DALAI LAMA
Die Welt in einem einzigen Atom Meine Reise durch
Wissenschaft und Buddhismus
Aus dem Englischen von
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DALAI LAMA
Die Welt in einem einzigen Atom Meine Reise durch
Wissenschaft und Buddhismus
Aus dem Englischen von
Bernd Bender
Theseus Verlag
Theseus im Internet: www.Theseus-Verlag.de
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel The Univffse in a Single A/om; Thc Convrrgfnr( rfSrirna fmd Spirituality
2005 bei Morgan Road Booh, an imprint ofTh e Doubleday Rroadw;\)'
Publishing Group, a division ofRandom House, Ine.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
NationalbibliografIe; detaillierte bibliografische D;\ten sind im Int e rm~ t
über ht~dnb.d db_de abrufb;\r
ISBN 3-89620-270-7
ISBN 978-3-89620-270-3
Lektorat: Peter Gäng/U rsub Richard
Copyright t: 2005 by the Dalai Lama
Copyright ,~: 2005 Theseus Verlag GmbH, Berlin
Die Theseus Verlag GmbH ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Domier.
Die Verwertung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne Zustimmung
des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt auch für Vervid faltigungen,
Übersetzungen, Mikroverfilmungen und tur die Verarbeitung mit
elektronischen Systemen.
UmRhlaggestaltung: Morian & Bayer-Eynck, Coesfeld, W'NW.mbedesign.de
unter Verwendung eines Fotos·1) Abr;\ Inouhe/Photonica
Gestaltung und Satz: AS Typo & Grafik, Berlin
Druck: Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfi-ei gebleichtem Zellstoff
INHALT VORWORT
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KAPITEL EINS
Reflexionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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KAPITEL ZWEI
Meine Begegnung mit der Wissenschaft .... . ...
21
KAPITEL DREI
Leerheit, Relativität und Q!.Iantenphysik ... . ...
51
KAPITEL VIER
Der Urknall und das anfanglose Universum
des Buddhismus ...........................
87
KAPITEL FÜNF
Evolution, Karma und die Welt der Sinne ...... 113
KAPITEL SECHS
Die Frage des Bewusstseins ...... . ....... . ... 139
KAPITEL SIEBEN Unterwegs zu einer Wissenschaft des Bewusstseins .............................. 163
KAPITEL ACHT
Das Spektrum des Bewusstseins ....... . ....... 189
KAPITEL NEUN
Ethik und die neue Genetik ........•......... 213
SCH LU SSBEMERKUNGEN
Wissenschaft, Spiritualität und Menschlichkeit
233
NACHWORT von Wolf von Lojewski ............ 233
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Ich habe persönlich nie eine naturwissenschaftliche Ausbil dung genossen. Anfangs stammte mein Wissen vor allem aus Berichten über bedeutende wissenschaftliche Entwick lungen in Zeitschriften wie Newsweek und aus Radiosen dungen, wie zum Beispiel die des Wor[d Service der BBC; später las ich dann Lehrbücher über Astronomie. In den vergangenen 30 Jahren habe ich viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler getroffen und mit ihnen gesprochen. In diesen Begegnungen habe ich immer versucht, die Mo delle und Methoden zu verstehen, die dem wissenschaft lichen Denken zugrunde liegen, aber auch die Auswirkun gen zu begreifen, die bestimmte Theorien oder neue
Entdeckungen haben könnten. Ich habe dadurch sehr gründlich über die Naturwissenschaften nachgedacht nicht nur über ihre Konsequenzen für unser Verständnis der Wirklichkeit, sondern auch über die viel wichtigere Frage ihres Einflusses auf ethische und menschliche Werte. Dabei richtete sich mein Interesse im Laufe der Jahre vor allem auf die Physik der Elementarteilchen sowie auf die Kosmologie und die Biologie, einschließlich der Neurowis senschaften und der Psychologie. Da meine intellektuelle Ausbildung im buddhistischen Denken verankert ist, habe ich mich natürlich immer wieder gefragt, welche Berüh rungspunkte es zwischen zentralen buddhistischen Vorstel lungen und den wichtigsten naturwissenschaftlichen Ideen gibt. Das vorliegende Buch ist das Ergebnis dieser langen
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Zeit des Nachdenkens; es ist der Bericht über eine Entde ckungsreise, die einen buddhistischen Mönch aus Tibet in die Welt der Blasenkammern, Teilchenbeschleuniger und Magnetresonanzspektroskopie geftihrt hat. Viele Jahre nachdem ich in meinem indischen Exil einge troffen war, stieß ich aufeinen offenen Brief aus den 1940er Jahren, der an die buddhistischen Denker Tibets gerichtet war. Sein Verfasser war Gendün Chöpe]', ein tibetischer Gelehrter, der nicht nur Sanskrit beherrschte, sondern, was fur einen tibetischen Intellektuellen seiner Zeit ganz unge wöhnlich war, auch sehr gut Englisch sprach. In den 1930er Jahren hatte er ausgedehnte Reisen durch Britisch Indien, Afghanistan, Nepal und Sri Lanka unternommen. Der Brief, den er gegen Ende seiner zwölfjährigen Reise ge schrieben hatte, erstaunte mich. In ihm werden viele The men fur einen fruchtbaren Dialog zwischen dem Buddhis mus und den modemen Naturwissenschaften benannt. Ich stellte fest, dass Gendün Chöpels Beobachtungen oftmals in einer überraschenden Weise mit meinen eigenen über einstimmten. Leider fand dieser Brief nicht die Aufinerk samkeit, die er verdient hätte. Zum Teil lag dies daran, dass er in Tibet keine größere Öffentlichkeit erreichte, bevor ich 1959 ins Exil ging. Es freut mich jedoch sehr, dass meine Entdeckungsreisen in die Welt der Wissenschaften einen Vorläufer in meiner eigenen tibetischen Tradition hatten. Meine herzliche Verbundenheit mit Gendün Chöpel ist si cherlich auch deshalb so tief, weil er aus meiner Heimat provinz Amdo stammt. Die Entdeckung dieses Briefes, so " Eine Lebensbeschreibung Gendün Chöpels ist 2000 im Theseus
Verlag erschienen: Elke Hessd, Die Welt hat mich trunkcngemacht. (Anm. d. Übers.)
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viele Jahre nachdem er geschrieben wurde, war für mich ein beeindruckender Moment. Einige Jahre zuvor hatte ich mit einer Amerikanerin, die mit einem Tibeter verheiratet war, ein Gespräch geführt, das mich damals sehr beunruhigte. Sie hatte von meinen naturwissenschaftlichen Interessen und den Gesprächen, die ich mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern fuhrte, gehört und wollte mich vor der Gefahr warnen, die in ihren Augen von den Wissenschaften für das Überleben des Buddhismus ausging. Die Geschichte zeige, so sagte sie, dass die Naturwissenschaften der "Tod« der Religion seien; ihrer Ansicht nach sei es fur den Dalai Lama nicht angemes sen, Freundschaften mit ihren Vertretern zu pflegen. An scheinend hatte ich mich mit meiner persönlichen Reise auf das Gebiet der Naturwissenschaften zu weit vorgewagt. Das Vertrauen, das ich in diesen Dialog setze, beruht auf meiner grundlegenden Überzeugung, wonach das Ver ständnis der Wirklichkeit in den Naturwissenschaften genau wie im Buddhismus - durch kritische Untersuchun gen gewonnen wird. Sollte die Wissenschaft abschließend nachweisen können, dass gewisse Behauptungen des Bud dhismus falsch sind, müssen wir die Erkenntnisse der Wis senschaft annehmen und überholte Anschauungen revi dieren. In meinem Herzen bin ich ein Weltbürger, und eine Ei genschaft, die mich bei Wissenschaftlerinnen und Wissen schaftlern tief berührt, ist die erstaunliche Bereitschaft, mit der sie ihr Wissen ohne Rücksicht auf nationale Grenzen teilen. In den Zeiten des Kalten Krieges, als die Welt in einem gefahrlichen Ausmaß polarisiert war, stellte ich fest, dass Wissenschaftler des östlichen und des westlichen
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Blocks in einer Weise miteinander kommunizierten, die sich die Politiker noch nicht einmal vorstellen konnten. Ich erkannte darin ein grundlegendes Gefuhl fur die Einheit der Menschheit und eine befreiende Abwesenheit von Be sitzdenken in Fragen des Wissens. Mein Interesse an den Wissenschaften hat nicht nur per sönliche Motive. Schon bevor ich ins Exil ging, war mir und vielen Tibetern bewusst geworden, dass eine der grundlegenden Ursachen der politischen Tragödie Tibets in dem Unvermögen bestand, sich der Modemisierung zu
öffnen. Kurz nachdem wir in Indien angekommen waren, gründeten wir tibetische Schulen fur die Kinder der Flücht linge, deren modeme Lehrpläne zum ersten Mal auch na turwissenschaftliche Fächer umfassten. Damals war ich zu der Überzeugung gelangt, dass die Einfuhrung einer mo demen Ausbildung fur die Modernisierung von entschei dender Bedeutung ist, eine Ausbildung, in deren Mittel punkt Naturwissenschaften und Technik zu stehen haben. Mein persönliches Engagement in Fragen der Erziehung hat mich veranlasst, auch die klösterlichen Lehrinstitute, deren wichtigste Funktion darin besteht, die klassischen buddhistischen Lehren zu vermitteln, zu bestärken, die Wissenschaften in ihren Lehrplan aufzunehmen. Als sich mein Verständnis der Wissenschaften vertiefte, wurde mir nach und nach bewusst, dass viele Bereiche des traditionellen buddhistischen Denkens, soweit sie das Ver ständnis der materiellen Welt betreffen, im Vergleich zu den modemen Wissenschaften nur lückenhafte Erklärun gen und Theorien bieten. Zugleich gilt aber auch fur die wissenschaftlich am weitesten entwickelten Länder, dass Menschen immer noch leiden, besonders auf der emotio
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nalen und psychischen Ebene. Der Segen der Wissenschaft besteht darin, dass sie aufeiner physischen und materiellen Ebene sehr viel zur Linderung des Leiden beitragen kann, doch unser geistiges Leiden können wir nur begreifen und überwinden, indem wir die positiven Qualitäten unseres menschlichen Herzens stärken und unsere selbstbezoge nen Einstellungen verändern. Anders ausgedrückt: Unsere grundlegende Suche nach Glück kann einzig und allein durch die Stärkung menschlicher Werte erfolgreich sein. So zeigt sich also, dass Naturwissenschaften und Spiritualität, was das Wohlergehen der Menschen betrifft, nicht ohne Wechselbeziehung sind. Wir benötigen beide, da die Lin derung des Leidens sowohl auf materieller als auch auf psy chischer Ebene stattfinden muss. Dieses Buch ist nicht der Versuch, Wissenschaft und Spi ritualität (auf diesem Gebiet kenne ich mich vor allem mit dem Buddhismus aus) miteinander zu vereinen, sondern es
verfolgt das Ziel, ein ganzheitliches und integratives Ver stäl)dnis unserer Umwelt zu entwickeln, indem es zwei grundlegende Disziplinen der Menschheit in einen Dialog bringt. Dieser Ansatz erforscht alle Dimensionen des Sicht baren und Unsichtbaren und gründet in Erkenntnissen, denen unsere Vernunft Gültigkeit verleiht. Ich versuche nicht, eine wissenschaftliche Abhandlung über die mögli chen Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen Buddhismus und Naturwissenschaften zu verfassen - das überlasse ich lieber den Fachleuten. Ich glaube jedoch, dass es sich bei Wissenschaft und Spiritualität um zwei unter schiedliche Bereiche handelt, die einander ergänzen und dem gemeinsamen übergeordneten Ziel der Suche nach Wahrheit verpflichtet sind. Vor diesem Hintergrund kön
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nen beide vieles voneinander lernen und zusammen den Horizont des menschlichen Wissens und der Weisheit er weitern. Schließlich hoffe ich, dass ein Dialog bei der Dis ziplinen ihre jeweils eigene Entwicklung unterstützt und Spiritualität wie auch Wissenschaft so den Bedürfnissen und dem Wohlergehen der Menschheit besser dienen kön nen. Indem ich die Geschichte meiner persönlichen Entde ckungsreise erzähle, möchte ich aber auch gegenüber Mil lionen von Mitbuddhisten weltweit die Notwendigkeit betonen, die Wissenschaften ernst zu nehmen und ihre grundlegenden Entdeckungen in die buddhistische Welt anschauung zu integrieren.
Es gibt eine lange Geschichte des Dialogs zwischen Wis senschaft und Spiritualität - insbesondere hinsichtlich des Christentums. Innerhalb meiner eigenen Tradition des ti betischen Buddhismus ist die Begegnung mit dem wissen schaftlichen Weltbild aufgrund verschiedener historischer, sozialer und politischer Umstände immer noch ein Novum. Was die Wissenschaften uns anzubieten haben, ist noch nicht wirklich deutlich geworden. Welche persönli chen Ansichten der oder die Einzelne im Hinblick auf die Wissenschaft auch hegen mag, kein glaubwürdiges Ver ständnis der Natur und der Existenz des Menschen - das, was ich in diesem Buch als "Weltbild« bezeichne - kann sich der grundlegenden Einsichten solcher zentralen Theo rien wie der Evolutionslehre, der Relativitätstheorie und der ~antenmechanik entziehen. Möglicherweise werden auch die Wissenschaften in der Auseinandersetzung mit der Spiritualität lernen, insbesondere was die allgemeinen ethischen und gesellschaftlichen Fragen der Menschheit betrifft. Ganz sicher jedoch müssen gewisse Aspekte des
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buddhistischen Denkens - seme alten kosmologischen Theorien zum Beispiel, aber auch seine unausgereifte Phy sik - im Lichte zeitgenössischer wissenschaftlicher Erkennt nisse neu formuliert werden. Ich hoffe, dieses Buch wird für das kritische Projekt des Dialogs zwischen Wissenschaft und Spiritualität eine Anregung sein. Da es mein Anliegen ist, mich mit Fragen zu beschäftigen, die für unsere gegenwärtige Welt von größter Wichtigkeit sind, wünsche ich mir, mit dem größtmöglichen Publikum zu kommunizieren. Das ist jedoch nicht einfach, wenn man die Komplexität der Überlegungen und der Argumen tation in den Wissenschaften, aber auch in der buddhisti schen Philosophie bedenkt. In meinem Wunsch, diesen Dialog vielen Menschen zugänglich zu machen, habe ich die Tatsachen vielleicht manchmal zu sehr vereinfacht. Ich bin meinen beiden Lektoren sehr dankbar, meinem lang jährigen Übersetzer Thupten Jinpa und seinem Kollegen Jas Elsner, die mich darin unterstützt haben, meine Gedan ken so klar wie möglich auf Englisch zu formulieren. Ich möchte auch den vielen Menschen danken, die ihnen ge holfen und das Manuskript in seinen unterschiedlichen Phasen kommentiert haben. Ganz besonderen Dank emp finde ich gegenüber all jenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich mit mir getroffen und mir so großzügig ihre Zeit geschenkt haben. Sie alle haben einem manchmal etwas langsamen Schüler komplexe Gedanken gänge mit großer Geduld nahe gebracht. Ich betrachte sie als meine Lehrerinnen und Lehrer.
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KAPITEL EINS
Reflexionen Viele Jahre habe ich bereits über die erstaunlichen Fort schritte der Wissenschaft nachgedacht. Innerhalb der kur zen Spanne meiner eigenen Lebenszeit ist der Einfluss von Wissenschaft und Technik auf die Menschheit spürbar ge wachsen. Mein eigenes Interesse an der Wissenschaft grün dete in der Neugierde auf eine mir damals fremde Welt, die von der Technik beherrscht wurde, und schließlich ahnte ich - vor allem, nachdem ich 1959 ins Exil gegangen war-, welche außerordentliche Bedeutung die Wissenschafr fur die gesamte Menschheit hat. Heute gibt es kaum einen Le bensbereich, der nicht von den Folgen der Wissenschaft und Technik beeinflusst ist. Doch ist uns der Stellenwert der Wissenschaft im Gesamtzusammenhang menschlichen Lebens wirklich bewusst? Worin besteht ihre Aufgabe im Einzelnen und welchen Werten fuhlt sie sich verpflichtet? Gerade dieser letzte Punkt ist von größter Wichtigkeit. So lange die Wissenschaft nicht von einer bewussten ethi schen Haltung geprägt ist, insbesondere der des Mitge fühls, werden ihre Auswirkungen nicht unbedingt zum Wohlergehen der Menschheit beitragen. Im Gegenteil: Sie können dann sogar großen Schaden verursachen. Als mir die außerordentliche Bedeutung der Wissen schaft bewusst wurde und ich ihre Vorherrschaft über die moderne Welt erkannte, änderte sich meine Haltung grundlegend. Meine anfangliehe Neugierde verwandelte
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KAPITEL EINS
sich in eine dringliche Verpflichtung. Das höchste spiritu elle Ziel des Buddhismus besteht darin, Mitgeflihl flir alle flihlenden Wesen zu entwickeln und umfassend flir ihr Wohlergehen zu arbeiten. Seit meiner frühesten Kindheit wurde ich dazu erzogen und darin unterstützt, dieses Ideal zu achten, und ich habe mich darum bemüht, es in allen meinen Handlungen zu erflillen. Ich wollte nun die Wis senschaft verstehen, da sie mir in meinem eigenen Wunsch, die Natur der Wirklichkeit zu begreifen, ein neues Feld er öffnete. Außerdem fand ich, dass die Wissenschaft in einer überzeugenden Weise Einsichten bestätigt, die mir aus mei ner eigenen Tradition bereits bekannt waren. Die Notwen digkeit, mich mit dieser einflussreichen Macht in unserer Welt zu beschäftigen, wurde mir zu einer Art spiritueller Verpflichtung. Die wesentliche Frage - wesentlich flir das Überleben und Wohlergehen unserer Welt - ist, wie wir die wunderbaren Entwicklungen der Wissenschaft fruchtbar machen können im Sinne eines uneigennützigen und mit~ fühlenden Einsatzes flir die Bedürfnisse der Menschheit und aller flihlenden Wesen, mit denen wir diese Erde tei len. Hat die Ethik überhaupt einen Platz in der Wissenschaft? Ich bin davon überzeugt. Wie jedes Werkzeug, so kann auch die Wissenschaft flir gute und schlechte Zwecke ein gesetzt werden. Es ist der Geisteszustand jedes Einzelnen,
der ein Werkzeug gebraucht, der darüber entscheidet, wel chem Ziel es dient. Darüber hinaus verändern die wissen schaftlichen Entdeckungen unser Verständnis der Welt und des Platzes, den wir in ihr einnehmen. Dies hat Konsequen zen flir unser Verhalten. Ein Beispiel ist das mechanistische Weltbild, das zur industriellen Revolution fuhrte, wobei es
Rd/exionen
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völlig normal und üblich war, die Natur auszubeuten. All gemein herrscht jedoch die Annahme vor, dass die Ethik nur fur die Anwendung der Wissenschaft, nicht jedoch fur ihre Grundlagenforschung Bedeutung hat. In dieser Vor stellung nehmen einzelne Wissenschaftler und die Wissen schaftler als Gemeinschaft eine moralisch neutrale Position ein, ohne Verantwortung gegenüber den Konsequenzen ihrer Entdeckungen. Aber viele wichtige wissenschaftliche Entdeckungen, insbesondere jedoch unzählige technische Neuerungen, die sie hervorgebracht haben, schaffen neue Bedingungen und Möglichkeiten und damit eben auch neue ethische und spirituelle Herausforderungen. Wir kön nen das Projekt der Wissenschaft und die einzelnen Wis senschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht aus der Ver antwortung entlassen, die sie gegenüber dem Entstehen einer neuen Wirklichkeit haben. Es ist vielleicht das wichtigste Ziel, sicherzustellen, dass die Wissenschaft sich nicht von unserer grundlegenden menschlichen Fähigkeit zur Einfuhlung in unsere Mitmen schen abspaltet. So wie ein einzelner Finger nur in Verbun denheit mit der Handfläche funktionsfahig ist, so müssen sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihrer Verbindung zur Gesellschaft bewusst sein. Wissenschaft ist lebensnotwendig, aber sie ist doch nur ein Finger an der Hand der Menschheit, und ihr großes Potential kann sich nur verwirklichen, solange wir das nicht außer Acht lassen. Andernfalls verlieren wir den Sinn fur das, was wirklich wichtig ist. Die Menschheit würde dann nur dem techni schen Fortschritt dienen und nicht umgekehrt. Wissen schaft und Technik sind mächtige Werkzeuge, aber wir müssen entscheiden, wie wir sie am besten nutzen wollen.
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KAPITEL EINS
Dabei ist die Motivation, die dem Einsatz von Wissen schaft und Technik zugrunde liegt, von entscheidender Be deutung. Im Idealfall sind dabei Herz und Intellekt vereint. In meinen Augen ist die Wissensebaft vor allem eine em pirische Disziplin, die der Menschheit ein tiefes Verständ nis der materiellen und lebendigen Welt vermitteln kann. Sie ist in erster Linie eine Art und Weise des Forschens, die uns eine unglaubliche Fülle von Details über die empiri sche Welt und die ihr zugrunde liegenden Naturgesetze lie fert, die wir aus diesen Daten ableiten. Dabei bedient sieb die Wissensebaft einer besonderen Methode, die Messen, Q1lantifizierung und intersubjektive Verifikation im wie derholbaren Experiment einschließt. So kann zumindest die wissenschaftliche Methode innerhalb des vorherrschen den Paradigmas beschrieben werden. In diesem Modell sind allerdings viele Bereiche der menschlichen Existenz aus dem Rahmen wissenschaftlichen Forschens ausgeblen det, darunter moralische Werte, Kreativität und Spirituali tät, aber aueb tiefere metaphysisebe Fragestellungen. Obwohl es Lebens- und Erkenntnisbereiche jenseits des Rahmens der Wissenschaft gibt, sind meiner Erfahrung naeb viele Menschen der Auffassung, das wissensebafiliebe Weltbild müsse die Grundlage unseres gesamten Wissens und all dessen, was wir überhaupt wissen können, sein. Dies ist wissensebaftlicher Materialismus. Zwar ist mir keine philosophische Sebule bekannt, die ausdrücklieb diese Anschauung vertreten würde, dennoch sebeint diese Haltung ein allgemeiner, nicht weiter hinterfragter Stand punkt zu sein. In ihm drückt sich der Glaube an eine objek tive Welt aus, die unabhängig vom Beobachter existiert. Dabei wird angenommen, dass die Fakten, die in einem Ex
Reflexionen
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periment untersucht werden, unabhängig von den Auffas sungen, Wahrnehmungen und Erfahrungen des Forschers sind, der die Untersuchung vornimmt. Letztendlich beruht diese Anschauung aufder Annahme, dass die Materie - so wie sie von der Physik beschrieben und von den Naturgesetzen bestimmt wird - das Einzige ist, was existiert. Damit kann die Psychologie auf die Biologie, die Biologie aufdie Chemie und diese wiederum aufdie Physik reduziert werden. Meine Bedenken richten sich allerdings nicht so sehr gegen diese reduktionistische Haltung (ob wohl ich sie persönlich nicht teile), sondern ich möchte nur auf einen wichtigen Punkt hinweisen: Diese Ideen sind keine wissenschaftliche Erkenntnis, sondern repräsentieren eine philosophische, genauer gesagt eine metaphysische Grundhaltung. Die Ansicht, alle Aspekte der Wirklichkeit könnten auf Materie und die verschiedenen Elementarteil chen reduziert werden, ist in meinen Augen ebenso eine metaphysische Auffassung wie die von einer organisieren den Intelligenz, die fur die Erschaffung und Kontrolle der Wirklichkeit verantwortlich sein soll. Das Hauptproblern des radikalen wissenschaftlichen Ma terialismus ist ein verengter Blick und damit einhergehend ein Nihilismus, den er potentiell in sich trägt. Nihilismus, Materialismus und Reduktionismus sind aus philosophi scher und besonders aus menschlicher Sicht grundsätzliche Probleme, da durch sie unser Blick auf uns selbst ärmer wer den kann. Ob wir uns zum Beispiel als biologische Ge schöpfe betrachten, die zufallig entstanden sind, oder als besondere Wesen, die mit Bewusstsein und moralischen Fähigkeiten ausgestattet sind, wird Einfluss auf unsere Hal tung gegenüber uns selbst und auf unser Handeln gegen
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KAPITEL EINS
über anderen haben. Viele Dimensionen der ganzen Wirk lichkeit dessen, was es heißt, ein Mensch zu sein - Kunst,
Ethik, Spiritualität, Güte, Schönheit und, vor allem, Be wusstheit -, werden in dieser Sicht entweder auf die chemi schen Vorgänge »feuernder« Neuronen reduziert oder als
imaginäre Konstruktionen betrachtet. Damit besteht die Gefahr, dass Menschen zu biologischen Maschinen redu ziert werden, Ergebnissen reinen Zufalls in der Kombina tion der Gene, ohne einen anderen Zweck, als dem biolo gischen Diktat der Fortpflanzung zu gehorchen. Ich kann mir nicht vorstellen, welchen Platz Fragen nach dem Sinn des Lebens oder der ethischen Bedeutung des Guten und Bösen in einem solchen Weltbild einnehmen könnten. Das Problem sind nicht die empirischen Fakten der Wissenschaft, sondern die Behauptung, dass aus schließlich diese Fakten eine legitime Basis fur ein umfas sendes Weltbild darstellen oder angemessene Mittel sind, um den Problemen dieser Welt zu begegnen. Die Existenz des Menschen und die Wirklichkeit sind größer als das, was die gegenwärtige Wissenschaft uns zeigen kann. Im gleichen Sinne muss sich aber auch die Spiritualität den Einsichten und Entdeckungen der Wissenschaft öff nen. Wenn wir diese in unserer spirituellen Praxis verleug nen,
wird sie ärmer sein, und unsere Haltung kann in
einem Fundamentalismus münden. Aus diesem Grund er
mutige ich meine buddhistischen Kolleginnen und Kolle gen, sich dem Studium der Naturwissenschaften zu wid men, so dass ihre Einsichten Eingang in die buddhistische Weltanschauung finden.
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KAPITEL ZWEI
Meine Begegnung mit der Wissenschaft Ich kam in einer Familie einfacher Bauern zur Welt. Ihre Felder bearbeiteten sie mit Pflügen, die von Ochsen gezo gen wurden. Nachdern die Gerste abgeerntet war, trampel ten die Ochsen auf den Ähren herurn, urn die Spreu vom Kom zu trennen. Die einzigen technischen Gegenstände in
der Welt meiner frühen Kindheit, die man überhaupt als solche bezeichnen konnte, waren Gewehre, die kriegerische Nomaden aus meiner Heimat vermutlich in Britisch In
dien, Russland oder China erworben hatten. Als ich sechs Jahre alt war, wurde ich in der tibetischen Hauptstadt Lhasa als 14. Dalai Lama inthronisiert. Darnit begann rneine Aus bildung, die alle Bereiche des Buddhismus umfasste. Ich hatte Hauslehrer, die mir jeden Tag Unterricht in Lesen und Schreiben, aber auch in den Grundlagen der buddhis tischen Philosophie erteilten, und musste verschiedene Schriften und Rituale auswendig lernen. Man teilte rnir auch mehrere tsenshap zu - dieser Begriffbedeutet wörtlich »philosophischer Assistent«. Ihre Aufgabe bestand haupt sächlich darin, mich in Debatten zu Fragen der buddhisti schen Philosophie zu verwickeln. Außerdem nahm ich an Gebeten und meditativen Kontemplationen teil, die sich über viele Stunden erstreckten. Immer wieder zog ich mich mit meinen Hauslehrern in Klausur zurück und saß dann viermal täglich, jeweils zwei Stunden in Meditation. Die Erziehung eines hohen Lamas in der tibetischen Tradition
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KAPITEL ZWEI
folgt üblicheIWeise in etwa diesem Ablauf Ich wurde je doch nicht in Mathematik, Geologie, Chemie, Biologie oder Physik unterrichtet. Ich wusste nicht einmal, dass es diese Fächer gab. Der Potala-Palast war meine offizielle Winterresidenz. Er ist ein riesiger Gebäudekomplex, der einen ganzen Berg hang einnimmt und über 1000 Räume umfassen soll - ich habe sie jedoch nie persönlich gezählt. In der knapp bemes senen Freizeit, die mir alsJunge blieb, beschäftigte ich mich damit, einige seiner Gemächer zu durchforschen. Ich be fand mich sozusagen auf einer nie endenden Schatzsuche. Viele Dinge wurden im Palast aufbewahrt, vor allem der persönliche Besitz früherer Dalai Lamas, darunter der mei nes direkten Vorgängers. Zu den beeindruckendsten An lagen des Palastes gehören die Reliquienstupas, in denen die sterblichen Überreste früherer Dalai Lamas beigesetzt sind. Sie reichen zurück bis zum 5. Dalai Lama, der dem Potala im 17. Jahrhundert seine heutige Form gegeben hat. Unter den angehäuften Kuriositäten entdeckte ich einige mechanische Gegenstände, die aus dem Besitz des 13. Dalai Lama stammten. Vor allem fiel mir ein ausziehbares Tele skop aus Messing ins Auge, das auf einem Stativ festge schraubt werden konnte, und ein aufziehbares mechani sches Chronometer mit einem drehbaren Globus, auf dem man die verschiedenen Zeitzonen ablesen konnte, das auf einem Untergestell stand. Es gab auch einen Stapel illus trierter englischer Bücher über den Ersten Weltkrieg. Einige dieser Dinge waren Geschenke von Sir CharIes Bell, mit dem der 13. Dalai Lama befreundet gewesen war. Bell, der Vertreter der britischen Regierung in Sikkim, sprach Tibetisch. Während eines kurzen Aufenthaltes des
Meine Begegnung mit der Wissenschaft
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13. Dalai Lama in Britisch Indien, wohin er 1910 aufgrund der drohenden Invasion durch die Armeen der letzten kai serlichen Regierung Chinas fliehen musste, war Ben sein Gastgeber. Es erstaunt mich immer wieder, dass mein direk ter Vorgänger mir beides vermacht hat: das Exil in Indien und die Entdeckung der Wissenschaft. Der Aufenthalt in Indien, das wurde mir in späteren Jahren bewusst, hatte dem 13. Dalai Lama die Augen fur die Notwendigkeit so zialer und politischer Reformen in Tibet geöffnet. Nach sei ner Rückkehr nach Lhasa führte er in Tibet die Telegrafie ein, baute ein Postsystem auf, ließ ein kleines Kraftwerk er richten, das Tibets erste elektrische Lampen mit Strom ver sorgte, und gründete eine Münzanstalt, in der das Geld des Landes geprägt und Banknoten gedruckt wurden. Außer dem war er von der Notwendigkeit einer modernen, säku laren Erziehung überzeugt und schickte eine Gruppe aus gewählter tibetischer Kinder in die Privatschule von Rugby nach England. Auf seinem Totenbett hinterließ der 13. Dalai Lama ein erstaunliches Testament, in dem vieles von der kommenden politischen Tragödie des Landes vorherge sagt wurde. Leider verstand die Regierung, die nach seinem Tod eingesetzt wurde, diese Prophezeiungen nicht, oder aber sie zog sie nicht in Betracht. Unter den Hinterlassenschaften des 13. Dalai Lama, die mein technisches Interesse weckten, befanden sich auch eine Taschenuhr, zwei Filmprojektoren und drei Automo bile - zwei Baby-Austins von 1927 und ein amerikaniseher Dodge aus dem Jahr 1931. Damals gab es weder befahrbare Straßen über den Himalaja noch in Tibet selbst, und so wurden die Wagen in Indien in Einzelteile zerlegt und dann von Trägern, Maultieren und Eseln über die Berge ge
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KAPITEL ZWEI
bracht, um fur den 13. Dalai Lama schließlich wieder zu sammengesetzt zu werden. Lange Zeit waren sie die einzi
gen Automobile in Tibet - und ziemlich unzweckmäßig, denn außerhalb Lhasas gab es keine Straßen, auf denen man sie hätte benutzen können. All diese Gegenstände, die ersten Zeichen einer technologischen Kultur, übten auf mich, einen von Natur aus neugierigen und unterneh mungslustigen Jungen, große Faszination aus. Es gab eine Zeit, an die ich mich noch sehr genau erinnere, in der ich viellieber diese Dinge untersuchte, als Philosophie zu stu dieren und Texte auswendig zu lernen. Heute weiß ich na türlich, dass sie nichts weiter waren als Spielzeuge, doch sie ließen mich ein ganzes Universum an Erfahrungen und Wissen erahnen, zu dem ich keinen Zugang hatte, dessen Existenz mich jedoch beständig lockte. Dieses Buch be schreibt gewissermaßen den Weg, auf dem ich diese Welt und die wunderbaren Dinge, die sie bereithält, entdeckt habe. Mit dem Teleskop hatte ich keinerlei Schwierigkeiten. Mir war ziemlich schnell klar, wozu es diente, und bald schon benutzte ich es, um das lebhafte Treiben in den Stra ßen Lhasas, insbesondere aufden Märkten, zu beobachten. Ich war neidisch auf die Ausgelassenheit, mit der Kinder meines Alters auf den Straßen herumtoben durften, wäh rend ich zu lernen hatte. Später betrachtete ich durch das Teleskop den Nachthimmel über dem Potala, der in den Höhen Tibets einen atemberaubenden Anblick der Sterne bietet. Meine Bediensteten fragte ich nach den Namen der Sterne und Sternbilder. Ich verstand, wozu die Taschenuhr diente, aber mein In teresse richtete sich vor allem darauf, herauszufinden, wie
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sie funktionierte. Darüber zerbrach ich mir eine Zeit lang den Kopf, bis meine Neugier überwog und ich sie auseinan der nahm, um einen Blick in ihr Inneres zu werfen. Bald schon hatte ich sie in ihre Einzelteile zerlegt, doch danach bestand die Herausforderung darin, sie so wieder zusam menzusetzen, dass sie auch funktionierte. Das war der Be ginn meines lebenslangen Hobbys, mechanische Objekte zu zerlegen und wieder zusammenzusetzen. Ich entwi
ckelte darin recht großes Geschick, so dass ich fur mehrere Personen in Lhasa, die Uhren besaßen, zum Hauptuhrma cher wurde. Später in Indien hatte ich mit meiner eigenen Kuckucksuhr nicht viel Glück: Ihr armer Kuckuck wurde von meiner Katze angefallen und erholte sich danach nicht wieder. Als batteriebetriebene Uhren eingeführt wurden, war mein Hobby nicht mehr so interessant - wenn man sie
öffnet, findet sich fast kein Mechanismus mehr. Viel schwieriger gestaltete es sich, herauszufinden, wie
die beiden handbetriebenen Filmprojektoren des 13. Dalai LaJ,lla funktionierten. Einer meiner Diener, ein Mönch aus
China, fand schließlich heraus, wie man einen davon in Gang setzte. Ich bat ihn, den Projektor aufzustellen, so dass ich einen der wenigen Filme ansehen konnte, die wir besa ßen. Später hatten wir dann auch einen elektrischen 16mm Projektor, aber dieser brach immer wieder zusammen, was
zum Teil daran lag, dass der Generator, von dem er seinen Strom bezog, nicht richtig funktionierte. In dieser Zeit, ich vermute es war 1945, trafen zwei Europäer in Lhasa ein,
Heinrich Harrer und Peter Aufschnaiter, Österreicher, die aus einem britischen Kriegsgefangenenlager in Nordindien über den Himalaja geflohen waren. Harrer wurde mein Freund und an ihn wandte ich mich von Zeit zu Zeit, wenn
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KAPITEL ZWEI
der Projektor repariert werden musste. Wir erhielten nur wenige Filme, aber unzählige Wochenschauen fanden aus Indien ihren Weg über die Berge und vermittelten uns ein Bild über den Zweiten Weltkrieg aus der Perspektive der Al liierten. Wir sahen Aufnahmen vom Kriegsende, von der Krönung König George VI, aber auch Laurence Oliviers Verfilmung von Shakespeares Henry V und Stummfilme von Charlie Chaplin. Am Beginn meines wissenschaftlichen Interesses stand meine Beschäftigung mit der Technik, doch damals ver stand ich den Unterschied zwischen Wissenschaft und Technik noch nicht. Als ich Harrer begegnete, der ein viel größeres Talent in technischen Dingen besaß als irgendje mand, den ich in Lhasa kannte, nahm ich an, dass er sich in der Wissenschaft ebenso gut auskannte wie mit den we nigen mechanischen Gegenständen, die wir im Potala besa ßen. Es war schon komisch, als ichjahre später herausfand, dass er keinen professionellen wissenschaftlichen Hinter grund hatte - damals dachte ich, alle »weißen Menschen« würden über naturwissenschaftliche Kenntnisse verfügen. Harrer war mir aber aufeinem wichtigen Gebiet der moder nen Wissenschaft eine große Hilfe: der Geographie. In mei ner persönlichen Bibliothek befand sich eine Sammlung englischer Bücher über den Zweiten Weltkrieg mit detail lierten Beschreibungen der Kriegsaktivitäten vieler Natio nen, einschließlich Japans. Von meinen Erfolgen im Zerlegen von Uhren und bei der Reparatur des Projektors beflügelt, wuchsen meine Am bitionen. Als Nächstes wollte ich die Funktionsweise der Automobile verstehen. Der Mann, dem das Bedienen und Warten der Wagen unterstellt war, hieß Lhakpa Tsering, ein
Meine Begegnung mit der Wissenschaft
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kahlköpfiger Geselle, dessen Hitzigkeit legendär war. Wenn er einmal an einem Wagen arbeitete und sich dabei den Kopf stieß, fuchtelte er wild mit den Armen umher und rammte seinen Kopf ein zweites Mal gegen die Karosserie. Ich freundete mich mit ihm an, so dass er mir erlaubte, den Motor zu untersuchen, während er daran arbeitete, und schließlich brachte er mir sogar das Fahren bei. Eines Tages setzte ich mich heimlich in einen der Austins und unternahm eine Spritztour. Leider hatte ich dabei einen kleinen Unfall und beschädigte den linken Schein werfer. Ich flirchtete mich vor den Reaktionen Babu Tashis, des zweiten Mannes, der sich um die Wagen kümmerte. Also besorgte ich einen Ersatz fur den Scheinwerfer, doch dieser war aus durchsichtigem Glas, während der ursprüng liche matt gewesen war. Nach einigem Nachdenken fand ich eine Lösung: Ich machte das Glas »matt«, indem ich es mit geschmolzenem Zucker überzog. Ich weiß bis heute nicht, ob Babu Tashi das bemerkt hat. Bestraft hat er mich jedenfalls nie. Meine Abenteuer mit dem Filmprojektor, die Reparatur der Uhren und mein Versuch, ein Auto zu lenken, hatten mir einen flüchtigen Einblick in die Welt der Wissenschaft und Technik vermittelt. Dann ereigneten sich jedoch wich tigere Dinge: Mir wurde im Alter von 16 Jahren die politi sche Führung Tibets anvertraut, und ich begab mich 1954 auf Staatsbesuch nach China und 1956 nach Indien, die beide einen tiefen Eindruck in mir hinterließen. Die chine sische Armee war bereits in mein Land einmarschiert, und ich bemühte mich in langen und schwierigen Verhandlun gen um eine Übereinkunft mit der chinesischen Regierung. Meine erste Auslandsreise fuhrte mich nach Beijing, wo
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KAPITEL ZWE I
ich mich mit dem Vorsitzenden Mao, mit Chou En Lai und anderen Führern des Regimes traf. Zu diesem Staatsbesuch gehörte auch eine Reihe von Exkursionen, auf denen ich landwirtschaftliche Kooperativen und große Versorgungs betriebe - ein Wasserkraftwerk zum Beispiel - besichtigte. Zum ersten Mal hielt ich mich in einer modemen Stadt mit befestigten Straßen auf, und ich hatte auch meine erste Be· gegnung mit wirklichen Wissenschaftlern. Zwei Jahre später reiste ich anlässlich Buddhas 2500. To· destag nach Indien, wo die Hauptfeierlichkeiten in Delhi stattfanden. In späteren Jahren wurde mir der indische Pre mierminister Jawaharlal Nehru zu einem Berater und Freund, schließlich aber auch zu meinem Gastgeber im Exil. Nehru war sehr an der Wissenschaft interessiert. In diens Zukunft sah er in einer technischen und industriellen Entwicklung, und er vertraute auf den wissenschaftlichen Fortschritt. Nach den offiziellen Feierlichkeiten zum Tode Buddhas besuchte ich viele Regionen Indiens - nicht nur Pilgerstätten wie Bodhgaya, wo der Buddha das vollstän· dige Erwachen erlangt hatte, sondern auch wichtige Städte, Industriekomplexe und Universitäten. Damals hatte ich meine ersten Begegnungen mit spiritu· ellen Lehrern, die an der Integration von Wissenschaft und Spiritualität interessiert waren, unter anderem mit Mitglie dern der Theosophischen Gesellschaft in Madras. Die Theosophie war eine große spirituelle Bewegung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die sich um eine Synthese des religiösen und wissenschaftlichen Erbes der Menschheit bemühte. Zwei ihrer Begründerinnen, Madame Blavatsky und Annie Besant, stammten aus dem Westen, hatten je· doch viel Zeit in Indien verbracht.
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Bereits vor diesen offiziellen Reisen war mir bewusst ge worden, dass die Technik die Frucht oder der Ausdruck einer besonderen Art und Weise ist, die Welt zu verstehen. Die Wissenschaft bildet die Grundlage dieses Ausdrucks. Letztendlich stellt die Wissenschaft eine eigenständige Form der Erforschung der Wirklichkeit dar, und aus dem Wissen, das sich daraus ergibt, geht ein ihr entsprechendes Weltverständnis hervor. Obwohl meine anfangliche Faszi nation den technischen Artefakten gegolten hatte, ist es diese wissenschaftliche Form der Untersuchung - und nicht irgendeine spezielle Industrie oder ein mechanisches Spielzeug -, die mein tiefes Interesse geweckt hat. Nach und nach entdeckte ich durch die Gespräche, die ich mit anderen über die Wissenschaft führte - insbeson dere mit ihren professionellen Vertretern - gewisse Ähn lichkeiten in der Art und Weise des Forschens zwischen die ser Disziplin und dem buddhistischen Denken. Diese Ähnlichkeiten finde ich auch heute noch bemerkenswert. Der wissenschaftliche Ansatz, so wie ich ihn verstehe, fuhrt von der Beobachtung bestimmter Phänomene der mate riellen Welt zu einer theoretischen Verallgemeinerung, die Vorhersagen erlaubt, wie diese Phänomene sich verhalten, wenn sie in einer bestimmten Weise beeinflusst werden. Danach werden die Vorhersagen im Experiment überprüft. Die so gewonnenen Ergebnisse gehen in die allgemeine wissenschaftliche Erkenntnis ein, sobald ein Experiment korrekt durchgefuhrt wird und wiederholbar ist. Falls das Experiment einer vorherrschenden Theorie widerspricht, ist es die Theorie, die revidiert werden muss - denn die em pirische Beobachtung der Phänomene ist letztendlich vor rangig. Tatsächlich bewegt sich die Wissenschaft also von
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der empirischen Erfahrung über einen konzeptionellen Gedankenprozess, in dem das rationale Denken eine wich tige Rolle spielt, hin zu weiteren empirischen Erfahrungen, die das aufdie Vernunft gegründete Verständnis bestätigen. Immer wieder begeistern mich die Parallelen zwischen die ser Form der empirischen Untersuchung und jenen, die mir aus meiner buddhistisch-philosophischen Ausbildung und kontemplativen Praxis vertraut sind. Historisch gesehen hat sich der Buddhismus als eine Re ligion mit einem spezifischen Kanon von Schriften und Ri tualen entwickelt, doch genau genommen hat die Erkennt nis, die aus der Vernunft und der Erfahrung gewonnen wird, im Buddhismus ein stärkeres Gewicht als die Autori tät der Schriften. In einer berühmten Formulierung, in der der Buddha seine Anhänger aufforderte, die Gültigkeit sei ner Lehren nicht einfach nur aus Ehrfurcht gegenüber sei ner Person zu akzeptieren, stellte er die Autorität seiner ei
genen Worte infrage. So wie ein erfahrener Goldschmied die Reinheit des Goldes durch sorgfaltige Untersuchungen überprüft, sollten die Menschen, so lautet der Ratschlag Buddhas, die Richtigkeit seiner Worte persönlich untersu chen und in ihrer eigenen Erfahrung überprüfen. Wenn es darum geht, eine Behauptung fiir richtig zu er klären, misst der Buddhismus der Erfahrung den größten Wert bei, dann folgt die Vernunft und zuletzt erst die Autorität der Schriften. Die großen Meister der Nalanda Schule des indischen Buddhismus, aus der sich der tibe tische Buddhismus entwickelt hat, hielten sich nur an Buddhas eigenen Rat, als sie seine Lehren einer strengen und kritischen Prüfung unterzogen. In einer Beziehung unterscheiden sich die Methoden der
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Wissenschafi und des Buddhismus jedoch: Die wissen schaftliche Erforschung bedient sich des Experiments und bestimmter Instrumente zur Analyse externer Phänomene, die kontemplative Erforschung hingegen stützt sich aufdie Entwicklung einer verfeinerten Aufmerksamkeit, die dann bei der introspektiven Untersuchung innerer Erfahrungen angewandt wird. Beide teilen aber eine ausgesprochen em pirische Ausrichtung: Sobald die Wissenschaft den Beweis für die Existenz oder Nichtexistenz (was nicht gleichbedeu tend damit ist, ein Phänomen nicht auffinden zu können) einer Sache erbracht hat, müssen wir das als Tatsache akzep tieren. Falls sich eine Hypothese im Experiment als richtig erweist, müssen wir das anerkennen. In gleicher Weise muss der Buddhismus empirische Fakten akzeptieren - ob sie nun aufden Methoden der Wissenschaft beruhen oder auf kontemplativer Einsicht. Wenn wir einen Tatbestand un tersuchen und genügend Gründe und Beweise vorliegen, müssen wir ihn als Wirklichkeit anerkennen - selbst wenn dies einer wörtlichen Auslegung der Schriften, die über Jahrhunderte Gültigkeit besaß, oder einer tiefen Überzeu gung oder Sichtweise widerspricht. Die grundsätzliche Haltung, die von Buddhismus und Wissenschaft geteilt wird, ist also das Engagement für die Wahrheitssuche auf empirischer Grundlage und die Bereitschaft, sich von lange gehegten, allgemein anerkannten Ansichten zu trennen, wenn wir auf unserer Suche herausfinden, dass die Wahr heit eine andere ist. Im Unterschied zur Religion kann sich die Wissenschafi in ihrem Wahrheitsanspruch nicht auf die Autorität schrift licher Quellen berufen. Alle Erkenntnisse der Wissenschaft müssen durch das Experiment oder durch mathematischen
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Beweis erbracht werden. Es ist einfach nicht wissenschaft lich, eine Sache mit dem Hinweis auf die Aussagen Newtons oder Einsteins zu begründen. Damit steht am An fang einer Untersuchung immer eine geistige Haltung der Offenheit gegenüber einer Frage und den möglichen Ant worten. Ich betrachte diese Haltung als gesunden Skeptizis mus. Es ist eine Offenheit, die den Einzelnen für lebendige Einsichten und neue Entdeckungen bereit macht. Wenn diese Haltung sich mit der natürlichen menschlichen Sehn sucht nach Erkenntnis verbindet, kann sie zu wertvollen Erweiterungen unseres Horizonts beitragen. Selbstver ständlich bedeutet das nicht, dass alle Wissenschaftlerin nen und Wissenschaftler diesen Anspruch auch erfüllen. Viele sind möglicherweise noch immer in alten Paradigmen gefangen. In unserer buddhistischen Forschungstradition sind wir Tibeter dem klassischen Indien tief verpflichtet, der Hei mat buddhistisch-philosophischen Denkens und vieler spiritueller Lehren. Tibeter haben Indien schon immer als »das Land der Edlen« bezeichnet. Es ist das Land, das Buddha hervorgebracht hat, aber auch eine Reihe großer Meister, deren Schriften das philosophische Denken und die spirituelle Tradition der tibetischen Kultur von Grund aufgeprägt haben. Ich erinnere an den Philosophen Nagar juna aus dem 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, an die bedeutenden Geistesgrößen Asanga und seinen Bruder Vasubandhu im 4. und 5. Jahrhundert, an den großen Lehr meister der Ethik, Shantideva, sowie an Dharmakirti, den Logiker des 7. Jahrhunderts. Nach meiner Flucht aus Tibet im März 1959 hatten viele Tibeter und ich das große Glück, eine zweite Heimat in In
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dien zu finden. Indiens Präsident während meiner ersten Jahre im Exil war Dr. Rajendra Prasad, ein sehr spiritueller Mann und anerkannter Rechtswissenschafder. Der Vize präsident, der in späteren Jahren das Amt des Präsidenten innehatte, war Dr. Radhakrishnan, dessen berufliches und persönliches Interesse an der Philosophie allgemein be kannt war. Ich erinnere mich noch lebhaft daran, wie Ra dhakrishnan mitten in einer philosophischen Diskussion plötzlich eine Strophe aus Nagarjunas klassischem Werk
Lehrstrophen über die grundlegenden Lehren des Mittleren Weges (Skt. Mulamadhyamika-Karika) rezitierte. Es ist bemerkens wert, dass Indien seit seiner Unabhängigkeit 1947 immer wieder berühmte Denker und Wissenschaftler in das Präsi dentenamt berufen hat. Nach einem schwierigen Jahrzehnt des Einlebens - ich war behilflich bei der Ansiedlung von 80000 Tibeterinnen und Tibetern in verschiedenen Gebieten Indiens, der Gründung von Schulen !Ur die Jugend und un ternahm den Versuch, die Institutionen einer bedrohten Kultur zu be wahren - habe ich mich seit dem Ende der 1960erJahre auf internationale Reisen begeben. Weltweit habe ich dabei mein Verständnis der Bedeutung grundlegender mensch licher Werte zum Ausdruck gebracht, war immer wieder ein Fürsprecher des interreligiösen Dialogs und der Harmonie und ein Anwalt ftir die Rechte und die Freiheit des tibeti schen Volkes. Zugleich nutzte ich diese Gelegenheiten auch !Ur die Begegnung mit bedeutenden Wissenschafderinnen und Wissenschaftlern, mit denen ich über meine Interessen sprach, mein Wissen ausbaute und dadurch immer tiefer in die Welt der Wissenschaft und ihrer Methoden vordrang. Bereits in den 1960er Jahren diskutierte ich mit Besuchern
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in meiner Residenz in Dharamsala in Nordindien über die Berührungspunkte zwischen Religion und Wissenschaft. Zwei denkwürdige Begegnungen in dieser Zeit waren die mit dem Trappistenmönch Thomas Merton, den ein tiefes Interesse am Buddhismus auszeichnete und der mir die Augen fiir das Christentum öffnete, und mit dem Religi onswissenschaftIer Huston Smith. 'l-** Einer meiner ersten Lehrmeister der Natunvissenschaften
und einer meiner engsten Freunde unter den Wissenschaft lern - war der deutsche Physiker und Philosoph Carl Fried rich von Weizsäcker, der Bruder des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten. Obwohl er sich selbst als politisch ak tiven Professor der Philosophie zu beschreiben pflegte, der als Physiker ausgebildet worden war, hatte er in den 1930er Jahren als Assistent des QIantenphysikers Werner Heisen berg gearbeitet. Von Weizsäcker wird mir immer als inspi rierendes Beispiel eines Mannes in Erinnerung bleiben, der nach den Konsequenzen des wissenschaftlichen Fort schritts fragt - insbesondere nach den ethischen und poli tischen Konsequenzen. Unerbittlich bemühte er sich darum, die Strenge der philosophischen Untersuchung auf die natutwissenschaftliche Praxis anzuwenden, sie kritisch zu betrachten und Fragen zu stellen. Neben mehreren längeren informellen Gesprächen mit von Weizsäcker hatte ich das Glück, von ihm Unterweisun gen zu spezifischen naturwissenschaftlichen Themen zu er halten. Diese Treffen waren den direkten Belehrungen zwi schen Lehrer und Schüler, die ich aus meiner eigenen
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tibetisch-buddhistischen Tradition kannte, nicht unähn lich. Mehr als einmal waren wir in der glücklichen Lage, uns zwei volle Tage in Klausur zu begeben, während der von Weizsäcker mich in Qyantenphysik und ihren philosophi schen Konsequenzen unterwies. Ich bin äußerst dankbar fiir seine bewundernswerte Bereitschaft, mir so viel seiner
wertvollen Zeit gewidmet zu haben, aber auch für seine große Geduld, die er besonders dann bewies, wenn ich mit einer schwierigen These zu kämpfen hatte, was, ich muss es
zugeben, häufiger der Pali war. Von Weizsäcker unterstrich die zentrale Rolle der Empi rie in der Wissenschaft. Ihm zufolge kann man von Mate rie auf zwei Arten Kenntnis erlangen: sie kann uns phäno
menologisch gegeben sein oder durch logischen Schluss. So können wir zum Beispiel eine braune Stelle an einem Apfel mit unseren Augen erkennen - dies ist eine phäno menologische Gegebenheit. Den Tatbestand, dass der Ap fel wurmstichig ist, können wir aus der braunen Stelle und unserem Wissen über Äpfel und Würmer schließen. In der buddhistischen Philosophie finden wir ein Prin zip, demzufolge die Mittel zur Überprüfung einer An nahme der Natur des analysierten Gegenstandes zu ent sprechen haben. Palis es sich zum Beispiel um eine Annahme über Tatbestände der beobachtbaren Welt ein schließlich unserer eigenen Existenz handelt, kann diese mit den Mitteln der empirischen Erfahrung bestätigt oder verworfen werden. Im Buddhismus hat die empirische Me thode der direkten Beobachtung damit Vorrang vor allen anderen. Wenn sich eine Annahme jedoch auf Generalisie rungen bezieht, die wir aus unseren Erfahrungen durch Verallgemeinerung abgeleitet haben - Vorstellungen wie
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zum Beispiel die über die unbeständige Natur des Lebens oder die wechselseitige Verbundenheit der Wirklichkeit -, dann wird diese Behauptung durch die Vernunft, vornehm lich in Form des logischen Schließens, bestätigt oder ver worfen. Der Buddhismus bedient sich also ebenfalls der Methode logischen Schließens - ähnlich dem Modell earl Friedrich von Weizsäckers. Doch aus buddhistischer Sicht existiert noch eine weitere Ebene der Wirklichkeit, die sich dem unerleuchteten Geist allerdings meist nicht erschließt. Ein typisches klassisches Beispiel dafur wären die subtilste Ebene karmischer Aktivi tät und die Frage nach der Vielfalt der Arten von Wesen in der Welt. Nur zur Betätigung von Aussagen auf dieser Ebene der Wirklichkeit wird die Autorität der Schriften he rangezogen, da sich fur Buddhistinnen und Buddhisten die Aussagen Buddhas fur die Untersuchung der Natur der Wirklichkeit und des Pfades, der zur Befreiung fuhrt, als zu verlässig erwiesen haben. Zwar sind diese drei Methoden der Bestätigung von Aussagen - Erfahrung, Induktion und zuverlässige Textautorität - bereits in den frühesten Ent wicklungen buddhistischen Denkens implizit vorhanden, doch wurden sie erst von den indischen Logikern Dignaga (5. ]h.) und Dharmakirti (7. ]h.) im Sinne einer systemati schen philosophischen Methode ausformuliert. Bei der dritten Methode trennen sich die gemeinsamen Wege von Buddhismus und Wissenschaft, da Letztere die schriftliche Autorität zumindest im Prinzip nicht aner kennt. Doch auf den ersten beiden Ebenen - empirische Erfahrung und Vernunft - gibt es zwischen beiden For schungstraditionen eine große Übereinstimmung, was die Methoden betrifft. In unserer Alltagserfahrung wenden wir
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aus Gewohnheit jedoch regelmäßig die dritte Methode an, um unsere Behauptungen über die Wirklichkeit zu bestäti gen. So gehen wir zum Beispiel autgrund der Aussagen un serer Verwandten und der schriftlichen Autorität einer Ge burtsurkunde von der Richtigkeit unseres Geburtsdatums aus. Doch auch in den Naturwissenschaften werden von uns Ergebnisse, die von Forschern in Fachzeitschriften pu bliziert werden, meist als gültig betrachtet, ohne dass wir sie im Experiment selbst überprüft hätten. Meine Auseinandersetzung mit der Wissenschaft gewann zweifelsohne an Tiefe, als ich dem bedeutenden Physiker David Bohm begegnete. Er war einer der größten Denker, die ich je kennen gelernt habe, und sein Geist zeichnete sich durch äußerste Offenheit aus. Das erste Mal kreuzten sich unsere Wege während meiner zweiten Europareise 1979 in England. Wir verstanden uns vom ersten Moment unserer Begegnung - später fand ich heraus, dass auch Bohm im Exil gelebt hatte; er hatte die USA während der Verfolgungen der McCarthy-Zeit verlassen müssen. Da mals begann eine lebenslange Freundschafi, in der uns ein gemeinsames Nachdenken verband. David Bohm unter stützte mich in meinen Versuchen, die subtilen Facetten wissenschafilichen Denkens, insbesondere in der Physik, zu verstehen, und brachte mir die wissenschaftliche Welt sicht in hervorragender Weise nahe. In den tiefgründigen Gesprächen mit Physikern wie Bohm und von Weizsäcker, denen ich aufmerksam zuhörte, war ich schließlich in der Lage, den Feinheiten ihrer ausführlichen Erläuterungen zu folgen. Leider blieb ofi nicht allzu viel hängen, nachdem wir auseinander gegangen waren! Die eingehenden Diskus sionen mit Bohm, die wir über zwei Jahrzehnte regelmäßig
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führten, regten mein Nachdenken über die Beziehung zwi schen den buddhistischen Untersuchungsmethoden und denen der modernen Naturwissenschaften an. Ich bewunderte vor allem Bohms erstaunliche Offenheit gegenüber allen Bereichen der menschlichen Erfahrung, nicht nur gegenüber der materiellen Welt seiner eigenen Disziplin, sondern auch gegenüber allen Aspekten des Sub jektiven, einschließlich der Frage des Bewusstseins. In un seren Gesprächen spürte ich die Anwesenheit eines großen wissenschaftlichen Geistes, bereit, den Wert von Beobach tungen und Einsichten anderer Erkenntnisweisen als der naturwissenschaftlichen anzuerkennen.
