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Gescannt von Brrazo 02/2004
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Kapitel eins »Wir müssen . . .« »Glück gehabt, David?« Die kleine Marie s...
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Gescannt von Brrazo 02/2004
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Kapitel eins »Wir müssen . . .« »Glück gehabt, David?« Die kleine Marie schaute zu mir hoch und scharrte dabei mit den nackten Füßen im Sand. Lässig hob sie mit den Zehen einen kleinen Stein auf, flippte ihn bis in Hüfthöhe und fing ihn mit der Hand auf. An Geschicklichkeit war Marie mir in fast jeder Hinsicht überlegen. Das war wohl einem angeborenen Talent zuzuschreiben; ich hatte schließlich zehn Jahre länger Zeit gehabt, meine Fertigkeiten zu entwickeln. Einhand sagte, der Unterschied zwischen ihr und mir beweise eindeutig, daß Vererbung wichtiger sei als äußere Einflüsse. Was immer er damit meinte, ich vermute, daß er auf meinen Vater anspielte, der ein Elwerie war. Wer meine Mutter war, wußte er nicht. Natürlich war sie irgendeine Niedere. Von Maries Eltern wußten wir überhaupt nichts, aber auch sie mußten Niedere gewesen sein. Sie ließ den Stein auf den Boden fallen. »Hast du überhaupt etwas erwischt?« 5
Ich zuckte die Achseln. »Nur wenig. Zu wenig, verdammt noch mal.« Ich klopfte etwas oberhalb der Hüfte auf meine Jacke, wo die Geldtasche steckte, die ich dem betrunkenen randianischen Händler abgenommen hatte, als er aus Alfredas ›Haus der Freuden‹ kam. »Ein paar Pesos und eine ZehnerKreditmarke.« Den Pyritring, den ich ihm vom Finger gezogen hatte, erwähnte ich nicht. Ich weiß nicht genau warum; ich hätte Marie trauen können. Aber den Ring wollte ich in mein Versteck tun, das ich sogar vor ihr geheimgehalten hatte. Der Ring und die anderen Stücke waren so schön, daß ich es nicht fertigbrachte, sie Einhand zu geben. Verdammt, der Ring war so hübsch, daß ich es nicht ertragen hätte, wenn das Gold zusammengeschmolzen und der Stein separat verkauft worden wäre. Niemand auf dem Markt beachtete uns. Ein paar zerlumpte Jugendliche waren auf den Märkten der Unterstadt nichts Außergewöhnliches; in den endlosen Reihen von Ständen, die an den Regenbogenmauern von Elweré klebten wie Moos an einem Baum, fielen wir kaum auf. Aber wenn man mich auch nicht bemerkte, mir entging nichts. Wenn man stiehlt, sind die Augen genauso wichtig wie die Hände. 6
Etwas von den Mauern entfernt, neben dem Brunnen in der Mitte des Platzes feilschte ein übergewichtiger Händler mit einem Mann, der Mannafrüchte verkaufte. Diese geschwätzigen Kerle. Sie hatten damit schon angefangen, bevor ich meine letzte Runde machte. Die beiden mochten sich über jede beliebige Menge unterhalten, vom Saft einer einzigen Frucht bis zu mehreren Tonnen. Je knapper das Geld in der Unterstadt war, um so länger wurde verhandelt. Aber vielleicht, nun ja ...
Ich stieß sie an. »Siehst du Arnos Stand?« Ohne den Kopf zu bewegen, warf Marie einen kurzen Blick hinüber. »Er hat schon seit einer Stunde die Hand nicht von seiner Geldtasche genommen. Das ist nicht fair.« Ich schüttelte den Kopf und versuchte, duldsam zu lächeln. »Fairness hat nichts damit zu tun. Ich wünschte, du hättest dieses Wort nie gehört.« Ich betrachtete meine linke Hand, deren Daumen von Einhands letztem Wutanfall noch rot und geschwollen war. »Und wir sollten lieber weiter Ausschau halten, oder wir werden Carlos' Quote heute nicht schaffen.« »Aber wenn wir die Quote nicht schaffen . . .«
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»Wir müssen die Quote schaffen.« Auf dem heißen Sand des Platzes ging ein Elwerie durch die Menge. Es war ein jüngerer Mann, vielleicht etwa vierzig - ungefähr in meinem Alter. Das war schwer zu sagen; wenn sie Elweré verlassen, tragen sie immer ihre Masken, und unter ihrem Verteidigungsharnisch ist auch ihre normale Körperhaltung nicht zu erkennen. Aber wir belästigten keinen Elwerie. Niemand belästigte einen Elwerie. Die Schaltkreise in seinem Harnisch registrierten einen versuchten Diebstahl genauso schnell wie einen geplanten Angriff, und die beiden in die Schulterpolster eingebauten automatischen Waffen wurden mit beidem fertig. Eine Salve von Silcohalcoid-Projektilen Kaliber zwei Zentimeter ließ sich weder wegargumentieren noch ablenken. Während der Elwerie sich seinen Weg durch die Menge bahnte, flog oben ein t'Tant vorbei. Einige Kinder unterbrachen ihr Spiel und warfen Steine nach ihm. Nicht, daß die Steine den niedrig fliegenden t'Tant auch nur annähernd erreichten. Ihre Flugfähigkeit ist nur teilweise ihren lederartigen Schwingen zuzuschreiben. Darüber hinaus verfügen sie über die Fähigkeit, die Schwerkraft aufzuheben, und diese 8
Fähigkeit reichte aus, die Steine auf die Angreifer zurückzuschleudern. Ein Stein fiel so dicht neben mir herunter, daß er meine Reflexe auslöste. Ich fing ihn mit der linken Hand auf. Mit der gequetschten linken Hand. »Verdammt.« Und zur Hölle mit Einhand.
Ich zuckte die Achseln. Noch war es heller Tag, und die Dunkelheit würde erst in ein paar Stunden hereinbrechen. Bei Tage sind die t'Tant sanft und verspielt und scheu, aber in der Dunkelheit werden sie gefährlich. Drüben am Ende der Freudenstraße kam ein Schrift auf den Markt. Rasch gingen die Leute ihm aus dem Weg. Es war eine riesige Kreatur, leicht doppelt so groß wie ich, und seine graue Haut hing lose an seinem gewaltigen Körper. Für mich sahen die Schrift sehr seltsam aus; ihre Proportionen stimmten nicht. Ihre Unterarme und Waden waren unverhältnismäßig lang, und die zusätzlichen Gelenke in ihren Fingern ließen den Eindruck entstehen, sie hätten sich die Hände gebrochen. Der Kopf des Schrift war fast ohne Merkmale: Er
hatte keine Haare und nichts Hervorstehendes, nur
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Löcher als Ohren Nasenöffnungen.
und
zwei
Schlitze
als
Und die Augen. Die Augen eines Schrift hatten für mich immer etwas Erschreckendes. Selbst bei Tageslicht glühten sie purpurrot. Ich hätte sie wirklich nicht bei Dunkelheit sehen mögen. Die Zähne waren grauenhaft: viele Reihen scharfer weißer Nadeln. »David!«
»Daran darfst du nicht einmal denken.« Das Schrift trug ein massives Halsband mit eingelegten Edelsteinen. Das Gold allein wog bestimmt ein halbes Kilo. Und dann die Brillanten und ein präch tiger Pyrit - der Pyrit allein mußte viele ZehnerKreditmarken wert sein, Hunderte von Elweré Pesos. »Marie, du darfst dich nie mit einem Schrift einlassen. Niemals.« Außer einem Lendenschurz aus Hanf trug das Schrift nur das Halsband. Aber warum den Lendenschurz? Soweit ich wußte, interessierte sich nicht einmal ein Schrift dafür, welchen Geschlechts ein anderes Schrift war - warum also die Mühe? »Erinnerst du dich noch, daß Einhand uns gesagt hat, daß ihre Reflexe schneller als unsere sind?« »Ja.«
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»Da hat er zur Abwechslung einmal nicht gelogen.« Zuversichtlich lächelte sie zu mir herauf, legte den Kopf schief und strich sich das Haar aus den Augen. »Ich schaffe es schon, David. Bestimmt.« »Willst du wohl auf mich hören! Du darfst es nicht!« Ich mußte sie aufhalten, so lange mit ihr sprechen, bis das Schrift über den Markt gegangen und verschwunden war. Marie hätte sonst versucht, sich mit ihm einzulassen, eher um mir zu imponieren als aus eigenem Antrieb. »Es ist ein fremdes Wesen, Kleines. Es ist anders als wir.« Ich streckte die Hand aus und streichelte die feinen Haare in ihrem Nacken. Wenn sie versuchte wegzulaufen, konnte ich sie an den Haaren festhalten. Vielleicht hatte ich eine Halbschwester oben in Elweré. Vielleicht auch nicht. Aber selbst wenn ich eine hätte, selbst wenn ich ehelich geboren und als Elwerie erzogen worden wäre, ich hätte diese Schwester niemals so gern gehabt wie Marie. Niemand außer ihr hatte mir jemals vertraut. »Und du kannst es nicht ablenken«, fuhr ich fort.
»Sein Verstand funktioniert anders als unserer. Das
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Ding da« - ich wollte schon eine Kinnbewegung zu ihm hinüber machen, aber das konnte ich gerade noch vermeiden - »das Ding könnte dich hochheben, dir den Kopf abbeißen und dich ohne Kopf wieder auf den Boden stellen, bevor du die Halskette auch nur aufgeschnitten hättest. Seine Reaktionszeit ist schneller - du faßt also kein Schrift an. Hast du verstanden?« Sie schaute mich mit dem Trotz eines Kindes an, dem man etwas verboten hat. »Ich habe Hunger. Können wir nicht eine Pause machen und uns etwas zu essen besorgen?« Ich schaute mich auf dem Markt um. Die Aussichten waren nicht sehr gut. Zu viele von den Leuten waren genauso arm wie wir oder noch ärmer. Und sich an Leute heranzumachen, die nicht viel haben, lohnt nicht das Risiko; bei ihnen ist nicht nur wenig zu holen, sie neigen auch zu besonderer Vorsicht. Schuld daran waren die Elweries. Sie selbst nannten sich Elwerianer, aber für uns waren sie ganz einfach Elweries. Sie beschäftigten immer weniger Niedere auf ihren Valdafeldern und im eigentlichen Elweré. Hinzu kam, daß Arnos van Ingstrand die
Bestechungssummen für Arbeit in Elweré
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heraufgesetzt hatte, und das schaffte Unruhe in der Unterstadt. Von der Freudenstraße abgesehen, kam fast alles Geld, das in der Stadt im Umlauf war, aus Elweré. Und in letzter Zeit war es zu wenig Geld gewesen. Ich brauchte eine Weile, die Einnahmen des Tages zu überschlagen und den Profit einer oder zweier weiterer Runden in der Freudenstraße hinzuzufügen, und stellte fest, daß mir die Summe nicht gefiel. Sie gefiel mir überhaupt nicht. Ich gab ihr einen leichten Klaps auf den Kopf. »Carlos wird uns schlagen, wenn wir die Quote nicht schaffen.« Das stimmte. Einhand ließ keine Entschuldigungen gelten. Marie runzelte die Stirn, aber dann hellte sich ihre Miene wieder auf. »Vielleicht läßt es sich besser mit vollem Magen arbeiten.« Sie rieb sich den Bauch. »Bestimmt.« Ich gab auf. Mannafrüchte?«
»Du
könntest
recht
haben.
Sie nickte. »Große?« »Natürlich.« Arno, der Mannafrüchteverkäufer, und ich hatten
eine Vereinbarung getroffen. Ich bestahl seine
Kunden erst, wenn die Opfer weit von seinem Stand
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entfernt waren, und als Gegenleistung versorgte er mich mit geringen Mengen von Mannafrüchten zu Einkaufspreisen. Natürlich betrogen wir uns dabei gegenseitig; so war es nun einmal in der Unterstadt. Ich hatte keine Ahnung, wieviel Arno tatsächlich für seine Früchte bezahlte, und Arno wußte nichts von Marie. Ich hatte auch nicht die Absicht, ihm von ihr zu erzählen. »Okay, Kleines. Wir treffen uns am unteren Ende der Freudenstraße - dann werden wir versuchen, ein paar Fremdlinge auszunehmen. Aber du darfst erst anfangen, wenn ich da bin.« Sie nickte, und ihr kleines Gesicht glühte fast, als sie mich anlächelte. »Ich weiß, daß ich einen oder zwei Fremdlinge schaffe, wenn ich eine Kleinigkeit gegessen habe.« Sie holte aus ihrer Innentasche ein paar Münzen hervor und ließ sie in meine Hand gleiten. »Gib nicht alles aus.« »Wirst du wohl verschwinden?« Sie huschte über die mit Sand bestreuten Steine davon wie eine Eidechse, die sich in Sicherheit bringen will.
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Ich hielt Distanz zu dem Kunden, mit dem Arno verhandelte, und stellte mich an seine linke Seite, wobei ich den Geldbeutel ignorierte, den er rechts an seiner Kleidung trug. Endlich wischte sich Arno die Hand an seiner Schürze ab und streckte sie seinem Kunden entgegen. »Ein fairer Handel. Ich werde heute abend liefern.« Als der Händler gegangen war, trat ich vor Arno, lehnte mich mit den Ellenbogen auf den Verkaufstisch und stützte den Kopf in die Hände. »Wirklich, Arno - ein fairer Handel?« Arno nickte feierlich und wischte sich die Schweißperlen von der glänzenden Stirn. »Und ein vernünftiger Profit, David, wenn man die Zeiten bedenkt. Wie laufen deine Geschäfte?« »Nicht gut. Ich brauche ein paar Früchte, aber ich habe wenig Geld . . .« Arno schüttelte den Kopf. »Nicht auf Kredit. Du bekommst die Ware zum Einkaufspreis, aber mehr kann ich nicht tun. So gut ist das Geschäft nun auch wieder nicht.« »Aber die Leute müssen trotzdem essen.«
»Gewiß. Ich verkaufe hier und da ein oder zwei Früchte.« 15
»Du würdest deine eigene F. . .« Ich schwieg gerade noch rechtzeitig. Es hieß, Arno habe seine letzte Frau an einen Valdapflanzer verkaufen müssen. Als der Mannafruchtverkäufer sich wütend die Schürze fester band, vermied ich es, zu den Früchten hinüberzuschauen, die in Kisten auf dem groben Holztisch lagen. Jede einzelne der gelben saftigen Kugeln war halb so groß wie mein Kopf. »Hör zu«, sagte ich. »Wir haben eine Vereinbarung. Ich habe ihn in Ruhe gelassen. Ich habe ihn nicht . . .« »Paah! Das hättest du auch gar nicht können. Er gehört nicht zu den Leuten, die sich ablenken lassen. Er hatte, während er hier stand, die ganze Zeit die Hand am Geldbeutel. Und was unsere Vereinbarung betrifft, könnte ich dich ebenso gut an van Ingstrands Schutzgesellschaft ausliefern. Für irgend etwas zahle ich schließlich meine Steuern.« Ich lächelte. Jetzt hatte ich ihn. »Und wenn ich ihm sage, daß du bei den Preisen betrügst? Wenn ich das mit Tatsachen und Zahlen belege?« »Das könntest du nicht.«
»Bist du ganz sicher, Arno?«
»Drei Pesos.«
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Ich zuckte die Achseln. »Meinetwegen.« Die drei Pesos würden auch nichts mehr ausmachen. Marie und ich würden am Nachmittag einen Rekord erzielen müssen, wenn wir Einhands Faust ver meiden wollten. Ich schob die rechte Hand in meinen Rock und zog drei Kupfermünzen hervor. »Aber die Früchte müssen groß sein, Arno. Und frisch.« Als ich ihm die Münzen reichte, packte mich Arno plötzlich am Handgelenk, aber dann ließ er mich schnell wieder los - zu seinem Glück: Ich hielt schon mein Messer in der rechten Hand, und wenige Sekunden später hätten Arno einige Sehnen gefehlt. »Tut mir leid, David«, sagte er. »Ich wollte nur sehen, wie schlimm es ist. Er hat dich wieder geschlagen.« »Er hat Angst, Arno. Und ich habe auch Angst. Die Lage wird kritisch.« »Aber deine Hand. Das behindert dich doch. Das ist wirklich nicht gut.« Natürlich behinderte mich die verletzte Hand, aber das brauchte Arno nicht zu wissen. Mitgefühl? In der Unterstadt konnte Mitgefühl ohne jede Vorwarnung in Bosheit umschlagen.
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»Probier's doch aus.« Ich nahm die Klinge fester zwischen Mittel- und Zeigefinger. Sie war praktisch nicht zu sehen, aber mit einer schnellen Bewegung hätte ich ihm die Kehle durchschneiden können. »Probier's doch, Arno.« Er ignorierte meine Drohung. »Warum bleibst du eigentlich bei ihm, David? Warum? Falls du Geld brauchst, ich könnte hier ein bißchen Hilfe gebrauchen.« Meine Situation ging Arno nichts an, und außerdem hätte ich ihm gar nicht antworten können. Ich wußte die Antwort nicht einmal. Vielleicht blieb ich, weil ich nie Eltern gehabt hatte und Carlos Einhand als eine Art Ersatzvater ansah. Vielleicht war es Angst vor dem, was der alte Mann Marie antun könnte, wenn ich nicht da war. Vielleicht war es auch nur, weil Einhand und Marie das einzig Beständige in meinem Leben waren. Vielleicht, vielleicht, vielleicht. »Gib mir endlich die Früchte.« »Das ist gut.« Marie löste noch ein Stück der dicken gelben Schale, biß in das rote Fruchtfleisch und wischte mit der freien Hand den herabtropfenden Saft von ihrem Kinn in den Mund. 18
»Nicht so schnell essen«, sagte ich. Als ob ich sie kritisieren dürfte. Ich hatte meine Frucht schon auf dem Weg hierher gegessen und hin und wieder neidisch auf ihre geblickt. »Heb dir ein Stück auf.« Ich lehnte mich gegen die Wand eines Hauses am unteren Ende der Freudenstraße. Die Freudenstraße war eine Mischung aus verbissen um ihre Existenz kämpfenden Etablissements und Truggebilden - und diese Truggebilde wurden zum Vorteil dieser Etablissements sorgfältig aufrechterhalten. Für die Niederen war das alles kaum von Nutzen. In der Unterstadt hatten nur wenige genug Geld für professionell dargebotene exotische Vergnügungen. Das erschwerte die Arbeit. Da nur Elweries und Fremde sich die Freudenstraße leisten konnten, paßten Marie und ich nicht hierher und fielen entsprechend auf. Aber am unteren Ende der Straße bröckelte die Fassade ein wenig; die zweistöckigen Gebäude sahen nicht ganz so sauber aus; die lockenden Hologramme flackerten manchmal oder gingen ganz aus. »Da vorn sehe ich eine Möglichkeit«, sagte Marie. Sie aß das letzte Stück von der Frucht, leckte das Innere der Schale ab und warf sie in den Sand. 19
Ich schaute hoch. Unter dem blitzenden Hologramm, das den Laden als HAUS ALLER FREUDEN auswies, traten drei Männer in der blauen, mit Silber abgesetzten Uniform der Handelsabteilung der Tausend Welten auf die abgewetzten Stufen des Marmorgebäudes hinaus. Sie wirkten alle drei angetrunken; der große dicke Inspektor in der Mitte torkelte ein wenig, und die beiden anderen halfen ihm die Treppe hinunter. Ich dachte einen Augenblick nach. »Vielleicht sind sie schon ausgenommen worden«, gab ich zu bedenken. »Bestimmt nicht - sie haben noch ihre Ringe.« Nun, vielleicht hatten sie auch noch ein wenig Geld. Man konnte es wenigstens versuchen. »Wie machen wir das bei ihnen?« fragte ich Marie. Ich hatte das natürlich schon entschieden, aber Marie liebte die Illusion, eine Wahl zu haben. Das haben wir wohl alle gemeinsam. »Ganz klar, ich schreie wieder um Hilfe. Und was willst du machen? Anreißer?« »Dazu bin ich zu zerlumpt.« Ich zeigte auf meinen zerfetzten und vergilbten Rock. Es war wirklich schade. In besseren Zeiten hätte ich mich als Portier eines der Häuser ausgeben können, und unter dem Vorwand, ihnen eine neue Möglichkeit zu zeigen, 20
ihr Geld auszugeben, hätte ich leicht ihre Taschen leeren und ihnen Ringe, Geldbeutel und Messer abnehmen können. »Nichts Auffälliges«, warnte ich. »Nur reden - und den richtigen Zeitpunkt abwarten. Erst dann zuschlagen und wegrennen, wenn sie sich auf mich konzentriert haben.« Ich atmete tief durch. Verdammt, ich hatte immer noch die gleiche Angst wie sonst. Und das Stehlen hatte noch eine andere Seite - es war auf perverse Weise aufregend. »Bist du soweit?« Sie öffnete leicht die rechte Hand, so daß ich das silbrige Glitzern der kleinen gekrümmten Klinge sah, die sie zwischen dem zweiten und dem dritten Finger hielt und von der nur ein winziges gebogenes Stück des Rückens zu erkennen war. Die Klinge eines Diebes ist nicht leicht zu handhaben, und sie darf nicht zu sehen sein. »Los.« Marie hob das Kinn. »Ich bin doch kein Baby.« Ich holte aus und versetzte ihr einen kräftigen Schlag auf die Wange. Dabei bog ich die Handfläche so, daß der Schlag ein möglichst lautes Geräusch verursachte und einen möglichst geringen Schaden anrichtete.
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Schreiend vor Schmerz und Angst rannte Marie
auf die drei Inspektoren zu. »Helfen Sie mir, bitte -
er will mich schlagen!.«
Ich wartete einen Herzschlag lang, bevor ich hinterherrannte. »Komm sofort zurück, du . . .« Ich ächzte und keuchte. Natürlich hätte ich sie leicht einholen können, aber der Zweck der Übung war ja gerade, sie erst einzuholen, wenn sie die Inspektoren schon erreicht hatte. Der ranghöhere der drei Inspektoren der Handelsabteilung wußte nicht recht, was er mit dem zerlumpten kleinen Mädchen anfangen sollte, das blindlings auf ihn zugerannt war. »Was zum Teufel?« Er war ein hochgewachsener Mann, und die fünf Dienstzeitstreifen an seinem rechten Ärmel machten mich ziemlich nervös. Vielleicht war er so erfahren und abgebrüht, daß er merkte, was hier vor sich ging. Sei nur vorsichtig, Kleines, dachte ich. Ich blieb knapp zwei Meter vor der Gruppe stehen und wippte auf meinen Fußballen. »Gebt sie mir. Ich reiße dem kleinen Miststück den Kopf ab.«
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Der Große reichte Marie an den Inspektor hinter sich weiter, und mit einem erstaunten Ausdruck in seinem wettergegerbten Gesicht wandte er sich mir zu. Bei ihm hatte ich ein ungutes Gefühl; seine braunen Augen waren klar - nicht glasig. Ich fragte mich, ob er zu prüde war, die ... exotischeren Vergnügungen des Hauses zu genießen. Und vielleicht war er so wach, daß er ... Wie dem auch sei. Ich unterdrückte ein Lächeln. Unten an seiner Hemdtasche sah ich einen Schlitz. Marie hatte also schon mit der Arbeit angefangen. »Was willst du von dem Kind?« Der bullige Inspektor stellte sich direkt zwischen mich und den Mann, der Marie festhielt. Er stemmte die Hände in die Hüften. »Nun?« So waren die Terraner. Sie dirigierten die Tausend Welten, und die Handelsabteilung pflegte sich nicht in die - hah! - inneren Angelegenheiten Orogas einzumischen. Schließlich könnte irgendein Elwerie Anstoß daran nehmen, wenn man ihn dafür kritisierte, daß sie die Unteren systematisch von dem Reichtum ausschlossen, den ihnen das Valda-Öl einbrachte.
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Und da sich die Terraner um die Unteren als Gruppe einen Dreck kümmerten, standen die Chancen zehn zu eins oder besser, daß ein einzelner Terraner, um sein Gewissen zu beschwichtigen, einem verängstigten kleinen Mädchen helfen würde. Ich empfand darüber Überhaupt keine Bitterkeit. Schließlich verschaffte mir diese Scheinheiligkeit einen beträchtlichen Teil meines Einkommens. »Das geht Sie nichts an, Inspektor. Geben Sie nur das Mädchen heraus. Dies ist eine Privatangelegenheit.« Der Große lächelte. »Das glaube ich nicht.« Er trat zur Seite und zeigte mit gespielter Höflichkeit auf Marie. »Es sei denn, du denkst, du könntest an mir vorbeikommen und sie bei Gene abholen.« Er schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich keine gute Idee.« Der fette Mann hielt Marie auf dem Arm und fest an sich gedrückt. Die Hand hinabgleiten zu lassen und ihm die Tasche unten aufzuschneiden, dürfte nicht einfach sein. Ich mußte Zeit gewinnen . . . »Hören Sie zu, wir sind doch alle Männer.« Der dritte Inspektor, ein kleiner Mann mit glattem
schwarzen Haar und schmalen grausamen Augen,
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lachte. »Hört euch den Jungen an! ›Wir sind alle Mannen‹, sagt er. Ich bin einer. Das habe ich eben bewiesen. Fünfmal.« Der Große drehte sich halb um. »Halt's Maul, Stan. Außerdem habe ich mit dem Mädchen gesprochen, zu dem du immer gehst. Sie sagt, du schaffst es nicht, ohne daß du . . .« »Das ist gelogenl« »Ich sagte, du sollst das Maul halten.« Er zog an dem Gummiknüppel, den er rechts am Gürtel hängen hatte. Nur ein Knüppel. Aus Furcht, einer der Niederen könnte sie stehlen, ließ die Handelsabteilung ihre Inspektoren außerhalb des Reservats keine modernen Waffen mehr tragen. »Und jetzt zu dir«, sagte er und legte wieder die Hand an den Knüppel. »Du kannst mit mir reden, aber rede keinen Unfug.« Ich breitete die Hände aus. »Hören Sie zu. Ich habe der Kleinen zwei Pesos gegeben. Sie nahm das Geld und rannte weg.« Der dicke Inspektor hielt Marie noch fester und schaute mißtrauisch zu mir herüber. »Wofür hast du ihr das Geld gegeben?« Ich lächelte, wenn ich auch solchen Ekel vor mir selbst empfand, daß ich mich fast übergeben hätte. 25
»Für das, was Sie dort gehabt haben.« Ich zeigte mit dem Daumen zum Haus hinüber. »Wofür denn sonst? Aber wir haben überhaupt kein Problem. Gebt mir nur das Mädchen, und . . .« Der Mann, der Stan genannt wurde, trat rasch zwei Schritte vor, spuckte mir ins Gesicht und schlug mich zu Boden. Stan war langsam. Ich hätte unter seinem Arm hinweggleiten, meine Klinge öffnen und ihn vom Hals bis zu den Lenden aufschneiden können. Aber das hätte das Spiel verdorben und wahrscheinlich mehr Ärger verursacht, als die ganze Sache wert war. Die Tausend Welten liebten es nicht sehr, wenn Einheimische einen ihrer Inspektoren töteten, selbst wenn dieser keinen hohen Rang bekleidete. Andererseits wäre es vielleicht ganz gut, die Aktion abzubrechen, denn immerhin lag ich am Boden, und meine linke Gesichtshälfte schmerzte höllisch. Stan stand über mir und trat mir in die Seite. Er brach mir zwar keine Rippen, aber sanft behandelte er mich auch nicht gerade. »Ich möchte ihm gern einen Denkzettel verpassen, Gene. Dieser verdammte kleine Päderast. Das Mädchen ist
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bestimmt nicht viel älter als zwölf, höchstens dreizehn.« Wenn er in diesen übermäßig langen Erdenjahren rechnete, hatte er nicht einmal unrecht. Aber . . . »Und wozu soll das gut sein?« seufzte Gene. »Der Junge ist wahrscheinlich genauso sehr Opfer wie das Mädchen. Wir geben der Kleinen die Chance wegzulaufen, und ein wenig später lassen wir den Jungen los.« »Bitte, Gene.« Der Mann knurrte böse. »Laß mich ihm wenigstens ein paar Finger brechen.« Marie müßte mit dem Dicken schon fertiggeworden sein. Zeit aufzustehen und zu verschwinden. Ich rollte mich auf die Knie und strich mir über den rechten Ärmel, um mich zu vergewissern, ob meine Klinge noch sicher in der Scheide steckte. Um Stan nicht zu irritieren, bewegte ich mich dabei sehr langsam. Ebenso langsam stand ich auf. »Bitte, schlagen Sie mich nicht mehr. Bitte.« Mich unterwürfig zu zeigen, war mir noch nie schwergefallen. Stan griff nach meiner Kehle. »Aul« Der dicke Inspektor griff sich an die Brust und ließ Marie fallen. Zwei flache Geldtaschen, eine
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Handvoll Münzen, Ringe und ein paar flache achteckige Schlüssel fielen auf den Boden. Marie riß entsetzt die Augen auf. Dann kroch sie rasch davon. »Stan - halt ihn fest. Die beiden sind Diebe.« Der Große wurde zuerst aktiv, während der dicke Inspektor erstaunt das Blut betrachtete, das ihm in die Handfläche lief. Jetzt brauchte ich mich nicht mehr zurückzuhalten. Ich ließ die Klinge in meiner Handfläche aufschnappen und zog sie Stan von innen über das Handgelenk. Ich spürte kaum Widerstand, als ich ihm die Sehnen durchschnitt. Stan würde seinen Arm eine Weile nicht sehr gut gebrauchen können. Um die Sache abzurunden, trat ich ihm gegen das Knie und wich ihm aus, als er auf mich zusprang. Der dicke Inspektor versuchte, Marie festzuhalten. Sie duckte sich, holte noch einmal mit der Klinge aus und rannte davon. Ich verlor wertvolle Sekunden, als ich überlegte, ob ich Maries Beute noch schnell an mich bringen konnte. Aber das war nicht möglich: Der Große hatte schon seinen Knüppel gezogen und drang auf mich ein.
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Ohne mich umzuschauen, rannte ich los. Dieser sexuell erschöpfte und halb betrunkene Inspektor würde mich niemals einholen können. Und ich empfand nicht das geringste Mitgefühl. Wenn sie das Reservat der Handelsabteilung verließen, verdienten sie es nicht besser. Marie wartete vor dem Eingang zu dem Labyrinth verlassener Grubenschächte, den wir meistens benutzten. Er lag weit vom Zentrum der Unterstadt entfernt, so daß wir hier relativ ungestört waren, und er lag so dicht an dem Berg, auf dem Elweré lag, daß ich auf dem Heimweg nicht auch noch die Regenbogenwände betrachten mußte. Elweré kam mir immer vor wie eine reife saftige Mannafrucht, die außerhalb meiner Reichweite hing, aber das war mir auch ganz lieb. Besser noch, ich wußte, wo in diesem Tunnel die Fallen lagen - oder glaubte es zu wissen. Einhand und ich hatten sie selbst angelegt. Das sei eine seiner Neuerungen, sagte er und behauptete, er habe als erster solche Fallen gebaut. »David«, jammerte Marie und preßte sich gegen
den massiven Felsblock neben dem Eingang. »Es tut
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mir leid.« Eine Träne lief über den Staub an ihrer Wange. »Ich hätte so gern . . .« »Psst.« Ich lächelte sie an und strich ihr über die Wange. »Heb dir das für Carlos auf.« Sie schaute zu mir hoch und lächelte zurück. »Glaubst du, daß es funktioniert?« »Nein. Aber man kann es ja versuchen.« Ich schaute noch eine Weile in die untergehende Sonne und zog meine Lampe aus der Tasche. »Laß uns hineingehen«, sagte ich. Selbst die Elweries verließen nach Einbruch der Dunkelheit ihre Häuser nicht - wegen der t'Tant. Der Weg zum Eingang unserer Behausung war lang und kompliziert. Er hatte elf verschiedene Biegungen und Abzweigungen. In diesem Gängegewirr mußte man immer auf dem vertrauten Weg bleiben und durfte sich nie von ihm entfernen, ganz gleich, was geschah. Ich wußte genau, wo ich zur Seite treten mußte, um keine Baumfalle auszulösen, wo ich über einen Stolperdraht hinwegtreten oder einer Mine ausweichen mußte - aber nur auf dem Weg, den ich kannte. Wenn man sich zu weit vom Weg entfernte, geriet man auf das Gebiet eines anderen. Vielleicht 30
hatten die anderen ebenfalls einige Überraschungen eingebaut, vielleicht auch nicht - aber die einzige Möglichkeit, das festzustellen, war zu riskant. Fallen aufzustellen, war teuer. Ich bin sicher, daß nicht viele der Gängebewohner sich so etwas leisten konnten. In besseren Zeiten hatte Carlos viele Kreditmarken ausgegeben, um auf dem schwarzen Markt am Hafen Plastiksprengstoff zu kaufen. Ein System von Fallen anzulegen, war eine Kunst. Weiter draußen gab es ›Vorwarnungen‹, wie Carlos sie nannte, während die tödlichen Fallen in der Nähe unserer Behausung aufgestellt waren. Wir wollten nicht, daß Leichen den Tunnel vollstopften, wir wollten nur unsere Ruhe haben. Ich wußte nicht, wie viele andere Niedere in den Gängen lebten. Es konnten leicht mehrere tausend sein - einige waren Diebe wie wir, die die Sicherheit einer versteckten Wohnung brauchten, andere entflohene Arbeiter von den Valda-Feldern, die sich nachts in der Nähe der Ausgänge aufhielten und die Öffnungen mit Steinen und Buschwerk abdichteten, um sich vor den t'Tant zu schützen. Als wir den Geröllhaufen erreichten, der zwischen dem Schacht und unserer Behausung lag, bedeutete ich Marie voranzugehen. Dann versteckte ich den
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Pyritring unter einer in dem Haufen verborgenen Mine und folgte ihr. Einhand fluchte vor sich hin. Das hatte er in letzter Zeit oft getan. Er ging im Raum auf und ab, rieb sich den Stumpf seines linken Arms und kaute an seinem fettigen Pfeffer-und-Salz-Bart. »Nun«, sagte er, als er uns sah. Er zupfte an seinem blausilbernen Seidenrock. »Ich sehe, daß ihr zwei euch endlich entschlossen habt, nach Hause zu kommen.« Ich sprang auf den weichen, grünen selbstreinigenden Teppich hinunter - ein Relikt aus besseren Tagen - und zog es vor, Carlos' sarkastische Bemerkung zu ignorieren und den Mund zu halten. Er machte zwar einen hinfälligen Eindruck und hatte nur eine Hand, aber seine Reflexe waren fast so schnell wie die eines Schrift, und er konnte hart zuschlagen. Ich schob Marie zur Seite und leerte meine Rocktaschen auf den Teppich aus. Carlos starrte zuerst mich und dann Marie an. »Was versteckst du vor mir?« »Nichts, Carlos.« »Nichts«, kam Maries Echo. »Es ist so, wie David sagt.« 32
Einhand wischte sich mit der Hand vorn über den Rock und trat auf Marie zu. Ich hob eine Hand. Die verletzte. »Es ist nicht ihre Schuld, Carlos. Ich habe einen Fehler gemacht, als ich eine Geldtasche losschnitt.« Ich hielt ihm meine verletzte Hand unter die Adlernase. »Meine linke Hand ist heute nicht besonders in Form. Das hat seine Gründe.« Ich streckte ihm meine rechte entgegen, als wollte ich auch die noch opfern. »Nur zu. Du kannst diese Hand auch noch verletzen. Aber dann schaffe ich morgen die Quote ganz bestimmt nicht.« Carlos schüttelte den Kopf, und sein schlaffes graues Haar fiel ihm in das schmale welke Gesicht. »Nein.« Er lächelte freundlich. »Das mit deiner Hand tut mir leid. Du hast recht; es war meine Schuld.« Er wandte sich ab. Dann fuhr er plötzlich herum und schlug mit seinem Stumpf auf mich ein. Das war seine Art, entgegenzunehmen.
meine
Entschuldigung
Wenn er wirklich wütend gewesen wäre, hätte er seine Hand gebraucht. So gut es ging, ignorierte ich seine Stöße und Tritte; er schien nicht mit dem Herzen dabei zu sein. 33
Das mußte etwas zu bedeuten haben. Aber was?
Endlich stieß er mich gegen die grob behauene Wand und drehte sich zu Marie um. »Ich weiß, warum ich mir mit ihm solche Mühe mache. Ich weiß, warum ich es zulasse, daß er den alten Mann betrügt, der ihn ernährt und aufgezogen hat. Wenn er alt genug ist, soll er für mich in Elweré arbeiten. Er wird mich reich machen. Aber du - du bist nur zu einem zu gebrauchen . . .« »Laß sie in Ruhe, Carlos«, sagte ich. Ich hatte genug. Und er war müde geworden, als er so tat, als wollte er mich zu Brei schlagen. Aufzumucken war also nicht sehr riskant. Das hoffte ich wenigstens. »Irgend etwas beschäftigt dich, sonst hättest du härter zugeschlagen.« Am Abend vorher hatte er uns fürchterlich verprügelt und am nächsten Morgen wütend aus dem Haus gejagt. Der alte Mann zögerte eine Weile. Dann zupfte er an seinem Bart und nickte. »Ganz recht.« Er zog ein Kissen heran und setzte sich im Schneidersitz auf den Teppich. Er zeigte mit dem Finger auf Marie. »Du setzt dich neben mich. Und du.« Er winkte mich zu sich. »Du kannst jetzt aus deiner Ecke hervorkommen. 34
Hört gut zu - ich habe schon eine Zeitlang darüber nachgedacht.« Wieder zog Einhand an seinem Bart. »Mit unserer üblichen Methode nehmen wir nicht genug ein, stimmt's?« Ich machte mir nicht die Mühe, darauf zu antworten. »Was sollen wir denn sonst tun?« sagte Marie.
»Psst. Das wird er uns schon sagen.« Ich schüttelte den Kopf. Ich wußte nicht, was Carlos im Sinn hatte, aber ich war sicher, daß es nichts Ungefährliches und auch nichts Angenehmes war. »Nun«, sagte er und schien an seinem Thema Gefallen zu finden, »ich kann David nicht einfach nach Elweré schicken, jedenfalls jetzt noch nicht.« Er lächelte mich an. »Du mußt erst ein paar Pfund zunehmen und ein paar Jahre älter werden, und dann brauchst du natürlich auch ein bißchen Geld, wenn wir dich zu einem richtigen Elwerianer machen wollen.« »Die verdammten Elweries . . .« »Elwerianer!« Er unterstrich das Wort mit einer klatschenden Ohrfeige. »So nennen sie sich, und du solltest dich daran gewöhnen. Ich will nicht, daß du das andere Wort noch einmal in den Mund nimmst. Wenn du dich als Elwerianer ausgibst . . .« 35
»Wie du es getan hast?« »Ja.« Er hob seinen Stumpf. »Und bevor ich meine Hand verlor, war ich eine ganze Reihe von Jahren sehr erfolgreich. Ich gab einen guten Elwerianer ab, und ich habe sogar dich gestohlen, nicht wahr?« »Das hat wirklich gut funktioniert.« Ich war das letzte von sieben oder acht Elwerie - elwerianischen - Kindern, die Einhand gekidnappt und gegen Lösegeld angeboten hatte. Aber mein Vater wollte nicht zahlen; er wollte den Tod seines Bastards, nicht seine Rückkehr. Deshalb hatte er eine Belohnung für Carlos und mich ausgesetzt. Er wollte uns nicht tot oder lebendig - nur tot. Hin und wieder zeigte Carlos mir die alten Flugblätter. »Es hat gut funktioniert, bis . . .« Er sprach nicht weiter. Er hatte uns nie erzählt, wie er nach Elweré hinein- und wieder herauskam. Unter den Niederen wurde viel über den Großen Tunnel geredet, der nach Elweré hineinführte, wo es Nahrung, Wärme und Sicherheit gab. Könnte Einhand den Großen Tunnel gefunden haben? Ich hielt das für möglich. Als normaler Bürger wäre er nicht hineingekommen; die Elwerianer konnten sich die fremde Technologie 36
leisten, mit der sich Retina- und Fingerabdrücke prüfen ließen. Vielleicht hatte er eine Arbeitserlaubnis für Elweré gehabt, hatte dann seine Arbeitskleidung weggeworfen und den vorgeschriebenen Bezirk verlassen. Vielleicht . . .
»David.« Ein heftiger Schlag holte mich in die Gegenwart zurück. »Hör bitte aufmerksam zu. Wir brauchen einen dicken Fisch. Wir müssen etwas so Wertvolles stehlen, daß wir eine halbe Tonne Nahrung kaufen können - und neue Kleider für dich. Dann verstecken wir uns hier ein paar Jahre und bereiten dich auf deine Arbeit in Elweré vor.« »Wunderbare Idee, Carlos«, sagte ich sarkastisch. »Jetzt brauchst du nur noch etwas zu finden, das wertvoll genug ist, nicht wahr?« »Was hältst du von Arnos van Ingstrands
Brosche?« Ich stand auf. »Das können wir vergessen.« Einhands Augen blitzten, als der alte Mann mich
anlächelte. In seinen jüngeren Jahren mußte Carlos recht charmant gewesen sein. »Hör zu, sie hat sieben Diamanten. Sieben. Große. Wie lange glaubst du, könnten wir von dem leben, was der Schmuck uns einbringt?« 37
»Ungefähr einen Tag. Vielleicht zwei.«
»Das können wir nicht tun«, rief Marie. »Er würde uns finden, Carlos. Er würde uns finden.« Einhand ignorierte sie. »Du mußt es tun«, sagte er zu mir. »Sie hat nicht die Erfahrung. Für diese Dinge braucht man mehr als schnelle Finger.« »Ja. Man muß außerdem verrückt sein.« Ich ballte
die Hände zu Fäusten. »Du kannst mich soviel
schlagen wie du willst . . .« »Genau.« ». . . aber wir können es nicht tun. Marie hat recht. Er würde uns jagen, und er würde uns finden.« »Wie denn?« Einhand zuckte die Achseln. »Vielleicht über die Hehler. Elren Mac Cormier ist nicht gerade dafür bekannt, daß sie den Mund halten kann.« »Und Benno der Händler? Denk darüber nach.«
Ich wollte schon den Kopf schütteln, aber ich ließ es. Das hörte sich ganz vernünftig an. Von allen Leuten in der Unterstadt, die mit gestohlenen Gegenständen oder mit Schwarzmarktware handelten, hatte keiner Bennos Ruf der absoluten Verschwiegenheit. Wir hatten mit Benno noch nie Geschäfte gemacht; seine Preise waren erbärmlich.
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»Nein, Carlos. Es ist trotzdem zu riskant. Vielleicht plaudert Benno ausgerechnet dieses Mal.« »Du kennst doch seine Tochter«, sagte Einhand. »Vielleicht kannst du sie ein bißchen aushorchen.« Er lächelte. »Vielleicht . . .« »Gina kümmert sich nicht um die Geschäfte ihres Vaters. Darum lebt sie in einem Haus in der Straße der Freuden. Überleg doch, Carlos - kannst du dir vorstellen, was für eine Belohnung van Ingstrand aussetzen würde? Wenn er sich die Brosche stehlen ließe, würde er sich doch lächerlich machen.« Einhand biß sich auf die Oberlippe. »Ich mache dir einen Vorschlag. Du tust es, und ab morgen werde ich sie in Ruhe lassen . . . wenigstens eine Zeitlang.« Er machte eine Kopfbewegung zu Marie hinüber. Ich sah die Panik und die Angst und die Hoffnung in Maries Gesicht. Fast hörte ich die inständigen Bitten, die sie an mich richtete. Aber was verlangte sie von mir? Ein Ja - bitte, David, sorg dafür, daß er mich in Ruhe läßt - oder ein Nein - es ist zu gefähr lich? »Carlos, du wirst sie für immer in Ruhe lassen. Und zwar ab sofort.«
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Er überlegte einen Augenblick. »Abgemacht«, sagte er dann.
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Erstes Zwischenspiel
Eschteef und der Dieb
Eschteef hob den Kopf, um in die sinkende Sonne zu schauen. Dabei glitten seine inneren Augenlider automatisch über die Hornhaut, um die Retina vor dem grellen Licht zu schützen. Es wurde spät. Mit seinen groben Fingern nahm er den letzten Anhänger vom Haken und legte ihn vorsichtig in eins der mit Samt ausgeschlagenen Fächer der massiven Holzkiste. Eschteef stand allein am kleinsten der drei Stände, die der Schtann von Arnos van Ingstrand gemietet hatte, um in der Unterstadt seine Waren auszustellen - aber in anderer, realerer Hinsicht war Eschteef nie allein. Und es würde auch nie allein sein, es konnte nie allein sein. Während es sanft über den glatten OnyxAnhänger strich, fühlte Eschteef das Cherat, die Gedankenverbindung zu den anderen Mitgliedern des Schtanns, das sein Vergnügen an der einfachen Schönheit des Anhängers reflektierte und verstärkte. Eschteef versenkte sich ganz in sich selbst, um das tiefere Cherat zu empfinden, das ihn subtiler, aber um so reicher beglückte. Den Schtann gab es auf 41
vielen Welten. Er hatte schon seit Tausenden von Jahren existiert, und er würde noch weitere Tausende von Jahren Bestand haben. Durch das Cherat fühlte sich Eschteef mit den anderen seines Schtann verbunden, selbst mit denen, die so weit entfernt waren, daß das Licht Dutzende von Jahren brauchen würde, die Entfernung zu überbrücken. Die Entfernung spielte keine Rolle. Die anderen die Lebenden, die Toten und die, die erst noch leben sollten - waren immer bei ihm. Eschteef würde nie allein sein. Es ist Zeit, den Stand für heute zu schließen,
dachte Eschteef nicht ohne Bedauern. Auch wenn nur wenige Menschen in der Unterstadt es sich leisten konnten, seine Ware zu kaufen, so war es für Eschteef doch ein großes Vergnügen zu sehen, wie sie seine Arbeiten bewunderten. Und verdienen konnte Eschteef an den Elwerianern. Auch sie bereiteten ihm Vergnügen. Es war natürlich nicht zu vergleichen mit dem Vergnügen, das ihm das Cherat mit den anderen bereitete, aber das war auch nicht anders zu erwarten; Menschen gehörten nun einmal nicht zum Schtann, und die Gedankenverbindung zu ihnen fehlte.
