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Scan by Schlaflos HEYNE BUCH Nr. 06/4120 im Wilhelm Heyne Verlag, München Titel der amerikanischen Originalausgabe THE WHITE PLAGUE Deutsche Übersetzung von Roland Fleissner Das Umschlagbild schuf Jobst Teltschik Für die freundliche Nachdruckerlaubnis der Gedichtzeilen aus William Butler Yeats' >Byzanz< auf Seite 662 (deutsch von Richard Exner) danken wir dem Luchterhand Verlag Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright © 1982 by Frank Herbert Copyright © 1984 der deutschen Obersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Printed in Germany 1984 Satz: Schaber, Wels Druck und Bindung: Eisnerdruck GmbH, Berlin ISBN 3-453-40089-5
VORREDE Es gibt in der >Seele< des irischen Volkes ein Verlangen nach Macht - genau wie bei allen anderen Völkern -, ein sehnsüchtiges Verlangen nach Überlegenheit, die es einem erlaubt, anderen zu befehlen, wie sie sich verhalten müssen. Nur nimmt dies in den Iren seltsame Formen an. Das rührt daher, daß wir unsere uralte Sozialstruktur verloren haben: die unkomplizierteren Gesetze, den Rath und die Familie als Kernstück unseres sozialen Lebens. Regierungsformen eines römisch-imperialen Stils versetzen uns in Angst und Schrecken. Sie werden in aller Regel verwässert zu einem System von sporadisch plazierten Machtinhabern und Untertanen, wobei zwangsläufig die letzteren zahlreicher sind als die ersteren. In manchen Fällen findet der Prozeß unter Wahrung großer Raffinesse statt, so etwa in Amerika: eine langsame, stetige Anhäufung von Macht, ein neues Gesetz nach dem anderen, und sämtlich manipuliert von einer >Elite<, die das Monopol innehat, als einzige die Geheimsprache der Rechtsbeugung zu beherrschen. Doch man soll nicht die Macht-Besitzer allein anklagen. Für eine solche soziale Kluft sind willige, manipulierbare >Untertanen< gleichermaßen die Voraussetzung. Wahrscheinlich blüht das beinahe allen Regierungen, einschließlich dem Sowjet-Marxismus. Schaut man sich die Sowjetunion an, bemerkt man eine recht seltsame Bereitwilligkeit des Menschen, sich manipulieren zu lassen: die Sowjets bauten eine nahezu perfekte Kopie der zaristischen Herrschaft auf, bestimmt von dergleichen Paranoia, mit der gleichen Geheimpolizei, dem gleichen sakrosankten Militär, den gleichen LiquidierungsBrigaden, den Todeslagern in Sibirien, der terroristischen Unterdrückung, wo immer sich schöpferische Phantasie zu regen wagte, und der Deportation für jene Menschen, die man weder umbringen noch kaufen konnte. Es ist wie an Brocken schrecklichen Plastiksprengstoffs in unserem Gedächtnis, in den dunkelsten Ecken unseres Hirns, auf Abruf bereit, sich zu primitiven 5 Mustern zurückzuformen, sobald die Hitzewelle ihn bestreicht. Ich habe Angst, wenn ich daran denke, welche Gestalt die Welt durch die Hitzewellen annehmen könnte, die O'Neills Pest auszulösen imstande sein wird. Wahrhaftig, ich ängstige mich, denn der Druck ist immens. FlNTAN CRAIG DOHENY Für Ned Brown - für die Jahre seiner Freundschaft Der Herdstein der Hölle soll auf ewig sein Kopfkissen sein! Alter irischer Fluch Es war ein ganz gewöhnlicher Ford britischer Bauart, das Modell für den kleinen Geldbeutel, mit dem Steuer rechts, wie es die Regel in Irland ist. John Roe O'Neill würde sich immer an den rechten Arm des Fahrers erinnern, den braunen Pulloverarm, der im diffusen Wolkenlicht des Dubliner Nachmittages im offenen Fensterbogen des Autos lag. Ein abgekapselter, alptraumhafter Erinnerungsfetzen, der alles andere ringsum ausschloß, was sonst noch geschehen sein mochte; da waren nur das Auto und dieser Arm. Mehrere Überlebende gaben an, sie hätten am linken vorderen Kotflügel des Ford das Loch im verbeulten Blech bemerkt. Der Riß war bereits vom Rost angefressen. Auf dem Krankenhausbett gab eine Zeugin zu Protokoll: »Also, das war so ein zerfranstes Ding, und ich hab mir noch gedacht, ob sich da bloß nicht wer verletzt, wenn er da dranstößt.« Zwei der Zeugen, die sich erinnerten, daß sie den Wagen aus der Lower Leeson Street einbiegen sahen, kannten den Fahrer vorher schon beiläufig, aber nur aus der Zeit, als er noch die Postleruniform getragen hatte. Sein Name lautete Francis Bley, Briefträger im Ruhestand, und er hatte einen Teilzeitjob als Wachmann auf einem Baugelände in Dun Laoghaire. Bley fuhr an jedem Mittwoch früh los, um Zeit für ein paar Besorgungen zu haben und vor dem Arbeitsbeginn noch seine Frau, Tessie, abzuholen. An diesem einen Tag der Woche erledigte Tessie am Vormittag >leichte Büroarbeit< in einem Wettbüro in der King Street. Sie hatte die Gewohnheit, den Rest des Tages bei ihrer verwitweten Schwester zu verbringen, die in einem modernisierten Torwächterhaus an der Umgehungsstraße am Dun Laoghaire wohnte, >also bloß ein paar Minuten Umweg für ihn<. 7 Und heute war Mittwoch, der 20. Mai. Bley war unterwegs, um Tessie abzuholen. Die linke Vordertür des Ford, scheinbar bei dem Unfall nicht in Mitleidenschaft gezogen, bei dem der Kotflügel eingedrückt worden war, mußte noch immer mit einem zusammengedrehten Draht am Türpfosten am Aufspringen gehindert werden. Bei jeder Bodenerhebung klapperte die Tür. »Also, ich hab sie klappern hören, als er in den St. Stephens Green South einbog«, sagte ein Zeuge. »Ich hab es
bloß der Gnade Gottes zu verdanken, daß ich nicht an der Ecke Graf ton gestanden bin, als es passiert ist.« Bley bog vom St. Stephen's Green South nach rechts ab, und damit befand er sich auf St. Stephen's Green West, und er hielt sich auf der linken Fahrspur in Richtung auf die Grafton Street. Es hätte bessere Routen gegeben, um Tessie abzuholen, aber diese war nun einmal > seine Strecken »Er hat halt die vielen Leute da immer so gern gesehen«, sagte Tessie. »Gott gebe ihm die ewige Ruhe, er hat immer gesagt, daß er das am meisten vermißte, seit er von der Post weg ist ... die vielen Menschen.« Bley, ein Leichtgewicht mit zerknitterter Haut, hatte das kadaverhafte Gesicht und jene trommelfellstraff gespannte Haut über den Knochen, wie dies bei gewissen Kelten aus dem Süden Irlands im Alter häufig auftritt. Er hatte einen schmuddeligen braunen Hut auf, fast vom gleichen Braun wie der aus Flicken zusammengestückelte Sweater, und er saß mit der gleichmütigen Geduld am Steuer, die jemand aufbringt, der die Strecke oft fährt. Und hätte er die Wahrheit sagen müssen, dann hätte er zugeben müssen, daß er es eigentlich ganz gern hatte, wenn der dichte Verkehr ihn zum Langsam fahren zwang. Fast den ganzen Frühling hindurch war es naß und kalt gewesen, und der Himmel war zwar noch immer bedeckt, aber die Wolkendecke war schütter geworden, und es hing so eine Ahnung in der Luft, daß bald ein Wetterumschwung eintreten könne. Nur noch wenige Fußgänger schleppten 8 ihre Regenschirme mit. Die Bäume auf dem St. Stephen's Green, rechts von Bley, waren schon vollbelaubt. Während der Ford sich im stockenden Verkehr langsam voranschob, nickte der Mann, der den Wagen von einem Fenster im vierten Stock des Irish Film Society Building aus beobachtete, einmal zufrieden vor sich hin. Genau nach Zeitplan. Sie hatten sich Bleys Ford ausgesucht, weil er immer pünktlich am Mittwoch vorbeikam. Hinzu kam, daß Bley den Wagen in der Davitt Road, wo er und Tessie lebten, nie in die Garage fuhr. Der Ford wurde draußen an einer dichten Taxushecke abgestellt, zu der man sich von der Straße her, gedeckt durch einen parkenden Lastwagen, auf einem schmalen Weg heranschleichen konnte. In der vorangegangenen Nacht war ein Lastwagen auf eben, dieser Schutz bietenden Stelle geparkt gewesen. Nachbarn hatten ihn gesehen, aber keiner hatte sich zu dem Zeitpunkt darüber Gedanken gemacht, keiner hatte etwas gesagt. »Da stehen oft geparkte Wagen«, sagte einer. »Wie hätten wir das ahnen können.« Der Beobachter im Film Society Building hatte viele Namen, doch bei der Taufe hatte man ihm den Namen Joseph Leo Herity gegeben. Er war klein, der Körperbau fest und muskulös, darüber ein langes mageres Gesicht, und seine Haut war bleich, so daß sie fast durchscheinend wirkte. Die blonden Haare waren stramm nach hinten gekämmt und hingen ihm fast bis auf den Kragen. Die hellbraunen Augen saßen tief in den Höhlen, und er hatte eine Stupsnase mit geblähten Nasenflügeln, aus denen Haare sprossen. Von dem Beobachtungsstand im vierten Geschoß aus hatte Herity einen hervorragenden Überblick über den ganzen Schauplatz der Tragödie, die er per Knopfdruck in Kürze zu entfesseln gedachte. Direkt ihm gegenüber bildeten die hohen Bäume des Green eine Laubmauer um den Strom der Fahrzeuge und Fußgänger. Die Statue Robert Emmets stand seinem Fenster gegenüber, und links davon verwies ein Schild mit schwarzer Schrift auf weißem Grund zu den öf9 fentlichen Toiletten. Bleys Ford kam mit dem restlichen Verkehr direkt links von Heritys Fenster zum Stehen. Ein weißer Touristenbus mit blauen und roten Streifen an der Seite ragte vor dem kleinen Ford auf. Der Gestank der Abgase war sogar hier oben im vierten Stock unangenehm dick. Herity verglich die Nummer auf Bleys Nummernschild, um ganz sicher zu gehen. Richtig -JIA-5028. Und da war auch noch der eingedrückte Kotflügel links vorne. Der Verkehr schob sich wieder Zentimeterweise vorwärts und kam wieder zum Stillstand. Herity warf einen kurzen Blick nach links, zur Ecke Grafton Street. Er konnte die Reklameschilder des ToyWorld-Ladens und der Irish Permanent Society im Erdgeschoß des roten Backsteingebäudes sehen, das in Kürze in den Besitz der Ulster Bank übergehen sollte. Es hatte deswegen ein bißchen Protest gegeben - einen schütteren Demonstrationsmarsch mit ein paar Transparenten, aber dann war das alles rasch wieder versickert. Die Ulster Bank hatte ein paar sehr einflußreiche Freunde im irischen Parlament sitzen. Barney und sein Haufen, dachte Herity. Die glauben, wir haben keine Ahnung, daß die vorhaben, sich mit den Ulster-Jungs friedlich zu einigen! Wieder rückte Bleys Ford eine Handbreit auf die Kreuzung zu, und wieder mußte er halten. Wo die Grafton vom St. Stephen's Green abbog, war der Strom der Fußgänger ziemlich dicht. Ein Kahlkopf in dunkelblauem Anzug war fast direkt unter Heritys Fenster stehengeblieben und studierte bedächtig den Eingang zum Kino. Zwei junge Männer schoben ihre Fahrräder an dem Kahlkopf vorbei. Der Verkehr lag noch immer lahm. Herity schaute auf das Dach von Bleys Wagen hinunter. So harmlos sah diese Karre aus. Herity war einer der beiden Männer gewesen, die sich in der Nacht zuvor aus dem von der Taxushecke abgeschirmten Lastwagen zu der Stelle geschlichen hatten, an der Bley seinen Ford abgestellt hatte. In Heritys Hand hatte das Päckchen mit Plastiksprengstoff gele10 gen, das sie dann wie eine plattgedrückte Napfschnecke unter Bleys Auto angebracht hatten. Im Innern des
Päckchens steckte ein winziger Radioempfänger. Der dazugehörige Sender lag vor Herity auf dem Fenstersims. Ein kleiner schwarzer Metallwürfel, mit einer dünnen Drahtrichtantenne und zwei in Vertiefungen sitzenden Kippschaltern - einer gelb angemalt, der zweite rot. Der gelbe setzte das Gerät in Betrieb, der rote Schalter bewirkte die Übertragung des Funkbefehls. Ein Blick auf die Armbanduhr sagte Herity, daß es bereits fünf Minuten nach dem Punkt Null war. Aber das war nicht Bleys Schuld. Es war bloß dieser verdammte Verkehr. »Nach dem Bley kannste dein' verdammten Wecker stellen«, hatte der Anführer des Kommandos gesagt. »Der alte Bock sollte 'ne Straßenbahn fahren.« »Wo steht'n der politisch?« hatte Greaves gefragt. »Wenn kümmert's, wo der politisch steht?« hatte Herity gekontert. »Er paßt perfekt in die Sache, und er wird für eine große Sache sterben.« »Die ganze Straße wird voller Leute sein«, hatte Greaves gesagt. »Und 'ne Menge Touristen unter ihnen, so sicher, wie die Hölle voller Briten steckt.« »Wir haben sie gewarnt, daß sie die Ulster-Jungs stoppen müssen«, hatte Herity gesagt. Der Greaves war wirklich manchmal ein richtiges altes Weib! »Und die wissen genau, was ihnen blüht, wenn sie nicht auf uns hören.« Damit war die Geschichte gelaufen. Und jetzt rückte Bleys Wagen wieder ein paar Zentimeter auf die Ecke Grafton Street zu, näher an den Haufen von Fußgängern heran, unter denen möglicherweise auch Touristen waren. John Roe O'Neill, Mary, seine Frau, und die fünf Jahre alten Zwillinge, Kevin und Mairead, hätte man in die Kategorie >Touristen< einordnen können; allerdings beabsichtigte John immerhin ein halbes Jahr in Irland zu verbringen, weil er eine Forschungsarbeit zu beenden gedachte, für die er sein Stipendium von der Pastermorn Foundation in New Haven, Connecticut, erhalten hatte. »Ein zusammenfassender Überblick über die Genforschung in Irland.« Er selbst hielt den Arbeitstitel für recht geschwollen, aber schließlich stellte er ja nur den Rauchvorhang her. Das tatsächliche Forschungsziel war, herauszufinden, wie eine vom Römischen Katholizismus geprägte Gesellschaft sich der neuen Entwicklung auf dem Sektor Genforschung gegenüber verhalten werde und ob es in einer derartig strukturierten Gesellschaft bereits feste Standpunkte und Präventivmaßnahmen angesichts der explosiven Möglichkeiten gab, wie sie die Molekularbiologie mit sich bringen würde. An diesem Mittwochvormittag kaute er eigentlich ziemlich heftig an den Problemen der Zielbestimmungen seines Projekts herum, aber dann lenkten ihn die nötigen Vorbereitungen ab und forderten seine Aufmerksamkeit. Ganz oben auf seiner Liste der zu erledigenden Dinge stand der Punkt, daß er den Transfer gewisser Summen aus den USA auf ein Konto der Allied Irish Bank in die Wege leiten müsse. Mary wollte auf die Jagd nach Sweatern gehen, >damit unsere Wonnebrocken an 'nem kalten Abend nicht frieren<. »Na, da haben wir's ja«, hatte John sie geneckt, als sie aus dem Sherbourne Hotel traten und sich in den Sturzbach aus Touristen und anderen geschäftigen Leuten stürzten. »Knapp vier Tage in Irland, und du hörst dich schon an wie eine Eingeborene.« »Und wieso nicht?« hatte sie gefragt. »Wo doch meine zwei Großmütter von Limerick sind.« Sie hatten so laut gelacht, daß ein paar Passanten sich veranlaßt sahen, sie neugierig anzustarren. Die Kinder hatten Mary vorwärtsgezerrt, weil sie es kaum noch erwarten konnten, endlich einzukaufen. Irland paßt zu Mary, dachte John. Sie hatte die richtige reine, helle Haut und die dunkelblauen Augen. Jettschwarzes Haar - ihre Familie nannte das immer > spanisches Haar< - wie ein Rahmen um das ziemlich runde Gesicht. Ein süßes Ge12 sieht. Eine irische Haut und irische Gesichtszüge. Er bückte sich und gab ihr einen Kuß, ehe er wegging. Das trieb ihr die Röte ins Gesicht, aber sie war eigentlich geschmeichelt, daß er ihr so seine Zärtlichkeit bewies, und als sie sich trennten, hatte sie ihm ein warmherziges Lächeln mit auf den Weg gegeben. John war rasch fortgegangen. Er hatte in sich hineingesummt, und er hatte, mit leichtem Amüsement, sich dabei ertappt, daß er die Melodie von >Oh What a Beautiful Mornin'< brummte. Die Verabredung, die John an diesem Mittwoch >zwecks Transfers ausländischer Summen< mit der Allied Irish Bank vereinbart hatte, war für vierzehn Uhr im Bankgebäude an der Ecke Grafton und Chatham. Knapp hinter dem Eingang zur Bank hing ein Hinweisschild (weiße Lettern auf schwarzem Grund): >Für Nichtkunden unserer Bank - Eine Treppe höher. < Ein Wachmann in Uniform geleitete ihn die Treppen zum Büro des Bankdirektors hinauf, der Charles Mulrain hieß und ein kleiner nervöser Mann mit wergblondem Haar und fahlblauen Augen hinter einer goldgeränderten Brille war. Mulrain hatte die Angewohnheit, sich mit dem Zeigefinger über die Mundwinkel zu streichen, erst links, dann rechts, worauf er hastig die dunkle Krawatte nach unten glattstrich. Er quälte sich einen Witz darüber ab, daß sein Büro im ersten Stock liege, >was Sie im Amerika als den zweiten Stock zu bezeichnen pflegen<. »Ja, es ist ein bißchen verwirrend, bis man es kapiert hat«, hatte John ihm zugestimmt. »Also!« Kurzes Streicheln über Lippen und Krawatte. »Sie werden sicherlich verstehen, daß wir so etwas normalerweise nur in unserer Zentrale erledigen können, aber ...« »Als ich anrief, hat man mir versichert, es sei möglich ...«
»Um unseren Kunden entgegenzukommen«, sagte Mulrain. Er nahm eine Akte vom Schreibtisch, warf einen Blick hinein und nickte. »Ja, diese Summe ... Wenn Sie es sich hier bequem machen möchten, ich gehe nur rasch die richtigen Formulare holen. Ich bin gleich wieder da.« 13 Mulrain warf John von der Tür her ein verkniffenes Lächeln zu und war verschwunden. John trat ans Fenster, zog die schwere Spitzengardine beiseite und schaute auf die Grafton Street hinunter. Die Gehsteige waren überfüllt von Fußgängern bis hinauf zum runden Eingangstor in den St. Stephen's Green, zwei kurze Häuserblocks weiter oben in der Grafton. Der Autoverkehr zwängte sich auf doppelter Fahrspur im Kriechgang auf ihn zu. Auf dem Dach des Einkaufszentrums schräg über die Straße hinweg war ein Arbeiter dabei, die Brustwehr zu säubern - eine Gestalt in weißem Kittel mit einer langstieligen Bürste. Er hob sich gegen die Phalanx der fünf Schornsteinhauben ab. John warf einen Blick auf die geschlossene Tür im Büro des Bankdirektors und fragte sich ungeduldig, wie lange dieser wohl brauchen werde. Die Leute hier waren mit allem so pingelig. John schaute auf die Armbanduhr. Mary und die Kinder würden in ein paar Minuten da sein. Sie hatten vor, irgendwo Tee zu trinken, dann wollte John die Grafton hinunter zum Trinity College gehen und sich in der Unibibliothek an die Arbeit machen womit er dann tatsächlich sein Forschungsprogramm begonnen haben würde. Viel später sollte John sich an die paar Minuten im Büro des Bankdirektors im >ersten Stock< erinnern, wie er da am Fenster gestanden hatte, und er würde denken, daß gleichzeitig eine ganz andere Sequenz von Ereignissen in Bewegung gesetzt worden war, ohne daß er davon eine Ahnung gehabt hatte, etwas Unerbittliches, Unentrinnbares, wie ein Film im Kino, in dem ein Bild dem andern folgte, ohne die geringste Möglichkeit einer Abweichung. Alles konzentrierte sich auf Francis Bleys alten Wagen und einen kleinen UKW-Sender unter den Fingern eines entschlossenen Mannes, der von einem offenen Fenster aus die Szene auf der Straße beobachtete, den Ausschnitt, wo die Grafton Street auf den Park, St. Stephen's Green, stieß. Bley, wie immer geduldig, rückte im Tempo des stockenden Verkehrs voran. Herity, auf seinem Hochstand im Fen14 ster, legte den Kippschalter um, der den Sender aktivierte, und vergewisserte sich gleichzeitig, daß die Drahtantenne über den Fenstersims hinunterhing. Als er sich bis kurz an die Kreuzung Grafton herangeschlichen hatte, zwang der Ansturm der Fußgänger Bley zum Halten, und er verpaßte seine Chance, als die Ampel auf Grün sprang. Er hörte, wie der Touristenbus rechts von ihm aus der Schlange ausscherte und mit schwerem Dieselgedröhn davon brummte. An dem Gebäude zu seiner Linken waren sie dabei, Bauzäune aufzustellen, und an dem Bau hing ein Schild mit weißer Schrift auf rotem Grund: >Dieses Haus Wird Modernisiert - G. Tottenham Sons, Ltd.< Bley schaute nach rechts und sah das blau-weiße Schild der Prestige Cafeteria. Er verspürte ein leichtes Hungergefühl. Die schmale Passage für die Fußgänger an seiner Seite war von Menschen verstopft, die darauf warteten, zum St. Stephen's Green überwechseln zu können, andere fädelten sich zwischen den haltenden Wagen durch, die auf der Grafton standen und Bley die Weiterfahrt versperrten. Das Gedränge war um Bleys Ford besonders dicht, vor und hinter ihm schoben sich die Leute vorbei. Eine Frau in einem braunen Tweedmantel, ein weißes Paket hatte sie unter den rechten Ellbogen geklemmt, an jeder Hand hielt sie ein kleines Kind fest, zögerte rechts vor Bleys Wagen, während sie nach einer Lücke in dem andrängenden Menschenstrom suchte. John Roe O'Neill, am Fenster des Bankdirektors, erkannte Mary. Sie war ihm aufgefallen, weil sie diesen wohlvertrauten Tweedmantel anhatte, dann hatte er sie an ihrer Kopfhaltung erkannt und an dem glattanliegenden jettschwarzen Haar. Er lächelte. Die Zwillinge wurden von den drängelnden Erwachsenen verdeckt, doch konnte er aus Marys Haltung erkennen, daß sie die Kinder an den Händen hielt. Eine plötzliche Lücke im Menschenstrom gestattete John einen kurzen Blick auf Kevins Kopf und den alten Ford mit dem braunen Pulloverarm des Fahrers, der aus dem Fenster ragte. Wo bleibt der verdammte Bankmensch? dachte John. Sie kann doch jede Sekunde hier sein. 15 Er ließ den schweren Spitzenstore zufallen und schaute erneut auf die Armbanduhr. Herity, in dem geöffneten Fenster über und hinter Bley, nickte erneut in sich hinein. Er trat vom Fenster zurück und legte den zweiten Kippschalter an seinem Sender um. Bleys Auto explodierte, es riß von unten her auf. Die fast genau unter Bleys Füßen explodierende Bombe schleuderte ihn mit einem großen Stück des Wagendachs in die Höhe, sein Leib wurde zermalmt, die abgerissenen Gliedmaßen und Fleischfetzen in weitem Umkreis verstreut. Der größere Teil des Dachs segelte in einer langsamen Kurve nach oben und fiel krachend auf das Gebäude der Irish Permanent Society, wo er Kaminhauben und Schieferplatten zertrümmerte. Was Bomben angeht, so war diese keine von den großen gewesen, aber man hatte sie sachkundig angebracht. Das alte Auto verwandelte sich in einen Geschoßhagel aus scharfkantigen Metall- und Glastrümmern - es wurde zu einem orangeroten Feuerball, der mit tödlichem Schrapnell gespickt war. Ein Bruchstück der Kühlerhaube riß Mary O'Neill den Kopf ab. Die Zwillinge verwandelten sich in eine blutige Masse, die über die Straße und an die Einzäunung aus Eisenstäben um St. Stephen's Green geschleudert wurde. Später ließen sich ihre Leichen leichter identifizieren, weil sie die einzigen Kinder dieses Alters bei diesem Gemetzel gewesen waren.
Herity verschwendete keine Zeit damit, sich sein Werk anzuschauen; die akustische Information genügte ihm. Er stopfte den Radiosender in eine kleine abgetragene grüne Militärtasche, drückte einen abgetragenen gelben Pullover darüber, schnürte die Klappe zu und warf sich den Sack über den Rücken. Er verschwand durch den Hinterausgang aus dem Gebäude und fühlte sich irgendwie befriedigt und stolz. Barney und sein Gruppe würden nicht umhin können, diese Botschaft zu verstehen! John O'Neill hatte gerade rechtzeitig den Blick von der Armbanduhr gehoben, um mitanzusehen, wie der orangerote Feuerball Mary verschlang. Die schweren Spitzenvor16 hänge bewahrten ihn vor den splitternden Fensterscheiben, nur ein Glasstück wurde nicht von ihnen abgelenkt. Ein kleines Stück Glas zerfurchte ihm die Kopfhaut. Die Druckwelle der Explosion ließ ihn zurücktaumeln, und er stieß rücklings gegen den Schreibtisch. Dann fiel er seitlich zu Boden, war sekundenlang bewußtlos, kam aber rasch wieder auf die Knie, als der Bankdirektor schreiend in sein Büro gerannt kam. »Lieber Himmel, was war denn das?« John kam taumelnd auf die Füße. Er blockte die Frage und die Antwort ab, die wie ein Nachbeben des Explosionsschocks durch sein Hirn grollte. Er drängte sich an dem Bankdirektor vorbei zur Tür hinaus. Sein Denken war noch immer vom Schock beherrscht, doch sein Körper fand den Weg die Treppen hinunter. Er stieß mit der Schulter eine Frau beiseite, die unten am Fuß der Treppe stand, und rannte auf die Straße, wo er sich von der Menschenmenge mittragen ließ, die auf das Explosionszentrum zustürzte. In der Luft hing der Geruch von glühendem Eisen, und da waren diese Laute: wimmernd und kreischend. Sekunden später steckte John mitten in einer dichtgedrängten Menschenmasse, die von Polizisten zurückgehalten wurde, auch von nichtverletzten Passanten, die man schnell zwangsverpflichtet hatte, damit sie mithelfen sollten, die Explosionsstätte freizuhalten. John stieß sich mit den Ellbogen und krallenden Fingern nach vorn. »Meine Frau!« schrie er. »Ich hab sie gesehen. Sie war da! Meine Frau - unsere Kinder!« Ein Polizist packte ihn fest an den Ellbogen und zwang ihn so, sich umzudrehen, damit John das Gewirr von ineinander verkeilten Stoffen und blutigen Fleischfetzen nicht sehen könne, das die Straße bedeckte. Das Stöhnen und Röcheln der Verletzten, die Hilferufe, die Entsetzensschreie trieben John in einen unkontrollierbaren Furor. Mary braucht mich! Er versuchte sich dem Polizisten zu entwinden. »Mary! Sie war da, direkt vor dem ...« 17 »Die Rettungswagen sind unterwegs, Sir! Helfer sind bereits da. Sie müssen ruhig bleiben. Sie können da jetzt nicht durch.« Links von John sagte eine Frau: »Lassen Sie mich durch! Ich bin Krankenschwester.« Diese Stimme vor allem ließ John davon Abstand nehmen, sich weiter gegen den Polizisten zur Wehr zu setzen. Da waren Menschen, die halfen. Da war eine Krankenschwester. »Es dauert nicht mehr lange, dann ist alles wieder klar, Sir«, sagte der Polizist. Die Stimme klang enervierend ruhig. »Das ist ein ganz übler Schnitt, den Sie da am Kopf haben. Ich helf Ihnen mal eben rüber, damit ein Krankenwagen Sie aufnehmen kann.« John ließ zu, daß man ihn durch eine sich in der Menge öffnende Gasse führte; er nahm die neugierig starrenden Blicke wahr, hörte die Stimmen, die rechts von ihm »Ohhh« flüsterten, hörte, wie die Menschen Gott anriefen (»Schau doch mal dorthin!«) - und die vor Angst und Gier bebenden Stimmen sagten John Bescheid über etwas, das er nicht sehen wollte. Aber er wußte, er wußte es trotz allem. Und dann gab es immer wieder den kurzen Blick an dem Polizisten vorbei, der ihm zu einer freigemachten Stelle an einem Haus, gegenüber dem Park, hinüberhalf. »Na also, Sir«, sagte der Polizist. »Gleich wird sich hier jemand um Sie kümmern.« Und dann zu jemand anderem: »Ich glaub, er ist von 'nem rumfliegenden Splitter getroffen worden; aber die Blutung hat wohl aufgehört.« John lehnte mit dem Rücken gegen eine verkohlte Backsteinwand, von der noch immer der Staub von der Explosion rieselte. Unter seinen Schuhsohlen war splittriges Glas. Rechts konnte er durch eine Lücke in der Menschenmasse etwas von dem blutigen Durcheinander an der Straßenecke erblicken, er sah die Leute, wie sie sich hin- und herschoben und sich über zerfetztes Fleisch beugten. Er glaubte hinter einem am Boden knienden Priester Marys Mantel zu erkennen. Irgendwo in seinem Innern gab es da etwas, das diesen 18 szenischen Ablauf begriff. Aber sein Verstand blieb wie gefroren, das Denkvermögen war irgendwie erstarrt und nur zu begrenzten Mechanismen fähig. Wenn er sich gestatten würde, freihin zu denken, zu fühlen, dann würde das Geschehen verfließen - die Zeit, die würde weitergehen ... eine Zeit ohne Mary und ohne die Kinder. Irgendwie war es so, als bewahre irgendwo in seinem Innersten ein winziger Edelstein sich vor dem Zersplittern, ein Brillant des Bewußtseins, des Verstehens, Begreifens ... aber nichts sonst würde sich verändern dürfen, das konnte er nicht zulassen. Eine Hand berührte seinen Arm. Es war wie ein elektrischer Schock. Ein Schrei brach aus ihm hervor - wie der Schrei eines Sterbenden - und hallte die Straße hinunter. Menschen drehten sich abrupt um und starrten zu ihm herüber. Das Blitzlicht eines Fotografen blendete ihn sekundenschnell und schnitt ihm den Schrei in der Kehle ab, aber der Schrei blieb, er
hörte ihn noch immer in seinem Kopf weitergellen. Der Schrei kam aus weiterer Ferne als nur den menschlichen Urzeiten herauf. Er kam aus einer tieferen Tiefe, die er in sich selbst nie vermutet hätte und der gegenüber er schutzlos war. Zwei Weißkittel eines Notarztwagens packten ihn. Er spürte, daß man ihm den Mantel herunterzerrte, den Hemdärmel zerriß. Dann der Stich der Nadel im Arm. Und während sie ihn in den Krankenwagen katapultierten, hüllte eine überwältigende Benommenheit sein Gehirn ein und schwemmte die Erinnerung davon. Noch lange Zeit später weigerte sich sein Erinnerungsvermögen, diese Augenblicke des Schocks zu reproduzieren. Er konnte sich an das kleine Auto erinnern, an den Ellbogen im braunen Pullover im offenen Fenster - aber an nichts, was danach war. Er wußte, er hatte gesehen, was er gesehen hatte: die Explosion, das Blut, die Leichen. Sein intellektuelles Denkbewußtsein rang mit den Tatsachen, kämpfte gegen sie an. Aber ich stand doch an diesem Fenster, ich muß den Feuerball gesehen haben.. Aber wie das im einzelnen gewesen war, das lag hinter einem abschirmenden Vorhang verborgen, den er nicht zu durchdringen vermochte. Das lag wie ein Eisblock in 19 ihm und verlangte von ihm, daß er etwas tue, weil sonst dieser Eisklumpen auftauen und ihn auslöschen würde. Verzweiflung und Gram sind der Keltenseele vertrauter, als es Freude und Sieg sind. Jede keltische Lust hat ihren Beigeschmack von Gram. Jeder Sieg führt in die Verzweiflung. FlNTAN CRAIG DOHENY Stephen Browder hockte auf dem Rasen der Medizinischen Fakultät des University College, Cork, und las den Bericht über den Bombenanschlag in der Grafton Street. Als altes Sechssemester wußte Browder inzwischen genug über den Lehrbetrieb und konnte sich so eine ausgedehnte Mittagspause verschaffen, seine Texte büffeln und noch zwischen zwei Vorlesungen ein bißchen Luft schnappen. Für seine Mittagspause allerdings hatte er sich diese besondere Stelle gewählt, weil sich da auch immer mal die Schwesternschülerinnen einzufinden pflegten und weil Kathleen O'Gara oft unter diesem Mittagbrot essenden Schwärm war. Es war ein warmer Tag, und das hatte viele andere Menschen dazu bewegt, auf den Rasen zu kommen, anstatt in der steinernen mittelalterlichen Scheußlichkeit des Fakultätsgebäudes zu bleiben, das einen oft mehr an das alte Gefängnis erinnerte, das einst an dieser Stelle gestanden hatte, als an eine moderne medizinische Einrichtung. Der Corksche Examiner, den er in den Händen hielt, diente nur als Staffage, aber das Foto eines schreienden Mannes hatte seine Aufmerksamkeit erregt - >US-amerikanischer Tourist verliert seine ganze Familie< - und er hatte den Text gelesen und über den grauslichen Details ab und zu den Kopf geschüttelt. Die Aufmerksamkeit, die Browder der Schwesternschülerin Kathleen O'Gara schenkte, war dem Rest des Schwesternkursus keineswegs entgangen. Gerade wurde sie wieder damit geneckt. 20 »Da isser wieder, Karie! Soll ich dir 'n Taschentuch leihen, damit du's bei ihm fallenlassen kannst?« Kate wurde rot, brachte es aber doch nicht fertig, nicht quer über den Rasen zu Browder hinüberzuspähen. Der junge Mann sah mager aus, wirkte linkisch, und er hatte semmelblondes Haar und weit auseinanderstehende blaue Augen. Seiner ganzen körperlichen Erscheinung nach würde er zweifellos einmal einer jener rundrückigen Feld-, Wald- und Wiesen-Allgemeinpraktiker werden, die ihren Patienten durch ihre überwältigende Güte so großes Vertrauen einflößen. Und er wirkte so hartnäckig in Gedanken versunken, und das gefiel ihr. Die linkische Scheu würde sicherlich bald einer professionellen Zurückhaltung weichen, einer gewissen hochnäsigen Nüchternheit, und das würde gut zu den feingezeichneten Gesichtszügen passen. Browder hob den Blick von der Zeitung in seinen Händen und richtete ihn direkt in Kates Augen - dann schaute er hastig weg. Seit zwei Wochen schon mühte er sich, den Mut aufzubringen, sich auszudenken, wie er sie fragen könnte, ob sie mit ihm einmal ausgehen wolle. Und in diesem Augenblick ging er gerade mit sich selbst ins Gericht, weil er sich nicht einmal traute zurückzulächeln. Er hätte nicht genau definieren können, warum sie ihn so anzog. Ihre Figur war eher jungenhaft, ein wenig untersetzt, aber dabei anmutig. In der Haut zeichneten sich jene feinen Äderchen ab, die dem Teint einen rosigen Schimmer verleihen. Und ihr Haar - das Haar war ein Stückchen rotbraun schimmerndes Wikinger-Erbe, und die dunkelbraunen Augen saßen ziemlich tief unter einer breiten Stirn. Er wußte, daß sie als >prima< in ihrer Arbeit anerkannt war, als gescheit und fröhlich galt, und er hatte eine andere Schwesternschülerin über sie sagen hören: »Also, sie ist nicht grad 'ne Schönheit, aber es reicht. Sie ist hübsch genug, um sich 'nen Mann zu angeln.« Auf ihre Art ist sie schön, dachte er. Wieder warf er einen Blick zu ihr hinüber, und wieder trafen sich ihre Augen. Sie lächelte, und er zwang sich, auch zu 21 lächeln, ehe der Kontakt abbrach. Das Herz klopfte ihm heftig in der Brust. Er beugte sich wieder über seine Zeitung, sozusagen als Ablenkungsmanöver. Das Foto des schreienden Mannes schien ihm entgegenzuspringen, wie etwas Eisiges. Der arme Kerl hatte bei der Explosion seine ganze Familie verloren - die Frau und zwei Kinder. Einen Augenblick lang schwebte vor Browder das Phantasiebild, daß er mit Kate O'Gara verheiratet sei, und natürlich hatten sie Kinder. Und dann waren sie plötzlich einfach nicht mehr da. Alle tot. Was immer Stephen Browder alles dazu bewogen haben mochte, sich diesen Beruf zu erwählen, war durch diesen Bombenanschlag aufs äußerste empört. Ließ sich so eine widerwärtige Tat überhaupt mit irgend etwas
rechtfertigen? Selbst die Wiedervereinigung Irlands, für die er an Gedenktagen inbrünstig betete - konnte sie denn solche Greuel rechtfertigen? In dem Bericht des Examiner stand, daß eine Splittergruppe der IRA, die >Provos<, sich stolz zu dem Anschlag bekannten. Browder hatte ein paar Freunde bei der IRA. Einer seiner Studienkollegen fertigte sogar Sprengkörper für sie an. Es war nicht weiter schwer herauszufinden, wohin die Sympathien der Mehrzahl der Studenten an dem University College sich richteten: Sie wollten, daß die Briten aus Irland verschwinden. Die verfluchten Brits! Browder war hin- und hergerissen zwischen seinen republikanisch-irischen Loyalitätsgefühlen und dem schockierten Mitgefühl für das, was man da den Menschen in Dublin angetan hatte. Einunddreißig Tote; sechsundsiebzig Menschen verstümmelt und verletzt. Und das Ganze nur, weil angeblich ein paar Männer im dail schwankend geworden waren und von >Annäherung< redeten. Gegenüber den Briten konnte es keine moderate Annäherung geben. Niemals! Aber würde sich durch Bomben jemals irgend etwas ins reine bringen lassen? Über seine Zeitung fiel ein Schatten. Browder blickte auf und sah, daß Kate O'Gara vor ihm stand und ihn anschaute. 22 Hastig stand er auf, das Lehrbuch über Anatomie rutschte ihm von den Knien, ein paar Seiten der Zeitung flatterten um ihn herum ins Gras. Dann schaute er auf sie hinunter und war sich auf einmal bewußt, daß er ja über einen Kopf größer war als sie. »Sie sind doch Stephen Browder, nicht?« fragte sie. »Ja. Ja, natürlich bin ich das.« Ihre Stimme war weich und wunderschön. So kam es ihm vor. Und ganz abrupt wurde ihm bewußt, was für einen enormen Vorzug eine solche Stimme für eine Krankenschwester darstellen müsse. Eine Stimme, die besänftigen, beruhigen konnte ... Ihm jedenfalls verlieh diese Stimme Mut. »Und Sie sind Kate O'Gara«, stammelte er. Sie nickte. »Ich hab gesehen, wie Sie da über den Bombenanschlag gelesen haben. Den in Dublin. Es ist furchtbar.« »Das ist es«, pflichtete er ihr bei. Und dann, ehe sein Mut ihn wieder im Stich lassen konnte, fragte er: »Müssen Sie jetzt gleich wieder in die Vorlesung?« »Ich habe nur noch die paar Minuten.« »Und wann machen Sie Schluß?« Und er wußte, daß er knallrot wurde, als er sie das fragte. Sie senkte den Blick. Was für lange Wimpern sie hat, dachte er. Sie schwebten wie Federn über ihren Wangen. »Ich möcht' Sie halt gern sehen«, sagte er. Und das war bei Gott - die reine Wahrheit! Er konnte die Augen nicht von ihr losreißen. »Ich muß eigentlich um halb fünf zu Hause sein«, sagte sie von unten herauf in sein Gesicht. »Vielleicht können wir unterwegs Tee trinken.« »Dann treffen wir uns also nach der Vorlesung?« bat er. »Gern.« Sie lächelte ihm zu und ging dann rasch zu ihrer Gruppe zurück. Eine der Schwesternschülerinnen, die das Treffen der beiden beobachtet hatte, flüsterte einer Freundin zu: »Lieber Gott! Bin ich froh, daß das geklappt hat!« 23 Das >Heilige Irland< war ein bloßer Name, ein Mythos, ein Traum, ohne Bezug zu irgendeiner Wirklichkeit. Es war unsere Tradition, ein Teil des Rufes, in dem wir stehen, und eins mit dem Mythos, daß wir keine Ehre besitzen, außer der in ruhmreichen Schlachten errungenen. FATHER MICHAEL FLANNERY Ais er aufwachte, sah John Roe O'Neill an seiner Seite einen Priester stehen und einen Arzt am Fuß seines Bettes. Er konnte unter sich das Bett spüren, er roch Antiseptika. Also befand er sich anscheinend in einem Krankenhaus. Der Arzt war ein großer älterer Mann, schon grau an den Schläfen. Er hatte eine grüne Anzugsjacke an, das Stethoskop steckte in der Tasche. Wieso bin ich hier? überlegte John. Er war in einer Krankenstation; er sah: weitere Betten, in ihnen Gestalten. Das Zimmer war von unpersönlicher Kargheit, ein Ort, an dem sozusagen mit böswilliger Absicht die Individualität des darin Befindlichen negiert werden sollte -gerade so, als habe jemand bewußt und mit beachtlichem Haß sich bemüht, einen Ort zu schaffen, der nicht die geringste menschliche Wärme ausstrahlte. Wenn dieser Raum hätte sprechen können, er hätte verkündet: »Du wirst hier nicht lange leben.« John versuchte zu schlucken. Die Kehle tat ihm weh. Er hatte von Mary geträumt. In seinem Traum war sie von ihm fortgeschwommen, ringsum war eine immense blaue Fläche Wassers, kein Laut war zu hören gewesen, obwohl er sah, wie das Wasser spritzte. »Ich geh zu den Kindern«, sagte sie. Das hörte er, aber immer noch kein Laut von ihren Schwimmbewegungen. Sein Traum-Ich hatte gedacht: Aber natürlich. Sie muß zu den Kindern. Kevin und Mary werden sie brauchen. In seinem Traum konnte er Marys Gedanken spüren, als wären es seine eigenen. Ihre Gedanken übermittelten ihm eine merkwürdig kristalline Beschaffenheit, so wie man sie
24 nach einem Fieber erlebt. »Ich kann meinen Körper nicht fühlen«, sagte sie. »Armer John. Ich liebe dich.« Und dann war er wach, und seine Augen brannten, und da waren dieser Priester und der Arzt. Der Raum war grün und stank nach Karbol, und das paßte nicht zu den Erinnerungen an amerikanische Krankenhäuser. Schwestern mit Hauben flatterten herum; und als eine davon merkte, daß er aufgewacht war, rannte sie eilends davon. Die Rollblende an dem einen hohen Fenster links vom Arzt war hochgezogen: vor dem Fenster Dunkelheit. Also war es Nacht. Als Beleuchtung dienten nackte Glühbirnen, die an langen Schnüren von der hohen Decke baumelten. Der Arzt betrachtete eine Tafel, die an einer Schnur und einem Haken am Fuß des Bettes hing. »Er ist wach«, sagte der Priester. Der Arzt ließ die Tafel fallen und schaute über die ganze Länge des Bettes zu John herauf. »Mr. O'Neill, Sie sind bald wieder gesund. Morgen früh sind Sie wieder quietschmunter.« Der Arzt drehte sich um und ging. Der Priester beugte sich zu John herunter. »Sind Sie katholisch, Sir?« »Katholisch?« Die Frage erschien ihm aberwitzig. »Ich bin ... Ich bin ... Pfarrei St. Rose ...« Aber wie kam es, daß er diesem Priester seine Pfarrgemeinde nannte? Der Priester legte John besänftigend die Hand auf die Schulter. »Schon gut, schon gut. Ich habe volles Verständnis.« John schloß die Augen. Er hörte das Scharren von Stuhlbeinen auf dem Fußboden, und als er die Augen wieder öffnete, sah er, daß der Priester sich gesetzt hatte und mit seinem Gesicht ganz nah gerückt war. »Ich bin Pater Devon«, sagte der Priester. »Wir wissen, wer Sie sind, Mr. O'Neill, aus Ihren persönlichen Sachen. Sind Sie vielleicht ein Verwandter von den O'Neills von Coolaney?« »Was?« John versuchte sich aufzurichten, doch davon begann sich ihm der Kopf zu drehen. »Ich ... nein. Ich weiß nicht.« 25 »Es wäre gut, wenn jemand von der Familie bei Ihnen sein könnte, in solch einer Prüfung. Man hat Ihre Frau identifiziert - durch ihre Handtasche. Ich möchte Ihnen die Einzelheiten ersparen.« Was für Einzelheiten? überlegte John. Er erinnerte sich an einen blutigen Klumpen Tweed, aber es gelang ihm nicht, ihn zeitlich und räumlich einzuordnen. »Ich muß Ihnen leider, leider eine sehr schlimme Nachricht überbringen, Mr. O'Neill«, sagte Pater Devon. »Die Kinder ...«, keuchte John, verzweifelt sich an diese Hoffnung klammernd. »Die Zwillinge waren bei ihr.« »Ahhh«, machte Pater Devon. »Also darüber weiß ich nichts. Es ist zwar schon ein paar Stunden her, und das Gröbste ist getan, aber ... Waren die Kleinen bei ihr, als ...« »Sie hat beide an der Hand gehalten.« »Dann würde ich keine große Hoffnung mehr hegen. Was für eine schreckliche Tat! Wollen Sie mit mir für die Seelen Ihrer Lieben beten?« »Beten?« John drehte den Kopf weg, er erstickte fast. Er hörte den Stuhl scharren, Schritte, die näherkamen. Eine Frauenstimme sagte: »Pater ...« Dann etwas, das John nicht verstand. Der Priester antwortete mit einem tiefen unverständlichen Gemurmel. Dann kam die Stimme der Frau deutlich: »Mutter der Barmherzigkeit! Seine Frau und die Kleinen, alle beide! Aaaach, der arme Mensch.« John wandte rechtzeitig den Kopf um zu sehen, wie die Nonne steifnackig fortging. Der Priester stand an seinem Bett. »Waren auch Ihre Frau und die Kinder katholisch?« fragte Pater Devon. John schüttelte den Kopf. Er fühlte sich fieberheiß und schwindelig. Was sollten diese Fragen? »Also 'ne Mischehe, wie?« Pater Devon war zu einer blitzschnellen Fehlinterpretation gelangt; seine Stimme klang ein bißchen vorwurfsvoll. »Nun, also mein Herz trauert trotzdem mit Ihnen. Man hat die sterblichen Oberreste ins Leichenschauhaus gebracht. Wir können ja morgen entscheiden, was mit ihnen geschehen soll.« 26 Überreste? dachte John. Sterbliche Überreste? Er redet von Mary und den Zwillingen! Der Arzt war zurückgekehrt und trat an die andere Seite des Krankenbetts, dem Priester gegenüber. John wandte sich ihm zu und sah, daß auch die Schwester wie durch Magie wieder da war. Über dem grünen Krankenhauskittel trug sie eine weiße Schürze, das Haar steckte unter einem enganliegenden Häubchen. Das Gesicht war schmal, keinen Widerspruch duldend. In der rechten Hand hielt sie eine Spritze. »Damit werden Sie schlafen können«, sagte der Arzt. Pater Devon meldete sich zu Wort: »Die Leute von der Garda werden morgen früh kommen und mit Ihnen reden. Lassen Sie mich rufen, wenn sie wieder fort sind.« »Und jetzt werden wir das Licht ein wenig dämpfen«, sagte der Arzt. »Allerdings, es ist höchste Zeit.« Die Stimme der Krankenschwester klang nörgelig und ziemlich barsch. An diesen Gedanken klammerte er sich, während der Schlaf über ihm zusammenschlug wie eine Decke. Der Morgen bestand aus scheppernden Bettpfannen auf einem Rollwagen. Als John die Augen öffnete, stand ein Polizist in Uniform auf der gleichen Stelle, wo zuvor der Priester gestanden hatte. »Man hat mir gesagt, daß Sie jetzt bald aufwachen werden«, sagte der Polizist. Die Stimme war eine fruchtige Tenorstimme, das Gesicht viereckig mit vortretenden Äderchen. Die Dienstmütze war steif unter den Arm
geklemmt. Links. Er zog aus einer Seitentasche ein kleines Notizbuch und machte sich bereit mitzuschreiben. »Also, ich werd Ihnen ja nicht zu sehr auf die Nerven gehn, Mr. O'Neill. Aber ich denk mir doch, daß Sie Verständnis dafür haben werden, daß wir da so ein paar Dinge erledigen müssen.« »Was wollen Sie von mir?« Johns Stimme war noch immer nur ein Krächzen. Der Kopf fühlte sich noch immer an, wie von Watte vollgestopft. 27 »Würde es Ihnen was ausmachen, mir anzugeben, was Sie in der Republik Irland zu tun beabsichtigten? Sir?« John starrte in das Gesicht des Polizisten. Zu tun beabsichtigten? In seinem bewußten Hirnteil wanderte diese Frage, ohne ein Ziel zu finden, eine Weile umher. Sein Verstand erschien ihm breiig und wie verstopft. Er mußte sich zur Antwort zwingen. »Ich kam ... Forschungsauftrag ... von der Foundation ... wollte eine Forschungsarbeit ...« »Und was war das für ein Forschungsauftrag?« »Gen- ... Genforschung.« Der Polizeibeamte schrieb das in sein Notizbuch, dann fragte er: »Und das ist Ihr Beruf? Genforscher?« »Ich ... Professor ... Molekularbiologie, Biochemie ... auch ...« Er holte Atem, und zitterte dabei. »Auch Pharmakologie.« »Und das wäre dann wohl in Highland Park im Staat Minnesota gewesen? Wir haben uns Ihre Papiere anschauen müssen, wenn Sie verzeihen wollen?« »Nahe da ... In der Nähe.« »Sie haben Verwandte hier in der Republik Irland?« »Wir ... wollten das rausfinden.« »Aha. Ich verstehe.« Der Beamte schrieb in seinem Notizbuch. John kämpfte gegen eine Verkrampfung in der Brust an. Dann konnte er seine Stimme wieder benutzen. »Wer ... wer hat das getan?« »Sir?« »Die Bombe?« Das Gesicht des Polizisten erstarrte. »Man sagt, es sind die Provos, die sich dazu bekennen.« Etwas Eisiges durchfuhr John. Das harte Kissen unter seinem Nacken fühlte sich feuchtkalt an. Bekennen? Die Mörder bekannten sich also dazu wie zu einer Großtat? Viel später sollte John sich an diesen Augenblick erinnern, als an den Augenblick, in dem dieser Zorn geboren wurde, der von da an sein ganzes Leben beherrschen sollte. Es war 28 dieser Augenblick, in dem er seinen feierlichen Schwur ablegte. Ihr werdet dafür bezahlen! Und wie ihr dafür bezahlen sollt! Und in diesem Augenblick war sein Hirn nicht von dem allergeringsten Zweifel geplagt, wie er es anstellen würde, sie bezahlen zu lassen. Ist Ihnen klar, daß dieser eine Mann die politische Landkarte der Erde verändert? GENERAL LUCIUS GORHAM Berater des amerikanischen Präsidenten in außenpolitischen Fragen, im Gespräch mit dem Verteidigungsminister Es war in der Woche vor dem ersten Jahrestag des Bombenanschlags, als in der Grafton Street die ersten brieflichen Warnungen eintrafen. Die allererste war so plaziert worden, daß sie Irland zu spät für eventuelle Gegenmaßnahmen erreichte. Andere waren an die politischen Führer der Welt gerichtet, von denen sie als Briefe eines exzentrischen Spinners abgetan oder als Schwarzer Peter an > Spezialisten weitergereicht wurden. Zu Beginn waren die Briefe zahlreich - an die Nachrichtenstudios von Radio- und Fernsehstationen, an Zeitungen, an Premierminister und Staatspräsidenten, an führende Kirchenmänner. Später ließ sich feststellen, daß einer der ersten dieser Briefe an den Herausgeber einer Zeitung in Dublins O'Connell Street adressiert gewesen war. Chefredakteur Alex Coleman, dunkelhaarig und energiegeladen, versteckte seinen Schwung meist hinter einem Habitus von Milde, auch dann, wenn er gerade besonders scharf vorpreschte. Unter den Kollegen galt er als bizarre Ausnahme, weil er überzeugter Abstinenzler war, doch keiner sprach ihm das scharfe wache Gefühl für eine gute Story ab. Coleman las den Brief mehrmals. Er blickte dabei ab und zu auf und durch das Fenster aus dem dritten Stock auf die Straße hinunter, auf der morgendlicher Verkehr bereits zu 29 dem gewohnten frustrierenden Kriechen zu erstarren begann. Der Brief eines Spinners? Nein, der Schrieb klang nicht danach. Die Warnungen und Drohungen verursachten ihm Gänsehaut. Konnte so was möglich sein? Der Briefstil, die Worte klangen gebildet, wie von einem Intellektuellen. Der Brief war auf Kanzleipapier getippt. Er rieb das Blatt zwischen den Fingern. Teuer, so was. Owney O'More, Colemans Chefsekretär, hatte dem Brief einen Zettel angeheftet: »Ich hoffe, das ist ein Spinner. Sollen wir die Garda holen?« Also hatte der Brief auch Owney beunruhigt. Coleman las den Brief noch einmal durch, in der Hoffnung,
irgendwo einen Grund zu entdecken, aus dem er die Nachricht als unwichtig hätte abtun können. Dann legte er das Blatt Papier flach auf den Tisch vor sich und drückte die Taste des Haustelefons für Owney. »Sir?« In Owneys Stimme schwang immer so ein militärisch brüsker Ton mit. »Überprüfen Sie den Punkt mit Achill Island, würden Sie das tun, Owney? Stochern Sie nicht in Wespennestern rum, aber finden Sie mir raus, ob sich da was Ungewöhnliches tut!« »Mach ich sofort.« Wieder las Coleman sorgfältig den Brief. Das Schreiben war so verflixt direkt, so klar und ohne Umschweife. Dahinter steckte ein potenter Verstand und ... - ja, auch ein bestürzend zielstrebiger Verstand. Zwar stand da auch die übliche Drohung, man müsse den Brief veröffentlichen, »sonst...« doch alles in allem betrachtet ... »Ich werde meine angemessene Rache üben an ganz Irland, Großbritannien und Libyen.« Die Worte der Rechtfertigung dafür ließen in Colemans Gedächtnis eine Alarmglocke schrillen. »Ihr habt mir Böses angetan, indem ihr die getötet habt, die ich liebte. Einzig durch meine Hand werdet ihr nun zur Re30 chenschaft gezogen. Ihr habt meine Frau Mary und unsere Kinder ermordet, meine Kinder, Kevin und Mairead. Zu ihrem Andenken habe ich einen dreifachen Eid geschworen. Und ich werde eine angemessene Rache üben.« Erneut drückte Coleman die Taste der Hausverbindung und trug Owney auf, diese Namen zu überprüfen. »Und wenn Sie schon mal dabei sind, rufen Sie doch das College-Krankenhaus an und versuchen Sie mir 'ne Verbindung mit Fin Doheny zu kriegen.« »Sie meinen Fintan Craig Doheny, Sir?« »Genau den!« Und noch einmal las Coleman den Brief. Das Haustelefon und die Außenleitung störten ihn durch gleichzeitiges Klingeln. Owneys Stimme: »Doktor Doheny in der andern Leitung, Sir.« Coleman hob den Hörer ab. »Fin, bist du's?« »Was gibt's denn so Brandwichtiges, Alex? Owney O'More ächzte, als ob man ihm die Federn versengt hätte.« »Ich habe hier vor mir einen Drohbrief, Fin. Und da steht Fachkauderwelsch drin. Kannst du mir 'ne Minute zuhören?« »Na mach schon!« Dohenys Stimme hatte ein Echo, was auf eine Sprechanlage hindeutete. »Bist du allein?« fragte Coleman. »Ja. Was stinkt dir denn so?« Coleman seufzte. Dann richtete er die Aufmerksamkeit noch einmal auf den Brief und las Doheny die technischen Details aus dem Drohbrief vor. »Nur so aus einem Brief ist das schwer zu sagen«, erklärte Doheny. »Aber ich kann in seinem Hinweis auf das Verfahren der künstlichen Neukombination der DNS keinen Fehler entdecken. Weißt du, Alex, es ist wirklich möglich, damit neue Krankheiten zu schaffen ... aber das ...« »Die Drohung könnte also Ernstzunehmen sein?« »Ich würde sagen, mit Vorbehalt ja.« »Dann soll ich also das Zeug nicht einfach ignorieren?« »Ich würde die Garda hinzuziehen.« »Sonst noch was, was ich tun müßte?« 31 »Ich denk darüber nach und meld mich dann wieder bei dir.« »Noch was, Fin! Kein Wort zu irgend jemand, bis ich meine Chance gehabt hab, es zu verbraten!« »Pfui über euch widerliche Zeitungshyänen!« In Dohenys Stimme schwang ein leises Glucksen mit, das Coleman als beruhigend empfand. Also: ja, unter Vorbehalt. Also war Doheny nicht allzu stark beunruhigt. Und eine gute Story war das immer noch, dachte Coleman, während er den Hörer auflegte. Schreckliche Rache für die Opfer eines Bombenanschlags ... Fachmediziner erklärt, es ist möglich. Über das Intercom hörte er Owneys Stimme: »Sir, diese Bombenexplosion an der Ecke Grafton und St. Stephen's Green - erinnern Sie sich noch dran?« »Scheußliches Gemetzel!« »Sir, drei der Opfer trugen die Namen, die in diesem Brief erwähnt werden. Da war eine Mary O'Neill und ihre Zwillinge, Kevin und Mairead, die dabei umkamen.« »Aus den Staaten, ja, ich erinnere mich.« »Der Mann stand am Fenster einer Bank weiter unten an der Straße und sah genau, wie es passierte. Er heißt ...« Owney brach ab, dann sagte er: »Dr. John Roe O'Neill.« »Mediziner?« »Nein. Professor für irgendwas. Er war herübergekommen mit irgend so einer Stipendiatsgeschichte, so'n Forschungsauftrag, wie sie jetzt grad so beliebt sind - irgendwas mit Genforschung oder so ... ja, genau das steht in unserer Story: Genforschung!« »Genforschung ...«, murmelte Coleman nachdenklich. »So lief damals unsere Story, Sir. Dieser Dr. O'Neill hatte irgendwie was mit Chemopyhsik zu tun - so'n Biophysiker oder so -, und er hat an irgendeiner Uni in den Staaten Pharmakologie gelehrt. Hier steht auch noch,
daß er dort Besitzer einer Apotheke war.« Auf einmal begann Coleman zu zittern. Er hatte das Gefühl, als sei etwas Böses in die Erde seines Landes vorgedrungen, etwas viel übler Giftiges als alle Schlangen, die der 32 Nationalheilige St. Patrick aus Irland vertrieben hatte. Diese von der IRA gezündete Bombe konnte sich sehr wohl als der furchtbarste Rohrkrepierer herausstellen, den es je in der Geschichte der Menschheit gegeben hatte. »Es hat wohl nicht geklappt, nach Achill durchzukommen?« fragte Coleman. »Die Verbindungen sind blockiert, Sir. Sollen wir ein Flugzeug schicken?« »Noch nicht. Verbinden Sie mich mit der Garda. Wenn die Telefonverbindungen unterbrochen sind, wissen die vielleicht was darüber. Haben Sie Kopien von diesem Brief gemacht?« »Zwei, Sir.« »Die werden das Original haben wollen ...« »Ja, sofern sie nicht bereits selber so einen Brief haben.« »Daran hab ich auch schon gedacht. Ich geb nur nicht gern zu früh einen Trumpf aus der Hand. Möglich, daß wir in der Geschichte die Nase vorn haben. Na ja, wir müssen's eben mal wieder riskieren.« Er warf einen kurzen Blick auf den Brief auf dem Schreibtisch. »Ich nehme an, es besteht kaum die Möglichkeit, von dem Fetzen irgendwelche brauchbaren Fingerabdrücke zu nehmen, was?« »Jagen wir die Story gleich raus, Sir?« »Owney, ich habe fast mehr Angst davor, die Sache nicht zu bringen. Da ist was drin. Und überhaupt, daß der Achill Island überhaupt auswählt ... >als Demonstration^ wie er sagt...« »Sie haben doch sicher die Panik bedacht, Sir, die wir möglicherweise ...« »Owney, verbinden Sie mich jetzt rasch mit der Garda!« »Sofort, Sir.« Coleman hob den Hörer ab und rief zu Hause seine Frau an. Er machte es knapp, keinen Widerspruch duldend. »Es wird wegen einer Story, die wir bringen wollen, Ärger geben«, erklärte er. »Ich wünsche, daß du die Jungs nimmst und zu deinem Bruder in Madrid fährst.« Und als sie Einwände zu machen begann, schnitt er ihr ein33 fach das Wort ab: »Die Geschichte wird ziemlich schlimm werden ... Glaube ich jedenfalls. Wenn ihr hierbleibt, dann bin ich erpreßbar. Verschwende keine Zeit mit Reden, sondern pack die Koffer und fahr los! Ruf mich aus Madrid an, dann erklär ich dir alles.« Er legte den Hörer auf. Er kam sich ein wenig dumm vor, aber er fühlte sich erleichtert. Panik? Wenn die Geschichte sich als wahr herausstellen sollte, dann würde es weit schlimmere Reaktionen als nur Panik geben. Und wieder starrte er auf den Brief, konzentrierte sich auf die Unterschrift. >Der Verrückte<, lautete die Unterschrift. Langsam bewegte Coleman den Kopf hin und her; er erinnerte sich an die Geschichte des Überlebenden von einem irischen >Toteneimer<, der auf Grosse Isle aus zwei Schaufeln ein Kreuz gemacht hatte, drüben in Quebec, und dabei geschworen hatte: »Bei diesem Kreuz, Mary, schwöre ich, ich werde deinen Tod rächen.« Der Name von O'Neills Frau war Mary gewesen. Und jetzt - sofern es sich wirklich um O'Neill handelte - nannte er sich selber nur einfach so den >Verrückten<. Meine Erinnerungen, sie sind eine Qual - eine wundervolle Tortur. JOSEPH HERITY Das Muster der Wandlung wurde nur langsam in John Roe O'Neill erkennbar. Unerwartet und zu nichtvorhersehbaren Zeiten befiel ihn plötzlich ein Zittern, sein Herz jagte, am ganzen Körper brach ihm der Schweiß aus. In solchen Anfällen kam ihm die Erinnerung an den uralten Aberglauben von Verhexungen und Besessenheit. Ja, es war genau das: ein fremdes Wesen, eine andere Person nahm Besitz von seinem Fleisch, seinen Nerven. Viel später gelang es ihm, eine persönliche Übereinkunft 34 mit diesem >anderen Ich< zu treffen, ja sogar zu ihm ein Gefühl der Vertrautheit und Identität zu entwickeln. Von da an dachte er, daß dieses fremde Etwas zum Teil von ihm selber produziert sei, zum anderen Teil aber ein aus urmenschlichen Tiefen Stammendes, eine zielgerichtete bewußte Schöpfung zum Zweck seiner Rache. Sein früheres Selbst war ohne Zweifel dazu nicht prädestiniert gewesen. Der friedfertige >Lehrer-der-Jugend< hätte nicht einmal sekundenlang einen derartigen Plan ausbrüten können - dazu mußte der >Andere< lebendig werden. Je weiter der Verwandlungsprozeß fortschritt, desto schärfer sah er sich in der Rolle des zurückgekehrten Racheengels. Dieser Racheengel, diese griechische Nemesis, erwuchs direkt aus der blutbesudelten Geschichte Irlands, aus den unzähligen Akten von Verrat und Mord, ja, diese Rache trug sogar als heimliche Konterbande die Vergeltung mit sich - gegen die Vernichtung der Kelten, der >trojanischen< Erstbevölkerung, die in Irland gelebt hatte, bevor die Eroberungswellen aus Britannien und vom europäischen Kontinent über die Insel hereinfluteten. In solchen Augenblicken sah er sich als das erwählte Sprachrohr, das die Berge von Unrecht zu verkünden hatte, die Irland hatte erdulden müssen. In ihm loderte die Fackel der Nemesis, der Rache, wild: »Genug! Es muß ein Ende haben!« Aber dann mischte sich der Andere fragend ein: »Warum soll Irland die Last allein tragen?«
Die Terroristen, die Mary und die Zwillinge umgebracht hatten, waren in Libyen ausgebildet worden, und ihre Waffen stammten von dort. Und auch die dreckigen Finger Englands waren zu erkennen in dem scheußlichen Gemetzel -achthundert Jahre der zynischen Unterjochung ... Irland, das schlechte Gewissen der herrschenden Klasse in Englands Und je mehr sich in John Roe O'Neill die Verwandlung vollzog, desto erstaunter war er über seine körperliche Veränderung. Die altvertraute fast pummelige Körperstruktur verschlankte sich zu der eines nervösen Mannes ohne ein 35 Gramm Fett am Leib, der alten Bekannten aus dem Weg ging, der auf keinen Telefonanruf mehr reagierte, der Verabredungen nicht mehr einhielt. Anfangs bemühten sich die Menschen noch, dafür eine Entschuldigung zu finden - »Es muß ja ein furchtbarer Schock sein, so was mitzumachen ...« Die Stiftung, mit deren Geld er nach Irland geschickt worden war, offerierte ihm unerwarteterweise eine Verlängerung für sein Projekt und deutete, in getrenntem Brief, an, es werde völlig in Ordnung sein, wenn er sein Projekt an einen anderen Wissenschaftler abzutreten wünschen sollte. Seine Fakultät bot ihm die Verlängerung der Beurlaubung an. Max Dünn, der die Apotheke in Familienbesitz leitete, übernahm einen größeren Teil der geschäftlichen Entscheidungen und befahl John mehr oder weniger, er solle sich ausschließlich damit befassen, wieder etwas Ordnung in sein Leben zu bringen. All das nahm John nur beiläufig wahr. Die Verwandlung in ihm war zu einer Art Besessenheit geworden. Dann, an einem Samstagmorgen, sah er sein Spiegelbild im Badezimmerspiegel, und da wußte er auf einmal, daß er handeln müsse. Vier Monate war es her, daß Mary und die Zwillinge tot und begraben waren. Der Andere hatte in ihm an Kraft gewonnen; da waren ein neues Gesicht und eine neue Person. Er stand in dem Badezimmer im Oberstock des Hauses, das er mit Mary gekauft hatte, als sie ihm eröffnet hatte, sie sei schwanger. Durch das geöffnete Fenster drangen die altvertrauten Geräusche des Universitätsgeländes zu ihm herüber. Die Luft trug einen Hauch von Herbst mit sich herein, aber der Wetterbericht hatte weitere zwei Wochen von >wärmer-alsnormalem< Wetter geweissagt. Weiter unten, das konnte John hören, mähte »Mister Neri« mit seinem Motormäher den Rasen. Schrillend bewegte sich eine Fahrradklingel an seinem Haus vorbei. Kinder, auf dem Weg in den Park, kreischten hektisch. Es war schon September - soviel wußte er. Und er erinnerte sich, wie Kevin und Mairead >laut< gewesen waren, wenn sie vor dem Haus gespielt hatten. Neri würgte seinen Rasenmäher ab. Mrs. Neri, seine Frau, 36 die hatte am hartnäckigsten immer wieder bei ihm geklingelt. »Aber Sie sind ja bald nur noch Haut und Knochen, ach, Sie Ärmster!« Aber da gab es eine jüngere Schwester von Mrs. Neri, und die war unverheiratet und kriegte es allmählich mit der Angst. Und in Mrs. Neris Mondgesicht waren eindeutig kupplerische Anflüge erkennbar gewesen. John beugte sich dichter an den Spiegel und betrachtete sich argwöhnisch. Diese Veränderungen ... noch nicht so recht das Gesicht eines Fremden, aber doch bereits fremd. Von diesem Gesicht haben sie keine Fotos, dachte er. Aber sie würden natürlich Zeichnungen anfertigen lassen und sie überall verbreiten. In diesem Augenblick, als die Idee noch frisch in seinem Hirn steckte, wußte er mit Sicherheit, daß er >es< tun würde, wußte er, daß er dazu fähig sein würde und daß er es ganz gewiß zu Ende führen würde. Der qualvolle Schrei aus seiner Kehle damals, vorhin, am Park, dem St. Stephen's Green, hatte etwas ins Rollen gebracht. Etwas Kleines, so wie eine Schneewächte, die sich auf einmal in eine Lawine verwandelt ... Also, so soll sie doch runterkommen, dachte er. Am selben Morgen noch gab er den Auftrag an einen Makler, sein Haus zu verkaufen, und da Grundstücke in College-Nähe ziemlich gefragt waren, hatte der Besitz zwei Wochen später einen Käufer gefunden, > einen netten jungen Gastprofessor^ wie sich die Frau von der Maklerfirma ausgedrückt hatte. Alle diese Menschen waren für John wie verschwommene Gesichter in einem Traum. Alle seine Gedanken waren bereits weit vorausgeeilt, waren auf der heiligen Suche nach dem Ziel, das er finden mußte. Der >nette junge Gastprofessor hatte wissen wollen, wann Dr. O'Neill wohl seine Aufgaben in der Fakultät wieder übernehmen werde. »Natürlich haben wir von der Tragödie gehört, die Ihnen zugestoßen ist, und wir haben volles Verständnis dafür, daß Sie verkaufen wollen - diese ganzen Erinnerungen loswerden möchten.« Er versteht überhaupt nichts, gar nichts, dachte John damals. Aber durch den Verkauf war Johns Konto um saftige 188 (XX) 37 Dollar schwerer. Die Frau von der Maklerfirma hatte versucht, John mit ihrem Gewäsch über steuerliche Verpflichtungen einzuwickeln, sie war übereifrig bemüht gewesen, ihm ein viel günstigeres Investment aufzuschwatzen, auf einem Grundstück, >nur eine Idee weiter draußen<, aber >in einem Gebiet, dessen Wert sich in den nächsten zehn Jahren gewaltig steigern wird<. Er hatte sie einfach belogen und gesagt, seine Vermögensverwalter befaßten sich bereits mit der Sache. Die beweglichen Werte des Hauses hatten die erstaunliche Summe von 62000 Dollars erbracht, aber schließlich hatte Marys Vater ihr einige wertvolle alte Bücher und zwei recht beachtliche Gemälde hinterlassen. Unter ihrem Familienmobiliar waren mehrere antike Stücke gewesen. An diese Dinge hatte John vorher nie einen Gedanken verschwendet. Möbel und Bilder, das waren für ihn immer nur Sachen gewesen, mit denen man irgendwie die leeren Räume in einem Haus füllte.