Eine der herausragenden Q,!alitäten Bohms war seine faszinierende und zutiefSt philosophische Begabung, wis senschaftliche Untersuchungen mittels Gedankenexperi menten durchzuführen. Einfach gesagt handelt es sich dabei um ein fiktives Szenario, innerhalb dessen eine spe zielle Hypothese daraufhin untersucht wird, welche Konse quenzen sie für normalerweise unwiderlegbar gehaltene Annahmen haben mag. Viele Einsichten Einsteins über die Relativität von Zeit und Raum beruhen aufsolchen Gedan kenexperimenten, in denen er das Verständnis der Physik seiner Zeit überprüfte. Eines der berühmtesten Beispiele ist das so genannte Zwillingsparadox, bei dem ein Bruder eines Zwillingspaares auf der Erde bleibt, während der an dere mit einem Raumschiff, das sich knapp unterhalb der Lichtgeschwindigkeit bewegt, eine Reise unternimmt. Für den Bruder, der sich im Raumschiff befindet, verlangsamt sich die Zeit. Wenn er zehn Jahre später zurückkehrt, wird er feststellen, dass sein Zwillingsbruder auf der Erde weit schneller gealtert ist als er selbst. Zum vollen Verständnis
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dieses Paradoxons muss man sich mit komplexen mathe matischen Gleichungen auskennen - leider übersteigt das meine Fähigkeiten. In meiner Beschäftigung mit der Wissenschaft hat mich diese Methode der Analyse immer fasziniert, da sie große Parallelen mit dem buddhistisch-philosophischen Denken aufWeist. Bevor wir uns kennen lernten, hatte Bohm viel Zeit mit dem indischen spirituellen Denker Jiddu Krishna murti verbracht, mit dem er sich ebenfalls in ausführlichen Gesprächen austauschte. Immer wieder haben Bohm und ich darüber nachgedacht, worin der Zusammenhang zwi schen den objektiven Methoden der Wissenschaft und der meditativen Praxis besteht, die aus buddhistischer Sicht auch empirisch vorgeht. Obwohl die Gewichtung von Empirie und Intellekt in Buddhismus und Wissenschaft ähnlich ist, gibt es doch tief greifende Unterschiede im Verständnis dessen, was eine empirische Erfahrung darstellt und welche Methoden des Nachdenkens in beiden Traditionen zur Anwendung kom men. Im Buddhismus ist die Vorstellung von empirischer Erfahrung weiter gefasst und beinhaltet meditative Einsich ten ebenso wie Sinneswahrnehmungen. In den letzten zweihundert Jahren haben bedeutende technologische Entwicklungen dazu geführt, die Fähigkeit unserer Sinne in einem Maße zu erweitern, wie es in früheren Zeiten un denkbar gewesen wäre. Heute können Forscher mit dem bloßen Auge - zugegebenermaßen mithilfe leistungsstar ker Instrumente wie Mikroskope und Teleskope - erstaun lich kleine Phänomene wie Zellen oder komplexe atomare Gebilde, aber auch die großen Strukturen des Kosmos un tersuchen. Durch den erweiterten Sinneshorizont ist es der
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Wissenschaft gelungen, die logisch schließende Erkenntnis über die bekannten Grenzen menschlichen Wissens hi nauszufuhren. Die Spuren in den Blasenkammern lassen die Physiker heutzutage auf die Existenz der Bausteine des Atoms schließen - bis hin zu den Q1arks und Gluonen im Inneren von Neutronen.
Als ich in meiner Kindheit mit dem Teleskop des 13. Dalai Lama experimentierte, wurde mir das Potential des logischen Schließens auf der Basis empirischer Beobach tung eindrucksvoll vor Augen geftihrt. In der tibetischen Kultur sprechen wir vom »Kaninchen aufdem Mond« - ich glaube, im Westen sieht man einen Mann anstatt eines Ka ninchens. Jedenfalls entschloss ich mich in einer Herbst nacht, es war Vollmond, und unser Trabant war besonders deutlich zu sehen, das Kaninchen mit meinem Teleskop zu betrachten. Zu meiner eigenen Überraschung bemerkte ich etwas, das wie Schatten aussah. In meiner Entdeckerneude brachte ich meine beiden Hauslehrer dazu, einen Blick durch das Teleskop zu werfen. Die Existenz von Schatten aufdem Mond sei ein Beweis dafur, erklärte ich ihnen, dass der Mond, wie die Erde auch, von der Sonne angestrahlt wird. Sie waren verwirrt, mussten jedoch zugeben, dass wir
auf dem Mond zweifelsohne Schatten erkennen konnten. Später, als ich mir Aufnahmen von Mondkratern in Zeit schriften ansah, bemerkte ich das gleiche Phänomen: Eine Seite des Kraters lag im Schatten, die andere nicht. Aus die ser Beobachtung leitete ich die Existenz einer Lichtquelle ab, die fur dieses Phänomen verantwortlich sein musste. Ich vermutete, dass die Sonne die Lichtquelle dieses Schat tenwurfs war, und als ich später entdeckte, dass dies tatsäch lich so ist, war ich begeistert.
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Genau genommen gehört dieser Prozess der Schlussfolge rung weder dem Buddhismus noch der Wissenschaft, son dern er ist eine grundlegende Aktivität des menschlichen Geistes, die wir jeden Tag ganz natürlich einsetzen. Jungen Mönchen und Nonnen in der Ausbildung wird die Schluss folgerung als logisches Prinzip durch das Bild einer Rauch wolke nahe gebracht, die über einem Bergpass steht und aus der Ferne auf ein Feuer schließen lässt. In Tibet ist es normal, aus der Existenz von Feuer auf eine menschliche Ansiedlung zu schließen. Wir können uns ganz einfach einen Reisenden vorstellen, der nach einem Tagesmarsch durstig ist und sich nach einer Tasse Tee sehnt. Er sieht den Rauch, schließt auf ein Feuer und damit auf eine Behau sung, in der er Unterschlupffur die Nacht finden kann. Auf der Grundlage dieser Schlussfolgerung ist der Reisende in der Lage, sich seinen Wunsch nach einer Tasse Tee zu erful len. Von einem beobachteten Phänomen, das den Sinnen direkt zugänglich ist, können wir auf etwas Verborgenes schlieflen. Diese Form der Schlussfolgerung existiert im Buddhismus und in der Wissenschaft.
*>,>, 1973, auf meiner ersten Europareise, hatte ich die Ehre, einem weiteren großen Geist des 20. Jahrhunderts zu be gegnen: dem Philosophen Sir Karl Popper. Wie ich selbst, hatte auch Popper einst im Exil gelebt - er hatte seine Hei matstadt Wien während der Naziherrschaft verlassen müs sen -, und er war einer der schärfsten Kritiker des Totalita rismus. Uns verband also vieles. Als ich ihm begegnete, war Popper bereits ein älterer Herr über 70, mit wachen Augen
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und emer großen intellektuellen Schärfe. Ich ahnte die Kraft, die er in seiner Jugend ausgestrahlt haben muss, als ich die Leidenschaft spürte, mit der er über das Problem au toritärer Regime sprach. In unserer Begegnung ging es nicht so sehr um Fragen des Verhältnisses von Wissenschaft und Religion, sondern Popper gab eher seiner Sorge über eine wachsende Bedrohung durch den Kommunismus Aus druck, sprach von der Gefahr totalitärer politischer Sys teme und der Herausforderung, individuelle Freiheiten und eine offene Gesellschaft zu bewahren. Wir sprachen damals jedoch auch über methodologische Ansätze in der Wissenschaft. Mein Englisch war jedoch noch nicht so gut wie heute, und meine Übersetzer hatten noch keine große Erfahrung. Betrachtungen über Philosophie und Methodologie sind noch anspruchsvoller als Gespräche über die empirische Wissenschaft. Deshalb profitierte ich von dieser Gelegen heit, Popper zu treffen, vielleicht nicht so sehr wie von mei nen Begegnungen mit David Bohm und earl Friedrich von Weizsäcker. Zwischen uns entwickelte sich jedoch eine Freundschaft, und wir trafen uns jedes Mal, wenn ich nach England kam, einschließlich eines unvergesslichen Besuchs 1987, als ich zum Tee in sein Haus in Kenley in Surrey ein geladen war. Ich liebe Blumen, vor allem Orchideen, und Gartenarbeit, und Sir Karl fuhrte mich mit großem Stolz durch seinen Garten und sein Gewächshaus. Zu dieser Zeit war mir Poppers großer Einfluss in der Wissenschaftsphilo sophie, insbesondere in der Methodenlehre, deutlich ge worden.
Einer der wichtigsten Beiträge Poppers besteht in der Klä rung der jeweiligen Rolle induktiver und deduktiver
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Schlussfolgerungen bei der Formulierung und Bestätigung wissenschaftlicher Hypothesen. Induktion ist eine Verall gemeinerung, die von einer Anzahl empirischer Einzel beobachtungen ausgeht. Unser Alltagswissen über die Be ziehung von Ursache und Wirkung beruht zumeist auf Induktion - aus der wiederholten Beobachtung der Bezie hung von Rauch und Feuer leiten wir die Annahme ab, dass überall da, wo es Rauch gibt, auch ein Feuer brennt. Im Ge gensatz dazu bezeichnet Deduktion den umgekehrten Pro zess: Aus dem Wissen um allgemeine Wahrheiten schlie ßen wir auf bestimmte Beobachtungen. Nehmen wir an, wir wissen, dass alle Autos, die nach 1995 in Europa produ ziert wurden, mit bleifreiem Benzin fahren, und wir hören von einem Freund, sein Wagen sei im Jahr 2000 gebaut worden. Daraus können wir deduzieren, dass er bleifreies
Benzin benutzt. In der Wissenschaft sind die Formen der Induktion und Deduktion selbstverständlich sehr viel komplexer. Insbesondere die Deduktion setzt den Einsatz höherer Mathematik voraus. Ein Bereich des Denkens, in dem sich Buddhismus und Wissenschaft unterscheiden, betrifft die Rolle der Deduk tion. Die Wissenschaft zeichnet sich gegenüber dem Buddhismus vor allem durch ihren hoch entwickelten Ein satz komplexer mathematischer Überlegungen aus. Wie in anderen klassischen Philosophien Indiens auch, ist die Lo gik im Buddhismus im Laufe der Geschichte sehr konkret geblieben - ihr Nachdenken hat sich nie aus den gegen ständlichen Zusammenhängen gelöst. Im Gegensatz dazu ermöglichen die mathematischen Untersuchungen der Wissenschaft einen hohen Grad an Abstraktion und kön nen die Unanfechtbarkeit oder Ungültigkeit eines Argu
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mentes einzig und allein auf der Grundlage der Richtigkeit einer Gleichung entscheiden. In einem gewissen Sinne sind die Verallgemeinerungen der Mathematik auf einer höhe ren Ebene angesiedelt als die traditionellen Formen der Logik. Wenn man die erstaunlichen Erfolge der Mathema tik in Betracht zieht, wundert es nicht, dass einige Men schen die mathematischen Gesetze fUr absolut halten und in der Mathematik die wahre Sprache der Realität erken nen, die der Natur selbst innewohnt. In meinen Augen gibt es zwischen Buddhismus und Wis senschaft noch einen weiteren Unterschied im Hinblick auf das, was eine gültige Hypothese auszeichnet. Auch hier stellt Poppers Beschreibung dessen, was im engeren Sinne eine wissenschaftliche Frage von einer unwissenschaftli chen unterscheidet, eine tiefe Einsicht dar. Gemeint ist Poppers Prinzip der Falsifikation. Ihm zufolge muss jede wissenschaftliche Theorie die Bedingungen enthalten, durch die ihre eigene Ungültigkeit bewiesen werden kann. In diesem Sinne kann die Theorie, dass Gott die Welt er schaffen hat, nicht wissenschaftlich sein, da sie keinen Hin weis auf die Bedingungen enthält, unter denen bewiesen werden könnte, dass sie falsch ist. Wenn wir dieses Popper sehe Kriterium anerkennen, liegen viele wichtige Fragen, die unsere menschliche Existenz betreffen, Fragen der Ethik, Ästhetik und der Spiritualität zum Beispiel, außer halb des Bereichs der Wissenschaft. Im Gegensatz dazu ist der Bereich der Forschung im Buddhismus nicht allein auf das Objektive beschränkt. Er umfasst ebenso die subjektive Welt der Erfahrung wie auch Fragen nach ethischen Wer ten. Anders gesagt: Die Wissenschaft beschäftigt sich mit empirischen Tatsachen, aber nicht mit Metaphysik und
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Ethik, während sich die kritischen Fragestellungen des Buddhismus gleichermaßen auf alle drei Bereiche richten. Poppers Prinzip der Falsifikation lässt ein zentrales me thodologisches Prinzip meiner eigenen tibetisch-buddhis tischen philosophischen Tradition anklingen. Wir könnten es als »Prinzip des Ausmaßes der Negation« bezeichnen. Dieses Prinzip unterscheidet zwischen dem, was »nicht auffindbar«, und dem, was »nicht existierend auffindbar« ist. Wenn wir etwas suchen, aber nicht finden können, be deutet das noch lange nicht, dass der gesuchte Gegenstand nicht existiert. Ein Phänomen nicht wahrnehmen zu kön nen ist nicht das Gleiche, wie die Nichtexistenz eines Phänomens zu erkennen. Um die Tatsache, dass wir ein Objekt nicht wahrnehmen, mit der Gewissheit seiner Nichtexistenz in Übereinstimmung zu bringen, müssen Untersuchungsmethode und untersuchter Gegenstand ei nander entsprechen. Wenn Sie zum Beispiel auf der Seite, die Sie gerade lesen, keinen Skorpion sehen, so ist das ein gültiger Beweis darur, dass es dort wirklich keinen Skor pion gibt. Würde sich auf dieser Seite ein Skorpion befin den, so wäre er auf jeden Fall mit dem bloßen Auge sicht bar. Wenn Sie jedoch in dem Papier, auf dem diese Seite gedruckt ist, keine Säure erkennen, haben Sie damit noch keine Gewissheit darüber, dass es sich dabei um säurefreies Papier handelt, da wir zum Nachweis der Säure andere In strumente als das bloße Auge benötigen. Tsongkhapa, ein tibetischer Philosoph des 14. Jahrhunderts, geht noch wei ter und behauptet, ein ähnlicher Unterschied bestehe zwi schen dem, was von der Vernunft negiert, und dem, was von der Vernunft nicht bestätigt wird, wie auch zwischen dem, was der kritischen Analyse nicht standhalten kann,
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und dem, was durch die kritische Analyse in Zweifel gezo gen wird. Solche methodologischen Unterscheidungen mögen uns vielleicht völlig sinnlos erscheinen, sie sind jedoch von gro ßer Tragweite für unser Verständnis des Rahmens, in dem wissenschaftliche Untersuchungen stattfinden. So ist zum Beispiel die Tatsache, dass die Wissenschaft die Existenz Gottes nicht bewiesen hat, flir die Anhänger theistischer Traditionen kein Argument, das gegen die Existenz Gottes spricht. Ebenso verhält es sich mit der Frage der Reinkarna tion: Obwohl die Wissenschaft bisher nicht zweifelsfrei nachweisen konnte, dass Wesen wiedergeboren werden, be deutet das noch lange nicht, dass es nicht doch so sein könnte. Zwar hat die Wissenschaft bisher noch kein Leben außerhalb unseres Planeten entdeckt, doch beweist das noch lange nicht die Nichtexistenz anderer Lebewesen im Kosmos. Bis Mitte der 1980er Jahre hatte ich auf meinen zahlrei chen Reisen, die ich von Indien aus unternahm, viele Wis senschafrler und Wissenschaftstheoretiker kennen gelernt und mich mit ihnen in öffentlichen und privaten Gesprä chen ausgetauscht. Besonders anfangs waren einige dieser
Begegnungen nicht sonderlich fruchtbar. Auf dem Höhe punkt des Kalten Krieges traf ich in Moskau einige Wissen schaftler, die auf meine Ausftihrungen über das Bewusst sein mit einem Angriff auf das religiöse Konzept der Seele reagierten, da sie annahmen, dass ich es vertrete. In Austra
lien begann ein Wissenschaftler seine Ausflihrungen mit einer recht feindseligen Bemerkung darüber, dass seine Funktion darin bestehe, die Wissenschaft gegenüber An griffen von Seiten der Religion zu verteidigen. Doch das
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Jahr 1987 leitete einen neuen Abschnitt in meiner Ausei nandersetzung mit der Wissenschaft ein. Damals fand die erste der »Mind and Life«-Konferenzen in meiner Residenz in Dharamsala statt. Diese Begegnung hatten der chilenische Neurowissen schaftler Francesco Varela, der in Paris lehrte, und der ame rikanische Geschäftsmann Adam Engle organisiert. Varela und Engle waren mit dem Vorschlag an mich herangetreten, eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft lern aus unterschiedlichen Disziplinen zusammenzufuh ren, die der Idee eines Dialoges aufgeschlossen gegenüber standen, damit wir uns in offenen, informellen Gesprächen eine Woche lang begegnen konnten. Ich packte die Gelegen heit sofort beim Schopfe. Dies war eine große Chance, noch mehr über die Wissenschaft zu lernen und mich über den neu esten Stand der Forschung und des wissenschaftlichen Denkens zu informieren. Alle Teilnehmer dieser ersten Zu sammenkunft waren so begeistert, dass wir unsere Begeg nungen mit einem einwöchigen Treffen alle zwei Jahre bis auf den heutigen Tag fortsetzen. Varela sah ich zum ersten Mal aufeiner Konferenz in Ös terreich. Im selben Jahr trafen wir uns unter vier Augen und wurden Freunde. Varela war ein schlanker Mann, der eine Brille trug und mit sanfter Stimme sprach. In ihm verband sich ein empfindsamer, logischer Geist mit einer großen Präzision des Ausdrucks, was ihn zu einem herausragenden Lehrer machte. Er nahm die buddhistische Philosophie und ihre kontemplative Tradition sehr ernst, aber in seinen Vorträgen präsentierte er die zentralen wissenschaftlichen Strömungen der Gegenwart in einer schlichten und unvor eingenommenen Weise. Ich kann meine Dankbarkeit ge
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genüber Varela und Engle, aber auch gegenüber Barry Hers hey, der großzügig die Mittel bereitstellte, um den Wissen schaftlern die Reise nach Dharamsala zu ermöglichen, gar nicht genügend zum Ausdruck bringen. In unseren Gesprä chen hatte ich die Unterstützung zweier äußerst fahiger Dolmetscher, des arnerikanisch-buddhistischen Gelehrten Alan Wallace und die meines eigenen Übersetzers, Thup tenJinpa. Während dieser ersten »Mind and Life«-Konferenz wurde mir zum ersten Mal ein vollständiger historischer Überblick über die Entwicklung der Methoden in der Wis senschaft des Westens präsentiert. Von besonderem Inte resse war ftir mich die Vorstellung des Paradigmenwechsels, also die einer grundlegenden Veränderung des Weltbildes einer Kultur und ihres umfassenden Einflusses auf alle As pekte des wissenschaftlichen Verständnisses. Ein Paradebei spiel ist der Wechsel vom Weltbild der klassischen Physik Newtons zu dem der Relativitätstheorie und der Quanten mechanik am Anfang des 20. Jahrhunderts. Anfangs traf mich der Gedanke des Paradigmenwechsels wie ein Schock. Bis dahin hatte ich die Wissenschaft als eine sorgfaltige Suche nach der absoluten Wahrheit über die Wirklichkeit betrachtet, deren einzelne Entdeckungen Schritte eines Zu wachses im kollektiven Wissen der Menschheit darstellen. Im Idealfall, so glaubte ich, würden wir ein abschließendes Stadium des vollständigen und perfekten Wissens errei chen. Jetzt hörte ich, dass subjektive Faktoren an der Ent wicklung jedes Paradigmas beteiligt sind und wir deshalb nur mit Vorbehalt von einer objektiven Wirklichkeit, die uns die Wissenschaft eröffuet, sprechen können. Wenn ich mit aufgeschlossenen Wissenschaftlern und
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Philosophen spreche, bemerke ich immer wieder, dass sie ein sehr differenziertes Verständnis von Wissenschaft und den Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis haben. Dane ben gibt es jedoch sehr viele Menschen, Wissenschaftler, Wissenschaftlerinnen und andere, die der Ansicht sind, alle Aspekte der Wirklichkeit müssten und würden un ter die Kompetenz der Wissenschaft fallen. Immer wieder wird die Auffassung vertreten, die Wissenschaft werde mit dem Fortschreiten der Gesellschaft nach und nach die Irrtümer des Glaubens, insbesondere des religiösen Glaubens, auf zeigen, so dass sich am Ende eine aufgeklärte, säkulare Ge sellschaft herausbilden wird. Diese Ansicht teilt auch der marxistisch dialektische Materialismus, was ich in den 1950er Jahren in meinen Verhandlungen mit den Führern des kommunistischen Chinas erfahren musste - und später in meiner eigenen Beschäftigung mit dem marxistischen Denken, während ich noch in Tibet war, bestätigt fand. Nach dieser Ansicht hätte die Wissenschaft viele Annah men der Religion widerlegt, etwa über die Existenz Gottes, die Gnade und die ewige Seele. Innerhalb dieses theoreti schen Rahmens ist alles, was von der Wissenschaft nicht nachgewiesen oder bestätigt werden kann, falsch oder be deu tungslos. Doch diese Anschauungen sind nichts ande res als philosophische Annahmen, in denen sich die meta physischen Vorurteile derjenigen äußern, die sie vertreten. So, wie wir in der Wissenschaft aufjeden Dogmatismus ver zichten müssen, sollten wir in unserer spirituellen Praxis darauf achten, sie frei von den gleichen Begrenzungen zu halten . Die Wissenschaft beschäftigt sich mit den Aspekten der Wirklichkeit und der menschlichen Erfahrung, die einer
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besonderen Methode der Untersuchung zugänglich sind, zu der spezielle Methoden der empirischen Beobachtung, der Quantifizierung und des Messens, der Wiederholbar keit und der intersubjektiven Bestätigung gehören - mehr als ein Mensch muss in der Lage sein, sagen zu können: »Ja, ich habe das Gleiche gesehen; ich habe die gleichen Resul tate erzielt.« Angemessenes wissenschaftliches Forschen ist demnach auf die physische Welt begrenzt, einschließlich des menschlichen Körpers, astronomischer Körper, messba rer Energie und physikalischer Strukturen. Die daraus ge wonnenen empirischen Erkenntnisse bilden die Grundlage von weiteren Untersuchungen und Verallgemeinerungen, die in die allgemeinen Erkenntnisse der Wissenschaft einge hen. Dies ist tatsächlich das gegenwärtige Paradigma dessen, was Wissenschaft ausmacht. Doch sicherlich erschöpfen sich darin nicht alle Aspekte der Wirklichkeit, insbesondere nicht das Wesen unserer menschlichen Existenz. Denn neben der objektiven Welt der Materie, die von der Wissen schaft so hervorragend erforscht wird, gibt es die subjektive Welt der Empfindungen, Gefuhle, Gedanken sowie der ethischen Werte und spirituellen Hoffnungen, die in ihnen gründen. Wenn wir diesen Bereich außer Acht lassen und ihn so behandeln, als spiele er keine maßgebende Rolle fur unser Verständnis der Wirklichkeit, verzichten wir auf den Reichtum unserer Existenz, und unsere Einsicht wird nicht vollkommen sein. Die Wirklichkeit, einschließlich unseres eigenen Lebens, ist weitaus komplexer als die Beschreibun gen des objektiven wissenschaftlichen Materialismus.
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KAPITEL DREI
Leerheit, Relativität und Quantenphysik Eine der anregendsten Erfahrungen, die uns die Wissen schaft zu bieten hat, besteht darin, dass sich unser Weltver ständnis immer wieder durch neue Erkenntnisse verändert. Die Physik ringt immer noch mit den Konsequenzen des Paradigmenwechsels, der sich aus der Entwicklung der Relativitätstheorie und der Qyantenmechanik am Anfang des 20. Jahrhunderts ergeben hat. Seitdem sind Wissen schaftler und Philosophen beständig mit zwei sich wider sprechenden Modellen der Wirklichkeit konfrontiert: dem mechanischen und vorhersagbaren Universum Newtons und einem eher chaotischen Kosmos der Relativitätstheo
rie und Qyantenmechanik. Welche Auswirkungen dieses zweite Modell auf unser Weltverständnis hat, ist noch immer nicht in vollem Ausmaß deutlich. Mein eigenes Weltbild gründet in der Philosophie und den Lehren des Buddhismus, der sich im intellektuellen Mi lieu des alten Indien entwickelt hat. Bereits in jungenjahren wurde ich mit der alten indischen Philosophie vertraut ge macht. Meine Lehrer waren der damalige Regent Tibets, Tadrak Rinpoche, sowie Ling Rinpoche. Tadrak Rinpoche war bereits ein alter Mann, hoch angesehen und sehr streng. Ling Rinpoche war viel jünger als er, mit einem sanften We sen und leiser Stimme, ein großer Gelehrter und doch zu gleich ein Mann, der nicht viele Worte machte Gedenfalls während meiner Kindheit). In ihrer Gegenwart fürchtete ich
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KAPITEL DREI
mich immer sehr. Daneben gab es mehrere philosophische Assistenten, die mit mir über die Dinge debattierten, die ich gelernt hatte. Unter ihnen befanden sich Trijang Rinpoche und der berühmte mongolische Mönchsgelehrte Ngodrup Tsoknyi. Nach dem Tode Tadrak Rinpoches wurde Ling Rinpoche mein älterer Hauslehrer, und Trijang Rinpoche wurde zum jüngeren Hauslehrer befordert. Beide waren bis zum Abschluss meiner formalen Ausbil dung meine Lehrer und haben mir nach und nach die zahl reichen Lehrlinien des tibetisch-buddhistischen Erbes übertragen. Diese Männer waren eng miteinander befreun det, hatten jedoch ganz unterschiedliche Charaktere. Ling Rinpoche war ein stämmiger Mann mit einem glänzenden, kahlen Schädel, dessen ganzer Körper bebte, sobald er lachte. Er hatte eine große Präsenz und kleine Augen. Im Gegensatz dazu war Trijang Rinpoche ein hoch gewachse ner, schlanker Mann mit großer Anmut und Eleganz, der fur einen Tibeter eine recht lange Nase hatte. Er war sehr freundlich, und seine tiefe Stimme klang besonders ange nehm, wenn er rezitierte. Ling Rinpoche galt als scharf sinniger Philosoph mit einem schneidenden Verstand, der ein guter Debattierer war und über ein phänomenales Gedächtnis verfugte. Trijang Rinpoche war einer der größ ten Dichter seiner Generation, umfassend belesen und mit einem feinen Sinn fur Kunst und Literatur begabt. Mein ei gener Charakter und meine natürlichen Talente ähneln eher denen Ling Rinpoches als irgendeines anderen meiner Hauslehrer. Es ist sicherlich richtig, wenn ich behaupte, dass Ling Rinpoche den größten Einfluss auf mein Leben gehabt hat. Als ich anfangs mit den verschiedenen Lehren der alten
Letrheit. Relativität undQuantmphysik
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indischen Philosophie bekannt gemacht wurde, war es mir unmöglich, sie auf meine persönliche Erfahrung zu bezie hen. So geht zum Beispiel die Samkhya-Theorie über die Kausalität davon aus, dass jede Wirkung eine Manifesta tion von etwas ist, was in der Ursache bereits vorhanden war. In der Vaisheshika-Theorie der Universalien wird be hauptet, dass der Vielfalt einer Klasse von Objekten eine ideale, beständige Allgemeinheit zugrunde liegt, die unab hängig von den einzelnen Objekten existiert. Es gab indi sche theistische Begründungen der Existenz eines Schöpfer gottes und die buddhistischen Gegenargumente. Und schließlich musste ich mich auch noch mit vielen diffizilen Unterschieden in den Lehren der verschiedenen buddhisti schen Schulen beschäftigen. Das alles war zu esoterisch, um fur das Leben eines Jungen im frühen Jugendalter, dessen Begeisterung aufdas Auseinandernehmen und Zusammen setzen von Uhren, auf Autos und das Betrachten von Foto grafien über den Zweiten Weltkrieg in Büchern und Heften der Zeitschrift Lift gerichtet war, eine direkte Bedeutung zu haben. Wenn Babu Tashi den Generator auseinander nahm und reinigte, stand ich neben ihm und wollte helfen. Über die Dinge, die mir Freude bereiteten, vergaß ich immer wie der meine Studien und manchmal sogar meine Mahlzeiten. Wenn meine philosophischen Assistenten das Gelernte mit mir noch einmal durchgingen, war ich mit meinen Gedan ken beim Generator und seinen Einzelteilen. Alles änderte sich aber, als ich sechzehn wurde. Die Er eignisse überstürzten sich. Als die chinesisdle Armee im Sommer 1950 an den Grenzen Tibets stand, hielt Tadrak Rinpoche, der Regent, die Zeit fur gekommen, mir die voll ständige politische Führung des Landes anzuvertrauen.
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KAPITEL DREI
Vielleicht war es dieser Verlust meiner Jugend mit sechzehn Jahren, ausgelöst durch die bedrohliche Wirklichkeit einer Katastrophe, die über uns hereingebrochen war, die mir den wahren Wert meiner Erziehung nahe brachte. Was auch immer der Grund gewesen sein mag, ab meinem 16.
Lebensjahr hatte meine Beschäftigung mit buddhistischer Philosophie, Psychologie und Spiritualität eine neue Qy.a lität. Ich widmete mich von nun an nicht nur meinen Stu dien mit ganzem Herzen, sondern ich konnte vieles von dem, was ich gelernt hatte, nun auch auf mein eigenes Le bensverständnis und die Ereignisse in der Welt beziehen. Als ich damals damit begann, immer tiefer in das Stu dium und die meditative Kontemplation der buddhisti schen Lehre und Praxis vorzudringen, gestalteten sich Ti bets diffizile Verhandlungen mit den chinesischen Kräften im Lande - mit dem Ziel, eine für beide Seiten befriedi gende Übereinkunft zu treffen - immer schwieriger. Kurz nach Beendigung meiner formalen Ausbildung, nachdem ich in der heiligen Stadt Lhasa in Gegenwart von mehreren Tausend Mönchen mein Geshe-Examen abgelegt hatte, das den Höhepunkt meiner akademischen Studien bildete, zwangen mich die zunehmenden Spannungen in Zentral tibet, meine Heimat in Richtung Indien zu verlassen und das Leben eines staatenlosen Flüchtlings zu fuhren. Bis heute ist das mein rechtlicher Status. Doch indem ich die Staatsangehörigkeit meines eigenen Landes verlor, fand ich, in einem tieferen Sinne, meinen eigentlichen Platz: Ich kann von ganzem Herzen sagen, dass ich ein Bürger dieser Welt bin. ::-**
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Eine der wichtigsten philosophischen Einsichten des Buddhismus entspringt der so genannten Theorie der Leer heit. Ihr Herzstück ist die tiefe Einsicht in die grundlegende Widersprüchlichkeit zwischen der Art unserer Wahrneh mung der Welt, einschließlich unseres eigenen Daseins in ihr, und der Art, wie die Dinge tatsächlich sind. In unserer Alltagserfahrung verhalten wir uns gegenüber der Welt und uns selbst im Allgemeinen so, als besäßen diese Entitäten eine in sich geschlossene, definierbare, abtrennbare und dauerhafte Wirklichkeit. Wenn wir zum Beispiel unsere ei gene Vorstellung von Persönlichkeit betrachten, werden wir erkennen, dass wir dazu neigen, an das Vorhandensein eines grundlegenden Wesenskerns zu glauben, der unsere Individualität und Identität im Sinne eines abtrennten Ichs bestimmt, aber zugleich unabhängig von den körperlichen und geistigen Elementen ist, die unser Leben ausmachen. Die Philosophie der Leerheit lässt uns erkennen, dass es sich dabei nicht nur grundsätzlich um eine falsche Sicht handelt, sondern dass diese Auffassung auch die Grundlage unseres Anhaftens, Festhaltens und der Entwicklung un zähliger Vorurteile bildet. Der Theorie der Leerheit zufolge ist jeder Glaube an eine objektive Wirklichkeit, der sich auf die Annahme einer ei genständigen, unabhängigen Existenz stützt, unhaltbar. Alle Dinge und Ereignisse, seien sie materieller, mentaler oder gar abstrakter Natur, wie zum Beispiel das Konzept der Zeit, sind ohne objektive, unabhängige Existenz. Dinge und Ereignisse, die sich durch eine unabhängige, eigenstän dige Existenz auszeichneten, wären auf eine Art für sich selbst vollständig und damit ganz und gar unabhängig. Folglich hätte nichts die Eigenschaft mit anderen Phäno
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KAPITEL DREI
menen zu interagieren und sie zu beeinflussen. Doch wir
machen die Erfahrung von Ursache und Wirkung: Wenn wir den Schlüssel im Anlasser drehen, reagieren die Zünd kerzen, der Motor läuft und verbrennt Öl und Benzin. In einem Universum unabhängiger, aus sich selbst heraus existierender Dinge würden sich diese Vorgänge niemals er eignen. Ich wäre nicht in der Lage, meine Gedanken zu Pa pier zu bringen, und Sie könnten sie nicht auf dieser Seite lesen. Da wir miteinander handeln und uns gegenseitig beeinflussen. müssen wir annehmen, dass wir nicht unab
hängig voneinander existieren - auch wenn wir möglicher weise so fuhlen oder empfinden. Die Vorstellung einer eigenständigen, unabhängigen Existenz ist mit Ursache und Wirkung nicht zu vereinba ren. Ursache und Wirkung gründen in Verbundenheit und Abhängigkeit. Etwas, das unabhängige Existenz besäße, wäre unveränderbar und in sich selbst abgeschlossen. Alle Dinge setzen sich aus abhängig verbundenen Vorgängen zusammen, aus unablässig miteinander agierenden Phäno
menen ohne fest gefugten, unwandelbaren Wesenskern, die sich selbst in permanent fließenden, dynamischen Be ziehungen befinden. Dinge gelten insofern als »leer«, als ihnen kein unwandelbares Wesen, keine Wirklichkeit aus sich selbst heraus oder kein absolutes Sein zugeschrieben werden kann, das ihnen Unabhängigkeit verleiht. Diese grundlegende Wahrheit darüber, »wie die Dinge wirklich sind«, wird in den buddhistischen Schriften als »Leerheit« oder auf Sanskrit als shunyata bezeichnet. In unserem naiven oder alltäglichen Blick auf die Welt beziehen wir uns auf Dinge und Ereignisse, als ob ihnen eine dauerhafte, eigenständige Realität zu eigen wäre. Wir
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neigen zu der Annahme, dass die Welt aus Dingen und Er eignissen zusammengesetzt ist, die wir als abgeschlossene,
unabhängige Einheiten betrachten, und dass diese abge schlossenen, unabhängigen Dinge wiederum mit ebensol chen Einheiten interagieren. Wir glauben, ein an sich rea ler Samen bringe eine an sich reale Ernte in einer an sich realen Zeit an einem an sich realen Ort hervor. Von jedem einzelnen Glied dieser Kette von Ursache und Wirkung Samen, Ernte, Zeit, Ort - nehmen wir an, dass es über einen feststehenden ontologischen Status verfugt. Diese Vorstellung von einer Welt, die sich aus unabhängigen Ob jekten mit aus sich selbst heraus existierenden Eigenschaf ten zusammensetzt, wird durch unsere Sprache verstärkt,
in der Subjekte neben Prädikaten stehen, Substantive und Adjektive neben Verben. Doch alles setzt sich aus Teilen zu sammen - ein Mensch ist beides, Körper und Geist. Doch darüber hinaus ist sogar die Identität von Dingen von vie len Faktoren abhängig: von den Namen, die wir ihnen geben, ihren Funktionen und von den Konzepten, die wir uns über sie machen.
Zwar basiert die Theorie der Leerheit aufeiner Auslegung alter Schriften, die dem historischen Buddha zugeschrie ben werden, doch ihre erste systematische Darstellung verdanken wir dem großen buddhistischen Philosophen Nagarjuna (2. Jh. u. Z.). Wir wissen wenig über die Einzel heiten seines Lebens, außer, dass er aus Südindien stammte
und nach Buddha die wichtigste Persönlichkeit fur die Ent wicklung des Buddhismus in Indien ist. Historiker betrach ten ihn als Begründer der »Schule des Mittleren Weges« des Mahayana-Buddhismus, die bis heute die wichtigste der tibetischen Schulen ist. Sein einflussreichstes philosophi
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KAPITEL DREI
sches Werk sind die Lehrstrophen über die grundlegenden Lehren des Mittleren Weges (Skt. Mulamadhyamika-Karika), die in den tibetischen Klosteruniversitäten aueb heute noch auswendig gelernt, studiert und debattiert werden. leb habe mich lange und intensiv mit den einzelnen Fra gen beschäftigt, die dieser Text aufWirft und darüber mit meinen Lehrern und Kollegen immer wieder diskutiert. In den 1960er Jahren, während des ersten Jahrzehnts im indi schen Exil, fand ieb einen tiefen und sehr persönlichen Zu gang zur Philosophie der Leerheit. Im Gegensatz zu heute war mein Leben damals noch relativ geruhsam, und es gab nur wenig formale Verpflichtungen. Meine Reisen urn die Welt, die jetzt einen Großteil meiner Zeit in Ansprueb neh men, hatten damals noch nicht begonnen. In diesem wun derbaren Jahrzehnt hatte ich das große Glück, viele Stun den mit meinen Hauslehrern verbringen zu dürfen, zwei Experten auf dem Gebiet der Philosophie und meditativen Praktiken der Leerheit. Außerdem erhielt ich Unterweisungen von einem be scheidenen, jedoch äußerst fahigen tibetischen Gelehrten namens Nyima Gyaltsen. Gen Nyima, wie er liebevoll ge nannt wurde, war einer jener seltenen Menschen, die die
Gabe besitzen, tiefe philosophische Einsiebten in einfaeben Begriffen auszudrücken. Er hatte eine zierliche Gestalt, war kahlköpfig und trug eine große Brille mit runden, getönten Gläsern. An seinem rechten Auge litt er unter einem ner vösen Zucken, was den Eindruck erweckte, als würde er einem häufig zuzwinkern. Die große Konzentration, mit der er einen Gedankengang verfolgte und immer tiefer zu wichtigen Punkten vordrang, war erstaunlieb, ja geradezu legendär. In solchen Situationen nahm er seine Umgebung
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buchstäblich nicht mehr wahr. Gen Nyimas Spezialgebiet war die Philosophie der Leerheit, was den Austausch mit ihm für mich besonders fruchtbar machte.
Es ist höchst erstaunlich und aufregend, wie in der moder nen Physik, insbesondere auf der mikroskopischen Ebene der Ql1antenmechanik, die Vorstellungen unseres Alltags verständnisses infrage gestellt werden. Licht kann als Teil chen oder Welle betrachtet werden. Die Unschärferelation lehrt uns, dass wir niemals zugleich wissen können, wie ein
Elektron sich verhält und wo es sich befindet. Diese Ein sichten, wie auch die Ql1antenvorstellung von der Überla gerung, eröffnen uns im Vergleich zur klassischen Physik, in der die Objekte sich in einer determinierten, vorhersag baren Weise verhalten, vollkommen neue Möglichkeiten, die Welt zu verstehen. Nehmen wir das bekannte Beispiel von ))Schrödingers Katze«: Das Tier wird in eine Kiste ge
sperrt, in der sich eine radioaktive Quelle befindet, durch die mit fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit ein tödli ches Gift freigesetzt werden wird. Laut Schrödinger müssen wir akzeptieren, dass die Katze bis zum Öffnen der Kiste zugleich lebendig und tot ist! Diese Einsicht ist ganz offen sichtlich mit dem Satz vom Widerspruch unvereinbar. Für Mahayana-Buddhisten, die mit dem Denken Nagar junas vertraut sind, hat diese neue Physik zweifelsohne An klänge an die Theorie der Leerheit. Wenn sich aufder Ql1an tenebene zeigt, dass die Materie weniger solide und bestimmbar ist, als es den Anschein hat, nähert sich die Wis senschaft in meinen Augen damit den kontemplativen Ein
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sichten des Buddhismus über Leerheit und Verbundenheit. Auf einer Konferenz in Neu Delhi hörte ich einmal, wie Raja Ramanan, ein Physiker, der von seinen Kollegen als der indische Sacharow bezeichnet wird, Parallelen zwischen Nagarjunas Philosophie der Leerheit und der Quantenme chanik zog. Nachdem ich mich über viele Jahre mit meinen Freunden aus der Wissenschaft ausgetauscht habe, bin ich überzeugt, dass uns die großen Entdeckungen der Physik seit Kopernikus erkennen lassen, dass die Wirklichkeit nicht so ist, wie sie uns erscheint. Wenn man die Welt durch die unvoreingenommene Lupe der Analyse betrachtet - sei es durch wissenschaftliche Verfahren und Experimente, die buddhistische Logik der Leerheit oder durch kontemplative Methoden meditativer Analyse -, wird man erkennen, dass die Dinge subtiler sind als die Vorstellungen unseres Alltags verständnisses, ja ihnen mitunter sogar widersprechen.
In diesem Zusammenhang könnten wir folgende Frage stellen: »Was, außer einer falschen Interpretation der Wirk lichkeit, stimmt denn nicht mit unserem Glauben an die unabhängige, eigenständige Existenz der Dinge?« Laut Na garjuna hat dieser Glaube ernsthafte negative Konsequen zen. Ihm zufolge bildet die Vorstellung einer eigenständi gen Existenz die Grundlage einer sich selbst immer wieder erzeugenden Fehlfunktion in unserer Auseinandersetzung mit der Welt und unseren Mitwesen. Indem wir bestimm ten Dingen eigenständige Eigenschaften der Anziehung zuschreiben, reagieren wir mit verblendeter Anhaftung. Zugleich projizieren wir auf andere Dinge und Ereignisse eigenständige Eigenschaften der Abstoßung und reagieren mit verblendeter Ablehnung auf sie. Nagarjuna zeigt auf, wie unser Festhalten an einer unabhängigen Existenz der
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Dinge leidvolle Erfahrungen verursacht, die wiederum eine Kette destruktiver Handlungen, Reaktionen und weiterer leidvoller Erfahrungen nach sich zieht. Letztendlich stellt die Theorie der Leerheit fur N agarjuna nicht einfach nur eine Untersuchung unseres konzeptuellen Verständnisses der Wirklichkeit dar. Aus ihr lassen sich bedeutende psy chologische und ethische Konsequenzen ableiten. Einmal stellte ich meinem Freund, dem Physiker David Bohm, die Frage: .Was, außer einer falschen Interpretation der Wirklichkeit, stimmt aus der Sicht der modernen Wis senschaft nicht mit unserem Glauben an die unabhängige Existenz der Dinge?« Seine Antwort war sehr aufschluss reich. Wenn wir die unterschiedlichen Ideologien betrach ten, sagte er, die die Menschheit aufspalten, den Rassismus zum Beispiel, extremen Nationalismus oder den marxisti
schen Klassenkampf, dann haben sie ganz entscheidend die Tendenz, die Dinge als aus sich selbst heraus geteilt und unverbunden zu erkennen. Dieser falschen Anschauung entspringe der Glaube, derartige Aufspaltungen seien an sich unabhängig und selbstexistent. Bohms Antwort, die auf seiner Auseinandersetzung mit der Quantenphysik basierte, klingt wie ein Echo der ethischen Erwägungen, die Nagarjuna fast 2000 Jahre vor ihm gegenüber solchen Vorstellungen zu bedenken gab. Natürlich ist mir bewusst, dass die Wissenschaft sich im engeren Sinne nicht mit Fragen der Ethik und mit Werturteilen beschäftigt, doch als menschliches Bestreben scheint mir die Wissenschaft durchaus mit der grundlegenden Frage nach dem Wohler gehen der Menschheit verknüpft zu sein. So gesehen sollte Bohms Antwort nicht überraschen. Ich wünschte, es gebe mehr Wissenschaftler, die Bohms Verständnis von dem Zu
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sammenhang zwischen Wissenschaft, ihren Konzeptionen und der Menschlichkeit teilen. So wie ich es verstehe, sah sich die Wissenschaft am An fang des 20. Jahrhunderts mit einer Krise konfrontiert. Das große Gebäude der klassischen Physik, von !saac Newton, J ames Maxwell und vielen anderen errichtet, das so offen sichtlich wirksame Erklärungen der sichtbaren Wirklichkeit der Welt lieferte und so gut zu unserem Alltagsverständnis passt, wurde untergraben durch die Entdeckung der Relati vität und des merkwürdigen Verhaltens der Materie auf subatomarer Ebene, das die Q1lantenmechanik erforscht. earl Friedrich von Weizsäcker erklärte mir einmal, dass die klassische Physik ein mechanistisches Weltbild verkörpert, in dem gewisse allgemeine Naturgesetze, wie das Gesetz der Schwerkraft und die Gesetze der Mechanik, nachhaltig die Abfolge natürlicher Vorgänge bestimmen. Dieses Mo dell ist von vier objektiven Gegebenheiten bestimmt - Kör per, Kräfte, Raum und Zeit -, und es gibt stets eine klare Unterscheidung zwischen dem Objekt, das erkannt wird, und dem erkennenden Subjekt. Relativitätstheorie und Quantenmechanik legen uns, laut von Weizsäcker, nahe, dass wir uns grundsätzlich von der Trennbarkeit von Sub jekt und Objekt verabschieden müssen und damit von un serer Gewissheit über die Objektivierbarkeit empirischer Daten. Jedoch sind die einzigen Begriffe, die uns zur Be schreibung der Q1lantenmechanik und ihrer Experimente, mit denen sich das neue Bild der Wirklichkeit verifizieren lässt, zur Verfugung stehen - darauf bestand von Weizsä cker -, die der klassischen Physik, die von der Q1lantenphy sik widerlegt wurde. Trotz dieser Schwierigkeiten sprach sich von Weizsäcker daftir aus, die tiefen Zusammenhänge
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der Natur gründlich zu erforschen und ein Verständnis von Wirklichkeit und Wissenschaft zu entwickeln, das mit den Erkenntnissen immer weiter fortschreitet, aber auch den Platz zu bestimmen, den die Menschheit in diesem Welten gefuge einnimmt. Meiner Ansicht nach muss auch der Buddhismus im Licht dieser wissenschaftlichen Entdeckungen die einfache Physik seiner frühen atomistischen Theorien weiterentwi ckeln, auch wenn diese in der buddhistischen Tradition schon lange Gültigkeit besitzen. Die frühe buddhistische Theorie der Atome, die bis heute nicht grundlegend revi diert wurde, geht zum Beispiel davon aus, dass die Materie aus acht so genannten ))atomaren Substanzen« besteht: Erde, Wasser, Feuer und Luft, die man auch als die vier Ele mente bezeichnet, und aus den vier so genannten »abgelei teten Substanzen«: Form, Geruch, Geschmack und Taktili täl. Das Erdelement trägt, Wasser verbindet, Feuer verstärkt und Luft macht beweglich. Ein »Atom« wird als aus diesen acht Substanzen bestehend aufgefasst, und die Existenz von Objekten in der makroskopischen Welt wird mit der Verbindung dieser zusammengesetzten )Atome« erklärt. In einer der ältesten buddhistischen Schulen, Vaibhashika, werden diese einzelnen atomaren Substanzen als kleinste Bausteine der Materie betrachtet und gelten als unteilbar. Wenn diese »Atome« sich zu größeren Objekten zusam menballen, so gehen Vaibhashika-Theoretiker davon aus, dass sie dies tun, ohne sich gegenseitig zu berühren. Die Energie des Luftelementes und andere Naturkräfte bewir ken, dass sich die elementaren Bausteine innerhalb eines Systems aneinander binden, anstatt zusammenzustürzen oder sich endlos auszudehnen.
