gefunden. Immer, wenn etwas Eisernes in seine Nähe kommt, packt es zu und hält es fest. Hast du das tatsächlich schon einmal ausprobiert?, fragte Sorgan skeptisch. Hase grinste seinen Kapitän an. Gewiss, Käpt'n, sagte er. Wenn wir im Hafen sind und mir das Geld ausgeht, kann ich mir immer ein paar Krüge Starkbier zusätzlich verdienen, indem ich jemanden suche, der mit mir wettet, dass mein Stein springen kann. Er nahm den Beutel vom Gürtel und suchte mit seinen Fingern darin herum. Hier ist mein Kleiner ja, sagte er stolz und hielt einen schwarzen Stein von der Größe eines Daumens in die Höhe. Dann zog er sein Messer aus der Scheide und hielt es einige Zoll darüber. Der schwarze Klumpen machte einen Satz und schlug klirrend an die Klinge. Sorgan blinzelte. Na, so was habe ich ja noch nie gesehen. Jetzt verstehe ich, wie du so viele Wetten gewinnen konntest, Hase. Ich habe von solchen Steinen gehört, sagte Narasan, doch gesehen habe ich bislang keinen. Hase strich über den Magneteisenstein. Ich sollte ihn lieber in einen Stoffbeutel tun, den Kleinen, grübelte er laut. Er ist so glatt und rund, und vielleicht hält es nicht, wenn ich ihn an einem Seil festbinde, aber ich möchte ihn auf gar keinen Fall verlieren. Ich mache eine Art Beutel aus Stoff und tu ihn hinein. Dann binde ich das Seil an den Beutel. Verhindert der Beutel nicht, dass er auf das Eisen springt?, fragte Sorgan. Hase schüttelte den Kopf. Er springt trotzdem auf das Eisen, Käpt'n - oder Eisen springt zu ihm. Sogar durch das Leder schnappt er nach Eisen. Aus irgendeinem Grund liebt er Eisen. Ich stecke ihn in einen Beutel, lasse ihn in den glänzenden gelben Sand hinunter und ziehe ihn ein paar Mal hin und her. Falls der Sand dort draußen Eisen enthält, wird der Beutel damit bedeckt sein, wenn ich den Stein wieder nach oben hole. Sollte jedoch nichts am Beutel kleben, befindet sich kein Eisen in dem Sand. Deshalb muss es zwar noch lange kein Gold sein, aber Eisen ist es dann bestimmt nicht. Ich denke, ich kenne eine Stelle, wo du das versuchen kannst, sagte Langbogen zu seinem kleinen Freund. Dort drüben auf der anderen Seite des westlichen Kamms. Die Felswand, die zum Ödland abfällt, ist nicht so hoch, und wir brauchen nicht so viel Seil zu schleppen. Gehen wir also, meinte Hase. Ich glaube, wenn die Antwort günstig für uns ausfällt, haben wir wieder einen Krieg gewonnen. Wer immer das für uns macht, ist ganz schön klug, sagte Tori, als er sich zu Hase und Langbogen gesellte, die an der westlichen Bergkette hinaufstiegen. Ich würde sagen, dieser Jemand hatte diese Wüste mit falschem Gold schon von Anfang an im Sinn. 382
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Diese Sie, korrigierte ihn Langbogen. Denn es war eine Frauenstimme, die mir befohlen hat, den Weg freizumachen. Könnte es nicht die Schwester der werten Dame Zelana sein?, fragte Hase und rückte das Seil zurecht, das er auf der Schulter trug. Langbogen schüttelte den Kopf. Ihre Stimme hätte ich sofort erkannt, sagte er. Es war eindeutig nicht Aracia. Zwar habe ich die Stimme aus dem Traum schon einmal gehört, doch kann ich mich nicht mehr erinnern, wo. Nun, wer auch immer es ist, anscheinend verfügt diese Person über mehr Macht als die Leute, die uns angeheuert haben, meinte Tori. Vermutlich ist sie die größte Schwindlerin in der großen weiten Welt. Schwindlerin}, protestierte Hase. Leute mit falschem Gold in die Falle zu locken, das ist nicht gerade eine ehrliche Art und Weise, Hase, sagte Tori und grinste, aber mich soll das nicht weiter stören. Sie hat fünf Armeen angeheuert, damit diese unseren Krieg ausfechten, und sie zahlt ihnen den Sold in falschem Gold aus. Wir müssen die Wesen des Ödlands so lange zurückhalten, bis unsere neuen Freunde mit ihrer Rampe fertig sind, erinnerte Langbogen ihn. Das stimmt wohl, nehme ich an, aber die Männer von Vetter Sorgan sind bereits im Pass des Schäfers und stehen uns bald zur Seite. Jetzt müssen wir ja nicht unbedingt alle Insektenmenschen töten, sondern ihnen lediglich standhalten, bis unsere neuen Freunde hier oben eingetroffen sind. Dann
können wir zur Seite treten und jubeln, während die Kirchensoldaten und die Insekten sich gegenseitig fertig machen. Er schaute sich auf dem felsigen Berg um. Wie weit ist es eigentlich noch bis zu der Stelle, die du meinst, Langbogen? Sie kommt gleich hinter dem großen Baum, antwortete Langbogen und zeigte nach vorn. Haben wir auch bestimmt genug Seil?, fragte Hase. Der Käpt'n wird nicht allzu glücklich sein, wenn wir ohne Ergebnis zu ihm zurückkehren. 384
Die Felswand an der Stelle ist nur fünfzig Fuß hoch, kleiner Freund, erwiderte Langbogen. Wenn der Berg dort so niedrig ist, aus welchem Grund greifen die Insektenmenschen dann nicht dort an?, fragte Tori. Der Durchlass ist zu schmal und zu steil, erklärte Langbogen. Das Vlagh braucht viel Platz, wenn es seine Diener in Bewegung setzt. Sie passierten den hohen Baum und folgten dem Bett eines schmalen Baches, der sich durch den Fels gegraben hatte. Tori schaute hinaus ins Ödland. Es sieht so aus, als würde dein >Meer aus Gold< weiter dort draußen austrocknen, Langbogen, sagte er. Da hinten wird es wieder rot, und nach einer Meile verblasst das Rot sogar und wird zu einfachem, altem braunem Sand. Es ist eben nur ein Köder, Tori, erklärte Langbogen. Unsere unbekannte Freundin versucht, den Fisch, den wir fangen wollen, hierher zu locken, und nicht dort hinten hin. Daraufhin schaute Tori ein wenig dümmlich drein. Daran habe ich gar nicht gedacht, gestand er. Dieses ganze falsche Gold hat mir wohl aus irgendeinem Grund den Kopf verdreht. Du dürftest wieder einen klaren Kopf bekommen, sobald wir den Beweis haben, dass der gelbe Sand nur ein Schwindel ist, tröstete ihn Langbogen. Man möchte doch auch nicht glauben, gab Hase zu bedenken, dass sich Wasser - das nicht sehr hart ist - durch festes Gestein wie dieses graben kann, oder? Vor allem, wenn es nur wenige Wochen jedes Jahr fließt. Das hängt einzig davon ab, wie viel Zeit das Wasser hat, seine Arbeit zu tun, erklärte Langbogen. Wie lange braucht es denn, um diese kleine Schlucht zu schaffen? Nicht allzu lange fünfzigtausend Jahre vielleicht. Das nennst du nicht allzu langes Langbogen? Langbogen lächelte. Wasser ist sehr geduldig, mein kleiner Freund, erwiderte er. Es will im Grunde nur eines: den Berg hinunterfließen. 385
Vorsichtig stiegen sie durch das ausgetrocknete Bachbett hinunter und blieben ein Stück vor dem abrupten Ende stehen. Unten an der Steilwand gibt es eine Menge von diesem neuen Sand, Hase, sagte Tori, der sich vorsichtig über die Kante vorbeugte. Wie tief ist es ungefähr nach unten? Fünfzig Fuß - höchstens sechzig. Ich habe mir schon Gedanken gemacht, gestand Hase. Wir hätten ziemlich dumm ausgesehen, wenn das Seil drei Fuß zu kurz gewesen wäre. Er setzte sich, zog ein Stück locker gewebtes Tuch hervor, das er unter den Gürtel geklemmt hatte, und wickelte den Magneteisenstein darin ein. Anschließend hielt er sein Messer über den provisorischen Beutel. Der Beutel sprang in die Höhe und heftete sich an das Messer. Scheint zu funktionieren, sagte Hase und knotete das Tuch fest zu. Dann band er das Ende des Seils daran fest und ließ den Stein vorsichtig zum Sand hinunter. Als dieser den Boden unten erreichte, hob und senkte der Maag ihn einige Male, damit der Magnet möglichst viele dieser glitzernden Sandkörner aufschnappen konnte. Schließlich holte er das Seil wieder ein, packte den Stoffbeutel und hielt ihn in die Höhe, damit Langbogen und Tori ihn sehen konnten. Der kleine Beutel war fast vollständig mit glitzernden gelben Körnern bedeckt. Dein Stein hat aber einen ziemlichen Hunger, Hase, meinte Tori. Du solltest ihn vielleicht häufiger füttern, weißt du. Hase grinste breit. Heute hat er sich eine anständige Mahlzeit verdient, sagte er. Wenn Narasan und Sorgan das sehen, werden sie wissen, dass dieser glänzende Goldsand nur eine Täuschung ist. Langbogens Freundin hat gerade den Krieg für uns gewonnen. Am Nachmittag kehrte Langbogen mit seinen beiden Freunden aus dem steilen Bergzug in den
Grasbewachsenen Talkessel zurück; Zelana und Veltan erwarteten sie bereits am Geysir. Und?, fragte Zelana. Breit grinsend hielt Hase den mit falschen Goldkörnern bedeck386 ten Beutel hoch. Ist die Frage damit beantwortet?, fragte er. Sieht zwar sehr hübsch aus, ist aber bestimmt kein Gold. Wir sollten einige Dinge vielleicht neu überdenken, liebe Schwester, sagte Veltan. Bei dieser List sehe ich keinen Vorteil für das Vlagh. Wenn wir diese Kirchensoldaten nicht länger stören und sie die Rampe fertig bauen lassen, werden sie völlig durchdrehen, sobald sie das sehen, was wie Gold erscheint und sich über das Ödland ausbreitet, so weit das Auge reicht. Sie werden den Hang hinunterstürmen und die Diener des Vlagh niedertrampeln, nur um das zu bekommen, was eigentlich gar nichts wert ist. Zelana zog eine klägliche Miene. Offensichtlich kann man sich auf gar nichts mehr verlassen, räumte sie ein. Das Vlagh ist nicht der einzige Betrüger in der Welt. Dieses >falsche Gold< könnte möglicherweise mehr wert sein als echtes. Du solltest dich lieber mit Narasan unterhalten, kleiner Bruder. Sag ihm, er möge Padan eine Nachricht schicken. Vielleicht wollen wir diese Kirchensoldaten lieber nicht länger stören. Wir wollen sie schließlich hier oben haben. Genau!, stimmte Veltan begeistert zu. Die Sonne war untergegangen - die richtige Sonne, hielt sich Langbogen vor Augen, während Dahlaines Spielzeugsonne über dem glitzernden Hang immer heller und heller wurde. Narasan hatte auf dem zentralen Türm von Gundas Mauer eine Versammlung einberufen, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Bist du absolut sicher, dass es sich um Eisen handelt?, fragte Sorgan Hakenschnabel und klang dabei fast traurig. Der Magneteisenstein hat es sozusagen bewiesen, Käpt'n, erklärte Hase. Er liebt Eisen, aber für Gold interessiert er sich nicht. Anscheinend habe ich einen großen Fehler begangen, Veltan, gestand Narasan ein. Ich war so überzeugt davon, diese Kirchenarmeen seien lediglich hier, um mich zu bestrafen, dass mir der Gedanke, sie könnten in irgendeiner Weise hilfreich sein, nie gekommen ist. 387
Bestrafen?, fragte Sorgan neugierig. Im südlichen Teil des Imperiums haben uns einige Kirchenarmeen in einen Hinterhalt gelockt, berichtete Gunda. Dabei kam einer der Verwandten des Kommandanten zu Tode, und darüber war er sehr aufgeregt. Padan und ich haben eine Möglichkeit gefunden, es unserem Gegner heimzuzahlen, aber der Kirche gefiel das nicht. Was habt ihr denn gemacht, dass sie euch so weit folgen würden? Gunda zuckte mit den Schultern. Wir haben mehrere berufsmäßige Mörder bezahlt, und die haben einige Gräber mit hochrangigen Kirchenleuten und verschiedenen Kommandanten der Kirchenarmeen gefüllt. Gibt es im Imperium tatsächlich Leute, die ihren Lebensunterhalt damit verdienen, Menschen für andere zu töten? Der Gedanke schien Sorgan zu überraschen. Wir im Lande Maag erledigen das für gewöhnlich selbst. Berufsmörder sind zuverlässiger, sagte Gunda. Sie töten denjenigen, den du loswerden willst, und zwar auf die Weise, die du wünschst - entweder rasch und still, oder langsam und von lautem Schreien begleitet. Unten im Imperium gibt es einen Mörder, der dir garantiert, dass dein Feind mindestens zwei Tage leiden wird, ehe er stirbt. Falls das Opfer früher stirbt, verzichtet der Meuchler auf seinen Lohn. Also, das nenne ich wirklich Berufsethos, Vetter, sagte Tori voller Bewunderung. Bis jetzt gab es noch niemanden, den ich dermaßen schlecht leiden konnte, meinte hingegen Sorgan. Einerlei, setzte Narasan den Bericht fort, ob sie uns nun hassen oder nicht, sobald sie das falsche Gold dort draußen sehen, werden sie an nichts anderes mehr denken können. Das entscheidende Wort ist vermutlich >sobald<, Narasan, fügte Sorgan hinzu. Die Felsen, die wir ihnen von oben auf den Kopf werfen, haben sie bislang aufgehalten. Es könnte Monate dauern, bis diese Rampe fertig ist, und wir müssen die Insektenmenschen zurückhalten, bis die Kirchenarmeen die Sache für uns übernehmen. Ich weiß, antwortete Narasan düster. Also, hat jemand irgendwelche Vorschläge?
Vielleicht sollten wir ihnen helfen, brachte Omago zögerlich vor. Was hast du dabei genau im Sinn?, fragte Veltan. Also, sie brauchen eine Menge großer Felsen, um diese Rampe fertig zu stellen, doch am Fuß des Wasserfalls gibt es nicht genug, weil der Fluss sie über die Jahre hinweg nach unten geschoben hat. Wenn unsere Männer weiterhin Felsen über die Kante werfen, glauben die da unten, wir wollten sie immer noch aufhalten, dabei versorgen wir sie eigentlich genau mit dem, was sie brauchen. Die Idee gefällt mir!, rief Sorgan. Sie sind sich dessen zwar nicht bewusst, aber die Männer da unten sind im Prinzip unsere Freunde, und es ist immer nett, wenn man einem Freund hilft insbesondere, wenn er anschließend das Sterben übernimmt. Im Zusammenhang damit sollten wir Gundas Mauer ein wenig verändern, schlug Langbogen vor. Das ist eine sehr gute Mauer, Langbogen, protestierte Gunda. Das ist ja das Schlimme, Freund Gunda. Sie ist zu gut. Wenn unsere Freunde aus dem Süden deine Mauer erreichen, wird es sie viel Zeit kosten, sie in großer Zahl zu überwinden, was ja unbedingt notwendig ist. Ich würde sagen, wir brauchen eine Lücke von hundert Schritt Breite, damit ausreichend viele von ihnen hindurchstürmen können. Warum überlasst ihr das nicht mir, meine Herren?, schlug Veltan vor. Lassen wir Gundas Mauer im Augenblick in dem Zustand, in dem sie sich gerade befindet, bis unsere neuen Freunde heraufkommen und sich das falsche Gold holen wollen. Dann werde ich eine breite Öffnung für sie Hineinbrechen, durch die sie stürmen können, um das Sterben für uns zu übernehmen. Und wie genau willst du das anstellen, Veltan?, erkundigte sich Gunda. Möchtest du das wirklich wissen, Gunda? 389 Äh - weißt du, jetzt, wo du fragst, Veltan, eigentlich nicht, nicht unbedingt jedenfalls. Seid ihr sicher, die Insektenmenschen werden weiterhin bei jedem Sonnenuntergang kehrtmachen?, fragte Narasan Veltan und Zelana ein wenig später. Sie sind Gewohnheitstiere, Kommandant Narasan, erwiderte Zelana. Wenn sie es heute so machen, werden sie vermutlich morgen nichts daran ändern. Das konnten wir ja ziemlich häufig in der Schlucht oberhalb von Lattash beobachten, Narasan, erinnerte Hakenschnabel seinen Freund. Vielleicht sind sie diesmal schlauer, warf Veltan ein, doch gehorchen sie weiterhin den Befehlen des Vlagh, und wenn das Vlagh ihnen aufträgt, jeden Abend nach Hause zu kommen, werden sie das tun, bis ihnen das Vlagh etwas anderes befiehlt. Blinder Gehorsam gehört untrennbar zu ihrer Natur. Also gut, meinte Narasan. Wir haben mehrere Möglichkeiten, sie zurückzuhalten, damit sie nicht einfach den Hang hinaufstürmen und anfangen, gegen Gundas Mauer zu hauen. Das helle Licht von Dahlaines kleinem Spielzeug hat die Insektenfledermäuse mehr oder weniger außer Gefecht gesetzt. Die Wälle und die vergifteten Pfähle verlangsamen den Vormarsch der großen Schlangenmenschen, und die Feuergeschosse unserer Katapulte vernichten die falschen Schildkröten. Wir haben dreizehn Reihen von Wällen vor Gundas Mauer über den Hang gezogen. Und wir brauchen den Feind nicht vollständig auszulöschen, sondern müssen ihn lediglich zum Halten bringen. Da sie nach der Arbeit stets nach Hause gehen, können wir die vordersten Wälle heute Nacht wieder besetzen. Morgen Nacht ziehen wir uns dann um einen zurück. In der dritten Nacht wieder um einen. Damit bekommen die Kirchensoldaten zwei Wochen, in denen sie ihre Rampe fertig stellen und das falsche Gold da draußen im Ödland entdecken können. An dem Punkt tippen wir uns einfach höflich an den Hut und gehen davon. 390
Du kannst ja gehen, Narasan, sagte Sorgan, aber ich denke, ich werde rennen, und du solltest mir besser nicht in die Quere kommen. Langbogen fand Narasans Plan auch aus anderem Grund praktisch. Solange die Diener des Vlagh jeden Tag einen gewissen Fortschritt zu machen schienen, sah das Vlagh vermutlich keinen Anlass, sich eine neue und somit unerwartete Strategie auszudenken. Die Diener des Vlagh würden jeden Tag eine Barrikade überrennen, und wenn Omagos Vorschlag sich so umsetzen ließ, wie es sein sollte, würden die Kirchenarmeen ihre Rampe fertig haben, sobald die Wesen des Ödlands die letzte Barrikade erreichten. Zumindest hatte er es geschafft, Narasan und Sorgan davon zu überzeugen, dass die Stimme, die er im Schlaf hörte, tatsächlich die Wahrheit gesagt hatte. Natürlich hatte das plötzliche Auftauchen des falschen Goldes dabei geholfen.
Wenn ich Glück habe, belästigt sie heute Nacht jemand anderen, murmelte er, während er zum Wald ging, der etwa eine Meile von Gundas Mauer entfernt war. Obwohl er jetzt mehrere Freunde unter den Gästen aus den fremden Ländern hatte, bevorzugte Langbogen die Einsamkeit, wenn er schlafen wollte. Die Bäume dieses Waldes gehörten zu einer ihm unbekannten Art, vermutlich, weil Veltans Domäne deutlich weiter im Süden lag als Langbogens Heimat, doch sie boten ihm ein Dach über dem Kopf wenngleich ein Dach über dem Kopf jetzt im Sommer nicht so wichtig war. Er legte sich auf sein Bett aus Laub und begann zu dösen. Gut hast du dich geschlagen, tapferer Jäger, drang die inzwischen vertraute Stimme in seinen Kopf ein. Ich werde dich nicht mehr belästigen. Gehab dich wohl, Langbogen aus Zelanas Domäne. In späterer Zeit werden wir uns vielleicht Widertreffen.
Die Brücke
40 Padan war ziemlich skeptisch, was Langbogens Idee betraf, eine unbekannte Freundin schicke in Form von fünf Armeen der Kirche Hilfe. Die amaritische Kirche war auf blanke Gier gegründet, aber so weit Padan wusste, hatte keiner der Kirchensoldaten, keiner der Priester und nicht einmal einer der brutalen Regulatoren den Farbwechsel des roten Sandes im Ödland mitbekommen. Das ergibt doch vorn und hinten keinen Sinn, murmelte Padan, als er an dem breiten schäumenden Fluss entlang zum Wasserfall zurückging, wo seine Männer weiterhin Felsen auf das Dach fallen ließen, das sich die Kirchensoldaten so klug ausgedacht hatten, um sich vor den Pfeilen von Langbogens Männern zu schützen. Narasan hatte die Idee jedoch für gut befunden, daher musste Padan seinen Zweifeln zum Trotz mitspielen. Diesen Aspekt hatte Padan stets als den größten Nachteil des Soldatenlebens empfunden. Hatte der Kommandant sich eine Meinung gebildet, mussten ihm seine Offiziere gehorchen. Damals, in der Zeit, als Padan, Gunda und Narasan noch Kadetten gewesen waren, hatten ihnen die Sergeanten das unablässig eingetrichtert. Der Satz Tut, was man euch sagt, tauchte dreißig bis vierzig Mal am Tag auf. Sicherlich ergab das einen gewissen Sinn, aber falls der Kommandant einmal falsch lag, konnte leicht die halbe Armee dabei draufgehen. Als er den Rand der Schlucht erreichte, die der Vash in die Berge im Süden gegraben hatte, rief Padan
seine Offiziere zusammen. Wir haben neue Befehle bekommen, meine Herren, berichtete er. Die Lage hat sich geändert, daher lassen wir keine Felsen mehr auf dieses Schutzdach fallen. Unser glorreicher Führer wünscht, dass wir diesen verrückten Kirchensoldaten dort unten von jetzt an hel395
fen und sie nicht mehr behindern. Ab sofort werden die Felsen so nach unten gerollt, dass sie vor der Rampe liegen bleiben, und nicht darauf. Das ergibt doch keinen Sinn, Padan, protestierte einer der älteren Offiziere. Narasan gefällt es aber so, erwiderte Padan. Er zögerte kurz, entschied dann jedoch, seine Offiziere wissen zu lassen, warum die Befehle geändert worden waren. Es scheint, wir haben irgendwo eine Freundin, die ein recht interessantes Spielchen treibt, sagte er. Wir wissen alle, wie verrückt die amaritische Kirche nach Gold ist, und diese Freundin von uns benutzt falsches Gold als Köder. Wenn die Armeen der Kirche die Rampe fertig haben und vor sich eine meilenweite Ebene mit Gold sehen oder zumindest etwas, was sie dafür halten -, werden sie durchdrehen, was denkt ihr? Ich weiß, dass auch ich beinahe den Kopf verloren hätte, als ich es zum ersten Mal gesehen habe, gestand einer der Offiziere. Hoffentlich geht es diesen Kirchenknaben genauso, sagte Padan. Unser neuer >großer Plan< besteht darin, den guten alten Kirchenknaben heraufzuhelfen, damit sie den Glitzerstaub dort draußen sehen können. Dann sollten wir einfach zur Seite treten, damit sie den Hang hinunterrennen und die Insektenmenschen niedertrampeln können. Während die Insektenmenschen im Gegenzug jeden mit Gift töten, der sich in ihre Nähe wagt?, fragte ein anderer Offizier skeptisch. So ungefähr sieht der neue >große Plan< im Kern aus, bejahte Padan. Du klingst nicht sehr überzeugt, Padan, meinte der erste Offizier. Ich muss ja auch nicht überzeugt sein, erwiderte Padan. Narasan hat sich die Idee aufschwatzen lassen, und mehr brauchen wir nicht zu wissen. An die Arbeit, meine Herren. Postiert eure Männer hundert Schritt weiter flussaufwärts und lasst die Felsen vor die Rampe werfen und nicht darauf. Finden wir heraus, wie lange diese heiligen Schwachköpfe brauchen, um zu begreifen, dass 396 unsere Felsen so brauchbar sind wie die aus dem Fluss. Er zögerte kurz. Wenn einer unserer Felsen allerdings versehentlich auf ein paar Dutzend Kirchensoldaten fällt, würde ich mich darüber nicht allzu sehr aufregen, fügte er noch hinzu. Padans Männer kicherten und grinsten ihn verschlagen an. Gegen Mittag des folgenden Tages kam der kleine kluge Schmied Hase von Norden herunter. Ich soll dir sagen, dass es noch einmal eine dieser Zusammenkünfte bei diesem großen Wasserspeier gibt. Was ist denn nun schon wieder?, antwortete Padan gereizt. Ich dachte, wir wären gestern alles durchgegangen. Sie haben es mir leider nicht verraten, sagte Hase, aber ich denke, der große Bruder von Zelana möchte mehr über diese Kirche in eurem Teil der Welt wissen. Er hielt kurz inne und vergewisserte sich, dass niemand in Hörweite war. Ich glaube, es hat damit zu tun, wer eigentlich hinter diesem Plan steckt. Dieser Ozean aus Gold, der plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht ist, hat sie alle nervös gemacht. Ich würde es zwar nicht beschwören, aber ich glaube, dazu ist keiner aus der Familie der werten Dame Zelana fähig. Ihre ältere Schwester scheint sich so aufzuregen, dass sie Nägel fressen und Rost spucken könnte. Padan lachte. Eine lustige Art, es auszudrücken, Hase. Der zuckte mit den Schultern und blickte hinunter in die Schlucht, die der Wasserfall aus den Bergen gegraben hatte. Ganz schön tief, merkte er an. Da hast du wohl Recht, stimmte Padan zu. Diese Leute da unten werden eine Weile brauchen, bis sie hier oben sind, nicht wahr? Das ist ihr Problem, Hase, nicht meins. Gehen wir zum Geysir und finden heraus, was schon wieder los ist. Der riesige Geysir, die Hauptquelle des Vash, erzeugte eine Menge Lärm und schoss so hoch in die Luft, als würde er von einer unbe397 greiflichen Kraft tief unten in den Eingeweiden der Erde gespeist. Padan musste zugeben, dass diese Fontäne eine große Schönheit besaß, doch der unaufhörliche Sprühregen von der Spitze des Geysirs erschien ihm wie ein endloser Frühlingsschauer.