Die College-Versicherung, die sie für die Zwillinge eingegangen waren, hatte weitere 33000 Dollar gebracht. Dann kam da noch die Jahresrente aus dem McCarthy-Vermögen von Johns Mutter hinzu, mit der als Deckung die Bank ihm weitere 56000 Dollar als Darlehen gewährte. Das dünne Aktienportefeuille erbrachte 28900 Dollar. Die Bankauszüge, über denen Mary immer so gestöhnt hatte, wiesen 31452 Dollar aus. Fast 30000 verblieben von dem Stipendium des Irland-Projektes, eine Summe, die er nicht auf die Allied Irish Bank transferiert hatte und die in hochverzinslichen Papieren angelegt war, womit die Stiftung einverstanden gewesen war. Das Professorengehalt, natürlich um die entsprechenden Summen für die Beurlaubung gekürzt, belief sich auf weitere 16000 Dollar. Seine Freunde und Kollegen hatten nur den Schein dieser seiner plötzlichen Aktivität wahrgenommen, hatten geglaubt, sie als >ein gutes Zeichen dafür< ansehen zu dürfen, >daß John endlich wieder normal wird<. Die delikatesten Aspekte bei seiner Verwandlung zeigten 38 sich bei der Erledigung seiner Angelegenheiten mit dem Finanzamt und beim Verkauf der Apotheke, die inzwischen seit zwei Generationen im Besitz seiner mütterlichen Familie gewesen war. Max Dünn sagte, er verstehe gut, daß John den Verkauf nicht in der Öffentlichkeit breittreten wolle, >und außerdem möchte ich gern, daß der Name McCarthy über der Tür stehenbleibt<. Aus Mitteln des Familienclans zauberte Dünn eine Anzahlung von 78000 Dollar hervor, und John erklärte sich bereit, einem Zahlungsaufschub von einem Jahr zuzustimmen, bevor die weiteren Abzahlungen stattzufinden haben würden - alles Summen, die John überhaupt nicht zu kassieren gedachte. Er wollte nur die 78000 Dollar. Er brauchte Bargeld! Dem Finanzamt stopfte er das Maul mit einer Proforma-Zahlung von fünftausend Dollar und einem Brief von seinen Finanzberatern, in dem stand, daß für ihren Klienten angesichts der Tragödie, die er erlitten habe, und den damit zusammenhängenden Schwierigkeiten ein Aufschub nötig sei, bevor der Steuerpflichtige seine Angelegenheiten ordnen könne. Das Finanzamt erwog, wieviel Sympathie John in der Öffentlichkeit genoß, erwog bang die Auswirkungen, die ein Presseskandal bewirken könnte, und gewährte ihm einen wohlwollenden Aufschub von sechs Monaten. An dem Tag, an dem John in seinem Kombiwagen den Highland Park verließ, führte er beinahe 500000 Dollar mit sich, die in einer feuerfesten Kassette steckten, die früher einmal sein Testament und seine Vermögensdokumente enthalten hatte und die nun auf dem Hintersitz verstaut war. Ansonsten war der Wagen bis unters Dach vollgestopft mit den sorgfältig verpackten Grundstoffen aus seinem Privatlabor, und natürlich hatte er seinen Computer mitgenommen. Zwei Koffer mit Kleidung hatte er auf dem Beifahrersitz neben sich mit dem Sicherheitsgurt festgeschnallt. Freunde und Bekannte akzeptierten das Märchen, das er ihnen auftischte, daß er mach einem Ort weiter weg< suche, nach >einem Platz, an dem nicht all diese Erinnerungen hängen. 39 Spät am Abend dieses Tages aß er irgendwas, fast vierhundert Meilen weit von dem Ort entfernt, den er nicht mehr Heimat nennen konnte, in einer Raststätte an der Straße, in der es nach ranzigem Fett stank. Er wählte sich einen Tisch, von dem aus er seinen draußen abgestellten Wagen im Auge behalten konnte. Die graue Staubschicht fiel ihm auf, die das Auto als schäbige alte Karre erscheinen ließ. Das war ihm nur recht. Am Kühler war noch immer die kleine Delle, die Mary gemacht hatte, als sie aus einer Parklücke vor einem Supermarkt herauszumanövrieren versucht hatte. John ließ den Teller halbvoll stehen und ging, und er konnte sich nicht einmal daran erinnern, welches Gericht er bestellt hatte. Später stieß er auf ein Motel, das eine Art Remise zum Abstellen des Wagens dicht bei seinem Zimmer hatte. Er schleppte die feuersichere Kassette hinein und schob sie unters Bett, schob den alten 38. er Colt seines Vaters unters Kissen und legte sich in den Kleidern nieder. Er rechnete nicht damit, daß er Schlaf finden werde. Er konnte diese Kassette unter seinem Bett beinahe körperlich fühlen. Dieses Geld, das bedeutete Treibstoff für die Sache, die er - das wußte er genau - zu erledigen hatte. Das kleinste Geräusch von draußen machte ihn hellwach. Der Strahl von Scheinwerfern, die über den Fenstervorhang glitten, bewirkte, daß sein Herz hämmerte. Im Verlauf der Nacht wurde es draußen stiller, und er versuchte sich zu überzeugen, daß er nun ein wenig schlafen könne. Und dann startete jemand seinen Wagen draußen, und John wachte auf, öffnete die Augen und sah das graue Morgenlicht, wo die Vorhänge nicht richtig schlössen. Auf einmal war er sehr hungrig. 40 »Daß die zwei Kleinen tot sind, das wird uns keine Freunde schaffen. Hättest du nicht noch 'nen Moment warten können?« KEVIN O'DONNELL »Ich war doch weg vom Fenster, ich hab sie da drunten gar nicht sehen können!« JOSEPH HERITY In den Monaten nach ihrer ersten Begegnung auf dem Rasen des Universitätshofes tasteten sich Stephen Browder und Kate O'Gara langsam von behutsamem Bekanntwerden zu dem vor, was Kates Mutter als >ein Einverständnis< bezeichnete. »Also, sie geht mit dem jungen Mann, der auf Doktor studiert«, erklärte Kates Mutter ihrer Nachbarin im nächsten Haus.
»Oh, das ist mal aber ein guter Fang«, sagte die Nachbarin. »Aber schließlich ist ja meine Katie keine Schlampe, und außerdem ist sie ja fast schon Schwester.« »Das stell ich mir prima vor, gleich zwei in der Familie, die was von Medizin verstehen«, schmeichelte die Nachbarin, An einem Freitag Ende Oktober borgte sich Stephen den Wagen eines Komilitonen; er hatte sich mit Kate zu einer Fahrt in den Süden Corks, das Blackwater Hilltop, verabredet, wo sie zu Abend essen und tanzen wollten. Er hatte einen ganzen Monat lang auf diesen Ausflug hin gespart, und die Sache war eigentlich ein ziemlich riskanter Schritt. Das >B-H<, wie man es in Cork nannte, genoß den Ruf, ein >heißer Laden< zu sein, aber das Guinness-Bier dort war vom allerbesten, und der Küchenchef zog Gäste bis aus dem weit entfernten Dublin an, die regelmäßig dort aßen. Das Auto war ein sechs Jahre alter Citroen, dessen linke Flanke von langen Kratzspuren verunziert war, die von der Begegnung mit einem Brückenpfeiler herrührten. Ursprünglich war das Vehikel einmal silbriggrau gewesen, aber dann hatte der Besitzer es studentisch-witzig mit einem giftgrünen fluoreszierenden Farbanstrich versehen. Kate verdrängte ihre Schuldgefühle und erzählte ihrer 41 Mutter, sie wolle mit anderen Schülerinnen zum Erntedank-Markt in Mallow fahren und man werde wohl bis zum Feuerwerk und einem späten Abendessen und dem folgenden Tanz bleiben. Ihre Mutter gedachte ähnlicher >Ausflüge< in ihrer eigenen Jugend und mahnte: »Also, Katie! Paß bloß auf, daß dein Verehrer sich nicht zuviel rausnimmt!« »Stephen meint es ernst, Momm.« »Schon. Aber ich auch!« »Aber wir sind um Mitternacht, oder kurz danach, wieder daheim, Momm.« »Das ist sehr spät, Katie. Was sollen denn die Nachbarn denken?« »Ich werde denen nicht den Spaß machen, daß die sich überhaupt was denken können, Momm.« »Aber du bleibst doch die ganze Zeit mit den andern beisammen?« »Aber sicher, die ganze Zeit«, log Kate. Sobald sie dann neben Stephen im Wagen saß, bewirkten ihre Schuldgefühle, daß Kate wütend wurde, und sie hatte nur eine Zielscheibe für ihren Ärger. Der Himmel leuchtete noch von dem langanhaltenden Dämmerlicht, und tief über dem Horizont hing ein großer Mond, fast schon voll, orangerot, er versprach eine helle Nacht. Sie starrte fest zu diesem Mond hinüber, und sie spürte intensiv Stephen an ihrer Seite, war sich stark bewußt, wie intim es hier in diesem Auto war, das dahinschnurrte, und sie roch undeutlich den Geruch von überhitztem öl. Stephen hatte nicht viel Fahrpraxis und bemühte sich, dies durch Langsam fahren wettzumachen. Mehrere andere Autos dröhnten an ihnen vorbei und bogen vor ihnen scharf ein und zwangen sie dadurch zum Ausweichen. »Warum fahren wir so langsam?« fragte Kate. »Ach, wir haben massenhaft Zeit«, antwortete Stephen. Die ruhige, vernünftige Antwort regte sie auf. »Wir dürfen das nicht machen, Stephen, und du weißt das ganz genau!« 42 Er hob die Augen von der Fahrbahn und blickte Kate an, und der Wagen folgte seinem Blick und rollte über die Fahrbahnkante auf den Schotter. Stephen riß das Steuer herum, und sie kurvten wieder auf die Fahrbahn zurück. »Aber du hast mir doch gesagt, daß du willst ...«, begann er. »Das spielt keine Rolle, was ich gesagt hab! Es ist nicht recht!« »Katie, was ist den los mit ...« »Ich hab Momm angelogen.« Zwei Tränen rollten ihr über die Wangen. »Und die sitzt dann da und wartet und macht sich Sorgen. Stephen, es war nämlich nicht leicht für sie, seit mein Vater tot ist.« Stephen bog auf eine Parkspur aus und hielt. Er drehte sich zu ihr herüber und schaute sie an. »Katie, du weißt doch genau, wie meine Gefühle für dich sind.« Er griff nach ihrer Hand, aber sie entzog sie ihm hastig. »Ich laß nicht zu, daß du traurig bist«, sagte er. »Gut, dann fahren wir aber auch wirklich zum Jahrmarkt!« Mit feuchten Augen blickte sie ihn an. »Weil so ist es dann keine richtige Lüge gewesen.« »Gut, wenn du das so willst, Katie.« »Ja, aber ja, das will ich.« »Schön, dann werden wir genau das tun.« »Außerdem helf ich dir dabei noch, dein Geld zu sparen, Stephen«, sagte sie und griff nach seiner Hand. »Dann kannst du dir das Stethoskop früher kaufen, das du so dringend brauchst.« Stephen küßt ihr die Fingerspitzen, und es wurde ihm klar, daß man ihn um den Finger gewickelt hatte und daß diese Methode, aller Wahrscheinlichkeit nach, immer und immer wieder in ihrem künftigen gemeinsamen Leben das Grundmuster bilden werde. Und dieser Gedanke erregte ihn freudiger als alle anderen möglichen Erwartungen ... Er zweifelte nicht mehr daran, daß sie nach seiner Promotion heiraten würden. Und wie gut es doch zu Katie paßte, an das gesparte Geld zu denken und was er damit anfangen konnte. Er hatte 43
ihr gegenüber nur ein einziges mal davon gesprochen, daß er ein neues Stethoskop haben müsse. Aber dann zog sie auf einmal wieder ihre Hand weg. Die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Autos badeten sie kurz in gleißendes Licht, er bekam einen flüchtigen Eindruck davon, wie steif sie neben ihm saß, mit im Schoß geballten Fäusten und fest geschlossenen Lidern. »Ich liebe dich, Katie«, sagte er. »Ach, Stephen«, seufzte sie. »Manchmal halte ich's vor Liebe zu dir nicht aus. Bloß ...« »Ja, das Warten«, sagte er. »Fahren wir jetzt nach Mallow?« fragte sie. Er startete den Motor und wendete; um die Strecke zurückzufahren, die sie vorhin hinter sich gebracht hatten, und er dachte, während er fuhr, was für ein Glückspilz er doch sei, daß er Katie gefunden hatte. »Ach fahr doch um Cork rum«, sagte sie. »Falls uns dann jemand sieht ... nun, wir müßten sowieso aus der Richtung kommen.« »Ich kenne eine Abkürzung zur Mallow Road«, sagte er. Im Dunkel sah er ihr Lächeln nicht. »Aha, da fährst du wohl mit allen deinen Mädchen hin?« »Katie!« »Ach, es ist wirklich schlecht von mir, dich zu necken«, sagte sie. Schweigend fuhren sie weiter, bis Stephen auf einen schmalen Seitenweg mit hohen Hecken zu beiden Seiten abbog. Und so kamen sie bald auf die Mallow Road; bei einem Signalmast, auf dem »18 Kilometer« stand. »Ich halte am Bridge House an. Ich muß tanken«, sagte Stephen. »Da ist auch ein Restaurant.« »Aber am Jahrmarkt gibt es auch was zu essen«, sagte sie. »Hast du denn keinen Hunger?« »Also wenn du mich schon so fragst, ein Sandwich wäre ganz köstlich.« Und billiger, dachte er. Bei Kate setzte offenbar der gesunde Menschenverstand nie aus. Das war ein Zug an ihr, den er 44 bewunderte. Zweifellos würde sie eine gute Hausfrau sein. Im Bridge House kaufte er zwei Sandwiches mit Roastbeef und zwei Flaschen Guinness und reichte sie Kate durch das offene Wagenfenster zu, ehe er für das Benzin bezahlte. »Der Tankwart sagt, der linke Vorderreifen ist ziemlich abgenutzt«, sagte sie. »Ich hab mir Ihren Reservereifen angeschaut«, sagte der Tankwart. »Soll ich ihn für Sie wechseln?« »Nein«, sagte Stephen mit einem Kopfschütteln. »Wir fahren nicht mehr weit.« »Also an Ihrer Stelle würde ich ganz schön vorsichtig fahren«, sagte der Tankwart. Er nahm Stephens Geld und gab ihm das Wechselgeld zurück. »Schön langsam wie'n Lumpenmann, bei dem das Pferd sich zum Abdecker schleppt.« Stephen zögerte, dann sagte er: »Genau. Langsam soll’s sein.« Er steuerte den Wagen vorsichtig von der Spur vor dem Bridge House, zäh hinter einem LKW hängend, der ihn schließlich hinter sich ließ, als er hartnäckig seine vierzig Stundenkilometer beibehielt. Und jetzt, wo es einen stichhaltigen Grund gab, langsam zu fahren, und weil sie in Richtung Mallow fuhren, war Kate mit sich selbst fast wieder im reinen. Sie lehnte den Kopf gegen die Rückenlehne und schaute zu Stephen hinüber. Es war irgendwie angenehm, so hier neben ihm zu sitzen. Sie malte sich ein ganzes Leben voll solcher, ähnlicher >Zwischenfälle< aus. Zuerst würden sie mal damit beginnen, für ein Auto zu sparen, dachte sie. Und damit konnte man gar nicht früh genug anfangen, wo doch die Autos so teuer waren. Sie wollte ihn gerade von ihrem Entschluß informieren, als der linke Vorderreifen den Geist aufgab. Der Wagen rutschte an die Außenseite, hopste über einen Rinnstein und schlitterte seitwärts auf eine Grasfläche, bis er endlich zum Stehen kam. Die Scheinwerfer bestrahlten einen grasbewachsenen Privatweg, eine Zufahrt zwischen zwei zerbröckelnden Torpfosten. Das Tor selbst stand gegen den rechten Pfosten gelehnt. Die Zufahrt war frei. 45 Stephen atmete ein paarmal tief mit offenem Mund ein. »Katie, alles in Ordnung?« fragte er. Die Innenseiten seiner Hände, dort wo er das Steuer umklammert hielt, schmerzten. »Ach, bloß ein bißchen durcheinander«, sagte sie. »Sollten wir nicht lieber von der Straße runterfahren?« Stephen mußte schlucken, dann fuhr er den Wagen auf den grasbewachsenen Zufahrtsweg. Der bog fast unmittelbar nach links ab, und seine Scheinwerfer beleuchteten die ausgebrannte Ruine eines Cottage. Die verkohlten Dachsparren waren nach innen gefallen. Er schaltete den Motor ab, und dann saßen sie einen Moment lang so da und lauschten auf die herbstlichen Insekten und das Gemurmel eines Bachs in der Nähe. Der Mond verströmte sein Licht über die Kämme der Hügel hinter der Cottageruine. Der Ort wirkte verlassen, fast wie aus der Welt gefallen. »Also dann wechsle ich mal besser den Reifen«, sagte er. »Ich möchte aber lieber vorher mein Sandwich«, sagte sie. Es war ihm recht, und er entdeckte hinten im Fond eine alte Decke, die er neben dem Auto auf dem Gras ausbreitete. Dann schaltete er die Scheinwerfer aus. Der Mond war beinahe grell. »Fast wie am Tag«, bemerkte Kate, als sie ihre Abendmahlzeit zu der Decke herüberholte ...
Sie saßen einander gegenüber, kauten sozusagen synchron, stießen mit ihren Guinessflaschen auf den geplatzten Reifen an, auf den Mond, auf die Leute, >die hier mal gelebt haben, als es noch ein glückliches Haus gewesen ist<. Dann war Stephen mit seinem Sandwich und seinem Bier fertig. Kate warf ihm ein schiefes Lächeln zu. Sie war sich nicht sicher, ob es das Bier war, oder einfach nur, weil sie da so bei Stephen saß, jedenfalls fühlte sie sich unglaublich zufrieden und in Ordnung. Aber das hinderte sie nicht daran, ihm zu sagen, als er aufstand: »Du machst dir ja die ganze Jacke schmutzig. Zieh sie aus! Und das Hemd auch, rasch!« Sie stand gleichfalls auf und half ihm. Sie legte die Decke zurecht und faltete die Kleidungsstücke sorgfältig und legte 46 sie am Rand der Decke nieder. Er hatte kein Unterhemd an, und als sie seine nackte Brust im Mondlicht sah, dachte sie, das müsse wohl so ungefähr der schönste Anblick im ganzen Universum sein. Ihre rechte Hand streckte sich, fast als wäre sie von einem unabhängigen Willen beseelt, nach vorn, und seine Brust fühlte sich unter der streichelnden Hand in der Höhlung der Handfläche ganz warm an. Hinterher hätte sie nie so recht zu erklären gewußt, wie das Ganze dann passiert war. Nicht einmal ihrer intimsten Freundin und Studienkollegin, Maggie MacLynn, gegenüber hätte sie das gekonnt. Oooohh, aber er war so stark, Maggie. Ich hab einfach nicht anders gekonnt. Und eigentlich hab ich ja auch gar nichts dagegen gehabt. Das ist schamlos von mir, ich weiß das, aber das war so ...« »Na, jetzt biste endlich Mitglied in unserm Klub, Katie-Liebling. Dann wirste jetzt bald heiraten, denk ich?« Am Montag danach saßen sie, wieder allein, auf dem Uni-Rasen und futterten ihr verfrühtes Mittagessen. Maggie hatte ihr die Geschichte sozusagen mit Gewalt abgeluchst, nachdem sie bemerkt hatte, wie in sich versunken Kate war, wie still. Aber sie hatte nur an ihren gemeinsamen Kindheitsschwur zu erinnern brauchen, daß >wir einander nie-niemals anlügen wollen, wo es um was Wichtiges geht<. Groß und schlank, mit Haaren wie dunkles Gold, galt Maggie als eine der Schönheiten des Universitäts-Campus. Ein paar von den anderen Teilnehmerinnen in ihrem Schwesternkursus, tratschten flüsternd davon, Maggie habe sich Kate als Freundin >bloß deshalb ausgesucht, damit man ihre Schönheit um so besser bemerkte In Wahrheit aber waren die beiden Mädchen seit ihrer Kindheit Freundinnen gewesen, von den ersten Tagen in der Grundschule an. Maggie wiederholte ihre Frage und fügte hinzu: »Hat er dir denn keinen Antrag gemacht?« »Maggie, ich weiß nicht, was ich bei der Beichte sagen soll«, sagte Kate. »Was soll ich bloß machen?« »Also, du sagst ganz einfach: >Vater, vergib mir, ich hatte 47 eine sexuelle Erfahrung. < Sag ihm einfach, es war das Trinken und daß der Mann dich halt überwältigt hat, und sag, daß du es nie, nie wieder tun willst.« »Ja ... aber wenn wir es doch tun?« jammerte Kate. »Dann versuch einen anderen Beichtvater zu finden«, sagte Maggie kaltschnäuzig. »Damit ersparst du dir 'ne Menge Erklärungen.« Einen Augenblick lang betrachtete sie Kate sehr genau. »Du, ich kenn dich doch, Katie. Wirst du bald heiraten?« »Ach, sei doch kein Aas!« Kate schrie es fast. Dann sagte sie: »Tut mir leid, Maggie. Aber er hat den ganzen Rückweg lang einfach keine Ruhe gegeben. Und du weißt doch, wir können nicht heiraten, bevor er seinen Doktor gemacht hat, und vielleicht nicht mal, bevor er seinen eigenen Laden aufmachen kann. Wir sind nämlich nicht reich, wie du weißt.« »Dann sei mal schön vorsichtig, Mädchen. Du gehörst zu dem Typ, der heiratet. Und er auch. Und natürlich gibt's da kaum was Besseres als so eine kleine Schwangerschaft, um die Dinge schneller ins Rollen zu bringen.« »Und du glaubst, ich weiß das nicht?« Da gab es mal 'nen irischen Hirnchirurgen ... (Pause für Beifallsgelächter) Standardwitz in britischen Varietes Als er sich am dritten Tag seiner Fahrt St. Louis in Missouri näherte, war John zu einem Entschluß gekommen, hinter welchem Namen er sich zunächst verbergen würde. Später würden dann noch weitere Namensänderungen vonnöten sein, das war ihm klar, doch jetzt brauchte er dringend einen ganz neuen Namen. Es war früher Nachmittag, und von den Laubbäumen entlang der Straße grüßten bereits die ersten Herbstfarben. Die Hügel waren bräunlich, und in der Luft war schon ein Hauch von Frost spürbar. Auf den Maisfeldern sah er Stoppeln und 48 Haufen von geschnittenem Stroh. Auf Reklametafeln wurden >winterfeste< Ausrüstungen angepriesen. Es würde nicht lange dauern, bis die weltweite Hetzjagd nach John Roe O'Neill beginnen würde. Den Namen muß ich loswerden, dachte er. McCarthy - das war der Name seiner Mutter gewesen, und er schien zu ihm zu passen. Sicher, irgend jemand würde bald auf den Zusammenhang stoßen, aber bis dahin würde er auch diesen Namen abgelegt haben. Den Vornamen, also da hatte er das Gefühl, daß er den besser beibehalten müsse; er war zu alt, sich noch auf einen anderen Rufnamen als John umzustellen. Gut, also sollte es John McCarthy sein, und damit auch ja das authentische irisch-amerikanische Flair spürbar werde, entschied er sich für >John Leo Patrick McCarthy<.
Er fuhr in die Stadt und wurde von ihrer lebhaften Peristaltik aufgenommen, ohne daß er es recht wahrnahm. Sein Bewußtsein war auf ein einziges Ziel gerichtet: auf eine ganz gewöhnliche Absteige. In einem Central District-Motel nahm er sich ein Zimmer, und er hatte gerade noch Zeit, bei einer Bank in der Nähe eine große Sicherheitskassette zu mieten. Er steckte sein Geld in die Kassette, und das Atmen fiel ihm leichter, als er auf die Straße trat, in der die abendlichen Fußgänger sich drängten. Als er aus dem Parkplatz fuhr, warf er einen Blick auf die Armbanduhr: 4:55. Also noch reichlich Zeit, jene ersten Schritte bezüglich seiner Identitätsumwandlung zu unternehmen. In einer Zeitung entdeckte er eine Privatanzeige, und die führte ihn zu einer Zimmervermieterin in einem Privathaus in den Außenbezirken. Die Dame, eine Mrs. Pradowski, erinnerte ihn stark an Mrs. Neri: der gleiche schwergewichtige, kostenkalkulierende Argwohn im Betragen und in den Augen glitzernd. Es war noch zu früh, zu John McCarthy zu werden. Er mußte ein paar >Fußabdrücke< hinterlassen, denen die Bluthunde dann folgen konnten. Also hielt er Mrs. Pradowski seinen Führerschein unter die Nase, auf dem O'Neill stand, und erklärte ihr, er sei auf der Suche nach einer Stellung als Lehrer. 49 Mrs. Pradowski sagte, er könne das Zimmer am nächsten Morgen beziehen. Sie ließ sich nicht anmerken, ob sie den Namen aus dem Nachrichtenwirbel erkannte, aber schließlich lag das ja schon Monate zurück. Der Bombenanschlag in der Grafton Street war ja nun, weiß Gott, von zahllosen anderen, neueren Tragödien überholt worden, und außerdem hatte die Sache weit entfernt von St. Louis stattgefunden. Im Gespräch ließ Mrs. Pradowski ein vordringliches Interesse an Vorauszahlungen durchblicken, ferner ein striktes Tabu, sich in ihre >Bingo-Nächte< einzumischen. Und nun kam es darauf an, daß er herausfand, ob seine Entscheidung für St. Louis richtig gewesen war. Im letzten Winter hatte ihm ein Kunde seiner Apotheke warnend gesagt: »Die haben dort 'ne richtige Fabrik, in der Ausweispapiere gefälscht werden. Da muß man höllisch aufpassen, wenn man einen Scheck einlöst.« Er brauchte sechs Tage und bezahlte unzählige Gläser Bier in fragwürdigen Kneipen, ehe es ihm gelang, mit der >Fa-brik< in Kontakt zu kommen. Und acht Tage später bezahlte er fünftausend Dollars und erhielt dafür einen Führerschein des Staates Michigan und ein ganzes Paket verschiedener Kredit- und Klubkarten auf den Namen John Leo Patrick McCarthy. Für weitere 3500 Dollars durfte er einen Schnellkurs für die Fälschung von Personalpapieren und Pässen absolvieren und bekam dazu auch noch das für die Änderungen nötige Handwerkszeug. »Also, Sie haben dafür echt Talent«, sagte sein Lehrmeister. »Lassen Sie sich bloß nicht einfallen, in meinem Gebiet ins Geschäft einzusteigen!« Als nächstes gab es das Problem mit dem Auto. Auf dem Auto Row bezahlte ihm die Gebrauchtwagenfirma Honest Andrew's Previously Owned Cars zweitausendzweihundert in bar, und der Verkäufer seufzte über den Scheinen: »Mann, die großen Schlitten laufen auch nicht mehr so heiß.« Am folgenden Morgen bestieg er einen Bus nach Marion und erwarb einen gebrauchten Dodge Power Wagon. Es war eine von Mrs. Pradowskis >Bingo-Nächten<, und sie war fort, 50 als er zurückkam. Er stellte den Wagen auf der Zufahrt ab, die Nummernschilder waren dreckverschmiert und unlesbar, und dann lud er seinen Kram ein. Ein Zettel und fünfzig Dollar >für die Unannehmlichkeit wurden auf dem Küchentisch zusammen mit dem Hausschlüssel deponiert. Auf dem Zettel stand, er müsse wegen eines familiären Notfalles unerwartet ausziehen. Die Nacht verbrachte John in einem Vorstadt-Motel, am nächsten Morgen holte er sein Geld aus dem Bankschließfach, und dann fuhr John Leo Patrick McCarthy gen Westen. Die Verwandlung war sehr viel müheloser vonstatten gegangen, als er es sich' zuvor ausgemalt hatte. Nun war nur noch ein wesentlicher Punkt zu erledigen, damit das Ganze vollkommen wurde. Im Verlauf der nächsten drei Tage entfernte er die Haare auf seinem Schädel. Es hatte da die Wahl gegeben: rasieren oder sie dauerhafter loszuwerden. Er entschied sich für letzteres, und das war für einen Biochemiker keine unlösbare Aufgabe, obwohl es sich dann als recht schmerzhaft herausstellte und eine dünne Maserung von rosa Narben hinterließ, winzige venöse Haargefäße waren das, aber sie würden mit der Zeit verschwinden, das wußte er ebenfalls. Das Muttermal auf seiner linken Wange verschwand unter dem Betupfen mit flüssigem Stickstoff und hinterließ eine schorfige Wunde, die sich im Laufe der Zeit in ein gekräuseltes Grübchen verwandeln würde. Seine Verwandlung faszinierte ihn. Er betrachtete den Vorgang sorgfältig im Spiegel des Badezimmers in einem Motel in Spokane. Das blinkende Neonlicht von einem Imbißstand in der Nähe warf einen unheimlichen stroboskopischen Schimmer auf die herabgezogene Sichtblende des Badezimmerfensters und auf die eine Gesichtshälfte. Er lächelte. John Roe O'Neill, der ziemlich mollige Typ mit dem dichten Fußabstreifer von braunen Haaren auf dem Kopf, einem deutlichen Muttermal auf der Wange, war auf einmal zu diesem schlanken Kahlkopf geworden, in dessen Gesicht die Augen fiebrig brannten. 51 »Hallo, du, John Leo Patrick McCarthy ...«, flüsterte er sich zu. Vier Tage später, dem ersten Freitag im Oktober, zog er in ein möbliertes, zur Vermietung angebotenes Haus in dem Vorstadtbezirk Ballard in Seattle/Washington. Er hatte einen Jahresvertrag, und das Geschäftliche wurde ausschließlich über eine Bank abgewickelt. Die Hauseigentümer lebten in Florida.
Dieses Haus in Ballard paßte perfekt zu dem, was er plante. Und daß er so ganz ohne Schwierigkeiten auf dieses Haus gestoßen war, nahm er als ein gutes Omen. Die Eigentümer hatten das Haus in einem schmuddeligen Braun mit weißen Kanten streichen lassen, und es lag unauffällig in einer Reihe von anderen, gleichfalls unauffälligen Häusern. Die Häuserzeile stand an einer Böschung, die lang und niedrig war, und es gab ein paar mühsame Versuche in Richtung auf Steingärten und abfallende Rasenflächen. Die meisten dieser Häuser hatten ebenerdige Keller und die Garagen unterhalb des Vordereingangs. John konnte von seiner Garage in das Erdgeschoß gelangen, und es gab da genug Platz für das Entladen seines Wagens. Das Haus war mit Sperrmüllmöbeln bestückt, das Bett hatte eine durchhängende Matratze. Uralte Küchengerüche hingen im ganzen Haus und besonders hartnäckig in den Vorhängen. Das Badezimmer stank nach längst erkaltetem Tabakrauch. Er betätigte die Wasserspülung und ertappte sich dabei, daß er sein Spiegelbild über dem Waschbecken anstarrte. Von seiner früheren Sanftheit war nichts mehr übrig. Dieser Andere in ihm wurde von einem Etwas tief unten in ihm getrieben. Er neigte sich dichter an den Spiegel und betrachtete die schrundige Narbe, die dort anstelle des früheren Muttermales zu sehen war. In diesem Nichts von Grübchen sah er emotional den endgültigen Bruch mit der Vergangenheit, jener Vergangenheit, in der Mary diese Warze als seinen >Schönheitsfleck< bezeichnet hatte. Er versuchte sich daran zu erinnern, wie sich ihr Kuß auf dieser Wangenstelle ange52 fühlt hatte; aber auch diese Hauterinnerung war verschwunden. Die Verschiebung seiner Gedächtnisbilder, die unkontrollierten Dislozierungen, ließen ihn erschauern. Er löste rasch den Blick von dem Spiegel. Es gab Wichtigeres, und er mußte es tun. Während einiger Tage nach seinem Einzug nahm er ein paar grundlegende Veränderungen in dem neuen Haus vor: lichtdurchlässige Folie wurde über die Fenster im Erdgeschoß und in der Garage geklebt, damit er vor neugierigen Augen abgeschirmt war; eine Alarmanlage gegen Einbrecher wurde installiert; ein beträchtlicher Nahrungsvorrat wurde angelegt. Hinter dem Zentralheizungsofen hob er eine Grube aus, steckte die feuerfeste Kassette mit dem Geld hinein und bedeckte das Loch mit Backsteinen. Und erst als dies erledigt war, fühlte er sich unbelastet genug, um sich an die Routinebestellungen von speziellen Apparaten zu wagen, die er für sein Projekt benötigte. Was ihn während der folgenden Wochen am meisten verblüffte, war die Leichtigkeit, mit der er an ausgefallenste Sachen gelangte. Es schien tatsächlich nur erforderlich zu sein, daß da einer telefonisch und mit dem >Doktor< vor dem Namen eine Bestellung aufgab. Er ließ sich die bestellten Waren an Adressen von Lagerhäusern und andere bequeme Lieferadressen senden, gab stets verschiedene Namen an und bezahlte stets bar. Solange er sich damit beschäftigte, verhielten sich seine Erinnerungsfetzen wie sanfte, domestizierte Raubtiere. Aber nachts, wenn er im Bett lag, ließ ihn das sich drehende Kaleidoskop in seinem Hirn oft nicht einschlafen. Es war ganz seltsam - und gar nicht einfach zu erklären ... John O'Neill war es unmöglich gewesen, sich an die Explosion dieser mörderischen Bombe zu erinnern, aber John McCarthy erinnerte sich haargenau daran. Er erinnerte sich an die Zeitungsausschnitte mit dem Gesicht von O'Neill, der lautlos schrie auf dem Foto. Aber der Mensch, der auf diesem Foto war, den gab es nicht mehr. Und dennoch vermochte John McCarthy sich an ihn zu erinnern. Und er konnte sich an das 53 Gerede mit Polizeibeamten erinnern, an die Zeugenaussagen, an die Leichenbittergestalt des Pater Devon, der seinen anfänglichen Irrtum nie bereinigt hatte und unverbrüchlich daran glaubte, daß John der Sünde einer >Mischehe< verfallen gewesen sei. Aber John McCarthy entdeckte, daß er all dies zu vereinen vermochte - die Schwestern im Krankenhaus, die Ärzte. Er konnte sich an sein altes Selbst erinnern, wie es da am Fenster der Bank gestanden hatte, auch an den orangefarbenen Feuerball der Bombenexplosion. Sein Gedächtnis ließ die Szene ablaufen, wenn es auch nur die winzigste Stimulans erhielt: dieses kleine Auto, der Arm im braunen Pullover im Fenster. Da stand Mary, und sie lachte mit offenem Mund, während sie die Zwillinge über die Straße zu führen versuchte, und da war dieses Paket unter ihrem Ellbogen. Merkwürdig, dachte John, daß die das Päckchen nicht gefunden haben, da waren doch wohl die Pullover für die Kinder drin gewesen ... - und dann immer wieder der orangerote Feuerball ... Den Preis für die Sweater hatte er auf der Abrechnung seiner Kreditkarte gefunden - und Marys krakelige Unterschrift auf dem Quittungszettel. Der ganze Zwischenfall auf der Grafton Street nahm in der Zeitverschiebung nahezu die Qualität eines Films an. Das Ereignis war eingefroren in eine Filmsequenz, die er willentlich immer und immer wieder ablaufen lassen konnte ... Dieses Gedränge von Menschen um Mary und die Zwillinge herum ... wie sie neben dem alten Ford stehenblieben ... und immer und immer wieder dieser orangerote Feuerball und die durch ihn hindurchschießenden Splitter von Schwarz. Er fand heraus, daß er den Ablauf kontrollieren konnte, daß er sich auf ganz bestimmte Gesichter konzentrieren konnte, auf Manierismen, auf Gestik, auf Fetzchen von Individualität in diesem makabren Wirbel von gleichermaßen toten Gliedern. Und immer wieder das orangefarbene Feuer der Explosion, und das Krachen, das in seinem Schädel hämmerte. Das waren natürlich - und er wußte dies genau - die Erin54
nerungen des John O'Neill, und sie waren gewissermaßen weit entfernt von John McCarthy. Sozusagen auf Isolationsbasis. Es war nur so, als befände sich da ein Fernsehschirm in seinem Kopf, auf dem klarumrissene Bilder und exakt aufgezeichnete Stimmen erschienen. »Gütiger Gott, was war das?« rief der Bankdirektor. Es war die Aufzeichnung eines geschichtlichen Geschehnisses, genau, aber nicht dazu geeignet, etwas in John McCarthys Seele anzurühren, es sei denn die Stimulierung jener wilden Entschlossenheit, Vergeltung in ebenbürtiger Weise an den Verursachern der Qualen zu üben, die John O'Neill zu erleiden hatte. Je mehr er sich an dieses Spiel mit den Erinnerungen gewöhnte, desto besser fand er heraus, daß es sich zeitlich nach rückwärts ausdehnen ließ, aber auch in die Zukunft. Die Plastikbombe war an ihrem ersten Tag in Dublin explodiert, nachdem sie drei Tage in obligatorischer Quarantäne in einem schloßartigen Gästehaus in der Nähe des Shannon Airport zugebracht hatten. In diesen drei Tagen hatten sich Kopf und Körper nach dem Flug aus den USA an die irische Zeitzone anpassen sollen. »Und jetzt stehen wir auf unsern echt-irischen eigenen Füßen«, hatte Mary gesagt, als sie sich im Sherbourne in Dublin angemeldet hatten. An jenem ersten Morgen in der Stadt am Black Pool wachte John sehr früh auf. Nicht ein Hauch von Vorwarnung hatte ihn gestreift. Ein Gefühl der Andersartigkeit, der Neuheit, mehr war da nicht gewesen. Er war in seinen Tag hineingestiegen mit einem Gefühl von Gesundheit und Glück - und das hatte dann hinterher das Grauen nur noch verstärkt. Persönliche Tragödien von solchen Dimensionen müßten doch eigentlich von düsteren Omina, von Vorwarnungen, begleitet sein, sagte er sich grübelnd später. Aber da war einfach nichts an Warnung gewesen. Er war neben Mary in einem der zwei Zimmer ihrer Hotelsuite aufgewacht. Als er sich zu ihr hinüberdrehte, überfiel ihn das Bewußtsein, die Erkenntnis ihrer liebenswerten 55 Schönheit sehr stark: ihre zerzausten Haare, die Wimpern, die so dicht auf den Wangen lagen, der Gezeitenwechsel ihrer Brüste in dem tieferen Atmen ihres Schlafes ... Das, was O'Neill dachte, war klar und einfach: Was für ein Wunder ist unsere Ehe! An der Peripherie seiner Wahrnehmungen strichen die Fakten vorbei, daß im Nebenzimmer die Zwillinge schliefen, es gab die morgendlichen Straßengeräusche und irgendwo den Duft frischgebackenen Brotes in der Luft. Eine richtige Suite in einem Hotel, mein Gott! Der Großvater von der McCarthy-Seite wäre wahrscheinlich stolz gewesen. »Irgendwann, Junge, irgendwann werden wir in die Heimat zurückgehen«, hatte der alte Herr oft gesagt. »Und wir werden in Ehren heimkommen.« Aber jetzt sind wir hier, und in Ehren, Opa Jack! Leider hast du nicht lange genug leben können, um das noch mitanzuschaun, aber ich hoffe stark, daß du es irgendwo mitkriegst. Es war stets so ein wenig trübselig gewesen, daß der Opa Jack es nie geschafft hatte, auf die heimatliche Scholle zurückzukehren. Zurück, das war wohl kaum das passende Wort, da er schließlich an Bord eines Schiffes nach Halifax das Licht der Welt erblickt hatte. »Das alles für siebenhundert Gewehre!« Das war die stereotype Klage der Familie McCarthy während der >Zeiten der Bedrängnis< gewesen. John hatte nie die Stimme von Opa Jack vergessen, der sich über die Flucht aus Irland klagend äußerte. Die Geschichte war erzählt und wiederkäuend erzählt worden, so daß sie John O'Neill fehlerlos zu erinnern vermochte. Das Silber der McCarthys, irgendwo im Boden vergraben, damit es den Straßenräubern der englischen Steuereintreiber entgehe, war ausgegraben worden, um mit ihm den Erwerb von siebenhundert Gewehren für einen >Aufstand< zu finanzieren. In den Turbulenzen der völligen Niederlage hatte Opa Jacks Vater (mit einem Fangpreis auf seinem Kopf) die Familie unter dem angenommenen Namen Soundso nach Halifax fortgezaubert. Den Namen McCarthy hatten sie erst wieder angenommen, als sie sicher 56 in den Vereinigten Staaten gelandet waren - >und ganz weit weg von den diebischen Briten<. John O'Neill, in seinem Hotelbett in Dublin, setzte sich leise auf, und er war sich in diesem Augenblick stark bewußt, wie sich die Atmung Marys änderte, während sie ins Erwachen herauftauchte. Dann räusperte sie sich, aber die Augen blieben noch geschlossen. Mary O'Gara von den Limerickschen O'Garas. Ihren Opa Jack hatte sie geliebt. »Was für ein lieber alter Mann der war. Irischer als die Iren daheim.« Niemand konnte >The Wearing of the Green< mit heftigerem Tremolo in der Stimme singen. »Von der Seite deines Vaters, John Roe O'Neill, stammst du von den Ui Neill. Ard Ri, Hochkönige, waren die auf dem Berg Tara.« Jedesmal hatte der Großvater die Litanei der Familiengenealogie genau auf gleiche Weise intoniert. »Und was die McCarthys angeht, also, mein Sohn, auch wir waren einmal Könige. Und du sollst das niemals vergessen. Die Burg der McCarthys war ein gewaltiger Ort, und mächtige Männer haben sie erbaut.« Der Großvater von der O'Neill-Seite war weggestorben, als John gerade zwei Jahre alt war. Johns Vater, Kevin Patrick O'Neill, hatte das >Irentum< abschütteln wollen und sich immer recht höhnisch über die >McCarthy-
Legenden< von Opa Jack ausgelassen. Aber dessen ungeachtet war der Kopf des Jungen, der John damals war, angefüllt von Geschichten über >Aufruhr< und >Erhebungen<, und voll von einem versteckten Haß gegen alles Britische. Besonderen Genuß hatten ihm die Legenden über die Revolte Hugh O'Neills verschafft, aber auch die Saga der Rebellion des Owen Roe O'Neill. »Roe O'Neill - aber so ist ja mein Name, ein Teil davon, Opa!« »Ja, so ist das wohl! Und du würdest gut beraten sein, Junge, wenn du dein Leben auf eine Art leben würdest, die derartig berühmten Ahnen Ehre machen würde.« »Verbrennen wir alles, was britisch ist, außer ihre Kohle!« 57 Wie hatte Opa Jack über diesen Satz gelacht... In dem Bett in dem Hotelzimmer in Dublin hatte Mary in Johns Ohr gesagt: »Jetzt sind wir wirklich da.« Und dann: »Also mir fehlt nur noch Opa Jack.« Ich glaube, es war Tacitus, der sagte, es sei ein grundlegendes Merkmal der menschlichen Natur, das uns zwinge, die zu hassen, denen wir Unrecht getan haben. DR. MED. WILLIAM BECKETT Ein exaktes Hundert des ersten >Irrenbriefs< wurde in Kopien losgeschickt, die folgenden Briefe waren dann noch zahlreicher. Die ersten Briefe wurden sämtlich durch eine Adressenagentur in Los Angeles verschickt, und sie waren an Regierungsbeamte, Nachrichtenkommentatoren, Zeitungsherausgeber und bedeutende Wissenschaftler gerichtet. Die Botschaft in ihnen war unzweideutig: Man müsse die von der Seuche befallenen Gebiete unter Quarantäne stellen. Zu diesem Zweck war einem Teil der Briefe ein zweites Blatt beigefügt, auf dem die wissenschaftlich qualifizierten Empfänger aufgefordert wurden, den politischen Führern ihres Landes deutlich zu machen, wie ernst die Lage sei. Dr. William Ruckerman, Ex-Präsident der American Association for the Advancement of Science, war einer der Adressaten, die einen solchen doppelten Brief erhielten. Er fand ihn in der Montagmorgenpost in seinem Haus in San Francisco, und er las ihn während des Frühstücks. Ihm war sofort klar, warum er für einen derartigen Brief ausgewählt worden war - schließlich waren seine Forschungen auf dem Sektor der DNS innerhalb der Welt der Wissenschaft nicht gerade ein Geheimnis. Dieser Brief war von jemand geschrieben worden, der ein Insider war, oder doch soviel Einblick besaß, daß ihm die besonderen Nuancen bekannt waren, um die es bei Ruckermans Projekt ging. Ruckerman las den Verweis auf die >Rückübertragung vom Protein<, um die RNS zu bestimmen, >und somit zur DNS58 Transkription<. Das war noch simpel, im Grunde, aber der Schreiber des Briefes ließ erkennen, daß er einen Computer benutzt habe, >um die Sperrfragmente auszusortieren^ Und das war bereits ein bißchen tiefer in die Geheimlehre eingedrungen, verriet schon mehr Insiderwissen. Was aber Ruckerman einen Schauder den Rücken hinablaufen ließ, war der Verweis auf die Verwendung von Stereoisomeren bei der Übertragung der RNS-Reihen in den Proteinmolekülen. Überlagerung zur Bestimmung des Musters. < Das waren die Worte des Verrückten. Ruckerman vermutete sofort, daß der Mann für einen Teil seiner Aufschlüsselungsserie eine Alkenpolymerisierung eingesetzt hatte, Paarung und Resonanz ... ja, soviel ließ der Mann durchblicken. »Dieser Brief verrät, daß er vollkommen im Bilde ist über die Techniken der Purifizierung und der Kombination von Subeinheiten«, sagte er zu seiner Frau, die über seine Schulter mitlas. »Der Mann weiß Bescheid!« Der Brief enthielt genug Information, um einen mit der Materie vertrauten Leser zu überzeugen, das war Ruckerman sofort klar. Und das allein schon verriet eine Menge über den Briefschreiber. Aber da mußte mehr dahinterstecken. Auch das wußte Ruckerman mit Sicherheit. Der Verrückte enthüllte keine >Schlüsselfakten<, doch er deutete mit eisiger Genauigkeit auf diese Fakten hin. Und dies, in Verbindung mit den Drohungen, bewirkte, daß Ruckerman aktiv wurde. Er überlegte sorgfältig, wie er die Sache angehen solle, dann schickte er seine Frau los, sie solle einen Koffer packen, kam ihr aber gleich nach und wählte vom Schlafzimmer aus eine Nummer und bat um die Verbindung mit Dr. James Ryan Saddler, dem wissenschaftlichen Berater des Präsidenten der USA. Aber da mußte er zunächst einmal durch die Barriere von Sekretären vorstoßen. »Sagen Sie ihm, hier ist Will Ruckerman, und es ist wichtig!« 59 »Würden Sie mir freundlicherweise sagen, um was für eine wichtige Angelegenheit es sich handelt?« fragte die Sekretärin mit zäher Honigstimme. Ruckerman holte zweimal tief Luft, um Haltung zu bewahren, und starrte auf sein Spiegelbild im Schlafzimmerspiegel. In seinem kantigen Gesicht zeichneten sich neue Spuren ab, und auf dem Kopf, also da wurde er jetzt eindeutig schon grau. Louise, seine Frau blickte von ihrem Koffer auf und zu ihm herüber, sagte aber nichts.