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Selbstverständlich haben sich die buddhistischen Atom theorien in einer kritischen Auseinandersetzung mit an~ deren philosophischen Schulen Indiens entwickelt, ins besondere den logischen Systemen des Nyaya und des Vaisheshika. Wenn man die philosophischen Schriften be trachtet, die Indien seit alter Zeit hervorgebracht hat, ge winnt man den Eindruck einer lebendigen Kultur des Austauschs, des Dialogs und der Auseinandersetzung zwi schen den Anhängern der unterschiedlichen Schulen und Systeme. Die klassischen indischen Schulen, Buddhismus, Nyaya, Vaisheshika, Mimamsa, Samkhya und Aidvaita Vedanta, teilen in ihren Grundfragen und Methoden ein gemeinsames philosophisches Erbe. Seit dem Entstehen des Buddhismus in Indien, über das Mittelalter bis in das moderne Tibet, ist die Entwicklung des Wissens und die Verfeinerung der philosophischen Gedanken stets durch intensive Debatten zwischen den verschiedenen Denk richtungen unterstützt worden. Die frühesten bekannten Quellen der buddhistischen Vaibhashika-Theorie der Atome sind möglicherweise Dhar mashris Essenz des höheren Wissens (Skt. Abhidharmahrdaya) und das berühmte Werk Große Abhandlung (SkI. Mahavi bhashashastra). Der erste Text wird von modernen Philolo gen zwischen dem 2. Jahrhundert v. u. Z. und dem 1. Jahr hundert u. Z. datiert. Er wurde zwar nie ins Tibetische übersetzt, doch gibt es, wie ich gehört habe, eine chinesische Fassung aus dem 3.Jahrhundert u. Z. Dharmashris Werk ist ein ausgereifter Versuch, die grundlegenden Gedanken der frühen buddhistischen Philosophie in eine systematische Form zu bringen, was darauf schließen lässt, dass diese Vor stellungen bereits einige Zeit vor ihrer Niederschrift in Um
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lauf gewesen sein müssen. Im Gegensatz dazu kommt in der Großen Abhandlung, die zwischen dem 1. und 3. Jahrhundert u. Z. abgefasst wurde, ein eindeutiger Standpunkt zum Aus druck. In ihr wird eine bestimmte buddhistisch-philosophi sche Schule zur allgemein gültigen Lehre erhoben, wobei die Widerlegung der aufgefuhrten Einsprüche gegen diese Lehren durch eine rationale philosophische Beweisfuhrung untermauert wird. Obwohl die Argumente der Großen Ab handlung im tibetischen Buddhismus bekannt sind, wurde das Werk nie vollständig übersetzt. Auf der Grundlage dieser beiden Texte, insbesondere des letzteren, verfasste Vasubandhu, einer der herausragenden Geister der buddhistischen Philosophie Indiens, im 5. J ahr hundert u. Z. seinen Schatz des höheren Wissens (Skt.: Abhi dharmakosha). Darin werden die zentralen Gedanken der Großen Abhandlung zusammengefasst und weitergehend untersucht. In Tibet wurde es zu einem Grundlagenwerk der frühen buddhistischen Philosophie und Psychologie. Als junger Mönch musste ich zum Beispiel den Wurzel text von Vasubandhus Schatz als Teil meiner Ausbildung aus wendig lernen. Im fi-ühen Buddhismus entwickelten sich ganz unter schiedliche spekulative Theorien über die Entstehung der Atome und ihre Beziehung zu den sie erzeugenden Sub stanzen. Erstaunlicherweise finden sich im Schatz des höhe ren Wissens sogar Betrachtungen über die Größe unter schiedlicher »Atome«. Vasubandhu behauptet, das kleinste unteilbare Elementarteilchen sei ungefahr 2400 Mal klei ner als ein »Kaninchenatoffi« - was auch immer das sein mag. Mir ist vollkommen unklar, wie er zu dieser Einschät zung gelangte!
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Andere buddhistische Schulen akzeptierten zwar die allge meine Lehre von den Atomen, zogen jedoch die Vorstel lung von unteilbaren Atomen in Zweifel. Einige stellten auch die Idee der vier »abgeleiteten Substanzen« - Form, Geruch, Geschmack und Taktilität - als gnmdlegende Bau steine der Materie infrage. Vasubandhu selbst ist berühmt fur seine Kritik an der Vorstellung von objektiv existieren den, unteilbaren Atomen. Wenn unabhängige, unteilbare Atome existieren, so lautet sein Argument, können wir die
Ausformung der Objekte unserer Alltagswelt nicht erklä ren. Damit solche Objekte überhaupt entstehen können, müssen wir aufzeigen, wie einfache Atome in einem Pro
zess der Zusammenballung zu komplexen, zusammenge setzten Systemen werden.
Wenn eine solche Zusammenballung stattfindet, und das muss der Fall sein, so können wir uns ein Atom vorstellen, an das in den vier Himmelsrichtungen sowie oben und unten sechs weitere Atome angelagert sind. Wir müssen
uns dann fragen: Berührt derselbe Teil des zentralen Atoms, der mit dem östlichen Atom verbunden ist, zu gleich das nördliche Atom? Falls wir diese Frage verneinen, muss das mittlere Atom über mehr als einen Teil verfugen und ist demnach, zumindest theoretisch, nicht unteilbar. Dann nämlich verfugt das mittlere Atom über einen Teil, der mit dem Atom im Osten, aber nicht mit dem Atom im Norden verbunden ist. Wenn, andererseits, dieser östliche Teil das Atom im Norden ebenfalls berührt, gibt es logi scherweise nichts, was das Atom davon abhalten könnte, alle Atome in allen Richtungen zu berühren. In diesem Fall, so lautet Vasubandhus Argument, macht es keinen Unterschied, an welcher Stelle des Raums alle sieben
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Atome, das in der Mitte und die sechs, die es umgeben, sich befinden, denn sie würden in ein einziges Atom zusam menstürzen. Aus diesem Gedankenexperiment leitet Va subandhu ab, dass die Objekte der makroskopischen Welt nicht durch die Zusammenballung einfacher Materie, wie zum Beispiel unteilbarer Atome, erklärt werden können. Persönlich habe ich nie verstanden, wie Merkmale wie Geruch, Geschmack und Taktilität die Grundbausteine materieller Objekte sein könnten. Ich kann jedoch sehen, dass man eine in sich schlüssige Atomtheorie entwickeln konnte, in der die Materie auf der Basis von vier Elemen ten, die ihre grundlegenden Bestandteile bilden, beschrie ben wurde. Auf jeden Fall ist es meine Überzeugung, dass dieser Aspekt buddhistischen Denkens, der im Grunde genommen nichts anderes ist als eine spekulative, rudi mentäre Physik, im Lichte des differenzierten und experi mentell belegten Verständnisses der modernen Physik über die Elementarteilchen als Grundbausteine der Materie zum Beispiel der Vorstellung von Elektronen, die einen Kern aus Protonen und Neutronen umkreisen - modifi ziert werden sollte. Wer in der modernen Physik die Be schreibungen subatomarer Teilchen wie Quarks und Lepto nen verfolgt, wird die frühen Atomtheorien des Buddhismus mit ihren Vorstellungen von kleinsten, unteil baren Materieteilchen bestenfalls als simple Modelle be trachten. Interessant ist jedoch, dass die Perspektive der buddhistischen Theoretiker, nach der wir die kleinsten Bausteine der Materie als zusammengesetzt verstehen soll ten, bereits in die richtige Richtung wies. Eines der Hauptziele, wissenschaftlich und philoso phisch die Grundsubstanzen der Materie zu erforschen, be
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steht darin, ihre nicht weiter zu reduzierenden Bausteine zu entdecken. Dies gilt nicht nur fur die traditionelle indi sche Philosophie und die moderne Physik, sondern be schäftigte bereits die antike griechische Wissenschaft, zum Beispiel die Atomisten. Letzten Endes erkenne ich darin eine Suche nach der absoluten Natur der Wirklichkeit, wie auch immer man diese definieren mag. Das buddhistische Denken fuhrt logische Gründe dafur an, warum dieses Pro jekt der Suche nach den kleinsten Materieteilchen in die fal sche Richtung weist. Im Laufe ihrer Geschichte ging die Wissenschaft davon aus, im Atom den absoluten Baustein der Materie gefunden zu haben, doch dann wurde das Atom im 20. Jahrhundert durch die Experimentalphysik in immer kleinere Teilchen aufgespalten. Obwohl es innerhalb der O!lantenmechanik die Vermutung gibt, dass wir niemals ein objektiv existierendes, irreduzibles Teilchen finden wer den, leben viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach wie vor mit der Hoffuung seiner Entdeckung. Im Sommer 1998 besuchte ich den österreichischen Phy siker Anton Zeilinger in seinem Labor an der Universität Innsbruck. Anton zeigte mir ein Instrument, mit dessen Hilfe man ein einzelnes ionisiertes Atom betrachten konn te. So sehr ich mich auch bemühte, ich konnte es nicht sehen. Vielleicht war mein Karma noch nicht reif genug, um diesem Schauspiel beizuwohnen! Ich begegnete Anton 1997 zum ersten Mal als Teilnehmer einer »Mind and Life« Konferenz in Dharamsala. Er ist in gewisser Weise das Ge genteil von David Bohm - ein kräftiger Mann mit Bart und Brille, einem großen Sinn fur Humor und einem vollen La chen. Als Experimentalphysiker ist er fur Neuformulierun gen der Theorie im Lichte aktueller Forschungsergebnisse
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erstaunlich offen. Sein Interesse an einem Dialog mit dem Buddhismus besteht darin, erkenntnistheoretische Grund lagen des Buddhismus und der Quantenphysik miteinan der zu vergleichen, da beide die Vorstellung einer unabhän gigen, objektiven Wirklichkeit ablehnen. In dieser Zeit lernte ich auch den amerikanischen Physi ker Arthur Zajonc kennen. Arthur, der mit leiser Stimme spricht und einen durchdringenden Blick bekommt, so bald er einen schwierigen Punkt in allen Einzelheiten er klärt, ist ein talentierter Lehrer, der selbst komplizierte The men anschaulich darlegen kann. Als Gesprächsleiter fasste Arthur die Diskussion in Dharamsala immer klar und deut lich zusammen, was mir dabei half, den Hauptthemen un serer Diskussionen folgen zu können. Einige Jahre zuvor hatte ich das Glück, in Kopenhagen an einem informellen Gespräch des Niels-Bohr-Instituts teilzunehmen. Einige Tage vor diesem Besuch, während eines kurzen Aufenthaltes in London, trafich David Bohm und seine Frau zum Mittagessen in einer Suite meines Hotels. Ich hatte ihm zuvor mitgeteilt, dass ich im Bohr Institut an einem Dialog über Physik und buddhistische Philosophie teilnehmen werde, und Bohm brachte mir freundlicherweise Niels Bohrs eigene, zweiseitige Zusam menfassung seiner philosophischen Ansichten über die Natur der Wirklichkeit mit. Bohms Bericht über Bohrs Planetenmodell des Atoms sowie über das Rutherford Modell zu verfolgen war äußerst faszinierend. Diesen Mo dellen zufolge, die Reaktionen auf das frühere "Plumpud ding«-Modell darstellen, umkreisen Elektronen einen zentralen Kern. Das "Plumpudding«-Modell war gegen Ende des 19. Jahr
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hunderts entwickelt worden, nachdem J. J. Thomson das negativ geladene Elektron entdeckt hatte. Damals nahm man an, die positive elektrische Ladung, welche die nega tive Ladung der Elektronen ausgleicht, sei im Atom wie in einem Pudding verteilt. Die Elektronen stellen dabei die Pflaumen dar. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckte Ernest Rutherford, dass die meisten positiv geladenen Alpha-Teilchen, die auf eine Goldfolie abgefeuert wurden, diese durchquerten, manche jedoch zurückgeworfen wur den. Daraus zog er den richtigen Schluss, nämlich dass die positive Ladung der Atome in der Goldfolie nicht wie in einem Plumpudding verteilt sein kann, sondern sich viel mehr in ihrem Zentrum konzentrieren muss. Denn sobald ein Alpha-Teilchen mit dem Zentrum eines dieser Atome kollidiert, reicht dessen positive Ladung aus, um es zurück zustoßen. Aufgrund dieser Beobachtung formulierte Ru therford das "Sonnensystem«-Modell des Atoms, demzu folge negativ geladene Elektronen einen positiv geladenen Kern umkreisen. Später verbesserte Niels Bohr das Ruther ford-Modell und schlug ein Planetenmodell des Atoms vor, das in vielen Einzelheiten die Einsichten der Quanten mechanik vorwegnahm. In unserem Gespräch gab Bohm mir auch einen Einblick in die langjährige Debatte zwischen Bohr und Einstein über die Interpretation der Quantenphysik. Im Zentrum dieser Auseinandersetzung stand Einsteins Weigerung, die Gültigkeit des Unschärfeprinzips zu akzeptieren. In dieser Kontroverse ging es letztendlich darum, ob die Wirklich keit grundsätzlich unbestimmt, unvorhersagbar und nur in Begriffen der Wahrscheinlichkeit beschreibbar ist. Einstein wandte sich mit seinem berühmten Satz, "Gott würfelt
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nicht«, aus tiefer Überzeugung gegen diese Idee. All das er innerte mich an die Geschichte meiner eigenen buddhis tisch-philosophischen Überlieferung, in der das Debattie ren immer eine zentrale Rolle ftir die Entwicklung und Verfeinerung vieler philosophischer Ideen gespielt hat. Anders als die fruhen Buddhisten können moderne Physiker ihre Sehkraft mit Hilfe wissenschaftlicher Instru mente, beispielsweise riesiger Teleskope wie das Hubble Teleskop oder Elektronenmikroskopen, in einem unge heuren Ausmaß erweitern. Dadurch verfügen wir über empirische Kenntnisse der Materie, die selbst über die Imaginationskraft der Forscher früherer Zeiten weit hinaus geht. Aus diesem Grund habe ich mich bei vielen Gele genheiten daftir ausgesprochen, einen elementaren Physik unterricht .in das Studienprogramm der tibetischen Klosteruniversitäten einzufuhren. Aus meiner Sicht würden wir damit kein neues Fachgebiet schaffen, sondern einen ohnehin bereits existierenden Teil des Lehrplans einfach nur auf den neuesten Stand bringen. Es freut mich, dass die akademischen Klosterinstitute bereits regelmäßig Seminare über moderne Physik anbieten. Diese werden von Professo ren und Promotionsstudenten westlicher Universitäten er teilt. Ich hoffe, dass diese Initiative letztendlich einen Bei trag dazu leisten kann, der modernen Physik einen Weg in das bestehende philosophische Lehrangebot der tibetischen Klöster zu ebnen. Obwohl ich bereits vor langer Zeit von Einsteins Speziel ler Relativitätstheorie gehört hatte, war es wiederum David Bohm, der sie mir als Erster erklärte und einige ihrer philo sophischen Konsequenzen darlegte. Da ich über keine grö ßeren mathematischen Kenntnisse verfüge, war es ftir ihn
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keine leichte Aufgabe, mir die moderne Physik, insbeson dere ein so schwer fassbares Gebiet wie die Relativitätstheo rie, nahe zu bringen. Wenn ich mich an Bohms Geduld er innere, an seine ruhige Stimme und sein sanftes Wesen, an die Sorgfalt, mit der er sich vergewisserte, dass ich seinen Ausftihrungen folgen konnte, dann vermisse ich ihn von ganzem Herzen! Wie jeder Laie weiß, der einmal den Versuch unternom men hat, die Relativitätstheorie zu verstehen, erfordert selbst ein ganz allgemeines Verständnis der Einsteinschen Vorstellungen die Bereitschaft, sich von der Alltagslogik zu verabschieden. Einstein stellte zwei Postulate auf: die Kon stanz der Lichtgeschwindigkeit und das Relativitätsprinzip, nach dem die Naturgesetze fur alle Beobachter gleich sind, die sich relativ zueinander gleichformig bewegen. Mit Hilfe dieser beiden Voraussetzungen revolutionierte Einstein unser wissenschaftliches Verständnis von Raum und Zeit. Seine Relativitätstheorie schenkte uns die berühmte Glei chung von Masse und Energie: E = mc2 - zugegebenerma ßen die einzige Formel, die ich kenne (heutzutage findet sie sich sogar aufT-Shirts) - und eine ganze Reihe schwieriger, aber auch unterhaltsamer Gedankenexperimente. Viele die ser aus der Speziellen Relativitätstheorie hervorgegangenen Überlegungen, das Zwillingsparadox zum Beispiel oder die Phänomene der Zeitdilation und der Schrumpfung von Objekten bei hoher Geschwindigkeit, wurden mittlerweile experimentell bestätigt. Das bereits erwähnte Zwillingspara dox, bei dem ein Zwilling in einem Raumschiff mit einer Geschwindigkeit knapp unterhalb der des Lichtes zu einem 20 Lichtjahre entfernten Stern fliegt und bei seiner Rück kehr feststellen muss, dass der andere Zwilling auf der Erde
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20 Jahre älter ist als er selbst, erinnert mich an eine Ge schichte aus der buddhistischen Tradition: In einer Zeit spanne, die in seiner Erfahrung nicht länger als eine Tee pause dauerte, "reiste« der indisch-buddhistische Philosoph Asanga in den himmlischen Bereich Maitreyas. Dort über gab dieser ihm die Fünf Schriften des Maitreya, tUnf wich tige Texte des Mahayana. Auf die Erde zurückgekehrt, musste er feststellen, dass 50 Jahre vergangen waren! Um das Zwillingsparadox in allen Einzelheiten zu würdi gen, muss man eine ganze Reihe komplizierter Berechnun gen nachvollziehen, wozu ich leider nicht in der Lage bin. So, wie ich es verstehe, besteht die wichtigste Konsequenz der Relativitätstheorie darin, dass wir Raum, Zeit und Masse nicht mehr als absolute, in sich selbst existierende unveränderliche Größen oder Entitäten verstehen können. Raum ist kein unabhängiger, dreidimensionaler Bereich und Zeit keine separate Größe, sondern sie sind zu einem vierdimensionalen Kontinuum, zur Raum-Zeit, vereinigt.
Kurz gesagt: Während die Geschwindigkeit des Lichts immer gleich bleibt, gibt es laut Einsteins Spezieller Relati vitätstheorie kein allgemeines, bevorzugtes Bezugssystem, auf das bezogen alle Größen absolut bestimmbar wären, sondern letztendlich sind alle Phänomene, einschließlich Raum und Zeit, relativ. Dies ist eine wirklich bemerkens werte Einsicht.
Der philosophischen Welt des Buddhismus ist diese Vor stellung einer relativen Zeit durchaus nicht fremd. Bereits vor dem 2. Jahrhundert u. Z. wandte sich die Sautrantika Schule gegen die Auffassung von einer absoluten Zeit. In der alltäglichen Erfahrung teilen wir Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ein. Darin erkannten die Sautran
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tikas jedoch keine drei objektiv getrennten Einheiten, son dern sie wiesen auf deren Verbundenheit hin. Ihrer Vorstel lung zufolge ist die Zeit keine eigenständige, tatsächliche Gegebenheit, die unabhängig von zeitlichen Phänomenen existiert, sondern sie wird als ein Beziehungsgeflecht zwi schen diesen Phänomenen begriffen. Unabhängig von zeit lichen Phänomenen, auf die wir das Konzept der Zeit pro jizieren, gibt es keine wirkliche Zeit, keine absolute, aus sich selbst heraus existierende Zeit als das große Gef'ß, in dem alle Dinge und Ereignisse sich entfalten. Diese Argumente, mit denen die Relativität der Zeit ver deutlicht wird und die von Nagarjuna weiter spezifiziert wurden, sind vor allem philosophischer Natur. Dennoch bleibt festzuhalten, dass die Zeit in der buddhistisch-philo sophischen Tradition seit fast 2000 Jahren als ein relatives Phänomen betrachtet wird. Obwohl mir gesagt wurde, ei nige Wissenschaftler würden Einsteins vierdimensionale Raum-Zeit als ein aus sich selbst heraus existierendes Gef'ß auffassen, in dem die Dinge sich ereignen, ist Einsteins Nachweis der Relativität der Zeit - insbesondere durch seine berühmten Gedankenexperimente - fur einen mit Nagarjunas Argumenten vertrauten buddhistischen Den ker eine große Hilfe, um das eigene Verständnis der relati ven Natur der Zeit zu vertiefen. Meine Kenntnisse der Quantentheorie sind, ich gebe das gerne zu, begrenzt - obwohl ich mir große Mühe gegeben habe! Einer der größten Q]Jantentheoretiker, Richard Feynman, soll einmal bemerkt haben: "Ich glaube, ich kann mit Sicherheit sagen, dass niemand die Q]Jantenme chanik versteht.« - demnach befinde ich mich zumindest in guter Gesellschaft! Doch selbst einem Menschen wie
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mir, der den komplexen mathematischen Finessen der Theorie nicht folgen kann - tatsächlich ist die Mathematik ein Gebiet der modernen Wissenschaft, zu dem ich über haupt keine karrnische Verbindung zu haben scheine -, ist bewusst, dass wir aufder Q!antenebene nicht von determi nierten, unabhängigen und sich gegenseitig ausschließen den Entitäten sprechen können. Elementarteilchen der Materie und Photonen (also die grundlegenden Bausteine der Materie respektive des Lichts) können Teilchen sein oder Wellen oder beides. (In diesem Zusammenhang scheint es mir interessant zu sein, dass der Mann, der den
Nobelpreis rur seinen Nachweis des Wellencharakters der Elektronen erhielt, George Thomson, der Sohn des Man nes ist, der rur seinen Nachweis des Teilchencharakters der Elektronen mit dem gleichen Preis ausgezeichnet wurde, J. J. Thomson.) Ob wir ein Elektron als Teilchen oder als Welle wahrnehmen, hängt von der Versuchs anordnung ab und davon, was wir als menschliche Beobachter tun. Obwohl mir die paradoxe Natur des Lichts schon lange bekannt war, hatte ich erst 1997 den Eindruck - als sie mir von dem Experimentalphysiker Anton Zeilinger in allen Einzelheiten und mit vielen Beispielen erklärt wurde -, dass ich verstand, worum es ging. Anton zeigte mir, wie das Ex periment selbst darüber entscheidet, ob sich ein Elektron als Teilchen oder als Welle verhält. Im berühmten so genann ten Doppelspaltexperiment werden einzelne Elektronen nacheinander auf ein Hindernis abgefeuert, das zwei Spalte hat, und treffen dann auf einen Schirm, zum Beispiel auf eine fotografische Platte. Wenn nur ein Spalt geöffnet ist, hinterlässt jedes Elektron auf der fotografischen Platte die Spur eines Teilchens. Sobald jedoch beide Spalten geöffnet
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sind und eine große Anzahl von Elektronen abgefeuert wer den, deutet die Spur, die sie auf der fotografischen Platte hinterlassen, darauf hin, dass sie beide Spalte zugleich pas siert haben; Sie hinterlassen ein Wellen-Muster. Damals holte Anton eine Apparatur hervor, mit der das gleiche Experiment in einem kleineren Maßstab durch gefuhrt werden konnte. Alle Teilnehmer hatten dabei gro ßen Spaß! Anton ist Experimentalphysiker und hält sich gerne an die empirischen Ergebnisse der Q,Iantenmecha nik: Sein Verständnis gründet in dem, was wir direkt aus den Experimenten lernen können. Damit verfolgt er einen ganz anderen Ansatz als David Bohm, der vor allem an den theoretischen und philosophischen Konsequenzen der Q,Iantenmechanik interessiert war. Später erfuhr ich, dass Anton ein ausdrücklicher Vertreter der so genannten Kopenhagener Deutung der Q,Iantenmechanik ist, David Bohm hingegen war einer ihrer schärfsten Kritiker. Wie ich zugeben muss, bin ich mir über die endgültigen theoretischen und philosophischen Konsequenzen dieser paradoxen Vorstellung des Welle-Teilchen-Dualismus noch nicht im Klaren. Aufphilosophischer Ebene bereitet es mir kein Problem, die Vorstellung zu akzeptieren, dass der Be griff der Wirklichkeit auf subatomarer Ebene nicht von der Versuchs anordnung des Beobachters getrennt werden kann und wir deshalb nicht von ihrer völlig objektiven Natur ausgehen können. Doch darüber hinaus scheint dieses Pa radoxon ebenfalls nahe zu legen - es sei denn, man geht von einer Art Intelligenz der Elektronen aus -, dass zwei der wichtigsten Prinzipien der Logik, der Satz vom ausge schlossenen Widerspruch und der Satz vom ausgeschlosse nen Dritten, auf subatomarer Ebene keine Gültigkeit mehr
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haben. In unserer Alltagserfahrung würden wir erwarten, dass eine Welle nicht ein Teilchen sein kann, doch auf der Quantenebene scheint das Licht von widersprüchlicher Natur zu sein, da es sich sowohl als Welle als auch als Teil chen verhält. Und ähnlich im Doppelspaltexperiment: Es scheint, dass manche Elektronen beide Spalte zur gleichen Zeit passieren. Das steht natürlich im Widerspruch zum Satz vom ausgeschlossenen Dritten, demzufolge ein Elek tron entweder den einen oder den anderen Spalt durchque ren müsste. Über die theoretischen Konsequenzen der Re sultate des Doppelspaltexperiments wird man, davon bin ich überzeugt, noch lange nachdenken. Heisenbergs berühmte Unschärferelation besagt: Je ge nauer wir den Ort eines Elektrons bestimmen, umso unge nauer wird unsere Bestimmung seines Bewegungsimpulses
ausfallen und umgekehrt. Zu einem festgelegten Zeitpunkt kann man zwar wissen, wo sich ein Elektron aufhält, aber nicht, wie es sich verhält, oder aber man kann wissen, wie es
sich verhält, aber nicht, wo es sich befindet. Dies zeigt er neut, wie wichtig der Beobachter fur die Untersuchung oder Messung der Wirklichkeit ist: Wenn wir uns entscheiden, den Impuls eines Elektrons zu messen, schließen wir die exakte Feststellung seiner Position aus; wenn wir uns ent scheiden, seinen Ort zu bestimmen, schließen wir die
exakte Bestimmung seines Impulses aus. Der Beobachter wird somit zu einem Teilnehmer an der beobachteten Wirk lichkeit. Die Frage nach der Rolle des Beobachters scheint einer der umstrittensten Aspekte der Quantenmechanik zu sein. Auf einer "Mind and Life«-Konferenz, die 1997 statt fand, hatten verschiedene Wissenschaftler hierzu ganz un terschiedliche Ansichten. Einige waren der Auffassung, die
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Rolle des Beobachters würde sich auf die Auswahl der Ver suchsinstrumente beschränken, andere maßen dem Beob achter eine größere Rolle als konstitutives Element der be obachteten Wirklichkeit bei. Die Frage danach, welche Rolle der Beobachter in der Be stimmung der Natur der Wirklichkeit einnimmt, steht schon lange im Zentrum des buddhistischen Denkens. Auf der einen Seite gibt es die buddhistischen »Realisten«, denen zufolge die materielle Welt aus unteilbaren, kleins ten Bausteinen besteht, die über eine vom Geist unabhän gige, objektive Realität verfugen. Am anderen Ende des Spektrums stehen die »Idealisten« der so genannten Nur Geist-Schule, die jegliche objektive Wirklichkeit der exter nen Welt verneinen. Ihnen zufolge kann die externe mate rielle Welt letztendlich als eine Ausweitung des betrachten den Geistes verstanden werden. Es gibt jedoch noch einen dritten Standpunkt, den der Prasangika-Schule, die in der tibetischen Tradition hohes Ansehen genießt. Aus ihrer Sicht wird die Wirklichkeit der externen Welt zwar nicht verneint, muss jedoch als eine nur relativ existierende ver
standen werden. Sie ist abhängig von unserer Sprache, un seren sozialen Konventionen und kollektiven Ansichten. Die Vorstellung einer präexistenten Wirklichkeit, frei vom Einfluss des Beobachters, ist aus ihrer Sicht falsch. Wie in der neuen Physik, kann die Materie nicht objektiv, losge löst von einem Beobachter, wahrgenommen und beschrie ben werden - Materie und Geist stehen in wechselseitiger Abhängigkeit. Diese Einsicht in die grundsätzlich abhängige Natur der Wirklichkeit - im Buddhismus spricht man von »abhängi gem Entstehen« - ist das Herzstück des buddhistischen
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Weltverständnisses und Menschenbildes. Das Gesetz des abhängigen Entstehens kann, in aller Kürze, auf drei Arten verstanden werden. Erstens: Alle zusammengesetzten Dinge und Ereignisse entstehen in der Welt als Ergebnis der Wechselwirkung von Ursachen und Bedingungen. Sie entstehen also nicht voll entwickelt aus dem Nirgendwo. Zweitens: Eine wechselseitige Abhängigkeit besteht zwi schen Teilen und Ganzem - ohne Teile gibt es kein Ganzes; ohne das Ganze macht es keinen Sinn, von Teilen zu spre chen. Diese Wechselbeziehung zwischen Teilen und Gan zem gilt sowohl fur räumliche als auch fur zeitliche Bezie hungen. Drittens: Jedes Element, welches existiert und über eine Identität verfugt, tut dies nur innerhalb eines all umfassenden Netzwerkes aller Elemente, die mit ihm in einer möglichen oder potentiellen Beziehungen verknüpft sind. Kein Phänomen existiert mit einer unabhängigen oder eigenständigen Identität. Die Welt besteht aus einem Netz komplexer Beziehun gen. Es macht keinen Sinn, ohne Berücksichtigung der Be ziehungen zur Umgebung und zu anderen Phänomenen, einschließlich Sprache, Vorstellungen und Konventionen, von der Wirklichkeit autonomer voneinander getrennter
Entitäten zu sprechen. Es gibt keine Subjekte ohne Ob jekte, die sie definieren; es gibt keine Objekte ohne Sub jekte, die sie wahrnehmen - es gibt keine Handelnden ohne Handlungen. Es gibt keinen Stuhl ohne Beine, Sitz fläche, Rückenlehne, Holz, Nägel, den Boden, auf dem er steht, den Wänden, die den Raum definieren, in dem er sich befindet, und den Individuen, die sich darauf verstän digt haben, ihn "Stuhl« zu nennen, und ihn als etwas defi nieren, worauf man sitzen kann. Nicht nur ist die Existenz
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der Dinge und Ereignisse zutiefst verbunden, sondern sogar ihre Identitäten sind dieser Vorstellung zufolge ganz und gar von anderen abhängig. In der Physik wurde die wechselseitig abhängige Natur der Wirklichkeit durch ein nach ihren Autoren Albert Ein stein, Boris Podolsky und Nathan Rosen benanntes Gedan kenexperiment, das ))EPR-Paradoxon«, ins Zentrum der
Aufmerksamkeit gerückt. Ursprünglich wurde es formu liert, um die Widersinnigkeit der Quantenmechanik aufzu zeigen. Nehmen wir an, ein Teilchen-Paar wird erzeugt, teilt sich auf, und die Teilchen bewegen sich in entgegenge setzte Richtungen, zum Beispiel an weit voneinander ent fernte Orte wie Dharamsala, wo ich lebe, und New York. Eine Eigenschaft dieses Teilchen-Paares besteht nun darin, dass ihr Spin entgegegengesetzt ist: Wenn der Spin eines der beiden als »aufWärts« gemessen wird, wird der des ande ren als »abwärts« nachgewiesen werden. Nach den Regeln der Quantenmechanik besteht diese Korrelation der Mess ergebnisse (wenn eines ))abwärts« ist, ist das andere automa tisch »aufWärts«) auch dann, wenn die individuellen Eigen schaften noch nicht bestimmt wurden, bis zum Beispiel das Teilchen in New York von den Forschern gemessen wird. Im Moment der Beobachtung nimmt das New Yorker Teil chen eine bestimmte Eigenschaft an - »aufWärts« zum Bei spiel -, und zeitgleich damit nimmt das andere Teilchen den Zustand »abwärts« an. Diese Festlegung des Zustandes auf »aufwärts« und »abwärts« ereignet sich ohne Zeitver
lust, auch /Ur das Teilchen in Dharamsala, das nicht gemes sen wurde. Trotz ihrer Trennung verhalten sich die Teilchen als eine miteinander verschränkte Entität. Im Herzen der Physik scheint nach den Erkenntnissen der Quantenme
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chanik eine überraschende, tiefe Verbundenheit zu existie ren. Während eines öffentlichen Vortrags in Deutschland wies ich einmal darauf hin, dass immer mehr ernsthafte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Einsichten der kontemplativen Traditionen dieser Welt in ihr Denken einbeziehen. Ich sprach über die Berührungspunkte zwi schen meiner eigenen buddhistischen Tradition und den modemen Naturwissenschaften, und ich beschrieb die buddhistischen Argumente fiir die Relativität der Zeit und die Ablehnung essentialistischer Vorstellungen. Dann be merkte ich earl Friedrich von Weizsäcker im Publikum und erwähnte, wie sehr ich ihm mein begrenztes Verständnis der Qyantenphysik verdanke. Liebenswürdigerweise erwi derte er, dass sein eigener Lehrer, Werner Heisenberg, wäre er anwesend, von den deutlichen Parallelen zwischen der buddhistischen Philosophie und seinen eigenen wissen schaftlichen Erkenntnissen fasziniert wäre. Ein weiterer wichtiger Problembereich der Qyantenphy sik betrifft die Frage der Messung. Wie ich höre, gibt es in der Qyantenphysik eine eigene Forschungsrichtung, die sich damit beschäftigt. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sagen, der Vorgang des Messens bewirke den Zusammenbruch der Wellen- oder Teilchenfunktion, je nachdem, welches Messsystem einem Experiment zu grunde gelegt wird. Nur durch die Messung wird ein be stimmtes Potential aktualisiert. Wir leben jedoch in einer Welt der alltäglichen Objekte. Die Frage scheint mir zu sein, wie wir die Alltagslogik einer Welt der Objekte, die über be stimmte Eigenschaften verfügen, mit der bizarren Welt der Qyantenmechanik versöhnen können. Ist es überhaupt
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möglich, diese bei den Perspektiven in Übereinstimmung zu bringen? Oder sind wir dazu verurteilt, mit einem Weltbild zu leben, das offenkundig schizophrene Züge trägt? Einmal nahm ich, gemeinsam mit Anton Zeilinger und Arthur Zajonc, in Innsbruck an einer zweitägigen Klausur zu erkenntnistheoretischen Fragen bezüglich der Grundla gen der Quantenphysik und der buddhistischen Philoso phie des Mittleren Wegs teil. Damals bemerkte Anton, dass ein berühmter Kollege von ihm einst gesagt habe, die meis ten QIantenphysiker würden sich ihrem Fachgebiet gegen über in einer schizophrenen Weise verhalten. Solange sie sich im Labor aufhalten, sind sie Realisten, die mit Dingen spielen. Dort sprechen sie von Photonen und Elektronen, die sich hierhin und dahin bewegen. Sobald sie jedoch in eine philosophische Diskussion über die Grundlagen der QIantenmechanik verwickelt werden, würden die meisten behaupten, ohne die Messapparate, die die Eigenschaften der Dinge definieren, existiere nichts wirklich. Ähnliche Probleme ergeben sich in der buddhistischen Philosophie durch den Widerspruch zwischen unserem all täglichen Blick aufdie Welt und der Perspektive, die Nagar junas Philosophie der Leerheit vorschlägt. Um dieses Pro blem zu lösen, berief sich Nagarjuna auf die Vorstellung von den »zwei Wahrheiten«, einer ~)relativen, konventio nellen«, die sich auf die alltägliche Erfahrungswelt bezieht, und einer »absoluten, höchsten, letztendlichen«, die den letztendlichen Daseinsmodus der Dinge und Ereignisse auf der Ebene der Leerheit beschreibt. Auf der konventionel len Ebene können wir von einer pluralistischen Welt der Dinge und Ereignisse ausgehen, die unterschiedliche Iden titäten besitzen und dem Gesetz von Ursache und Wir
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kung unterliegen. In diesem Bereich sind die Gesetze der Logik - die Prinzipien von Identität und Widerspruch sowie der Satz vom ausgeschlossenen Dritten - durchaus gültig. Diese Welt der empirischen Erfahrung ist weder Il lusion noch unwirklich. Wirklich ist sie in dem Sinne, dass wir sie erfahren. Ein Gerstenkorn bringt einen Gersten spross hervor, und irgendwann wird es eine Ernte geben. Gift kann unseren Tod verursachen und Medizin eine Krankbeit heilen. Doch von der absoluten Wahrheit aus betrachtet, wohnt diesen Dingen und Ereignissen keine ab trennbare, unabhängige Wirklichkeit inne. Aus ontologi scher Sicht sind sie »leer« - und zwar in dem Sinne, dass sie keinen Wesenskem oder kein eigenständiges Sein haben. Einen ähnlichen Ansatz wie das Prinzip der zwei Wahr heiten kann ich mir auch fur die Physik vorstellen. So ist zum Beispiel Newtons Modell eine ausgezeichnete Be schreibung der Alltagswirklichkeit, wie wir sie kennen, wäh rend Einsteins Relativitätstheorie - die von radikal anderen Voraussetzungen ausgeht - ein zusätzliches hervorragen des Modell fur eine weitere und umfassendere Ebene der Wirklichkeit darstellt. Einsteins Modell gilt fur Bereiche der Wirklichkeit, die von der Relativität der Bewegung be troffen sind, berührt jedoch unsere alltäglichen Vorstellun gen in den meisten Fällen nicht. So gelten auch die Wirk lichkeitsmodelle der Quantenphysik fur den Bereich der größtenteils »logisch abgeleiteten« Wirklichkeit der Ele mentarteilchen auf subatomarer Ebene. Jeder dieser Ent würfe ist in sich stimmig und hat seine Bedeutung fur die Ziele, fur die er konzipiert wurde. Doch wenn wir anneh men, diesen Modellen würden eigenständige, wirkliche Dinge zugrunde liegen, dann werden wir enttäuscht sein.
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In diesem Zusammenhang finde ich es hilfi'eich, auf eine kritische Unterscheidung hinzuweisen, die Chandrakirti im 7. Jahrhundert u. Z. bezüglich der unterschiedlichen Ebenen des Diskurses über die konventionelle und die letztendliche, höchste Wahrheit der Dinge vorgenommen hat. Bei der Beschreibung unseres Verständnisses der Wirk lichkeit muss uns, laut Chandrakirti, der Bereich oder der Rahmen der entsprechenden Untersuchung bewusst sein. In seinen Augen ist es zum Beispiel ein methodologischer Fehler, unterschiedliche Identitäten, das Prinzip der Verur sachung oder die Idee eines Ursprungs in der Alltagswelt zu verneinen, was gewisse Interpreten der Philosophie der Leerheit getan haben, weil diese Begriffe aus der Sicht der absoluten Wahrheit unhaltbar sind. Denn auf der konventionellen Ebene machen wir durch aus die Erfahrung von Ursache und Wirkung. Wenn wir he rausfinden wollen, wer die Schuld an einem Unfall trägt, stellen wir keine Nachforschungen über die tiefere Natur der Wirklichkeit an, in der eine endlose Kette von Ereignis sen es unmöglich erscheinen ließe, Schuld zuzuweisen. Wenn wir die empirische Welt in Begriffen von Ursache und Wirkung beschreiben, handelt es sich um keine metaphysi sche Betrachtung, die den letztendlichen ontologischen Charakter der Dinge und ihrer Eigenschafien zu ergründen sucht. Wir bewegen uns dabei im Rahmen der alltäglichen Konventionen, der Sprache und der Logik. Im Gegensatz dazu, sagt Chandrakirti, können die metaphysischen Auf fassungen philosophischer Schulen, die Idee eines Schöp fergottes zum Beispiel oder die der ewigen Seele, durch eine Untersuchung ihres letztendlichen ontologischen Charak ters verneint werden. Dies ist möglich, weil solche Phäno
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mene auf der Grundlage einer Betrachtung des letztendli chen Daseinsmodus der Dinge behauptet werden. Im Grunde genommen machen Nagarjuna und Chan drakirti folgenden Vorschlag: Solange wir in unserem Bezug aufdie empirische Erfahrungswelt den Dingen keine unabhängige, eigenständige Existenz zuschreiben, behal ten die Vorstellungen von Ursache und Wirkung, Identität, Differenz und die Gesetze der Logik durchaus ihre Gültig keit. Diese Gültigkeit ist aber auf den Rahmen der konven tionellen Wahrheit beschränkt. Wenn wir jedoch versu chen, unsere Vorstellungen von Identität, Existenz und Verursachung mit einer objektiven, unabhängigen Existenz zu begründen, verlassen wir die Grenzen der Logik, der Sprache und der Konventionen. Es ist nicht notwendig, eine objektive und unabhängige Existenz der Dinge anzu nehmen, um den Dingen und Ereignissen eine solide und und keineswegs willkürliche Wirklichkeit zu verleihen, die nicht nur im Alltag Gültigkeit besitzt, sondern zugleich eine zuverlässige Grundlage fur ethische und spirituelle Ak tivitäten bildet. Der Philosophie der Leerheit zufolge ist die Welt ein Netz abhängig entstandener, miteinander ver knüpfter Wirklichkeiten, innerhalb dessen abhängig ent standene Ursachen aufgrund abhängig entstandener Kau salitätsgesetze abhängig entstandene Wirkungen zeitigen. Sobald wir dies erkennen, wird alles, was wir in unserem Leben tun und denken, von größter Bedeutung sein, denn es hat Einfluss auf alles, womit wir verbunden sind. Die paradoxe Natur der Wirklichkeit, die sowohl vom Buddhismus als auch von der modemen Physik enthüllt wird, ist eine grundsätzliche Herausforderung für die Gren zen menschlichen Wissens. Das zentrale Problem ist ein er
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kenntnistheoretisches: Wie können wir die Wirklichkeit sinnvoll beschreiben und verstehen? Buddhistische Philo sophen der Leerheit haben nicht nur ein umfassendes Welt bild entworfen, das in der Verneinung unseres tief verwur zelten Drangs gründet, die Wirklichkeit so aufzufassen, als wäre sie aus eigenständig existierenden, objektiven Einhei
ten zusammengesetzt. Sie haben sich immer auch darum bemüht, diese Einsichten in ihrem alltäglichen Leben zum Ausdruck zu bringen. Die buddhistische Antwort auf den scheinbaren erkenntnistheoretischen Widerspruch liegt in einem Verständnis der Wirklichkeit, wie sie in der Theorie der zwei Wahrheiten dargelegt ist. Die Physik muss es sich zur Aufgabe machen, eine Erkenntnistheorie zu entwerfen, die dazu beiträgt, die scheinbar unüberbrückbare Kluft zwi schen dem Weltbild der klassischen Physik und unserer All tagserfahrung einerseits und der Q!antenmechanik ande rerseits zu überwinden. Darüber, wie das Modell der zwei Wahrheiten innerhalb der Physik zur Anwendung kom men kann, wage ich keine Vermutungen anzustellen. In letzter Konsequenz sieht sich die Physik durch die Einsich ten der Q!antenmechanik mit der philosophischen Frage konfrontiert, ob der Begriff der Wirklichkeit - verstanden als essentiell existierende Grundbausteine der Materie überhaupt aufrechterhalten werden kann. Dazu bietet die buddhistische Philosophie der Leerheit ein sinnvolles Mo dell für ein nicht-essentialistisches Verständnis der Wirk lichkeit an. Ob es sich in diesem Zusammenhang als hilf reich erweisen kann, wird sich mit der Zeit zeigen.
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Der Urknall und das anfanglose Universum des Buddhismus Wer hat in einer klaren Nacht beim Anblick des mit unzäh ligen Sternen bedeckten Himmels nicht schon ein Geruhl der Ergriffenheit verspürt? Wer hat sich nicht schon gefragt, ob hinter all dem eine Intelligenz am Werke ist? Wer hat sich nicht schon gefragt, ob unser Planet der einzige ist, auf dem Leben entstanden ist? Für mich sind diese Fragen Aus druck einer natürlichen Neugierde des menschlichen Geis tes. Im Verlauf der langen Geschichte menschlicher Zivili sation hat es stets das Bedürfnis gegeben, eine Antwort auf diese Fragen zu finden. Es ist eine der großen Leistungen der modernen Wissenschaft, uns dem Verständnis der Ur sachen und komplexen Vorgänge bei der Entstehung des Kosmos näher gebracht zu haben als je zuvor. Wie in vielen alten Kulturen gibt es auch in Tibet ein komplexes astrologisches Wissen mit Elementen, die man in der modernen Kultur der Astronomie zuordnen würde. Es existieren tibetische Namen rur fast alle Sterne, die mit dem bloßen Auge sichtbar sind. Und lange schon konnten Tibeter und Inder Sonnen- und Mondfinsternisse auf grund astronomischer Beobachtungen mit erstaunlicher Si cherheit vorhersagen. In Tibet verbrachte ich als Kind viele Nächte damit, den Himmel durch mein Teleskop zu be trachten und die Namen und Umrisse der Sternbilder zu lernen.
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Bis heute erinnere ich mich an die große Freude, die ich bei meinem ersten Besuch in einem Observatorium - es war
das Birla-Planetarium in Delhi - empfand. 1973, als ich zum ersten Mal den Westen bereiste, lud mich die Univer sität Cambridge in England dazu ein, im Senat und in der religionswissenschaftlichen Fakultät zu sprechen. Als der Vizepräsident der Universität mich fragte, ob mich in Cam bridge irgendetwas besonders interessierte, antwortete ich ohne zu zögern, dass ich gerne das berühmte Radiotele skop des astronomischen Fachbereichs sehen würde. Auf einer »Mind and Life«-Konferenz in Dharamsala zeigte der Astrophysiker Piet Hut, der an einem For schungsinstitut der Universität Princeton arbeitete, eine Computersimulation, in der man verfolgen konnte, wie sich Astronomen die kosmologischen Vorgänge beim Zu sammenstoß zweier Galaxien vorstellen. Es war ein faszi~ nierender Anblick, ein wahrhaft großartiges Schauspiel! Mit Hilfe solcher Computeranimationen können wir uns vor Augen fuhren, wie sich das Universum direkt nach einer kosmischen Explosion aufgrund bestimmter ur sprünglicher Bedingungen und grundlegender kosmologi scher Gesetze in der Zeit entfaltet hat. Nach Piet Huts Präsentation gab es eine offene Diskussion. Zwei weitere Konferenzteilnehmer, David Finkelstein und George Greenstein, versuchten, uns mit Gummibändern und Ringen das Phänomen des sich ausdehnenden Universums näher zu bringen. Ich erinnere mich daran so deutlich, weil es meinen bei den Dolmetschern und mir etwas schwer fiel, uns die kosmische Ausdehnung bei dieser Demonstration vorzustellen. Danach gaben sich alle versammelten Wis senschaftler große Mühe, die Erklärungen zu vereinfachen,
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was natürlich dazu fUhrte, dass wir am Ende noch verwirr ter waren.
Wie so vieles in den Naturwissenschaften, basiert auch die moderne Kosmologie aufEinsteins Relativitätstheorie. Astronomische Beobachtungen und die Erkenntnisse der Allgemeinen Relativitätstheorie, denen zufolge die Gravi tation als Krümmung der Raum-Zeit aufgefasst werden kann, zeigen, dass unser Universum in seiner gegenwärti
gen Form weder ewig noch statisch ist. Es entwickelt sich und expandiert ständig. Dies entspricht durchaus der Intui tion früher buddhistischer Kosmologen, die davon ausgin gen, dass jedes Universum Phasen der Bildung, Expansion und schließlich der Vernichtung durchläuft. Bereits in den 1920er Jahren wurde die Krümmung und Expansion des Universums von der modernen Kosmologie aufgrund theoretischer Vorhersagen (Alexander Friedmann) und ge nauer empirischer Beobachtungen (Edwin Hubble) - zum Beispiel der Beobachtung, dass es im Licht weit entfernter Galaxien eine stärkere Rotverschiebung als in näher liegen den gibt - überzeugend nachgewiesen. Allgemein wird davon ausgegangen, dass diese Expan sion in einer großen kosmischen Explosion ihren Anfang genommen hat - dem berühmten Urknall, der vor 12 bis 15 Milliarden Jahren stattgefunden haben soll. Wenige Se kunden nach dieser Explosion, davon sind die meisten Kosmologen mittlerweile überzeugt, sank die Temperatur bis auf einen Wert, der die Ausbildung der Kerne der leich ten Elemente begünstigte, aus denen sich sehr viel später die gesamte Materie entwickelte, die im Kosmos vorhan den ist. Auf diese Weise entwickelte sich aus diesem Feuer ball, der aus Materie und Strahlung bestand, Raum, Zeit,
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Materie und Energie, wie wir sie heute kennen. In den 1960er Jahren wurde eine Mikrowellenstrahlung entdeckt, die sich im gesamten Universum ausbreitet. Diese kosmi sche Hintergrundstrahlung ist ein Echo oder Nachglühen der Ereignisse nach dem Urknall. Genaue Messungen des Spektrums, der Polarisation und der räumlichen Verteilung der kosmischen Hintergrundstrahlung, konnten zumin dest ansatzweise die theoretischen Modelle über den Ur sprung des Universums bestätigen. Bis zur zufalligen Entdeckung der Hintergrundstrahlung gab es in der modernen Kosmologie eine anhaltende De batte zwischen zwei vorherrschenden Schulen. Die eine ver trat die »Steady State«-Theorie, wonach sich das Universum mit einer konstanten Geschwindigkeit ausdehnt, wobei un veränderliche physikalische Gesetze zu jeder Zeit gültig sind. Die andere ging von einer Evolution des Universums
in Form einer kosmischen Explosion aus. Wie ich hörte, waren einige der größten Geister der modernen Kosmolo gie, unter ihnen Fred Hoyle, Vertreter der »Steady State« Theorie. Es ist noch gar nicht so lange her, dass diese Theo rie das Bild der Wissenschaft vom Ursprung unseres Universums prägte. Heutzutage ist die Hintergrundstrah lung fur die meisten Wissenschaftlerinnen und Wissen schaftler jedoch ein ausreichendes Indiz, das die Hypothese vom Urknall belegt. Dies ist ein wunderbares Beispiel dafur, dass empirische Beweise in der Wissenschaft im Endeffekt das letzte Wort haben. Theoretisch trifft dies auch auf das buddhistische Denken zu. Wer die Autorität empirischer Beweise missachtet, sagt man in buddhistischer Praxis, ist kein ernst zu nehmender Partner im kritischen Dialog. In Tibet gab es komplexe Schöpfungsmythen, die ihren
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Ursprung in der vorbuddhistischen Bön-Religion hatten. Eines ihrer zentralen Themen ist das Auftauchen von Ord nung aus dem Chaos, Licht aus der Dunkelheit, Tag aus der Nacht, der Existenz aus dem Nichts. Diese Schöpfungs akte werden als Handlungen eines transzendenten Wesens an gesehen, das alles aus einer reinen Potentialität heraus ent stehen ließ. Eine weitere Gruppe von Mythen beschreibt das Universum als einen lebendigen Organismus, der aus einem kosmischen Ei geboren wurde. In der reichen spiri
tuellen und philosophischen Tradition des alten Indien entstand eine breite Palette widersprüchlicher kosmologi scher Vorstellungen. Darunter befanden sich so unter schiedliche Ideen wie die frühe Samkhya-Theorie der »Uf anfanglichen Materie«, wonach der Ursprung des Kosmos und des Lebens, das er enthält, als Ausdruck einer ihm zu grunde liegenden absoluten Seinsebene zu verstehen ist. Diesen absoluten Grund der Dinge ersetzte der Atomismus des Vaisheshika durch die Pluralität unteilbarer »Atome« als Grundbausteine der Wirklichkeit. Daneben existierten die verschiedensten Vorstellungen über die Götter Brah man oder Ishvara als Quelle göttlicher Schöpfung, aber auch die radikale, materialistische Theorie der Charvaka Schule. Sie betrachtete die Evolution des Universums als eine planlose, zut:illige Entfaltung der Materie und fUhrte alle geistigen Prozesse auf komplexe Verbindungen mate rieller Phänomene zurück. Dies entspricht in einem gewis sen Sinne dem Glauben eines wissenschaftlichen Materia lismus, der den Geist auf neurologische und biochemische Prozesse und diese wiederum auf Tatbestände der Physik reduziert. Im Gegensatz dazu versteht der Buddhismus die Evolution des Universums als eine des abhängigen Entste
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hens, in dem der Ursprung und die Existenz aller Dinge als ein komplexes Netzwerk miteinander verbundener Ursa chen und Bedingungen aufgefasst wird. Dies gilt sowohl für das Bewusstsein als auch /Ur die Materie. In den frühen Schriften gab Buddha niemals eine direkte Antwort aufdie Frage nach dem Ursprung des Universums. In einer berühmten Parabel vergleicht Buddha einen Men schen, der eine solche Frage stellt, mit einem Mann, der von einem vergifteten Pfeil getroffen wurde. Anstatt dem Arzt zu erlauben, den Pfeil auf der Stelle herauszuziehen, besteht der Verletzte darauf, zuerst die Kaste, den Namen und den Familienverband des Angreifers zu erfahren, ob er dunkle, braune oder helle Haut hat, in einem Weiler, einer Ortschaft oder einer Stadt lebt, ob er mit einem Langbogen oder einer Armbrust geschossen hat, ob die Sehne aus Pflanzenfasern, Sumpfgras, Hanf, Tiersehnen oder Baum rinde besteht, ob der Schaft aus natürlich gewachsenem oder angebautem Holz geschnitzt ist und so weiter. Einer seits kann man sagen, dass Buddha sich der Beantwortung dieser metaphysischen Frage verweigerte, weil sie nicht di rekt zur Befreiung der Wesen beiträgt. Einer anderen Auf fassung zufolge, die vor allem von N agarjuna vertreten wird, hätte eine Antwort beim Fragesteller zu einer weite ren Verfestigung des Glaubens an eine dauerhafte, eigen ständige Existenz geführt, da die Frage selbst bereits aufder Annahme einer aus sich selbst heraus bestehenden Wirk lichkeit der Dinge beruht und nicht von ihrem abhängigen Entstehen ausgeht. In den verschiedenen buddhistischen Traditionen wer den Buddhas »unbeantwortete« Fragen jeweils etwas anders zusammengefasst. Der Pali-Kanon nennt zehn solcher Fra
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gen, während die von den Tibetern übernommene klassi sche indische Tradition folgende vierzehn auffUhrt: 1. Sind das Ich und das Universum ewig? 2. Sind das Ich und das Universum vergänglich? 3. Sind das Ich und das Universum zugleich ewig und ver gänglich? 4. Sind das Ich und das Universum weder ewig noch ver gänglich? 5. Haben das Ich und das Universum einen Anfang? 6. Haben das Ich und das Universum keinen Anfang? 7. Haben das Ich und das Universum sowohl einen An fang als auch keinen Anfang? 8. Haben das Ich und das Universum weder einen Anfang noch keinen Anfang? 9. Existiert der Erhabene nach dem Tod? 10. Existiert der Erhabene nach dem Tod nicht? 11. Existiert der Erhabene nach dem Tod und zugleich nicht? 12. Existiert der Erhabene nach dem Tod nicht und zu gleich nicht nicht? 13. Sind Geist und Körper dasselbe? 14. Sind Geist und Körper getrennt? Obwohl die Schriften von der Weigerung Buddhas spre chen, sich auf metaphysische Spekulationen einzulassen, gab es in der philosophischen Überlieferung des alten In dien eine lange Tradition der Auseinandersetzung mit die sen grundsätzlichen und ewigen Fragen über unsere Exis tenz und die Welt, in der wir leben. Meine eigene tibetische Tradition hat dieses philosophische Erbe des indischen Buddhismus übernommen.