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Dennoch war es für Eschteef eine Genugtuung, wenn es beobachtete, wie sie beim Anblick eines besonders schönen Stücks die Augen aufrissen oder gar den Atem anhielten. Und was für Gesichter die Menschen hatten! Selbst nach zwanzig Jahren auf Oroga - richtigen schriftaltischen Jahren, nicht diesen so schnell vorbeiziehenden oroganischen - wunderte Eschteef sich immer wieder über diese Gesichter. Und es empfand Mitleid mit den Menschen, denen jede Gedankenverbindung durch das Cherat für immer versagt blieb und die einander ihre Gefühle nur mit Hilfe der Gesichtsmuskeln mitteilen konnten. Diese armen verkrüppelten Kreaturen . . . Das ist nicht fair, dachte es und machte sich Vorwürfe wegen seiner Gefühllosigkeit und seines Stolzes. Es war Eschteefs Schicksal gewesen, als Schrift geboren und in den Schtann der Metall- und Schmuckarbeiter aufgenommen zu werden. Eschteef Schicksal und Eschteefs Glück; es war keine Belohnung, genausowenig wie es für die Menschen eine Bestrafung war, daß jeder von ihnen für sich allein in seinen Verstand eingesperrt war. Ich habe zu lange unter Elwerianern gelebt. Ich fange an, Glück mit Tugend zu verwechseln.
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Einer der unangenehmsten Züge dieser seltsamen Rasse war der unter diesen Wesen allgemein verbreitete Glaube, daß alles Glück, das ihnen widerfuhr, Belohnung für tugendhaftes Verhalten sei. Belohnung! Als sei reich geboren zu werden Belohnung für die Tugend einer Kreatur, die vor ihrer Geburt gar nicht existiert hatte. Das unbestimmte Gefühl einer nahenden Gefahr warnte Eschteef. Hrotisft warnte alle vor der heraufziehenden Nacht. Eschteef zischte amüsiert. Hrotisft verhielt sich, als hätte Eschteef keine Augen im Kopf. Selbst nach über hundert Jahren neigte Hrotisft dazu, Eschteef so zu behandeln, als sei es immer noch das Junge, das Hrotisft in den Schtann eingebracht hatte. Hrotisft hatte viele Junge in den Schtann eingebracht, und Hrotisft behandelte sie alle gleich. Eschteeft war nicht frei von Neidgefühlen. Auf Oroga gab es keine Brutteiche, hier wurden keine Jungen gezüchtet. Es würde noch viele Jahre dauern, bevor Eschteef die Freude erleben würde, ein Junges in den Schtann einzubringen. Dazu mußte es erst nach Schriftalt zurückkehren. Das Gefühl einer nahenden Gefahr wurde stärker; Eschteef unterdrückte es durch ein noch lauteres gedankliches Zischen. Es hatte genug Zeit, alles 44
zusammenzupacken und noch vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause zu sein, bevor die t'Tant bösartig wurden. Aber vielleicht hatte Hrotisft recht. Eschteef neigte dazu, seine Gedanken zu sammeln, wenn die Nacht heraufzog, anstatt sich auf sie vorzubereiten. Es mußte sich wirklich mit dem Einpacken beeilen. Eschteef drehte sich um und nahm sein Chrostith von dem breiten Regal hinter dem Stand. Eine sehr schöne Arbeit: das Chrostith war ein nahtloser silberner Krug, dessen Oberfläche nicht den geringsten Kratzer aufwies. Er gehörte nicht zu der Art von Arbeiten, die von anderen Mitgliedern des Schtanns bevorzugt wurden, und er war auch nicht mit den unglaublich detaillierten Arbeiten Sthtasfths zu vergleichen oder mit den grandiosen Kreationen, die Ysthstht für die Menschen auf der Erde schuf. Ysthstht, ich vermisse dich, dachte Eschteef als es das Chrostith in eine Samtdecke wickelte und in einen Kasten packte. Vielleicht werde ich dich nie wiedersehen, und vielleicht werden wir nie wieder miteinander sprechen. Über die Entfernung, die Orogas Sonne von der Sonne der Erde trennte, konnte auch das Cherat kein Gespräch vermitteln. Hinter Eschteef entstand ein kaum wahrnehmbares
Geräusch; Eschteef fuhr herum. Es sah einen Fuß
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unter dem hinteren Vorhang des Stands verschwinden, der sich so langsam wie ein menschlicher Fuß bewegte. »So«, sagte Eschteef, bückte sich und zog den Menschen am Fuß wieder in den Stand zurück, »wir haben hier also einen Dieb, eh?« Hrotisft signalisierte Gefahr, und Eschteef beruhigte es mit einem gedanklichen Zischen. Eschteef braucht keine Hilfe. Mit dieser Situation konnte Eschteef allein fertig werden. Der Mensch, ein verstörter Mann in mittleren Jahren, schnatterte irgend etwas in seiner Sprache. Eschteef verstand die Sprache, die von den meisten Menschen gesprochen wurde - aber jetzt brauchte es sich keine Mühe zu machen. Dies war keine geschäftliche Situation, und es hatte zu diesem Menschenwesen keine gedankliche Verbindung, kein Cherat. »Aber ich werde nicht grausam sein; das ist nicht meine Art.« Eschteef leerte die Rocktaschen des Mannes, indem es ihn einfach auf den Kopf stellte und schüttelte. Ein paar Kleinigkeiten aus Silber fielen zu Boden. Dann drehte es den Mann wieder um. »Ich bin überhaupt nicht grausam. Deshalb werde ich dich schnell töten, bevor ich anfange, dich zu essen.« 46
Eschteef packte den Mann an den Haaren und bog seinen Kopf zurück, um ihm die Kehle durchbeißen zu können. Es hatte keine Gewissensbisse, als es das Leben des Mannes beendete und anfing zu essen. Schließlich gehörte der Dieb nicht zum Schtann.
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Kapitel zwei
Der Diebstahl
Ich stopfte das Ende der Wolldecke unter Maries Füße und strich mit der Hand über die in die Wand eingelassene Glühplatte, die darauf nur noch schwach schimmerte. Marie hatte sich noch tiefer unter die Decke gewühlt, und langsam hob und senkte sich ihre Brust. Sie hatte einen guten, wenn auch leichten Schlaf. Es war wohl der Schlaf der relativ Unschuldigen . . . Ich drehte mich um; Einhand hatte eine Flasche Wein aus dem Regal genommen und klemmte sie unter seinen Armstumpf, um mit der freien Hand das Spielbrett hervorzuholen. Er warf es auf den Teppich. »Laß uns eine Partie Schach spielen«, sagte er. Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe jetzt keine Lust.« Das Spielbrett war ein wunderbares Gerät Carlos hatte es lange, bevor er mich kannte, in Elweré gestohlen - , aber für eine Schachpartie war ich jetzt nicht in der richtigen Stimmung. »Ein anderes Mal.«
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Ich gab mir keine Mühe, leise zu sprechen. Marie schlief auch dann weiter, wenn laut gesprochen wurde, vorausgesetzt, die Stimme war ihr vertraut. Bei der geringsten Andeutung eines ungewohnten Geräusches schreckte sie allerdings sofort hoch. »Du bist zu erregt, als daß du jetzt schlafen könntest. Ein Spiel wird dir guttun. Setz dich.« Einhand hockte sich im Schneidersitz auf den Teppich. »Brett eingeschaltet. Standard-Schach.« Ich setzte mich ihm gegenüber, und das Brett leuchtete auf. Böse Schatten zogen über sein Gesicht, als die Felder von weiß auf schwarz wechselten. Die Figuren erschienen und versammelten sich in der Mitte des Brettes. Die Springer salutierten und gingen in Stellung. Finster blickend und mit erhobenen Armen redeten die Damen und die Läufer aufeinander ein, während die Türme gelangweilt dastanden. Die Bauern rangelten miteinander, während die beiden Könige mit vor der Brust verschränkten Armen stehenblieben, zu uns hoch schauten und darauf warteten, daß wir die Seiten wählten. »Weiß«, sagte Einhand. Das Brett hörte auf zu flackern. Die Figuren liefen auseinander und nahmen ihre Plätze ein, die weißen 49
auf seiner Seite, die schwarzen auf meiner. Einhand öffnete die Flasche Wein, nahm einen großen Schluck und reichte sie mir. »Nein, danke, Carlos.« Diese Eröffnung kannte ich, ganz gleich, was für ein Spiel gespielt wurde. »Wann hast du mich das letzte Mal betrunken gemacht?« »Bauer e vier.« Einhand sprach die Worte ganz langsam und deutlich aus. Das holographische Bild des grob gekleideten Leibeigenen schlurfte zwei Felder vor. »Das ist schon eine Weile her, aber es hat Spaß gemacht, wenn ich mich recht erinnere.« »Dir vielleicht.« Du Bastard. »Bauer c fünf«, sagte ich. »Sizilianische Eröffnung, was? Nun, gut Springer f drei.« »Bauer d sechs. Sieht aus wie eine Sizilianische, nicht wahr?« Ich zog die Sizilianische den üblichen Königsbauern-Eröffnungen vor; die Ruy Lopez, die Stern Wall und die Giucco Piano kannte Einhand zu gut. Aber ich war nicht bei der Sache. Daß Carlos mir einen Handel anbot, anstatt meine Einwilligung in den Diebstahl der Brosche aus mir herauszuprügeln, kam mir seltsam vor. Ich hatte das Gefühl, daß 50
dadurch ein Teil übergegangen war.
seiner
Macht
auf
mich
»Bauer d vier«, sagte er. »Bleib ganz ruhig, David. Du mußt dir einfach vorstellen, daß es nichts anderes ist als das Übliche: schneiden und weglaufen. Allerdings gibt es eine zusätzliche Schwierigkeit - du mußt die Wachen überlisten. Das macht die Sache ein wenig spannender, aber du wirst es schon schaffen.« »Bauer schlägt Bauern.« Mein Leibeigener erreichte das Feld, auf dem Carlos' Bauer stand, packte ihn an der Kehle, erdrosselte ihn und warf die Leiche zur Seite. Der geschlagene Bauer ver schwand. »Du hast gut reden. Du brauchst ja nicht den Kopf hinzuhalten.« »Springer schlägt Bauern.« Sein Springer machte einen Satz nach vorn und zur Seite, zog sein Schwert und schlug meinem Bauern den Kopf ab. »Vielleicht . . . aber ich gebe dir mein Wort - man kann jeden schaffen.« »Springer f sechs. Das ist doch Unsinn.« Mein Königsspringer schoß vor und bedrohte Einhands Königsbauern mit dem Schwert. »Arnos van Ingstrand wäre nie an die Spitze der Schutzgesellschaft gekommen, wenn er sich leicht hätte ablenken lassen.« 51
Die Schutzgesellschaft war für die Unter- und für die Mittelstadt eine Art Regierung, und eine andere würden sie auch nie bekommen. Elweré wollte vermeiden, daß die Buzh und die Niederen sich organisierten. Wenn van Ingstrands Macht einmal wirklich ernsthaft bedroht sein sollte, hatte er immer noch Elweres finanzielle Mittel im Rücken. Und ein solcher Fall war höchst unwahrscheinlich. »Springer c drei.« Carlos' Springer bewegte sich, um seinen Bauern zu schützen. »Du verwechselst Strategie mit Taktik«, sagte er. »Jeder kann über Jahre hinweg ein Ziel verfolgen - das ist leicht. Aber es gibt verdammt wenige, die man nicht wenigstens für ein paar Sekunden von der Verfolgung ihres Ziels abbringen kann. Und zu diesen wenigen gehört Arnos van Ingstrand nicht.« »Nein. Springer c sechs.« »Stimmt - Läufer e zwei.« Carlos rochierte gern frühzeitig. »Bauer g sechs.« Ich übrigens auch. »Läufer e drei.« Er streckte die Hand aus und streichelte mein Knie. Ich schob sie weg. »Behalte deine Hand bei dir, Carlos. Läufer d sieben.«
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»Rochade.« Sein Turm schob sich zwei Felder nach links, während der König auf das Feld rechts neben ihn rückte. »Springer g vier.« Komplizierte Züge beherrschte Carlos besser als ich. Wenn ich gegen ihn spielte, versuchte ich immer wieder, einen Ausgleich herzustellen, um so das Spiel möglichst schnell zu vereinfachen. Wenn Carlos meinen Damenspringer schlug - und so meine Dame angriff - , konnte ich rasch einen Damentausch vorbereiten. Aber er nahm diesen Springer nicht, er nahm den anderen. »Läufer schlägt Springer«, sagte Carlos. Sein Königsläufer rückte vor und schickte meinen Königsspringer mit einer Handbewegung durch das Brett hindurch zur Hölle. Carlos lächelte. »Wie ich schon sagte, man kann jeden ablenken. Auch dich, David. Du bist am Zug.« Er tat, als hätte er eben etwas besonders Gescheites getan. Es sah nicht so aus. »Läufer schlägt Läufer«, sagte ich achselzuckend. »Ich verstehe nicht . . .« »Springer schlägt Springer.« Carlos lächelte. »Ganz gleich, wie du spielst, du bist immer um eins schlechter.« Er lehnte sich zurück und verschränkte die mageren Arme über der Brust. »Wenn du gegen Arnos van Ingstrand so gut spielst, wie ich eben 53
gegen dich gespielt habe, wirst du ihm leicht die Brosche stehlen können.« Ich starrte auf das Brett. Einhand hatte recht: Er hatte mich wieder hereingelegt. Egal wie raffiniert ich es auch anstellte, zum Schluß hatte er immer eine Figur mehr. »Du mußt die Sache ganz einfach und elegant angehen«, sagte er. »Du darfst nicht versuchen, zu intelligent zu sein. Du mußt ganz systematisch vorgehen. Deine Verkleidung darf nicht nur äußerlich sein, du mußt sie auch im Kopf haben. Plane deine Wege. Warte eine Gelegenheit ab, verursache Verwirrung, führe die Tat aus und verschwinde. Verstanden?« Ich nickte. »Verstanden.« Als Teil meiner Ausbildung hatte Einhand mich Hunderte von Büchern lesen lassen, einige auf Würfeln, andere auf Band - bis der Projektor defekt wurde. Lesegeräte sind billig, aber Projektoren sind nicht nur teuer, sondern auch sperrig und deshalb nicht leicht zu stehlen. Außerdem hatten wir ein paar wertvolle Bücher aus Silco-Papier. Carlos verfolgte dabei die Absicht, mir eine elwerianische Erziehung zukommen zu lassen, damit es mir leichter fiele, als Elwerianer aufzutreten.
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Das sei für später sehr wichtig, erklärte er mir - in Elweré könne es genauso gefährlich sein wie in der Unterstadt. Daß Carlos mich zum Lesen zwang, hatte Nebenwirkungen; eine davon war, daß ich schon bald um des Lesens willen las. Ein Buch, das es mir besonders angetan hatte, war Auf Safari von Richard Milfrench. Milfrench nahm seine Reisen durch die Dschungel der Erde ernst, und er zog durch die Ebenen wie die Tiger, die er jagte. Das erinnerte mich an meine eigene Situation; Stehlen war etwas Ähnliches wie Jagen. Wenn ich arbeitete, war ich wie ein Jäger auf der Pirsch. Es spielte keine Rolle, daß meine Beute gewöhnlich größer war als ich und fast immer stärker - das erhöhte zwar meine Angst, aber es erhöhte auch die Spannung. Normalerweise suchte ich einen leicht zugänglichen Händler oder Fremden oder vielleicht einen Feldarbeiter, der am Zahltag in die Stadt kam. Routinemäßig nahm ich ihn dann aus und machte, daß ich wegkam. Mir war jeder recht, der etwas besaß, das zu stehlen sich lohnte. Die Märkte in der Unterstadt, die Gegend um den Hafen herum und das untere Ende der Straße der Freuden waren meine 55
Jagdgründe, und selbst eßbare Beute reichte mir schon. Jetzt aber jagte ich Großwild. Und nicht nur irgendein Großwild: das größte. Ich mußte Arnos van Ingstrand außerhalb seines Hauses antreffen, dann mußte ich den Zeitpunkt abwarten, der mir eine Möglichkeit bot, die Tat auszuführen. Man muß sich vorstellen, daß Milfrench durch den Dschungel streift, um einen bestimmten Löwen zu finden, wobei er Springböcke, Gnus und sogar andere Löwen unbeachtet läßt. Kannte er erst das Lager des Löwen, würde er dort warten und hoffen, ihn schießen zu können, wenn er herauskommt. Dann konnte ihn das Auftauchen des Löwen nicht überraschen, und wenn . . . Schlimmer noch. Man muß sich vorstellen, daß Milfrench den Löwen nicht erlegen will, sondern daß es sein Ziel ist, sich an ihn anzuschleichen und seinen Schwanz zu berühren, ohne daß der Löwe etwas merkt. Dann weiß man, worum es sich handelt. Milfrench muß für die Vorbereitungen viel Zeit aufwenden; er muß beobachten und warten, und am Ende hat er nur Sekunden Zeit, dem Löwen in den Schwanz zu kneifen.
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Ich brauchte vierzig Tage, den Diebstahl zu planen und fünf Sekunden, ihn auszuführen. Und wenn ich es auch zu dem Zeitpunkt nicht wußte, diese fünf Sekunden veränderten alles. Wenn ich damals gewußt hätte, welche Folgen der Diebstahl der Brosche haben würde, hätte ich es dann getan? Das habe ich mich oft gefragt. Hätte ich es dann überhaupt tun können! Ich weiß es wirklich nicht, nicht einmal jetzt. Es war mir eigentlich gleichgültig; es interessierte mich nicht. Jedenfalls nicht zu dem Zeitpunkt.
Ich arbeitete mich durch die Menge am Stand des Bäckers vorbei und ging zum Stand des Juweliers hinüber. Dabei ging ich in Gedanken meine CheckListe durch. Erstens: sich für das Ziel entscheiden. Diesen Schritt hätte ich auslassen können; aber jedes Gewerbe erfordert die Beachtung aller Einzelheiten - ich wollte die Brosche stehlen, die van Ingstrand über dem Herzen an seiner Robe stecken hatte. Punkt eins erledigt.
Der fette Mann war schon abgelenkt. Er feilschte
mit dem Schrift, dem der Juwelenstand gehörte, über
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den Preis irgendeines Schmuckstücks. Van Ingstrand war immer an Juwelen interessiert. Aber diese Ablenkung allein reichte nicht aus. Ich fingerte an dem unter Pseudofleisch verborgenen Störgerät in meiner linken Hand. Vielleicht hatte ich damit teures Pseudofleisch verschwendet, aber jedenfalls war der kleine schwarze Kasten kaum zu sehen. Zweitens: Fluchtweg festlegen. Nach dem Diebstahl würde ich versuchen, hinter van Ingstrand und seine Wachen zu gelangen, um dann im Durcheinander unterzutauchen. Bei einer Flucht ist eine einfache Methode immer die beste. Ein nahezu perfekter Diebstahl ist einer, bei dem der Bestohlene erst sehr viel später merkt, was passiert ist; ein perfekter Diebstahl ist einer, bei dem er es nie merkt, aber so etwas hatte ich noch nie erlebt. Carlos behauptete allerdings, daß ihm schon mehr als einmal ein perfekter Diebstahl gelungen sei. Punkt zwei erledigt. Drittens: weiteren Fluchtweg festlegen. Auch hier könnte man einwenden, daß das eigentlich nicht nötig sei. Wenn van Ingstrand oder einer seiner bulligen Leibwächter mich bewußt registrierten, würde eine Flucht nur das Unvermeidliche aufschieben.
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Aber schließlich lebt ein Dieb davon, daß er das Unvermeidliche aufschiebt. Ich zuckte die Achseln. Ich könnte mich unter den Tisch des Juweliers gleiten lassen, dann auf dem Bauch hinter den Stand kriechen, das Pseudofleisch abreißen, mich bis auf den Lendenschurz ausziehen und fliehen. Wenn ich mich dann noch ein wenig mit Dreck beschmierte, würde ich völlig anders aussehen als jetzt. Dritter Punkt erledigt.
Viertens: Tarnung prüfen. Die äußere Tarnung war schon komplett, als ich unsere Behausung verließ. Ich hatte mich gut rasiert und mir die Haare schneiden lassen. Mit Make-up hatte ich die dunklen Ringe unter meinen Augen verdeckt; der Schnitt meiner Kleidung und die knappe Unze Pseudofleisch unter meinem Kinn ließen mich ein wenig übergewichtig erscheinen. Für jeden anderen sah ich jetzt aus wie der Sohn eines einigermaßen wohlhabenden Buzh, der gerade einkaufen geht. Aber die geistige Tarnung ist genauso wichtig wie die äußere. Wenn ich mich verkleidete, aber nicht entsprechend auftrat, würde man mich für einen kostümierten Niederen halten. Ein Buzh geht nicht wie wir anderen Niederen. Mehr Stolz, sehr viel weniger Angst, und ein bißchen mehr Besorgtheit 59
wer weniger Grund hat, sich Sorgen zu machen, macht sich deshalb um so mehr. Ich richtete mich also aus meiner normalen leicht gebückten Haltung auf, nahm die Schultern zurück und verlagerte mein Gewicht auf die Fersen, als ich näher herantrat und die Stücke betrachtete, die das riesige Schrift unter Plexiglas ausgestellt hatte. Punkt vier erledigt.
Mein Interesse an den ausgestellten Gegenständen gehörte zur Tarnung, aber bald war es mehr, denn jetzt sah ich den Krug im Regal hinter dem Schrift. Es war nur ein Krug. Ein silberner, etwa dreißig Zentimeter hoher Krug. Er war ganz aus einem Stück gearbeitet, und seine Rundungen, vom massiven Fuß bis zum schmalen oberen Rand, waren makellos. Irgend etwas überkam mich; ich hielt den Atem an. Der Krug war so schön, daß ich hätte weinen können. Nahtlos und wunderbar reflektierte die fein polierte Oberfläche das Tageslicht. Ich streckte die Hände aus, als wollte ich nach ihm greifen, als stünde er direkt vor mir und nicht zwei Meter von mir entfernt.
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Meine Augen trübten sich, und ich ließ die Hände wieder sinken. Das Schrift wandte sich von van Ingstrand ab und sah mich scharf an. Seine purpurfarbenen Augen durchbohrten mich geradezu. Aber in diesem Blick lag nichts Drohendes. Es war, als ahnte das Schrift, daß ich den Krug niemals berühren würde, schon aus Angst, das herrliche Stück zu beschädigen. Um nichts in der Welt hätte ich den Krug berührt. »Es ist mein Chrostith, junger Mensch«, sagte das Schrift mit dröhnender Baßstimme. »Bisher . . . mein Meisterstück. Es ist unverkäuflich.« Ich nickte und schaute weg. Ich sollte mich nicht für Silber begeistern, ich sollte van Ingstrand Brosche stehlen. Ich konnte es nicht begreifen; wie war es möglich, daß der Krug einen solchen Eindruck auf mich machte? Ich hätte fast wieder hingeschaut, aber ich beherrschte mich. Es fiel mir schwer, denn der Krug zog mich unwiderstehlich an, und bei seinem Anblick fühlte ich mich glücklich, freudig erregt und unzulänglich zugleich. Aber ich durfte nicht hinschauen. Ich durfte nicht einmal daran denken. Schließlich gab es Arbeit, und eine so gute Gelegenheit wie diese würde ich so rasch nicht wieder bekommen. Keine zwei Meter von mir 61
entfernt stand Arnos van Ingstrand und streckte gerade seine riesige Hand nach einer Geldbörse aus, die das Schrift ihm zeigte. Rechts und hinter ihm standen seine bulligen Leibwächter und behielten die Umstehenden im Auge. Ihre linken Hände lagen an den Schlagstöcken, und die rechten hielten sie unter den Mänteln verborgen, in denen wahrscheinlich illegale Waffen steckten. Fünftens: ablenken und zur Sache gehen.
Ich wandte mich ab, als ob ich gehen wollte, und ließ dabei die Hand unter den Tisch des Schrift sinken. Ich drückte durch das Pseudofleisch auf den Auslöser des Störgeräts und richtete es dabei auf van Ingstrand. Ich vollendete meine Drehbewegung, schloß die Augen und öffnete den Mund, um meine Trommelfelle gegen die Druckwelle zu schützen. Wummm!
Heller als die Sonne und lauter als das Krachen fallender Bäume donnerte das Störgerät los. Mir dröhnten die Ohren. Die Menge schrie vor Wut und Angst. Die Explosion eines Störgeräts bedeutete gewöhnlich, daß die Elweries in Massen unterwegs waren, um irgendein Unrecht oder eine Beleidigung zu rächen. 62
Das Licht erstarb sofort; stumm bewegte ich mich durch die erschrockene und jammernde Menge, bis ich van Ingstrand erreicht hatte. Geblendet starrte er mich an und bewegte tonlos die Lippen. Seine Hände griffen ins Leere. Ich ließ meine Klinge herausfahren, griff nach oben und schnitt einen gezackten Kreis in seine Robe. Dann fing ich die herabfallende Brosche auf. Als ich mich von der auseinanderrennenden Menge mittragen ließ, fing ich den Blick des Schrift auf. Es stand hinter seinem Tisch und, ohne sich um das allgemeine Durcheinander zu kümmern, starrte er mich direkt an. Warte. Ich hörte die Worte nicht; es waren eigentlich keine Worte. Eher ein Gefühl. Sechstens: Flucht. Ich ignorierte dieses seltsame Gefühl und rannte los. Wenn es nach mir ginge, würde ich nie wieder die Sicherheit der Gänge verlassen. Nie. Ich wußte natürlich, daß es nicht nach mir gehen würde.
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Kapitel drei »Geschicklichkeit sollte belohnt werden« Die nächsten zwanzig Tage verbrachte ich mit Lesen und Schlafen . . . und natürlich hatte ich Angst. Ich dachte schließlich, ich hätte mich daran gewöhnt. Ich hatte mich geirrt. »David!« zischte Marie. »Ich höre etwas.«
Ich hob den Kopf vom Lesegerät, vor dem ich auf dem Teppich lag, und schloß die Augen, um konzentriert zu lauschen, aber mein Herz schlug so heftig, daß es die Geräusche vom Tunnel übertönte. Wahrscheinlich war es Carlos, der auf dem Weg zu unserer Behausung diese Geräusche verursachte, aber es war immer besser, sich zu vergewissern. Ich nahm die Kontroll-Box auf, stellte sie auf Handschaltung und ließ die Test-Sequenz ablaufen. Ein grünes Licht leuchtete auf; wenn das Geräusch im Tunnel von einem Eindringling verursacht wurde, konnte ich durch Knopfdruck die in dem Geröllhaufen vor unserer Behausung versteckte Mine hochgehen lassen. Aus der dann entstehenden vermeintlichen Sackgasse herauszukommen, würde 64
kein Problem sein: Zu diesem Zweck hatte Carlos schon vor langer Zeit einen Fluchttunnel gegraben. Es war zwar nur ein behelfsmäßiger Tunnel, aber das genügte. Er war nur für Notfälle und nicht für normale Benutzung gedacht. Unsere ›Hintertür‹ bestand aus einem nur fünfzig Zentimeter hohen Gang durch die hintere Wand unserer Behausung, der zwanzig Meter über dem Boden eines der vertikalen Schächte der Mine endete. Dort konnten wir uns an einem eigens angebrachten Seil hinablassen und fliehen. Ein Dieb sollte sich immer einen Fluchtweg offenhalten. »Hört ihr mich da drinnen?« rief Carlos von der anderen Seite des Geröllhaufens her. »Ich bin es.« »Fein.« Ich behielt den Daumen auf dem Knopf und hatte nicht übel Lust, ihn trotzdem zu drücken. Übrigens nicht zum erstenmal. Aber irgendwie betrachtete ich Carlos immer noch als eine Art von Ersatzvater und nahm den Daumen vom Knopf. »Du bist in der Unterstadt immer noch in aller Munde, mein kleiner David.« Carlos lächelte, als er vom Geröllhaufen herabstieg und seinen Rucksack auf dem Teppich abstellte. »Aber das spielt keine Rolle; sie wissen immer noch nicht, wer du bist. Es heißt, daß ein junger Buzh die Brosche gestohlen
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hat; die Buzh werden immer nervöser, wenn die Schutzgesellschaft ihre Runden macht.« »Gibt es keinen Hinweis darauf, daß es vielleicht doch kein Buzh war?« Er zuckte die Achseln. »Nicht, daß ich wüßte. Niemand scheint zu glauben, daß ein Niederer den Nerv aufbringen würde.« »Das ist gut«, sagte ich, und das meinte ich so aufrichtig, wie ich je etwas aufrichtig gemeint hatte. Ich warf ihm die Kontroll-Box zu. Er fing sie auf, stellte sie auf neutral, aktivierte die Druckdetektoren und ließ die Test-Sequenz ablaufen. Dann stellte er das Gerät neben mich. Ich lag noch auf dem Teppich, ein Kissen unter dem Kopf und eins unter den Füßen. »Was macht die Arbeit?« fragte er. »Immer dasselbe.« Ich schaltete das Lesegerät ab, schob es von meinem Schoß und ließ es auf den Teppich fallen. Dann schloß ich die Augen und rieb mir die schmerzenden Schläfen. »Ist all dieser Unsinn wirklich notwendig?« »Gute Frage.« Er lachte. »Und ich habe auch eine gute Frage: Willst du wirklich einen Degen in den Bauch bekommen, wenn du in Elweré arbeitest?« »Nein.« 66
»Dann arbeite.«
Ich seufzte. Wenn es etwas Langweiligeres gab als die Abhandlungen der Erdsoziologen über die Feinheiten des elwerianischen Protokolls und der elwerianischen Sitten, dann hoffte ich sehr, daß es mir erspart bliebe. Vielleicht war es nicht allein Dr. Esquelas Schuld. Da die Elweries ihre Arbeit durch Maschinen, Niedere und Buzh erledigen ließen, hatten sie wohl nichts Besseres zu tun, als ihre endlosen Spiele zu spielen, bei denen eine gelegentliche Verwundung oder auch ein Todesfall als zusätzliche Zerstreuung und Würze dienten. Dennoch, ganz kann ich Hernando Esquela nicht freisprechen; was er schrieb, langweilte mich selbst dann, wenn er die elwerianischen Duellregeln beschrieb. Das überraschte mich. Das ließ sich vielleicht auf eine freudlose Kindheit zurückführen; ich hätte mir nicht vorstellen können, daß Rituale, die oft mit einem plötzlichen gewaltsamen Tod endeten, langweilig beschrieben werden können. Der einzige Lichtblick in dem ganzen Buch war das Nachwort des Herausgebers. Esquela war anscheinend zu weiteren Studien nach Oroga zurückgekehrt. Er hatte einen Elwerie beleidigt und war von einem Duelldegen durchbohrt worden. 67
In meiner Phantasie hatte ich das Band schon oft aus dem Lesegerät genommen und unter meinen Füßen zertreten, statt es in die Bibliothek zurückzustellen. Aber Carlos sagte, daß ich Tod und Dekadenz unter den Elwerianern dringend lesen müßte, wenn ich jemals in Elweré arbeiten wollte. Um als Elwerie durchzugehen, muß man nicht nur die richtige Kleidung und den richtigen Beutel tragen, die innere Tarnung ist genauso wichtig. »Ganz gleich, was du mir über Elweré erzählst«, sagte ich, »dieses Buch ist langweilig. Und es ist ungefähr so nützlich wie . . .« »Es wird nützlich sein, also wirst du es gefälligst lesen.« Er zuckte die Achseln. Carlos Einhand interessierte es bestimmt nicht, ob das Buch mich langweilte. »Die Arbeit ist notwendig. Du wirst es lesen, sonst . . .« Carlos hob nicht einmal die Hand. Er wußte, daß mir klar war, was er mit ›sonst‹ meinte. »Ich mache jetzt eine Pause«, sagte ich. Ich ignorierte seinen wütenden Blick und ging in die Ecke des Raumes. Marie saß auf dem Teppich und spielte mit dem Brett Slapjack. Sie zeigte auf ihren vorgespiegelten Kartenpack; eine der Phantomkarten schnellte hoch und landete auf dem Pack in der Mitte des Brettes. Es war die Karo-Sieben. 68
»Ich bin an der Reihe«, verkündete das Brett. Eine Geisterhand fuhr aus dem Brett und drehte die Kreuzdame um, und eine Stimme kicherte mechanisch, als Marie die Hand ausstreckte und wieder zurückzog. Sie zeigte auf den Pack, und wieder drehte sich eine ihrer Karten um. Herz-Acht. Das Brett deckte den Pikbuben auf und schlug ihr fast auf die Finger, als sie die Hand ausstreckte. »Ich gewinne«, sagte das Brett und nahm den Kartenpack, der in der Mitte lag. »Du fängst an.« Ich setzte mich ihr gegenüber an das Brett. »Wollen wir eine Partie Dame spielen? Oder vielleicht Go?« »Go kann ich sogar noch schlechter als du. Dame. Aber warte ein paar Minuten.« Sie schaute auf das Brett. »Zuerst will ich gewinnen. Wenigstens einmal.« Ich schaute auf das bernsteinfarbene Licht der Anzeige und lächelte; sie konnte nicht gewinnen. Die Einstellung seiner elektronischen Reflexe erlaubten es dem Brett, ein wenig schneller zu spielen, als ein Mensch es konnte. Aber es war eine gute Übung für die Koordinierung von Hand und Auge. 69
Carlos nahm einen Baumwollsack von dem Haufen und leerte ihn auf den Teppich aus. »Hier, ihr beiden. Ich habe ein paar gute Sachen mitgebracht.« Er warf jedem von uns einen Plastikbeutel mit Rindfleisch zu. »Abendbrot.« Wortlos fing ich den Beutel auf, nahm meine Klinge in die Hand und schnitt die Hülle auf, während Marie im Schrank ein Messer suchte. Er schaute wütend zu mir herüber, aber er sagte nichts. Das überraschte mich; ich durfte die Klinge nur bei Diebstählen und zur Selbstverteidigung benutzen. Ich fragte mich, wie lange er mich noch an den Stäben meines Käfigs rasseln lassen würde, bevor er mich daran erinnerte, daß es wirklich ein Käfig war. Mit zwei Fingern zog ich einen Fleischwürfel aus der Hülle und ließ ihn so heiß werden, daß ich ihn kaum noch anfassen konnte, bevor ich ihn in den Mund schob. Es war gutes Rindfleisch, heiß und saftig. »Sehr gut«, sagte ich und bedeutete Marie, ihre Packung zu öffnen. Sie schüttelte den Kopf. »Erst wenn ich fertig bin.«
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Carlos griff in den Haufen auf dem Teppich und holte eine Flasche aus Plexiglas hervor. »Vitamine ich habe günstig C eingekauft. Und etwas neue Kleidung.« »Hmmm.« Ich schaute mir den Haufen näher an. Ein Rock aus Glasfaser - zweifellos auf die Größe zugeschnitten, die mir passen würde, wenn ich erst fett genug war - , ein weiß- und goldlackierter Helm aus Elfenbein, ein elwerianischer Beutel, ein silberner Stoßdegen in einer schwarzen Lederscheide . . . Es sah ganz so aus, als glaubte Carlos, ich sei jetzt schon bereit, nach Elweré zu gehen. Wenn er sich nur nicht täuschte. Wie sollte ich es denn anfangen? Als Arbeiter oder als Buzh hineinzukommen, wäre nicht schwer gewesen, aber Elweré hatte sich gegen Diebstahl oder anderen Schaden von Seiten beider gut abgesichert. Im Geschirr eines Arbeiters konnte ich mich in Elweré kaum unbemerkt aufhalten; Computer-Sicherheitssysteme sind nicht leicht zu täuschen. Als Arbeiter hineinzugelangen, war kein Problem; als Arbeiter etwas zu stehlen, war jedoch nahezu unmöglich. Wenn ich als Elwerie nach Elweré ging, war es genau umgekehrt. Einmal in der Stadt, konnte ich 71
mich unter die Leute mischen, und ich würde leicht meinen Beutel mit Wertsachen füllen können. Das Problem war, überhaupt erst hineinzukommen. Ihre Fingerabdruck-, Blut- und Retinakontrollen könnte ich nicht bestehen. Wie hatte Carlos es geschafft? Ich fragte ihn gar nicht erst; er wäre die Antwort schuldig geblieben. Aber mehr Sorgen machte mir etwas anderes. »Carlos?« »Ja?« »Wieviel hat Benno dir denn nun für die Brosche gegeben?«
»Das hieße aus der Schule plaudern.« Er lächelte wissend, als wollte er mir sagen, daß ich nicht der einzige sei, der im Tunnel ein Versteck hat. »Immerhin so viel, daß diese Dinge kein Problem sind.« Zum wahrscheinlich tausendsten Mal versuchte ich mir auszurechnen, wieviel er bekommen hatte. Seit dem Diebstahl hatte Carlos mindestens für fünftausend Pesos Ware mit nach Hause gebracht, vielleicht für sechstausend. Und während der zwanzig Tage, die seit dem Diebstahl vergangen waren, hatte er fast jeden Tag unsere Behausung
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verlassen und war mit einem vollen Rucksack wiedergekommen. Mehr als die Hälfte des Erlöses für die Brosche würde er nicht ausgeben, ohne sich Sorgen zu machen. Das galt für uns alle. Wir waren schon zu oft dem Verhungern nahe gewesen, als daß wir sol che Summen einfach verschwendet hätten. Einen Teil natürlich - nach einem lohnenden Diebstahl gibt man immer gern ein wenig Geld aus. Aber nie sehr viel; niemals mehr als die Hälfte. Wenn man also Carlos' Ausgaben vorsichtig einschätzte, mußte er für die Brosche mindestens zehntausend Pesos erlöst haben. Das konnte nicht stimmen. Die Diamanten allein waren sechzig- oder siebzigtausend Pesos wert. Großhandelspreis. Geschnitten - und mit Sicherheit würde Benno die Steine schneiden - waren sie etwa fünfundzwanzig Prozent weniger wert. Benno würde zwischen zehn und zwanzig Prozent des Großhandelspreises der Ware zahlen. Benno der Makler würde für eine so heiße Ware wie van Ingstrands Brosche wahrscheinlich sechstausend, höchstens aber siebentausend zahlen. Schließlich waren Makler nicht gerade für ihre Großzügigkeit bekannt.
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Es sei denn, Benno war auf seine alten Tage weich geworden, aber das war höchst unwahrscheinlich. Carlos trat mir in die Seite. »Geh wieder an deine Arbeit.« Ich schaltete das Lesegerät wieder ein, aber ich wurde den Gedanken nicht los. »Carlos?« »Ja.« Er wischte sich den Fleischsaft vom Kinn und spülte einen weiteren Bissen mit einem Schluck Wein herunter. »An wen hast du sie wirklich verkauft?« Eine vage Beschuldigung auszusprechen, war ein alter Trick, aber manchmal funktionierte es. Diesmal allerdings nicht. »Ich weiß nicht, wovon du redest - ach, schon wieder die Brosche. Ich habe sie an Benno verkauft, wie ich dir schon sagte.« »Benno zahlt nicht so gut. Er hätte dir keine zehntausend Pesos gegeben, und so viel hast du fast schon ausgegeben.« Nun, für ganz so hoch hielt ich seine Ausgaben nicht, aber ich wollte ihn so wütend machen, daß er mir die Wahrheit sagte. Er ging allerdings nicht darauf ein. Er zuckte nur die Achseln. »Lies jetzt weiter, oder ich schicke dich zum Arbeiten nach draußen!« Ich stand auf. »Ich gehe, und zwar sofort.«
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Marie schaute mit großen Augen zu mir hoch.
»Aber wohin?«
»Das weiß ich nicht. Aber ich glaube allmählich, daß Carlos die Brosche auf offenem Markt verhökert hat. Ich will nicht hier sein, wenn Arnos auftaucht, um mir die Haut abzuziehen.« Carlos schlug mich mit dem Handrücken zu Boden. »Du bist dumm.« Er trat mich gegen den Kopf, daß ich Sterne vor den Augen sah. »Ich dulde keine Dummheit. Nur zu; verschwinde. Dein Vater hat immer noch eine Belohnung auf dich ausgesetzt; ich werde ihn wissen lassen, wo du bist, und ihm helfen, dich zu finden. Elwerianer mögen nicht gern an ihre kleinen Bastarde erinnert werden. Es ist ihnen peinlich; sie geben nicht gern zu, daß sie bei den Frauen der Niederen waren.« Ich rieb mir den Kopf. »Wie? Willst du ihm erzählen, daß du den kleinen Bastard aus Elweré geholt hast? Du würdest es wagen, dich direkt an ihn zu wenden? Oder willst du diesmal wirklich Bennos Dienste in Anspruch nehmen?« »Wenn es eines Tages wirklich nötig werden sollte, würde ich . . .« Ein dünnes Lächeln zog über sein faltiges Gesicht. »Sehr schön, mein kleiner David. Sehr geschickt.« Er nickte. »Zugegeben: Ich habe die Brosche nicht an Benno verkauft. Dieses 75
Geschäft habe ich mit Elren Mac Cormier gemacht. Sie zahlt besser. Viel besser.« Und Elrens Mund leckt wie ein Sieb. So hieß es bei den Leuten in der Unterstadt. Wenn man einem Fremden etwas gestohlen hatte, konnte man zu Elren Mac Cormier gehen - mit heißer Ware lieber nicht. Aber vielleicht war es diesmal anders. Vielleicht würde Elren es zur Abwechslung einmal nicht in der ganzen Stadt herumerzählen. »Sehr geschickt«, wiederholte Carlos. »Und Geschicklichkeit sollte belohnt werden.« Er nahm einen Schalter auf. Ich ließ die Klinge in der Hand aufspringen.
Ein Druck auf den Schalter, und meine Finger brannten so, daß ich sie fallen ließ. »Geschicklichkeit sollte belohnt werden«, sagte er und probierte den Schalter an seinem Armstumpf aus. »Auf lange Sicht.«
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Zweites Zwischenspiel Van Ingstrand und die Wache Mit einem tiefen Seufzer richtete Arnos van Ingstrand sich auf und reckte sich ausgiebig. Während er das tat, griff er an dem Deckenspiegel vorbei und drehte die Entlüftung höher, damit der Gestank schneller abziehen konnte. Der Ventilator summte laut. Wieder seufzte er. Mit dem zweiten der beiden Leibwächter, die den Jungen mit der Brosche hatten entkommen lassen, war es viel zu schnell gegangen. Bei dem ersten hatte es Tage gedauert . . . Er schlug auf Owens blutige Überreste und schüttelte den Kopf. »Zuviel, Mikos, zuviel. Ein tödlicher Schock. Mit dem offenen Gesicht mußt du vorsichtig umgehen. Ich weiß, daß du gern am Trigeminusnerv arbeitest, aber ... sei beim nächsten Mal bitte etwas konservativer, etwas zurückhaltender.« Mikos zuckte die Achseln. »Tut mir leid, Sir. Ich dachte, er würde es aushalten. Der erste kam gut damit zurecht. Verdammt.«
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Der kleine Mann mit dem Frettchengesicht gab der Leiche mit den weit aufgerissenen Augen zum Schein einen strafenden Klaps, nahm seine Werkzeuge auf und legte sie vorsichtig in den Reiniger. »Vielleicht sollten wir beim nächsten Mal ein wenig mehr Valda verabreichen«, sagte er und hob die Brauen. Er schüttete einen Meßbecher voll Reinigungsmittel in die Maschine, schloß sie und drückte mit dem Ellenbogen den Startknopf. Dabei achtete er sorgfältig darauf, die glänzenden Flächen der Maschine nicht mit Blut zu besudeln. »Vielleicht ein paar Amphetamine?« fragte Mikos, als er zum Becken hinüberging und anfing sich zu waschen. »Dann könnte es bei dem nächsten ein wenig länger dauern.« »Die Schwierigkeit beim Valda-Öl ist, daß es den Schock nur überdeckt und nicht verhindert«, sagte van Ingstrand. Er tippte gegen den Deckenspiegel. »Es macht zwar Spaß, wenn der Proband zuschauen kann, wie ihm das Gesicht geöffnet wird, aber zuviel Valda-Öl, und was haben wir?« Er zuckte die Achseln. »Stümperhafte Chirurgie, aber keine Kunst.« »Es wäre außerdem sinnlos.«
»Du mußt also beim nächsten Mal vorsichtiger
sein.« Van Ingstrand lächelte. Um seinen Worten ein
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wenig von ihrer Schärfe zu nehmen, sagte er dann: »Wir müssen beim nächsten Mal vorsichtiger sein.« Mit einem letzten bedauernden Blick auf die immer noch auf den Operationstisch geschnallte Leiche schlüpfte er aus seinem blutbespritzten Kittel und seinen Sandalen und watschelte nackt zum Waschbecken. Er drehte den quietschenden Hahn auf, nahm ein neues Stück weiße Seife und fing an, sich in dem lauwarmen Wasser zu waschen. Es machte ihm Spaß zu beobachten, wie aus der Seife rosa Schaum entstand. Arnos van Ingstrand achtete immer darauf, sich nach jeder Sitzung gründlich zu waschen; es war wichtig, alles Blut wegzubekommen, damit es später nicht juckte. Als er sich gesäubert hatte, stand Mikos schon mit einem frischen Kittel hinter ihm und half ihm hinein. Dabei lächelte er van Ingstrand tröstend an. Mikos war ein brauchbarer Mann. Er schätzte seine eigene Position richtig ein, und er erkannte die Realitäten des Hobbys, dem van Ingstrand frönte. Nachdem sie bei einer mißlungenen Sitzung assistiert hatten, hätten van Ingstrands andere Männer vor Angst gezittert oder sich krampfhaft bemüht, ihre Angst vor seinem Zorn nicht zu zeigen. Ganz anders Mikos. Mikos war ein Aficionado,
wie van Ingstrand selbst. Auf seine eigene
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bescheidene Art ein Künstler. Mikos wußte, daß van Ingstrand begriffen hatte, wie leicht ein Proband sterben konnte, wenn man ihn bis an die äußerste Schmerzgrenze führte. Das war nicht immer zu vermeiden. Jedenfalls nicht auf lange Sicht. Aber es hätte nicht so schnell passieren dürfen. »Wir müssen besonders vorsichtig sein, wenn wir den Jungen gefunden haben, der meine Brosche gestohlen hat«, sagte van Ingstrand, den es immer noch störte, daß er das Gewicht des Schmuckstücks an seiner rechten Brustseite nicht mehr spürte. »Bei dem muß es besonders lange dauern.« Er ging zur Tür und drückte auf den Knopf der an der Wand angebrachten Sprechanlage. »Sir«, sagte die metallische Stimme. »Wir sind hier fertig. Laßt die Leiche entfernen, und packt die Geräte weg, sobald der Waschgang abgelaufen ist.« »Yes, Sir.« Mikos verzog das Gesicht.