»Hören Sie mir zu, wer immer Sie sind«, sagte Ruckerman. »Hier spricht Doktor Ruckerman, Ex-Präsident der American Association for the Advancement of Science, und ich bin ein enger Freund von Jim Saddler. Ich verfüge über hochwichtige Informationen, die der Präsident der Vereinigten Staaten auf schnellstem Wege erhalten sollte. Und falls es tatsächlich nötig sein sollte, daß Sie darüber Bescheid wissen, dann, da bin ich sicher, wird jemand Sie informieren. Aber bis dahin stellen Sie mich jetzt sofort zu Jim durch!« »Dürfte ich Ihre Telefonnummer haben, Sir?« Jetzt klang sie eiskalt sachlich. Ruckerman gab ihr die Nummer und legte auf. Louise fragte: »Meinst du wirklich, daß die Drohung Ernstzunehmen ist?« »Bei Gott, ja!« Er stand auf und ging ins Badezimmer. Als er zurückkehrte, blieb er neben dem Telefon stehen und trommelte mit den Fingern auf die Platte der Frisierkommode. Die brauchten aber verdammt lange. Er war sicher, daß sie Saddler erreichen würden; Jim hatte ihm das einmal lachend erklärt. »Das Präsidialamt der Vereinigten Staaten funktioniert nur durch Kommunikation. Nicht Fakten sind das öl im Getriebe, sondern dieser nichtgreifbare Stoff, den wir gern als >Information< bezeichnen, und der ist so 'ne Art Scheinmünze, die auf gehobenem Niveau im Tauschhandel hin- und hergereicht wird. Informationsträger erkennen den jeweiligen Wert der Münze sofort und immer. Sie wären verblüfft, wenn Sie wüßten, wieviele offizielle Berichte mit dem Satz begin60 nen oder ihn irgendwo enthalten: >Uns ist die Information zugegangen, daß .. .< Und dabei handelt es sich nicht um den königlichen Pluralis majestatis, sondern um das >wir< der Bürokratie. Es bedeutet, daß man die Schuld auf jemand anderen schieben kann, oder sie doch mit jemand anderem teilen kann, falls die Geschichte sich als faul herausstellen sollte.« Ruckerman wußte, daß er genug Dampf daruntergesetzt hatte und daß das Kommunikationssystem des Weißen Hauses, als die militärische Operation, die es nun einmal war, Saddler für ihn finden würde. Dann klingelte das Telefon. Saddler, unterrichtete ihn ein diesmal männlicher Telefonist, befinde sich in Camp David. Dann die Stimme des wissenschaftlichen Beraters, nur leicht verschlafen klingend: »Will, was ist denn so verdammt wichtig, daß Sie mich ...« »Ich will Ihnen nicht auf die Nerven gehen, Jim. Ich habe da einen Brief erhalten, der ...« »Von jemand, der sich selber als der >Verrückte< bezeichnet?« »Genau. Und ich ...« »Das FBI kümmert sich schon darum, Will. Bloß wieder mal so'n Verdrehter.« »Jim ... ich glaube, Sie täten sehr gut daran, diesen Brief nicht als den eines der üblichen Spinner abzutun. Seine Nachschrift müßte uns wirklich davon überzeugen, daß ...« »Was für eine Nachschrift?« »Das zweite Blatt, auf dem er ein paar Einzelheiten aufführt über ...« »Bei unserem Brief war kein zweites Blatt. Ich schicke Ihnen einen Mann vorbei, der den Brief abholt.« »Verdammt, Jim! Würden Sie mir jetzt endlich zuhören? Ich bin auch ein Stück weit auf dem Weg gegangen, den dieser Typ beschreibt. Der Mann ist ein Fachmann! Und darum rate ich Ihnen nachdrücklich, nehmen Sie diese Drohungen ernst! Sie sind ganz real! Wäre ich an Ihrer Stelle, ich würde dem Präsidenten raten, zumindest einleitende Schritte zu unternehmen, damit den Forderungen ...« 61 »Aber, nun bleiben Sie mal auf dem Teppich, Will! Haben Sie auch nur 'ne kleine Vorstellung davon, was das politisch bedeuten würde? Der Kerl verlangt eine Quarantäne! Dann verlangt er, daß wir sämtliche libyschen Staatsbürger nach Libyen expedieren, alle Iren nach Irland, alle Engländer nach England - alle ohne Ausnahme, einschließlich der Diplomaten. Aber wir können doch nicht einfach ...« »Und wenn wir es nicht tun, droht er, daß er die USA in ...« Ruckerman hielt inne, dann zitierte er aus dem Brief: »... in das Netz seiner Rache einbeziehen will.« »Hab ich gelesen, und ich geb keinen Furz darauf, daß das ernst ...« »Sie haben einfach nicht zugehört, Jim! Ich sage Ihnen doch die ganze Zeit, was dieser Mann androht, ist möglich!« »Sie reden doch nicht im Ernst?« »Ich meine es verflucht ernst!« Dann rauschte es nur in der Leitung, und Ruckerman konnte ein Stimmengebrabbel hören, das jedoch zu schwach war, als daß er Worte hätte verstehen können. Und dann war Saddler wieder in der Leitung: »Will, wenn mir sonst jemand so was sagte ... also, ich meine, tödlich verlaufende neue Krankheiten, gegen die es keine natürlichen Resistenzen gibt und so ... Wie, zum Teufel, will der Kerl denn die Infektion verbreiten?« »Ich brauche meine Vorstellungskraft nicht anzustrengen, und ich kann Ihnen sofort ein Dutzend ganz einfache Methoden nennen.« »Verdammt! Jetzt machen Sie mir allmählich wirklich Angst.« »Das ist gut! Denn dieser Brief ist so, daß ich mir fast in die Hosen scheiße.« »Will, ich muß diesen Zusatz im Brief sehen, ehe ich ...« »Sie wollen also nicht nur auf meine Warnung hin handeln?« »Aber wie soll ich denn damit so einfach reingehen zum ...«
»Jim ... der Zeitfaktor ist enorm wichtig. Der Präsident 62 müßte unverzüglich informiert werden. Die betroffenen Diplomaten sollten gewarnt werden. Das Militär, die Polizei in Großstädten, Gesundheitsbehörden, Bürgerwehren ... Zivilschutz ...« »Aber dann kriegen wir womöglich eine Panik!« »Der Hauptteil dieses Briefes ist in Ihren Händen. Er sagt da, daß er das Höllenzeug bereits losgelassen hat. Und das heißt nun mal Abschottung. Verdammt noch mal, er sagt es doch klar und deutlich genug: Laßt der Sache ihren Lauf, wo ich sie ausgelöst habe. Bedenken Sie, daß ich das Übel überallhin verbreiten kann, wohin immer es mir beliebt. Sollten Sie versuchen die befallenen Gebiete durch den Einsatz von Atomwaffen zu sterilisieren, werde ich meinen Rachefeldzug auf jedes einzelne Land auf diesem Erdball ausdehnen ... Lesen Sie sich das noch mal genau durch, Jim, und wenn Sie dann noch meine Warnung ernstnehmen, dann werden Sie ganz genau wissen, was Sie zu tun haben. Und zwar sofort...« »Will, wenn Sie sich irren ... Haben Sie auch nur die geringste Ahnung, was für Auswirkungen ...« »Und was ist, wenn Sie sich irren?« »Verdammt, Sie sind aber stark daran, meine Glaubenspotenz zu überfordern.« »Ach, verdammt, Jim, Sie sind doch Wissenschaftler! Sie sollten doch inzwischen begriffen haben, daß ...« »Gut. Aber dann erklären Sie mir mal, Will, wie man eine Seuche geschlechtsspezifisch verbreitet.« »Also gut. Der derzeitige Stand meiner eigenen Forschungsarbeit, und ich bin ziemlich sicher, ich hänge weit hinter dem her, was der >Verrückte< erreicht hat... also, ich bin überzeugt, daß man Krankheiten für viele genetische Varianten sozusagen Maßschneidern kann - zum Beispiel auf Weißhäutigkeit, oder etwa auf die Anfälligkeit für Sichelzellenanämie ...« »Aber, wie könnte denn ein einzelner Mensch ... Ich meine, die enormen Kosten!« »Eine Kleinigkeit. Ich habe mir durchgerechnet, was an Kosten für die nötige Instrumentenausrüstung anfallen 63 könnte - es sind weniger als dreihunderttausend Dollar, und da ist der Computer bereits mit drin. Ein Kellerlabor irgendwo ...« Ruckerman ließ den Satz in der Luft hängen. Dann sagte Saddler: »Ich brauche diese Aufstellung der nötigen Instrumente. Ober die Lieferanten sollten wir in der Lage sein ...« »Ich lese sie Ihnen gleich vor. Aber ich fürchte, es ist zu spät, auch wenn wir sein Laboratorium ausfindig machen können.« »Sie meinen also wirklich ...« »Ja. Ich glaube, er hat es geschafft. Der Brief ... er demonstriert ziemlich genau, daß er über die wesentlichen Punkte Bescheid weiß, und ich habe nicht einen einzigen Fehler entdeckt. Ich glaube, Irland, Großbritannien und Libyen ... und vielleicht wir alle, werden scheußlichen Zeiten entgegengehen. Ich sehe nämlich nicht, wie wir so etwas eingrenzen könnten. Aber als Anfangsmaßnahme sollten wir wirklich die bezeichneten Gebiete isolieren ... zu unserer eigenen Sicherheit, wenn schon nicht aus anderen Gründen.« »Was für anderen Gründen?« »Dieser Verrückte rast immer noch ungehindert durch die Welt. Und wir wollen doch nicht riskieren, daß er auch noch seine Wut auf uns richtet.« »Will, er behauptet, daß kein weiblicher Mensch in diesen drei Staaten überleben wird. Also, ich glaube ... Also wirklich! Wie kann ...« »Ich reiche Ihnen später eine exaktere Analyse ein. Aber jetzt flehe ich Sie an, unternehmen Sie sofort die notwendigen ersten Schritte! Der Präsident sollte bereits an diesem berühmten heißen Draht nach Moskau hängen und mit den anderen wichtigsten Weltpolitikern reden. Er sollte ...« »Will, ich glaube, ich lasse Sie besser mit einem Flugzeug abholen. Ich möchte das dem Präsidenten nicht allein und auf meine Kappe unterbreiten. Wenn wir ihn überzeugen müssen, nun, er kennt Ihren wissenschaftlichen Ruf, und wenn Sie ...« »Louise hat meinen Koffer schon gepackt. Und noch eins, 64 Jim, das allererste, was Sie unternehmen sollten, ist, daß sie so viele junge Frauen wie möglich in dieses Versteck in Denver bringen, auf das unsere Militärs so stolz sind. Frauen! Haben Sie das begriffen? Und nur so viele Männer, wie nötig sind, um die technische Seite eines Überlebensplans in Funktion zu halten.« Ruckerman ließ seine Worte wirken - möglichst viele Frauen, ganz wenige Männer, und das war genau das Gegenteil von dem, was wohl normalerweise in solch einer Zufluchtsstätte der Fall sein würde. Dann sprach er weiter. »Man müßte den Russen und anderen wichtigen Nationen der Welt erklären, daß sie gut daran täten, ähnliche Maßnahmen in die Wege zu leiten. Es wird natürlich recht lang dauern und schwer sein, die Russen davon zu überzeugen, daß wir es ehrlich meinen. Wir wollen ja nicht, daß die denken, es handle sich wieder einmal um irgend so ein teuflisches kapitalistisches Komplott. Und der Himmel weiß, die sind sowieso schon paranoid genug.« »Ich glaube, wir sollten da die diplomatischen Entscheidungen auf so hoher Ebene den Experten überlassen,
Will. Sie sollten im Augenblick nur eins tun, verfrachten Sie Ihren Corpus so rasch wie möglich hierher. Und bringen Sie mir um Himmels willen, genug Beweismaterial mit, um mich zu überzeugen, daß Sie recht haben.« Ruckerman legte den Hörer auf und blickte zu seiner Frau hinüber, die am anderen Ende des Zimmers stand. »Also wird er auf dich warten«, sagte sie. Ruckerman hieb die Faust auf den Ankleidetisch, so heftig, daß das Telefon hüpfte. »Louise, du nimmst den Wagen! Pack nur die allernötigsten Sachen! Kauf soviel Lebensmittel ein, wie du sicher einlagern kannst, und dann fahr rauf zu unserm Landhaus in Glen Ellen! Und nimm die Waffen mit! Ich melde mich dann bei dir.« 65 Ich schwöre dem Herrn des Todes Gehorsam. Formel aus dem Eid einer Geheimgesellschaft in Ulster Achill Island, südlich der Blacksod Bay in der Grafschaft Mayo gelegen, zeichnete sich klar vor einem sturmzerfetzten Atlantikmorgen ab, und die irische Landbevölkerung war schon eifrig tätig, richtete sich auf den ersten Schub von Touristen ein, brachte Saat aus, stach Torf und stapelte die Soden zum Trocknen, und war ganz wie sonst mit ihren Alltagsarbeiten und ihrem normalen Leben beschäftigt. Die Insel spielte in zahlreichen Grüntönen, dazwischen lagen Flecken schwarzer Felsen und weiße Tupfer, wo die Bewohner ihre Gebäude errichtet hatten. Achill Island war von der irischen Landmasse beim Rückzug des letzten eiszeitlichen Gletschers abgeschnitten worden, und es gab nur wenige Bäume auf der Insel. Die steilen Hänge waren von Stechginster bedeckt, der sich längs der Gräben der Torfstecher ausbreitete, die ersten Marschveilchen begannen sich zu zeigen und traten in Konkurrenz zu Brombeergestrüpp und Steinbrech und der allgegenwärtigen Erika. Hie und da sproßte vorsichtig Nabelkraut zwischen den Felsen hervor. Eine Granitruine lag halbverfallen im Gestrüpp auf der Hügelkuppe, dort, wo die Straße von Mulrany eine Kurve machte, ehe sie dann auf die Brücke zu abfiel, die die Zufahrt zur Insel bildete. Die Spitzbogen und die gezackte Mauerwehr waren zu kleinen niederen Haufen zusammengesunken, auf denen kümmerlicher Efeu und Flechten wuchsen. Die schorfige Felsoberfläche bot nicht den geringsten Hinweis auf die schmalen Fensterluken, von denen aus die Verteidiger vergeblich Cromwell zurückzuschlagen versucht hatten. An der Straßensperre, die die Zufahrt zur Insel blockierte, standen zwei höfliche junge Soldaten mit dem Abzeichen der Irischen Harfe auf der Schulter. Zwei Touristenautos hatten sie bereits zurückgeschickt, die auf die Straße zur Insel gelangt waren, ehe die Sperren weiter oben bei Mulrany errich66 tet worden waren. Die Soldaten hatten sich für die Unannehmlichkeit entschuldigt und den Touristen geraten, doch statt dessen lieber nach Balmullet zu fahren, >einem wunderschönen Ort, wo man noch das alte Leben sehen kann<. Auf alle Fragen gaben die Soldaten die Antwort: »Wir sind nicht befugt, etwas zu sagen, aber sicher ist es nur eine vorübergehende Maßnahme.« Drei Lastwagenzüge, die im Verbund Lebensmittel auf die Insel bringen wollten, ließen sich nicht ganz so leicht abwimmeln. »Es tut uns sehr leid, Jungs, aber wir haben damit nichts zu tun. Ja, ich bin auch der Meinung, daß man euch hätte vorher informieren müssen, aber Jammern nützt uns da gar nichts. Befehl ist nun mal Befehl! Und die Straße ist gesperrt.« Vier Panzerwagen unter dem Befehl eines Majors plazierten sich an der Sperre, während die Soldaten noch mit den Lkw-Fahrern herumdiskutierten. Der Major und ein Unteroffizier sprangen aus dem Wagen, der Unteroffizier hatte die Automatic im Anschlag. Der Major, ein dürrer Mann mit steingrauen Augen und buschigen Haaren, die unter der Feldmütze hervorquollen, erwiderte den Gruß der beiden Wachsoldaten und wendete sich dann den Lkw-Fahrern zu. »Nun kehrt mal schön um, Jungs! Schluß der Debatte!« Einer der Lkw-Fahrer setzte zum Sprechen an, aber der Major fuhr ihm ins Wort: »Ihr wendet jetzt eure Wagen und haut hier ab, oder ich lasse sie von einem meiner Männer ins Wasser fahren, und euch nehmen wir dann unter Bewachung von hier weg!« Murrend stiegen die Fahrer in die Kabinen, setzten die Lkws zum Parkplatz an der Brücke zurück und fuhren dann die Straße nach Mulrany hinauf. Der Major trat zu einem Panzerwagen, in dem sein Funker saß, und sagte: »Alarmier Mulrany! Die müssen dafür sorgen, daß die Burschen weiterfahren.« Dann ging er zu den beiden Soldaten an der Brückenbarrikade zurück, drehte sich langsam im Kreis und spähte die Umgebung aus: den steilen hohen Hügel über Pullrany und 67 den noch höheren Kamm des Corraun dahinter; dort stand Alice's Harbour Inn neben dem Parkplatz, hier war die Straßensperre, die weißen Häuser jenseits der Brücke auf der Insel, dort stand eine Gruppe Männer, die Köpfe zusammengesteckt, anscheinend heftig miteinander redend. Kurz darauf trat der Major wieder zu seinem Funker und fragte: »Haben die Patrouillenboote ihre Positionen am Bulls Mouth und Achill-Beg eingenommen?« Der Funker, ein nervöser pickeliger junger Mann, beugte sich über sein Mikrofon und sagte nach ein paar Sekunden: »Alle in Position, Sir, ein Boot kommt vom Bulls Mouth runter und holt die kleinen Boote der Inselleute zusammen.« »Gut«, sagte der Major. »Wir können hier überhaupt keine Boote auslassen, weil das jemand in Versuchung
führen könnte, von hier abzuhauen.« Er seufzte. »Was für ein verfluchter Mist!« Dann ging er langsam wieder zu den Panzerwagen zurück und befahl einem Unteroffizier: »Lassen Sie die Männer lieber ausschwärmen! Niemand geht dort raus oder rein, außer natürlich medizinisches Personal, aber die kommen sowieso mit Hubschraubern.« Der Major betrat Alice's Inn, und man konnte ihn fragen hören, ob es Kaffee gebe. Etwa zwei Kilometer weiter oben an der Straße nach Mulrany beendeten drei Schwadronen Soldaten unter dem Befehl eines Leutnants die Aufstellung einer Zeltreihe an der windabgewandten Seite des Hangs, der über dem schmalen Salzwassergraben aufragte, der Achill Island von Irland trennte. Oberhalb der Zelte war bereits ein mit Sandsäcken geschützter Unterstand mit zwei Maschinengewehren errichtet worden. Als die Zelte standen, befahl der Leutnant einem Korporal: »Nehmen Sie Ihren Zug und warnen Sie alle Ortsansässigen, daß sie sich nicht von ihren Häusern entfernen dürfen! Kein Herumstreunen hier oder sonstwo auf der Insel! Sagen Sie, es handelt sich um eine Quarantänemaßnahme, aber mehr sagen Sie nicht!« 68 Auf dem 526 Meter hohen Gipfel des Corraun Hill, etwa vier Kilometer südlich von dieser Stellung, hatten weitere Soldaten an der Ecke einer alten Schloßruine Sandsäcke aufgestapelt, die als Schutz für zwei 20Millimeter-Geschütze und vier Mörser dienen sollten. Während man die Mörser in Stellung brachte, begann es zu regnen. Sie legten Schutzhauben über die Waffen und verkrochen sich dann unter ihren imprägnierten Schutzmänteln, während ein Oberst, knapp unterhalb der Stellung, durch seinen Feldstecher nach Achill hinüberspähte. »Da drüben ist ziemlich viel Bewegung«, sagte der Oberst. »Ich fühl mich erst wieder wohler, wenn wir all die kleinen Boote kassiert und die Zufahrt übers Wasser völlig abgeriegelt haben.« Einer der Soldaten über ihm riskierte die Frage: »Colonel, ist das 'ne schlimme Krankheit, die die Leute da drüben haben?« »Das hat man mir immerhin gesagt«, antwortete der Oberst. Er ließ den Feldstecher sinken, streifte mit einem Blick die ganze Stellung und wandte sich dann an einen Unteroffizier, der ein paar Schritte abseits stand. »Lassen Sie ein paar Unterstände errichten, Sergeant! Und es wird genau aufgepaßt. Nur der medizinische Trupp darf auf die Insel, und keine Seele darf von dort weg!« »Wir werden nicht mal 'nen Fuchs durchlassen, Sir.« Der Oberst drehte sich um und lief mit weiten Sprüngen den Hang zu einem Jeep hinunter, der auf dem engen Fahrweg unterhalb der Stellung auf ihn wartete. Wie ein Mann blickten die Soldaten, die er zurückgelassen hatte, hinüber nach Achill, der Insel der Adler, die es dort längst nicht mehr gab. Im Regen wirkte die Landschaft trübe und verschlossen, Tupfer von Felsen und weißen Häusern vor den verschiedenen Grüntönen. Die wenigen Straßen schnitten graue Schneisen um die Hügelflanken, und darunter lag in dunklerem Grau der Ozean. Bei den äußeren Klippen von Achill Head stießen die Kämme von Slievemore und Croaghaun fast bis in die Wolken vor. Es war ein Ort, der sich 69 sozusagen in sich selbst zurückgezogen hatte, und die Soldaten, die über den Sund zur Insel hinüberstarrten, verspürten etwas von der siedenden Stimmung, die über dem Land hing. Dort hatten unzählige Generationen, unzählige Frauen und Männer in leidenschaftlichem Brüten das Unrecht wiedergekäut, das Irland angetan worden war. Keiner mit einem Tropfen irischen Blutes in sich konnte dem gegenüber unberührt bleiben, was dort drüben schwelte - diese verbissenen Hoffnungen all jener, die für den >Irischen Traum< zugrunde gegangen waren. »Da werden die Priester wieder mal viel zu tun kriegen«, sagte der Unteroffizier. Und dann: »Also, Leute, ihr habt ja gehört, was der Colonel gesagt hat. Bauen wir ein paar Unterstände!« Tief unterhalb dieser Stellung, am inselseitigen Ende der Brücke, wo die Ortsstraße sich zur Landstraße ins Inselinnere verwandelte, hatte sich in Mulvaney's Saloon Bar inzwischen eine Meute von Inselbewohnern und ein paar Touristen eingefunden. Sie gingen mit hochgezogenen Schultern gegen den Regen, stiegen aus Autos und von Fahrrädern und drängten sich in das dunstige Innere des Gasthauses, in dem es schwer nach nasser Wolle und Bier roch. Mulvaney's, ein einstöckiges Haus, weißgekalkt, mit Schieferdach und drei soliden Kaminen, war einer der ganz natürlichen Treffpunkte der Insel. Bald war die Bar voll von Männern, deren Gestikulation abrupt wirkte, voll verhaltener Gewalttätigkeit. Ein kleiner Streifenwagen der Garda fuhr vor dem Gasthaus vor, und die Gespräche verstummten, als sich diese Neuigkeit in der Bar ausbreitete. Aus dem Auto stieg Denis Flynn, der örtliche Vertreter der Garda; ein kleiner blonder Mann mit hellblauen Augen in einem jungenhaften Gesicht, das jetzt bleich war und unter nervösen Zuckungen zu leiden schien. Man machte ihm Platz, als er hereinkam, sich bis an die Westseite des Raumes durchschob und auf einen Stuhl kletterte. Flynns Stimme klang in das erwartungsvolle Schweigen 70 hinein; ein dünner Tenor, der ganz unerwartet sich überschlug: »Sie haben uns unter Quarantäne gestellt«, sagte er. »Sie schicken uns Notärzte per Hubschrauber. Niemand darf die Insel verlassen oder sie betreten, außer dem medizinischen Hilfspersonal und vom Staat autorisierten Personen.« In dem Gebrodel von ihm heftig entgegengebrüllten Fragen hob Flynn seine Stimme und verlangte Ruhe. »Wir müssen einfach Geduld haben. Es wird alles getan, was getan werden kann.«
Mulvaney, ein sanfter Riese mit einem kahlen Schädel, der schimmerte wie seine blankpolierte Theke, drängte sich durch die Menge und blieb vor Flynn stehen. Er wies mit dem Daumen über die Schulter und sagte: »Da hinten liegt meine Molly und ist krank, und es gibt bloß den einen Doktor. Ich will wissen, was da los ist.« »Ich bin hier bloß Garda«, sagte Flynn. »Darauf sollen mal die von der Gesundheitsbehörde antworten.« Mulvaney blickte an Flynn vorbei durch die Fenster in Richtung auf Knockmore und den Weiler Droega, die hinter dem Hügelhang lagen, der sie gegen die schlimmsten atlantischen Sturmböen schützte. Keine zehn Minuten war es her, daß sein Bruder, Francis, ihn von dort aus angerufen hatte, um ihm von einer weiteren Toten zu berichten, und seine Stimme hatte von Tränen gezittert. Mulvaney starrte fest zu Flynn hinauf, als er sagte: »Deine Weibsleute sind sicher hinter Mulrany. Da kannst du leicht dich auf die Seite der Obern stellen. Aber es ist meine eigene Schwägerin Shaneen, die heut morgen gestorben ist.« Ein Mann weiter hinten in der sich drängelnden Menschenmasse rief: »Und meine Katie hat auch die Krankheit! Wir wollen eine Antwort, Flynn, und wir wollen sie jetzt hören!« »Ich hab euch gesagt, was ich weiß«, sagte Flynn. »Mehr kann ich nicht machen.« »Was soll das, daß da Beamte kommen wollen?« fragte Mulvaney. »Vom Gesundheitsministerium in Dublin.« 71 »Und wozu brauchen sie Soldaten, die uns nicht durchlassen?« fragte eine andere Stimme. »Sie haben droben auf dem Corraun sogar Kanonen aufgestellt!« »Es besteht kein Anlaß zur Panik«, sagte Flynn. »Aber die Lage ist ernst.« »Und warum hören wir dann nichts davon im Radio!?« fragte Mulvaney. »Habe ich nicht grad gesagt, wir wollen keine Panik?« »Es ist die Pest, oder?« fragte Mulvaney. Plötzlich lastete Totenstille über dem Raum. Ein kleiner dunkelhäutiger Mann mit verkniffenem Gesicht rechts neben Flynn räusperte sich. »Aber wir haben ja noch unsere Boote«, sagte der Mann. »Das schlag dir mal gleich wieder aus dem Kopf, Martin!« knurrte Flynn und funkelte zu dem Mann hinunter. »Die Marine ist in ein paar Minuten da und sammelt eure Boote ein. Ich hab den Befehl, euch daran zu hindern, Achill zu verlassen - unter Anwendung aller nötigen Mittel!« Mit heiserer Stimme fragte Mulvaney: »Dann werden also alle unsere Frauen sterben? Neunzehn Tote seit gestern, und bloß die Frauen und Mädchen. Warum ist das so, Denis?« »Die Ärzte werden die Antwort herausfinden«, sagte Flynn. Er sprang von seinem Stuhl, hielt sich an Mulvaney fest, um sein Gleichgewicht wiederzufinden, schaute aber dabei dem Mann nicht in die Augen. Flynns vorgesetzter Superintendent hatte vor weniger als einer Stunde genau die gleichen Befürchtungen geäußert, als er sanft, aber bestimmt zu ihm über das Telefon gesprochen hatte. »Wenn alle Frauen dort sterben, dann könnte das sehr schlimm werden, Denis. Und es laufen schon Gerüchte um, daß die Sache geplant war. Aber darüber derzeit kein Wort!« »Absichtlich geplant? Von den Ulstermen oder von den Briten?« »Darüber diskutiere ich nicht, Denis. Ich sage es nur, um Ihnen den Ernst der Lage deutlich zu machen. Sie werden dort für eine Zeitlang allein sein innerhalb der Sperrzone und 72 die Staatsautoriät repräsentieren müssen. Wir verlassen uns auf Sie!« »Aber bekomm ich denn keine Unterstützung?« »Man sucht Freiwillige unter den Soldaten, aber die können erst am Nachmittag anrücken.« »Aber ich habe mich nicht freiwillig gemeldet, Sir!« »Aber Sie haben einen Eid geschworen, Ihre Pflicht zu tun, und genau darum bitte ich Sie, und zwar jetzt!« Während er sich durch die Leute in Mulvaney's zwängte, um ins Freie zu gelangen, erinnerte Flynn sich an dieses Telefongespräch. Es hatte noch weitere Befehle gegeben, und diese Dinge mußte er nun erledigen. Der Regen hätte sich in leichten Dunst verwandelt, als er aus der Gasthaustür trat. Er stieg in seinen Wagen, vermied es, zu den zornigen Gesichtern zurückzublicken, die ihm nachstarrten, er startete den Motor, wendete und fuhr langsam zu der Zementplattform hinab, die über den Achill-Sund hinausragte und über die Fischerboote, die dort vor Anker lagen. Er sah ein Patrouillenschnellboot mit breiter Bugwelle hereinkommen, als es von Bulls Mouth herüber Fahrt zulegte. Es sah so aus, als werde es höchstens noch fünf Minuten brauchen, und dafür war Flynn zutiefst dankbar. Er hielt auf dem Betonschurz an, zog das Gewehr aus der Halterung und saß da und kam sich sehr seltsam vor - er, so da mit einer Waffe in den Händen. Aber der Superintendent hatte seine Anweisungen recht drastisch geäußert. »Ich will, daß Sie mit der Waffe in der Hand auf Posten bleiben, Denis, bis diese kleinen Boote abgeschleppt sind! Und um es klar zu sagen, Sie werden Ihre Waffe einsetzen, wenn das nötig wird!« Flynn stierte trüb übers Wasser zu dem sich nähernden Patrouillenboot. Über dem Strand wirbelten kreischende Seemöwen. Er atmete die vertrauten Salzgerüche ein, den Geruch von Seetang und den schärferen Gestank von Fisch. Wie oft hatte er auf diese gleiche Szenerie hinausgeblickt und sie niemals für fremd und absurd gehalten? Flynn geriet ins Nachdenken ... Jetzt aber ... Die plötzliche Andersartigkeit
73 ließ ihm einen Schauder durch den mageren Leib fahren. Das, was er drüben bei Mulvaney's hatte sagen wollen, das, was ihm wie Sodbrennen in die Kehle gestiegen war, beherrschte sein ganzes Denken. Aber sein Super war wie Eis gewesen, was die Geheimhaltung betraf. »Eine große Zahl von Frauen wird mit Sicherheit sterben, vielleicht sogar alle auf der Insel. Wir verlassen uns auf Sie, daß Sie Ruhe und Ordnung aufrechterhalten, bis Hilfe eintrifft. Es darf keine Panik geben, keine Zusammenrottungen. Sie müssen ganz strikt sein und die Ordnung aufrechterhalten.« »Und ich hätte es ihnen sagen müssen«, murmelte Flynn vor sich hin. »Man sollte die Priester holen. Es ist doch ganz sicher, daß nichts sonst da noch helfen kann.« Er stierte zu den vertäuten Fischerbooten hinüber, und er empfand auf einmal tiefe Einsamkeit und das Gefühl, völlig hilflos zu sein. »Herr, hilf uns in der Stunde unserer Not«, flüsterte er vor sich hin. Seit dem Winter von 1348, als der Schwarze Tod Irland verheerte, hat es keine so furchtbare Epidemie mehr gegeben. FlNTAN CRAIG DOHENY Einen Tag vor der Verhängung der Quarantäne über Achill Island fuhren Stephen Browder und Kate O'Gara einträchtig zum Lough Derg; sie wollten in der Nähe von Killaloe zu Mittag essen und dann zu einem Cottage am See bei Cloononn weiterfahren. Es sollten drei Tage Urlaub werden, die sie zusammen sich sozusagen stahlen, ehe auf Kate das Examen und auf Stephen, der sich nun auf Pressions-Medizin spezialisieren wollte, Wochen eines hektischen sommerlichen Arbeitsplanes zukamen. Das Cottage war ein modernisiertes Bauernhaus und gehörte Adrian Peard, der sechs Jahre vor Stephen promoviert hatte und der bereits den Ruf eines bedeutenden Forschers auf dem Sektor der Pressionsmedizin und der Folgeschäden 74 bei Tauchern genoß. Peard, Sproß einer alteingesessenen, wohlhabenden Familie der Grafschaft Cork, hatte sich in diesem Häuschen am See eine Basis für Wochenenden und Ferienaufenthalte errichtet und außerdem in der Scheune hinter dem Cottage einen großen Stahltank für Kompressions / Dekompressionsversuche installiert. Stephen war früher schon ein paarmal Gast in dem Cottage gewesen und hatte sich etwas Geld als Versuchskaninchen in Peards Experimenten verdient. Seit ihrem ersten >Sexualerlebnis< an der Mallow Road hatte Kate die Wiederholungsfälle auf ein-, zweimal pro Monat >rationiert<, und natürlich auf die Tage, an denen sie am wenigsten empfängnisbereit war. Zuerst hatte sie sich gegen diesen Ausflug gesträubt, weil er gerade in die Zeit ihrer höchsten Fruchtbarkeitsperiode fallen würde, doch Stephen hatte ihr versprochen, >vorsichtig< zu sein. Kate, die sich nicht ganz klar darüber war, was das heißen sollte, hatte gewarnt: »Wir wollen in unserer Familie keine unehelichen Bastarde haben, Stephen Browder!« Sie hatten den Ausflug sorgfältig geplant. Zum Schein befand sich Kate bei ihrer Freundin, Maggie, und machte Ferien in Dublin. Und Stephen war angeblich auf einem Bootstrip mit Freunden bei Kinsale. Peard, der wohl die wahre Natur der Beziehung zwischen Stephen und Kate vermutete, bot ihnen unaufgefordert an, doch sein Häuschen am Lough Derg zu benutzen, >sofern das nicht meinen Arbeitsplan durcheinander bringt<. Lachend hatte er die Schlüssel ausgehändigt und gemahnt: »Hinterlaß mir die Höhle sauber und versuch doch ein bißchen Zeit für die Arbeit abzuzweigen. Ich möchte gern eines Tages mit dir zusammenarbeiten, Stephen. Du hast so ein gewisses Talent dazu, ungewöhnliche Schwierigkeiten zu lösen - wie sich ja hier sehen läßt.« Genau wie Peard erwartet hatte, war Stephen errötet - aber gleichermaßen wegen des versteckten Lobes wie wegen der geplanten Heimlichkeiten. 75 Das Auto, in dem sie fuhren, war ein winziger grüner Fiat, dessen Benutzung sich Stephen dadurch verdient hatte, daß er dem Besitzer Nachhilfeunterricht in den Feinheiten der menschlichen Nierenfunktionen erteilt hatte, ein Teilgebiet, mit dem der Fiatbesitzer einfach nicht zurande kam, bis Stephen auf den glorreichen Gedanken kam, dem Jungen eine große Zeichnung anzufertigen mit auf Stecknadeln geklebten Verkehrsschildern, an denen vorbei der Student ein winziges Pappauto, das als körperfremde Materie< bezeichnet war, manövrieren mußte. Und jetzt, während sie nach Norden fuhren, amüsierten sich Stephen und Kate damit, mit ihrem Vehikel als körperfremde Materie< zu reisen. Ein paar Minuten vor zwölf fuhren sie über die enge Steinbrücke nach Killaloe. Der zinnenbewehrte Turm der St. Flannery's Cathedral ragte wie ein normannischer Wachtposten vor den Wolken auf, die sich über dem Horizont sammelten. Über ihren Köpfen war der Himmel blau, und auch der See war ein blauer und smaragdgrüner Spiegel für die umliegenden Hügel, und nur ein leichter Wind und ein Quartett dahingleitender Schwäne kräuselte seine Fläche. Direkt nördlich von Killaloe hielt Stephen an einer >Gypsy-Bude< und erstand Sandwiches, Kartoffelchips und Bier, was alles sie dann auf einer Wiese am Rand des Hügels verzehrten, der die Stelle markierte, an der Brian Boru einstmals seine Burg errichtet hatte. Von ihrem Rastplatz aus konnten sie auf Ballyvalle Ford hinabschauen, wo Patrick Sarsfield und seine sechshundert Mann in der Nacht des 10. August 1690, bei der
Belagerung von Limerick den Shannon überquert hatten. Kate war von der Geschichtsträchtigkeit ihres Volkes fasziniert, außerdem verspürte sie so etwas wie Ehrfurcht, daß sie jetzt >genau auf diesem Platz< saß, und als sie herausfand, daß Stephen keine Ahnung von den Einzelheiten hatte, begann sie ihn mit dem Bericht von Sarsfields Ritt zu beglücken. Er sah, wie sich ihre Wangen röteten, während sie von diesem >wundervollen nutzlosen Ritt< gegen den Williamitischen Belagerungstroß schwärmte, und seine Augen 76 schweiften sehnsüchtig zu den schützenden Schatten der Bäume hinüber, die als Ring um die Fundamente der Burg Brian Boras wuchsen. Er überlegte sich, ob Kate vielleicht dazu zu bewegen sein würde, mit ihm für eine Weile in diesem schützenden Laubnest zu verschwinden. Aber dann hörte er lärmende Kinder am See unterhalb ihrer Wiese, und außerdem wimmelte es an ihrem Picknickplatz bald von Fliegen, die ihr Essen angelockt hatte. Also schlangen sie es rasch hinunter, und rannten zum Auto zurück, um dem Schwärm der sie verfolgenden Insekten zu entrinnen. Sicher im Wagen, blickte Kate zur Wiese zurück und überraschte Stephen mit einer mystischen Seite ihres Wesens, die er nie in ihr vermutet hätte. »Schreckliche Dinge sind an diesem Ort geschehen, Stephen. Ich kann sie spüren. Vielleicht sind diese Fliegen die Seelen der bösen Männer, die solche Greuel verübt haben?« »Aber geh doch, Katie! Was für eine Vorstellung!« Sie wurde erst wieder etwas fröhlicher, als sie auf dem Schotterweg zu dem Cottage hinunterfuhren und sie die alte doppelte Kaminhaube über den Baumwipfeln erblickte. Und als sie dann das Haus betraten, benahm sie sich fast wie ein Kind, so sehr bewunderte sie alles. Stephen hatte inzwischen gelernt, ihre Stimmungen zum großen Teil zu verstehen und sogar zu genießen, also bereitete es ihm regelrecht Vergnügen, ihr das Haus zu zeigen. Aus der alten Bauernküche war eine ganz moderne geworden, ein breites Fenster war auf der Seeseite in die Mauer gebrochen worden, und die Ausstattung war nicht nur bloß modern, sondern auch vom Besten, was es zu kaufen gab. Kate preßte die Hände an die Wangen, während sie das alles begutachtete. »Oh, Stephen, wenn wir doch nur auch so ein Haus haben könnten!« »Das werden wir, irgendwann, Kate.« Sie wirbelte zu ihm herum und umarmte ihn. Vor dem Häuschen lag ein kleiner Obstgarten und davon durch Steinquader abgesetzt ein Stück Land für einen Küchengarten. Die Scheune stand am anderen Ende des Obst77 gartens. Es war ein Steinbau mit einem neuen Wellblechdach und gut anderthalb mal so groß wie das Cottage selbst. Hohes Unkraut wucherte um die Steinmauern der Scheune, doch der Pfad vom Haus durch den Obstgarten bis an eine kleine Seitentür war sauber und am Rand exakt getrimmt. Stephen öffnete das Vorhängeschloß und stieß für Kate die Tür auf. Er knipste den Lichtschalter neben der Tür, als sie über die Schwelle trat. Grelles Licht erfüllte den einzigen weiten Raum; die Lampen hingen unter Reflektoren an Rohren von den Deckenbalken herab. In der Mitte des Raumes stand mächtig der große Tank. Er war ganze sechs Meter lang und hatte einen Durchmesser von gut zwei Metern. An jeder Seite befand sich ein Druckglasfenster; sie waren klein und in Augenhöhe angebracht, und dann war da noch ein weiteres Quarzglasfenster, noch kleiner, in dem durch Luftdruck versiegelten Schleusendeckel direkt vor ihnen. Kate erinnerte sich an die Beschreibungen, die Stephen ihr von seinen Aufenthalten im Tank gegeben hatte, und sagte: »Aber das ist ja so klein und eng. Bist du da wirklich mal viereinhalb Tage lang dringeblieben?« »Ach, es ist ganz bequem«, antwortete er. »Es gibt eine Absaugtoilette mit Doppelventil. Ein Telefon. Das einzige, was unangenehm war, waren diese ganzen Schläuche und Kabel, damit Peard ein Biofunktionsgramm von mir machen konnte.« Stephen führte Kate an die andere Seite und zeigte ihr den langen Arbeitstisch voller Instrumente, die Zuleitungen in den Tank, und ganz hinten die Gestelle mit der Tauchausrüstung, die sie beim Tauchen im Lough verwendeten, und dann am anderen Ende die zwei französischen Kompressoren mit ihren raffinierten Luftfiltern. Kate spähte durch eins der Quarzglasfenster in den Tank. »Also, wenn ich so lang da drinhocken müßte, ich würde mich zu Tode langweilen.« »Ach, ich hab mir ein paar meiner Bücher mitgenommen. Nein, ehrlich, Kate, es war ganz friedlich. Die meiste Zeit studierte ich oder schlief.« Kate stieß sich von dem kalten Metall ab und wischte sich 78 die Handflächen am Rock ab. »Ich werde uns jetzt ein prima Abendessen in dieser Küche machen«, sagte sie. »Hast du alles eingekauft, was ich dir auf meine Liste geschrieben habe?« »Alles im Kofferraum.« Während Kate sich in der Küche beschäftigte, holte Stephen ihre Koffer herein, die getrennten Bücherpakete von der Uni und die Tabellen mit Peards Meßdaten über Blutanreicherung. Die Koffer ließ er auf dem Bett liegen, erkundigte sich; ob Kate auch wirklich nichts mehr aus dem Laden im Dorf benötige, dann machte er es sich in dem winzigen Wohnzimmer bequem und begann zu arbeiten. Drüben konnte er Kate summen hören, während
sie in der Küche arbeitete, er konnte Töpfe und Pfannen klappern hören. Es fiel ihm nicht schwer, sich auszumalen, daß sie beide anständig verheiratet wären, ein gemeinsames Leben voll ruhiger Häuslichkeit und Frieden. Diese Stimmung beherrschte ihn während des ganzen Abendessens und genau bis zu dem Augenblick, in dem er Kate demonstrierte, auf welche Art genau er >vorsichtig< zu sein beabsichtigte. Er hielt ihr im Bett ein Präservativ unter die Nase, das einer seiner Studienkollegen in England erworben hatte. Kates Gesicht wurde puterrot, sie riß ihm das Ding aus der Hand und schleuderte es quer durchs Zimmer. »Stephen, was wir machen, ist schon sündhaft genug, aber so eine Schweinerei will ich nicht auf meiner Seele haben!« Er brauchte fast eine Stunde, bis er sie wieder beruhigt hatte, doch danach war sie ganz besonders zärtlich und weinte und lachte an seiner Schulter. Als sie einschliefen, lag ihr Kopf auf seiner Brust. Stephen wachte spät auf, und wieder war es von den Geräuschen, die Kate in der Küche verursachte. Mit dieser hausfraulichen Seite in ihrem Wesen hatte er nicht gerechnet, aber irgendwie erfüllte ihn der Gedanke mit einem Gefühl der Wärme und Befriedigung. Sie hatte das Radio eingeschaltet und summte die Musiktitel mit. Stephen schaute auf seine Armbanduhr auf dem Nachttischchen und war bestürzt, daß es schon fast elf Uhr war. Undeutlich bemerkte er, daß die 79 Musik im Radio abgebrochen war und daß eine Männerstimme mit mühsam beherrschter Erregung sprach. Nachdem er ein Bad genommen und sich angezogen hatte und in die Küche geschlichen war, fragte er: »Was war das da in den Nachrichten? Ich hab es nicht verstanden.« »Ach, irgend so 'n Ärger droben auf Achill«, antwortete sie. »Möchtest du ein Ei oder zwei?« »Drei«, sagte er und küßte sie auf den Hals. »Könnten wir im See schwimmen gehen?« fragte sie. »Es wird ziemlich kalt sein, aber wir können ja gleich wieder hierher zurückkommen und uns gegenseitig wärmen.« Sie wurde rot. Stephen wollte sie zu sich herumdrehen, aber das Schrillen des Telefons hinderte ihn daran. Es dauerte eine Weile, ehe er den Apparat hinter einem Stapel von Zeitschriften auf einem Gestell im Wohnzimmer entdeckte. Der Anrufer war Peard. »Ah! Gott sei Dank bist du dran, Stephen. Ist deine M Freundin in der Nähe?« Stephen zögerte. »Ja ... aber ich sehe nicht...« »Keine Zeit für Höflichkeiten! Fintan Doheny hat mich zu einer Konferenz von lauter medizinischen Eierköpfen geholt. Das Thema müßte dich stark interessieren!« »Doheny? Der Doheny? Was kann denn ich ...« »Ich hab nicht viel Zeit, Stephen. Ein Wahnsinniger, der Fachwissen in der DNS-Rekombination besitzt, hat eine neue Seuche auf Achill Island losgelassen. Sie haben den Ort abgeriegelt, aber keiner rechnet mehr damit, daß die Epidemie sich auf die Insel beschränken lassen wird. Und jetzt hör mir ganz genau zu! Es sieht so aus, als ob ausschließlich Frauen von dieser Seuche befallen würden. Bisher sind die Krankheitsverläufe hundertprozentig letal. Also, und da ist mir eingefallen, daß ja du und deine - Freundin droben im Cottage seid, und da haben wir doch diesen wunderschönen Testtank in der Scheune. Und eine Frau in so 'nem Tank und mit positivem Innendruck, die müßte sich doch in 'nem Zustand ziemlich wirksamer Isolation befinden. Kapierst du, was ich dir sagen will?« 80 »Aber sicher kapier ich, bloß, ich seh nicht, wie ...« »Mir bleibt keine Zeit herumzudiskutieren. Ich bitte dich einfach nur, es mir zuliebe zu tun.« Stephen warf einen Blick zu Kate hinüber, die dastand und ihn ansah. »Ich weiß nicht, ob sie ... ich meine, du willst wirklich, ich soll ...« »Ich muß weg, Stephen. Unternimm, was du kannst, um sie in den Tank reinzubekommen. Wenn nötig, gehst du eben selbst mit ihr rein! Stell das Telefon rüber! Ich ruf dich dann dort später an. Wirst du das tun?« Stephen holte tief Luft. »Diese Seuche ...« »... hat bereits eine beachtliche Zahl von Frauen umgebracht. Und wir haben keine Ahnung, wo dieser Verrückte sie vielleicht noch überall verbreitet hat. Schaff dein Weib in den Tank!« Und damit unterbrach Peard die Verbindung. Zu lange erduldete Gewalt führt zu moralischer Unempfindlichkeit. Sogar religiöse Führer verlieren dadurch ihre Würde. Die Gesellschaft ist gespalten in Opferlämmer und die anderen, die die Schlachtmesser schwingen. Hochgestochene Sprechblasen verdecken die blutige Realität: Phrasen mit Reizwörtern wie >Freiheit< und apolitische Autonomie< und dergleichen mehr. Solche Worte sind in einer Welt ohne Moralbewußtsein ohne Bedeutung. PATER MICHAEL FLANNERY Bis auf zwanzig waren alle Briefe John Roe O'Neills bereits befördert, ehe die FBI-Beamten mit einem Durchsuchungsbefehl in dem Auftragsbüro in Los Angeles erschienen. Die Adresse war ein winziges Büro mit nur einem Raum in einem Backsteinbau an der Figeroa, fast im Zentrum der Stadt. Geführt wurde das Büro von einer Miß Sylvia Trotter, einer knochigen Fünfzigerin, mit wildem hennaroten Haar und fiebrigen Rougeflecken auf den Wangen. Die beiden
81 FBI-Agenten, die einander in ihren ordentlichen blauen Anzügen so ähnlich waren wie zwei Klons, klappten die Brieftaschen auf, ließen sie einen flüchtigen Blick auf die Ausweise werfen, zauberten dann wie Tänzer in einer Synchronnummer die Ausweise zurück in die Taschen und verlangten, sie solle ihnen alles über die O'NeillBriefe sagen. Wie hatte der Kontakt mit dem Schreiber der Briefe stattgefunden? Hatte sie den Inhalt irgendeines dieser Briefe gekannt? Nicht einmal eines einzigen? Welche Adresse hatte der Schreiber ihr angegeben? Sie untersuchten ihre Bücher, nahmen eine Kopie ihres Hauptbuchs mit und ließen Miß Trotter schweißgebadet und verstört zurück. Die FBI-Männer, die sowohl als Juristen wie als Buchprüfer ausgebildet waren, fanden Miß Trotters laxe Geschäftsführung eklig. Sie hatte nicht einmal den Scheck fotokopiert, der von jenem Henry O'Malley an sie kam, der den Auftrag erteilt hatte! O'Malley mit einer falschen Adresse in Topeka/Kansas, hatte mit einem Barscheck einer Bank in Topeka gezahlt. Und noch ehe sie dem nachgingen, wußten die FBI-Agenten, daß sie in Topeka auf kein Wasser stoßen würden. Es gab in der ganzen Bank niemanden, der sich auch nur daran erinnerte, wie dieser O'Malley ausgesehen hatte. Unter den zwanzig beschlagnahmten Briefen, die sie neben dem Hauptbuch von Miß Trotter mitgenommen hatten, waren fünf, aus denen man schließen konnte, daß der Schreiber den offiziellen Besuch der Beamten vorhergesehen hatte. Sie waren an prominente Kirchen- und Sektenführer gerichtet, und der erste Satz lautete: >Warnung an die Mächtigen !< Dann wurde da erklärt, daß der Verrückte mit einer >Totmann-Schaltung< gekoppelt sei, die automatisch die Erde mit weiteren, andersartigen Seuchen überfluten würde, falls irgend jemand mich zu stören versuchte Zu dem ersten Beweismaterial, das das >Team< im Denver Isolation Center untersuchte, gehörten Fotokopien sämtlicher Briefe, soweit sie bekannt wurden, die der Verrückte ge82 schrieben hatte. Die erste Konferenz des Teams fand neunundzwanzig Tage nach der Demonstration des Irren auf Achill Island statt; eine Verzögerung, die auf politische >Decidophobie< in hohen Rängen zurückzuführen war, auf eine Entschlußunfähigkeit, die erst angesichts weltweiter grauenerregender Geschehnisse überwunden werden konnte. Die O'Neillsche Krankheit, die inzwischen als >die Weiße PesU bezeichnet wurde, weil ihre Opfer so erschreckend bleich waren und wegen der weißen Hautflecken, die an den Gliedmaßen auftraten, beschränkte sich offenbar inzwischen nicht mehr nur auf Irland, Großbritannien und Libyen. Die anfänglichen Isolierungsmaßnahmen waren recht locker gewesen und hatten es höheren Beamten leichtgemacht, sie zu umgehen oder zu ignorieren, ebenso den wohlhabenden Kreisen, die ihre Lieben in Sicherheit zu bringen trachteten, und gleichfalls Finanztransferierern, Kriminellen und ihren kriminologischen Verfolgern und zahlreichen anderen. Fälle vom Auftreten der Weißen Pest wurden aus allen Teilen der Erde berichtet. Es gab ein begrenztes Seuchengebiet in der Bretagne. In den USA schnitt die Pest einen Korridor von Boston bis fast nach Weymouth. Die westlichen Vorberge der Cascades von weit bis nach British Columbia hinein und südlich bis nach Kalifornien und zum Pazifik mußten durch brutale Quarantänemaßnahmen abgeriegelt werden. Auf der Liste der Weltgesundheitsorganisation, die die >Brandherde< aufzeigte, standen Singapur, Perth, New Delhi, Santa Barbara, St. Louis, Houston, Miami, Istanbul, Nairobi, Wien ... und dies waren nur die wichtigsten Orte. Das >Team< war im Besitz der neuesten Liste mit Brandherden und der O'Neill-Briefe, als sich die Mitglieder zu ihrer ersten Beratung im DIC trafen. Die Sitzung fand in einem unterirdischen Raum mit dunklen holzgetäfelten Wänden statt. Als Beleuchtung stand zur Wahl ein kaltes indirektes Neonlichtsystem oder eine warme, intim wirkende Lichtbestrahlung, die ausschließlich den Tisch erhellte, um den die Leute sich versammelten. Ein Psychoanalytiker wäre vermutlich in der Lage gewesen, eine tiefere Signifikanz in die Tatsache 83 hineinzuinterpretieren, daß man für dieses erste Treffen die enthüllende Grellheit des indirekten Neonlichtes wählte. Alle sechs Mitglieder des Teams waren sich bewußt, daß sie ebenso deshalb zusammengekommen waren, um einander zu studieren, wie um sich mit dem Problem zu befassen. Die Auswahl des Teams hatte stundenlang gedauert: bohrende Befragungen in abhörsicheren Zimmern, durchgeführt von Leuten, die die Stimme nur zur Betonung bestimmter Punkte erhoben. Die sechs Leute des Teams gehörten verschiedenen Nationalitäten an: je zwei aus der Sowjetunion, aus Frankreich und den USA. Man hatte zwar die Absicht, weitere Nationen später hinzuzuziehen, aber die Umstände hatten das verhindert. William Beckett aus dem amerikanischen Gespann, der den nominellen Vorsitz des Teams übernehmen sollte, fand sich zu diesem ersten Treffen mit ganz spezieller Besorgtheit ein, die durch den verheerenden Ausbruch der Pest an der Westküste seiner Nation bedingt war. Konnte das Gebiet durch >aus einem nicht ganz sicheren Versuchslabor entwischte< minimale Krankheitskeime verseucht worden sein? (Man hegte da bereits die Vermutung, daß der Irre sich mit seinem Labor im Gebiet um Seattle niedergelassen haben müsse.) Die übrigen Ratsmitglieder waren jedoch zu sehr damit beschäftigt, einander abzuschätzen, und so hob er sich seinen Kummerpunkt für später auf. Ruckerman, dessen Student Beckett in Harvard gewesen war, war kaum auf Schwierigkeiten gestoßen, als er
seinen Musterschüler für das Team vorschlug. Das Auswahlgremium war ehrfurchtsvoll beeindruckt von Becketts Fähigkeiten und sonstigen Errungenschaften: Berater der Gesundheitsbehörde für Beulenpest; Weltklassemann in Segelregatten; Pilotenschein für Handelsflugzeuge mit Training in Jets (Major d. Reserve der US Air Force); als Hobby hatte er >hirn-verrenkend schwere< Puzzles, die er selbst zu erfinden und zu lösen verstand; in Beraterfunktion beim >Diascrambler<, einem Code-System des Militärs tätig; Langstreckenschwimmer und allgemein geachteter Handballspieler ... 84 »Und ein Molekularbiologe, dem so leicht keiner das Wasser reichen kann«, hatte Ruckerman gesagt. »Ein Renaissancetyp-« Beckett hatte sandblonde Haare; er stammte von schottisch-englischen religiösen Flüchtlingen in die USA ab. Die rosige Haut und die fahlen Augen paßten zu diesem Erbe, aber seine Gesichtszüge hatte einmal eine UniLiebe als mit latentem Verlauf< bezeichnet. Beckett war Lineback in der Football-Mannschaft des College gewesen, bis er herausfand, daß das andauernde Zusammenprallen bei diesem Spiel Störungen in seinem wertvollsten Besitz hervorrufen könnte -nämlich seinem Gehirn, dem sich die meisten Denksportaufgaben nach einem kurzen Gerangel ergeben mußten, das für ihn weitaus aufregender war als irgend etwas, was sich auf dem Spielfeld tun konnte. Die Prophezeiung seiner damaligen Freundin hatte sich als wahr erwiesen: seine Züge waren schwer und breit geworden, aber dafür hatte sich sein Verstand noch gesteigert. Ein paar Minuten nach der ersten Begegnung mit Francöis Danzas vom französischen Kontingent war Beckett sich klar gewesen, daß die Zusammenarbeit mit dem Franzosen schwierig werden würde. Danzas war groß, schlank und dunkelhäutig, stammte aus Peronne und wies die Spuren der Kelten, Römer, Griechen und Wikinger auf, die in seinen Genen verhaftet waren. Das offensichtlich gefärbte Haar floh in zwei Rabenflügeln aus einem Gesicht nach hinten, das mit Ausnahme der großen braunen Augen oft ausdrucksleer wirkte. Diese Augen schauten mit konstantem Unglauben auf eine Welt der Verrücktheiten und waren manchmal funkelnd, manchmal fast ganz hinter den dichten schwarzen Brauen verborgen. Wenn Danzas die Lider schloß, wurde sein Gesicht ganz leer, und man sah nur noch diese lange Nase und den schmalen, fast lippenlosen Mund. Sogar die dunklen Augenbrauen schienen dann zu verschwinden. Um es mit einem bretonischen Mundartausdruck zu bezeichnen: Danzas war so zäh wie ein alter Sattel. Durch langen Gebrauch gut abgehangen, gepökelt und geformt, stellte Danzas 85 jetzt einen klar sichtbaren Speicher wertvollster Erfahrungen dar. Danzas verließ sich nur auf Danzas. Als gefährdet empfand er sich nur, wenn er auf Reisen war und/oder unvertraute Gerichte essen mußte. Ausländern, besonders den Engländern und - per sprachlicher Assoziation - den Amerikanern gegenüber war Mißtrauen angebracht, da sie von Grund auf wissenschaftlich unsauber, zu allem erdenklichen Bösen fähig und nur unter Zwang zur Kooperation bereit waren. Und für Danzas stellte die >Weiße Pest< eben nur den momentanen übergeordneten Zwang dar. Trotz der Tatsache, daß er die Amerikaner über seine lange gallische Nase verächtlich ansah, genoß Danzas in seiner Heimat den Ruf, ein Experte für alles Yankeehafte zu sein. Schließlich hatte er ja doch vier unendlich lange Jahre als Mitarbeiter an einem Forschungs-Austausch-Programm in Chicago durchgestanden. Und wo besser konnte man die absurde Lebensweise der >Ricains< studieren als in der Welt größter Rinderschlächterei? Danzas vermochte die irritierende Sprunghaftigkeit des Lebens zu akzeptieren, wo sie seine Lebensgewohnheiten beeinträchtigte, nicht jedoch in seiner Laborarbeit. Im Laboratorium erwartete Danzas stets, Augenzeuge der jungfräulichen Geburt, wenn nicht gar einer >unbefleckten Empfängnis< zu werden. Einem derartigen Augenzeugen oblagen bestimmte Verpflichtungen. So konnten zwei Beobachter ein und desselben Ereignisses schlechthin nicht mit zwei voneinander abweichenden Protokollen antanzen. Und dreißig Zeugen mußten unbedingt ein identisches Protokoll liefern. Diese Regel war unumstößlich. Kein Papst hätte sich eine zuverlässigere ausdenken können. In Frankreich kursierte die boshafte Bemerkung, Danzas sei nur in das Team gewählt worden, um einen Kontrasthintergrund für den zweiten Franzosen abzugeben, für Jost Hupp. Die Hornbrille Hupps, die leichte Froschäugigkeit, die jungenhafte Unbekümmertheit seines Gesichts, alles trug zu einem Gesamtbild bei, das zur Teilnahme einlud. Aber die Leute, die Hupp als einen Romantiker bezeichneten, übersa86 hen, daß unter der Oberfläche seiner phantastischen Welt Starkstrom floß. Er setzte seinen Romantizismus genauso ein, wie Beckett es mit seinem verklemmten Zorn tat. Wo Becketts inneres Leitbild ihn zu wütendem geistigen Streben antrieb, besaß Hupp eine angenehme >anima<, die auf geselliges Teilhaben von allen an allem hinwirkte - Erfolg, Mißerfolge, Freuden, Kümmernisse ... eben alles. Als Faden zog sich durch diese vielschichtige Persönlichkeit eine elsässische Hartnäckigkeit, die auf sein deutsch-französisches Mischerbe zurückzuführen war. Zum Teil waren es natürlich auch noch ihm anhaftende Eierschalen einer frühkindlichen römisch-katholischen Erziehung. Der Teufel existierte wirklich. Gott gab es wirklich. Der Weiße Ritter war Realität, und der Heilige Gral blieb ewiges Ziel der Queste. Für Hupp lag all dem ein zutiefst befriedigendes Grundmuster zugrunde. Ohne dieses Seelenkorsett wäre er nur ein ganz einfacher Forscher gewesen, ein Mann im Laborkittel, und nicht Ritter in weißer Brünne.