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Im Buddhismus haben sich zwei zentrale kosmologische Traditionen entwickelt. Eine ist das System des Abhi dharma, das von vielen buddhistischen Schulen geteilt wird, unter anderem vom Theravada-Buddhismus, der heute noch in Thailand, Sri Lanka, Burma, Kambodscha und Laos vorherrscht. Obwohl es der Mahayana-Buddhismus war, der den Weg nach Tibet fand - vor allem in Form der so ge nannten Nalanda-Schule des indischen Buddhismus -, wur den die Psychologie und Kosmologie des Abhidharma den noch in die intellektuelle Kultur Tibets aufgenommen. Das wichtigste Werk der Abhidharma-Kosmologie, das in Tibet verbreitet ist, ist Vasubandhus Schatz des höheren Wissens (Skt.: Abhidharmalwsha). Eine zweite kosmologische Tradi tion Tibets findet sich in einer Sammlung wichtiger buddhistischer Vajrayana-Texte, die der Theorie und Praxis des Kalachakra angehören, was wörtlich »Rad der Zeit« heißt. In der Überlieferung werden die zentralen Lehren des Kalachakra-Zyklus zwar Buddha persönlich zugeschrieben, doch es ist schwierig, genau zu ermitteln, wann die frühes ten bekannten Werke dieses Systems tatsächlich entstanden. Seit der Übersetzung der wichtigsten Texte des Ka/achakra aus dem Sanskrit ins Tibetische im 11.]ahrhundert hat diese Überlieferung jedenfalls einen zentralen Platz im tibetisch buddhistischen Erbe eingenommen. Als ich im Alter von zwanzig] ahren mit meinen systema tischen Studien der Kosmologie des Abhidharma begann, wusste ich bereits, dass die Erde rund war; in Zeitschriften waren mir fotografische Aufnahmen von Vulkankratem auf dem Mond begegnet, und ich hatte eine gewisse Vorstel lung von den Umlaufbahnen der Erde und des Mondes um die Sonne. Als ich mich schließlich mit Vasubandhus klas
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sischer Darstellung der Kosmologie des Abhidharma be schäftigte, fand ich sie, das gebe ich geme zu, nicht sonder lich reizvoll. Die Kosmologie des Abhidharma beschreibt die Erde als eine flache Scheibe, die von himmlischen Körpern wie Sonne und Mond umkreist wird. In ihrer Vorstellung des Universums erstrecken sich vier »)Kontinente«, ausgehend vom zentralen Berg Meru, in die vier Himmelsrichtungen, wobei unsere Erde der südliche Kontinent ist. An den Sei ten jedes einzelnen dieser vier Kontinente liegen jeweils zwei kleinere Kontinente, und der Graben zwischen ihnen ist mit ungeheuer großen Ozeanen angeftillt. Dieses ge samte Weltensystem wird von einem »Grund« getragen, der im leeren Raum schwebt. Es ist die »Luftkraft«, die dieses Fundament im leeren Raum verankert. Vasubandhu macht detaillierte Angaben über die Umlaufbahnen der Sonne und des Mondes sowie über ihre Größe und die Entfer nung zur Erde. Diese Größen- und Entfernungsangaben sowie vieles mehr stimmen selbstverständlich nicht mit den empiri schen Erkenntnissen der modernen Astronomie überein. Es gibt im Buddhismus eine Regel, der zufolge die eigene Glaubwürdigkeit leidet, wenn eine Lehrmeinung aufrecht erhalten wird, die der Vernunft widerspricht; eine Meinung im Widerspruch gegen empirische Beweise aufrechtzuer halten stellt einen noch größeren Fehler dar. Aus diesem Grund fallt es schwer, die Kosmologie des Abhidharma wortwörtlich zu nehmen. Selbst ohne einen Verweis aufdie moderne Wissenschaft gibt es im Buddhismus eine Viel zahl einander widersprechender kosmologischer Modelle, so dass die wortwörtliche Gültigkeit jedes einzelnen frag
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würdig ist. Meiner Ansicht nach muss sich der Buddhismus von vielen Vorstellungen der Kosmologie des Abhidharma lösen. Inwieweit Vasubandhu das Weltbild des Abhidharma persönlich teilte, bleibt unklar. Seine Darstellung ist eine systematische Beschreibung der kosmologischen Spekula tionen, die in Indien damals vorherrschten. Genau genom men sind die Beschreibungen des Kosmos und seines Ursprungs - das, was der Buddhismus als "Behälter« be zeichnet - jedoch zweitrangig gegenüber einer Analyse der Natur und des Ursprungs der fUhlenden Wesen, dessen also, was der "Behälter enthält«. Der tibetische Gelehrte Gendün Chöpel, der in den 1930er Jahren ausgedehnte Reisen auf dem indischen Subkontinent unternahm, war der Ansicht, dass die Beschreibung der Erde als südlicher Kontinent möglicherweise auf einer alten Karte Zentralin diens beruhte. Er konnte überzeugend aufzeigen, dass die Angaben zu den drei übrigen Kontinenten auf geographi sche Orte im modernen Indien zutreffen. Ob diese Vermu tung stimmt oder ob diese Plätze einst nach den Kontinen ten benannt wurden, die den Berg Meru umgeben haben sollen, ist eine Frage, die es noch zu klären gilt. In einigen frühen Schriften werden die Planeten, ähnlich den Planetensystemen der modemen Kosmologie, als sphä rische Körper beschrieben, die im leeren Raum schweben. In der Vorstellung des Kalachakra gibt es eine festgelegte Ordnung der Evolution himmlischer Körper in unserer ge genwärtigen Galaxie. Anfangs entstanden die Sterne, da nach erst das Sonnensystem und so weiter. An den Kos mologien von Abhidharma und Kalachakra ist vor allem interessant, in welchen Zusammenhang sie den Ursprung
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des Universums stellen. Sie entwerfen ein Bild, in dem unser Weltensystem nur eines unter zahllosen anderen ist. Beide, Abhidharma und Kalachakra, gebrauchen den Be griff des »Trichiliokosmos« (der, soweit ich weiß, einer Mil liarde Weltensystemen entspricht), um einen Eindruck von der Unermesslichkeit der Universen zu vermitteln, und beide behaupten, dass es unendlich viele solcher Trichilio kosmen gebe. Danach gibt es im Prinzip weder einen An fang noch ein Ende des Universums in seiner Gesamtheit, jedoch durchaus eine vorgegebene zeitliche Abfolge von Anfang, Mitte und Ende ftir jedes einzelne Weltensystem. Die Evolution eines bestimmten Universums erstreckt sich in dieser Vorstellung über vier Phasen: den Zeitaltern (1) der Leerheit, (2) der Ausformung, (3) des Bestehens und schließlich (4) der Zerstörung. Jede dieser Phasen soll eine ungeheure Zeitspanne umfassen, zwanzIg ),mittlere Äonen«, und erst im letzten mittleren Äon der Phase der Ausformung sollen ftihlende Wesen auftauchen. Die Zer störung eines Universums kann durch jedes der drei natür lichen Elemente Wasser, Feuer und Luft, nicht jedoch durch Erde und Raum erfolgen. Das Element, das die Zer störung eines Weltensystems bewirkt, bildet die Grundlage der Evolution des nächsten Universums. In der buddhistische Kosmologie ist demnach nicht nur die Vorstellung von unzähligen Weltensystemen von zen traler Bedeutung - einigen Texten zufolge soll es unend lich viel mehr Welten geben, als der Ganges Sandkörner enthält -, sondern auch, dass sie sich in einem fortwähren den Zustand des Werdens und Vergehens befinden. Das Universum hat also keinen absoluten Anfang. Dies wirft grundsätzliche Fragen für die Wissenschaft auf. War da nur
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ein Urknall oder viele? Gibt es ein Universum oder viele möglicherweise sogar eine unendliche Anzahl an Univer sen? Ist das Universum begrenzt oder unbegrenzt, wie die Buddhisten behaupten? Wird unser Universum sich end los ausdehnen, oder wird seine Ausdehnung sich verlangsa men, ja sogar umkehren, so dass es schließlich in einem großen Endkollaps zugrunde gehen wird? Ist unser Uni versum bloß Teil eines sich auf ewig reproduzierenden Kosmos? Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler disku tieren diese Fragen mit großer Leidenschaft. Aus buddhis tischer Sicht stellt sich aber noch ein weiteres Problem: Selbst wenn wir davon ausgehen, dass nur ein einziger kos mischer Urknall stattgefunden hat, müssen wir uns den noch fragen, ob dieser den Beginn des gesamten Univer sums markiert, oder doch nur die Entfaltung unseres speziellen Universums. Die wesentliche Frage lautet also, ob der Urknall - der laut der modernen Kosmologie der Ursprung unseres gegenwärtigen Weltsystems ist - wirklich der Anfang aller Dinge ist. Aus buddhistischer Sicht ist die Idee eines singulären, ab soluten Anfangs überaus problematisch. Hätte es einen sol chen Anfang gegeben, bleiben logischerweise nur zwei Möglichkeiten. Eine davon ist der Theismus, die Vorstel lung also, dass das Universum das Werk einer transzenden ten Intelligenz ist, die damit außerhalb der Gesetze von Ur sache und Wirkung stehen muss. Die zweite Möglichkeit ist die eines Universums, das ohne eine Ursache entstan den ist. Der Buddhismus verneint beide Möglichkeiten. Sollte das Universum durch eine vor allen Dingen bereits existierenden Intelligenz geschaffen worden sein, stellt sich die Frage nach dem ontologischen Status eines solchen
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Wesens, oder anders ausgedrückt: Was ist die Wirklichkeit dieser Intelligenz? Dharmakirti, der große Logiker und Erkenntnistheoreti ker des 7. Jahrhunderts u.Z., formulierte überzeugend eine buddhistische Kritik des Theismus. In seinem klassischen Werk Erklärung der gültigen Erkenntnis (Skt. Pramanavarttika) überprüft er die vorherrschenden Beweise fiir die Existenz eines Schöpfers, die von den theistischen philosophischen Schulen Indiens vorgelegt worden waren. Kurz zusammen gefasst lauten die Argumente des Theismus wie folgt: Die Welten der inneren Erfahrung und der externen Materie sind beide von einer Intelligenz geschaffen, die ihnen vo rangeht, weil sie (a) in einer Ordnung nacheinander agie ren, so wie Handwerker und Werkzeug; (b) weil sie über Formen verfugen, so wie eine Vase; (c) weil ihnen, so wie den Objekten des Alltags, die Kraft der Verursachung inne wohnt. Diese Argumente erinnern meiner Ansicht nach an eine Beweisfiihrung der philosophischen Tradition des Wes tens, die ebenfalls vom Eindruck der Konstruiertheit aus geht. Danach ist der hohe Grad der Ordnung, den wir in der Natur beobachten können, ein Beleg fiir die Existenz einer Intelligenz, die sie geschaffen haben muss. So wie man sich das Vorhandensein einer Uhr nicht ohne Uhrma cher erklären könne, so könne man sich kein geordnetes Universum vorstellen, hinter dem nicht eine Intelligenz steht, die ihm seine Struktur verleiht. Die klassischen philosophischen Schulen Indiens, die ein theistisches Verständnis vom Ursprung des Universums haben, zeichnen sich, wie ihre Vertreter im Westen, durch große Unterschiede aus. Eine der ersten war ein Zweig der
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Samkhya-Schule, demzufolge das Universum dem kreati ven Zusammenspiel einer »Ursubstanz(, prakriti, mit
Ishvara, Gott, entsprang. Es handelt sich dabei um eine komplexe metaphysische Theorie, der die natürlichen Ge setze von Ursache und Wirkung zugrunde liegen, und die Funktion der Gottheit bleibt auf die Erklärung der myste riösen Aspekte der Wirklichkeit, auf Fragen nach der Schöpfung und nach dem Sinn der Existenz, beschränkt. Dharmakirtis Kritik richtet sich vor allem auf einen grundlegenden Widerspruch, den er in der theistischen Per spektive wahrnimmt. Das Bestreben, den Ursprung des Universums theistisch zu begründen, ist laut Dharmakirti von der Vorstellung von Ursache und Wirkung durchdrun gen, doch in letzter Analyse sieht sich der Theismus ge zwungen, genau dieses Prinzip zu verneinen. DaduKh, dass an die Kette der Kausalität ein absoluter Anfang ge setzt wird, müssen Theisten davon ausgehen, dass es etwas geben kann - zumindest die erste Ursache -, das außerhalb des Gesetzes von Ursache und Wirkung steht. Denn dieser Anfang, der zugleich die erste Ursache ist, hat selbst keine Ursache. Die erste Ursache muss ein ewiges und absolutes Prinzip sein. Doch wie sollte sie dann über die Fähigkeit verfügen, unbeständige Dinge und Ereignisse hervorzu bringen? Dharmakirti zufolge kann einem beständigen Prinzip nicht die Kraft der Verursachung innewohnen. Aus seiner Sicht ist die Behauptung einer ersten Ursache letzten Endes nichts anderes als eine metaphysische Hypothese voller Widersprüche. Sie kann nicht bewiesen werden. Asanga fasste im 4. Jahrhundert u. Z. den Ursprung des Universums im Sinne der Theorie des abhängigen Entste hens auf: Alle Dinge entstehen und vergehen aufgrund von
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Ursachen und Bedingungen. Asanga beschreibt drei zen trale Voraussetzungen des abhängigen Entstehens. Erstens: Die Voraussetzung der Abwesenheit einer anfänglichen Intelli genz. Asanga verwirft die Möglichkeit der Schöpfung des Universums durch eine ihm vorausgehende Intelligenz, da sie vollkommen außerhalb von Ursache und Wirkung exis tieren müsste. Ein absolutes, außerhalb der Zeit stehendes transzendentes Wesen befande sich jenseits der Gesetze der Kausalität, hätte demnach keinen Einfluss auf Ursache und Wirkung und könnte weder etwas anregen noch etwas be enden. Zweitens: Die Voraussetzung der Unbeständigkeit. Sie lässt die Ursachen und Bedingungen, in denen die Welt des abhängigen Entstehens gründet, selbst wiederum unbe ständig und dem Wandel unterworfen sein. Drittens: Die Voraussetzung der Potentialität. Sie besagt, dass Phänomene nicht aufgrund beliebiger Umstände entstehen können. Zwischen bestimmten Ursachen und Bedingungen und be stimmten Wirkungen oder Konsequenzen muss eine Art natürlicher Beziehung bestehen. Aufgrund dieser Betrach tungen kommt Asanga zu dem Schluss, dass die Entste hung des Universums als unendliche Kette der Verursa chung aufgefasst werden muss, der keine transzendente oder vorausgehende Intelligenz innewohnt. Buddhismus und Wissenschaften verbindet eine grund legende Skepsis gegenüber der Annahme eines transzen denten Wesens als Ursprung aller Dinge. Dies ist natürlich keine Überraschung, wenn man bedenkt, dass beide For schungstraditionen einen nichttheistischen philosophi schen Ansatz teilen. Sobald der Urknall jedoch als absolu ter Anfangspunkt betrachtet wird, anders gesagt, wenn dem Universum ein absoluter Ursprungsmoment verliehen
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wird, müssen die Kosmologen wohl oder übel von einem transzendenten Prinzip als Ursprung des Universums aus
gehen - es sei denn, sie weigern sich, über das Vorher die ser kosmischen Explosion zu spekulieren. Dieses Prinzip ist vielleicht nicht der Gott einer bestimmten theistischen Auffassung, doch in seiner Funktion als Schöpfer des Uni versums muss es eine Art von Gottheit sein.
Wenn der Urknall jedoch, wie es einige WissenschafHe rinnen und Wissenschaftler vorschlagen, kein Anfangs punkt ist, sondern eher der Ausdruck eines thermodynami schen Ungleichgewichts, bietet sich ein nuancierteres, komplexeres Verständnis dieses kosmischen Ereignisses an.
Meines Wissens sind viele Wissenschaftler der Ansicht, dass über den Urknall als absoluten Anfang aller Dinge noch nicht das letzte Wort gesprochen ist. Verlässliche em pirische Belege lassen, so wurde mir erklärt, momentan nur
den Schluss zu, dass unsere kosmische Umgebung sich aus einem äußerst heißen Zustand höchster Dichte entwickelt hat. Bevor die Theorie vom Urknall nicht mit weiterem Be weismaterial untermauert werden kann, bevor die grundle
genden Einsichten der Quantenphysik und Relativitäts theorie nicht vollständig in sie integriert sind, werden viele der hier gestellten kosmologischen Fragen weiterhin dem Bereich der Metaphysik und nicht dem der empirischen Wissenschaft angehören. In der buddhistischen Kosmologie ist die Welt aus fiinf Elementen zusammengesetzt: dem unterstützenden Ele ment des Raums und den vier grundlegenden Elementen Erde, Wasser, Feuer und Luft. Das Raumelement ermög licht die Existenz und Funktion aller anderen Elemente. In der Kalachakra-Lehre ist der Raum kein absolutes Nichts,
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keine vollkommene Leere, sondern eine Sphäre »leerer Teilchen« oder »Raum-Teilchen«, die man sich als äußerst
subtile »Materie«-Teilchen vorzustellen hat. Das Raumele ment bildet die Grundlage fur das Entstehen und Vergehen der vier Elemente, die aus ihm hervorgehen und wieder dorthin zurückfließen. Der Prozess des Vergehens vollzieht sich in der Reihenfolge: Erde, Wasser, Feuer und Luft; der Prozess des Entstehens in der Reihenfolge: Luft, Feuer, Wasser, Erde. Nach Asanga dürfen wir diese Elemente, die er als die »vier großen Elemente« bezeichnet, nicht in einem strikten
Sinne als Materie verstehen. Er macht einen Unterschied zwischen den »vier großen Elementen«, die er eher als Po
tentialitäten begreift, und den vier Elementen, die die Bau steine der zusammengesetzten Materie bilden. Vielleicht sollten wir die vier Elemente innerhalb materieller Objekte besser als Festigkeit (Erde), Fließen (Wasser), Hitze (Feuer) und kinetische Energie (Luft) betrachten. Diese vier Ele mente entfalten sich aus einer subtilen in eine grobere Ebene, sie entstehen also aus der zugrunde liegenden Ursa che der leeren Raum-Teilchen, und sie lösen sich aus der groben über die subtile Ebene wieder in diese Sphäre auf Der Raum, mit seinen leeren Teilchen, ist die Grundlage des gesamten Prozesses. Der Begriff»Teilchen« ist vielleicht nicht genau genug, um diese Phänomene zu beschreiben, weil damit der Eindruck von bereits ausgeformten, mate riellen Wirklichkeiten erweckt wird. Leider finden sich in den Texten kaum Beschreibungen, um diese »Raum-Teil chen« besser definieren zu können.
Die buddhistische Kosmologie beschreibt den Zyklus eines Universums in folgender Weise: Der Phase der Aus
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formung folgt ein Zeitalter der Dauer; dieses wird von einer Periode der Zerstörung abgelöst, auf die, bevor sich erneut ein Universum ausbildet, eine Zeit der Leerheit folgt. In der vierten Phase, dem Zeitalter der Leerheit, existieren jedoch weiterhin Raum-Teilchen, aus denen sich die gesamte Ma terie des folgenden Universums entfalten wird. Es sind diese Raum-Teilchen, die die letztendliche Ursache der ge samten materiellen Welt bilden. Damit wir die Ausfor mung des Universums und der physischen Körper der Wesen beschreiben können, müssen wir verstehen, wie die einzelnen Elemente, aus denen das Universum zusammen
gesetzt ist, auf der Grundlage dieser Raum-Teilchen ihre Form annehmen können. Die Struktur des Universums und dessen, was es enthält Planeten, Sterne, fiihlende Wesen wie Menschen und Tiere -, entsteht durch das besondere Potential dieser Teil chen. Wenn wir die materiellen Objekte der Welt bis zu ihrer letzten Ursache zurückverfolgen, gelangen wir zu diesen Raum-Teilchen. Sie gehen dem Urknall voraus (das heißt jedem Neubeginn), denn sie sind so etwas wie der Bodensatz des früheren Universums, das zerstört wurde.
Meines Wissens nehmen einige Kosmologen an, das Uni versum habe sich als eine Fluktuation im so genannten Q!antenvakuum gebildet. Für mich klingt diese Vorstel lung so ähnlich wie die Kalachakra-Theorie der Raum-Teil chen. Aus der Sicht der modernen Kosmologie stellt die Frage nach den Vorgängen in den ersten Sekunden nach dem Urknall ein fast unlösbares Problem dar. Zum Teil liegt die Schwierigkeit darin, dass die vier elementaren Naturkräfte - Gravitation, Elektromagnetismus, schwache und starke
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Kernkraft - zu diesem Zeitpunkt noch nicht wirksam waren. Sie kamen erst zum Tragen, als sich die ursprüngli che Dichte und Temperatur des Universums so weit verrin gert hatten, dass grundlegende Elemente wie Wasserstoff und Helium entstehen konnten. Der Anfangspunkt des Urknalls ist eine so genannte Singularität, in der alle ma thematischen Gleichungen und physikalischen Gesetze zu sammenbrechen. Normalerweise messbare Größen wie Dichte und Temperatur sind in einem derartigen Moment nicht definiert. Wissenschaftliche Untersuchungen über den Ursprung des Kosmos fußen auf dem Einsatz mathematischer Glei chungen und gehen von der Gültigkeit physikalischer Ge setze ans. Doch sobald diese zusammenbrechen, müssen wir uns fragen, ob wir jemals einen vollständigen Überblick über die ersten Sekunden des Urknalls erhalten werden. Ei nige der begabtesten Köpfe beschäftigen sich, wie ich ge hört habe, mit der Erforschung der Vorgänge in den aller ersten Phasen der Ausbildung unseres Universums. Die Lösung rur das, was sich derzeit noch als ein unüberwindli ches Problem darstellt, soll nach Ansicht einiger Wissen schaftlerinnen und Wissenschafiler in der Entwicklung einer »Großen vereinigten Theorie« (Great Unified Theory) liegen, in die alle bekannten Gesetze der Physik integriert sein sollen. In dieser Theorie würden die beiden einander zu widersprechen scheinenden Paradigmen der modernen Physik, Relativitätstheorie und Q1lantenphysik, in Über einstimmung gebracht werden. Wie man mir mitgeteilt hat, können die Grundannahmen beider Theorien bis heute nicht miteinander vereinbart werden. Der Relativi tätstheorie zufolge können die Verhältnisse im Kosmos rur
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jeden Moment genau bestimmt werden, wenn genügend Informationen vorliegen. Die Quantenmechanik weist je
doch nach, dass die Wirklichkeit mikroskopischer Teilchen nur in Begriffen der Wahrscheinlichkeit verstanden werden kann, da die Welt im Innersten aus »Stücken« oder »Q!Ian ten« von Materie (daher der Name Quantenphysik) be steht, die dem Prinzip der Unbestimmtheit unterliegen. Modelle mit so exotisch klingenden Namen wie »Superst ring-Theorie« und »M-Theorie« sind die derzeitigen Kandi daten fur diese noch zu formulierende »Große vereinigte Theorie«. Der Versuch, ein vollständiges Wissen über die ersten Momente der Entstehung des Universums zu erlangen, steht demnach vor einem grundsätzlichen Problem. Auf einer grundlegenden Ebene der Wirklichkeit können wir den Q,Iantenregeln zufolge nicht mit Gewissheit vorhersa gen, wie sich ein Teilchen in einer bestimmten Situation verhalten wird. Es lassen sich nur Wahrscheinlichkeits-Aus sagen über das Verhalten eines Teilchens treffen. Da unser Wissen über die Anfangsbedingungen eines bestimmten Phänomens oder Ereignisses also immer unvollständig sein wird, können wir keinen absoluten Einblick in den Ablauf seiner Entwicklung erhalten, so genau unsere mathemati schen Formeln auch sein mögen. Bestenfalls werden wir nä herungsweise Vermutungen aufstellen können, doch der große Traum, auch nur ein einzelnes Atom umfassend zu beschreiben, ganz zu schweigen von der Gesamtheit des Universums, wird sich niemals erfullen. In der buddhistischen Welt geht man schon lange von der Unmöglichkeit aus, ein absolutes Wissen vom Ur sprung des Universums zu erlangen. In einem Mahayana
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Text, dem Blumenkranz-Sutra (Slat.: Avatamsakasutra), fin det sich eine ausftihrliche Betrachtung über die unendli chen Weltensysteme und die Grenzen des menschlichen Wissens. In einem Abschnitt mit dem Titel »Das Uner messliche« gibt es eine Folge von Berechnungen mit extrem hohen Zahlen, die in Begriffen wie »das Unzählbare«, »das Unermessliche«, »das Grenzenlose« und )~das Unvergleich liche« kulminieren. Die höchste Zahl ist die »namenlose QIadratzahl«, die man angeblich erhält, wenn das »Unaus sprechliche« mit sich selbst multipliziert wird! Ein Freund von mir ist der Ansicht, man könne diese Zahl mathema tisch als 1050 fonnulieren. Nach dieser Aufzählung werden diese aberwitzigen Zahlen im Blumenkranz-Sutra dem Uni versum selbst gegenübergestellt. Es wird behauptet, dass die Zahl der Weltensysteme selbst dann noch nicht erfasst werden kann, wenn alle ))fiamenlosen« Welten in Atome zerlegt sind und jedes einzelne dieser Atome selbst wie derum •• namenlose« Welten enthält. In ähnlicher Weise vergleicht der Text in wunderbaren poetischen Versen die verschlungene, tiefe Verbundenheit der Welt mit einem endlosen Netz aus Edelsteinen, das »In dras Juwelennetz« genannt wird und sich durch den unbe grenzten Raum erstreckt. An jedem einzelnen Knoten punkt dieses Netzes befindet sich ein funkelndes Kristall, das mit allen anderen Juwelen verbunden ist und alle ande renjuwelen in sich spiegelt. In diesem Netz liegen die Edel steine weder im Zentrum noch am Rand. Jedes einzelne Juwel bildet ein Zentrum, da es alle anderen Edelsteine des Netzes reflektiert. Zugleich liegt jedes einzelne Kristall aber auch am Rand, da es in allen anderen reflektiert wird. Auf grund der tiefen Verbundenheit aller Phänomene des Kos
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mos können wir niemals ein abschließendes Wissen über ein einzelnes Atom erlangen, es sei denn, wir wären allwis
send. Um ein einziges Atom vollständig zu verstehen, müssten wir seine Beziehungen zu allen anderen Phänome nen des Universums erkennen können.
Den Kalachakra-Texten zufolge verharrt jedes einzelne Universum vor seiner Entfaltung in einem Zustand der Leerheit, in dem alle materiellen Elemente bereits in Form von Potentialitäten als Raum-Teilchen vorhanden sind. So bald die karmischen Dispositionen der fuhlenden Wesen, die sich in einem bestimmten Universum wahrscheinlich entwickeln werden, zur Reife gelangen, verdichten sich zu erst die Luft-Teilchen und lassen einen kosmischen Wind entstehen. Danach ballen sich die Feuer-Teilchen zu ther mischen Ladungen zusammen, die sich im Luftelement ausbreiten. Dann verdichten sich die Wasser-Teilchen, und es treten sturzflutartige Regenfalle begleitet von Blitzen auf. Schließlich ballen sich die Erd-Teilchen zusammen und nehmen gemeinsam mit den anderen Elementen feste Form an. Das funfte Element, Raum, muss man sich als eine immanente Kraft vorstellen, die alle anderen Ele mente durchdringt und insofern nicht eigenständig exis tiert. Über einen langen Zeitraum expandieren diese funf Elemente, um schließlich das materielle Universum her vorzubringen, das wir in unserer Erfahrung kennen.
Bis jetzt haben wir über den Ursprung des Universums so gesprochen, als bestünde es lediglich aus einer Mischung von unbeseelter Materie und Energie - nehmen wir die Ge burt von Galaxien, schwarze Löcher, Sterne, Planeten und das Gewirr der subatomaren Teilchen. Aus buddhistischer Sicht jedoch ist die entscheidende Frage die nach der Rolle
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des Bewusstseins. So gehen etwa die Kosmologien des Kalachakra und des Abhidharma davon aus, dass die Aus formung eines bestimmten Universums unmittelbar mit den karmischen Tendenzen der Lebewesen verbunden ist. Um es in moderner Sprache zu formulieren: Die buddhis tischen Kosmologien gehen davon aus, dass unser Planet sich in einer Weise entwickelt hat, die die Evolution von Lebewesen in Form der zahllosen Spezies ermöglichte, die heute auf der Erde existieren. Wenn ich in diesem Zusammenhang auf die Vorstellung von Karma verweise, möchte ich damit nicht behaupten, dass der Buddhismus alles als eine Wirkung des Karma be greift. Es ist wichtig, dass wir eine Unterscheidung treffen zwischen der Funktion der natürlichen Gesetze von Ursa che und Wirkung, wonach eine Folge von Ursachen, so bald sie in Gang gekommen ist, bestimmte Wirkungen her vorruft, und dem Gesetz des Karma, demzufolge bewusste Handlungen bestimmte Früchte zur Reife bringen. Wenn wir .ein Lagerfeuer im Wald unbeaufsichtigt lassen, das auf trockene Zweige übergreift und einen Waldbrand verur sacht, liegt es in der Natur des Feuers und der anderen Ma terialien, dass die Bäume Feuer fangen, brennen und sich in Holzkohle und Rauch verwandeln. Dieser Prozess ist nichts anderes als die Abfolge der natürlichen Gesetze von Ursache und Wirkung. Karma hat an diesen Vorgängen kei nen Anteil. Hingegen ist die Tatsache, dass ein fuhlendes Wesen den Entschluss gefasst hatte, ein Lagerfeuer anzu zünden und es zu löschen vergaß - was die Kette der Ereig nisse auslöste -, ein Akt der karmischen Verursachung. Was die Kosmologie betrifft, bin ich persönlich der An sicht, dass der gesamte Prozess der Entfaltung eines Univer
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sums auf dem Ablaufder natürlichen Gesetze von Ursache und Wirkung beruht. Dabei spielt Karma meiner Meinung nach an zwei Punkten eine Rolle. Sobald das Universum in seiner Entwicklung einen Punkt erreicht, an dem es das Leben fuhlender Wesen unterstützen kann, wird sich das Schicksal des Kosmos mit dem Karma der Wesen verflech ten, die in ihm leben werden. Schwieriger ist es natürlich, den allerersten Einfluss des Karma zu verstehen. Dieser be ruht auf der Reifung des karrnischen Potentials fuhlender Wesen, die sich in einem Universum entwickeln werden, das sein Entstehen eben dieser Reifung verdankt. Wie Karma im Einzelnen mit den natürlichen Gesetzen von Ursache und Wirkung zusammenwirkt, kann der Tra dition zufolge nur von der Allwissenheit eines Buddha er kannt werden. Das Problem besteht wohl darin, zwei unter schiedliche Erklärungsweisen in Übereinstimmung zu bringen - eine, nach der ein Universum mit allen seinen Lebewesen auf Grund von Karma entsteht, und eine zweite, nach der es einen natürlichen Prozess von Ursache und Wirkung gibt, der sich selbstständig entfaltet. Den frü hesten buddhistischen Texten zufolge verknüpfen sich Ma terie auf der einen und Bewusstsein auf der anderen Seite in einem Prozess von Ursache und Wirkung, der wiederum heide, Materie und Bewusstsein, mit neuen Funktionen und Eigenschaften ausstattet. Auf der Grundlage des Ver ständnisses ihrer Natur, ihrer kausalen Verbindung und Funktion lassen sich Schlüsse sowohl fur Materie als auch fur Bewusstsein ziehen, aus denen letztendlich Wissen ent steht. Diese vier Ebenen der Wirklichkeit wurden als die »Vier Prinzipien« beschrieben: die Prinzipien der Natur, der Abhängigkeit, der Funktion und der Einsichtigkeit.
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Es stellt sich nun die Frage, ob diese vier Prinzipien (die in der buddhistischen Philosophie die Naturgesetze darstel len) unabhängig von Karma existieren oder ob sie mit dem Karma der Wesen verknüpft sind, die ein bestimmtes Uni versum, in dem diese Gesetze wirksam sind, bevölkern.
Das Problem entspricht in etwa der Frage nach der Bedeu tung der Naturgesetze, wie sie sich in der modernen Wis senschaft stellt. Können in einem anderen Universum voll kommen andere Naturgesetze existieren? Oder gelten die Naturgesetze, so wie wir sie begreifen, für alle denkbaren Universen? Wenn wir der Ansicht sind, dass in einem ande ren Universum andere Naturgesetze wirksam sein können,
dann liegt, aus buddhistischer Sicht, der Schluss nahe, dass selbst die Naturgesetze mit dem Karma der Wesen ver knüpft sind, die sich in diesem Universum entwickeln. Wie stellen sich buddhistische kosmologische Theorien die Entfaltung der Beziehungen zwischen den karmischen Dispositionen fuhlender Wesen und der Evolution eines materiellen Universums vor? Durch welchen Mechanis mus verbindet sich Karma mit der Entwicklung eines mate riellen Systems? Ganz allgemein sagen die Abhidharma Texte über diese Fragen nicht sehr viel aus, außer der grundsätzlichen Feststellung, dass die Umwelt, in der ein Lebewesen existiert, die »)Umwelt-Wirkung« des gemeinsa
men kollektiven Karmas unzähliger Wesen ist. Demgegen über ziehen die Kalachakra-Texte jedoch enge Verbin dungslinien zwischen dem Kosmos und den Lebewesen, die ihn bevölkern, zwischen den natürlichen Elementen des externen, materiellen Universums und den Elementen, die den Körpern der Lebewesen zugrunde liegen, aber auch zwischen den Umlaufphasen himmlischer Körper und ge
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wIssen physiologischen Veränderungen. Das Kalachakra entwirft ein detailliertes Bild dieser verschiedenen Korres pondenzen und beschreibt, wie sie sich in der Erfahrung fuhlender Wesen ausdrücken. So schildern die Texte etwa, wie Sonnen- und Mondfinsternisse den Körper eines Lebe wesens beeinflussen können, indem sich das Atemmuster ändert. Es wäre sicherlich interessant, einige dieser Behaup tungen wissenschaftlich zu überprüfen. Trotz aller tiefgründigen wissenschaftlichen Theorien über den Ursprung des Universums stellen sich mir weiter hin Fragen, wichtige Fragen: Was existierte vor dem Ur knall? Woher kam der Urknall, was war seine Ursache? Wie konnte sich unser Planet so entwickeln, dass Leben ent stand? In welcher Beziehung steht der Kosmos zu den Wesen, die er hervorgebracht hat? Wissenschaftierinnen und Wissenschaftler werden diese Fragen vielleicht als un sinnig verwerfen, oder aber sie erkennen ihre Wichtigkeit an, verneinen jedoch, dass die Wissenschaft fur sie zustän dig ist. Wie auch immer ihre Antwort ausfallt, beide Hal tungen fuhren zu dem Eingeständnis, dass die wissen schaftliche Erkenntnis über den Ursprung des Kosmos begrenzt ist. Ich selbst unterliege nicht den professionellen oder ideologischen Beschränkungen eines materialisti schen Weltbildes. Im Buddhismus wird das Universum als unbegrenzt und anfanglos betrachtet, und so kann ich mich guten Mutes aufeine Reise jenseits des Urknalls bege ben, um darüber zu spekulieren, was davor war.
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Evolution, Karma und die Welt der Sinne Die Frage, "Was ist Leben?«, ist, ganz gleich, in welchem Rahmen sie gestellt wird, eine Herausforderung fur jeden intellektuellen Versuch, ein geschlossenes Weltbild zu ent werfen. Mit der modernen Wissenschaft teilt der Buddhis mus die grundlegende Erkenntnis, dass es auf der elemen taren Ebene keinen Unterschied zwischen der materiellen Substanz der Körper von fuhlenden Wesen, etwa von Men schen, und, sagen wir, einem Felsblock gibt. So wie der Fels block aus einer Verbindung materieller Teilchen besteht, so setzt sich auch der menschliche Körper aus gleichartigen Teilchen zusammen. Tatsächlich besteht der gesamte Kos mos und alle Materie, die er enthält, aus demselben Stoff, der unablässig wiederverwertet wird - nach den Erkennt nissen der Wissenschaft gehörten die Atome unseres Kör pers einst zu räumlich und zeitlich weit entfernten Sternen. Was aber unterscheidet einen Körper von einem Fels block, so dass er ein Träger des Lebens und des Bewusst seins sein kann? Die moderne Biologie antwortet auf diese Herausforderung, indem sie darauf hinweist, dass die Ent wicklung einer höheren Ebene von Eigenschaften mit einer höheren Komplexitätsstufe in der Verbindung materieller Bestandteile einhergeht. Anders ausgedrückt: Die Biologie erklärt die Geschichte des Lebens durch die immer komple xere Verbindung von Atomen zu molekularen und geneti schen Strukturen; der komplexe Organismus des Lebens
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erscheint irgendwann einfach auf der Grundlage materiel ler Elemente. Die moderne Biologie greift in ihren theoretischen Vor stellungen immer wieder auf Darwins Evolutionslehre zurück. Die Theorie der Evolution, insbesondere der Ge danke eines natürlichen Ausleseprozesses, bietet ein umfas sendes Bild vom Ursprung der verschiedenen Lebensfor men. So wie ich es verstehe, sind die Evolutionstheorie und ihre Idee der natürlichen Auslese ein Versuch, die einzigar tige Vielfalt an lebenden Wesen zu erklären. Die außeror dentliche Fülle des Lebens und die großen Unterschiede zwischen den Arten entstehen nach Ansicht der Wissen schaft durch einen Prozess der Veränderung gegenwärtiger Arten. Dabei werden nur solche Eigenschaften durch die Generationen weitergegeben, die einer bestimmten Umge bung am besten entsprechen, während alles, was nicht dem Überleben dient, ausstirbt. Diese theoretischen Vorstellungen beschreiben das, was Darwin selbst als »Abstammung« der Vielfalt und Komple xität der Lebensformen aus einer ursprünglichen Einfach heit bezeichnet hat. Da es ftir alle Lebewesen einen evolu tionären Stammbaum gibt, der auf einen gemeinsamen Vorfahren zurückgeht, unterstreicht diese Theorie die ge nealogische Verbundenheit aller Lebewesen dieser Welt. Die Evolutionslehre begegnete mir 1956 auf meiner ers ten Indienreise. Damals kam ich mit einer Reihe von theo retischen Vorstellungen der modernen Biologie in Berüh rung Doch erst einige Jahre später konnte ich mit einem Wissenschaftler über die Einzelheiten der darwinschen Ideen sprechen. Der erste Mensch, der mir dabei half, die Evolutionstheorie genauer zu verstehen, war ironischer
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weise kein Vertreter der Naturwissenschaften, sondern ein
Religionswissenschaftler. In den 1960erJahren suchte mich Huston Smith in Dharamsala auf. Wir sprachen über die Weltreligionen und die Notwendigkeit eines größeren Plu ralismus unter ihren Anhängern, über die Rolle der Spiri tualität in einer zunehmend materialistischen Welt und über die Übereinstimmungen zwischen buddhistischer und christlicher Mystik. Was mich jedoch am meisten fesselte, waren unsere Gespräche über die modeme Biologie und die Tatsache, dass so viele Geheimnisse des Lebens allem An schein nach in der DNS (Desoxyribonukleinsäure, das Trä germolekül der genetischen Information), dieser geheimnis vollen, wunderschönen Verkettung von Aminosäuren, verborgen liegen. Auch Huston Smith rechne ich zu mei nen wissenschaftlichen Lehrern, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob er mir darin zustimmen würde.
Aufgrund der rasanten Entwicklungen in der Biologie, vor allem durch die umwälzenden Entdeckungen auf dem Gebiet der Genetik, hat sich unser Wissen über die DNS als Schlüssel fUr das Verständnis des Lebens vertieft. Meine ei genen Kenntnisse auf dem Gebiet der Biologie verdanke ich der Unterstützung einiger großartiger Lehrer, unter an deren dem inzwischen verstorbenen Robert Livingstone von der University of California in San Diego. Er war ein geduldiger Lehrer, der immer einen scharfen Blick durch seine Brille warf; wenn er einen Sachverhalt erklärte - au ßerdem verfUgte er über ein ausgeprägtes soziales Gewissen und trat voller Überzeugung fUr die nukleare Abrüstung ein. Unter den Geschenken, die er mir machte, befand sich ein Plastikmodell des Gehirns, das aus beschrifteten Einzel teilen bestand, die man auseinander nehmen konnte, und
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das heute auf meinem Schreibtisch in Dharamsala steht, sowie eine handschriftliche Zusammenfassung der wich tigsten Aspekte der Neurobiologie. Darwins Theorie ist ein theoretisches Gerüst, das die Vielfalt der Flora und Fauna erklärt, jenen Artenreichtum, den Buddhisten als fuhlende Wesen und Pflanzen beschrei ben, aus denen die uns bekannte biologische Welt besteht. Bis heute ist diese Theorie nicht widerlegt worden, sondern ermöglicht eine sinnvolle wissenschaftliche Erklärung der Vielfalt des Lebens auf unserer Erde. Die Theorie gilt so wohl auf der molekularen Ebene, dort, wo es um Anpas sungs- und Auswahlprozesse individueller Gene geht, als auch aufder makroskopischen Ebene entwickelter Organis men. Trotz ihrer bemerkenswerten Anpassungsfahigkeit an alle Bereiche, in denen, wie wir es vielleicht ausdrücken könnten, das Leben gedeiht, hat sich Darwins Theorie nie ausdrücklich mit der theoretischen Frage beschäftigt, was Leben eigentlich ist. Wenn wir diese Frage stellen, wird uns die Biologie auf bestimmte Schlüsselfaktoren hinweisen, die für das Lehen unahdingbar sind: Organismen sind selbsterhaltende Systeme, die über natürliche Mechanis men der Reproduktion verfugen. Darüber hinaus gehört zu den zentralen Definitionen fur Leben seine Fähigkeit, sich von einem ungeordneten hin zu einem geordneten Zu stand zu entwickeln; das nennt man »negative Entropie«.