»Was ist denn?« fragte van Ingstrand. Der andere runzelte immer noch die Stirn. »Ich . . . ich möchte ab sofort meine Geräte lieber selbst
wegpacken. Mein Kitzelgerät hat einen Kratzer, und
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ich weiß, daß der nicht von mir stammt. Ich will niemanden beschuldigen, aber . . .« »Nun, gut.« Aber Mikos machte immer noch ein besorgtes Gesicht. Es gefiel ihm überhaupt nicht, daß Owen so leicht gestorben war, und er wußte, daß er damit van Ingstrands Zorn erregt hatte. Er hatte ihm mit Owen zu wenig Zeit gelassen, und nun fühlte er sich schuldig. Jetzt brauchte er selbst Trost. »Ich helfe dir«, sagte van Ingstrand. Mikos wollte schon protestieren, aber dann akzeptierte er diese Geste. »Danke. Es wird noch einige Minuten dauern, bis der Waschgang durchgelaufen ist.« »Ich weiß. Was hast du dir für heute abend vorgenommen?« fragte van Ingstrand, nur, um etwas zu sagen. Mikos zuckte die Achseln. »Ich dachte, es würde heute abend länger dauern.« »Das dachte ich auch.« Van Ingstrand überlegte eine Weile. Er mußte noch die Zahlungsunterlagen auf den neuesten Stand bringen und das Geld für die Eurobank zählen und versiegeln. Diese Dinge überließ er nie seinen Angestellten, ganz gleich, wie sehr sie ihn fürchteten. 81
Aber das alles hatte noch ein paar Tage Zeit. Und es gab nicht viel, was er heute abend sonst hätte tun können. Statt zu arbeiten, sollte er sich vielleicht ein wenig amüsieren. Normalerweise hätte er sich für den Abend eine Frau gemietet, aber nach der mißlungenen Veranstaltung im Keller hatte er dazu keine Lust mehr. »Vielleicht sollten wir uns ein paar Filme ansehen. Ich habe schon lange keinen guten Film mehr gesehen.« »Holographische?« Mikos' Miene hellte sich auf. »Die gefallen mir besonders gut.« Van Ingstrand nickte. »Ich habe im vergangenen Jahr eine neue Sendung von der Erde bekommen, aber ich hatte noch keine Gelegenheit, mir die Sachen anzusehen. Metro Goldwyn Warner haben ein neues Verfahren entwickelt. Hast du davon schon gehört?« »Ein neues Verfahren? Nein.« »Ja. Sie nehmen herkömmliche Filme, lassen sie über einen Computer laufen, und . . .« Er gestikulierte hilflos. Er kannte das Verfahren überhaupt nicht. »Der Computer wandelt sie in Hologramme um. Ich habe bisher nur wenige gesehen, aber ich kann sie von richtigen Hologrammen nicht unterscheiden.« 82
»Tatsächlich?« Mikos war beeindruckt. »Haben sie das auch mit Geburt einer Nation gemacht? Oder mit Animus? Das wäre wirklich sehr schön.« »Ja, die beiden Filme habe ich. Aber jetzt möchte ich lieber Krieg der Sterne sehen. Die müßten doch als Hologramme sehr eindrucksvoll sein.« »Flach haben sie mir immer sehr gefallen. Diese vier Filme sind Klassiker.« »Dann werden wir sie uns anschauen.« Wieder drückte er auf den Knopf der Sprechanlage. »Wir sehen heute Filme - wir fangen eine Stunde vor Sonnenuntergang an. Krieg der Sterne. In der rich tigen Reihenfolge, bitte.« »Natürlich, Sir.« »Und ich möchte nicht gestört werden.«
»Keine Störungen, Sir.« »Es sei denn, jemand findet den Jungen, der meine Brosche gestohlen hat.«
»Yes, Sir.« Arnos van Ingstrand rieb sich die Hände. Dafür würde sich Vorführung lohnen.
eine
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Unterbrechung
der
Kapitel vier »Das macht zehn Pesos. Sofort.« Als Carlos uns ein paar Tage später wieder zur Arbeit in die Unterstadt schickte, war mein Rücken ziemlich gut verheilt. »Wenn ihr nicht unbedingt auf euren faulen Ärschen herumsitzen wollt, während ich Vorräte anschaffe, könntet ihr eigentlich ein bißchen Geld verdienen«, hatte er gesagt. Nichts war mir lieber, als nach draußen zu gehen. Selbst ein dauernder Angstzustand kann nicht verhindern, daß sich allmählich Platzangst einstellt. Ich mußte mich ganz einfach bewegen. Als wir den Tunnel verließen, blinzelten wir in die grelle Sonne, und Marie lächelte mich an. »Was wollen wir denn heute machen, David?« Ich faßte an meine Schultertasche. »Nicht wir. Heute nicht.« Erstens lag die Gegend, die heute mein Ziel war, in der Nähe des schäbigen Reservats, und es war nicht gut, wenn wir dort zusammen gesehen wurden; nach dem Fiasko mit den drei Inspektoren waren Maries und meine Beschreibung dort bestimmt noch im Umlauf. 84
Zweitens konnte ich, wenn es darauf ankam, allein schneller laufen. Ich zweifelte zwar nicht an Carlos' Behauptung, daß niemand wußte, wer der Junge war, der van Ingstrands Brosche gestohlen hatte, aber Carlos Einhand beim Wort zu nehmen, wäre unglaublich dumm. »Willst du nicht mehr mit mir arbeiten?« Sie sah aus, als ob sie anfangen würde zu weinen. Ich streckte die Hand aus und strich ihr über das Haar. »Nein, Kleines, das stimmt nicht. Es ist nur für heute. Ich gehe in die Mittelstadt zum Hafen hinüber, und du gehst zu den Märkten. Sei nicht dumm, du brauchst heute nicht viel zu tun. Bei dem vielen Geld, das wir jetzt haben, wird Carlos uns wahrscheinlich nicht schlagen, solange wir nur irgend etwas mit nach Hause bringen. Halt dich an leichte Beute.« Sie rümpfte die Nase. »Du redest, als könnte ich die scharfe Seite einer Klinge nicht von der stumpfen unterscheiden.« Ich machte mir um sie weiter keine Sorgen. Selbst wenn sie einen Fehler machte, die meisten von den Trotteln würden sie eher laufen lassen, statt ein hübsches kleines Mädchen der Schutzgesellschaft zu übergeben. »Und nun beeil dich; kurz vor Sonnenuntergang treffen wir uns hier wieder. Falls 85
ich mich verspäten sollte, wartest du auf halben Wege unten am Pfad. Ich komme bestimmt, bevor es so dunkel wird, daß die t'Tant Schwierigkeiten machen.« »Was hast du denn vor?«
»Das sagte ich dir doch schon: ich werde am Hafen arbeiten.« Wieder rümpfte sie die Nase. »Ach, sie schon wieder.« »Ich habe Gina schon eine ganze Weile nicht mehr
gesehen.« »Aber du wirst doch auch Geld mitbringen?« »Natürlich. Jetzt verschwinde, und . . .« »Ich weiß schon. Sei vorsichtig.« Sie lief davon,
und der Sand spritzte unter ihren Füßen auf. Gina war nicht der Hauptgrund dafür, daß ich alleinsein wollte, es gab noch einen wichtigeren. Für Gina würde ich etwas Geld brauchen, aber für die wichtigere Angelegenheit brauchte ich keines. Ich streichelte den Pyritring, den ich aus meinem Versteck geholt hatte. Mit ein wenig Glück würde ich den zu Geld machen können.
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Ich nahm meine Make-up-Ausrüstung und einen neuen Buzh-Rock aus meiner Schultertasche und fing an, Farbe und Pseudofleisch aufzutragen. Auf dem Schild vor einem der niedrigen Steinhäuser am Rand des Hafenbezirks stand: ELRIN MAC CORMIER, MAKLERIN
Sofort Bargeld - Wechselstube - Freundliche Behandlung BESTE KURSE AM ORT Unser Motto: ›Wer mehr verspricht als wir, der lügt‹
Es ist immer etwas heikel, in der Nähe eines Makler-Büros zu arbeiten, und deshalb ist es tunlichst zu vermeiden. In gewissem Sinne sind Makler und Diebe Partner; wir essen vom selben Tisch. Es ist unhöflich - und immer riskant - zu arbeiten wo man ißt. Ich kannte Elren Mac Cormier nur vom Sehen. Und ich kannte ihren Ruf. Ich selbst hatte mit ihr noch nie Geschäfte gemacht. Ich konnte es allerdings riskieren, solange sie meine Tarnung nicht durschaute. 87
Rasch verschwand ich in der Gasse neben dem Gebäude, um mein Make-up zu überprüfen und mir einen Plan zurechtzulegen. Moment ... ich konnte wie fünfunddreißig aber auch wie fünfundfünfzig aussehen, aber in diesem Fall mußte ich so jung wie möglich wirken. Also fünfunddreißig - genau in den frustrierenden Jahren der Pubertät. Das dürfte richtig sein. Ich rasierte mich noch einmal und brachte mir dabei ein paar leichte Schnitte bei, wie es ein Junge wohl getan hätte, der das Rasieren noch nicht gewohnt war. Ich steckte den Rasierapparat wieder in meinen Beutel und holte eine halbleere Tube Hautstraffer heraus, um die Sorgenfalten um meine Augen zu beseitigen. Dann trug ich noch etwas Make-up auf, damit die Ringe unter meinen Augen nicht so auffielen. Zuletzt klebte ich mir ein paar Lagen Pseudofleisch auf die Wangen - das war der sogenannte Babyspeck. Ich strich mir Öl ins Haar und kämmte mich rasch. Als ich mich jetzt im Spiegel betrachtete, mußte ich feststellen, daß ich tatsächlich wie ein Buzh aussah, wenn auch nicht wie der, der van Ingstrand die Brosche gestohlen hatte. Ich war rundlicher und ein paar Jahre jünger.
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Gut. Ein bißchen Nervosität, gelegentliches Stottern, hin und wieder ein Kickser in der Stimme. Aber das reichte noch nicht. Ich mußte mich mit der aufrechten Haltung eines Buzh bewegen und mich dann um zehn Prozent ducken, um wie ein nervöser Junge zu wirken, der einen Ring verkaufen will, den er seinem Vater gestohlen hat. Ich packte meine Make-up-Utensilien und die Klinge in meine Schultertasche und versteckte alles unter einem Abfallhaufen. Dann wartete ich noch ein paar Minuten, bis die Druckstellen des Riemens, an dem ich die Klinge immer trug, von meinem Handgelenk verschwunden waren. Das wichtigste an jeder Arbeit ist die Vorbereitung, hatte ich von Carlos gelernt. Da ich hier nichts stehlen wollte, brauchte ich die Klinge nicht. Es war gut, daß ich die Klinge bei den anderen Sachen gelassen hatte, denn als ich durch die Tür ging, filzte mich einer von Elrens bulligen Leibwächtern. Er tat es zwar höflich, aber sehr gründlich. Dann führte er mich durch einen dunklen Vorraum in ein fensterloses Zimmer, das mit guten Teppichen ausgelegt war und von diskret angebrachten Lampen indirekt beleuchtet wurde.
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Elren Mac Cormiers Büro war elegant ausgestattet. Ein prächtiger schwarzgoldener Teppich bedeckte den Boden. Wenn es ein echter Perser war, kostete er bestimmt Hunderte von Kreditmarken; aber auch als unechtes Stück wäre er immer noch sehr viel wert. Die Besucherstühle vor ihrem Schreibtisch hatten viel zu tiefe Polster. Das bewies ihren Sinn für Sicherheit - aus einem dieser Sessel konnte man nicht plötzlich aufspringen. Die Seiten und die hintere Wand waren mit purpurroten Vorhängen versehen; der Raum konnte also ein Dutzend weitere Eingänge haben oder auch gar keinen. Der Leibwächter zeigte auf einen der Stühle vor dem massiven, mit einer Steinplatte belegten Schreibtisch. »Wenn Sie hier warten wollen, junger Herr. Die Maklerin wird sofort kommen.« Ich nahm den Pyritring aus der Tasche und tat so, als fummelte ich nervös an ihm herum, während ich wartete. Möglicherweise gab es fünfzig Sehschlitze - einen gab es aber bestimmt, wenn der vielleicht im Augenblick auch nicht besetzt war - , und ich mußte nicht unbedingt dadurch Verdacht erregen, daß ich mich, während ich wartete, nach einem Safe oder einem Versteck umschaute. 90
Es gab allein in diesem Raum ein halbes Dutzend Stellen, wo ein Safe verborgen sein konnte, und ich sah keine Anzeichen dafür, daß es hier Fallen oder ein elektronisches Warnsystem gab. Wahrscheinlich war ihr Safe - jedenfalls, der, in dem sie einen Großteil ihres Geldes aufbewahrte - in diesem Raum. Es ist für einen Makler beruhigend, wenn er seine Geschäfte in der Nähe der Kasse abwickelt. Daß es hier anscheinend keine Fallen und keine Alarmanlage gab, gefiel mir überhaupt nicht. Je nachdem, ob Elren auch die Nächte in dem Gebäude verbrachte, hätte das eine oder das andere vorhanden sein müssen. Die Tatsache, daß eine Alarmanlage fehlte, mußte bedeuten, daß Elren hier nicht übernachtete. Eine Alarmanlage ist nur dann sinnvoll, wenn man sofort zur Stelle ist, wenn sie ausgelöst wird. Da sie aus Angst vor den t'Tant bei einem nächtlichen Alarm das Haus nicht verlassen würde, konnte sie hier nicht wohnen. Es mußte also Fallen geben. Oder nahm sie abends ihre Ware mit nach Hause? Nein, das war unmöglich; ein erfolgreicher Makler kann seine ganze Ware und sein Geld nicht jeden Tag hin und her tragen. 91
Dann blieben nur noch Nachtwachen und der eine oder andere Safe. Ich mußte ein Nicken unterdrücken. Mit lebenden Wachen würde ich schon fertig werden, und das galt auch für fast jedes Schloß. Und das wäre alles - immer vorausgesetzt, daß die Brosche sich noch im Gebäude befand. Eine kühne Annahme, aber auf die brauchte ich mich ja nicht festzulegen. Noch nicht. Der Vorhang an der gegenüberliegenden Wand wurde zur Seite geschoben, und Elren Mac Cormier betrat den Raum. Sie war eine große Frau in mittleren Jahren mit einer kurzen, spitzen Nase und schulterlangem Haar, das ihr um das Gesicht flog, als sie nervös mit dem Kopf zuckte. »Guten Tag, junger Herr«, sagte sie, und ihre ruhige Stimme bildete einen seltsamen Gegensatz zu ihren aufgeregten Bewegungen. Sie lächelte und zeigte zwei Reihen schöner Zähne mit Goldfüllungen. Makler haben immer schöne Zähne mit Goldfüllungen. »Ich glaube, wir haben noch keine Geschäfte miteinander gemacht. Habe ich recht?« »J . . . ja«, sagte ich und war stolz, daß mir das Stottern so gut gelang. »Ich habe so etwas noch nie ...«
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Sie hob die Hand. »Bitte. Nur keine Aufregung. Für jeden und für alles gibt es ein erstes Mal.« Sie senkte den Kopf. »Und ich bin stolz und erfreut darüber, daß Sie Ihr erstes Geschäft mit mir machen wollen. Handelt es sich um den Ring?« Sie setzte sich an ihren Schreibtisch. »Ring?«
In ihrer Stimme lag jetzt ein Anflug von Ungeduld. »Der Pyritring, den Sie da in der Hand haben.« Elren Mac Cormier lächelte. Ein junger Buzh, der einen teuren Ring verkaufen wollte - das sah vielversprechend aus, für heute und für die Zukunft. Sie legte den Kopf schief und sah mich von unten bis oben an. Wahrscheinlich überlegte sie, ob es sich um Drogen oder Sex handelte. Wahrscheinlich würde sie auf Sex tippen, denn meine Augen waren klar, und meine Arme hatten keine Einstiche - und ich war so nervös, daß dies sehr wohl mein erstes Geschäft sein mochte. »Ja. Der Ring. Er gehört mir«, sagte ich und
reichte ihn ihr. »Aber ich brauche ihn nicht mehr.« »Natürlich.« Sie nickte. Sex, befand sie. Sorgfältig betrachtete sie den Ring durch eine Lupe und wog ihn auf ihrer Tischwage. »Ein
schöner Pyrit, wenn er auch einen kleinen Fehler
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hat. Für Stein und Gold kann ich Ihnen vierhundert Pesos geben. Siebenhundert, wenn Sie mir erlauben, den Ring so wie er ist zu verkaufen.« Diesmal verzichtete sie auf ein Lächeln. Für eine Geschäftsverbindung war dies ein guter Auftakt, und sie war mit sich zufrieden: Ein Buzh-Junge, der einen Ring verkauft, den er seinem Vater gestohlen hat, würde nicht das Risiko eingehen, den Ring intakt zu lassen, schon deshalb nicht, weil er sich auf die Verschwiegenheit des Maklers nicht verlassen würde. Wenn er ihren Ruf als Klatschmaul kannte, würde er bei ihr besonders vorsichtig sein. Und da es sein erstes Geschäft war, würde er selbst Benno nicht trauen, der für seine Verschwiegenheit gerühmt wurde. Fast hätte ich jetzt selbst gelächelt. Natürlich würde Elren den Ring nicht zerhacken, denn das würde seinen Wert erheblich mindern. Und genau das war mir sehr recht; der Ring war einfach zu schön. Aber ich mußte meine Rolle weiterspielen. »Es . . . wäre mir lieber, wenn Sie den Ring zerbrechen. Ich . . . würde mich ärgern, wenn ich ihn am Finger eines anderen sehen müßte.« Sie nickte. »So werden wir es machen.« Sie
schaute sich im Zimmer um und verzog das Gesicht.
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»Es tut mir leid, aber ich habe mein Werkzeug nicht hier. Sonst würde ich sofort den Stein herausbrechen und das Gold vor Ihren Augen einschmelzen. Ich hoffe, Sie trauen mir?« »N . . . natürlich«, sagte ich. Und natürlich wußte ich, daß sie den Ring nicht einschmelzen würde. Sie griff nach unten und drehte einen Schlüssel um. Dann zog sie eine Schreibtischschublade auf. Nach dem Geräusch zu urteilen, war es eine schwere Schublade. Das war vielversprechend; wenn der Schreitisch gut gesichert war, bedeutete das, daß sie ihn verschlossen hielt, um ihre Wachen am Stehlen zu hindern. Das wiederum bedeutete, daß es hier keine Elektronik gab. Die Räume wurden von Menschen bewacht. Aber das ließe sich leicht feststellen.
Sie hob eine Braue. »Ich nehme an, Sie wollen keine Ware, sondern Bargeld?« »J . . . ja.« »Gut. Sind Hunderter Ihnen recht?«
Ich nickte. Sie lächelte; bestimmt Sex. Die Schutzgesellschaft mißbilligt Drogenhandel unter den Niederen und den
Buzh, und zwar aus demselben Grund, aus dem sie
Diebstähle mißbilligt; auch Drogen schmälern die
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Einnahmen aus legitimen Geschäften wie Lebensmittelverkauf oder der Straße der Freuden. Deshalb findet der Drogenhandel in den Häusern der Freudenstraße statt, deren Besuch sich die Niederen nicht leisten können, oder in verborgenen Winkeln in den Gassen der Unterstadt. Der Dealer liefert den Stoff, und der Kunde hält das Geld abgezählt bereit - in einer solchen Situation kann man nicht auf das Wechselgeld warten. Andererseits haben die Häuser in der Straße der Freuden nichts dagegen, zusätzlich Geld zu verdienen; sie werden genauso besteuert wie jedes andere Geschäft. Sie blätterte vier Hundert-Peso-Noten auf den Tisch. Dann wünschte sie ihm einen guten Tag. »Hoffentlich besuchen Sie mich bald wieder«, sagte sie. »Es war mir ein Vergnügen, mit Ihnen ein Geschäft zu machen.« »Sehr freundlich von Ihnen«, sagte ich mit unbewegtem Gesicht. Genau das hatte ich gerade selbst gedacht. Im Hinausgehen steckte ich die Scheine in meinen Beutel. Alles, was ich brauchte, war jetzt ein vernünftiger Rat. Nun, nicht ganz alles.
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Was ich wirklich brauchte, war jemand, mit dem ich reden und dem ich trauen konnte. Ich wollte zu Gina.
Gina kam mit zwei Gläsern eiskaltem Wasser zum Bett zurück. »Dies müßte ich dir eigentlich zusätzlich berechnen«, sagte sie, als sie sich neben mich legte und es sich in den Kissen bequem machte. »Dies ist schließlich kein Speiselokal.« Die Sonnenstrahlen fielen durch das vergitterte Fenster auf das Bett, und in ihrem langen weißblonden Haar brach sich das Licht in allen Farben des Regenbogens. Sie drehte sich auf die Seite, um aus ihrem Glas zu trinken. Ein Bein über das andere geschlagen, lag sie in einer höchst anmutigen Pose da, und ihre ausgestreckten Zehen akzentuierten die Rundungen ihrer Schenkel. Gina war schön. Aber wahrscheinlich bin ich voreingenommen. »Du hast recht«, sagte ich. »Es hat dir offensichtlich nicht viel Spaß gemacht.« Ich schnaubte wütend. Sie lächelte nur und fuhr mit einem langen Fingernagel über meine Brust. »Aber vielleicht ist Wasserholen auch nicht so anstrengend.« Sie stellte ihr Glas auf den Nachttisch, schmiegte sich an mich und legte ihren Kopf auf meine Brust. »Diese 97
Kuschelei kostet dich allerdings noch mal einen Peso.« »Schön.«
Dies war Teil eines Spiels, das wir jedesmal spielten. Wir verletzten nie gewisse ungeschriebene Regeln. Wir taten so, als sei das Ganze nur ein Geschäft, als sei sie nur für Geld zu haben. Das war zwischen Gina und mir immer so gewesen, seit wir uns vor ein paar Jahren kennenlernten. Sie erwischte mich, als ich versuchte, sie zu bestehlen, und setzte mich durch einen Tritt zwischen die Beine außer Gefecht. Ich zahlte ihr einen halben Peso, und sie verzichtete darauf, mich anzuzeigen. Ja, nur einen halben Peso. Sie hätte meine Geldtasche nehmen können, die zehnmal soviel Geld enthielt, und mich trotzdem an die Schutzgesellschaft ausliefern können. Aber sie hatte es nicht getan. Und jede Andeutung, daß sie an mir sehr viel mehr Geld hätte verdienen können, war irgendwie verboten. Auch das gehörte zum Spiel, und Gina spielte dieses Spiel sehr gern. Und ich denke, das war der Grund dafür, daß ich Vertrauen zu ihr hatte. Wenn sie mich gegen 98
Belohnung an van Ingstrands Leute ausgeliefert hätte, wäre niemand dagewesen, mit dem sie hätte spielen können. Niemand hätte sie verstanden; niemand hätte mit ihr gespielt. »Ich habe ein Problem«, sagte ich. »Ich gebe dir zehn Pesos für einen guten Rat.« »Und wieviel gibst du mir für einen schlechten? Und wie bestimmen wir die Qualität . . .« Sie nahm sich zusammen. »Moment mal - du scheinst ja ganz ernsthaft zu reden.« »Gut, daß du es merkst.« Sie setzte sich auf und drapierte die Decke um ihre Schultern. »Du denkst daran, Carlos zu verlassen?« Schon wieder. Jedesmal schaffte sie es, dieses Thema ins Gespräch zu bringen. »Nein. Ich möchte schon . . . aber ich kann es nicht.« Und nicht nur wegen Marie - wenn auch Gott allein wissen mochte, was Carlos ihr antun würde, wenn ich fortging - , auch meinetwegen. »Er würde meinem richtigen Vater mitteilen, wo ich bin. Die Elweries . . .«
»Elwerianer.« »Die Elweries lassen ihre Bastarde nicht gern am
Leben. Selbst wenn ich genug Geld hätte, die
Passage durch das Tor zu bezahlen. Ich würde es
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nicht wagen. Sie haben alle so viel Geld; selbst wenn ich den Planeten verließe, würden sie mich eiskalt jagen.« »Stimmt.« Sie nickte. »Worum geht es also?« »Du hast doch gehört, daß jemand Arnos van Ingstrands Brosche gestohlen hat?« Sie wurde blaß. »Du?« »Ich. Tu doch nicht so erstaunt. Seit du mich damals erwischtest, bin ich bedeutend besser geworden.« Sie stellte ihr Glas ab und legte sich hin. »Das solltest du auch. Du kennst . . .« Sie sprach nicht weiter und tat so, als hätte sie einen Hustenanfall. Du kennst die ausgesetzte Belohnung, wollte sie sagen. Du weißt, daß du Arnos van Ingstrand mindestens hunderttausend Pesos wert bist. Aber das würde wieder das Thema aufbringen, daß sie aus mir sehr viel mehr Geld hätte herausholen können und daß sie nur deshalb darauf verzichtet hatte, weil sie mich mochte, und das durfte sie nicht sagen. »Du weißt, wie er darauf brennt, dich zu erwischen«, sagte sie und ließ das Unsagbare ungesagt. »Ich weiß es«, sagte ich und zog sie an mich. Und
ich weiß, daß du mich nicht ausliefern würdest,
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dachte ich und wünschte mir, daß sie meine Gedanken lesen könnte. »Und deshalb mache ich mir Sorgen. Rate mal, wem Carlos die Brosche verkauft hat.« Sie zuckte die Achseln. »Die Verschwiegenheit meines Vaters ist legendär.« Das liegt wohl in der Familie, dachte ich. »Seine Preise auch.« Ich weiß nicht, wann, wie und warum Benno seine Tochter hinausgeworfen hatte; das war auch etwas, über das ich nicht reden konnte. Ich hatte nur wenige Hinweise. Worte, die Gina im Schlaf gemurmelt hatte, wenn ich einmal Geld genug hatte, bei ihr zu übernachten. Mit einer Kleinmädchenstimme hatte sie dann im Schlaf geredet und ihrem Vater versprochen, daß sie sich bessern würde, wenn er ihr dazu nur noch eine Chance lasse. »Nun.« Sie zuckte die Achseln. »Dann kann dir also nichts passieren.« »Doch. Carlos hat die Brosche zu Elren Mac Cormier gebracht.« Sie schwieg eine ganze Minute lang. »Das ist schlimm, ganz gleich, was sie unternimmt. Elren bricht nicht gern ein Schmuckstück auseinander; sie
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könnte versuchen, die Brosche vom Planeten wegzuschaffen.« »Das wäre doch sehr gut.«
»Ja, aber es ist unwahrscheinlich.« Sie schüttelte den Kopf. »Darauf darfst du dich nicht verlassen. Viel wahrscheinlicher ist, daß sie versuchen wird, Arnos die Brosche gegen Bezahlung zurückzugeben, zusammen mit einigen Informationen. Und das könnte problematisch werden. In seinen jüngeren Jahren war Carlos verdammt gut, aber seine fehlende Hand fällt jedem auf. Andererseits heißt es, daß der alte Arnos sehr wütend ist. Er könnte sie zur Mitschuldigen erklären und weitere Informationen aus ihr herauskitzeln.« Sie lächelte. »Und ich glaube, Elren ist intelligent genug, das selbst zu erkennen. Vielleicht wartet sie, bis er sich ein wenig beruhigt hat, und redet erst dann.« Ich zuckte die Achseln. »Sie könnte ihm nicht viel erzählen.« »Richtig. Aber vielleicht würde Carlos' Name oder Beschreibung reichen.« »Und vielleicht würde Arnos ihr nicht glauben. Vielleicht würde er denken, sie sei von Anfang an in
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die Sache eingeweiht gewesen. Er könnte sie sogar . . .« »Töten, weil sie mit der Sache zu tun hat. Das wäre schlimm.« Wieder zuckte ich die Achseln. »Elren Mac Cormier ist nicht meine Freundin.« »Du verstehst nicht, was ich meine. Wenn Arnos sie anrührt, hat er alle übrigen Makler am Hals. Es geht um zuviel Geld, als daß sie mit sich spaßen ließen. Zusammen haben sie genügend Mittel, um fremde Söldner nach Oroga holen zu können, Männer, die der Schutzgesellschaft durchaus gewachsen wären. Das könnte blutig werden.« Sie trank von ihrem Wasser. »Für alle in der Unter- und der Mittelstadt.« »Das will ich natürlich nicht.« »Warum lügst du, David?« Sie schaute mir ernst in die Augen. »Das wäre dir doch völlig gleichgültig. Du bist ein emotionaler Krüppel.« »Warte einen . . .« »Es ist nicht deine Schuld, aber du bist nicht imstande, für irgend jemanden etwas zu empfinden.« Sie sprach ruhig, fast sanft, aber jedes Wort war wie ein Dolchstoß. »Du hattest doch nie eine richtige Kindheit, nicht wahr?« 103
»Gewiß, ich . . .« »Wie alt warst du, als Carlos dich zum ersten Mal arbeiten schickte?« »Fünfundzwanzig, vielleicht dreißig. Ich weiß es nicht mehr genau.« Sie nickte. »Das meinte ich ja gerade. Die Kindheit ist dazu da, daß man viele Dinge lernt. Zum Beispiel Zuneigung empfinden - nicht stehlen. Ich mache dir keine Vorwürfe, denn ich weiß ja, wie du aufgewachsen bist. Du kannst für niemanden etwas empfinden.« »Das ist nicht wahr!« »Nur weil du schreist?« Sanfte Finger streichelten meine Stirn. »Sag mir, wie würdest du dann das Blutvergießen verhindern?« Ich zuckte die Achseln. »Wenn sie die Brosche nicht hat, kann sie nicht versuchen, sie Arnos zu verkaufen; wenn sie die Brosche zuerst gehabt aber dann verloren hätte, bräuchte sie nicht das Risiko einzugehen, mit ihm zu reden.« »Und?« »Ich sollte sie lieber stehlen, nicht wahr?«
Sie trank ihr Glas leer. »Darüber solltest du gründlich nachdenken. Es hört sich sehr riskant an. Aber . . .«
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»Nun?«
»Es nicht zu tun, wäre vielleicht noch riskanter.
Das macht zehn Pesos. Sofort.« »Warum versuchst du nicht, elf zu bekommen?« Sie lächelte. »Das Geld könnte ich immer gebrauchen.«
Ich traf Marie am Eingang zum Tunnel. Sie saß mit gekreuzten Beinen auf einem Felsblock, streichelte den Beutel auf ihrem Schoß, blinzelte in die Sonne und murmelte vor sich hin. »Nun?« Ungeduldig schlug sie mit den Fersen gegen den Stein. »Wie war's am Hafen?« »Nicht schlecht.« Ich warf ihr meinen Beutel zu. »Knapp zweihundert Pesos und ein bißchen Schmuck von einem Schrift.« Das hörte sich lahm an. Ich mußte es spezifizieren - »Eine goldene Gürtelspange; die habe ich für hundert Pesos verkauft. Und wie ist es dir ergangen?« »Nicht sehr gut. Nur siebzehneinhalb.« Ich nahm meine Lampe aus der Tasche und schaltete sie an, als wir den Tunnel betraten. »Geld ist immer noch knapp, nicht wahr, David?«
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»Ja«, sagte ich zerstreut und leuchtete den Boden nach Stolperdrähten ab, während wir nach Hause gingen. Das Problem war, wie wir auf die ganze Angelegenheit reagieren sollten. Vielleicht würde Elren einfach ihren Profit einstreichen und den Mund halten; möglicherweise würde die ganze Aufregung sich von selbst legen. Dann konnten wir uns an Carlos' ursprünglichen Plan halten: uns einfach verstecken. Ich würde weiter das Verhalten der Elwerianer studieren, bis ich anfangen konnte, in Elweré zu arbeiten. Nur ein paar Touren, und ich würde für den Rest meines Lebens ausgesorgt haben. Und was dann? Was macht man, wenn man reich ist? Ich mußte lachen. Das Problem hatte ich noch nie gehabt. Ich hatte also die Wahl: Entweder verzichtete ich darauf, Elren die Brosche zu stehlen, und hoffte auf einen guten Ausgang; oder ich stahl sie ihr, versteckte sie und hoffte, daß Elren den Mund hielt. Aber vielleicht hatte sie schon geredet. Oder sie hatte Arnos im voraus den einen oder anderen Hinweis gegeben. Vielleicht, vielleicht, vielleicht - man kann sein ganzes Leben mit vielleicht leben. 106
»Warte einen Augenblick.« Ich hinderte Marie mit dem Arm am Weitergehen. Dann kniete ich mich auf den Tunnelboden. So nahe unserer Behausung legten wir unsere Fallen sehr sorgfältig und versteckten sie gut. Beim Bau dieser Falle hatten Carlos und ich für die Stolperdrähte einen flachen Graben ausgehoben und die Drähte, die Sprengladung und etwas Metallschrott mit Sand bedeckt und die Stelle an jeder Seite des vergrabenen Drahtes mit einem Stein markiert. Wenn irgend jemand, der mehr als vierzig oder fünfzig Kilo wog, auf den Draht trat, würde er den Zünder aktivieren, der dann mit lautem Zischen abbrannte; kaum zehn Sekunden später würde der Plastiksprengstoff explodieren und Tausende von mörderischen Metallsplittern durch die Luft jagen. Diese Falle war eine letzte, möglicherweise tödliche Warnung. Sie sollte dem Eindringling unmißverständlich sagen, daß ein weiteres Vorrücken nicht ratsam war. Die Steine, die die Falle markierten, lagen noch da, aber nicht mehr an derselben Stelle, und ich sah die ursprünglichen Eindrücke im Sand. Ich beugte mich vor und steckte einen Finger in den Boden. Die Sandschicht war zu weich; sie mußte frisch hinein gefüllt worden sein. 107
Marie schaute zu mir hoch, und im Schein der Lampe wirkte ihr Gesicht gespenstisch weiß. »Hier muß jemand gewesen sein.« Ich nickte. Das sah nicht gut aus. Gar nicht gut. Seit Jahren war niemand außer uns in den Gängen in der Nähe unserer Behausung gewesen. »Mach dir keine Sorgen«, sagte ich. »Es ist nichts weiter.« Sie überlegte eine Weile. »Nein, David, das stimmt nicht. Du mußt etwas unternehmen. Bitte.« Ich nickte. »Das werde ich auch. Gib mir bis übermorgen Zeit. Okay?« Sie legte den Kopf schief. »Okay.«
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Drittes Zwischenspiel Miguel Curdova und seine Sekretärin Am Morgen eines Duellnachmittags aß Miguel Ruiz de Curdova immer nur wenig; zu Mittag aß er überhaupt nichts. Es war besser, nach einem Duell Heißhunger zu haben, als während eines Duells im falschen Moment schwerfällig zu reagieren. Selbst eine Affäre ersten Blutes konnte tödliche enden - wenn das auch selten war - , und bei Affären zweiten Blutes war das oft der Fall. Eine Affäre dritten Blutes endete natürlich immer mit dem Tod eines der Kontrahenten, selbst wenn die Sekundanten einen bewußtlosen Verlierer von der Matte heben und festhalten mußten, damit der abschließende Todesstoß geführt werden konnte. Curdova hatte bisher zwei Duelle dritten Blutes hinter sich, dreiundvierzig Duelle zweiten Blutes und so viele Duelle ersten Blutes, daß er das Zählen aufgegeben hatte, und er traf seine Vorbereitungen mit der geübten Routine eines Mechanikers.
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Er stocherte eine Weile in den Resten seines Räucherfischs. Dann wandte er den Kopf zu der seitlich installierten Service-Box und bestellte schroff eine frische Kanne Kaffee. Träge ließ er die Hand über die Tischdecke aus irischem Leinen gleiten, nahm ein unbenutztes silbernes Buttermesser in die Hand und betrachtete sein Gesicht in der wie ein Spiegel glänzenden Schneide. Selbst nach hundertfünfzig Jahren eines sehr bewegten Lebens zeigte sein Gesicht kaum Falten, und die Krähenfüße um seine Augen herum waren kaum so ausgeprägt wie die Duellnarben, die sich über seinen rechten Wangenknochen schlängelten. Die dunklen Augen und das dünne Lächeln hatten etwas Bedrohliches, aber nicht die geringste Spur irgendeiner Erschöpfung war zu erkennen. Arbeit und Training, das war das Geheimnis. Einfältige Leute bemerkten oft, daß die Abgeordneten der Cortes Generale nicht richtig alterten, und damit hatten sie recht. Wer arbeitet, hat keine Zeit, alt zu werden. Mochte das übrige Elweré sich in dem Reichtum sonnen, den das Valda einbrachte - jemand mußte die Verantwortung übernehmen und dafür sorgen, daß die Quelle dieses Reichtums weitersprudelte.
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Der Abgeordnete Miguel Ruiz de Curdova akzeptierte diese Verantwortung als seine Pflicht und als sein Recht. Hätte er darauf hingearbeitet, wäre es ihm sicherlich gelungen, Presidente der Cortes zu werden, aber er zog es vor, den drei wichtigsten Komitees anzugehören. Nur die Arbeit zählte und die Verantwortung. Nicht die Titel. Titel waren Schlacke; die Arbeit war Gold. Die Service-Box öffnete sich mit einem leisen Zischen; er griff hinein, nahm die silberne Kaffeekanne heraus und schenkte sich eine Tasse ein. Dabei prüfte er gar nicht erst, ob die Mischung aus aromatischen Elsässer Bohnen, reicher Sahne und randianischem Zucker seinem Gaumen behagte. Wenn die Mischung nicht gestimmt hätte, wäre er wütend geworden, aber wenn alles nach seinem Wunsch ablief, registrierte er es kaum. Das war er zu sehr gewohnt. Er schlürfte seinen Kaffee. Schluß mit der Bummelei. Es war Zeit, endlich mit der Arbeit anzufangen. Sein Seufzer war nicht echt, denn er freute sich auf die Arbeit. Er zündete sich die erste Zigarre des Tages an, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und leerte die Tasse. Dann drückte er auf den
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Knopf am Telefon und führte die Sprechmuschel an die Lippen. »Guten Morgen, Senhor«, sagte seine Sekretärin. Sie hatte eine angenehme Altstimme, die eigentlich einer hübschen jungen Frau hätte gehören müssen. Das amüsierte ihn. In Wirklichkeit war Doris Reinholt fast in seinem Alter und wog anderthalbmal so viel wie er. Sie hatte ein Gesicht wie ein Schwein und einen kleinen Schnurrbart. Aber sie war tüchtig, und das ist es, was bei einer Sekretärin zählt. »Heute nachmittag habe ich eine kleine Affäre mit Delgado«, sagte er. »Verlegen Sie die Sitzung der Handelslenkungsgruppe auf den Abend. Delgado wird wahrscheinlich protestieren - wenn er dazu noch in der Lage ist - , aber kümmern Sie sich nicht darum. Andresen soll sich erst einmal beruhigen. Das gilt auch für Almada; er wird ein wenig schrullig auf seine alten Tage.« »Ja, Senhor. Ich werde die Sekretärinnen der Herren informieren.« »Gut. Und ich brauche die Projektionen über Thellonees Nutzung. Entweder spitzen die Kriege sich schlimmer zu, als wir aus den Berichten erfahren, oder sie treiben Vorratswirtschaft.« Wenn sie wirklich Valda-Öl einlagerten, mußte das im 112
Keim erstickt werden. »Welcher nächste wichtige Vertrag steht zur Überprüfung an? Rand?« »Nein, Senhor. Metzada. Der jetzige Vertrag läuft Ende des Jahres aus.« Metzada würde problematisch werden. Zur Hölle mit Tetsuo Bar-El . . . »Wenn das so ist, brauchen Sie Andresens Sekretärin nicht zu bemühen. Arrangieren Sie für mich ein Essen mit Andresen, wenn er Zeit hat. Meine Schwester soll auch kommen; er mag sie. Ich werde ihm wahrscheinlich wegen Metzada den Kopf zurechtsetzen müssen. Wieder einmal.« Andresen nahm den skandinavischen Teil seines Erbes zu ernst. Die Zeit des Konfliktes zwischen den Nachkommen der spanischen Sherry-Barone und denen der skandinavischen Landarbeiter war vorbei; jetzt waren sie alle Elwerianer und teilten unter sich den Reichtum auf, den das Valda-Öl einbrachte. Im Zusammenhang mit Shimon Bar-Eis Welt war jede Sentimentalität fehl am Platze; schließlich war Shimon der Befreier schon seit Hunderten von Jahren tot. Aber ich werde ihm den Kopf zurechtrücken. »Der Bericht von Wells/Puro war gestern fällig.«
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»Hmmm . . . gerade heute morgen gekommen, Senhor. Es gab ein Problem mit dem Kurier - ich kümmere mich darum. Soll ich Ihnen den ganzen Bericht schicken, oder genügt eine Zusammen fassung?« »Eine Zusammenfassung.« Wir werden sehen, dachte er. Es wäre sinnlos, sich einen mehrere tausend Worte langen sinnlosen Bericht anzuhören. »Wahrscheinlich hatten sie wieder keinen Erfolg.« »Sie bedauern, berichten zu müssen, daß sie von Ihrem Sohn immer noch keine Spur gefunden haben. Bei allem Respekt vor den Möglichkeiten und Fähigkeiten von Wells/Puro, sie . . .« »Sie können die Höflichkeiten weglassen.«
»Ja, Senhor. Captain T'kau wiederholt seine Empfehlung, die Suche abzubrechen. Er hat eine neue mathematische Analyse des Problems beigefügt; bei der gegenwärtigen Intensität der Bemühungen beträgt die Halbwertzeit für den Erfolg achtundneunzig Komma drei oroganische Jahre.« »Und wenn verdoppeln?«
wir
unsere
Anstrengungen
»Das würde nicht viel nutzen. Wells/Puro können nicht . . .« »Wollen nicht.«
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». . . wollen nicht noch mehr Agenten auf das Problem ansetzen. Ihre Thellonee-Filiale ist ohnehin schon überlastet. Wenn sie Intertec zu ähnlichen Bemühungen veranlassen, würde das nach ihrer Schätzung die Halbwertzeit nur auf etwas über neunundachtzig Jahre reduzieren - und, wenn ich das einmal sagen darf . . .« »Sie dürfen.«
»Ich halte die Analyse für zu optimistisch. Selbst wenn sie alle ihre Unterlagen zur Verfügung stellen, würde Intertec viel Zeit und Mühe aufwenden müssen, etwas zu tun, was schon getan wurde.« »Sie haben ausgeschöpft.«
also
fast
alle
Möglichkeiten
»Ja, Senhor. Allerdings verweisen sie auf eine weitere Möglichkeit - die Suche an diesem Ende wiederaufzunehmen. Es ist denkbar, daß der Junge sich noch auf Oroga befindet.« »Das ist unwahrscheinlich. Hier wurde die Suche doch schon vor zehn Jahren abgebrochen. Rein theoretisch könnte der Junge allerdings wieder nach Oroga gebracht worden sein.« Nein, das wäre sinnlos; die Kidnapper hätten es niemals gewagt, den Jungen nach Oroga zurückzubringen. Sie wären Curdova und seinem Zorn zu nahe gewesen. Mein Sohn ist von elwerianischem Blut. Jetzt, da er 115
erwachsen ist, kann man ihn nicht mehr unter den Feldarbeitern und den Niederen verstecken. Er würde auffallen. Dennoch . . . »Sagen Sie den Leuten, ich will es mir durch den Kopf gehen lassen.« »Ja, Senhor. Darf ich vorschlagen, daß Sie mit Ihrem Vormittagstraining beginnen? Mit der Klinge ist Senhor Delgado Ihnen zwar nicht gewachsen, aber . . .« »Aber man darf ihm auch keine Vorteile verschaffen, was?« Tatsächlich konnte Delgado nicht halb so gut mit der Klinge umgehen wie Curdova. Curdova würde leicht mit ihm fertig werden. Hmm . . . das könnte ganz nützlich sein; eine kleine Peinlichkeit bei diesem Ehrenhandel; vielleicht eine Narbe an einer ungünstigen Stelle. Das würde Fernando Delgado vielleicht lehren, nicht mehr höhnisch zu behaupten, Miguel Ruiz du Curdovas Suche nach seinem Sohn sei Geldverschwendung. Zugegeben, wahrscheinlich war die Suche sinnlos. Nachdem er sich vor so vielen Jahren geweigert hatte, das Lösegeld für das Kind zu zahlen, hatte der Entführer den Jungen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit getötet. 116
Aber vielleicht lebte der Mann noch. Nur aus diesem Grund hatte Curdova Arnos van Ingstrand an der Spitze der Schutzgesellschaft belassen, und er hatte sich oft für ihn eingesetzt, wenn irgendein anderer Abgeordneter ihn durch einen weniger grau samen Mann ersetzen wollte. Es war nicht nötig, daß Elweres wichtigster Agent in der Unterstadt ein sadistisches Schwein war. Simple Härte reichte aus, die Niederen und die Bürger in Schach zu halten; die Brutalität eines Arnos van Ingstrand war überflüssig. Aber wenn der Kerl, der den Jungen entführt hat, jemals gefunden wird, werde ich ein sadistisches Schwein brauchen. Eines Tages, dachte er, eines Tages . . .