Beckett hielt Hupp für okay. Ein bißchen verdreht, aber okay. Wohingegen Danzas ein wissenschaftlicher Pedant der übelsten Prägung war. Was, zum Teufel, machte es schon aus, wo sich das Team traf, solange die Arbeitsumstände annehmbar waren? Es erfüllte Beckett mit Zorn, daß er mit diesem Tüttelkrämer zusammenarbeiten mußte - Gott allein mochte wissen, wie lange. Aber er verbarg seine Verärgerung geschickt genug unter einem Mantel der Höflichkeit, was nur Hupp zu argwöhnen schien. Zahlreiche Menschen hatten über die Jahre hin mit Beckett zusammengearbeitet, ohne daß ihnen je bewußt geworden wäre, daß sein Hauptantrieb eine regelmäßige Akkumulation von Zorn war. Er konnte beinahe überall etwas entdecken, was ihn in Wut versetzte, und wenn er dann sich auf diese Weise aufgeladen hatte, vermochte er sich Hals über Kopf auf das anstehende Problem zu stürzen. Diese Weiße Pest war sozusagen für Beckett persönlich maßgeschneidert worden! Dieser gottverdammte Mistkerl! Dieser hirnrissige Arsch! Dieser ausgeflippte Irre! Was für ein Recht hatte der, eine zu87 gegebenermaßen nicht vollkommene Welt, die aber noch immer ganz gut auf ihre altmodische Weise vorwärtstaumelte, so durcheinanderzubringen? Die liebenswürdige Maske ließ kaum etwas von diesem Zorn durchscheinen. Er redete sowieso kaum je in scharfem Ton. Ja, er war sogar noch liebenswürdiger, als Danzas es verdiente, und das bewirkte, daß der Franzose ihm das mit allerkorrektester steifer Höflichkeit erwiderte. Es handelte sich bei den beiden um wechselseitige Wut, und Hupp amüsierte sich darüber köstlich. Das zweite Mitglied der amerikanischen Delegation Hupp stellte dies mit Verblüffung fest - war dagegen wirklich das Kaninchen aus dem Zylinder; und dies besonders für die beiden Delegierten aus der Sowjetunion, Sergej Alexandrowitsch Lepikow und Dorena Godelinskij. Die beiden warfen nämlich immer wieder spekulative Blicke zu Becketts Partnerin hinüber, zu Ariane Foss. Mit ihren fast zwei Metern Körpergröße und guten hundertfünfzig Pfund Gewicht, war Ariane Foss konkurrenzlos die >beeindruckendste< anwesende Persönlichkeit. Im Geheimdossier der Franzosen fungierte sie als einer der fünf, sechs besten medizinischen Köpfe der USA für das Fachgebiet, das ihr Großvater und Landarzt seinerzeit als >weibliche Beschwerden zu diagnostizieren gewohnt gewesen war. Unabhängig von den sowjetischen Delegierten, argwöhnten auch die Franzosen, daß sie Angehörige der Central Intelligence Agency sei. Man konnte nicht umhin, darüber nachzudenken, daß sie fünf Sprachen, darunter Französisch und Russisch, fließend beherrschte. Ariane Foss trug die goldblonden Haare über einem kleinen ebenmäßigen Gesicht in kurzen natürlichen Locken. Und obwohl ihr Leib mächtig war, wirkte er doch durchaus wohlproportioniert. Lepikow und Danzas fochten gerade ein Wortduell aus, wer von beiden die Oberhand gewinnen sollte, eine ärgerliche Show von gegenseitigem Überbieten mit wissenschaftlichen Qualifikationen, als wären sie bei einem Kartenspiel und 88 deckten die Karten auf, und dabei waren beide Gegner sich vollkommen im klaren, daß der andere ein paar starke Asse im Ärmel versteckt hielt. Lepikow war kurzgewachsen und untersetzt; die Haare standen wie eine graue Bürste über dem flachen Gesicht, das ein wenig mongolisch wirkte. Er war das bäuerliche Gegenstück zu dem aristokratischen Äußeren von Danzas, und dies war beiden wohl bewußt, und beide hielten es für einen persönlichen Vorteil. Dorena Godelinskij, das zweite Team-Mitglied aus der UdSSR, ließ mehr und mehr Anzeichen der Verärgerung über diesen Männerwettstreit erkennen. Sie war eine schmale Frau mit fast schon grauen Haaren und einer leichten Gehbehinderung, und sie war - wie sie vertrauten Freunden gegenüber oftmals klagte - mit >dem Gesicht einer Aristokratin geschlagen<, und das sei >ein ziemlich großes Hindernis für den Aufstieg in der Sowjethierarchie, wo man lieber schwere Bauernschädel sieht<. Unerwartet unterbrach sie die beiden Männer mit einem derben russischen Fluch, worauf sie in Englisch hinzufügte: »Wir sind nicht hierhergekommen, um Kleinejungenspiele zu spielen!« Foss übersetzte kichernd den russischen Fluch: »Sie hat eben Sergej als >Dorfhengst< tituliert... Was geht hier eigentlich vor - ein Spiel - deine Murmel gegen meine Murmel?« Lepikow funkelte Foss zunächst an, zwang sich aber dann zu einem Lächeln. Er hatte die pflichtgemäße Ochsentour als >Beobachter< an der sowjetischen Botschaft in Washington durchgestanden und glaubte Fosses Stichelei zu begreifen. »Also, hier habe ich die weißen Murmeln«, sagte er. »Bin ich denn nicht der hervorragendste Epidemiologe meines Landes?« Foss grinste ihn direkt und frech an. In dem Dossier der USA über Lepikow stand, daß er auf geradezu absurde Weise mit dem Problem der Funktionsfähigkeit seiner Leber beschäftigt war, und das war angesichts der Unmengen von Wodka, die er zu konsumieren pflegte (auch im Dossier ent89 halten), ein echtes Paradoxon. Seine diesbezüglichen alkoholischen Eskapaden waren dann jedoch stets begleitet von schweren Anflügen von Selbsthaß, von fast pathologischen Zuständen, während derer er sich mit nicht bloß seinem Zustand entsprechenden Spezifika vollstopfte, an die er dank seines Ranges als Mediziner herankam, sondern auch mit volksmedizinischen Hausmitteln und gigantischen Vitamindosen, was alles er in Fläschchen
und Röhrchen mit auf ganz harmlosen Inhalt hinweisenden Etiketten versteckte. Godelinskij murmelte, als sie die Prahlerei gehört hatte: »Du Bauer!« Sie hatte das englisch gesagt, was ihr sofort die Aufmerksamkeit der anderen eintrug. Beckett räusperte sich und zog sich näher an den Konferenztisch heran. In dem Bericht hatte gestanden, daß diese Godelinskij eine der besten Code-Brecherinnen der Sowjetunion sei, zugleich aber auch mit medizinischen Forschungen im Raumfahrtprogramm ihres Landes beschäftigt. Sie galt als hervorragende Diagnostikerin, und ihre Labormethoden galten als >hervorragend<. »Wir sind einander vorgestellt«, sagte Beckett. »Wir haben alle die Dossiers der Geheimdienste über die Teilnehmer der Gegenseite gelesen. Es wäre möglich, daß diese Dossiers exakte Informationen über jeden von uns enthalten. Aber wer weiß das schon? Ich bin der Ansicht, wir sollten es darauf ankommen lassen, daß wir in den vor uns liegenden Tagen ein paar Dinge übereinander lernen können, die von weit bedeutenderer Wichtigkeit sind.« »Aber ich würde gern lesen, was in Ihrem Dossier über mich steht«, sagte Lepikow. »Man hat mir nicht erlaubt, es zu behalten«, sagte Beckett. Die Godelinskij nickte. Dieser Beckett hatte genau den rechten Ton mit Sergej angeschlagen. Spione gab es überall. Man gab das zu und kümmerte sich um Wichtigeres. Also mangelte es diesem Beckett nicht an Intuition. Und die, das wußte die Godelinskij, war auch ihre eigene Stärke. Außerdem wußte sie auch, daß sie bei ihren sowjetischen Kollegen als 90 unberechenbar galt, gerade weil die das nicht begreifen konnten. Für sie erschienen die Beweggründe für ihre Entscheidungen stets als absolut klar und durchsichtig. Und diese Taigahirne um sie herum besaßen einfach nicht die Kapazität zu begreifen, wie wichtig >halbe Schritte< waren, weil sie einfach nicht zu Denksprüngen fähig waren, und statt dessen lieber wie für den Abdecker reife Ackergäule weiter die alten Furchen pflügten ... Lepikow ließ den Blick auf Dr. Fosses breiten und recht wohlgeformten Busen gleiten. Was für ein Leib\ Insgeheim schwelte in ihm das Verlangen nach >mächtigen< Weibern, ganz geheim, und er fragte sich nun, ob ... nun, vielleicht ... »Es wäre mir sehr angenehm, wenn Sie aufhören würden, auf meinen Busen zu stieren«, sagte Foss. Lepikow riß sich von dem ausgedehnten Areal los und wandte seine Aufmerksamkeit dem sanften Lächeln in Hupps Gesicht zu. Aber Foss war mit ihm noch nicht fertig. Während sie die Löckchen auf ihrem Kopf betupfte, sagte sie: »Es ist mir durchaus bewußt, Doktor Lepikow, daß ich das größte Exemplar von einer Baby Doll im ganzen Universum bin ...« Lepikow weigerte sich, zu ihr hinzusehen. Unbeirrt fuhr sie fort: »Aber, bitte, Herr Kollege, kommen Sie dadurch nicht auf irgendwelche Ideen. Mein Mann ist nämlich noch stärker als ich. Und das ist auch von einer gewissen Bedeutung, denn ich schaff ihn noch jedesmal.« Diese idiomatische Wendung war Lepikow nicht bekannt. »Schaffen? Ihn?« Und dann wechselte Dr. Foss zu einem erdhaften russischen Idiom, in dem sie ihn wegen seiner mangelhaften Kenntnisse des Englischen abkanzelte. Er habe ja vielleicht eine vage Ahnung von weißen Murmeln und schwarzen, aber wohl sonst von nichts. Danach beglückte sie ihn mit einer detaillierten Beschreibung dessen, was sie mit seinen höchstpersönlichen Attributen zu tun beabsichtige, falls er es sich noch einmal erlauben würde, sie auf derart ungezogene Weise anzustarren. 91 Das bewirkte, daß die Godelinskij in perlendes Lachen ausbrach. Auf russisch mahnte Lepikow: »Würden Sie sich mehr Ihrer Stellung entsprechend verhalten?« Die Godelinskij schüttelte in hilflosem Kichern den Kopf und sagte dann russisch zu Dr. Foss: »Er gehört zu der neuesten Zucht in Rußland. Man züchtet sie auf Fett und unverbrüchliche Hingabe an die Prinzipien der Macht und der sexuellen Leistung.« Beckett mußte sich einmischen: »Es gibt hier Konferenzteilnehmer am Tisch, die kein Russisch verstehen. Außerdem haben wir zu arbeiten!« Immer noch russisch sagte die Godelinskij: »Völlig richtig. Ihr zwei, ihr führt euch jetzt anständig auf! Du, Sergej! Also ich kenne da Geschichten über dich, die du hier nicht so gerne hören würdest. Also sei gewarnt! Und Sie, Mrs. Foss! Es erstaunt mich, daß eine so schöne Frau wie Sie überhaupt Kenntnis von solchen sprachlichen Niederungen hat!« Dr. Foss grinste und zuckte die Achseln. Lepikow gab sich den Anschein, amüsiert zu sein. »Es war nur ein Witz.« Beckett begann aus dem Aktenköfferchen Papiere zu ziehen und sie vor sich auf dem Tisch zu arrangieren. Noch immer in einem leichten Siedezustand, wurde Lepikow sich klar, daß man ihn auf den zweiten Rang verwiesen hatte. Er brütete darüber nach, ob die Foss und die Godelinskij das vielleicht absichtlich getan hatten? Oder dieser Danzas vielleicht? Und der Hupp, der schmunzelte so in sich hinein! Das sowjetische Dossier über Hupp wies darauf hin, daß er sich als Ziel für Subversionsversuche geradezu anbiete. Aber konnte das stimmen? Hupp war ehemaliger Student der UCLA, der University of California in Los Angeles, gewesen, und dort hatte
man ihn oft fälschlich für einen Südamerikaner gehalten, ja er hatte sich sogar einem lateinamerikanischen Politklub angeschlossen. Hupp, in seiner Art von dünnhäutiger peitschenschnurhafter Männlichkeit, war genau der Typ, dem Lepikow mit größtem Mißtrauen zu be92 gegnen gelernt hatte - diese dunkle Haut... diese feuchten, weichen braunen Augen. Die Augen einer Kuh! »Er ist Sozialist mit gewissen Neigungen, den Schwächen des Fleisches nachzugeben«, hatte in dem Dossier über Hupp gestanden. Und weiter hieß es in dem Bericht, er habe auf junge blonde Studentinnen an der UCLA eine nahezu unwiderstehliche Wirkung ausgeübt, die von dem fanatischen Drang besessen waren, das zu tun, was sie als >fuck for the peace< bezeichneten. Lepikow warf der Godelinskij, der man ihr Alter anzusehen begann, einen versteckten Blick zu. Dann der statuenwuchtigen Foss. War es denkbar, daß hinter dem allem mehr steckte, als auf Anhieb sichtbar wurde? Beckett blickte kurz auf ein Blatt Papier, das vor ihm auf dem Tisch lag, und damit hatte er den Vorsitz über das Team übernommen. »Ich bin beauftragt worden, Ihnen zu sagen«, begann er, »daß wir nicht das zentrale Untersuchungsgremium sind.« Die Godelinskij sagte: »Aber man hat uns dahingehend unterrichtet ...« »Warum sind wir das nicht?« fragte Dr. Foss energisch. »Inzwischen arbeiten fünfundachtzig bedeutende Forschungsgruppen in der ganzen Welt an diesem Problem«, sagte Beckett. »Wir haben über Teleprinter und TV-Konferenzschaltungen über Satellit ständig Kontakt. Ungefähr morgen nachmittag wird uns eine Kommunikationstruppe nebst Sekretärinnen hier am Ort zur Verfügung stehen, dazu mindestens dreißig Labortechniker. Allerdings wird es zwei verschiedene ClearingStellen für die Interkommunikation geben, eine in Berlin-Ost für ganz Europa, die andere in Washington, D.C.« »Diese Politiker!« kläffte Dr. Foss. Beckett überging den Ausbruch. »Der erste Punkt auf unserer Liste: wie gehen wir es an, um ein psychophysiologisches Profil von unserem Verrückten zu erstellen? Inzwischen sind die Beweise überzeugend, daß es sich um diesen John Roe O'Neill handelt.« »Was für Beweise?« wollte die Godelinskij wissen. 93 Hupp hob leicht die Hand. »Es paßt doch alles zusammen: die Namen seiner Kinder, und seiner Frau, und dann dieser besondere Erfahrungsbackground als Molekularbiologe.« »Aber wir haben sein Labor noch nicht ausfindig machen können«, sagte Beckett. »Trotzdem, es gibt immer stärkere Beweise dafür, daß es irgendwo im Gebiet von Seattle gewesen sein muß.« »Nicht in Kansas?« fragte Danzas. »Das war ein vorläufiger Bericht«, erklärte Beckett. »Das hat man eliminieren können.« »Sind Sie im Besitz des neuesten Background-Überblicks?« fragte Hupp. Und Beckett ließ die Kopien von einem kleinen Stapel von Texten vor sich herumreichen. »Es wird Ihnen auffallen, daß seine Eltern bei einem Autounfall ums Leben kamen, genau in dem Jahr, in dem er die Universitätsreife erlangte. Er wurde von den Großeltern mütterlicherseits erzogen. Der Großvater starb, während O'Neill noch auf dem College war. Die Großmutter erlebte es noch, daß O'Neill an der Spitze seiner Klasse maturierte. Sie hinterließ ihm eine bescheidene Erbschaft und den Familienbetrieb der Familie McCarthy.« »So viele Tote«, brabbelte Lepikow in sich hinein, während er auf das Blatt Papier vor seinen Augen blickte. »Ja, eine nicht gerade vom Glück begünstigte Familie«, pflichtete Beckett ihm bei. »Einzige Überlebende, diese Tante in der Seniorenklinik in Arizona. Fast jedesmal war sie überzeugt, daß man sie über ihren toten Mann ausfragen wollte.« Hupp meldete sich: »Es wird also von uns verlangt, daß wir entscheiden, wie weit wir gegen den Verrückten vorgehen können, ohne daß er seinen Zorn auf die übrige Welt losläßt.« Der Bemerkung folgte ein langes Schweigen. »Sie alle haben seine Drohungen gelesen«, sagte Beckett dann. »Eine Totmann-Schaltung«, sagte Lepikow dann. »Ein Schaltmechanismus oder eine technische Anlage, die eine neue Pest über die ganze Menschheit loslassen würde, sollte der Verrückte gefangen oder getötet werden.« 94 »Also sind uns die Hände gebunden?« fragte Dr. Godelinskij. Hupp sagte: »O'Neill weiß doch ziemlich sicher, daß wir nicht so einfach ignorieren können, was er inzwischen angerichtet hat.« »Uns bleibt ein gewisser Freiraum«, sagte Beckett. »Hier, unser ... - ähemm, derzeitiges Arrangement - geheim und hervorragend ausgerüstet.« »Aber er warnt ja gerade vor dem, was wir hier tun«, sagte Lepikow. »Und wir werden >seinen Zorn< zu spüren bekommen, wenn wir ihm nicht gehorchen.« Mit milder Stimme sagte Danzas: »Und genau deshalb halten wir uns ja hier versteckt.« Lepikow sagte: »Meine - Mitarbeiter in der Sowjetunion sind der Überzeugung ... dieses DIC wurde ausgewählt, weil es nicht in Europa liegt, wo die Gefahr einer Ausbreitung der Seuche viel wahrscheinlicher ist.« Danzas spielte mit seinen Pranken, die auf dem Tisch lagen, während er sich an Beckett wandte: »Ich bin mit der Überzeugung hierher gekommen, daß dies hier der ideale Ort sei für einen geheimen und gemeinschaftlich
koordinierten Gegenschlag gegen diese Seuche. Man hat mir versichert, hier würden die Gegenmaßnahmen zentral gesteuert und koordiniert.« »Man hat die Pläne geändert«, sagte Beckett. »Aber ich habe sie nicht geändert.« »Gottverdammte Bürokraten!« fauchte Dr. Foss. Becketts Gesicht blieb nach wie vor ausdruckslos und freundlich. Er sagte: »Das DIC kann sich recht gut zum Mittelpunkt der vereinten medizinischen Bemühungen der Welt mausern.« »Aber zuerst laufen wir selbst mal durch die Filtrierschleuse, was?« fragte Hupp. »Zuerst werden wir uns bemühen, unseren Gegner zu verstehen ... Diesen Mann, nicht etwa seine Seuche«, sagte Beckett. »An welcher Stelle wurde diese Entscheidung gefällt?« fragte Dr. Godelinskij. 95 »Auf höchster Ebene«, sagte Beckett. »Die Mehrzahl der anderen Gruppen arbeiten meiner Information nach ebenfalls auf diese Weise und gleichzeitig an dem Problem, wie der Mann seine Seuche verbreiten konnte. Hier liegt die höchste Priorität. Können wir ihn irgendwie abriegeln und ihn offen auf allen Fronten verfolgen?« »Und morgen, wir beginnen mit der Arbeit auf dem medizinischen Sektor, nein?« wollte Danzas wissen. »Wenn die Techniker kommen?« »Ja, das auch«, sagte Beckett. »Auch!« murrte Dr. Foss. »Ich habe keine dahingehenden Anweisungen erhalten«, sagte Lepikow. »In Ihrem Zimmer gibt es ein Telefon«, sagte Beckett. »Sie dürfen es gern benutzen.« »Und wer sonst wird mir noch zuhören?« fragte Lepikow. »Oh, unsere Geheimdienste und die Ihren«, antwortete Beckett. »Wen kümmert das jetzt schon? Rufen Sie Ihre Chefs an und lassen Sie sich Ihre Befehle geben!« »Geheimhaltung ist unsere einzige Hoffnung«, sagte die Godelinskij. »Wenn der Mann wirklich geistesgestört ist, dann können wir über ihn keine Prognosen aufstellen.« »Aber wer bezweifelt denn, daß er verrückt ist?« fragte Dr. Foss. »Er hat die ganze Erde verrückt gemacht, nicht bloß die Politiker, obwohl die ja sowieso ...!« Es ist ohne Zweifel gefährlicher, in Unwissenheit zu leben als im Besitz von Wissen. PHILIP HANDLER Ganz ohne besonderen Stolz gestand John sich ein, daß sein Laboratorium im Keller des Hauses in Ballard ein Wunder an Erfindungsreichtum war. Die Zentrifuge, die er aus einem Felgenauswuchtungsgerät improvisiert hatte, war ihn weniger als tausend Dollar zu stehen gekommen. Sein Tiefkühlapparat war ein ganz gewöhnliches Markenprodukt für eine 96 Hausbar, das er auf den Rücken gelegt und mit einem Eichthermometer versehen hatte. Es zeigte auf ein Grad Celsius genau an. Er hatte peristaltische Druckpumpen aus Tauchausrüstungen improvisiert. Sein Zellenspalter war ein adaptiertes Sonargerät, gebraucht, von einer Segeljacht. Das Elektronenmikroskop, ein Modell mit zwei Phasen und einer Auflösung von dreißig Angström (ISI), kostete ihn am meisten - an Zeit und Geld. Er erhielt es im Rahmen eines kommissionierten Diebstahls von der Unterwelt in San Francisco und berappte dafür fünfundzwanzigtausend Dollar. Und so ging es mit der übrigen Ausrüstung des Labors weiter. Die Negativdruckkammern bastelte er aus Sperrholz und Plastikfolie selbst. Die Luftschleuse wurde durch zwei kleine Bootsluken abgedichtet, wodurch er sich gezwungen sah, jeweils kriechend die Kammern zu betreten und zu verlassen. Aber dies war die einzige größere Unannehmlichkeit bei der ganzen Sache. Noch ehe sein Labor fertiggestellt war, arbeitete John an seinem Computer, er erstellte die farbechten Grafiken der Molekularmodelle, auf die er sich konzentrieren würde. In parallelen Computerspeicherschaltungen programmierte er alle Daten ein, die er ausgraben konnte, über die Funktionsweise von gängigen Drogen im menschlichen Körper. Besonderes Augenmerk legte er auf die veröffentlichten Fakten über Enzyme und spezifische DNS-Rezeptoren. Er stellte befriedigt fest, daß viele der wichtigsten Erfordernisse für eine Molekularkartographie sozusagen als >Konserven< erhältlich waren - auf Computerscheiben oder als gespeicherte Programme, die man käuflich oder durch Diebstahl an sich bringen konnte. Als dann sein Laboratorium fertig eingerichtet war, hatte er seinen Computer mit den Elementarbausteinen für sein Projekt gefüttert. Er empfand eine fast hypnotische Faszination, wenn er vor dem Kathodendisplay saß und die Doppelspiralen der Primärhelix sich auf seinen Befehl drehen und verdrehen sah. Die roten, grünen, violetten und gelben Linien nahmen da ein Eigenleben an. Sein Hirn und das Display stürzten in eine 97 Art Einheitsraum, innerhalb dessen es schwerfiel, das auseinanderzuhalten, was in seinem Gehirn vorging, was auf dem Bildschirm. Manchmal kam es ihm so vor, als schüfen seine Hände an den Kontrollschaltern des Computers die Bilderfolgen in seinem Kopf, oder aber die Bildhaftigkeit bestünde vorab in seinem Kopf und zeige sich dann, wie durch ein Wunder, auf dem Schirm. Es gab Augenblicke, in denen er wirklich glaubte, daß er in der Sprache des Gencodes rede, daß er auf ganz bestimmte Stellen der DNS-Moleküle einrede ...
In solchen Perioden verblich das Bewußtsein der tatsächlichen Zeitabläufe aus seinem bewußten Denken. Einmal kroch er aus der Luftschleuse, kam taumelnd auf die Füße und stellte fest, daß draußen gerade die Dämmerung angebrochen war. Als er es nachprüfte, fand er, daß er ununterbrochen seit sechsunddreißig Stunden gearbeitet und dazwischen nur hin und wieder einen Schluck Wasser getrunken hatte. Er verspürte schmerzhaften Hunger, und er zitterte so sehr, daß seine Hände mit fester Nahrung nicht zurande kamen, ehe er eine Litertüte Milch ausgetrunken hatte. Die Genstruktur jedoch, die er erkennen und begreifen mußte, begann sich langsam vor ihm zu entschleiern sowohl auf dem Bildschirm wie in den computerüberwachten Ergebnissen seines Labors. Er wußte mit Sicherheit, daß es nur eine Frage der Zeit sein konnte, bis es ihm gelingen würde, den passenden Molekülschlüssel in das entsprechende biologische Schloß einzuführen. Die Antworten warteten hier auf ihn, in seinem Labor und in seinem Gehirn. Sie warteten nur darauf, daß man sie aufbreche und in ihre eigene Realität überführe. Die Nukleotiden-Sequenzen der DNS trugen den gesamten Informationscode für jegliche Biofunktion mit sich, in sich. Es war also nur ein Problem, diesen Code zu brechen. Ohne den Computer wäre er verloren gewesen. Er mußte im Einzelfall vielleicht mit einer Zahl zwischen viertausend und zwanzigtausend Genen arbeiten. Und die kartographierten Anordnungen dieser Gene und der in ihnen gelagerten 98
DNS-Codes konnten sich zu einer Zahl von über einer Million Gene potenzieren. Aber natürlich brauchte er nicht alle diese Gene - nur die Schlüsselgene, deren Codierung in den besonderen Nukleotiden-Sequenzen gespeichert war. Durch Aufspaltung, durch Enzymfraktion und durch wärmekontrollierte Trennung per Kollimatoren und Zentrifuge tastete er sich zu den Bruchstücken vor, die es, wie ihm seine Kombination von Hirn-und-Computer gesagt hatte, da geben müsse. Es dauerte gar nicht lange, und er war in der Lage, verschiedene Ribosomen-RNS und Träger-RNS aus seinen eigenen DNS-Schablonen zu formen, indem er auswählte oder als unbrauchbar verwarf und die Kontrollstellen in den Genomen zu entdecken versuchte. Denn diese und die Regulationsproteine waren die wichtigsten Zielpunkte, auf die er sich konzentrierte. Nach etwa zwei Monaten Arbeit an seinem Projekt erkannte John, daß er einen Sondervorrat an natürlicher DNS für die Polymerisationszyklen benötigen werde. Die DNS würde biologisch aktiv sein müssen, und sie würde genau die Trägersubstanz bringen müssen, die er benötigte. Man konnte sich einfach nicht um die Tatsache herummogeln, daß das DNS-Material sich paarweise übertrug, wobei jedes Teilpaar das Spiegelbild seines Gegenstückes war. Oft hatte er Kopfschmerzen, wenn er über das Problem und die Lösung nachdachte. Trotzdem durfte er nicht die unmittelbar anstehenden Notwendigkeiten außer acht lassen. Er riskierte damit, entdeckt zu werden. Es war gefährlich - aber er sah nirgendwo eine andere Möglichkeit. In nur einer Sitzung mit seiner Fälscherausrüstung produzierte er sich eine fast echte Identität als ein gewisser John Vicenti, Dr. med., vom Staatlichen Gesundheitsamt. Schon vorher hatte er sich in weiser Voraussicht für das, was sein Projekt erfordern würde, eine kleine Handdruckerpresse erworben, und damit stellte er nun recht brauchbare Briefköpfe her. Auf die Papiere tippte er Genehmigungsvollmachten und kritzelte eine unleserliche, bürokratisch-offiziell wir99 kende Riesenunterschrift darunter. Er kaufte sich eine dunkle Perücke, tönte seine Haut olivbraun und kämmte jeden Tag die Zeitungen nach Terminen für Impfaktionen in Schulen durch. Seine Chance kam innerhalb einer Woche, und es handelte sich um die Ankündigung einer Impfaktion in der West Junior High School am folgenden Montag. Er trug einen weißen Kittel, das Stethoskop ragte aus einer Seitentasche hervor, und auf dem Revers prangte ein Namensschild, das ihn als Dr. John Vicenti ausgab, als er ziemlich früh in der Schule erschien. Es war ein kalter Wintermorgen, und in den Gängen drängten sich die Schüler in dicken Winterjacken. Er glitt durch das laute Gebrabbel, ohne daß jemand ihm mehr als nur einen beiläufigen Blick zugeworfen hätte. In der linken Hand trug er ein sorgfältig konstruiertes Holzkästchen, in dem Reihen von sterilisierten Glasträgern verstaut waren und all die anderen für Blutproben nötigen Instrumente und Zubehörteile. In der linken Hand hielt er die Brieftasche mit seinen Ausweisen parat. Mit, dem Gehabe eines vom Staat bestallten Beamten stürmte er in das Zimmer der Schul-Krankenschwester, einer gewissen Jeannette Blanquie, wie aus dem Namensschild an der Tür hervorging. »Hallo«, sagte er, ganz die Harmlosigkeit in Person. »Ich bin Dr. Vicenti. Wo kann ich meine Sachen aufbauen?« »Aufbauen?« Schwester Blanquie war eine schlanke Blondine, und sie sah so aus, als bedrängte etwas sie unablässig. Sie stand hinter einem langen Tisch, auf dem die Impfutensilien ordentlich aufgereiht dalagen. Am Unterende des Tisches stand ein leerer Stuhl, und vor ihm lagen zwei Stapel von Formularen. Auf der Wand hinter der Schwester prangten zwei Dinge: ein Kalender und zwei Grafiken, die eine >jugendfreie< Version der menschlichen Anatomie unter dem Etikett >weiblich< und >männlich< darboten. »Es ist wegen der Blutabnahme«, sagte er und setzte seinen Holzkasten und die Brieftasche daneben auf dem
Tisch ab. Dann zeigte er seine Personaldokumente vor und die (gefälschte) Order. Schwester Blanquie warf nur einen flüchti100 gen Blick darauf, und ihr Gesichtsausdruck wurde noch gestreßter, sofern das möglich war. »Blutproben ...« murmelte sie. »Wir sollen das in Übereinstimmung mit Ihrem Impfprogramm durchführen«, sagte er, »um den Unterricht an der Schule so wenig wie möglich zu stören.« »Man hatte mir versprochen, daß ich zwei klinisch-technische Assistenten kriege, heute morgen, die mir helfen sollen«, sagte sie. »Der eine hat gerade angerufen und gesagt, er sei krank, und die andere hat irgend so einen Notdienst im Good Samaritan. Und jetzt kommen Sie auch noch an! Das fehlt mir grad noch! Wozu diese Blutproben?« »Wir machen eine landesweite Gentypenuntersuchung, um herauszufinden, ob es identifizierbare Korrelationen zwischen bestimmten Krankheitsbildern und Impfungen gibt. Ich soll hier Ihre Identifikationsziffern benutzen, keine Namen. Alles was ich dazu dann noch haben muß, ist, ob die Probe von einem männlichen oder weiblichen Spender stammt.« Die Stimme der Frau klang müde. »Dr. Vicenti, kein Mensch hat mir auch nur das geringste gesagt.« Sie deutete auf ihren Tisch. »Und ich soll heute hier zweihundertundsechzehn Schüler durchschleusen - und morgen noch mehr.« Er knirschte mit den Zähnen. »Verdammt! Das ist jetzt schon der zweite fehlgelaufene Einsatz von denen in zwei Wochen! Also, ich glaube, in dem Amt sollte jemand ganz schnell gefeuert werden!« Schwester Blanquie wackelte mitfühlend mit dem Kopf. Er sagte: »Also, wie kann ich Ihnen weiterhelfen? Vielleicht können wir uns einen Studenten rüberholen, der dann den Papierkram erledigt...« »Darum habe ich mich schon bemüht«, sagte sie. Sie schaute auf die vor ihr liegende Tabelle. »Wäre es Ihnen möglich, Ihre Untersuchungsapparatur hier neben mir aufzubauen? Was für Proben werden Sie nehmen?« Er machte seinen Koffer auf, zeigte ihr die Reihen mit den Reagenzgläsern, Glasträgern, die Tupfer, den Desinfektions101 alkohol, die Nadeln, die Lanzetten. Und alles sah so sehr ordentlich aus. »Oh«, sagte die Schwester. »Also dann werden wir ja nicht übermäßig aufgehalten werden, Doktor. Ich glaube, wir zwei können das ganz gut rasch gemeinsam erledigen.« Als >Dr. Vicenti< an diesem Abend nach Ballard zurückkam, verfügte er über zweihundertundelf Blutproben, in denen jeweils eine winzige Hautgewebeprobe (Zellgewebe) raffiniert miteingeschlossen war. Es wird spezifische Unterschiede geben, sagte er zu sich, während er im Badezimmer die Maske ablegte. Das Bad stank noch immer nach schalem Tabakrauch. Die genetische Information für jede biologische Funktion - so etwa, ob die Person weiblichen oder männlichen Geschlechts ist. Aber da gibt es ein Grundmuster, in das ich einen virulenten Zerstörungsfaktor einbauen kann. Diese positive Wechselformungswirkung der Doppelhelixketten, bei der jede Seite in der Lage war, ihr Gegenstück zu reproduzieren, ja, da lagen die Schlüssel für ihn. Vielleicht in den Peptidbindungen und in den Einzelausläufern, die aus der Spirale hingen. Er nahm die Proben mit in sein Labor hinunter. Die Antworten mußten einfach hier liegen, versicherte er sich selbst. Sie lagen in den DNS-Mustern. Mußten dort sein. Wenn ein bakterielles Virus ein Bakterium infizierte, dann war es die DNS, nicht sein Protein, die in die Bakterienzelle eindrang. Hier hatte er den Träger, den Boten, den er brauchte, um John O'Neills Racheschrei überall Gehör zu verschaffen. Die Technik, wie er seine Ergebnisse überprüfen könnte, war bereits ausgearbeitet. Sie würde äußerst elegant sein. Er würde dazu kurzlebige virusvermittelte Bakterienstämme benötigen, Bakterien, die bei einer ausgewählten Bevölkerungsgruppe sichtbare Wirkungen zeitigen konnten. Die Auswirkungen würden identifizierbar und erkennbar sein müssen, nicht tödlich, jedoch bedeutend genug, um Aufsehen zu erregen. Die Testbazillen würden mit einem automatischen Letalfaktor versehen sein müssen, sie würden sich selbst zerstören und verschwinden müssen. 102 Diese Erfordernisse, die vielleicht ein großes Forschungszentrum entmutigt haben würden, ließen ihn nicht einmal zögern. Er war besessen von einem Gefühl der Unbesiegbarkeit. Das alles war nur ein erster Schritt, eine Stufe zum Gipfel des Erfolges seines Projekts. Wenn er den Schlüssel zu diesem Schloß gefunden hatte, wenn er ihn identifiziert hatte, dann konnte er damit beginnen, diesen Schlüssel zu einer virulenteren Form umzubauen. Und dann - konnte seine Botschaft in die Welt gehen! >Das ist nicht mein Bier.< So lautet das allumfassende Mantra der westlichen Welt. Und nun schaut, was uns das eingebracht hat. FlNTAN CRAIG DOHENY Das Team fand sich an diesem Tag, dem ersten, und die Hackordnung war bereits schön etabliert, nach dem Mittagessen wieder zusammen: Beckett war Leithammel, Lepikow köchelte beleidigt vor sich hin, die Godelinskij schwankte intuitiv durch das Labyrinth ihrer Fragen, Danzas war zurückhaltend und aufmerksam,
Hupp schoß wie ein Terrier hinter jeder neuen Idee her, und die Foss hockte nur wie eine erhabene Göttin da. Es amüsierte Hupp, daß man die intimere Beleuchtung wählte, als man sich wieder versammelte. Das Licht fiel nun nur noch auf den langen Konferenztisch und hüllte den übrigen Raum in vage Schatten. Das Team drängte sich lose an einem Ende des Tischs zusammen, man breitete die Notizen und Aktenköfferchen um sich herum aus. Der Hahnenkampf zwischen Danzas und Lepikow hatte inzwischen subtilere Formen angenommen -eine hochgezogene Augenbraue, ein sanftes Hüsteln im unpassenden Augenblick. Danzas sortierte seine Unterlagen immer wieder neu, während Lepikow redete. Lepikows Animosität gegenüber Dr. Foss hatte sich zu verstohlenen 103 feuchten Blicken aus anklagenden Kalbsaugen gemildert, die es strikt vermieden, sich auf Dr. Foss' üppige Brustpartie zu richten. Die Godelinskij hatte sich offenbar, sozusagen als >Schwester vom selben Geist<, dazu entschlossen, mit der Foss zu paktieren, und das wurmte Lepikow sehr; dennoch kam er jetzt an und erklärte, er habe Order, Becketts Führung zu folgen. Lepikow machte sich bereit, sich dazu ausgiebig zu äußern; er schob sich auf seinem Stuhl nach hinten, der rechts von Beckett plaziert war, und starrte über den Tisch, wo Danzas mit lautem Geraschel in seinen Unterlagen wühlte. Ein kurzer Blick auf die Godelinskij an seiner Seite verriet ihm, daß diese den Tisch hinunter zur Foss schaute, die sich etwas abgesondert und zwischen sich und Hupp einen Platz leergelassen hatte. Aber noch ehe er mit seiner Tirade beginnen konnte, fragte die Godelinskij Beckett: »Warum verriegeln Sie das Scheunentor, nachdem das Pferd schon geschlachtet ist?« Sie beugte sich vor und tippte auf ein gelbes Papier vor Beckett. Die Frage schien Hupp zu erregen. »Ja«, sagte er, »warum verhängt man eine derart strenge Quarantäne zu diesem Zeitpunkt?« »Wir müssen tun, was der Verrückte befiehlt«, sagte Lepikow. Beckett nickte. »Es ist wirklich eine beschissene Situation.« »Der Verrückte läßt da keine Zweifel«, sagte Danzas. »Ich hatte eine kurze Besprechung mit unseren Sicherheitsbeauftragten, bevor ich hierherkam«, sagte Beckett. »Wir müssen Nordafrika vom Atlantik bis zum Suezkanal abschreiben. Südafrika ist noch ein Fragezeichen. Der Staatssicherheitsdienst sagt, sie hätten einen Bericht, demzufolge ein Kurier der Mafia Johannesburg kontaminiert hat. Es gibt lokal begrenzte Gefahrenpunkte in Frankreich und ein Aufflackern im Süden von Rom.« »Was ist mit England und Irland?« fragte Danzas. Beckett schüttelte den Kopf. »England ist noch immer bemüht, Sicherheitsbezirke für seine weibliche Bevölkerung zu 104 schaffen. Irland hat anscheinend aufgegeben. Es gibt Kämpfe zwischen dem Heer und der IRA in Irland. Belfast... sie haben versucht, einen Waffenstillstand zu vereinbaren, aber den nennen sie jetzt schon >the Bloody Amnesty<. Ich kann diese Iren einfach nicht begreifen!« »Berichten Sie uns über die Schweiz«, sagte Dr. Foss. »Die Schweizer haben sich völlig abgeriegelt, ihre Brücken in die Luft gejagt, die Tunnels und die Flughäfen gesperrt. Sie haben einen Militärkordon um das ganze Land gelegt, und es gibt Berichte, daß sie mit Flammenwerfern jeden zu Asche verbrennen, der ihr Land zu betreten versucht.« »Soviel Töten«, murmelte Godelinskij. »Ich bin über die Bretagne informiert«, sagte Lepikow. »Sind das die französischen Schwierigkeiten, von denen Sie sprechen?« »Nein, es gibt noch mehr«, sagte Danzas. »Einige Departements riegeln sich nach Schweizer Muster ab. Militäreinheiten haben sich von der Zentralgewalt losgesagt und unterstützen den ... die ... ähemm ...« »Fragmentierung«, half Hupp aus. »In Washington D.C. und in New York haben sie das auch getan«, sagte Beckett. »Es ist brutal, aber wirksam.« Er blickte Lepikow an. »Was passiert in der Sowjetunion?« »Man informiert uns nicht«, sagte Lepikow. »Sie verlangen, daß wir brav nach dem Verrückten suchen.« »Und was tun wir, wenn wir ihn gefunden haben?« fragte Godelinskij. »Ich bin sicher, Sergej meint die Suche nach der persona des Verrückten«, sagte Hupp im Bemühen, eine Art frischer Vertraulichkeit in die Diskussion zu bringen. »Ja. Wir müssen ihn kennen, wie wir uns selbst kennen«, gab Lepikow zu. »Oh, ich hoffe doch, besser als uns selbst«, sagte Dr. Foss. Und ihr Busengebirge zitterte über ihrem Kichern. Lepikow vergaß seine guten Vorsätze und stierte fasziniert auf ihre Brüste. Was für eine wundervolle Riesin! Auf russisch sagte Dr. Foss: »Sergej Alexandrowich, Sie 105 versuchen Mißbrauch mit meinen mütterlichen Instinkten zu treiben.« Dr. Godelinskij verhehlte ihr Lachen in einem Niesen. Beckett, der den Wiederaufbruch offener Animosität zwischen Foss und Lepikow zu spüren meinte, sagte: »Schluß damit, Ari! Wir haben zu arbeiten! Ich möchte, daß wir jetzt mal die Hinweise auf Terrorismus in den