Demgegenüber definiert die buddhistische Abhidharma Tradition den tibetischen Begriff sok, der das bezeichnet, was im Deutschen )Leben« genannt wird, als den Träger von »)Hitze« und »Bewusstsein«. Zum Teil sind die Unter
schiede semantischer Natur, da buddhistische Denker den Begriff des »Lebens« nur auf fuhlende Wesen, nicht aber
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aufPflanzen beziehen, während die Vorstellung des Lebens in der modernen Biologie viel weiter gefasst wird und auch den zellularen Bereich umfasst. Abhidharma und Biologie stimmen in ihren Definitionen auch deshalb nicht überein, weil die buddhistische Theorie vor allem ethische Anliegen verfolgt, die nur fur höhere Lebensformen von Bedeutung sind. Im Mittelpunkt der Theorie Darwins steht, so wie ich es verstehe, der Gedanke der natürlichen Auslese. Doch was bedeutet das? Die Biologie beschreibt sie als zufallige gene tische Mutation und nachfolgenden Wettstreit zwischen den Organismen, der zum "Überleben des Stärkeren« fuhrt, oder anders formuliert, als den reproduktiven Erfolg einiger Organismen gegenüber anderen. Alle Merkmale eines Organismus sind den Zwängen und Beschränkungen seiner Umwelt unterworfen. Jene Organismen, die sich unter diesen Beschränkungen und im Wettbewerb mit an deren am besten entwickeln und die meisten Nachkom men zeugen, gelten als besser angepasst und damit als über lebensHihiger. Die Lebewesen verändern sich, da die zu einer bestimmten Umgebung genau passenden Faktoren beständig aus einem Pool zufalliger Mutationen ausge wählt werden. Die natürliche Auslese scheint zu erklären, wieso be stimmte Fliegen oder Affen in ihrer Umgebung am besten überleben, aber auch, in welcher Weise Wesen wie der mo derne Mensch aus affenähnlichen Vorfahren hervorgegan gen sind. Trotz ihrer deutlichen Unterschiede teilen Men schen und Schimpansen 98 Prozent ihrer DNS - die Differenz von nur 2 Prozent ist fur die Unterschiede zwi schen bei den Arten verantwortlich (die Differenz zwischen
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Menschen und Gorillas beträgt 3 Prozent). Auf der geneti schen Ebene scheint die natürliche Auslese zu erklären, wie die Auswahl innerhalb der Genmutationen, die zuHillig aber auf natürliche Weise ablaufen, erfolgt und zur Ent wicklung neuer Arten unter den Lebewesen fUhren. Außer dem geht man mittlerweile davon aus, in der genetischen Mutation auch den Motor der Evolution auf molekularer Ebene entdeckt zu haben. Die Entwicklung neuronaler Netze (Transmitter, Rezeptoren und so weiter), die dem Gehirn Individualität und Unterschiedlichkeit verleihen, aber auch für die spezifischen Eigenschaften einzelner Arten, wie zum Beispiel des menschlichen Bewusstseins, verantwortlich sind, soll ebenfalls der natürlichen Auslese unterliegen. Selbst bei der Frage nach dem Ursprung des Lebens gilt die natürliche Auslese als Schlüssel fUr einen Prozess, durch den bestimmte Moleküle, die sich selbst reproduzieren konnten, in einer organischen »Ursuppe« entstanden sein
sollen (anfangs wohl eher zufallig); möglicherweise waren es auch sich selbst reproduzierende anorganische Kristalle. Von Stephen Chu, einem Physiker der Stanford University, weiß ich, dass er mit seiner Arbeitsgruppe Modelle zu ent werfen sucht, die das Leben auf der Grundlage physikali scher Gesetze erklären. Der gegenwärtig anerkannten Ge schichte vom Ursprung organischen Lebens zufolge bildeten sich kurz nach der Entstehung der Erde RNS-Mo leküle (Ribonukleinsäure), hochgradig instabile Verbin dungen, die jedoch in der Lage waren, sich selbst zu repro duzieren. Durch den Prozess der natürlichen Auslese entstanden aus der RNS nach und nach stärkere und be ständigere Moleküle, unter ihnen die DNS als die grundle
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gende Trägerin der genetischen Infonnation. Das Leben betrat die Bühne in Fonn eines noch komplexeren Wesens, dessen genetischer Code in die DNS eingeschrieben war und das seine Fonn aus Proteinen bildete. Die RNS stellt in diesem Prozess das Bindeglied zwischen der DNS und den Proteinen dar, da sie die in der DNS enthaltene Infor mation lesen und dadurch die Produktion der Proteine ver anlassen kann. Dem ersten aus DNS, RNS und Proteinen bestehenden Lebewesen gab man den Namen Luca, von »Last Universal Common Ancestor« (Letzter gemeinsamer Vorfahre), der wohl ein Bakterium war, das tief unter der Erde oder in war mem Wasser lebte. Indem es sich selbst vermehrte, gingen aus Luca durch die natürliche Auslese alle bekannten Wesen hervor. Ich muss immer lächeln, sobald ich diesen Namen höre, da auch mein langjähriger italienischer Über setzer so heißt. Dieses Modell entwirft ein Muster der kleinen und schrittweisen Veränderungen, die letztendlich zur uner messlichen Vielfalt der Lebensformen führt. Die Verände rungen sind dem Prozess der natürlichen Auslese unterwor fen. Es gibt zahlreiche Variationen dieses Modells: So wird zum Beispiel von der Möglichkeit großer, plötzlicher Ver änderungen ausgegangen und damit vom Bild einer Evolu tion, die sich in Sprüngen vollzieht und in der sich der Wandel der Arten nicht allmählich, sondern dramatisch ab spielt. Außerdem wird darüber diskutiert, ob die natürliche Auswahl der einzige Mechanismus der Veränderung ist, oder ob andere Faktoren nicht vielleicht ebenfalls eine Rolle spielen. Die rapide Entwicklung der Genetik, die wir in den ver
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gangenen Jahren verfolgen konnten, hat zu einem weitaus umfassenderen und genaueren Bild unseres Verständnisses
der Evolution auf der molekularen und genetischen Ebene gefuhrt. Zeitlich perfekt koordiniert, pünktlich zum 50. Jah restag der Entdeckung der DNS-Struktur durch James Wat son und Francis Crick, wurde die Entschlüsselung des menschlichen Genoms zum Abschluss gebracht. Diese au ßergewöhnliche Leistung ließ Träume von noch unbekann ten technologischen und medizinischen Möglichkeiten ent stehen. Ich erfuhr von der Entschlüsselung des Genoms aufeine etwas ungewöhnliche Art. Als der amerikanische Präsident Bill Clinton und der britische Premierminister Tony Blair sie gemeinsam bekannt gaben, befand ich mich gerade in den USA und sollte in der »Larry King Live«-Show, einer Talkshow, erscheinen. Da ich Nachrichten nur früh mor gens oder am Ende des Tages höre, war mir die Ankündi gung an jenem Nachmittag entgangen. Als der Moderator der Sendung, Larry King, mich fragte, was ich von der Sache halte, hatte ich nicht die leiseste Ahnung, wovon er sprach. Irgendwie konnte ich die Ankündigung einer wis senschaftlichen Leistung dieser Größenordnung nicht mit dem Auftritt der beiden Politiker vor der Presse in Zusam menhang bringen. Die Tatsache, dass das Interview durch eine Satellitenverbindung gefuhrt wurde, machte die Sache fur mich auch nicht einfacher. Es war also Larry King, der mir die Nachricht in einer Livesendung übennittelte. Die großen Auswirkungen dieser erstaunlichen wissen schaftlichen Leistung werden immer deutlicher. Ich hatte die Gelegenheit, mit Wissenschaftlern zu sprechen, die auf diesem Gebiet arbeiten, vor allem mit dem Genetiker Eric
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Lander vom Massachusetts Institute ofTechnology (MIT). Am Broad Institute, das zum MIT und zu Harvard gehört, führte er mich durch sein Labor, in dem viele leistungs starke Apparaturen stehen, mit denen die Sequenzanalyse des Genoms vorgenommen wird, und demonstrierte mir die verschiedenen Phasen dieses Prozesses. Während einer »Life and Mind«-Konferenz verglich Eric das menschliche Genom mit dem kangyur, der ins Tibeti sche übersetzten Textsammlung, die dem historischen Bud dha zugeschrieben wird und aus etwas mehr als 100 Bänden mit jeweils etwa 300 Blättern besteht. Im Vergleich dazu hat das umfangreiche Buch des menschlichen Genoms 23 Kapi tel, die 23 Chromosomen des Menschen, wobei jedes Ge nomset Ge eines von jedem Elternteil) aus 30000 bis 80 000 Genen zusammengesetzt ist. Jedes dieser Kapitel besteht aus einer langen DNS-Kette, die aus dreibuchstabigen Wör tern gebildet wird, die mit den vier Buchstaben A, C, G und T geschrieben werden. Diese stehen fur Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin, die in jedem Genomabschnitt in allen möglichen Kombinationen verbunden sind. Nun muss man sich Eric zufolge vorstellen, dass sich im Laufe von Jahrmillionen, in denen dieses Buch kopiert wurde, immer wieder kleine Fehler eingeschlichen haben, etwa so, wie über die Jahrhunderte, in denen der Kangyur von Hand abgeschrieben wurde, kleine Fehler der Schrei ber - Rechtschreibfehler etwa oder falsche Wörter - in den Text eingegangen sind. Diese Fehler können in späteren Kopiervorgängen weitergegeben werden, wobei dann noch neue Varianten hinzukommen und so weiter. Einige dieser Fehler haben vielleicht keinen allzu großen Einfluss aufdas Textverständnis, doch hin und wieder kann ein Schreibfeh
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ler weit reichende Konsequenzen zur Folge haben. Auf die Analogie eines kanonischen Textes bezogen heißt das, dass ein einziger Schreibfehler, zum Beispiel, wenn ein affirma tives Wort verneint wird, die Bedeutung eines Satzes oder sogar des gesamten Textes grundlegend verändern kann. Diese zufalligen Varianten der Schreibweise bilden, wie man mir sagte, die Mutationen, die sich im evolutionären Prozess in natürlicher Weise ergeben. Nach Ansicht einiger Biologen, mit denen ich gespro chen habe, gibt es eine wachsende Einmütigkeit darüber, dass sich der Vorgang der genetischen Mutation, so natür lich er auch sein mag, vollkommen zufallig ereignet. Doch sobald eine Mutation stattgefunden hat, sorgt der natürli che Ausleseprozess dafür, dass nur solche Mutationen oder Veränderungen weiter gegeben werden, die die Chance des Überlebens verbessern. Die amerikanische Biologin Ursula Goodenough formulierte diesen Sachverhalt auf einer "Mind and Life«-Konferenz 2002 sehr treffend: "Zwar sind Mutationen ganz und gar zufallig, doch der Ausleseprozess ist extrem wählerisch.« Vom philosophischen Standpunkt betrachtet kann ich die Vorstellung, dass diese Mutationen mit ihren weit reichenden Konsequenzen eine natürliche Ursache haben, durchaus akzeptieren, dass sie jedoch ein zig und allein auf dem Zufall beruhen sollen, ist ftir mich eine unzureichende Erklärung. Ich trage mich, ob diese Planlosigkeit als ein objektives Merkmal der Wirklichkeit zu verstehen ist oder ob sich darin nicht vielmehr ein Hin weis auf eine versteckte Kausalität verbirgt. Im Gegensatz zur Wissenschaft existiert im Buddhismus keine wirkliche philosophische Diskussion darüber, wie le bende Organismen aus lebloser Materie entstehen. Es gibt
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in der Tat noch nicht einmal die Bereitschaft, dies als ein ernsthaftes philosophisches Problem anzusehen. Besten falls gibt es eine implizite Annahme, der zufolge das Ent stehen lebender Organismen aus unbelebter Materie ein fach ein Ergebnis von Ursache und Wirkung über einen Zeitraum hinweg ist, vorausgesetzt, bestimmte Anfangsbe
dingungen und Naturgesetze sind gegeben, die in allen Existenzbereichen gelten. Im Buddhismus wird gleichwohl die Frage gestellt, wie sich ftihlende Wesen letztendlich aus nicht-ftihlenden Bedingungen heraus entwickeln konnten. Es scheint also einen interessanten Gegensatz zwischen dem Buddhismus und den modernen Naturwissenschaften zu geben, der zum Teil aus den komplexen historischen, so zialen und kulturellen Unterschieden resultiert, auf denen diese beiden Forschungstraditionen beruhen. Aus philoso phischer Sicht scheint die kritische Schwelle in der moder nen Wissenschaft im Übergang von unbelebter Materie zu lebenden Organismen zu bestehen, während es im Buddhismus um den Übergang von nicht-ftihlender Mate rie zu ftihlenden Wesen geht. An dieser Stelle könnten wir fragen, warum es diesen grundsätzlichen Unterschied zwischen beiden Traditionen gibt. Ein möglicher Grund daftir, dass die moderne Wissen schaft die kritische Schwelle im Übergang von unbelebter Materie zu lebenden Organismen ansiedelt, mag aufihrem methodologischen Ansatz beruhen. Damit meine ich ihren Reduktionismus, jedoch nicht so sehr im Sinne eines meta physischen Standpunktes, sondern vielmehr als methodo logischen Ansatz. Die Wissenschaft hat es sich zur Aufgabe gemacht, Phänomene aus einfachen, konstitutiven Ele menten abzuleiten. Wie kann Leben aus Nicht-Leben er
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klärt werden? Während einer» Mind and Life«-Konferenz in Oharamsala erzählte mir der italienische Biologe Luigi Luisi, der in Zürich arbeitet, von den Versuchen seiner Ar beitsgruppe, Leben im Labor zu erzeugen. Wenn die vor herrschende wissenschaftliche Theorie über den Ursprung des Lebens aus komplexen Zusammensetzungen anorgani scher Materie stimmen sollte, kann uns nichts daran hin dern, Leben im Laboratorium zu erzeugen, sobald alle Be dingungen bekannt sind. Der Buddhismus zieht die kritische Trennlinie an einer anderen Stelle, nämlich zwischen Fühlen und Nicht-Füh len, da es ihm primär um die Linderung des Leidens und die Suche nach Glück geht. Der Buddhismus befasst sich mit der Evolution des Kosmos und der Entstehung der fuh lenden Wesen - also den Inhalten der Natur- und Human wissenschaften - im Rahmen der ersten der Vier Edlen Wahrheiten, die Buddha in seiner ersten Lehrrede formu liert hat. Die Vier Edlen Wahrheiten stellen fest, dass es im Bereich der unbeständigen Phänomene Leiden gibt, dass Leiden einen Ursprung hat, dass die Beendigung des Lei dens möglich ist und dass es einen Weg gibt, der zur Been digung des Leidens fuhrt. Aus meiner Sicht fallt die Wis senschaft in den Bereich der ersten Wahrheit, da sie die materielle Grundlage des Leidens betrachtet, also das ge samte Spektrum des materiellen Umfeldes, des »Behälters«, sowie die fuhlenden Wesen selbst, »der Inhalt des Behäl tew<. Im Bereich des Geistes - der Psyche< des Bewusst seins, der leidvollen Erfahrungen und des Karma -, finden wir die zweite Wahrheit über die Ursache des Leidens. Die dritte und vierte Wahrheit - über die Beendigung des Leidens und den Pfad, der zur Beendigung des Leidens
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führt - liegen außerhalb des Rahmens wissenschaftlicher Analyse, da sie sich vor allem mit philosophischen und re ligiösen Fragestellungen beschäftigen. Dieser grundlegende Unterschied zwischen Buddhismus und Naturwissenschaften - ob die Trennlinie zwischen Fühlen und Nicht-Fühlen oder zwischen lebenden Orga nismen und anorganischer Materie gezogen wird - hat weit reichende Konsequenzen, unter anderem dalUr, welche Rolle das Bewusstsein in beiden Forschungstraditionen einnimmt. Für die Biologie ist dies ein zweitrangiges Pro
blem, da nur eine kleine Gruppe lebender Organismen und nicht etwa alle Lebewesen über ein Bewusstsein verfu gen. Der Buddhismus jedoch definiert Leben als ein Merk mal IUhlender Wesen, und demnach ist für ihn Bewusstsein das Hauptmerkmal des Lebens. Im Denken des Westens, so scheint es mir jedenfalls, herrscht manchmal die stillschweigende Annahme vor, dass der Mensch im Rahmen der Evolution eine besondere Stellung einnimmt. Diese Einzigartigkeit wird oft mit der Vorstellung einer Seele oder eines Bewusstseins-von-sich selbst erklärt, über das allein der Mensch verfügen soll. Viele Menschen scheinen Leben im Sinne einer Entfaltung von drei zunehmend komplexeren Stufen zu begreifen: an organische Materie, lebende Organismen und menschliche Wesen. Hinter dieser Sicht verbirgt sich möglicherweise die Idee, dass Menschen sich grundsätzlich von Pflanzen und Tieren unterscheiden. Genau genommen handelt es sich dabei jedoch nicht um eine wissenschaftliche Vorstellung. Blickt man auf die Geschichte des buddhistisch-philoso phischen Denkens, begegnet man immer wieder der Idee der großen Nähe von Mensch und Tier, da beide, im Ge
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gens atz zu den Pflanzen, fUhlende Wesen sind. Was das Fühlen betrifft, gibt es demnach keinen Unterschied zwi schen Menschen und Tieren. Genau wie wir Menschen haben auch Tiere den Wunsch, dem Leiden zu entkommen und sich wohl zu fUhlen. Tiere empfinden, wie wir, Schmerz und Freude. Aus buddhistisch-philosophischer Sicht besitzen sowohl Menschen als auch Tiere shepa - ein tibetischer Begriff, den man annähernd mit »Bewusstsein«
übersetzen kann -, allerdings in unterschiedlichen Kom plexitätsstufen. Der Buddhismus vemeint die Existenz einer Seele, die allein den Menschen auszeichnen soll. Wenn wir vom Bewusstsein ausgehen, ist der Unterschied zwischen Mensch und Tier einer der Komplexität, nicht je doch der Art. In den frühesten buddhistischen Schriften findet sich ein Hinweis auf die Geschichte der Evolution des Menschen, die in viele spätere Abhidharma-Texte eingegangen ist. Demnach hat sich die Evolution in folgender Weise zuge tragen: Der buddhistische Kosmos besteht aus drei Berei chen der Existenz: dem Bereich der Begierde, dem Bereich der Form und dem Bereich der Formlosigkeit, wobei die letzten beiden zunehmend subtilere Ebenen der Existenz im Vergleich zur ersten darstellen. Der Bereich der Begierde zeichnet sich durch die Erfahrung sinnlichen Verlangens und des Schmerzes aus. Es ist dieser Bereich, den wir Men schen gemeinsam mit den Tieren bevölkern. Im Gegensatz dazu ist der Bereich der Form frei von der Erfahrung des Schmerzes und von großer Freude erfUllt. Die Wesen die ses Bereichs haben Körper, die aus Licht bestehen. Der Be reich der Formlosigkeit schließlich überschreitet alle physi schen Empfindungen restlos. Das Leben in diesem Bereich
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zeichnet sich durch einen andauernden Zustand vollkom menen Gleichmuts aus, und die Wesen sind frei von jegli cher materiellen Verkörperung. Sie existieren auf einer im materiellen, geistigen Ebene. Die Wesen, die in den höheren Ebenen des Bereichs der Begierde leben, und die der beiden anderen Bereiche, werden als himmlische Wesen beschrie ben. Alle drei Bereiche fallen unter die erste Edle Wahrheit. In keinem von ihnen gibt es einen beständigen, himmli schen Zustand, den wir erreichen könnten. Sie alle sind von ihrem je eigenen Leiden an der Unbeständigkeit durchdrun gen. Die Evolution des menschlichen Lebens auf der Erde wird als "Abstammung« von oder als »Pali«> himmlischer Wesen verstanden, die ihr positives Karma, das ihnen die Ursache und Wirkung gegeben hatte, sich in höheren Sphären aufzuhalten, erschöpft haben. Keine U rsünde ver ursachte diesen Pali, sondern es liegt in der Natur jeder un beständigen Existenz, im Gesetz von Ursache und Wir kung, dass die Wesen ihren Zustand verändern, dass sie »sterben«. Als diese Wesen einst ihren »Fall« erlebten und auf der Erde wiedergeboren wurden, verfügten sie noch über einzelne Q;Ialitäten ihrer früheren Herrlichkeit. Die Menschen des ersten Zeitalters sollen noch gottähnliche Eigenschaften besessen haben. Sie sollen durch eine »spontane Geburt« zur Welt gekommen sein, hatten ein attraktives Äußeres, und ihre Körper besaßen einen Strah lenkranz; sie waren mit übermenschlichen Kräften ausge stattet und konnten fliegen, und sie lebten von der Nahrung ,. Darwins Begriff ..descent«, den der Dalai Lama hier benutzt, bedeutet an dieser Stelle zugleich ..Abstammung« und »Fall«. (Anm. d. Übers.)
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der inneren Kontemplation. Außerdem sollen sie frei von vielen Eigenschaften gewesen sein, aus denen wir unsere Identität ableiten, von Unterschieden des Geschlechts, der Rasse und der Kaste. Im Laufe der Zeit sollen die Menschen diese Eigenschaf ten verloren haben. Als sie dann anfingen, physische Nah rungsmittel zu sich zu nehmen, veränderten sich ihre Kör per; es entwickelte sich eine grob stoffliche re Körperlichkeit, aus der sich dann auch die großen Unterschiede im physi schen Erscheinungsbild ergaben. Dies fuhrte zu stärkeren Empfindungen der Unterscheidung, besonders auch zu Feindschaft gegenüber Menschen, die anders waren, und zu Anhaftung gegenüber jenen, die ähnlich waren, was wie derum eine Unmenge negativer Emotionen entstehen ließ. Aus der Abhängigkeit von physischer Nahrung ergab sich die Notwendigkeit, die Abfallstoffe des Körpers zu entsor gen, und dies fuhrte - ich bin mir nicht sicher, welche Logik hier am Werk ist - zur Entwicklung der männlichen und weiblichen Sexualorgane. Die Geschichte setzt sich dann mit einem detaillierten Bericht über die Entwicklung der ge samten Skala negativer Handlungen fort, vom Töten und Stehlen bis hin zu sexuellem Fehlverhalten. Im Zusammenhang dieser Ausfuhrungen über die Evolu tion des Menschen findet sich im Abhidharma eine Theo rie der vier Typen der Geburt, die von zentraler Bedeutung ist. Gemäß diesen Überlegungen kommen fuhlende Wesen in folgender Weise auf die Welt: (a) als Schoß-Geborene, wie wir Menschen, (b) als Ei-Geborene, wie Vögel und viele Reptilien, (c) als Hitze- und Feuchtigkeits-Geborene, wie Maden und viele andere Insekten, sowie (d) als spontan Ge borene, wie die himmlischen Wesen im Bereich der Form
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und dem Bereich der Formlosigkeit. Über die Vielfalt des Lebens schreibt Chandrakirti, der damit einen allgemeinen Standpunkt des Buddhismus zum Ausdruck bringt: "Die Welt des Empfindungsvermögens entspringt dem Geist. In gleicher Weise entfalten sich die unterschiedlichen Lebens räume der Wesen aus dem Geist.«
In frühen Schriften, die Buddha persönlich zugeschrie ben werden, findet sich auch die Vorstellung, dass es letzt endlich der Geist ist, der das gesamte Universum hervor bringt. So hat es durchaus buddhistische Schulen gegeben, die solche Aussagen wörtlich verstanden haben und einen Idealismus entwickelten, der die Existenz der äußeren, ma teriellen Welt verneinte. Im Großen und Ganzen haben die meisten buddhistischen Denker diese Ausfuhrungen je doch eher so gedeutet, dass wir die Entstehung der Welt, zumindest der Welt fuhlender Wesen, als Folge der Aktivi tät des Karma zu verstehen haben. Die TIleorie des Karma hat im buddhistischen Denken einen ganz besonderen Stellenwert, wird aber häufig falsch interpretiert. Wörtlich bedeutet karma einfach nur "Hand lung« und beschreibt das bewusste, absichtliche Handeln fuhlender Wesen. Solche Handlungen können physischer, verbaler oder geistiger Natur sein - sie umfassen demnach auch Gedanken und Gefuhle. Sie alle, so unbedeutend sie auch erscheinen mögen, hinterlassen einen Eindruck in der Psyche des Individuums, mag er auch noch so klein sein. Absichten fuhren zu Handlungen und lassen Wirkungen entstehen, die dem Geist bestimmte Wesenszüge und Nei gungen verleihen, und diese fuhren wiederum zu neuen Absichten und Handlungen. Der gesamte Prozess wird als eine endlose, sich selbst in Gang haltende Dynamik ver
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standen. Diese Kettenreaktion von ineinander greifenden Ursachen und Wirkungen läuft sowohl in Individuen, aber auch in Gruppen und Gesellschaften ab - nicht nur wäh rend einer Lebenszeit, sondern über viele Leben hinweg. Wenn wir den Begriff Karma verwenden, verweisen wir einerseits auf spezifische, individuelle Handlungen, ande rerseits aber auch auf das Prinzip dieser Abfolge von Ursa che und Wirkung. Im Buddhismus wird Karma als ein fun damentaler natürlicher Vorgang betrachtet und nicht als eine göttliche Fügung oder als Ausdruck schicksalhafter Vorbestimmung. Karma ist das Ergebnis des Handelns füh lender Wesen; es wäre falsch, Karma als eine in sich abge schlossene, transzendente Entität zu betrachten, die wie der Gott eines theistischen Systems handelt, oder als ein deterministisches Gesetz, das schicksalhaft das Leben eines Menschen bestimmt. Aus der Sicht der Wissenschaft mag die Theorie des Karma eine metaphysische Behauptung sein - sie ist es jedoch nicht mehr als die Annahme, alles Leben sei materiell und sei rein zufallig entstanden. Um zu begreifen, wie der Buddhismus Karma als ein ver ursachendes Prinzip in der Evolution fühlenden Lebens versteht, finde ich es hilfreich, gewisse Erklärungen der Vajrayana-Tradition zu betrachten, die von modernen Au toren manchmal als esoterischer Buddhismus bezeichnet wird. Dem Guyhasamaja-Tantra zufolge, einer zentralen Traditionslinie des Vajrayana-Buddhismus, kann die Wirk lichkeit aufder elementarsten Ebene grundsätzlich nicht in Geist und Materie aufgeteilt werden. Materie in ihrer sub tilsten Form wird in dieser Tradition als prana verstanden, eine Lebensenergie, die vom Bewusstsein nicht getrennt werden kann. Beide sind unterschiedliche Aspekte einer
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unteilbaren Wirklichkeit. Prana ist die Qualität der Beweg lichkeit, der Dynamik und des Zusammenhalts, während Bewusstsein die Qualitäten des Erkennens und des reflexi ven Denkens umfasst. Dem Guyhasamaja-Tantra zufolge of fenbart sich uns das Spiel dieser Energie- und Bewusstseins wirklichkeit, wenn ein Weltensystem entsteht. Aufgrund der Unteilbarkeit von Bewusstsein und Ener gie gibt es einen sehr tiefen Zusammenhang zwischen den Elementen in unserem Körper und den natürlichen Ele menten in der äußeren Welt. Diese subtile Verbindung zwi schen den inneren und äußeren Elementen kann von Men schen bemerkt werden, die einen bestimmten Grad an spiritueller Verwirklichung erreicht haben oder in ganz na türlicher Weise tiefer wahrnehmen. So experimentierte zum Beispiel der tibetische Denker Takstang Lotsawa, der im 15. Jahrhundert lebte, mit sich selbst und konnte tat sächlich bestätigen, dass sich sein Atemmuster während einer Sonnen- oder Mondfinsternis veränderte - genau so, wie. es im Kalachakra-Tantra beschrieben wird. In der Vor stellung des Vajrayana-Buddhismus repräsentiert der Kör per ein mikro kosmisches Modell der makro kosmischen Welt. Aufgrund dieses Zusammenhangs befasst sich das Kalachakra-Tantra sehr eingehend mit der Untersuchung himmlischer Körper und ihrer Umlaufbahnen und enthält umfangreiche astronomische Beschreibungen. So wie mich die Kosmologie des Abhidharma nie über zeugen konnte, so haben mich auch die Darstellungen des Abhidharrna über die Evolution des Menschen als einen Prozess des fortschreitenden »Niedergangs« nie ftir sich ein nehmen können. In einem tibetischen Schöpfungsmythos wird berichtet, dass die Tibeter der Verbindung eines Affen
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mit einer grausamen Riesin entstammen. Auch diese Ge schichte finde ich nicht sonderlich überzeugend! Alles in allem glaube ich, dass uns Darwins Evolutious
theorie, in Verbindungen mit den Erkenntnissen der mo demen Genetik, ein relativ umfassendes Bild von der Evolution menschlichen Lebens auf der Erde vermittelt. Zugleich bin ich aber auch der Ansicht, dass Karma eine zentrale Erkenntniskategorie fur das Verständnis der Ent wicklung dessen darstellt, was der Buddhismus »Empfin dungesvermögen« nennt, nämlich durch die Verbindung von Energie und Bewusstsein. Trotz des Erfolgs der darwinschen Überlegungen glaube ich nicht, dass alle Elemente darin wirklich stimmig sind. Obwohl Darwins Theorie eine sinnvolle Erklärung der Ent wicklung des Lebens auf diesem Planeten gibt, einschließ lich der verschiedenen Faktoren - dem Prinzip der natür lichen Auslese zum Beispiel-, die ihr zu Grunde liegen, bin ich nicht davon überzeugt, dass sie die grundsätzliche Frage nach dem Ursprung des Lebens beantwotten kann. Wie ich weiß, wollte Darwin selbst diese Frage auch gar nicht beant worten. Außerdem scheint mir der Gedanke vom .Über leben des Stärkeren« eher eine Art Zirkelschluss zu sein. Die Theorie der natürliche Auslese besagt, dass die zufallig mu tierten Gene einer bestimmten Art dann erfolgreich sind, wenn sie zu ihrem Überleben beitragen. Doch der einzige Weg, um diese Hypothese zu bestätigen, besteht darin, die Eigenschaften jener Mutationen zu beobachten, die über lebt haben. Im Grunde genommen wird also nur Folgendes ausgesagt: »Weil diese genetischen Mutationen überdauert haben, hatten sie die größeren Überlebenschancen.« Aus buddhistischer Sicht ist die Vorstellung, dass diese
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Mutationen rein zufallig entstanden sein sollen, äußerst unbefriedigend fur eine Theorie, die den Ursprung des Le bens erklären will. Karl Popper sagte einmal, er glaube nicht, dass Darwins Evolutionstheorie den Ursprung des Lebens aufder Erde erkläre oder erklären könne. Für ihn ist die Evolutionstheorie keine überprüfbare wissenschaftli che Theorie, sondern sie ist viel eher eine metaphysische Theorie, deren großer Nutzen darin bestehe, der wissen schaftlichen Forschung eine Richtung zu geben. Auch wenn der Darwinismus unbelebte Materie und lebende Or ganismen gegeneinander abgrenzt, mangelt es ihm letzt endlich daran, eine genaue Unterscheidung der Merkmale von lebenden Organismen wie Bäumen und Pflanzen ei nerseits und fühlenden Wesen andererseits zu treffen. Der Darwinismus betont den Konkurrenzkampf der In dividuen zum Zwecke des Überlebens und versteht ihn als Bemühen der Organismen um einen individuellen repro duktiven Erfolg. Dadurch kann er das Phänomen des Al truismus nicht wirklich erklären - weder im Sinne koopera tiven Verhaltens, wie zum Beispiel bei den Schimpansen, die ihre Nahrung miteinander teilen und Konflikte ge meinsam bewältigen, noch im Sinne der Selbstaufopfe rung. Nicht nur bei Menschen, sondern auch bei Tieren finden sich viele Beispiele von Einzelnen, die sich in Ge fahr bringen, um andere zu retten. Eine Biene wird stechen, um ihren Stock vor Eindringlingen zu schützen, auch wenn das ihren sicheren Tod bedeutet. Der Graudrossling, ein Vogel, der seinen Schwarm bewacht, scheut keine Gefahr für das eigene Leben, um diesen zu schützen. In post-darwinischen Theorien soll uneigennütziges Handeln bis hin zur Selbstaufopferung die Chancen erhö
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hen, die Gene der eigenen Art an zukünftige Generationen weiterzugeben. Diese Argumentation kann meiner Ansicht
nach jedoch nicht rur jene Fälle uneigennützigen Handelns gelten, die zwischen den Arten zu beobachten sind. Ich denke zum Beispiel an die Wirtsvögel, die ein Kuckucks küken aufziehen, dessen Ei in ihr Nest gelegt wurde. Dieses Phänomen wird meist nur unter dem Gesichtspunkt des eigennützigen Vorteils gesehen, den es !Ur den Kuckuck darstellt. Letztendlich betrachtet die modeme Biologie un eigennütziges Handeln als einen vom Instinkt gesteuerten und genetisch vorherbestimmten Vorgang, da dieses Ver halten keinesfalls immer auf einer bewussten Absicht zu beruhen scheint - einige Tiere scheinen auf ein selbstauf.. opferndes Verhalten programmiert zu sein. Das Problem wird jedoch noch vielschichtiger, sobald wir das mensch liche Empfinden und die vielen Beispiele uneigennützigen HandeIns in der menschlichen Gesellschaft betrachten. Einige sehr dogmatische Darwinisten sind der Ansicht, die natürliche Auslese und das damit verbundene Prinzip des Überlebens des Stärkeren könne am besten auf der Ebene der individuellen Gene verstanden werden. Darin wird ein Reduktionismus deutlich, der die metaphysische Überzeugung vom Primat des Selbstinteresses auf die Ebene der Gene ausweitet, in der stillschweigenden An nahme, individuelle Gene würden sich in einer egoisti
schen Weise verhalten. Ich weiß nicht, wie viele Wissen schaftlerinnen und Wissenschaftler beutzutage solcbe extremen Anschauungen vertreten. Es muss jedoch festge halten werden, dass die gegenwärtigen Modelle der Biolo gie der Tatsache uneigennützigen Handelns keinen Platz einräumen.
Evolution, Karma und die Welt da Sinne
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Die Wissenschaftshistorikerin Anne Harrington aus Har vard hielt aufeiner »Mind and Life«-Konferenz einen denk würdigen Vortrag, in dem sie sich mit der Frage beschäftigte, wieso die wissenschaftliche Erforschung menschlichen Ver haltens bis heute kein systematisches Verständnis der star ken Empfindung des Mitgefiihls entwickelt hat. Im Ver gleich zu der großen Aufmerksamkeit, mit der sich die modeme Psychologie der Untersuchung negativer Emotio nen wie Aggression, Zorn und Angst zuwendet, werden positive Emotionen wie Mitgefiihl und Altrusimus viel sel tener erforscht. Dies mag mit der therapeutischen Zielset zung der Psychologie und ihrer Betrachtung pathologischer Verhaltensweisen zusammenhängen. Wie dem auch sei, in
meinen Augen ist es nicht zulässig, spontane, selbstlose Handlungen nicht zu berücksichtigen, nur weil sie nicht in das anerkannte biologische Bild vom Leben passen, oder aber sie einfach nur als Ausdruck des Eigeninteresses einer Art zu interpretieren. Dies widerspricht dem Ethos der For schung. Die Wissenschaft darf empirische Fakten nicht ma nipulieren, um ihre Theorien zu bestätigen, sondern es ist die Theorie, die den empirischen Untersuchungsergebnis sen angeglichen werden muss. Andernfalls wäre es so, als müssten wir unsere Füße zurechtschneiden, damit uns die neuen Schuhe passen. Diese Unfahigkeit, vielleicht auch der Unwille, den Tat bestand uneigennütziger Handlungen wirklich zu berück sichtigen, betrachte ich als den eigentlichen Mangel der darwinischen Evolutionstheorie - zumindest in ihrer po pulären Version. In der Natur, die doch wohl die Quelle dieser Theorie ist, findet nicht nur ein Wettkampf zwischen und unter den Arten statt, sondern es lassen sich auch weit
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KAPITEL FÜNF
reichende Fälle der Zusammenarbeit (nicht unbedingt in einem bewussten Sinne, wie es dieser Begriff nahe legt) be obachten. So wie es unter Tieren und Menschen zu aggres siven Handlungen kommt, so können wir auch Gesten un eigennützigen HandeIns und des Mitgefühls beobachten. Warum akzeptiert die moderne Biologie nur den Wett kampfals fundamentales Handlungsprinzip von Lebwesen und die Aggression als ihre fundamentale Eigenschaft? Warum leugnet sie die Zusammenarbeit als fundamentales Handlungsprinzip und warum erkennt sie Altruismus und Mitgefühl nicht ebenfalls als mögliche Eigenschaften für die Entwicklung der Lebewesen' In welchem Ausmaß wir das Bild, das wir vom menschli chen Leben haben, in der Wissenschaft verankern wollen, hängt wohl vor allem von dem Bild ab, das wir uns von der Wissenschaft machen. Dies ist für mich jedoch keine wis senschaftliche Frage, sondern eine Sache der eigenen philo sophischen Überzeugungen. Ein überzeugter Materialist wird vielleicht davon ausgehen, dass die Evolutionstheorie alle Aspekte des menschlichen Lebens beschreiben kann, einschließlich moralischer und religiöser Fragestellungen, während andere der Wissenschaft für ein umfassendes Ver ständnis der menschlichen Natur möglicherweise eine be grenztere Bedeutung beimessen werden. Vielleicht wird die Wissenschaft nie ein vollständiges Bild der menschlichen Existenz entwerfen oder die Frage nach dem Ursprung des Lebens beantworten können. Damit leugne ich nicht ihre Befähigung, die Entwicklung der großen Vielfalt der Le bensformen im Einzelnen beschreiben zu können. Für eine Gesellschaft ist es meiner Ansicht nach jedoch wichtig, dass sie sich in einer gewissen Demut der Grenzen wissen·
Evolution, Kanna und die Welt der Sinne
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schafi:1icher Erkenntnis über den Menschen und die Welt, in der er lebt, bewusst ist. Wenn die Geschichte des 20. Jahrhunderts - mit ihren weit verbreiteten sozial darwinistischen Überzeugungen und den schrecklichen Konsequenzen der Eugenik, die da raus entstandenen sind - uns etwas zu lehren hat, dann ist es die Einsicht, dass wir Menschen eine gefahrliehe Ten denz haben, die Visionen, die wir uns von uns selber kon struieren, zu sich selbst erfullenden Prophezeiungen wer den zu lassen. Die Idee des "Überlebens des Stärkeren« wurde immer wieder dazu missbraucht, Exzesse der menschlichen Gier und eines übertriebenen Individualis mus zu rechtfertigen und zu verteidigen. Dabei werden ethische Entwürfe fur einen menschlichen Umgang mitei nander, im Geiste des Mitgefuhls, einfach ignoriert. Ganz gleich, welche Haltung wir gegenüber der Wissenschaft ein nehmen, aufgrund ihres hohen Ansehens in der Gesell schaft müssen sich ihre Vertreter der Macht bewusst sein, die sie ihnen verleiht, und sollten verantwortlich handeln. Die Wissenschaft muss sich selbst ein Korrektiv gegen einen allgemeinen Irrglauben oder den Missbrauch ihrer eigenen Ideen sein, um den furchterlichen Konsequenzen zu begegnen, die dies fur die Welt und die Menschheit als Ganzes haben könnte. Wie überzeugend die darwinischen Ausfuhrungen über den Ursprung des Lebens auch sein mögen, als Buddhist bin ich der Ansicht, dass sie einen zentralen Bereich außer Acht lassen: Die Frage nach dem Ursprung fuhlenden Le bens - also nach dem Ursprung bewusster Wesen, die Schmerz und Freude empfinden können. Aus der Sicht des Buddhismus liegt der Ansporn der menschlichen Suche
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nach Wissen und Einsicht in die eigene Existenz letztend lich in dem tiefen Antrieb, Glück zu suchen und Leiden zu vermeiden. Erst wenn es ein überzeugendes Verständnis vom Wesen und Ursprung des Bewusstseins gibt, wird das wissenschaftliche Bild vom Ursprung des Lebens und des Kosmos vollständig sein.
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Die Frage des Bewusstseins Das Glück, jemandem zu begegnen, den wir lieben, der Schmerz, eine gute Freundin zu verlieren, die Fülle eines Traums, der uns noch lebhaft vor Augen steht, die friedli che Stimmung eines Frühlingstages, während wir durch einen Garten spazieren, die tiefe Sammlung in der Medita tion - all das ist die Wirklichkeit unserer Bewusstseinserfah rung. Ganz gleich, was der Inhalt dieser Erlebnisse im Ein zelnen auch sein mag, niemand wird ihre Realität ernsthaft in Frage stellen können. Jede Erfahrung des Bewusstseins von der alltäglichsten bis zur tiefgründigsten - hat eine be stimmte Kohärenz und ist zugleich höchst individuell, das heißt, sie wird immer von einem bestimmten Standpunkt aus gemacht. Die Erfahrung des Bewusstseins ist ganz und gar subjektiv. Trotz der unbezweifelbaren Wirklichkeit un serer Subjektivität und obwohl Philosophen sich seit Tau senden von Jahren Gedanken über dieses Phänomen ge macht haben, stehen wir vor dem Paradox, dass es nur sehr wenige Übereinstimmungen gibt, wenn wir das Bewusst sein theoretisch zu ergründen versuchen. Die Wissen schaft, die immer die Perspektive der dritten Person ein nimmt - die objektive Sicht von Außen - hat in diesem Fall erstaunlich wenige Fortschritte zu verzeichnen. Es gibt jedoch ein wachsendes Einvernehmen darüber, dass die Erforschung des Bewusstseins eine spannende He rausforderung rur die Wissenschaft darstellt. Zugleich tei
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len immer mehr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft ler die Einsicht, dass die modeme Wissenschaft bisher über keinen entwickelten methodischen Ansatz zur Erforschung des Bewusstseins verfugt. Natürlich gibt es philosophische Theorien über dieses Problem, wie auch Versuche, das Be wusstsein aufgrund eines materialistischen Paradigmas zu »erklären«. Am einen Ende des Spektrums steht der Beha viorismus, der das Bewusstsein aus dem, was das äußere ob jektiv beobachtbare Verhalten aussagt, zu definieren ver sucht und damit alle mentalen Phänomene aufverbale und physische Handlungen reduziert. Am anderen Ende steht der Kartesianische Dualismus, demzufolge sich die Welt aus zwei voneinander unabhängigen, wesenhaft realen Dingen zusammensetzt: der Materie, die über die Eigen schaft der räumlichen Ausdehnung verfUgt, und dem Be wusstsein, das als eine immaterielle Substanz definiert wird, etwa als der })Geist«. Zwischen diesen heiden Extre
men haben sich viele weitere Ansätze entwickelt, vom Funktionalismus, der das Bewusstsein aus seinen Funktio
nen heraus zu definieren versucht, bis zur Neurophänome nologie, die das Bewusstsein als ein neuronales Netzwerk definiert. Die meisten dieser Theorien fassen das Bewusst sein letztendlich als einen Aspekt der materiellen Welt auf. Doch was erfahren wir eigentlich, wenn wir das Bewusst sein direkt beobachten? Was sind seine Eigenschaften, wie funktioniert es? VerfUgt alles Leben, also auch Pflanzen und Tiere, über ein Bewusstsein? Existiert unser bewusstes Leben nur, solange wir uns seiner bewusst sind, so dass das Bewusstsein etwa im traumlosen Tiefschlaf sozusagen ruht oder sogar aufhört zu existieren? Setzt sich das Bewusstsein aus Momenten eines mentalen Stroms zusammen, oder
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hat es eine Kontinuität, ändert sich aber ständig? Ist Be wusstsein eine Frage des Grades der Bewusstheit? Hat das Bewusstsein immer ein Objekt, etwas, dessen es sich be wusst ist? Worin besteht seine Beziehung zum Unbewuss ten - nicht nur zu den unbewussten elektrochemischen Pro zessen des Gehirns, die mit den mentalen Prozessen verbunden sind, sondern auch zu den komplexen, vielleicht problematischen unbewussten Wünschen, Eindrücken und Erwartungen? Ist eine wissenschaftliche Erklärung des Phä nomens - im Sinne einer Beschreibung aus der objektiven Sicht der dritten Person - aufgrund der überaus subjektiven Natur des Bewusstseins überhaupt denkbar? Die Frage des Bewusstseins nimmt in der langen Ge schichte des buddhistisch-philosophischen Denkens einen breiten Raum ein. Da sich das Interesse des Buddhismus vor anem auf Fragen der Ethik, der Spiritualität und der Überwindung des Leidens bezieht, wird dem Verständnis des Bewusstseins, das alle fühlenden Wesen auszeichnet, große Bedeutung beigemessen. Der Buddha identifizierte das Bewusstsein als einen Schlüsselfaktor für die Entste hung menschlichen Glücks und Unglücks. So wird zum Beispiel im Dhammapada, einer berühmten Sammlung von Aussprüchen Buddhas, gleich zu Anfang festgestellt, dass der Geist allen Dingen vorangeht und sie durchdringt. An dieser Stelle ist es wichtig, auf das Problem der Spra che bei der Beschreibung subjektiver Erfahrungen hinzu weisen. Zwar ist die Erfahrung des Bewusstseins universell, doch die Sprachen, durch die wir unsere subjektiven Erleb nisse jeweils zum Ausdruck bringen, entspringen unter schiedlichen kulturellen, historischen und linguistischen Wurzeln. Diese verschiedenen Hintergründe repräsentieren
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KAPITEL SECHS
je eigene erkenntnistheoretische Rahmenbedingungen der theoretischen Vorstellung, der linguistischen Praxis so wie des philosophischen und spirituellen Erbes. So wird in den europäischen Sprachen zum Beispiel von
~)Bewusst
sein«, »Geist«, »mentalen Phänomenen« und »Bewusstheit«
gesprochen. Die buddhistische Philosophie des Geistes ge braucht ähnliche Begriffe: 10 (Skt.: buddhl), shepa (Skt.: jizana) und rigpa (Skt.: vidya), die alle in einem weiteren Sinne mit »Bewusstheit« oder »Intelligenz« übersetzt wer
den können. Buddhistische Philosophen sprechen auch von sem (Skt.: citta), "Geist«, namshe (Skt.: vijiiana), "Be wusstsein«, undyi (Skt.: manas), »Denken« oder »mentalen Prozessen«.
Das tibetische Wort namshe (Skt.: vijizana) umfasst ein grö ßeres Feld an Bedeutungen als der deutsche Begriff "Be wusstsein«, da er auch solche Prozesse beinhaltet, die in mo demen psychoanalytischen Theorien dem Unbewussten zugeschrieben werden. Auch der tibetische Begriff sem (Skt.: citta) ftir "Geist« wird weiter gefasst, da er neben dem Den ken auch alle emotionalen Vorgänge beinhaltet. Trotzdem können wir über die Phänomene des Bewusstseins spre
chen, solange wir gegenüber den Grenzen unserer sprachli chen Ausdrucksmöglichkeiten aufmerksam bleiben. Die Schwierigkeiten, denen wir bei der Beschreibung der subjektiven Erfahrungen des Bewusstseins begegnen, sind durchaus komplex. Es besteht nämlich die Gefahr, dabei etwas zu objektivieren, was im Grunde genommen ein inne res Erleben ist, und darüber die Präsenz des erlebenden Sub jekts zu vergessen. Wir können uns aus der »Gleichung« nicht herausnehmen. Keine wissenschaftliche Beschreibung des neuronalen Prozesses der Farbwahrnehmung kann das
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ersetzen, was wir erleben, wenn
WH
etwa die Farbe Rot
sehen. Wir haben es also mit einem einzigartigen For schungsgegenstand zu tun: Das Objekt unserer U ntersu chung ist mental, das, was es untersucht, ist mental, und der Untersuchungsprozess selbst ist mental. Könnte es sein, dass die Probleme, die sich einer wissenschaftlichen Erfor schung des Bewusstseins in den Weg stellen, nicht überwun den werden können? Sind sie so komplex, dass wir es be zweifeln müssen, jemals gültige Antworten zu erhalten? Wir neigen dazu, die Welt unserer bewussten Erfahrun gen so zu betrachten, als wäre sie in sich einheitlich - ein monolithischer Block, den wir als Bewusstsein bezeich nen -, doch sobald wir sie genauer betrachten, werden wir
feststellen, dass diese Betrachtungsweise zu sehr verein facht. Unsere Bewusstseinserfahrungen setzen sich aus zahllosen, äußerst unterschiedlichen und manchmal recht intensiven mentalen Zuständen zusammen. Einerseits
machen wir unmissverständlich kognitive Erfahrungen wie Glaube, Erinnerung, Wiedererkennen und Konzentra tion, andererseits gibt es eindeutig affektive Zustände wie unsere vielfaltigen auf andere gerichteten Emotionen. Da rüber hinaus scheint es eine Klasse mentaler Zustände zu geben, die vornehmlich ursächlich fur unser Handeln ist: Absicht, Wille, Begehren, Angst und Zorn. Selbst unter den kognitiven Zuständen können wir zwischen Sinnes·
wahrnehmungen - der optischen Wahrnehmung zum Bei spiel, die direkt mit dem wahrgenommenen Objekt ver bunden ist - und konzeptuellen Denkvorgängen wie der Imagination oder der Erinnerung an ein bestimmtes Ob jekt unterscheiden. Diese zuletzt genannten Prozesse be dürfen weder der direkten Gegenwart eines wahrgenom
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KAPITEL SECHS
menen Objekts noch hängen sie von der Aktivität der Sin nesorgane ab.
In der buddhistischen Bewusstseinsphilosophie begeg nen wir Betrachtungen der unterschiedlichen Typologien mentaler Phänomene und ihrer Eigenschaften. Grundle gend ist die folgende sechsfache Unterteilung des Bewusst seins: Erfahrungen des Sehens, Hörens, Riechens, Schme ckens, der Berührung sowie mentale Erfahrungen. Die ersten fünf sind Sinneserfahrungen, während die sechste eine mentale Erfahrung ist, die viele verschiedene Prozesse wie Erinnerung, Wille, Absicht und Vorstellungskraft um fasst. Mentale Zustände, die auf den fünf Sinnen beruhen, sind direkt von den Sinnesorganen abhängig. Sie werden als materielle Gegebenheiten aufgefasst, während rem mentale Erfahrungen eine größere Unabhängigkeit von einer stofflichen Grundlage haben. Die Yogachara-Schule führt in diese Typologie zwei wei tere Unterscheidungen ein und macht sie so zu einer achtfachen. Ihren Vertretern zufolge ist unsere mentale Wahrnehmung zu unbeständig und bedingt, um die unver brüchliche Einheitlichkeit unserer subjektiven Erlebnisse und unserer Erfahrung eines »Ichs« zu begründen. Sie gehen davon aus, dass es ein grundlegendes Bewusstsein geben müsse, das all diesen fließenden, abhängigen menta len Zuständen zugrunde liegt und seinen Zusammenhang und seine Kontinuität während eines individuellen Lebens bewahrt. Dies lässt sich am besten als »Grundbewusstsein« verstehen, als die Grundlage aller mentalen Phänomene. Mit diesem Grundbewusstsein ist der Gedanke »ich bin«, den die Vertreter der Yogachara-Schule als einen eigenen Bewusstseinsstrom betrachten, untrennbar verknüpft.
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Die Schule des Mittleren Weges - die für viele tibetische Denker, mich eingeschlossen, den Höhepunkt der buddhistischen Philosophie darstellt - verwirft die achtfa che Typologie des Yogachara und geht davon aus, dass das gesamte Spektrum des Bewusstseins mit einer sechsfachen Typologie ausreichend beschrieben werden kann. Es sind vor allem die essentialistischen Konsequenzen, die die Vor stellung eines "Grundbewusstseins« hervorrufen könnte, weshalb die Schule des Mittleren Weges das achtfache Mo dell des Bewusstseins verwirft. Doch was entscheidet letztendlich darüber, dass diese
vielfaltigen Phänomene einem einzigen Bereich der Erfah rung, den wir als »mental« bezeichnen, zugeschrieben wer den können? Ich erinnere mich noch lebhaft daran, wie ich als Kind meine ersten Unterweisungen in Erkenntnistheo rie erhielt. Damals musste ich folgenden Satz auswendig lernen: »Die Definition des Mentalen ist, was leuchtend und wissend ist.« Im Rückgriff auf indische Quellen defi nierten tibetische Denker so das Bewusstsein. Jahre später erkannte ich, welch schwieriges philosophisches Problem sich hinter dieser einfachen Formulierung verbirgt. Wenn ich heute miterlebe, wie neunjährige Mönche diese Defini tion des Bewusstseins während ihrer Debatten im Kloster hof voller Überzeugung zitieren, muss ich unwillkürlich lä cheln. Diese beiden Qualitäten - Leuchten oder Klarheit und Wissen oder Erkenntnis - definieren »das Mentale« im indo-tibetischen buddhistischen Denken. Klarheit verweist auf die Eigenschaft mentaler Prozesse, etwas zu enthüllen oder zu reflektieren. Wissen hingegen ist die Fähigkeit mentaler Prozesse, das wahrzunehmen oder zu erkennen,
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was erscheint. Alle Phänomene, die sich durch diese Qyali täten auszeichnen, fallen unter den Begriff des Mentalen. Es ist sehr schwer, diese Eigenschaften in Begriffe zu fassen, da es sich dabei um innere, subjektive Phänomene handelt und nicht um materielle Objekte, die wir in räumlichen oder zeitlichen Kategorien beschreiben könnten. Vielleicht finden sich aufgrund dieser Schwierigkeit - der Begrenzt heit der Sprache in der Beschreibung subjektiver Erfahrun gen - in vielen frühen buddhistischen Texten Metaphern wie Licht und Fließen, um die Natur des Bewusstseins an schaulich zu machen. So, wie die wichtigste Eigenschaft des Lichts darin besteht, etwas zu beleuchten, so beleuchtet das Bewusstsein seine Objekte. So wie wir im Falle des Lichts nicht zwischen seinem Leuchten und dem, was es beleuch tet, unterscheiden können. so gibt es auch im Bewusstsein
keinen substantiellen Unterschied zwischen dem Prozess des Wissens oder der Erkenntnis und dem, was weiß oder erkennt. Das Bewusstsein verfugt, wie das Licht, über die Eigenschaft des Leuchtens. Wenn wir von mentalen Phänomenen sprechen, die sich der buddhistischen Auffassung zufolge durch die beiden Qualitäten des Leuchtens und des Wissens auszeichnen, besteht die Gefahr, dass wir annehmen könnten, der Buddhismus vertrete eine Art von kartesianischem Dualis mus, nämlich den der Existenz zweier unabhängiger Sub stanzen: Materie und Bewusstsein. Um diesem Missver ständnis vorzubeugen, möchte ich einen kurzen Exkurs über die grundlegende Klassifizierung der Wirklichkeit in der buddhistischen Philosophie einftigen. Wir leben in einer Welt der bedingten Phänomene, die der Buddhismus in drei elementare Aspekte oder Qyalitäten unterteilt:
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Materie - die Welt physischer Objekte Bewusstsein/Geist - die Welt subjektiver Erfahrungen Abstrakte Verbindungen - die Welt mentaler Konzepte Zwischen dem Buddhismus und der modernen Wissen schaft gibt es keine großen Unterschiede im Verständnis dessen, was die Welt der Materie ausmacht. In beiden Forschungstraditionen besteht eine erhebliche Überein stimmung, was die signifikanten Merkmale materieller Phä nomene betrifft. Beide betrachten Eigenschaften wie Aus dehnung, raum-zeitliche Verortung und Ähnliches als die bestimmenden Kennzeichen der materiellen Welt. Neben den makroskopischen Objekten werden aus buddhistischer Sicht auch Phänomene wie subatomare Teilchen, elektro magnetische Felder und andere Naturkräfte - die Schwer kraft zum Beispiel- dieser ersten Ebene der Wirklichkeit zu gerechnet. Doch fur buddhistische Philosophen ist die Wirklichkeit umfassender, als sie sich auf der materiellen Ebene darstellt. Für sie gibt es auch die Ebene der subjektiven Erfahrung: unsere Gedankenprozesse, Sinneseindrücke, Empfindun gen sowie das reiche Gewebe unserer Emotionen. Aus buddhistischer Sicht teilen auch andere fuhlende Wesen einen großen Teil dieser Welt der inneren Erfahrung. Die mentale Ebene basiert zwar auf einer materiellen Grund lage - neuronalen Netzen, Gehirnzellen und Sinnesorga nen -, darf mit dieser jedoch nicht gleichgesetzt werden. Auch wenn die mentale Ebene möglicherweise von der ma teriellen Welt abhängig ist, kann sie aus buddhistischer Sicht dennoch nicht auf diese reduziert werden. Mit Aus nahme einer indischen Schule des Materialismus stimmen
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die alten philosophischen Traditionen Indiens und Tibets in diesem Punkt überein und unterstreichen die Unmög lichkeit, das Mentale auf eine Erscheinungsform des Mate riellen zu reduzieren. Darüber hinaus gibt es noch eine dritte Ebene der Wirk lichkeit: die der abstrakten Verbindungen, die weder der physischen Ebene angehören, da sie sich nicht aus materiel len Bestandteilen zusammensetzen, aber auch nicht dem mentalen Bereich, da es sich bei ihnen nicht um rein innere subjektive Erfahrungen handelt. Gemeint ist damit eine Vielzahl von Aspekten der Wirklichkeit, die Bestandteil unseres Weltverständnisses sind. Solche Phänomene wie Zeit, Konzepte und logische Prinzipien, die im Grunde ge nommen Produkte unseres Geistes sind, unterscheiden sich von den beiden ersten Ebenen. Natürlich hängen auch diese Phänomene der dritten Ebene der Wirklichkeit von denen der zwei anderen ab; sie zeichnen sich jedoch durch Eigenschaften aus, die sie von ihnen unterscheiden. Diese Klassifizierung der Wirklichkeit, die auf die frühes te Phase der buddhistischen Philosophie zurückgeht, ent spricht in meinen Angen weitgehend der Drei-Welten-Lehre Karl Poppers. Er charakterisiert die drei Welten wie folgt: 1. Die erste Welt ist die physische Welt der Körper und physischen Zustände, Vorgänge und Kräfte. 2. Die zweite Welt ist die psychische Welt der Erlebnisse, des Denkens und der unbewussten psychischen Vor
gänge. 3. Die dritte Welt ist die Welt der geistigen Produkte - der Gedankeninhalte im Gegensatz zu den mentalen Pro zessen sei bst.
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Erstaunlicherweise hat Popper, der, wie ich weiß, mit dem Buddhismus nicht sonderlich vertraut war, eine fast identi sche Klassifizierung der Wirklichkeit entwickelt. Wenn ich vor seinem Tod von dieser frappanten Übereinstimmung zwischen Poppers Denken und dem Buddhismus gewusst hätte, hätte ich sie sicherlich im Gespräch mit ihm weiter verfolgt. Westliche Philosophie und Wissenschaft versuchen weit gehend, das Bewusstsein ausschließlich als eine Funktion des Gehirns zu erklären. Dieser Ansatz begründet die Natur und Existenz des Bewusstseins aus der Materie in einer Art von ontologischem Reduktionismus. Manche Wissenschaftler beschreiben das Gehirn in Analogie zu Computern und künstlicher Intelligenz, andere ziehen ein evolutionäres Modell heran, um die Entwicklung der ver schiedenen Aspekte des Bewusstseins zu erklären. In den modernen Neurowissenschaften beschäftigt man sich sehr ernsthaft mit der Frage, ob Geist und Bewusstsein mehr sind als einfache Hirnprozesse, ob Geruhle und Emotio nen mehr sind als biochemische Prozesse. In welchem Aus maß hängt unsere Welt der subjektiven Erfahrung von der Hardware und Funktionsweise unseres Gehirns ab? Sicher lich in einem großen Umfang, aber tut sie es vollständig? Welches sind die notwendigen und hinteichenden Bedin gungen rur die Entfaltung subjektiver mentaler Erfahrun gen? Viele Wissenschaftierinnen und Wissenschaftler, in erster Linie aus der Neurobiologie, begreifen das Bewusstsein als einen physiologischen Prozess, der aus der Struktur und Dy namik des Gehirns hervorgeht. Ich erinnere mich noch leb haft an eine Diskussion, die ich vor mehreren Jahren mit an
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gesehenen Neurobiologen der medizinischen Fakultät einer amerikanischen Universität gefuhrt habe. Nachdem sie mir freundliehetweise die neuesten wissenschaftlichen Apparate vorgefuhrt hatten, mit deren Hilfe sie immer tiefer in die Struktur des Gehirns eindringen konnten - Magnetreso nanztomografie und Elektroenzephalografie -, und mir schließlich mit dem Einverständnis der Familie eines Pa tienten auch noch erlaubt hatten, eine Gehirnoperation mitzuverfolgen, setzten wir uns zusammen und sprachen
über die wissenschaftliche Auffassung vom Bewusstsein. Ich fragte einen der Wissenschaftler: "Offensichtlich hängen viele unserer subjektiven Erfahrungen - Wahrnehmungen und Empfindungen zum Beispiel- von Veränderungen der chemischen Prozesse im Gehirn ab. Ist die Umkehrung die ses Verhältnisses von Ursache und Wirkung denkbar' Ist es vorstellbar, dass das Denken selbst Veränderungen der che mischen Prozesse im Gehirn bewirken kann?« Mich interes sierte dabei, ob die Umkehrung dieses kausalen Prozesses zumindest theoretisch vorstellbar ist. Die Antwort des Wissenschaftlers war sehr überraschend rur mich. Da alle mentalen Ereignisse aus physikalischen Prozessen entstehen, sagte er, sei eine solche Umkehrung nicht denkbar. Obwohl ich aus Höflichkeit nicht weiter da rauf einging, dachte ich damals und denke auch heute noch, dass es keine wissenschaftliche Grundlage fur eine solche Behauptung gibt. Es ist vielmehr eine metaphysi sche Annahme und keine wissenschaftliche Tatsache, dass alle mentalen Vorgänge notwendigetweise eine physische Ursache haben. Wenn wir uns dem vorurteilsfreien Geist der Wissenschaft verpflichtet fuhlen, müssen wir meiner Überzeugung nach auch fur diese Frage offen sein und dür
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fen unsere Anschauungen nicht mit empirischen Fakten verwechseln.
Wie mir bekannt ist, versucht eine Gruppe von Wissen schaftlern und Philosophen das Bewusstsein durch die Er kenntnisse der Quantenphysik zu erklären. In diesem Zu sammenhang erinnere ich mich an mehrere Gespräche mit David Bohm über seine Idee einer •• impliziten Ordnung«, in der sich Materie und Bewusstsein nach den gleichen Prinzipien entfalten. Aus diesem Grund ist es seiner An sicht nach nicht weiter überraschend, dass es eine große Ähnlichkeit in den Ordnungsprinzipien von Bewusstsein und Materie gibt. Obwohl ich Bohms Bewusstseinstheorie nie völlig verstanden habe, scheint sein holistisches Ver ständnis der Wirklichkeit, die bei des, Geist und Materie, einschließt, in eine Richtung zu deuten, die zu einem um fassenden Verständnis der Welt fUhren könnte. 2002 traf ich mich in Australien mit einer Gruppe von Wissenschaftlern an der U niversity of Canberra fUr ein Gespräch über das Unbewusste. Der Astrophysiker Paul Davies bemerkte, dass er eine Quantentheorie des Bewusst seins durchaus fUr denkbar halte. Jedes Mal, wenn das Bewusstsein auf der Grundlage quantenphysikalischer Er kenntnisse erklärt werden soll - das muss ich zugeben -, verwirrt sich mein Geist. Natürlich ist es möglich, dass die Quantenphysik, mit ihren der Logik widersprechenden Einsichten in die Nichtlokalität, in die komplementären Eigenschaften von Wellen und Teilchen und in Heisen bergs Unschärferelation, vielleicht zu tieferen Einsichten in bestimmte Bereiche des kognitiven Geschehens fUhrt. Mir ist jedoch nicht einsichtig, welchen Vorteil eine Quanten theorie des Bewusstseins gegenüber einem kognitiven oder
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neurobiologischen Modell haben soll, das auf einem klas sischen Verständnis der physikalischen Prozesse im Gehirn beruht. Der einzige Unterschied zwischen den beiden Erklärungsmodellen scheint mir in der Subtilität der mate riellen Grundlage zu bestehen, mit der die Erfahrung des Bewusstseins korreliert wird. Solange die subjektive Erfah rung des Bewusstseins nicht vollständig erklärt werden kanu, wird, zumindest in meinen Augen, die theoretische Lücke zwischen den physikalischen Prozessen, die im Ge hirn stattfinden, und dem Phänomen des Bewusstseins weiterhin nicht zu überbrücken sein.