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Kapitel fünf ›Mach, daß die Schmerzen aufhören . . .‹ Auf anderen Welten mag es anders sein, aber auf Oroga geht man am Tage aus. Nur am Tage. Nachts bleibt man in geschlossenen Räumen. Wegen der t'Tant. Die t'Tant sind intelligent und bei Tage sehr friedfertig, weil dann die pflanzlichen Komponenten ihrer Gehirne von der Sonne belebt werden. Sie kreisen am Himmel, zwitschern fröhlich und sonnen sich auf den Felsen, wobei sie ihre Flügel ausbreiten, damit ihre grüne Körperoberseite möglichst vollständig der Sonne ausgesetzt ist. Sie brauchen nur die Sonne, damit ihre Pflanzengehirne glücklich sind, und vielleicht amüsieren sie sich im Flug auch über die Possen der Menschen und der Schrift tief unter ihnen. Am Tage sind sie harmlos. Auf Angriffe reagieren sie durch Flucht, oder sie benutzen ihre Fähigkeit, die Schwerkraft aufzuheben, um Angriffe abzuwehren. Andere Kreaturen verletzen? Niemals; das würde ihnen überhaupt keinen Spaß machen. 118
Nachts allerdings ist die pflanzliche Komponente ihres Gehirns ausgeschaltet, und die tierische übernimmt die Kontrolle. Sie werden bösartig. Sie jagen. Wenn auch Vrasti ihre Hauptnahrung darstellen, jene kleinen, sechsbeinigen Pflanzenfresser, die sich von wildem und kultiviertem Valda ernähren, können die t'Tant so ziemlich alles fressen, was Blut in den Adern hat. Die t'Tant haben eine gute Verdauung. Sie sind gefährlich, aber sie sind ein wichtiger Bestandteil der oroganischen Ökologie; ohne die t'Tant würden die Vrasti bald alle Valda-Pflanzen fressen. Als ich jünger war und Carlos mir das alles erklärte, stellte ich die übliche Frage: Warum rotten die Elweries die Vrasti dann nicht einfach aus? Das würde die Valda-Ernten verbessern und gleichzeitig unter den t'Tant aufräumen. Er wies mich auf ein Buch über oroganische Ökologie hin. Die Dinge sind ein wenig komplizierter, und ich kann mich nicht mehr an alles erinnern, aber zum Zyklus gehört es, daß die Vrasti Valda fressen und mit ihren Exkrementen die Felder düngen. Diese Exkremente enthalten Bakterien, die in die Wurzeln der Valda-Pflanzen eindringen und es den Pflanzen erleichtern, Nährstoffe aus dem 119
Boden aufzunehmen. Die Bakterien können aber außerhalb des Darms eines Vrast nicht lange überleben. Ohne die Vrasti gäbe es deren Darmbakterien nicht und damit auch kein Valda, oder doch erheblich reduzierte Ernten. Das würde den Elweries nicht gefallen. Ohne die t'Tant hingegen würde es - zeitweise sehr viele fette Vrasti geben, die mit Leichtigkeit viele Millionen Dunam Valda-Felder leerfressen könnten, und dann würde es bald überhaupt kein Valda mehr geben. Auch das würde den Elweries nicht gefallen. Deshalb haben sie das Töten von t'Tant verboten. Und die t'Tant sind - wenigstens am Tage vernünftige Kreaturen, genau wie Menschen, Schrift, Paraschrift, Poncharaire, Cetaceaner . . . und Airyb, wenn man es nicht allzu genau nahm. Deshalb verbieten die Tausend Welten ihre Tötung, und deshalb verbietet die Handelsabteilung der Tausend Welten die Einfuhr von Feuerwaffen nach Oroga. Einer der Gründe dafür, daß die Elweries die Existenz der Schutzgesellschaft überhaupt dulden, liegt in der ungeschriebenen Vereinbarung zwischen Elweré und der Gesellschaft, daß die Gesellschaft
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dafür sorgt, daß keine Feuerwaffen in die Hände der Bevölkerung gelangen. Mit Muskelkraft betätigte Waffen - wie Katapulte, Bogen und Armbrüste - sind erlaubt; dank ihrer besonderen Fähigkeiten können die t'Tant solche Geschosse ablenken. Aber gegen schnelle Kugeln und Silcohalcoid-Drähte sind sie machtlos. Gewiß, die Handelsabteilung schaut weg, wenn eine Kiste Feuerwaffen mit der fröhlichen Aufschrift LANDMASCHINEN zum Weiterversand nach Elweré eintrifft - schließlich wissen die Elweries, woher ihr Reichtum stammt; ihre Feuerwaffen brauchen sie, um Aufstände der Landarbeiter niederzuschlagen, nicht um t'Tant zu töten. Aber die Niederen und die Buzh dürfen keine Feuerwaffen führen. Und deshalb bleiben wir nachts auch alle in unseren Behausungen. Oder wünschten uns manchmal, wir könnten es.
Die Schultertasche fest auf den Rücken geschnallt, bewegte ich mich vorsichtig durch die Nacht und achtete dabei besonders auf das Geräusch von Flügelschlägen am Himmel.
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Ich sah bestimmt albern aus. Die Schutzbrille, die Carlos in Elweré gestohlen haben mußte und die ich ihm gestohlen hatte, ließ mich glotzäugig aussehen. Aber das machte mir nichts aus, denn es gab niemanden, der mich hätte sehen können. Auf die einfachen Blinkimpulse der Brille reduziert und dann vergrößert auf ihre beiden Scheiben projiziert, wirkte die Nacht unheimlich, als glühte die ganze Unterstadt in ihrem eigenen Licht. Die Sterne über mir waren helle orangefarbene Punkte an einem pastellblauen Himmel. Auf diese Weise ließ die Brille das Licht verändert erscheinen: die hellsten Objekte waren rot, die Objekte zweiter Größe orangefarben oder gelb, und so setzte sich die Skala bis zu einem satten Blau fort, das eigentlich schwarz war. Das Unangenehme an dieser Nachtbrille war, daß sie den Gesichtskreis einengte; ständig mußte ich den Kopf hin- und herbewegen, und dabei fürchtete ich dauernd, daß als nächstes ein herabstoßendes t'Tant in Sicht kommen würde. Ich drehte mich um und schaute zu Elweré hinüber, das sich über den halben Himmel erstreckte. Elweré war bei Nacht sehr lebendig. Durch Tausende von Plexiglasfenstern pulsierte karmesinrotes Licht. Die Regenbogenwände waren auch in der Dunkelheit 122
Regenbogen, aber ihre Farben leuchteten jetzt in leicht abgewandelten Tönen von rot und orange, und so weiter durch alle Schattierungen in diesem Teil des Spektrums. Nach Elweré hinüberzuschauen, hieß eine andere Welt zu sehen. Ich zwang mich zu erhöhter Aufmerksamkeit, aber das fiel mir nicht schwer, denn ich wußte, daß ich sehr vorsichtig sein mußte. Wenn ich ein wenig Glück hatte, würden heute nacht allerdings keine t'Tant über der Stadt sein. Schließlich waren die Vrasti in der Stadt fast ausgerottet und ihre Nester verbrannt worden. Hier gab es für die t'Tant also wenig zu jagen. Aber am Stadtrand, wo die Valda-Felder anfingen, gab es immer noch einige Nester. Prüfend schaute ich zum blauen Himmel auf. Weit hinten am Horizont kreisten drei gelbe Flecke über einem fernen Valda-Feld. Während ich hinüberschaute, schoß einer von ihnen herab, ver schwand für eine Weile hinter dem Horizont und stieg dann wieder zum Himmel auf, wo er sich über seinen Jagdgründen tummelte. Ich ging weiter. Als ich das Ende der Bäckergasse erreichte, duckte ich mich in einen Hauseingang und versuchte, das Licht und den Lärm zu ignorieren, 123
die durch die vergitterten Fenster nach draußen drangen. Ein Buzh zu sein ist ganz angenehm, dachte ich. Wenn sie sich spät am Tage besuchen, ist es selbstverständlich, daß der Besucher die ganze Nacht im Hause des Gastgebers verbringt, durch solide Türen und Eisenstäbe geschützt. Wenn die Zeiten in der Mittelstadt gut sind, machen diese nächtelangen Partys gewiß viel Spaß. Aber auch in schlechten Zeiten muß es gut sein, sich nachts bei einem Freund aufhalten zu können. Nachdem ich die Bäckergasse hinuntergegangen war, passierte ich die Straße der Freuden. Dort war es jetzt lauter als sonst, die Musik lebhafter. Nachmittags wurde die Straße von Buzh und von den unteren Klassen der Hafenarbeiter aufgesucht. Nachts waren die besser betuchten Schiffsleute und die höherrangigen Männer von der Handelsabteilung an der Reihe; und sie konnten den Preis bezahlen, der für eine Orgie gefordert wurde, die hinter den vergitterten Fenstern der Häuser eine ganze Nacht dauerte. Weniger als hundert Meter über mir schoß etwas Orangefarbenes vorbei; ich verschwand unter einer Veranda und zog ein Störgerät aus meinem Beutel. Ein Störgerät ist keine Feuerwaffe, aber es könnte 124
den gleichen Zweck erfüllen, wenn ich den richtigen Augenblick abpaßte und sehr viel Glück hatte. Es mußte etwa einen Meter vom Körper eines t'Tant enfernt detonieren - die Explosion eines Störgeräts ist nichts weiter als grelles Licht zusammen mit einem lauten Knall. Ich hatte noch nie gehört, daß jemand es erfolgreich bei einem t'Tant angewendet hätte oder daß es je versucht worden wäre. Aber wenn ich angegriffen wurde, waren die Störgeräte meine einzige Chance. Ich zitterte, während ich mit dem Daumen an der Zündvorrichtung unter der Veranda hockte. Sekunden vergingen, die mir wie Stunden vorkamen. Nichts. Vielleicht hatte das t'Tant mich nicht gesehen; vielleicht war es durch etwas anderes abgelenkt worden. Ich schaute nach draußen. Einen halben Kilometer entfernt schwebte das orangefarbene t'Tant am königsblauen Himmel. Es hatte mich nicht gesehen. Ich rollte mich unter der Veranda hervor, säuberte mich und setze meinen Weg zu Elrens Laden fort. Wenn man irgendwo einbricht, ist es in der Regel
besser, von oben in das Gebäude einzudringen.
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Nicht notwendigerweise durch das Dach - obwohl auch das günstig sein kann - , sondern vom Dach her. Es ist eine Frage angewandter Psychologie; unsere Spezies ist es gewohnt, von Bodenhöhe angegriffen zu werden. Die Leute glauben, das zweite oder das dritte Stockwerk sei nicht zugänglich. Ich war nachts noch nie eingebrochen; ich war nachts noch nie draußen gewesen. Allerdings ist es auch am Tage vorteilhaft, von oben einzudringen: die Menschen neigen dazu, sich für das zu interessieren, was in Augenhöhe oder darunter liegt; nach oben zu schauen, ist eine erworbene Verhaltensweise, keine natürliche.Zum dritten Stock hinaufzusteigen, war nicht schwierig; ich schnallte mir Dorne an Fußgelenke und Schienbeine und zog meine Kletterhandschuhe an. Diese Handschuhe waren hervorragend gearbeitet; ich hatte sie selbst zugeschnitten und zusammengenäht. Echtes Rindsleder, das hauteng saß. In jeden Handschuh hatte ich drei mit Spikes versehene Stahlstreifen eingenäht, deren Rundung den drei äußeren Fingern jeder Hand angepaßt war. Das behinderte mich zwar ein wenig, aber ich konnte immer noch Daumen und Zeigefinger
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gebrauchen, wenn ich an einer glatten Fläche hing, solange ich nur die Dorne in die Wand brachte. Ein kurzer Blick zum Himmel, und wie eine Spinne huschte ich die Wand hinauf. Schwer atmend zog ich mich auf das Dach und legte mich flach auf den Rücken. Ich beobachtete den Himmel und achtete auf jedes Geräusch. In der Ferne sah ich einige t'Tant, aber sie waren zu weit weg, als daß ich mir ihretwegen hätte Sorgen machen müssen. Gut. Durch zerbrochene Steine und herumliegende Rohre arbeitete ich mich über das Dach vor. Es gibt immer irgendeine Klapptür, durch die man auf das Dach gelangen kann; es dauerte nur eine Minute, bis ich sie fand. Zuerst sah die Sache gut aus: eine schwere Eisenplatte mit versteckten Angeln und einem Zugring in der Mitte. Ich zog daran, aber nichts passierte. Das war keine Überraschung; sie mußte von innen verriegelt sein. Nun, das Leben muß ja auch nicht immer leicht sein. Also versuchte ich es auf die schwierige Tour.
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Ich trat an die Rückseite des Gebäudes, nahm meine Tasche von der Schulter und stellte sie vorsichtig auf das Dach. Ich zog die Handschuhe aus und ließ sie auf die Tasche fallen. Sie hatten ihren Zweck erfüllt. Ich nahm ein Seil und meine Rundsäge heraus. Dann nahm ich die Säge zwischen die Zähne und knüpfte das eine Ende des Seils zu einer Schlinge. Rasch, schätzte ich den Abstand zwischen dem Rand des Daches und dem Eckfenster. Es waren ungefähr anderthalb Meter bis zum unteren Rahmen des Fensters. Die Schlinge mußte also in Dachhöhe sein. Ich befestigte das andere Ende des Seils an zwei hervorspringenden Rohren. Mich in die Schlinge zu stellen, wäre idiotisch; ich könnte leicht das Gleichgewicht verlieren. Andererseits war es natürlich kein Vergnügen, mit dem Kopf nach unten zu hängen, aber die paar Minuten, die es dauerte, zwei oder drei Stäbe am Fenster durchzusägen, würde ich es schon aushalten. Nach einem weiteren Blick zum Himmel glitt ich vom Dach nach unten. Ich schaute durch das Fenster. Der Raum war leer, nur ein paar zusammengerollte Matten lagen auf dem Fußboden. In meinem Kopf fing es an zu pochen, als ich dort hing, aber ich achtete nicht 128
darauf, als ich die Säge um einen der Stäbe legte. Ich wartete und lauschte. Ich hatte im Haus kein Licht gesehen und auch keine Geräusche gehört, aber es ist immer besser, sich zu vergewissern. Nichts passierte. Es dauerte nicht einmal eine Minute, den Gitterstab durchzusägen. Er war aus minderwertigem Eisen. Verständlich; schließlich sollte er die t'Tant fernhalten und nicht mich. Nach einer weiteren Minute hatte ich das eine Ende des zweiten Stabes durchgesägt und fing mit dem dritten an. Das war ein wenig problematisch; ich sah Licht in einigen der anderen Häuser, und ich wollte nicht, daß die Stäbe klappernd auf das Pflaster fielen. Rasch aber sorgfältig sägte ich den Stab so weit durch, daß er nur noch an einem dünnen Span hing. Mit dem anderen Stab machte ich es genauso. Dann bog ich zuerst den einen Stab, dann den anderen so lange hin und her, bis sie sich lösten. Ich ließ sie durch das Fenster gleiten, bis ich fühlte, daß sie den Boden berührten. Ich lehnte sie gegen das Fensterbrett und zog mich wieder auf das Dach hinauf. Dort wollte ich ein paar Minuten Atem holen, bevor ich hineinging. Ich wollte . . . dann hörte ich hinter mir ein
Rauschen in der Luft und ließ mich zwischen zwei
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Rohre fallen. Die Klauen des t'Tant verfehlten mich nur um Zentimeter. Es wirbelte in der Luft herum und setzte zu einem neuen Angriff an. Ich wartete nicht ab, ob es diesmal mehr Glück haben würde, nahm meine Schultertasche auf, packte das Seil, sprang vom Dach und schwang mich durch die Lücke in das Zimmer. Meine Schultertasche glitt mir aus der Hand, und ich landete auf allen vieren in dem verlassenen Raum. Rasch sprang ich auf und stellte mich neben das Fenster. Die Lücke zwischen dem noch intakten Stab und dem Rand des Fensters war etwa einen halben Meter - mit ausgebreiteten Schwingen kam das t'Tant nicht hindurch, aber wenn es sie einfaltete, richtig zielte und schnell genug war, würde es ihm gelingen. Dank seiner Schwebefähigkeit könnte es im letzten Augenblick noch geringfügige Korrekturen vornehmen. Wenn es daran dachte. Das bezweifelte ich, aber mein Leben wollte ich dafür nicht verwetten. Ich nahm eine der Eisenstangen auf. Wenn es versuchte, in den Raum zu kommen, konnte ich es damit vielleicht abwehren, bevor seine 130
messerscharfen Klauen mich in dünne Streifen schnitten. Vielleicht. Minuten vergingen. Nichts. Das war gut. Das t'Tant hatte aufgegeben. Ich nahm meine Schultertasche wieder auf und hängte sie mir um. Dann ging ich zur Tür und lauschte. Von der anderen Seite hörte ich keinen Laut. Der Korridor war in Königsblau zu erkennen und nur vom roten Licht der Sterne beleuchtet, die man durch die drei Eingänge zu den äußeren Räumen erkennen konnte. Die Wände, die Decke und der Fußboden waren nur in blauen Umrissen zu erkennen. Hier war meine Brille überfordert, und ich hatte wirklich nicht genug Licht. Ich nahm meine Taschenlampe aus der Schultertasche und schaltete sie auf geringste Leuchtstärke. Das war schon besser. In ihrem roten Licht war der Korridor ganz deutlich zu sehen. Er war schmal, ungefähr vierzig Meter lang, und zu beiden Seiten lagen andere Räume. An jedem Ende lag eine Treppe.
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Bei einem leisen Rascheln auf dem Steinfußboden hinter mir fuhr ich herum und hob meinen improvisierten Knüppel. Nichts. Nur der nackte Fußboden, ein Wandschrank unter einem Gemälde und eine geschlossene Tür, die zu einem weiteren Raum führte. Ich zuckte die Achseln. Es hatte sich wie die Klauen eines Vrasti angehört. Darüber brauchte ich mir keine Sorgen zu machen, aber die Anwesenheit eines Vrasti wies Elren als schlechte Hausfrau aus. Ich lächelte. Pech für sie. Leise arbeitete ich mich durch den Korridor vor. Auf Zehenspitzen ging ich eine breite Treppe hinunter und trat an die Tür zu dem Zimmer, in dem Elren und ich unser Geschäft getätigt hatten. Ich drehte den Türknopf. Ich hatte vermutet, daß die Tür verschlossen sein würde, aber sie ging sofort auf.
Seltsam. Ich betrat den Raum. Mit der Eisenstange tastete ich mich auf dem
Teppich zum Schreitisch hinüber. Keine Spur von einer Alarmanlage oder irgendwelchen Fallen.
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Wieder zuckte ich die Achseln. Tagsüber traute Elren wahrscheinlich den Schlössern und ihren Wachen, bei Nacht den Beute suchenden t'Tant. Die Schreibtischschlösser stammten von Yale und waren auf der Erde hergestellt - Modell XXVI, Katalog-Nr. 339 837(A) im Montgomery-SearsKatalog, für den Fall, daß Sie interessiert sind - , wieder mußte ich lächeln. Es sind sehr gute Schlösser, so gut und so weit verbreitet, daß Carlos ein halbes Jahr damit zugebracht hat, mir beizubringen, wie man gerade dies Fabrikat und dies Modell knackt. Ich nahm mein Werkzeug heraus und prüfte mit der dünnen Plastiksonde den Zwischenraum zwischen den Schubladen, aber ich fand nichts. Kein Auslöser, keine Drähte, nichts. Um so besser. Ich machte mich an die Arbeit. Für die oberste Schublade brauchte ich nur ein paar Minuten. In ihr fand ich einige Münzen und eine kleine Schatulle mit etwas, das wie Diamanten aussah, aber der Rest war nur das übliche wertlose Zeug, das man in einer Schreitischschublade erwartet. Wenn das alles war, warum hatte sie die Schublade dann überhaupt abgeschlossen?
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Sie werden es sich schon selbst gedacht haben; es gab nur eine Antwort: der Trick mit dem gestohlenen Brief, die Idiotenversion - von einem Idioten für einen Idioten. Ich zog die Schublade heraus und stellte sie auf die Schreibtischplatte. Mit der Schublehre aus meinem Werkzeugsatz vermaß ich sie. Und richtig: zwischen dem inneren und dem äußeren Boden lag ein Zwischenraum von drei Zentimetern. Es war nicht einfach, den Öffnungsmechanismus zu erkennen, und ich brauchte dazu volle dreißig Sekunden. Ich hob den falschen Boden heraus, und zwischen Ringen, Gemmen und Steinen lag sie: Arnos van Ingstrands Brosche. Sie hatte sie nicht auseinandergenommen. Das sprach für ihre Klugheit; sie wollte einen günstigen Zeitpunkt abwarten und den Schmuck dann von Oroga fortschaffen lassen, oder . . . . . . oder sie wollte die Brosche behalten, um sie ihm zurückzuverkaufen, und dabei die Identität des Mannes preisgeben, der sie ihr verkauft hatte. Aber das spielte keine Rolle, jedenfalls jetzt nicht
mehr. Ich steckte die Brosche in meine innere
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Ärmeltasche. Die Ringe und die Steine warf ich in meine Schultertasche - auch die restlichen Klei nigkeiten, warum eigentlich nicht? - und überlegte mir kurz, ob ich nach weiteren Wertsachen suchen sollte, da ich schon mal hier war. Ich glaube, Carlos Einhand hatte mich zu gut trainiert; ich nahm mein Werkzeug auf. Diese Habgier rettete mir das Leben. Wenn ich zur Tür gegangen wäre . . . Als ich mich mit der ersten Seitenschublade beschäftigte, scharrte es vor der Tür, und fünf handgroße Vrasti kamen hereingerannt und versteckten sich - oder versuchten es - in den Vor hängen. Hinter ihnen öffnete sich langsam die Tür. Und drei t'Tant flogen, eines nach dem anderen, hinter ihnen her. Hinterher wurde mir alles klar: das Fehlen von Alarmanlagen, Fallen und Wachen; die lockeren Sicherheitsvorkehrungen; die Vrasti im oberen Korridor. Elren Mac Cormier war sparsam. Anstatt viel Geld für normale Schutzmaßnahmen auszugeben, hatte sie einfach den t'Tant Einlaß in das Gebäude gewährt, in dem es von schmackhaften 135
Vrasti wimmelte - und in dem ein gelegentlicher Einbrecher die Speisekarte anreichern konnte. Als Gegenleistung mußten die t'Tant sich nachts im Gebäude einschließen lassen. Nur für das Einfangen lebender Vrasti entstanden ihr Kosten - aber vielleicht züchtete sie die Tiere in ihrem Keller. Für die t'Tant war es ein lohnender Handel, mit dem sich auch ihre Tagespersönlichkeit abfinden konnte. Wenn morgens die Sonne in die Fenster schien und das helle elektrische Licht eingeschaltet wurde, konnte Elren sie gefahrlos in die Freiheit entlassen, möglicherweise durch die Klapptür an der Decke des zweiten Stockwerks. Das alles begriff ich erst später. Im Augenblick stand ich stocksteif da und bewegte mich erst, als die ausgestreckten Klauen eines t'Tant nur noch wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt waren. Ich duckte mich und ließ mich unter den Schreibtisch fallen. Dabei riß ich meine Schultertasche an mich. Eines der t'Tant landete hinter dem Schreibtisch und zerrte an meiner Tasche, um mich zu erreichen. Der meiste Schaden entstand an der Tasche, aber als das t'Tant sie zerfetzte und ihr Inhalt sich über den Fußboden ver
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streute, zerriß eine seiner Klauen mir den Rock und brachte mir eine lange Wunde am linken Arm bei. Ich trat nach dem t'Tant und fühlte seine Flügelknochen knacken, als es sich zurückzog. Aber das besserte meine Lage nicht, denn ein anderes t'Tant nahm seine Stelle ein. Es gab keinen Ausweg. Die t'Tant konnten ihre Bemühungen leicht bis zum Morgen fortsetzen, und bis dahin waren es noch Stunden. Lange würde ich sie nicht mehr abwehren können. Ich tastete den Fußboden ab und suchte nach einer Waffe, irgendeiner, mit der ich mein Leben noch einige Sekunden lang verteidigen konnte. Meine Hände fanden ein Störgerät, und ich riß es an mich. Wieder trat ich nach dem t'Tant und versuchte, ein zweites zu finden, aber der Inhalt meiner Tasche war zu weit verstreut. Ich sah zwei Geräte auf dem Boden liegen, aber wenn ich versuchte, sie zu erreichen, mußte ich mich zu weit hervorwagen, und alle drei t'Tant wären über mich hergefallen. Blut lief an meinem Arm herab und auf das Störgerät. Vielleicht, aber nur vielleicht, konnte ich sie erschrecken und so lange lähmen, daß ich die anderen Geräte und die Eisenstange zu mir herüber ziehen konnte. Mit einer Eisenstange hatte ich gegen 137
drei t'Tant nur eine geringe Chance, aber es war meine einzige. Ich löste den Zündungsmechanismus aus und schleuderte das Gerät in den Raum. Gleichzeitig zog ich mich noch tiefer unter den Schreibtisch zurück und versuchte, mein Gesicht vor den Klauen der t'Tant zu schützen. Wummm!
Es gab eine ohrenbetäubende Explosion, und das Licht war so grell, daß es durch die Abdichtung meiner Brille drang. Die Schaltkreise meiner Brille waren der Überbeanspruchung nicht gewachsen. Vor meinen Augen blitzte es rot auf, und dann war alles schwarz. Blind trat ich nach dem t'Tant. Es sank schlaff in sich zusammen. Das war seltsam. Ich riß die Brille vom Gesicht. Im ersterbenden Licht des Geräts breiteten sie die Flügel aus und fingen fröhlich an zu zwitschern. Sie ignorierten die Flammen, die hinter ihnen an den Vorhängen emporzüngelten. Ich hatte keine Zeit, über das alles nachzudenken, sondern sprang unter dem Schreibtisch hervor, packte meine letzten beiden Störgeräte, löste eines davon aus und rannte aus dem Zimmer. In meinen 138
Ohren dröhnte es so laut, daß ich die Explosion hinter mir kaum hörte. Es war natürlich das Licht; das helle Licht der Explosion hatte die pflanzliche Komponente ihrer Gehirne aktiviert, und diese war viel mehr an schmackhaften Wellenlängen als an schmackhaftem Menschenfleisch interessiert. Die Augen zum Himmel gerichtet, schlich ich durch die Dunkelheit zu unserer Behausung zurück, und dabei spürte ich ständig das Gewicht der Brosche in meinem Ärmel. Es war mir gelungen, Elren Mac Cormiers Sicherheitssystem auszuschalten. Ich hatte zwar meine Tasche verloren, aber mein Vorhaben war gelungen. Ich hatte erreicht, was ich wollte. Ich konnte die Brosche an Benno verkaufen. Ohne die Brosche als Beweisstück würde Elren es nicht wagen, sich an Arnos van Ingstrand zu wenden, ganz gleich, wie wütend sie war. Wenn er erfuhr, daß sie die Brosche gehabt und wieder verloren hatte, würde Arnos sie töten. Ich war in Sicherheit. Zum ersten Mal, seit ich dumm genug war, das verdammte Ding zu stehlen und sogar dumm genug, es Carlos Einhand zu geben, konnte ich mich sicher fühlen.
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Auf dem ganzen Heimweg kam ich mir sehr gescheit vor. Der Boden des Tunnels war mit Steinsplittern
übersät. Jemand hatte eine unserer Fallen gezündet.
Ich stellte meine Lampe so niedrig, daß ich in ihrem trüben Licht kaum etwas erkennen konnte. Normalerweise hätte ich mir darüber keine Sorgen gemacht. Es konnte nur bedeuten, daß jemand auf einen unserer Warndrähte getreten war; wahrscheinlich war der Betreffende anschließend fortgelaufen. Aber in Anbetracht der Gesamtsituation war es besser, sehr vorsichtig zu sein. Als ich weiterschlich, achtete ich auf jedes Geräusch und hielt für alle Fälle das letzte mir noch verbliebende Störgerät bereit. Als ich mich dem Geröllhaufen näherte, der unseren Eingang blockierte, hörte ich von innen ein leises Stöhnen. Langsam und ganz leise stieg ich auf den Haufen und schaute nach unten. Carlos Einhand lag auf dem grünen selbstreinigenden Teppich. Er war nackt und tot. Die dunklen Pfützen seines Blutes waren schon 140
geronnen, und seine blinden Augen starrten gegen die Decke. Sie hatten ihn gründlich bearbeitet, bevor sie ihn töteten, aber was konnte er ihnen erzählt haben? Daß ich eigentlich hier sein müßte, aber daß ich mich hinausgeschlichen hätte, nachdem er schlafengegangen war? Damit hätte er sich keinen schnellen Tod kaufen können. Aber wo war Marie? Sie war doch noch ein Kind; vielleicht hatten sie ihr nichts getan. Ich ließ mich nach unten gleiten. Sie lag zusammengekrümmt in der Ecke. Carlos war tot, aber ihr ging es noch viel schlimmer. »David«, sagte sie und konnte vor Schmerzen kaum sprechen. »Mach, daß die Schmerzen aufhören. Bitte!« Mir drehte sich der Magen um. Ich durchwühlte einen Haufen gestohlener Sachen. Vielleicht war etwas Valda-Öl dabei. Das würde die Schmerzen lindern. Ich mußte Hilfe holen, aber wo? Wo sollte ich mitten in der Nacht Hilfe finden . . . Hinter mir hörte ich eine Stimme. »Guten Abend. Wir haben auf dich gewartet, David.« Ein großer bulliger Mann mit blutbespritzter Kleidung saß auf dem Geröllhaufen und hielt eine Armbrust auf mich gerichtet. 141
Er winkte mit der Armbrust. »Hier herüber, bitte.« Ich drückte auf den Knopf meines Geräts und warf es zu ihm hinüber. Gleichzeitig sprang ich zum Schaltkasten in der Ecke. Der Pfeil riß mir den Rock auf und bohrte sich in den Teppich. Wummm!
Das Licht blendete mich, obwohl ich die Augen schloß, und der Knall ließ fast meine Trommelfelle platzen, aber ich erreichte den Kasten, legte den Schalter um und drückte auf den Knopf. Wummm!
Diese Explosion war noch lauter und fegte den Staub in die Luft, als der Tunnel zusammenbrach, den Mann unter sich begrub und die anderen aussperrte, wenigstens vorläufig. Um mich drehte sich alles, als ich mich zu Marie umdrehte. Ich konnte nichts für sie tun. Sie lag nur da, bewegte wortlos die Lippen und sah mich flehend an. Unser Hinterausgang war nur ein schmaler Tunnel. Ich hatte allein schon Mühe, mich hindurchzuzwängen. Sie hinter mir herzuziehen, war einfach unmöglich. Und wenn die Hilfe nicht schnell kam, würde sie sterben. Sie waren nicht sehr sanft mit ihr umgegangen. 142
Bitte, las ich von ihren Lippen, mach, daß die Schmerzen aufhören, David. Ich tat es. Gott möge mir verzeihen. Ich tat es. Als ich durch den Tunnel gekrochen war, ließ ich mich zum Boden des Schachts hinunter und ließ das Seil fallen. Ich würde es nie wieder brauchen. Ich würde nie wieder hierher zurückkehren. Aber was konnte ich jetzt tun? Arnos van Ingstrand suchte mich - aber sein Wunsch, mich zu finden, konnte nicht stärker sein als mein Wunsch, ihn tot zu sehen. Jetzt würde ich nicht einmal in der Unterstadt mehr sicher sein. Carlos und Marie hatten seinen Männern bestimmt meine Beschreibung gegeben; und meine Make-up-Utensilien hatte ich zurücklassen müssen. Und ich würde nicht zurückgehen, um sie zu
holen. Niemals. Aber irgend etwas mußte ich unternehmen. Ich konnte nicht einfach warten, bis sie mich aufspürten. Ich mußte verschwinden. Wenn ich es irgendwie schaffte, den Hafen zu erreichen und eine Reise zu buchen, wäre ich in Sicherheit. Ich mußte weg von Oroga.
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Unbedingt. Aber woher sollte ich das Geld nehmen? Auf den Märkten konnte ich nicht mehr arbeiten. Die Antwort lag in den Gängen. Hier lebten auch andere; die meisten waren während des Tages unterwegs und verließen sich auf die Fallen und Schlösser, mit denen sie ihre Wertsachen schützten. Nicht, daß es bei ihnen viele Wertsachen gab. Aber das ließ sich nicht ändern. Dann mußte es eben die Menge machen. Nachdem ich mich in dem unterirdischen Labyrinth eine ziemliche Strecke von unserer Behausung entfernt hatte, setzte ich mich an eine Felswand, lehnte mich zurück und schaltete die Lampe aus. Ich mußte warten, bis es draußen hell wurde und die übrigen Bewohner der Gänge verschwunden waren. Das konnte noch Stunden dauern. Aber ich hatte Zeit. Auf mich wartete niemand.
Bitte, mach, daß die Schmerzen aufhören, David, bitte . . . Die Schmerzen waren vorbei.
Die ganze Nacht hindurch hörte ich diese Stimme.
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Viertes Zwischenspiel Eschteef und der Einbrecher Eschteef schrak aus tiefem Schlaf hoch und war sofort hellwach. Dieses Erwachen war nicht normal; Eschteef war viel zu munter. Die Schrift schlafen nicht die ganze Nacht hindurch, sondern wachen mitten in der Nacht zum Thyvst auf. Die Wurzel des Wortes ist Athyv »Dummheit«. Es ist gewöhnlich die Zeit gebremster Aktivität und vorübergehend beeinträchtigter Intelligenz. Um diese Zeit wurden Edelsteine geringerer Qualität sortiert oder die Gänge gereinigt - Arbeiten, die Anstrengung erforderten, aber keine geistige Konzentration oder Kreativität. Warum also bin ich wach? Wenn ein anderer Angehöriger des Schtanns Schwierigkeiten hatte, könnte das natürlich dazu führen, daß Eschteef wach wurde, aber es war in seinem Kopf ganz allein; die anderen schliefen noch. Seltsam. Seit seiner Jugend war Eschteef nachts nicht mehr wach geworden.
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Eschteef schaute auf das Chronometer über der Tür zu seiner Schlafnische. Bis zur normalen Zeit des Thyvst war es noch über eine Stunde. Warum bin ich aufgewacht? Als es vom äußeren Raum her ein kaum wahrnehmbares Geräusch hörte, stand es aus seiner mit Wolldecken ausgelegten Schlafmulde auf, verharrte aber in geduckter Haltung. Im äußeren Raum war etwas. Etwas, das sich seltsam anfühlte. Eschteef mobilisierte seine ganze geistige Wahrnehmungsfähigkeit. Nein, dies war keiner vom Schtann, aber da war irgend etwas . . . Eschteef schaute durch den Vorhang in den äußeren Raum hinaus. Mit einer Taschenlampe in der Hand stand ein junges Menschenwesen an Eschteefs Arbeitstisch und füllte Silber- und Gold abfälle in seine Tasche. Seltsam . . . Eschteef unterdrückte seinen ersten Impuls, den Dieb anzugreifen und aufzuessen. Es war derselbe Junge, der an dem Tag, als van Ingstrands Brosche gestohlen wurde, so lebhaft auf das Chrostith reagiert hatte. An dem Tag hatte Eschteef etwas im Kopf empfunden, das fast Cherat hätte sein können.
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Eschteef hatte Hrotisft darüber berichtet und eine Erklärung erwartet. Hrotisft aber hatte nur abfällig reagiert. »Unsinn«, hatte er gesagt und teils irritiert, teils amüsiert gezischt. Theoretisch war es möglich, Cherat mit einem Fremden zu empfinden; ja, es hatte schon Fremde gegeben, die Mitglieder eines Schtann waren. Sogar der Schtann der Metall- und Juwelenarbeiter hatte schon Fremde zu seinen Mitgliedern gezählt. Aber niemals war ein Menschenwesen der Mitgliedschaft im Schtann der Metall- und Juwelenarbeiter für würdig erachtet worden. »Diese armen Kreaturen«, hatte Hrotisft gesagt. »Und armer Eschteef! Ich bin es doch, dessen Geisteskräfte nachlassen müßten, nicht du.« Und wieder hatte Hrotisft gezischt. Und dieses Zischen hatte Eschteef gar nicht gefallen. Wenn Eschteef sich mit dem Rest des Schtann in Verbindung gesetzt hätte, wären ihm weiterer Spott und weiteres Gelächter sicher gewesen. Eschteef würde sich mit diesem Menschen selbst auseinandersetzen. So oder so.
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Kapitel sechs ›Es könnte vom Schtann sein ...‹ Die zweitletzte Behausung, in die ich einbrach, bot weiter keine Schwierigkeiten. Damals, als die Silbermine noch betrieben wurde, mußte sie ein Lagerraum für wertvolle Werkzeuge öder vielleicht für Sprengstoff gewesen sein; der aus dem Stein gehauene Raum war mit einer in den Fels eingelassenen und mit einem Kombinationsschloß versehenen Eisentür gesichert. Ich mußte vorsichtig sein. Es war einige Stunden her, daß ich zuletzt Menschen durch die Gänge hatte heimkehren hören - jetzt war es draußen Nacht, und der Raum war wahrscheinlich besetzt. Wenn ich das Schloß geknackt hatte und die Tür öffnete, würde sie wahrscheinlich in den Angeln knarren und den oder die Bewohner auf mich aufmerksam machen. Die Tür war groß und schwer und wahrscheinlich importiert worden. Das Kombinationsschloß sah allerdings so aus und fühlte sich so an, als sei es auf Oroga hergestellt worden. Ich merkte, daß das Schmiermittel im Schloß schon lange vertrocknet
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war. Ich konnte die Zuhaltungen praktisch klicken hören; das Schloß war kein Hindernis. Bald hatte ich die Kombination geschafft und zog an der Tür. Langsam drehte sie sich in ihren offenbar in Silicon gebetteten Angeln. Den Menschen auf der Erde sei Dank - wenn sie es wirklich wollen, können sie Dinge herstellen, die ewig halten. Leise blieb ich in der Dunkelheit stehen und hörte das Schnarchen des Schlafenden. Ich hoffte nur, daß er einen festen Schlaf hatte. Nachdem ich den Strahl meiner Taschenlampe schwächer eingestellt hatte, betrat ich den Raum. Drüben in der Ecke des Raumes schlief jemand unter einem Haufen Wolldecken, und um ihn herum lagen Essensreste und leere Weinflaschen verstreut. Es gab nicht viel Mitnehmenswertes - ein paar Beutel mit Rindfleisch, eine Flasche Wein. Der Mann, der hier lebte, war fast so arm wie ich; das Wertvollste, das er besaß, war das Kombinations schloß an der Tür. Ich ließ den Wein stehen, steckte das Fleisch ein, schloß die Tür hinter mir und ging tiefer in das Gängegewirr hinein. Vor einer massiven Holztür blieb ich stehen und schüttelte meine Erschöpfung ab. Inzwischen war ich schon sehr weit in die Gänge eingedrungen und hatte nur 149
noch wenig Auswahl. Ich hatte noch nicht annähernd den Gegenwert für ein Ticket zusammen, mit dem ich Oroga verlassen konnte, und ich hatte auch noch nichts gefunden, das ich anziehen konnte, um getarnt zu Benno dem Makler zu gehen und anschließend eine Passage zu buchen. Ganz davon zu schweigen, daß ich noch nichts hatte, was ich bei Benno gegen die für das Ticket nötigen Kreditmarken eintauschen konnte. Aber dann stieß ich auf etwas Interessantes; diese Tür blockierte den ganzen Tunnel. Es war kein Nebenraum - aber es konnte eine Sackgasse sein oder vielleicht ein größerer Tunnelabschnitt, in dem etwas Wertvolles gelagert wurde. Vielleicht sogar etwas, das sich zu stehlen lohnte. Ich leuchtete mit meiner Lampe den Türrahmen ab und mußte lächeln. Gut - oben an der Tür war eine Druckklinke. Wenn jemand die Tür öffnete, schnappte sie auf. Und dann würde irgend etwas passieren. Wahrscheinlich würde etwas von oben herabfallen. Wenn jemand eine Sprengfalle anlegt, muß er die Möglichkeit haben, sie abzuschalten, und ich fand nichts, das auf ein Schlüsselloch hinwies. Das, zusammen mit der Höhe der Tür, ließ vermuten, daß hier ein Schrift lebte. Bei seiner enormen Kraft war ein Gegenstand, der mich 150
plattquetschen würde, für ein Schrift kein Problem; das Wesen könnte ihn einfach auffangen und ihn wieder an seinen Platz heben. Ich ließ meine Klinge aufschnappen und trieb sie unter der Klinke in das Holz des Türrahmens. Jetzt konnte die Klinke nicht mehr ausrasten, und ich hatte von oben nichts zu befürchten. Ich schaltete meine Lampe aus und öffnete langsam und vorsichtig die Tür. Sie drehte sich völlig geräuschlos in den Angeln. Ich betrat den Raum, tastete mich mit den Füßen vorwärts und lauschte konzentriert. Nichts. Das war zwar günstig, aber ich konnte nicht im Dunklen herumtappen; ich mußte es riskieren, für einen Augenblick meine Lampe anzuschalten. Ich tat es und schaute mich rasch um. Es war ein grob aus dem Fels gehauener etwa drei Meter hoher Raum, während die normale Höhe des Tunnels nur zwei Meter betrug. Die Wände und die Decke waren glatt und viel sorgfältiger bearbeitet als die eines gewöhnlichen Stollens. An der rechten Wand stand eine komplizierte Werkbank mit säuberlich in Nischen geordneten Werkzeugen. Auf der Platte lagen drei große Haufen Metallreste. An der linken Wand standen Schränke und ein Kochherd, und an 151
der hinteren Perlenvorhang.
Wand
erkannte
ich
einen
Jetzt wußte ich: hier wohnte ein Schrift. Ein Juwelier. Ich machte die Lampe aus. Vielleicht war ich zu vorsichtig, aber möglicherweise schlief das Schrift hinter diesem Perlenvorhang. Kein Problem; ich wußte, wo der Tisch stand. Ganz langsam bewegte ich mich über den Steinfußboden, griff auf den Tisch und raffte das Metall in meine Tasche. Geduckt stand ich da, hielt meine Tasche fest und überlegte, ob ich es riskieren durfte, noch einmal das Licht anzumachen. Ich fühlte mich wie ein gejagtes Tier. Und das entsprach so ziemlich der Wirklichkeit. Wenn das Metall, das ich von der Werkbank genommen hatte, wirklich Silber war, wenn das Schrift so viel Vertrauen in seine Falle setzte, daß es Silber - oder sogar Gold - herumliegen ließ, wenn vielleicht sogar Edelsteine dabei waren - wenn, wenn, wenn. Ich mußte es genau wissen. Wenn ich genug in der Tasche hätte, könnte ich meine Beute zu Benno
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tragen und so viel dafür bekommen, daß ich mir ein Ticket kaufen und den Planeten verlassen konnte. Wohin? Das war eigentlich gleichgültig. Irgendwohin, wo auf meinen Kopf keine Prämie ausgesetzt war. Das würde vorläufig genügen. Später würde ich dahin gehen, wo es viel zu stehlen gab. Ich würde während der nächsten Jahre sehr viel stehlen müssen; es würde sehr teuer werden, genügend Söldner anzuheuern, um Arnos van Ingstrand töten zu können. Langsam. Ganz langsam würde ich ihn töten. Ihm sollte es weit schlimmer ergehen als Marie. Ich schüttelte den Kopf. Daran durfte ich im Augenblick gar nicht denken. Jetzt war es wichtig festzustellen, ob ich soviel hatte, daß ich Oroga verlassen konnte. Wenn es noch nicht reichte, konnte ich versuchen, das Versteck des Schrift zu finden. Es mußte ein Versteck haben - vielleicht in diesem Raum, vielleicht irgendwo draußen. Ein Schrift, das Juwelier ist, mußte mehr Metall und Edelsteine besitzen, als ich bisher gefunden hatte. Zur Hölle damit. Ich stellte die Tasche auf den Fußboden, zog meine Taschenlampe heraus und deckte die Leuchtfläche mit der Hand ab. Dabei bemühte ich mich, nicht allzu sehr zu zittern.