Briefen des Verrückten untersuchen. Wenn es sich tatsächlich um O'Neill handeln sollte, dann werden wir in ihnen die stärkste Erregung finden können.« »Mein Herr Kollege und ich haben diese Hinweise extrahiert«, sagte Hupp. »Bill hat recht - diese Passagen sind signifikant.« »Dann lassen Sie's uns hören, Joe!« sagte Beckett. Hupp lächelte. Das war genau der Ton, wie er ihn gern haben wollte. Bill und Joe. Und es müßte noch Ari, Sergej und Dorena daraus werden. Er warf der Godelinskij einen kurzen Blick zu. Vielleicht sogar Dorie? Aber nein, die Godelinskij war keine >Dorie<, höchstens vielleicht im Bett. Danzas zog einen blauen Aktenordner aus dem Stapel vor sich. »Also, hier sind die Hauptpunkte.« Lepikow hob eine Augenbraue angesichts der Dicke der Akte und murmelte: »Hauptpunkte?« Danzas ignorierte ihn. »Wir extrapolieren die ursprünglichen Wörter zum Zweck unserer Analyse aus dem Kontext.« Er räusperte sich, plazierte eine Brille auf der Nase, beugte sich nach vorn und begann - mit einem winzigen Hauch von britischem Akzent, um zu demonstrieren, wo er sein Englisch gelernt hatte - vorzulesen. »Ihre Feigheit verbirgt sich hinter der Maske von Lügen und Arglist.« Danzas blickte auf. »Das stammt aus seinem zweiten Brief. Wir setzten daneben eine Stelle aus dem dritten Brief, in der es heißt ...« - Danzas wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Papier vor sich zu - »Sie - er meint die Terroristen - verführen das Volk zum Glauben an die Gewalt und überlassen dann das Volk jeglicher Vergeltung, die solch blindwütige Willküraktionen nach sich ziehen könnten.« 106 »Die Betonung liegt auf >Feigheit<«, sagte Hupp. »Das ist interessant. Hält der Verrückte vielleicht sein eigenes Vorgehen für feige? Setzt er Arglist ein und tischt er uns Lügen auf? Und hält er sich in seiner Rache vielleicht sogar selbst für einen Terroristen?« »Ich kann mich an eine Reihe von Stellen erinnern, wo er auf Feigheit verweist«, sagte Dr. Foss. »Könnte es sein, daß hier sein Gewissen zu uns spricht?« »Hier, noch ein Zitat«, sagte Danzas. »Sie - er meint wieder die Terroristen - begehen ausschließlich Verbrechen, zu denen es keines Muts bedarf. Terroristen sind wie Bomberpiloten, denen stets der Anblick ihrer gequälten Opfer erspart bleibt, die nie in die Gesichter unschuldiger Menschen schauen müssen, die ihren Blutzoll entrichten. Terroristen sind vom selben Schlag wie die Mietwucher treibenden Grundbesitzer, die ...« »Wie war das?« unterbrach die Godelinskij ihn. »Was ist ein Mietwucher treibender Grundbesitzer?« »Ach, das ist eine interessante irische Lokalkomödie«, sagte Hupp. »Das stammt aus den frühen Tagen der Unterdrückung durch die Briten in Irland. Die ausgesucht besten Stücke Boden wurden englischen Grundbesitzern übertragen, die dann Aufseher einsetzten, die den Bauern soviel Pacht wie möglich abpressen mußten. Mietwucher - oder >Pachtfolter<, das wäre genauer.« »Aha, ich begreife«, sagte die Godelinskij. »Entschuldigen Sie die Unterbrechung.« »Aber der Verrückte zeigt, daß er die irische Geschichte gut kennt«, sagte Beckett. Danzas neigte sich wieder über seine Blätter. »... Mietwucher treibenden Grundbesitzer, die niemals von Angesicht zu Angesicht einem halbverhungerten Bauern gegenüberstanden.« »Er stellt eindeutig Sympathie für die Opfer von Gewalt zur Schau«, sagte Dr. Foss. »Und für unsere Zwecke ist das eine Schwäche.« »Ich würde als Diagnose eine Spielart von Schizophrenie vorschlagen«, sagte die Godelinskij. »Entweder so was, oder seine Vorstellungen von >angemes107 sener Vergeltung< nehmen in seinen Briefen Gestalt an«, bemerkte Dr. Foss. »Genau!« sagte Hupp. Danzas fuhr fort: »An anderer Stelle definiert unser Verrückter die Terroristen als mit der Schuld des Pilatus beladen.« »Ist das nicht auch, wo er Terroristen als Adrenalinsüchtige bezeichnet?« fragte Beckett. »Ihre Erinnerung täuscht Sie nicht«, sagte Danzas. »Seine genauen Worte sind wie folgt: Sie verursachen Todesqualen und waschen sich dann die Hände in heuchlerischem Patriotismus. Ihr wahres Verlangen geht auf persönliche Macht aus, auf den geheimen Kick einer Adrenalineuphorie. Sie sind einfach Adrenalinsüchtige.« »Aber hat er seine Euphorien?« fragte Hupp. »Eine Diatribe«, sagte Dr. Foss. »Da haben wir O'Neill -und er rast gegen die Mörder seiner Familie.« »Die legitime Anwendung von Gewalt«, murmelte die Godelinskij. Lepikow warf ihr einen bestürzten Blick zu. »Wie?« »Ich zitiere den Genossen Lenin«, sagte die Godelinskij. »Er hat den legitimen Einsatz von Gewalt gebilligt.« »Aber wir sitzen nicht hier, um über Ideologie zu debattieren«, knurrte Lepikow. »Aber genau dazu sind wir da«, konterte Hupp. »Und der ideologische Background des Verrückten sollte uns in jeder wachen Minute beschäftigen!« »Wollen Sie damit andeuten, daß Lenin verrückt war?« fragte Lepikow scharf. »Das steht hier nicht zur Debatte«, sagte Hupp. »Aber wenn man eine Ausprägungsform des Wahnsinns in einem Menschen versteht, dann wirft das auch Licht auf andere Formen und Menschen. In der Wissenschaft gibt es keine heiligen Kühe.«
»Ich gedenke nicht, hinter diesem kapitalistischen Hering als Ablenkungsmanöver herzuschwimmen«, knurrte Lepikow. Hupp grinste. »Sergej, die authentische idiomatische Wendung heißt >roter HeringProvos<, sind das die Typen, die diese Bombe in der Grafton Street gepflanzt haben?« fragte Dr. Foss. »Unser Verrückter pickt sie sich raus, aber anscheinend macht er kaum Unterschiede zwischen Terroristengruppen«, sagte Hupp. »Beachten Sie, daß er Großbritannien und Libyen gleichermaßen beschuldigt und er warnt die Sowjetunion mit der Begründung einer mutmaßlichen Komplizenschaft mit Libyen.« »Kapitalistische Lügen!« sagte Lepikow. »Francois?« fragte Dr. Foss und beugte sich vor, um Danzas direkt ins Gesicht zu starren. Dabei dachte sie: Er quatscht mich mit meinem Vornamen an. Mal sehen, wie er umgekehrt auf solche Vertraulichkeiten reagiert... Danzas aber schien nicht im geringsten betroffen zu sein. »Ja?« »Sehen Sie und Joe in der Sache mehr als nur den Protest eines Schizoiden?« Hupp antwortete: »Es handelt sich hier um Ausdrücke der Empörung, die sich aus dem Innern eines gequälten Menschen losreißen. Doch, es ist O'Neill, dessen bin ich mir sicher. Aber das Problem, dem wir konfrontiert sind, lautet: Als was sieht er sich selbst?« »Hier, da haben wir seine ganz persönlichen Worte«, sagte Danzas und blickte wieder auf seine Notizen. »Es ist ein deutliches Kennzeichen eines jeden Tyrannen der Menschheitsgeschichte, daß er dem Elend gegenüber gleichgültig ist. Das erscheint mir als eine eindeutige Identifikationsmethode für Unterdrücker. Aber jetzt bin ich der Tyrann! Und man muß sich mit mir ins Benehmen setzen! Ihr müßt mir Rechenschaft ablegen! Und mir ist euer Elend gleichgültig. Und von dieser meiner Position der Gleichgültigkeit aus fordere ich euch auf, über die Folgen eurer eigenen gewalttätigen Taten und eurer Gewalt provozierenden Tatenlosigkeit nachzudenken.« »Aber ist er wirklich gleichgültig?« fragte Beckett. »Ja, ich glaube schon«, antwortete Hupp. »Sonst würde er niemals über sich bringen, so was tun zu wollen. Erkennen 110 Sie das Grundmuster? Genuine Empörung, die ihren Ursprung in einer über Gebühr gequälten Empfindsamkeit hat, und dann, als Gegenpol, diese Gleichgültigkeit.« »Aber er bezeichnet sich doch selber als >der Verrückte<«, murmelte Godelinskij. Hupp ging darauf ein: »Ach, Dorena, Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Das ist sein Schutzmechanismus. Er sagt: >Ich bin verrückt. < Und das im doppelten Sinn seines Zorns und seiner geistigen Unzurechnungsfähigkeit. Hier haben wir's: Rechtfertigung und entschuldigende Erklärung.« »Bill?« fragte die Godelinskij weiter. »Was für andere Spezialeinheiten sind noch hinter diesem O'Neill her?« Beckett schüttelte den Kopf. Diese Frage verwirrte ihn, beunruhigte ihn. Es durfte einfach nicht zugelassen werden, daß sich Fehler einschlichen. Und diese Frage der Russin stach zielgenau in das Nest seiner Besorgnisse
hinein. »Ich weiß nicht, wer sonst noch«, sagte er. »Aber Sie sind davon unterrichtet, daß auch andere ihn suchen?« beharrte sie. »Aber ja. Darauf dürfen wir uns wohl verlassen.« »Ich hoffe nur, es wird mit äußerster Behutsamkeit verfahren«, sagte sie. »Ah, Sie fangen an, ihn so zu sehen, wie ich ihn sehe«, sagte Hupp. »Und wie sehen Sie ihn, bitte?« fragte Dr. Foss. Hupp lehnte sich in seinem Sessel zurück und schloß die Augen. Dadurch sah er auf einmal seltsam kindlich aus, wären da nicht die dicken Brillengläser gewesen. »O'Neill. Da bin ich sicher. Irische Vorfahren. Exzellente schulische und Universitätsbildung hier in den Etats Unis. Ich müßte ja eigentlich sagen, äußerst hervorragende Schulung. Intime Kenntnisse der irischen Geschichte. Möglicherweise bereits in jungen Jahren durch die Familie erworben. Denken Sie darüber nach. Er hat ein kompliziertes Problem auf dem Gebiet der Molekularbiologie unter zweifellos widrigen Umständen gelöst. Sein Labor kann nur sehr bescheiden sein, darüber gibt es kaum Zweifel.« 111 »Wieso gibt es da eigentlich keine Zweifel?« fragte der Berg Foss. »Wenn es sich um O'Neill handelt«, sagte Beckett, »gehen die Vermutungen des FBI dahin, daß er sich mit so etwa einer halben Million Dollar in den Untergrund begeben hat.« Lepikow richtete sich in seinem Stuhl gerade auf. »Sooo viel? Wie kann denn ein gewöhnlicher Bürger zu derartigem Reichtum kommen?« »Nicht gerade ein gewöhnlicher Bürger«, sagte Beckett. »Genau darum geht es«, sagte Danzas mit abgehackter, wie abwesend klingender Stimme. »Dr. Hupp und ich sind inzwischen einer Meinung darüber, daß die äußeren Umstände des Verrückten außergewöhnliche sind.« Bei der Erwähnung seines Namens öffnete Hupp die Lider, schien aber völlig unbeeindruckt von Danzas' Förmlichkeit zu sein. Er sagte: »Francois bringt die Sache in nuce. Unser armer Irrer ist ein ganz außergewöhnlicher Mensch, der eine starke spirituelle Angst zu überstehen hatte, sozusagen eine Tortur seiner Seele. Und davon gewinnt er die Motivierung eines in den Fanatismus getriebenen Menschen, der auf einmal dazu motiviert ist, anderen ihr Teil von dieser seelischen Angst zuzuweisen. Wir stimmen doch wohl darin überein, daß er in dieser Hinsicht ganz erfolgreich war, oder? Kein einziger Mensch weiblichen Geschlechts lebt noch auf Achill Island, und ... Aber Sie alle haben ja die Berichte über ganz Irland und Großbritannien vor sich. Die jüngsten Daten aus Nordafrika ...« Hupp ließ den Satz unbeendet. Beckett faßte zusammen: »Unter gewissen Vorbehalten nehmen wir als sicher an, daß O'Neill unser Verrückter ist. Wenn er auf besondere Art schizoid ist ...« »Nicht gespalten im üblichen Sinn«, warf Hupp ein. »Gespalten wohl, aber sich der Spaltung bewußt. Ja, bewußt - genau da liegt der wichtige Punkt!« »Keiner beantwortet meine Fragen über diesen Mann«, maulte Lepikow. »Er ist außergewöhnlich? Aber wie gelangt er in den Besitz der fünfhunderttausend Dollar?« »Einen Teil davon hat er mit einer Familienfirma geerbt«, 112 sagte Beckett. »Und er hatte eine gute Position inne und hat geschickt investiert.« »Ganz zu schweigen von dem, was er von seiner Frau erbte«, fügte Dr. Foss hinzu. Lepikow grunzte. »Er war also ein Kapitalist, was? Jetzt begreife ich. Und jetzt sehen Sie, was uns das einbringt. Ein falscher Schachzug von uns, und er schickt uns neue, vielleicht noch schlimmere Krankheiten.« »Sergej hat recht«, sagte Hupp. »Angesichts des Geschicks, das O'Neill bewiesen hat, könnte er eine Krankheit parat haben, die, sagen wir mal, ausschließlich Menschen mit asiatischem Erbe tötet.« Er blickte direkt auf die leichten Epikanthusfältchen an den Augen Lepikows. »Man muß ihm Einhalt gebieten!« sagte Lepikow. »Und so begreifen wir jetzt, warum es höchst vordringlich ist, daß wir ihn verstehen«, sagte Dr. Foss. »Wir dürfen uns nicht mal einen einzigen Fehler erlauben. Er ist als Gegner viel zu gefährlich.« »Verehrte Dame«, sagte Lepikow, »das Gehirn dieses Verrückten ist vielleicht zu kompliziert, als daß wir es begreifen können.« »Versuchen müssen wir's trotzdem«, sagte Beckett und verhehlte kaum seine Verärgerung über derlei defätistisches Geschwätz. »So etwas hätte in der Sowjetunion nicht geschehen können«, sagte Lepikow. Dr. Godelinskij stieß ein keuchendes kurzes Lachen aus. »Aber gewiß nicht, Sergej. Es gibt in der Sowjetunion keine Ungerechtigkeit.« Lepikow fuhr mit dem wackelnden Zeigefinger auf sie zu. »Das sind gefährliche Worte, Dorena.« Und auf russisch fügte er hinzu: »Sie wissen ganz genau, daß wir unkontrollierte Experimente nicht gestatten.« »Er sagt, sie gestatten keine unkontrollierten Experimente in Rußland«, übersetzte Dr. Foss. Die Godelinskij schüttelte den Kopf. »Sergej hat recht, es gibt in unserer Heimat ein exzellentes inneres Sicherheitssy113 stem, aber er irrt dennoch. Er vergißt, daß ein einzelner Mann diese Sache in seinem privaten Haus ausgeklügelt
hat. Und selbst wir in der Sowjetunion wissen nicht alles, was von einem Mann allein in der Privatsphäre getan wird.« An diesem ersten Abend aß Beckett mit Foss und Hupp. Die übrigen hatten sich entschuldigt und lieber in ihren Privaträumen dinieren wollen. Danzas hatte sich über der Lektüre der Speisekarte vor Ekel geschüttelt. »Blumenkohl mit Cheddarkäse? Was ist das? Ein neues amerikanisches Rattengift? Es gibt nicht mal Wein! Das ist unglaublich!« Dr. Foss blieb die ganze Mahlzeit hindurch trübsinnig. Sie starrte immer wieder in dem kleinen sterilen Speiseraum umher, einem weißgekalkten Raum, der von der größeren Kantineneinrichtung des DIC abgetrennt war, wo der technische, meist weibliche Stab abgefüttert wurde. Beckett hatte seine Gäste der Belegschaft vorgestellt, während sie in ihr kleineres Zimmer gingen. Das Personal hatte sie mit Blicken bedacht, in denen sich Ehrerbietung und zynische Furcht mischten. Vielleicht ist sie deshalb so bedrückt, dachte Beckett. Das und dieser verfluchte Lepikow! Kaum hatte sie sich gesetzt, bestätigte sie seine Vermutung: »Sergej hat recht! Wir müssen diesen Mann vollkommen begreifen. Aber wie können wir das?« »Ich begreife auch nicht, was ein Elektron ist«, sagte Hupp. »Aber ich bin durchaus in der Lage, gefahrlos mit Elektrizität umzugehen.« »Ist Wissenschaft nicht was Schönes?« sagte Dr. Foss. Nach dem Essen ging Beckett allein in seine Gemächer: ein kleines steriles Zimmer mit anschließendem Badezimmer. Das Pritschenbett war in der Wand verankert, einer unverputzten Betonwand. Es gab einen einsamen Stuhl mit gerader Lehne und einen Tisch, doch daneben in der Betonwand einen Dokumentensafe, dessen Zahlenkombination nur der Sicherheitsdienst und Beckett kannten. Seine Aufgabe an je114 dem Abend würde es sein, den Safe zu untersuchen und zu prüfen, was an neuem Material dort für ihn hinterlegt worden war. Er seufzte, als er den dicken Packen Papier sah, der hinter der Safetür auf ihn wartete. Er setzte sich an den Tisch und begann die Unterlagen durchzublättern. Dabei fragte er sich, nach welchem Auswahlprinzip die Sicherheitsbeamten vorgehen mochten. Wurden die Prioritäten auf höherer Ebene gesetzt? Er hielt dies für wahrscheinlich. Das oberste Dokument war mit dem Präsidialsiegel geschmückt. Das Deckblatt trug zwei rotumrandete Stempelabdrücke (>Nachtzustellung<), auf dem einen stand >Pentagon-Kontakt<, es war nicht signiert. Der zweite Stempelabdruck trug das NSC-Symbol des National Security Council und eine krakelige Unterschrift, die fast unlesbar war, die aber Beckett als so etwas Ähnliches wie >Turkwood< entziffern zu können glaubte. Er las die Anlagen sorgfältig durch und wurde immer verwirrter, je länger er las. Das erste Dokument war ein wortgetreues Transkript einer Radiosendung, die auf einer militärischen Abhörstation aufgefangen worden war, dem Anschein nach von jemand in Irland gesendet, der sich als >Brann McCrae< identifizierte. Beckett gewann den Eindruck, daß es sich dabei um pseudoreligiösen Quatsch der übelsten Art handle. Ganz offensichtlich das Werk eines Spinners. McCrae forderte die Welt auf, sie solle sich auf den Baumkult rückbesinnen, und er nannte den >Rowan<, die Eberesche, den >allerheiligsten Zeugen der Heiligkeit^ In seiner Radiosendung appellierte er an einen Neffen, einen Cranmore McCrae, in den Vereinigten Staaten von Amerika: »Steig in dein Flugzeug und flieg zu mir! Ich werde dich zum Hohepriester des Rowan machen.« Ferner stellte McCrae die Behauptung auf: »... Der Rowan schützt meine Frauen.« Am Ende des letzten Blattes der Mitschrift stand ohne Unterschrift etwas Krakeliges, und Beckett glaubte, daß der Präsident höchstpersönlich der Autor gewesen sein könnte. Er entzifferte: 115 »Diesen McCrae lokalisieren. Cranmore. Hat Brann McCrae irgendwelche Teile weibl. Bevölkerung in Irland isoliert?« Als nächstes lag in dem Papierpaket ein weiteres Transkript, diesmal ein offizielles Schreiben an das Weiße Haus von einer >KiIlaloe Facility< in Irland. Der Sender wurde als ein >Dr. Adrian Peard< identifiziert. In der Mitschrift war eine Liste von >Apparaten zur sofortigen Verfrachtung mit höchster Priorität aufgeführt. Beckett überflog die Liste mit Sorgfalt. Sie enthielt alles, was man in einem guten DNS-Forschungszentrum erwarten würde. Am unteren Rand stand in der gleichen nichtsignierten Krakelschrift der markige Kommentar: »Schickt das Zeug los!« Und dann: »Beckett - brauchen die sonst noch was?« Beckett schrieb direkt unter diese Frage: »Eine zuverlässige Lieferquelle für Stereoisomere.« Die Nachricht des Dr. Peard endete mit der Information, daß ein gewisser Dr. Fintan Craig Doheny zum Chef der Abteilung >Pestforschung< ernannt worden sei. Das Gekrakel verlangte zu wissen: »Wer ist dieser Doheny?« Beckett schrieb unter die Kritzelei: »Mir unbekannt.« Dann unterzeichnete er mit vollem Namen und sämtlichen Titeln. Darunter kam ein weiteres Blatt mit dem Siegel des Präsidialamtes. Das Schreiben war an Beckett gerichtet und trug nur den NSC-Stempel am unteren Ende, keinen Namen. »Versuchen Sie von Dr. Godelinskij oder Lepikow herauszufinden, warum die Sowjets bestimmte Gebiete im Transural abgeriegelt haben. Satellitenbestätigung dafür liegt vor, aber keine Reaktion aus Moskau auf unsere
Fragen.« Und danach kam ein weiteres ähnliches Blatt mit der knappen Frage: »Wo wird sich O'Neill aller Wahrscheinlichkeit nach verstecken?« Also sind sie inzwischen überzeugt, daß es doch O'Neill ist, dachte Beckett. Und auf dem letzten Blatt, wieder mit dem unsignierten Stempel des NSC, stand nur: 116 »Was ist mit künstlicher Befruchtung?« Also was, zum Teufel, soll denn das wieder heißen? überlegte Beckett. Er zweifelte keinen Augenblick lang daran, daß die Regierungen auch andere ausgewählte weibliche Personen irgendwo in Verstecken in Sicherheit gebracht hatten. Er wußte von immerhin einem derartigen Versteck bei Carlsbad/New Mexico. Erwog man im Weißen Haus bereits Repopulationsmodelle? Und wie viele Frauen mußten da wirklich sterben - draußen in den riesigen USA? Je länger er darüber nachdachte, desto wütender wurde Beckett. Er kritzelte quer über diese letzte Seite: »Was soll die Frage? Was ist da draußen los?« Erst dann konnte er zu schlafen versuchen. Aber er wußte, es würde ein kurzer Schlaf werden und er würde kaum eine Stunde später wieder auf den Beinen sein. Tatsächlich schlief er nur fünfundzwanzig Minuten lang, dann sprang er von der Pritsche auf und schrieb mehrere Memos an seine mysteriösen Fragesteller vom NSC. Im ersten schlug er vor, man solle diesen Peard bitten, diesen religiösen Irren ausfindig zu machen, diesen McCrae, und erinnerte den Iren daran, daß man dort Frauen benötigen würde, um zu testen, was immer man dort in den Labors herausfinden würde. Zu der Frage bezüglich Doheny schrieb er: »Fragt die Iren, um Himmels willen!« Aber das war auch bereits das äußerste, was er sich an Durchscheinenlassen seiner Wut gestattete. Zu der Sowjetfrage schrieb er: »Geht so.« Und auf die Frage, wo O'Neill sich aufhalten könnte, schrieb Beckett: »Versuchen Sie's mal mit Irland oder England. Er wird wahrscheinlich überwachen wollen, wie sich sein Rachefeldzug auswirkt. Zweifelhaft, daß er eine arabische Sprache spricht, also Libyen unwahrscheinlich. Andererseits kann er hier in der Bevölkerung irgendeiner Stadt untertauchen, möglich als trauernder Hinterbliebener. Werde diesen Punkt mit dem ganzen Team durchsprechen.« Zu der Frage über künstliche Befruchtung stellte er die Ge117 genfrage: »Was soll diese Frage? Und was genau sollen wir da bedenken?« Schließlich schrieb er: »Gibt es irgendwelche neuen Erkenntnisse, auf welche Weise O'Neill die Seuche verbreitet hat? Wenn nicht, werde ich wohl die Frage so bald wie möglich dem ganzen Team vorlegen.« Nachdem er das geschrieben hatte, las er sich seine Memos noch einmal durch, um den Gegencheck zu den Fragen zu machen, die ihn dazu veranlaßt hatten. Er entdeckte eine Art von desorganisierter Panik in diesen Fragen, ein blindes Herumtasten nach irgendeinem Anhaltspunkt. Was wir brauchen, ist Organisation, dachte er. Und wir brauchen sie verdammt rasch! Und wie es ihm oft passierte, zuckte plötzlich, während Beckett sich auf diesen vordringlichsten Punkt konzentrierte, ein Erkenntnisblitz über Danzas durch sein Hirn: der organisierte Mensch. Dieser Danzas, das war ein Mann, der, wenn nicht zur falschen Zeit, so doch am falschen Ort geboren worden war. Wenn alles mit rechten Dingen zugegangen wäre, hätte der Typ eigentlich im nördlichen New Hampshire oder in Maine zur Welt kommen müssen. Das war doch ein echter >Oststaatler<, als Franzose verkleidet. Streitsüchtig, argwöhnisch, wortkarg, und seinen Akzent benutzt er mehr als Schutzschild denn als Kommunikationshilfe. Aber man konnte auch andererseits sagen, daß Danzas genau am richtigen Ort geboren worden war und daß die Ähnlichkeiten mit einem amerikanischen Oststaatler nur das Ergebnis eines sozialen Zufalls war. Die Bretagne, so hatte Beckett einmal gehört, war berühmt für derartige Charakteristika - ein abgeschottetes Gebiet, fast insular, ganz auf sich selber ausgerichtet, nur der eigenen ethnischen Eigenheit trauend, rasch bereit, sich mit den eigenen Leuten zu identifizieren und ihre Sache sich zu eigen zu machen: Akzente, Manierismen, Verhaltensweisen, die sich in lokalen Wunderlichkeiten ausprägten, in derben Witzen, die oft um das >Hereinlegen< von Touristen und anderen Fremdlingen kreisten. 118 Diese plötzliche Erkenntnis verriet Beckett, wie er am besten mit Danzas zusammenarbeiten können würde, wo die Stärken dieses Mannes herauszulösen waren und wie sie am besten eingesetzt werden konnten. Also kein Höflichkeitsgewäsch. Zeig dich als Sympathisant seiner Vorurteile. Übertrage ihm die Organisation von wichtigen Schlüsselfunktionen in unserem Projekt. Ich muß unbedingt herauskriegen, was er am liebsten ißt, dachte Beckett. Ohne daß er sich bewußt darauf konzentriert hätte, war Beckett bereits dabei, seine >Streitkräfte< aufzustellen, das Team zu einem funktionierenden Muster zusammenzustellen, um aus allen das Beste herauszuholen sozusagen in dem Sinn, daß das >Ganze< sich dadurch als größer erweisen möge als die Summe seiner Teile. Preis und Ruhm! Preis und Ruhm! Unsern Freiheitskämpfern von der Fein! Ballade von PEADAR KEARNEY Zwei Wochen vor seiner >Demonstration< auf Achill Island war John schon bereit, seinen Schlupfwinkel in
Ballard aufzugeben. Er war sich darüber im klaren, daß er seine Spuren sorgfältig würde verwischen müssen. Die Suche nach ihm würde gewaltig, ja international sein. Und weil die Nachforschungen so massiv sein würden, bestand die Gefahr, daß sie möglicherweise schon bald auf die Adresse stießen. Der Druck, der auf jede Person ausgeübt werden würde (darunter möglicherweise auch auf seinen Lehrmeister im Paßfälschen in St. Louis), ließ es als garantiert erscheinen, daß nichts auf längere Sicht geheim bleiben würde. Er gab sich keinerlei Illusionen hin, daß Regierungen, die sich seinen Befehlen fügten, ihn nicht auch aufzuspüren versuchen würden. Den neuen Paß fertigte er mit höchster Sorgfalt an. Er benutzte dazu Marys Paß, den er aus ihrer Brieftasche nahm, in 119 der auch John O'Neills Paß und die Ausweise der Zwillinge steckten. Warum er gerade den Ausweis Marys wählte, hätte er nicht zu sagen vermocht. Die nichtbenutzten Ausweise hingegen versteckte er sorgfältig im Futter seines Handkoffers. Aber während er an der Fälschung arbeitete, erinnerte er sich auf einmal, daß Mary gesagt hatte, die Zwillinge würden sich sicher sehr wichtig vorkommen, wenn sie jeder einen eigenen Paß besäßen. Die Erinnerungsstücke standen seltsam verschoben vor ihm. Er kam sich vor wie ein heimlicher Lauscher, oder wie einer, der unerlaubt die geheimen Freuden und Lüste eines Mitmenschen belauert und sich frech in privateste Dinge drängt. Aber er erinnerte sich auch an die Riesenfreude der Zwillinge, wie sie ihre Paßfotos verglichen, mit ihren Lese- und Schreibfähigkeiten angaben und ihren Namen, von der eigenen Wichtigkeit tief überzeugt, genau auf die punktierte Linie schrieben. Als er Marys Paß chemisch gesäubert hatte, überkam ihn das Gefühl, daß er sie nun noch mehr aus der Welt der Lebendigen gestoßen habe. Er griff in das Geheimfach des Koffers und betrachtete sich die drei blauen Büchlein mit dem goldenen Emblem. Die Pässe waren Realität. Aber was von dem Menschen, den sie angeblich erfaßten, war da noch wirklich? Wenn er nun alle löschen würde, würden damit auch die Menschen nicht-wirklich? Er prüfte die Perforation-Codierung in Marys Paß. Das fröhliche Gelächter, die Aufregung, als die Pässe zugestellt worden waren, bildeten einen Teil dieses endlosen Films, der in seinem Schädel ablief. Er sah, wie Mary den beiden Kleinen ihren Paß gab, jedem den seinen, zuerst Kevin, dann Mairead. »Sie sind Personen«, hatte sie gesagt, »und jetzt haben sie den Personalausweis, mit dem das bewiesen ist.« Wie klug sie ist ... Er steckte die drei nichtbenutzten Pässe in ihr Versteck zurück und wandte sich wieder dem zu fälschenden Paß zu. Er fieberte ein wenig und überlegte, ob er sich vielleicht irgend etwas bei seiner Arbeit drunten im Kellerlabor aufgeschnappt 120 haben könnte. Aber, nein. Er hatte seinen Körper sehr genau abgeschirmt. Das gehörte schließlich zu seinem Endziel. Es war tatsächlich so, als hielte ihn nur dieses Endziel im Leben fest. Alles andere wich ihm aus, verdünnte sich zu Projektionen, glitt in diese absurden filmischen Erinnerungsbruchstücke hinüber. Nein, es war nur die Eile, mit der er handeln mußte, die ihn fiebern ließ. Fast konnte er spüren, wie die Zeit ihm im Nacken saß. Die verhängnisschwangeren Briefe lagen fast alle schon bereit und konnten bald auf den Weg gebracht werden. Er knipste die Lampen in dem engen Kellergang an, der von der Küche hinunterführte, und trug Marys Paß in sein Labor hinunter. Die Stufen knarrten unter seinem Gewicht, und er fragte sich, wie spät es sein mochte. Draußen war es dunkel. An den bloßliegenden Pfosten, wo die Treppe eine Biegung machte, hing das Netz einer Spinne. Wie oft bin ich diesen Weg schon gegangen? Er hatte das Gefühl, als habe er immer hier gelebt, als habe er diese knarrenden Treppenstufen schon immer gekannt. Hier war der einzige Ort, an dem John McCarthy jemals lebendig gewesen war, und das Labor im Keller stellte sein Identitätsgefühl wieder hier. Es war zu einem fundamental wichtigen Bereich seines Lebens geworden: die weißgestrichene Arbeitsbank mit den drei Bunsenbrennern, die selbstgemachte Zentrifuge in der Ecke, der Autoklav, der aus einem Dampfdrucktopf gebaut worden war, der Brutofen mit dem Präzisionsthermometer zur Kontrolle einer konstanten Umweltwärme, das Elektronenmikroskop, die Petrischalen, die steril in Tupperware-Boxen vor sich hinbrüteten ... Er konnte hören, wie die Farbkompressorpumpe stotternd ansaugte, um das Vakuumsystem zu aktivieren, das dann von der Pumpeinrichtung des Tauchgeräts stabil gehalten wurde. Aufmerksam beugte er sich über sein Fälschungsobjekt. Jede kleinste seiner Bewegungen war behutsam und präzise. Sein Fälscherlehrmeister hatte recht gehabt. Er besaß das Talent für so etwas. Und dann lag es da, direkt vor ihm: eine neue Identität. Nur die schmerzhafte Verspannung in seinem Rücken ließ ihn erkennen, daß ziemlich viel Zeit verstrichen 121 war. Er schaute auf seinen Unterarm, dann fiel ihm ein, daß er seine Uhr droben neben der Küchenspüle abgelegt hatte. Aber das war unwichtig ... Dieses Fiebergefühl von dringender Eile war verschwunden. Und John Garrett O'Day war soeben geboren worden. Da war er - beweiskräftig in diesem falschen Paß: ein kahlköpfiger Mann mit einer Schnurrbartbürste und dunklen Augen, die einen aus dem Fotoviereck intensiv anstarrten. John starrte auf sein neues Selbst zurück. John Garrett O'Day. Er fühlte sich bereits wohl als John Garrett O'Day.
Auf der O'Neill-Seite der Familie hatte es O'Days gegeben. Und da war er ja schließlich leibhaftig, auf diesem Foto. John hatte das Gefühl, als habe er sich weiter und tiefer in sein Ahnenerbe zurückgezogen, viel weiter fort von John Roe O'Neill ... als habe er diesen Mann nun noch viel endgültiger und schärfer von sich abgetrennt. Man würde Fachleute auf die Spuren O'Neills setzen, und wahrscheinlich noch viel mehr Spürhunde auf das, was John McCarthy getan hatte. Aber diese zwei Männer gab es nicht mehr. Kein O'Neill, kein McCarthy. Es gab nur noch O'Day. Und O'Day, der würde sehr bald weit weg sein. Auf einmal würgte ihn ein Hungergefühl. Er kroch durch die Luftschleuse, versiegelte sie hinter sich und verschloß das Labor. Es war taghell draußen. Auf seiner Armbanduhr auf dem Trockenbord am Spülstein las er die Zeit ab: 9 Uhr 36, und er wußte, das mußte ein Morgen sein. Als er ins Labor gegangen war, war es dunkel gewesen. Ja. Samstagmorgen. Und nur zwei Wochen später war der Zeitpunkt, an dem Achill Island zu einem schrecklichen Tag der Rache erwachen würde. Danach würden dann die Briefe mit der Erklärung und den Warnungen eintreffen. Ja, seine Armee marschierte bereits. So sah er das, was er nach Irland, Großbritannien und Libyen auf den Weg geschickt hatte: Soldaten. Es war unwiderruflich geschehen. Es gab keine Umkehr. In der Gasse hinter dem Haus hörte er Kinder schreien, und plötzlich kamen ihm die Nachbarn um sein Versteck in Ballard in den Sinn. Würden seine Soldaten sich auch hier 122 einfinden? Die Frage tauchte nur kurz in seinem Hirn auf, erregte eine flüchtige Neugier in ihm und war fast sofort wieder verschwunden. Zeit, zu verschwinden ... Und dann spürte er eine kleine Irritation wegen des Hauses. Hatte er vergessen, drunten etwas Bestimmtes zu tun? Er schnallte sich das Uhrarmband an, rannte rasch hinunter ins Labor, kletterte durch die Luftschleusen, die er offen ließ. Jetzt brauchte er sich nicht mehr um die Sicherheit seiner Versuche zu kümmern. Man konnte die peinlich genauen Gewohnheiten des John McCarthy aufgeben. Als er in der ersten Sicherheitskammer stand, fiel sein Blick auf die Arbeitsbank und den an ihr festvernieteten Kücheneinwecktopf. Ihm kam dabei der Gedanke, daß dieses simple Küchenutensil, ein blöder Topf, in dem man Nahrungsmittel haltbar machen konnte, sozusagen den Grundtenor für sein ganzes wissenschaftliches Laboratorium setzte. Zweifellos würden sich die Untersuchungsbeamten höchlichst wundern über eine dermaßen geniale Adaptierung in diesem Raum, über die Maschinen und Apparate, die zu Zwecken eingesetzt wurden, für die sie nie gedacht gewesen waren. Und nun erinnerte er sich, was er zu tun vergessen hatte, an den Grund, der ihn wieder ins Labor hatte eilen lassen. Die Thermitbomben! Natürlich! Behutsam schritt er durch sein Labor, stellte die Zeitzünder ein, dann ging er in den Vorkeller, wo er weitere Kapseln angebracht hatte. Dann zurück in die Küche hinauf. Eine Schüssel trockener Getreideflocken. Die Nahrung machte ihn schläfrig, und er begann Kaffee zu bereiten, entschied aber statt dessen, er würde lieber den Kopf auf die Arme auf dem Küchentisch legen und sich ein paar Minuten ausruhen. Er hatte Zeit bis zum Abend, ehe er fortmußte. Als er erwachte, war es 12 Uhr 11. Er fühlte sich ausgeruht, aber der Rücken schmerzte von der gekrümmten Schlafhaltung. In der Gasse hinter dem Haus konnte er Kinder hören, die dort spielten. Ja, richtig. Es ist ja Samstag. 123 Er warf sich kaltes Wasser ins Gesicht, trocknete sich mit einem Geschirrtuch neben der Küchenspüle ab, ging dann in sein Schlafzimmer und packte seine Sachen fertig. Er trug seine Koffer zum Wagen hinunter, und er war gerade wieder dabei, die Stufen zur Küche hinaufzusteigen, um sich endlich einen Kaffee zu machen, als ihn auf dem Treppenabsatz etwas in eisigem Schock innehalten ließ: der Lärm von etwas, das in der Küche zu Bruch ging. Einbrecher? Unter dieser Furcht hatte John McCarthy die ganze Zeit gelitten, während er an seinem Projekt arbeitete. Wut stieg in ihm auf. Wie konnten die das wagen? Er raste die letzten paar Stufen in die Küche hinauf und stolperte fast über einen Softball. In der Küchenspüle lag ein Haufen Glasscherben. Im Fensterrahmen darüber steckten nur noch ein paar scharfe Splitter. In der Gasse hinter dem Haus konnte er eine Frauenstimme rufen hören: »Jimmmyyy! Ich weiß, wo du bist!« Ein undeutliches Gefühl von Amüsiertheit überkam ihn. Er hob den Softball auf und trat auf die Hinterveranda. Eine junge Frau in blauem Hauskleid kam von der Gasse durch seine Gartentür und blieb abrupt stehen. Sie hielt einen etwa zehnjährigen Jungen fest am rechten Ohr gepackt. Der Mund des Kindes war schmerzverzerrt, und es schien Angst zu haben. Mit schiefgeneigtem Kopf, um dem Schmerz zu entgehen flehte es: »Mammi, bitte! Bitte, Mammi!« Die Frau blickte zu John herauf und ließ das Ohr des Jungen los. Sie schaute auf das zertrümmerte Fenster, dann wieder zu John zurück, dann auf den Softball in seiner Hand. Der Junge ging hinter ihr in Deckung. »Es tut mir schrecklich leid«, sagte die Frau. »Natürlich ersetzen wir Ihnen das Fenster. Ich hab ihm immer und immer wieder gesagt, er darf da nicht spielen, aber er vergißt es immer wieder. Mein Mann besorgt das Fenster auf dem Rückweg von der Arbeit. Er ist sehr geschickt in solchen Reparaturen.« 124 John zwang sich zu einem Lächeln. »Das ist gar nicht nötig, Ma'am. Ich nehme an, ich hab noch ein paar Fenster
aus meiner eigenen Jugend gutzumachen.« Und er warf den Softball auf den Hinterhof. »Na, dann mal los, Jimmy! Aber warum spielt ihr Jungs denn nicht auf dem unbebauten Grundstück am Ende des Blocks?« Jimmy schoß hinter dem Rücken seiner Mutter hervor und nahm seinen Ball wieder in Besitz. Er drückte ihn fest gegen die Brust und schaute zu John herauf, als könne er nicht so recht an sein Glück glauben. Die Frau lächelte vor Erleichterung. »Das ist aber wirklich sehr freundlich von Ihnen«, sagte sie. »Ich bin Mrs. Pachen, Gladys Pachen. Wir wohnen genau Ihnen gegenüber, auf die Fünfundsechzigste raus. Und wir wollen natürlich das Fenster herzlich gern bezahlen. So was sollte einfach nicht...« »Das ist nicht nötig«, sagte John, bemüht, nicht aus der gutnachbarlichen Rolle zu fallen. Was er jetzt am wenigsten brauchen konnte, waren neugierige Nachbarn, die ihre Nasen in seine Angelegenheiten steckten. Er schlug einen leichten Ton an: »Ach, sorgen Sie einfach dafür, daß Jimmy sich jetzt schon darauf vorbereitet, für die Scherben zu bezahlen, die irgendein anderer Junge mal anrichtet, wenn er so alt ist wie ich. Wir Männer vererben die Kosten für das, was wir zertrümmern, von Generation zu Generation.« Gladys Pachen lachte: »Ich muß schon sagen, Sie sind ganz, ganz außergewöhnlich nett. Ich hätte nie ... ich meine ... wir wußten ja gar nicht ...« Verwirrt brach sie ab. Mit Mühe hielt John das Lächeln auf seinem Gesicht fest. »Ich kann mir schon denken, daß ich Ihnen recht seltsam vorgekommen sein muß, all die Monate lang. Aber wissen Sie, Mrs. Pachen, ich bin Erfinder. Und ich habe ziemlich intensiv an einer Sache gearbeitet... an naja, also, ich glaube, ich darf jetzt noch nicht darüber reden. Übrigens heiße ich ...« Er brach ab, weil ihm bewußt wurde, daß er von sich beinahe als von John Garrett O'Day gesprochen hätte, dann sagte er mit einem verlegenen Achselzucken: »John McCar125 thy. Den Namen werden Sie noch einmal als den eines Berühmten zu hören bekommen, glaube ich. Für meine Freunde heiße ich Jack.« Gut gemacht, dachte er. Eine einleuchtende Erklärung. Ein Lächeln. Durch die Preisgabe dieses Namens konnte ihm kein Schaden erwachsen. »Ach, George wird ganz aus dem Häuschen sein«, sagte die Frau. »Der bastelt auch immer die ganze Zeit in seiner Garage herum. Da hat er sich eine kleine Werkstatt eingerichtet. Ich ... ach, wissen Sie, wenn wir unser nächstes Grillfest machen, dann müssen Sie einfach zu uns rüberkommen. Und ich will keine Absage hören!« »Das klingt sehr verlockend«, sagte John. »Manchmal hängt mir meine eigene Kocherei richtig zum Halse raus.« Er schaute zu dem Jungen hinunter. »An deiner Stelle würde ich das Grundstück da unten mal auskundschaften. Das sieht mir ganz wie ein ziemlich guter Platz für ein Baseball-Feld aus.« Jimmy nickte zweimal, sagte aber kein Wort. »Also, Gladys, es ist ja weiter nichts passiert«, sagte John. »Jedenfalls nichts wirklich Schlimmes. Auf die Weise bekomme ich endlich ein sauberes Fenster über der Spüle. Aber jetzt muß ich wieder an die Arbeit. Ich braue da gerade was zusammen.« Er winkte beiläufig und trat in die Küche zurück. Eine begnadete schauspielerische Leistung, dachte er, während er das Fenster provisorisch mit Plastikfolie versah. Es war nicht nötig, neues Glas einsetzen zu lassen. Das Ganze würde noch in dieser Nacht sowieso in Flammen aufgehen. Gladys Pachen kehrte in ihre Küche zurück und lud von dort aus prompt ihre nächste Nachbarin, Helen Avery, zu einer Tasse Kaffee ein. »Ich hab gesehn, wie Sie mit ihm geredet haben«, sagte Helen Avery, während Gladys die Tassen vollgoß. »Wie isser denn so? Ich hab schon geglaubt, mich trifft der Schlag, als ich sah, wie Jimmys Ball die Scheibe zerdepperte.« »Ach, der ist irgendwie süß«, sagte Gladys. »Und ich glau126 be, er ist ziemlich schüchtern ... und einsam.« Sie goß Kaffee nach. »Er ist so ein Erfinder.« »Ach, das treibt er also in seinem Keller! Bill und ich haben uns schon Gedanken gemacht... Tag und Nacht brennt dort unten das Licht.« »Und zu Jimmy war er ausgesprochen nett«, sagte Gladys und setzte sich an den Küchentisch. »Er wollte mich das Fenster nicht mal bezahlen lassen, weil er, wie er sagte, noch ein paar Fensterscheiben schuldig ist aus der Zeit, als er so alt war wie Jimmy.« »Was erfindet er denn? Hat er da was gesagt?« »Das wollte er nicht, aber ich wette, es ist was Wichtiges.« Es hat nie einen schärferen anti-irischen Eiferer gegeben als Shakespeare. Er war der Gipfel elisabethanischen Geckentums, die perfekte Spiegelung britischer Bigotterie. Sie rechtfertigten sich mit religiösen Argumenten. Mit der Reformation! Damit begann ihre Ausrottungspolitik gegenüber den Iren. Und bereits damals mußten wir die bittere Wahrheit lernen: Englands Feind ist Irlands Freund. JOSEPH HERITY Wir müssen uns also darauf konzentrieren, wie er die Krankheit verbreitete«, sagte Beckett. »Die Frage ist noch immer nicht beantwortet.« Es war der dritte Nachmittag seit der ersten Zusammenkunft des Teams, und sie hatten sich als Tagungsraum das kleine Speisezimmer neben der Belegschaftskantine des DIC gewählt. So hatten sie es näher zu den Laboreinrichtungen, Wände und Beleuchtung waren weniger trübselig, und der Konferenztisch war kleiner.