Die Neurobiologie hat bei der Kartografierung des Ge hirns und seiner Funktionsweisen große Erfolge zu ver zeichnen. Es handelt sich dabei um eine faszinierende Ent wicklung, deren Ergebnisse sehr interessant sind. Aber auch hier gibt es keine Übereinstimmung darüber, in wel chem Bereich des Gehirns (wenn es einen solchen Ort überhaupt gibt) das Bewusstsein lokalisiert werden kann. So wurden bereits das Kleinhirn, die Formatio reticularis
im Stammhirn und der Hippocampus als Sitz des Bewusst seins lokalisiert. Trotz dieser Unstimmigkeiten scheinen die meisten Neurowissenschaftlerinnen und -wissenschaft
ler der Auffassung zu sein, das Bewusstsein auf der Grund lage neurobiologischer Prozesse erklären zu können. Hinter dieser Annahme verbirgt sich die Überzeugung, alle mentalen Prozesse - sowohl Wahrnehmungen als auch Empfindungen - entsprächen bestimmten Vorgängen im Gehirn. Durch die Entwicklung neuer leistungsstarker In strumente hat das Wissen der Neurowissenschaften darü ber, wie bestimmte Bewusstseinsprozesse mit Vorgängen
im Gehirn korrelieren, ein erstaunliches Niveau erreicht.
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So konnte der Psychologe Richard Davidson auf einer »Mind and Life«-Konferenz zum Beispiel ganz deutlich die Verbindung zwischen so genannten negativen Emotionen wie Angst und Hass und einem bestimmten Bereich des Gehirns, der Amygdala, aufzeigen. Diese Beziehung ist so eindeutig, dass Patienten, die in diesem Teil des Gehirns eine Verletzung erlitten haben, solche Emotionen nicht mehr empfinden können. Falls im Experiment zweifelsfrei nachgewiesen werden könne, dass die Stilllegung dieses Gehirnareals keine nega tiven Folgen ftir das Individuum habe, erinnere ich mich damals bemerkt zu haben, könnte sich die Entfernung der Amygdala als eine äußerst wirkungsvolle spirituelle Praxis erweisen! Doch selbstverständlich ist die Sache nicht so einfach. Wie man weiß, ist die Amygdala nicht nur die neu ronale Basis unserer negativen Emotionen, sondern erfullt darüber hinaus weitere wichtige Funktionen. So werden mit ihrer Hilfe Gefahren erkannt, ein Prozess, ohne den wir als Individuen hilflos wären. Trotz der großen Erfolge der Neurowissenschaften, die Beziehungen zwischen bestimmten Bereichen des Gehirns und gewissen mentalen Prozessen nachzuweisen, glaube ich nicht, dass sie auf ihrem gegenwärtigen Erkenntnis stand das Bewusstsein selbst erklären können. Sie sind viel leicht in der Lage, den Bewusstseinsprozess zu beschreiben, der sich in einem Individuum abspielt, sobald ein be stimmter Bereich des Gehirns aktiv ist. Doch sie haben ganz sicher keine Antwort auf die Frage, wieso dies der Fall ist. Die Neurowissenschaften können grundsätzlich nichts über den Zusammenhang zwischen einer bestimmten Ge hirnaktivität und der Qualität der Erfahrung aussagen, die
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ein Individuum in diesem Moment macht. Keine neuro
biologische Erkenntnis kann je den Eindruck vermitteln, den ein Mensch hat, der die Farbe Blau sieht. Was fehlt, ist die Emptlndung, die diese Wahrnehmung in jedem Einzel nen hinterlässt. Auch kann uns ein Neurowissenschaftler zwar sagen, dass eine Person gerade träumt, doch kann uns
die Neurobiologie den Inhalt eines Traums erklären? Wir sollten an dieser Stelle vielleicht zwischen einem me thodologischen Ansatz und der metaphysischen Behaup tung unterscheiden, das Bewusstsein sei nichts anderes als eine Funktion oder Eigenschaft der Materie. Denn die An nahme, Bewusstsein könne auf Materie reduziert werden, stellt uns vor eine Erklärungslücke. Wie können wir die Entstehung des Bewusstseins erklären? Wie vollzieht sich der Übergang von nichtfühlenden zu fühlenden Wesen? Wenn wir dazu ein Modell der zunehmenden Komplexität heranziehen, das auf einem evolutionären Ausleseprozess beruht, haben wir zwar eine beschreibende Hypothese (dies ist ein Euphemismus rur »Rätsel«), aber keine befrie digende Erklärung. Die Theorie von Ursache und Wirkung ist von zentraler Bedeutung rur das Verständnis der buddhistischen Vorstel lung vom Bewusstsein und der Ablehnung der Reduzier barkeit von Geist auf Materie. Ursache und Wirkung stehen im Buddhismus schon lange im Mittelpunkt philosophi scher und kontemplativer Betrachtungen. Dabei geht der Buddhismus von zwei Hauptgruppen von Ursachen aus, »substantiellen Ursachen« und »mitwirkenden oder ergän
zenden Ursachen«. Betrachten wir das Beispiel eines Tonge
faßes. Die» substantielle Ursache« ist der »Stoff«, der eine bestimmte Wirkung hervorbringt - in diesem Fall der Ton,
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der zum Topfwird. Alle anderen Ursachen, die daran betei ligt sind, das Gefjß entstehen zu lassen, die Geschicklich keit des Töpfers, der Töpfer selbst und der Ofen, in dem der Ton gebrannt wird, sind ergänzende Faktoren, die dazu bei tragen, dass der Ton schliefslich zu einem Topfwird. Diese Unterscheidung zwischen)) substantiellen« und »ergänzen den« Ursachen eines Ereignisses oder einer Sache ist von
größter Wichtigkeit für das Verständnis der buddhistischen Bewusstseinstheorie. Der buddhistischen Aufhssung zu folge wirken Bewusstsein und Materie zwar an der Entste hung des jeweils anderen mit, sie können jedoch niemals )substantielle Ursachen« fureinander sein.
Diese Unterscheidung diente buddhistischen Denkern wie Dharmakirti als rationales Argument ftir die Gültigkeit der Theorie der Wiedergeburt. Dharmakirtis Begründung kann folgendermaßen formuliert werden: Das Bewusstsein eines neugeborenen Kindes basiert aufeinem vorausgegan genen Moment der Geistesaktivität. Dieser ist ein Moment des Bewusstseins, genau wie der gegenwärtige.
Der Dreh- und Angelpunkt dieser Begründung besteht darin, dass alle von uns erlebten Bewusstseinsmomente aus
einem Moment entstehen, der ihnen vorangeht. Da Mate rie und Bewusstsein jedoch von vollkommen verschiede ner Natur sind, muss dem ersten Bewusstseinsmoment eines neugeborenen Wesens eine substanzielle Ursache vo rausgehen, die nichts anderes sein kann als ein Moment des
Bewusstseins selbst. Mithilfe dieser Argumentation wird die Existenz eines vorangegangenen Lebens begründet. Andere buddhistische Denker, unter ihnen Bhavaviveka im 6. Jahrhundert u.Z., argumentieren in Bezug auffrühere Leben mit den gewohnheitsmäßigen Instinkten, zum Bei
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spiel mit der Tatsache, dass ein neugeborenen Kalb auto matisch weiß, wo sich die Euter seiner Mutter befinden und wie es aus ihnen Milch saugen kann. Diesen Denkern zufolge kann der Tatbestand des "eingeborenen Wissens« ohne die Annahme einer früheren Existenz nicht ausrei
chend erklärt werden. Ganz gleich, wie überzeugend diese Begründungen auch sein mögen, so gibt es doch genügend Beispiele von Kin dern, die sich deutlich an ihre "tiüheren Leben« erinnern können, ganz zu schweigen von den vielfaltigen Erinnerun gen Buddhas an seine früheren Existenzen, von denen in den Schriften die Rede ist. Mir persönlich ist der erstaunli che Fall eines kleinen Mädchens aus Kanpur im indischen Bundesstaat Uttar Pradesch aus den 1970erJahren bekannt, die sich an ihr vorangegangenes Leben erinnern konnte. Obwohl die Eltern ihre Erzählungen von einem zweiten El ternpaar anfangs nicht weiter beachteten, waren die Berichte des Mädchens, einschließlich präziser Orts angaben, so an schaulich, dass sie ihnen schließlich Gehör schenkten. Als die beiden, die das Mädchen als Mutter und Vater bezeich nete, schließlich zu Besuch kamen, konnte sie ihnen Details aus ihrem früheren gemeinsamen Leben berichten, die nur engen Familienangehörigen bekannt gewesen sein konnten. Als ich ihr schließlich begegnete, hatten die früheren Eltern sie schon wieder in ihre Familie aufgenommen. Das ist na
türlich nur ein Einzelbericht, doch wir dürfen Phänomene wie dieses nicht einfach von der Hand weisen.
Viele Bände wurden bereits mit Analysen dieser speziellen Form der logischen Begründung im Buddhismus gelullt, deren Einzelheiten den Rahmen dieser Erörterung sicher
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lich sprengen würden. Ich möchte jedoch unterstreichen, dass Dharmakirti die Theorie der Wiedergeburt ganz offen sichtlich nicht einfach nur als eine Frage des Glaubens be trachtete. Seiner Ansicht nach handelt es sich dabei um das, was er ein »unscharfes« Phänomen nannte, das mithilfe lo
gischen Schließens jedoch durchaus verifiziert werden kann. Der springende Punkt in der Untersuchung des Bewusst seins - im Gegensatz zur Erforschung der physischen Welt scheint mir die persönliche Perspektive zu sein, die dabei immer eine Rolle spielt. Wenn wir die materielle Welt stu dieren, beziehen wir uns - abgesehen von den problemati schen Sachverhalten der Q!Iantenphysik - aufPhänomene, die mit den erprobten wissenschaftlichen Methoden der ob jektiven Betrachtung aus der Sicht der dritten Person unter sucht werden können. Im Großen und Ganzen sind wir davon überzeugt, dass die wissenschaftliche Erklärung der physischen Welt kein Schlüsselelement ihres Gegenstandes unberücksichtigt lässt. Im Bereich subjektiver Erfahrungen stehen wir jedoch ganz anderen Bedingungen gegenüber. Wenn wir eine Beschreibung mentaler Prozesse verfolgen, die vollkommen aus der »objektiven« Sicht der dritten Per son vorgenommen wurde, sei es eine kognitive Theorie der
Psychologie, ein neurobiologisches- oder evolutionäres Mo dell, haben wir das Gefiihl, ein entscheidender Aspekt des Gegenstandes sei ausgelassen worden. Ich meine damit die phänomenologische Seite eines mentalen Ereignisses, näm
lich die subjektive Erfahrung des Individuums. Selbst aus diesen kurzen Darlegungen müsste in meinen Augen die Unzulänglichkeit einer rein objektiven Beschrei bung - die der Wissenschaft auf vielen anderen Gebieten
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mit großem Erfolg dient - deutlich geworden sein. Wenn die Wissenschaft das Wesen des Bewusstseins erfolgreich ergründen will, bedarf es vor allem eines Paradigmen Wechsels. Dazu muss die Perspektive der dritten Person, die uns dazu befahigt, die Phänomene aus der Sicht eines unabhängigen Beobacbters zu messen und zu quantifizie ren, mit der Perspektive der ersten Person verknüpft wer den, so dass die Subjektivität und alle Eigenschaften der Erfahrung des Bewusstseins wirklicb einbezogen werden. Was icb hier vorschlage, ist, unsere Untersuchungsmetho den mit ihrem Gegenstand in Einklang zu bringen. Da Subjektivität und Erfahrung zu den Hauptmerkmalen des Bewusstseins gehören, muss jede systematiscbe Untersu chung sich einer Methode bedienen, die uns diese Dimen sion zugänglicb macben kann. Zu diesem Zweck muss sich eine umfassende wissen schaftliche Betrachtung des Bewusstseins beider Methoden bedienen: Sie darf die phänomenologische Realität der subjektiven Erfahrung nicht einfach ignorieren, muss sich jedoch zugleich den Regeln der wissenschaftlicben Strenge verpflicbtet fuhlen. Es scbeint mir eine zentrale Frage zu sein, ob wir einen wissenscbaftlicbe Ansatz zur Erfor scbung des Bewusstseins entwickeln können, in dem eine fundierte subjektive Methode, die der Phänomenologie der Erfahrung gerecht wird, mit einer objektiven Untersu chung des Gehirns verknüpft werden kann. In diesem Zusammenhang könnte meiner Ansicht nach eine enge Zusammenarbeit zwischen der Wissenschaft und den kontemplativen Traditionen wie dem Buddhismus äu ßerst ftucbtbar sein. Den Buddhismus zeichnet eine lange Geschichte der Erforschung des Wesens des Bewusstseins
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und seiner verschiedenen Aspekte aus - in der Tat ist es genau das, was buddhistische Meditation und ihre kriti schen Untersuchungsmethoden ausmacht. Doch im Ge gensatz zur modernen Wissenschaft bedient sich der Buddhismus vorwiegend eines Ansatzes, der in der Erfah rung der ersten Person gründet. Die kontemplative Me thode, die im Buddhismus entwickelt wurde, basiert auf dem empirischen Einsatz der Introspektion, die auf einer umfassenden methodischen Ausbildung und einer fun dierten Überprüfung der Zuverlässigkeit der Erfahrung be ruht. Alle relevanten subjektiven Meditationserfahrungen müssen vom selben Praktizierenden durch Wiederholung bestätigt und von anderen durch die Anwendung der glei chen Praktiken nachvollzogen werden können. Wenn das der Fall ist, haben diese Erfahrungen allgemeine Gültigkeit, zumindest was uns Menschen betrifft. Das buddhistische Verständnis des Bewusstseins leitet sich vor allem aus empirischen Beobachtungen ab, die in der Phänomenologie der Erfahrung wurzeln und aus den kontemplativen Techniken der Meditation hervorgegan gen sind. Auf dieser Grundlage werden "Arbeitsmodelle« des Bewusstseins, seiner unterschiedlichen Aspekte und Funktionen entwickelt; diese werden einer kritisch-philoso phischen Analyse unterzogen und in Meditation und acht samer Betrachtung überprüft. Wenn wir verstehen wollen, wie unsere Wahrnehmung funktioniert, üben wir unser Be wusstsein in Aufmerksamkeit, um das Entstehen und Ver gehen des Wahrnehmungsprozesses von Moment zu Mo ment zu verfolgen. Dieser empirische Prozess vermittelt uns ein Wissen über bestimmte Funktionen des Bewusst seins, das aufder eigenen Erfahrung beruht. Natürlich kön
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nen wir dieses Wissen dazu verwenden, die Wirkungen ge wisser Emotionen wie Zorn und Missgunst abzuschwächen
(in der Tat liegt darin ein Ziel von Meditierenden, die ihre leidvollen geistigen Erfahrungen überwinden wollen), doch hier geht es mir vor allem darum, die Meditation als eine Methode zu verstehen, durch die wir genaue empiri sche Informationen über das Bewusstsein aus der Perspek tive der ersten Person erhalten können. Ich kenne das tiefe Misstrauen gegenüber introspektiven Forschungsansätzen in der Wissenschaft. Wie mir erklärt wurde, hat die Psychologie des Westens die Introspektion als eine Methode, mit deren Hilfe objektive Kriterien fur die Gültigkeit der unterschiedlichen subjektiven Erfahrun gen einzelner Individuen aufgestellt werden können, ver worfen. Wenn wir die Vorherrschaft der objektiven Metho de als Paradigma des Erkenntnisinteresses voraussetzen, sind diese Bedenken durchaus zu verstehen. Der Psychologe Steven Koslyn aus Harvard, der sich mit Grundlagenforschungen über die Rolle der Introspektion in unserer Vorstellungskraft beschäftigt, bemerkte auf einer der letzten »Mind and Life«-Konferenzen zum Thema »Er kundungen des Bewusstseins«, wie wichtig es sei, die natür
lichen Grenzen der Introspektion zu erkennen. Ich kann ihm nur beipflichten. Egal, wie geübt ein Mensch auch sein mag, erklärte er, wir haben keinen Beweis dafur, dass seine
Introspektion irgendetwas über die Komplexität neurona ler Netzwerke, biochemischer Himprozesse oder die Bezie hung zwischen physischen und mentalen Prozessen aus sagt. Diese Aufgaben können leistungsstarke Instrumente mittlerweile hervorragend erfullen. Trotzdem glaube ich, dass ein sorgfaltiger Einsatz der Introspektion zur Untersu
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chung psychologischer und phänomenologischer Aspekte unserer kognitiven und emotionalen Erfahrungen durch aus einen wichtigen Beitrag leisten kann. Meditative Kontemplation im Buddhismus und Intro spektion im üblichen Sinne sind zwei verschiedene Dinge. Die Introspektion der buddhistischen Praxis achtet auf merksam auf die Gefahr eines übertriebenen Subjektivis mus, also auf Phantasien und Irrtümer, denen Menschen unterliegen können, und bemüht sich um einen diszipli nierten Geisteszustand. So wie ein Teleskop ftir die gen aue Untersuchung der Himmelskörper unerlässlich ist, so wird die Aufmerksamkeit in der Vorbereitung auf eine präzise Introspektion in einer Weise verfeinert, dass sie stabil und klar bleibt. Genau wie in der Wissenschaft, gibt es auch in der kontemplativen Introspektion gewisse Abläufe und Ar beitsverfahren, nach denen der oder die Einzelne sich rich ten muss. Jemand, der in der Wissenschaft nicht ausgebil det ist, würde in einem Labor auch nicht wissen, wonach er
suchen soll, und eine Entdeckung vielleicht gar nicht er kennen, selbst wenn er sie vor Augen hätte. Genauso wenig ist ein ungeübtes Bewusstsein in der Lage, das Objekt der Betrachtung im Blickfeld der introspektiven Untersuchung zu halten, und wird die Bewusstseinsprozesse, die auftau chen, nicht erkennen können. Wie ein erfahrener Wissen schaftler, verftigt auch ein geübtes Bewusstsein über das Wissen, wonach es sucht, und wird die Entdeckungen er kennen, aufdie es im Laufe seiner Nachforschungen stößt. Letzten Endes wird die Frage, ob das Bewusstsein auf physikalische Prozesse reduziert werden kann oder ob un sere subjektiven Erfahrungen ein immaterielles Merkmal der Wirklichkeit sind, vielleicht immer eine Frage der phi
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losophischen Überzeugung sein. Möglicherweise wird die Wissenschaft sie nie abschließend klären können. Es scheint mir jedoch von zentraler Bedeutung zu sein, jen seits der metaphysischen Fragen, die im Hintergrund jeder Betrachtung von Geist und Materie stehen, gemeinsam da nach zu fragen, wie wir die verschiedenen Eigenschaften des Bewusstseins wissenschaftlich verstehen können. Ich glaube daran, dass sich Buddhismus und Wissenschaft in einer gemeinsamen Erforschung des Bewusstseins begeg nen können, ohne sich in einen philosophischen Disput darüber zu verstricken, ob das Bewusstsein letztendlich physikalisch begründbar ist oder nicht. Beide Forschungs traditionen könnten aus dieser Begegnung bereichert her vorgehen. Diese gemeinschaftliche Erkundung wird nicht nur zu einem tieferen Verständnis des Bewusstseins beitra
gen, sondern uns die Dynamik des menschlichen Geistes und seiner Beziehung zum Leiden näher bringen. Dies wäre ein wichtiger Beitrag zur Linderung des Leidens, worin in meinen Augen unsere zentrale Aufgabe in dieser
Welt besteht.
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Unterwegs zu einer Wissenschaft des Bewusstseins Um das Bewusstseins vollständig zu erforschen, bedarf es einer Methode, die nicht nur die neurologischen und bio chemischen Prozesse beschreibt, sondern auch die subjek tive Erfahrung des mentalen Geschehens. Selbst wenn Neurowissenschaften und Verhaltenspsychologie zusam menarbeiten, werfen sie nicht genügend Licht auf die sub jektive Erfahrung, da beide Disziplinen überwiegend von der objektiven Perspektive der dritten Person ausgehen. Demgegenüber haben alle kontemplativen Traditionen im Laufe ihrer Geschichte die subjektive Erforschung der Natur und Funktionsweise des Bewusstseins aus der Sicht der ersten Person betont, indem sie den Geist in einer sorg faltigen Weise darin übten, seine eigenen inneren Zustände zu betrachten. In dieser Art von Untersuchung sind der Betrachter, das Objekt und die Mittel der Betrachtung Aspekte desselben Sachverhalts, nämlich des Bewusstseins eines individuellen Experimentierenden. Diese Art von Geistestraining be zeichnet der Buddhismus als bhavana, ein Begriff, der im Deutschen meist mit »Meditation« übersetzt wird. Im ur sprünglichen Ausdruck aus dem Sanskrit klingt die Vorstel lung von Pflege im Sinne der Pflege einer Gewohnheit an, während der tibetische Begriff garn die wörtliche Bedeu tung von »vertraut werden« hat. Es handelt sich also um
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eine disziplinierte Geistespraxis, in der man die Vertraut
heit mit einem bestimmten Gegenstand pflegt, der sowohl ein äußeres Objekt als auch eine innere Erfahrung sein kann. Immer wieder wird Meditation als ein Leerwerden des Geistes aufgefasst oder als eine Entspannungstechnik, doch darum geht es mir hier nicht. Die Praxis des Gorn führt zu keinen mysteriösen oder gar mystischen Zuständen, die nur wenigen talentierten Einzelpersonen vorbehalten wä ren. Es geht dabei auch nicht um ein Nichtdenken oder die Abwesenheit mentaler Aktivität. Gom bezeichnet beides: ein Mittel oder einen Prozess sowie einen Zustand, der aus
diesem Prozess entstehen kann. Im Zusammenhang unse rer Betrachtungen möchte ich Gom vor allem als Mittel be schreiben, als einen Prozess der präzisen, konzentrierten und disziplinierten Introspektion und Achtsamkeit, der uns tief in die Natur eines Gegenstandes der Betrachtung vordringen lässt. Aus wissenschaftlicher Sicht kann dieser Prozess mit einer präzisen empirischen Beobachtung ver glichen werden. Der Unterschied zwischen der Wissenschaft, so wie sie sich gegenwärtig begreift, und der buddhistischen For schungstradition besteht in der Vorherrschaft der objekti ven Perspektive aus der Sicht der dritten Person in der Wis senschaft und der Anwendung verfeinerter, introspektiver Methoden aus der Sicht der ersten Person in der buddhisti schen Kontemplation. Ich bin davon überzeugt, dass uns die Verbindung beider Ansätze vollkommen neue Erkennt nisse in der wissenschaftlichen Erforschung des Bewusst seins vermitteln könnte. Mit der objektiven Methode lässt sich durchaus vieles erreichen. Die Kartierung des Gehirns
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hat durch immer leistuugsstärkere Technologien große Fortschritte gemacht, so dass es möglich geworden ist, die physischen Entsprechungen unserer reichen inneren Erfah rungswelt detailliert zu beschreiben. Wir verstehen mittler weile viele neuronale Verbindungen und biochemische Prozesse, wir kennen die Hirnareale, die mit bestimmten
mentalen Aktivitäten verbunden sind, sowie die zeitlichen Abläufe (manchmal handelt es sich dabei nur um wenige Tausendstel von Sekunden), in denen das Gehirn auf ex terne Stimulationen reagiert. Ich hatte das Vergnügen, dies alles mit eigenen Augen beobachten zu dürfen, als ich im Frühjahr 2001 das Labor von Richard Davidson an der University ofWisconsin in Madison besuchte. Sein Labor ist auf dem neuesten Stand und verfugt über die modernsten bildgebenden Technologien und Instru mente zur Kartierung des Gehirns. Davidson hat eine auf regende Gruppe junger Mitarbeiter um sich versammelt. Eines seiner Projekte besteht aus einer Reihe von Experi menten - fiir die ich mich besonders interessiere -, die er
mit Meditierenden durchfuhrt. Er zeigte mir seinen Ar beitsplatz und erklärte mir die Funktion der einzelnen Ma schinen. Es gab einen Elektroenzephalograf, der die elektri sche Aktivität des Gehirns aufzeichnet. Er sah aus wie eine Mütze, an der viele Sensoren befestigt waren. Offenbar zählt das mit 256 Sensoren bestückte Geräte weltweit zu den technisch ausgereiftesten. Außerdem gab es einen Magnetresonanztomograf, der so empfindlich ist, dass ein Mensch, der darin liegt, sich ganz still verhalten muss, wäh rend sein Gehirn abgebildet wird. Wie man mir sagte, be ruht die Stärke des Elektroenzephalografen auf seiner Schnelligkeit - erstaunlicherweise kann er Veränderungen
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im Gehirn innerhalb einer Tausendstel Sekunde nachwei sen. Der Magnetresonanztomograf ist in der Lage, das Areal einer bestimmten Gehirnaktivität milimetergenau aufzuzeigen. Am Tag vor meinem Besuch waren diese Instrumente in
einem ausfuhrlichen Experiment eingesetzt worden. Dabei hatte ein mir schon lange bekannter erfahrener Meditieren der eine Reihe von Meditationspraktiken ausgefuhrt. Da vidson zeigte mir auf einem Computerbildschirm eine Reihe von Aufnahmen seines Gehirns, wobei verschiedene Farben auf bestimmte mentale Aktivitäten hinwiesen. Am Tag darauf nahm ich an einer Konferenz teil, auf der Davidson die vorläufigen Ergebnisse seiner Forschungen vorstellte. Der Psychologe Paul Ekman war ebenfalls anwe send und berichtete von den Resultaten seiner Arbeit mit vielen unterschiedlichen Menschengruppen, unter ande rem auch mit Meditierenden. Wissenschaftliche Experi mente mit Meditierenden nahmen mit Herbert Bensons Untersuchungen in Harvard in den 1980er Jahren ihren Anfang. Benson kontrollierte die physiologischen Verän derungen der Körpertemperatur und des SauerstoffVer brauchs in Meditierenden, die sich in der tummo-Praxis übten, bei der es unter anderem um die Erzeugung von Hitze an einem bestimmten Punkt des Körpers geht. Wie Benson hat auch Richard Davidsons Team Experimente mit Eremiten im Himalaja durchgefuhrt, unter anderem in den Bergen um Dharamsala. Da man fur Experimente in den Bergen eine mobile Ausrüstung braucht, sind diese Forschungen nur eingeschränkt durchfuhrbar - zumindest so lange, bis die mobile Technologie auf den neuesten Stand gebracht sein wird.
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Natürlich stellen uns Experimente an Menschen vor viele ethische Fragen, die von der wissenschaftlichen Gemein schaft sehr ernst genommen werden. Für die Eremiten, die
ein Leben in der Einsamkeit der Berge gewählt haben, sind derartige Untersuchungen ein grundlegender Eingriffin ihr Leben und ihre spirituelle Praxis. Deshalb ist es nicht besonders erstaunlich, dass viele von ihnen anfangs eher zu rückhaltend waren. Die meisten konnten den Sinn der gan zen Sache einfach nicht erkennen, außer dass damit das Interesse einiger merkwürdiger Männer befriedigt werden sollte, die mit Maschinen bepackt durch die Berge liefen. Ich war jedoch davon überzeugt - und bin es immer noch -, dass eine wissenschaftliche Untersuchung des Bewusstseins von Meditierenden sehr wichtig sein kann, und unternahm daher alle Anstrengungen, die Eremiten dazu zu bewegen, den Experimenten zuzustimmen. Ich schlug ihnen vor, sich im Geiste des Altuismus an den Experimenten zu beteili gen: Falls die nützliche Wirkung der Sammlung des Be wusstseins und der Pflege heilsamer Geisteszustände wis senschaftlich nachgewiesen werden könnte, hätte dies möglicherweise forderliche Auswirkungen auf andere. Ich hoffe nur, dass ich nicht zu streng war. Einige Eremiten stimmten zu, hoffentlich überzeugt von meinen Argumen ten, was ich mir wünsche, und nicht, weil sie sich der Auto
rität des Amtes des Dalai Lama unterwarfen. Solche Projekte können eine Seite unseres Bildes vom Bewusstsein beleuchten. Doch im Unterschied zur Erfor schung dreidimensionaler materieller Objekte im Raum muss eine Untersuchung des Bewusstseins, einschließlich der gesamten Skala mentaler Phänomene und subjektiver Erfahrungen, zwei Seiten berücksichtigen. Eine ist die der
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Vorgänge im Gehirn und im Verhalten des Individuums das sind die Domänen der Neurowissenschaften und der Verhaltenspsychologie -, die andere ist die der phänome nologischen Erfahrung der kognitiven, emotionalen und psychischen Prozesse selbst. Für diese zweite Ebene bedarf es einer Methode, die von der Perspektive der ersten Person ausgeht. Anders ausgedrückt: Obwohl die Erfahrung des Glücks sicherlich mit gewissen chemischen Prozessen im Gehirn übereinstimmt, zum Beispiel mit der Serotoninaus schüttung, kann uns auch eine noch so differenzierte bio chemische oder neurobiologische Beschreibung nicht er klären, was Glück letztendlich ist. Zwar hatte die buddhistische kontemplative Tradition bislang keinen Zugriff aufwissenschaftliche Methoden, um ein Verständnis der im Gehirn ablaufenden Prozesse zu er langen, aber sie ist im Besitz eines lebendigen Wissens über die Fähigkeit des Bewusstseins, sich anpassen und verwan deln zu können. Ich glaube, bis vor kurzem gingen die meisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler davon aus, dass sich die Hardware des Gehirns nach den ]ugend jahren nicht mehr groß verändern kann. Neue Erkennt nisse der Neurobiologie haben jedoch eine erstaunliche Fä higkeit des Gehirns zur Veränderung nachgewiesen, selbst in Erwachsenen, die so alt sind wie ich. Auf einer »Mind and Life«-Konferenz, die 2004 in Oharamsala stattfand, er fuhr ich von einem neuen Teilgebiet der Neurowissenschaf ten, der Neuronalen Plastizitätsforschung, die sich mit der Fähigkeit des Gehirns zur Ausbildung neuer neuronaler Verknüpfungen beschäftigt. Diese Eigenschaft deute ich so, dass bestimmte Grundzüge des Menschen, von denen wir immer angenommen haben, sie wären festgelegt ~ Persön
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lichkeit, Anlagen, Stimmungen zum Beispiel - nicht be ständig sind, sondern durch geistiges Training oder Verän derungen in der Umwelt beeinflusst werden können. So wurde bei erfahrenen Meditierenden im Experiment be reits eine größere Aktivität im linken Stirnhirnlappen nach gewiesen, einem Gehirnareal, das mit positiven Empfin dungen wie Glück, Freude und Zufriedenheit verbunden ist. Diese Ergebnisse lassen vermuten, dass wir einen Zu stand des Glücks durch ein auf das Gehirn einwirkendes Geistestraining bewusst kultivieren können.
Dharmakirti, der Mönchsphilosoph des 7. Jahrhunderts, legte in einer ausgeklügelten Begründung dar, in welcher Weise eine disziplinierte meditative Übung zu tiefgreifen den Veränderungen im menschlichen Bewusstsein, ein schließlich der Emotionen, fuhren kann. Eine wichtige Prä misse seiner Argumentation ist das universelle Gesetz von Ursache und Wirkung, nach dem die Bedingungen, die auf eine Ursache einwirken, einen unvermeidlichen Einfluss
auf das Ergebnis haben werden. Es handelt sich dabei um eine sehr alte Vorstellung des Buddhismus - um gewisse Wirkungen zu vermeiden, das lehrte bereits Buddha, muss man die Bedingungen ändern, die sie hervorbringen. Wenn wir also die Bedingungen unserer Geistesverfassung ändern (das, was normalerweise bestimmte mentale Verhaltens muster entstehen lässt), lassen sich gewisse Eigenschaften unseres Bewusstseins und die damit verbundenen Einstel lungen und Emotionen verändern. Die zweite wichtige Prämisse ist das universelle Gesetz der Unbeständigkeit, das schon in Buddhas frühesten Un terweisungen auftaucht. Ihm zufolge sind alle verursachten Dinge und Ereignisse ständig im Fluss. Nichts, nicht ein
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mal die materielle Welt, die wir normalerweise als dauer haft wahrnehmen, ist statisch und von Bestand. Deshalb ist alles, was aufeiner Ursache beruht, anfallig fur Veränderun gen - wenn wir also die entsprechenden Bedingungen be reitstellen, können Veränderungen des Geisteszustandes bewusst herbeigefuhrt werden. Wie bereits andere buddhistische Denker vor ihm, beruft sich Dharmakirti auf das, was wir ein »psychologisches Ge setz« nennen könnten. Er betrachtet die unterschiedlichen psychischen Zustände, einschließlich der Emotionen, als ein Kraftfeld, auf dem gegensätzliche Gruppen mentaler Prozesse in einer konstanten Dynamik miteinander agie ren. Im Bereich der Emotionen könnte man demnach von einer Gruppe ausgehen, die aus Hass, Zorn, Feindseligkeit und so weiter besteht, der eine Gruppe positiver Emotio nen wie Liebe, Mitgefuhl und Empathie gegenübersteht. Nach Dharmakirtis Argumentation gilt nun für jedes belie bige Individuum zu jeder beliebigen Zeit: Wenn eine Seite in einer derartigen Polarität stärker ausgeprägt ist, wird die andere automatisch schwächer sein. Wenn wir uns also
darum bemühen, die Gruppe positiver Emotionen zu fes tigen, sie zu stärken und zu mehren, werden wir die negati ven Emotionen ganz automatisch schwächen und eine Ver
änderung unseres Denkens und Empfindens herbeifuhren. Dharmakirti illustriert die Komplexität dieses Prozesses durch eine Reihe anschaulicher Analogien aus unserer All tagserfahrung. Die gegensätzlichen Kräfte könnten als Hitze und Kälte betrachtet werden. Diese können niemals nebeneinander existieren, ohne dass die eine die andere zu
rückdrängt, sie können sich aber auch nicht plötzlich ge genseitig auslöschen - vielmehr handelt es sich um einen
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graduellen Vorgang. Sehr wahrscheinlich dachte Dhanna kirti bei diesem Beispiel an ein Feuer, das nach und nach ein kühles Zimmer erwärmt, oder an den Rückgang der Temperatur in den Tropen, in denen er lebte, sobald der Monsun einsetzt. Ein Gegenbild dazu ist fur Dharmakirti eine Lampe, deren Licht die Dunkelheit unmittelbar er hellt. Dieses Prinzip, nach dem zwei gegensätzliche Zustände nicht nebeneinander bestehen können, ohne sich gegensei tig zurückzudrängen, ist die wichtigste Voraussetzung der buddhistischen Überlegungen über die Veränderbarkeit des Bewusstseins: Wenn wir uns in liebevoller Güte üben, wird die Kraft des Hasses im Bewusstsein nach einiger Zeit nachlassen. Darüber hinaus werden sich Dharmakirti zu folge bestimmte Wirkungen ganz verlieren, sobald ihre grundlegende Ursache beseitigt wurde. Wenn wir die Kälte abstellen, um bei seinem Beispiel zu bleiben, werden auch alle Begleitumstände wie Gänsehaut, Zittern und Zähne klappern vollständig verschwinden. Dharmakirti geht jedoch noch einen Schritt weiter und behauptet, das Bewusstsein verfüge im Gegensatz zu unse ren körperlichen Fähigkeiten über unbegrenzte Entwick lungsmöglichkeiten. Dazu vergleicht er das Geistestraining mit dem körperlichen Training von Sportlern, insbeson dere von Weitspringern. Auch wenn es in den individuel len Leistungen einzelner Sportler große Unterschiede gibt, behauptet er, gebe es, bedingt durch die Natur des mensch lichen Körpers, eine grundsätzliche Grenze der athleti schen Leistungskraft, die weder durch intensiveres Training noch durch die außergewöhnliche Begabung eines Sport lers überschritten werden kann. Selbst der illegale Ge
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brauch von Drogen im modernen Sport, durch den die Leistungsfahigkeit des Körpers möglicherweise minimal ge steigert wird, kann den menschlichen Körper nicht jene fundamentale Grenze überschreiten lassen, die ihm durch seine Natur gesetzt wird. Im Gegensatz dazu betrachtet Dhannakirti die natürlichen Begrenzungen des Geistes als weitaus schwächer und hält sie für überwindbar, so dass eine Geistesqualität wie Mitgefühl in unbegrenzter Weise entwickelt werden kann. Buddhas Größe als spiritueller Lehrer liegt für Dharmakirti nicht so sehr in seinem umfas senden Wissen begründet, sondern darin, dass er ein voll ständiges, unbegrenztes Mitgefühl für alle Wesen entwi ckeln konnte. Bereits vor Dhannakirti gab es im indischen Buddhismus ein weit verbreitetes Verständnis über die Fähigkeit des Be wusstseins, negative Zustände in &iedvolle und wohltuende Klarheit zu verwandeln. Ein Maitreya zugeschriebenes Werk des Mahayana-Buddhismus aus dem 4. Jahrhundert u. Z., Das sublime Kontinuum (Skt.: Uttaratantra), sowie ein kürzerer Text Nagarjunas mit dem Titel Lobgesang aufden höchsten Bereich (Skt.: Dharmadhdtustava) vertreten beide die Auffassung, dass das Bewusstsein grundsätzlich von Natur aus klar und rein ist und durch Meditation von allen Befle ckungen befreit werden kann. Beide Abhandlungen bezie hen sich auf die Vorstellung der Buddhanatur, das heißt eines natürlichen Potentials der Vollendung, das allen füh lenden Wesen, auch Tieren, innewohnt. Das sublime Konti nuum und Nagarjunas Lobgesang legen zwei Thesen über die grundsätzliche Verwandlungsfahigkeit des Bewusstseins in einen positiven Zustand vor. Erstens können alle negativen Eigenschaften des Bewusstseins durch die Anwendung ent
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sprechender Gegenmittel aufgelöst werden. Die Verunrei nigungen des Geistes sind demnach nicht dauerhaft und ei genständig, sondern die ursprüngliche Natur des Geistes ist die der Klarheit. Aus wissenschaftlicher Sicht ist dies natür lich eine metaphysische Setzung. Aus dieser ersten These folgt die zweite These, wonach die Fähigkeit zur positiven Verwandlung eine Eigenschaft des Bewusstseins selbst ist. Immer wieder benutzen die Texte über die Buddhanatur Metaphern, um die ursprüngliche Klarheit der grundlegen den Geistesnatur zu illustrieren. Nagarjuna beginnt seinen Lobgesang aufden höchsten Bereich mit einer Folge eindringli cher Bilder, in denen er die ursprüngliche Klarheit des Geis tes von seinen Verunreinigungen und Bedrängnissen ab grenzt. Er vergleicht die ursprüngliche Klarheit mit Butter, die im noch zu schlagenden Rahm ruht, mit einer ÖI lampe, die in einem Krug verborgen ist, mit einer noch un entdeckten Ablagerung von Lapislazuli im Fels, mit einem in seiner Hülse verborgenen Korn. Wenn der Rahm ge schlagen wird, zeigt sich die Butter; wenn der Krug durch löchert wird, strahlt das Licht der Lampe; wenn der Edel stein geborgen wird, verbreitet sich der Glanz des Lapislazuli; wenn die Hülse entfernt wird, kann das Kom sprießen. In gleicher Weise enthüllt sich die ursprüngliche Klarheit des Bewusstseins - die Nagarjuna als höchsten Be reich bezeichnet -, sobald es durch eine nachhaltige Ein sicht in die absolute Natur der Wirklichkeit von seinen Be fleckungen gereinigt wird. Der Lobgesang auf den höchsten Bereich geht sogar noch einen Schritt weiter: So wie unterirdisches Wasser seine Reinheit behält, so ruht selbst inmitten der Bedrängnisse die vollkommene Weisheit eines erleuchteten Geistes. Das
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sublime Kontinuum versucht, die Verdunkelungen der natür lichen Klarheit des Geistes in folgenden Analogien fassbar zu machen: Ein Buddha, der auf einer beschmutzten Lo tosblüte sitzt; Honig, der in einem Bienenstock verborgen ist; ein Goldstück, das in den Schmutz gefallen ist; ein kost barer Schatz, der in der Nachbarschaft eines Bettlers vergra ben liegt; die potentiell ausgereifte Pflanze, die sich in einem neuen Spross verbirgt; eine Buddhastatue, die in einen Teppich gehüllt ist. Diese beiden Klassiker des indischen Buddhismus sind, wie weitere Werke dieses Genres, in einer atmosphärisch
dichten, poetischen Sprache abgefasst und bildeten rur mich einen erfrischenden Kontrast zu den streng logischen, systematischen Abhandlungen der philosophischen Tradi tion des Buddhismus. Buddhisten ziehen aus der Vorstel lung der Buddhanatur - dem Gedanken, dass jeder und jede Einzelne von uns eine natürliche Anlage zur Vollen dung besitzt - eine andauernde und tiefe Inspiration. Mir geht es nicht darum, eine wissenschaftliche Methode zur Überprüfung der Theorie der Buddhanatur vorzuschla gen, sondern ich möchte gewisse Verfahren zur Verände rung des Bewusstseins aufZeigen, die in der buddhistischen Tradition formuliert wurden. Der Buddhismus geht schon lange von einer Theorie aus, die man in den Neurowissen
schaften als "Plastizität des Gehirns« bezeichnet. Die buddhistischen Begriffe, in denen diese Vorstellung gefasst wird, unterscheiden sich grundlegend von denen der Ko gnitionswissenschaft, wichtig ist jedoch, dass beide das Be wusstsein als offen rur Veränderungen betrachten. Das Konzept der Neuroplastizität geht davon aus, dass das Ge hirn weitgehend formbar ist und sich aufgrund von Erfah
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rungen permanent verändert, indem es ständig neue Ver
bindungen zwischen Neuronen herstellt und sogar neue Nervenzellen produziert. Die Forschung hat sich in diesem Zusammenhang vor allem mit Menschen mit besonderen Leistungen beschäftigt, mit Athleten, Schachspielern und Musikern, und konnte nachweisen, dass deren intensives Training sich in Veränderungen im Gehirn widerspiegelt. Dieser Personenkreis weist interessante Parallelen zu Medi tierenden auf, deren Hingabe an ihre Praxis einen ebenso
großen Einsatz an Zeit und Bemühung erfordert und die auf ihrem Gebiet ebenfalls besondere Leistungen erbrin gen. Ein Betrachter, der sein Bewusstsein verändern oder den Geist mit empirischen, introspektiven Mitteln ergründen will, benötigt eine große Auswahl an Mitteln, die er durch sorgsame Wiederholung und Übung verfeinert und präzise und diszipliniert anwendet. Diese Praktiken setzen die Fä higkeit voraus, die Aufmerksamkeit fur eine gewisse Zeit spanne - wie kurz diese auch sein mag - aufein ausgewähl tes Objekt zu richten. Man kann davon ausgehen, dass der Geist durch stetige Gewöhnung lernt, die von ihm speziell eingesetzte Fähigkeit - sei es Aufmerksamkeit, logisches Denken oder Vorstellungskraft - immer mehr zu verbes sern. Schließlich wird diese Aktivität durch die andau ernde, regelmäßige Übung fast zu einer zweiten Natur. Hier ist die Parallele zu Sportlern oder Musikern besonders deutlich. Wir können diesen Prozess aber auch damit ver gleichen, schwimmen oder Fahrrad fahren zu lernen. An fangs ist es sehr schwer, fast unnatürlich, aber wenn man es gelernt hat, ist es plötzlich ganz einfach. Das grundlegende Geistestraining ist die Entwicklung
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von Achtsamkeit, besonders auf der Basis der Atembeob achtung. Achtsamkeit ist unerlässlicb, wenn wir uns die Phänomene unseres Geistes und unserer direkten Umge
bung deutlicb bewusst machen wollen. Normalerweise ist unser Bewusstsein relativ unkonzentriert, und unsere Ge
danken bewegen sich in einer zufalligen und zerstreuten Weise von einem Objekt zum anderen. Indem wir Acht samkeit entwickeln, lernen wir als Erstes, uns dieses Prozes ses der Zerstreutheit bewusst zu werden; dann können wir unser Bewusstsein in einer sanften Weise so einstellen, dass
wir es unabgelenkt auf die Objekte richten, auf die wir uns konzentrieren wollen. Traditionell gilt der Atem als ideales Instrument fur das Üben von Acbtsamkeit. Da wir ein Leben lang unbewusst und ohne uns darum bemühen zu müssen atmen, ist es von großem Vorteil, den Atem als Ob jekt der Achtsamkeitspraxis zu wählen, da er uns immer zur Verfugung steht. Fortgeschrittene Achtsamkeit drückt sich in einer ausgeprägten Sensibilität gegenüber allem aus, was in unserem Geist und unserer näheren Umgebung ge schieht, so unbedeutend es auch erscheinen mag. Die Entwicklung und Anwendung von Aufmerksamkeit ist ein wichtiges Element der Achtsamkeitspraxis. Da viele Kinder, vor allem in den materiell wohlhabenden Ländern, heutzutage an Aufinerksamkeitsstörungen leiden, gibt es, wie man mir sagte, verstärkte Bemühungen, die Aufmerk
samkeit und ihren Entstehungszusammenhang zu erfor schen. Hier könnte der Buddhismus mit seiner langen Ge schichte des Trainings der Aufmerksamkeit einen wicbtigen Beitrag leisten. In der buddhistischen Psychologie wird Aufmerksamkeit als eine Fähigkeit des Bewusstseins ver standen, sich aus der Vielfalt der Sinneseindrücke, die uns
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jeden Moment entgegenkommen, einem bestimmten Ob jekt zuzuwenden. Die komplexen theoretischen Fragen da rüber, worin Aufmerksamkeit eigentlich besteht, müssen uns in diesem Zusammenhang nicht interessieren - also ob es sich dabei um einen einfachen oder komplexen Vorgang bzw. einen bewussten Denkprozess handelt. Vielmehr soll ten wir Aufmerksamkeit als die vorsätzliche Absicht verste hen, uns einem bestimmten Aspekt oder der Eigenschaft eines Objektes zuzuwenden. Der beständige, bewusste Ein satz der Aufmerksamkeit unterstützt uns darin, ein be stimmtes Objekt kontinuierlich im Blickfeld zu behalten. Die bewusste Entwicklung von Aufmerksamkeit ist mit dem Erlernen der Kontrolle unserer mentalen Prozesse di rekt verbunden. Ich bin mir sicher, die meisten jungen Leute, selbst jene, die an Aufinerksamkeitsstörungen lei den, können heutzutage einem spannenden Film folgen, ohne abgelenkt zu werden. Ihr Problem besteht eher darin, ihre Aufmerksamkeit bewusst einzusetzen, sobald mehr als eine Sache geschieht. Ein zweiter Faktor hat mit Gewohn heit zu tun. Je weniger wir damit vertraut sind, unsere Auf merksamkeit einem bestimmten Gegenstand zuzuwenden und dort verweilen zu lassen, umso mehr müssen wir uns darum bemühen, dies bewusst zu tun. Durch die Gewohn heit einer regelmäßigen Übung werden wir von einem be wussten Bemühen jedoch immer unabhängiger. Aus Erfah rung wissen wir, dass wir Aufgaben, die uns anfangs sehr schwierig erscheinen, nach regelmäßiger Übung fast auto matisch vollziehen. Die buddhistische Psychologie lehrt uns, dass eine kontinuierliche, konzentrierte Übung den Einsatz der Aufmerksamkeit, der anfangs noch großer Be mühungen bedarf, mit der Zeit zu einer Fähigkeit werden
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lässt, bei der wir uns zwar noch anstrengen müssen, die schließlich jedoch mühelos und spontan verläuft. Die auf einen Punkt gerichtete oder eins gerichtete Kon zentration ist eine weitere Praxis, die der Entwicklung von
Aufmerksamkeit dient. Dazu wählt der Betrachter ein äu ßeres oder inneres Objekt, dessen Bild er leicht in sich wachrufen kann. Danach lenkt er die Aufmerksamkeit be wusst auf dieses Objekt der Betrachtung und versucht, diese Aufmerksamkeit so lange wie möglich zu erhalten. in dieser Praxis kommen vor allem zwei Eigenschaften zur Anwendung: Achtsamkeit (die das Bewusstsein an das Ob jekt bindet) und eine introspektive Wachsamkeit, mit der wir darauf achten, ob das Bewusstsein abgelenkt ist und die Klarheit der Betrachtung nachgelassen hat. Die einsgerich tete Konzentration entwickelt vor allem zwei Eigenschaf ten des geübten Geistes: Stabilität oder andauernde Auf merksamkeit sowie Klarheit oder Lebendigkeit, mit der das Bewusstsein ein Objekt wahrnimmt. Der oder die Praktizie rende muss sich dabei aber auch in Gelassenheit üben, um die introspektive Betrachtung des Objekts nicht zu intensiv werden zu lassen, da dies entweder das Objekt verzerren oder die Konzentration des Geistes aus dem Gleichgewicht bringen würde. Sobald der Praktizierende bemerkt, dass er in seiner in trospektion abgelenkt ist, muss er den Geist behutsam er neut dem Objekt zuwenden. Anfangs wird die Zeitspanne zwischen der Ablenkung und dem Bewusstwerden der Zer streuung möglicherweise relativ groß sein, doch mit regel mäßiger Übung wird sie immer kürzer werden. in ihrer ent wickelten Form befahigt diese Praxis den Betrachter, lange bei dem gewählten Objekt zu verweilen und alle Verände
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rungen zu bemerken, die sich möglicherweise ereignen Veränderungen im Objekt, aber auch Veränderungen des Bewusstseins. Darüber hinaus entwickelt der oder die Prak tizierende dadurch eine mentale Flexibilität, durch die das Bewusstsein sehr funktionsHihig wird und ungehindert auf jedes Objekt gelenkt werden kann. Dieser Zustand wird als die Verwirklichung des ruhigen Verweilens des Geistes be schrieben (SkI.: shamata; Tib. : shi ne). In buddhistischen Meditationsanleitungen wird behaup tet, erfahrene Praktizierende könnten diese Technik zu einer solchen Vollendung fuhren, dass sie ihre Aufmerk samkeit unabgelenkt fur mehrere Stunden halten können. Ich kannte einen tibetischen Meditierenden, der diesen Zustand verwirklicht habe n soll. Leider ist er mittlerweile gestorben. Es wäre interessant gewesen, ihn mit den hoch entwickelten Geräten in Richard Davidsons Labor zu un tersuchen. Ein viel versprechendes Projekt der Aufmerk samkeitsforschung, die sich in der Psychologie des Westens gerade entwickelt, wäre die Untersuchung solcher Fälle vor dem Hintergrund der vorherrschenden Annahme der Wis senschaft, dass die maximale Aulinerksamkeitsspanne nur wenige Minuten betragen kann. Diese meditativen Praktiken lassen das Bewusstsein ruhig und diszipliniert werden, doch wenn es unser Ziel sein soll, tiefer in das Objekt der Betrachtung vorzudringen, brau chen wir mehr als einen konzentrierten Geist. Wir müssen
dazu noch die Fähigkeit erwerben, Wesen und Eigenschaf ten eines Objekts mit größtmöglicher Präzision zu untersu chen. Diese zweite Ebene der Übung wird in der buddhis tischen Literatur als Einsicht (Skt.: vipashyana; Tib.: lhak thang) beschrieben. Im ruhigen oder stillen Verweilen liegt
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die Betonung auf der Aufrechterhaltung der Konzentra tion, ohne abgelenkt zu werden, und man versucht, die Einsgerichtetheit des Geistes zu verwirklichen. In der Praxis der Einsicht liegt die Betonung auf einer kritischen Unter suchung und Analyse, ohne dabei die Einsgerichtetheit des Geistes zu verlieren.
Der indische buddhistische Meister Kamalashila, der im 9. Jahrhundert lebte, gibt in seinem klassischen Werk Stu fen der Meditation (Skt.: Bhavana-krama) einen ausfiihrli ehen Überblick über die systematische Enrwicklung von stillem Verweilen und Einsicht. Beide Praktiken werden miteinander verbunden, um das Verständnis bestimmter Eigenschaften der Wirklichkeit so zu vertiefen, dass sich durch das Verstehen unsere Gedanken, unsere Emotionen und unser Verhalten verändern. Kamalashila betont vor allem die Wichtigkeit, eine feine Balance zwischen einsge richteter Konzentration und zielgerichteter Analyse auf rechtzuerhalten. Dieser Punkt ist sehr entscheidend, da die Gefahr besteht, dass diese unterschiedlichen mentalen Pro zesse sich gegenseitig beeinträchtigen. In der einsgerichte ten Konzentration auf ein Objekt muss der Geist bewe gungslos mit dem Gegenstand verschmolzen sein, Einsicht setzt jedoch eine gewisse zielgerichtete Aktivität voraus, bei der das Bewusstsein von einer Eigenschaft des Objektes zur nächsten wandert.