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Ich schaltete die Lampe an und spreizte meine ersten beiden Finger. Sorgfältig achtete ich darauf, daß der Lichtkegel nicht die Wände bestrich. Wenn das Schrift hinter dem Perlenvorhang schlief, wollte ich es nicht wecken. Wenn nicht, wenn es vielleicht auf dem Weg zu seiner Behausung war, wollte ich es wenigstens sehen, bevor es mich sah. Jeder - nun, fast jeder - hätte mich für die Summe ausgeliefert, die van Ingstrand auf meinen Kopf ausgesetzt hatte. Er wollte mich unbedingt in seine Gewalt bringen, und hunderttausend Pesos sind eine Menge Geld. Ich leuchtete in meine halb geöffnete Tasche und sah seltsam geformte weißliche Metallreste. Es mochte Silber sein, vielleicht auch Iridium oder Platin - das würde ich erst in der Sonne erkennen können - , und ich sah auch Gold. Wunderschönes gelbes Gold. Das müßte für Benno reichen. Er würde mich nicht ausliefern. Ein Makler darf keinen Kunden verraten. Das wäre schlecht für das Geschäft. Ich zwang mich zur Ruhe. Daß ich etwas Wertvolles gefunden hatte, bedeutete noch nicht, daß es genug war. Hmm . . . das Gold mochte fünftausend Pesos wert sein; zusammen mit dem Silber vielleicht das Doppelte. Die Brosche in meiner Ärmeltasche war 154
sehr viel mehr wert, aber unter den Umständen würde Benno mir allenfalls ein paar tausend zahlen. Alles in allem hätte ich dann mit Glück zehntausend Pesos. Ich rechnete alles durch. Der offizielle Wechselkurs Peso/Kreditmarken lag bei etwas mehr als vierzig zu eins. Ein Ticket nach irgendwo kostete etwas über zweihundert Kreditmarken; wenn der Wechselkurs sich nicht geändert hatte, würde ich noch etwas übrigbehalten. Aber durfte ich es riskieren, das Geld einzuwechseln? Van Ingstrands Leute würden schon auf mich warten. Blieb also nur Benno. Er war für Verschwiegenheit, nicht aber für Großzügigkeit bekannt. Ich konnte schon froh sein, wenn er mir hundertfünfzig gab. Nein, ich mußte mich noch ein wenig umschauen. Wenn nicht hier, dann woanders. Aber würde ich je wieder auf eine ähnliche Goldader stoßen? Es war schon besser, wenn ich aus der Behausung des Schrift so viel mitnahm, wie ich nur tragen konnte. Als ich die Lampe anhob, fiel sie mir aus der Hand. Meine Hände zitterten. Mir steckte die Angst der letzten paar Tage in den Knochen, und ich hatte zuwenig gegessen.
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Klappernd rollte die Lampe über den Fußboden und verfing sich an einer Unebenheit. Der Lichtkegel war auf die Wand neben der Tür gerichtet. In der Mitte des Lichtkreises, wie ein auf eine Platte gespießter Schmetterling, stand in einer grob ausgehauenen Nische der silberne Krug, den ich auf dem Markt gesehen hatte. Er war wirklich schön. Trotz der gefährlichen
Situation blieb ich stehen und genoß seinen Anblick.
Dann hörte ich eine Stimme hinter mir. »Nein, Kleines, es ist, wie ich dir schon sagte. Das ist mein Chrostith. Es ist nicht verkäuflich. Und es ist auch nicht zum Stehlen.« Carlos Einhand hatte uns mal den Unterschied zwischen einem gewöhnlichen Diebstahl und einem Einbruch erklärt. Wenn man im ersteren Fall erwischt wird, kann man immer noch so tun, als sei man unschuldig. Im zweiten Fall hat man nur eine Chance: wegrennen. Ich schaute mich nicht um, als ich zur Tür sprang. Wenn ich erst einmal draußen war, konnte ich meinen Verfolger in den Gängen abschütteln. Ich mußte nur vorbei an ... Die Welt explodierte in Feuer und Hitze, und dann war alles schwarz. 156
Carlos hatte mit uns schnelles Aufwachen geübt. Während wir schliefen, schlich er sich an uns heran und hielt dem jeweiligen Opfer das Messer an die Kehle. Wenn wir seine Hand packten, bevor er uns mit dem Messer berührte, belohnte er uns: wir brauchten dann fünf Tage lang nicht mit ihm zu schlafen, manchmal länger. Die kleine Marie konnte es sehr gut. Zum Schluß hatte er keine Lust mehr, ihr diese Chance zu geben. Es war entsetzlich. Ich schaffte es einfach nicht, schnell aufzuwachen. Ich tauchte immer nur langsam in die reale Welt auf. Manchmal bin ich versucht, in meinen Träumen zu versinken. Sie sind immer schöner. Diesmal war es so schlimm wie eh und je. Ich träumte wieder von meiner Mutter. Das glaube ich wenigstens. Ich erinnere mich nur an weiche Hände und sanfte Stimmen. Aber mehr weiß ich von ihr ja auch nicht. Und dann waren da noch andere Stimmen, die in einer fremden Sprache redeten. Nein, so fremd war sie gar nicht. Carlos hatte mich etwas Schrift lernen lassen. Eine Zeitlang war es bei den Elweries große Mode gewesen, einander auf Schrift anzureden. Carlos nahm offenbar an, daß diese Mode wieder
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aufleben würde, und wollte, daß ich darauf vorbereitet war. ». . . Warum willst du es also hierbehalten, Eschteef? Arnos van Ingstrand hat auf seinen Kopf hunderttausend Elwere-Pesos, zweitausend Frusst Silber und hundert Frusst Gold ausgesetzt.« Die andere Stimme pfiff näselnd: das leise Lachen eines Schrift. »Ich behalte es hier, weil es vom Schtann sein könnte.« »Das ist Dummheit. Darüber haben wir schon gesprochen.« »Nein, Hrotisft, darüber haben wir nicht gesprochen. Ich habe dir ein seltsames Erlebnis mitgeteilt, und du hast mich verspottet. Eben gab es einen solchen Augenblick und vor ein paar Tagen auch schon. Ich spürte etwas. Vielleicht war es Cherat, vielleicht auch nicht. Es wird wenig kosten, das herauszufinden. Ein bißchen Zeit und ein paar Näpfe voll Essen.« »Ich behaupte immer noch, daß es . . .« »Und es gibt noch einen Grund, das kleine Menschenwesen wenigstens für eine Weile hierzubehalten. Die Belohnung könnte sich noch erhöhen. Wir könnten über einen Makler um das Kind und die Brosche, die es im Ärmel hatte, 158
verhandeln; wir könnten vielleicht noch mehr Gold und Silber bekommen.« Die Brosche! Ich drückte meinen Arm gegen den Stein. Der Ärmel war leer. »Eschteef, sei nicht habgierig.« Wieder dieses näselnde Lachen. »Hrotisft, mein Lehrer, zuerst beschuldigst du mich der Dummheit; jetzt der Habgier. Wenn die Beschuldigungen falsch sind, liegt es vielleicht an deinem Alter; wenn sie stimmen, spricht es nicht sehr für dich, daß du einen solchen habgierigen Dummkopf in den Schtann eingeführt hast.« Diesmal pfiff auch der andere. »Mein Alter? Du sagst, daß . . . nun gut; tu was du willst.« Ich hatte lange genug gebraucht, mich wieder zu orientieren. Es war schlimm; ein Schlag auf den Kopf, der so hart ist, daß man bewußtlos wird, hinterläßt im besten Fall Schmerzen, Übelkeit und Desorientierung; er kann aber auch leicht eine Gehirnverletzung oder den Tod zur Folge haben. An meiner Wange spürte ich den harten Steinfußboden. Ich brauchte nur aufzuspringen und zur Tür zu rennen. Im Vorbeilaufen würde ich meine Klinge unter der Falle herausziehen und den Weg hinter mir blockieren. 159
Ich öffnete ein Auge. Ich sah nur Fels; das Schrift hatte mich so hingelegt, daß ich die Wand anschauen mußte. Ich sprang hoch und versuchte, auf den Beinen zu bleiben. Dabei hörte ich das Rasseln von Metall auf Stein. Nach drei Schritten zur Tür hinüber wurde das rechte Bein unter mir weggerissen. Ich schlug hart auf den Boden auf, und mein Schienbein schmerzte so entsetzlich, daß ich fast nichts mehr sehen konnte. Ich griff nach unten und legte die Hand auf die Stelle. Kein Wunder, daß ich nicht laufen konnte. Mein rechtes Fußgelenk trug eine Metallmanschette, die Manschette hing an einer Kette, und die Kette war an der Wand festgeschraubt. Das größere der beiden Schrift beugte sich über mich, als ich auf dem Boden lag und vor Schmerzen stöhnte. Ich hatte gewußt, daß die Schrift riesige Kreaturen sind, aber aus der Nähe wirkten sie noch größer. Am Kopf hatte es eine gewaltige graue Hautmasse und zwei tiefliegende Augen, die von einem inneren Feuer zu glühen schienen.
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Es hatte keine Haare auf dem Kopf; nur zwei auseinanderliegende Nasenschlitze im Gesicht und Ohrlöcher an den Seiten. Interessant war dann nur noch der höhlenartige Mund mit seinen scharfen spitzen Zähnen. Ich war nicht sicher, ob die Schrift wirklich Menschenfleisch essen; es war mir auch gleichgültig. Vielleicht wäre das sogar besser, als an Arnos van Ingstrand ausgeliefert zu werden und sich die Haut abziehen zu lassen Mir kamen die Tränen, als ich daran dachte, wie Marie mich angefleht hatte: David, mach, daß die Schmerzen aufhören . . . »Tut es weh?« fragte es auf Schrift, und als ich nicht antwortete, zischte es die Frage auf Basic: »Tut es weh?« Es streckte seine stumpfen Finger aus und betastete mein Fußgelenk. Als ich mich wehrte, schob es mit Leichtigkeit meine Hände zur Seite. »Mach dir keine Sorgen, kleiner Mensch. Noch nicht.« Das Schrift hatte warme kräftige Finger, aber es berührte meine Abschürfungen sehr sanft. »Eine oder zwei Schrammen, aber du bist nicht schwer verletzt. Ich habe vielleicht ein wenig Valda-Öl . . .«
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»Und wozu brauchst du Valda-Öl, Eschteef?« zischte das andere Schrift. »Hast du dich ohne mein Wissen in einen Menschen verwandelt?« »Nein, Hrotisft, es gehörte dem Dieb, der mich an meinem Stand bestehlen wollte.« Das Schrift - es hieß also Eschteef - stand auf und wühlte neben mir in einem Kasten. »Es hatte eine kleine Flasche bei sich, und ich habe mir noch nicht die Mühe gemacht, sie zu verkaufen. Ich glaube, sie ist - aha.« Das Schrift gab ein paar Tropfen von dem kühlenden Öl auf meine Wunden und rieb sie ein. Die Schmerzen waren sofort verschwunden, so als hätte ich mich überhaupt nicht verletzt. Die Schrammen waren noch da, und bald würden sie anschwellen, aber die Schmerzen spürte ich nicht mehr. Darin lag der Wert richtig behandelten ValdaÖls: die Moleküle hüllten nur die freiliegenden Nervenenden ein; das lindert die Schmerzen, ohne den Nerven oder dem sonstigen Gewebe zu schaden. Eschteef hob den Kopf. »Geh jetzt, Hrotisft. Du scheinst das Menschenwesen zu ängstigen.« »Das Problem läßt sich leicht lösen.« Hrotisft knackte mit den Kiefern. »Iß es oder verkaufe es an Arnos van Ingstrand.« »Hrotisft ... die Sache ist erledigt. Wenigstens vorläufig.« 162
»Gut. Ich werde in ein paar wiederkommen. Wenn nötig, auch früher.«
Tagen
»Natürlich.«
Hrotisft hob den Stein über der Tür mit einer sechsfingrigen Hand an, ließ den Riegel wieder an seinen Platz gleiten und schloß die Tür hinter sich. Eschteef richtete mich zu einer sitzenden Position auf und hockte sich unbeholfen vor mich hin. Für mich sehen die Schrift immer komisch aus, ihre Unterarme und Unterschenkel sind im Vergleich zu den Gliedern unverhältnismäßig lang, und die Glieder selbst sind zu groß. Unter allen vernunftbegabten Rassen ist ihr Anblick der beunruhigendste. Ihre Gestalt ähnelt zu sehr der der Menschen. »Verstehst du mich?« fragte es. »Ich weiß nicht, was du sagst«, antwortete ich auf Basic. Das Schrift mußte nicht unbedingt erfahren, daß ich seine Sprache verstand. Eschteef stand auf und bewegte sich schnell, aber elegant zu der Nische in der Nähe der Tür. Das ist eine weitere seltsame Eigenschaft der Schrift: aus völliger Reglosigkeit können sie sich plötzlich sehr schnell bewegen, um dann übergangslos wieder in
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völliger Ruhe zu verharren, als hätten sie keine physikalische Trägheit. Vorsichtig und behutsam hob es den Krug aus der Nische und hielt ihn mit den Fingerspitzen fest, als es ihn zu mir herübertrug. »Dies ist mein Chrostith, mein . . . bisheriges Meisterstück. Ich hatte zwei weitere Chrostith, zwei Schöpfungen, die es verdienen, das Beste genannt zu werden, das ich, Eschteef vom Schtann der Metall- und Juwelenarbeiter, erschaffen konnte. Und dieses ist besser als das zweite, wie das zweite besser als das erste war. Und eines Tages mag es ein viertes geben, wenn meine Hände ruhig genug sind, mein Verstand klug genug . . . und ich mein Herz hineinlege.« Während es dies sagte, hielt es den Blick auf mein Gesicht gerichtet. »Ein Mitglied meines Schtann stellt fast immer ein Chrostith her; häufig zwei; selten drei; vier oder fünf fast nie.« Das konnte ich verstehen. Wie kann eine Kreatur etwas erschaffen, das diesen Krug an Schönheit übertrifft? Eschteef hielt den Krug einen halben Meter von mir entfernt, als sollte er mir so nahe sein, daß ich ihn genau betrachten konnte, aber doch so weit weg, daß Eschteef ihn rasch wegreißen konnte, falls ich versuchte, ihn zu berühren. 164
Aber das hätte ich nicht getan. Dazu war er zu schön. Nicht schön in dem Sinne, daß man viel Geld für ihn bekommen konnte. Ganz einfach schön. Perfekt. Trotz meiner Kopfschmerzen und der Schmerzen im Rücken, die meine Sehnen wie heiße Drähte brennen ließen, setzte ich mich zurück und ließ den Anblick auf mich wirken. Genau wie auf dem Marktplatz spürte ich etwas. Ein leichtes Zucken im Kopf, wie elektrische Wärme in meinem Gehirn. Und dann war es wieder weg. »Ja«, sagte das Schrift und hielt den Krug näher, »vielleicht gehört das Menschenkind zum Schtann. Das ist nicht neu. Einige Schtann hatten Menschen als Mitglieder, und unser Schtann hatte andere Fremde als Mitglieder. Vor vielen Jahren hatten wir ein paar Poncharaire, wie ich mich erinnere. Vielleicht ist das Menschenkind nur ein wenig zurückgeblieben.« »Ich bin nicht zurückgeblieben. Carlos Einhand sagt, ich sei der beste Dieb, den er je gesehen hat, außer ihm selbst und . . .« und Marie. Ich weinte. Eschteef stand auf und trug den Krug in seine Nische zurück. Es stellte ihn so vorsichtig hin, als sei er ein höchst wertvolles Kunstwerk aus Glas. 165
»Da du offensichtlich meine Sprache sprichst, wollen wir doch aufhören, uns zu verstellen, keh?« Mit einem näselnden Pfeifen zog Eschteef die Vorhänge vor einem Regal zur Seite und holte einen irdenen Krug und zwei Becher aus Stein, die halb so groß waren wie mein Kopf. Nachdem es die Becher gefüllt hatte, stellte es den Krug auf den Tisch, von dem ich das Silber und das Gold genommen hatte, und kam mit beiden Bechern zu mir an die Wand, wo ich noch immer angekettet saß. Es hockte sich vor mir auf den Boden. »Weißt du, Kleines, ich habe ein Problem. Wenn du nicht dazu bestimmt bist, Teil meines Schtann zu sein - und ich bin durchaus nicht sicher, daß das der Fall ist . . .« Es nahm einen Tuchfetzen aus seinem Beutel und wischte mir Nase und Augen ab. »Menschen.« Ein rauhes Krächzen drang ihm aus der Kehle. »Ich sehe keinen Grund dafür, daß sie so viele verschiedene Körperflüssigkeiten haben. Sie tropfen aus jeder Öffnung. Nun gut - wenn du nicht von meinem Schtann bist, dann sollte und werde ich dich an Arnos van Ingstrand ausliefern und die Belohnung fordern.« Es zeigte auf meine jetzt leere Ärmeltasche. »Und ich werde ihm auch die Brosche verkaufen.«
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Eschteef gab mir einen Becher, und ich trank einen großen Schluck. Mannafruchtsaft. Das wusch mir das Blut und den Staub aus der Kehle. Eschteef legte den Kopf zurück, bis sein Mund gegen die Decke zeigte, und schüttete die Flüssigkeit in sich hinein. »Mehr? Gut. Aber wenn du vom Schtann bist, wenn du einer vom Schtann werden kannst, dann muß ich dir natürlich helfen und dich ausbilden.« Ich schüttelte den Kopf. Irgend etwas war da unklar. »Das verstehe ich nicht«, sagte ich. »Ein Schtann ist doch für euch so etwas wie eine Familie, nicht wahr?« »Das ist richtig. Und du fragst dich, wie du und ich eine Familie sein könnten, keh? Aber ein Schtann ist mehr als eine Familie, kleiner Mensch. Es ist . . .« Die nächsten Worte verstand ich nicht. Ich verstand zwar etwas Schrift, aber so geübt war ich nun auch wieder nicht. Das Schrift sprach jetzt wieder Basic. »Nun, ein Schtann ist eine Gruppe von Wesen, die miteinander ... in geistiger Verbindung stehen. Jeder ist ein Teil des Ganzen und verliert durch diese Gemeinsamkeit nichts, sondern gewinnt sehr viel. Bei den Schrift 167
gibt es viele Schtann: die Brutpfleger, die die Jungen aufziehen, bis sie erwachsen sind; die Produzenten von Fleisch und Getränken, die Obstbäume anbauen und Tiere halten; die Bauleute, die den Boden ausheben und einen Stein auf den anderen schichten . . . und meinen Schtann, die Metall- und Juwelenarbeit, die aus Gold und Diamanten Schönheit entstehen lassen. Aber eines haben sie alle gemeinsam: Cherat. Eine . . . geistige Verbindung miteinander.« »Telepathie.« Ich zuckte die Achseln, Außer der üblichen latenten Empfindsamkeit für Psi ist Telepathie bei den Menschen eine seltene Gabe; vielleicht einer unter zehn Millionen hat sie. Ich selbst hatte noch nie einen Telepathen kennengelernt. Die Tausend Welten kümmern sich um alle Telepathen unter den Menschen und lassen sie vom Kontakt-Service ausbilden. »Aber ich bin kein Telepath«, sagte ich. »Nein. Es handelt sich nicht um simple Telepathie. Cherat ist subtiler; es ist ein Austausch von Emotionen, nicht nur von groben Gedanken. Mitglieder meines Schtann erleben die Schönheit unserer Arbeiten gemeinsam; wir haben gemeinsame Empfindungen.«
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Wie dieses Kitzeln, das ich im Kopf verspürte, als ich den Krug betrachtete. Ich schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein.«
»Wir werden sehen . . . Sag mir, was wolltest du hier? Und was wolltest du hiermit?« Eschteef hielt die Brosche hoch. Die Wahrheit konnte nicht schaden. »Ich habe sie Elren Mac Cormier gestohlen.« Aber warum sollte ich die ganze Wahrheit erzählen? »Sie muß sie von dem gekauft haben, der sie Arnos van Ingstrand gestohlen hat.« Das Schrift zischte. »Das ist eine sehr dürftige Lüge. Was wolltest du mit der Brosche anfangen?« »Ich wollte sie Benno dem Makler verkaufen. Ich wollte mir ein Ticket besorgen und Oroga verlassen.« »Ah, Benno der Makler. Ich habe mit ihm schon Geschäfte gemacht; er zahlt nicht viel. Warum ausgerechnet ihm?« »Er ist der Vater einer Freundin von mir, eines Mädchens aus der Straße der Freuden. Ich wußte, daß er mich nicht ausliefern würde.« »Richtig. Aber nicht aus diesem Grund. Er ist diskret, das ist Benno.« Die stumpfen Finger strichen mir über die Stirn. »Aber warum bist du 169
hier? Warum riskierst du es, ein Schrift zu berauben? Wenn nicht, um Arnos van Ingstrand zu meiden, warum dann sonst? Ich weinte. Marie . . . Carlos . . . »Diese anderen, mochtest du sie?«
»Nein. Ich mag niemanden.« Wie kann man Leute mögen, die man auf dem Fußboden liegen sieht, das Fleisch von den Knochen getrennt und die Überreste der Gesichter zu einem erhoben, und die dann sagen: mach, daß die Schmerzen aufhören, David, bitte, mach, daß die Schmerzen aufhören, David, bitte . . . Ich werde dich töten, Arnos van Ingstrand. Ich schwöre, daß ich dich töten werde. »Sei still, mein Kleines. Ruhe dich aus. Deine Ausbildung beginnt morgen. Wenn du von meinem Schtann bist, wirst du es lernen, etwas zu mögen.« »Dies ist ein rundes Stück Silberblech . . .« »Ich weiß, was Silber ist.« Eschteef legte das Blech vor mich auf den Tisch, und dann legte es vorsichtig den Hammer zwischen Blech und die konkave Steinform. Dann packte es mich mit der einen Hand an den Haaren und versetzte mir mit der anderen Hand einen kräftigen Schlag ins Gesicht. Es stieß einen fast menschlichen 170
Seufzer aus und nahm das Silber und den Hammer wieder auf. So ging es schon, seit es mich geweckt hatte. Es hatte mir zu essen gegeben und einen Steineimer gebracht, den ich als Nachttopf benutzen konnte. Dann hatte es meine Kette von der Wand abgeschraubt und mich daran zur Werkbank geführt. Ich hatte nicht versucht zu fliehen. Noch nicht. Eschteef war immer anwesend, und es war stärker als ich. Aber irgendwann würde es schlafen müssen, und selbst wenn ich nicht die Kraft eines Schrift besaß, war ich doch sicher, daß es mir gelingen würde, die Kette von der Wand abzuschrauben und mich vielleicht sogar der Metallmanschette zu entledigen, wenn ich nur die Zeit hatte, ein paar Stunden mit den Werkzeugen zu arbeiten. Aber wohin sollte ich gehen? Gina würde mich sicherlich eine Zeitlang verstecken, aber das würde mein Problem nicht lösen. Ich brauchte Geld oder Silber, und das reichlich. Vielleicht war es besser, eine Weile zu warten. Vielleicht konnte ich sein Versteck ausfindig machen, in dem Brosche, Silber, Edelsteine und Gold liegen mußten. Das war nur eine Frage der Zeit.
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»Dies ist ein rundes Stück Silberblech, und dies ist ein Hammer, keh?« »Ja. Dies ist ein rundes Stück Silberblech, und dies ist ein Hammer.« Und das da drüben ist ein Messer, und wenn du dich nur ein wenig bewegst, werde ich nachschauen, welche Farbe deine Leber hat, du dreckige stinkende Eidechse. Es mußte meinen Blick auf das Messer beobachtet haben, obwohl ich wirklich nur ganz kurz hingeschaut hatte. »Nein, mein Kleines, das wäre sehr unklug, selbst wenn es dir gelänge, meine dicke Haut zu durchschneiden. Der Schtann würde kommen.« Er nahm das Messer auf und legte es so weit weg, daß ich es nicht erreichen konnte. »Ich möchte dich lieber nicht in Versuchung führen.« Es legte das Blech und die Form wieder vor mir auf die Werkbank, gab mir den Hammer in die rechte Hand und achtete darauf, daß meine Finger den glatten Stiel umschlossen. »Der Griff muß so fest angefaßt werden, daß man die Schläge kontrollieren kann, aber nicht zu fest, sonst wird die Hand müde; müde Hände machen Fehler.« Eschteef rückte zu mir heran und hockte sich neben mich. Dann nahm es ein Duplikat des Hammers, den ich in der Hand hielt, und nahm das Silberblech auf.
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»Jetzt. Wir biegen das Silberblech so« - es paßte den Rand des runden Blechs in die Form ein - »und schlagen es mit dem Hammer. So.« Kräftig schlug es dann zwischen der Mitte und dem Rand auf das Blech. »Und jetzt versuchst du es einmal.« Es zeigte auf die Scheibe. »Versuch, genauso zu schlagen wie ich. Dein Schlag muß meinen überlappen.« Ich nahm das Blech und stützte mich mit dem Handballen auf den Tisch; ich wollte mich nicht mehr anstrengen als unbedingt nötig. Dann schlug ich kräftig zu. Eschteef hielt meine Hand fest, als mein schmerzender Daumen nur noch Zentimeter von meinem Mund entfernt war. »Niemals die Finger in den Mund stecken. Diesmal wäre es harmlos gewesen, aber du wirst mit den verschiedensten Substanzen umgehen müssen. Die meisten Beizlösungen sind giftig für mich. Trinken Menschen Sstraszta?« »Sstraszta? Das Wort kenne ich nicht.« Eschteef überlegte einen Augenblick. »Säuren. Trinken Menschen so etwas?«
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Ich war nicht sicher, ob er sich über mich lustig machen wollte, aber ich hatte keine Lust, schon wieder geschlagen zu werden. »Nein.« »Vielleicht ist das auch etwas, was du nicht gern lernen möchtest. Und jetzt versuch es noch einmal.« Ich nahm das jetzt gebogene Blech in die Hand und hielt den Daumen weit von der Stelle weg, auf die ich schlagen wollte. »Mach dir keine Sorgen; jeder schlägt sich hin und wieder auf den Daumen. Sogar Hrotisft, mein Lehrer, hat einen vernarbten Daumen. Und er ist ein so bedeutendes Mitglied des Schtann, wie es je eines gegeben hat.« Wieder hatte Eschteef angefangen zu reden. Genau wie Carlos redete Eschteef pausenlos. Aber bei Carlos hatte ich dabei wenigstens Vorteile. Solange er redete, ließ er mich gewöhnlich in Ruhe. Vielleicht . . . Ich sprach jetzt Schrift. »Wie meinst du das, der Schtann würde kommen?« Eschteef nahm mir den Hammer und das Blech weg und legte beides vor sich auf den Tisch. »Dein Finger - Daumen, keh? - schmerzt also so sehr, daß du lieber reden als arbeiten willst. Cherat ist die Übertragung von Emotionen, keh?
Zu diesen Emotionen gehört auch die Angst« - es
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benutzte natürlich das Schriftwort Kstak - »und Ryvathkstak, die Angst vor dem nahenden Tod. Sollte ich Ryvathkstak empfinden, würden andere vom Schtann mich hören und mir zur Hilfe kommen. Durch Cherat rief ich Hrotisft, als ich dich im vorderen Raum hörte. Ich wollte die Angelegenheit selbst regeln, aber ich spürte dieses Aufblitzen, das vielleicht Cherat war. Deshalb rief ich Hrotisft. Ich hätte den ganzen Schtann rufen können, aber . . .« »Du glaubtest nicht, daß du mehr als einen brauchtest, um einen Menschen an die Wand zu ketten. Vielleicht hättest du mehr rufen sollen.« Ich schielte zum Messer hinüber. »Das war nicht nötig. Aber jetzt hast du dich lange genug ausgeruht. Versuch es noch einmal.« Ich nahm den Hammer und schlug noch einmal auf das Blech, aber es formte sich nicht so wie bei Eschteefs Schlag. »Schon besser, aber du mußt härter zuschlagen. Du solltest das Metall formen, nicht nur seine Aufmerksamkeit erregen.« Während ich immer wieder auf das Blech einschlug, redete es weiter. »Wenn du Teil des Schtann werden kannst, wirst du immer Cherat mit den anderen empfinden, du wirst die Arbeit ihrer 175
Hände bewundern, und du wirst spüren, daß sie deine Arbeit lieben. Wenn du Arbeiten herstellen kannst, die es wert sind, geliebt zu werden. Nicht diese.« Eschteef nahm mir das zerbeulte Blech aus der Hand und fing an, es mit seinem eigenen Hammer zu bearbeiten. »Wenn du es nicht besser lernst, werde ich dich und die Brosche an Arnos van Ingstrand verkaufen müssen. Selbst ein Junges vom Schtann würde bessere Arbeit leisten. Schau her.« In wenigen Augenblicken formte es das zerbeulte Blech zu einer Schale mit rundem Boden, auf der wie Schuppen die Spuren der Hammerschläge zu sehen waren. Mit Hilfe einer zweiten Form bog es den Rand nach innen und rollte ihn ein. »Siehst du? Jetzt haben wir eine Schüssel. Wir können die Seiten mit einer Inschrift versehen oder den Boden abflachen. Wir können auch einen separaten Fuß herstellen und ihn anschweißen. Ich denke, wir werden den Boden abflachen, und dann die Inschriften anbringen - aber zuerst stellen wir die Schale in den Ofen, damit die Bearbeitungsspuren an den Seiten sich glätten. Dies wird unsere gemeinsame Arbeit sein, mein Kleines.« Eschteef bewegte seine Hand seltsam unbeholfen,
als es mir über den Kopf strich. »Und wenn du das
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alles selbst kannst, wenn du die Schönheit deiner Arbeit auf dich einwirken läßt, dich an deiner Arbeit freust und diese Freude mit anderen teilst . . . wirst du ein Teil des Schtann sein. Dann wirst du dich nicht mehr so allein fühlen.« Ich nickte. Aber ich meinte es nicht ernst. Wenn jemand dir zu essen gibt, will er, daß du für ihn stehlen gehst. Wenn jemand dich anlächelt, die vertraut und zu dir aufschaut, kommst du nach Hause und findest sie tot vor. Oder schlimmer. Eschteef schaltete den Ofen ein und stellte einen Topf darauf. »Du darfst heute meinen Löffel und meine Eßzinke benutzen. Aber du mußt dir deinen eigenen Napf machen - wenn du essen willst.« Es zeigte mit einer Klaue auf einen Stapel Silberblech. »Du kannst gleich damit anfangen.«
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Kapitel sieben ›Das also lehrt Eschteef dich?‹ Am nächsten Morgen fing ich an zu lernen. Es gab
sehr viel zu lernen, und ich nahm alles begierig auf.
. . . Eine Naht herzustellen ist ein Verfahren, zwei oder mehr Kanten so aneinanderzufügen, daß ein Zylinder, eine Schleife oder ein Kegel entsteht. Die Art, wie man die Teile aneinanderfügt, ist der Schlüssel zur Naht, und die Arbeit muß wie folgt vorbereitet werden . . . . . . Wenn man aus einem runden Silber- oder Kupferblech ein Gefäß herstellen will, muß man erst entscheiden, wie groß das Formstück sein muß, keh? Man fängt mit einem perfekten physischen oder geistigen Modell des fertigen Gefäßes an. Die Faustregel lautet: Man nimmt die Höhe des fertigen Gefäßes und addiert seinen mittleren Durchmesser. Dann erhält man den Durchmesser für das Formstück. Diese Regel ist nicht sehr nützlich, wenn es sich um Gefäße mit einem breiten flachen Boden und einen schmalen Hals handelt - dann braucht man ein größeres Formstück . . .
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. . . Verbrennungen sind ein Risiko, das sich nicht immer vermeiden läßt, wenn man mit heißem Metall arbeitet. Die meisten Verbrennungen lassen sich durch Vorsicht verhindern; alle aber lassen sich durch geeignete Sicherheitsmaßnahmen reduzieren. Da du ein Mensch bist, neigst du wahrscheinlich dazu, den Wert des Valda-Öls zu überschätzen. Tu das nicht: Es schaltet den Schmerz aus, aber es behebt nicht den Schaden. Nervengewebe wächst nicht nach, und man kann leicht einen Teil seiner Geschicklichkeit einbüßen . . . . . . Beim Diamantenschneiden kommt es darauf an, möglichst viele sichtbare Facetten herzustellen und den Abfall möglichst gering zu halten. Das läßt die Helligkeit und das Leben des Steins zur Geltung kommen. Das Schneiden gibt einem auch die Möglichkeit, eine erkannte Unreinheit zu entfernen . .. . . . Die Bearbeitung von rostfreiem Stahl ist besonders schwierig. Schäden an der Oberfläche sind sehr schwer zu reparieren, so daß sie nicht mehr sichtbar sind; sie so zu reparieren, daß sie völlig verschwinden, ist unmöglich . . . . . . Der Dampfguß ist keine für Bronze geeignete
Technik. Die Metalle reagieren miteinander, und
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Wasserstoff entweicht; der Guß wird narbig, wahrscheinlich bilden sich sogar Krater . . . . . . Emailliersilber ist eine Legierung von besonderer Reinheit; sein hoher Schmelzpunkt macht es möglich, die aufgetragene Emaille stark zu erhitzen, bis sie haftet. Für normale Auftragungen sollte Emailliersilber nicht verwendet werden . . . . . . Gold ist das formbarste Metall; Fehler sind leicht zu korrigieren. Je reiner die Legierung, desto stärker ist das der Fall . . . . . . Drähte können drei grundlegende Verwendungszwecke haben. Erstens können sie funktional verwendet werden - wie bei einer Einfassung. Zweitens können sie dekorativ sein - als auf einen Ring aufgeschweißte Verzierung. Drittens können sie sowohl funktional als auch dekorativ sein. Das ist die ideale Verwendung . . . ... In einer Zwinge darf nie Metall auf Metall liegen. In einem Schraubstock muß man Blöcke aus Holz oder Metall benutzen. Für sehr feine Arbeiten sollte man eine Matrize schneiden oder gießen ... . . . Kleine Löcher in einem Stück werden am besten mit einem Faden poliert. Man steckt das eine Ende des Fadens durch das Loch - so etwa - und zieht ihn hin und her . . .
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. . . Das Innere eines Stückes muß fertig sein, bevor man die Außenseite behandelt. Diese Regel kennt keine Ausnahme . . . . . . Für die Bearbeitung der Flächen gibt es unzählige Techniken. Zu diesen gehören Schnitzen, Ziselieren, mit Feuer behandeln, Beizen, Treiben, Aufprägen, Planieren, Durchstechen, Sägen, Schie ßen ... Während des ganzen nächsten Jahres verließ ich Eschteefs Gang kein einziges Mal. Ich schlief, wenn ich müde war, und aß, wenn ich Hunger hatte, und den Rest der Zeit verbrachte ich damit, Metall zu biegen, zu tempern, zu falten, zu gravieren und zu planieren; Diamanten zu schneiden, zu polieren und zu fassen; Drähte in nützliche und dekorative Formen zu biegen. Ich hörte nie auf, an Carlos und Marie zu denken, und ich dachte auch ständig an meinen Vorsatz, Arnos van Ingstrand zu töten oder zu fliehen. Aber eine Flucht war unmöglich. Wenn ich wach war, schlief Eschteef nie. Wenn es ausgehen mußte um seine Ware zum Stand auf dem Markt zu bringen oder Lebensmittel oder andere Vorräte zu
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kaufen - , schaute immer ein anderes Schrift herein, wenn Eschteef gerade gehen wollte. Das machte mir aber nichts aus. Es war ganz angenehm, mal eine andere Person zu sehen. Selbst Hrotisft mit seinen ständigen kaum verhüllten Drohungen. »Das also lehrt Eschteef dich? Ich weiß, daß Menschen ungeschickt sind, aber dies ist geradezu lächerlich. Es sollte dich lieber an Arnos van Ingstrand verkaufen. Lieber das als dem Schtann mit dieser Arbeit Schande machen.« »Dies ist gut«, knurrte ich, »du dumme alte Eidechse.« Ich hielt ihm den geschnittenen silbernen Kasten direkt vor die Augen. »Was ist los mit dir, Alter? Verlierst du außer deiner Geschicklichkeit auch noch dein Sehvermögen?« Hrotisft war alt, selbst für ein Schrift; es konnte kaum noch eine Riffelfeile in der Hand halten, ohne zu zittern. Meine Wut war nur allzu berechtigt. Ich hatte fast zwanzig Wachperioden gebraucht, nur um die versenkten Scharniere so perfekt zu arbeiten, daß der Kasten sich bei der leisesten Berührung fast flüsternd öffnete oder schloß, und noch mehr Zeit hatte es in Anspruch genommen, an allen zwölf 182
Flächen, innen und außen, die Verzierungen anzubringen. »Ich verliere nichts! Ich bin vom Schtann. Du gehörst nicht zum Schtann, und außerdem bist du ein Dieb.« Es stieß mich zum Tisch hinüber. »Schau dir das an, Nicht-Schtann!« Er knallte mit einer Hand den Kasten auf den Tisch, mit der anderen packte er mich im Genick und drückte mich fast mit der Nase auf den Kasten. »Dal Du hast die Fassungen für die Steine zu flach ausgeschnitten, du faules Menschenwesen! Wenn du schon Steine eingesetzt hättest, wären sie jetzt herausgesprungen. Du mußt erhabene Fassungen arbeiten. Glaub nur nicht, daß du schon fertig bist. Und hier! Siehst du denn nicht, daß die Linien, mit denen du diese Fläche versehen hast, nur den Platz ausfüllen, aber keine Schönheit entstehen lassen? Hast du denn keine Augen im Kopf? Paß auf!« Es packte mich am Genick und schleuderte mich quer durch den Raum, ohne auf die Geräusche vom Tunnel her zu achten. Die Tür öffnete sich, und Eschteef stand hinter Hrotisft und stellte seine Pakete auf den Fußboden. »Und wenn ich sage, daß das Menschenwesen vom Schtann sein kann?«
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»Dann lügst du. Oder du machst dir etwas vor.« Mit diesen Worten verließ Hrotisft den Raum. Eschteef half mir auf die Füße. »Sei nicht böse auf Hrotisft, David. Es ist alt und frustriert.« »Frustriert?« Ich schlug mit der Faust gegen die Wand. »Wieso hat es das Recht, frustriert zu sein? Es ist ja hier nicht an die Wand gekettet wie ein Tier. Es muß ja nicht fleißig sein, damit es nicht an Arnos van Ingstrand ausgeliefert wird. Es ist nicht . . .« »Keh. Nein, das alles ist Hrotisft nicht. Hrotisft ist überhaupt kaum noch etwas. Vor allem ist es nicht mehr jung. Früher gehorchten Metalle und Edelsteine seinem Willen wie aus eigenem Antrieb; heute beherrscht Hrotisft kaum noch seine eigenen Hände. Und es mag dich nicht, kleines Menschenwesen, denn du bist nicht vom Schtann. Aber dennoch haben deine klugen Finger schnell gelernt. Aber Hrotisft empfindet kein Cherat zwischen sich und dir. Dort liegt deine Arbeit. Sie ist wertvoll, ja, aber du bist habgierig; du behältst deine Bewunderung des Schönen für dich; was du getan hast und was du bist, teilst du nicht den anderen mit.
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Hrotisft ist alt und müde und lebt nur für den Schtann, David. Es sollte Junge in den Schtann bringen und sie ausbilden, aber das ist auf dieser Welt nicht möglich. Es gibt kaum einen besseren Ort, an dem die Metall- und Juwelenarbeiter ihr Gewerbe ausüben können als in der Nähe von Elwere, aber hier gibt es keine Brutteiche.« Ich zuckte die Achseln. »Dann baut doch welche. Der Schtann hat Geld.« »Und wer sollte die Jungen großziehen? Es gibt hier keine Brutpfleger. Sollen wir ihren Schtann importieren? Würden sie darauf vertrauen, daß wir sie nicht ausnutzen? Dürfen wir ihnen trauen? Nein. Die Schrift werden in dieser Welt ewig Fremde bleiben; wir leben hier eine gewisse Zeit, um Schönheit zu erschaffen und Ehre zu erwerben. Und dann kehren wir heim, zurück nach Schriftalt.« »Warum geht Hrotisft dann nicht nach Hause?« Eschteef schwieg eine ganze Weile. »Ich weiß es nicht«, sagte es dann. »Hrotisft sagt nur immer, daß es hier gebraucht wird, und das gibt mir Hoffnung, David, aber ich mache mir auch Sorgen.«" Ich verstand ihn nicht, aber ich verzichtete auf eine Antwort.
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Eschteef redete weiter, als spräche es zu sich selbst. »Hrotisft hatte schon immer ein besseres Gefühl für alles als ich. Aber wenn du vom Schtann sein solltest, kann ich dich unterrichten. Es sei denn . . .« Eschteef schüttelte sich. »Aber genug davon. Du mußt lernen, tiefer zu empfinden, David. Du mußt Teil deiner Arbeit werden und deine Arbeit Teil des Ganzen werden lassen. Du tust nur etwas, aber du empfindest nichts, und deshalb bist du um so unglücklicher.« »Das stimmt nicht, und das wäre mir auch gleichgültig!« »Warum laufen dir dann Tränen über das Gesicht? Setz dich, David. Du mußt gleich weiterarbeiten. Hrotisft irrt sich, was deinen Schmuckkasten betrifft; er hat . . . Möglichkeiten. Nun, was für Edelsteine willst du in den Kasten einlassen und wo? Diese Fassungen reichen nicht. Laß uns versuchen . . .« Ich betrachtete den Kasten. Er war nicht schlecht. Ja, er war sogar verdammt gut. Und er fühlte sich auch gut an. Es war, als ob man einem nüchternen hellwachen Inspektor seinen Geldbeutel stahl, einem von der Sorte, die besonders auf ihr Geld achtet . . . Die Linien, die sich über alle äußeren Flächen
zogen, bildeten einen reizvollen Kontrast, ganz als
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wollten sie leugnen, daß der Kasten tatsächlich rechteckig war. Er war wirklich schön, wenn man von dem Pyrit auf der Mitte des Deckels absah. Ein schöner Stein, aber hier war er fehl am Platze. Sein feuriges Rot biß sich mit der sanfteren Tönung der Onyxe und Smaragde. Eschteef stand an der anderen Seite der Werkbank. Es ist immer schwer zu sagen, was ein Schrift denkt, wenn die Kreatur schweigt. Das Spiel seiner Gesichtsmuskeln ist nicht geeignet, darüber Aufschluß zu geben, und seine Körpersprache ist selbst für mich zu subtil, der ich schon an der Körper- oder Kopfhaltung erkennen kann, ob ein Opfer gerade an die Geldtasche denkt, die es am Gürtel hängen hat. »Es ist fast alles in Ordnung, David. Außer diesem Pyrit. Er bringt die farbliche Balance durcheinander. Der Sinn einer Dekorierung mit Steinen ist nicht nur, Farben und Formen hinzuzufügen. Es müssen auch die richtigen Farben und Formen sein, jedes an seinem Platz.« »Ich weiß.« Ich biß mir auf die Lippen. »Verdammt. Ich brauche hier etwas Kräftiges, aber die Farbe darf nicht zu grell sein. So sieht es einfach nur . . . protzig aus. Sonst nichts.« 187
»Was würdest du denn als Ersatz nehmen?« »Einen Aquamarin vermutlich. Nicht so aufregend, wie ich es mir wünschte, aber er würde die farbliche Ausgewogenheit nicht stören.« Ich hob eine Braue. »Du brauchst keine zusätzlichen Farben«, sagte Eschteef. »Überlege dir etwas relativ Farbneutrales.« Keine schlechte Idee. »Vielleicht ein Yag?« schlug ich vor. »Warum willst du dich mit einem YttriumAluminium-Granat zufriedengeben? Das ist doch nur ein falscher Diamant. Da könntest du genauso gut ein Stück geschliffenes Glas nehmen. Wenn das Werkstück einen echten Diamanten erfordert, dann mußt du eben einen echten Diamanten nehmen.« »Eine hervorragende Idee«, sagte ich. Aber ich beherrschte mich sofort wieder. Eschteef verstand keinen Sarkasmus. »Nein, es ist natürlich keine gute Idee. Wo sollte ich einen Diamanten dieser Größe hernehmen?« »Aus der Luft, nehme ich an.« Eschteefs Hand bewegte sich plötzlich. Das Licht der Öllampe brach sich in dem Diamanten, und er schien direkt vor meinen Augen in der Luft zu hängen. 188
Die Reflexe eines Diebes gewannen Oberhand. Ich fing den Diamanten schon auf, bevor er sich der Tischplatte auch nur näherte. »Wo hast du . . .? Die Brosche!« »Ja.« »Dann willst du . . .«
»Ich habe sie an dem Tag auseinandergenommen, an dem ich Hrotisft sagte, daß du Teil des Schtann werden könntest, David. Es war der Tag, an dem ich dich beim Stehlen erwischte.« Meine Hände zitterten, als ich den Pyrit aus seiner Fassung löste und ihn durch den Diamanten ersetzte. Ich versuchte, ihn einzupassen, aber das gelang nicht perfekt; ich mußte die Einfassung tiefer schneiden und dabei einen kleineren Meißel benutzen. »Der Kasten ist sehr schön, wie er jetzt ist, David.« Eschteef saß nur da, aber ich spürte, wie sehr ihm meine Arbeit gefiel. Eine ganze Weile schwiegen wir und bewunderten gemeinsam das Stück. Als sei ich schon fast ein Teil des Schtann. Aber das war ich nicht. Ich konnte die anderen nicht spüren. Zu Eschteef hatte ich eine gedankliche Verbindung, aber nur zu Eschteef. 189
»Sei still, mein Kleines.«
Eschteef stand auf und ging zur Werkzeugbank hinüber. Wortlos nahm es Meißel und Hammer und machte sich daran, den Niet zu entfernen, der die Metallmanschette an meinem Fußgelenk festhielt. Rasselnd rutschte die Manschette auf den
Steinfußboden. Ich rieb mir das Fußgelenk und
schaute zur Tür hinüber. Aber ich lief nicht weg. Ich konnte mich nicht bewegen. Eschteef ging zu
der Nische in der Wand, zog den Vorhang zur Seite, nahm das Chrostith herunter und drehte sich zu mir um. »Das ist mein Chrostith, David«, sagte es. »Nur jemand aus meinem Schtann darf es berühren, jemand, der meine Freude und meine Bewunderung mit mir teilt.« Eschteef hielt mir den Krug auf seinen beiden ausgestreckten Handflächen entgegen. »Du wirst ihn halten, David«, sagte es. »Aber . . .« Was konnte ich sagen? Aber ich bin doch nicht verkrüppelt und zurückgeblieben. Ich bin nicht Teil des Schtann, Eschteef. Ich gehöre zu nichts und niemand. Es war nicht Cherat, was ich empfand; ich spürte nur, daß du die Arbeit meiner 190
Hände bewundertest. Ich habe nicht gefühlt, daß auch die anderen vom Schtann bei mir waren. Nicht so, wie du es immer dann empfindest, wenn du einen Silberbarren berührst oder wenn du die Glätte eines Onyx fühlst. »Der Rest wird sich noch einstellen, David. Wenn die Zeit dafür gekommen ist. Wir werden allerdings deine Vergangenheit begraben müssen, aber das werden wir auch tun. Nimm den Krug.« »Aber Eschteef . . .«
»Du bist von meinem Schtann, David«, sagte Eschteef, »und wirst mein Chrostith halten.« Ich hielt den Krug in meinen Armen. Und weinte.