Glücklicherweise war Veltans älterer Bruder klug genug, eine Stelle auszusuchen, die ein Stück von dem Geysir entfernt war; also wurden sie zumindest nicht nass. Es erschien Padan so, als wären fast alle anwesend. Wer kümmert sich um die Vorräte?, fragte er Narasan leise. Hauptsächlich die Sergeanten, antwortete Narasan. Oh, meinte Padan, dann dürfte ja alles wie geschmiert laufen, oder? Das würde ich nicht allzu laut sagen, Padan. Wenn jemand herausfinden sollte, wer die Führung der Armee wirklich innehat, müssen wir uns vielleicht ehrliche Arbeit suchen. Worum geht es eigentlich, Narasan? Haben wir gestern etwas übersehen? Narasan blickte sich um und senkte die Stimme. Der große Bruder der werten Dame Zelana ist sehr neugierig, was die amaritische Kirche und ihre Armeen betrifft, erwiderte er. Hier im Lande Dhrall sieht man die Dinge wohl ein bisschen lockerer als bei uns im Imperium. Wozu brauchst du mich dann hier? Ich weiß rein gar nichts über die Kirche, und dabei würde ich es auch lieber belassen. Gilt das nicht für jeden von uns? Die einfachste Lösung "wäre es, die Sache an Keselo zu übergeben. Da bin ich mit dir einer Meinung, stimmte Padan zu. Dieser junge Kerl besitzt mehr Bildung als wir anderen zusammen. Dürfte ich um eure Aufmerksamkeit bitten?, fragte nun der graubärtige Dahlaine mit lauter Stimme, Unsere Freunde aus dem trogitischen Weltreich sind wahrscheinlich mit der Religion ihres Teils der Welt besser vertraut als wir anderen, daher dachte ich, es könnte von Nutzen sein, wenn sie uns eine Ahnung vermitteln könnten, worum es dabei eigentlich geht. Forschend blickte er Narasan an. Ich bin nicht sehr bewandert in den Besonderheiten der Kirche, Herr Dahlaine, antwortete Narasan bescheiden, aber unser junger Freund Keselo hat die Universität von Kaldacin besucht, weshalb er vermutlich am besten geeignet sein dürfte, alle deine Fragen zu beantworten. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Ich habe für die Kirche nicht viel übrig, beziehungsweise für die arroganten Leute, die sie anführen. Erzähl doch unserem Freund etwas über die Religion, die unserem Teil der Welt das Leben schwer macht, Keselo. Wenn du möchtest, Herr, erwiderte Keselo gehorsam. Dann zögerte er kurz und setzte eine ernste Miene auf. Die Kirche des Imperiums erweckt zunächst einmal keinen sonderlich frommen Eindruck, Herr Dahlaine, begann er. Ich bin sicher, dass sie in früheren Zeiten erbaulicher und reiner war als heute, doch im Laufe der Jahre hat sich in ihr die Korruption wie ein Geschwür ausgebreitet. Auf welche Weise ist sie denn entstanden?, fragte Dahlaine. Das entzieht sich letztendlicher Klarheit, Herr Dahlaine, antwortete Keselo. Irgendwann in der Vergangenheit kam ein heiliger Mann namens Amar, der tatsächlich existiert haben mag - oder auch nicht -, nach Kaldacin, das zu dieser Zeit lediglich eine gewöhnliche Siedlung war, und er sprach zu den Menschen über Wahrheit, Nächstenliebe und Moral. Zunächst widmete ihm niemand viel Aufmerksamkeit, doch dann begannen Gerüchte zu kursieren - die jedoch nie bestätigt wurden. Und welche Gerüchte waren das?, fragte Dahlaine. Manche Menschen behaupteten, sie hätten ihn fliegen sehen wie einen Vogel. Das ist doch lächerlich, Keselo, schnaubte Gunda. Eigentlich nicht, Gunda, widersprach Rotbart. Unsere Zelana kann fliegen wie ein Adler, wenn sie nur möchte. Nun, so ganz stimmt das nicht, Rotbart, berichtigte ihn die werte Dame Zelana. Ich brauche keine Flügel. Fahr bitte fort, Keselo. Ja, meine Dame. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die meisten 398 399 dieser alten Geschichten auf Legenden beruhen, die von Amars ersten Jüngern ersonnen wurden, um die Nichtgläubigen zu überzeugen, sich der neuen Religion anzuschließen. Im Laufe der Jahre wurden diese Geschichten immer kühner. Manche behaupteten, Amar habe mehrere Tage unter Wasser bleiben können. Anderen zufolge vermochte er durch eine Mauer aus Stein zu gehen - ohne ein Loch in der Mauer zu hinterlassen. Außerdem hieß es in manchen Legenden, er vermöge Berge zu versetzen und ganze Ozeane einzufrieren, und später folgten weitere Absurditäten. Je größer die Kirche wurde, desto fantastischer wurden auch diese Geschichten, und die naiven Bekehrten glaubten nahezu alles. Ich denke, der eigentliche Zweck dieser Hirngespinste bestand darin, die Menschen davon zu überzeugen, dass nichts unmöglich war, wenn man zufälligerweise Amar hieß. Zu jener Zeit war er vor allem ein Mythos, der jeden Tag neue Bekennende anlocken sollte.
Und wo soll sich diese mythische Person jetzt aufhalten?, fragte Dahlaine. In dieser Hinsicht hält sich die gegenwärtige Theologie ein wenig bedeckt, Herr Dahlaine, erwiderte Keselo. Als Letztes habe ich gehört, die Kirche behaupte, er habe diese Welt hinter sich gelassen und wandle zwischen den Sternen umher und predige ihnen. Das habe ich auch mal versucht, meinte Veltan, aber die Sterne haben mir nicht die geringste Aufmerksamkeit geschenkt. Keselo blinzelte und starrte Veltan voller Ehrfurcht an. Das war vor langer Zeit, Keselo, erklärte Zelana. Unser kleiner Bruder hat die Mutter Meer beleidigt, und sie hat ihn zum Mond geschickt, damit er bessere Manieren lernt. Ich habe sie nur ein wenig geneckt, Zelana, protestierte Veltan. Wir schweifen ab, unterbrach sie Dahlaine streng. Nach dem, was du uns gerade erzählt hast, Keselo, würde ich sagen, am Anfang gründete die Kirche von Amar auf Einfachheit, und im Wesentlichen sollte sie den Menschen das Leben erleichtern. Was ist denn dann schief gegangen? Ich fürchte, den genauen Zeitpunkt kann ich nicht nennen 400
oder das Ereignis, durch das die amaritische Kirche sich tief greifend veränderte, Herr Dahlaine, antwortete Keselo. Ich würde sagen, der Wandel ging nach und nach vor sich. Die frühen Priester des Glaubens waren vor allem Arme, die von den Almosen der Gläubigen lebten. Im Laufe der Zeit wurden diese Spenden zunehmend obligatorischer, und die Gier des Klerus wuchs. Im Augenblick sind die hochrangigen Angehörigen des Klerus die reichsten Männer im Imperium, und doch wollen sie mehr und immer mehr. Er lächelte schwach. Im Imperium gibt es einen alten Witz: Die Doktrin der Kirche verlangt von jedem im Imperium, alles zu spenden, was er besitzt und dann fügen manche hinzu: jedes Mal, wenn der Teller mit der Kollekte herumgeht. Nun, halleluja, Jalkan!, sagte Gunda und grinste breit. Padan lachte. So ist es, alter Freund, sagte er. Keselo lächelte. Unterkommandant Gunda hat nur gescherzt, glaube ich, aber was er sagt, trifft den gegenwärtigen Zustand des amaritischen Klerus recht genau. Jalkan ist vermutlich der gierigste Mann auf der ganzen Welt - solange man die höchsten Mitglieder des Klerus aus dieser Konkurrenz herauslässt. Deren Habgier kennt keine Grenzen. Sie glauben, alles in der Welt sei ihr Besitz eingeschlossen die Menschen. Und so kommt plötzlich die Sklaverei ins Spiel, Herr Dahlaine, fügte Narasan grimmig hinzu. Danach wollte ich gerade fragen, meinte Dahlaine düster. Gehörte die Sklaverei schon zur ursprünglichen Lehre der Amariten?, wollte er von Keselo wissen. Höchstwahrscheinlich nicht!, rief Keselo. Die Urkirche prangerte Sklaverei als Gräuel an. Man möchte also denken, der heilige alte Jalkan und seine Freunde seien ein wenig vom rechten Weg abgekommen, meinte Padan. Vielleicht sollten wir sie auf den Pfad der Tugend zurückführen, mischte sich Sorgan Hakenschnabel ein. Dann grinste er boshaft. Ich habe stets Freude daran gefunden, die Menschen zu berichtigen, wenn sie Irrtümern aufgesessen waren. 401
Es ist unsere Pflicht, Freund Sorgan, sagte Narasan trocken. Du wirst dich mit den Insektenmenschen beschäftigen, Narasan. Ich widme mich der Aufgabe, die Kirchenleute zu züchtigen. Sorgan setzte eine jämmerliche Miene auf. Das ist eine schmutzige Arbeit, aber irgendwer muss sich ja darum kümmern. Glauben diese Idioten von der trogitischen Kirche tatsächlich, sie könnten Menschen besitzen?, wollte Dahlaine wissen. Ich fürchte, ja, Herr Dahlaine, antwortete Keselo, aber die Kirche behält ihre Sklaven selten für sich. Man verkauft sie an Sklavenhändler, die sie wiederum an Leute verkaufen, die riesige Ländereien besitzen, jedoch lieber sterben würden, ehe sie ihr Land mit eigenen Händen beackerten. Über die Jahrhunderte hinweg empfanden manche Kaiser die Sklaverei ebenso als Unrecht wie du und erließen kaiserliche Edikte dagegen, aber meist lebten diese Kaiser danach nicht mehr lange - ließ die Kirche sie nicht umbringen, sorgten die reichen Landbesitzer dafür. Mit der Sklaverei lässt sich eine Menge Geld verdienen, und weder Käufer noch Verkäufer wollen, dass sich jemand in ihre Geschäfte einmischt. Ich denke, da stellt sich uns wohl ein kleines Problem, sagte Dahlaine. Wenn die Kirche korrupt ist, gilt das dann nicht ebenso für die Soldaten der Kirche? Wie können wir ihnen vertrauen, dass sie tun,
was wir von ihnen wollen? Wer sagt denn, wir würden ihnen vertrauen, großer Bruder?, antwortete Zelana. Jemand, den ich dafür herzlich liebe, hat uns die Angelegenheit vollständig aus der Hand genommen. Das erinnert doch stark an das, was unten in den Dörfern an der Südküste vor sich ging, fügte Tori hinzu. Zuerst war da diese Dame, die Langbogen ständig gesagt hat, er solle den Weg freimachen. Sie hat den Bauern diese unglaubliche Geschichte in den Kopf eingepflanzt, als sie in den Sklavenpferchen festsäßen. Dann haben die Bauern jedes Mal dieses Märchen aufgesagt, wenn irgendwer von >Gold< sprach. Sobald die Kirchensoldaten die Geschichte hörten, rannten sie in Richtung Ödland los, so schnell sie nur konnten. Natürlich gab es noch kein >Meer aus Gold< dort draußen im Ödland, als sie nach Norden stürmten, allerdings hat sich die Traumdame vor ein paar Tagen auch dieser Aufgabe gewidmet. Ich habe keine Ahnung, auf welche Weise sie das angestellt hat, aber sie hat eine Wolke aus Schwefel erzeugt, die sich über mehrere tausend Morgen hässlichen roten Sandes gelegt hat und diesen in etwas verwandelte, das wie Gold aussieht, aber keines ist. Das kleine Spielzeug von Hase, das aus irgendeinem Grund eine so große Liebe zum Eisen hegt, war vollständig mit den funkelnden gelben Sandkörnern bedeckt, nachdem er es einige Male hineingetaucht hatte. Ich würde sagen, diese Traumdame hat diese fünf Armeen mit nichts als vagen Versprechungen geködert, und daraufhin rennen sie in unsere Richtung, so schnell sie nur können. Sobald sie hier oben eintreffen und einen Ozean aus dem, was sie für Gold halten, vorfinden, werden sie dorthin jagen, um sich zu nehmen, was sie nur tragen können, und dabei wird ihnen entgehen, wie wertlos ihre Beute ist. Ich würde sagen, das Ganze ist von vorn bis hinten ein groß angelegter Betrug. Ich glaube, du hast dir das alles ausgedacht, meinte Zelanas Schwester pikiert. Toris Version dessen, was unten an der Südküste passiert ist, klingt vielleicht sehr fantasievoll, entspricht hingegen der Wahrheit, große Schwester, sagte Veltan. Die Kirchenarmeen haben tatsächlich meine Domäne angegriffen, und sie haben die Menschen im Süden gefangen genommen und in Pferche gesperrt. Dann kamen die Sklavenhändler, doch inzwischen hatten die Soldaten der Kirche angefangen, zu Tausenden zu desertieren - weil jedes Mal, wenn einer von ihnen >Gold< zu einem der ansässigen Bauern sagte, ihm dieser Bauer ein Märchen über ein >Meer aus Gold< erzählte. Und dieses >Meer aus Gold< ist vor einigen Tagen plötzlich im Ödland erschienen. Niemand kann so etwas bewerkstelligen!, verkündete Aracia verärgert. Du irrst, Schwester, widersprach die werte Dame Zelana. Jemand hat es getan, auch wenn ich nicht weiß, wer es gemacht hat -und wie -, doch offensichtlich ist es eine Sie, und sie will uns helfen - und wir brauchen diese Hilfe. 402
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Aracia warf ihrer Schwester Zelana einen bösen Blick zu, drehte sich abrupt um und stolzierte davon. Was hat deine Schwester denn für ein Problem damit, werte Zelana?, fragte Sorgan Hakenschnabel offen heraus. Ihr Problem ist Folgendes: Da kommt einfach eine vorbei und übertrumpft Schwester Aracia, erwiderte Zelana und lächelte schwach, und sie kann nicht glauben, dass irgendwer dazu in der Lage ist. Außerdem hat sie Schwierigkeiten mit Keselos Beschreibung der amaritischen Kirche. In ihrer Domäne gibt es ebenfalls einen Haufen fetter, fauler Leute, die ihr den ganzen Tag lang sagen, wie schön und wie allmächtig sie ist. Aracia gefällt es sehr, verehrt zu werden, doch Keselos Geschichte hat ihr die Möglichkeit vor Augen geführt, ihre Priester würden sie vielleicht nur deshalb verherrlichen, um ihre Ämter in der so genannten >Kirche der heiligen Aracia< nicht zu verlieren, denn in dem Falle müssten sie im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot verdienen. Ist das nicht ein wenig albern?, wollte Sorgan wissen. >Albern< trifft es recht gut, würdest du nicht auch sagen, Dahlaine?, fragte Zelana ihren älteren Bruder. Ich würde es ihr allerdings nicht ins Gesicht sagen, meinte Dahlaine und lächelte schwach. Dann richtete er sich auf. Wenden wir uns wieder unseren gegenwärtigen Problemen zu, sagte er streng. Falls die Kirchenarmeen tatsächlich hier sind, um uns zu helfen - selbst, wenn sie es selbst nicht wissen, sollten wir ihnen noch mehr helfen. Er sah Padan an. Wie kommen sie voran? Viel schneller, seit wir sie mit Baumaterial versorgen. Dennoch haben sie noch ein gutes Stück vor sich. Ich denke, das Hauptproblem wird die Breite der Rampe, die sie bauen. Sie ist nur ungefähr zehn Fuß breit, und das genügt nicht, um eine beträchtliche Truppe in kurzer Zeit heraufzubringen.