Kaffee oder Tee konnten durch eine Durchreiche mit Schiebetür aus der Küche geliefert werden. Die Sicherheitsbeamten hatten dagegen Einspruch erhoben, und es gab da stets einen gewissen Geräuschpegel von Geschirrgeklapper, mit dem man fertigwerden mußte, 127 aber sie alle empfanden es als ein viel erträglicheres Arrangement. »Wirft jemand die Frage auf, ob unser Irrer im Alleingang handelt?« fragte Hupp. Er rückte ein wenig beiseite, während eine Kellnerin mit weißem Schürzchen die Teller des Mittagessens abräumte. »Also eine Konspiration?« fragte Lepikow. Er blickte der verschwindenden Kellnerin nach. »Gehören diese Dienstboten zu ihrem Militär, Bill?« Dr. Foss antwortete ihm: »Sergej, das ist eines von unseren bestgehüteten Geheimnissen. Nach zwei Jahren Dienst hier leiden die garantiert unter paranoider Mordlust.« Sogar Lepikow stimmte in das gequälte Kichern über die Witzelei ein. Danzas sagte: »Infizierte Vögel? Es gibt die Präzedenzfälle von Psittakose - Papageienfieber. Ist es denkbar, daß er ein modifiziertes Psittakosevirus gebaut hat?« »Also, das kommt mir nicht so recht als sein Stil vor«, sagte Hupp. »Der legt doch keine so leichten Spuren für uns. Nein.« Er blickte auf eine blaue Akte, die vor ihm lag, klappte den Deckel langsam auf, blätterte in den Seiten, bis er gefunden hatte, was er suchte. »Hier ist eine Stelle aus einem der Briefe des zweiten Schubs.« Hupp zitierte: »Ich weiß, daß es Verbindungen zwischen der IRA und den Fedayin gibt, Verbindungen zu japanischen Terroristen, zu den Tupamaros und Gott weiß, wem sonst noch. Ich war in Versuchung, meinen Rachefeldzug auf alle Länder auszudehnen, die solchen Feiglingen Unterschlupf gewähren. Und ich warne alle diese Länder: Führt mich nicht erneut in Versuchung, denn ich habe nur einen Bruchteil meines Waffenpotentials eingesetzt.« Hupp klappte die Akte zu und blickte Lepikow, der direkt ihm gegenüber saß, ins Gesicht. »Wir müssen leider annehmen, daß dies keine leere Drohung ist. Ich bin überzeugt, dieser Mann blufft nicht. Und unter dieser Voraussetzung müssen wir weiter annehmen, daß er mehr als nur eine Verbreitungsmöglichkeit für sein Waffenpotential zur Verfügung hat. Denn wenn es uns gelingt, die Methode oder die Metho128 den zu finden, mittels derer er es im vorliegenden Fall fertigbrachte, könnten wir ihm ja diesen Leitweg versperren.« »Könnten wir das?« fragte Beckett. Lepikow nickte zum Zeichen, daß er seine Skepsis teile. Dr. Godelinskij beugte sich vor, trank einen Schluck Tee und sagte: »Er hat ganz spezifische Gebiete infiziert. Und die Tatsache, daß die Seuche sich weiterverbreitete, kann nur bedeuten, daß auf irgendeine Weise Menschen die Überträger sein können.« »Wieso denn das?« fragte Danzas. »Weil so, wie derzeit alles mit Insektiziden besprüht wird, kein Insekt mehr dafür in Frage käme«, sagte sie, rieb sich die Stirn und zog die Brauen zusammen. Mit gedämpfter Stimme sagte Lepikow etwas auf russisch zu ihr. Dr. Foss bekam nur einen Teil mit, drehte sich aber um und warf der anderen Frau einen forschenden Blick zu. »Was nicht in Ordnung?« fragte Hupp. »Ach, nur ein bißchen Kopfweh«, sagte die Godelinskij. »Ich glaube, es ist der Wetterumschwung. Wenn ich vielleicht noch ein bißchen Tee trinke?« Beckett drehte sich zu dem Schiebefenster in seinem Rücken, schob es auf und sah sich einem Gesicht gegenüber, das vornübergeneigt auf der anderen Seite auftauchte. Ein ausdrucksloses, blondes Männergesicht, mit weißen Zähnen lächelnd. »Wünscht noch jemand etwas aus der Küche?« fragte der blonde Mann. »Bauerntölpel!« sagte Lepikow. »Ach, sie hatten einfach noch keine Gelegenheit, hier auch noch Mikrofone anzubringen«, sagte Dr. Foss. »Morgen geht das sicher alles viel glatter. Ich möchte noch Kaffee. Bitte schwarz!« Beckett blickte sich rings um den Tisch um. Die anderen zögerten noch. Er wandte sich wieder dem Blondgesicht in der Durchreiche zu. »Haben Sie gehört?« »Klar doch, Doc!« Das Schiebefenster glitt wieder zu. Beckett wandte sich wieder der Tischrunde zu. 129 Hupp nahm einen Aktenkoffer vom Boden neben seinem Stuhl, wischte ein Salatblatt davon weg und nahm einen kleinen Notizblock und Stift heraus. »Es muß was ganz Einfaches sein«, sagte er. Das Schiebefenster hinter Beckett glitt auf. »Einmal Tee, einmal Kaffee-schwarz«, sagte das Blondgesicht. Er schob zwei dampfende Tassen herein und schloß die Schiebetür. Ohne aufzustehen, ergriff Beckett die beiden Tassen und schob sie über den Tisch. Als die Godelinskij ihre Tasse anfaßte, bemerkte Beckett eine weiße Stelle auf ihrem linken Handrücken. Der Fleck war nicht besonders deutlich, aber er entging seinem geübten Auge dennoch nicht. Ehe er etwas dazu bemerken konnte, sagte Lepikow:
»Ich bin überzeugt, daß diese Seuche über irgend so eine teuflische amerikanische Erfindung verbreitet wird. Möglicherweise mit irgendeiner Haarspraydose.« Hupp kritzelte etwas auf seinen Notizblock. »Steht bereits auf meiner Liste, aber ich bezweifle das. Ich behaupte nochmal, das wäre für unseren Verrückten viel zu leicht und offensichtlich.« Die Godelinskij schlürfte laut ihren Tee, dann sagte sie: »Ich stimme mit Joe überein. Das ist nicht sein Stil, nicht von von O'Neill.« »Und was ist ihr Stil?« fragte Dr. Foss. Hupp lächelte über die Mahnung, die in Dr. Foss' Verwendung der weiblichen Form enthalten war. »Wie ich schon sagte, ich glaube, es wird etwas bemerkenswert Simples sein. Etwas, von dem wir dann sagen werden: O Gott! Aber natürlich!« »Wie zum Beispiel?« fragte Beckett. Hupp zog nur stark die Schultern hoch, breitete die Hände mit nach oben gestreckten Handflächen weit aus. »Ich beziehe mich hier nur auf die Stilfrage, ich spreche nicht von einer spezifischen Methode.« »Wir wissen nichts über die Inkubationszeit«, sagte die Godelinskij. »Schließlich könnte das Zeug ja schon monatelang herumhängen.« 130 »Verseuchte Geschenkartikel?« fragte Dr. Foss. »Ja, so was in der Richtung«, antwortete Hupp. »Ein Spielzeug, das eine Mutter in die Finger bekommt, ehe sie es ihren Kindern gibt. Wir dürfen nicht vergessen, daß O'Neills Frau und beide Kinder brutal umgebracht wurden. Und er spricht von einer angemessenen Rache<.« »Teuflisch«, murmelte Danzas. »Wahnwitzig«, sagte Lepikow. »So ist es«, pflichtete Hupp ihnen bei. »Und genau diese Methodik in seinem Wahnsinn wird uns die Tür zu ihm öffnen.« Die Godelinskij trank ihre Tasse leer, setzte sie ab und blickte starr über den Tisch zu Dr. Foss hinüber. »Sagen Sie mir, Ari, wenn Sie diese wahnsinnige Frau wären, wie stellen Sie es dann an, das fertigzubekommen?« »Irgendwo in einem allgemein gebräuchlichen Nahrungsmittel vielleicht?« sagte Dr. Foss. »Kartoffeln?« fragte Lepikow. »Aber das wäre ja zu komisch.« Hupp streckte mahnend den Zeigefinger hoch. »Aah - aber sie ist da genau auf das Wesentliche gestoßen. Es muß einfach etwas ganz Alltägliches sein. Etwas, das in Irland verwendet wird, in Großbritannien und in Libyen, und es muß etwas sein, durch das eine größtmögliche Zahl von Frauen der Infektion ausgesetzt werden.« »Wieso nur Frauen?« fragte Beckett. »Warum sollten nicht die Männer die Übertragungsfaktoren sein?« Danzas hielt sich an sein gewohntes Verhaltensmuster, sich nicht konstruktiv an einer Teamdiskussion zu beteiligen, bevor diese nicht bereits unter vollen Segeln lief; er sagte nun: »Da gibt es noch eine weitere Qualifikation, die durch die Beschränkungen bestimmt wird, denen, wie wir annehmen dürfen, unser Verrückter unterworfen ist.« Alle wandten ihm ihre Aufmerksamkeit zu. »Wie gelangt er an ein Verteilersystem heran?« fragte Danzas. »Auch ich gebe zu, daß es etwas recht Simples sein muß, etwas, das für alle drei geographischen Regionen sozusagen 131 als Alltäglichkeit zutrifft. Aber es muß auch etwas sein, zu dem der Verrückte leicht Zugang hat, wahrscheinlich ohne raffinierte Vorbereitung oder eine komplizierte Mitwirkung von konspirativen Fremdelementen.« »Er ist ein einsamer Jäger«, bestätigte Beckett. »Ein abartiges Gehirn«, sagte Lepikow. »Seine wissenschaftlichen Fähigkeiten, die er im Labor beweist, werden, dessen bin ich mir sicher, sich auch in seiner Methode der Verbreitung zeigen.« »Abartig? - Nein. Verwirrt, ja«, sagte Hupp. »Aber darum doch nicht zwangsläufig wissenschaftlich kompliziert. Sein Stil ... - es ist viel wahrscheinlicher, daß er irgendwas ganz Normales, einen alltäglichen Gebrauchsgegenstand verseucht, vielleicht etwas, was wir alle in diesem Moment bei uns tragen.« Daraufhin herrschte Schweigen. Dann nickte Beckett, mehr für sich selbst, denn als Bestätigung für Hupps These. Für ihn schwang da ein leiser Ton von Wahrheit mit, in dem, was Hupp angedeutet hatte. Es war eben doch O'Neills Stil. Und Einfachheit mußte das Schlüsselwort lauten. »Aber warum kann es nicht doch eine Konspiration sein?« fragte Lepikow. Dr. Godelinskij schüttelte nur den Kopf. »Insekten?« fragte Dr. Foss. »Insekten als Überträger der Pest«, sagte Lepikow. »Würde das denn nicht auf Ihre Darstellung passen, Joe?« »Und wie sollte er diese Insekten verbreiten?« fragte Hupp. »Über die Eier oder die Larven?« fragte Dr. Foss. »Also bleibt nach wie vor die Hauptfrage die, wie er das Zeug verteilt«, sagte Hupp. »Der Flugverkehr macht aus solch einem Konzept eine echte Bedrohung für die Welt«, sagte Lepikow. »Und wie wäre es mit der Verseuchung der Wasserwerke in seinen Zielgebieten?« fragte Danzas. »Insekten im Wasser?« fragte Lepiko dagegen. »Oder die Seuche selbst«, konterte Danzas. 132 Hupp pochte leicht mit der Faust auf den Tisch. »Die Verbreitung«, sagte er. »Aber wie?« »Einen Moment«, sagte Dr. Foss. »Insekten im Wasser. Keine üble Idee. Kapitäne von Walfangschiffen verbreiteten einst zielstrebig Moskitolarven über den ganzen Südpazifik, um sich an den dortigen Einwohnern für irgendwelche angeblichen Feindseligkeiten zu rächen.«
»Nun, dann vielleicht irgendein Angehöriger einer Fluglinie oder ein Pilot«, sagte Lepikow. »Ist dieser O'Neill zufällig Pilot?« »Negativ«, sagte Beckett. »Aber die mögliche Beteiligung der Luftfahrt«, sagte Lepikow. »Das hat etwas für sich.« Beckett sagte: »In Hawaii haben sie jährlich dank der Flugverbindungen fünfzig neue Insektenarten.« »Aber was wird weltweit von solchen Fluglinien transportiert?« fragte Lepikow. »Gepäck, Frachtgut«, sagte Beckett dagegen. »Und die Touristenflüge an sich schon, aber ...« Er schüttelte den Kopf. »Wir übersehen dabei, daß er seine Ziele ganz genau absteckt: Irland, Großbritannien und Libyen.« »Aber ohne Garantie, daß andere Länder verschont bleiben werden«, sagte Dr. Foss. Wieder rieb sich Dr. Godelinskij die Stirn. »Und wir können keineswegs sicher sein, daß er nur eine Verbreitungsmethode einsetzt. Die Inkubationszeit - das sollte die wichtigste Frage in unseren Überlegungen sein.« »Die Postdienste«, sagte Hupp. »Was meinen Sie damit?« fragte Beckett. »Ach, ich weiß wirklich nicht so recht«, antwortete Hupp. »Ich probier einfach einmal aus, wie ich mich verhalten würde, wäre ich O'Neill, und bloß aufgrund seines bisherigen Verhaltens. Was wissen wir überhaupt über ihn?« »Daß er in Irland war«, sagte Beckett. »Exakt!« sagte Hupp. »Und in Irland wird ihm dieser qualvolle Schmerz zugefügt, der ihn dann dazu treibt, diesen scheußlichen Rachefeldzug zu beginnen. Aber an einem 133 Punkt muß er auch die anderen Erfahrungen des Landes, Irlands, gemacht haben. Und was kann er für sich gelernt haben?« »Dem kann ich nicht folgen«, sagte Lepikow. »Nun, er lernt zum Beispiel, wie die Menschen in Irland tagsüber leben«, sagte Hupp. »Und das gilt auch für Großbritannien und Libyen?« konterte Lepikow. Hupp schüttelte den Kopf. »Möglich. Aber konzentrieren wir uns doch zunächst einmal auf Irland und auf den Aufenthalt von O'Neill dort. Wenn sein dortiges Verhalten uns zu Antworten auf unsere Fragen bringt, dann können wir möglicherweise diese Ergebnisse auf die übrigen Krisenherde extrapolieren.« »Fahren Sie fort!« sagte Beckett. Er hatte auf einmal das merkwürdige Gefühl, daß Hupp mit der Nase dicht auf einer heißen Spur schnüffelte. Bring's schon rüber! dachte er. »O'Neill war nicht in Irland ansässig«, fuhr Hupp fort. »Also muß er dort irgendwo gewohnt haben. In einem Hotel? Das wissen wir mit Sicherheit. Aber was macht er in diesem Hotel? Er schläft dort. Er benutzt die Einrichtungen des Hotels und der Stadt.« »Ich kann da keine Antworten erkennen«, sagte Lepikow. »Nur noch mehr Fragen. Was heißt es schon, wenn er das Zimmermädchen heraufklingelt?« »Dafür benutzt er das Telefon«, sagte Hupp. »Und ihm steht ein Verzeichnis der Fernsprechinhaber zur Verfügung.« »Ja, und er hat auch verschiedene Broschüren für Touristen«, sagte Lepikow. »Was soll das?« »Lassen Sie ihn bitte weitermachen!« bat Beckett. Lepikow zuckte die Achseln und wandte sich halb von Beckett weg. »Besichtigungstouren, Touristenführer, genau!« sagte Hupp. »Das könnte möglicherweise wichtig werden. Die prächtig-bunten Broschüren, die Geschäfte und Restaurants, die öffentlich geduldeten Einrichtungen, in denen man sich betrinken kann, öffentliche und private Verkehrsmittel. Nimmt er sich einen Mietwagen oder fährt er mit Taxis?« 134 »Als erstes hat er sich mal ein Auto gekauft«, sagte Beckett. »Einen billigen Fiat, gebraucht. Das wurde gerade bestätigt, und es steht auf dem Blatt, das ich heute morgen verteilt habe.« »Oh, ich habe es leider noch nicht lesen können«, sagte Hupp entschuldigend. »Aber so wissen wir jetzt immerhin, daß er beweglich war.« »Was ist mit dem Auto passiert?« fragte Lepikow. »Die Firma, von der er es gekauft hat, verkaufte es in seinem Auftrag weiter«, sagte Beckett. »Trotzdem, er ist beweglich«, wiederholte Hupp. »Aber wohin bewegt er sich? Geht er zu einem sportlichen Ereignis? Zu einer Vorlesung, einem Vortrag? Ins Theater? Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf ganz alltägliche, auf unauffällige Ereignisse und Betätigungen lenken. Er kauft sich ein Buch. Er steckt einen Brief in den Briefkasten. Er läßt sich über den Portier einen Tisch in einem Restaurant reservieren.« Danzas schüttelte sich und murmelte: »Irische Restaurants!« »Aber O'Neill fing gerade an, aktiv an dem Leben in Irland teilzuhaben, ehe die Tragödie über ihn hereinbrach«, sagte Hupp. »Er lebt jetzt da, und er denkt mit... mit einer Art von Zugehörigkeitsgefühl.« »Und inwiefern bringt uns das seinen Methoden der Verbreitung näher?« fragte Lepikow. »Ehe er irgendwelche Verbreitungswege wählen konnte«, sagte Hupp, »mußte er sichergehen können, daß das in seinen Zielgebieten funktionieren würde.«
Lepikow wuchtete die Schultern hoch und senkte sie wieder. »Na und?« »Was bemerkt er in seiner Umwelt, das ihm die nötige Kenntnis vermittelt?« fragte Hupp. »Wie überzeugt er sich davon, daß seine Methode oder seine Methoden funktionieren werden?« »Und falls er es fertiggebracht hat, Papier zu infizieren?« fragte Dr. Foss. Lautlos bewegte Beckett die Lippen. Ein Wort, das man 135 nicht aussprach. Aber dann wiederholte er es laut: »Geld!« Als er aufblickte, fand er sich im Kreuzfeuer von fünf bestürzten Augenpaaren. Hupp gab ein langes »Aaahhh!« von sich. »Mit der Post?« fragte Danzas. »Würde dadurch nicht jeder, der die Sendung in die Hand bekommt, angesteckt werden?« fragte Lepikow. »Nicht, wenn er die Viren steril innerhalb des Umschlags verpackt hat«, sagte Beckett. »In Plastikfolie«, sagte Hupp. »Also, ich habe so was in meiner Küche«, sagte Dr. Foss. »Irgend so ein Plastikschweißdings. Und man kann überall die Beutel dafür kaufen. Man steckt Essensreste hinein, versiegelt die Beutel hermetisch, und dann stopft man sie ins Tiefkühlfach. Später, wenn man sie braucht, holt man sie da wieder heraus, taut sie auf und erhitzt sie und hat - pronto -ein schnelles Essen.« »Aber wäre das nicht zu einfach?« fragte Lepikow nörgelnd, doch seine Stimme verriet, wie stark ihn die Zukunftsaussicht beeindruckte, die da vor ihm ausgebreitet wurde. »Aber da haben wir doch haargenau den Grad an Einfachheit, nach dem wir suchen«, sagte Hupp. »Das paßt doch genau zu dem Stil dieses Mannes!« »Und er würde seine Päckchen an irgendwelche Wohlfahrtsorganisationen schicken«, sagte Dr. Foss erregt. »Oder an jemand, der Spenden für die IRA annimmt«, sagte Hupp. »Das wäre ein poetischer Wahnwitz, der unserm Verrückten großen Spaß bereiten würde.« »Er ist Amerikaner irischer Herkunft«, sagte Dr. Godelinskij. »Wer sonst wüßte besser, an welche Adresse in Irland man seine diskrete Unterstützung für die IRA schicken kann?« »Aber er kann doch Geld an fast jede beliebige Person in Irland schicken«, sagte Beckett. Sie schauten ihn an. »Also, bedenken Sie doch mal«, sagte Beckett. »Sie haben ein Ladengeschäft. Sie erhalten einen Auftrag, Geld ist beige136 fügt, und sollen Waren in die USA senden. Oder Sie sind nur ein ganz normaler Bürger mit einem Namen, der willkürlich aus einem Telefonverzeichnis ausgewählt wurde. Sie erhalten einen Brief aus den Staaten, Geld liegt drin, auch ein Schreiben mit einer simplen Erklärung. Würden Sie so was denn zurückgehen lassen? Und was, wenn kein Absender draufsteht?« »Aber ...« Lepikow schüttelte den Kopf. »Das Geld in einem Plastikbeutel in dem Umschlag - macht das denn nicht den Empfänger argwöhnisch?« »Aber warum sollte es?« fragte Hupp. »Ich begreife nicht, wie man dem zufälligen Empfänger so etwas plausibel machen kann«, sagte Lepikow. »Warum sollte man sich mit einer Erklärung herumschlagen?« fragte Dr. Foss. »Man schickt einfach das Geld, in der landesüblichen Währung - und der Empfänger glaubt, daß ihm Gott endlich einmal wohlgesonnen ist.« Lepikow starrte sie nur sprachlos an. »Aber vielleicht ist gar keine innere Plastikverpackung nötig«, sagte die Godelinskij. »Wenn diese Seuche eine Latenzperiode hat, dann bestünde ja kaum Gefahr für die Zwischenträger. Und wir wissen nichts über die Inkubationszeit.« »Wenn das öffnen des äußeren Umschlags die Versiegelung des inneren gelöst hätte, dann würde das schon genügen«, sagte Beckett. Lepikow schaute noch immer Dr. Foss an. Er räusperte sich und sagte: »Kann in den USA jeder Bürger in einen Laden gehen und sich einen solchen Apparat zur Versiegelung von Plaste-Materialien erwerben?« »Doch, ja, wenn man dafür bezahlt«, sagte Dr. Foss. »Ist das - kostspielig?« »Also, das Ding in meiner Küche kostet weniger als dreißig Dollar. Aber Sie können sich natürlich einen viel billiger im Schlußverkauf erwerben.« »Ich glaube, wir haben es«, sagte Beckett. »Und es paßt zu dem, was wir als Voraussetzung für die restlichen Zielgebiete bestimmt haben«, sagte Hupp. »Er 137 braucht eigentlich nur die jeweilige Landeswährung der von ihm ausgesuchten Nation.« »Ach, er geht einfach in irgendeinen Wechselladen und sagt, er braucht den Gegenwert von fünfhundert Dollar in britischen Pfund«, sagte Dr. Foss. »Aber verlangen die denn nicht einen Paß oder sonst einen Identitätsausweis?« fragte Lepikow fassungslos. Dr. Foss zuckte nur die Achseln. »Ich kauf Ihnen das ab, aber ich bin noch nicht so ganz sicher, daß es das ist«, sagte Beckett.
Danzas sagte: »Wir müssen das sofort weitergeben, damit diese Möglichkeit sofort untersucht wird.« »Aber ich bin keineswegs befriedigt«, sagte Lepikow. »Angenommen, er schickt Geld an eine Wohltätigkeitsorganisation. Das verstehe ich ja. Aber bei anderen Adressen ...« »Ich habe mir sagen lassen, daß katholische Wohltätigkeitsverbände in Irland nie sehr viel Geld haben«, sagte Dr. Foss. »Also würde sein Geld ziemlich rasch in Umlauf gesetzt werden.« »Und er könnte ja auch Geld an eine Sportvereinigung schicken«, sagte Beckett nachdenklich. »An eine Theatergruppe. Irland wimmelt von kleinen Theatergruppen und Athletenvereinen.« »Geld! So wahrhaft teuflisch einfach!« sagte Dr. Foss. »Und wie überträgt er seine Methode auf Libyen?« fragte Lepikow. »Wir nehmen doch an, daß er die Landessprache nicht beherrscht.« Hupp hob - vorsichtig wie ein Student, der eifrig die Aufmerksamkeit seines Professors zu wecken versucht - die Hand. Lepikow schaute ihn fragend an. »Ein Besuch bei einem libyschen Konsul, einer Botschaft«, sagte Hupp. »Bei der UNO. Was braucht er schon zu wissen? Die Anschriften von wohltätigen Organisationen in Tripolis oder vielleicht in Bengasi? Solche Informationen sind überhaupt nicht schwer zu finden. Es gibt unzählige Menschen, die Sie Ihnen nur allzu bereitwillig aufdrängen werden. Weil dies nämlich ihr Job ist.« 138 »Manche Wohltätigkeits- und Hilfsorganisationen verkaufen auch ihre Adressenlisten«, sagte Beckett. »Oder sie tauschen sie aus - deine Liste gegen meine.« »Als ich an der UCLA studierte«, sagte Hupp, »konnte fast jeder, der sich politisch aktiv betätigte, jede nur gewünschte Adressenliste bekommen. Mir ist ein Computerspezialist bekannt, der sein Studium damit finanziert hat, indem er derartige Namenslisten aus den Computerspeichern klaute und verkaufte.« Danzas wandte sich ihm zu und betrachtete Hupp schief über seine lange Nase hinweg. »Sie hatten also mit politischen Aktivisten zu tun?« »Hier bezeichnet man das als Lernprozeß«, antwortete Hupp. »Wir schildern hier eine Welt, in der Anarchie und Wahnsinn herrschen«, sagte Lepikow düster. »Zu der allerdings die Sowjetunion erstaunliche Beiträge geliefert hat«, fügte die Godelinskij hinzu. Auf russisch sagte Lepikow: »Derartige Behauptungen werden nicht unerwähnt bleiben.« Dr. Godelinskij konterte englisch: »Ach, das ist mir eigentlich gar nicht mehr so wichtig.« Sie stieß sich auf ihrem Stuhl vom Tisch ab und ließ den Kopf bis fast in den Schoß hängen. »Ist Ihnen schlecht?« fragte Beckett. Er sprang auf und trat neben ihren Stuhl. Wieder fiel ihm der weiße Fleck auf ihrem Handrücken auf. Er war jetzt ganz deutlich sichtbar. Vorher hatte er das als eine ganz normale Verfärbung abgetan, wie sie bei der Arbeit im Labor durch Verätzung oft auftreten kann ... oder als etwas schlampige Anwendung von Make-up oder ein Klecks von Zahnpaste ... Aber jetzt empfand er auf einmal ein eisiges Gefühl im Unterbauch. So vornüber gebückt, wie sie war, klang die Stimme der Godelinskij schwach, als käme sie von sehr weit her. »Mir ist etwas schwindlig, ja ...« Sie hustete. »Ein ganz fremdartiges Gefühl ... Gleichzeitig schwummerig und erregt...« »Ich glaube, wir zwei bewegen uns mal besser in die Krankenabteilung«, sagte Dr. Foss. 139 Beckett wirbelte auf seinem Stuhl herum und starrte sie an. »Was? Sie etwa auch?« »Ja, bloß so was wie der Ururahn sämtlicher Migränen«, sagte Dr. Foss. Dr. Godelinskij richtete sich wieder auf und sagte, bleich und zittrig: »Ich überlege mir ...« »Das kann nicht möglich sein«, sagte Lepikow. »Woher sollte der Verrückte etwas von diesem Ort wissen, von dem, was wir hier tun?« fragte Danzas. Hupp erhob sich und trat neben Becketts Stuhl. Beide schauten die Godelinskij intensiv an. Beckett hob ihren linken Arm hoch und maß ihren Puls. »Hundertzehn«, sagte er. »Waren unsere Spekulationen vielleicht zwecklos?« fragte Danzas. »Ist der Verrückte vielleicht mitten unter uns?« Hupp fragte erschrocken zurück: »Unter uns!« »Aber nicht doch«, sagte Danzas. »Nicht einer von uns, sondern jemand, mit dem wir Kontakt haben.« »Also erst bringen wir mal die Frauen in die Krankenstation«, sagte Beckett. Ihn überkam ein leises Angstgefühl, was seine eigene Familie betraf. Er war bislang überzeugt gewesen, daß sie in dem Seehäuschen, das seiner Familie gehörte, droben in Nordmichigan in Sicherheit und abgeschirmt sein würde. ALTER MANN: Was weißt du schon von meinem Gram? Du bist ein junger Spund, hast nie noch eine Frau gehabt! JUNGER MANN: Und du bist ein winselnder alter Hund! So Leute wie du rauben mir alle Lebenshoffnung. Du glaubst, ich spüre nicht den Schmerz, wenn etwas fortgenommen ist, weil ich es noch nicht aus PESTZEIT, einem irischen Drama Auf dem Flug nach Paris überdachte John sorgsam alles, was er getan hatte (und noch zu tun gedachte), um seine Spuren zu verwischen. Die Maschine war eine Boeing 727, und sie war einer jener >kosmetischen Operationen unterzogen
140 worden, mit der Fluggesellschaften soviel Reklame machen: glatte Ledersessel in der Ersten Klasse, Spezialservice, eine exquisite Weinkarte, vorzügliche Speisenauswahl. Auf dem Platz neben John hockte ein klobiger israelischer Geschäftsmann, der sich damit brüstete, daß er sich >koschere< Gerichte bestellt habe. John ging nicht darauf ein, sondern schaute durch das Fenster neben seinem Sitz auf die Wolkendecke hinaus, die über dem Atlantik lag. Der Israeli zuckte die Achseln, holte seinen Aktenkoffer herauf und zog einen Wust von Papieren hervor, mit denen er sich eifrig beschäftigte. John warf einen Blick auf die Armbanduhr und rechnete sich die Zeitdifferenz zu Seattle aus. Inzwischen würden wohl Beamte von der kriminologisch-technischen Abteilung in den Aschenhaufen des Hauses in Ballard herumstochern. Sie würden natürlich sofort Brandstiftung argwöhnen. Ein alles verzehrender Feuerschwall Thermitkettenzündungen, Phosphor, der aus dem Wasserschutzmantel austrat, explodierende Flaschen mit Äther-Ammoniumhydroxid. Natürlich würden die Kriminalbeamten nach menschlichen Überresten suchen, aber die Hitze dieses Feuers konnten nicht einmal Knochen überdauern. Also würde es keinen überraschen, wenn sie zu dem Schluß kämen, daß >John McCarthy - der Erfinder* bei einem seiner sich zufällig entzündenden >Experimente< den Tod gefunden habe. Die übergroße Hitze sollte ausreichen. Und die Beamten würden wahrscheinlich das Beweismaterial durcheinanderbringen, das sie später dann brauchen würden. Doch dann würde es zu spät sein, die Aschenhaufen würden hoffnungslos durcheinandergemischt sein. Unter der Armbanduhr juckte ihm die Haut. Er streifte die Uhr ab, kratzte sich und betrachtete die Rückseite seiner Uhr. Die Gravur dort war altmeisterlich verschnörkelt: >J. G. O. D. < - John Garrett O'Day oder John Garrech O'Donnell. Der O'Day-Paß ruhte in der Brusttasche über seinem Herzen. Der O'Donnell-Paß lag mit den Reserveausweisen in dem Geheimfach der Flugtasche unter dem Sitz vor ihm. Er streifte 141 die Uhr wieder über. Diese Gravur stellte zwar nur ein kleines, aber, wie er glaubte, gutes Detail zum Beweis seiner neuen Identität dar. In der Brieftasche trug er den angemessenen Identitätsbeweis für Mr. O'Day. Die Sozialversicherungskarte war am leichtesten von allen Dokumenten zu fälschen gewesen. Und bevor sie zu einem zusammengeschmolzenen Metallstück geworden war, hatte die kleine Letternpresse im Keller in dem Haus in Ballard ein Sortiment von verschiedenen Visitenkarten und Briefköpfen produziert. Sein Scheckbuch war echt und stammte von der First National Bank in Seattle, die Anschrift war die einer seiner Basen. Nicht viel Geld auf dem Konto, doch genug, die Validität zu garantieren. In der Tasche zu seinen Füßen steckten Briefe von erfundenen Freunden und Geschäftspartnern, sämtliche mit der Adresse seiner >Basis< und mit exakt abgestempelten Briefmarken versehen. Alles stimmte völlig mit den Angaben in seinem Paß überein. John Garrett O'Day konnte jeder flüchtigen Überprüfung standhalten. Aber er rechnete eigentlich gar nicht mit solch einem Ereignis. Neben den Pässen in der Flugtasche lag der Fälscherpack, und da steckten auch 238000 US-Dollar in bar. Ferner hatte er 20000 Dollar in Traveller-Schecks (in Scheckhefte von je 5000 Dollar aufgeteilt) in einem Lederbeutel um den Bauch verstaut. In seiner Brieftasche befanden sich 2016 Dollar und 2100 französische Francs, saubere, frischknisternde Scheine vom Deak Perera-Schalter am Flughafen Seattle. Dieses Geld bezeichnete er bei sich selbst als > einsatzbereite Energie< zur Vollendung von O'Neills Rache. Im Charles de Gaulle Airport glitt er durch die ziemlich altmodischen Plastikgänge zur Gepäckausgabe, nahm seinen zweiten Koffer in Empfang und schritt munter unter dem Schild >Nichts zu verzollen< in den dämmrigen Spätnachmittag hinaus. Unter dem Betonvordach über den Haltespuren für Taxen und Busse hing dicke dieselgeschwängerte Luft. Die Motorengeräusche waren laut und mißtönend. Eine dunkle, mittelmeerisch wirkende Frau mit teigigem Gesicht 142 und dicken Lippen stand zwischen Bergen von Einkaufstaschen und zerbeulten Koffern vor ihm in der Schlange am Taxenstand und kreischte in schrillem Italienisch zwei weibliche Teenager an, die offensichtlich keine Lust hatten, hier zu warten, und sie anmaulten. Ihre Stimme nervte John. Sein Kopf fühlte sich wie voller Watte an, er dachte wie in Zeitlupe. Er führte das auf den schnellen Wechsel zwischen den Zeitzonen zurück. Sein Tagesrhythmus war gestört. Er fühlte sich regelrecht erleichtert, als die Italienerin mit ihren Töchtern endlich in ein Taxi kletterte und davonfuhr. Noch besser wurde es, als er selbst in sein Taxi steigen und sich gegen den kühlen Sitz zurücklehnen konnte. Der Wagen war ein schimmernd blauer Mercedes-Diesel, der Fahrer ein dünner Mann mit scharfen Zügen in einer schwarzen Nylonjacke mit einem Riß an der rechten Schulter, aus dem weißes Futter hervorlugte. »Hotel Normandie«, sagte John und schloß die Augen. Er spürte einen Schmerz im Magen und dachte: Ich habe Hunger. Im Hotel würde es Zimmerservice geben. Und ein Bett. Und Schlaf, das war es, was er jetzt brauchte. Er schlief nicht direkt ein während der Taxifahrt, aber er hielt die Augen fast die ganze Fahrt über geschlossen. Im Hintergrund seiner Augen gab es so etwas wie die allgemeine Wahrnehmung der raschen Fahrt über die Autoroute. Hin und wieder drang das schwere Brummen eines Lastwagens in sein Dösen. Der Fahrer stieß
mehrere halblaute Flüche aus. Einmal drang das gellende Blöken einer hochtonigen Hupe in sein Bewußtsein. Und er merkte es, als sie von der Peripheriaue abbogen und durch die Straßen von Paris fuhren: es gab einen veränderten Fahrrhythmus, mehr Stops und neue Starts. Es war fast ganz dunkel, als sie am Hotel anlangten, und es hatte zu regnen begonnen, ein leichtes Nieseln. Er bezahlte das Taxi und gab ein großzügiges Trinkgeld, das ihm ein knurriges »Merci, M'sieur« einbrachte. Es kam kein Gepäckträger. John nahm seine Sachen und drängte sich durch die zwei gläsernen Schwingtüren, wo ihm eilends ein älterer 143 Mann in brauner Hoteluniform mit roten Biesen entgegenkam, der ihm das Gepäck abnahm und ihn englisch begrüßte. »Welcome, Sir. Welcome.« Im Foyer stank es stechend nach Insektiziden. In seinem Zimmer legte er sich Kleidung zum Wechseln für den nächsten Morgen bereit. Dann drückte John die Hand auf den Bauch. Druckempfindlich, fühlte sich hart und geschwollen an. Ich habe nicht die Zeit, krank zu werden! Das Zimmer war deprimierend, viel zu warm, und es roch nach Moder. Er zog die Rolläden vor die zwei hohen Fenster, die auf die Avenue Saint Honore hinausgingen, und betrachtete sein neues Quartier: ein düsteres grüngraues Blumenmuster auf der Tapete. Draußen konnte er den betagten Aufzug knarren und metallisch klicken hören. Der Raum war nicht einmal rechtwinklig; er war ein Trapezoid mit einem Doppelbett am längeren Ende. Von der schmaleren Wand ging die Tür zu dem winzigen Badezimmer, aber man mußte um einen schweren Sekretär herumgehen, um dorthin zu gelangen. Als Kleiderschrank diente eine riesige Scheußlichkeit aus dunklem Holz neben dem Bett: Schubladen in der Mitte, Hängemöglichkeiten für Kleidung zu beiden Seiten hinter knarrenden Türen. Das unterste Schubfach ließ sich ganz herausziehen, und er entdeckte einen schmalen Hohlraum darunter. Er deponierte seine Brieftasche, den Paß und die Reiseschecks dort und schob die Lade wieder ordentlich zu. Und jetzt werde ich mir vom Zimmerkellner ein bißchen Suppe bringen lassen. Bei dem Gedanken spürte er, wie ihm die Magensäure in die Kehle stieg, und er schaffte es gerade noch ins Bad, wo er sich in die Toilette erbrach. Er sank neben dem Becken auf die Knie, umklammerte mit einer Hand das Waschbecken, und sein Magen würgte stoßweise. Verdammt! Verdammt! Verdammt! Im Hinterkopf lauerte eine Furcht, er könne vielleicht einen >Ausreißer< in seinem Labor aufgeschnappt haben, einen zu144 fälligen Ableger seiner musterhaft maßgeschneiderten Pest, etwas, das er im Rausch des Erfolges übersehen hatte. Dann zog er sich wieder auf die Beine, wusch sich das Gesicht über dem Becken und drückte die Toilettenspülung. Vor Schwäche zitterten ihm die Beine. Er taumelte aus dem Bad und warf sich mit dem Gesicht nach unten auf das Bett. Der Überwurf roch nach scharfer Seife, und seine Nase versank in den Gestank seines eigenen Erbrochenen. Ob ich einen Doktor holen lasse? Im American Hospital hatten sie sicher einen zuverlässigen Arzt. Aber ein Arzt würde sich auch mit größter Wahrscheinlichkeit später an ihn erinnern. Und ein Arzt würde ihm Antibiotika verordnen. Und nun dachte John darüber nach, warum er seine Pest so gezüchtet hatte, daß sie Antibiotika als Nährboden brauchte. Aber wenn es wirklich ein Ausreißer aus dem Labor ist? Mit schierer Willenskraft stand er auf, verstaute seinen kostbaren Bordkoffer auf dem Boden des Kleiderschranks und verschloß die kreischende Tür. Einen Augenblick lang blieb er gegen das kühlende Holz gelehnt stehen, um seine Kräfte zu sammeln. Dann stieß er sich vom Schrank ab, fiel auf das Bett zurück und zog kraftlos ein Stück der Überdecke über sich. Am Kopfende gab es einen Lichtschalter. Beim dritten Versuch erreichte er ihn. Wohliges Dunkel erfüllte den Raum. »Nicht jetzt«, flüsterte er vor sich hin. »Nicht schon jetzt!« Er spürte nicht, daß er einschlief, doch als er die Augen wieder öffnete, drang Tageslicht an den Kanten der Fensterdraperien vorbei ins Zimmer. Er versuchte sich aufzusetzen, aber seine Muskeln wollten ihm nicht gehorchen. Panik durchflutete ihn. Sein Körper fühlte sich kalt an und war dennoch schweißgebadet. Er konzentrierte alle seine Willenskraft, und es gelang ihm, eine Hand auszustrecken und das Telefon zu ertasten. Die Zentrale schickte ihm, in der Annahme, er wolle das Zimmermädchen, eine Spanierin herauf, eine dralle ältere Person mit gefärbten grauen Haaren und mächtigen Armen, die die engen Ärmel fast zu sprengen drohten. 145 Sie benutzte ihren Passepartout, kam ins Zimmer geschossen, verzog die Nase, als sie den penetranten Gestank von Erbrochenem wahrnahm, bemerkte dann John und sein bleiches krankes Gesicht über der zerknautschten Tagesdecke, und sagte in stark akzentgefärbtem Englisch. »Sie wollen Doktor, no? Senor?« Zwischen jedem einzelnen Wort nach Luft ringend, brachte John hervor: »Nein ... die ... sind ... zu ... teuer.« »Alles teuer!« stimmte sie ihm zu und trat neben seinen Kopf. Sie legte ihm eine kühle Hand auf die Stirn. »Sie haben das Fieber, Senor, no? Kommt von schrecklichen französischen Soßen. Schlecht für Magen, s*7 Sie sollen
sich fernhalten von reiche Essen. Ich bringe Ihnen etwas, no? Dann sehen wir, wie Sie fühlen in eine kleine Weile, no?« Sie betätschelte ihm leicht die Schulter. »Und ich bin nicht so teuer wie Doktor, si!« Er nahm nicht wahr, daß sie wieder ging, aber dann stand sie auf einmal wieder an seinem Bett und hielt ihm etwas heiß Dampfendes in einer Tasse hin. Er roch Hühnersuppe. »Bißchen Brühe für Magen, no«, sagte die Frau und half ihm, sich aufzusetzen. Die Brühe verbrannte ihm die wunde Zunge, wirkte aber, sobald sie im Magen angelangt war, beruhigend auf die Magenschleimhaut. Er trank die Tasse fast ganz aus, ehe er wieder in die Kissen zurücksank, die das spanische Zimmermädchen für ihn aufgeschüttelt hatte. »Ich bin Consuela«, sagte die Frau. »Ich zurückkomme, wenn mit anderen Zimmern fertig. Ihnen dann geht besser, no? Wir Sie dann stecken richtig in Bett, si.'« Consuela kam später mit noch mehr Brühe wieder, weckte ihn und half ihm, die Beine auf den Boden zu setzen. Sie mußte ihn dabei stützen. »Sie jetzt trinken«, sagte sie. Sie hielt seine Hand mit der Tasse fest und zwang ihn, alles auszutrinken. »Sie schon besser, no?« sagte sie, aber er fühlte sich nicht im geringsten besser. »Wie spät ist es?« fragte er. 146 »Es ist Zeit, Bett zu machen und Sie in Schlafanzug zu stecken«, sagte sie. Sie holte vom Korridor einen Stuhl, zwängte ihn zwischen Schrank und Bett und hob ihn auf den Stuhl, wo er sitzenblieb, während sie das Bett richtete und die Decke zurückschlug. Mein Gott, ist das Weib stark, dachte er. »Sie sind anständiger Mann, no?« sagte sie, vor ihm aufgepflanzt, die dicken Arme in den Hüften abgestemmt. »Wir nur ziehen aus bis auf Unterkleidung, si?« Sie gluckste. »Nicht haben rot im Gesicht, Senor! Ich hab begrab' zwei Gemahle.« Und sie bekreuzigte sich. Zu keinem Widerstand und kaum zu einem Kommentar fähig, ließ John alles mit sich geschehen, während Consuela ihm die Sachen auszog und ihn fast ins Bett hob. Die Laken fühlten sich frisch auf der Haut an. Sie ließ die Jalousien geschlossen, aber er konnte noch immer Tageslicht an den Kanten sehen. »Wie ... spät ... ist ... es?« krächzte er. »Ah, Zeit für Consuela, noch viel, viel andere Arbeit zu machen. Ich komme wieder, bringen mehr Suppe, no? Sie schon hungrig, eh?« »Nein.« Er schüttelte schwach den Kopf. Ein breites Grinsen erleuchtete ihr Gesicht. »Sie glücklicher Mann für Consuela, no? Ich sprechen gute Ingliss, no?« Es gelang ihm zu nicken. »Sehr glückliche Sach. Weil in Madrid, ich bin die Mädchen für Americanos. Mein erster Mann, er ist Mexicano aus Chicago in Estados Unitas. Er mich gelernt.« »Dank«, war alles, was er hervorbrachte. »Gracias a Diös«, sagte sie und ging aus dem Zimmer. Dann schlief John. Im Schlaf quälten ihn Alpträume, in denen Mary und die Zwillinge eine Rolle spielten. »Bitte, hört doch auf mit den O'Neillträumen!« murmelte er. Er wälzte und warf sich im Bett herum, aber er konnte die O'NeillErinnerungen nicht loswerden ... wie Mary vor Freude über ein Weihnachtsgeschenk strahlte. 147 »Sie war so glücklich«, flüsterte er. »Wer dann so glücklich?« Consuela stand an seinem Bett. Hinter den Fenstervorhängen war es finster. Er roch Hühnersuppe. Ein muskelbepackter Arm glitt unter seinen Rücken und wuchtete ihn hoch. Mit dem anderen Arm hielt sie ihm die Brühe so hin, daß er trinken konnte. Die Suppe war nur noch lauwarm, aber sie schmeckte sogar noch besser als beim erstenmal. Er hörte das Porzellan klirren, als sie die Tasse neben dem Telefon auf das Tischchen setzte. »Escusado«, sagte sie und schnippte mit den Fingern. »Der Bad! Sie jetzt wollen in Bad?« Er nickte. Sie mußte ihn halb ins Badezimmer tragen und ließ ihn dort allein, gegen das Waschbecken gelehnt. »Ich warte vor Tür, no?« sagte sie. »Sie rufen, sf?« Dann, als sie ihn wieder in sein frisch gemachtes Bett gepackt hatte, fragte er: »Welchen Tag ...?« »Whitch day to-day? Es ist der Tag, nachdem Sie sind hier hergekommen, Senor O'Day. Es istze day, wo O'Day sich fühlt besser, no?« Ihr Wortspiel ließ sie breit und fröhlich grinsen. Er aber konnte nur mit einem leichten Lippenzucken reagieren. »Sie noch immer nicht wollen teuren Doktor, Senor?« Er bewegte den Kopf von links nach rechts. »Wir sehen morgen«, sagte sie. Ehe sie die Tür hinter sich schloß, rief sie ihm fröhlich »Hasta manana!« zu. Daß es Morgen war, konnte er nur an Consuelas Rückkehr ablesen. Diesmal brachte sie ihm zusätzlich zu der Hühnerbrühe noch ein Schüsselchen mit Eierstich. Wieder stopfte sie ihm die Kissen im Rücken zurecht, und dann steckte sie ihm löffelweise das Ei in den Mund, wischte ihm das Kinn wie einem Säugling, und dann ließ sie ihn die Brühe trinken. John glaubte, sich etwas kräftiger zu fühlen, aber sein Kopf war immer noch wie mit Watte ausgestopft, und
dann war da auch noch diese Unfähigkeit, die ihn fast wahnsinnig machte, Tag oder Tagesstunde festzustellen. Und Consuela frustrierte 148 ihn auch noch, indem sie auf seine Fragen mit Blödeleien antwortete. »Es ist ze day, wo O'Day ißt zwei Eie am Morgen.« »Es ist ze day, wo O'Day bekommt Brot und Fleisch zu Abend.« Es ist ze day, wo O'Day ißt Eiskrem mit sua comida ...« »... day O'day ... day O'Day ...« Das fröhliche Gesicht Consuelas wurde zu einem täglichen berechenbaren, wenn auch verschwommenen Eindruck. Trotzdem, John spürte, daß er wieder zu Kräften kam. An irgendeinem Tag badete er. Er brauchte jetzt schon keine Hilfe mehr, um ins Badezimmer zu gelangen. Als Consuela das Frühstücksgeschirr wegnahm und ging, hob er den Telefonhörer ab und verlangte den Hotelmanager zu sprechen. Die Telefonistin sagte, sie werde ihn immediatement mit Monsieur Deplais verbinden. Und Deplais meldete sich tatsächlich knapp zwei Minuten danach und redete mit einem demonstrativ britischen Akzent. »Ah, Mr. O'Day. Ich wollte mich ja eigentlich bereits mit Ihnen in Verbindung setzen wegen der Rechnung. Normalerweise bestehen wir auf wöchentlicher Begleichung, und es sind inzwischen neun Tage ... - aber natürlich, unter den gegebenen Umständen ...« Der Mann räusperte sich. »Wenn Sie so freundlich sein wollen, jemanden heraufzuschicken, werde ich gern die erforderlichen TravellerSchecks ausschreiben«, sagte John. »Aber sofort, Sir! Ich erlaube mir, die Rechnung selbst zu Ihnen hinaufzubringen.« John zerrte eines seiner Reisescheckhefte aus dem Versteck unter der untersten Schublade und saß wartend im Bett, als Deplais an der Tür klopfte. »Girard Deplais zu Ihren Diensten, Sir.« Der Manager war ein hochgewachsener grauhaariger Mensch mit angenehm ebenmäßigen Gesichtszügen, einem breiten Lächeln, das Pferdezähne zum Vorschein brachte. Er präsentierte die Rechnung auf einem kleinen schwarzen Tablett, ein Kugelschreiber lag säuberlich-diskret daneben. 149 John schrieb zehn Schecks aus und bat, man solle ihm die Restsumme heraufbringen. »Für Consuela«, sagte er als Erklärung. »Ah! Ein Juwel unter dem Dienstpersonal!« rief Deplais. »Ich, für meine Person, ich würde natürlich einen Doktor konsultiert haben, mais - Ende gut, alles gut. Ich darf doch sagen, Sir, daß sie bei weitem besser aussehen?« »Also haben Sie bei mir hereingeschaut?« fragte John. »Angesichts der - hm, Umstände, Sir ...« Deplais ergriff das Tablett und die signierten Schecks darauf. »Aber Consuela hat oft recht avec den Beschwerden von unseren Gästen. Sie ist bei uns schon eine sehr lange Zeit.« »Wenn ich mein Domizil in Frankreich hätte, Monsieur, ich würde versuchen, sie Ihnen abspenstig zu machen«, sagte John. Deplais kicherte. »Das unabänderliche Risiko im Hotelgewerbe, Sir. Wäre es zu impertinent, nach Ihren Geschäftsinteressen in Paris zu fragen?« »Ich bin Investment-Berater«, log John. Er beglückte den Hotelmanager mit einem abwägenden Blick. »Und ich bin schon längst überfällig für eine wichtige Transaktion. Da fällt mir gerade ein: Wäre es möglich, daß mir Ihr Hotel einen Leihwagen nebst englischsprechendem Chauffeur besorgt?« »Für wann, Sir?« John nahm eine hastige Überprüfung seiner versteckten körperlichen Kraftreserven vor - immer noch ziemlich geschlaucht! Aber es waren nur noch vier Tage Zeit... Achill Island ... die Briefe! Es gab noch Dinge zu erledigen, ehe er sich an den nächsten Schritt wagen konnte. Plötzlich spürte er, wie die Zeit ihn bedrängte. Er würde seine Pläne ändern müssen. Stockend holte er tief Luft. »Morgen!« »Aber ist das vernünftig, Mr. O'Day, Sir? Sicher, Sie sehen schon viel besser aus, dank der exzellenten Pflege durch Consuela, aber dennoch ...« »Es ist notwendig«, sagte John. 150 Deplais hob die Schultern demonstrativ und ließ sie wieder sinken. »Dürfte ich dann nach Ihrem Ziel fragen, Sir?« »Luxemburg. Und danach wohl zurück nach Orly. Das kann ich jetzt noch nicht sagen. Ich werden den Wagen für mehrere Tage benötigen.« »Und das alles per voiture!?« Deplais war sichtlich beeindruckt. »Orly? Sie wünschen einen Flug an einen Ort?« »Ich habe mir gedacht, wenn ich etwas mehr bei Kräften sein werde ...« »Man hört, daß die Fluglotsen schon wieder einen Streik in Aussicht stellen«, sagte Deplais. »Nun, dann werde ich mich mit dem Fahrer und dem Wagen nach England bringen lassen.« »Sooo weit!« Aus der Stimme des Managers war zu erkennen, daß er seinen Gast für einen Verschwender hielt. Wie dies wahrscheinlich das restliche Hotelpersonal, einschließlich Consuela, ebenfalls tat. Sie besonders. »Ah! Les - ricains! Er mag nicht zahlen für Doktor! Zu teuer! Aber er mietet sich Auto mit Chauffeur, der
Anglais sprechen muß, für solche Reise! Mein Americano in Madrid, er zeigt auch gleiche Art Verrücktheit! Sie wirbeln große Sturm auf wegen Pesetas, und dann kaufen televisiön so groß, daß nur tecnico ihn kann laufen lassen!« 151 Ich glaube, die Männer waren schon immer ein überwiegend begriffsstutziger, gefühlsarmer Haufen, und ihre Gefühle sind schrundig vor Narben. Sie wehren sich gegen die Empfindungsbreite und Lebensfülle, die von den Frauen auf sie zuströmt - gegen das Bindemittel, das alles zusammenhält. Wenn unsere Beschützer draußen mal die Sprechtaste angeschaltet lassen, höre ich Padraic da draußen murmeln, wen von den Männern er in seinen >Freundeskreis< aufnehmen soll, mal macht er sich Sorgen über den einen, dann über den anderen Namen, abwechselnd. Freundeskreis, ha! Sie suchen alle nur nach etwas, das uns wieder Stabilität verleiht, nach etwas, das sie fest in den Arm nimmt und sie schützend durch diese schreckliche Zeit hindurchträgt. Aus dem Tagebuch der KATE O'GASA BROWDER Völlig angezogen lag Beckett auf der spartanischen Pritsche des winzigen Privatraumes im DIC. Die Hände hatte er hinter dem Kopf verschränkt, er spürte das klumpige Kissen unter den Fingerknöcheln. Einzige Lichtquelle im Zimmer war die Leuchtuhr neben seinem Kopf: 2:33 morgens. Er stierte mit weitoffenen Augen in die Dunkelheit hinauf. Beim Schlucken spürte er den Kloß in der Kehle. Gott sei Dank, meine Familie ist noch in Sicherheit, dachte er. Spezialtruppen hatten das ganze Gebiet in Nordmichigan abgeriegelt. Wir machen es jetzt genau wie Frankreich und die Schweiz: Isolierung ... Fragmentierung ... Zersplitterung. Er wußte, wenn er jetzt die Augen schlösse, dann würden in seinem Gehirn wieder die Erinnerungsbilder auftauchen, die optischen Sequenzen vom Sterbebett der Ariane Foss. »Ich gefriere innerlich!« hatte sie sich beschwert. Immer wieder. Aber dazwischen hatte sie ihnen eine perfekte klinische Beschreibung der Symptome geliefert, sozusagen die Intimwahrnehmungen eines auf feinste medizinische Einzelheiten trainierten Gehirns. '** 152 Die Wände in dem Zimmer der Krankenstation waren hellgrün, der Boden aus irgendeinem Plastikmaterial, das von der häufigen Anwendung von Antiseptika zerschrundet war. Fenster gab es nicht, dafür ein in die Wand eingelassenes Bild mit den Gipfeln der Cascades, überwiegend in Grün- und Blautönen, vermutlich um die Illusion eines weiten Raumes jenseits des sterilen Zimmers zu beschwören. Stränge von grauisolierten Kabeln verliefen unter Dr. Foss' Bett hervor über den Kopfteil des Bettes zu einer Konsole, die die Kontakte zu einem elfenbeinfarbenen Kasten weiterleitete, in dem ein Teil des elektronischen Instrumentariums steckte, das ihre biologischen Signale überwachte. Aus einer Ampulle lief ein einziger Plastikschlauch in ihre rechte Armvene: ein steriler Tropf. Von seinem Stuhl dicht neben dem Bett aus konnte Beckett den Monitor und die Patientin gleich gut im Auge behalten. Ihre Lippen bewegten sich. Ohne Laut. Die Augen waren geschlossen. Wieder bewegten sich die Lippen. Dann: »Da war dieses merkwürdige Gefühl der Desorientierung beim ersten Anfall«, flüsterte sie. »Haben Sie das?« »Ich hab's, Ari.« »Bei Dorena auch? Was sagt sie?« Beckett zog eine Schwinglampe dichter über seinen Notizblock, den er auf den Knien hielt, und machte eine Notiz. »Joe wird uns gleich einen Bericht liefern«, sagte er. »Gleich?« flüsterte sie. »Was heißt das?« »In einer Stunde etwa.« »In einer Stunde oder so bin ich vielleicht nicht mehr da, Bill. Die Sache verläuft schnell, ich spüre das.« »Ich bitte Sie, denken Sie zurück«, sagte Beckett. »Was war Ihre allererste Wahrnehmung, die Sie auf den Gedanken gebracht hat, es könnte ein Krankheitssymptom sein?« »Heute früh sah ich einen weißen Fleck am Spann meines rechten Fußes«, sagte sie. Weiße Flecken an den Extremitäten, notierte Beckett. »Vorher nichts?« Sie öffnete die Augen. Sie wirkten glasig unter den ge153 schwollenen Lidern. Auf ihrer/ Haut lag der fahle blutleere Schein des Todes. Beinahe die Farbe des Kissenbezuges unter ihrem Kopf. Das Puppengesicht wirkte aufgeschwemmt, die Locken zerzaust und schweißnaß. »Denken Sie zurück«, bat er. Sie schloß die Augen, dann: »Aahh, nein.« »Was ist es?« Er beugte sich näher zu ihren Lippen hinab. »Das kann es nicht gewesen sein«, flüsterte sie. »Was denn?« »Vorgestern wachte ich auf und war höllisch scharf.« Er lehnte sich zurück und notierte. »Sie schreiben das auch auf?« flüsterte sie. »Die kleinste Kleinigkeit könnte wichtig sein. Und sonst?« »Ich nahm ein Bad und ... Jesus! Mein Bauch tut so weh!« Er notierte, dann fragte er weiter: »Sie haben also gebadet.« »Es war so merkwürdig. Mir kam das Wasser einfach nicht heiß genug vor. Ich dachte, das sind die verdammten Naturschützer, aber dabei dampfte das Wasser heftig und meine Haut wurde ganz rot. Fühlte mich aber trotzdem kalt.«
Sensorisches Wahrnehmungsvermögen gestört, schrieb er. »Haben Sie auch kaltes Wasser auf den Körper laufen lassen?« »Nein.« Mühsam bewegte sie den Kopf hin und her. »Aber ich war hungrig. Mein Gott, war ich hungrig. Ich aß zweimal Frühstück. Damals dachte ich, es ist bloß die ganze Aufregung und ... Sie wissen schon.« »Haben Sie Ihren Puls gemessen?« »Nein, ich glaube nicht. Kann mich nicht erinnern. Meine Güte, es beunruhigte mich, daß ich dermaßen viel fraß. Ich habe immer Angst, daß ich zuviel Gewicht bekomme. Wohin habt ihr Dorena gelegt?« »Gleich hier ein paar Türen weiter unten am Flur. Wir haben eine Schleuse mit UV-Licht und Antiseptiksprays zwischen euren Zimmern eingerichtet. Wir hielten das für eine gute Idee ... nur so für den Fall ...« »... daß eine von uns es schafft, und die andre nicht. Vernünftig gedacht. Ich glaube nicht, daß ich es schaffen werde, Bill. Was ist das für Zeug in meinem Tropf?« 154 »Nur Flüssigkeit. In ein paar Minuten werden wir es mit frischem Blut versuchen. Sie brauchen eine Stimulation der weißen Zellen.« »Also greift es das Mark an.« »Wir sind nicht sicher.« »Als ich den Fleck auf dem Spann bemerkte, Bill, ich glaube, ich habe es da sofort gewußt. Mein Bauch fühlte sich wie ein Eisklumpen an. Aber ich wollte nicht darüber nachdenken. Sie haben die Verfärbung auf Dorenas Hand bemerkt?« »Ja.« »Macht eine sehr genaue Autopsie«, sagte sie. »Versucht soviel wie möglich herauszufinden.« Sie schloß die Augen, riß sie jedoch sofort wieder auf. »War ich sehr lange bewußtlos?« »Jetzt eben?« »Aber nein! Als ihr mich hierher gebracht habt.« »Etwa eine Stunde.« »Es brach wie eine Tonne Backsteine über mich herein«, sagte sie. »Ich erinnere mich daran, wie ihr mich auf dem Bettrand abgesetzt habt, mir ins Nachthemd geholfen habt und dann - schnapp!« »Ihr Blutdruck ist ganz plötzlich abgesackt«, sagte er. »Dachte ich mir. Was ist mit den anderen Frauen im DIC? Breitet es sich aus?« »Ich fürchte, ja.« »Scheiße!« Sie schwieg kurz. »Bill, ich glaube nicht, daß euer Antiseptikschlauch von großem Nutzen sein wird. Ich ... ich glaube, die Männer sind die Krankheitsüberträger.« »Ich fürchte, Sie haben recht.« Er räusperte sich. < »Wie hoch ist das Fieber?« fragte sie. »Zunächst sehr hoch, jetzt ist es leicht erhöhte Temperatur - 38,4 Celsius.« Er warf einen Blick auf den Monitor. »Der Puls ist hundertvierzig.« »Werden Sie es mit Digitalis versuchen?« »Ich habe Lanoxin verordnet, aber wir debattieren noch darüber. Es hat Dorena nicht viel geholfen.« »Bei der Autopsie«, flüsterte sie. »Achtet auf Fibroblasten!« 155 Er nickte. »Hab 'nen Verdacht«, sagte sie. »Leber fühlt sich wie'n zerknautschter Fußball an.« Beckett machte eine Notiz. »Habt ihr Interferon versucht ... Dorena?« hauchte sie. »Ja.« »Und?« »Hätten genauso gut Wasser spritzen können.« »Fiel mir auf, daß mein Pfleger ein Mann ist«, sagte sie. »Wie schlimm geht es den anderen Frauen?« »Schlimm.« »Was unternehmt ihr?« »Wir haben die Isolationstüren geschlossen. Wir haben Glück, daß der ganze Biberbau hier darauf eingerichtet war, Schutz gegen radioaktive Verseuchung zu bieten.« »Glauben Sie, eine von den andern Frauen wird es schaffen?« »Noch zu früh, dazu was zu sagen.« »Irgend 'ne Idee, wie das Zeug hier hereinkam?« flüsterte sie. »Jeder von uns hätte es mit hereinschleppen können. Lepikow ist überzeugt, daß er es war. Er sagt, er kann sich überhaupt nicht mit seiner Familie in der Sowjetunion in Verbindung setzen.« »Danzas kommt aus der Bretagne«, flüsterte sie. »Aber er hat sich dort nicht lange aufgehalten.« »Lepikow«, sagte sie. »Der hat alle möglichen Instruktionskurse durchlaufen, ehe die ihn herüberschickten. Dr. Godelinskij hat sich darüber beklagt. Spezialisten, Gesandtschaften ...« »Lepikow glaubt, er hat eine leichte Infektion gehabt.« »Irgendwelche Symptome?« fragte sie. »Leichtes Nasentriefen, leichtes Fieber. Aber das vor fünf Tagen. Vielleicht weniger. Vielleicht dauert es ein paar Tage, bevor ein Mann zum aktiven Überträger wird.«
»Also harmlos bei Männern, letal bei Frauen«, flüsterte sie. Dann, mit kräftigerer Stimme: »Dieser Verrückte ist ein ganz 156 kranker Arsch! Glaubt man immer noch, es ist dieser O'Neill?« »Das bezweifelt keiner mehr.« »Glauben Sie - er ist auch ein Oberträger?« Beckett hob die Achseln. Es hätte zu nichts gedient, wenn er ihr über Seattle und Tacoma berichtete. Sie hatte sowieso schon genug zu schlucken. »Ich würde gern noch mal Ihre Symptome mit Ihnen durchgehen.« »Noch einmal ist möglicherweise alles, was mir an Zeit noch bleibt — uns bleibt.« »Bitte geben Sie nicht auf, Ari!« »Das sagt sich leicht für Sie.« Sie schwieg fast eine ganze Minute lang. »An dem Morgen, an dem ich mich so geil fühlte, Durchfall. Dann ziemlicher Durst. Bei Dorena auch?« »Gleiche Symptome«, sagte er. »Der Kopfschmerz. Jesus! Das war eine Weile sehr schlimm. Jetzt nicht mehr so schlimm. Irgendein Schmerzmittel in dem intravenösen Tropf?« »Noch nicht.« »Die Brustwarzen schmerzen«, sagte sie. »Habe ich Ihnen schon gesagt, Sie sollen die verdammt gründlichste Autopsie Ihres Lebens machen?« »Haben Sie.« Danzas kam auf Zehenspitzen herein und flüsterte Beckett zu: »Dorena ist soeben gestorben.« »Ich hab das gehört«, sagte Dr. Foss. »Noch ein Symptom, Bill: Verschärftes Hörvermögen. Alles wird so verflucht laut! Könntet ihr mir einen Rabbiner holen?« »Wir versuchen es«, sagte Danzas. »Ich such mir 'nen schönen Zeitpunkt aus, zu meinem ... zurückzukehren ... O verdammt! Mein beschissener Magen brennt wie Feuer!« Sie stierte an Beckett vorbei Danzas an. »Dieser Verrückte ist ein verdammter Sadist. Er muß doch wissen, was für Qualen er verursacht!« Beckett überlegte, ob er ihr sagen solle, was sie herausgefunden hatten. Daß nämlich die meisten Frauen einfach ins Koma sanken und starben, ohne vorher noch einmal zu er157 wachen. Er entschied sich dagegen. Es war sinnlos, Ariane erklären zu wollen, daß die Bemühungen, sie am Leben zu erhalten, gleichzeitig ihre Qual verlängerten. »O'Neill«, flüsterte sie. »Ich frag mich, ob seine Frau irgendwas gespürt ...« Sie schloß die Augen und schwieg. Beckett legte ihr die Finger auf die Halsschlagader. Er nickte zu dem Monitor über dem Bett hinauf: Blutdruck sechzig zu dreißig. Puls fallend. »Jedes Antibiotikum, das wir bei Dorena versucht haben, hat ihren Zustand nur verschlechtert«, sagte Danzas. »Aber vielleicht sollten wir irgendeine Chemo ...« »Nein!« Die Stimme von Dr. Foss klang erstaunlich laut und grell. »Wir hatten beschlossen ... Beschuß für Dorena ... für mich nichts!« Sie starrte Beckett mit glasigen Augen an. »Sagen Sie bitte meinem Mann nichts ... über die Schmerzen.« Beckett schluckte an einem Klumpen im Hals vorbei. »Ich verspreche es.« »Sagen Sie ihm, es war ganz leicht ... ganz still.« »Wollen Sie Morphium?« fragte Beckett. »Mit Morphium kann ich nicht denken. Wenn ich nicht denke, kann ich euch nicht sagen, was mit mir passiert.« Ein Krankenpfleger in blauem Militärdreß mit weißer Jacke kam ins Zimmer. Ein junger Mann mit flachem, verkniffenem Gesicht. Auf dem Namensschildchen stand >Diggins<. Furchtsam starrte er den reglosen Körper Dr. Foss' an. Beckett schaute zu ihm auf. »Passende Blutgruppe mit geringem Infektionsgrad gefunden?« »Jawohl, Sir. Chronische Blaseninfektion. Ist bereits auf Baktrim gesetzt.« »Leukozählung?« fragte Beckett. »Dr. Hupp sagte, sie reichen. Ich hab die genauen Zahlen nicht.« »Dann schaffen Sie ihn hier rüber! Er hat sich ja bloß bereiterklärt, Blut zu spenden.« Diggins blieb in Habachtstellung. »Stimmt es, Sir, daß wir 158 alle, ich meine, wir Männer, das übertragen? Alle Männer hier drunten?« »Es ist wahrscheinlich«, sagte Beckett. »Und dieser Blutspender, Diggins?« »Verzeihung, Sir. Aber da draußen kriegen wir 'ne Menge Fragen gestellt... wo die Türen abgeschottet sind und all das.« »Wir werden es einfach durchstehen müssen, Diggins! Und würden Sie jetzt bitte den Blutspender herbringen?« Diggins zögerte, dann murmelte er: »Ich will sehen, was ich tun kann, Sir.« Diggins machte auf dem Absatz kehrt und ging hinaus. »Disziplin ist zum Teufel, was?« sagte Dr. Foss. Beckett schaute auf den Monitor. Puls dreiundachtzig, Blutdruck fünfzig zu fünfundzwanzig.