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Kapitel acht ›Du wirst zurückkommen . . .‹ Die sechs Schrift bildeten einen Halbkreis, und sechs Augenpaare waren wie eine Linse auf das Ende des Tisches gerichtet. Und im Brennpunkt dieser Linse saß ich.
»Versuch es noch einmal, David«, sagte Eschteef. »Laß dich erfühlen; laß uns in dich ein.« »Ich wüßte nicht, daß ich mich freiwillig gemeldet hätte, Gegenstand einer Schtann-Inquisition zu sein«, sagte ich. Hrotisft schnaufte. »Ich wüßte nicht, daß ich dich gefragt hätte, ob du dich freiwillig melden willst. Du bist hier, damit wir im Namen des ganzen Schtann entscheiden, ob du Mitglied des Schtann werden kannst. In diesem Zusammenhang sind deine eigenen Wünsche völlig unerheblich.« »Bitte, versuch es noch einmal«, wiederholte Eschteef. »Ich weiß, daß du Teil von uns sein kannst.« Wieder schaute ich Eschteefs Chrostith an. Es war natürlich immer noch schön, und das fühlte ich auch. 192
Irgendwie empfand ich Reflexe, die von Eschteef ausgingen. Ich spürte, daß er merkte, wie sehr mir das Chrostith gefiel, aber das war auch alles. »Ich spüre kein Cherat«, sagte Sthasfth mit ausdruckloser Stimme. »Ob das Menschenwesen Teil des Schtann werden kann, ist noch nicht erwiesen.« Sthasft war der größte der sechs Schrift. Es war anderthalbmal so groß wie Eschteef. Eschteef hatte mir einige seiner Arbeiten gezeigt. Seltsamerweise produzierte Sthasft die feinsten und detailliertesten Arbeiten von den etwa hundert in der Unterstadt wohnenden Schrift. Sthasft war ein Anhänger höchster Präzision - Grafthist auf Schrift. Um den Schmuck, den mir Eschteef gezeigt hatte, richtig würdigen zu können, hatte ich eine Lupe nehmen müssen. Rhathsfoosf saß völlig reglos da.
»Ich auch nicht.« Eschteef schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ihr empfindet doch Cherath mit mir, oder etwa nicht?« Rhathsfoosf drehte sich zu ihm um. »Natürlich.« »Dann paßt auf.« Eschteef nahm meinen Kasten aus einer Wandnische herunter und stellte ihn mitten auf den Tisch. 193
Es war ein seltsames Gefühl. Seine Würdigung meiner Arbeit gab mir ein warmes Gefühl. Es war wie ein Segen. Und für einen kurzen Augenblick fühlte ich auch die Reaktionen der anderen, die sich seinen Gefühlen anschlossen. Aber nur für einen Augenblick. Dann war das Gefühl vorbei. Ich war wieder allein in meinem Kopf; wie immer.
Hrotisft nahm den Kasten in die Hände. »Die Arbeit ist gut, aber ohne Leben. Das Kind hat Talent.« Rhathsfoosf starrte mich an und sprach. »Aber zwischen dem Kind und uns besteht kein Cherat. Vielleicht gibt es überhaupt keines. Wahrscheinlich handelt es sich bei Eschteef einfach um Wunschdenken. Es hat noch kein Junges in den Schtann gebracht; das Kind ist vielleicht nur ein Ersatz.« »Ich empfinde Cherat mit dem Menschenwesen«, sagte Eschteef. »Und wenn ihr mir nicht glaubt, dann . . .« Hrotisft spielte mit einem Stück Silberschrott. »Eschteef, so geht es nicht. Wir müssen akzeptieren, daß du die Empfindungen hast, von denen du uns
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erzählst, und du mußt akzeptieren, daß wir kein Cherat mit dem Kind empfinden.« »Und? Was sollen wir jetzt tun? Wollt ihr es Arnos van Ingstrand ausliefern? Das werde ich nicht zulassen; das Menschenkind ist ein Teil des Schtann.« »Wir werden das Kind nicht ausliefern«, sagte Hrotisft. »Darum geht es nicht. Jedenfalls jetzt nicht.« »Dann . . .«
»Aber wir haben noch nicht festgestellt, daß das Kind Teil des Schtann ist.« Hrotisft saß längere Zeit schweigend da. »David?« »Es wird langsam Zeit, daß ihr mich nicht wie ein Objekt behandelt. Ihr . . .« »Ruhe. Du bist hier, um dich examinieren zu lassen, nicht um deiner Wut Luft zu machen. Erzähl mir etwas von« - es bewegte seinen Mund ungeschickt und suchte nach dem Wort in Basic »Familie.« Ich zuckte die Achseln. »Familie? Was willst du denn wissen?« »Warum ist dieser Begriff für dich so wichtig? Eschteef sagt, daß du betrübt bist, weil du nicht weißt, von wem deine Gene stammen.« 195
Betrübt. Ich wäre wahrscheinlich beleidigt gewesen, wenn in Hrotisfts Stimme auch nur eine Spur von Herablassung gelegen hätte, aber das war nicht der Fall. Es war nur Neugier. »Würde es dich nicht betrüben, wenn du nicht wüßtest, wer deine Eltern sind?« »Nein, das betrübt mich nicht. Das betrübt keinen von uns. Unsere Spezies legt beide Sorten Eier in Brutteichen ab; keiner von uns weiß, von wem diese Eier stammen.« Das Schrift zischte. »Es ist durchaus möglich, daß Hrotisft Eschteefs Mutter ist . . .« »Nein«, unterbracht Eschteef mit einem leisen Zischen, »du bist das, was die Menschen einen Mann nennen, keh?« »Ja, aber ...»
»Der Mann ist der Vater, nicht die Mutter. Die Mutter stellt den unbeweglichen Teil des Eis zur Verfügung.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Rhathsfoosf und entschuldigte sich mit einer Geste für die Unterbrechung. »Die Menschen haben verschiedene Bezeichnungen für die Wesen, je nachdem welchen Teil des Eis sie zur Verfügung stellen? Was ist denn daran so wichtig?«
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»Sie sind während der Zucht am selben Ort; das Wesen, das den beweglichen Teil des Eis liefert, muß nämlich mit dem, das den unbeweglichen Teil zur Verfügung stellt, gepaart werden. Das Wesen mit dem unbeweglichen Teil hat den Brutteich in seinem eigenen Bauch.« Sthasfth pfiff durch die Zähne.
»Es hat einen Brutteich im eigenen Bauch? Wie unhygienisch. Menschen sind ekelhaft.« Hrotisft gebot mit einer Geste Ruhe. »Was für uns normal ist, wird von diesem Menschen möglicherweise nicht als normal angesehen. Die Beziehungen zwischen den Beschaffern der Gene und dem Jungen scheinen bei den Menschen von zentraler Bedeutung zu sein.« »Ekelhaft«, wiederholte Sthtasfth. »Vielleicht. Aber so ist es bei ihrer Spezies nun einmal. Diese Familie scheint bei ihnen einige Funktionen unseres Schtann zu erfüllen: sie beschützt die Jungen, wie es die Brutpfleger tun; sie unterrichtet sie; und sie gibt ihnen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, wie es bei allen Schtann der Fall ist. Aber dieses Menschenwesen weiß nicht, von wem die Eier kamen, aus denen es entstanden ist. Eschteef sagt, daß es darüber betrübt ist.«
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Rhatsfoosf machte eine abwehrende Geste, als ob es das Thema nicht mehr diskutieren wollte. »Das Kind sollte froh sein, daß es nicht weiß, in wessen Bauch sein Brutteich liegt. Sthtasfth hat recht; diese Gewohnheiten sind ekelhaft. Und was hat das mit der Frage zu tun, ob das Menschenwesen Teil des Schtann werden kann?« »Ich glaube, ich verstehe das jetzt«, sagte Eschteef. Es hob beide Hände, um die anderen zum Schweigen zu bringen. »Wenn es eine Verbindung zwischen Kind und Eltern gibt, dann hält vielleicht gerade diese Verbindung David zurück. Es kann die Verbindung nicht lösen, weil es sie nicht sieht.« »Genau«, zischte Hrotisft. »Wir müssen feststellen, aus wessen Eiern das Kind entstanden ist, damit es diese Verbindung trennen kann.« Ich konnte in dem allen keinen Sinn erkennen. Überhaupt keinen. Was hatte das eine mit dem anderen zu tun? Selbst wenn ich wüßte, wer mein Vater ist, würde ich deshalb noch nicht Teil des Schtann sein. Es würde nichts geben, dessen Teil ich wäre. Ich könnte es mir nicht erlauben, Teil von irgend etwas zu sein. Aber die anderen erkannten einen Sinn. Die anderen Schrift murmelten Zustimmung.
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Hrotisft fuhr fort: »Soweit leuchtet mir der Gedanke ein. Wir müssen herausfinden, wer Davids Eltern sind, aber ich weiß nicht wie.« Threstast sprach zum ersten Mal: »Wir müssen gründlich nachdenken. Wenn diese Beziehungen für die Menschen so wichtig sind, muß es darüber doch Unterlagen geben, keh?« »Das müßte es eigentlich.«
»Dann müssen wir uns Zugang zu diesen Unterlagen verschaffen. Und wenn diese Unterlagen existieren . . .« »Ja«, zischte Hrotisft. »Sie müssen in Elweré sein.« »Nun, gut.« Threstast nickte zustimmend. »Aber wie finden wir sie?« »Ich habe einen Plan«, sagte Hrotisft. Es stand auf, ging zum Materialbehälter in der Ecke des Raumes und nahm einige Gold-und Silberbarren und ein paar kleine Beutel mit Edelsteinen heraus. »Wir haben viel zu tun.« Ich widersprach nicht. Dazu war jetzt nicht die Zeit. Ich hatte meine Eltern nie gekannt, aber ich wollte
sie genauso dringend kennenlernen, wie ich Arnos
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von Ingstrand ein Messer zwischen die Rippen stoßen wollte. Die Zweifel kamen später.
»Du verstehst es einfach nicht, Eschteef«, sagte ich, als wir uns dem Fremdeneingang nach Elweré näherten. »Wenn mein Vater mich findet, wird er mich töten lassen. Die Elweries lassen nicht gern ihre kleinen Bastarde herumlaufen. Sie halten das für eine Schande.« »Hör auf zu jammern, David. Es gibt zur Zeit mindestens sieben Millionen Mitglieder der Schtann in den Tausend Welten. Und die Elwerianer - bitte, nenne sie nicht immer Elweries - wissen, daß wir die Tötung eines der Unseren nicht auf die leichte Schulter nehmen. Das Problem ist, die Kontrollstation zu erreichen, ohne die Wachen zu alarmieren. Das ist alles.« Die Sonne hing niedrig am Himmel; Händler schlossen ihre Stände und rüsteten sich für den abendlichen Heimweg. Wenn wir das für Fremde reservierte Gebiet überhaupt erreichten, würden wir nicht viel Zeit haben, das zu tun, was Eschteef tun wollte, was immer das auch sein mochte. Wir
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mußten dann ganz schnell wieder zurück. Selbst ein
Schrift würde sich kaum mit einem t'Tant einlassen.
»Wenn ich du wäre, kleiner David, würde ich mir sehr viel mehr Sorgen darüber machen, daß Arnos van Ingstrands Leute mich erwischen könnten.« Darüber machte ich mir aber keine besonderen Sorgen, jedenfalls im Augenblick nicht: in meinem Bäckerkittel, mit meinem heller gefärbten Haar und meiner dunkler getönten Haut würde mich kaum jemand wiedererkennen, der mich nicht sehr gut kannte. Außerdem hat es einen Vorteil, zusammen mit einem Schrift gesehen zu werden: die Leute neigen dazu, ihre Blicke auf die riesige Gestalt dieser Kreatur zu richten und dabei den kleineren Begleiter völlig zu ignorieren. Bei dieser Gelegenheit fiel mir ein, daß man dieses Phänomen zu einer DiebstahlRoutine ausbauen konnte. Vielleicht könnte ich Eschteef dazu veranlassen, daß es drohend knurrte, während ich die Passanten bearbeitete. Das würde Spaß machen. Ich mußte dringend etwas Geld zusammen ekommen. Ich war schließlich ein Dieb und kein Mörder. Aber ich brauchte mich auch nicht sofort mit
Arnos van Ingstrand zu befassen; das hatte Zeit.
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Wenn nötig, konnte ich noch Jahre warten. Eine solche Tat erforderte volle Konzentration. Deshalb sah ich mich ihr auch noch nicht gewachsen, denn immer wenn ich die Augen schloß und mich schlafen legte, hörte ich Maries leisen Schrei: Bitte, David, mach, daß die Schmerzen aufhören . . . »Es ist sehr seltsam«, sagte Eschteef, und seine Stimme klang ungläubig. »Diese ständige Beschäftigung mit der Herkunft des genetischen Materials. Ah, laß uns hier stehenbleiben.« Wir standen vor einem Plakat. BELOHNUNG Die Schutzgesellschaft der Unterstadt setzt eine Belohnung in Höhe von 100 000 Pesos für Informationen aus, die zur Festnahme eines als DAVID bekannten Diebes führen (letzter Name, der Gesuchte führt vielleicht auch andere Namen) . . . . . . hieß es in dem Steckbrief. Dann folgte meine Beschreibung und eine Aufzählung der mir zur Last gelegten Delikte: Diebstahl eines wertvollen Schmuckstücks von einem Ungenannten; mein Einbruch in Elren Mac Cormiers Büro und die dortige Brandstiftung . . . 202
Meine Delikte. Und das von Arnos van Ingstrand . . . Ich ballte die Fäuste, aber die Jahre des Trainings waren stärker: Ich benahm mich sofort wie ein junger Bäckerlehrling, der den Steckbrief schon ein dutzendmal gesehen hatte, aber immer noch davon träumte, irgendwie die Belohnung einstecken zu können. Ich las den Text von oben bis unten, betrachtete aufmerksam die Zeichnung und ging dann mit Eschteef weiter. »Eschteef?« »Ja, David?« »Bist du sicher, daß wir es schaffen?« »Es dürfte ziemlich einfach sein«, sagte er. Ich schnaufte wütend. Das hatte ich schon gehört.
»Nein, David, wirklich. Du weißt doch, wie die Elwerianer sich identifizieren müssen, wenn sie die Stadt wieder betreten; sie brauchen nicht zu befürchten, daß Niedere unbefugt in die Stadt gelangen.« Wir waren schon fast an der letzten Reihe von Ständen auf dem Markt der Unterstadt vorbeigegangen. Ich drehte mich zu Eschteef um. »Aber wie kommen wir denn nahe genug an den Eingang für die Elwerianer heran?«
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Eschteef zischte: »Vertrau deiner Geschicklichkeit, David.« Es drückte seine Tasche an sich. »Und unserer.« Die schmale Straße, die nach Elweré hinaufführte, war fast menschenleer; nur ein paar verschlagen grinsende Händler brachten die unverkauften Reste ihrer Ware in die Unterstadt zurück. Den Elweries etwa zu verkaufen, lohnt sich immer. Wir ernteten ein paar neugierige Blicke, aber sonst ließ man uns in Ruhe. Kein Mensch wollte wissen, was ein Schrift und ein Mensch um diese späte Stunde in Elweré zu suchen hatten. »Hier«, sagte Eschteef und reichte mir die Tasche. »Hinter diesem Busch.« Ich schlüpfte hinter den Busch und zog mich bis auf die Haut aus. Dann öffnete ich die Tasche. Zuerst nahm ich den kleinen Plastikbehälter, in dem die nassen Waschlappen lagen, und entfernte rasch das Make-up und den Staub von meinem Körper. Und dann zog ich mich an: einteilige Unterbekleidung, ein neuer Rock und eine schwarze Halbmaske aus Teakholz, die mir genau paßte. Ich zog weiße Seidenhosen an, schloß sie und hängte mir einen silbernen Maschenbeutel an den Gürtel. Zuletzt zog ich kniehohe Lederstiefel an.
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Dann das Zubehör. Zuerst für jeden Finger ein fein gearbeiteter Ring. Sie saßen perfekt. Ich bewegte rasch die Finger und freute mich über die in der Sonne glitzernden Steine. Genug der Eitelkeit. Ich mußte mich fertig anziehen. Dann ein silberner Degen mit Scheide und einem abgegriffenen Elfenbeinknauf. Innerhalb von Elweré wird diese Waffe als Duelldegen benutzt, und zwar mit einem aufgesetzten Stopper für unwichtige Duelle wie solche ersten und zweiten Blutes. Aber außerhalb Elwerés trägt man sie nur als Schmuckdegen; die wahren Verteidigungswaffen eines Elwerie - eines Elwerianers - stecken im Harnisch. Ich nahm meinen Harnisch aus der Tasche, streifte mir das Band mit den vielen Linsen über den Kopf, legte mir das Lederjoch auf die Schultern und betrachtete mich im Spiegel. Gar nicht schlecht: ich sah wirklich wie ein Elwerianer aus. Zugegeben, es war alles Illusion, aber eine gelungene. Die Linsen am Stirnband enthielten keine
Kameras. Sie waren zwar an eine kleine Stahl-Box
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hinten im Harnisch angeschlossen, aber die Drähte und die rotierenden Mündungsöffnungen waren nur Attrappen. Unter Hrotisfts Aufsicht war es den anderen gelungen, die Ausrüstung eines Elwerianers zu imitieren, aber die Zwillingswaffen und die Schaltkreise zu ihrer Bedienung herzustellen, war für sie natürlich unmöglich. »Ich werde dich dort oben treffen, David. Es ist besser, wenn wir nicht gemeinsam ankommen.« »In Ordnung.« Und der letzte Teil der Verkleidung . . . Der geistige Teil war noch nie wichtiger gewesen als hier; und noch nie schwieriger. Natürlich hatte ich in der Unterstadt gelegentlich einen Elwerie gesehen; ja, ich hatte sogar ihre Sitten und Gewohnheiten studiert, so daß ich sie schon würde imitieren können. Aber das reichte nicht; ich mußte die Rolle wirklich leben. Ich richtete mich gerade auf, nahm die Schultern zurück und hielt den Kopf steif hochgereckt. Dann betrachtete ich mich im Spiegel. Das war zwar alles gut und schön, aber es war immer noch nicht genug. Obwohl die Halbmaske meine Züge teilweise verdeckte, wirkte ich immer noch ängstlich, wie ein Niederer, der sich als Elwerianer ausgeben will. 206
Die innere Verkleidung mußte stimmen; ich zwang mich dazu, Selbstbewußtsein zu empfinden, zu wissen, ich war ganz einfach . . . Leif Ortega, das war ein guter elwerianischer Name. Ich war Leif Ortega, der vom Einkaufen auf den Märkten der Unterstadt zurückkam, nachdem er den Nachmittag in frischen Laken in einem Haus in der Straße der Freuden verbracht hatte. Aber es stimmte immer noch nicht. Aha, wenn ich eingekauft hatte, wo waren dann meine Einkäufe? Ich zog den Degen und schnitt ein Stück Tuch aus meiner Schultertasche und wickelte darin einen Stein ein. Dann steckte ich das Ganze in meinen Beutel. Das war schon besser. Und wenn ich den Nachmittag in einem Haus in der Straße der Freuden verbracht hatte, müßte ich etwas müder wirken; ich ließ meine Schultern ein wenig sinken und rieb mit den Fingerspitzen über ein paar nicht vorhandene Kratzer an meinen Rippen. Der Spiegel gab mir recht: Ich war bereit. Ich ging zum Eingang hinauf und durch den gewölbten Torweg. Ich stand in der großen Halle und seufzte erleichtert wie jemand, der einen anstrengenden Tag mit Einkaufen und Sex hinter sich hat.
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Der Raum war riesig und hatte hohe Decken. Die Wände waren mit Friesen dekoriert, in die Gold und Perlen eingelassen waren. Die Decke wies schön geschnitzte Verzierungen auf. Der Tausende von Quadratmetern große Boden bestand aus weißem, zweifellos von der Erde importiertem Marmor. An der hinteren Wand hatten drei Elweries gerade bei sechs Schrift-Juwelieren eingekauft. Sie steckten die Einkäufe in ihre Beutel und gingen zur Kontrollstation hinüber. Einer nach dem anderen legten sie ihre Harnische ab und ließen sie in einen Kasten fallen, als sie an der ersten Wache und dem Mann am Kontrollschirm vorbeigingen. Dann warteten sie vor einer Nische an der gegenüberliegenden Wand. Einer nach dem anderen hielt jeder Elwerie einen Daumen und ein Auge in die vorgesehene Öffnung. Und während jeder von ihnen überprüft wurde, blitzte das Licht über der Nische grün auf. Die Wache drückte einen Knopf auf der Konsole, und eine Tür glitt vor der Nische herab, um sofort wieder hinaufzufahren. Die Nische war jetzt leer. Die sechs Schrift-Juweliere waren jetzt mit
Packen beschäftigt. Ich stolzierte zu ihnen an den
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Tisch und tat so, als ob ich die ausgestellten Ringe und anderen Schmuckstücke betrachtete. »Guter Herr«, zischte Eschteef. »Wollen Sie uns die Ehre geben, unsere Ware zu begutachten?« »Dein Akzent ist entsetzlich«, sagte ich. »Wer hat dir Basic beigebracht? Hrotisft?« Ich lächelte. »Benimm dich nicht alberner als unbedingt notwendig, du junger Idiot«, sagte Hrotisft. »Die Wache könnte Schrift verstehen.« Seine Worte standen in krassem Gegensatz zu seinem sanften Tonfall. »Geh jetzt weiter«, sagte Eschteef.
Ich bewegte mich langsam zur Wachstation hinüber. Eschteef und Hrotisft folgten mir und wedelten mit einer doppelten Handvoll Schmuck, als wollten sie mir ihre Ware aufdrängen. Als ich anfing, meinen Harnisch abzulegen, stand die Wache auf und löste den Sicherheitsriemen am Halfter seiner Waffe. Ich zwang mich dazu, sein breites Grinsen zu erwidern. »Belästigen diese Schrift Sie, junger Senhor?« fragte er. »Durchaus nicht«, sagte ich und lächelte spöttisch. »Und wenn sie es täten, würde ich doch 209
wohl selbst mit ihnen fertig werden, oder glaubst du etwa nicht?« »Natürlich, Herr.« Er wurde blaß, als ich mit der Hand an meinen Degen griff. Wenn ich ihn zog, konnte er nicht gewinnen. Er konnte dann nur noch hoffen, daß ich ihn lediglich erschrecken oder verwunden wollte. Wenn ein Elwerie seinen Tod wünschte, würde er sterben. »Wir wollen es noch einmal durchgehen lassen«, sagte ich und ignorierte das Schrift hinter mir. Ich trat in die Nische und drückte mein Auge gegen die Linse. Gleichzeitig schob ich meinen Daumen in die Kerbe. Hinter der Linse blitzte ein Licht auf; an meinem Daumen hatte ich ein Gefühl von Kälte, dem ein leichtes Stechen folgt. Das Licht über der Nische leuchtete rot auf. Ich wirbelte herum. Eschteef hatte die Wache von der Konsole weggezerrte; mit einer Kraft, die seinem vorgeschrittenen Alter hohnsprach, hatte Hrotisft die andere Wache mit einer Hand hoch über seinen Kopf gehoben, während seine andere Hand das Halfter des Mannes mitsamt der Waffe umklammerte. In Sekundenschnelle waren zwei Schrift ihm zur Hilfe geeilt. Die anderen beiden
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eilten zu Eschteef hinüber, das den Mann von der Konsole an der Wand festhielt. Eschteef hatte seine Hand an der Kehle des Mannes, so daß dieser kaum atmen konnte. »Wir werden dir nichts tun, Menschenwesen, vorausgesetzt, du hilfst uns.« Die Augen des Mannes traten aus den Höhlen, als er nach Luft rang. »Ich . . . kann Sie nicht hineinlassen«, ächzte er. »Ich darf nur jemanden hineinlassen, wenn das Licht grün aufleuchtet.« Ich stand vor ihm. »Ich verlange ja nicht, daß du mich hineinlaßt. Das Gerät sagt, daß ich nicht als Elwerie registriert bin, stimmt das?« Er antwortete nicht. Eschteef verstärkte den Griff seiner Finger an der Kehle des Mannes und lockerte ihn dann wieder, damit der Mann Luft holen konnte. »J-ja. Es sagt, Sie sind ein Betrüger.« »Du wirst jetzt folgendes tun«, sagte Eschteef. »Du wirst die Maschine benutzen, um zu analysieren, wer dieses Menschenwesen ist. Du wirst an der Blutgruppe feststellen, wer sein Vater ist - das ist doch möglich, nicht wahr?« Die Wache versuchte, den Kopf zu schütteln. »Nein. Das geht nicht.« 211
»Versuch es«, sagte ich. »Und gib dir große Mühe. Du hast doch Zugang zu allen Unterlagen über Identität, oder etwa nicht?« »Ja. Ich muß . . .« »Dann wirst du sofort irgendeine Art Vergleich durchlaufen lassen. Sonst . . .« Der Mann nickte. Eschteef und Sthtasfth führten den Mann zu seiner Konsole und drückten ihn unsanft auf seinen Stuhl.
Sthtasfth holte einen dünnen Draht hervor und schlang ihn lose um die Kehle der Wache. »Wenn es Ärger gibt, kann ich dir damit so schnell den Hals durchschneiden, daß keine Zeit für einen letzten Herzschlag bleibt. Wir sind doch ganz sicher, daß kein Alarm ausgelöst wird?« Der Mann nickte und begann, mit langsamen Bewegungen an seiner Konsole zu arbeiten. »Hoffen Sie lieber, daß die Zentrale nicht mißtrauisch wird und wissen will, warum . . .« »Nein«, sagte ich. »Das solltest du lieber hoffen.«
»Gut, gut, ich mache es ja schon.« Er schaute auf
den Schirm und drückte einen Knopf nach dem anderen. »Blutgruppe zweimal A - das ist gut; beide Eltern sind A Rhesus positiv, OF negativ, Typ Weiße . . .« Es folgten noch einige weitere Werte. 212
Ich hatte Herzklopfen. Vielleicht würde ich nie erfahren, wer meine Mutter war, aber der Apparat würde mich wenigstens über meinen Vater informieren, der mich fallengelassen und eine Belohnung für mein Leben ausgesetzt hatte. War es meine Schuld, daß ich als Bastard geboren wurde? Ich hatte ja keine Wahl gehabt. Wer könnte mir das vorwerfen? In wenigen Sekunden würde ich es wissen.
Gewiß, die Auffassung des Schtann, daß diese Information irgendein Problem lösen würde, war lächerlich, aber ich konnte es ihnen nicht übelnehmen: die Vorstellung, daß jemand es für nor mal hält, daß er weiß, wer seine Eltern sind, war ihnen völlig unbegreiflich, und sie schrieben das meiner Unfähigkeit zur Normalität zu. Normalität, wie die Schrift sie verstanden. Auf der Konsole leuchtete eine rote Lampe auf, und der Mann riß die Augen auf. Er war ganz blaß, als er sich zu mir umdrehte. »Sie sind David Curdova.« Sirenen heulten auf; mit einem ohrenbetäubenden Knall schlug die Tür nach draußen zu. Eschteef hielt Sthtasfths Hand fest. »Du brauchst den Menschen nicht zu töten. Ich spüre, daß dem Kind hier keine Gefahr droht.« 213
Die Wache runzelte die Stirn. »Sie wissen nicht, wer er ist?« In den Wänden verborgene Türen öffneten sich, und zwanzig Sicherheitsbeamte stürmten mit gezogenen Waffen in den Raum. Die Hälfte von ihnen hatte ihren Overall noch nicht ganz ange zogen. Ein grauhaariger Buzh mit schlafgeröteten Augen, vermutlich der Anführer, richtete seine Waffe sofort auf Hrotisft. »Bleibt von dem Senhor weg, oder wir mähen euch alle nieder!« Die übrigen Männer der Sicherheitstruppe hielten die anderen Schrift in Schach. Er machte eine Kinnbewegung zu mir hin. »Senhor, bitte entfernen Sie sich von dem Schrift. Wir haben alles unter Kontrolle.« Ich regte mich nicht.
»Bitte, Senhor.« Er wandte sich an einen der Sicherheitsbeamten: »Mick, stell dich zwischen den Senhor und das Schrift.« »David?« Eschteef streckte mir die Hand entgegen. »Du brauchst keine Angst zu haben. Wir werden dich beschützen.« »Das wird nicht nötig sein«, sagte Hrotisft. »Das spüre ich.«
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Einer der Buzh bewegte sich; ich sprang zwischen Eschteef und die erhobene Waffe. »Nein!« Der Anführer trat dem Mann die Waffe aus der Hand. »Ich bitte um Vergebung, Senhor. Sind das Freunde von Ihnen?« Ich stand wie gelähmt da. Senhor? Das einzige, was ich bisher von einem Buzh bekommen hatte, waren ein mitleidiger Blick oder eine volle Geldtasche. »Ja«, konnte ich nur noch stammeln.
»Gut. Aber wir wollen kein Risiko eingehen. Du! Das Schrift mit dem Draht. Laß ihn fallen und geh ein paar Schritte von dem Senhor und der Wache weg.« »Tu, was sie sagen«, empfahl Hrotisft. Sthtasfth gehorchte. Die Männer von der Sicherheitstruppe bildeten
einen Kreis um mich. »Sind das auch bestimmt Ihre Freunde, Senhor? Wenn Sie wollen, erschießen wir sie.« Ich verstand überhaupt nichts mehr. Hielten sie mich wirklich für einen Elwerie? Warum sollte ich das Spiel nicht mitspielen? »Nein. Das ist nicht nötig.«
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»Gut. Mick, meinst du, wir sollten sie gehen lassen? Oder sollten wir sie hier festhalten, bis der alte Senhor kommt?« »Laß sie gehen; verdammt, er wird nur Zeit für den Jungen haben. Und er wird rechts und links Kreditmarken verteilen.« Mick lacht in sich hinein. »Das Glück ist blind, was?« »Halt's Maul. Ihr Schrift - verschwindet.« Er zeigte auf die Stahltür, die nach draußen führte. Dann sprach er in sein Hemdmikrophon: »Bezirk abgeriegelt; wir haben ihn.« »Verstanden«, sagte eine ferne Stimme. »Senhor Curdova ist unterwegs. Art, hoffentlich hast du auch die richtige Ware. Ich mußte ihn extra wecken.« »Prüf seine Identität doch selbst, du Idiot.« »Hmmm . . . dann meinen Glückwunsch, Art. Jetzt bist du ein reicher Mann.« Die Schrift blieben stehen. »Bewegt euch!« knurrte der Anführer sie an. Eschteef baute sich vor ihm auf. »Ich lasse nicht zu, daß du den Jungen tötest.«
»Ihn töten?« Der Mann war jetzt genauso überrascht wie ich. »Sein Vater würde mir die Haut abziehen, wenn ich ihm auch nur ein Haar krümmte. Er ist Miguel Curdovas Sohn.« 216
Hrotisft stellte sich neben Eschteef. »Wie ich vermutet hatte. Das Kind ist nicht illegitim.« »Warum dann die ganze Aufregung?« Eschteefs Stimme klang müde. »Du hast mir ja nicht geglaubt. Du dachtest, das Kind sei von unserem Schtann. Nein, es ist von Elweré.« »Nein, ich habe das Cherat gespürt . . .« »Dann frag es doch. Frag, ob es hier bei seinen Eltern bleiben oder mit dir gehen will.« »David?« Hinter mir öffnete sich die Tür zur Nische, und ein
Elwerie in den mittleren Jahren trat heraus. Er nahm seine Halbmaske ab und warf sie von sich. Es war, als schaute ich in einen Zerrspiegel, der mir mein eigenes Gesicht zeigte und es älter machte. Seine Backenknochen, seine scharfgeschnittene Nase, sein ausgeprägtes Kinn ... es waren meine Backenknochen, meine Nase, mein Gesicht, nur eine Generation älter. »Vater?« Er lächelte unter Tränen, aber dann machte er ein finsteres Gesicht und richtete sich hoch auf. »Kelly.«
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»Senhor.« Der Kommandant der Sicherheitstruppe nahm Haltung an. »Haben diese Schrift meinen Sohn entführt und versteckt gehalten?« »Sieht nicht so aus, Senhor. Es scheint, als wollten sie ihn zurückbringen. Aber der Junge scheint vor irgend etwas Angst zu haben. Er scheint zu fürchten, daß wir ihm etwas tun wollen.« Der Mann hob die Hand. »Ich schwöre, daß wir ihn nicht bedroht haben, Senhor, aber er schien keine große Lust zu haben, mit uns zu kommen.« »Das wird er auch nicht«, sagte Eschteef. »Das Kind ist Teil meines . . .« »Ruhe!« zischte der Elwerie. Er wandte sich an mich. »Haben sie dir etwas getan?« »Nein . . . aber ich . . .«
»Später.« Er lächelte. »Darüber unterhalten wir uns später.« Er ging zu Hrotisft hinüber und redete ihn auf Schrift an, wenn auch mit einem ausgeprägten Akzent. »Ich bin euch dankbar, daß ihr meinen . . .« Er versuchte, das richtige Wort zu finden - die Schrift haben kein Wort für Sohn - , »daß ihr mein Junges zurückgebracht habt.« Er gab der Wache einen Wink. »Kelly, geben Sie jedem
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Schrift ein Kilo Gold und lassen Sie sie nach Hause gehen.« »Ja, Senhor.«
»Komm, David«, sagte er dann. Er legte mir den Arm um die Schulter und ging mit mir zur Nische hinüber. Ich wünschte, ich könnte sagen, daß mir die Entscheidung schwer wurde, ob ich bei meinem Schtann bleiben oder mit meinem Vater - Vater! nach Elweré gehen sollte, aber das war nicht der Fall. Ich wandte Eschteef den Rücken zu und ging mit meinem Vater nach Elweré hinein. »David«, rief Eschteef so leise, daß ich ihn kaum hörte, »du bist Teil meines Schtann. Du wirst zurückkommen.«
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Kapitel neun ›Du bist jetzt zu Hause . . .‹ Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte es wirklich wissen müssen. Ich wußte, daß Carlos Einhand ein Lügner war - und ein Dieb, ein Einbrecher und Päderast, es hätte mich nicht überraschen dürfen, daß er mich auch in dieser Angelegenheit belügen würde. Aber es überraschte mich. Und es schmerzte. Alle diese Lügen, daß ich ein Bastard sei und daß mein Vater meinen Tod wünsche. Die Drohungen, mich ihm auszuliefern. Dazu die gefälschten Steckbriefe, in denen mein Vater eine Belohnung für meinen Tod aussetzte . . . Ich hätte es wissen müssen. Schließlich war es eine Schande, einen Bastard mit einer Niederen zu haben; mein Vater hätte diese Tatsache doch nie öffentlich bekanntgegeben. Wenn ich nur mehr darüber nachgedacht hätte oder mehr darüber geredet. Wenn ich die Steckbriefe nur Gina gegenüber erwähnt hätte; sie hätte sich gewiß nicht täuschen lassen. Irgendwo in meinem tiefsten Inneren hatte ich Carlos getraut, und er hatte mich verraten. 220
Das schmerzte.
Ich ließ mir meinen Kummer nicht anmerken, als ich mich mit einer Thermotasse Tee in der Hand auf meinem Stuhl zurücklehnte. Vater hätte es doch nicht verstanden. Dafür kann ich ihm keinen Vorwurf machen; ich bin ja nicht einmal sicher, ob ich es selbst verstehe. Einen solchen Raum hatte ich noch nie gesehen. Er war mindestens hundert Quadratmeter groß, und der Boden war mit einem knöcheltiefen blutroten Teppich ausgelegt. Von der Decke baumelten runde Leuchtkörper aus Kristall, und die Wände waren mit handgearbeiteten Teppichen verhangen. Die letzteren hatten es mir besonders angetan; es mußten alte Perser oder Kazakis sein, und der billigste kostete mehr, als ich in einem Jahr hätte stehlen können. Und dies war nur mein Besucherzimmer; es war bei weitem nicht der größte der sechs Räume, die zu meiner Suite gehörten. Im Augenblick standen nur zwei Lehnstühle im Raum, einer für mich und einer für meinen Vater. Wir hatten beide eine Service-Box in Reichweite. Eine schöne Einrichtung, diese Service-Box. Sie lieferte innerhalb von Sekunden alles, was nicht breiter als zehn Zentimeter war. Als Vater das Gespräch unterbrach und für eine Weile 221
den Raum verließ, bestellte ich schnell drei Kilo Gold, einen Beutel voll Edelsteine und eine kleine Wurst. Ich wurde sofort bedient und verstaute alles in meinem Rock. Nein, ich brauchte nicht wegzulaufen. Aber da ich nun einmal von Reichtum umgeben war, fand ich es nur richtig, mir ein wenig davon einzustecken. Miguel Curdova trank seinen Tee aus und stellte die Tasse vorsichtig auf den Tisch. »Es war eine lange Nacht. Möchtest du jetzt schlafen, oder möchtest du dich lieber noch ein wenig unterhalten?« Er gähnte hinter der vorgehaltenen Hand. »Ich unterhalte mich gern noch ein wenig«, sagte ich. Es war tatsächlich eine lange Nacht gewesen; wie bringt man über fünfzig Jahre in ein paar Stunden unter? Ich hatte es auch nicht ernsthaft versucht. Ich hatte hauptsächlich zugehört. Warum hast du denn nicht das Lösegeld bezahlt? hatte ich ihn gefragt. Das wäre gegen die Ehre gewesen, hatte er gesagt. Ein Elwerianer läßt sich nicht von Wilden herumstoßen. Das gehört sich nicht. Ich glaube nicht, daß du es verstehst, jedenfalls noch nicht. Aber eines Tages wirst du es begreifen.
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»Darf ich morgen Mutters Grab besuchen?« Er runzelte die Stirn. »Noch nicht. - Noch eine Tasse Tee, bitte.« Innerhalb von Sekunden öffnete sich der Deckel der Service-Box, und eine dampfende Tasse Tee stand griffbereit. »Du solltest eine Zeitlang Elweré nicht verlassen«, sagte er und trank einen Schluck Tee. »Nicht, daß ich mir um deine Sicherheit Sorgen mache, aber du hast zu lange unter den Tieren gelebt. Du solltest hier bleiben, bis du dich eingelebt hast.« Ich widersprach nicht, denn ich hatte das Gefühl, daß Vater nicht sehr flexibel reagieren würde. Technisch betrachtet war ich minderjährig, und das würde ich bis zu meinem sechzigsten Geburtstag bleiben; die Stadt beliebig zu verlassen, war für einen Minderjährigen kein Recht, sondern ein Privileg. Aber dafür gab es den einen oder anderen Ausgleich. So waren Minderjährige nicht notwendigerweise dem Duell-Kodex unterworfen. Seine Miene hellte sich auf. »Außerdem mußt du dich nicht nur eingewöhnen und deine Verwandtschaft kennenlernen, es gibt auch sonst genug für dich zu tun. Wenn wir uns nicht jede Störung verbeten hätten, wäre deine Suite so voll, daß ein Gentleman hier nicht mehr bequem sitzen 223
könnte.« Dann verfinsterte sich seine Miene wieder. »Bist du sicher, daß dieser Carlos Einhand tot ist?« Ich nickte. »Nun, ich denke, ich werde diesen Teil des Tunnelsystems freilegen lassen. Ich werde dafür sorgen, daß dieses niedere Mädchen ein angemessenes Begräbnis bekommt. Schade, daß Einhand so leicht gestorben ist, aber wir sollten uns vergewissern.« So leicht gestorben . . . Ich hätte es gern unterdrückt, aber diese Bemerkung rief die Erinnerung wieder wach. David, mach, daß die Schmerzen aufhören, bitte ...
»David!« Sein zerfurchtes Gesicht war nur Zentimeter von meinem entfernt. »Fühlst du dich nicht wohl?« Ich schüttelte den Kopf und versuchte, die Erinnerung rasch wieder zu verdrängen. »Ich will, daß Arnos van Ingstrand stirbt.« Er sprach zu meiner Schlaftrunk, bitte.«
Service-Box:
»Einen
»Für wen, Senhor?« fragte die mechanische Stimme. »Für meinen Sohn, du Idiot!« Er sprach wieder
leiser. »Wir werden uns morgen früh darüber
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unterhalten, nicht heute nacht.« Die Service-Box zischte; er nahm ein Fläschchen heraus und drückte es mir in die Hand. »Trink dies; dann wirst du besser einschlafen. Wenn du morgen gefrühstückt hast und bereit bist, Besuch zu empfangen, sag es einer Service-Box. Ich komme so schnell ich kann. Für heute gute Nacht.« Als ich aufstand, umarmte er mich unbeholfen. »Es wird alles gut werden. Du bist jetzt zu Hause.« Ich blieb stehen, bis die Tür sich hinter ihm schloß. Dann setzte ich mich, die Flasche noch in der Hand. Es war eine dicke grüne Flüssigkeit, die langsam hin und herschwappte, als ich die Flasche bewegte. »Eigentlich sollte ich glücklich sein«, murmelte ich und fragte mich, warum ich es nicht war. Ich ließ die Flasche auf den Boden fallen. »Eine Mannafrucht bitte.« »Größe, Senhor?« »Die größte, die vorhanden ist.«
»Ja, Senhor. Zehn Sekunden.« Die Frucht war halb so groß wie mein Kopf. Ich war sicher, daß sie frisch und saftig war, aber ich schälte sie nicht. Ich saß nur da und hielt sie in der Hand und schlief in meinem Stuhl ein. 225
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte ich ihre zerpflückten Reste in der Hand und einen schlechten Geschmack im Mund. Ich fühlte mich ganz und gar nicht ausgeruht.
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Fünftes Zwischenspiel Miguel Ruiz de Curdova und Arnos van Ingstrand Miguel Ruiz de Curdova lehnte sich in seinem Stuhl zurück und beschäftigte sich mit seinem Kaffee und einer überdimensionalen Schokoladentorte. Er hatte heute zwar keine Affäre zu erledigen gehabt, aber seine Morgengymnastik war anstrengender als sonst gewesen; und jetzt belohnte er sich großzügig für sein Glück und für seine Mühen. Die Tortenfüllung war glatt, dunkel und gehaltvoll; die Kruste war leicht, flockig und knusprig. Curdova liebte Torten, aber er erlaubte sich nur selten den Luxus, ein Stück zu essen. Nicht nur, weil er nicht die Zeit hatte, die zusätzlichen Kalorien wieder abzutrainieren - zu viele Freuden dieser Art machen weich. Er trank von seinem Kaffee und stellte die Tasse hart ab. Etwas von dem Getränk floß auf die vorher makellose Tischdecke, aber das ignorierte er. Der Junge fügt sich ganz einfach nicht ein. Mehr war dazu nicht zu sagen.
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Aber er hätte sich einfügen müssen; David war sein Sohn. Der Junge hätte an dem Leben in Elweré soviel Gefallen finden müssen wie ein t'Tant an der Luft, in die er sich aufschwingt. David müßte . . . Müßte. Das war das Schlüsselwort. Müßte, aber die Wirklichkeit sah anders aus. Das konnte so nicht weitergehen. David würde eines Tages volljährig und damit dem Duell-Kodex unterworfen sein. Bisher konnte er seine ungehobelten Umgangsformen noch nicht durch hervorragende Fechtkünste ausgleichen. Irgendwann würde es dazu kommen, daß David alle Duelle ausfechten mußte, zu denen Curdova gar nicht erst herausgefordert wurde. Und das würde schnell zu ernsthaften Verletzungen führen. Im günstigsten Fall. Es sei denn, er machte in seiner Fechtkunst Fortschritte, und zwar erhebliche. Nun, hier keimte eine Idee: Man sollte nicht mehr soviel Wert darauf legen, Davids Umgangsformen zu verbessern. Man sollte einen guten Fechtmeister von außerhalb Orogas kommen lassen, damit der Junge ein paar Jahre lang gründlich ausgebildet werden konnte. Bei Erreichen seiner Volljährigkeit müßte David entweder geschliffene Manieren haben oder ein hervorragender Fechter sein. Sonst würde er 228
nicht lange leben. Da wäre es fast besser gewesen, wenn man ihn in der Unterstadt gelassen hätte. Blut von meinem Blut und Fleisch von meinem Fleisch - warum bist du eine solche Enttäuschung? Nein, es wäre falsch, dem Jungen Vorwürfe zu machen. Curdova hatte über andere verwilderte Kinder gelesen, die zusammen mit Tieren aufgewachsen waren. Gott sei Dank hatten die Niederen wenigstens eine Sprache. Sonst hätte David nicht einmal sprechen können. Die Idee mit dem Fechtmeister schien vielversprechend. Der Junge mußte so gut ausgebildet werden, daß der Degen zu einem Teil seines Körpers wurde; dann sollten die Schafe sich hüten, ihn zu beleidigen. Die örtlichen bürgerlichen Fechtmeister kamen nicht in Frage. Sie waren mehr am Stil und am Zählen der Treffer bei Affären ersten und zweiten Blutes interessiert als an der harten Realität tödlich verlaufender Duelle. Der Junge mußt zum Löwen werden. Er mußte so gut und so geschickt werden, daß jeder wußte: David Curdova herauszufordern, bedeutet einen Kampf auf Leben und Tod. Er griff nach seinem Telefon. »Geben Sie mir Arnos van Ingstrand.«
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»Ja, Senhor.«
Nach wenigen Minuten war Arnos van Ingstrand am Apparat, und seine Stimme zitterte nur leicht. Der fette Sadist fürchtete, daß Curdova ihm die Art und Weise übelnahm, wie er mit Davids Entführer und dem kleinen Mädchen umgegangen war. Curdova dagegen bedauerte nur, daß Einhand so leicht gestorben war, und was das Mädchen betraf ... wen interessierte es schon, wie die Tiere miteinander umgingen? »Es ist mir eine Ehre, Senhor. Was kann ich für Sie tun?« Van Ingstrands Stimme hörte sich noch ängstlicher an als sonst. Idiot. Van Ingstrand töten zu lassen - oder ihn auch nur unhöflich zu behandeln - wäre ein stillschweigendes Eingeständnis des früheren Status seines Sohnes. Und das würde in Elweré sehr viel Gelächter zur Folge haben. »Wo würden Sie einen Fechtmeister engagieren? Ich will den besten.« »Die besten Fechtmeister, die es gibt, arbeiten für Elweré, Senhor. Ich könnte Ihnen wirklich nicht sagen, wer der beste ist. Aber, wenn Sie wollen, könnte ich das für Sie feststellen«, fügte er rasch hinzu.