Und, fügte Tori hinzu, sobald einer von ihnen heraufkommt und den ganzen hübschen Sand sieht, werden sie losrennen, so schnell sie können. Wenn sie in Zweier- und Dreierreihen ins Ödland tröpfeln, werden die Insektenmenschen sie zum Frühstück vernaschen. 404
An dieser Stelle kommen wir ins Spiel, Vetter Tori., sagte Sorgan. Unsere Gräben und Barrikaden werden sie so lange aufhalten, bis ihre Freunde ebenfalls oben eingetroffen sind. Bist du vielleicht zufällig inzwischen dahinter gekommen, wem die Stimme dieser Dame gehören könnte, die mit dir im Traum gesprochen hat, Langbogen?, erkundigte sich Dahlaine. Ganz sicher kenne ich sie, Dahlaine, antwortete Langbogen, aber mir will einfach nicht einfallen, wer diese Dame ist. Zweifellos hat sie ihre Identität vor dir verhüllt, sagte Dahlaine nachdenklich, und das lässt vermuten, dass wir alle sie kennen. Hat sie nur zu dir gesprochen, oder hat sie dir auch etwas gezeigt? In den Träumen war sie nie zu sehen, sagte Langbogen. Dann runzelte er leicht die Stirn. Ihre Sprache wirkte eher altertümlich - beinahe, als würde sie aus der Vergangenheit zu mir sprechen. Das könnte mit dem Versuch zusammenhängen, ihre Identität zu verschleiern, grübelte Dahlaine laut. Im Augenblick ist das jedoch nicht so wichtig. Sie hat das Denken von einer halben Million Trogiten beeinflusst, und obwohl diese es nicht ahnen, eilen sie uns zu Hilfe. Wir werden uns später Gedanken darüber machen, wer unsere Förderin ist. Im Augenblick sollten wir sie lieber bei ihren Bemühungen unterstützen. Falls alles so endet, wie ich es erwarte, hat sie diesen Krieg bereits für uns gewonnen. Früh am nächsten Morgen stand Padan oberhalb des donnernden Wasserfalls am Ufer des Flusses und beobachtete seine Männer, die schnauften und schwitzten, während sie Felsen über eine Entfernung von einer Viertelmeile zum Rand der Schlucht rollten. Irgendwann gehen uns hier die Steine aus, murmelte er. Dann spähte er zum Fluss unterhalb der Fälle hinunter. Die dort unten müssen schlafen, fügte er hinzu. Die werden immer langsamer. Er blickte sich um. Sergeant Marpek!, rief er. Könntest du mal kurz herkommen? Marpek war ein stabil gebauter Bursche, was vielleicht nur na405
türlich war, da er in Narasans Armee der beste Baumeister und für stabiles Bauen bekannt war. Gibt es ein Problem, Herr?, fragte er, als er bei Padan eintraf. Bilde ich es mir ein, oder sind die Idioten da unten langsamer geworden? Marpek schaute hinunter. Sie geben weiterhin ihr Bestes, Herr, antwortete er. Mir scheint es, als würden sie so hart arbeiten wie in den Tagen zuvor auch. Die Rampe, die sie bauen, ist kaum drei Fuß höher geworden, protestierte Padan. Das hätte mich auch überrascht, Herr. Könntest du mir den Grund für diese Überraschung in einfachen Worten erklären?, bat Padan. Und vergiss dabei nicht, ich bin in der Baumeistersprache nicht sonderlich bewandert. Marpek lächelte. Sie brauchen mehr Material. Je höher sie kommen, desto mehr Sand, Kies, Felsen und solcherlei brauchen sie. Wenn die Rampe eben verliefe, würden sie stetig in der gleichen Geschwindigkeit vorankommen, aber sie steigt in einem Dreißiggradwinkel nach oben an, daher brauchen sie für einen Fuß Länge wesentlich mehr Material als noch vor ein paar Tagen. Er streckte die Hand aus und peilte über Daumen und Zeigefinger. Ich würde sagen, sie haben noch dreihundert Fuß vor sich. Daraufhin schaute er in die Ferne und tippte mit einem Finger gegen seinen Brustpanzer. Er wirkte ein wenig erschrocken. Eigentlich habe ich noch gar nicht darüber nachgedacht, Herr, aber jetzt, wo ich eins und eins zusammenzähle, scheint es mir, dass wir noch eine ganze Weile werden warten müssen, bis sie fertig sind. Nenn mir doch mal eine Zahl, Sergeant, meinte Padan. Bei dreißig Grad, zehn Fuß Breite und zweihundert Fuß Höhe brauchen sie noch ungefähr ... sechzigtausend Kubikschritt Geröll, Herr, meinte Marpek. Sechzigtausend Wenn sie die Rampe steiler anlegen würden, brauchten sie weniger, grübelte Marpek, aber dazu ist es jetzt zu spät, fürchte ich. Dann werden sie den Rest des Sommers daran herumbauen, Marpek, rief Padan. Die Schätzung entspricht ziemlich genau der Realität, würde ich sagen. Kurz nach Mittag kamen Sorgan, Tori und Hase zu Padan am Rand der Schlucht. Weswegen bist du so aufgeregt, Padan?, erkundigte sich Sorgan. Wegen ein paar Zahlen, mein Freund, erwiderte Padan. Ich habe gerade eine Lektion in Multiplikation
erhalten. Hat der Begriff >Kubikschritt< eine Bedeutung für euch? Sorgan zuckte mit den Schultern. Drei Fuß mal drei Fuß mal drei Fuß, nicht wahr? Unglücklicherweise kommt da noch eine Zahl ins Spiel, fügte Padan hinzu. Wie klingt sechzigtausend? Worauf willst du eigentlich hinaus, Padan?, fragte Tori. Die Menge an Felsen und so weiter. Halt alles, was diese Leute da unten brauchen, um ihre Rampe fertig zu stellen. Wie bist du auf diese Zahl gekommen, Padan?, wollte Sorgan wissen. Sergeant Marpek hat es für mich ausgerechnet, erwiderte Padan düster, und er ist vermutlich der beste Baumeister in Narasans Armee. Ich glaube, du solltest noch eine zweite Meinung einholen, Padan. Das ist doch überhaupt nicht möglich. Leider ist es durchaus möglich, Vetter, widersprach Tori. Je höher die Rampe wird, desto mehr Baumaterial müssten sie anhäufen. Wenn wir ihnen nun Baumstämme anstelle von Felsen geben?, schlug Hase vor. Felsen, Baumstämme, wo ist der Unterschied?, höhnte Tori. Wenn sie Baumstämme haben, müssten sie kein Geröll darunter aufhäufen, antwortete Hase. Wenn sie begreifen, was wir von ihnen wollen, werden sie es nicht mehr >Rampe< nennen, sondern sie werden >Brücke< sagen. 406 407
42 Das einzige Problem, das ich bei deiner Idee sehe, besteht darin, dass wir sehr wenige Äxte oder Sägen haben, Herr, meinte Sergeant Marpek. An dem Hang, der zum Flussufer hinunterführt, gibt es genug Bäume, und wir haben ausreichend Männer, nur mangelt es uns leider an Werkzeugen. Padan sah Hase an. Hast du einen Einfall? Ich habe weder meine Esse noch meinen Amboss hier, erinnerte Hase ihn, daher bin ich diesmal wohl kaum von Hilfe. Er zögerte. Deine Männer könnten die Bäume mit ihren Schwertern fällen. Padan tat so, als wäre er zutiefst schockiert. Blasphemie!, keuchte er. Ich habe einen recht guten Wetzstein, Padan, fügte Hase hinzu, also sollten deine Männer hinterher die Scharten aus ihren Schwertern wetzen können. Wenn es ihre Schwerter allerdings so sehr beleidigt, können sie auch die Zähne nehmen. Ihre Zähne} Biber machen das ständig: Baumstämme durchbeißen, Padan, sagte Hase und grinste breit. Und das hat auch eine gute Seite. Und zwar? Wenn sie den ganzen Tag Holz kauen, werden ihnen abends die Zähne so schmerzen, dass sie kein Abendessen mehr wollen. Du sparst eine Menge Geld, wenn du keinen Proviant für sie brauchst. Es gab lautstarke Proteste, als Padan seinen Männern befahl, Bäume mit den Schwertern zu fällen, doch verstummten diese, nachdem Padan ihnen die Alternative genannt hatte. Entweder Bäume fällen, oder ihr meldet euch zurück bei Kommandant Narasan. Sicherlich gefällt es euch besser, auf Schildkrötenpanzer einzuhacken statt auf Baumstämme, oder? Padans Männer nutzten den einfachsten Weg, die umgelegten Bäume den Armeen unten auszuhändigen. Sie zogen sie den Hang 408
hinunter und rollten sie in den Vash. Über den zweihundert Fuß hohen Wasserfall gelangten sie so zu den Kirchensoldaten. Die Armeen unten brauchten eine Weile, bis sie auf die Idee mit der Brücke kamen, und ihr erster Versuch war beklagenswert unstabil. Wenn diese Laien dort unten nur noch einen weiteren Baumstamm auf die Übrigen setzen, wird das Ganze zusammenbrechen, und die halbe Baumannschaft wird dabei draufgehen, orakelte Sergeant Marpek. Oh, sagte Sorgan spöttisch. Wie schade. Daraufhin konnte sich der sonst so ernste Marpek nicht mehr halten und brach in schallendes Gelächter aus. Während der nächsten Tage gab es mehrere Unglücke, als die Kirchensoldaten versuchten, sich Arbeit
zu ersparen und die Brücke unter Verzicht auf die notwendigsten Regeln der Stabilität zu bauen. Padan fand die Fehler manchmal amüsant, doch die verzweifelten Schreie der Soldaten, die in den Tod stürzten, setzten ihm nach einer Weile zu. Sorgan kehrte mal wieder von dem Gebiet flussaufwärts zurück, wo seine Männer tiefe, zwanzig Fuß breite Gräben aushoben und einfache Barrikaden auf beiden Seiten errichteten. Er wollte schauen, wie die Soldaten der Kirche vorankamen. In dem Augenblick, als er eintraf, brach am Rande der Schlucht wieder einmal eine Brücke ein, die abermals eine Baumannschaft in den Tod stürzen ließ. Wie oft ist das bisher passiert?, erkundigte sich Sorgan bei Padan. Ich zähle nicht mehr mit, meinte Padan. Er blickte hinüber zu Hase. Ist es schon der sechste oder der siebte Einsturz?, fragte er. Meiner Meinung nach der siebte, antwortete Hase. Sie verschwenden Zeit, grollte Sorgan. Vielleicht sollten wir aufhören, ihnen die Bäume zu liefern, und stattdessen selbst die Brücke für sie bauen. Das Südende von oben bis zur oberen Kante der Rampe herunterzulassen ist sicherlich leichter, als das obere 409
Ende hierher zum Rand der Schlucht zu heben. Runterlassen ist immer einfacher als Hochheben. Dazu kommt es am Ende bestimmt noch, sagte Padan. Wie geht es mit den Gräben und Barrikaden voran? Die ersten drei sind fertig, berichtete Sorgan, bis auf die letzten Verzierungen. Verzierungen? Ochs hatte da einen Einfall... Was denn, Sorgan? Vergiftete Pflöcke, antwortete Sorgan. Wir wollen ihren Vormarsch doch verlangsamen, nicht wahr? Wenn ein Dutzend Mann oder so gestorben sind, nachdem sie auf die vergifteten Pflöcke getreten sind, werden sich die Nachfolgenden sehr viel vorsichtiger voranbewegen. Diejenigen, die später über die Brücke kommen, werden nur das falsche Gold sehen und so schnell rennen, wie sie können, aber wenn jemand an einen Graben kommt, der halb mit seinen toten Freunden gefüllt ist, wird er nicht mehr rennen, oder? Je langsamer sie sind, desto mehr ihrer Freunde werden aufholen. Wenn sie noch lange für die Brücke brauchen, können meine Männer zwei weitere Gräben anlegen, und dann wird sich vermutlich ihre gesamte Armee oben versammelt haben, ehe die ersten von ihnen den letzten Graben erreichen. Wir werden Narasan warnen, dass sie kommen, und uns so schnell wie möglich nach Westen zurückziehen. Raffiniert, Sorgan, beglückwünschte Padan den stämmigen Maag. Dann hielt er inne. Meinst du nicht Osten?, fragte er. Nantons Pass liegt doch im Osten. Ich weiß, gab Sorgan zurück, doch auf der Ostseite der Gräben und Barrikaden liegt der Fluss. Ich schwimme zwar recht gut, aber die Strömung ist stark. Lieber möchte ich nicht über den Wasserfall hinuntergespült werden, oder du etwa? Nicht im Geringsten, stimmte Padan zu. Am folgenden Morgen kam Narasan zu Padans gegenwärtigem Lager am Westufer des Vash herunter. Padan war gerade erwacht 410
kniete am Fluss und spritzte sich eiskaltes Wasser ins Gesicht, um die Müdigkeit zu vertreiben, die seinen Verstand für gewöhnlich um diese Zeit umwölkte. Ich dachte, das würdest du schon lange nicht mehr machen, Padan, sagte Narasan. Da hast du dich geirrt, Narasan, gab Padan zurück. Ich muss schließlich einsatzfähig sein. Jemanden, der zu einem Satz fähig ist, kann die Welt immer gebrauchen, gab Narasan das uralte Wortspiel mit dem langen Bart zum Besten. Wie kommen die Armeen der Kirche voran, seit sie keine Rampe, sondern eine Brücke bauen? Inzwischen ein bisschen besser, antwortete Padan. Sie haben es so eilig, das Land des Goldes zu erreichen, dass die ersten acht oder zehn Brücken ziemlich wackelig waren. Nachdem eine stattliche Anzahl Soldaten, Priester und Regulatoren sich im Sturzflug geübt haben, wachten die Übrigen langsam auf. Ein Mann, der reglos am Flussufer liegt, nachdem er hundertfünfzig Fuß tief gefallen ist, kann eine recht überzeugende Wirkung entfalten. Narasan zuckte mit den Schultern. Ihre letzte Brücke - die noch nicht fertig ist - sieht so stabil aus, dass sie tausend Mann tragen kann, die zur gleichen Zeit darüber laufen. Sie haben ungefähr alle paar Zoll eine Strebe an der Unterseite
befestigt, möchte ich wetten. Wie lange werden sie noch brauchen? Einige Tage noch. Dann werden sie nach Norden stürmen und >Gold! Gold! Gold!< rufen, bis sie in Sorgans Gräben und diese vergifteten Pflöcke rennen. Man hat mir davon erzählt, als ich durch sein Lager gekommen bin. Er kann ein ziemlich grässlicher Kerl sein, wenn er sich Mühe gibt, was? Aber auch lustig, erwiderte Padan mit breitem Grinsen. Diese vergifteten Pflöcke im Boden der Gräben werden sicherstellen, dass die gesamten fünf Kirchenarmeen gleichzeitig bei Gundas Mauer ankommen, und das war alles, was wir wollten. Trotzdem muss ich den ursprünglichen Plan noch einmal über411
denken, sagte Narasan düster. Ich dachte, es würde den Kirchenarmeen genug Zeit geben, wenn wir jede Nacht am Hang draußen um einen Wall zurückweichen. Doch Sorgans Pflöcke werden sie länger aufhalten, fürchte ich. Wir werden mehr Kirchensoldaten dort oben haben, aber sie werden später eintreffen. Ich werde unseren Männern sagen, sie sollen jeden Wall von nun an zwei Tage halten, nicht nur einen. Was immer dir am sinnvollsten erscheint, alter Freund, stimmte Padan zu. Narasan blickte hinüber nach Norden. Es ist alles ein wenig knapp, fürchte ich, sagte er und runzelte die Stirn. Ich glaube, ich kann dir nicht ganz folgen, Narasan. Es gibt einige Felsspitzen dort oben, die aus dem Ödland herausragen, und die werden die Kirchensoldaten als Erstes sehen, wenn sie nach oben gelangen. Diese Felsspitzen haben zwar auch etwas von dem falschen Gold mitbekommen, doch sind sie lange nicht so eindrucksvoll wie die flacheren, sandigen Gebiete. Wenn Sorgans Vetter Tori auch nur annähernd Recht hatte mit dem, was die Kirchenleute hier herauf getrieben hat, sollten ein paar Goldsprenkel genügen, widersprach Padan. Viel wichtiger ist, was sie sehen, wenn sie Gundas Mauer erreichen. Dort sollen sie schließlich den Kopf so verlieren, dass es ihnen nichts ausmacht, gegen die Ungeheuer auf dem Hang anrennen zu müssen. Die Gier sollte an dem Punkt die Furcht übersteigen. Das können wir nur hoffen, sagte Narasan.
Viele Stimmen
43 Andar von Kaldacin stand hinter dem achten Wall auf dem Hang, der sich nördlich von Gundas Mauer
nach unten erstreckte, und war höchst unzufrieden. Diese Wesen, mit denen er es hier im Lande Dhrall zu tun hatte, waren die reinsten Monstrositäten. Andar hatte während seiner Zeit in Kommandant Narasans Armee immer nur gegen Menschen gekämpft. Gunda und Padan hatten Zeit gehabt, sich an die Besonderheiten des Feindes während des vorhergehenden Krieges zu gewöhnen, Andar hingegen war im Armeelager bei der Hafenstadt Casano geblieben. Er hatte sich durch Narasans Entscheidung, ihm den Befehl über den zunächst zurückgebliebenen Teil der Armee zu übertragen, ein wenig geschmeichelt gefühlt, doch dazu hatte er eben dort bleiben müssen. In gewissem Sinn rührte Narasans Gewohnheit, Andar stets zur Seite zu schieben, vermutlich daher, dass Andars Vater damals, als die heutigen Offiziere noch Kinder gewesen waren, seine Unterkunft in einem anderen Gebäude gehabt hatte als der von Narasan. Das starke Vertrauen des Kommandanten zu Gunda und Padan hatte seine Wurzeln vermutlich in der frühen Kindheit. Narasan verließ sich auf Gunda und Padan mehr als auf andere Offiziere mit gleichen Fähigkeiten, weil er sie nun einmal besser kannte. Wehmütig gestand sich Andar ein, dass er sich wohl gleichermaßen mehr auf seinen Kindheitsfreund Danal verlassen würde, wenn er Kommandant der Armee geworden wäre. Das frühe Licht am östlichen Horizont reckte sich höher und höher und überzog die Wolken mit strahlendem Rosa. Irgendwelche Vorkommnisse dort draußen?, erkundigte sich Danal, der sich hinter dem einfachen Wall zu Andar gesellte. 415
Noch nicht, antwortete Andar leise. Zumindest müssen wir uns keine Sorgen wegen dieser verfluchten Erdlöcher machen, auf die wir während des Kampfes in der Schlucht plötzlich gestoßen sind, meinte Danal. Ich habe das eigentlich nie richtig verstanden, gab Andar zu. Es ist eine der Sachen, über die man nicht gern redet, sagte Danal und schauderte. Die Insektendinger hatten den Angriff anscheinend sehr, sehr lange im Voraus geplant. Zuerst gruben sie Gänge durch die Berge, und diese Gänge endeten oben an den Wänden der Schlucht. Wir wussten davon nichts und marschierten geradewegs durch bis zum Ende der Schlucht, errichteten eine hübsche Festung und warteten auf den Angriff der Insektendinger. Sie haben sogar eine ganze Menge ihrer Kameraden geopfert, um uns zu beschäftigen, während ihre Freunde durch die Tunnel liefen und hinter uns herauskamen. So saßen wir in der Falle und konnten uns nirgendwohin wenden. Das habe ich nie begriffen. Wie können Insekten Gänge durch harten Fels buddeln? Beißen, nicht buddeln, Andar, berichtigte ihn Danal. Wenn man den Eingeborenen glaubt, hatte dieses Ding, das sie >das Vlagh< nennen, diese Invasion schon seit Jahrhunderten vorbereitet. So lange leben Insekten nicht, Danal, höhnte Andar. Wir befinden uns hier nicht im Land der Wirklichkeit, Andar. Hier geschehen Dinge, die sonst auf der ganzen weiten Welt nicht passieren könnten. Zum Sieg im letzten Krieg haben uns Fluten und Vulkane verholfen, und so etwas erlebt man in der wirklichen Welt nicht. Vermutlich nicht, räumte Andar ein. Dann zeigte er auf das helle kleine Licht, das über dem Hang schwebte. Dieses Licht hat meinen Realitätssinn schon arg beeinträchtigt. Wie hat dieser große graubärtige Bursche das zustande gebracht? Meinst du Dahlaine? Ich kann dir nur raten, ihn niemals >Bursche< zu nennen, solange er in Hörweite ist. Wenn ich recht verstanden habe, ist er der König der Götter in diesem Teil der Welt, 416
und das Licht, über das du dich so wunderst, nennt er eine Spielzeugsonne. Er wohnt in einer Höhle im Norden, und er benutzt das Licht als Lampe. Wie ich einmal von Zelana gehört habe, folgt ihm diese kleine Spielzeugsonne überall in der Höhle hin - wie ein kleiner Hund. Allerdings ist das Licht wirklich nützlich. Hakenschnabels Vetter Skell führte eine Vorhut herauf, die sich umschauen sollte, und es schien hier ziemlich viele Fledermäuse zu geben jedoch stellte sich heraus, dass es keine richtigen Fledermäuse waren, sondern dass es sich um ein weiteres Experiment des Vlagh handelte. Langbogen der Bogenschütze hat das herausgefunden, und er schlug Dahlaine vor, das helle Licht über uns zu installieren. Fledermäuse sind Nachttiere, und ich nehme an, das helle Licht vertreibt sie. Ich habe so die Befürchtung, das wäre ein ziemlich hässlicher Krieg geworden, wenn uns diese Fledermäuse belästigt hätten. Es wurde zunehmend heller, und Andar schaute den Hang hinunter. Anscheinend hat es ein paar
Änderungen gegeben, Danal, sagte er. Ja? Die Insektenmenschen kehren nicht mehr in die Wüste zurück, wenn die richtige Sonne untergeht, so wie sonst immer. Es sieht aus, als hätten sie ihr Lager zwischen den beiden vordersten Wällen aufgeschlagen. Das Vlagh-Ding ist wohl noch draußen in der Wüste, glaube ich. Ich habe es mehrmals brüllen gehört, seit seine Soldaten - oder wie auch immer du sie nennen willst - die letzten beiden Wälle eingenommen haben, und dieses Brüllen kam immer noch aus weiter Ferne. Die Insektenmenschen verteidigen das Vlagh mit allem, was ihnen zur Verfügung steht, Andar, erklärte Danal, und das ergibt durchaus Sinn. Es ist die Mutter jedes einzelnen Wesens dort draußen, und Kinder sollten ihre alte Mama doch beschützen, oder nicht? An den Gedanken muss man sich erst einmal gewöhnen, sagte Andar und schüttelte den Kopf. Ich habe noch nie gegen die Armee einer Frau gekämpft. 417
Wir haben einige Vorträge über die Wesen des Ödlands gehört, als wir drüben in Lattash auf die Schneeschmelze warteten, berichtete Danal seinem Freund. Ein sehr dürrer alter Mann - der den Bogenschützen Langbogen ausgebildet hat, wie ich erfuhr -erzählte uns, fast alle Insektenmenschen seien Weibchen, nicht nur das Vlagh, das die Eier legt und neue Varianten erzeugt. Der alte Mann erklärte uns außerdem, das Vlagh stehle die Eigenschaften anderer Insekten - oder sogar anderer Tiere. Die kleinen, denen wir in der Schlucht begegneten, hatten Giftzähne wie Schlangen, und zwar inklusive Gift, aber nachdem wir sie eingemacht haben, hat das Vlagh wohl entschieden, es müssten größere Krieger her. Eingemacht?, fragte Andar neugierig. Danal zuckte mit den Schultern. Das sagen die Maags manchmal, erklärte er. Es ist so ein lustiger Ausdruck, der den jungen Soldaten von Narasans Armee gefiel, und deshalb reden sie jetzt auch immer davon, andere Wesen >einzumachen< - oder sich gegenseitig. Wenn du genau hinhörst, bekommst du wahrscheinlich mit, wie diese jungen Kerle jeden, der vorbeikommt, mit >Einmachen< bedrohen. Es ist einfach das neueste >Modewort<, und deshalb benutzen es alle, bis es wieder langweilig wird. Dann suchen sie sich ein anderes Wort, mit dem sie spielen können. Andar lächelte. Das scheint das Symptom einer ziemlich verbreiteten Krankheit zu sein, Danal. Man nennt sie >Jugend<. Aber am Ende wird jeder davon kuriert. Du bist ja ein richtiger Zyniker, Andar. Ich weiß. Vermutlich das Symptom einer anderen Krankheit, und die heißt >Alter<. Unglücklicherweise wird davon niemand kuriert. Am frühen Nachmittag des gleichen Tages führte der in Hirschleder gekleidete Bogenschütze Langbogen eine größere Truppe eingeborener Bogenschützen den Hang hinunter zu Narasans Männern hinter den Wällen, und diese Tatsache erfreute Kommandant Narasan. Trotz der Übungen, die Langbogens Freund Rotbart mit 418 den schlecht ausgebildeten trogitischen Bogenschützen absolviert hatte, mangelte es ihnen noch immer an der rechten Geschicklichkeit. Wie Andar erfahren hatte, waren die einheimischen Bogenschützen wesentlich besser. Bis vor kurzem hatten sie die Armeen der Kirche abwehren müssen, die von Süden her durch verschiedene Schluchten nach oben zu kommen versuchten. Mittlerweile konzentrierten sich diese Armeen darauf, eine Rampe zu errichten, und daher konnten sich die einheimischen Bogenschützen zu den trogitischen gesellen. Sind die Kirchenarmeen schon mit der Brücke fertig?, fragte Narasan den großen Bogenschützen. Sie sind schon recht weit gekommen, denke ich, antwortete Langbogen. Sorgan ist mit den Gräben und Barrikaden fertig, wir sind also auf den Ansturm der Kirchenarmeen vorbereitet. Vielleicht solltest du dich dementsprechend einrichten. Wir können nicht ganz sicher sein, wie lange die Kirchenarmeen brauchen, um sich durch Sorgans Verteidigungsanlagen zu schlagen, und daher ist es vermutlich besser, die Wesen des Ödlands aufzuhalten, bis wir genauer wissen, wann unsere Freunde - die gar nicht wissen, dass sie unsere Freunde sind - Gundas Mauer erreichen. Wir sind hier recht flexibel, Kommandant, sagte Andar. Wir können einerseits jeden Wall zwei Tage lang halten, wenn es notwendig ist, doch können wir andererseits, wenn es scheint, die Kirchenarmeen würden früher eintreffen, unseren Rückzug entsprechend anpassen. Du wirst also rechtzeitig so weit sein, Andar, bestätigte Narasan. Unsere Armee und die der Kirche müssen höchst genau koordiniert werden, fügte Andar hinzu, aber
da ihre Männer im Augenblick ein wenig abgelenkt sind, sollten wir die Abstimmung für sie übernehmen, und sie können sich darauf konzentrieren, sich zu überlegen, wie sie das ganze Gold ausgeben wollen, das sie bald besitzen werden. Mir gefällt es, wie dieser Mann denkt, sagte Langbogen und lächelte breit. 419
Mir auch, jetzt wo du es erwähnst, meinte Narasan und warf Andar einen abwägenden Blick zu. Bei Sonnenaufgang ertönte - wie stets - die brüllende Stimme des Vlagh, und die schwerfälligen, unbeholfenen neuen Kriegerinsekten watschelten geistlos durch die offenen Räume zwischen den inzwischen aufgegebenen Wällen heran. Die laienhaften trogitischen Bogenschützen warteten noch ab, während die einheimischen Bogenschützen ihre Pfeile mit betörender Zielgenauigkeit abschössen, und der mühsame blinde Angriff kam zum Stocken, als die unförmigen Insektenmenschen plötzlich über ihre toten Kameraden klettern mussten. Das ist dümmer, als der Kaiser erlaubt!, erklärte Andar voller Abscheu. Eigentlich ist es so dumm, dass es unbedingt verboten gehörte, mein Freund, wandte Danal ein. In der Welt dieser Käfer dürfte ein Dummkopf als Genie gelten. Da kommen die Schildkröten!, rief ein Soldat, der auf dem Wall stand. Eigenartig, überlegte Danal laut. Wir haben diesmal gar keine vergifteten Pfähle eingeschlagen, und ich war ziemlich sicher, die Hauptaufgabe dieser Spinnenschildkröten bestehe darin, die Pfähle abzubrechen. Nicht ganz, Danal, widersprach Andar. Ihre Panzer schützen sie auch vor Pfeilen. Vielleicht ist das Vlagh vom reinen Dummkopf zum Schwachkopf aufgestiegen. Lass die Katapulte bereitmachen. Ich würde sagen, es ist Zeit, die Diener des Vlagh mal wieder mit Feuer bekannt zu machen. Wenn du das unbedingt so willst, Käpt'n, dann werden wir's auch so machen, antwortete Danal. Ich glaube, du warst zu lange bei Padan, alter Freund, merkte Andar an. Im Laufe des Tages baute sich am westlichen Horizont eine Wolkenbank auf, und es gab einen prachtvollen Sonnenuntergang. Das 420
Land Dhrall hatte viele Eigenheiten, fand Andar, aber seine Schönheit war atemberaubend. Zivilisation hatte ja durchaus etwas für sich, aber in den Städten war manchmal die Luft so schmutzig, dass man die andere Straßenseite nicht mehr sehen konnte. Noch malte die Sonne ihr erhabenes Rot an den Himmel, als der junge Keselo mit ernstem Gesicht zu den Wällen herunterkam. Guten Abend, Unterkommandant, grüßte er Andar förmlich. Kommandant Narasan hat vorgeschlagen, du würdest vielleicht darüber nachdenken wollen, dich heute Nacht hinter den siebten Wall zurückzuziehen. Vorgeschlagen?, fragte Andar. Nun, erwiderte Keselo, eigentlich hat er den Befehl erteilt, doch Befehle klingen immer so unfreundlich, daher muss ich sie immer ein wenig umformulieren, ehe ich sie weitergebe. Dieser junge Bursche ist der einzige Mann, den ich kenne, der sich bei einem Feind entschuldigt, ehe er ihn umbringt, sagte Danal und lachte. Das tue ich nicht, Brigadekommandant Danal, protestierte Keselo. Ich versuche lediglich, höflich zu sein. Wie bringt man jemanden höflich um? Zuerst muss man sich an den Helm tippen, Brigadekommandant, antwortete Keselo und verzog dabei keine Miene. Ich glaube, er hat dich geschlagen, Danal, meinte Andar. Dann sah er wieder Keselo an. Ich möchte eine klare Antwort, Keselo, sagte er. Die Sache könnte von nun an ein wenig komplizierter werden. Glaubst du, Omagos Männer sind bereit zu reagieren auch wenn sie nicht genau wissen, was vor sich geht? Omago wird wissen, was er zu tun hat, antwortete Keselo, und seine Männer befolgen seine Befehle, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Da sind sie ja noch besser als Berufssoldaten, wunderte sich Danal. Wie ist ihm das gelungen? Die Bauern glauben - und liegen dabei gar nicht so falsch -, Omago würde in Veltans Namen sprechen. 421
Und vor Veltan haben sie Angst? Nicht im Geringsten, erwiderte Keselo energisch. Die Ein zigen, die Veltan fürchten, sind unsere Feinde. Er zögerte. Ac ehe ich es vergesse, Unterkommandant, wandte er sich an Andar mir wurde gesagt, es würde wieder Nebel geben, wie bei den letzten Malen, als sich deine Männer zurückgezogen haben. Auf diese Weise möchte die werte Dame Zelana diese Unannehmlichkeiten für euch ein wenig abschwächen. Vielleicht solltest du sie bitten, sich nicht zu verausgaben, gab Danal zurück und runzelte leicht die Stirn. Ich bin nicht sicher, wie sie diesen Nebel jedes Mal erzeugen kann, wenn wir uns zurückziehen, aber falls ihr Vorrat an Nebel gerade dann erschöpft ist, wenn wir uns entschieden haben, davonzurennen, könnten die Insektenmenschen und die Kirchensoldaten begreifen, was wir vorhaben, und dann säßen wir übel in der Klemme. Der Nebel wird ihr nicht ausgehen, Brigadekommandant, versicherte Keselo Andars Freund. Wenn sie etwas geschehen lassen will, geschieht es auch selbst wenn es unmöglich ist. Solange wir über Unmögliches sprechen, wer - oder was - wird eigentlich das Loch in Gundas Mauer reißen?, erkundigte sich Andar. Soweit ich weiß, will Veltan sich darum kümmern, Herr. Ganz allein}, rief Andar. Vermutlich wird ihm sein zahmer Blitz dabei helfen, Herr. Wie kann man einen Blitz zähmen? Das weiß ich auch nicht, Herr, aber wie ich aus verlässlicher Quelle weiß, hat Veltans Blitz schon den Kanal durch das Treibeis geschlagen, durch den wir das Land Dhrall so schnell erreichen konnten. Gundas Mauer ist sehr massiv, aber bestimmt nicht stark genug, um dieser Art von Kraft zu widerstehen. Ich werde mich nie an diese Dinge gewöhnen, die in diesem Teil der Welt passieren können, beschwerte sich Andar. Du machst dir zu große Sorgen, Andar, meinte Danal. Wunder sind doch wunderbar - solange sie uns helfen. Erst wenn sie dem Feind helfen, sollte man sich überlegen, Protest anzumelden. Nach Sonnenuntergang, als die Diener des Vlagh sich hinter die vordersten Wälle zurückzogen, wogte Zelanas Nebelbank heran und verschleierte den Rückzug der Trogiten und ihrer Verbündeten. Während der Nebel im Anzug war, kam Kommandant Narasan zu den Wällen, um sich mit Andar zu besprechen. Diese Katapulte haben sich als sehr nützlich erwiesen, um die Insektenmenschen in Brand zu setzen, Andar, sagte er, aber dadurch haben wir deutlich weniger Gift gewinnen können. Ich denke, wir setzen heute Nacht beim Rückzug keine vergifteten Pfähle ein. Die einheimischen Bogenschützen machen sowieso die meisten Feinde nieder, und diese Pfähle sind überflüssig. Da wir nicht genau wissen, wann die Kirchenarmeen Sorgans Verteidigungsanlagen durchbrechen, besteht die leise Möglichkeit, dass wir das Gift noch brauchen werden, um die Insektenmenschen zurückzuhalten, bis die fünf Armeen eintreffen. Überhaupt kein Problem, Narasan, antwortete Andar. Wie du schon sagtest, die einheimischen Bogenschützen können den Feind sowieso viel besser abwehren. Du hast dich viel schneller an die Lage hier im Lande Dhrall angepasst als ich bei meiner Ankunft, Andar. Als die Einheimischen uns erzählt haben, was uns in der Schlucht erwartet, habe ich Albträume bekommen. Ich habe einen gewissen Vorteil, Narasan, erwiderte Andar. Ich muss nicht die wichtigen Entscheidungen treffen, so wie du, sondern muss lediglich davon ausgehen, dass du weißt, wie wir den Feind besiegen können. Alle Fehler gehen zu deinen Lasten, nicht zu meinen. Vielen Dank, Andar. Nichts zu danken, antwortete Andar. Dann schaute er den Hang hinunter. Ich würde sagen, die Nebelbank verhüllt uns jetzt ausreichend, Narasan. Warum kehrst du nicht auf Gundas Mauer zurück, während ich meine Männer zurückziehe? Ich weiß, was ich zu tun habe, und du stehst mir doch nur im Weg. Entschuldige bitte, sagte Narasan und klang ein wenig beleidigt. 422
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Ich denke drüber nach, gab Andar zurück. Frag halt noch mal, wenn ich nicht so viel zu tun habe.