»Wie liegt mein Blutdruck?« fragte Dr. Foss. Beckett sagte es ihr. »Dachte ich mir. Ich habe Atembeschwerden. Mir ist kalt. Zittern meine Füße?« Beckett legte ihr die Hand auf den rechten Fuß. »Nein.« »Fühlt sich aber so an. Wissen Sie, Bill, ich habe mir da etwas bewußtgemacht. Ich habe keine Angst vor dem Tod. Aber ich habe eine Scheißangst vor dem Sterben!« Sie verstummte, dann sagte sie schwach: »Vergessen Sie's nicht, Kollege ... die verdammt beste Autopsie ...« Als sie nicht weitersprach, schaute Beckett zum Monitor hinauf. Er spürte unter seinen Fingern, wie ihr Puls immer langsamer wurde. Der Monitor gab zehn Schläge pro Minute an, fallend. Der Blutdruck sackte rapide weiter ab. Und während er noch auf den Monitor starrte, spürte er, daß der Puls unter seinen Fingern abbrach. Der Monitor stieß ein scharfes nicht enden wollendes elektronisches Schrillen aus. Danzas trat um das Bett herum und schaltete das Gerät ab. In der abrupten Stille zog Beckett die Hand von Dr. Foss' Hals fort. Tränen liefen ihm über die Wangen. »Verdammt soll er sein! Verdammt! Verdammt!« murmelte er in sich hinein. 159 »Sie bereiten alles für die Autopsie im OP vor!« sagte Danzas. »Ach, hau doch ab, du geschniegeltes französisches Arschloch!« brüllte Beckett. Ich habe stets einen gelassen Abscheu gegenüber Wirtschaftspolitikern empfunden, seit ich einen von ihnen einmal sagen hörte, er fürchte, die Hungersnot des Jahres 1848 in Irland habe nicht mehr als eine Million Menschen getötet und daß dies kaum ausgereicht habe, viel Positives zu bewirken. BENJAMIN JOWETT Direktor am Balliol College, Oxford Aber, Mister President«, sagte der Generalsekretär, »es muß sich doch irgendwie ein Weg finden lassen, die Reste Ihres DIC-Teams zu retten. Sie scheinen sich doch so bemerkenswert gut zu ergänzen.« Der UNO-Generalsekretär, Hüls Anders Bergen, war Norweger, aber in England aufgewachsen. Mit dem Mann vor ihm auf dem Fernsehschirm hatte er früher einmal eine Reihe von Golf runden gespielt, und bei diesen Anlässen waren sie füreinander >Hab< und >Adam< gewesen. Doch nun saß Adam Prescott fest im Sattel und war Präsident der Vereinigten Staaten. In seiner Stimme war nichts von Kameradschaft zu verspüren. Was beunruhigt ihn bloß, außer dem, was ganz offensichtlich klar ist? fragte Bergen sich. Es mußte etwas sein, was Prescott ihm nicht ohne gewundene Einleitungsfloskeln sagen wollte. Er hatte fast den Eindruck, daß der Präsident unzusammenhängendes Zeug quasselte. Warum redete er über mögliche Prozeduren zur Sterilisierung von seuchenbefallenen Gebieten und brachte im selben Atemzug die Tragödie im Denver-Zentrum zur Sprache? Die Notmaßnahmen waren ausgearbeitet und von allen Beteiligten akzeptiert worden. Gab es etwa neue Kostenfaktoren? 160 »Ich stimme Ihnen zu, Sir, daß die wirtschaftlichen Realitäten vorrangig Beachtung verdienen«, sagte Bergen. Dann hörte er zu, während Prescott sein Gambit spielte. Die Kosten, obgleich inzwischen tausendmal höher als für irgendeine Katastrophe in der Geschichte der Menschheit, waren offenbar nur ein Teil der Sorgen, die den Präsidenten unmittelbar drückten. Denkt er vielleicht daran, den Denverkomplex zu sterilisieren? fragte sich Bergen. Der Gedanke bewirkte, daß seine Hand mit dem Hörer an seinem Ohr zitterte. Bergen, der sich nicht scheute, direkt zu fragen, wenn dies von ihm verlangt wurde, warf seine Frage direkt ins Gespräch. »Die Gebäude, nicht die Menschen«, erklärte Prescott. Bergen stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Es gab überall schon zu viele Tote. Andererseits bedeutete das jedoch, daß den Gerüchten über eine Colorado Plague Reservation, ein abgeschlossenes Pestschutzgebiet in Colorado, Tatsachen zugrunde lagen. Dort sollten von der Pest infizierte Männer in Isolation gehalten werden. Aber warum konnte man dann nicht auch das DIC-Team dorthin schicken? »Würde das Team ohne die Einrichtungen im DIC vernünftig arbeiten können?« fragte Bergen. Prescott hielt das für nicht wahrscheinlich. Bergen wog diesen Faktor für sich ab. Es war klar, Prescott und seine Militärberater brauchten die militärischen Einrichtungen im Denver-Zentrum. Man konnte den DIC-Komplex dort keimfrei machen und ihn erneut für militärische Aufgaben verwenden. Was aber würde dann aus dem Team? »Sie haben uns viele Tage Zeit erspart, indem sie entdeckten, auf welchem Weg die Seuche sich ausbreitet«, sagte Bergen. »Und jetzt, wo wir mit Sicherheit wissen, daß es O'Neill war, könnten doch sicher die vier Männer ...« Der Präsident unterbrach ihn. Er wolle solch brillante Köpfe nicht isolieren. Aber was würde mit ihnen werden, 161 wenn man das DIC in Flammen aufgehen ließ? Im Colorado-Reservat gab es keine vergleichbaren wissenschaftlichen Einrichtungen. Von einer plötzlichen Ahnung befallen, fragte Bergen: »Sollen sie vielleicht in das neue Zentrum in England geschickt werden?«
Der Präsident strömte sofort über von Lob und Preis für diesen exzellenten Vorschlag. Nur ein Genie könne auf so etwas kommen. Bergen nahm den Hörer des roten Telefons vom Ohr und starrte ihn an, dann legte er ihn wieder an die Ohrmuschel. Da quoll noch immer ein Bach von Lob heraus. Er starrte durch den Raum auf das Wandpaneel, die dunkle Holztür. Sein Schreibtischsessel war vom Allerbesten, was dänische Designer hervorgebracht hatten, und er ließ sich, den Hörer fest ans Ohr gedrückt, zurücksinken. Jedes Kind wäre auf die Idee gekommen, diese Männer nach England zu schicken, aber Bergen sah allmählich, vor welchem politischen Problem I der Präsident stand. Wenn die vier infizierten Mitglieder des DIC-Teams mit dem Flugzeug reisten, konnten sie eventuell über einem noch seuchenfreien Gebiet abstürzen. Und das würde für die Absturzstelle die Aktion >Panikfeuer< bedeuten. Bergen warf die Frage auf und lauschte auf eventuelle leise Hinweise in Prescotts Antwort. Ja, es sei doch zu schlimm, daß die Presse und die Öffentlichkeit die offizielle Bezeichnung >Neufeuer< einfach nicht übernehmen wollten. Die Wörter Panik und Feuer hätten ja leider als Verbindung so schädliche Assoziationspotenzen. Aber es sollte noch mehr zutage treten. Selbst wenn ein keimfrei versiegeltes Flugzeug nicht abstürzen sollte, so würde doch möglicherweise jeder neue Ausbruch der Seuche auf dem Flugweg zu starken Befürchtungen führen, daß die Insassen die Verbreiter der Infektion sein könnten, daß das Virus irgendwie entwischt sein könnte und noch mehr unschuldige Opfer überfallen habe. Dann würden die Volksaufwiegler triumphieren, und es gehe ein162 fach nicht an, sie und die fanatischen Randgruppen mit noch mehr Munition zu versorgen. »Ich glaube, die Franzosen könnten sich Bereiterklären, eine Eskorte von Kampfflugzeugen zur Verfügung zu stellen«, sagte Bergen. Er schaute auf die Tür zu seinem Vorzimmer, während Prescott ihn erneut mit Lob überschüttete. Der französische Botschafter wartete dort draußen geduldig in einer Gruppe anderer, um mit ihm zu Mittag zu essen. Ein, zwei Sätze unter vier Augen, vielleicht? »Mr. Präsident, Sie sind mehr als großzügig«, sagte Bergen mitten in den neuen Sturzbach von Schmeicheleien hinein. »Können Sie Freiwillige für die Besatzung der Maschine finden?« Wieder hörte der Generalsekretär zu. Was für ein sagenhafter Glückszufall es doch sei, daß Dr. Beckett vom Team ausgebildeter Pilot sei - Reserveoffizier der Air Force noch dazu! Und die Information lag sozusagen vor Prescotts Nase? Wie gutinformiert der Mann war! Und eine Langstreckenmaschine konnte jederzeit bereitgestellt werden. Die vier Männer würden selbst zum Flugplatz fahren. Sie würden starten, ihre Eskorte mitnehmen - und ihr Auto und die Umgebung würden in einem Panikfeuer-Bad >gereinigt< werden. Oh, da gebe es noch etwas. Ob es dem Generalsekretär vielleicht möglich sein könnte, irgendwie zu arrangieren, daß diese vier Männer im Forschungszentrum in England Positionen >von nützlicher Wichtigkeit zugeteilt bekommen würden? Von nützlicher Wichtigkeit? überlegte Bergen. Er entschloß sich zu einem kleinen Angelversuch. »Ist es wirklich der vernünftigste Entschluß, sie nach England zu schicken? Dieses Labor da in Irland, am Killaloe klingt doch sehr vielversprechend, besonders angesichts der ganzen technischen Einrichtung, die Sie zur Verfügung stellen.« »Aber Sie selbst haben doch England vorgeschlagen«, maulte der Präsident. »Ich habe demzufolge natürlich angenommen, da dies Ihr erster Vorschlag war, daß das britische Forschungszentrum weit überlegen sein muß.« 163 »Für England stimmt das«, gab Bergen zu. Und jetzt war ihm alles ziemlich klar. Sollte etwas an der Geschichte schieflaufen, dann war es die Idee des Generalsekretärs der Vereinten Nationen gewesen. Schließlich war es ja auch Bergen gewesen, der die grundsätzlichen Arrangements vorbereitet und dann das ganze Projekt durchgezogen hatte. Doch das rote Telefon hatte noch mehr Kleinkram zu enthüllen. Prescott mußte unbedingt seine Meinung über O'Neill loswerden. Bergen hörte zu und schaute dabei immer wieder auf die Armbanduhr. Sein Hungergefühl wurde immer stärker. Plötzlich schob er das Kinn vor, er war bestürzt. »Man glaubt, daß O'Neill sich in England aufhält?« fragte der Generalsekretär der UNO. »Wie kommen die darauf?« Und wie Prescott es ihm erklärte, schien das Ganze von einer erschreckenden Logik zu sein. Falls man den Verrückten aufspüren sollte, könnten die Opfer befürchten, daß dieser eine vielleicht noch schrecklichere Pest auf sie loslassen könnte. Schließlich hatte O'Neill gerade damit in einem seiner Briefe gedroht, und ohne gesicherte Kenntnis auf dem Gebiet würde keiner sich die Annahme erlauben dürfen, daß der Mann bluffte. »Aber warum nicht Irland?« fragte Bergen. Ah, aber ja doch. O'Neills Gesicht sei ein paar Leuten in Irland bekannt, und selbst wenn er in Verkleidung auftreten sollte ... also, diese Psychologentypen seien jedenfalls der Überzeugung, daß die Iren mehr als andere Völker zu kopfloser Rache neigten. Und das würde doch O'Neill sicher in Erwägung gezogen haben. Aber es sei logisch, daß er sich in einem anglophonen Land verstecken wolle, wo man ihn kaum kannte und wo er leichter im allgemeinen Background untertauchen konnte. Und da bot sich England an, Chaos und Durcheinander bis zu einem gewissen Maß. Außerdem sei England eines seiner Zielgebiete, und er hatte den >Nichtbetroffenen< ausdrücklich verboten, dort die atomare Sterilisation einzusetzen. Auf eine schreckliche Weise ergab das einen Sinn. Aber, 164
sofern es zutraf, es enthüllte auch die Funktionsmechanismen eines Gehirns, das fähig war, ein Problem wie mit einem Schwerthieb zu lösen. Bergen war sich bewußt, daß er gewissermaßen ebenfalls über diese Qualität verfügte. Zum Teil jedenfalls. Komplizierte Probleme mußte man auf ein handliches Maß, eine handliche Form reduzieren, selbst wenn dies bedeutete, daß man aus einem multivalenten Ganzen sich nur das herauszog, was eben gerade noch manipulierbar war. Dieser O'Neill mochte vielleicht verrückt sein, aber er war auch ein Genie ein ganz authentisches Genie! »Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit bei dieser Idee?« fragte Bergen. Ach ja, das Profil. Das war mehr auf die Arbeit des DIC-Teams zurückzuführen. Prescott, aber nicht nur er selber, glaube, daß das Team >dabei ist, in das Gehirn des Verrückten vorzudringen, zu denken, wie er denkt<. Wortlos gab Bergen dem Präsidenten recht. Vielleicht taten die das wirklich. Und jemand, mein Gott, jemand mußte es ja tun! »Ich werde die Präliminarien für den Flug nach England erledigen«, sagte Bergen. »Jemand aus meinem Stab wird sich an Ihre Leute wenden, damit die Einzelheiten ausgearbeitet werden können.« Und nachdem er sein Ziel erreicht hatte, ohne es mit einem Wort offen zu erklären, war der Präsident der USA bereit, den Generalsekretär der UNO zum Mittagessen gehen zu lassen. Es kam sogar noch der dünne Vorschlag, daß sie beide sich bald einmal wieder zu einer Runde Golf treffen müßten. Und dann, endlich, ein Hauch von Düsternis in der Präsidentenstimme. »Furchtbare Zeiten, ja«, gab Bergen dem Präsidenten recht. »Wir leben wirklich in furchtbaren Zeiten, Sir.« 165 Ihr werdet feststellen, daß die Ulstermänner nicht mehr >Gott, unsre Hilf in alter Zeit< singen. JOSEPH HERITV Präsident Prescott legte den Hörer auf seinen Apparat und dachte noch einmal über das Gespräch mit Bergen nach. Sehr zufriedenstellend. Jawohl, von beiden Seiten gut gespielt. Aber natürlich würde Bergen die Münze einfordern, die er da soeben ausgegeben hatte. Irgendwann würde es einmal ein Quid pro quo geben, ein Gegengeschäft. Aber auch das konnte sich als Vorteil erweisen. Bergen war ein viel zu guter Politiker, als daß er etwas verlangt hätte, von dem er wußte, er konnte es nicht erhalten. Charles Turkwood, persönlicher Adjutant und Vertrauter des Präsidenten, stand ihm am Schreibtisch gegenüber, an dem Prescott saß. Es war sehr still im Ovalen Büro, man hörte nicht einmal eine Schreibmaschine aus einem der Vorzimmer. Das war eine der Veränderungen, die eingetreten waren: nicht mehr soviel Papierkrieg. Viel mehr wurde in direkten Telefongesprächen erledigt, so wie eben mit Bergen. Turkwood war ein kleiner finsterer Mann mit kurzgeschorenem schwarzen Haar. An der ziemlich kurzen Nase blickten weit auseinanderstehende schwarze Augen kalt in die Welt. Die Lippen waren wulstig, das Kinn breit und stumpf. Er wußte, er war häßlich, aber Macht bot da Kompensationsmöglichkeiten. Oft empfand er sich als den perfekten Kontrapunkt zu Prescotts hochgewachsener grauhaariger Würde. Adam Prescott sah aus wie ein wohlwollender milder Kitschfilmopa. Seine Stimme - ein sanfter Bariton. »Er hat also angebissen, wie?« fragte Turkwood, als er sich die ihm zugängliche Hälfte des Gesprächs dechiffriert hatte. Prescott gab keine Antwort. Er beugte sich über den Tisch und las die Kopie eines der Briefe des Verrückten. Turkwood konnte auf dem Kopf stehende Schrift ausgezeichnet lesen, also schielte er auf das Blatt, das die Aufmerksamkeit des Präsidenten erregt hatte. Ach, ja - O'Neills Atomwarnung: »Sie werden daran denken, Atomwaffen zur Sterilisierung in den 166 Zielgebieten meiner Rache einzusetzen. Tun Sie das nicht! Es würde sich gegen Sie wenden, falls Sie es versuchen. Die Pest muß ihren lauf nehmen - in Irland, Großbritannien und Libyen. Ich will, daß die Männer dort am Leben bleiben und wissen sollen, was dies war, was man mir angetan hat. Ich gebe Ihnen die Erlaubnis, sie in Quarantäne zu halten, mehr nicht. Schickt die Angehörigen dieser Länder nach Hause - alle! Laßt sie dort schmoren! Sollten Sie auch nur einen Säugling an der Mutterbrust davon ausnehmen, der zu einer dieser Nationen aufgrund seiner Staatsangehörigkeit oder der Geburt nach gehört, so werden Sie meinen Zorn zu spüren bekommen!« Der Präsident hatte zu Ende gelesen, schwieg aber und starrte aus dem Fenster auf das Washington Monument hinaus. Es war dies eine der frustrierenderen Angewohnheiten des Präsidenten, daß er nach einer Äußerung oder einer Frage von Untergebenen langes Schweigen walten ließ. Man nahm an, der Präsident >denke< während derartiger Perioden nach, was oft auch zutraf. Doch ein ungebührlich ausgedehntes Schweigen bot auch einem Untergebenen ausreichend Zeit, darüber nachzugrübeln, worüber der Präsident nachdenken mochte. Und selbst phantasielose Menschen können unter solchen Umständen sich äußerst finstere Sachen vorstellen. Von allen engen Mitarbeitern des Präsidenten argwöhnte nur Charlie Turkwood, daß es sich dabei um einen bewußten Manierismus handeln könne, den er absichtlich kultivierte, um genau die Wirkung zu erzielen, die sich dann ergab. »Ja, er hat angebissen«, sagte Prescott schließlich und wirbelte zu Turkwood herum. »Wir müssen jetzt höllisch aufpassen. Die Sache ist eine reine Angelegenheit der Vereinten Nationen, und wir sind sozusagen nur Mitläufer.«
»Was wird er als Gegenleistung fordern?« fragte Turkwood. »Zur rechten Zeit«, sagte Prescott. »Alles zur rechten Zeit, Charlie.« »Sir, hat der Generalsekretär die Frage angeschnitten, wer die letzte Kontrolle über >Barrier Command< ausüben soll?« fragte Turkwood. 167 »Nicht ein Wort. Bergen begreift genau, daß wir immer nur jeweils eine heiße Kartoffel herumreichen, sofern das möglich ist.« »Barrier Command bietet aber eine gefährliche Machtbasis, Sir. Ich kann gar nicht nachdrücklich genug betonen, wie ...« »Immer mit der Ruhe, Charlie. Die haben im Augenblick eine Aufgabe zu erfüllen - und nur die eine: Die Abriegelung der seuchenbefallenen Gebiete - Irland, Großbritannien und Nordafrika. Sollten sie über dieses Mandat hinausgehen wollen, dann bleibt uns später noch Zeit genug, damit fertig zu werden. Wir müssen die Geschichte im Griff behalten, Charlie. Darin besteht unsere Hauptaufgabe - die Sache im Griff zu haben.« Er pflügt das wilde Haar der See, Ich bange nicht, daß Wikingerfremdlinge Sich mir übers Wasser nahn. »Der schützende Sturm« (gälisches Gedicht aus dem 8. Jh.) Der leichte Kreuzer des Barrierenkommandos stellte die kleine Schaluppe vor der Courtmacsherry Bay, während sie auf einem Kurs Richtung Old Head of Kinsale zulief. Das Segelboot lag im trüben Dämmerlicht des früh hereingebrochenen Abends dicht am Wind, und plötzlich schnitt ihm die hochragende Wandung des Schnellkreuzers die stürmische Brise ab. Das Kriegsschiff, am Clyde für Südafrika gebaut, als dieses Land noch nicht wegen seiner Apartheidspolitik unter Blockade stand, zeigte die Flagge der Vereinten Nationen am Göschstock. Man hatte das Segelboot schon seit mindestens einer Stunde auf dem Radar verfolgt, während es auf die Küste zustrebte und während Signale zwischen ihm und dem Hauptquartier des Admirals Francis Delacourt hin- und hereilten. Admiral Delacourt war der Leiter des Barrier Command, und seine Basis lag auf Island. »Warnt sie, so sollen abdrehen«, befahl Barrier Command. 168 »Ein Patrouillen-Torpedoboot wird geschickt, um den Typ wegzueskortieren.« »Wahrscheinlich Presse«, hatte einer von Delacourts Adjutanten gesagt. »Blöde Idioten.« Der Kreuzer kam im Wind heran, wendete und ließ die Maschinen im Rückwärtsgang laufen. Wuchtig schaukelte das Schiff über dem schmalen Segelboot, während ein Maat mit einem Megaphon sich in der Öffnung einer Ladeluke mittschiffs zeigte. Die elektronische Verstärkeranlage trug seine Stimme mit abgehackten mechanisch klingenden Silben zu John herüber, der am Ruder des Segelbootes saß. »Sie befinden sich in Sperrgebiet! Drehen Sie ab und nehmen Sie Kurs nach Süden!« John starrte die rostfleckige Wand des Kreuzers hinauf. Er konnte die Fahne der Vereinten Nationen scharf im Wind flattern sehen, aber das Knattern des Tuchs konnte er über dem Brausen der Wellen gegen den Leib des leichten Kreuzers nicht ausmachen. Sein Boot, aus dem Wind gefallen, tanzte jetzt gefährlich. Er hörte das rauschende Wasser in der Bilge unter seinen Füßen. Ganze acht Meter lang war die Schaluppe, und sie hatte ihn sechzigtausend Dollar in Brest gekostet; vierzigtausend für das Boot und zwanzigtausend für Schmiergelder. Nachdem er einhundertvierzigtausend Dollar auf einem Nummernkonto in Luxemburg deponiert hatte, war er der Überzeugung gewesen, seine Reserven würden großzügig ausreichen, um seinen Plan vollends durchführen zu können. Aber die Schaluppe hatte ein schönes Loch in diese Reserve gerissen, und außerdem hatte er auch noch mit weiteren Komplikationen zu kämpfen gehabt. Die größte davon war ein Rückfall von fünfzehn Tagen gewesen, den er in einem Relais in einem der Brester Randbezirke durchgestanden hatte und während dessen er sich nach Consuelas muskelstarker Fürsorge gesehnt hatte. Als es ihm wieder so gut ging, daß er sich bewegen konnte, war die Welt in die ersten Konvulsivzuckungen verfallen, die seine Pest verursachte, und die Preise für nahezu alles waren bestürzend emporgeschnellt. 169 Auch war es keineswegs hilfreich gewesen, daß bei den Verhandlungen über die Schaluppe und die Hafenfreigabe die Franzosen recht wohl bemerkten, unter welchem Zeitzwang er stand, woraufhin sie natürlich alles hinauszögerten. Je mehr er sie zur Eile drängte, desto träger agierten die Franzosen und desto höher war der Preis gestiegen. Es war der >Tag 49< der Weißen Pest, ehe er die Position von fünfzig Grad nördlicher Breite erreichte, von wo aus er nordwärts in die Irische See vorstoßen wollte, und weder das Wetter noch sein störrischer kleiner Richtfunksender hatten sein Spiel mitgespielt. Die Schaluppe war für geschützte Wasser gebaut, keineswegs für den offenen Ozean oder die Irische See. Der Peilsender funktionierte nur nach einem höchst persönlichen Funktionsplan, was bedeutete, er arbeitete eine Stunde lang etwa ohne Störungen und danach nur eine Minute oder so, bevor man ihn aufmachen und die Leitungen und Batterien überprüfen mußte. Und erst als er das Licht am Fastnet Rock ausmachte, weit drüben backbord, in den frühen Morgenstunden, war er sicher gewesen, den richtigen Kurs gesteuert zu haben. Die Dämmerung hatte die Hügel Irlands aus den Küstennebeln auftauchen lassen, und es war kein anderes Fahrzeug in Sicht, und so hatte er geglaubt, er werde es
ohne Zwischenfall bis unter Land schaffen. Aber da lag dieses verfluchte Patrouillenschiff des Barrier Command und versuchte ihm die Durchfahrt zu verwehren. Und während der Maat seinen Befehl wiederholte, stieg wilde Wut in John auf. »Gieren Sie weg, oder wir sind gezwungen, Sie zu versenken!« John hob den kleinen Lautsprecher, den er bereitgelegt hatte, sobald er den Kreuzer ausgemacht hatte. Er preßte den Daumen auf den Knopf und richtete den Trichter des Megaphons auf den Maat, der puppenhaft klein dort oben in der breiten Luke hing. Mit seinem besten irischen Akzent fragte John: »Ihr wollt mich also zu den Mobs zurückschicken?« 170 Das sollte ihnen zu denken geben. Geschichten von aufgewiegelten Massen, die irische und britische Staatsbürger auf dem Kontinent angriffen, waren ein ständiges Thema der Nachrichten. Und Libyer, wenn auch weniger zahlreich, hatten es auch nicht besser. Der Maat drehte sich um und sprach zu jemandem, der hinter ihm sein mußte, dann wandte er sich erneut mit dem Megaphon John zu. »Identifizieren Sie sich!« Es war anstrengend, das Megaphon zu heben. John war noch nicht so recht über die Krankheit hinweg, was immer das gewesen sein mochte, was ihn da erwischt hatte. Und die lange Fahrt seit Brest, fast ohne Schlaf, hatte ihn geschwächt und übermäßig reizbar gemacht. Er ließ seine Verärgerung in der Stimme mitklingen. »Ich bin John Garrech O'Donnel aus dem County Cork, Sie verdammter Arsch! Und ich fahre heim!« Offensichtlich als Reaktion auf jemand hinter ihm blökte der Maat: »Diese Gewässer sind gesperrt!« »Genau wie die ganze übrige Welt, du blöder Britenarsch!« brüllte John. »Wo sonst soll ein Ire hin als nach Irland?« Er ließ das Megaphon sinken und starrte zu der offenen Luke hinauf. Das unregelmäßige Tanzen der kleinen Schaluppe drehte ihm fast den Magen um, aber er zwang sich, das zu unterdrücken. Keine Zeit zum Kotzen! Und diese ganze Begegnung hatte etwas Lächerliches - Lilliput, zeitmodisch zum Leben erweckt. John hörte das Grummeln der Maschinen des Kreuzers, der die Position luv von ihm weiter beibehielt. Die Wellenbewegung vom Bug und Heck des Schiffes ließ die Schaluppe in ständig dwarser See tanzen. Wieder kehrte der Maat John den Rücken zu, und man beriet sich offensichtlich dort oben. Aber dann stieß der Lautsprecher wieder auf John zu; er sah aus wie eine bizarre mechanische Blüte, die aus dem Mund des Matrosen hervorwuchs. »Ich habe den Auftrag, Ihnen zu sagen, daß wir Südafrikaner sind, Sie irischer Schlammbeißer! Ihr Befehl ist, holen Sie die Segel nieder!« 171 John hob sein Megaphon. »Mein Motor reicht dafür nicht aus, du Ableger von 'nem Britenarsch!« Er stemmte die Beine gegen die Plicht und beobachtete den Maat genau, der da oben weit über ihm hing. Um den Bug des Kreuzers schoß eine scharfe Bö, fuhr in das Hauptsegel der Schaluppe und luvte es an. John zerrte das Ruder dicht an den Bauch und glitt erneut unter die Leeseite des Leichtkreuzers. Als er sich wieder der Schiffsluke zuwenden konnte, war der Maat nicht mehr zu sehen. Die dort oben hatten keine große Wahl, das spürte John. Sein Akzent mochte durchgehen, ja, unter diesen Umständen konnte er vielleicht sogar einen echten Iren überzeugen. Wer außer einem von der Pest gehetzten Iren würde schon so verrückt sein, sich in dieser Nußschale hier heraus zu wagen? Wenn sie ihn auf den Kontinent zurückschickten, würde das für ihn den sicheren Tod bedeuten, weil der Mob ihn lynchen würde. In Brest war es ihm nur dank eines übertriebenen amerikanischen Akzents gelungen, sich seine Handlungsfreiheit zu erhalten. Das hatte lange genug gewirkt, so lange jedenfalls, wie er großzügig mit Dollars um sich werfen konnte; aber später, gegen Ende seines Aufenthaltes, hatte er gespürt, daß er immer weniger willkommen war, daß "seine Chancen in dem Schwall von schlechten Nachrichten und wachsendem Argwohn zu ersaufen begannen. Aber er trug ja einen irischen Namen. Nun ja, es ist noch nie die Stärke der Franzosen gewesen, Fairplay zu beweisen, dachte er. Aber vielleicht gab es so was wie Fairplay noch zwischen anglophonen Seefahrern. Ein paar Erinnerungen an diese uralte Kameradschaft auf See mußten doch noch erhalten geblieben sein, besonders angesichts der jetzigen Umstände: ein Rest romantischer Bewunderung seitens der auf Stahlschiffen Fahrenden für den im Wind segelnden Mann ... Die groben Beleidigungen, die er gerufen hatte, würden sie als >typisch irisch< einordnen können und außerdem auf die persönliche Tragödie zurückführen, die er ihrer Überzeugung nach durchlitten hatte. Für diese Männer vom Barrierenkommando ließ sich seine 172 Lage ganz einfach darstellen: Zum Teufel oder zurück nach Irland. Und dem konnten sie sich nicht entziehen. Das ungeschriebene Gesetz der Meere würde in ihren Köpfen herumspuken, zumindest im Unbewußten. Jeder Hafen im Sturm! Und wann hatte es jemals einen derartigen >Sturm< gegeben wie diese Seuche, die in eben diesem Augenblick ihre Welt überfallen hatte? Der Maat tauchte wieder in der Luke auf und richtete das Megaphon zu John herunter. »Was war Ihr Ausgangshafen?«
Diese Frage verriet John, daß er dabei war zu gewinnen. »Jersey«, log er. »Sind Sie in Kontakt mit Seucheinfizierten gekommen?« »Wie, zum Teufel, soll ich das wissen?« John ließ das Megaphon sinken und wartete. Es war zu sehen, daß der Maat den Kopf zurückbeugte und mit jemandem redete. Dann: »Stand-by one! Wir legen ein kleines Boot über, das Sie im Schlepp nach Kinsale reinbringt.« John gestattete sich einen tiefen Seufzer. Er fühlte sich ganz ausgelaugt. Er verstaute das Megaphon in der Halterung unter seinem Sitz. Dann schob sich ein Derrickgalgen aus der Luke, in der der Maat gestanden hatte. An ihm hing eine Motorbarkasse in dem gleichen tristen Grau wie dem der nichtverrosteten Stellen der Schiffswandung. Das Boot schaukelte wild, wurde dann aber mittels Bootshaken stabilisiert. Der Galgen schob sich bis ans äußerste Ende vor. John hörte das Poltern und leise Wimmern der Winsch, während das Boot langsam abwärts sank und dicht über den Wellenkämmen haltmachte. Auf dem Deck der Barkasse tauchten Männer auf. Sie bewegten sich zielstrebig zu den Kabelhalterungen. Plötzlich sackte die Barkasse in ein Wellental ab. Das Wasser spritzte um sie auf, und die Talje schwang frei in der Luft. Das kleine Boot bog von der Flanke des Kreuzers mit stark gekrümmter Bugwelle ab. John beobachtete den Bootsführer an der Ruderpinne. Der Mann legte die Hand über die Augen gegen die 173 Gischt, während er sein Boot zirka dreißig Meter luv von John heranbrachte und dann den Motor drosselte. Das Boot war ein tiefbordiges Fahrzeug mit messingschimmernden Luken und einer kastenförmigen Kabine, aus der soeben ein Offizier kam. Er richtete sein Megaphon auf John. Am Bug machten Männer eine kleine Abschußvorrichtung mit einer Leine bereit. »Wir schießen Ihnen die Leine rüber«, rief der Offizier. »Halten Sie sich beiseite. Läuft Ihr Motor überhaupt?« John hob sein Megaphon. »Manchmal!« »Wir setzen Sie in der Bucht frei«, brüllte der Offizier. »Sollte Ihre Maschine anspringen, steuern Sie die Yachtpier am Südarm an, dann vertäuen Sie sofort Ihr Boot und gehen unmittelbar an Land. Wir versenken es, bevor wir umkehren. Wenn Ihr Motor nicht arbeitet, müssen Sie eben schwimmen!« John richtete das Megaphon zu dem Offizier hin. »Aye-aye!« »Sobald Sie im Schlepp sind, holen Sie die Segel ein! Sollten Sie überbord gehen, werden wir Sie nicht aufnehmen. Bestätigen Sie, daß Sie verstanden haben!« »Verstanden!« Ein Matrose hockte auf der Leeseite der Kabine, dann richtete er sich auf, hob das Katapult, zielte und schoß die Leine sauber an Johns Baum. John vertäute die Pinne, dann zerrte er die Leine nach vorn und machte sie am Betting fest. Er wartete, bis das Schleppseil das Boot gewendet hatte, dann holte er die Segel ein und verschnürte sie lose, bevor er sich wieder ins Heck begab. Als sie aus dem Windschatten des Kreuzers kamen, fuhr ihm die kalte Brise scharf ins Gesicht. Trotz der Kälte war John schweißgebadet. Aber der Wind bewirkte, daß er jetzt zu zittern begann. Nach knapp einer Meile im Schlepptau, das sein Boot springend voranriß, wurde ihm speiübel. Er hustete von dem Gestank der Abgase der Barkasse. Er konnte dort nur den Bootsführer ausmachen, der am Heck stand und das Ruder mit der linken Hand bediente. 174 Als sie um Old Head of Kinsale bogen, begann es zu dunkeln. John bemerkte, daß nirgendwo an der Küste Lichter von irgendwelchen Ansiedlungen zu sehen waren. Aber der Kreuzer, der weiter draußen mit ihnen Schritt hielt, war voll beleuchtet, und John konnte sogar die Radarantenne stetig kreisen sehen. Dann zwängte John sich in eine Ecke der Plicht und dachte darüber nach, welcher Empfang ihm wohl an Land zuteil werden würde. Seine einzige Legitimation war der O'Donnel-Ausweis. Und der lag in einer kleinen Umhängetasche in der Kajüte der Schaluppe, neben einer belgischen Automaticpistole, die er in Brest erworben hatte, einen mehr als mageren Nahrungsvorrat von Trockenrationen, ein paar Kleidern zum Wechseln und einer medizinischen Notausrüstung, die er in Brest auf dem Schwarzen Markt gekauft hatte. Gegen Norden machte John allmählich weitere schimmernde Schiffe aus, ihre Lichter stachen hell aus der dichter werdenden grauen Dämmerung heraus. Das Sechssekunden-Leuchtfeuer bei Bulman kam in Sicht, als sie um das Old Head bogen. Auf dem Dach der Barkassenkabine flammte ein Scheinwerfer auf, und John sah in der Gischt, die vom Bug der Barkasse aufstiebte, die Lichtsignale zucken. Von Hangman's Point blitzte ein Antwortsignal auf. Die Barkasse steuerte nach links, direkt auf die Zufahrt zum Kinsale Harbour zu und gewann jetzt mehr Fahrt, weil sie mit dem auflaufenden Wasser fuhr. An Steuerbord sah John die Markierungslichter unter den Ruinen des Charles' Fort, und dies war eine der Landmarken, die er sich eingeprägt hatte. Es war inzwischen vollkommen dunkel geworden, aber ein sicheldünner Mond verstreute genug Helligkeit, um die vorbeirauschende Küstenlinie undeutlich erkennen zu lassen. Er spürte die Veränderung, als sie in den Südarm der Bucht einbogen, und da war auch das Licht am Zollkai und die Ortspier. John stand auf und hielt sich an der Spiere fest. Das Schlepptau erschlaffte, und er wäre fast abgedriftet. Die Lichter der Barkasse glitten an ihm 175
vorbei, links, dann setzte sich das Boot hinter ihn. Plötzlich zuckte eine lange Lichterkette auf der Pier auf. Der Lautsprecher der Barkasse röhrte: »Klaren Sie das Tau, ehe Sie Ihren Motor starten!« John stolperte zum Bug und holte die Leine ein, die er einfach wirr auf dem Vordeck liegen ließ. Durchnäßt und frierend kroch er in die Plicht zurück, nahm die Schutzdecke vom Motor und begann im trüben Schimmer der einzigen Sechs-Volt-Birne zu arbeiten. Er sah schon vor sich, wie ihn die einlaufende Flut gegen die Pier schleudern würde. Der Vorbesitzer der Schaluppe hatte ihm ein einziges mal gezeigt, wie der Motor zu bedienen war. John gab Vollgas, stellte die Drosselklappe und das Vergaserventil ein, dann riß er die Starterschnur an. Nichts. Er zog erneut. Der Motor hustete, es kam eine Fehlzündung, dann lief er. Abgase drifteten über die Plicht davon. Das Megaphon hinter ihm blökte: »Legen Sie am Schwimmer unter der Pier an! Machen Sie schnell!« John legte den Hebel langsam ein, und der kleine Motor begann zu arbeiten, der Bug wendete sich. Es kam ihm ziemlich langsam vor nach dem Tempo der Barkasse, aber der Schwimmer lag genau und dicht vor ihm. Er sah, daß auf der Pier über dem Schwimmer bewaffnete Männer Posten bezogen hatten, und auf dem Schwimmer selbst standen gleichfalls Männer, ebenfalls bewaffnet. Als sein Boot gegen den Landeplatz stieß, hielten die Männer es dort fest. »Lassen Sie den Motor laufen!« befahl jemand. »Klar.« John holte seinen Rucksack aus der Kabine und sprang auf den Schwimmer. Einer der Männer packte ihn am Arm, um ihm Halt zu geben, aber John verspürte keine Freundlichkeit in dieser Geste. Wie wenn sie so etwas oft und immer wieder getan hätten, machten die Männer am Heck der Schaluppe eine Leine fest und zogen sie herum, bis der Bug auf die Bucht hinauswies. Einer sprang an Bord, vertäute das Ruder und gab Gas. Wei176 ßes Wasser schäumte auf und lief flach über den Schwimmer weg. Der Mann kam von der Schaluppe zurück, und noch während er sprang, hieb ein anderer Mann die Leine mit einer Axt durch. Die Schaluppe schoß hinaus auf die wartende Marinebarkasse zu. Plötzlich sprang ein Flammenbogen von der Barkasse zu der Schaluppe hinüber. Dröhnend versackte der Bug des Segelbootes. Der Mast kippte nach hinten, als das Heck sich hochkantete. Man konnte noch immer die sich drehende Schraube sehen. Dazu reichte das Licht von der Pier her aus. Dann verstummte der Motor plötzlich, und das Boot glitt unter das schwarze Wasser hinab. Die Barkasse kurvte dicht über der Stelle, wo das Boot versunken war, ein Scheinwerfer stach ins Wasser, dann backte die Barkasse und bot dem Schwimmer ihr Heck dar. Wieder ertönte das Megaphon laut: »Da habt ihr einen von euren Leuten, der sich nach euch gesehnt hat, Jungs. Also, bis nächste Woche!« »Also einer von unsern Leuten, was?« Eine dünne Tenorstimme, aber mit einer Färbung, die John einen Schauder den Rücken hinabjagte. John wandte sich zur Pier, dem Mann zu, der da gesprochen hatte, und blickte in die Mündung einer Maschinenpistole. Der Mann mit der Waffe war groß und dürr. Er hatte Cordhosen an, eine bauschige grüne Jacke und trug einen breitrandigen Hut, dessen linke Krempenseite hochgeklappt war, wie man es bei Australiern oft sieht. Er stand am Fuß der zur Pier hinaufführenden Rampe, seine Figur hob sich dunkel vor den grellen Lichtern darüber ab. Im Schatten des Hutes konnte John sein Gesicht nicht ausmachen. »Ich bin John Garrech O'Donnel«, sagte John. Er bemühte sich angesichts dieser Konfrontation nicht, einen irischen Akzent zu spielen. »Klingt wie'n Yank, Kevin«, sagte ein Mann, der hinter John stand. »Und wenn er auch O'Donnell heißt, sollten wir ihn nicht lieber an die Fische verfüttern?« »Die Entscheidungen treffe ich, Muiris«, sagte der Mann 177 mit dem Australierhut. Er ließ John nicht aus den Augen. I »Und was führt Sie in unser schönes Irland, John Garrech O'Donnell?« »Ich habe Fähigkeiten, die jetzt hier gebraucht werden«, antwortete John ein wenig unsicher angesichts der Bedrohung, die er ringsum verspürte. »Also sind Sie ins Land Ihrer Väter heimgekehrt«, sagte der Hutmann. »Aus welcher Gegend in Yankeeland kommen Sie denn?« »Boston«, log John. Der Hutmann nickte. »Ahhh, und im Radio sagen sie, daß die Pest in Boston schlimm ist. Wie sind Sie dort weggekommen?« »Ich war schon in Europa«, sagte John. »Man kann einfach jetzt nicht mehr nach Boston zurück. Sie haben das Feuer | dort eingesetzt.« »Ja, so sagen sie«, gab ihm der Hutmann recht. »Sie haben I Familie in Boston?« John zuckte die Achseln. »Und in Irland vielleicht?« »Ich weiß es nicht«, sagte John. »Also ist Irland der einzige Platz, an den Sie gehen konnten?«
»Sie haben sicher von den Mobs in Frankreich und Spanien gehört«, sagte John. »Zur Hölle oder nach Irland«, sagte der Hutmann. »War's das, was Sie sich gedacht haben?« John schluckte einen Klumpen im Hals hinunter. Dieser Mann mit dem Australierhut - Kevin -, eine Stimme, die wie ein Messer schnitt. Der Mann entschied je nach Laune über Leben oder Tod. »Ich besitze ein Talent, das Irland gerade jetzt nötig hat«, sagte John noch einmal. »Und was könnte das wohl sein?« fragte der Mann mit dem Hut. Es klang ein wenig freundlicher, aber der Lauf der MP zeigte noch immer auf Johns Brust. »Ich bin Molekularbiologe«, sagte John. Er starrte zu dem 178 Gesicht im Schatten hinauf und suchte nach einem Zeichen dafür, daß die Information begriffen worden war. Nichts. »Du bist n Moleku-was?« fragte jemand hinter John. »Wenn wir ein Mittel gegen diese Seuche finden sollen, dann sind meine Spezialkenntnisse dringend nötig«, sagte John. »Mann, schau mal, Kevin«, sagte der Mann hinter John, »der kommt da eigens zu uns herüber, um uns von der Pest zu heilen. Ist das nicht großartig?« Mehrere Männer hinter John auf dem Schwimmer lachten. Aber es klang kein Humor in dem Lachen mit. Plötzlich ließ ein heftiger Stoß in den Rücken John auf den Lauf der Maschinenpistole zutaumeln. Hände packten ihn links und rechts und hielten ihn schmerzhaft fest. »Seht nach, was in dem Sack ist!« befahl der mit dem Hut. Sie entrissen ihm seinen Rucksack und brachten ihn irgendwohin hinter seinem Rücken. »Aber wer seid ihr denn, Leute?« fragte John. »Wir sind die Finn Sadal«, sagte der mit dem Hut. »Die Leute nennen uns die >Strandjungs<.« »He, schau dir das da mal an, Kevin!« Einer der Männer trug den kleinen Behälter an John vorbei, in dem sein Geld und seine belgische Automatic steckten. Der mit dem Hut nahm die Box, schaute hinein, hielt dabei aber die MP mit einer Hand weiter stetig auf John gerichtet. »Sooo viel Geld«, sagte er. »Sie waren ein reicher Mann, John Garrech O'Donnell. Und was hatten Sie mit diesem Reichtum vor?« »Ich wollte Irland helfen«, log John. Sein Mund war trocken. Ringsum glaubte er eine immense Wut zu spüren, ein Etwas, das nur mühsam unter Kontrolle gehalten wurde und in jedem Moment auf ihn losspringen konnte. »Und das kleine Spielzeug da?« fragte der mit dem Hut. »Was ist damit?« »Das war, falls der Mob mich lynchen wollte, da wollte ich die wenigstens dafür zahlen lassen.« 179 Der mit dem Hut schob das Geld und die Automatic in eine Seitentasche seiner Jacke. »Hat er irgendwelche Ausweise bei sich?« Hände wühlten in Johns Taschen. Er spürte, wie sie ihm das Taschenmesser abnahmen. Die Uhr wurde ihm abgezogen. Die Brieftasche mit dem gefälschten Paß wurde dem mit dem Hut hinaufgereicht, der die MP in die Armbeuge legte, während er sich die Sachen ansah. Er nahm das Geld aus der Brieftasche und stopfte es in die Jackentasche, dann schleuderte er die Brieftasche weit in die Bucht hinaus. Als nächstes untersuchte er den gefälschten Paß. Er blätterte kurz darin herum, dann warf er ihn hinter der Brieftasche her. »O'Donnell, soweit stimmt's.« Er beugte sich dichter über John und verdeckte so das grelle Licht über ihm. Jetzt konnte John die verschatteten Gesichtszüge ausmachen: ein hageres Gesicht, zwei dunkle Augenlöcher, scharfes Kinn. Aufsteigende Wut hätte John fast dazu veranlaßt, sich gegen den Griff der Männer zu wehren, die ihn festhielten. Der mit dem Hut schien das zu merken, und zwischen den beiden Männern zuckte ein Funke von Irrsinn hin und zurück. Ein Wutschwall gegen einen zweiten Wutschwall, Irrsinn gegen Irrsinn. Das zuckte auf und war so rasch wieder | vorbei, daß John sich fragte, ob es wirklich passiert sei. Er spürte, daß etwas ihn in seiner Gesamtperson gestreift hatte, in dem, was von ihm sichtbar war, und in dem, was er versteckte. Und er hatte - wie in einem dunklen Spiegel - in diesem anderen Mann flüchtig seine eigene zweite Hälfte erkannt. Beide Männer wichen vor dieser Erfahrung zurück. Wieder stand John im grellen Licht der Lampen auf der Pier. Das Gesicht des Mannes mit dem Hut lag wieder im Schatten der Krempe. Dann sagte der mit dem Hut: »Ich denke, ich werde mal 'ne Ausnahme von der Regel machen, Jungs.« Hinter John fragte jemand: »Weil er ein O'Donnell ist wie du selber?« »Kannst du mir 'nen besseren Grund nennen, Muiris?« Die 180 Maschinenpistole schwenkte von John weg und zeigte auf den Mann, der gefragt hatte. Und da wurde John klar, daß dieser Mann in dem Australierhut fähig war, seinen Kumpan zu töten, daß er seine Leute durch seine mörderische Wut beherrschte, daß er wahrscheinlich bereits mehr als einmal getötet hatte, um diese seine Autoritätsstellung zu erlangen und zu bewahren. War es das, was wir ineinander gesehen haben? »Aber geh doch, Kevin!« sagte Muiris mit einem Winseln in der Stimme.