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»Nein. Ich will keinen, der seine Schüler lehrt, wie sie ihrem Gegner einen Kratzer am Arm beibringen können. Ich suche einen Lehrer für meinen Sohn. Ich suche einen Mann, der sich auf harte Duelle versteht. Vielleicht einen Elsässer?« »Bei allem gebührenden Respekt . . .« »Fassen Sie sich kurz, van Ingstrand. Ich habe zu tun.« »Dann rate ich von einem Elsässer ab, Senhor. Jedenfalls wenn Sie einen Mann suchen, der eine wirklich harte Fechtweise lehrt. Wahrscheinlich suchen Sie für Ihren verehrten Herrn Sohn jeman den, der die elwerianische Fechtkunst beherrscht.« Van Ingstrand sprach stockend; anscheinend war er immer noch böse auf David. Oder er fürchtete Curdovas Rache. Miguel Curdova korrigierte dieses Mißverständnis nicht. Wozu auch? Hier ging es lediglich um van Ingstrands professionelle Meinung. Über Gewaltanwendung wußte van Ingstrand sehr viel, und dieses Wissen wollt Curdova anzapfen. »Nein«, sagte er. »Es geht nicht um die elwerianische Fechtkunst.« »Ich habe einmal einen Elsässer engagiert, der einige meiner Leute ausbilden sollte, Senhor. Es funktionierte nicht; ihr Training ist zu formalistisch. 231
Bis ein im Elsaß ausgebildeter Fechter seinen Gegner begrüßt hat, bleibt dem reichlich Zeit, sich ein Ticket zu kaufen und den Planeten zu verlassen.« Van Ingstrand lachte über seinen dürftigen Witz. »Für ernsthaftes Fechten nimmt man besser einen Tolpatsch mit einem Knüppel als einen im Elsaß ausgebildeten Fechtmeister.« »Was schlagen Sie also vor . . .«
»Wenn Sie wirklich einen Mann suchen, der sich auf weniger . . . formales Fechten versteht, schlage ich vor, daß Sie jemanden von der Erde kommen lassen. Vielleicht La France oder Nippon . . . oder, wenn Sie keinen Terraner wollen, nehmen Sie doch einen von Metzada.« Das klang nicht schlecht. Einen erstklassigen metzadanischen Fechtmeister kommen lassen, jemanden, der Kampferfahrung in Welten mit gering entwickelter Technologie hat. Der sollte den Jungen ausbilden. Er unterbracht Grußfloskel.
die
Verbindung
ohne
jede
Das könnte funktionieren. David würde schon in wenigen Jahren volljährig sein; dann sollte er lieber ein furchteinflößender Löwe als ein Schaf mit guten Manieren sein.
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Er drückte auf den Knopf, um seine Sekretärin zu rufen.
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Kapitel zehn ›Ich muß weg von hier . . .‹ Wissen Sie, was das Schlimme an den reichen Leuten ist? Sie haben nicht genug zu tun, und am Ende haben sie nicht einmal dazu genug Zeit. Ehrlich. Lassen Sie mich Ihnen einen Tag in Elweré schildern. Eigentlich eine Art besonderer Tag . . . Der Morgen. Nun, eigentlich gab es in Elweré keinen Morgen, jedenfalls nicht für uns Elwerianer. Das heißt, für die meisten von uns. Diejenigen, die den Cortes Generale angehörten, wie mein Vater und meine Tante Therese, standen mit der Sonne auf, wenn nicht noch früher. Während alle Arbeit von den Niederen oder den Buzh getan und die meisten Entscheidungen von Maschinen getroffen wurden, gab es doch einiges, was wir selbst erledigen mußten. Oder besser, was die Cortes für uns erledigen mußten. Menge und Bestimmungsort des verarbeiteten Valda-Öls zu bestimmen, war natürlich eine wichtige Entscheidung, und solche Entscheidungen mußten täglich getroffen werden. Valda ist ein 234
nützliches Produkt und überall, wo es Menschen gibt, für die Chirurgie unentbehrlich - wußten Sie, daß bei Operationen einer von tausend Patienten nur an der Narkose stirbt? - aber das Valda-Öl aus Oroga ist nur fast unentbehrlich. Vor ein paar Jahrhunderten züchtete irgendein heller Junge auf der Erde einen rekombinanten Stamm der E.-coliBakterien, der winzige Mengen Valda-Öl pro duzierte. Dieser helle Junge hieß Ernst Castuongway; er züchtete den Stamm in seinen eigenen Laboratorien und erhoffte sich dafür den Nobelpreis, den Clairmont-Preis, ein gefülltes Bankkonto. Die ersten beiden erhielt Castuongway, und er investierte das Geld, mit dem die Preise dotiert waren, in die Herstellung des künstlichen Zeugs, aber er starb mittellos. Es ist verdammt schwer, diese Bakterien zu züchten; sie reproduzieren sich nur ungern, aber dafür sterben sie um so lieber. Dennoch, die Tausend Welten könnten ihr eigenes Valda-Öl herstellen; das Dumme ist nur, daß es etwas über dreiundneunzig Kreditmarken pro Liter kosten würde. Deshalb müssen die Cortes viel Zeit darauf
verwenden, die Preise zu kontrollieren. Sie halten
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sie immer auf etwas über hundertfünfzehn Kreditmarken pro Liter FOB Oroga. Ich weiß. Das ist simple Mathematik: 115 › 93.
Richtig, und das bedeutet, daß die Tausend Welten das Valda-Öl billiger bekommen müßten, wenn sie es selbst herstellen, als wenn sie es kaufen, besonders, wenn man die Transportkosten hinzurechnet. Aber müßten bedeutet noch nicht können. Immer wieder kommt irgendein anderer heller Junge auf einem der Planten der Tausend Welten auf den Gedanken, das Valda-Öl selbst herzustellen. Wenn das der Fall ist, nicken die Cortes Generale im Kollektiv und überlegen sich, wie sie es anstellen, daß der Preis nicht sinkt. Zu diesem Zeitpunkt richtet der helle Junge seine Fabrik ein, und plötzlich sinkt der Preis des Valda-Öls aus Oroga auf achtzig Kreditmarken - frei Haus - , bis der helle Junge pleite ist. Das geschah immer wieder. Heute allerdings nicht mehr. Eine der Aufgaben der Cortes ist, dafür zu sorgen, daß nicht zuviel geliefert wird, damit niemand Vorräte anlegen kann, um schließlich unsere Preise zu drücken. Und damit verdient mein Vater sich seinen Lebensunterhalt. Saubere Arbeit, was? 236
Aber ich wollte Ihnen von meinem Tag in Elweré berichten. Der Morgen. Nun, der Morgen begann mit einem leichten Frühstück in meinen Räumen, vor oder nach einem ausgiebigen Duschbad. Dann folgen von dem Computer in meiner Suite überwachte körperliche Übungen. (Es gibt keinen Zentral-Computer. Wenn das der Fall wäre, würde die wahre Macht in Elweré von den Leuten, die ihn bedienen, ausgeübt werden und nicht von den Einwohnern. Statt dessen gibt es buchstäblich Hunderttausende von EinzelComputern, die alle außerhalb des Planeten hergestellt und programmiert und aus konkurrierenden Angeboten ausgesucht wurden. Wenn einer defekt war, warteten wir, bis ein BuzhMechaniker kam und ihn ersetzte. Wir hätten es selbst tun können, aber das war unter unserer Würde.) Dann noch einmal duschen und zweites Frühstück einnehmen. Dann war es schon fast Mittag und Zeit für die Schule. Am Anfang ließ Vater mich Gruppenunterricht nehmen, aber ich kam mit den verdammten Elweries nicht zurecht - mit meinen jüngeren Mitbürgern. Es lag nicht nur daran, daß ich in jedem Fach so weit zurücklag - damit hätte ich 237
leben können - , mir fiel der soziale Umgang schwer. Den Ausschlag gab schließlich meine Angewohn heit, mir beim Nachdenken ständig ins Gesicht zu fassen. Ich wußte, daß das ungehörig war, aber ich konnte diese Gewohnheit nicht abstellen. Ich mußte sie von Carlos übernommen haben, der sich ständig die Wange kratzte, wenn er nachdachte. Der Unterricht erfolgte also in Zukunft in meiner Suite. Gewöhnlich rief ich meine Lektionen aus dem Computer ab, aber gelegentlich besuchten mich auch die drei Buzh, die die hohe Ehre, das ausgesprochene Privileg und den gutdotierten Job hatten, Senhor David Curdova die Feinheiten der Mathematik, der Literatur, des guten Benehmens, Fechtens, Tanzens, der Geschichte und der verschiedenen Sprachen nahezubringen. Mein Schrift war allerdings viel besser als das Sylvia Kodalys, meiner Sprachlehrerin. Sie sprach Schrift mit einem unüberhörbaren Lispeln, das ich nicht für möglich gehalten hätte. Außerdem mußte ich natürlich Ökonomie studieren, Wenn es nur irgend möglich war, versuchte ich, meine Lektionen möglichst schnell hinter mich zu bringen, um noch eine Zeitlang in meinem Schlafzimmer allein zu sein, das ich in eine Art Werkstatt umgewandelt hatte. 238
Nach der Schule aß ich zusammen mit meinem Vater, meiner Tante Therese und meiner Cousine Emilita. Das Essen fand in Vaters Räumen statt, und manchmal nahmen auch andere Verwandte daran teil. Gezielt ignorierten sie alle mein ungehobeltes Benehmen. Und anschließend hatte ich frei.
Oder doch fast. »Vater? Können wir jetzt darüber sprechen?«
Er tauchte seine ohnehin sauberen Finger in die
kleine Schale aus blauem Porzellan und trocknete sie mit seiner Serviette ab. »Nein, David, die Angelegenheit ist erledigt.« Meine Cousine Emilita knabberte an ihrem Gebäck und tat so, als hörte sie nicht zu. Dabei warf sie ihr schulterlanges braunes Haar zurück. Sie war außerordentlich attraktiv, während ich allerdings dunkle Haut und hohe Wangenknochen vorzog, wobei Gina eine Ausnahme bildete. Emilita trug ein kurzes Kleid, das aus Silberperlenschnüren gemacht zu sein schien, die manchmal aneinander hafteten und sich dann wieder voneinander lösten. Während viele ElwerieMädchen zur Fettleibigkeit neigten, hielt sie sich schlank und zeigte ständig, wenigstens teilweise, 239
ihren Körper. Sie mußte sich ständig körperlich betätigt haben, um in Form zu bleiben, denn sie aß zwar langsam, aber sie aß, als ob es keinen Morgen geben würde. Tante Therese hob den Blick zur Decke und seufzte. »Dem Jungen zuliebe van Ingstrand töten, Miguel. Warum eigentlich nicht? Oder kannst du plötzlich kein Blut mehr sehen?« Tante Therese war nur ein paar Dekaden älter als mein Vater, aber sie sah sehr viel älter aus. Sie sah aus wie eine fette alte seit drei Tagen tote Leiche. Sie hatte eine scharfe Zunge. Eine sehr scharfe. Ich mochte sie, und das Gefühl war gegenseitig. Sie hatte meine Mutter gemocht, und diese Zuneigung schien sie auf mich übertragen zu haben. Er warf ihr einen finsteren Blick zu. »Therese, laß es gut sein. Ich habe van Ingstrand gestützt, als andere ihn abhalftern wollten. Es wäre unehrenhaft, wenn ich jetzt meine Haltung änderte, nur wegen ...« Er schaute zu mir hinüber. »... wegen irgendwelcher Bagatellen.« »Sei doch nicht alberner als unbedingt nötig, Miguel. Wenn du es nicht tust, wird David es tun, sobald er volljährig ist.« Sie lächelte mich freundlich an. »Nicht wahr, David? Ich kann nicht sagen, daß ich dir das übelnehme.« Sie schnaufte 240
verächtlich. »Man muß sich einmal vorstellen: Er hat eine Belohnung auf den Tod eines Elwerianers ausgesetzt.« »Hör endlich auf damit. Je weniger darüber geredet wird, um so schneller wird es vergessen sein.« Er betrachtete seine Fingernägel. »Ich habe genug gegessen. Man sollte immer ein wenig hungrig bleiben. Enrico Mengual und ich haben heute abend eine unbedeutende Affäre.« »Aber doch nur eine ersten Blutes, oder?« Sie trank von ihrem Tee und schaute ihn über den Tassenrand an. »Ja.« Er fuhr sich über die Narbe oberhalb seines Schlüsselbeins. »Ich hätte allerdings nicht übel Lust, ihm eine Narbe zu verpassen, die vom Nabel bis zu den Nieren reicht.« »Wer gab den Anlaß? Als ob ich das auch noch fragen müßte.« »Ich.« »Das wußte ich, du . . .« »Aber nur durch eine Verkettung von Umständen, Therese.« Er hob eine Braue. Tante Therese wußte zwar, daß er mein Duell übernommen hatte, aber davon ließ sie sich nicht zurückhalten. »Du also. Und um was ging es?« 241
»Das übliche«, sagte Vater spitz und vermied es, mich dabei anzuschauen. Die Worte hingen einen Augenblick in der Luft. »Tante Therese«, sagte ich, »es war meine Schuld. Schon wieder mal.« Sie sah mich an. »Was ist denn diesmal passiert?« Ich zuckte die Achseln. »Ich hatte eine Auseinandersetzung mit Erik Mengual, und er hat mich herausgefordert.« Dieser verdammte überhebliche Elwerie - ich hatte ihm das Glas Wein nicht mit Absicht über den Rock geschüttet, aber er wollte meine Entschuldigung nicht akzeptieren. Er sagte, sie sei nicht ehrlich gemeint. Aber, verdammt, sie war wirklich ehrlich gemeint. Ich wußte, daß am Ende mein Vater das Duell bestreiten würde, und wenn wir uns auch ständig wegen Arnos van Ingstrand stritten, wollte ich doch nicht, daß er in Streifen geschnitten wurde. Vater nickte. »Als ich an Davids Stelle trat, nahm Enrico sein Recht wahr, an Eriks Stelle zu treten.« Er lächelte dünn. »Aber warte nur bis zum nächsten Jahr. Dann wird Erik volljährig, und dann wird er sich ein wenig abkühlen.« Er schnaubte verächtlich. »Oder er wird aufhören, sich abzukühlen, weil er schon Zimmertemperatur erreicht hat.« Er wandte 242
sich an mich. »Wenn du es einigermaßen geschickt anstellen kannst, dann erinnere Erik bitte daran, daß er vor dir volljährig wird und sich dann meinem Degen stellen müßte.« Tante Therese starrte zuerst mich, dann ihn an. »Wunderbar, Miguel. Einfach wunderbar. Ständig wirfst du dem Jungen seine schlechten Umgangsformen vor - und die hat er ja auch.« Sie milderte die Wirkung ihrer Worte ein wenig durch ein Lächeln. »Und dann verlangst du von ihm, daß er eine versteckte Drohung übermittelt. Wünschst du dir denn noch ein Duell mit Enrico. Wäre es nicht besser, zuerst dieses auszufechten? Oder hast du nicht genug zu tun?« Emilita streckte die Hand aus und berührte meine unter dem Tisch. »Cousin«, sagte sie und lächelte duldsam, »du hast doch versprochen, mir den Degen zu zeigen, auf den du so stolz bist und mit dem du beim nächsten Riegel-Fest gewinnen willst.« Sie stand auf, strich sich züchtig das Kleid glatt und winkte zuerst ihrer Mutter und dann meinem Vater zum Abschied zu, während sie sich ihre Halbmaske aus Teakholz aufsetzte. Unbeholfen tat ich es ihr gleich und folgte ihr durch die Tür nach draußen.
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Emilita war einige Jahre jünger als ich - das hatte ich im Geburtenregister gelesen - , aber sie wirkte älter. Fast alle wirkten älter. »David«, sagte sie, als wir durch den mit Teppichen ausgelegten Korridor zum Fahrstuhl gingen, »du solltest ihn damit wirklich nicht länger belästigen.« Sie nickte höflich, als wir einer finster blickenden Fünfzigjährigen begegneten, einer Freundin von ihr, die ich nicht wiedererkannte. »Ich will, daß van Ingstrand stirbt.« Und ich will, daß ich mich endlich besser fühle, dachte ich. Das war lächerlich. Mein ganzes Leben lang hatte ich davon geträumt, wie es wohl in Elweré sein würde, und jetzt war ich hier . . . Und es war nichts weiter als ganz einfach ein anderer Ort. Zugegeben, ein luxuriöser und sicherer Ort, aber eben doch nur ein anderer Ort, der an sich nicht besser war als der, an dem ich vorher gelebt hatte. Nur sauberer und reicher. Der Luxus war natürlich sehr schön, und es war auch angenehm, daß man sich keine Sorgen darüber zu machen brauchte, woher die nächste Mahlzeit kommen würde. Sehr angenehm sogar. Das hätte mir eigentlich genügen müssen. Warum tat es das nicht? »Warte ein paar Jahre.« Sie drückte mit dem
Daumen auf eine Platte. Sofort öffnete sich die Tür,
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und wir betraten den Fahrstuhl. »Du wirst es selbst erledigen können. Wenn du es dann noch willst. Und das bezweifle ich, wenn du mir gestattest.« Sie trat zur Seite, damit ich eine weitere Platte berühren konnte. Sofort leuchtete sie grün auf, und das war auch gut so. Die Wartungsmannschaften hatten nur etwa die Hälfte der Kabinen so programmiert, daß sie meine Fingerabdrücke erkennen konnten. »Meine Räume, bitte«, sagte ich und torkelte ein wenig, als der Fahrstuhl sich zur Seite neigte und dann nach unten glitt. Trotz Carlos' unablässiger Bemühungen hatte ich Elweres Geographie immer noch nicht im Kopf; ich wußte nie, wohin diese verdammten Aufzüge fahren würden. Sie runzelte die Stirn. »Du brauchst doch der Schaltung gegenüber nicht höflich zu sein. Sie muß gehorchen.« »Wie die Niederen.«
»Natürlich.« Sie nickte und war überrascht, daß ich etwas so Selbstverständliches auch noch erwähnte. »Nur, daß die Schaltanlage keine Wahl hat. Die Bürger und die niederen Klassen haben eine.« Und was für eine. Oroga hatte seinen gesamten Reichtum dem Valda zu verdanken, und das Valda gehörte Elweré. Einige von den Niederen und den 245
Buzh konnten sich ihren Lebensunterhalt woanders verdienen, aber im übrigen lief alles darauf hinaus, daß sie alle Elweré dienen mußten, direkt oder indirekt. Ich muß gestehen, daß mich das wenig interessierte. Ich war endlich einmal auf der richtigen Seite des Zaunes, und das konnte mir nur recht sein. Dennoch empfand ich im tiefsten Innern einen Schmerz, ich hatte das Gefühl, etwas verloren zu haben. Ob das mit Marie und Carlos zusammenhing oder ob ich das Aufflackern des Cherat mit Eschteef vermißte, weiß ich nicht. Aber es war vielleicht eher das letztere . . .
»David?« Immer noch stirnrunzelnd schaute Emilita mich an. »Was quält dich denn wirklich? Von Arnos van Ingstrand einmal abgesehen.« Mit einer Kopfbewegung deutete sie an, daß van Ingstrand nach ihrer Meinung unwichtig war. Ich zuckte die Achseln. »Es gefällt mir nicht, daß Vater meine Duelle für mich bestreitet.« Vater war ganz einfach zu stolz. Er hatte darauf bestanden, an meine Stelle zu treten, aber er hatte nicht darauf bestanden, die Duelle zu Duellen zweiten Blutes hochzustufen. Wenn er das getan 246
hätte, wäre ich wahrscheinlich nicht so oft gefordert worden. Der Gedanke, mit Miguel Ruiz de Curdova ein Duell ersten Blutes bestreiten zu müssen, schien nicht so viele Leute abzuschrecken wie mir lieb gewesen wäre. Duelle ersten Blutes waren nicht so gefährlich; in aller Regel konnte man sich dabei höchstens Schmerzen zufügen. »Das ist sein Verantwortlichkeit.«
Recht
und
in
seiner
Das war für mich wirklich kein Trost.
Meine Beziehung zu meinem Vater war eher von Kindespflichten als von Zuneigung bestimmt. Dennoch wollte ich nicht, daß er verletzt wurde. Vielleicht sogar getötet, obwohl das sehr unwahr scheinlich war. In einem Duell ersten Blutes, so wie es in Elweré ausgetragen wurde, begab sich ein guter Fechter praktisch nicht in Lebensgefahr. Er trug eine Sicherheitsmaske, Ärzte waren anwesend, und eine Vorrichtung an der Klinge hinderte sie daran, tiefer als zwei Zentimeter einzudringen. Unter diesen Umständen konnte ein Fechter nur getötet werden, wenn der Stich des Gegners direkt auf das Herz gerichtet war und diese Vorrichtung zwischen die Rippen hindurch mit der Klinge in das Fleisch drang. Vater war ein zu guter Fechter, als daß er das 247
hätte geschehen lassen. Er konnte allenfalls das Duell verlieren. Ich seufzte. Ich würde noch eine Weile warten müssen. Nur eine Weile. Wenn erst der metzadanische Fechter hier war und mir beigebracht hatte, wie man mit einem Degen umgeht, würde mein Vater mir vielleicht erlauben, meine Duelle selbst auszutragen. In wenigen Jahren würde ich das tun können, was ich wollte, und würde niemanden mehr um Erlaubnis fragen müssen. So weit war mein sechzigster Geburtstag nicht mehr entfernt, wenn es auch fünfzehn sehr lange Jahre sein würden. Fünfzehn Jahre. Es war nicht gut, daß Arnos van Ingstrand noch weitere fünfzehn Jahre leben sollte. »David?« »Ja?« »Wir sind da.« Sie zeigte auf die geöffnete Tür des Fahrstuhls. »Du träumst schon wieder.« Sie folgte mir die paar Stufen zu meinen Räumen. »Wo ist denn nun der Degen, von dem du mir erzählt hast?« fragte sie, als die Tür sich zischend hinter uns schloß. Ich warf meine Halbmaske in die Ecke. »Willst du ihn wirklich sehen?« 248
»Nein«, sagte sie, setzte sich mit einer eleganten Bewegung auf einen Stuhl und nahm ebenfalls die Maske ab. »Er ist bestimmt sehr schön. Das Schrift, von dem du ihn gekauft hast, hat sicher gut gearbeitet.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich mache ihn selbst. Mit Glück habe ich ihn zum Riegelfest fertig, von dem alle immer reden.« Ich setzte mich ihr gegenüber. »Selbst?« Sie war erstaunt. »Wozu die Mühe?« »Wozu die Mühe?« Ich wollte vom Stuhl aufstehen, ließ mich aber wieder zurücksinken. »Wozu die Mühe? Weil ich zu allem anderen zu verdammt ungeschickt bin. Mit Metall und Juwelen zu arbeiten, ist eines von zwei Dingen, die ich gut kann.« »David . . .« »Das andere, was ich gut kann - und ich kann es sehr gut - ist stehlen.« Sie wurde rot. Das hätte ich wirklich nicht sagen sollen. In Elweré ist Stehlen kein Verbrechen, es gilt als Perversion. »Du bist so unfreundlich, David. Ich wollte dich nicht verspotten. Aber wenn der Degen so gut ist, warum willst du ihn dann beim Riegelfest zeigen? Warum nicht bei einem anderen Fest? Oder 249
warum schenkst du ihn nicht einfach deinem Vater?« »Ich ... ich verstehe nicht.« »Das Riegelfest rückt näher, David. Weißt du nichts über das Riegelfest?« Die Bezeichnung war mir bekannt, aber als ich es in Esquelas Buch erwähnt fand, hatte ich darüber hinweggelesen. »Es ist ein . . .« Sie suchte nach den richtigen Worten. Elweries haben immer Schwierigkeiten, wenn sie elwerianische Sitten erklären wollen. Ein Fisch hätte wahrscheinlich auch Probleme, wenn er erklären sollte, was Wasser ist. »Es ist eine Demonstration von Reichtum, David. Wir bringen Wertgegenstände in den Großen Ballsaal und vergleichen sie. Dabei wird ermittelt, welcher Gegenstand der schönste ist.« Ich zuckte die Achseln. »Na und? Vielleicht bin ich nicht so gut wie ein richtiger Schrift-Juwelier, aber ich glaube nicht, daß ich mich blamieren würde.« »Aber David, nach dem Wettbewerb zerstören wir die Gegenstände. Das . . . zeigt, daß wir reich sind und daß wir uns das leisten können.«
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Ich glaubte, nicht recht gehört zu haben. Etwas Schönes herstellen oder auch nur kaufen, um es dann zu zerstören? Das war pervers. Das durfte nicht sein. Schönes ist für die Ewigkeit bestimmt. Sie berührte meine Hand. »Aber ich wollte mit dir über etwas anderes sprechen.« »Über was?« »Ich gehe heute nachmittag zum Einkaufen in die Unterstadt. Soll ich dir irgend etwas mitbringen?« Sie sprach ganz ernsthaft. »Van Ingstrands Kopf.« »Nein, ernsthaft. Gibt es irgend etwas . . .?« Sie hatte etwas im Sinn, aber ich hatte keine Ahnung, was es sein könnte. Was Carlos mir über die Sitten und Gebräuche in Elweré gesagt hatte, war nur oberflächlich gewesen. Es sollte mich lediglich in die Lage versetzen, mich dort gut und lange genug zu bewegen, um ein paar Geldtaschen zu stehlen. In Elweré wirklich dazuzugehören, war etwa anderes. Es war verdammt frustrierend. »Emilita, worauf willst du hinaus?«
Sie schaute weg. »Wie lange ist es her, daß du ... bei einer Frau warst?«
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»Emilita . . .« Ich mußte mir das Lachen verbeißen. Meine Cousine hatte schon Schwierigkeiten genug, dieses Thema anzusprechen. Wenigstens darüber wußte ich einiges; es gehörte zu den wenigen Dingen, über die Esquela in seinem Buch verständlich geschrieben hatte. In Tod und Dekadenz unter Elwerianern, Kapitel Fünf, ›Sexualsitten‹, steht unter anderem. ›Es gibt wenige Gesellschaften, in denen sexuelle Promiskuität so ausgiebig praktiziert und so wenig diskutiert wird wie in der elwerianischen Gesellschaft. Die Praktiken sind ihrer Natur nach fast schizoid; jede Diskussion des Geschlechtsverkehrs ist ebenso tabu wie seine Ausübung außerhalb einer Zweierbeziehung, außer bei Gelegenheiten, während derer die Individuen maskiert sind. Die Sitte der Maskierung schafft die gesellschaftliche Fiktion, daß die Maske handelt und nicht das Individuum. Indessen ist, selbst maskiert, die private Diskussion oder Ausübung des Geschlechtsverkehrs verboten, außer innerhalb einer regulären Zweierbeziehung, denn dabei wäre ja kein Dritter anwesend, der beschwören könnte, daß die Partner maskiert waren ...
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Für Geschlechtsverkehr außerhalb einer Zweierbeziehung sind maskierte Orgien die Norm. Allerdings bedienen sich die elwerianischen Männer außerdem Prostituierter und der nicht elwerianischen Bevölkerung. Auch hierbei verwenden sie eine von mehreren kreativen Fiktionen, um nicht zugeben zu müssen, daß es tatsächlich geschieht . . .‹ Das Ganze half mir hier und heute verdammt wenig. Ich war schon sehr lange nicht mehr bei Gina gewesen, und Emilita war, wie ich schon sagte, sehr attraktiv und dazu noch aufreizend gekleidet. Gelegentlich hatte sie mir deutlich zu verstehen gegeben, daß sie nichts dagegen einzuwenden hätte, wenn ich ihr auf irgendeiner Party besondere Aufmerksamkeit schenken würde. Aber ich besuchte keine Partys; das erste Mal hatte mir gereicht. Ich hatte nur einmal eine Party besucht und war angeekelt wieder gegangen. Die sich auf dem Fußboden rekelnden Paare, eng umschlungen und die Körper mit Wein und Öl besudelt . . . das kam mir alles so häßlich vor. In Elwere, hieß es, sei alles ganz anders. Das stimmte zwar, aber so etwas hatte ich nicht im Sinn gehabt, wenn ich darüber nachdachte. »Was wolltest du sagen, Emilita?« 253
»Ich - ich weiß, daß dein Vater dir nicht erlaubt, Elweré zu verlassen, noch nicht. Aber wenn es jemanden gibt, jemanden in der Stadt der Niederen, den du gern sehen möchtest? Ich ... ich glaube, das könnte ich arrangieren, David. Nur für ein paar Stunden. Ich glaube nicht, daß eine Einheimische etwas für dich tun kann, aber vielleicht könnte irgendeine Niedere dir bei deinem ... Problem helfen. Du hättest doch keine Angst davor . . . mit einer Niederen zu schlafen, oder?« Sie hielt die Hände vors Gesicht. Mein Problem. Ich hätte fast gelacht. Es paßte alles zusammen. Arme kleine Emilita mit ihrem wohlbehüteten Leben. Sie glaubte, daß ich deshalb keine Partys besuchte, weil ich irgendwie Angst hatte, eine der elwerianischen Göttinnen zu berühren. Emilita, wenn das eines Tages mein größtes Problem wäre, hätte ich aber viel Glück gehabt. Aber vielleicht hatte sie eine Idee. Ich konnte nicht gut hinausgehen, um die Sache mit Eschteef zu besprechen, aber vielleicht . . . »Sie heißt Gina. Ich gebe dir die Adresse des Hauses, in dem sie arbeitet. Bist du sicher, daß du sie mitbringen kannst?« Sie schaute mich immer noch nicht direkt an, aber sie nickte. »Ja.« 254
»Wann?«
»Vielleicht noch heute im Laufe des Tages. Vielleicht morgen oder übermorgen. Aber du mußt unbedingt vor dem Riegel-Fest fertig sein. Es ist schon in ein paar Tagen.« Ich wollte sie fragen, aber sie wurde schon wieder rot. Ich legte den Degen auf meinen Arbeitstisch und betrachtete ihn. Er war einen Meter lang, und die Klinge war an beiden Seiten so scharf wie ein Rasiermesser. Die auf der flachen Seite der Klinge eingravierten Weinranken traten nicht deutlich genug hervor; deshalb tat ich noch etwas Oxydationsmittel auf einen Lappen und wischte die Klinge, bis sie geschwärzt war. Dann schaltete ich mein Poliergerät an. Nachdem ich die Klinge gründlich poliert hatte, war nur noch die Gravierung schwarz, während die Klinge blank war wie ein Spiegel. Sehr schön. Zum eigentlichen Fechten war dieser Degen kaum zu gebrauchen. Eschteef hatte mir versprochen, mir zu zeigen, wie man andere Metalle in die Klinge einarbeitet, so daß das Silber hart wird wie Stahl, aber dazu war er nicht mehr gekommen. Der Degen diente zur Zier, nicht zum Gebrauch.
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Ich hatte gute Arbeit geleistet, aber um den Degen ganz zu vollenden, war noch viel mehr Arbeit nötig. Er hatte einen soliden Griff, aber ich hatte mich noch nicht, für seine endgültige Form entschieden und wußte auch noch nicht was für einen Korb ich anbringen würde. Ich hatte verschiedene Skizzen gemacht und hoffte, daß ich rechtzeitig fertig werden würde. Aber genug davon. Für den Degen würde ich noch einiges an Arbeit aufwenden müssen, aber nicht etwa, weil er zum Riegelfest fertig sein mußte. Ich schnaufte angewidert. Etwas Schönes herzustellen, etwas Wunderbares, um es dann anläßlich einer Demonstration von Reichtum zu zerstören . . . »Idioten. Ich bin von Idioten umgeben.« Ich nahm ein Ledertuch und polierte weiter. Es war ein angenehmes Gefühl, wie das Tuch über die glatte Fläche glitt. Ganz schwach spürte ich Eschteefs Freude über die Arbeit meiner Hände... Nein. Diese Episode meines Lebens war vorbei. Jetzt war ich zu Hause. Hier gehörte ich hin, und hier war ich frei. Frei von Carlos, frei von Arnos van
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Ingstrand, frei von Eschteefs Anforderungen. Ich war nicht mehr in einen Käfig gesperrt. Fast hörte ich Hrotisfts trockenes Flüstern. Und was ist der Unterschied, du dummes Menschenwesen, zwischen diesem Käfig und jedem anderen? »Es ist kein Käfig, verdammt noch mal. Ich kann gehen wohin ich will.« Ja, aber nur in Elweré.. Du hast einen großen Käfig und einen sehr bequemen. Aber es bleibt ein Käfig. »Laß mich in Ruhe!«
Aber es war niemand da.
Zeit für einen Spaziergang.
Ich setzte eine nicht für zeremonielle Zwecke
bestimmte Halbmaske auf, nahm einen Degen von der Wand und schnallte ihn um.
Allein ging ich durch die von Menschen wimmelnde Promenade. An Tischen, die an der Ostwand aufgereiht standen, saßen zu vornehm und zu einfach gekleidete Elwerianer, tranken Kaffee, Tee und Wein und plauderten über Juwelen und Kleider und Feste und Vergnügungen. 257
Ohne meine Klinge samt der Scheide fühlte sich mein rechter Arm nackt an. Bei all dem Reichtum um mich herum war mein natürliches Verlangen, zu schneiden und wegzurennen. Der Degen war kein Ersatz, obwohl er das eines Tages vielleicht sein könnte. Zum Fechten hatte ich von Natur aus kein Talent. Vielleicht würde der metzadanische Fechtmeister, den Vater für mich angeworben hatte, es mir beibringen können, aber ich bezweifelte es. Und was für einen Sinn hatte es? Warum sollte man lernen, eine so archaische Waffe gut zu führen? Nur damit niemand mich absichtlich-unabsichtlich anrempelte? Lächerlich. Eine Klinge durfte nur ein paar Zentimeter lang sein, damit man sie in der Hand verbergen konnte, um jederzeit die Schnur einer Geldtasche oder die Sehnen eines Armes durchschneiden zu können. Aber warum sollte ich etwas stehlen, und sei es zu Übungszwecken? Mein eigener Beutel war prall gefüllt mit Diamanten, Smaragden, Pyriten und Rubinen, dazu noch alles umsonst. Einen Augenblick lang spürte ich den Impuls, den ganzen Tand auf dem Boden zu verstreuen. Statt dessen ging ich auf dem Marmorfußboden weiter, nickte hin und wieder, wenn ich gegrüßt wurde, und
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hütete mich, den Eindruck zu machen, als erwartete ich, an irgendeinen Tisch gebeten zu werden. Warum auch? Gespräche über Kleider und Spiele und Masken, Gestränke und Duelle interessierten mich nicht, und sie würden mich auch nie interessieren. Am hohen Eingangstor zum Großen Theater zeigte der Hauptbildschirm Schauspieler von außerhalb des Planeten, die auf der Bühne ihre Possen trieben. Der kleine Schirm informierte mich, daß es sich um die Royal Shakespeare Company handelte, die Wie es Euch gefällt spielte, und daß die nächste Vorstellung um zehn Uhr beginnen würde. Shakespeare? Das hörte sich fremd an. Das konnte keine der Tausend Welten sein; die einzige planetenweite Monarchie gab es auf Rand. Ich konnte mich an keine Welt erinnern, die Shakespeare heißt. Es mußte irgendein Land sein. Vielleicht sollte man es sich einmal auf dem Bildschirm ansehen. Aber das wäre auch schon alles. Sich zusammen mit etwa tausend anderen auf einer Couch auszustrecken, und das alles nur, um einige idiotische Fremde ein paar Zeilen murmeln zu hören, mußte etwa so interessant sein, als
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beobachtete man das Wachsen seiner eigenen Fingernägel. Ich ging also weiter bis zur Arena und suchte mir einen Platz an der hinteren Wand, um von den wenigen Gaffern am Ring möglichst weit entfernt zu sitzen. Dies war offensichtlich eine unwichtige Affäre, denn ein Todesduell hätte weit mehr Zuschauer angelockt. Hier lief etwas ab, was ich verstehen konnte, wenn ich auch kein Gefallen daran fand - sich wegen eingebildeter oder wirklicher Kränkungen im Umgang miteinander zu duellieren, ist eine Dummheit. Aber ich verstand es wenigstens. Unter den wachsamen Augen einer Mannschaft von sechs Buzh-Ärzten gingen zwei Elweries auf dem Asphalt in Kampfstellung. Mit bloßem Oberköper, Gesichtsmasken, Genitalschutz und Sandalen standen die beiden Männer einander gegenüber. Ganz klar, es war ein Duell ersten Blutes; selbst von hier oben konnte ich die winzige Sperrvorrichtung zwei Zentimeter unter den scharfen Spitzen der Degen erkennen. Auf ein Zeichen des Unparteiischen kreuzten die beiden Männer die Degen, traten ein paar Schritte zurück, salutierten und nahmen dann wieder Kampfstellung ein. 260
Dann drangen sie aufeinander ein. Ein rasches Aufblitzen von Stahl, und einer der Männer taumelte zurück, griff sich mit der freien Hand an die Schulter und ließ den Degen fallen. Das war es auch schon. Der andere Elwerie wandte sich ab und ging davon, während die sechs Ärzte herbeieilten, um den Verlierer zu versorgen. Völlig sinnlos. Nur ein albernes Ritual. Ich stand auf und verließ die Arena. An der Promenade lagen drei Ballsäle. Der wichtigste - der Große Ballsaal - lag direkt neben dem Großen Theater. Wenn eine Vorstellung so viele Zuschauer anlockte, daß die Sitzgelegenheiten nicht ausreichten, wurde die Wand zwischen den beiden Gebäuden in den Boden versenkt und weitere Stühle herbeigeschafft. Gewöhnlich aber war der Große Ballsaal leer. Er war für die meisten Ereignisse ganz einfach zu groß. Ich schaute auf die Bildschirme draußen am Gebäude. Der Hauptbildschirm war abgeschaltet, und das bedeutete, daß hier zur Zeit nichts los war. Auf dem kleinen las ich, daß heute abend Tanz sein sollte. Eine weitere idiotische Sitte - die Elweries schienen ihr halbes Leben damit zu verbringen, zum 261
Takt irgendwelcher Musik auf dem Parkett Figuren abzuschreiten. Und es war nicht einmal vernünftige, aufgezeichnete Musik. Gewöhnlich spielten hier Orchester mit zwitschernden und kreischenden Streichinstrumenten und mißtönendem Blech. Nun, ich wußte, wohin ich an diesem Abend nicht gehen würde. Mein Tanzlehrer hätte mich schon lange als hoffnungslosen Fall abgeschrieben, wenn er das hätte tun können, ohne seinen Job zu verlieren. Natürlich konnte ich meine Gliedmaßen koordinieren, aber ich sah nicht ein, warum ich mich für diesen Unfug auch noch anstrengen mußte. Die Bildschirme vor dem Bronze-Ballsaal waren ausgefallen, und drei Buzh-Techniker in Harnischen waren mit dem Auswechseln der Geräte beschäftigt. Ich wollte sie fragen, was hier heute geboten wurde, aber ich überlegte es mir anders. Es hatte keinen Zweck; ich konnte selbst nachschauen, denn ich hatte ja nichts Besseres zu tun. Ich ging durch den Eingang. Als ich an der Schallblende vorbei war, trafen mich die Musik und das Stöhnen aus dem Saal wie ein Hammerschlag. Wunderbar. Ich schaute hinein, nur um mich zu vergewissern. Manchmal denke ich, daß die Schrift recht haben,
wenn sie von den menschlichen Reproduktions
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ritualen nicht viel halten; im Bronze-Ballsaal versuchten mehrere hundert Elweries, die richtige Öffnung zu finden. Ich wandte mich von der Masse der zuckenden, eingeölten Leiber ab - und wurde zu Boden gestoßen. Ein schlanker Fünfzigjähriger stand über mir, dessen Halbmaske nur den unteren Teil seines wütenden Gesichts erkennen ließ. Er stemmte die Hände in die Hüften. »Nun«, sagte er. »Hast du mir nichts zu sagen?« Nicht schon wieder. Ich stand auf. »Ich bitte um Entschuldigung. Das wollte ich nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Das reicht nicht, bei weitem nicht. Hältst du es nicht für nötig, dich vorzustellen?« »Entschuldigung. Mein Name ist David Curdova, und . . .« »Ich verstehe, du bist der, der bei den Niederen aufgewachsen ist. Das erklärt deine schlechten Manieren, aber es entschuldigt sie nicht. Ich bin Luis Diego Muntoya.« Er hob die Hand und tippte leicht gegen meine Gesichtsmaske. »Ich fordere dich zum Duell. Ich nehme an, daß dein Vater diese Affäre für dich erledigen wird.« 263
Ich hob die Hand. »Nein, warte. Er hat schon . . .«
»Dein Vater wird diese Affäre für dich erledigen?«
»Ja.« »Sehr gut. Ich werde mit ihm sprechen. Und jetzt geh mir aus dem Weg.« Er wartete nicht darauf, daß ich gehorchte, sondern schob mich zur Seite und ging in den Ballsaal. Ich trat wieder auf die Promenade hinaus. Schon wieder. Ich hatte es schon wieder getan. Wahrscheinlich hätte ich irgend etwas sagen sollen, irgend etwas tun sollen, aber . . . Mein Telefon summte. Ich hob das Handgelenk an das Gesicht. »Ja?« »Senhor Curdova, die Kiste kann jetzt geliefert werden.« »Kiste? Ich habe keine Kiste bestellt.« »Es ist ein Geschenk von Ihrer Cousine Emilita.« Gina!
»Senhor Curdova?« »J-ja. Wo, wie . . .« »Wenn Sie in Ihre Suite zurückgehen, können wir die Lieferung ausführen.« Ich rannte los und ignorierte neugierige Blicke.
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Die beiden Buzh warteten geduldig vor der Tür, und neben ihnen stand auf einem Luftkissentransporter die Kiste. Die beiden trugen normale Kleidung und außerdem etwas, das wie ein elwerianischer Verteidigungsharnisch aussah. Aber es war keiner. Es war eigentlich das genaue Gegenteil; anstatt Bedrohungen von außen aufzuspüren und dann die auf die Schultern montierte Waffen zu aktivieren, dienten diese Harnische der Überwachung ihrer Träger. Mehrere tausendmal in der Sekunde registrierten sie, ob der betreffende Buzh einen Elwerianer angriff oder nicht. Für leichtere Vergehen verabreichte ihm der Schaltkreis einen leichten Stromschlag, für schwerwiegende traf Strom von hoher Spannung das Brustbein des Buzh. Sie verneigten sich, als sie mich kommen sahen.
»Senhor David Curdova?« »Diese Kiste ist für mich?« Ich öffnete die Tür und ließ sie ein. »Ja, Senhor. Wir werden draußen warten, denn
wenn Sie fertig sind mit der . . . Ware . . .« »Das wird nicht nötig sein.« »Es ist erforderlich, Senhor. Solche Ware muß vor Einbruch der Nacht wieder nach draußen geschafft werden.« 265
Ich nickte, und vor ihren Gesichtern ließ ich die Tür ins Schloß gleiten. Dann verbrachte ich ein paar Sekunden damit, mir am Verschluß der Kiste die Nägel abzubrechen. Die Vorderseite der Kiste öffnete sich. Auf einer kleinen Bank in der Kiste saß Gina mit vor der Brust verschränkten Armen. »Es wurde auch langsam Zeit«, sagte sie und lächelte schwach. »Gina . . .« »Wir sollten zuerst über das Geld sprechen.« Ich öffnete meinen Beutel und streute Juwelen auf den Teppich. »Reicht das?« »So eben«, sagte sie, als ich ihr aus der Kiste half. »So eben.« »In der Unterstadt bist du das Thema des Tages, kleiner David«, sagte sie leise und legte das Gesicht an meine Brust. »Selbst der alte Arnos hatte eine Zeitlang Angst.« Arnos van Ingstrand hatte Angst? Vor mir? »Das sollte er auch!« Sie schnaubte verächtlich. »Er hatte Angst. Bis
dein Vater ihn dafür bezahlte, daß er Carlos getötet
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hat.« Sie setzte sich und hüllte sich in die Decke wie in eine Robe. »Was dich betrifft, ist er ziemlich wütend. Wenn sie dich eines Tages nach draußen lassen, solltest du vorsichtig sein. Wenn es eine Möglichkeit gibt, die Verteidigungsausrüstung eines Elwerianers zu überwinden, wird er sie finden.« »Falls ich je nach draußen gehe. Ich darf es nicht. Dies ist ein Gefängnis.« Sie schaute sich im Schlafraum um und
betrachtete mit geschulten Augen die Wandbehänge.