Narasans Entscheidung, die Pfähle beim Rückzug diese Nacht wegzulassen, erleichterte Andar die Sache. Hundert Schritt Distanz zwischen zwei Wälle mit Tausenden äußerst gefährlicher Pfähle zu spicken, hätte die meisten von Andars Männern den größten Teil der Nacht gekostet, und am Morgen wären sie erschöpft gewesen. Da sie nun nicht länger Pfähle einschlagen mussten, wurde der Rückzug zu einem gemütlichen Spaziergang den Hang hinauf, auf den einige Stunden des dringend benötigten Schlafes folgten. Danal überwachte die Aufstellung der Katapulte, und dann meldete er sich bei Andar. Wir sind so fertig, fertiger werden wir nie, Andar, berichtete er. Ich behalte die Dinge im Auge. Warum legst du dich nicht ein wenig schlafen? Ich bin noch viel zu aufgedreht, Danal, gab Andar zu, aber vielleicht sagst du den Männern lieber, sie sollten sich schlafen legen. Ich glaube, morgen wird nichts großartig Neues passieren, doch sollte man sich hier nie auf irgendetwas verlassen, daher sorge dafür, dass die Männer ausgeruht sind. Gut, stimmte Danal zu und verschwand in der nebligen Dunkelheit. Die Nacht senkte sich zusammen mit dem dichten Nebel, der von Dahlaines falscher Sonne beleuchtet wurde, und gegen Morger löste sich Zelanas freundliche kleine Nebelbank auf. Andar überlegte kurz, ob es sich bei dem Nebel vielleicht lediglich um eine Illusion gehandelt haben mochte, doch verdrängte er diesen Gedanken. Die Sache war bereits kompliziert genug. Dann zeigte sich am östlichen Horizont der erste schwache Lichtschimmer, und Danal kehrte zum Wall zurück. Zeit, an die Arbeit zu gehen, sagte er leise. Ich glaube zwar, die Insektenmenschen sind noch nicht wach, allerdings weiß man in dieser Gegend ja nie. Sind während des Kampfes in der Schlucht jemals nächtliche Angriffe vorgekommen?, fragte Andar seinen Freund. Nicht, dass ich davon gehört hätte. Ich würde meine Hand 424
nicht dafür ins Feuer legen, aber ich schätze, diese spezielle Brut von Insekten kann in der Dunkelheit nicht sehr gut sehen. Deshalb hat das Vlagh vermutlich seine Experimente mit den Insektenfledermäusen betrieben. Wenn Herr Dahlaine dieses kleine Spielzeug nicht hätte, wäre es wohl ziemlich unangenehm geworden hier. Es erschien Andar, als würde die Sonne noch Stunden brauchen, bis sie sich im Osten endlich über den Horizont erhob, doch in dem Moment, in dem sie schließlich in Sicht kam, ertönte das inzwischen vertraute Brüllen aus dem glitzernden Ödland, und die übergroßen Insektenmenschen stürmten heran. Feind an der Front, rief ein alter Sergeant mit lauter Stimme, und alle Männer begaben sich an ihre Positionen. Ich habe den Bogenschützen gesagt, sie sollen sich vorerst zurückhalten, berichtete Danal. Diese Insektenmenschen werden nicht bemerken, dass wir unsere letzte Stellung verlassen haben, da bin ich mir sicher. Steigern wir ihre Verwirrung am besten ein wenig. Kann man denn ein Insekt tatsächlich verwirren?, fragte Andar neugierig. Sicher bin ich mir da nicht, erwiderte Danal und zuckte mit den Schultern. Vielleicht finden wir es ja jetzt heraus. Die unbeholfenen Wesen erreichten den verlassenen Wall> stöberten herum und suchten offensichtlich nach jemandem, den sie beißen konnten. Auf mich machen sie einen verwirrten Eindruck, Andar sagte Danal und grinste. Wenn es richtige Menschenmenschen wären, würde wenigstens einer von ihnen lange genug wach werden, um zu begreifen, dass wir einfach nicht mehr da sind. Da sie jedoch nur Insektenmenschen sind, beißen sie vielleicht die Steine des Walles. Das ist absurd, Danal, spottete Andar. Da wäre ich mir nicht so sicher, mein Freund. Diese Stimme draußen im Ödland hat ihnen befohlen, etwas zu beißen, und da wir uns gestern Nacht zurückgezogen haben, gibt es nichts anderes mehr als Steine. Abrupt hielt er inne. Weißt du, Andar, das ist vielleicht nur eine Möglichkeit, aber wenn sie anfangen, in die Stei425
ne zu beißen, brechen sie sich eventuell die Zähne ab. Dann könnten wir diesen verrückten Krieg auf einfachste Weise gewinnen. Große Wetten würde ich da nicht eingehen, Danal, meinte Andar. Sobald das Vlagh erfährt, dass wir nicht mehr da sind, wird es wieder einen Befehl brüllen - und nach dem, was ich gehört habe, erreichen die Berichte das Vlagh fast augenblicklich.
Und wie zur Bestätigung von Andars Vermutung ertönte erneut die Stimme des Vlagh, und die unförmigen Insektenmenschen wandten sich um und schritten über den offenen Bereich zwischen der verlassenen und dem nächsten bemannten Wall. Bogenschützen vor!, befahl Danal. Die mehr oder weniger unfähigen trogitischen Schüler und die höchst begabten einheimischen Bogenschützen nahmen ihre Stellungen ein, legten die Pfeile auf und zogen die Sehnen zurück. Schießt!, rief Danal. Die Pfeile flogen in einer dichten Wolke, und der feindliche Angriff kam zum Stocken. Die wenigen Insektenmenschen, die die tödlichen Pfeile überlebten, trotteten weiter vorwärts und kletterten über die toten Kameraden, doch die hervorragenden heimischen Bogenschützen schickten ihnen einen neuen Pfeilhagel entgegen. Dann ertönte wieder ein Brüllen, in dem ein gewisser Zorn mitschwang, und die gepanzerten Spinnenwesen krabbelten über den unbesetzten Wall und huschten über das mit Toten übersäte Feld. Katapulte bereithalten!, brüllte Danal. Darf ich?, fragte Andar. Aber gern doch, antwortete Danal und grinste breit. Katapulte abschießen!, rief Andar. Eine Woge aus Feuer erhob sich hinter dem Wall, flog in hohem Bogen durch die Luft, ging auf die heranstürmenden gegnerischen Soldaten nieder und hüllte sie in Flammen ein.
44 In gewisser Hinsicht fand Hase den Krieg in Veltans Domäne wesentlich interessanter als den Kampf in der Schlucht. Er musste sich im Stillen eingestehen, dass das unerwartete Auftauchen dieser fünf Kirchenarmeen die Spannung erhöht hatte, und Langbogens Traum hatte sogar noch ein Übriges dazu getan. Hase spürte bei Zelanas Familie großen Widerwillen, Langbogens festen Glauben zu akzeptieren, dass die Kirchenarmeen betrogen und somit sie unwillentlich zu Verbündeten im Krieg gegen die Wesen des Ödlands geworden waren. Dieser Widerwillen, so erschien es Hase, war vor allem aus Unmut hervorgegangen. Zelana und ihre Familie waren offensichtlich ziemlich vor den Kopf gestoßen, weil Langbogens Traumbesucherin zu Dingen in der Lage war, die ihre eigenen Fähigkeiten überstiegen. Hase hielt das fast für dumm. Ganz eindeutig brauchten sie in diesem Krieg Hilfe, und diese zurückzuweisen, weil Langbogens Traumbesucherin sich ihnen überlegen zeigte, war einfach lächerlich. Die Brücke, die die trogitische Armee baute, stand kurz vor der Vollendung, und Padan hatte seine Männer in den Wald auf der Westseite des Talkessels zurückgezogen, wo sie außer Sicht waren. Sie müssen ja von unserer Anwesenheit nichts wissen, erklärte er. Sie werden beschäftigt mit dem sein, was sie für uns tun sollen, und wir wollen ihnen nicht im Weg stehen. Langbogens Freund Rotbart hingegen hielt es für weise, ein Auge auf die Freundfeinde zu werfen. Manchmal verärgerten Rotbarts schlaue Bemerkungen Hase ein wenig, doch wenn Langbogen mit seinen Vermutungen tatsächlich Recht behalten sollte, wäre Freundfeinde ein durchaus passender Ausdruck. Spät am Nachmittag eines Tages, ungefähr eine Woche, nachdem die Kirchentrogiten mit dem Bau der Brücke begonnen hatten, trafen sich Hase, Rotbart und Sorgans Vetter Tori in einem dichten Gebüsch am Westrand der Schlucht, die der Wasserfall durch die 426 427
Berge im Süden gegraben hatte. Geht es bei ihnen voran?, fragte er leise. Tori hielt sich die Hand vor den Mund, damit er nicht laut loslachte. Sie haben Probleme mit dem Gleichgewicht, sagte er. Mit dem Gleichgewicht?, hakte Hase verwirrt nach. Wenn du einen Baumstamm hast, der ungefähr hundert Fuß lang ist, und du willst ihn über eine Lücke legen, die ungefähr achtzig Fuß breit ist, so wird die Sache nach etwa fünfzig Fuß ein wenig wackelig. Nach ungefähr siebzig Fuß ist es nicht mehr wackelig, sondern der Stamm fällt einfach in die Schlucht. Diese Schwachköpfe haben schon vier Stämme in der Schlucht versenkt, und gerade fangen sie mit Nummer fünf an. Das meinst du nicht ernst! Ernst, nein, sagte Rotbart und grinste breit. Aber zum Lachen ist es, ja. Vielleicht wird irgendjemand irgendwann auf die Idee kommen, dass sie ihr Ende des Baumstammes mit einem Gewicht versehen müssen, damit es nicht nach unten kippt. Er zeigte in die Schlucht. Wir wollen doch, dass sie fertig werden, oder?, erinnerte Hase mit leichter Besorgnis in der Stimme.
Sie werden es schon schaffen, gab Tori achselzuckend zurück. Ich glaube, gerade ist jemand da unten aufgewacht, sagte Rotbart. Es braucht vielleicht noch ein paar Stämme und ein paar hundert Mann, die sich auf das kurze Ende setzen, aber sie machen Fortschritte, würde ich sagen. Die drei schauten den fleißigen Trogiten zu. Menschen als Gegengewicht einzusetzen ist nicht gerade die beste Idee, die sie hätten haben können, meinte Hase skeptisch. Sie haben jede Menge Leute, Hase, sagte Tori. Früher öder später kriegen sie es hin. Die rot uniformierten Soldaten schoben den wippenden Stamm weiter hinaus, und immer mehr von ihnen legten sich quer darauf, um ihn festzuhalten. Dann schließlich bestand nur noch eine Lücke von einem Fuß Breite, und nun rammten die Trogiten ihn mit einem Ruck in die Kante. 428
Wie lange haben sie gebraucht, um diesen einen Baumstamm an Ort und Stelle zu bringen?, fragte Hase neugierig. Sie haben gegen Mittag angefangen, oder, Rotbart?, fragte Tori. Vielleicht ein wenig früher, antwortete Rotbart. Wenn sie lediglich zwei Stämme pro Tag schaffen, werden sie noch eine Weile beschäftigt sein, stellte Hase fest. Den ersten Stamm haben sie drüben, sagte Tori. Von nun an sollte es schneller vorangehen. Dann grinste er plötzlich. Wenn wir sie nicht so dringend brauchten, könnten wir bis Mitternacht warten und ihren Baumstamm dann vom Rand wegschieben und in die Schlucht fallen lassen. Kannst du dir vorstellen, was es dann morgen für ein Geschrei geben würde? Inzwischen war rasch die Dämmerung hereingebrochen, und die Trogiten hatten die Rampe verlassen und sich an die Lagerfeuer gesetzt. Das wäre es dann wohl für heute, sagte Tori. Schauen wir mal, was es zum Abendessen gibt. Noch nicht, antwortete Rotbart. Dort kommen ein paar Leute hoch zum Rand. Wie sind sie denn dort hinaufgelangt?, wollte Tori wissen. Leitern vermutlich, sagte Hase. Ich schätze, wenn man es recht bedenkt, wären Leitern vielleicht eine bessere Lösung gewesen als die Brücke. Bleiben wir doch noch hier, sagte Rotbart. Diese Leute geben sich viel Mühe, von ihren Freunden auf der Rampe nicht bemerkt zu werden. Ich dachte, diese Kirchensoldaten sollten rote Uniformen tragen, meinte Hase. Diejenigen, die dort herumschleichen, sind in Schwarz gekleidet. Regulatoren, erklärte Tori. Ich habe im Süden Geschichten über sie gehört. Sie sind eine Art Ordnungshüter, und jeder in der Armee - ja, sogar die Priester - zittert vor ihnen. Vielleicht haben sie entschieden, das Geschäft für sich allein zu machen, argwöhnte Hase. Wenn sie sich beeilen, werden sie den Ozean aus falschem Gold lange vor den Rotröcken erreichen. Das wäre möglich, schätze ich, sagte Tori skeptisch. 429
Die Antwort kriecht gerade über den Baumstamm, den sie kurz vor Sonnenuntergang angebracht haben. Hase spähte in die Dunkelheit hinunter und entdeckte schließlich mehrere schemenhafte Gestalten, die langsam über den Baumstamm krochen. Als sie den Rand erreichten, hörte Hase, wie sie einander zuflüsterten: Wenn wir uns ein wenig beeilen, können wir die Gegend erreichen, wo der ganze Goldsand liegt. Dann holen wir uns mehrere Beutel Gold und sind wieder im Lager, ehe uns jemand vermisst, sagte der eine. Wir müssen das Gold irgendwo verstecken, meinte eine andere ängstliche Stimme aus der Dunkelheit. Wenn diese gierigen Priester auch nur ahnen, dass wir es haben, werden sie uns die Regulatoren auf den Hals hetzen, und die foltern uns, bis wir alles verraten. Vielleicht wäre es ein guter Zeitpunkt, die gierigen Priester loszuwerden, und die Regulatoren auch, fügte die erste Stimme hinzu. Wir können doch keine Priester töten!, sagte eine weitere Stimme erschrocken. Wir müssen sie ja nicht töten, flüsterte die andere. Priester sind so heilig, dass sie vermutlich fliegen können, und das müssen wir lediglich ausprobieren. Wir werfen sie einfach in die Schlucht, und die heiligen werden fliegen, oder? Diejenigen, die in die Schlucht fallen und auf dem Grund zerschmettert werden, sind die ^heiligen, oder nicht? Wir prüfen die Priester nur auf ihre Heiligkeit hin, und wenn jeder von ihnen zerschmettert wird ... nun, ja, gut.
Die anderen lachten rau. Dann tauchten die schwarz uniformierten Regulatoren aus der Dunkelheit auf - mit Knüppeln - und prügelten so lange auf die Deserteure ein, bis diese wieder absoluten Gehorsam versprachen. Was sollen wir mit ihnen anstellen, Konag? Der düstere Mann, der die Regulatoren anführte, lächelte schwach. Warum unterziehen wir sie nicht der >Heiligkeitsprüfung, antwortete er. 43° Ich kann dir nicht ganz folgen, Konag, meinte der erste Regulator. Du warst vermutlich zu weit entfernt, um ihr Gerede zu verstehen, erklärte Konag. Wenn du einen Mann auf seine Heiligkeit prüfen willst, musst du ihn nur von einer hohen Stelle hinunterwerfen. Wenn er fliegt, ist er heilig. Wenn nicht, ist er unheilig. Wir sollen sie also in die Schlucht werfen? Was für eine brillante Idee!, erwiderte Konag sarkastisch. Am folgenden Morgen entschied Hase, etwas zu Ende zu bringen, an dem er schon eine Weile lang herumtüftelte. Er nahm den geschwungenen Ast, den er von einem Laubbaum geschnitten hatte, und begann, diesem mit seinem Messer Form zu geben. Schnitzen, Hase?, fragte Tori. Ist dir so langweilig? Eigentlich nicht, meinte Hase. Letzte Woche ist mir aufgefallen, dass ich den ganzen Winter Pfeile für Langbogen und sein Volk gemacht habe, dabei aber nicht ein einziges Mal selbst geschossen habe. Ist das Stück Holz nicht ein wenig kurz?, fragte Tori. Wenn ich meinen Bogen so lang wie die von Zelanas Männern mache, muss ich mich zum Schießen auf eine Leiter stellen. Tori lächelte schwach. Bestimmt nehmen unsere Feinde fluchtartig Reißaus, wenn sie Langbogen und Kurzbogen sehen. Hase warf ihm einen bösen Blick zu. Ich sage dir was, Tori, sagte er. Sobald ich meinen Bogen fertig habe, brauche ich ein Ziel, um Schießen zu üben. Du könntest ein Stück weit weggehen, und dann finden wir mal heraus, wie gut ich schon schießen kann. Allzu gut werde ich vermutlich nicht sein, also wirst du nicht in sehr großer Gefahr schweben. Vielleicht ein andermal, Hase, gab Tori zurück. Im Augenblick bin ich ziemlich beschäftigt. Sobald dir langweilig wird, mein Freund, kann ich dir ein wenig Abwechslung bescheren. Ich werde es nicht vergessen, Hase, meinte Tori und ging kopfschüttelnd davon. 43
Nachdem Hase seinen Bogen fertig geschnitzt hatte, machte er sich auf die Suche nach Rotbart. Was benutzen deine Männer als Material für die Bogensehne?, fragte er, nachdem er sein Experiment dem Freund gezeigt hatte. Für gewöhnlich getrockneten Darm, antwortete Rotbart. Manche Bogenschützen verwenden auch Sehnen, aber ich hatte immer mehr Erfolg mit Darm. Ich habe einige in Reserve, wenn du möchtest, kannst du einen von mir bekommen. Er nahm Hases Bogen hoch und packte mit jeder Hand ein Ende. Dann drückte er den Bogen durch. Schön und biegsam, bemerkte er. Das könnte ein hübscher Bogen werden. Wir wissen es erst, wenn wir ihn ausprobiert haben. Nachdem Hase die Sehne befestigt hatte, nahm er eine Hand voll Pfeile und ging in den Wald am Westhang. In seinem ganzen Leben hatte er noch keinen Pfeil abgeschossen, und deshalb wollte er kein Publikum, wenn er es das erste Mal versuchte. Langbogen hatte ziemlich viel von Einheit geredet - etwas, das den Schützen, seinen Bogen und das Ziel miteinander verband. Hase dachte darüber nach, während er zwischen den Bäumen den Hang hinaufstieg. Vielleicht ist es so ähnlich, wie wenn ich sehe, dass ein Stück Metall genau die richtige Farbe in der Esse hat, grübelte er. Er blickte sich um und sah einen Flecken grünen Mooses auf einem Baumstamm vielleicht fünfzig Schritt den Berg hinauf. Entschlossen legte er den ersten Pfeil auf, ohne den Blick von dem Moosflecken abzuwenden. Dann hob er den Bogen und zog die Sehne zurück. Und ohne auch nur am Schaft entlangzuspähen ließ er den Pfeil fliegen. Ein wenig erschrak er schon, als sein Pfeil mitten im Ziel stecken blieb. Ich muss besser sein, als ich dachte, murmelte er und grinste breit. In meinem ganzen Leben habe ich noch kein Ziel verfehlt. Mit wachsender Neugier legte er den nächsten Pfeil auf und ließ los.