Wenn wir die Absicht haben, Einsicht zu entwickeln, rät Kamalashila uns, unsere Betrachtung mit größtmöglicher Klarheit zu beginnen, um den Geist danach so lange wie möglich einsgerichtet in der sich daraus ergebenden Ein sicht ruhen zu lassen. Sobald die Intensität der Einsicht nachlässt, empfiehlt er, mit dem analytischen Prozess neu
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zu beginnen. Dieses alternierende Verfahren kann zu einem höheren geistigen Leistungsvermögen fUhren, in dem Analyse und Konzentration relativ mühelos werden. Wie in jeder anderen Disziplin auch, können gewisse In strumente Forschende darin unterstützen, sich aufihre Un tersuchung zu konzentrieren. Da subjektive Erfahrungen aufgrund von Phantasien und Irrtümern leicht eine falsche Richtung einschlagen, wurden strukturierte Analysemetho den entwickelt, um die kontemplative Untersuchung zu steuern. So werden bestimmte Themen der Betrachtung vorgeschlagen, auf die sich Meditierende konzentrieren können. Eines dieser Themen ist die unbeständige Natur unserer eigenen Existenz. Unbeständigkeit gilt im Buddhis mus als wertvolles Meditationsthema, denn obwohl wir sie intellektuell vielleicht verstehen, handeln wir meist nicht so, als hätten wir diese Einsicht in unser Bewusstsein inte
griert. Erst in der Verbindung von Analyse und Konzentra tion wird diese Erkenntnis in uns lebendig werden und kaml uns die Kostbarkeit eines jeden Augenblicks unserer Existenz bewusst machen. Dazu betrachten wir in einem Zustand der Ruhe anfangs achtsam unseren Körper und Atem und werden auf die subtilen Veränderungen aufmerksam, die sich in Körper und Geist während einer Meditationsperiode, sogar zwi schen einem Ein- und Ausatmen ergeben. Auf diese Weise entwickelt sich eine auf Erfahrung beruhende Einsicht da rüber, dass nichts in unserer Existenz statisch und unwan
delbar ist. Sobald wir diese Praxis verfeinern, wird unsere Einsicht in diese Veränderungen immer präziser und dyna mischer werden. Ein möglicher Ausgangspunkt ist die kon templative Betrachtung des komplexen Netzwerks der Be
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dingungen, die uns am Leben erhalten; wir werden da durch die Zerbrechlichkeit unserer Existenz tiefer zu würdi gen wissen. Oder aber wir widmen uns einer direkten Be trachtung unserer körperlichen Prozesse und Funktionen, insbesondere des Alterns und des Verfalls. Ich kann mir vorstellen, dass Meditierende, die über ein umfassendes biologisches Wissen verfugen, in dieser Praxis vielfaltige Er fahrungen machen werden. Über viele Jahrhunderte wurden diese Gedankenexperi mente wiederholt, und die Ergebnisse, die sie zeitigen, wur den durch Tausende bedeutende Meditierende immer wie der bestätigt. Die Wirksamkeit buddhistischer Praktiken wird immer wieder überprüft und von vertrauenswürdigen
Personen bestätigt, bevor sie zu Instrumenten der Medita tion werden.
Wenn unser Ziel darin besteht, die Perspektive der ersten Person in die wissenschaftliche Methode zu integrieren, um damit einen neuen Ansatz zur Erforschung des Be wusstseins zu entwickeln, müssen wir diese Praxis glückli cherweise nicht stundenlang ausüben. Es genügt, beide Techniken - Einsgerichtetsein und Untersuchung - bis zu einem gewissen Grad miteinander zu verbinden. Diszipli nierte Übung ist dabei der Schlüssel. Jeder Physiker muss eine Ausbildung durchlaufen und gewisse Kompetenzen entwickeln: mathematische Fähigkeiten, den Gebrauch be stimmter Instrumente, das Unterscheidungsvermögen, zu erkennen, ob ein Experiment richtig angelegt ist und seine Ergebnisse die Hypothese bestätigen, das Fachwissen, um vergangene Experimente beurteilen zu können. Diese Fä higkeiten können nur über einen langen Zeitraum erwor ben und entwickelt werden. Jemand, der die Fertigkeiten
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der Methoden der ersten Person entwickeln möchte, muss darur iu etwa genauso viel Zeit und Anstrengung auf sich nehmen. Ich möchte betonen, dass der Erwerb mentaler Fertigkeiten, ähnlich der Ausbildung eines Physikers, eine Frage des Wollens und des konzentrierten Bemühens ist; es ist ganz sicher kein mystisches Geschenk rur einige wenige. Die buddhistische Tradition kennt noch viele weitere Meditationsformen, darunter eine Fülle von Praktiken, die sich der Visualisierung und Imagination bedienen, sowie
verschiedene Techniken, bei denen die Lebensenergien des Körpers benutzt werden, um stufenweise tiefere und subti lere Ebenen des Bewusstseins zugänglich zu machen, die sich durch eine zunehmende Freiheit von konzeptuellen Konstruktionen auszeichnen. Diese Bewusstseinszustände
und Praktiken sind vielleicht ein interessanter Forschungs gegenstand, da sie uns auf unbekannte Kapazitäten und Po tentiale des menschlichen Geistes aufmerksam machen könnten. Für die Meditationsforschung könnte es sehr interessant sein, sich mit dem zu beschäftigen, was in der tibetischen Tradition als die Erfahrung des klaren Lichts beschrieben wird. Dabei handelt es sich um eine äußerst subtile Ebene des Bewusstseins, die sich in allen Menschen zum Zeit punkt des Todes kurzfristig zeigt. Ähnliche kurze Augen blicke dieses Zustands können während anderer Zeiten in natürlicher Weise auftreten, während des Niesens zum Beispiel, in Ohnmacht, tiefem Schlaf und beim sexuellen Höhepunkt. Dieser Geisteszustand zeichnet sich durch ab solute Spontaneität und die Abwesenheit eines Ich-Be wusstseins oder eines Festhaltens am Ich aus. Erfahrene Praktizierende können diesen Zustand durch meditative
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Techniken bewusst hervorrufen. Wenn das klare Licht im Moment des Todes in natürlicher Weise erscheint, sind diese Personen in der Lage, länger darin zu verweilen und dabei die Achtsamkeit aufrechtzuerhalten. Ling Rinpoche, mein persönlicher Lehrer, verweilte drei zehn Tage im klaren Licht des Todes. Obwohl er klinisch bereits tot war und aufgehört hatte zu atmen, ruhte er in der Meditationshaltung und sein Körper zeigte keinerlei Anzeichen des Zerfalls. Ein anderer vollendeter Meditie render blieb siebzehn Tage lang in diesem Zustand und das in der tropischen Hitze im Hochsommer in Indien. Es wäre interessant, herauszufinden, was in dieser Zeit auf der physiologischen Ebene geschieht und ob es noch zu nach weisbaren biochemischen Prozessen kommt. Als Richard Davidsons Gruppe nach Dharamsala kam, war sie sehr daran interessiert, dieses Phänomen zu erforschen. Doch starb damals - ich weill nicht, ob ich sagen soll, glücklicher oder unglücklicherweise - kein Meditierender. Diese Praktiken sind jedoch nicht wirklich wichtig, so lange es allein um einen Beitrag zur Entwicklung einer wis senschaftlichen Methode geht, die auf einer strengen An wendung der Perspektive der ersten Person beruht. Wenn wir uns darin üben wollen, das eigene Bewusstsein zum For
schungsgegenstand aus der Sicht der ersten Person zu ma chen, müssen wir den Geist zuallererst stabilisieren. Dazu ist es sehr hilfreich, sich aufmerksam der reinen Gegenwart zuzuwenden. Das Ziel dieser Praxis ist eine kontinuierliche Übung, die es uns ermöglicht, den Geist ohne jede Ablen kung auf die direkte, subjektive Erfahrung des Bewusstseins zu lenken. Wir können dies folgendermallen tun: Bevor wir mit einer formalen Meditationssitzung begin
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nen, nehmen wir uns bewusst vor, den Geist weder durch
Erinnerungen an vergangene Erfahrungen noch durch Hoffnungen, Vorgriffe und Ängste über zukünftige Ereig nisse ablenken zu lassen. Dazu geben wir uns das still schweigende Versprechen, den Geist nicht zum Nachden ken über die Vergangenheit und Zukunft zu verleiten, sondern konzentriert in der Aufmerksamkeit auf die Ge genwart zu verweilen. Das ist sehr wichtig, da unsere alltäg liche Geistesverfassung immer an Erinnerungen, an Spuren
der Vergangenheit oder an Hoffnungen und Ängsten im Hinblick aufdie Zukunft gebunden ist. Meist leben wir ent weder in der Vergangenheit oder in der Zukunft, aber nur selten wirklich in der Gegenwart. Während einer formalen Meditationssitzung kann es hilfreich sein, sich mit dem Ge sicht vor eine Wand zu setzen, doch sollte diese nicht mit kontrastreichen Farben oder Mustern bedeckt sein, damit wir nicht abgelenkt werden. Eine gedämpfte Farbe, ein mattes Weiß oder Beige zum Beispiel, schafft einen einfa chen Hintergrund und ist zweckmäßig. Während der Me ditation ist es wichtig, sich nicht zu sehr anzustrengen. Wir
sollten einfach nur den Geist beobachten, der in seinem na türlichen Zustand ruht. Nachdem wir uns zur Meditation niedergesetzt haben, werden wir bemerken, dass allerlei Gedanken im Bewusst sein auftauchen, wie die sprudelnde Quelle eines andau ernden inneren Plapperns oder die Hektik endloser Ver kehrsströme. Diese Gedanken sollten wir nicht behindern, wir lassen sie ganz einfach auftauchen, egal, ob wir sie für heilsam oder unheilsam halten. Wir fördern sie nicht und unterdrücken sie nicht und wir sollten sie auch nicht bewer ten. Jede dieser Reaktionen würde nur zu einem weiteren
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Ausufern unserer Gedanken führen; sie sind der Brenn stoff, der die Kettenreaktion in Gang hält. Wir müssen nur unsere Gedanken beobachten. Wie Blasen, die sich auf der Wasseroberfläche bilden und zerplatzen, taucht das diskur sive Denken im Bewusstsein auf und löst sich darin auch wieder auf. Nach und nach werden wir inmitten des inneren Geplap pers etwas bemerken, das wie eine reine Abwesenheit wirkt, ein Geisteszustand ohne speziellen, bestimmbaren Inhalt. Anfangs werden solche Zustände vielleicht nur flüchtige Er fahrungen sein. Doch sobald sich diese Praxis festigt, wer den diese Intervalle zwischen der normalen, kontinuierli chen Entfaltung unserer Gedanken größer werden. Wenn dies geschieht, bietet sich ein günstiger Moment, in der eigenen Erfahrung das zu erkennen, was in der buddhis tischen Definition des Bewusstseins als »leuchtend und wis send« beschrieben wird. So werden Meditierende nach und nach fahig, die grundlegende Erfahrung des Bewusstseins im eigentlichen Sinne zu »erfassen« und zum Objekt der meditativen Untersuchung zu machen. Bewusstsein ist ein nur schwer zugängliches Objekt; es un terscheidet sich damit von materiellen Objekten wie zum Beispiel biochemischen Prozessen. Doch seine Flüchtigkeit teilt es durchaus mit gewissen Phänomenen der Physik oder der Biologie wie etwa den Elementarteilchen oder den Genen. Heutzutage, da die Abläufe und Arbeitsverfahren für deren Erforschung allgemein etabliert sind, scheinen uns diese Dinge vertraut und unumstritten. Ihre Erfor schung beruht einzig und allein auf der Beobachtung ganz gleich, vor welchem philosophischen Hintergrund ein Wissenschaftler ein Experiment durchfuhrt, letztendlich
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werden die empirischen Beweise und die Phänomene selbst darüber bestimmen, was wirklich ist. Das Gleiche gilt fur die Untersuchung des Bewusstseins. Unabhängig von unseren philosophischen Anschauungen über die Natur des Be wusstseins - ob es letztendlich materiell begründbar ist oder nicht - können wir lernen, das eigentliche Phänomen durch eine präzise subjektive Methode zu betrachten, einschließ lich seiner Funktionen und kausalen Dynamik. Auf dieser Grundlage stelle ich mir eine Erweiterung des Rahmens der Wissenschaft vom Bewusstsein vor, durch die wir unser kollektives Wissen über den menschlichen Geist in wissenschaftlicher Weise bereichern können. Francesco Varela erzählte mir einmal, der europäische Philosoph Edmund Husserl habe bereits einen ähnlichen Ansatz zur Erforschung des Bewusstseins vorgeschlagen. Husserl be schrieb eine Methode, bei der man vom eigenen Erleben ausgeht, ohne in die Untersuchung den Bereich der eige nen metaphysischen Vorannahmen einzubringen. Diese Me.thode nannte er das »Ausklammern der Metaphysik« aus der phänomenologischen Untersuchung. Das bedeutet natürlich nicht, dass der Einzelne keine philosophische Haltung einnehmen darf, doch zum Zwecke der Analyse sollte er oder sie diese beiseite legen. Tatsächlich findet eine gewisse Art von Ausklammern in der Wissenschaft bereits statt.
So hat zum Beispiel die Biologie große Fortschritte im wissenschaftlichen Verständnis des Lebens zu verzeichnen. Sie hat seine unterschiedlichen Erscheinungsformen und Bestandteile beschrieben, auch wenn die theoretische und philosophische Frage danach, was Leben eigentlich ist, wei terhin unbeantwortet bleibt. Ähnlich verhält es sich mit
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den erstaunlichen Leistungen der Physik. Trotz der Er kenntnisse der Quantenmechanik haben wir weiterhin keine klare Antwort auf die Frage: ..Was ist die Wirklich keit?«, und viele theoretische Fragen, die sich aus ihrer In terpretation ergeben, bleiben unbeantwortet. Ein gewisses Maß an Erfahrung mit den beschriebenen Techniken des Geistestrainings (oder auch mit anderen) oder sogar deren systematische Einübung, muss meiner Meinung nach zu einem festen Bestandteil der Ausbildung von Kognitionswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern werden, wenn die Wissenschaft ernsthaft darum bemüht sein will, breit gefacherte Methoden fur eine umfassende Erforschung des Bewusstseins zu entwickeln. Ich teile Vare las Ansicht, nach der die wissenschaftliche Betrachtung des Bewusstseins nur dann zur Reife gelangen kann, wenn sie aufgrund der subjektiven Natur ihres Gegenstandes - eine entwickelte und strenge Methode eines Empirismus aus der Perspektive der ersten Person einbezieht. Gerade hier, glaube ich, können bewährte kontemplative Traditionen wie der Buddhismus einen unschätzbaren Beitrag zur Be reicherung der Wissenschaft und ihrer Methoden leisten. Darüber hinaus gibt es sicherlich auch in der philosophi schen Tradition des Westens reichhaltige Quellen, die der Wissenschaft dabei helfen können, Untersuchungsmetho den aus der Perspektive der ersten Person zu entwickeln. Vielleicht könnten wir so unseren Horizont erweitern, um zu einem besseren Verständnis des Bewusstseins zu gelan
gen - dieser zentralen Qualität der menschlichen Existenz.
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Das Spektrum des Bewusstseins In der aufstrebenden Wissenschaft vom Bewusstsein sowie in der Erforschung des Geistes und seiner verschiedenen Modalitäten folgen Buddhismus und Kognitionswissen schaften unterschiedlichen Ansätzen. Die Kognitions wissenschaften nähern sich ihrem Forschungsgebiet vor nehmlich durch die Erforschung neurobiologischer Strukturen und biochemischer Prozesse im Gehirn, wäh rend der Buddhismus das Bewusstsein überwiegend aus einer Perspektive der eigenen inneren Erfahrung - der ers ten Person - betrachtet. Ein Dialog zwischen beiden Dis ziplinen könnte einen neuen Weg für die Untersuchung des Bewusstseins eröffnen. Der zentrale Ansatz des Buddhismus besteht aus einer Kombination von medita tiver Kontemplation - die als eine phänomenologische Erforschung bezeichnet werden könnte -, empirischer Be obachtung menschlicher Motivationen, wie sie sich in Emotionen, Denkmustern und in unserem Verhalten zei gen, sowie kritischer philosophischer Analyse. Die buddhistische Psychologie strebt nicht danach, den Aufbau des Geistes zu katalogisieren oder die Funkrionen des Bewusstseins systematisch darzulegen. Ihr grundsätzli ches Anliegen gilt vielmehr der Überwindung des Leidens, insbesondere der psychischen und emotionalen Bedräng nisse, und der Frage, wie diese aufgelöst werden können. In den klassischen buddhistischen Q1lellen gibt es drei unter
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schiedliche Disziplinen, die sich der Betrachtung des Be wusstseins widmen. Der Abhidharma setzt den Akzent auf die Untersuchung der kausalen Prozesse der vielfaltigen mentalen und emotionalen Befindlichkeiten, der subjekti ven Erfahrung dieser Prozesse und ihrer Auswirkungen auf unser Denken und Verhalten. Diese Disziplin entspricht in etwa der Psychologie (einschließlich kognitiver Therapie) und der Phänomenologie. Die zweite Disziplin ist die buddhistische Erkenntnistheorie. Sie analysiert das Wesen und die Eigenschaften der Wahrnehmung, des Wissens und der Beziehung zwischen Sprache und Denken, um einen theoretischen Rahmen ftir das Verständnis der ver schiedenen Aspekte des Bewusstseins - Gedanken, Emo tionen und so weiter - zu entwickeln. Das Vajrayana schließlich benutzt Visualisierungen, Gedanken, Emotio nen und verschiedene körperliche Techniken (Yoga-Übun gen zum Beispiel) in einer intensiven meditativen Bemü hung, um heilsame Daseinsweisen zu verstärken und schädliche Geisteszustände in positive zu verwandeln. Ziel des Vajrayana ist es nicht, das Bewusstsein als eine unab hängige, permanente Entität zu entdecken, sondern die Natur des alltäglichen Geistes zu verstehen und ihn in einen ungetrübten, klaren Zustand zu verwandeln. Der Buddhismus erforscht das Bewusstsein durch eine Untersuchung der Funktionen und Modalitäten des Geis tes und seiner kausalen Dynamik. Genau darin liegt die Schnittstelle der buddhistischen Auffassung und des wis senschaftlichen Ansatzes, da beide auf einer empirischen Grundlage beruhen. In meiner Kindheit begegneten mir die Lehren über die verschiedenen Aspekte des Bewusstseins, als ich in 10 rig
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eingefUhrt wurde, ein Begriff, der wörtlich mit "Bewusst heit und Einsicht« übersetzt werden kann. Diese Thematik wird Mönchen in der Ausbildung gelehrt - übliclierweise im Alter von neun oder zelin Jaliren, kurz nach ihrer Ordi nation als Novize, die im achten Lebensjahr stattfindet. Anfangs ließen mich meine Hauslehrer - damals war das vor allem Ling Rinpoche - bestimmte Arbeitshypothesen über die Natur mentaler Ereignisse und die Hauptgruppen kognitiver und emotionaler Zustände auswendig lernen. Auch wenn ich zu jener Zeit noch nicht genau verstehen konnte, was damit gemeint war, wusste ich doch, dass der Buddhismus das Mentale, im Gegensatz zum Materiellen, als das Subjektive definiert. Für materielle Objekte ist cha rakteristisch, dass sie eine räumliche Ausdehnung haben und sich gegenseitig behindern können. Mentale Phäno mene hingegen müssen in ihrem zeitlichen Ablauf und ihrer empirischen Natur gesehen werden.
Ich habe mich lange mit den Unterschieden zwischen Sinneserfahrungen und mentalen Erfahrungen beschäftigt. Ein definierendes Merkmal der Sinneserfahrung ist ihre Abhängigkeit von bestimmten Sinnesorganen - Auge, Ohr und so weiter. Sinneseindrücke unterscheiden sich vonei nander und gehören einem genau umrissenen Bereich an
das Auge kann keinen Klang wahrnehmen, das Ohr keinen Geschmack. Schon die frühen buddhistischen Denker, unter ihnen Vasubandhu und Dharmakirti, bemerkten die bedeutenden Unterschiede in den raum-zeitlichen Prozes sen, die der Wahrnehmung der Objekte der verschiedenen Sinnesbereiche unterliegen. Die visuelle Wahrnehmung eines Objekts ist aus großer Entfernung möglich, das Hören eines Klangs aus einer geringeren Distanz, und die
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Erfahrung eines bestimmten Geruchs wird aus noch kürze rem Abstand gemacht. Die bei den verbliebenen Sinne schließlich - die für unsere Geschmacks- und Tasterfahrun gen verantwortlich sind - setzen den direkten Kontakt von Sinnesorgan mit dem ihm entsprechenden Objekt voraus. Ich nehme an, in der Wissenschaft würde man diese Unter schiede durch die verschiedenen Arten und Weisen be schreiben, in der materielle Objekte Photonen und Schall wellen aussenden und damit die Sinnesorgane reizen. Ein definierendes Merkmal der mentalen Erfahrung ist ihre Unabhängigkeit von physischen Sinnesorganen. Die mentale Erfahrung, die zusätzlich zu den fünf Sinnen einen sechsten Bereich umfasst, ist für die buddhistische Bewusstseinstheorie nichts Geheimnisvolles oder Rätsel haftes. Wenn wir eine schöne Blume betrachten, gehört die unmittelbare Wahrnehmung ihrer Fülle, Farbe und Gestalt zur visuellen Erfahrung. Wenn wir sie länger betrachten, reihen sich Momente derselben visuellen Wahrnehmung aneinander. Doch sobald in unserer Wahrnehmung ein Ge danke auftaucht - wenn wir uns zum Beispiel auf eine be stimmte Qualität der Blume konzentrieren, die Leuchtkraft ihrer Farbe oder wie ihr Stiel gebogen ist -, haben wir das mentale Bewusstsein aktiviert. Das mentale Bewusstsein umfasst die gesamte Skala so genannter Denkprozesse einschließlich der Erinnerung, der Wiedererkennung, des Unterscheidungsvermögens, der Intentionalität und Wil lenskraft, des konzeptuellen und abstrakten Denkens und des Träumens. Sinneserfahrungen sind direkt und umfassend. Wir rie chen den Duft der Rose, sehen ihre Farbe, spüren den Stich ihrer Dornen, ohne dass ein bewusster Gedanke in die Er
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fahrung eintritt. Gedanken agieren demgegenüber selektiv; sie sind manchmal sogar merkwürdig willkürlich, indem sie einen bestimmten Aspekt eines Gegenstandes herausgrei fen. Während wir die Rose betrachten, stellen sich viel leicht unaufgefordert Gedanken ein: Ihr Geruch ist leicht zitrushaft und erfrischend, die Farbe ein beruhigendes blas ses Rosa, die Domen spitz und sollten gemieden werden. Die konzeptuelle Wahrnehmung nähert sich darüber hi naus den Objekten über ein Medium wie Sprache oder durch Konzepte. Wenn wir die wunderbare Farbe einer Blüte sehen, die roten Rhododendren zum Beispiel, die im Frühling die Hügel um Dharamsala überziehen, machen wir eine reiche, aber zugleich auch undifferenzierte Erfah rung. Sobald Gedanken über die Eigenschaften der Blu men auftauchen, Gedanken wie »sie duften wunderbar«, »es sind wirklich große Blüten«, wird die Erfahrung enger, aber gleichzeitig auch konzentrierter. Eine ausgezeichnete Analogie, mit der vor allem jünge ren Schülerinnen und Schülern dieser Sachverhalt nahe ge bracht wird, ist das Halten einer Teetasse. Sinneserfahrung gleicht dem Halten der Tasse mit bloßen Händen, Denken ist so, als berührte man die Tasse mit Händen, die in ein Tuch gehüllt sind. Der qualitative Unterschied zwischen beiden Erfahrungen ist offensichtlich. Das Tuch ist eine Metapher fur Konzepte und Sprache, die zwischen Be trachter und Objekt liegen, sobald das Denken aktiviert wird. In der buddhistischen Erkenntnistheorie gibt es ausführ liche Analysen über den Zusammenhang von Sprache und Denken, die sich im größeren Kontext einer Auseinander setzung mit nicht-buddhistischen philosophischen Schu
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len entwickelt haben. Zwei der einflussreichsten buddhisti schen Denker auf diesem Gebiet waren die indischen Logi ker Dignaga und Dharmakirti im 5. und 7. Jahrhundert u. Z. Während meiner Ausbildung in Logik und Erkenntsnis theorie musste ich wichtige Passagen aus Dharmakirtis be rühmtem Werk Darlegungdergültigen Erkenntnis (Skt.: Prama navarttika) auswendig lernen. Es handelt sich dabei um eine in Versen abgefasste philosophische Abhandlung, die ftir ihre dichte literarische Sprache bekannt ist. Mir ist be wusst, dass sich die Philosophie des Westens mit der Bezie hung von Sprache und Denken sowie mit der grundlegen den Frage, ob Denken gänzlich von Sprache abhängig ist, ebenfalls stark auseinander gesetzt hat. Buddhistische Den ker erkennen zwar ebenfalls den direkten Zusammenhang von Sprache und Denken im Menschen, bejahen aber auch die Möglichkeit von nichtsprachlichen Gedanken - in Tie ren zum Beispiel, deren Denken auf rudimentären Kon zepten beruhen soll, aber nicht auf Sprache, so wie wir sie kennen. Es erstaunte mich festzustellen, dass die moderne Psy chologie des Westens keine entwickelte Vorstellung von einem sinnesunabhängigen mentalen Wahrnehmungsver mögen hat. Wie ich weiß, weckt der Begriff"sechster Sinn« bei vielen Menschen gewisse Vorstellungen von paranor malen psychischen Fähigkeiten. Buddhisten bezeichnen damit jedoch einfach nur den Bereich des Mentalen, ein schließlich der Gedanken, Emotionen, Absichten und Konzepte. Dem westlichen Denken scheint die Vorstellung einer Bewusstseinsebene zu fehlen. auf der rein mentale Phänomene wahrgenommen werden, auch wenn dies mit solchen Konzeptionen wie der Seele durch die Theisten
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oder dem Ich in der Psychoanalyse immer wieder versucht wurde. Mentale Phänomene umfassen ein breites Spek trum kognitiver Erfahrungen, Gedächtnisleistungen und Erinnerungen, die aus buddhistischer Sicht eine andere Qualität aufWeisen als unsere Sinneserfahrungen. Da das neurobiologische Modell der Sinneswahrneh mung und Kognition diese Prozesse durch chemische und biologische Vorgänge im Gehirn zu erklären versucht, ver stehe ich, dass es aus wissenschaftlicher Sicht nicht notwen dig ist, einen qualitativen Unterschied zwischen sensori schen und konzeptuellen Abläufen zu machen. Mittlerweile hat die Neurobiologie die visuelle Wahrnehmung in einem Gehirnareallokalisiert, das auch bei rein mentalen Visuali sierungen aktiv ist. Was das Gehirn betrifft, scheint es dem nach keinen Unterschied zu machen, ob wir etwas mit unse ren physischen Augen oder unserem »inneren Auge« wahrnehmen. Aus buddhistischer Sicht lässt das neurobio logische Modell jedoch eine wichtige Eigenschaft mentaler Vorgänge außer Acht - das subjektive Erleben. Im klassischen erkenntnistheoretischen Modell des Buddhismus wird dem Gehirn keine herausragende Stel lung rur die Erklärung kognitiver Prozesse, wie zum Bei spiel der Wahrnehmung, eingeräumt. Bedenkt man den Stellenwert des Empirismus in der buddhistischen Philoso phie, aber auch das detaillierte anatomische Wissen der alten indischen Medizin, ist es eigentlich erstaunlich, dass die Rolle des Gehirns als zentrales Organisationsprinzip des Körpers - insbesondere, was die Wahrnehmung be trifft - nicht deutlicher erkannt wurde. Im Vajrayana Buddhismus wird jedoch von einem Energiekanal gespro chen, der sich am Scheitelpunkt des Kopfes befinden und
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für die Steuerung unserer subjektiven Erfahrungen verant wortlich sein soll. Eine erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Buddhis mus und Neurowissenschaften kann ich mir in der Erfor schung der Wahrnehmung und Kognition vorstellen. Dabei würde der Buddhismus viel über den Zusammen hang zwischen Hirntätigkeit und mentalen Prozessen ler nen - über neurologische und biochemische Abläufe, die Ausformung synaptischer Verbindungen, die Beziehungen zwischen bestimmten kognitiven Zuständen und spezifi schen Arealen des Gehirns. Darüber hinaus halte ich das medizinische und pharmakologische Wissen, das aus einer Erforschung der Vorgänge in verletzten Gehirnteilen und der Kenntnis über die Wirkung bestimmter Substanzen ge wonnen wird, für äußerst wertvoll. Während einer »Mind and Life«-Konferenz zeigte mir Francesco Varela einige mithilfe der Kemspintomografie er stellte Aufuahmen von horizontalen QIerschnitten eines Gehirns. Einzelne Gehirnareale waren farbig markiert, um auf neuronale und chemische Aktivitäten aufmerksam zu machen, die bestimmten Sinneserfahrungen entsprechen. Diese Aufnahmen basierten auf Experimenten, in denen einzelne Personen vieWiltigen Sinnesreizen (Musik zum Beispiel oder visuellen Objekten) ausgesetzt waren und in unterschiedlichen Reaktionen (mit offenen und geschlosse nen Augen) untersucht wurden. Es war sehr überzeugend, die enge Verbindung zwischen den mess- und sichtbaren Veränderungen im Gehirn und spezifischen Sinneswahr nehmungen zu sehen. Das fantastische Leistungsvermögen der Wissenschaft beruht auf der technischen Präzision von Instrumenten, die solche Experimente möglich machen.
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Sobald präzise objektive Untersuchungen mit emer ge nauen Betrachtung aus der Sicht der ersten Person verbun den werden, könnte sich eine noch umfassendere Methode zur Erforschung des Bewusstseins ergeben. Der buddhistischen Erkenntnistheorie zu folge gibt es eine Grenze der Wahrnehmung von Objekten, die im menschlichen Bewusstsein selbst angelegt ist. Einerseits ist diese Grenze eine zeitliche, da der alltägliche Geist, der in der bewussten Anwendung meditativer Aufmerksamkeit nicht geschult ist, einen Vorgang nur über eine bestimmte Zeitspanne hinweg wahrnehmen kann - traditioneller weise spricht man von der Dauer eines Fingerschnipsens oder eines Wimpernschlags. Ereignisse von kürzerer Dauer hinterlassen zwar einen Eindruck, wir können uns aber nicht bewusst an sie erinnern. Ein weiteres Merkmal menschlicher Wahrnehmung ist unser Bedürfnis, alle Dinge allein in ihrer zusammengesetzten Natur zu begrei fen. Wenn ich eine Vase betrachte, sehe ich ihre gewölbte Form, einen Fuß und Verzierungen. Was ich nicht wahr nehme, sind ihre einzelnen Atome, Moleküle und der Raum zwischen ihnen, also das, woraus sich das von mir betrachtete Phänomen zusammensetzt. Im Prozess der Wahrnehmung spiegelt sich demnach nicht bloß eine äu ßere Erscheinung wider, sondern es findet immer ein kom plexer Strukturierungsprozess statt, der einer theoretisch unbegrenzten Menge an Infonnationen erst ihren Sinn verleiht. Dieser kreative Strukturierungsprozess findet auch auf der zeitlichen Ebene statt. Selbst wenn wir ein Ereignis nur für die Dauer eines Fingerschnipsens wahrnehmen, eine Zeitspanne, die in Wirklichkeit aus unzähligen zeitlichen
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Einheiten zusammengesetzt ist, fassen wir diese »Mo mente« in einem einzigen Kontinuum zusammen. Ein
schönes Bild rur diesen Vorgang, das von Dharmakirti be schrieben wurde und den Schülern der tibetischen Kloster universitäten beigebracht wird, ist das einer Fackel, die bei Dunkelheit im Kreis geschwungen wird_ Ein Beobachter sieht einen leuchtenden Kreis, doch wenn wir diesen ge nauer untersuchen, werden wir erkennen, dass er aus vielen einzelnen leuchtenden Punkten zusammengesetzt ist. Wenn ich mich an meine Kindheit erinnere, als ich mich mit der Mechanik der Filmprojektoren beschäftigte, so be greife ich jetzt, dass auch das bewegte Bild des Films aufder Leinwand aus einer Serie einzelner Standaufnahmen zu sammengesetzt ist. Dennoch nehmen wir diese Aneinan derreihung als eine durchgängige Bewegung wahr. Indische und tibetische Philosophen haben sich immer schon sehr darur interessiert, wie sich Wahrnehmung ereig net und welche Beziehung zwischen einem Objekt und dem Vorgang der Wahrnehmung besteht. In der buddhisti schen Erkenntnistheorie gibt es eine lang andauernde De batte darüber, wie die Wahrnehmung eines bestimmten Ob jektes entsteht. Dabei haben sich drei zentrale Ansätze herausgebildet. Eine Schule vertritt folgenden Standpunkt: Genauso wie ein vielfarbiges Objekt eine Vielzahl von Far ben aufWeist, setzt sich der visuelle Eindruck von diesem Objekt aus vielen einzelnen Momenten der Wahrnehmung zusammen. Eine zweite Schule ist der Ansicht, der Vorgang der Wahrnehmung könne am besten mit dem Aufschnei den eines hart gekochten Eis verglichen werden. Wenn ein Ei geteilt wird, gibt es zwei identische Hälften. Genauso spaltet sich auch der eine Moment der Wahrnehmung in
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eine objektive und eine subjektive Hälfte, sobald die Sinne mit ihren Objekten in Kontakt treten. Die dritte Position, die traditionell von tibetischen Denkern vertreten wird, ver steht die eigentliche Erfahrung der Wahrnehmung als ein zelnes, ungeteiltes Ereignis, ganz gleich, aus wie vielen Fa cetten das Objekt der Wahrnehmung zusammengesetzt ist. Ein wichtiger Bereich buddhistischer Erkenntnistheorie beschäftigt sich mit der Analyse richtiger und falscher Wahrnehmungen. Für den Buddhismus ist es das Wissen oder die rechte Einsicht, die uns von verblendeten, irrtüm lichen Geisteszuständen befreit. Aus diesem Grund ver sucht man sehr genau zu verstehen, wie unser Wissen sich herausbildet, und deshalb ist eine genaue Unterscheidung von richtigem und falschem Verständnis von größter Wichtigkeit. Aus diesem Grund gibt es breit angelegte Ana lysen der vielfaltigen Erfahrungen der Wahrnehmung und der unterschiedlichen Ursachen für Wahrnehmungsfehler. Wenn wir auf einem Boot flussabwärts segeln und wahr nehmen, wie sich die Bäume am Ufer zu bewegen schei nen, handelt es sich dabei um eine optische Täuschung, die auf der äußeren Bedingung der Bewegung des Bootes be ruht. Wenn wir an Gelbsucht leiden, haben wir vielleicht den Eindruck, ein weißer Gegenstand, eine Muschel zum Beispiel, sei gelb. In diesem Fall ist die Ursache der Täu schung eine innere. Wenn wir in einer Gegend, in der es Giftschlangen gibt, bei Sonnenuntergang ein zusammen gerolltes Seil mit einer Schlange verwechseln, ist der Grund der Täuschung sowohl ein innerer als auch ein äußerer: un sere Angst vor Schlangen, aber auch die Form des Seils und die eingeschränkte Sichtweite. In all diesen Fällen sind sehr direkte Umstände rur die
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Täuschung verantwortlich. Daneben gibt es jedoch noch eine Gruppe komplexerer Ursachen von falschen und rich tigen Erkenntnissen, wie zum Beispiel den Glauben an ein antonomes Ich sowie die Vorstellung der Beständigkeit des Ichs und anderer zusammengesetzter Phänomene. Wäh rend wir etwas erfahren, haben wir keine Möglichkeit, zwi schen fehlerfreien nnd irrtümlichen Wahmehmnngen zu unterscheiden; erst im Rückblick können wir dies erken nen. Es sind in der Tat die nachfolgenden Erfahrungen, die sich aus diesen Erkenntnissen ableiten, die zeigen, ob un sere Wahrnehmung gültig oder zweifelhaft war. Es wäre in teressant, herauszufinden, ob die Neurowissenschaften einen Unterschied zwischen fehlerfreien und irrtümlichen Wahrnehmungen aufder Ebene der Gehimaktivität treffen können. Bei vielen Gelegenheiten habe ich Neurowissenschaft lern diese Frage gestellt. Doch meines Wissens wurden bis her keine Experimente dieser Art durchgeführt. Auf der phänomenologischen Ebene können wir den Prozess, den unser Bewusstsein zwischen verschiedenen, immer wieder
auch gegensätzlichen Zuständen durchläuft, jedoch durch aus betrachten. Wir könnten uns zum Beispiel unsicher sein, ob es der Mond oder der Mars war, den Neil Arm strong 1969 betreten hat. Zuerst sind wir vielleicht voll kommen davon überzeugt, dass es der Mars war. Dann, nachdem wir von den letzten Marserkundungen gehört haben, kommen uns Zweifel. Nachdem uns bewusst ge worden ist, dass es bisher keine bemannten Flüge zum Mars gegeben hat, nähern wir uns dem richtigen Schluss, nämlich dem, dass Armstrong aufdem Mond gelandet sein muss. Dann sprechen wir vielleicht noch mit anderen Men
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sehen, lesen Berichte über die Apollo-Flüge und erhalten schließlich die korrekte Antwort auf unsere ursprüngliche Frage. In diesem Fall können wir erkennen, wie das Be wusstsein, ausgehend von einem Irrtum, über Zweifel und
richtige Annahme, schließlich zu einer korrekten Einsicht gelangt. Im Allgemeinen geht die tibetische erkenntnistheoreti sche Tradition von einer siebenfachen Typologie mentaler Phänomene aus: direkte Wahrnehmung, Schlussfolgerung, nachträgliche Erkenntnis, korrekte Annahme, ungenaue Wahrnehmung, Zweifel und verzerrtes Erkennen. Junge Mönche müssen sich intensiv mit den Definitionen dieser
sieben mentalen Phänomene und ihrer komplexen Bezie hungen auseinander setzen. Dieses Wissen kann uns dabei
helfen, eine größere Aufmerksamkeit fur das Spektrum und die Komplexität der subjektiven Erfahrungen zu ent wickeln. Wenn wir uns mit diesen mentalen Prozessen ver
traut machen, wird uns die Untersuchung des Bewusstseins leichter fallen. In den späteren Jahren meiner Ausbildung widmete ich mich der buddhistischen Psychologie, die von den großen indischen Denkern Asanga und Vasubandhu in eine syste matische Form gebracht worden ist. Die meisten ihrer Werke auf Sanskrit sind verloren gegangen, doch dank der Bemühungen vieler Generationen tibetischer Übersetzer und ihrer indischen Kollegen haben sie in der tibetischen Sprache überlebt. Einigen meiner indischen Freunde zu folge, Kennern des Sanskrit, sind die tibetischen Überset zungen dieser indischen Klassiker so genau, dass man sich
die originalen Texte auf Sanskrit beinahe vorstellen kann. Asangas Kompendium des höheren Wissens (Skt.: Abhidharma
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samuccaya) und der Schatz des höheren Wissens (Skt.: Abhi dharmakosha) seines jüngeren Bruders Vasubandhu waren in Tibet von Anfang an die wichtigsten Lehrbücher der buddhistischen Psychologie (Vasubandhus Originaltext existiert noch auf Sanskrit, während vom ursprünglichen Werk seines Bruders nur noch Fragmente vorhanden sind). In der tibetischen Tradition bilden sie die Grundlagen werke rur das, was als die "Höhere Abhidharma-SchuIe« Asangas und die "Niedrigere Abhidharma-Schule« Vasu bandhus bezeichnet wird. Mein Wissen über die Natur, Klassifikation und Funktion mentaler Prozesse beruht vor allem auf diesen beiden Texten. Weder das Sansktit noch das klassische Tibetisch kennt eine Bezeichnung für »Emotion«, so wie dieser Begriff in
modernen Sprachen und Kulturen verstanden wird. Das bedeutet natürlich nicht, dass die Vorstellung von Emotio nen nicht existiert hat oder gar, dass Inder und Tibeter keine Emotionen empfanden. Inder und Tibeter teilen mit den Menschen des Westens die gleichen Empfindungen der Freude, wenn sie eine gute Nachricht erhalten, der Trauer, wenn sie jemanden verlieren, der ihnen nahe steht, und der Angst, wenn sie in Gefahr sind. Der Grund rur die Abwesenheit dieses Begriffs ist wohl eher in der Geschichte des philosophischen Denkens und der psychologischen Analyse in Indien und Tibet zu suchen. Die buddhistische Psychologie unterschied nicht in derselben Weise zwischen kognitiven und emotionalen Prozessen, wie das Denken des Westens die Leidenschaften von der Vernunft abge trennt hat. Aus buddhistischer Sicht ist die Unterscheidung zwischen leidvollen und nicht-leidvollen mentalen Zustän den wichtiger als der Unterschied zwischen Kognition und
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Emotion. Eine an die Vernunft gebundene analytische In telligenz kann leidvoll sein - wenn sie zum Beispiel rur die vorsätzliche Planung eines Mordes eingesetzt wird -, ein leidenschaftlicher Gemütszustand wie überwältigendes Mitgeruhl kann dagegen durchaus ein tugendhafter, nicht Ieidvoller Zustand sein. Auch Emotionen wie Freude und Kummer können bei des sein, leidvoll und frei von Leid, zerstörerisch und hilfreich, je nachdem, in welchem Zu sammenhang sie entstehen.
Die buddhistische Psychologie macht einen großen Un terschied zwischen dem Bewusstsein und den verschiede nen Modalitäten, durch die es sich manifestiert; rur diese Modalitäten gibt es den Fachausdruck »geistige Faktoren«. Wenn ich in der Ferne einen Freund sehe, haben wir es mit einem mentalen Ereignis zu tun, das ein einheitliches Ge schehen darzustellen scheint. Doch in Wirklichkeit handelt es sich dabei um einen sehr komplexen Prozess. Es gibt runf allgegenwärtige Faktoren, die für jedes mentale Ereig nis gelten: Empfindung (im vorliegenden Fall eine ange nehme), Wahrnehmung, Absicht oder Intention, Aufmerk samkeit und Kontakt mit dem Objekt. Im Fall des Freundes gibt es sicherlich noch zusätzliche Faktoren wie Anhaftung und Erregung, die in Abhängigkeit von der geistigen Dis position des Betrachters und den Merkmalen des wahrge nommenen Objekts eine Rolle spielen. Wir sollten diese geistigen Faktoren nicht als einzelne Phänomene betrach ten, sondern sie vielmehr als unterschiedliche Aspekte oder Prozesse desselben mentalen Vorgangs begreifen, die sich allein aufgrund ihrer Funktion unterscheiden. Alle Emo tionen werden den geistigen Faktoren zugerechnet, im Ge gensatz zum Bewusstsein selbst.
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Natürlich gibt es unterschiedliche Listen der mentalen Schlüssel faktoren, doch Asanga erwähnt 51; dies ist das tra ditionelle Verzeichnis, dem die Tibeter folgen. Zusätzlich zu den ftinf allgegenwärtige Faktoren - Empfindung, Wahrnehmung, Absicht oder Intention, Aufmerksamkeit und Kontakt - gibt es fünf weitere Faktoren, die das Erken nen eines Objektes ermöglichen. Diese sind: Bestrebung, Beurteilung, Erinnerung, Konzentration und Einsicht. Da rüber hinaus gibt es elf heilsame geistige Faktoren, die den Geist begleiten, wenn er sich in einem positiven Zustand befindet. Sie umfassen Glaube oder Vertrauen, Schamhaf tigkeit, Verantwortungsgeftihl (definiert als Achten auf an dere), Nicht-Anhaften oder Nichtergreifen, Nicht-Hass (einschließlich liebevoller Güte), Abwesenheit von Ver blendung (einschließlich Weisheit), Energie oder eifriges Bemühen, Spannkraft, Gewissenhaftigkeit, Gleichmut und Gewaltlosigkeit (einschließlich Mitgeftihl). In dieser Auf zählung finden sich mehrere Faktoren, die positiven Emo tionen entsprechen, insbesondere liebevolle Güte und Mit geftih!. Schamhaftigkeit und Verantwortungsgeftihl sind in diesem Zusammenhang von Interesse, da der erste Faktor sich auf unsere Fähigkeit bezieht, ein Geftihl der Scham über unsere unheils amen Handlungen und Absichten zu empfinden, während Verantwortungsgeftihl aufunsere Ent scheidungsmöglichkeit verweist, uns unheilsamer Taten und Gedanken mit Rücksicht auf andere zu enthalten. Sie haben demnach beide emotionale Anteile. Wenn wir uns den leidvollen mentalen Prozessen zuwen den, ist die Liste umfangreicher, vor allem, weil sie jene geistigen Faktoren umfasst, die ein Mensch, der im Buddhismus nach Erleuchtung strebt, zu läutern hat. Es
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gibt sechs primäre geistige Hemmnisse: Anhaften oder Er greifen, Zorn (einschliefllich des Hasses), Stolz und Arro ganz, Unwissenheit oder Verblendung, hinderliche Zweifel und hinderliche Ansichten. Unter ihnen zeichnen sich die ersten drei durch eine stark emotionale Komponente aus. Dann gibt es zwanzig sekundäre, aus ihnen abgeleitete geis tige Hemmnisse: Wut, Groll, Bosheit, Neid und Eifersucht, Grausamkeit (diese sechs ergeben sich aus dem Zorn); Geiz, übertriebenes Selbstwertgefuhl, Erregung und Er schrecken, Verbergen der eigenen Laster und geistige Stumpfheit (sie leiten sich aus dem Anhaften ab); mangeln des Vertrauen, Trägheit, Achtlosigkeit und mangelnde Auf. merksamkeit (die aus der Unwissenheit stammen); Eigen dünkel, Täuschung, Schamlosigkeit, mangelnde Rücksicht auf andere, mangelnde Gewissenhaftigkeit und Zerstreut heit (die in einer Kombination von Unwissenheit und An haften ihren Ursprung haben). Ganz offenkundig entspre chen viele der hier aufgezählten mentalen Faktoren bestimmten Emotionen. Schließlich endet die Liste der 51 mentalen Faktoren mit einer Gruppe von vier variablen Be wusstseinsprozessen. Diese sind Schläfrigkeit, Bedauern, Untersuchung und Analyse. Sie sind variabel, da es vom allgemeinen Geisteszustand abhängt, ob sie sich heilsam, unheils am oder neutral auswirken. Wir müssen uns der unterschiedlichen Zusammenhänge bewusst sein, in denen buddhistische und westliche Psy chologie Emotionen behandeln. Wir dürfen die buddhisti sche Unterscheidung von heilsamen und unheils amen Emotionen nicht mit der Differenzierung von positiven und negativen Emotionen in der westlichen Psychologie verwechseln. Im westlichen Denken beziehen sich "posi
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tiv« und »negativ« darauf, wie man sich mhIt, wenn eine be stimmte Emotion auftaucht. So ist Angst beispielsweise ne gativ, weil sie ein unangenehmes GefUhl der Beunruhigung mit sich bringt. Die buddhistische Unterscheidung zwischen heilsamen und unheils amen oder leidvollen mentalen Faktoren be ruht auf der Rolle, die diese bezüglich der Handlungen spielen, die sie hervorbringen - anders gesagt: sie beeinflus sen unser ethisches Wohlergehen. Anhaften kann natürlich durchaus eine freudvolle Erfahrung sein, aber dennoch gilt es als leidvoller Faktor, weil es mit einer Art von blindem Festhalten einhergeht, das darauf beruht, dass wir uns selbst in den Mittelpunkt rücken; dies kann uns zu leidvol len Handlungen motivieren. Furcht hingegen ist neutral und kann sich in der Tat unterschiedlich auswirken, da sie uns, je nach den Umständen, zu heilsamem oder unheilsa mem Verhalten anspornt. Die Rolle, die diese Emotionen fUr die Motivation menschlichen Handelns spielen, ist sehr komplex und in der buddhistischen Literatur sorgfaltig un tersucht worden. Leidvolle geistige Faktoren werden aufTi betisch nyänmog und auf Sanskrit klesha genannt, Begriffe, die auf eine innere Bedrängnis hinweisen. Diese geistigen Zustände fUhren demnach zu innerer Unruhe und dem Verlust der Selbstkontrolle. Sobald sie wirksam sind, verlie ren wir unsere Freiheit, in Übereinstimmung mit unseren Vorsätzen zu handeln, und verstricken uns in eine verzerrte Sicht der Dinge. Unsere Perspektive verengt sich unter ihrem Einfluss, da sie letztlich auf einem egozentrischen Umgang mit anderen und der Welt beruhen. In indischen und tibetischen Abhandlungen zur buddhistischen Psychologie finden sich ausführliche Be
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trachtungen über die Natur, Wirkung, Klassifizierung, Wechselbeziehung und kausalen Dynamik dieser menta len Faktoren. Asangas Zusammenstellung, der wir hier fol gen, ist nicht erschöpfend ~ Furcht und Angst tauchen dort zum Beispiel nicht auf, werden jedoch in anderen Zusam menhängen und Verzeichnissen durchaus erwähnt. Trotz unterschiedlicher Systematiken ist die Absicht der Aufzäh lung der mentalen Faktoren immer deutlich: Sie sollen uns dabei helfen, negative Emotionen zu identifizieren und aufzulösen und positive Geisteszustände zu fordern. Mich hat immer wieder die Frage beschäftigt, welcher Zu sammenhang sich zwischen den theoretischen Vorstellun gen der buddhistischen Psychologie von den heilsamen und unheils amen Bewusstseinsprozessen und dem Ver ständnis der Emotionen in der westlichen Psychologie her stellen lässt. Die zehnte »Mind and Life«-Konferenz bot mir im MärL 2000 die Gelegenheit, mich ausführlich mit dieser Fragestellung zn beschäftigen. Ihr Thema waren die destruktiven Emotionen, und viele Experten hatten sich zu einer einwöchigen Diskussion in Dharamsala eingefunden.