»Ein schönes Gefängnis.« »Gina, ich passe nicht hierher.« »Dann mußt du es eben lernen.«
Ich wechselte das Thema. »Sag mir, wie sieht es unten in der Stadt aus? Ich bin überhaupt nicht mehr informiert.« Sie lächelte verständnisvoll. »Ach, wie gewöhnlich. Die Mannafrüchte aus der neuen Ernte sind ein wenig trocken, und wir müssen mehr Geld an die Schutzgesellschaften zahlen. Alfredas Haus versorgt jetzt den Lederhandel . . .« »Hör auf, Gina, ich muß mit dir reden.« »Dann rede doch.« Sie zuckte die Achseln. »Es sieht so aus, als ob du wieder ein wenig Mitleid brauchst.« Sie hielt sich einen daumennagelgroßen 267
Diamanten vor die Augen. »Das solltest du woanders suchen. Du hast mir nicht genug bezahlt, als daß ich dich auch noch bemitleiden könnte, Senhor Curdova. Mir scheint, du hast es hier sehr gut getroffen. Du solltest dich darüber freuen.« Das war es ja gerade. Ich konnte mich nicht darüber freuen. Und dann sprudelte ich hervor. »Dieser Ort ist nicht für mich geeignet. Ich passe hier nicht her. Ich weiß nicht, was diese Leute von mir wollen. Ich will hier nicht bleiben. Ich kann mich hier nicht einfügen. Mein Vater wird eines Tages wegen meiner Ungeschicklichkeit getötet werden. Sie zerstören schöne Dinge, nur um zu zeigen, daß sie sich das leisten können. Diese . . .« »Tu mir einen Gefallen und beschwere dich nicht dauernd.« Sie hob die Brauen. »Wenn es dich so sehr stört, dann geh doch. Mir ist es gleich.« »Das kann ich nicht. Das äußere Tor würde sich für mich nicht öffnen, wenn mein Vater es nicht genehmigt.« »Um so besser. Wenn du in die Unterstadt zurückgehst, wird Arnos van Ingstrand dich zum Frühstück verspeisen.« Sie machte ein schmatzendes Geräusch. »Vielleicht sogar im wahrsten Sinne des Wortes.« »Dann muß ich eben bleiben.«
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»Richtig.« Sie lachte spöttisch. »Sei doch ein Opfer, du Idiot.« »Was willst du damit sagen?« »David, ich mag dich. So schlecht siehst du nun auch wieder nicht aus, und du bist gut im Bett . . .« »Ich höre immer ein Aber.« ». . . aber du bist das geborene Opfer. Du hast fast dein ganzes Leben bei Carlos verbracht und dich von ihm herumstoßen lassen.« »Aber das habe ich nur für Marie getan.« »Unsinn. Du hast noch nie etwas für andere getan. Du hast es getan, weil es dir auf diese Weise erspart blieb, dein Leben selbst zu gestalten. Und dann hast du dich von Eschteef und den anderen Schrift schikanieren lassen.« »Woher weißt du das denn?« »Eschteef hat mich besucht.« Sie lachte. »Und du hättest sehen sollen, wie die Leute geguckt haben. Danach gingen meine Preise steil nach oben; die Fremden haben gedacht, wenn ich so gut bin, daß ich sogar ein Schrift reize . . .« Ich packte sie am Arm. »Warum?« »Warum was? Ach, warum Eschteef mich besucht hat? Der Dummkopf macht sich Sorgen um dich. Er hat gedacht, ein Angehöriger deiner Spezies könnte 269
ihm vielleicht raten, was man für dich tun kann.« Sie zuckte die Achseln. »Und da ich unter den Menschen deine einzige Freundin bin . . .« Ich richtete mich auf und ließ die Beine über den Bettrand hängen. Das war lächerlich. Ich hatte mein ganzes Leben nur Angst und Entbehrungen gekannt. Hier in Elweré könnte das vorbei sein. Ich könnte das alles endlich vergessen. Warum hörte ich Eschteef immer wieder sagen, du bist von meinem Schtann, David? Und Marie . . . »Ich muß weg von hier.« Ich schüttelte den Kopf. »Aber es gibt keine Möglichkeit. Vorläufig nicht. Vielleicht in ein paar Jahren. Wenn mein Vater glaubt, daß ich mich eingewöhnt habe, läßt er mich vielleicht gehen, aber . . .« Wieder schnaufte sie verächtlich. »Was immer du tust, nimm nur dein Leben nicht selbst in die Hand.« »Was soll das denn heißen?« Sie zeigte auf die Kiste. »In der Kiste ist Platz für uns beide. Es wird ein wenig eng sein, aber wenn du es wirklich ernst meinst ...»
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Ich dachte nicht erst lange darüber nach; ich nickte nur. Dann stand ich vom Bett auf und ging zur Service-Box. »Suchst du jemanden, der es dir ausredet? Ruf doch deinen Vater an, damit er dich daran hindert.« »Nein.« Ich beugte mich über die Service-Box. »Eine Feuerwaffe. Geladen, bitte. Und drei Ersatzmagazine.« »Ja, Senhor.« Sie machte große Augen. »Arnos?«
»Arnos.« Gina lächelte. »Bestell noch ein paar Juwelen, wo du gerade dabei bist. Hmmm, und etwas Musselin und Faden. Du brauchst einen Rock, der nicht so auffällt.« »Richtig.« Ich rannte in mein Arbeitszimmer und packte meinen Degen ein. Es war zu schön, als daß ich ihn in Elweré hätte lassen mögen. Die Kiste mochte für eine Person geräumig genug sein, aber für zwei war sie entsetzlich klein. An meinem einen Schenkel spürte ich schmerzhaft Ginas Hüftknochen, am anderen die Waffe.
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Und der Buzh, der uns transportierte, ging nicht gerade sanft mit der Kiste um. Endlich verstummte das Zischen des Transporters. »Heh, du da drinnen, wir sind draußen. Was bekomme ich von dir, wenn ich die Kiste aufmache?« »Laß mich raus!« schrie Gina. »Nun komm schon, du wirst einen armen Arbeiter doch eine Kleinigkeit geben . . .« Die Stimme ging in ein ersticktes Ächzen über; der Verschluß öffnete sich. »Nun, David? Gefällt dir die enge Kiste? Oder möchtest du lieber das Tageslicht sehen?« Die Seite öffnete sich und ein vertrautes Gesicht schaute uns an. »Eschteef!« »Gut geraten.« Gina kicherte und blinzelte in die grelle Sonne. Sie stieg von meinem Schoß und war draußen. Ich folgte ihr. Eschteef stand vor uns und umklammerte mit einer Hand die Kehle des Buzh. Das Gesicht des Mannes war dunkelrot, und seine Augen quollen hervor, als er vergeblich versuchte, Eschteefs Arm wegzustoßen. 272
»Woher wußtest du es?« fragte ich erstaunt.
»Du bist von meinem Schtann, David. Die Verbindung ist da, ob du es nun zugeben willst oder nicht. Ich habe dieser Gina gesagt, daß du kommen würdest.« Eschteef war höflich. Es sprach Basic, damit Gina ihn verstehen konnte. »Es wollte sogar mit mir wetten.« Gina lächelte mich an. »Aber das Risiko war mir zu groß.« Ich schaute in die sinkende Sonne und griff an meine Waffe. »Ich gehe jetzt besser.« »Nein, Kleines. Nicht heute.« Es ließ den Mann los, der keuchend zu Boden sank. »Es ist zu kurz vor Sonnenuntergang. Wir werden uns morgen mit Arnos van Ingstrand beschäftigen.« »Wir?« »Ja, David, wir. Du bist von meinem Schtann, und Arnos van Ingstrand hat dich bedroht. Aber jetzt müssen wir uns überlegen, wo du heute nacht schlafen wirst.« »Ich dachte, ich bleibe zu Hause.« Zu Hause. Das klang seltsam, aber Eschteefs Sackgasse war mein Zuhause, verdammt noch mal. Nicht Elweré. »Nein. Ich werde bis morgen mittag mit einer Arbeit beschäftigt sein; du würdest nicht schlafen können.« 273
»Es macht mir nichts aus, wenn ich nicht schlafen kann.« Gina stieß mir den Ellbogen in die Seite. »Wenn du doch nicht schlafen willst, könntest du es dann nicht woanders tun? Das heißt natürlich, wenn du etwas Geld hast. Ich bin nachts nicht sehr billig, wie du weißt.« »Fein«, sagte ich lächelnd, nahm einen Diamanten aus meinem Beutel und warf ihn ihr zu. »Reicht das?« »Fürs erste ja.« Eschteef zischte. »Das wirst du mir alles einmal erklären müssen.« Gina legte den Kopf schief. »Wenn du erst fragen mußt, wirst du es nicht verstehen. Laß uns gehen.«
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Sechstes Zwischenspiel Eschteef Sie werden das Kind nicht in Ruhe lassen, dachte Eschteef, als er an seiner Werkbank saß. Zwei Gruppen würden ihn verfolgen: die Elwerianer, die David wahrscheinlich in die Stadt zurückholen wollten; und Arnos van Ingstrands Schutzgesellschaft, die den Jungen dafür bestrafen wollte, daß er van Ingstrands Brosche gestohlen hatte. Mit den Elwerianern konnte man fertig werden. Es gab kein Cherat zwischen ihnen und David; sie konnte man schon täuschen, wenn man nur das Äußere des Kindes veränderte. Möglicherweise konnte Eschteef auch das Gerücht ausstreuen, daß David Oroga verlassen habe. Hmm . . . das war nicht schwer. Aber selbst wenn sich die Elwerianer nicht täuschen ließen, würde David im schlimmsten Fall für einige Zeit in die Stadt zurückkehren müssen. Er war nicht in Gefahr, es könnte allerdings schwierig sein, ihn wieder herauszubekommen. Das könnte eine Verzögerung von einigen Jahren bedeuten.
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Hmmm . . . Oroga zu verlassen, hätte schon seine Vorteile. Aber dazu müßte man das Kind erst an den Wachen der Schutzgesellschaft in der Nähe des Hafens vorbeischaffen. Außerdem müßte man David davon überzeugen, daß es für ihn das beste wäre, Oroga zu verlassen. Und zuerst müßte man entscheiden, ob es das beste wäre oder ob er lieber hierbleiben sollte. Hier war David wenigstens mit Mitgliedern des Schtann und mit Angehörigen seiner Spezies zusammen; auf Schriftalt würde David es nur mit den Mitgliedern des Schtann zu tun haben, und sie würden ihn nicht als Mitglied anerkennen. David empfand immer noch kein Cherat mit den übrigen Mitgliedern des Schtann. Eschteef lehnte sich zurück und genoß das intensive Cherat und seine Wärme. Irgend etwas mußte mit dem Kind geschehen; es war nicht recht, daß David nicht so empfinden konnte wie die anderen. Man konnte nicht wissen, wie lange es dauern würde, bis sich zwischen David und den anderen ein Cherat entwickeln würde; noch nie war ein menschliches Wesen Mitglied des Schtann gewesen.
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Vielleicht würde David in diese gedankliche Verbindung erst hereinwachsen müssen. Das könnte einige Zeit in Anspruch nehmen. Inzwischen mußte man sich immer noch wegen Amos van Ingstrand Sorgen machen. Möglicherweise ließ van Ingstrand David in Ruhe, weil er die Rache des Wesens fürchtete, das für David den beweglichen Teil des Eis zur Verfügung gestellt hatte. Andererseits ließ van Ingstrand das Kind aus diesem Grunde vielleicht doch nicht in Ruhe, sondern war nur vorsichtiger. Das war nicht gut, und das war nicht zu akzeptieren. Aber das Kind war vom Schtann, und van Ingstrand würde den Schtann fürchten . . . aber nur, wenn das Menschenwesen wirklich daran glaubte. Und wie kann es glauben, daß David von meinem Schtann ist? Wie kann ich erreichen, daß Amos von Ingstrand daran glaubt, wenn sogar Hrotisft zweifelt? Aber es mußte eine Lösung geben. Das Kind hatte Amos van Ingstrand Geld und Ansehen gekostet. Das Geld konnte ersetzt werden, aber das Ansehen... Eschteefs Blick fiel auf das Chrostith. Es sei denn… 277
Kapitel elf ›Wir hörten dich . . .‹ Langsam erwachte ich im Licht des frühen Morgens. Gina schlief noch neben mir. Die ersten Sonnenstrahlen fielen durch das Fenster herein auf das Bett. Ich war erst halb wach, aber mein Verstand fing schon an zu arbeiten. Ich würde nicht nach Elweré zurückgehen. Das war nur ein weiteres Gefängnis. Es war zwar sicherer und bequemer als mit Carlos zusammenzuleben, aber es war eben auch nur ein Käfig. Aber hier konnte ich nicht bleiben, nicht, nachdem Eschteef und ich Arnos van Ingstrand getötet hatten; das würde seinen Leuten nicht sehr gefallen, und meinen Vater konnte ich nicht um Schutz bitten. Ich konnte ihn um überhaupt nichts bitten. Er würde mich nicht verstehen. Elweré war gut - vielleicht war es gut - für ihn und Emilita. Aber nicht für mich. Ich ließ meinen Kopf auf das Kissen zurücksinken. Nicht für mich.
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Ich könnte ebensogut noch eine Weile schlafen,
dachte ich. Mit Eschteef würde ich erst sprechen können, wenn er mit seiner Arbeit fertig war. Außerdem mußte ich Gina zum Einkaufen schicken, bevor ich das Haus verließ; ohne Make-up auf die Straße zu gehen, bedeutete, Schwierigkeiten geradezu heraufzubeschwören. Ich schlief ein.
Ich träumte, und während ich träumte, schrumpfte der Raum, in dem ich mich befand, und der fette Mensch vor mir wurde kleiner als ich statt größer. Waren mir die Arme auf den Rücken gefesselt? Aus irgendeinem Grund verhandelte ich mit van Ingstrand um meine Freiheit und versuchte, ihm seine Rache für etwas abzukaufen, das noch nie ein Mensch besessen hatte. Das war albern; abzukaufen, war Verhaltensweise.
jemandem keine
seine Rache menschliche
Er wußte das. Er lächelte, hob ein Messer und stieß es mir in die lederartige Brust, immer wieder.
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Erschrocken wachte ich auf. Eschteef! »Nein.« Es war kein Traum. Van Ingstrand hatte Eschteef. Er quälte es. Aber wie? Warum?
Das spielte keine Rolle. Rasch zog ich mich an und schnallte mir den Gürtel um. Ich steckte meine Feuerwaffe ein, nahm die Ersatzmagazine und steckte sie in meinen Beutel, während ich aus dem Zimmer rannte. Ich hatte die vage Vision eines immer wieder zustoßenden Messers vor den Augen, als ich durch die Halle stürzte und die Treppen hinunterrannte; ich taumelte und wäre fast gestürzt. Als ich die Straße erreichte, Gedankenverbindung abgeschnitten.
war
die
Eschteef war tot, und ich war wieder ganz allein. Nein - Moment. Vielleicht war es nur bewußtlos. Ich hatte nicht genug Erfahrung mit dem Cherat; vielleicht konnte es einen bewußtlosen Verstand nicht erreichen. Ich fühlte mich kalt und elend. Normal. Gina schrie hinter mir her, als ich auf dem harten kalten Boden die Straße hinunterrannte. Immer wieder trat ich auf Steine und mußte halb hüpfen, halb laufen. 280
Aber ich ignorierte die Schmerzen. Ich mußte nachdenken. Wenn Eschteef nicht tot war, mußte ich schnell bei ihm sein. Wenn ich es schaffte. Wenn ich in das Haus eindringen konnte, wenn ich an von Ingstrands Wachen vorbeikam, wenn einer vom Schtann sein Leben noch retten konnte - wenn, wenn, wenn. Das Leben sollte nicht immer von diesen verdammten Wenns abhängen. Halt! Ich konnte mich nicht als Teil des Schtann empfinden, aber Eschteef war kein Krüppel. Selbst wenn die gedankliche Verbindung nicht funktionierte, wenn es bewußtlos war, mußte der Schtann Eschteef vorher gehört haben, als auch ich ihn hörte; andere würden schon unterwegs sein, um ihm zu helfen. Ich lief langsamer und starrte die Passanten giftig an, die mir neugierige Blicke zuwarfen. Ich mußte überlegen. Vielleicht sollte ich die Dinge vorläufig auf sich beruhen lassen. Wenn der Schtann in van Ingstrands Haus eindrang, sollte ich vielleicht besser nicht dort sein. Die Schrift würden mich nicht notwendigerweise als Freund betrachten. Vielleicht würden sie mich gar nicht erkennen. Ich blieb am Brunnen stehen und spritze mir etwas Wasser ins Gesicht. Weiter hinten auf dem Platz stand Arno, der Mannafruchtverkäufer. Er winkte 281
und schrie mir etwas zu, aber er vermied es, mich bei meinem Namen zu rufen. Vielleicht sollte ich zu Arno hinübergehen und mit ihm sprechen. Sollten sich doch die Schrift um van Ingstrand kümmern. Sollten sie sich doch für mich rächen, für Marie und Eschteef und selbst für Carlos. Richtig. Ich brauchte nichts zu unternehmen. Sie sollten es tun. Was schuldete ich Eschteef denn? Es hatte mich angekettet und mir mit dem Tode gedroht. Und mich gezwungen zu lernen, wie man Schönheit schafft. Und es hatte versucht, mich aus dem Gefängnis meiner Gedanken zu befreien. Eschteef hatte an mich geglaubt und mir vertraut und war jetzt wahrscheinlich meinetwegen gestorben. Nein. Ich würde van Ingstrand nicht dem Schtann überlassen. Ich rannte los. Van Ingstrands Haus lag ungefähr am Ende der Bäckerstraße. Es war eines von einem Dutzend ähnlicher Buzh-Häuser und stand zehn Meter von den anderen entfernt, als hätten diese sich ängstlich vor ihm zurückgezogen. 282
Ich duckte mich hinter eine benachbarte Veranda, um Atem zu holen. Mein Herz klopfte wild. Ich mußte mich erst ein wenig beruhigen. Wie konnte ich in das Haus gelangen? Auf den ersten Blick sah ich keine Möglichkeit; die Fenster waren vergittert und die Läden geschlossen und wahrscheinlich von innen verriegelt. Die große Vordertür war geschlossen und mit Sicherheit bewacht. Und wo zur Hölle war der Schtann? Auf der Straße war niemand zu sehen. Mindestens ein Dutzend Schrift hätten jetzt damit beschäftigt sein müssen, van Ingstrands Türen einzuschlagen. Vielleicht hatten sie Eschteef nicht gehört. Vielleicht hatte Eschteefs gedankliche Verbindung mit mir das Cherat mit dem Rest des Schtann unterbrochen. War das möglich? Ich wußte es nicht. Ich war darüber einfach nicht genügend informiert. Aber ich durfte mich nicht darauf verlassen, daß der Schtann Eschteef dort herausholte, wenn es überhaupt noch lebte, oder daß er seinen Tod rächte. Ich würde es tun. Und nicht nur für Eschteef. Auch für Marie und mich - und sogar für Carlos.
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Ich rannte hinter van Ingstrands Haus. Das Mauerwerk war zerfurcht. Es gab viele Stellen, an denen Finger oder Füße Halt finden konnten. Ich wünschte mir sehnlich meine Kletterhandschuhe her, als ich mich zum Dach hocharbeitete, wo ich erschöpft liegenblieb. Aber ich hatte keine Zeit, mich auszuruhen. Ich stand auf. Außer einer Klapptür war auf dem Dach nichts zu sehen. Ich zog kurz daran und merkte, daß sie von innen verriegelt war. Achselzuckend zog ich meine Waffe. Mir ihr konnte ich die Verriegelung und die Scharniere knacken. Aber es mußte schnell geschehen. Ich mußte so schnell wie möglich ins Haus, wenn ich die Tür gesprengt hatte. Ich schaltete den Strom ein, entsicherte die Waffe und nahm eines der Ersatzmagazine zwischen die Zähne. Wenn der schwache Stromstoß das erste Silcohalcoid-Geschoß auslöste, würde der haarfeine Draht sofort seine normale Gestalt annehmen und aus dem Lauf zischen. Der Rückstoß würde dann das nächste Geschoß in Position bringen. Ich mußte die Waffe gut festhalten und sorgfältig zielen.
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Ganz leicht berührte ich den Abzug. Die Waffe zuckte in meiner Hand und zog eine Linie über das Dach, aber die Verriegelung blieb heil. Das war nicht gut. Ich umklammerte den Griff der Waffe und zielte genau auf die Scharniere der Klapptür. Diesmal funktionierte es; der Draht riß eines der Scharniere in Fetzen. Ich zielte auf das andere, das ebenfalls sofort abriß. Das Magazin war leer. Ich ließ es aus dem Griff gleiten und schob das andere ein. Ich durfte keinen Fehler machen. Als ich gegen die Tür trat, rutschte sie nach unten. Noch ein Tritt, und sie fiel in das Gebäude. Sofort sprang ich hinterher. Direkt in ein Netz. Von irgendwo schlug mir eine Faust die Waffe aus der Hand. Dann erinnere ich mich nur noch an Fußtritte. Diesmal wachte ich sehr schnell wieder auf und sah Arnos van Ingstrands feistes Gesicht vor mir. Er grinste tückisch. »Es ist gut, dich zu sehen, David.« Eine flossenähnliche Hand tätschelte mir die Wange. »Auf diesen Augenblick habe ich lange gewartet.« Wieder grinste er.
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Ich lag auf dem Rücken und mußte zu ihm aufschauen. Meine Hände waren über meinem Kopf gefesselt, und an der Hüfte, den Knien und den Fußgelenken war ich festgeschnallt. Hinter van Ingstrands Kopf sah ich mich in einem Deckenspiegel. Ich sah nicht gut aus. Meine rechte Gesichtshälfte war geschwollen und blutunterlaufen; aus verschiedenen Wunden war meine Kleidung blutbeschmiert. Ich stöhnte vor Schmerzen und hatte einen salzigen Geschmack im Mund. Mit der Zunge fühlte ich die Reste ausgeschlagener Zähne im Unterkiefer. Van Ingstrand drehte sich zu jemanden um, der außerhalb meines Gesichtskreises stand. »Er ist ziemlich still, nicht wahr?« Er lächelte, und sein breites, fast cherubinisches Gesicht glänzte im Kerzenlicht vor Schweiß. »Hast du mir denn gar nichts zu sagen?« Ich bespuckte ihn mit Zahnbrocken und hustete, denn ein Stück war in die falsche Richtung gegangen. Es war sinnlos, etwas zu sagen; die Freude wollte ich ihm nicht machen. »Hast du mir wirklich nichts zu sagen?« wiederholte er. »Ich hatte mich schon darauf gefreut, daß du mir mit deinem
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Vater drohen würdest. Daß er nicht zulassen würde, daß dir etwas geschieht.« Ich schöpfte Hoffnung. Das stimmte! Das würde mein Vater nicht zulassen; wenn ich in der Unterstadt einfach verschwand, würde er sofort an Arnos van Ingstrand denken. Und van Ingstrand wußte das; er würde es nicht wagen . . . Van Ingstrand lächelte. »Aber dir wird etwas geschehen.« Er zog ein flaches Rechteck aus der Tasche. »Ein Ticket für die Abreise von Oroga, David. Dein Ticket. Offiziell fliegst du in ein paar Stunden ab. In Wirklichkeit aber wirst du noch viele Tage bleiben. Viele Tage.« Sein breites Gesicht sah ganz unschuldig aus. »Ihr Sohn, Senhor? Natürlich würde ich dem jungen Burschen niemals auch nur ein Haar krümmen. Soll ich Ihnen helfen, ihn zu finden? Die Schutzgesellschaft steht Ihnen ganz zur Verfügung.« Er ließ die Maske fallen. »Bring die Kerze näher heran«, sagte er. »Es macht nichts, wenn der kleine David ein paar Tropfen abbekommt. Er wird lange bei uns bleiben.« »Mit ihm werden wir uns sehr viel Zeit lassen, Senhor«, sagte der andere. »Es wird nicht wieder so schnell gehen wie bei Owen. Das verspreche ich Ihnen.« 287
Van Ingstrand nickte. »Ich habe hier einen elwerianischen Arztkoffer, David. Mit dir wird es Tage dauern. Vielleicht« - mit einem fleischigen Geräusch klatschte er in die Hände - »Wochen. Außer Mikos hier wird vielleicht nie jemand erfahren, was ich mit dem Jungen gemacht habe, der mich bestohlen hat. Aber das ist unwichtig. Alle wissen, was ich mit Carlos und dem kleinen Mädchen gemacht habe. Was dir geschieht, wird unser kleines Geheimnis bleiben.« Er nahm ein Skalpell auf und stach mir damit in den Arm. Ich öffnete den Mund und wollte schreien, aber van Ingstrand steckte mir einen Lappen in den Mund, an dem ich fast erstickt wäre. »Du willst also nicht sprechen?« Er wandte sein freundliches Gesicht seinem Assistenten zu. »Was ist denn, Mikos?« »Hmm, Senhor van Ingstrand. Diese andere Leiche macht mich ein bißchen nervös. Soll ich sie wegschaffen lassen?« »Keine Aufregung, Mikos. Ich war schon immer überzeugt, daß die telepathischen Fähigkeiten der Schrift überschätzt werden. Sag den Wachen, sie sollen die Augen aufmachen und die Waffen bereithalten. Wenn eine von den Eidechsen hier
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eindringt, kann sie sich zu David auf den Tisch legen.« »Ja, Senhor.«
Arnos van Ingstrand watschelte außer Sicht. »Ich muß dir etwas zeigen, bevor wir anfangen.« Ein elektrisch betriebenes Messer heulte auf. »Soll ich den Tisch hochkippen?« fragte Mikos.
»Gute Idee. Er soll alles sehen.« Van Ingstrands Stimme klang ganz begeistert. Ich hörte ein metallenes Geräusch hinter mir, und der Tisch richtete sich auf. Wenn sie mich nicht angeschnallt hätten, wäre ich herabgefallen, aber so hing ich nur in den Gurten. Vor mir sah ich, wie Arnos van Ingstrand Eschteef den Hals durchsägte. Er keuchte dabei vor Anstrengung. Langsam floß Blut aus der Wunde. »Oh, er weint, Mikos. Wisch ihm die Augen ab. Er soll es sehen. Alles.« Ich schloß die Augen. Mach, daß die Schmerzen aufhören. Die Spitze eines Messers berührte meinen Hals. »Mach die Augen auf. Senhor van Ingstrand will, daß du es siehst.« Ich riß die Augen auf.
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Der Raum war dunkel und hatte keine Fenster; wahrscheinlich waren wir im Keller unter van Ingstrands Haus. Die Tür war aus Eisen und von innen verriegelt. Die einzige Beleuchtung waren zwei Kandelaber, einer unter der Decke und einer auf einem Tisch zu meiner Rechten. Es gab keine Fluchtmöglichkeit. Selbst wenn ich nicht angeschnallt gewesen wäre, hätten Mikos oder van Ingstrand mich ergriffen, bevor ich die Tür erreicht hätte. Meine Rippen schmerzten beim Atmen. In meiner jetzigen Verfassung hätte ich weder kämpfen noch laufen können. Van Ingstrand schaute mich an und lachte. »Ich hätte hier unten elektrisches Licht installieren lassen können . . .« Die Säge surrte. ». . . aber die Wirkung der Kerzen ist doch ganz angenehm, nicht wahr?« Er hob den abgesägten Kopf auf und zeigte ihn mir. Eschteefs sonst so wache Augen starrten mich glasig an. »So wird Dummheit belohnt, David. Dein Freund kam zu mir. Er wollte mir meine Rache an dir abkaufen. Er sagte, er würde mir Gold und Silber und Juwelen geben. Er versprach, daß du nichts gegen mich unternehmen würdest, weil ich deine Freunde getötet habe. Er verlangte nur, daß ich dich
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in Ruhe lasse. Er hielt das Ganze für ein Geschäft, das er mit mir abschließen könnte.« Van Ingstrand stellte den Kopf auf den Fußboden. »Es ist kein Geschäft; es ist nicht einmal mein Hobby. Nicht bei dir, David. Dies wird etwas . . . Besonderes sein.« Selbst wenn ich meine Klinge gehabt hätte und sie hätte aufschnappen lassen können, wäre es mir unmöglich gewesen, mich zu befreien. Es gab keine Rettung. Hier auf den Tisch geschnallt würde ich sterben, und ich würde allein sterben. Allein. So wie ich gelebt hatte. Es gab nur eine Chance, nur einen Ausweg. Wenn ich mich jetzt als Mitglied des Schtann empfinden könnte, würde ich das Cherat benutzen, den anderen mein Elend mitzuteilen. Wenn das Cherat zwischen ihnen und mir funktionierte, würden sie mir vielleicht zur Hilfe kommen. Ich mußte Möglichkeit.
es
tun.
Es
gab
keine
andere
Aber ich konnte es nicht. Das bedeutete, daß ich auf grauenhafte Weise sterben mußte; das bedeutete, daß die einzigen Wesen, die ich je geliebt hatte,
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ungerächt bleiben würden. Aber es ging nicht. Ich empfand kein Cherat. Wie kann man sich zwingen, etwas zu empfinden? Man kann es nicht, nicht einmal, wenn es etwas ist, das man eigentlich empfinden müßte. Nicht einmal, wenn das eigene Leben davon abhängt. »Aber natürlich hat das Ganze auch eine geschäftliche Seite, David«, sagte er und verschwand wieder aus meinem Gesichtsfeld. »Ich werde jetzt respektiert. Mehr als je zuvor. Die Leute wissen, was mit Carlos und der kleinen Marie passiert ist.« Er kicherte. »Weißt du, womit dein schleimiger Freund dich loskaufen wollte?« Ich hörte ein Geräusch, als tippe er mit dem Fingernagel auf eine Metallschale. Van Ingstrand kam um den Tisch herum und hatte Eschteefs Chrostith in der Hand. In der anderen hielt er einen Hammer. »Mit diesem Wasserkrug. Den bot die dreckige Eidechse mir an, als sei es etwas Besonders. Es sagte, den Krug hätte es noch niemandem angeboten - dabei ist es nur ein gewöhnlicher Krug!« Er ließ ihn aus den Fingern gleiten und auf den Fußboden fallen. Der Krug hüpfte ein paarmal hoch, und jedes Mal schnitt es mir ins Herz.
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»Nur ein dummer Krug!« Van Ingstrand hob den Hammer. Nein, nur das nicht! Bitte! Wir müssen alle sterben. Daran führt kein Weg vorbei, nicht für Marie und Carlos und Eschteef und auch nicht für mich. Aber die Schönheit, die wir erschaffen haben . . . die muß weiterleben. Sie muß. »Bitte, tun Sie das nicht.«
Er nickte. »Endlich eine Reaktion, was?« Er schlug mit dem Hammer leicht gegen Eschteefs Chrostith. Er gelang mir nicht einmal, die Augen zu schließen. »Nein! Tun Sie es nicht!« Wieder hob van Ingstrand den Hammer. Er ließ
ihn auf den Krug niedersausen. Er war verbeult wie dünnes Blech. Ich erstickte fast vor Schmerz und Wut. Verglichen damit, waren meine körperlichen Schmerzen ohne Bedeutung. Ich versuchte, mich aus den Gurten zu befreien. Dies durfte nicht sein. Ich mußte es verhindern. Tötet mich, aber bitte nicht das. Ich werde nicht zulassen . . . Irgend etwas in mir zerbrach. Meine Gedanken waren nicht mehr blockiert. Es war, als seien sie nie blockiert gewesen. 293
Ich war nicht mehr allein. Der Schtann - nein, mein Schtann - war bei mir. Wie es schon immer hätte sein können, wenn ich mich nur bemüht hätte. Und so würde es mein Leben lang bleiben und darüber hinaus. »Wir kommen, David«, sagte Hrotisft. »In wenigen Augenblicken sind wir da.« Sthtasfth protestierte. »Nein. Van Ingstrand wird uns kommen hören; er muß abgelenkt werden.« »Fühlt mit ihm«, unterbrach Threstast. »Das Kind wird schwächer; es muß gestärkt werden.« »Ja.« Meine Gedanken sangen eine Hymne der Wärme und der Liebe. Ein beglückendes Gefühl der Sicherheit umfing mich. Auf dem Fußboden über uns hörte ich Geräusche. Van Ingstrand schaute zur Tür. »Sieh mich an, Arnos van Ingstrand«, sagte mein Mund, und ich war erstaunt über die Kraft meiner Stimme. Und über die Worte. Woher kamen sie? Ich versuchte überhaupt nicht zu sprechen. »Was?« Er drehte sich erschrocken zu mir um. »Was glaubst du . . .«
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Ich lächelte durch meine ramponierten Zähne. »Sie werden niemandem von meinem Schtann mehr schaden. Nie mehr.« Er wurde leichenblaß. »Aber du . . .« »Die Toten können niemandem schaden.« Die eiserne Tür wurde nach innen aufgestoßen, und die Riegel und die Angeln barsten. Wie eine graue Flut drängten sich die Schrift in den Raum und trugen van Ingstrand und seinen Assistenten davon. Sie konnten nur noch laut aufschreien. Ich hörte, wie starke Hände und scharfe Zähne ihr Fleisch zerrissen. Während die übrigen Mitglieder des Schtann aßen, trat Hrotisft von hinten zu mir an den Tisch. Blut floß ihm vom Mund. »Eschteef hatte doch recht, keh?« sagte er. »Ich hätte es wissen müssen.« Seine alten Hände bewegten sich ganz sicher, als er mich losschnallte. Ich versuchte, meine Schmerzen zu vergessen. Es gab so viel zu sagen, und ich mußte so vieles fragen. Aber ich war zu schwer verletzt. Mein rechter Knöchel mußte gebrochen sein, als van Ingstrands Wachen mich bewußtlos traten. Ich taumelte und wäre fast gestürzt.
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Sofort war Sthtasfth bei mir und stützte mich mit seinem kräftigen Arm. Auch ihm lief Blut vom Kinn. Mit der anderen Hand nahm es den Arztkoffer vom Fußboden hoch und riß ihn auf, ohne erst den Verschluß zu öffnen. »Weißt du, wie man mit diesen Dingen umgeht, David?« fragte es. »Mir fehlen solche Kenntnisse.« »Valda-Öl«, sagte Hrotisft. »In dem Koffer muß ein Fläschchen Valda-Öl sein. Das wird die Schmerzen lindern.« »Aber es macht müde«, sagte Rhathsfoosf. »Und das Menschenwesen hat zuviele Verletzungen.« Es legte seine trockene Hand auf meine Stirn. »Wir müssen es zu einem seiner Spezies bringen.« »Zum Träger des Brutteiches«, schlug Trestast vor. »Dem weiblichen Wesen, von dem Eschteef gesprochen hat - es könnte ihm vielleicht helfen.« »Ja«, sagte ich, und der Raum schien sich um mich zu drehen. »Gina. Bringt mich zu Gina.«
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Kapitel zwölf ›Dies ist nur ein Stück Silber ...‹ Ich saß auf dem Bett in der Nähe des Fensters und hielt das zerbeulte Stück Silber in den Armen. Die Schmerzen waren verschwunden, wenigstens die körperlichen. Während ich bewußtlos war, hatte Gina mich sehr gut versorgt, aber sehr viel hatte sie gar nicht zu tun gehabt. Mein Knöchel war nur verstaucht, und die Wunden brauchten nur ein paar Stiche. Sie hatte mir ein paar Zahnreste ziehen müssen, aber sie hatte die Wunden verätzt, und das Valda-Öl hatte die Schmerzen beseitigt. Natürlich brauchte ich Erholung, aber das war jetzt meine geringste Sorge. Ich ignorierte die drei im Raum Anwesenden und schaute durch das vergitterte Fenster in die Nacht hinaus. Vor dem Sternenmeer hoben sich die Silhouetten von drei jagenden t'Tant ab. Unter ihnen breitete sich die Unterstadt in der Dunkelheit aus. »David«, sagte Hrotisft. »Wir müssen reden.«
»Was gibt es denn noch zu reden?« Ich legte Eschteefs zertrümmertes Chrostith auf das Bett. 297
»Du mußt ihnen zuhören«, sagte Gina und nahm meine Hand. »Du mußt uns zuhören«, sagte Sthtasfth. »Wir sind eins, David.« Es griff in seinen Beutel und holte ein fein gearbeitetes Schmuckstück aus Jade hervor. »Das ist mein Chrostith«, sagte es und betrachtete die mikroskopisch feinen Linien auf der Oberfläche. »Mein zweites. Es ist schöner als mein erstes, aber nicht so schön, wie mein drittes sein wird. Freue dich gemeinsam mit mir daran.« Ich spürte Sthtasfths Freude. Es hatte lange und hart an dem Schmuck gearbeitet und Silberblech und Jade in ein kleines Wunder verwandelt. Und ich hatte gedankliche Verbindung mit allen anderen Mitgliedern des Schtann, nicht nur hier sondern auf anderen am Himmel verstreuten Welten, und ich empfand deutlich, wie sie sich mit mir über Sthtasfths Arbeit freuten. Ich war bei all den anderen: den Lebenden, den Toten und denen, die noch leben sollten. Ja, jetzt war ich Teil des Schtann, aber das war nicht genug. Ich hatte alles zerstört. Für mich, für Marie, für Eschteef. »Trauere nur um deine Freunde, wenn es sein muß, David. Ich verstehe, daß es den Menschenwesen wohltut, um diejenigen zu trauern, 298
die sie geliebt haben. Aber um Eschteef brauchst du nicht zu trauern. Es wollte dich bei van Ingstrand freikaufen oder durch seinen Tod die Schranken öffnen, die dich von uns trennten.« Hrotisft nahm die Reste von Eschteefs Chrostith in die Hand, betrachtete das Silber eine Weile und gab es dann mir. »Es war zwar die Zerstörung dieses Kruges und nicht Eschteefs Tod, wodurch das erreicht wurde, aber vergiß nicht, daß Eschteef sein Spiel gewonnen hat. Du darfst nicht um es trauen. Noch im Tod hat es seinem Schtann gut gedient. Kann man mehr verlangen?« Ich betrachtete Eschteefs Chrostith. Es war so wunderschön gewesen. »Hier kann er nicht bleiben«, sagte Gina. »Der heutige Abend ist kein Problem, aber wenn sein Vater David findet, wird er ihn zwingen, nach Elweré zurückzugehen. Dort würde er verrückt werden. Außerdem hat die Schutzgesellschaft noch mehr Leute als Amos van Ingstrand und die anderen, die ihr getötet habt; ihr müßt auf den Mann achten, der an van Ingstrands Stelle treten wird.« Hrotisft schnaufte nur. »Das Problem läßt sich lösen. Der Schtann bezahlt für David ein Ticket, damit er Oroga verlassen kann. Er kann schon morgen fliegen.« 299
Oroga verlassen? Wohin? Wohin läuft man, wenn man vor sich selbst weglaufen will? Hrotisft zeigte auf das Fenster. »Sieh nur.« Oben funkelten die Sterne. »Dort draußen gibt es mehr als tausend Welten, David. Und auf vielen von ihnen lebt der Schtann. Du mußt noch viel lernen, kleines Menschenwesen, und mir bleiben noch einige Jahre, in denen ich dich lehren kann.« »Aber was machen wir?« »Heute abend kannst du deine Toten betrauern, wenn es sein muß. Morgen reisen wir nach Schriftalt. Du mußt mit möglichst vielen Mitgliedern deines Schtann zusammensein. Und wer weiß, was du dann tun wirst? Ich habe gehört, daß auch auf der Erde gute Arbeit gebraucht wird.« »Das habe ich auch gehört«, sagte Sthtasfth. »Außerdem ist David ein Menschenwesen. Es wäre gut für ihn, die Welt kennenzulernen, von der seine Spezies gekommen ist.« »Ich werde sie David zeigen. Und ich werde sie mit seinen Augen sehen.« »Begleitest du mich denn?« »Natürlich«, zischte Hrotisft. »Du bist viel zu jung und schwach und unwissend, als daß man dich alleinlassen könnte.« 300
»Und ich werde auch mitgehen«, sagte Sthtasfth. »Du bist viel zu alt, um ihm Präzisionsarbeit beibringen zu können, Hrotisft. Die Jungen müssen von anderen lernen.« »Und du wirst sein großer Lehrer sein, Sthtasfth«, zischte Hrotisft. »Natürlich. Bist du damit einverstanden, David?« Ich antwortete nicht. Ich hielt immer noch den zerstörten Krug im Arm. »Gib mir das Silber«, sagte Hrotisft. »Wie es jetzt ist, ist es nutzlos. Es wird eingeschmolzen und wieder in Schönheit verwandelt werden.« »Aber es ist Eschteefs Chrostith«, prostestierte ich und hielt den Krug noch fester. »Du kannst Eschteefs Chrostith nicht einschmelzen, nicht sein Meisterwerk. Das kannst du nicht.« »Du hast recht, das kann ich nicht. Und das würde ich auch nicht tun.« Sthtasfth legte mir die Hand auf die Schulter. »Natürlich nicht. Eschteefs Chrostith wird von Jahr zu Jahr besser werden. Es ist endlich, was es sein sollte, Teil seines Schtann. Und sein Schtann wird es lehren und für es sorgen und das Beste von 301
ihm verlangen. Ich sehe interessante Zeiten für Eschteefs Chrostith voraus, David.« »Ich . . . verstehe nicht.« »David«, sagte Hrotisft. »Dies ist nur ein Stück Silber. Du bist Eschteefs Chrostith.« ENDE
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Anhang
Auszug aus Delavestas Taschenenzyklopädie der Tausend Welten, verbesserte Normalausgabe für die Erde (Neue Amerikanische Bibliothek, 2519; LOTW Call Nr. NSR2404):
Oroga ist der einzige bewohnte Planet von Kaufmans Anderem Stern (Freusen Durchmusterung Katalog Nr. 4 322 210 351), einem roten Kl-Stern mit einer Leuchtkraft von 0,252, einer Masse von 0,725 und einem Radius von 0,78, bezogen auf die Sonne . . . Orogas mittlerer Bahnradius beträgt 7,176 mal 1010 m, etwa 0,48 astronomische Einheiten. Während der Durchmesser des Hauptgestirns etwa drei Viertel dessen der Sonne beträgt, erscheint es 303
dem Betrachter von Oroga aus gesehen viel größer als die Sonne von der Erde: Kaufmans Anderer Stern nimmt fast neun Zehntel Grad des Himmels ein und erscheint dreimal so groß wie die Sonne von der Erde aus gesehen. Die Umlaufbahn des Planeten ist fast genau kreisförmig; die Exzentrizität beträgt nur 0,00059. . . Zusammen mit der geringen Neigung von 5 Grad führt das dazu, daß es auf Oroga praktisch keine Jahreszeiten gibt. Die Atmosphäre läßt sich ohne prothetische Hilfen oder chirurgische Veränderung atmen . . . sie ist etwas reicher an Sauerstoff als die der Erde (26%), ärmer an Stickstoff (72%) und reicher an Kohlendioxyd (0,35%). Sie enthält große, aber nicht gesundheitsschädliche Mengen von Argon, Xenon, Neon und Schwefeloxyden . . . Die Planetenoberfläche besteht zu 73% aus Wasser. Von den drei größeren Landmassen ist nur ein kleiner Teil der am weitesten nördlich gelegenen von Menschen bewohnt. Der Rest wird von den t'Tant bevölkert, einer quasi-vernunftbegabten Spezies ... Da die t'Tant keine Zivilisation geschaffen haben, basieren Schätzungen der Population auf Photos aus einer Umlaufbahn . . . Die
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Schätzungen schwanken zwischen weniger als einer Milliarde und 1,5 Milliarden. Der größte Teil der menschlichen Bevölkerung lebt entweder in Elwere, der einzigen Stadt Orogas, oder innerhalb eines Umkreises von tausend Kilometern um sie herum. Allerdings gibt es überall auf dem bewohnten Kontinent kleine Ackerbaugemeinden. Die letzte offizielle Zählung gibt die Bevölkerung mit 259 267 an, wobei nur diejenigen Bürger gezählt wurden, die direkt in Elweré wohnen; die Bewohner der Gebiete um Elweré herum - der Mittelstadt und der Unterstadt, wie sie örtlich genannt werden - sind juristisch keine Bürger Orogas . . . das gilt auch für die Arbeiter auf den Valda- und sonstigen Plantagen. Die tatsächliche menschliche Bevölkerung wird auf annähernd vier Millionen geschätzt. Es gibt eine der Zahl nach schwankende Bevölkerung von Schrift, die fast alle dem Schtann der Metall- und Juwelenarbeiter angehören und die Schmuck für die Elwerianer herstellen. Weitere vernunftbegabte Arten werden auf Oroga nicht vermutet. Elweré stellt auf dem Markt der Tausend Welten eine robuste und erfolgreiche Handelsnation da, die große Mengen von elek tronischen Geräten, Arzneimitteln, Plastik, 305
Luxuslebensmitteln, Kunstgegenstände und Baumerial einführt - das letzte aus politischen Erwägungen und nicht etwa, weil daran Mangel herrscht, denn die Elwerianer verfügen über enorme, aber unerschlossene Bodenschätze . . . Die Elwerianer ziehen es vor, ihre industrielle Basis möglichst klein zu halten, und lassen die meisten Arbeiten von Fremden ausführen, die bei ihnen unter Vertrag stehen. Sie können sich das leisten. Sie exportieren zwar geringe Mengen Silber, aber zur Hauptsache stützt sich die oroganische Wirtschaft auf den Export von Valda-Öl, das aus den Schoten der Valda-Planze (Xenocamellia nuevo valda) gewonnen wird. Das veredelte Valda-Öl ist ein hervorragendes Betäubungsmittel für Menschen. Es verhindert, daß die freien Nervenenden aktiviert werden; schädliche Nebenwirkungen sind nicht bekannt. Versuche, die Valda-Pflanze außerhalb Orogas anzubauen, waren stets zum Scheitern verurteilt, denn die Pflanze lebt in einer parasymbiotischen Abhängigkeit von einer Vielzahl von örtlichen Mikro- und Makroorganismen . . . Versuche, das Valda-Öl synthetisch herzustellen, mußten aus Kostengründen wieder eingestellt werden.
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Da die Elwerianer in fast allen Dingen Geheimhaltung üben, ist Orogas Handelsüberschuß nicht allgemein bekannt, aber er soll mehr als eine Milliarde Krediteinheiten der Tausend Welten betragen und liegt möglicherweise sogar erheblich darüber. Die günstige Investition der Überschüsse durch die Cortes Generale, das elwerianische Parlament, dürfte diese Summe nicht unbeträchtlich erhöhen.
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