Jetzt ragten zwei Pfeile nebeneinander aus dem Moos. Darauf schoss er den letzten Pfeil ab und ging zu dem Baum, um sich die Sache genauer anzuschauen. Seine Pfeile steckten so dicht beieinander, dass er die gekerbten Enden mit einer Handfläche bedecken konnte. Unmöglich!, rief er. Dann schaute er sich misstrauisch um, weil vielleicht Zelana eines ihrer Spielchen mit ihm trieb. Allerdings würde er sie vermutlich nicht sehen, selbst falls sie da war. Es kostete ihn einige Mühe, die Pfeile wieder aus dem Stamm zu ziehen, und zwei brach er dabei entzwei. Anschließend stieg er den Berg hinunter und verstaute den Bogen im Lager unter seiner Decke. Wahrscheinlich sollte ich die Angelegenheit für mich behalten, dachte er, mir wird sowieso niemand glauben, daher werde ich keine große Sache draus machen. Ein Mann sollte keine Gelegenheit verstreichen lassen, seinen Mund zu halten. Sie sind fast fertig, Padan, berichtete Tori spät am Nachmittag zwei Tage danach. Und es sieht so aus, als würden die Kirchenregulatoren die meiste Arbeit für uns tun. Ihnen ist es gelungen, die Soldaten dazu zu überreden, dort zu bleiben, wo sie hingehören, und nicht zu Goldie loszurennen. Goldie?, fragte Padan und grinste. Sie ist eines dieser putzigen kleinen Tierchen draußen im Ödland, erklärte Tori. Ich mag Tiere, die die ganze Arbeit übernehmen, du etwa nicht? Padan kratzte sich am Kinn. Ich bin mir nicht sicher, aber es könnte sein, dass diese Regulatoren die Sache ein wenig durcheinander gebracht haben. Ist es möglich, dass Schrecken Gier überwältigen kann? Es wäre vielleicht keine schlechte Idee, Vetter Sorgan und Kommandant Narasan davon in Kenntnis zu setzen, schlug Tori vor. Wenn schon die Regulatoren die Soldaten dazu bringen, nicht in kleinen Gruppen loszurennen, um Goldie zu erreichen, könnte eine kleine Änderung im Plan durchaus angebracht sein. Da hast du vielleicht Recht, Tori, stimmte Padan zu. Er sah Hase an. Wie geht es deinen Beinen, kleiner Freund?, fragte er. 432 433
Das Laufen habe ich nicht verlernt, sagte Hase. Möchtest du, dass ich die Neuigkeit überbringe? Wenn es dir nicht allzu viel Umstände bereitet, antwortete Padan. Es sieht so aus, als ob diese Regulatoren unsere Arbeit hier erledigen, Vetter, sagte Skell, nachdem Hase ihnen die Ereignisse berichtet hatte. Möglicherweise, sagte Hakenschnabel skeptisch. Ich denke ja immer noch, wir wären besser dran, wenn diese Idioten einfach ihres Weges rennen würden, als hinge ihr Leben davon ab. Wenn sie nur ein wenig langsamer werden, könnten sie sich entschließen, einen anderen Weg zu suchen, um an das Gold in der Wüste zu gelangen. Ich glaube das nicht, Käpt'n, widersprach Hase. Als Langbogen, Tori und ich hinauf auf den westlichen Gebirgszug gestiegen sind, um herauszufinden, ob der gelbe Sand wirklich aus dem bestand, aus dem er zu bestehen schien, konnten wir einen großen Teil der Wüste von dort überblicken. Der Sand, der wie Gold aussieht, aber keins ist, hörte ein paar Meilen weiter im Westen auf. Langbogen meinte, die Traumdame benutze ihn als Köder für diese Kirchenarmeen, deshalb hat sie ihn dort ausgebracht, wo wir ihn brauchen. Diese Dame würde ich zu gerne mal kennen lernen, sagte Skell. Wir schulden ihr ja mindestens tausend Pfund Dankeschöns. Falls alles so ausgeht, wie sie es zu wünschen scheint, Skell, sagte Sorgan ein wenig skeptisch. Aber falls irgendetwas schief läuft, könnte die Sache hier binnen kürzester Zeit wahrlich eklig werden. 434
45 Aracia, ihre Brüder und ihre Schwester sowie die Kinder versammelten sich am Geysir in der Mitte des Talkessels. Es war spät am Abend, nicht lange nachdem die Kirchensoldaten die von allen für so wichtig erachtete Brücke fertig gestellt hatten, und es erschien der Kriegerkönigin Trenicia, dass der einzige Zweck dieser Versammlung darin bestand, dem kleinen Mädchen Lillabeth beim Schlafen zuzuschauen. Trenicia war ziemlich sicher, dass Lillabeth auch ohne Publikum schlafen konnte, doch Aracias Familie war aus irgendeinem Grunde sehr interessiert. Königin Trenicia von der Insel Akalla hatten die von Männern dominierten Kulturen all dieser Länder von Anfang an verwirrt. Auf der Insel, auf der Trenicia herrschte, stellten die Männer im Grunde so etwas wie Luxusobjekte dar, die ihre Zeit damit verbrachten, sich schön zu machen. Zu bestimmten Gelegenheiten malten sie sich sogar das Gesicht an.
Trenicia war nicht sicher, wie die Männer auf der Insel in der fernen Vergangenheit darauf gekommen waren, dass Nutzlosigkeit eine Tugend sei, aber falls sie damit Recht hatten, war es ihnen gelungen, ihre Nutzlosigkeit zur Kunstform zu erheben. Immerhin gab es alte Legenden - vermutlich reine Fantasie -, die hartnäckig auf der absurden Annahme beharrten, in der Vergangenheit seien die Männer dominant gewesen und hätten die Frauen wie Leibeigene behandelt. Diese Legenden beschrieben in allen Einzelheiten sodann einen bestimmten Tag, als eine große Gruppe Frauen bei der Suche nach Feuerholz am Südstrand auf das Wrack eines, wie es schien, großen Floßes gestoßen war - oder etwas, das noch größer war als ein Floß - und das aus einem fernen Land stammte. An verschiedenen Stellen dieses Wracks fanden die Frauen Waffen, die ganz offensichtlich aus einem anderen Material gefertigt waren als aus Stein. Hätte es sich bei den Frauen, die diese Entdeckung machten, um gehorsame Geschöpfe gehandelt, hätte die Geschichte der Insel 43 5
Akalla gewiss einen anderen Lauf genommen. Diese Frauen waren jedoch ganz und gar nicht gehorsam. Nachdem sie und ihre Vorfahrinnen viele Jahrhunderte wie Besitz behandelt worden waren, hatte sich in ihnen großer Zorn aufgestaut, und die Entdeckerinnen der Metallwaffen kehrten mit diesen in der Hand nach Hause zurück und demonstrierten ihre Unzufriedenheit. Die Männer der Insel waren erschüttert. Wie aus heiterem Himmel hatten sich die Frauen von Akalla in Wilde verwandelt, die sich jedem Befehl widersetzten und auf die leisesten Andeutungen von Ablehnung mit äußerster Brutalität reagierten. An diesem Punkt ergriffen die Männer die Flucht, doch damit waren die Frauen längst nicht zufrieden. Sie wollten Blut sehen. Trenicia glaubte fest, diese Geschichten aus der Vergangenheit seien ziemlich übertrieben, doch fand sie das Verhalten der damaligen Frauen durchaus gerechtfertigt. Auf jeden Fall brachte die Metzelei an den Männern schließlich die älteren, weiseren Frauen auf den Plan, welche die rasenden jungen Schwestern daran erinnerten, dass es ohne Männer keine Kinder und nach einer Weile keine Menschen mehr auf der Insel geben würde. Die Massentötungen hatten nach und nach ein Ende gefunden, und die Frauen pferchten die überlebenden Männer zusammen ein. Dann holten sie die Männer wieder heraus - einen nach dem anderen - und boten sie anderen Frauen an. Wenn ein Mann hässlich oder alt oder zufällig einen schlechten Ruf unter den Frauen hatten, wiesen ihn die Frauen zurück, und er wurde auf der Stelle getötet. Die Sitte, unerwünschte Männer zu töten, war in der Gesellschaft, die nun von Frauen dominiert wurde, längst ausgestorben, doch die Männer glaubten noch immer, ihr Leben könne davon abhängen, verführerisch auszusehen. Und so verbrachten die Männer von Akalla jede wache Minute damit, sich schön zu machen. Deswegen war es ihnen natürlich unmöglich, andere Aufgaben wahrzunehmen, weshalb den Frauen das Pflanzen, Kochen, Ernten, Regieren und Kämpfen zufiel. Alles in allem störte Königin Trenicia diese Einteilung nicht, und sie war vollkommen verblüfft über die eigenartigen - ja absurden - Verhältnisse in anderen Gesellschaften. Noch immer verstand sie nicht so recht, wieso die hiesigen Götter - und ihre kleinen Kinder - so an Aracias Kleiner interessiert waren, also wandte sie sich an das schöne Kind Eleria, das ein Stück entfernt von den anderen saß und einen so seltsamen Ausdruck im Gesicht hatte. Warum starren denn alle so interessiert auf Lillabeth?, fragte sie. Sie träumt, erwiderte Eleria. Dazu sind wir Kinder da. Wir lassen in unseren Träumen Dinge geschehen - Dinge, die jenen verboten sind, die auf uns aufpassen. Aber sind sie nicht die älteren Götter? In gewissem Sinne, ja. Götter können doch tun, was sie wollen, oder nicht? Nicht ganz, antwortete Eleria. Sie dürfen kein Leben vernichten gleichgültig welcher Form. Auch nicht das von Feinden, die sie töten wollen? Diese Einschränkung erfüllte Trenicia mit Bestürzung. Deshalb sind wir hier, die wir wie Kinder aussehen. Wir zerstören die Feinde mit unseren Träumen. In der Domäne der Geliebten hatte ich den Traum einer gewaltigen Flut, und in dieser Flut sind Tausende unserer Feinde ertrunken. Dann, ein wenig später, hatte Vash seinen Vulkan-Traum, und er brachte noch mehr Feinde um als ich.
Trenicia schaute Lillabeth nun mit einer gewissen Ehrfurcht an, und beim genauen Hinsehen entdeckte sie etwas in der Luft über dem schlafenden Kind. Der Gegenstand, der ständig die Farbe änderte, erschien fast wie Feuer. Was ist das für ein hübsches Ding über ihr?, fragte sie. Eleria betrachtete das schlafende Kind. Es ist eine Muschel, antwortete sie. Eine Abalone, glaube ich. Sehr hübsch, aber meine Perle ist noch schöner. Unsere Juwelen schenken uns die Träume. Sie sind die Stimme derjenigen, die uns führt. Unsere Führerin benutzt die Juwelen, um uns mitzuteilen, was wir träumen sollen. Wer ist sie?, fragte Trenicia. 436 437
Ich weiß es nicht genau, erwiderte Eleria. Ich kenne sie schon seit Anbeginn der Zeit. Dann lachte das kleine Mädchen ein wenig reumütig. Das einzige Problem ist, ich kann mich nicht mehr erinnern, wann das war. Immerhin war ich da, doch ist es schon so lange her. Wenn ich mich recht entsinne, waren wir damals sehr beschäftigt. Beschäftigt? Wir haben Dinge erschaffen. Unsere älteren Götter hatten das lange, lange Zeit getan und wurden schließlich sehr, sehr müde, also sagten wir ihnen, sie sollten sich ausruhen, und übernahmen die Bürde von ihnen. Wir haben wohl fast den Punkt erreicht, an dem wir das erneut machen werden, glaube ich. Die Geliebte wird schon ein wenig seltsam. Sie ist sehr, sehr müde und braucht Schlaf. Ich schleiche jetzt hinter ihr her und kümmere mich für sie um alles, aber das ist schon in Ordnung. Das habe ich früher schon oft gemacht. Eleria betrachtete das schlafende Kind. Enalla wird gleich aufwachen. Vermutlich hat sie ihren Traum in Bewegung gesetzt, und ihr Traum wird bestimmt den Sieg in diesem Krieg herbeiführen. Sie schob die Lippen spitz vor. Dakas könnte ihr vielleicht helfen müssen - so wie Vash mir letztes Mal geholfen hat, fügte sie nachdenklich hinzu. Habt ihr Kinder alle mehrere Namen?, fragte Trenicia. Ich dachte, Aracias kleines Mädchen heißt Lillabeth. So nennt Aracia sie, doch ihr richtiger Name ist Enalla. Was ist denn dein richtiger Name? Balacenia natürlich. Als Dahlaine auf die Idee gekommen ist, entschied er, nicht unsere richtigen Namen zu benutzen. Das gehörte zu seiner List. Und außerdem hat er uns wieder zu Kindern gemacht, damit die älteren Götter nicht gleich erkennen, wer wir wirklich sind. Als Aracia zur Insel Akalla kam, hat sie uns davon nichts erzählt, sagte Trenicia und fühlte sich ein wenig gekränkt. So ist Aracia manchmal. Das Kind lachte. Sie kann auch Dahlaine richtig aufregen. Er weiß, im nächsten Zyklus will sie die Führung übernehmen, und dieser Gedanke gefällt ihm gar nicht. 438 Warum erzählst du mir das alles?, wollte Trenicia wissen. Wenn das alles der Wahrheit entspricht, solltest du es dann nicht lieber vor mir geheim halten? Wir sind nicht alle wie Aracia, Liebe, antwortete das Kind. Ich habe schon immer geglaubt, mit Ehrlichkeit kommt man weiter als mit Hinterlist. Ganz bestimmt wird es irgendwann sehr wichtig sein, dass du die Wahrheit kennst, deshalb habe ich dich auf einen kleinen Spaziergang auf dem Pfad der Wahrheit mitgenommen. Nach einer Weile, wenn du dir die ganze Sache ein wenig durch den Kopf hast gehen lassen, können wir diesen Weg erneut beschreiten und ein bisschen weitergehen. Sie zögerte und grinste Trenicia kindisch an. Wäre das nicht lustig?, fragte sie mit übertriebener Begeisterung und klatschte in die Hände.
46 Sorgan Hakenschnabel, sein Vetter Skell und der Maat Ochs standen auf der Südseite des ersten Grabens und spähten in die Dunkelheit. Ich glaube, du machst dir zu viele Sorgen, Vetter, meinte Skell. Nach dem, was ich im letzten Krieg gesehen habe, kämpfen trogitische Armeen nach Sonnenuntergang nicht allzu gut. Das trifft vermutlich zu, wenn es sich um eine richtige Armee handelt, Skell, erwiderte Sorgan, aber falls Tori Recht hat mit seinem Bericht über die Ereignisse an der Südküste, reden wir hier über eine Horde, nicht über eine Armee. Sobald die erst einmal das falsche Gold gesehen haben, wird das Denken bei ihnen aussetzen, und sie werden sich nicht mehr wie Soldaten benehmen. Ich würde sagen, es hängt davon ab, ob sie die Arbeit an der Brücke beenden oder nicht, Käpt'n, wandte Ochs ein. Falls sie es noch nicht geschafft haben, hier hochzukommen, verschwenden wir nur
kostbare Zeit zum Schlafen. Nicht ganz, Ochs, widersprach Sorgan. Padan sagte, er wür439 de uns jemanden schicken, der uns Bescheid gibt, sobald die Brücke fertig ist, und falls dieser Bote nicht weiß, wo der Pfad durch die vergifteten Pflöcke ist, stirbt er vermutlich, ehe er uns erreicht. Da kommt jemand, zischte Skell und zeigte nach Süden. Ich würde sagen, es ist Hase, Käpt'n, fügte Ochs hinzu, oder jemand, der so klein ist wie er. Hase kennt allerdings den Weg durch die Pfähle. Es ist also endlich so weit, sagte Sorgan voller Erleichterung. Bist du das, Käpt'n?, rief Hase aus der Dunkelheit. Wen hast du denn erwartet?, antwortete Sorgan. Was ist unten los? Diese Soldaten in roter Kleidung haben ihre Brücke fertig, Käpt'n, sagte Hase, als er bei ihnen eintraf, leider läuft die Sache nicht ganz so, wie wir es erwartet haben. Gibt es Probleme?, wollte Skell wissen. Vielleicht, vielleicht auch nicht, gab Hase zurück. Also zunächst lief alles ziemlich genau so, wie wir wollten. Die Soldaten in Rot schafften es endlich, einen Baumstamm über die letzte Lücke zu legen, und als sie die Bergspitzen mit dem falschen Gold sahen, breitete sich unter ihnen eine enorme Aufregung aus. Nach Sonnenuntergang schlichen acht oder zehn von ihnen über den Baumstamm herauf - vermutlich in der Absicht, vor ihren Freunden ans Ziel zu gelangen. Wir waren ziemlich sicher, dass es so geschehen würde, Hase, meinte Ochs. Die Sache hat allerdings einen Haken, berichtete Hase weiter. Einige andere Männer in schwarzer Kleidung hatten Leitern verwendet, um zum Rand hinaufzugelangen, und sie erwarteten die Rotröcke schon, als sie über den Baumstamm kamen. Dann packten die Schwarzröcke die Rotröcke und warfen sie in den Abgrund. Also sind, wie Tori und Padan meinen, die Schwarzröcke diejenigen, die den Rotröcken sagen, was sie zu tun haben, und sie sorgen dafür, dass die Rotröcke verstehen, was los ist, indem sie jeden umbringen, der versucht, gegen die Regeln zu verstoßen. Sorgan zuckte zusammen. Wie tief ist es von oben bis zu den Felsen unten?, fragte er. Mindestens zweihundert Fuß, Käpt'n, antwortete Hase. Ich schätze mal, nach dem Sturz sind die meisten dieser Rotröcke nicht mehr aufgestanden. Er schauderte. Jedenfalls hat Padan mich geschickt, damit ich dir mitteile, dass die Brücke fertig gestellt ist und dass die Rotröcke nicht einfach Tröpfchenweise erscheinen werden. Stattdessen werden sie wohl zu Hunderten auf einmal auftauchen. Er hielt kurz inne. Ach, und noch eins, Käpt'n. Padan und seine Männer sind eine Stunde hinter mir, und er sagte, es wäre ihm ausgesprochen lieb, wenn ihn jemand durch deine Gräben führen würde. Darum werden wir uns kümmern, Hase, sagte Sorgan. Nun, warum läufst du nicht weiter zu Gundas Mauer und erstattest Narasan Bericht? Mach ich, Käpt'n - nur muss mir jemand zeigen, wie ich durch die Giftpfähle in den anderen Gräben komme, ohne dabei einen schweren Anfall von Tod zu erleiden. Padan und Tori erreichten Sorgans vordersten Graben vor dem ersten Licht; sie gingen in einiger Entfernung vor ihren Männern. Hase hat uns erzählt, die Sache würde ein wenig anders laufen, unterrichtete Skell sie. Er hat sich das doch nicht ausgedacht, oder? Sind diese Männer in Schwarz tatsächlich so brutal? Schlimmer noch, großer Bruder, antwortete Tori. Padan hat mich über die Organisation dieser Kirchenarmeen aufgeklärt, und wenn ich richtig verstanden habe, neigt die trogitische Kirche dazu, die Brutalität bis zum Äußersten zu treiben. Diejenigen, die sie >Regulatoren< nennen, halten die anderen Soldaten - und die Priester der niedrigen Ränge ebenfalls - auf Linie, indem sie reinen Terror ausüben. Ich schätze, für gewöhnlich gehen sie dabei nach dem Motto vor: >Wenn ihr nicht tut, was wir euch sagen, bringen wir euch eben um!< Dann beweisen sie den Ernst ihrer Worte, indem sie einige gleich an Ort und Stelle über die Klinge springen lassen. Denkt er sich das aus, Padan?, fragte Sorgan skeptisch. 440 441
Nein, Kapitän Hakenschnabel. So arbeiten die Regulatoren nun einmal, erklärte Padan. Die Kirche ist darauf aus, sich Geld anzueignen, und von jeglicher Form von Anstand hat sie sich schon vor langer Zeit freigemacht. Er spähte in die Dunkelheit nach beiden Seiten von Sorgans Graben. Wie ich sehe, enden diese Gräben auf der Ostseite am Flussufer, stellte er fest. Wie habt ihr die Westseite blockiert, damit sie nicht einfach Drumherumgehen?
Wir hatten Glück, antwortete Sorgan. Die westliche Bergkette bildet an ihrem Fuß ungefähr eine Meile weit eine Steilwand. Die könnte man zwar hinaufklettern, wenn man unbedingt will, doch würde es eine Weile in Anspruch nehmen. Wenn diese Kirchensoldaten wegen des falschen Goldes draußen in der Wüste so außer Rand und Band sind, werden sie keine Zeit verschwenden wollen. Unsere vergifteten Pflöcke am Boden der Gräben sind nicht sehr lang, und wir haben Laub darüber verteilt, damit sie nicht zu erkennen sind. Bist du sicher, dass sie die Sohle eines Soldatenstiefels durchdringen werden? Nun, ich würde jedenfalls nicht durch den Graben laufen wollen, um es herauszufinden. Wie lange wird es dauern, bis alle Kirchensoldaten oben sind? Soweit ich sagen kann, zweieinhalb Tage, Kapitän. Ob sie warten, bis alle Mann oben sind, oder jeweils als Bataillon losmarschieren, kann ich allerdings nicht abschätzen. Sorgan und Padan standen an der Barrikade im äußersten Süden, als es am nächsten Morgen hell wurde, und soweit Sorgan feststellen konnte, hatten die Kirchenarmeen ihren Marsch noch nicht begonnen. Keine Besucher bisher, sagte er zu Padan. Bist du sicher, die Kirchensoldaten werden in unseren gelben Bändern keine Markierungen sehen? Aller Wahrscheinlichkeit nach nicht, Kapitän, antwortete Padan. Gunda und ich hatten diese Idee, als wir Kinder waren, und wir haben sie stets für uns behalten. Wir wissen, was die Bänder bedeuten, sonst niemand. Was ist mit diesem Jalkan? Wenn ich recht verstanden habe, was Narasan mir erzählt hat, war dieser Schurke ziemlich lange Angehöriger eurer Armee, und jetzt hat er sich der feindlichen Armee angeschlossen. Padan schüttelte den Kopf. Gunda, Narasan und ich haben die Idee immer für uns behalten, sagte er und lächelte schwach. Wenn man es ganz genau nimmt, waren wir ein wenig albern deswegen. Die gelben Bänder waren unsere Idee, und aus diesem Grund haben wir niemandem etwas davon erzählt. Wir benutzen keine großen Streifen aus gelbem Stoff, sondern meistens nur gelben Faden. Wie hast du unser Geheimnis gelüftet? Narasan musste es mir mehr oder weniger verraten, nachdem er dich mit Skells Kundschaftern mitgeschickt hat. Skell hätte dich wahrscheinlich für verrückt gehalten, wenn du überall am Weg entlang gelbe Bändchen an Büsche und Bäume gebunden hättest. Da kommt Langbogen, sagte Padan und zeigte nach Norden. Und wie es scheint, weist Hase ihm den Weg. Gut. Wir wollen schließlich Langbogen nicht verlieren. Die werte Dame Zelana würde mich bei lebendigem Leibe häuten, wenn ich zuließe, dass ihm etwas zustößt. Gibt es schon ein Zeichen von unseren >Freundfeinden, fragte Langbogen. Bislang nicht, antwortete Sorgan. Es ist ja auch noch früh. Die Sonne ist noch nicht einmal aufgegangen. Wie hat Narasan die Neuigkeiten aufgenommen, Hase? Er behauptete, es sei höchst unnatürlich für ihn, irgendetwas gutzuheißen, was diese Kirchenarmeen tun, doch tief im Herzen freut er sich darüber, dass diese Regulatoren die Soldaten davon überzeugt haben, nicht einfach ohne jegliche Ordnung loszurennen, um das Gold einzuheimsen. Ich glaube, er freut sich schon darauf, was passieren wird, wenn die Kirchenarmeen auf die Insektenmenschen treffen. Sorgan grinste. So ist er, unser Narasan, sagte er, aber um die Wahrheit zu sagen, freue ich mich selbst schon auf diesen Anblick. 442
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Feind von vorn, verkündete Padan in beinahe gelangweiltem Ton. Sorgan drehte sich rasch um und schaute nach Süden. Also, das nenne ich eine Armee, sagte er. Ich war schon ein wenig nervös, von wegen >ohne Ordnung losrennen und Gold einheimsen<, aber ich würde sagen, die Regulatoren haben ihre Meinung klar zum Ausdruck gebracht. Die riesige Armee mit Männern in roten Uniformen marschierte im, wie Narasan es genannt hätte, Schnellschritt, und es erschien Sorgan, dass sie gut vorankamen - bis sie Sorgans ersten Graben erreichten. Die vordere Reihe betrachtete die Zehnfußvertiefung skeptisch und mischte sich dann unter die folgenden Reihen. Irgendwie habe ich das Gefühl, es mangelt ihnen ein wenig an Begeisterung, sagte Padan und grinste. Wenn man nicht vorsichtig ist, kann man sich bei einem Sprung in so einen Graben beide Beine brechen, sagte Sorgan. Ich wäre da auch eher zurückhaltend.