Unsere Sitzungen wurden von Daniel Goleman geleitet, den ich schon lange kenne. Er hatte mich auf die umfang reichen wissenschaftlichen Studien aufmerksam gemacht, die den engen Zusammenhang zwischen geistiger Verfas sung und Gesundheit belegen. Auf dieser Konferenz be gegnete ich auch Paul Ekman, einem Anthropologen und Psychologen, der sich bereits viele Jahrzehnte mit den Emotionen befasst hatte. Von Anfang an gab es zwischen uns ein tiefes Gefühl des Einvernehmens, und ich spürte, dass seine Arbeit von aufrichtigen ethischen Motiven getra gen wird. Paul untersucht die Universalität unserer Emo
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tionen, die, wenn wir sie erkennen könnten, uns ein stärke
res GefUhl der Verbundenheit innerhalb der menschlichen Familie vermitteln würde. Davon abgesehen sprach Paul genau mit der richtigen Geschwindigkeit, die es mir mög lich machte, seinen englischen AusfUhrungen ohne Schwierigkeiten zu folgen. Ich lernte von Paul viel über die neu esten wissenschaftli chen Erkenn misse bezüglich der Emotionen - unter ande rem, dass die Kognitionswissenschaften zwei Gruppen von Emotionen unterscheiden: grundlegende Emotionen und das, was häufig als »höhere kognitive Emotionen« bezeich net wird. Mit grundlegenden Emotionen meinen viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler solche, die als universell und angeboren angesehen werden. Wie in den buddhistischen Listen, gibt es auch hier Unterschiede, was die aufgeführten Emotionen betrifft. Paul Ekman nennt zehn: Zorn, Angst, Trauer, Ekel, Verachtung, Überraschung, Freude, Verlegenheit, Schuld und Scham. Genau wie bei den mentalen Faktoren des Buddhismus repräsentiert jedes dieser Gefühle eine gesamte Familie von GefUhlen. Als »hö here kognitive Emotionen« werden in der Wissenschaft eine
ganze Reihe von Empfindungen bezeichnet, die zwar eben falls universell sind, deren Ausdruck sich jedoch von Kultur zu Kultur unterscheidet. Beispiele dafUr sind Liebe, Stolz und Eifersucht. Forscher konnten beobachten, dass die grundlegenden Emotionen vor allem in den tieferen Berei chen der Großhirnrinde reguliert werden, während die hö heren kognitiven Emotionen im Neocortex lokalisiert wur den, dem Bereich des Gehirns, der sich in der Evolution des Menschen am stärksten entwickelt hat und für kom plexe kognitive Aktivitäten wie logisches Denken zum Bei
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spiel verantwortlich ist. Es ist mir klar, dass dies gerade ein mal die ersten vorläufigen Ergebnisse einer sich schnell ent wickelnden neuen Forschungsrichtung sind, wo es durch aus noch einen radikalen Paradigmenwechsel geben kann, bevor hier ein allgemeiner Konsens entsteht. Der Buddhismus geht von der Universalität der leidvol len mentalen Faktoren aus. Sie sind in allen fiihlenden Wesen aktiv. Alle zentralen leidvollen Emotionen sind der Ausdruck von Anhaften, Zorn und Verblendung. Bei be stimmten Arten, vor allem beim Menschen, ist der Aus druck dieser Zustände recht komplex, während er sich bei Tieren zwar weniger vielschichtig, dafiir jedoch in einer un verstellt aggressiven Weise zeigt. Je einfacher diese Zustände sind, umso instinktiver und unabhängiger von bewusstem Denken scheinen sie zu sein. Im Gegensatz dazu scheint der komplexe Ausdruck höherer Emotionen stärker von der Konditionierung durch Sprache und Konzepte abzuhän gen. Die oben angefiihrte Einsicht der Wissenschaft - die Verbindung grundlegender Emotionen, die wir mit den Tie ren teilen, mit den evolutionsgeschichtlich gesehen primä ren Himarealen - verweist auf eine mögliche Parallele zum Verständnis des Buddhismus. In unserer inneren Erfahrung besteht ein Unterschied zwischen leidvollen Emotionen wie Hass und heilsamen Zuständen wie Mitgefiihl darin, dass die leidvollen Fakto ren den Geist viel stärker auf ein konkretes Objekt fixie ren - einen Menschen, an den wir uns binden, ein Geruch
oder Geräusch, dem wir entgehen wollen. Heilsame Emo tionen können dagegen ungerichteter sein und beschrän ken sich nicht nur auf einen bestimmten Menschen oder ein Objekt. In der buddhistischen Psychologie geht man
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deshalb davon aus, dass heilsame mentale Zustände sich durch eine stärkere kognitive Komponente auszeichnen als
die leidvollen geistigen Faktoren. Auch hier könnten sich in der Auseinandersetzung mit den westlichen Wissen
schaften interessante Ergebnisse abzeichnen. Da die wissenschaftliche Betrachtung der Emotionen auf der Neurobiologie beruht, wird die evolutionäre Perspek tive auch weiterhin ihr grundlegender theoretischer Be zugsrahmen sein. So werden nicht nur die neurologischen
Bedingungen einzelner Emotionen immer ausführlicher erforscht werden, sondern man wird auch herauszufinden
versuchen, wie einzelne Gefühle den Prozess der natürli chen Auslese unterstützt haben könnten. Wie ich erfahren habe, gibt es bereits eine neue Disziplin mit dem Namen Evolutionspsychologie. Bis zu einem gewissen Punkt kann ich nachvollziehen, wieso die Entstehung von so grundle genden Emotionen wie Anhaftung, Zorn und Angst aus der Sicht der evolutionären Entwicklung beschrieben wird. Doch ähnlich wie beim neurobiologischen Projekt, das die Verbindung zwischen Emotionen und dem Gehirn unter sucht, kann ich mir nicht vorstellen, wie ein evolutionisti
scher Ansatz den Reichtum der Welt der Empfindungen und der subjektiven Qualität der Erfahrung adäquat be schreiben soll. Ein weiterer sehr interessanter Punkt meiner Gespräche
mit Paul Ekman betraf die Unterscheidung von Emotio nen, Stimmungen und Charaktereigenschaften. Emotio nen tauchen unvermittelt auf, Stimmungen halten länger an - bisweilen einen ganzen Tag -, und Charaktereigen schaften sind von noch längerer Dauer und ziehen sich manchmal durch ein ganzes Leben. Freude und Traurigkeit
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sind Emotionen, die meist eInen bestimmten Anlass
haben, während Glücklichsein und Unglücklichsein Bei spiele ftir Stimmungen sind, deren direkte Ursachen nicht immer so einfach aufzudecken sind. In einem ähnlichen Sinne könnte man sagen, Furcht sei ein Gefuhl, Angst eine ihr entsprechende Stimmung und die Anlage zur Ängst lichkeit eine Charaktereigenschaft. Obwohl die buddhisti sche Psychologie nicht zwischen Emotionen und Stim mungen unterscheidet, macht sie doch einen Unterschied zwischen plötzlichen und dauerhaften mentalen Zustän den sowie der Anlage, die eine Person fur bestimmte Emo tionen in sich trägt. Der Gedanke, dass eine bestimmte Emotion einer gewis
sen natürlichen Anlage entspringt und bestimmte Verhal tensweisen nach sich zieht, insbesondere jedoch die Vorstel lung, Emotionen könnten durch Denkprozesse beeinflusst werden, ist ftir die kontemplative Praxis des Buddhismus überaus wichtig. So zentrale Praktiken wie die Entwicklung von Mitgeftihl und liebevoller Güte, aber auch die Über windung destruktiver Emotionen wie Wut und Hass, grün den in diesen Einsichten der Psychologie und sind von ihr abhängig. Für diese Praktiken ist die sorgfaltige Analyse der kausalen Dynamik spezifischer mentaler Prozesse von größter Wichtigkeit - ein Verständnis ihrer externen Ursa chen, der vorausgehenden und begleitenden inneren men talen Zustände sowie ihrer Beziehung zu anderen kogniti ven und emotionalen Vorgängen. Bei vielen Gelegenheiten habe ich Gespräche mit Psychologen und Psychoanalyti kern geflihrt, die unterschiedliche therapeutische Ansätze vertreten haben, und immer wieder ist mir das gemeinsame
Interesse an den Ursachen emotionaler Zustände aufgefal
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len. Da allen Richtungen der angewandten Psychologie der Wunsch nach einer Linderung des Leidens eigen ist, teilen sie mit dem Buddhismus ein grundlegendes Ziel. Das grundsätzliche Anliegen der buddhistischen kon templativen Praxis ist die Linderung des Leidens. Die Wis senschaft hat, wie wir gesehen haben, einen wichtigen Bei trag zur Verringerung des Leidens geleistet, insbesondere auf der materiellen Ebene. Dieses Vorhaben ist ganz wun derbar, und ich hoffe, dass wir alle auch weiterhin seine Vorteile genießen werden. Doch mit dem Fortschritt der Wissenschaft vergrößern sich auch ihre Risiken. Ihr Ein fluss auf unsere Umwelt, ja selbst darauf, die Entwicklung des Menschen in ganz neue Richtungen zu lenken, hat stark zugenommen. Zum ersten Mal in der Geschichte be ruht unser Überleben nicht mehr nur aufder ethischen Ver antwortung fur die Anwendung der Erkenntnisse der Wis senschaft, sondern wir müssen darüber nachdenken, in welche Richtung die Forschung und die Entwicklung neuer Wirklichkeiten und Technologien gehen soll. Eine Sache ist der Versuch, mithilfe der Einsichten der Neurobiologie, der Psychologie, aber auch der buddhistischen Bewusstseins theorie glücklicher zu werden. Doch jetzt, da wir begonnen haben, den genetischen Code in uns selbst und in der Um welt, in der wir leben, zu manipulieren, müssen wir uns fra gen: Wo liegt die Grenze? Diese Frage muss von Wissen schaftlerinnen und Wissenschaftlern und allen Menschen genau bedacht werden.
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Ethik und die neue Genetik Viele von uns haben die Entwicklungen in der neuen Ge netik aufmerksam verfolgt und sind sich des tiefen Unbe hagens bewusst, dass dieses Thema in der Öffentlichkeit auslöst. Dabei richten sich die Bedenken auf alle Bereiche, vom Klonen bis zur Manipulation der Gene. Weltweit hat es einen Aufschrei über gen manipulierte Lebensmittel ge geben. Mittlerweile ist es möglich, neue Pflanzenarten zu züchten, die einen höheren Ertrag erzielen und weniger an fallig fur Krankheiten sind. Dies hat die HoffilUng geweckt, in einer Welt, in der die Bevölkerungszahl immer weiter ansteigt, die Produktion von Nahrungsmitteln erhöhen zu können. Die Vorteile liegen auf der Hand und sind groß artig: Wassermelonen ohne Kerne, Äpfel mit längerer Haltbarkeitsdauer, Weizen und andere Getreidearten, die immun gegen Schädlinge sind - all das ist keine Zukunfts vision mehr. Ich habe gelesen, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mittlerweile sogar daran arbeiten, be stimmte Nutzpflanzen mit den Genen anderer Gattungen zu manipulieren, in diesem Fall Tomaten mit dem Erbgut einer bestimmten Spinne.
Dadurch verändern wir den genetischen Bauplan, aber wissen wir wirklich, was der Langzeiteffekt dieser Eingriffe auf Pflanzen, den Boden und die Umwelt sein wird? Die kommerziellen Vorteile liegen aufder Hand, doch wie kön nen wir entscheiden, was wirklich nützlich ist? Das kom
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plexe Netz der Beziehungen, das unsere Umwelt charakte risiert, scheint es unmöglich zu machen, dies mit Sicherheit vorherzusagen.
Im natürlichen Ablauf der Evolution sind genetische Ver änderungen in einem Zeitraum von Hunderttausenden von Jahren nach und nach entstanden. Die Evolution des menschlichen Gehirns hat viele Millionen Jahre gedauert. Indem wir jetzt aktiv in das Genom eingreifen, stehen wir an der Schwelle einer künstlichen Beschleunigung dieser Prozesse in Tieren, Pflanzen und in uns selbst. Die Konse quenz meiner Bedenken muss nicht sein, dass wir uns von
diesen Entwicklungen abwenden - ich möchte lediglich da rauf aufmerksam machen, wie wichtig es ist, sich die unge·
heueren Auswirkungen dieses neuen Wissenschaftszweiges bewusst zu machen. Die wichtigsten Fragen, die sich dabei stellen, haben je doch weniger mit der Wissenschaft an sich zu tun, sondern sind vor allem ethischer Natur: Wie sollen wir, vor dem Hintergrund der neuen Möglichkeiten, die sich durch das Klonen und die Entschlüsselung des genetischen Codes er geben, unser Wissen und unsere Macht einsetzen? Diese Frage bezieht sich nicht nur aufdie Möglichkeit, Menschen und Tiere genetisch zu manipulieren, sondern auch Pflan zen und die gesamte Umwelt, von der wir ein Teil sind. Im Zentrum dieser Entwicklung steht die Frage nach der Bezie hung zwischen unserem Wissen und der Macht auf der einen Seite und unserer Verantwortung auf der anderen. Jeder neue wissenschaftliche Fortschritt, der sich kom merziell umsetzen lässt, weckt das Interesse der öffentli chen Hand und privater Investoren. Auf dem Gebiet der Genetik sind die wissenschaftlichen Kenntnisse sowie die
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Bandbreite der technischen Möglichkeiten so gewaltig, dass uns möglicherweise nur unsere mangelnde Phantasie davon abhält, gewisse Entwicklungen Wirklichkeit werden zu lassen. Es ist diese noch nie da gewesene Anhäufung von Wissen und Macht, die uns an eine kritische Schwelle ge fuhrt hat. Je umfangreicher unser Wissen und unsere Macht sind, umso stärker muss unser Sinn fur unsere mo ralische Verantwortung sein.
Die zentrale Grundlage menschlicher Ethik ist die Er kenntnis, dass mit wachsendem Wissen und Macht auch die Notwendig moralischer Verantwortung wächst. Bis vor kurzem hat dieses Prinzip auch funktioniert. Die Begabung des Menschen, moralisch vernünftige Maßstäbe zu entwi ckeln, konnte mit der Entwicklung des Wissens und seiner Einsatzmöglichkeiten Schritt halten. Im Zeitalter der Bio genetik hat sich jedoch eine Kluft zwischen dem morali schen Denken und den technischen Möglichkeiten aufge tan. Moralische Überlegungen sind nicht mehr in der Lage, dem rasanten Wachstum des Wissens und der technischen Entwicklungen in der neuen Genetik zu folgen. Vieles, was bald schon möglich sein wird, hängt nicht mehr von Um brüchen oder Paradigmenwechseln in der Wissenschaft ab, sondern von der Entwicklung neuer Technologien in Kom bination mit den finanziellen und politischen Kalkulatio nen von Unternehmen und Regierungen. Die Frage lautet nicht mehr: Sollen wir mehr Wissen erwerben und seine technologischen Potentiale erkunden? Mittlerweile stellt sich vielmehr die Frage: Wie wollen wir dieses Wissen und die Macht, die es uns verleiht, in einer sinnvollen und ethisch verantwortlichen Weise einsetzen?
Auf dem Gebiet der Medizin sind die Auswirkungen der
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genetischen Revolution vielleicht am unmittelbarsten wahrzunehmen. Wenn ich es richtig verstehe, gehen viele Mediziner davon aus, dass die Entschlüsselung des menschlichen Genoms eine neue Ära einleiten wird, in der
biochemische Behandlungsmöglichkeiten durch einen Therapieansatz ersetzt werden können, der auf genetischen Erkenntnissen beruht. Im Moment ändern sich bereits die Definitionen zahlreicher Erkrankungen, da man davon ausgeht, dass Krankheiten genetisch bei Menschen und Tieren schon im Augenblick ihrer Empfangnis vorpro grammiert sind. Obwohl erfolgreiche Gentherapien fur viele dieser Leiden noch ausstehen, scheinen sie sich zu mindest abzuzeichnen. Doch bereits jetzt stellt die Genthe rapie und das damit verbundene Problem der Genmanipu lation, insbesondere am menschlichen Embryo, eine ethische Herausforderung dar. In diesem Zusammenhang scheint mir die Frage außer ordentlich bedeutsam zu sein, wie wir mit unserem neuen
Wissen umgehen wollen. Bevor wir wussten, dass be stimmte Gene fur Alzheimer, Krebs oder einfach nur fur den Alterungsprozess verantwortlich sind, beschäftigten wir uns mit diesen Problemen zumeist erst, sobald sie uns betrafen. Doch jetzt, oder zumindest in absehbarer Zeit, kann die Genetik dem Einzelnen und ganzen Familien vor hersagen, welche Gene in ihrem Organismus sie bereits in
der Kindheit,Jugend oder in mittleren Jahren beeinträchti gen oder gar töten werden. Dieses Wissen kann unsere De finitionen von Gesundheit und Krankheit radikal verän dern. Ein Mensch, der momentan noch gesund ist, der jedoch eine bestimmte genetische Veranlagung in sich trägt, wird dann vielleicht als »zukünftiger Kranker« abge
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stempelt werden. Was sollen wir mit einem derartigen Wis sen anfangen und wie können wir damit in einer mitfuh lenden Art und Weise umgehen? Wer darf Zugang zu sol chen Informationen haben, deren soziale und persönliche Konsequenzen eine große Tragweite im Hinblick aufKran kenversicherung, Arbeit und Beziehungen, einschließlich der Frage der Fortpflanzung, haben? Liegt es in der Verant wortungjedes Einzelnen, der solche Gene in sich trägt, die ses Wissen dem möglichen Lebenspartner mitzuteilen? Dies sind nur einige Fragen, die durch die genetische For schung aufgeworfen werden. Dieses bereits äußerst komplexe Problemfeld wird noch komplizierter, wenn wir bedenken, dass die genetische Vo raussage nicht unbedingt eintreffen muss. Manchmal kann man zwar sicher sein, dass eine genetische Funktionsstö rung, die im Embryo entdeckt wurde, zu Erkrankungen des Kindes oder des Erwachsenen fuhren wird, oft ist dies je doch eine Frage relativer Wahrscheinlichkeiten. Lebens weise, Ernährung und andere Umweltfaktoren spielen dabei eine Rolle. So können wir zwar wissen, dass sich in einem bestimmten Embryo ein krankhaftes Gen befindet, aber wir können nicht sicher sein, ob die Krankheit auch tatsächlich ausbrechen wird. Das Wissen um ein genetisches Risiko kann weit rei chende Auswirkungen auf die Lebensweise, ja selbst auf den Identitätsentwurf eines Menschen haben. Doch mögli cherweise ist diese Information überhaupt nicht begründet, und das Risiko wird sich nicht bewahrheiten. Müssen wir uns überhaupt mit einem solchen Wissen um Wahrschein lichkeiten belasten? Sollte jemand, der von einer geneti schen Funktionsstörung erfahrt, alle Familienmitglieder in
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formieren, die dieses Gen ebenfalls geerbt haben könnten? Welcher Personenkreis darf Zugang zu diesen Informatio nen haben - Krankenversicherungen zum Beispiel? Dann wäre es möglich, die Träger solcher Gene bereits aufgrund der Annahme, dass eine bestimmte Erkrankung sich ein stellen könnte, vom Versicherungsschutz und damit von der medizinischen Versorgung auszuschließen. Die Fragen, die sich in diesem Zusammenhang ergeben, sind nicht nur medizinischer, sondern durchaus auch ethischer Natur und betreffen das psychische Wohlergehen der Betroffenen. Dürfen Eltern (oder die Gesellschaft) beschließen, das Leben eines Embryos zu beenden, wenn sich herausstellt was immer häufiger der Fall sein wird -, dass er einen gene tischen Defekt hat? Diese Frage wird noch komplexer, wenn wir bedenken, dass die Entwicklung neuer Behand lungsmöglichkeiten genetischer Erkrankungen und neuer Medikamente mit der Entdeckung der Gene, die fur be stimmte Leiden verantwortlich sind, nahezu Schritt hält. So wäre es durchaus vorstellbar, dass ein Baby, dessen Er krankung in zwanzig Jahren ausbrechen soll, abgetrieben wird, es zehn Jahre später jedoch eine wirksame Behand lungsmethode gibt. Weltweit setzen sich viele Menschen, besonders im Be reich der im Entstehen begriffenen Bioethik, mit den De tails dieser Probleme auseinander. Da die empirischen Fak ten sich immer schneller verändern, aber auch, weil ich auf diesem Gebiet nicht wirklich ein Experte bin, kann ich keine genauen Antworten aufbestimmte Fragen geben. Ich möchte jedoch einige zentrale Punkte betrachten, über die meiner Meinung nach jeder informierte Mensch heutzu tage nachdenken muss, und einige allgemeine Prinzipien
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vorschlagen, mit denen wir den neuen ethischen Heraus forderungen begegnen können. Ich bin fest davon über zeugt, dass wir vor der zentralen Herausforderung stehen,
uns zu überlegen, welche Wahl wir unter den wachsenden Möglichkeiten, die Wissenschaft und Technologie uns bie ten, jeweils treffen werden. Auf dem neuen Gebiet der genetischen Medizin ergeben sich weitere Sachverhalte, die grundsätzliche und schwer wiegende ethische Fragen aufWerfen. Ich denke dabei vor allem an das Klonen. Einige Jahre sind vergangen, seit in dieser Welt ein vollständig geklontes ftihlendes Wesen auf getaucht ist: Dolly, das berühmte Schaf Seitdem hat es immer wieder Berichte über das Klonen von Menschen ge geben. Wie wir wissen, sind bereits die ersten geklonten
menschlichen Föten erschaffen worden. Wenn wir die Auf geregtheit in den Medien außer Acht lassen, ergibt sich im Hinblick auf das Klonen ein außerordentlich komplexes Bild. Wie man mir sagte, werden zwei Arten des Klonens unterschieden: therapeutisches und reproduktives Klonen. Therapeutisches Klonen bezeichnet den Einsatz von Klon verfahren, um Zellen und möglicherweise sogar Organis men halbmenschlicher Wesen zu erzeugen. Ihr einziger Zweck ist es, dass aus ihnen Organmaterial oder auch bestimmte Körperteile zum Zweck der Transplantation »geerntet« werden können. Im Falle des reproduktiven
Klonens wird eine genetisch identische Kopie eines bereits existierenden Lebewesens hergestellt. Im Prinzip habe ich keine Einwände gegen das Klonen, solange es medizinische und therapeutische Ziele verfolgt. In all diesen Fällen sollten unsere Handlungen von mitfüh lenden Überlegungen geleitet werden. Die Idee des vor
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sätzlichen K10nens halb menschlicher Wesen, um sie als ~>Ersatzteillager auszuschlachten«, löst in mir jedoch ein Geftihl des unmittelbaren, instinktiven Abscheus aus. Ich verfolgte einmal eine Sendung der BBC, in der solche Ge schöpfe in einer Computeranimation simuliert wurden. Sie trugen deutlich erkennbare menschliche Züge, und ich war zutiefst erschrocken. Vielleicht halten dies einige ftir eine irrationale Geftihlsreaktion, die man nicht weiter ernst nehmen sollte. Ich glaube jedoch, wir sollten auf unsere instinktiven Geftihle der Ablehnung vertrauen, die aus un serer unmittelbaren Menschlichkeit hervorgehen. Wenn wir die Ausbeutung solcher hybrider halbmenschlicher Wesen erst einmal erlauben, was sollte uns dann noch davon abhalten, das Gleiche mit unseren Mitmenschen zu tun, die aufgrund einer gesellschaftlichen Laune als min derwertig gelten? Die Bereitschaft, solche natürlichen Schwellen zu überschreiten, hat die Menschheit bereits mehrfach zu den schrecklichsten Gräueltaten veranlasst. Obwohl das reproduktive Klonen mich nicht in der glei chen Weise erschreckt, sind manche seiner Folgen sicher lich noch weit reichender. Sobald diese Technologie ein satzfahig ist, könnten sich Eltern, die keine eigenen Kinder bekommen, überlegen, ein geklontes Kind zur Welt zu bringen. Welche Auswirkungen hätte das aufden Genpool, auf die Vielfalt unseres Erbes, die ftir die Evolution von so entscheidender Bedeutung ist? Es ist ebenfalls denkbar, dass einzelne Menschen, die sich wünschen, über die biologischen Grenzen hinaus zu leben, eine Kopie von sich selbst erstellen lassen, da sie anneh men, sie könnten in einem geklonten Wesen weiterleben. Hierfiir scheint es mir keinerlei berechtigte Gründe zu
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geben - aus buddhistischer Sicht würde es sich zwar um denselben Körper handeln, doch das Bewusstsein wäre zweifach vorhanden. Und schließlich: Beide müssten ster ben. Die Eingriffe in den Reproduktionsprozess haben direkte soziale und kulturelle Konsequenzen fur den Fortbestand unserer Gattung. Ist es richtig, das Geschlecht eines Kindes auszuwählen, was, soweit ich weiß, mittlerweile möglich ist? Verneint man dies, wäre eine derartige Auswahl dann vielleicht aus gesundheitlichen Gründen vertretbar, zum Beispiel, wenn fur ein Kind ein erhöhtes Risiko fur ge schlechtsspezifische Erkrankungen wie Muskeldystrophie oder Hämophilie besteht? Ist es zu verantworten, dass im Labor fremde Gene in menschliche Spermien und Eizellen eingepflanzt werden? Wie weit dürfen wir uns in Richtung »idealer Föten« oder »Designer-Föten« bewegen - Embryo nen zum Beispiel, die im Labor ausgewählt wurden, damit sie nach ihrer Geburt ihren genetisch geschädigten Ge schwistern dringend benötigte Nieren oder Knochenmark spenden können? Wie weit sollen wir gehen, wenn es mög lich geworden ist, Föten aufgrund wünschenswerter Eigen schaften - Intelligenz, körperliche Kraft, Augenfarbe - zu selektieren? Beim Einsatz der Gentechnik fur medizinische Zwecke, etwa wenn sie dazu dient, genetische Schädigungen zu hei len, kann man von ganzem Herzen zustimmen. Es ist je doch möglicherweise nicht im Sinne des Wohlergehens eines Kindes, bestimmte Eigenschaften auszuwählen, vor allem dann, wenn dies aus vornehmlich ästhetischen Moti ven geschieht. Selbst wenn Eltern davon überzeugt sind, dass sich die Manipulation bestimmter Anlagen positiv auf
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die Entwicklung ihres Kindes auswirken wird, müssen wir klären, ob dies in wohl wollender Absicht geschieht, oder ob sich dahinter vielleicht die gesellschaftlichen Vorurteile einer bestimmten Zeitepoche verbergen. Wir müssen uns der langfristigen Auswirkungen dieser Manipulationen auf die gesamte Menschheit bewusst sein und daran denken, dass ihre Effekte an zukünftige Generationen weitergege ben werden. Außerdem müssen wir berücksichtigen, dass diese Techniken die Unterschiede zwischen den Menschen nivellieren könnten und uns fragen, welche Konsequenzen das fur die wunderbare menschliche Fähigkeit zur Toleranz haben könnte. Besorgniserregend ist die Manipulation von Genen vor allem dann, wenn Kinder mit »verbesserten« kognitiven oder physischen Anlagen geschaffen werden sollen. Welche Unterschiede zwischen einzelnen Menschen auch beste hen mögen, Unterschiede des Wohlstands, der Klasse, der Gesundheit und andere, wir alle werden mit der grundle genden Gleichheit unserer menschlichen Natur sowie mit gewissen kognitiven, emotionalen und physischen Fähig keiten in diese Welt hineingeboren. Uns alle zeichnet das gemeinsame Bedürfnis aus, Glück zu suchen und Leiden zu überwinden. Da die Gentechnik auf lange Zeit - falls ihre weitere Anwendung überhaupt bejaht wird - kostspie lig sein wird, kann sie nur einer kleinen gesellschaftlichen Gruppe zugänglich sein: den Reichen. Damit aber würde die Gesellschaft eine Ungleichheit der Umstände (relativen Wohlstand) durch Manipulation der Intelligenz, der Kör perkraft und anderer angeborener Fähigkeiten in eine Un gleichheit der Natur verwandeln. Dieser ungleiche Zugang zu den technischen Möglich
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keiten wird weit reichende soziale, politische und ethische Folgen haben. Auf der sozialen Ebene werden dadurch un sere Ungleichheit verstärkt und verfestigt und eine Verän derung weitaus schwieriger. Im politischen Bereich könnte mithilfe dieser Technik eine herrschende Elite herangezo gen werden, deren Machtanspruch auf der Beschwörung einer angeblich natürlichen Überlegenheit beruht. Aus ethischer Sicht werden diese pseudo-natürlichen Unter schiede unsere moralische Integrität untergraben, da diese auf der gegenseitigen Anerkennung der Gleichheit unserer grundlegenden menschlichen Natur beruht. Letztendlich können wir uns jedoch noch gar nicht ausmalen, in wel chem Umfang diese Technologien unser Bild vom Men schen verändern werden.
Wenn ich an die vielfaltigen Möglichkeiten denke, das menschliche Genom zu manipulieren, spüre ich unwillkür lich, dass uns in unserer Wertschätzung des Menschseins etwas Grundsätzliches fehlt. In Tibet, meiner Heimat, be ruht der Wert eines Menschen weder auf seinem Aussehen, noch auf seinen intellektuellen oder athletischen Leistun gen, sondern ganz allein auf der elementaren, allen Men schen gegebenen Fähigkeit, Mitgefuhl zu empfinden. Selbst die modeme Medizin hat nachgewiesen, wie groß die Be deutung von emotionaler Zuwendung fur alle Menschen ist - insbesondere in den ersten Lebenswochen. Für die Ent wicklung des Gehirns ist die einfache Kraft einer Berührung unerlässlich. Der Wert eines Menschen ist nicht davon ab hängig, ob er an einer Behinderung leidet, am Down-Syn drom beispielsweise, oder an einer genetischen Vorbelas tung, die zur Entwicklung von Sichelzellenanämie, der Huntington-Krankheit oder von Alzheimer fuhren kann.
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Alle Menschen haben den gleichen Wert und die gleiche Be fahigung zur Güte. Wenn wir unsere Wertschätzung des Menschen von genetischen Faktoren abhängig machen, wird die Menschheit ärmer werden, denn jeder Mensch zeichnet sich durch so viel mehr aus, als durch das, was in seinem Genom festgeschrieben ist. Die erstaunliche Erkenntnis, der zufolge die genetischen Unterschiede zwischen den Ethnien dieser Welt äußerst ge ring und damit bedeutungslos sind, ist in meinen Augen eine der hervorstechendsten und ermutigendsten Konse quenzen unseres Wissens über das Genom. Vor dem Hin
tergrund unserer grundlegenden Gleichheit - das habe ich immer wieder betont - haben die Unterschiede der Haut farbe, der Sprache, der Religion und der ethnischen Zuge hörigkeit keine Substanz. Die Entschlüsselung des mensch lichen Genoms kann uns dies klar vor Augen fuhren. Mir wurde dadurch auch sehr deutlich unsere Verwandtschaft mit den Tieren bewusst, die einen sehr hohen Prozentsatz an Genen mit uns teilen. So ist es vorstellbar, dass durch einen achtsamen Umgang mit unserem neuen genetischen
Wissen unser Sinn fur unsere Verbundenheit und Einheit mit unseren Mitmenschen und darüber hinaus mit dem Leben als Ganzem wächst. Diese Erkenntnis hätte zweifels ohne auch große positive Auswirkungen auf unser Um weltbewusstsein.
Sollten sich gewisse genetische Eingriffe in Nahrungsmit tel wirklich als notwendig erweisen, damit die steigende Zahl von Menschen auf dieser Welt ernährt werden kann, dann können wir diesen Zweig der Gentechnik nicht ein fach ablehnen. Wenn es jedoch stimmt, wie viele Kritiker behaupten, dass dieses Argument nur die eigentlichen
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kommerziellen Motive verschleiert - also die Produktion von Nahrungsmitteln mit längerer Haltbarkeitsdauer, die dadurch einfacher von einem Ende der Welt an das andere exportiert werden können, von Produkten, die einfach nur besser aussehen und unproblematischer konsumiert wer den können, oder die Erzeugung von Getreide, das keine eigenen Samen mehr produziert, so dass die Bauern !Ur ihre Saat vollständig von den Biotech-Unternehmen ab hängig sind - , dann müssen wir solche Praktiken ernsthaft infrage stellen. Viele Menschen machen sich immer größere Sorgen um die Langzeiteffekte, die die Produktion und der Konsum genetisch veränderter Lebensmittel mit sich bringen könn ten. Der Graben zwischen den Wissenschaftlern und der Öffentlichkeit mag zum Teil in einer mangelnden Transpa renz der Unternehmen begründet sein, die diese Produkte entwickeln. Die Beweislast !Ur beides, nämlich den Nach weis der Unbedenklichkeit dieser neuen Produkte für die Konsumenten, aber auch eine vollständige Transparenz über alle Konsequenzen, die der Anbau solcher Pflanzen !Ur die Umwelt haben könnte, muss bei der Biotech-Indus trie liegen. Dabei kann es mit Sicherheit nicht genügen, wenn einfach nur behauptet wird, dass keine Nachweise !Ur die Schädlichkeit eines bestimmten Produktes vorliegen. Genetisch veränderte Lebensmittel sind nicht einfach nur ein weiteres Produkt, wie etwa neue Autos oder Lap tops. Ob uns dies nun gef.illt oder nicht, die Langzeitwir kungen genetisch veränderter Organismen aufdie Umwelt sind uns unbekannt. Contergan zum Beispiel galt in der Medizin eine Zeit lang als exzellentes Mittel gegen die Übelkeit werdender Mütter, doch die langfristigen Konse
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quenzen fur die Gesundheit des ungeborenen Kindes wur den nicht vorhergesehen und erwiesen sich als katastro
phal. Wenn wir die unglaubliche Beschleunigung der Entwick lung in der modemen Genetik bedenken, erscheint es drin gend geboten, unsere Fähigkeit zur moralischen Beurteilung so zu verfeinern, dass wir uns der ethischen Herausforde rung dieser neuen Situation stellen können, Wir dürfen nicht darauf warten, dass die Antworten von selbst auftau chen werden. Wir müssen uns ganz direkt mit unserer mög
lichen Zukunft auseinander setzen und den Problemen genau ins Auge sehen. Nach meinem Empfinden ist es an der Zeit, sich jenseits der individuellen Standpunkte einzelner Religionen den ethischen Fragen der genetischen Revolution zuzuwenden. Wir müssen dieser ethischen Herausforderung als Mitglie der einer einzigen menschlichen Familie begegnen und nicht als Buddhisten, Juden, Christen, Hindus oder Mos lems. Es ist auch nicht angemessen, diese ethischen Fragen auf der rein säkularen Ebene freiheitlicher politischer Werte anzugehen, etwa aus der Perspektive individueller Freiheit, Entscheidungsfreiheit oder Gerechtigkeit. Wir müssen sie aus der Sicht einer globalen Ethik betrachten, die darauf beruht, die grundlegenden menschlichen Werte jenseits einzelner Religionen und Wissenschaftszweige an zuerkennen.
Es genügt nicht, die gesellschaftliche Verantwortung auf die Förderung des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts zu beschränken. Auch der Hinweis, dass der Umgang mit diesem neuen Wissen und seinen Einsatz möglichkeiten in der Entscheidung des oder der Einzelnen
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liege, wird dem Problem nicht gerecht. Wenn damit gesagt werden soll, die Gesellschaft als Ganze habe kein Recht, die Entwicklung der Forschung und neuer Technologien zu be einflussen, würde dies jede humanitäre und ethische Über legung zur Regulierung des wissenschaftlichen Fortschritts unterbinden. Es ist wichtig, ja es liegt sogar in unserer Ver antwortung, ein kritisches Bewusstsein darüber zu haben, was wir entwickeln und wieso wir dies tun. Je früher wir in den kausalen Zusammenhang dieses Prozesses eingreifen das ist eine grundsätzliche Wahrheit-, umso eher werden wir ungewollte Konsequenzen verhindern können. Es bedarf größerer gemeinschaftlicher Anstrengungen, als es sie bisher gegeben hat, um uns den Herausforderun gen der Gegenwart und der Zukunft zu stellen. Dazu scheint es mir unabdingbar zu sein, dass große Teile der Öf fentlichkeit über grundlegende wissenschaftliche Kennt nisse verfUgen und über die zentralen Entdeckungen der Wissenschaft informiert sind, vor allem, wenn diese Ent wicklungen direkte soziale und ethische Auswirkungen haben. Das Erziehungswesen sollte nicht nur wissenschaft liche Fakten vermitteln, sondern auch zu einer Auseinan dersetzung mit Fragen über den Zusammenhang von Wis senschaft und Gesellschaft anleiten, einschließlich der ethischen Probleme, die sich aus den neuen technologi schen Möglichkeiten ergeben. Diese Forderung richtet sich gleichermaßen an Wissenschaftler und an Laien, und die Wissenschaftler müssen dabei ein breiteres Verständnis der sozialen, kulturellen und ethischen Folgen ihrer Arbeit er langen. Da fUr die Welt so vieles auf dem Spiel steht, dürfen die Entscheidungen über den weiteren Verlauf der Forschung,
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den Einsatz unseres Wissens und der technischen Möglich keiten nicht allein in den Händen von Wissenschaftlern, Managern und Politikern liegen. Die Gesellschaft muss ganz eindeutig einige Vorgaben machen. Überlegungen dieser Art dürfen selbstverständlich nicht allein die Sache von Ausschüssen sein, so renommiert und erfahren ihre Mitglieder möglicherweise auch sind. Es bedarf dazu eines größeren Einflusses der Öffentlichkeit in Form von Debat ten und Gesprächen in den Medien und von öffentlichen Anhörungen, aber auch der Bemühungen nicht regierungs abhängiger Organisationen. Die Herausforderungen der Gegenwart sind so umfas send - und eine mögliche Katastrophe flir die gesamte Menschheit ist nicht mehr auszuschließen, da die Gefahren des Missbrauchs neuer Technologien mittlerweile global sind -, dass wir in meinen Augen einen moralischen Kom pass benötigen, um uns gemeinsam durch die unterschied lichen ideologischen Positionen zu navigieren. Dazu braucht die menschliche Gesellschaft eine ganzheitliche, integrative Vision der tiefen Verbundenheit aller Lebewe sen und ihrer Umwelt. Dieser moralische Kompass muss auf die Bewahrung unseres menschlichen Empfindungs vermögens ausgerichtet sein und uns beständig an die grundlegenden Werte der Menschheit erinnern. Wir soll ten uns nicht dagegen wehren. wenn etwas in uns rebelliert, sobald die Wissenschaft - oder jedes andere menschliche Tun - die Grenze der Menschlichkeit überschreitet. Dann müssen wir vielleicht darum kämpfen, uns unser Empfin dungsvermögen zu bewahren, das ansonsten nur allzu leicht abstumpfen kann. Doch wie können wir diesen moralischen Kompass fin
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den? Wir müssen damit beginnen, auf die grundlegende Güte der menschlichen Natur zu vertrauen, und sollten diese Überzeugung in allgemeinen und universellen ethi schen Prinzipien verankern. Dazu müssen wir anerkennen, wie wertvoll das Leben ist, und wir müssen verstehen, wie
sehr die Natur der Ausgewogenheit bedarf. Die Nadel die ses Kompasses wird uns den Weg durch unsere Gedanken und Handlungen weisen; sie wird uns darauf aufmerksam machen, dass Mitgefuhl der Schlüssel fur all unser Bemü hen ist. Sobald Mitgefuhl sich mit einer klaren Einsicht ver bindet, wird sich unsere Perspektive weiten und uns die Langzeiteffekte unseres Tuns erkennen lassen. Viele werden mit mir darin übereinstimmen, dass diese ethischen Werte die Spaltung in religiös und säkular orientierte Menschen übersteigen und einen Beitrag fur das Wohlergehen aller Menschen leisten können. Die tief verbundene Wirklich keit der modernen Welt macht es notwendig, dass wir uns der Probleme als eine einzige menschliche Familie anneh men und nicht als Angehörige bestimmter Nationalitäten, Ethnien oder Religionen. Anders formuliert: Wir müssen den Geist der Einheit der gesamten menschlichen Gattung betonen. Einige mögen dies fur unrealistisch halten - doch welche andere Möglichkeit haben wir? Ich bin fest davon überzeugt, dass wir dazu in der Lage sind. Obwohl wir seit mehr als einem halben Jahrhundert im Nuklearzeitalter leben, haben wir uns bisher nicht aus gelöscht. Diese Tatsache lässt mich hoffen. Es ist ganz si cher kein Zufall- wenn wir tief darüber nachdenken -, dass diese ethischen Prinzipien im Zentrum aller spirituellen Traditionen stehen. Wenn wir eine ethische Strategie im Hinblick auf die
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neue Genetik entwickeln wollen, wird es absolut notwen dig sein, unseren Überlegungen einen umfassenden Rah
men zu geben. Wir müssen uns zuallererst bewusst ma chen, wie neu dieses Gebiet ist, wie neu die Möglichkeiten sind, die es uns eröffnet, und sollten eingehend darüber nachdenken, wie wenig wir von dem verstehen, was wir wis
sen. Zwar haben wir mittlerweile das gesamte menschliche Genom entschlüsselt, aber es wird wohl noch viele Jahr zehnte dauern, bis wir tatsächlich die Funktion aller Gene und ihrer Beziehung untereinander verstehen, ganz abge sehen von ihren Auswirkungen auf die Umwelt. Zurzeit beschäftigen wir uns viel zu sehr mit den Anwendungs möglichkeiten bestimmter Technologien, mit ihren kurz und mittelfristigen Ergebnissen und Effekten und mit den Konsequenzen dieser Entwicklung fur unsere individuelle Freiheit. Das alles ist von großem Belang, aber das allein ge nügt nicht. Diese Perspektive ist zu eng, wenn wir beden ken, dass unser Bild vom Menschen zurzeit grundsätzlich infrage steht. Da diese Innovationen weit reichende Folgen haben, müssen wir alle Bereiche der menschlichen Exis tenz, die von den langfristigen Auswirkungen der Gentech nik betroffen sind, genau betrachten. Das Schicksal der menschlichen Gattung, möglicherweise sogar der Fortbe stand allen Lebens auf diesem Planeten, liegt in unserer Hand. Wäre es im Angesicht des Unbekannten nicht bes ser, wenn wir uns aus Vorsicht irren würden, anstatt den
Verlauf der menschlichen Evolution in einer nicht wieder gutzumachenden Weise in die falsche Richtung zu lenken? Kurz zusammengefasst muss unsere ethische Haltung folgende Schlüsselfaktoren beinhalten: Erstens müssen wir unsere Motivation überprüfen und sicherstellen, dass sie
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im Mitgefiihl begründet ist. Zweitens sollten wir die ganz konkreten Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, immer aus einer weiten, offenen Perspektive betrachten. Dazu müssen wir jedes einzelne im Zusammenhang der großen Ziele der Menschheit betrachten, ohne dabei die kurz- und mittelfristigen Konsequenzen außer Acht zu las sen. Drittens müssen wir, um über diese Probleme wirklich nachdenken zu können, sicherstellen, dass wir ihnen ehr lich und unvoreingenommen begegnen - andernfalls täu schen wir uns. Viertens sollten wir allen konkreten ethi schen Herausforderungen in einem Geist der Demut entgegentreten, indem wir nicht nur anerkennen, wie be grenzt unser gemeinsames und individuelles Wissen in Wirklichkeit ist, sondern indem wir uns darüber hinaus be wusst machen, wie schnell wir uns in diesen so rasch verän dernden Gegebenheiten irren können. Und schließlich müssen wir alle - Wissenschaftler als auch die Gesellschaft als Ganze - stets darauf achten, dass wir, gleichgültig wel che.Richtung wir einschlagen, immer das Wohl der ganzen Menscheit wie auch des Planeten, auf dem wir leben, vor Augen haben. Die Erde ist unsere einzige Heimat. Nach dem gegenwär tigen Stand der Forschung scheint sie der einzige Planet zu sein, der Leben hervorgebracht hat. Eines der ergreifends ten Bilder, die ich je gesehen habe, war die erste Aufnahme der Erde, die aus dem Weltraum gemacht wurde. Als ich diesen blauen Planeten im unendlichen Raum sah, der wie der volle Mond am klaren Nachthimmel strahlte, erkannte ich zutiefst, dass wir alle wirklich nur Mitglieder einer ein zigen Familie sind, die sich ein bescheidenes Haus teilt. Da mals berührte mich zutiefst ein Gefiihl der Unsinnigkeit
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aller Meinungsverschiedenheiten und Zänkereien in der menschlichen Familie. Ich begriff, wie nutzlos es ist, unbe irrbar an den Unterschieden festzuhalten, die uns angeb lich trennen. Als ich dieses Bild sah, spürte ich die Zer brechlichkeit, die Verletzlichkeit unseres Planeten auf seiner begrenzten Umlaufbahn, zwischen Venus und Mars, in den unendlichen Weiten des Alls. Was, wenn nicht die Fürsorge fur dieses Haus, sollte unsere Aufgabe auf dieser Erde sein?
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SCHLUSSBEMERKUNGEN
Wissenschaft, Spiritualität und Menschlichkeit Wenn ich aufdie siebzigjahre meines Lebens zurückblicke, wird mir bewusst, dass meine Begegnung mit der Wissen schaft in einer fast vollständig vorwissenschaftlichen Welt anfing, in der die Technik sich wie ein Zauber ausnahm. Vermutlich entspringt meine Faszination, meine Begeiste rung fiir die Wissenschaft noch immer jenem unschuldigen Erstaunen über die Wunder, die sie vollbringen kann. Aus diesen Anfangen hat mich meine Reise zu Fragestellungen von großer Komplexität gefiihrt: Welche Bedeutung hat die Wissenschaft fiir unser Weltverständnis ? Wie verändert sie das Leben der Menschen und die Erde, auf der wir leben? Welche moralischen Probleme ergeben sich durch ihre Erkenntnisse? Doch wir sollten über diese Fragen nicht die Wunder und alles Schöne vergessen, die die Wissen schaft möglich gemacht haben. Die Einsichten der Wissenschaft haben viele Aspekte meines eigenen buddhistischen Weltbildes bereichert. Ein steins Relativitätstheorie mit ihren anschaulichen Gedan kenexperimenten hat meinem Verständnis von Nagarjunas Theorie der Relativität der Zeit eine empirisch fundierte Grundlage verliehen. Das außerordentlich detaillierte Bild des Verhaltens subatomarer Teilchen konnte mir Buddhas Lehren von der dynamischen, unbeständigen Natur aller Dinge näher bringen. Die Entschlüsselung des Genoms, des Erbgutes, das uns allen zu eigen ist, hat mir die bud
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SCHLUSSBEMERKUNGEN
dhistische Überzeugung über die grundsätzliche Gleich heit aller Menschen noch einmal deutlich bewusst ge macht. Welchen Platz nimmt die Wissenschaft in der Entwick lung des Menschen ein? Sie hat alles erforscht, von der kleinsten Amöbe bis zum komplexen neurobiologischen System Mensch; von der Entstehung des Universums und des Lebens auf der Erde bis hin zur Natur der Energie und der Materie. Die Wissenschaft hat die Wirklichkeit mit gro ßem Erfolg erkundet. Sie hat nicht nur unser Wissen revo lutioniert, sondern uns zugleich neuartige Wege der Er kenntnis gewiesen. Sie hat erste Schritte unternommen, um in die Tiefe des Bewusstseins vorzudringen, zu dem, was uns zu fuhlenden Wesen macht. Doch es bleibt die Frage: Kann uns die Wissenschaft letztendlich eine umfas sende Einsicht in das gesamte Spektrum der Wirklichkeit und des menschlichen Lebens vermitteln? Aus der Sicht des Buddhismus muss ein umfassendes Verständnis des Menschen nicht nur ein schlüssiges Bild der Wirklichkeit, unseres Erkenntnisvermögens und der Rolle, die das Bewusstsein darin einnimmt, umfassen, son·
dern es muss uns auch deutlich machen können, wie wir
handeln sollen. Das vorherrschende Wissenschafts para digma erkennt jedoch nur ein Wissen an, das auf genauen empirischen Methoden der Beobachtung, der Schlussfol gerung und der experimentellen Bestätigung beruht. Diese Methoden zeichnen sich durch Quantifizierung und Mes sung, Wiederholbarkeit und durch die Bestätigung Dritter aus. Viele Aspekte der Wirklichkeit, aber auch zentrale Er fahrungen der menschlichen Existenz - unsere Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, unsere Spititua
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lität und künstlerische Kreativität - fallen zwangsläufig aus dem Rahmen dieser Methoden heraus. Wissenschaftliche Erkenntnisse, so wie sie sich uns gegenwärtig darstellen, sind nicht vollständig. In meinen Augen ist es sehr wichtig, diesen Tatbestand und damit die Grenzen der Wissenschaft klar und deutlich zu erkennen. Nur durch diese Einsicht werden wir begreifen können, wie wichtig es ist, den Platz der Wissenschaft in der Gesamtheit menschlichen Wissens zu bestimmen. Andernfalls wird unser Weltbild, wird die Auffassung von unserer eigenen Existenz auf die wissen schaftlich bewiesenen Fakten begrenzt bleiben, was uns in eine zutiefst reduktionistische, materialistische, ja sogar ni hilistische Haltung fuhren wird. Ich kritisiere nicht den Reduktionismus an sich. Vielen unserer größten Entdeckungen liegen reduktionistische Ansätze zugrunde, wie sie das wissenschaftliche Experi ment und die Analyse im Allgemeinen auszeichnen. Zum Problem wird es jedoch, wenn der Reduktionismus, der ja eigentlich nichts anderes ist als eine Methode, zu einer me taphysischen Behauptung erhoben wird. In diesem Miss verständnis drückt sich ein allgemein menschlicher Cha rakterzug aus, der uns immer wieder Ziele und Methoden verwechseln lässt, insbesondere dann, wenn eine be stimmte Methode sich als sehr erfolgreich erweist. Auf diese Art der Verwechslung wird in einem prägnanten Bild der buddhistischen Kultur hingewiesen: Wenn jemand mit seinem Finger auf den Mond zeigt, sollten wir nicht aufdie Fingerspitze, sondern auf den Mond blicken. In diesem Buch habe ich versucht, deutlich zu machen, dass wir die Wissenschaft durchaus annehmen und die Richtigkeit ihrer empirischen Erkenntnisse anerkennen
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S CHLUS SB EM ERKUNGEN
können, ohne uns zugleich einem wissenschaftlichen Ma terialismus verschreiben zu müssen. Ich habe die Notwen
digkeit und die Möglichkeit einer WeItsicht begründet, die aufder Wissenschaft beruht, ohne damit den Reichtum der menschlichen Erfahrung und den Wert anderer Erkennt nismöglichkeiten als der wissenschaftlichen zu leugnen. Dies ist mir wichtig, da ich von ganzem Herzen davon überzeugt bin, dass eine enge Verbindung zwischen unse fern theoretischen Weltverständnis, unseren Überzeugun
gen bezüglich der Existenz des Menschen und seiner Mög lichkeiten und den ethischen Werten besteht, die unser Verhalten leiten. Wie wir uns selbst und die Welt, die uns umgibt, begreifen, hat zwangsläufig Auswirkungen auf un sere Einstellungen, aber auch auf unser Verhältnis zu unse ren Mitmenschen und zur Welt, in der wir leben. Dies' ist im Kern eine Frage der Ethik. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben eine besondere moralische Verantwortung; sie müssen sicher
stellen, dass die Wissenschaft den Interessen der Mensch heit in der besten Weise dient. Das, was sie auf ihren Spezi algebieten tun, hat die Macht, unser aller Leben zu beeinflussen. Ihnen wird ein größeres öffentliches Ver trauen entgegengebracht als den Angehörigen anderer Be rufs sparten - was auch immer die historischen Gründe dafur sein mögen. Selbstverständlich hat dieses Vertrauen nicht mehr den Charakter einer absoluten Gläubigkeit. Dafur hat es bereits zu viele Tragödien gegeben, fur die Wissenschaft und Technik entweder direkt oder indirekt verantwortlich waren. In meiner eigenen Lebenszeit muss man nur an Hiro
shima und Tschernobyl denken, an den Störfall im US
Wissenschaft, Spiritualität und Menschlichkeit
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Kernkraftwerk Harrisburg, die Giftgaskatastophe von Bho pal in Indien, an Schädigungen unserer Umwelt einschließ lich der Ausdünnung der Ozonschicht - das alles sind nu kleare, chemische und ökologische Katastrophen, an denen eben auch die Wissenschaft beteiligt ist. Ich appelliere an uns alle, unsere Spiritualität, den Reich tum und die Heilsamkeit unserer grundlegenden mensch lichen Werte, aufdie weitere Entwicklung der Wissenschaft und Technik in der menschlichen Gesellschaft einwirken zu lassen. Obwohl sich ihre Ansätze unterscheiden, teilen Wissenschaft und Spiritualität im Grunde genommen das selbe Ziel: das Wohlergehen der Menschheit. Da, wo Wis senschaft wirklich Größe besitzt, fiihlt sie sich einem Er kenntnisdrang verpflichtet, der das Glück und die Entwicklung anderer im Auge hat. In buddhistischen Be griffen würde eine solche Wissenschaft als Weisheit be schrieben werden, die durch Mitgefiihl das rechte Maß ge wonnen hat. Spiritualität ist ihrerseits nichts anderes als eine Reise zu unseren eigenen inneren Ressourcen, mit dem Ziel zu verstehen, was wir im tiefsten Sinne sind, und zu entdecken, wie wir gemäß den höchsten Idealen leben können. Auch das ist die Vereinigung von Weisheit und Mitgefiihl. Seit den Anfangen der modemen Wissenschaft hat sich die Menschheit in einem Dialog zwischen Spiritualität und Wissenschaft, zwei Q]Jellen des Wissens und des Wohler gehens, fortentwickelt. Manchmal war ihre Beziehung sehr eng, fast freundschaftlich, dann wieder war sie eher unter kühlt, und viele fanden, dass beide nicht zueinander pass ten. Heute, im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, kön nen sich Wissenschaft und Spiritualität näher kommen als
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Sc H LU SSB EM ERKUN GEN
je zuvor. Sie können sich auf einen gemeinsamen Weg be geben, der die einzigartige Chance in sich birgt, die Menschheit darin zu unterstützen, den Herausforderungen der Gegenwart zu begegnen. Auf diesem Weg sind wir alle miteinander verbunden. Möge jede und jeder Einzelne als Mitglied der menschlichen Familie die moralische Ver pflichtung annehmen, diesen gemeinsamen Weg zu ver wirklichen. Dies wünsche ich von ganzem Herzen.
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NACHWORT
von Wolfvon Lojewski
Man muss nicht Buddhist sein, um an diesem Dalai Lama Gefallen zu finden. Ich habe ihn einmal über einen Platz spazieren sehen, den vorher ein Bundespräsident über querte. Am Staatsoberhaupt zeigte das Publikum ein artiges, freundliches Interesse. Dem Dalai Lama liefen die Men sclien liinterher, und einige versuchten, ihn zu berühren. Er ist nun einmal ein Mensch oder eine Medienpersönlichkeit, wie es nur wenige gibt. An seine Göttlichkeit mag nicht jeder glauben, vielleicht erlaubt er den sonst doch so aufge klärten Europäern nur eine spontane Begegnung mit einer immer wieder verschütteten eigenen Sehnsucht. Zu ,sein, zu werden wie ef, ist wohl auf dieser Welt nicht wie
derholbar: hinter hohen Bergen aufgewachsen, urplötzlich aus ärmlicher Umgebung herausgegriffen und als Gott ent deckt, von seinen Lehrern von früh bis spät unterrichtet in religiösen Lehren und Ritualen. Niemand bringt ihm bei, dass es Mathematik oder Naturwissenschaften überhaupt gibt. Und plötzlich findet er irgendwo in den tausend Zim mern seines Palastes ein Teleskop, einen Filmprojektor und eine Taschenuhr. Und so wie sein Leben wird auch sein Weg zur Wissenschaft zu einer ungewöhnlichen Reise. Er beginnt, die Uhr in Einzelteile zu zerlegen und wieder zu sammenzusetzen, mit kindlicher Neugier stürzt er sich in einen Erkenntnisrausch, der seiner Umgebung fremd ist.
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Alles, was wir, was Jugendliche in Europa so schnell als selbstverständlich nehmen, um von einem Reiz und einer Entdeckung zur nächsten zu springen, versucht er geradezu mit den Händen zu begreifen, um es technisch wie seelisch in sich aufzunehmen. Als Erwachsener schließlich kommt er mit den kühnsten Geistern der Welt und der Wissen schaft ins Gespräch. Seine Neugier aufdie Welt - die Welt des unendlich Gro ßen, des unermesslich Kleinen und die Welt, die wir Men schen mit unseren Sinnen unmittelbar erfassen - sowie sein
Versuch, mit diesem Buch Naturwissenschaft und Religion miteinander in einen Dialog zu bringen, ist auch fiir den Leser eine lohnende Entdeckungsreise.