Ein hagerer Mann mit hässlichem Gesicht und schwarzer Uniform unterhielt sich kurz mit anderen Männern in ähnlicher Uniform, und seine Untergebenen - falls es sich denn um solche handelte - traten rasch hinter die nun zögernden rot uniformierten Männer und schoben sie über die Kante in den Graben. Durchaus effizient, merkte Padan an, aber doch ein wenig extrem vielleicht. Er spähte in den Graben. Wie nah an der anderen Seite haben deine Leute die Pflöcke eingeschlagen, Sorgan? Sehr nah. Das Gift scheint noch so gut zu wirken wie früher, stellte Padan fest. Ich glaube, alle, die hineingefallen sind, haben das Zeitliche gesegnet. Sorgan grinste ihn an. So war das ja auch beabsichtigt, Padan. Jetzt, da die Rotröcke sehen, was sie erwartet, werden sie den Vormarsch verlangsamen und sehr vorsichtig die Pflöcke ausgraben. Es wird sie vermutlich zwei Tage kosten, den Boden des Grabens zu säubern. Bis dahin stehen dort drüben doppelt so viele Soldaten zum Marsch bereit. 444
Schlau, meinte Padan. Nach zwei oder drei weiteren Gräben sollten sich die gesamten fünf Kirchenarmeen oben versammelt haben und nur darauf warten, wann sie in die Wüste rennen können, um so viel falsches Gold einzuheimsen, wie sie tragen können. Aber so kam es leider nicht, musste Sorgan einräumen. Die Regulatoren hielten erneut eine Besprechung ab, und derjenige, der offensichtlich der Anführer war, brüllte ein paar kurze Befehle. Daraufhin packten sich die Regulatoren erneut Soldaten. Diesmal jedoch stießen sie diese nicht einfach nur in den Graben, sondern sie warfen sie stattdessen - so weit sie konnten -, und der Haufen mit Toten breitete sich weiter und weiter im Graben aus, während die Regulatoren den Boden mit Menschen bedeckten. Das reicht jetzt!, rief Hase, und in seiner Stimme schwang nicht die leiseste Spur der sonst gewohnten Ängstlichkeit mit. Er nahm seinen Kurzbogen zur Hand, den Sorgan eigentlich eher für Dekoration gehalten hatte, und holte einen Pfeil aus dem Köcher auf seinem Rücken. Wo ist dieser Konag?, fragte der kleine Mann Tori. Ah ... Tori suchte die andere Seite des Grabens ab. Ich glaube, er steht dort rechts, Hase, sagte er. Glaubst du, du kannst ihn von hier aus treffen? Ich werde es jedenfalls versuchen, verkündete Hase, spannte die Sehne und zielte über den Pfeilschaft. Die Sehne sang, als er losließ, und sein Pfeil flog in flachem Bogen über den Graben. Der schwarz uniformierte Mann, der gerade einem Untergebenen befohlen hatte, weitere lebende Soldaten in den Graben zu befördern, um Sorgans Pflöcke abzudecken, hatte mit einem Ausdruck unverhohlener Befriedigung zugeschaut, doch diese Miene verschwand nun - stattdessen erstarrte er, denn Hases Pfeil ragte aus seiner Stirn. Dann fiel er mit leerem, gen Himmel gerichtetem Blick auf den Rücken. Wie hast du das gemacht?, fragte Sorgan den kleinen Schmied. Man nennt dies einen >Bogen<, Käpt'n, erklärte Hase, und das Ding, das dem Kerl auf der anderen Seite des Grabens aus dem 445 Kopf ragt, heißt >Pfeil<. Wenn man beides auf die richtige Weise zusammen einsetzt, kann man damit nette Sachen mit Leuten machen, die nicht nett sind. Das habe ich nicht gemeint, Hase, sagte Sorgan. Er wandte sich an Langbogen. Hast du ihm vielleicht heimlich Unterricht gegeben? Ich nicht, Hakenschnabel, antwortete Langbogen. Möglicherweise hat er es sich selbst beigebracht, nachdem er uns zugeschaut hat, wie wir auf die Wesen des Ödlands in der Schlucht mit Pfeilen geschossen haben. Das entspricht ungefähr der Wahrheit, Käpt'n, gestand Hase ein. Du musst ja stundenlang geübt haben, Hase, meinte Tori. Hase zuckte mit den Schultern. So lange dauert das gar nicht, Tori - vor allem, wenn man nur das Treffen übt. Ich habe keine Zeit mit Danebenschießen vergeudet. Er runzelte die Stirn. Vermutlich könnte ich mir auch beibringen, wie man danebenschießt, sagte er, aber wahrscheinlich brauchte ich viel Zeit, um es zu lernen. Wenn ich hart daran arbeite, werde ich es aber bestimmt lernen. Dann lachte er mit fast kindlicher Freude. Sorgan war ziemlich sicher, dass Langbogen Hase heimlich in der hohen Kunst des Bogenschießens unterrichtet hatte. Darüber unterhalten wir uns ein andermal, murmelte er.
Was meintest du?, fragte Padan ihn. Habe nur laut gedacht, antwortete Sorgan und schaute über den Graben. Ich denke, dieser eine Pfeil könnte die Lage drüben ziemlich verändert haben, sagte er. Diese Leute in roten Uniformen wirken jetzt nicht mehr so ängstlich wie vorher. Ich kenne einige Geschichten über diesen Konag, sagte Padan. Selbst die hochrangigsten Kirchenleute fürchten sich angeblich vor ihm. Haben sich vor ihm gefürchtet, berichtigte Sorgan. Jetzt, da er tot ist, wird sich wohl niemand mehr vor ihm fürchten. Vielleicht, meinte Padan und blickte wieder über den Graben zur anderen Seite. Mir scheint es, so langsam überwinden die Kirchensoldaten ihre Angst. Einer der Regulatoren hat gerade ein Schwert in den Bauch bekommen. Was für eine Schande, erwiderte Sorgan ironisch. Und da ist schon der Nächste dran, berichtete Padan. Nun kommt endlich ein wenig Schwung in die Sache. Noch gibt es keinen Grund zum Jubeln, Padan, knurrte Sorgan. Falls diese Soldaten genug Mut haben, werden sie alle Regulatoren umbringen, und dann machen sie wieder weiter mit dem alten >Ich kann schneller rennen als du< und tröpfeln zu zweit oder zu dritt den Nordhang hinunter, wo die Insektenmenschen sie zum Frühstück vernaschen. Nicht, solange deine vergifteten Pflöcke da sind. Sie müssen auf Händen und Knien krabbeln und die Pflöcke herausziehen. Das hält sie eine Weile auf, bis die restlichen Soldaten aufgeholt haben. Hoffen wir es, antwortete Sorgan skeptisch. Nicht lange nach Mittag gab es plötzlich einen grellen Blitz und einen lauten Donnerschlag. Muss das sein, Veltan?, nörgelte Sorgan gereizt. Meine Lieblingsblitzdame bringt mich überall schnell hin, Sorgan, erklärte Veltan. Verärgere sie bitte nicht. Ich brauche sie im Augenblick. Was ist denn los, Herr Veltan?, fragte Padan Zelanas jüngeren Bruder. Manchmal fand Sorgan, dass Padan es mit seiner Höflichkeit ein wenig übertrieb. Die Träumerin meiner Schwester hat gerade einige Probleme für uns gelöst, meine Herren, verkündete Veltan. Wenn ihr nach Westen schaut, seht ihr, wie sich ihre Lösung auf uns zuwälzt. Sorgan riss den Kopf herum und sah eine wirbelnde gelbe Wolke über der Gebirgskette. Was ist das?, wollte er wissen. Man nennt es >Sandsturm<, Kapitän Hakenschnabel. Vermutlich sieht man das nicht häufig draußen auf dem Antlitz von Mutter Meer. Eigentlich so gut wie nie, stimmte Sorgan zu. 446 447
Ich halte das nicht für eine gute Idee, Herr Veltan, äußerte sich Padan. Hält das nicht die Kirchensoldaten auf, die die Rampe hinaufsteigen? Der Sandsturm wütet hier draußen, Unterkommandant, und nicht dort unten, erklärte Veltan mit breitem Grinsen. Die Soldaten, die bereits oben sind, müssen Schutz suchen, diejenigen hingegen, die auf der Rampe sind und die Brücke überqueren, erfahren gar nicht, was hier los ist. Dann lachte er plötzlich. Und es wird noch besser. Ja ? Der Sandsturm weht aus Südwesten heran, und nachdem er an Gundas Mauer vorbei ist, wird er sich ganz bestimmt den Hang zum Ödland hinunterwälzen. Das könnte die Insektenmenschen ein wenig durcheinander bringen, meinte Padan und grinste. Vielleicht ein bisschen mehr als >durcheinander<, Padan, erwiderte Veltan. Die Diener des Vlagh müssen dringender Schutz suchen als die Kirchensoldaten. Dieser wunderbare Sandsturm wird sie an Ort und Stelle erstarren lassen - und die Kirchenarmeen strömen weiterhin aus der Schlucht herauf. Sie werden sich weiter voranbewegen, aber sonst niemand. Nicht einmal wir, erinnerte Sorgan ihn. Setz mich nicht unter Druck, Sorgan, sagte Veltan. An dem Teil des Plans arbeite ich noch.
47 Keselo war der Erschöpfung nahe. Es ergab gewiss Sinn, sich im Schütze der Dunkelheit und von Zelanas hilfreichen Nebelbänken zurückzuziehen, aber diese Nächte ohne Schlaf kosteten ihn eine Menge Kraft. Müde stand er mit seinem neuen Freund Omago nahe der Mitte des sechsten Walls,
während sich am Osthimmel das erste Licht zeigte. 448
Warum haust du dich nicht ein wenig aufs Ohr, Keselo?, schlug ihm Omago vor. Ich behalte alles im Auge. Vor Sonnenaufgang wird sich sicherlich keiner der Insektenmenschen bewegen. Keselo schüttelte den Kopf. Ich könnte sowieso jetzt nicht schlafen, Omago, sagte er. Unsere Feinde werden bestimmt bald angreifen, deshalb bin ich ziemlich angespannt. Obwohl es angesichts der großen Unterschiede ihrer Gesellschaften vielleicht ungewöhnlich erschien, hatte sich zwischen Keselo und Omago eine innige Freundschaft entwickelt. Sie kamen sehr gut miteinander aus, aber immer wieder war Keselo verblüfft über Omagos häufige Gedankensprünge. Hast du wieder einen Einfall gehabt, mein Freund?, erkundigte er sich. Nichts, das uns im Moment helfen könnte, gestand Omago. Ich bin auch ein wenig müde. Dieser Zustand breitet sich wohl in letzter Zeit aus, meinte Keselo. Andar ist ein sehr guter Offizier, aber er treibt seine Männer ziemlich hart an. Ich hätte da eine Idee. Wenn wir ein paar Stunden lang Wiegenlieder für ihn singen, döst er irgendwann ein, und wir könnten uns alle ausruhen. Dafür würde ihm dein Kommandant Narasan aber wahrscheinlich aufs Dach steigen, meinte Omago. Vermutlich, stimmte Keselo zu. War ja nur so ein Gedanke. Warum hältst du mich nicht mit ein paar Geschichten über Veltan wach? In der Schlucht in Zelanas Domäne habe ich ihn eigentlich nicht sehr gut kennen gelernt. Omago lächelte schwach. Wenn du willst, kann ich dir den ganzen Tag Geschichten über Veltan erzählen. Er hat sehr viel Zeit im Obsthain meines Vaters verbracht, als ich noch ein Junge war. Und Äpfel gestohlen?, fragte Keselo. Nein, für gewöhnlich war er im Frühling dort, wenn die Bäume in Blüte standen. Ein Obsthain ist im Frühjahr schöner als ein Blumengarten, und Veltan hat dort zu dieser Zeit stets einige Wochen verbracht. Dann saßen wir da herum und redeten - nun, er redete. Ich habe einfach nur zugehört. Manche Dinge über Veltan wissen nur die Menschen seiner Domäne. 449
Tatsächlich? Was denn? Einmal hat er Mutter Meer beleidigt, und sie hat ihn zur Strafe auf den Mond verbannt. Keselo hatte die Augen fast geschlossen, doch bei diesem Satz riss er sie weit auf. Habe ich das richtig verstanden?, hakte er nach. Hast du gesagt, Veltan sei auf dem Mond gewesen? Omago lachte. Oh, ja. Mutter Meer war ziemlich verärgert. Veltan musste dort Tausende von Jahren bleiben. Das allerdings war die Idee von Schwester Mond. Ihr gefiel seine Gesellschaft, deshalb belog sie ihn und sagte ihm, Mutter Meer sei noch immer wütend über das, was er gesagt hatte. Veltan war wirklieb fassungslos, als Mutter Meer ihm später erzählte, er hätte ruhig nach einem Monat oder so zurückkehren können. Das hast du dir jetzt ausgedacht, Omago, warf Keselo ihm vor. Ich erzähle nur weiter, was Veltan mir gesagt hat, behauptete Omago. Dann zögerte er. Immerhin bist du davon etwas wacher geworden, fügte er hinzu und schaute nach Osten. Bald geht die Sonne auf. Falls die Insektenmenschen ihre Regeln nicht geändert haben, sollten sie in Kürze auftauchen. Du musst mir nicht antworten, wenn du nicht willst, leitete Keselo seine nächste Frage ein, aber wie angelt sich ein einfacher Bauer wie du eine Schönheit wie deine Frau? Habe ich gar nicht, entgegnete Omago. Sie hat mich geangelt. Eines Tages kam sie im Frühsommer in meinen Obstgarten, als ich gerade die Apfelbäume ausdünnte, und sie wollte wissen, was ich da tat. Ich erklärte ihr, wie das mit dem Ausdünnen funktioniert, und dann verschwand sie wieder. Wochenlang konnte ich an nichts anderes mehr denken, nur noch an sie. Dann war sie plötzlich wieder da und hielt mir ohne Umschweife eine Ansprache, wie ich sie in meinem ganzen Leben noch nie gehört habe. Ach? Was hat sie denn gesagt? - Falls du dich erinnerst. Oh, ich erinnere mich sehr gut. Sie sagte: >Ich heiße Ära, bin sechzehn Jahre alt und will dich.< Nun, sie vergeudet nicht viele Worte, meinte Keselo. Er war 450
überrascht, wie Omagos Geschichte seine Müdigkeit vertrieben hatte. Inzwischen war er aus irgendeinem Grund hellwach. Da gibt es etwas, das ich dir unbedingt erzählen sollte, Keselo, fuhr Omago fort. Ich möchte dich nicht beleidigen, aber dieses Soldatenleben gefällt mir nicht sehr gut. Ich befehle anderen nicht gern, was sie
zu tun haben, und die Vorstellung, Dinge zu töten, die wie Menschen aussehen - auch wenn es keine sind -, bereitet mir Magenschmerzen. Er zuckte mit den Schultern. Ich schätze, irgendwer muss das erledigen, und Veltan verlässt sich schließlich auf mich. Hoffentlich habe ich nicht zu viele Fehler gemacht. Ich würde sagen, du machst deine Arbeit hervorragend, Omago, fand Keselo. Du hast den Speer erfunden und hast die Idee mit der Phalanx gehabt, schon ehe wir hergekommen sind. Wenn mein Geschichtsprofessor an der Universität wusste, wovon er geredet hat, dann hast du tausend Jahre menschlicher Geschichte in zwei Wochen hinter dich gebracht. Omago wirkte ein wenig verlegen und schaute erneut nach Osten. Die Sonne schiebt sich über den Horizont, berichtete er. In Kürze werden die Insektenmenschen die Hügel hinauf stürmen. Aus dem Ödland ertönte das vertraute Gebrüll, das von den nahen Bergwänden widerhallte, und erneut trampelten die übergroßen (und, wie Keselo glaubte, unterintelligenten) neuen Geschöpfe von Insektenmenschen den glitzernden Hang hinauf zu dem nun verlassenen Wall, den Narasans Männer in der vergangenen Nacht geräumt hatten. Wie schon zuvor, staunten die hohlköpfigen Diener des Vlagh nicht schlecht angesichts der Abwesenheit der Soldaten hinter dem Wall. Allzu intelligent sind Insekten nicht, oder?, fragte Omago. Steine sind wahrscheinlich klüger, antwortete Keselo und fühlte mit den Fingern der Rechten den Puls an seinem linken Handgelenk. Bist du verletzt, Keselo?, fragte Omago besorgt. Keselo schüttelte den Kopf. Ich zähle nur, erklärte er. Wenn 451
ich Recht habe, werden wir das nächste Brüllen dort draußen in ungefähr fünfundsiebzig Herzschlägen hören. Deines Herzens vielleicht, widersprach Omago. Mein Herz scheint schneller zu schlagen. Sie warteten, und schließlich ertönte die Stimme des Vlagh mit dem Befehl, erneut anzugreifen. Dreiundfünfzig, meldete Keselo. Irgendetwas dort draußen scheint ein wenig schneller zu sein als die anderen. Wie bist du auf die Idee gekommen, deine Herzschläge zu zählen? Das war eine der Übungen, als ich zum Soldaten ausgebildet wurde, erklärte Keselo. Sich genau an die abgesprochene Zeit zu halten, kann in manchen Situationen lebensnotwendig sein. Wenn man gelaufen ist, klappt es nicht mehr so gut, aber jetzt stehe ich schon seit dem ersten Licht an der gleichen Stelle. Er deutete mit dem Kopf auf den Wall, den sie während der Nacht verlassen hatten und der nun vom Feind besetzt wurde. Da kommen sie, stellte er fest. Und da gehen sie dahin, fügte Omago hinzu, als die angreifende Truppe auf die vergifteten Pfähle stieß. Keselo war sehr erleichtert gewesen, als Kommandant Narasan seinen Befehl zurückgenommen und wieder erlaubt hatte, die Zwischenräume zwischen den Wällen mit diesen Pfählen zu spicken, um den Angriff der Insektenmenschen zu verlangsamen. Wenn alles so abliefe, wie es sollte, würden die Kirchenarmeen bald eintreffen und Narasans Armee die Sache abnehmen, und Gunda hatte seinem Freund ans Herz gelegt, dass es wichtiger sei, das Leben so vieler seiner Männer zu schützen, als die Vorräte an Schlangengift zu schonen. Diesmal dauert es länger, bis die Nachricht das Vlagh erreicht, sagte Keselo voraus. Die Pfähle verwirren sie immer, und sie brauchen mehr Zeit, um ihren Bericht abzuliefern. Und dann wird das Vlagh wieder brüllen, und die mit dem Panzer werden angelaufen kommen und sich über die Pfähle wälzen? Exakt. Anschließend werden die Bogenschützen, sobald die Schildkröten nahe genug sind, Pfeile auf ihre Augen abschießen, 452
und das dürfte diesen Angriff beenden. An dieser Stelle gähnte Keselo. Danach können wir vielleicht ein wenig schlafen, fügte er hinzu. Wenn sie uns nun ein zweites Mal angreifen? Höchst unwahrscheinlich, mein Freund, sagte Keselo. Das haben sie noch nie getan. Dieser Feind braucht sehr lange, um seine Taktik zu ändern - für gewöhnlich Monate, manchmal Jahre, soweit ich weiß. Weck mich, wenn etwas Interessantes passiert. Er suchte sich eine halbwegs bequeme Ecke hinter dem Wall, hockte sich hin und schlief augenblicklich ein. Am frühen Nachmittag weckte Brigadekommandant Danal sie. Andar will wissen, ob du eine Erklärung für etwas Eigenartiges hast, Keselo, sagte er.
Und?, erwiderte Keselo und schüttelte den Schlaf ab. Wofür? Sieh dir Gundas Mauer an - vorausgesetzt, du kannst sie noch sehen. Keselo erhob sich und schaute den Hang hinauf zu der gelben Wolke, die über Gundas Mauer hing. Ich denke, das nennt man einen >Sandsturm<, Brigadekommandant Danal - oder vielleicht ist es auch ein Staubsturm. Wie ich gehört habe, sind solche Stürme in Wüstengegenden recht häufig anzutreffen. Du solltest Andar besser wissen lassen, dass es eine ganz normale Angelegenheit ist, Keselo. Das Ding dort oben macht ihn ziemlich nervös. Hier im Lande Dhrall passieren die seltsamsten Sachen, und Andar ist schon ganz kribbelig. Die drei gingen an dem Wall entlang zu Unterkommandant Andar. Keselo sagt, es ist etwas, das man >Sandsturm< nennt, Andar. Die Welt reißt nicht in der Mitte auf oder so. Könntest du mir das ein wenig genauer erklären, Keselo?, bat Andar. Eigentlich habe ich noch nie einen gesehen, Herr, antwortete Keselo, doch einer der Professoren an der Universität erzählte 453
uns, in den trockeneren Teilen der Welt, wo es kaum Bäume und Gras gibt, könne ein starker Wind Sand oder Staub aufwirbeln und meilenweit über den Boden wehen. Wenn der Wind sich legt, rieselt alles wieder zur Erde herunter. Wie lange dauert so etwas? Solange der Wind anhält, Herr. Das ist nicht besonders exakt, Keselo, beschwerte sich Andar. Damit wären wir beim Grundproblem, wenn man es mit dem Wetter zu tun hat, Herr, erwiderte Keselo. Beim Studium des Wetters stößt man rasch auf Phänomene, die wir eigentlich noch gar nicht verstanden haben. Wir wissen, dass es im Winter kalt und im Sommer warm ist, aber das ist praktisch schon alles, was wir mit Sicherheit behaupten können. Trotzdem wäre es nicht verkehrt, wenn die Männer Nase und Mund mit einem Tuch bedecken würden. Sand zu atmen ist für niemanden sehr gesund. Sie standen da und schauten zu, wie die gelbe Wolke sich langsam den Hang hinunterwälzte. Ich würde sagen, wir sind nicht die Einzigen, die Schwierigkeiten damit haben, meinte Danal und schaute nach unten. Die Insektenmenschen rennen ja davon, als sollten sie gefressen werden. Keselo runzelte die Stirn und ging seine Erinnerungen an die verschiedenen Seminare durch, die er an der Universität von Kaldacin belegt hatte. Dann fiel es ihm ein. Ich glaube, es könnte damit zu tun haben, wie Insekten atmen, Brigadekommandant, sagte er. Atmen ist atmen, oder? Nicht ganz, Herr. Insekten oder Käfer - oder wie immer wir sie nennen - haben keine Nase wie Menschen oder andere Tiere. Sie atmen durch eine Reihe Löcher an den Seiten. Ein kleiner, gewöhnlicher Käfer würde mit einem Sandsturm kein Problem haben, denn seine Löcher sind ja geradezu winzigst. Diese Rieseninsekten jedoch dürften wesentlich größere Atemlöcher haben. Wenn diese Käfer mitten im Sandsturm Luft holen, könnte der Sand ihnen die Atemlöcher verstopfen. Falls das geschieht, könnte das Insekt ersticken. 454
Ach, meinte Danal mit gespieltem Bedauern. Wie schade. Könnte dieser dumme Sandsturm sie nicht alle töten, Keselo?, fragte Andar. Ich glaube nicht, Herr, meinte Keselo. Das Ödland ist auch eine Wüste, und Sandstürme dürften dort häufiger vorkommen. Bestimmt wissen diese Insektenmenschen eine Möglichkeit, sich zu schützen sie graben sich vielleicht ein, oder sie häufen ihre toten Kameraden zu Stapeln auf und kriechen darunter. Jedenfalls lässt der Umstand, dass sie davonlaufen, darauf schließen, dass sie ahnen, wie gefährlich ein Sandsturm sein kann, und ich bin sicher, sie wissen instinktiv, auf welche Weise sie sich davor schützen können. Dann ertönte weit draußen im Ödland ein schriller Schrei, der nach und nach leiser wurde, während die Quelle weiter und weiter ins glitzernde Gelb der Wüste zu verschwinden schien. Ob dieses Gebrüll möglicherweise vom Vlagh selbst stammt?, fragte Omago. Könnte sein, antwortete Keselo. Aber vermutlich nicht. Das Vlagh hat viele Diener, deren einziger Lebenszweck darin besteht, die Königin zu beschützen. Sie werden dafür sorgen, dass ihm oder ihr nichts zustößt. Daran werde ich mich wohl niemals gewöhnen, meinte Andar. Gegen Frauen Krieg zu führen ist so
unnatürlich. Diese spezielle Frau hält uns jedoch lediglich für Futter, Andar, widersprach Danal. In einer solchen Situation kann ich leicht auf Höflichkeiten verzichten, was? Du solltest eins nicht vergessen, mein Freund: Wenn das Vlagh dich zum Essen einlädt, erwartet es von dir, die Hauptspeise abzugeben.
Das Binnenmeer
48 Veltan war wie die anderen durchaus skeptisch gegenüber Langbogens Behauptung gewesen, die Kirchenarmeen würden ihnen bei ihrem Kampf gegen die Diener des Vlagh unwissentlich zu Hilfe kommen, doch das plötzliche Erscheinen des Meeres aus Gold das eigentlich gar kein Gold war - und die beinahe hysterische Reaktion der versammelten Trogiten, die von Süden her eintrafen, überzeugte ihn davon, dass diese Stimme Langbogen die Wahrheit gesagt hatte. Die Frage, die Veltan jedoch größeres Ungemach bereitete, war jene, wer diese unbekannte Freundin war und wie es ihr gelingen konnte, eine so kolossale Manipulation zu bewerkstelligen. Ganz offensichtlich verfügte diese unbekannte Freundin über Fähigkeiten, die jene von Veltan oder seinen Geschwistern bei weitem übertrafen. Im Augenblick jedenfalls musste sich Veltan um wichtigere Dinge kümmern. Er sandte seinem Lieblingsblitz einen stillen Ruf, und zu seiner Überraschung beschwerte sich die Blitzdame gar nicht und knurrte auch nicht wie sonst, sondern stellte sich sofort ein. Gute Kleine, sagte er zu ihr. Wir müssen hinunter zu den Fällen von Vash und uns dort unten ein paar Leute anschauen. Er zögerte kurz. Ich will deine Gefühle ja nicht verletzen, aber könntest du diesmal ein bisschen leiser sein als sonst? Sie flackerte fragend. Ich nehme an, so wichtig ist es auch wieder nicht, Liebes, sagte er. In letzter Zeit hat es hier in der Gegend eigenartiges Wetter gegeben, und diese Fremdlinge werden sich kaum wundern -gleichgültig, was passiert. Er stieg auf und machte es sich bequem. 459
Los, Kleines, sagte er und warf einen Blick auf den Sandsturm, der langsam nachließ. Zu seiner Überraschung gab seine Lieblingsblitzdame bei der Ankunft am riesigen Wasserfall nur ein schwaches Grollen und keinen ohrenbetäubenden Donnerschlag von sich. Gutes Mädchen, sagte er. Das war sehr nett. Warte hier. Ich bin in ein paar Minuten wieder da. Er stieg ab und schwebte durch die Luft auf die simpel konstruierte Brücke zu, welche die trogitische
Rampe mit dem oberen Rand der Schlucht verband. Die rot uniformierten Soldaten der amaritischen Kirche marschierten die Rampe hinauf, und nur wenige waren unten noch verblieben. Nun, wunderbar, murmelte Veltan. So wie es aussieht, ist dies das Ende der Kolonne. In einem halben Tag sind alle oben. Dann sah er ein bekanntes Gesicht zwischen den Trogiten auf der Rampe. Ich schätze, das beantwortet diese gewisse Frage, sagte er, während er den hageren früheren Soldaten Jalkan betrachtete, der auf dem Weg nach oben von einem schwitzenden, schnaufenden fetten Kirchenmann begleitet wurde. Die beiden waren umgeben von den düster dreinschauenden Wachen in den schwarzen Uniformen der Regulatoren. Veltan spitzte die Ohren und lauschte, ob die beiden Feinde vielleicht etwas Nützliches ausplauderten. Nun noch ein kleines Stück, Adnari, sagte Jalkan in dieser näselnden Sprechweise, die Veltan nie hatte ertragen können. Ich muss kurz verschnaufen, Jalkan, keuchte der fette Mann, blieb stehen und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Nein, beharrte Jalkan. Wir können die Rampe nicht blockieren. Die letzte Brigade ist hinter uns, und wir dürfen sie nicht aufhalten. Ich schere mich nicht um die Soldaten, Jalkan!, fuhr der Fette auf. Ihr Lebenszweck besteht darin, der Kirche zu dienen, und in diesem Teil der Welt bin ich die Kirche. Nicht im Krieg, Adnari Estarg, widersprach Jalkan. Nicht, solange du etwa selbst das Kämpfen und Sterben übernehmen möchtest. Die Soldaten in der Brigade wissen, dass sich vor uns Gold befindet, und wenn du sie aufhältst, könnten sie sich dazu entschließen, sich deiner einfach zu entledigen, indem sie dich über die Seite der Rampe schieben. Und da geht es ein ganz schönes Stück nach unten. Das würden sie nicht wagen! Möchtest du wirklich dein Leben darauf wetten, Adnari? Der Fette schaute über die Schulter zurück zu den ungeduldigen Männern in roten Uniformen, die ihn finster anstarrten. Die Regulatoren werden mich beschützen, Jalkan, behauptete er. Würdest du darauf ebenfalls dein Leben wetten?, wollte Jalkan wissen. Nachdem Konag nicht mehr unter uns weilt, können wir niemandem mehr wirklich vertrauen. Konag war der Kerl mit der eisernen Faust, und die anderen Regulatoren haben ihm aus Angst gehorcht, und diese haben dann den Soldaten der fünf Armeen wiederum Angst eingeflößt. Konag war der Schlüssel, und ohne ihn können wir keine Türen mehr abschließen. Veltan kratzte sich nachdenklich die Wange, als ihm plötzlich etwas einfiel. Etwas - oder wahrscheinlicher: jemand- hatte den klugen kleinen Hase dazu gebracht, etwas für ihn sehr Untypisches zu tun. Zunächst hatte er sich einen Bogen gebaut, obwohl sich die Maags ansonsten überhaupt nicht für das Bogenschießen interessierten. Dann hatte sich der kleine Mann fürchterlich aufgeregt über Konags Brutalität und Gewalttätigkeit gegenüber den Kirchensoldaten, die davonliefen und vor ihren Kameraden das falsche Gold erreichen wollten. Und schließlich hatte Hase, der als Bogenschütze bestenfalls ein Anfänger hätte sein dürfen, Konag mit einem einzigen Pfeil über eine riesige Distanz hinweg erledigt. Ich würde sagen, da hat in letzter Zeit doch jemand ganz kräftig die Finger im Spiel gehabt, grübelte Veltan. Er hörte Geschrei von den rot uniformierten Soldaten, die gerade die Brücke überquert und den Rand der Schlucht erreicht hatten, und das lauteste Wort war: Gold! 460 461
Veltan blickte nach Norden über den Grasbewachsenen Talkessel hinweg. Aus dem Ödland ragten gelb gesprenkelte Spitzen auf, doch das wahre Meer aus Gold lag unterhalb der nördlichen Bergkette und jenseits von Gundas Mauer. Von hier konnte es nicht zu sehen sein, aber dennoch war es da, hell und glänzend und eindeutig zu sehen. Es gab mehrere unwahrscheinliche Möglichkeiten, die vielleicht erklärten, wie etwas, dass außer Sicht sein sollte, plötzlich zu sehen war. Gelegentlich hatte Veltan schon einmal Luftspiegelungen erlebt, diese umgekehrten Reflexionen weit entfernter Dinge, doch in der Vergangenheit hatte sich meist nur Wasser darin gespiegelt. Anscheinend ist Langbogens Freundin recht einfallsreich, murmelte Veltan. Sehr schön, fügte er grinsend hinzu.
Ich wünschte, du würdest das nicht ständig tun, Veltan, beschwerte sich Sorgan Hakenschnabel, als Veltans Lieblingsblitz ihn kaum ein paar Schritt entfernt von dem Piraten absetzte. Ich erschrecke mich jedes Mal zu Tode. Ich werde es meinem Blitz sagen, Sorgan, versprach Veltan, aber ich weiß nicht, ob die Gute darauf hört. Sie erschreckt so gern Menschen. Er schaute hinunter auf Sorgans dritten Graben. Ihr schlagt immer noch Pflöcke ein, stellte er fest. Es lohnt sich, Veltan, meinte Sorgan. Wir wollen die Kirchentrogs dadurch ja aufhalten, und sie brauchen eine Weile, bis sie die Pflöcke wieder ausgegraben haben. Dann kicherte er. Wir haben allerdings ein wenig gemogelt. Gemogelt? Wir vergeuden das Gift nicht mehr. Die Kirchentrogs kriechen auf Händen und Knien durch die Gräben und buddeln die Pflöcke mit äußerster Vorsicht aus, die aber nur aus einfachem Holz bestehen. Solange sie nur glauben, dass die Pflöcke sie töten können, wird der Vormarsch verlangsamt. Ich denke, wir sollten die Regeln ein wenig ändern, Sorgan, schlug Veltan vor. Die letzte Kirchenarmee befindet sich bereits auf dem Weg zum Rand. Jetzt, da fast alle hier oben sind, wo sie 462
hingehören, sollten wir uns zurückziehen, damit sie den Insektenmenschen guten Tag sagen können. Hoffentlich weiß Langbogen, wovon er redet, sagte Sorgan ein wenig skeptisch. Bist du sicher, diese Kirchentrogs werden tun, was wir von ihnen wollen? Veltan nickte. Langbogens Freundin hatte noch einen weiteren Trick eingesetzt. Aus dem Ödland ragen ein paar Berge auf, doch als der Hauptteil der Kirchenarmee den Talkessel über den Fällen erreichte, hatte sie den Soldaten einen wesentlich hübscheren Anblick präsentiert. Sie konnten durch eine Luftspiegelung das gesamte Ödland sehen - und den ganzen Sand, den sie dort zu ihrem Vergnügen verstreut hat. Jetzt würden sie ihr Leben geben, um dorthin zu gelangen und sich den Sand zu holen. Wie hat sie das angestellt? Woher soll ich das wissen? Sie ist mir so sehr überlegen, dass ich überhaupt nicht begreife, was sie macht. Zieh dich also zurück, Sorgan. Wir sollten hier nicht länger im Weg herumstehen. Der Rückzug wird eine Weile dauern, Veltan, erklärte Sorgan. Meine Männer müssen erst diese Pflöcke wieder herausziehen, wenn die Trogs schneller vorankommen sollen. Darum könnte ich mich doch kümmern, oder, Sorgan?, fragte Veltan und grinste breit. Meine Lieblingsblitzdame hat ein wenig Unterhaltung verdient. Bestimmt wird sie es genießen, deine Pflöcke in rauchende und verkohlte Holzspäne zu verwandeln, und warum lassen wir ihr den Spaß also nicht? Was ist denn dort unten los, Veltan?, fragte Kommandant Narasan, als der Blitz Veltan auf dem zentralen Turm von Gundas Mauer absetzte. Alles läuft so, wie wir es uns gewünscht haben, mein Freund. Lillabeths Sandsturm hat uns die Sache erleichtert. Diese fünfte Kirchenarmee hat endlich den Rand der Schlucht erreicht, also sind jetzt alle oben. Ich habe Sorgan geraten, sich zurückzuziehen und diese gierigen Kirchenrabauken herkommen zu lassen. Padan ist durch Sorgans Gräben gegangen, als er seine Männer 463 zurückgezogen hat, nachdem die Kirchenleute die Brücke zu bauen angefangen haben, sagte Narasan daraufhin. Nach dem, was er mir erzählt hat, werden Sorgan und seine Männer nicht weit kommen, wenn sie sich entscheiden, nach Osten zu gehen. Daher muss er wohl die westlichen Berge hinaufsteigen, oder? Veltan schüttelte den Kopf. Mir hat er gesagt, er würde eine kleine Truppe hinter der letzten Barrikade zurücklassen, die die Kirchenarmeen aufhalten soll, und dann würde seine Haupttruppe nach Norden bis zum Geysir gehen und von dort aus nach Osten. Was geschieht denn mit den Männern, die er zurücklässt? Veltan lächelte. Sorgan hat mir gesagt, dass diese Männer die schnellsten Läufer seiner gesamten Armee seien. Er war sicher, die würden den Kirchensoldaten davonrennen, ohne auch nur ins Schwitzen zu geraten. Er hielt inne. Beinahe hätte ich eine Neuigkeit vergessen, die euch allen große Freude bereiten wird. Ja? Der hagere Jalkan - und ein sehr fetter Estarg - schauen auf einen Besuch vorbei. Leider werden wir sie hier nicht empfangen können, da wir damit beschäftigt sind, uns vor ihnen zu verziehen.
Du würdest doch nicht etwa eine kurze Verzögerung in Betracht ziehen, Veltan?, fragte Narasan. Was hättest du denn im Sinn, Narasan? Nun, etwas sehr Langsames - und schön Schmerzvolles. Warum überlassen wir ihn nicht den Dienern des Vlagh, Narasan?, schlug Veltan vor. Sie haben Möglichkeiten, Schmerzen zu bereiten, die über unsere Vorstellungskraft weit hinausgehen. Veltan zögerte. Das Ganze entwickelt sich doch zu einem höchst ungewöhnlichen Krieg, nicht wahr? Plötzlich stehen wir am Rand des Schlachtfelds und jubeln frenetisch, während unsere beiden Todfeinde sich gegenseitig auslöschen. Da kann ich dir nur aus tiefstem Herzen zustimmen: Solche Kriege sind die besten, die eine Armee führen kann, antwortete Narasan. Dann runzelte er die Stirn. Werden meine Männer genug 464 Zeit haben, um ein Loch in Gundas Mauer zu brechen?, fragte er. Wenn die Kirchenarmeen das selbst erledigen müssen, wird es sie aufhalten, und das würde den Insektenmenschen vielleicht zu einem Vorteil verhelfen, den wir ihnen nicht vergönnen. Überlass das nur mir, Narasan, schlug Veltan vor. Meine kleine Lieblingsblitzdame war in letzter Zeit sehr nützlich, daher schulde ich ihr ein wenig Unterhaltung. Nichts macht sie so gern, wie ein wenig Zerstörung anzurichten, und ein Loch durch Gundas Mauer zu schlagen, das würde ihr riesigen Spaß bereiten.
49 Rotbart war recht zufrieden damit, welchen Lauf die Dinge in der Domäne von Zelanas Bruder nahmen. Er hatte gehofft, alles würde ein wenig langsamer vonstatten gehen, doch der Sieg blieb das vorrangige Ziel, und ob er schnell oder langsam erreicht wurde, war von untergeordneter Bedeutung. Sobald dieser Krieg beendet wäre, würde mit großer Sicherheit ein neuer beginnen, und natürlich wäre er verpflichtet, auch an jenem teilzunehmen. Und nach dem dritten würde ein vierter folgen. Rotbart war sicher, dass diese Kriege so lange weitergehen würden, bis sein Stamm entschied, jemand anderes sei besser dazu geeignet, die Bürde des Häuptlings zu tragen, und genau darin bestand Rotbarts vorrangiges Ziel im Leben. Als Padan seine Männer von den Fällen von Vash abgezogen hatte, nachdem die Kirchenarmeen die Brücke zwischen Rampe und Rand des Talkessels fertig gestellt hatten, entschied sich Rotbart, noch zu bleiben. Hier war es viel interessanter als in dem Grasbewachsenen Talkessel, und Freund Langbogen würde möglicherweise Hilfe brauchen. Die beiden stießen zu Sorgan Hakenschnabel, der gerade seine Männer von den Barrikaden am Westufer des oberen Vash abzog. Veltan ist recht zufrieden damit, wie die Dinge laufen, berich465 tete Sorgan, während sie flussaufwärts zu dem kolossalen Geysir gingen, der die Quelle des Vash bildete. Wir haben nicht allzu viele Fehler gemacht, meinte Langbogen. Musst du es stets so negativ sehen, Langbogen?, wollte Sorgan wissen. Langbogen zuckte mit den Schultern. Gewohnheit, schätze ich, sagte er. Wenn man das Schlimmste erwartet, ist alles, das nicht fürchterlich ist, eine erfreuliche Überraschung. Ich wollte dich etwas fragen, Langbogen, sagte Sorgan. Soweit ich sagen kann, hattest du nur wenig Zeit, Hase den Umgang mit diesem Bogen beizubringen, aber plötzlich ist er ein fast so guter Schütze wie du? Wie hast du das hinbekommen? Habe ich nicht, erwiderte Langbogen. Anscheinend hat er sich das selbst beigebracht. Hase wäre dazu klug genug, nehme ich an, meinte Sorgan ein wenig skeptisch, aber muss man nicht viel üben und jahrelang Erfahrung sammeln, um so gut mit Pfeil und Bogen umgehen zu können? Langbogens Blick schweifte zum Horizont. Als er diese eisernen Pfeilspitzen für mich gehämmert hat, haben wir uns darüber unterhalten, wie man mit dem Pfeil das trifft, was man gern treffen möchte. Vermutlich hat er sich an das erinnert, was ich ihm erklärt habe. An diesen Mystizismus von wegen >Einheit, fragte Rotbart. Ich habe dich nicht verstanden, als du mir das erklärt hast. Ich glaube, so kompliziert ist das gar nicht, Rotbart, meinte Langbogen. Ich habe ein wenig darüber nachgedacht, und ich bin mir fast sicher, die Einheit mit dem Ziel muss vorhanden sein, wenn der Bogenschütze seinen Pfeil fliegen lässt. Wenn sie einmal da ist, wird sie immer da sein. Falls nicht,
wird sie niemals entstehen. Vielen Dank für die überaus einleuchtende Erklärung, Langbogen, meinte Rotbart sarkastisch. Das war nicht als Beleidigung gemeint, Freund Rotbart, sagte Langbogen. Wahrscheinlich hatte ich einfach Glück, als ich zum 466 ersten Mal einen Pfeil aufgelegt habe. Unser Schamane, Einer-Der-Heilt, hat oft über die Einheit von Schütze, Pfeil und Ziel gesprochen, wenn die Jungen in unserem Stamm anfingen, mit Pfeil und Bogen zu üben. Ein paar von uns probierten aus, ob es auf diese Weise funktionieren würde. In der Tat gelang es, und die anderen Jungen wurden sauer, weil sie es nicht mehr hinbekamen, wenn sie ihren ersten Pfeil vor dieser Erklärung abgeschossen hatten. Falls Hase zufällig daran dachte, als er seinen ersten Schuss versuchte, ist es da, und er wird es für immer behalten. In meinen Ohren klingt das ein wenig weit hergeholt, Langbogen, sagte Sorgan. Was mich viel mehr verwundert, ist hingegen, weshalb sich Hase so sehr über diesen Konag aufgeregt hat? Aus irgendeinem Grund war er richtig wütend auf diesen Kerl. Ich bin nicht ganz sicher, Sorgan, sagte Langbogen. Vielleicht war es einfach die Entscheidung dieser unbekannten Dame, die uns hilft. Falls Konag ihren Plan störte, musste sie ihn loswerden. Da Hase zufällig in der Nähe war, hat sie ihn benutzt, um sich eine Ungelegenheit vom Hals zu schaffen. Dann, während sie auf den Geysir im Norden zumarschierten, hörte Rotbart ein dumpfes Grummeln aus der Tiefe, und er blickte sich mit einer gewissen Besorgnis um, da er sich lebhaft an den doppelten Feuerberg erinnerte, der das Dorf Lattash zerstört und ihm diesen unerwünschten Posten als Häuptling verschafft hatte. Rotbart und Langbogen waren ein Stück hinter Sorgans Männern zurück, während sie zügig am Westufer hinauf zum Geysir liefen. Die Kirchensoldaten waren zunächst eher vorsichtig nach Norden gezogen, doch als sie erkannten, dass die Gräben nicht mehr mit vergifteten Pflöcken gespickt waren und sich Sorgans flinke Nachhut nach Norden zurückzog, marschierten sie schneller voran und durchbrachen die Barrikaden. Wie viel weiter nach Norden müssen Sorgans Männer noch, bis sie den Geysir erreichen?, fragte Rotbart seinen Freund. Ein paar Meilen nur, antwortete Langbogen. Vielleicht sollten wir ihnen vorschlagen, sich ein wenig zu be467 eilen, meinte Rotbart. Diese rot uniformierten Soldaten steigen ihnen sonst bald aufs Dach. Sorgan wird sich nach Osten wenden, sobald er den Geysir passiert hat, erklärte Langbogen. Er hat genug Vorsprung vor diesen Trogiten, um verschwunden zu sein, ehe sie ihn einholen können. Dann ließ sich wieder ein Grummeln aus der Tiefe vernehmen, und der Boden erbebte unter ihren Füßen. Das macht mich jetzt doch langsam ein wenig nervös, sagte Rotbart. Es ist kein gutes Zeichen, wenn die Erde so zittert. Sag ihr doch, sie möge damit aufhören, erwiderte Langbogen. Ich weiß zwar nicht, ob sie darauf hört, aber Fragen kostet ja nichts. Sehr lustig, Langbogen, meinte Rotbart. Dann plötzlich gab es einen grellen Blitz und einen scharfen Donnerschlag, und der graubärtige Dahlaine war da. Ihr solltet den Maags von Schwester Zelana besser sagen, dass sie den Talkessel so schnell wie möglich verlassen müssen, sagte er. Ashad hatte gerade wieder einen dieser Träume, und ich bin fast sicher, es wird etwas Schreckliches in dieser Gegend geschehen. Wieder Feuerberge?, fragte Rotbart mit einem flauen Gefühl im Magen. Genau weiß ich es nicht, antwortete Dahlaine. Ashad hat sich nicht sehr genau darüber ausgelassen. Irgendetwas geht da unten vor sich, aber was, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Teilt Sorgan mit, er solle sich beeilen. Ich warne unterdessen Narasan. Sorgan, Tori und Hase standen an der beachtlichen Bodenspalte, wo der Geysir, welcher die Quelle des Flusses Vash gebildet hatte, in den vergangenen fünfundzwanzig Äonen hoch in die Luft geschossen war, und die drei wunderten sich ziemlich über die Tatsache, dass diese gigantische Fontäne plötzlich verschwunden war. Was ist denn hier los?, wollte Sorgan wissen und deutete auf das Loch in der Erde. 468
Ich würde lieber nicht so lange hier herumstehen, bis wir es herausgefunden haben, Sorgan, erwiderte Langbogen. Dahlaine hat bei uns vorbeigeschaut und uns gewarnt, hier würde vermutlich in Kürze etwas Scheußliches passieren. Was genau meinst du mit >scheußlich<, Langbogen?, hakte Hase nach, als die Erde erneut bebte. Beantwortet das deine Frage, Hase?, meinte Rotbart zu dem kleinen Schmied. In diesem Teil der Welt haben wir jedenfalls gelernt, keine weiteren Fragen zu stellen, wenn der Boden bebt. Am besten ist es in dem Fall, die Beine in die Hand zu nehmen und davonzurennen. In welche Richtung?, wandte sich Sorgan mit aufgerissenen Augen an Langbogen. Der östliche Gebirgszug ist ein wenig näher, Sorgan, antwortete Langbogen, und in dieser Situation ist näher gleich besser, und rennen ist wesentlich besser als gehen. Meinst du, unsere unbekannte Freundin treibt wieder ein Spielchen?, erkundigte sich Tori bei Langbogen. Warum rennen wir nicht erst einmal los?, schlug Langbogen vor. Die Fragen können wir uns dann später stellen. Und schnell zu rennen ist wahrscheinlich erheblich besser als langsam zu rennen, fügte Rotbart hinzu. Richtig schnell, wenn ihr meine Meinung hören wollt. Gib es an die anderen weiter, Vetter, sagte Sorgan zu Tori. Sag den Männern, sie sollen so schnell sie können nach Osten rennen -und lass sie ruhig wissen, dass ihr Leben davon abhängt.
50 Ashad hatte sich benommen, als würde sich sein Traum in dieser Nacht im Talkessel oberhalb der Fälle von Vash doch recht deutlich von jenem unterscheiden, den er in unserer Höhle unter dem Berg Shrak gehabt hatte, ganz zu Anfang der ganzen Geschichte. In sei469 ner Stimme schwang eine Dringlichkeit mit, die damals in der Höhle nicht zu bemerken gewesen war. Seine Hinweise mochten zwar vage sein, doch beschlich mich das Gefühl, die bevorstehenden Ereignisse bereiteten ihm eine ziemliche Angst. Es blieb nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, wurde mir klar, und so riet ich Veltan und meinen Schwestern, die Träumer zu nehmen und den Talkessel zu verlassen. Hätte Ashad mir mehr Einzelheiten erzählt, wäre ich in der Lage gewesen, mich präziser zu äußern, doch nachdem Yaltars Zwillingsvulkane die Schlucht oberhalb von Lattash unpassierbar gemacht hatten, wussten wir, dass man den Naturkatastrophen, welche die Träumer auslösten, besser aus dem Weg ging. Dann ritt ich auf meiner Blitzdame zu Sorgan, Langbogen und Rotbart, um sie zu warnen, und schließlich machte ich mich zu Narasan auf. Steht uns wieder so etwas wie der Ausbruch der Zwillingsvulkane bevor, durch den der Kampf in der Schlucht entschieden wurde?, erkundigte sich Narasan recht angespannt. Ich bin mir nicht ganz sicher, Kommandant, räumte ich ein. Gehen wir lieber trotzdem in Deckung. Ich denke, es wäre am besten, wenn du deine Männer aus diesem Talkessel bringst. Ist dein Freund Padan hierher gekommen, nachdem er seinen Posten unten an den Fällen von Vash aufgegeben hat, oder hat er sich nach Osten bewegt? Er ist hierher gekommen. Jetzt hat er den Befehl über die Männer im Westen. Du solltest ihn besser benachrichtigen, schlug ich vor. Gehen wir lieber kein Risiko ein. Ich schaute den Hang hinunter zu den Barrikaden, die Narasans Männer errichtet hatten, um die Invasion der Diener des Vlagh aufzuhalten. Haben die Insektenmenschen sich schon von Lillabeths Sandsturm erholt?, fragte ich. Noch nicht vollständig, glaube ich. Ihre Angriffe auf den dritten Wall dort unten waren ein wenig zögerlich, und wir wissen eigentlich gar nicht, wie viele Insektenmenschen dem Vlagh noch zur Verfügung stehen, aber ich bin sicher, dass eine stattliche Anzahl während des Sturms erstickt ist. Es könnte eine Weile dauern, bis das Vlagh sie ersetzt hat. Ich schätze, so viel Zeit hat das Vlagh nicht, Narasan, sagte ich zu ihm. Die Kirchenarmeen sind unterwegs, und es dauert nicht mehr lange, dann werden sie deine Mauer erreichen. Du solltest deine Männer lieber vom Hang zurückziehen und sie ebenfalls nach Osten schicken. Bringen wir alle Leute außer Gefahr. Gut, stimmte der Kommandant zu. Dann drehte er sich um. Gunda!, rief er. Ich brauche dich hier - und zwar sofort! Narasans Freund mit dem schütteren Haar lief über die Mauer herbei. Gibt es Schwierigkeiten?, wollte
er wissen. Ich weiß nicht, ob >Schwierigkeiten< das richtige Wort ist, Gunda. Schick einen Melder nach Westen zu Padan, er und seine Männer sollen ihre Stellungen verlassen und so schnell wie möglich hierher kommen. Und benachrichtige auch Andar. Seine Männer will ich hier ebenfalls sehen. Die Insektenmenschen werden über uns herfallen, ehe die Sonne untergeht, wenn wir das tun, Narasan, protestierte Gunda. Aber nicht, wenn wir nicht mehr hier sind. Wir müssen ein wenig vom Plan abweichen, Gunda. Ich glaube, die Devise heißt mal wieder: >davonrennen<. Herr Dahlaine hat mir gerade erzählt, die Kinder würden wieder Spielchen treiben, und wir wollen ihnen schließlich nicht in die Quere kommen. Narasan hielt inne, ehe er sich wieder an mich wandte. Veltan hat uns gesagt, er und sein Lieblingsblitz würden einen Durchlass in Gundas Mauer schlagen, damit die Kirchenarmeen hindurchmarschieren und den Insektenmenschen guten Tag sagen können. Kannst du ihm vielleicht Bescheid sagen, dass wir diese Öffnung bald brauchen werden? Ich lächelte. Mein Lieblingsblitz ist genauso kräftig wie Veltans, Kommandant. Da Veltan wohl woanders zu tun hat, wird mein Blitz diesmal das Vergnügen haben. Wenn die Kirchenarmeen eintreffen, wird sie eine breite Prachtstraße erwarten. Sämtliche Offiziere in Narasans Armee schienen den Begriff Logistik sehr zu mögen, den ich ungefähr so verstand: die richtigen ■
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Leute und die richtige Ausrüstung zur richtigen Zeit an den richtigen Ort bringen. Die Militärsprache ist manchmal ein wenig steif, ist mir aufgefallen. Das Hauptproblem für Narasans Männer bestand darin, dass Gundas Mauer am Fundament nur ungefähr dreißig Fuß und weiter oben noch schmaler war. Da nun ungefähr hunderttausend Mann zum östlichen Gebirgszug verlegt werden mussten, würde dieses Vorhaben mehr Zeit kosten, als wir uns meiner Meinung nach leisten konnten. Glücklicherweise kam dieser junge Offizier Keselo von den Barrikaden zurück, die Narasan hatte anlegen lassen, um den Anmarsch der Wesen des Ödlands zu bremsen, als zunehmend klar wurde, dass Narasans Männer die Bergkette nicht rechtzeitig erreichen würden. Seine Lösung war so einfach, dass ich mich fragte, weshalb Narasan und seine höheren Offiziere nicht darauf gekommen waren. Sie schauten ein wenig dämlich drein, als der junge Mann sagte: Wie wäre es denn mit Leitern, hm? Wir haben doch diese Strickleitern, und jeder Mann, der nach unten klettert und auf der Südseite der Mauer läuft, ist einer weniger, der uns hier oben im Weg steht. Zählen wir die Punkte eigentlich, Narasan?, fragte Padan seinen Freund. Falls dem nämlich so ist, solltest du einen für Keselo aufschreiben. Der Boden auf der Südseite von Gundas Mauer ist eben und breit, und auf Erde läuft man entschieden besser als auf Steinen. Ist ja schon gut, Padan, erwiderte Narasan. Sobald Andars Männer oben sind, holt ihr die Strickleitern ein und bringt sie zur Südseite. Na, los, meine Herren, ein wenig Bewegung, bitte. Es riecht stark nach einer im Anzug befindlichen Katastrophe, und wir wollen doch nicht mehr hier sein, wenn sie eintrifft. Die Kirchenarmeen kommen vom Süden herauf, Narasan, berichtete Gunda ein paar Stunden später. Sind unsere Männer schon in Sicherheit?, fragte dieser. Die meisten, erwiderte Gunda. Natürlich gibt es einige Tröd472
ler, aber die werden sich bestimmt beeilen, sobald Herr Dahlaine das große Loch in die Mauer reißt. Die Mauer war wirklich gut, finde ich, jedoch ist es nun wohl an der Zeit, Abschied zu nehmen. Narasan sah mich an. Sollten meine Männer und ich irgendwo Schutz suchen?, erkundigte er sich. Nur für den Fall, dass Steine durch die Luft fliegen? Gewiss weißt du schon, was ich meine. Ich betrachtete die raue schwarze Mauer und stellte einige grobe Berechnungen an. Wahrscheinlich seid ihr nicht gefährdet, Kommandant, versicherte ich ihm. ich werde meine Blitzdame von Süden kommen lassen, und nicht direkt von oben. Auf diese Weise schiebt sie die Steine den Nordhang hinunter. Eigentlich müsste uns das sogar noch einen Vorteil verschaffen. Ein plötzlicher Hagelsturm von fliegenden Steinen wird die Wesen des Ödlands zwingen, Deckung zu suchen, und die Kirchensoldaten können über sie herfallen, ehe sie sich wieder aufgerappelt haben. Wie schade, erwiderte Narasan und grinste boshaft. Aber ihr solltet euch die Ohren zuhalten, meine Herren, warnte ich sie. Laute Geräusche können Gehörschäden verursachen, und in Kürze wird es hier sehr laut werden. Dann rief ich meine Blitzdame und scheuchte sie gegen die Südseite von Gundas Mauer.
Wie fast immer, so übertrieb sie auch diesmal ein wenig, und eine stattliche Anzahl von Steinen, die Gundas Mauer gebildet hatten, flogen meilenweit nach Norden, und als sie weit draußen im Ödland aufschlugen, wirbelten sie große Wolken des glitzernden gelben Sandes auf, den die Kirchensoldaten so verlockend fanden. Der Lärm war ohrenbetäubend, doch nachdem er verklungen war, erhob sich ein anderes Grollen aus den Tiefen der Erde, und abermals erbebte die Erde. In diesem Moment hatte ich eine Idee. War es vielleicht möglich, dass Langbogens unbekannte Freundin unbedingt immer die Beste sein wollte? Ich hatte doch gerade ein sehr lautes Geräusch erzeugt, aber ihres war noch lauter. Beeindruckend, murmelte Narasan. Einen Augenblick dachte ich, du hättest dich entschlossen, Gundas Mauer bis zu der Schlucht in der Domäne deiner Schwester zu schleudern. 473
Das wäre nicht sehr höflich gewesen, Kommandant, sagte ich Ich versuche stets, meine Schwestern nicht zu verärgern. Sie beschweren sich immer jahrelang, wenn ich versehentlich einen Fehler mache. Mir scheint es, die Obren dieser Kirchensoldaten haben ihren Dienst gemeinsam mit ihrem Verstand quittiert, merkte Gunda an. Sie haben nicht einmal kurz innegehalten, als diese Donnerschläge niedergingen. Stattdessen rennen sie so schnell sie können in unsere Richtung. Sie sind so nette Kerle, fügte Padan grinsend hinzu. Der Turm, auf dem wir standen und zuschauten, war ein wenig höher als die Ruinen der Mauer, und so hatten wir einen freien Blick auf die Geschehnisse unten. Die rot uniformierten Kirchensoldaten strömten durch die Bresche, die meine Lieblingsblitzdame geschlagen hatte. Nun hielten sie kurz an, als sie die riesige Wüste aus glitzerndem Sand unter sich erblickten, und ich konnte ihre überwältigende Gier fast riechen. Dann setzten sie ihren blinden Sturm fort, rannten den Hang hinunter und kletterten über den ersten von Narasans Steinwällen. Und da kommen die Insektenmenschen, beobachtete Padan, der hinunter in die Wüste spähte. In ein oder zwei Minuten werden wir erfahren, ob Langbogens Freundin wusste, was sie tat. Wenn diese Kirchensoldaten kehrtmachen und wegrennen, könnte es hier oben ziemlich interessant werden. Die Chance ist nicht sehr groß, Padan, sagte Gunda zu seinem Freund. Ich würde sagen, die Intelligenz der Insektenmenschen übertrifft inzwischen die der Kirchensoldaten. Hier liegt eine Menge Dummheit in der Luft. Die übergroßen Insektenmenschen, die das Vlagh für diesen speziellen Krieg gezüchtet hatte, waren offensichtlich überaus ungeschickt. Sie stolperten voran und warfen sich den besser bewaffneten Trogiten entgegen, doch nur wenige von ihnen überlebten. Aus den Reihen der Trogiten erhob sich triumphierender Jubel. Gut, gut, sagte Padan dann, ich glaube, ich habe gerade ein 474
bekanntes Gesicht gesehen. Wenn ich mich nicht irre, ist der hagere Jalkan gerade ins Land Dhrall zurückgekehrt. Ohne ihn hat mir doch etwas gefehlt. Daraufhin trat Omago von der anderen Seite des Turmes vor. Begleitet wurde er von Keselo. Wo?, fragte er Padan, und seine sonst freundliche Stimme klang überaus unangenehm. Drüben auf der Westseite der Wälle, erwiderte Padan und zeigte in die entsprechende Richtung. Wo ist Langbogen, jetzt, da wir ihn brauchen?, murmelte Narasan. Nicht so eilig, Kommandant, beruhigte ich ihn. Wenn du genau hinschaust, siehst du die glänzenden Fäden auf der anderen Seite der Barrikade. Ich glaube, Jalkan und der fette Mann, der bei ihm ist, werden im nächsten Augenblick eine garstige Überraschung erleben. Ja, ich sehe die Fäden, erwiderte Narasan mit zusammengekniffenen Augen. Das deutet auf eine Spinnenschildkröte hin, nicht wahr? >Deutet< nicht nur >hin<, Kommandant, sagte ich. Ich habe so das starke Gefühl, Jalkan nähert sich dem Ende seiner Laufbahn worin seine gegenwärtige Laufbahn auch gerade bestehen mag. Wie schade, meinte Padan ironisch. Hat zufällig jemand eine Ahnung, welches Datum wir heute haben?, erkundigte sich Gunda. Wozu brauchst du das Datum, Gunda?, wollte Padan neugierig wissen. Ich habe mich vor einer ganzen Weile noch in Castano mit Andar darauf geeinigt, dass wir Jalkans Todestag zum nationalen Feiertag im Imperium ausrufen sollten. Todestag?, hakte Padan nach. Wie Geburtstag, nur ist bei Jalkan >Todestag< viel schöner als >Geburtstag<, oder etwa nicht? Dagegen habe ich nichts einzuwenden, Gunda. Jalkan half seinem fetten Gefährten über die Barrikade, dann folgte er selbst - und schaffte fast drei
Schritte. Dann blieb er 475
abrupt stehen und begann an dem fein gesponnenen Netz zu zerren, in dem er gefangen war. Sein fetter Gefährte ignorierte seine Hilfeschreie und eilte weiterhin auf die glänzende Wüste aus falschem Gold zu, die sich nur wenige Schritte von ihm entfernt bis zum Horizont erstreckte. Plötzlich blieb auch er mit einem Ruck stehen, als ihn eine seidene Spinnwebe erwischt hatte. Sind diese Spinnweben wirklich so fest?, fragte Gunda. Sehr fest, versicherte ich ihm, und sie sind dehnbar. Je mehr die beiden sich wehren, desto übler verfangen sie sich am Ende darin. Dann kam die gepanzerte Spinne aus ihrem hastig erbauten Schlupfwinkel hinter der Barrikade und spann eilig weiteren Faden, um die beiden Gefangenen zu fesseln. Warum verschwendet die Spinne ihre Zeit damit, ein Netz zu weben?, erkundigte sich Gunda neugierig. Warum tötet sie ihr Opfer nicht einfach? Ich fürchte, das willst du gar nicht unbedingt wissen, warnte ich ihn. Eigentlich doch, ja, beharrte er stur. Also gut, sagte ich. Spinnen fangen ihre Beute in ihren Netzen zum Fressen, aber da Spinnen nicht wie andere Insekten Mandibeln haben, enthält das Spinnengift eine stark verdauende Flüssigkeit, die die inneren Organe - und das Fleisch - der Opfer verflüssigt. Am Ende saugt die Spinne diese Flüssigkeit einfach aus ihrer Beute. Das Gift tötet sie aber doch, oder? Es lähmt die Beute sofort, aber es wirkt nicht unmittelbar tödlich wie das Gift der Schlange. Die Spinne benutzt das Netz und das lähmende Gift, um die Beute für spätere Zeiten aufbewahren zu können. Das ist ja schrecklich!, rief Gunda. Allerdings auch sehr praktisch, erklärte ich. Wenn eine Spinne ihr Netz am richtigen Ort gespannt hat, verfügt sie stets über einen guten Vorrat an Futter. Jalkan und sein fetter Gefährte waren nun vollständig in den 476 Spinnfaden gewickelt. Sie schrien um Hilfe, doch ihre Soldaten ignorierten sie und setzten den geistlosen Sturm hangabwärts fort, denn die riesige Wüste aus glitzernd gelbem Sand lockte. Dann ertönte wieder das Grollen aus den Tiefen der Erde, und der Boden bebte noch heftiger als zuvor. Zurück!, warnte ich Narasan und seine Männer. Jetzt geht es los! Wir rannten über die Reste von Gundas Mauer auf das Ostende zu, wo wir uns - wie wir hofften - in Sicherheit befinden würden. Das donnernde Tosen unter uns ließ nicht nach und schien durch den zitternden Fels aufzusteigen. Und dann ereignete sich vielleicht hundert Schritt weiter den Hang hinunter eine donnernde Eruption, die nicht aus geschmolzenem Gestein bestand. Es war Wasser, und dieses Wasser schwemmte Kirchensoldaten und Diener des Vlagh ohne Unterschied davon. Von weit, weit draußen aus dem Ödland ließ sich ein niedergeschlagenes Brüllen hören, das rasch in der Ferne verhallte, während die Diener des Vlagh losliefen, um ihren Herrscher in Sicherheit zu bringen. An diesem Punkt ergaben mehrere Dinge plötzlich einen Sinn für mich, und ich war erschüttert, was Langbogens unbekannte Freundin alles zustande gebracht hatte. Deshalb war der Geysir, die Quelle des Vash, plötzlich ausgetrocknet. Die unbekannte Freundin hatte ihn aus der Mitte des Talkessels zum oberen Ende des Nordhangs verlegt, um die Diener des Vlagh und die fünf Armeen der Kirche auf einen Schlag zu erwischen. Ich schaute über die Schulter und sah einen ständig ansteigenden Wasserpegel unten auf dem Boden des Ödlands. Die unbekannte Freundin hatte das Meer aus Gold gerade durch ein Meer mit Wasser ersetzt, das die Domäne meines Bruders dauerhaft vor weiteren Angriffen der Wesen aus dem Ödland schützen würde. Der nun gewissermaßen horizontale Geysir erzeugte heftigen Nebel, und die Sonne stand hoch darüber, daher hätte der Regenbogen, der über dem See im Ödland erschien, gewiss ein natürli477
ches Phänomen sein können, aber ich glaubte kaum, dass es sich so einfach verhielt. Die unbekannte Freundin war offensichtlich recht zufrieden mit ihrem hübschen Einfall, und ein Regenbogen ist
schließlich so eine Art Segen. Nun, meine Herren, sagte ich mit vorgetäuschter Lässigkeit zu unseren Freunden, ich denke, damit wäre die Angelegenheit hier oben erledigt. Wir können also zusammenpacken und ins Tal aufbrechen. Ungefähr zwei Wochen später versammelten wir uns in Veltans Kartenraum. Die Karte meines Bruders war jetzt nicht mehr auf dem neuesten Stand, und es gab eigentlich keinen Grund, uns dort anstatt in einem anderen Raum des Hauses zu treffen, doch aus irgendeinem Grunde waren wir alle damit einverstanden. Zuerst wurden Geschichten erzählt. Unsere Freunde waren während des Krieges weit verstreut gewesen - falls man das da oben tatsächlich einen Krieg nennen konnte. In meinen Augen hatten wir selbst nur sehr wenig dazu beigetragen. Langbogens unbekannte Freundin hatte hingegen die meiste Arbeit erledigt. Natürlich hatte Ashads Traum die Flut erzeugt, aber je länger ich darüber nachdachte, desto mehr war ich davon überzeugt, die unbekannte Freundin habe von Anfang an bei Ashad die Finger im Spiel gehabt. Die zweite Invasion in Ashads erstem Traum hatte uns ein riesiges Heer beschert, das die Diener des Vlagh so lange zurückhalten konnte, bis die Flut beide Feinde vernichtete. Ich sag's dir, alter Freund, erzählte Sorgan Narasan, wir rannten aus dem Talkessel hinaus wie ein Fuchs mit Feuer am Schwanz. Diese Erdstöße erinnerten uns alle an die Feuerberge in der Schlucht, und der Gedanke, bei lebendigem Leib gegrillt zu werden, lässt dich doppelt so schnell rennen, wie du eigentlich kannst. Es war eine kluge Entscheidung, Sorgan, meinte Narasan. Keiner von uns wusste genau, was passieren würde, daher war es sinnvoll, sich aus dem Staub zu machen. Ich glaube, ich kann mich erinnern, dass >aus dem Staub machen< oder so ähnlich das war, was Langbogens Traumfrau ihm 478
vierzig oder fünfzig Mal aufgetragen hat, während er die Augen geschlossen hatte, fügte Hase hinzu. Sie wusste also, wovon sie sprach. Der kleine Mann blinzelte. Was ist eigentlich mit dem gierigen Kerl passiert, der die zweite Invasion in die Wege geleitet hat? Ist er mit den anderen Kirchenleuten ertrunken? Ich glaube, der war nicht mehr da, als die Flut begann, meinte Padan. Nicht mehr da? Er wurde verspeist. Verspeist? Gefressen, erklärte Padan. Er und sein fetter Freund liefen den Hang hinunter und wollten den hübschen wertlosen Sand sammeln, als sie in Spinnweben gerieten. Die Spinne hat sie vermutlich zum Frühstück verspeist - während sie noch lebten und um Hilfe riefen. Hase kratzte sich am Kinn. Klingt ziemlich gerecht, sagte er. So etwas haben sie verdient, schätze ich. Ich würde sagen, sie haben jedenfalls mehr als einen Pfeil in die Stirn oder ein Schwert im Bauch verdient. Omago fand es auch angemessen, fügte Keselo hinzu. Dann ist also alles aus und vorbei, sagte meine Schwester Aracia scharf. Ich glaube, wir sollten uns wieder auf den Weg machen. Zunächst müssen wir darüber nachdenken, wo das Vlagh als Nächstes zuschlagen wird, und dann müssen wir Vorkehrungen treffen. Sollen wir nicht warten, bis eines der Kinder wieder träumt?, schlug Zelana vor. Wir wissen doch gar nicht genau, wo das Vlagh beim nächsten Mal angreifen wird, ehe wir den nächsten Traum kennen. Ich glaube, da übersiehst du etwas, kleine Schwester, erwiderte Aracia. Deine Domäne und jetzt auch Veltans sind auf Dauer geschützt. Dem Vlagh bleiben demnach zwei Möglichkeiten Dahlaines Domäne im Norden und meine im Osten. Das schränkt die Möglichkeiten doch erheblich ein, daher denke ich, wir sollten uns auf beide Eventualitäten einstellen. 479 An diesem Punkt trat die von Aracia angeheuerte Kriegerkönigin Trenicia vor. Ekial und ich haben uns lange unterhalten, sagte sie zu uns, und wir sind uns einig, dass die Gegenwart von Narasan und Sorgan sehr nützlich sein könnte, wenn unsere Feinde den Norden oder den Osten angreifen. Sie haben viel Erfahrung mit diesen Ungeheuern, daher können sie uns vor Fehlern warnen. Außerdem hätten wir, falls sie sich von ihren Armeen begleiten lassen, mehr als genug Krieger, um die Wesen des Ödlands ein für alle Mal auszulöschen. Was hältst du davon, Narasan?, fragte Sorgan. Solange der Sold stimmt, sehe ich keine Probleme, meinte Narasan.
Ich denke, da werden wir uns schon einigen, sagte Schwester Zelana und lächelte matt. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und die wunderschöne Frau von Veltans Freund Omago betrat den Balkon. Das Abendessen ist fertig, verkündete sie mit ihrer volltönenden Stimme. Da fiel mir etwas ein, das mir den Kopf schwindeln ließ. Bei Aras Erscheinen hatte Jalkan sich dazu hinreißen lassen, etwas zu sagen, das niemand bei klarem Verstand von sich gegeben hätte, und diese Bemerkung hatte Narasan dazu veranlasst, Jalkan zu entlassen und an Bord des trogitischen Schiffes im Hafen einzusperren. Daraufhin hatte sich Jalkan nach seiner Flucht gen Süden gewandt und war mit fünf Kirchenarmeen zurückgekehrt, die am Ende die Diener des Vlagh besiegt hatten. Es war natürlich durchaus möglich, dass zwischen all diesen Ereignissen überhaupt keine Verbindung bestand, aber ... Ich starrte die wunderschöne Dame voller Respekt an. Könnte Ära möglicherweise unsere unbekannte Freundin sein? Wenn sie es war, überstiegen ihre Kräfte bei weitem meine oder die meiner Geschwister, so dass ich ihre wahren Fähigkeiten nicht einmal grob abschätzen konnte. Dann hörte ich ihre Stimme in der Stille meiner Gedanken: Jetzt nicht, Kind, sagte sie, wir können uns später darüber unterhalten.