»Ich bring den nächsten Kerl um, der meine Autorität in Zweifel zieht, oder ich will nicht mehr Kevin O'Donnell heißen!« sagte der mit dem Hut. »Klar doch, Kevin«, sagte Muiris. Er klang sehr erleichtert. »Ihr zieht ihn nackt aus und bringt ihn mit dem Lkw an den gewohnten Platz«, sagte Kevin O'Donnell. »Vielleicht schafft er's, vielleicht nicht. Das ist meine Entscheidung. Hat einer was dagegen?« Von den Männern ringsum kam kein Laut. Kevin O'Donnell wandte seine Aufmerksamkeit wieder John zu. »Die Küste gehört den Finn Sadal. Komm also nicht an die Küste zurück, oder du wirst ohne Warnung umgelegt. Du bist jetzt in Irland, und hier wirst du bleiben, tot oder lebendig.« 181 Angesichts der Tatsache, daß es virusverseuchies Geld war, was O'Neill zur Verbreitung seiner Pest verwendete, ist es wirklich erstaunlich, wie die Schweiz dem entgehen konnte. Es beweist, daß die Schweizer dem Wesen nach Schildkröten sind. Beim ersten Anzeichen von Gefahr ziehen sie alle verwundbaren Körperteile ein und exponieren nur noch den harten Panzer, und ich würde alles, was ich besitze, darauf verwetten, daß auch sie ein paar Infektionsherde innerhalb ihrer Landesgrenzen ausgebrannt haben. Daran sollten wir uns später erinnern. Wenn die Menschheit glaubt, daß die Schweiz praktisch unbeschädigt davongekommen ist, dann wird da später ein ganzer Haufen von brauchbaren Ressentiments herumliegen. US-Präsident ADAM PRESCOTT Enos Ludlow, Leiter des Tactical Advisory Committee, legte die dünne Akte vorsichtig auf den Schreibtisch von Präsident Prescott und trat einen Schritt zurück. Er blickte aus den Fenstern hinter dem Präsidenten, wo eine Handvoll Gärtner zu sehen war, die erschöpfte Beetpflanzen auf Lattengestelle hoben, um sie dann in den Reservegarten des Weißen Hauses in Bethesda zu transportieren. Das war ein ganz regelmäßiges Nachmittagsprojekt seit einiger Zeit - diese hektischen Bemühungen, die Umwelt am Leben zu erhalten, sie inmitten des Todes schön zu erhalten. Angewidert starrte der Präsident die Akte an, ein schlichtes hellgelbes Viereck mit der Aufschrift BARRIER COMMAND. Dann warf er einen Blick zu Ludlow hinauf. Ein fetter Kerl, rotes Gesicht und kalte blaue Augen. Schüttere blonde Haare. »Spielen die Russen mit?« fragte Prescott. »Yessir.« Ludlow hatte eine weiche, fast breiige Stimme, und Prescott konnte sie nicht ausstehen. »Die Russen sind Pragmatiker, wenn überhaupt was. Satellitenbeobachtungen bestätigen, daß sie Kostroma verloren haben und ...« »Kostroma?« Der Präsident blickte bestürzt drein, obgleich 182 man ihn zuvor bereits davon unterrichtet hatte, daß das eine Möglichkeit sein könnte. »Ist das nicht verflucht dicht bei Moskau?« »Ist es, Sir. Und sie haben einen ganzen Korridor von Magnitogorsk bis Tyumen verloren. Vielleicht sogar einschließlich Swerdlowsk.« »Anzeichen von Feuer?« »Es raucht immer noch.« »Die verdammten Medien nennen es noch immer Panikfeuer«, sagte Prescott. »Passend, aber bedauerlich«, sagte Ludlow. Der Präsident blickte wieder auf die ungeöffnete Akte, dann wieder zu seinem TAC-Vorsitzenden. »Sie hatten auch Familie in Boston, nicht wahr?« »Einen Bruder, Sir - eine Frau und die drei Kinder.« Ludlows Stimme hatte ihre Geschmeidigkeit verloren und klang jetzt forciert. »Es gab einfach keine andere Wahl. Wir haben genau das getan, was die Schweiz ...« - Prescott blickte auf die Akte -»und die Russen gemacht haben.« »Ich weiß.« Der Präsident schwang sich auf dem Drehsessel herum und schaute den davonziehenden Gärtnern nach. Er nickte mit dem Kinn zu ihnen hinaus. »Sonst höre ich sie immer bei der Arbeit. Heute waren sie ganz still.« »Jeder fühlt sich irgendwie schuldig, Sir.« »Jim sagt mir, daß sie im Fernsehen die Brände noch immer nur aus der Entfernung zeigen«, sagte Prescott. »Könnte ein Fehler sein, Sir. Das läßt der Phantasie zu viel Spielraum, sich auszumalen, was in Boston und an den übrigen Orten passiert ist.« Der Präsident sprach zum Fenster hin: »Schlimmer als die Realität kann gar nichts sein, Enos, gar nichts.« Er wirbelte auf dem Sessel wieder zum Schreibtisch zurück. »Wir haben das umlaufende Geld inzwischen soweit entsorgt und umgetauscht, daß wir allmählich die Quarantäne der Banken wieder aufheben können.« 183 »Aber ist es sicher, daß nur Geld verseucht ist, Sir?« »Vorläufig ja. Er hat es teuflisch schlau gemacht. Er verschickte das verseuchte Geld an Wohltätigkeitsorganisationen, an Privatleute, Komitees, an Geschäfte und Warenhäuser. Harrods in London
haben bestätigt, daß man dort an die achtzig Bestellungen für >Geschenksendungen< nach Irland durchgeführt hat. Und damit war das Giftgeld sofort wieder im Umlauf.« »Es dürfte sich Widerstand gegen Papiergeld zeigen, Sir.« »Weiß ich. Ich habe vor, dazu eine Rede an die Nation zu halten. Wir haben einfach nicht genug Münzvorräte, um die nötigen Handelsaktionen durchzuführen.« »Alles wartet darauf, Sir, daß der nächste Knall kommt.« »Und sie werden weiter warten, solange O'Neill frei herumläuft. Sie haben recht, zur Vorsicht zu mahnen, Enos. Bisher kennen wir nur eine seiner Verbreitungsmethoden. Unsere Spezialistenteams haben aber fast zweihundert weitere Möglichkeiten ausgebrütet, wie diese Seuche verbreitet werden kann.« Lautlos formten Ludlows Lippen die Summe. »Zweihundert?« »Verseuchte Vögel, zum Beispiel«, sagte Prescott. »Und Vögel stellen sich an der Grenze nicht beim Zoll ein, um sich entsorgen zu lassen. Dann gibt es Wetterballons, medizinische Probesendungen - dieser O'Neill war ja schließlich auch noch Apotheker, um Himmels willen!« Der Präsident öffnete die Akte und schaute auf die erste Seite. Dann schob er das Kinn vor und sagte: »Was für ein prekärer Ort für das menschliche Leben - dieser unser Planet. Alle Eier in einem einzigen Nest ...« »Sir?« Der Präsident straffte die Schultern und blickte seinem TAG-Vorsitzenden direkt ins Gesicht. Der Blick war ruhig und scharf. »Enos, Sie werden verdammt noch mal dafür sorgen, daß das eine Gemeinschaftsmission wird. Ich will chinesische, japanische, französische, sowjetische und westdeutsche Leute in den Mannschaften eines jeden von unseren 184 Flugzeugen haben, eine genau ausgewogene Zahl zu den Austauschbesatzungen, die wir denen schicken. Wenn nämlich die Bomben auf Rußland zu fallen beginnen, dann wird die Hölle los sein!« »Die Verantwortung wird absolut und ausnahmslos gleichmäßig verteilt sein, Sir. Darüber gab es keine Diskussionen. Pjotr bekam fast einen hysterischen Anfall. >Wir vergeuden nur Zeit!< brüllte er immer wieder. >Das Zeug breitet sich immer mehr aus, während wir hier noch reden! Verschwenden wir doch nicht noch mehr Zeit!<« »Gegenargumente?« »Die Franzosen wollten gern entbunden werden. Dort spielt der Katholizismus noch immer eine einflußreiche Rolle. Und wir wagten es erst gar nicht, die Spanier daraufhin anzusprechen.« »Ist der Vatikan informiert?« »Sicher, Sir. Radio Vatikan verbreitet einen allgemeinen Sündenablaß, mit der Stimme des Papstes. Und sie fordern ihre Hörer auf, für eine wichtige Verkündigung an den Geräten zu bleiben.« »Haben wir genügend Freiwillige für die Aktion >Aufmoppen« »Ja. Hinterher werden sie auf Zypern isoliert. Dort ist kein einziges weibliches Wesen mehr am Leben.« »Feuer ist die einzige sichere Medizin«, sagte Prescott. »Flammenwerfer ...« Ein kurzes Zittern überlief seinen Leib, dann sagte er: »Die Joint Chiefs sagen mir, daß Atombomben eine Peripherie von zweifelhaften Arealen hinterlassen, besonders russische Atombomben.« Plötzlich hieb er die Faust auf den Tisch. »O Gott! Ich verwünsche den Tag, an dem ich mich um diesen Job beworben habe!« »Aber jemand muß diese Entscheidungen treffen, Sir. Darin sind sich alle einig.« Angesichts dieser Binsenweisheit knirschte Prescott mit den Zähnen. »Was ist mit Indien?« »Bisher kein Wort, Sir. Aber wir haben das gemeinsame Kommunique geschickt. Wenn sie bis 19 Uhr nicht geantwor185 tet haben, dann wissen sie ja, womit sie rechnen müssen.« »Es gibt einfach keine exklusive Souveränität der Staaten mehr, Enos. Wenn bei denen Brandherde auftreten und sie sie nicht melden, dann werden wir eben den ganzen beschissenen Subkontinent sterilisieren!« »Nach Rom, Sir, bin ich sicher, daß sie es begriffen haben.« »Wäre besser für sie! Gibt es denn überhaupt keine guten Nachrichten?« »Sri Lanka ist sauber, Sir. Und eine erfreuliche Zahl der polynesischen Inseln sind davongekommen, sogar Kauai in der Hawaii-Kette - dafür liegen inzwischen Bestätigungen vor. Und Alaska - dort ist nur Anchorage befallen, aber die Entsorgung ist dort hundertprozentig.« »Entsorgung«, sagte Prescott. »Jeder Greuel bekommt seine eigene euphemistische Bemäntelung, Enos.« »Ja, Sir.« Prescott schloß die Akte auf seinem Schreibtisch. Ludlow zeigte mit dem Finger darauf. »Sir, da ist noch etwas, das Sie wissen sollten, ehe die Joint Chiefs reinkommen. Die Chinesen drohen damit, Indien im Alleingang mit einem Erstschlag zu säubern. Anscheinend gab es da einen Notenwechsel - keineswegs auf freundlicher Basis.« »Wissen die Russen das?« »Von ihnen haben wir die Information. Sie raten dazu, uns nicht einzumischen, sagen aber, sie würden
Verständnis dafür aufbringen, wenn wir es dennoch täten.« »Verständnis? Was, zum Teufel, soll das heißen?« »Sie würden es gern sehen, wenn wir uns die Hände dreckig machen, Sir.« »Und wie, zum Teufel, könnten wir intervenieren?« »Vielleicht mit einer diplomatischen Delegation nach ...« »Delegation ist Scheiße!« »Ich meinte nur, Sie sollten darüber informiert werden, Sir.« Prescott seufzte. »Aber ja doch. Sie haben richtig gehandelt.« 186 »Da ist noch etwas, Sir.« »Hat das nicht Zeit?« »Ich fürchte nein, Sir. Die Saudis haben die Grenzen dichtgemacht.« »öl?« »Die Pipelines bleiben offen, aber die Pilger nach Mekka ...« »O Gott!« »Es ist ziemlich sicher, daß sie angesteckt sind, Sir. Große Kontingente aus Nordafrika und ...« »Ich habe gedacht, wir hätten da Quarantäne verhängt ...« »Nicht rechtzeitig genug, Sir. Die Saudis wünschen Hilfe.« »Was machen die Israelis?« »Die Grenzen sind noch immer dicht, scharfe Patrouillen. Sie behaupten, es gehe sonst alles gut.« »Und das glauben Sie denen?« »Nein.« »Wissen die was von der Saudisache?« »Das nehmen wir an.« »Dann geben Sie den Saudis alles an Hilfe, was die verlangen.« »Sir, so ist es aber nicht ganz ...« »Ich bin mir über die Kompliziertheit der Sache völlig im klaren! Aber wir verlieren Japan, wenn die kein öl mehr bekommen, und unser eigener Bedarf ...« Wieder schüttelte er den Kopf. »Und da ist noch was, Sir.« »Reicht es denn immer noch nicht?« »Sir, das sollten Sie aber doch besser wissen. Die katholischen Kardinäle haben in Konferenzschaltung abgestimmt. James Kardinal Maclntyre wird der neue Papst sein, wenn ... ich meine, wenn Rom ...« »Maclntyre? Dieser Esel! Das hat mir gerade noch gefehlt!« »Eine Kompromißwahl, Sir. Meine Informationsquellen ...« »Sie wissen doch, wie man Maclntyre in Philadelphia nennt? Den Täufer!« 187 »Ich habe davon gehört, Sir.« »Der Mann ist eine Katastrophe! Die Kirche wird ihn wahrscheinlich nicht überleben.« Prescott seufzte. »Verschwinden Sie, Enos! Und auf dem Weg sagen Sie bitte Sam, er soll noch zwei Minuten warten, ehe er die Joint Chiefs reinschickt.« »Sir, jemand muß Ihnen aber die unangenehmen Nachrichten vorlegen.« »Für heute haben Sie mir genug vorgelegt, Enos. Verschwinden Sie! Und - zwei Minuten, vergessen Sie das nicht!« »Sehr wohl, Sir.« Und während der Vorsitzende der TAC sich entfernte, schlug Prescott noch einmal die Akte auf und blickte auf das erste Blatt. »So prekär, so ungeschützt«, murmelte der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Und wenn ihr auch die Söhne Mornas und die Sieben Heere Fiannas zurückbringt, ihr werdet diese Trübsal nicht von uns nehmen. Pater MICHAEL FLANNERY Der Start des DIC-Teams war für 10:00 morgens angesetzt (Ortszeit Denver), doch ergab sich eine halbstündige Verzögerung, weil die Flammenwerfertanks wegen der Winddrehung umgruppiert werden mußten. Beckett und seine drei Begleiter warteten im Flugzeug ab; sie nahmen das Dröhnen der Tanks am Rande der Startbahn wahr und den Geruch des Jettreibstoffs in der Kabine. Ein Oberst der Air Force hatte Beckett über Funk und Telefon über die Flugdirektiven unterrichtet und ihn dann gewarnt: »Rechnen Sie mit einigen Änderungen und Zweideutigkeiten.« Nachdrücklich hatte der Oberst Beckett als >Major< angeredet. Lepikow, der eines dieser Gespräche mitanhörte, hatte 188 gefragt: »Sagen Sie mir, Bill, wie kommt es, daß ein Dr. auch gleichzeitig Pilot in Ihrer Luftwaffe ist?« Becketts Antwort: »Ach, ich wollte einfach einen zweiten Beruf erlernen, für den Fall, daß mir mal das Skalpell ausrutscht.«
Das rang Lepikow kein Lächeln ab. Er sagte: »Ich glaube, Sie sind mehr, als Sie scheinen.« »Sind wir das nicht alle?« Die Maschine war eine umgebaute Lear mit Bugtanks und Extratanks im Rumpf, wodurch der Kabinenraum zu einem engen Käfig aus Fiberglaswänden wurde, hinter denen man den Extratreibstoff schwappen hören konnte, wenn die Maschine sich bewegte. Daß man eine Lear ausgesucht hatte, war von Becketts Flugerfahrung abhängig gemacht worden: er hatte nämlich einundzwanzig Flugstunden in einer Lear hinter sich. Auch seine Jetratings waren für drei verschiedene Kampfflugzeuge up-to-date, darunter die alten Phantom, für die er die hingerissene Bewunderung eines Teenagers für einen heißen Schlitten empfand. Einmal hatte Beckett auch eine Mirage der ägyptischen Luftwaffe geflogen, und er hatte jetzt erklärt, er freue sich auf die Leistungsdemonstiation der französischen Eskorte, die Staffel der Mirage III fliegen sollte. Die zusätzliche halbe Stunde bot Beckett Gelegenheit, das Cockpit sorgfältig durchzuchecken. Er ging dabei ganz methodisch vor, nach einem Muster, das sämtliche seiner Assistenten im Operationssaal als typisch erkannt haben würden. Sektionskarten alle in Ordnung. NOTAMs vorhanden. Wetterbericht auf dem laufenden. Er vermerkte, daß die Anfangshöhe bei 35 500 Fuß angesetzt war, und brummte in sich hinein. Er hatte um Clearance für fünfzig gebeten. Wo es möglich war, hatte man den Flugplan gestreckt, damit sie über weniger stark bevölkerte Gebiete kommen würden; doch verlief er an Cleveland vorbei und südwärts von Buffalo, dann über Boston hinaus auf den Atlantik. Von dort 189 aus sollten sie südlich von Grönland und Island fliegen und dann runter auf das Vereinigte Königreich zu. Eskorten des Barrier Command sollten sie von Island an begleiten. Beckett war gewarnt worden, daß die Eskorten den Befehl hatten, die Lear abzuschießen, sollte sie aus einem fünf Meilen breiten Flugkorridor ausbrechen. Als treibstoffsparende Flugzeit hatte man zirka dreizehn Stunden geschätzt, nach denen sie in Manchester/England, um 6:30 Ortszeit landen sollten. Die Raketen des Barrier Command sollten dann laut Plan sechs Minuten, nachdem Beckett die Lear am Ende der Rollbahn des Manchester-Flugfeldes zum Halten gebracht hatte, abgeschossen werden. Vor der Landung, so lauteten Becketts Instruktionen, sollte er den verbleibenden Treibstoff über Bord gehen lassen; dabei war eine Schaltung zu bedienen, die dem Barrier Command ein automatisches Bestätigungssignal für die Durchführung der Aktion übermitteln würde. »Sonst werden Sie angegriffen, solange sich noch Bodenpersonal in und um die Maschine befindet«, hatte ihm der Instruktionsoberst warnend versichert. Sie wollten also kein Risiko eingehen, daß irgend jemand auf dem Boden versuchen könnte, die Maschine in seine Gewalt zu bringen, um mit ihr England zu verlassen. Während Beckett noch mit dem Check beschäftigt war, kam Hupp nach vorn und glitt auf den rechten Sitz. »Sie haben doch nichts dagegen, Bill?« »Fassen Sie bloß nichts an!« Beckett überflog die Instrumente mit den Augen. Mit einer gewissen Freude entdeckte er den allermodernsten über Satelliten laufenden Navigationsschirm. Aber da hing auch eine Notiz der Installateurfirma, auf der die kritischen möglichen Abweichungen aufgelistet waren. Sie hätten keine Zeit gehabt, die Geschichte genau abzustimmen. Als der Startwagen seine Position einnahm - der Fahrer steckte in einem Raumanzug und atmete Luft aus Tanks auf dem Fahrzeug —, spielte Beckett die nötigen Prozeduren automatisch durch, während er im Kopf die Flugziffern abspul190 te: vier Stunden, siebenundfünfzig Minuten Colorado Springs bis Boston; dreizehn Stunden, dreiunddreißig Minuten effektive Zeit bis Manchester - neunundzwanzig Minuten Verspätung zum ursprünglichen Zeitplan. Gegenwinde über dem Atlantik. Er müßte etwa um 17:30 Uhr über Boston sein. Und außerdem müßten sie eigentlich zu zweit hier im Cockpit sitzen! Prüfend warf er Hupp an seiner Seite einen Blick zu, entschied sich aber dagegen, ihm ein paar der Startroutineaufgaben zu delegieren. Hupp war ganz sichtlich nervös. Beckett konzentrierte sich wieder auf die Instrumente und Kontrollsignale und mahnte sich selbst, daß er diese Maschine eben wie eine Lear fliegen müsse. Sie war ein anspruchsvolles Ding und neigte zu Lateralschwankungen bei Steuerung durch den Piloten. Er würde in jeder Sekunde während des Take-off und der Landung sprungbereit sein müssen, um eine Bruchlandung zu vermeiden, dieses halbe Abtrudeln, das die Maschine in den Boden schießen lassen konnte. Also mußte er nach den Meßgeräten fliegen. Die Kopfhörer informierten ihn: »Rollen Sie auf Bahn Fünfunddreißig, Mister Beckett. Ihr Bruttogewicht liegt bei 12439 US-Pfund.« Beckett notierte das und antwortete: »Adieu, Peterson Airfield!« »Guten Flug, Major.«
Das war die Stimme des Instruktionsobersten dort droben im Tower. Seltsam, daß der Mann nicht einmal seinen Namen genannt hatte. Aber schließlich war vieles so ganz anders in dieser neuen Welt. »Schalten Sie jetzt Ihren Spezialsender ein!« befahl der Oberst im Tower. »Was ist das?« fragte Hupp. »Ach, bloß unsere Aussätzigenklapper.« Beckett blickte nach links und dann nach rechts. »Und jetzt halten Sie bitte den Mund, bis ich uns gerade ausgerichtet habe!« Und während die Maschine auf der Startbahn an Fahrt gewann, sah Beckett, wie die Tanks mit den Flammenwerfern auf die Ausgangsposition zurasten. Ihr Auto, das sie an der 191 Taxirampe zurückgelassen hatten, würde es zuerst erwischen, und dann würde das ganze Areal in Flammen gebadet werden. Feuer - das hat so etwas von endgültiger Säuberung an sich, dachte Beckett. Was im Feuer aufgegangen war, zeigte kaum die gefährliche Neigung, sich fortzupflanzen. Die vier Maschinen der Mirage-III-Eskorte waren bei ihm, ehe er die Thurman-Kreuzung vor Denver erreichte. Er winkte den ihn flankierenden Piloten lieber zu, als daß er mit dem üblichen Tippen der Tragflächen antwortete. Die Piloten gaben ihm das Daumen-hoch-Signal, ehe sie zurückfielen. Beckett nickte in sich hinein. Er hatte die Raketen unter den gebogenen Flügeln sehr wohl gesehen. Diese scharfen Raketen waren etwas eindrucksvoll Reales bei diesem seinem Flug. Und sie würden Bill Beckett zwingen, messerscharf zu navigieren. Das Bordradio unterbrach ihn in seinen Gedanken mit einem Wetterbericht. Die Frontalwinde über dem Atlantik würden etwas schwächer sein, aber nicht so sehr, daß man darüber jubeln konnte. Beckett hörte zu Ende, dann schaltete er sein Mikro auf Intercom und sagte: »Bleibt in den Gurten angeschnallt, wenn ihr nicht gerade auf den Lokus müßt! Und keine unnötigen Bewegungen an Bord! Vor der Küste stoßen wir auf unbeständiges Wetter, und ich werde unser Baby die ganze Zeit über hätscheln müssen, wir brauchen jeden Tropfen Sprit.« Bei fünfunddreißigtausend Fuß stabilisierte und trimmte er die Maschine und gab die Position an. Dann wandte er sich Hupp zu: »Es ist möglich, daß wir nicht mal 'nen Nachttopf voll Sprit Übrighaben, wenn wir drüben ankommen.« »Ich habe Vertrauen zu Ihnen, Bill. Aber sagen Sie mir, was ist das, diese Rassel der Aussätzigen?« »Wir strahlen ein konstantes ID-Signal aus. Und wenn das ausfallen sollte, whummm!« Er warf einen Blick auf eine der Mirage-III-Maschinen hinaus, die sich rechts von ihnen in Position geschoben hatte. »Ihre Freunde da draußen meinen es ernst.« »Ich sehe die Raketen. Und die würden sie einsetzen?« 192 »Nehmen Sie das mal lieber an, Joe.« »Sie haben nichts dagegen, daß ich mit hier vorn sitze?« »Freu mich über Ihre Gesellschaft, wenn ich nicht grad beschäftigt bin. Aber halten Sie Ihre Flossen von den Pedalen weg und fassen Sie mir bloß nicht das Ruder an.« »Ich höre und gehorche, mon capitaine.« »Gut so.« Beckett grinste und entspannte sich zum erstenmal, seit er an Bord des Flugzeugs geklettert war. »Denken Sie einfach an die Fremdenlegion und daran, wie dort ein capitaine Ungehorsam bestraft.« »Ja, gefesselt in der Sonnenglut ausgestreckt, damit ihn die Berber sich hernehmen können«, sagte Hupp. »Und die Geier warten schon. Ich hab den Film auch gesehen.« Beckett schaltete das Mikro um für eine Positionsüberprüfung durch die Bodenstationen. Dann sagte er: »Haben Sie sich mal vorzustellen versucht, was dieser kleine Trip kostet? Die Maschine mit Umbauten und allem, meiner Schätzung nach an die vier Millionen. Und dann ein Flug und - Bums! Das könnte der kostspieligste Transatlantikflug der Geschichte sein.« »Immerhin Erster Klasse«, sagte Hupp. »Außer natürlich hinten. Man hört den Treibstoff in den Tanks schwappen.« »Das stört sie?« »Ich mag kein Feuer.« »Sie würden nichts davon merken. Irgend jemand hat mal gesagt, ein Flugzeug sei eine der angenehmeren Todesarten. Man geht dabei drauf, aber man hat keine Schmerzen.« Hupp schauderte in sich hinein. »Ich habe einmal das Flugzeug eines Freundes bei Lyon gesteuert. Ich hab das Gefühl gar nicht gemocht.« »Der eine liebt es, der andere nicht. Was war das für ein Gewisper zwischen Ihnen und Sergej und Francois da hinten, kurz vor dem Abheben?« Statt einer Antwort fragte Hupp: »Sie haben Kinder, Bill?« »Was? - Ja. Marge und ich haben zwei Töchter.« Und er kreuzte die Finger. »Sie sind noch immer in Sicherheit, Gott sei Dank. Aber was hat das damit zu tun, daß ...« 193 »Ich hab zwei Jungs. Sie sind bei meinen Eltern in der Nähe von Bergerac in der Dordogne.« »Sie wechseln das Gesprächsthema, Joe?« »Nicht im geringsten. Ich mag das Land um Bergerac.«
»Richtig, Cyrano stammte von dort«, sagte Beckett. Er war bereit, sich dieser seltsamen Wendung ihrer Unterhaltung anzupassen. »Aber wieso haben Sie dann nicht so eine mächtige Nase?« »Ich wurde als Kind nie dazu aufgefordert, nach Trüffeln zu schnüffeln.« Becketts Lachen klang wie ein Bellen. Seine innere Gespanntheit löste sich ein wenig. Lag das als Motiv Hupps Verhalten zugrunde? Einem die Sache leichter zu machen? »Wir sind ein gutes Team, Bill«, sagte Hupp. »Ein verdammt gutes Team! Sogar der alte Kotzbrocken Sergej da hinten!« »Aaaah! Der arme Sergej. Er hat sich inzwischen eingeredet, daß er und Ariane miteinander la grande passion hätten erleben können. Aber der Tod hat diese größte Love Story unserer Zeit zunichte gemacht.« »Ach, das war's also, wovon Sie sprachen?« »Nur beiläufig. Es ist etwas seltsam an unserer Gruppe. Wir sind einander auf unglaublich erstaunliche Weise angepaßt - fast als wären wir vom Schicksal dazu ausersehen, gemeinsam an dieser Aufgabe zu arbeiten.« »Wir werden es jedenfalls versuchen, Joe.« »Genau. Diese zwei tragischen Todesfälle haben uns sehr stark motiviert. Und die bei den Autopsien gewonnenen Erkenntnisse - mir schwirrt der Kopf. Wenn die Leber ...« »Wie ist es dort drüben? In der Dordogne?« unterbrach ihn Beckett. Hupp warf ihm einen kurzen Seitenblick zu und fühlte sich auf einmal an dert anderen Beckett erinnert, wie er unter den heißen Lampen des Operationsraumes gestanden hatte, wie geschickt und sicher er das Skalpell geführt hatte. Ja doch, dieser Beckett hier im Flugzeug war der gleiche, der Francois mit Flüchen bedacht hatte. 194 »Jeden Herbst in der Dordogne gehen wir auf die Jagd nach dem cepe-Püz, boletus edulis oder Steinpilz«, sagte Hupp. Er führte die Fingerspitzen an die Lippen und hauchte einen Begeisterungskuß in die Luft. »Bill, wenn wir Sieger geworden sind über diese Seuche, dann müssen Sie mit Ihrer Familie zu uns kommen. Wir werden eine Party machen - cepe und Erdbeeren ... unsere kleinen fraises des bois!« »Abgemacht!« Beckett nahm eine Kurskorrektion vor. Die Erde unter ihm war ein Flickenteppich von rechteckigem Farmgelände, das er durch die teilweise aufreißende Wolkendecke sehen konnte. Die Lear fühlte sich unter seinem Griff glatt und ruhig an. »Wir in der Dordogne sind sehr altmodisch«, fuhr Hupp fort. »Bei uns in Frankreich behandelt man uns ungefähr so, wie bei euch in den Etats Unis die Hillbillies behandelt werden, die Hinterwäldler, nicht wahr? Und unsere Heirat, die von Yvonne und mir, war immer eine beschlossene Sache. Aber wir haben uns natürlich seit unserer Kindheit gekannt.« »Und davor? Keine kleinen heimlichen Spielchen?« »Im Gegensatz zu all den bösen Legenden - wir Franzosen prahlen nicht mit unseren erotischen Errungenschaften. Meine Lippen sind jedenfalls versiegelt.« »Also eine von den Familien arrangierte Heirat? Und ich habe immer geglaubt, so etwas ist längst überholt - wie die Blechhosen und das Freierkamisol.« Hupp war sichtlich verwirrt. »Blechhosen und ... Ah, Sie meinen die Rüstungen.« Er zuckte die Achseln. »Wie alt sind ihre Töchter, Bill?« »Acht, die andere elf. Warum? Denken Sie etwa an Heiratsarrangements?« »Meine Söhne sind vierzehn und zwölf. Kein unpassender Altersunterschied.« Beckett starrte zu ihm hinüber. »Reden Sie im Ernst?« »Bill, haben Sie daran gedacht, wie die Welt aussehen wird, wenn wir diese Seuche besiegt haben?« »Kurz, ja.« »Es ist nicht gut, daß unser Team mit den anderen Fachleu195 ten, die sich mit der Sache beschäftigen, nur über die politischen Führer unserer jeweiligen Nationen korrespondieren dürfen.« »Jeder sucht seinen Vorteil?« »Genau das hat auch Sergej gesagt. Aber die Dinge ändern sich. Das mit unseren Kindern meine ich ganz ernst, Bill. Warum sollten nicht Menschen mit Intelligenz ihre Kinder mit den Kindern intelligenter Eltern vermählen?« »Aber Sie wissen doch, daß das so meist nicht funktioniert, Joe. Die Nachkommen müssen nicht zwangsläufig ...« »Oh, glauben Sie mir, ich kenne die Vererbungsgesetze, Bill. Abweichung nach innen. Unsere Enkel würden wohl anlagemäßig nicht ganz so gescheit sein wie ihre Eltern ... Vielleicht ...« »Was meinen Sie eigentlich wirklich, Joe?« »Diese so völlig veränderte Welt, die unsere Kinder von uns übernehmen werden. Das Muster tritt bereits deutlich zutage. Kleine lokal begrenzte Regierungsstrukturen und scharf abgeriegelte Grenzen. Überall wird es nur noch Schweizer geben. Fremde, Ausländer werden argwöhnisch und mit Haß betrachtet. Xenophobie.« »Und mit guten Gründen!« »Zugegeben. Aber bedenken Sie auch die Folgen, wenn die großen Regierungen verschwinden.«
»Sie glauben wirklich, daß sie am Aussterben sind?« »Das ist doch offenkundig. Was ist schon eine Zentralregierung wert, wenn ein Einzelner im Alleingang sie zunichte machen kann? Die Regierungen danach werden so lokal begrenzt sein müssen, daß jeder seinen Nachbarn kennt.« »Gütiger Himmel!« Beckett holte zitternd Atem. »Vielleicht gelingt es uns, eine einzige weltweit gültige Geldwährung einzurichten«, fuhr Hupp fort. »Vielleicht etwas auf elektronischer Basis. Es wird gewisse Handelsbeziehungen geben - glaube ich jedenfalls. Aber wer würde schon noch daran zu denken wagen, seinen Nächsten anzugreifen, wenn ein einziger Überlebender sämtliche Angreifer ausrotten könnte?« 196 »Ja, aber wenn wir eine Heilung ...« »Die Variationsmöglichkeiten dieser Pest sind unendlich, Bill. Soviel immerhin ist doch bereits klar.« »Aber es wird natürlich immer noch Soldaten geben«, sagte Beckett mit einem zynischen Unterton. »Wer würde es dann noch wagen, ein Militärpotential weiterbestehen zu lassen, wenn das Faktum, daß man solch eine Streitmacht beibehält, geradezu zwangsläufig in die Katastrophe führen muß? Wenn die Bevölkerung des eigenen Landes damit ständig von der Vernichtung bedroht ist?« »Was wollen Sie damit sagen?« »Ihre Militärstreitkräfte sind lahmgelegt, sie können ihre Künste nicht länger an schwächeren Nachbarn erproben. Alle alten Waffensysteme sind nutzlos und überholt.« Beckett vergaß momentan den Kurs der Lear und starrte Hupp an. »Jesus Christus!« flüsterte er. »Wir haben die Büchse der Pandora aufgerissen«, fuhr Hupp fort. »Und diese Seuche ist nur die erste von vielen, die da kommen werden, fürchte ich. Denken Sie doch mal einen Augenblick darüber nach, Bill ... Die ungeheuren Variationsmöglichkeiten dieser Seuche ...« »Und einer hat das im Alleingang angerichtet.« Beckett nickte vor sich hin. Er warf einen Blick auf die Mirage-III hinter der Spitze seines linken Tragflügels, dann wandte er sich wieder Hupp zu. »Ein Polizeistaat könnte aber ...« »Sergej glaubt das nicht. Er hat über die Sache ziemlich gründlich nachgedacht. Er argwöhnt sogar, daß seine Herrn und Meister bereits einen Plan ausgeheckt haben, bestimmte Wissenschaftler aus dem Weg zu räumen, sobald sie ...« »Und was ist, wenn sie den Falschen dabei auslassen?« »Genau. Was passiert, wenn es eine neue Pest gibt? Eine Mutationsform? Und sie haben dann nicht die Möglichkeiten, mit der neuen Bedrohung fertig zu werden? Oder: Was stellen vielleicht die Nachbarländer mit ihren eigenen Wissenschaftlern auf die Beine? Ach nein, nein! Dieser Tiger hat einen sehr langen Schwanz.« 197 Beckett legte die Lear auf Automatiksteuerung und informierte ihre Eskorte darüber. Dann lehnte er sich zurück und verschränkte die Hände im Nacken. »Das Flugzeug fliegt ganz allein?« fragte Hupp mit einem Anflug von Furcht in der Stimme. »Ja, es fliegt ganz allein.« »Im Englischen gibt es diese höchst brauchbaren Reflexivformen der Sprache«, bemerkte Hupp. »Meine Gedanken lassen sich besser englisch ausdrücken - daß nämlich wir selbst diesen Wahnsinnigen, diesen >Verrückten<, geschaffen haben. Wir haben das alles selbst auf uns herunterbeschworen, gegen uns selbst. Wir sind zugleich Akteure und Ziel der Aktion.« »Sie denken darüber schon eine ganze Weile nach«, stellte Beckett fest. »Ich glaube, ich kann mir vorstellen, was für eine Welt unser Kinder von uns werden übernehmen müssen!« »Also ich hoffe nur, daß da noch irgendeine Welt für sie übrigbleibt. Ganz gleich, welche.« »Das wäre dann der erste Geschäftspunkt, wie?« Wieder warf Beckett Hupp einen Seitenblick zu. »Haben Sie das wirklich ernst gemeint, das mit der Heirat zwischen Ihren Söhnen und meinen Töchtern?« »Absolut ernst. Wir alle fühlen uns gedrängt, über die neuen Grenzen hinweg, Heiraten genau zu planen. Wir werden es müssen. Außerdem ist ja Exogamie keineswegs so eine ganz neue Erfindung, Bill!« »Jaaah, wir werden das Genreservoir immer mehr erweitern müssen.« »Oder aber den genetischen Untergang in Kauf nehmen müssen.« Beckett nahm die Hände vom Nacken und blickte prüfend über die Instrumente. Er nahm eine leichte Kurskorrektur vor. Dann sagte er: »Wir brauchen nicht bloß ein Mittel gegen diese Seuche, wir brauchen eine medizinische Technik, um mit dem umfassenden Problem fertig zu werden.« »Medizinisch?« fragte Hupp. »Bloß so medizinisch?« 198 »Ich verstehe, worauf Sie anspielen, Joe. In der öffentlichen Gesundheitspflege hat es schon immer politische Hemmnisse gegeben, aber dies da ...« »Wir glauben, es müßte über die ganze Erde strategisch verteilte Zentren geben, engste Kommunikationsverbindungen, einen absolut ungehinderten Computeraustausch ohne die Behinderungen durch nationale Grenzen, Kommunikation per Ton und Video. Ohne Zensur! Die Wissenschaftler sollten einander
ungeachtet ihrer Nationalität - in die Hand arbeiten!« »Joe! Sie träumen!« »Vielleicht.« »Aber unsere Familien dienen als Geiseln dafür, daß wir uns wunschgemäß verhalten, verdammt noch mal!« »Und wenn irgendein Labor in der Sowjetunion die Lösung vor uns findet?« »Um Himmels willen! Wollen Sie mir sagen, daß Sie an eine Weltverschwörung der Wissenschaftler denken!« »Genau das meine ich. Und jeder Forscher, der sich das mal durchdenkt, wird zu den gleichen Schlußfolgerungen kommen müssen wie wir.« »Das glauben Sie wirklich? Warum?« »Weil darin eine ungeheuerliche Macht liegt... - und weil alles andere nur Chaos bedeuten würde.« »Und Sergej spielt dabei mit?« »Sergej verfügt über eine höchst subtile Wertschätzung dessen, was man persönliche Macht nennen könnte. Außerdem hat er Freunde in strategischen Positionen in der Sowjetunion.« »Und er ist bereit, gegen seine eigenen Bosse zu handeln?« »Er hat den Vorschlag gemacht, daß wir die Sache ... ah ... - unter uns als >die Foss-Godelinskij-Kabale< bezeichnen sollten.« Hupp räusperte sich. »Ihr Freund Ruckerman ...« »Der sitzt in Washington, und ich, ich bin hier.« »Aber wenn sich die Möglichkeit bieten würde?« »Ich muß darüber nachdenken.« »Denken Sie nach! Lang und genau, Bill! Denken Sie dar199 an, was alles an Gutem mit diesem neuen Wissen bewirkt werden könnte! Denken Sie an den Wert, der allein schon in solchem Wissen liegt!« Beckett starrte zu Hupp hinüber. »Sie überraschen mich, Joe.« »Ich erstaune mich selber. Aber ich glaube, das wäre die logische Antwort darauf, wie wir unseren Kindern eine Welt vererben könnten, in der sie dann würden leben wollen.« »Und Francois, was sagte der dazu?« »Legen Sie Wert auf seine Meinung?« »Bei so etwas? - Ja!« »Irgendwie sind Sie sich ähnlich, Sie und Francois. Sie sind beide Konservative. Und darum hat sich Francois dann selbst überzeugt. Er sehnt sich danach, daß gewisse Werte in der Welt erhalten bleiben mögen.« »Nun, die Politiker haben weiß Gott einen richtigen Saustall angerichtet.« »Francois sagte etwas Ähnliches in dieser Richtung. Aber schließlich hat er keinen Politiker seit de Gaulle selig für bewunderungswürdig gehalten.« »Schon wieder ein General«, sagte Beckett. »Wie - etwa Eisenhower?« »Touche!« »Also, Sie werden darüber nachdenken?« »O ja!« »Bien. Wo ist der Abschlußbericht der Autopsie? Ich hab ihn noch in Ihren Händen gesehen, bevor wir aus dem DIC abfuhren.« »In meiner Bordtasche, genau hinter mir.« Beckett gab mit dem Ellbogen ein Zeichen. »Ganz oben. Es ist offen.« Hupp beugte sich hinüber und zog ein Bündel Papiere aus der Tasche hinter Becketts Sitz. Dabei spähte er in den dahinterliegenden Teil des Flugzeugs. »Sergej und Francois schlafen«, sagte er. Dann richtete er sich wieder auf und strich die Papiere auf den Knien glatt. »Das beste, was sie machen können«, sagte Beckett, zog 200 eine Sektionskarte hervor und holte eine RDF-Peilung für die Position ein. »Wo sind wir?« fragte Hupp und schaute aus der Kanzel. Er sah eine dichte Wolkendecke, die im Sonnenlicht wie von innen her zu leuchten schien. »Wir werden bald über Mansfield/Ohio fliegen. Von da an müssen wir nach Norden, um Pittsburgh zu umgehen.« Wieder schaute Hupp auf den Autopsiebericht in seinem Schoß. »Bill? Ist es wahr, daß Sie ... daß Sie geweint haben, als Ariane gestorben ist?« »Hat Francois das erzählt?« »Er hat gesagt, Sie haben ihn angeschrien und verflucht und dabei geweint, und er hat gesagt, daß er das für ganz wundervoll gehalten habe, daß Sie das taten. Der Abschied eines Freundes sollte wirklich nicht als beiläufige Nichtigkeit behandelt werden.« »Ja. Die Lady war ein echter Kerl«, murmelte Beckett. »Ein echter Kerl!« Wenn ich nicht für mich einstehe, wer steht dann für mich ein? Aber wenn ich nur für mich da bin - wer bin ich
dann noch? Hüls Anders Bergen knipste sämtliche Lampen in seinem Büro aus und ging zum Fenster. Der Gang war ihm selbst im Finstern vertraut. Die Straßenbeleuchtung des New Yorker Platzes der Vereinten Nationen erfüllten die neblige Nacht mit einem schwachen Glühen, einer irgendwie unterbelichteten silbernen Bewegtheit, dampfbrodelnd und geheimnisvoll. Obgleich er genau wußte, daß die Temperatur im Raum sich nicht verändert hatte, war ihm plötzlich kalt. Eine ganze Stunde lang hatte er sich immer und immer wieder mit der Pressekonferenz des vergangenen Nachmittags beschäftigt. Die bekannte Mahnung Kissingers mischte sich immer wieder in seine Gedanken ein: 201 »Es ist ein Fehler zu glauben, daß alles, was bei einer Pressekonferenz gesagt wird, wohlüberlegt ist.« Aber sein Stab war sich ausnahmslos darüber einig gewesen, daß man den Reportern irgend etwas sagen müsse. Er I hatte sich zu einer Background-Darstellung entschlossen, zu Informationen, die die Leute dann > einem hohen Beamten der Vereinten Nationen< zuschreiben konnten. Zu viele unbekannte prekäre Dinge komplizierten den Weltschauplatz. Es gab zu viel Versteckspielerei. Er hatte sich dazu entschlossen, die Schleier ein bißchen zu lüften. Es gab den vorläufigen Bericht der Archäologen, die man beigezogen hatte, um die Asche des niedergebrannten Hauses in Seattle zu untersuchen. Diese Entscheidung verriet eine Spur von Genialität, dachte er. Archäologen! Tapfere Burschen! Wußten genau, daß sie nicht zu ihren Familien würden zurückkehren dürfen. Der Dunstvorhang vor seinem Fenster wurde in einem plötzlichen Windstoß durchsichtiger, und er sah drunten, tief drunten, einen Fahrzeugkonvoi, der sich zur Spitze der Insel hin bewegte. Das waren wohl ihre militärischen Beschützer bei der Ablösung. Seit der Blockade der Tunnels und der Sprengung der Brücken, galt Manhattan jetzt als ziemlich sichere Bastion. Innerhalb der City gab es noch immer brand- j zerstörte Enklaven, und nachts fuhren nur offizielle Fahr- 1 zeuge auf den Straßen, doch das alles hatte sich zu einem neuen Rhythmus zurechtgerüttelt, zu etwas, das manche als >sicher< bezeichneten. Eine falsche Sicherheit, dachte Bergen. Der militärische Sperrkordon beschrieb eine gezackte Linie um die City; sie reichte nach New Jersey hinein, von nahe Red Bank westwärts bis Bound Brook, schwang dort nach Norden, die Watchung Mountains entlang nach Paterson; von da an wurde die Sperrlinie zunehmend wirrer, wanderte über die Grenze New York/New Jersey über die White Plains j und zum Long-Island-Sund im Norden von Port ehester I hinaus. >Die Flammen-Mauer<, nannten die Leute das und wiegten 202 sich in einem Gefühl der Sicherheit, wenn sie sich die breite schwarzverbrannte Barriere jenseits ausmalten, eine Gegend, in der Aschewolken um Ruinenhügel drifteten, über die unbestatteten Leichen derer, die dort zugrunde gegangen waren. Bergen dachte nur ungern daran, wie viele tote Menschen diese Feuer-Mauer bedeutete; jene, die gestorben waren, als der feurige Wall ins Werk gesetzt wurde, und die anderen, die beim Versuch, in die Zufluchtsstätte New York zu gelangen, den Tod gefunden hatten. Barrieren, dachte er. In dieser neuen Welt bestand alles nur noch aus Barrieren. Aus Identitätsausweisen und Barrieren. Man konnte einen Menschen kurzerhand erschießen, weil er nicht die gültige Identitätskarte besaß. Das Barrier Command hatte den Ton bestimmt. Für Bergens Ohren klang in dem Sicherheit versprechenden Begriff etwas Übles mit. Er malte sich die Seeblockade um Irland und Großbritannien aus, die kombinierte See-Landblockade in Nordafrika. Massive Abriegelung, war das einzige rechte Wort dafür. Das Leuchtzifferblatt auf seiner Uhr verriet Bergen, daß es erst 8:53 abends war, weniger als drei Stunden her, seit er seinen Auftritt bei der Pressekonferenz in den Abendberichten der Fernsehstationen kritisch beurteilt hatte. Der Chefnachrichtensprecher plapperte papageienhaft alles nach, was der >hohe UNO-Beamte< von sich gegeben hatte. »Wir haben grundsätzlich eine Entwicklung nicht zur Kenntnis genommen, die auf dem Sektor der Technologie und der wissenschaftlichen Forschung stattgefunden hat. Wir haben die zentrale Bedeutung dieses Faktors und seine Auswirkungen auf alle internationalen Angelegenheiten nicht erkannt. Soweit mir bekannt ist, hat kein einziger Spitzenpolitiker in irgendeiner Regierung irgendeines Landes ernsthaft die Möglichkeit in Erwägung gezogen, daß ein einziger Mensch, auf sich gestellt, ein derart verheerendes Chaos bewirken kann, wie dieser Mann, O'Neill, es getan hat.« Die nächste Frage hatte man erwartet, die Antwort sorgfältig vorbereitet. 203 »Das Beweismaterial ist überwältigend, daß es dieser John Roe O'Neill war und daß er ohne Hilfe anderer vorging.« Die Reporter hatten nicht damit gerechnet, daß er offen und ehrlich zu den kriminaltechnischen Ergebnissen in Seattle sprechen werde. »Wir haben inzwischen den nahezu unumstößlichen Beweis, daß er im Keller dieses Hauses in Ballard sein Teufelszeug zusammengebraut hat.«
»Sir! Teufelszeug? Einzahl?« Die Frage kam von einem schütterhaarigen Reporter von der Post. »Darüber haben wir leider noch keine Gewißheit.« Dann hatte sich die Pressekonferenz auf das Gebiet verlagert, um dessentwillen Bergen sich veranlaßt gesehen hatte, sie überhaupt einzuberufen, nämlich scharfe Anschuldigungen und Herausforderung an die Adresse des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika und ein halbes Dutzend Premierminister und Regierungschefs. Nordafrika - und nun auch noch die Saudis. »Angeführt von der Delegation der Sowjetunion«, hatte er den Reportern erklärt, »wird ein gewisser Druck ausgeübt, der auf eine drastische Änderung der Taktik in Nordafrika und den angrenzenden Gebieten abzielt.« Nach all den Jahren, in denen er sich angewöhnt hatte, jedes seiner Worte überbehutsam zu zensieren, hatte Bergen es geradezu als Wohltat empfunden, daß er das sagen konnte, daß er einfach die reine Wahrheit ohne diplomatische Verbrämungen sagen durfte. Sollen sie mich doch abwählen, dachte er. Der Rommel-Feldzug hatte klar bewiesen, daß Wüstenpatrouillen durchlässig sein konnten, daß man sie durchbrechen konnte. Die Briten waren hinter Rommels Linien vorgestoßen und hatten sich immer wieder zurückziehen können. Also mußte man jetzt und heute das Problem der Saudis unter diesem Gesichtspunkt angehen. Wie schwer war der Verseuchungsgrad? Israel drohte mit der atomaren Sterilisation seiner »Gren204 zen«, eine streng in Richtung Saudi-Arabien geschüttelte Talmudistenfaust. Einzig und allein die Drohung des Verrückten hielt sie zurück. Würde diese atomare Sterilisation ein Verstoß gegen die Absichten dieses O'Neill sein, würde sie seinem Racheplan zuwiderlaufen? Unter den nach Mekka einfliegenden Pilgern war eine nicht mehr feststellbare Anzahl von Libyern gewesen. Und was war mit dem Ausgangspunkt der Ansteckung Nordafrika? Die Sowjets wollten einen >Feuerring< haben, eine neue Flammenbarriere. So lautete ihre euphemistische Bezeichnung für einen Plan, eine Kette miteinander verbundener Vorposten entlang der Peripherie des Gebietes zu installieren: Flammenwerfer, Radar, Luftüberwachung bei Tag und Nacht... »Zum Teufel mit den Kosten!« sagten sie. »Wir reden vom Überleben!« Aber die reale Frage lautete natürlich, wo sollte dieser sowjetische Perimeter angesetzt werden? Das SaudiProblem ließ die Schwierigkeiten plastisch zutage treten. Israel hegte höchsteigene Befürchtungen darüber, wo die Sowjetunion ihren >Feuer-Ring< zu installieren beabsichtigte. Hysterie ist ansteckend, dachte Bergen, Die USA wollten eine >Bandschneise< von Kobaltstaub rund um das Gebiet, sozusagen einen radioaktiven Burggraben, den nichts Lebendiges durchqueren und danach weiterleben könnte. Unter anderem erfuhr Bergen aus diesem Verlangen, daß die USA heimlich wie Eichhörnchen einen beträchtlichen Vorrat derartigen Staubes vergraben hatten. Er hatte dagegen argumentiert, daß die radioaktive Verseuchung des gesamten Mittelmeerbeckens die unvermeidliche Folge sein müsse. Israel schrie vor Empörung. Aber welche Wahl blieb ihnen denn? war die Frage der USA gewesen. Welcher andere Beschluß sei denn sinnvoll, jetzt, da die Türkei, der Libanon, Syrien und Süditalien abgeschrieben werden müßten! Einzig Israel verharrte noch als 205 höchstgefährdete seuchenfreie Insel in dem gesamten von der Pest befallenen Gebiet. Und in welchem Maß war Israel tatsächlich seuchenfrei? Die ließen ja schließlich keine ausländischen Beobachter zu Untersuchungen ins Land! Wie der französische UNO-Botschafter bei der Morgensitzung gesagt hatte: »Verluste sind unvermeidlich. Und je rascher wir das begreifen, desto besser.« Zur Untermauerung seiner Argumente hatte er die Bretagne, Zypern und Griechenland angeführt. Das alles hatte Bergen der Presse gesagt, klar, einfach und drastisch und ohne die sonst üblichen Euphemismen. Er unterschlug nur die hitzige Auseinandersetzung zwischen den Franzosen und den Israelis. Es war zwar nichts Neues, daß man sich innerhalb der Mauern der Vereinten Nationen gegenseitig beschimpfte, aber diesmal hatte das Gezeter alles frühere Gezänk weit übertroffen. »Ihr seid antisemitische Bestien!« hatte der israelische Delegierte gebrüllt. Seltsamerweise hatte der Franzose nur geantwortet: »Auch Frankreich ist ein Mittelmeerland. Und was immer wir dort tun, wird seine Auswirkungen auch auf uns selbst haben.« Der Israeli wollte das nicht gelten lassen: »Glauben Sie nur nicht, daß Sie uns täuschen können! Der Antisemitismus in Frankreich reicht weit in Ihre Geschichte zurück!« Begreiflich, daß sie die Geduld verlieren, dacht Bergen. Aber irgendwie mußte die Diplomatie über diese gräßliche Atmosphäre hinweggerettet werden. Keiner wagte es mehr, irgend etwas im Alleingang zu unternehmen. Konnte man den Staat Israel irgendwo in Zentralbrasilien neu aufbauen, wie das von einer Seite vorgeschlagen worden war?
Eine neue Diaspora? Vielleicht kommt es noch dazu, obwohl Brasilien verkündet hatte, daß es nur die Hälfte der Bevölkerung Israels aufnehmen könne, und dabei waren noch unzählige einschränkende Maßnahmen als Bedingung an dieses Angebot ge206 knüpft gewesen. Brasilien schielte natürlich nach der Nuklearkapazität Israels. Bergen stellte sich die Israelis vor, wie sie da in ihrer Oase mitten in der Wüste hockten, die Atombomben schön in den Talmud verpackt. Eine leicht erregbare Rasse, dachte er. Niemand konnte vorhersagen, wie sie auf eine solche internationale Entscheidung reagieren würden. Und Brasilien -hatte man sich dort wirklich klargemacht, was man da ins Land lassen wollte? Bergen war davon überzeugt, daß Brasilien binnen kurzem zum neuen Staat Israel werden würde, daß es keine Möglichkeit geben würde, dermaßen tüchtige und geschickte Menschen in Zaum zu halten. Und es gab noch so viele unbekannte Faktoren. Was ging wirklich innerhalb der Grenzen Israels vor? Sie würden dort ausländische Beobachter zulassen müssen, und zwar bald. Der brasilianische Vorschlag hatte Staub in den Medien aufgewirbelt. Bergen schob das beiseite. Ein interessantes Ablenkungsmanöver, möglicherweise, aber das Ausmaß einer derartigen Populationsumschichtung ließ ihn erschaudern. Wie er es erwartet hatte, blinkte das Lämpchen an seinem roten Telefon und die Klingel ertönte. Bergen setzte sich in den Sessel und nahm den Hörer ab. Prescott überfiel ihn sofort mit einer Überraschung. »Das war ein verdammt geschickter Zug, die Sache an die Öffentlichkeit zu bringen, Hab!« Aha, die vertrauliche Masche! Irgendwas war am Kochen, wie die US-Amerikaner zu sagen pflegen. »Freut mich, daß Sie das denken, Adam. Ich war mir nicht so recht sicher, wie Ihre Reaktionen sein würden.« Der Präsident gab ein leises Kichern von sich. »Meine alte Mutter sagte immer, wenn was anfängt, sich am Boden des Topfes festzusetzen, dann mußt du kräftig umrühren.« Küchenweisheiten, bei Gott! dachte Bergen. Er sagte: »Ja, etwas in dieser Richtung schwebte mir vor.« »Wußte ich, wußte ich. Ich hab Charlie gesagt, das ist genau, was Sie beabsichtigen. Aber sagen Sie mir, Hab, was halten Sie von diesem Admiral Francis Delacourt?« 207 Bergen erkannte den Ton. Jetzt kam Prescott direkt zum Kern. Der Chef des Barrier Command stellte nämlich ein echtes Fragezeichen dar. Eine geballte Ladung Macht hockte dort unkontrolliert auf Island. Der Generalsekretär beneidete Delacourt nicht, besonders jetzt nicht, wo Prescott sich offensichtlich auf ihn einzuschießen begann. »Er scheint seine Sache recht gut zu machen, Adam.« »Ziemlich gut?« »Was stört Sie, Adam?« Das sind die Vorteile der Vertraulichkeit, dachte Bergen. Man kann inhaltsschwangere Fragen stellen, ohne sich mit diplomatischen Nettigkeiten aufhalten zu müssen. »Der ist doch irgendwie Franzose, oder?« fragte Prescott. »Seine Familie stammt aus Quebec, ja.« »Ich hab gehört, er ist Historiker.« Bergen erinnerte sich an die Äußerung Delacourts, als er die Leitung des Barrier Command annahm. Da hatte ein pedantischer Ton mitgeklungen: »Es ist das gleiche Problem, vor dem die Römer standen, nur mit modernen Werkzeugen.« »Meine Informationen besagen, daß er ein recht guter Historiker ist, Adam«, beschwichtigte Bergen. »Patton war aber auch Historiker«, sagte Prescott. Patton? Oh, aber ja doch, der Panzerkommandeur aus dem Zweiten Weltkrieg ... Und damals hatte es doch so irgendwas gegeben, weil Patton die Römer bewunderte oder so. »Eine nicht unbeträchtliche Zahl von militärischen Führungskräften haben dieses Steckenpferd geritten«, sagte Bergen. »Mich stört's«, sagte Prescott. »Ob der auch anfängt, an Größenwahn zu leiden?« Auch? dachte Bergen. War das etwa die Meinung, die Prescott über Patton hegte? »Ich habe bisher noch keine Anzeichen entdeckt«, antwortete er. »Also, ich glaube, wir sollten ihn nicht aus den Augen lassen«, sagte Prescott, und dann kam der Kick: »Die Russen haben sich grad wegen ihm an uns gewandt. Er macht denen 208 Sorgen. Genau wie uns. Und übrigens, Hab, es hat mich höllische Mühe gekostet, die wieder runterzustreicheln. Ihr heutiges inoffizielles Briefing, Hab, hat sie ehrlich aufgeregt.« »Aber es ist beruhigend, Sie auf meiner Seite zu wissen, Adam.« »Oh, drauf können Sie sich verlassen, Hab. Na ja, genug geredet. Warum holen Sie sich nicht mal die Allgemeine Order des Admirals vor und schauen sie sich noch mal an?« »Mach ich, Adam. Was ganz Spezielles, worauf ich achten sollte?« »Mist! Manchmal reden Sie genau wie'n Amerikaner«, sagte Prescott. »Nein, ich hab da keine besonderen
Absichten, im Augenblick jedenfalls keine Wünsche. Ich meine nur einfach, wir sollten damit beginnen sicherzustellen, daß er unsere Absichten erraten muß, nicht umgekehrt.« »Ich notier mir, daß ich seinem Verhalten meine besondere Aufmerksamkeit widmen soll«, sagte Bergen. »Tun Sie das, Hab! Und wenn Sie schon mal dabei sind, vielleicht könnten Sie sich auch mit den Gerüchten befassen, daß Delacourts Jungs ein paar Toteneimer mit sämtlichen Passagieren an Bord versenkt haben.« »Aahh? Davon habe ich nichts gehört, Adam. Neu?« »Gerade durchgesickert. Na ja, war schön, wieder mal mit Ihnen zu reden, Hab. Solang wir zwei beide sauber bleiben, haben wir ja noch die Chance, mal unsere Golfrunde zu spielen.« Sie hängten beide gleichzeitig auf. Bergen holte seine Kopie der Generalvollmacht des Admirals Delacourt hervor und las sie zweimal durch. Die Befehle waren recht klar. »Bei physischer Kontaktnahme mit irgendeiner Person aus den mit Bann belegten Gebieten, werden Ihre eigenen Leute sie töten oder an Land treiben, wo die Bewohner wahrscheinlich die Geschichte für uns erledigen werden.« Dieser Absatz zum Beispiel. Man konnte ihn einfach nicht mißverstehen. Bergen lehnte sich zurück und dachte über Delacourt nach. 209 Es war ziemlich deutlich, daß der Admiral seine Aufgabe als eine Art Pirsch in den Buchten und Klüften dieser felsigen Küsten ansah. Als ein Spiel, eine Jagd? Wenn ja, dann stand auf Mißerfolg der Tod. »... das gleiche Problem, vor dem die Römer standen, nur mit modernen Werkzeugen.« Werkzeuge? Waren die Schlachtschiffe und das ganze restliche Arsenal nur das in der Vorstellung von Delacourt? -Werkzeug? - Diese ganze geballte Feuerkraft. Aber vielleicht hatte der Mann ja recht. Wahrscheinlich hatte Caesar ganz ähnlich gedacht. Aber was hatten die >Toteneimer< mit Prescotts Besorgnissen zu tun? Bergen hatte keine Lust, an diese Schiffe zu denken, aber er konnte das jetzt nicht einfach von sich fortschieben. War es wichtig, ob Delacourts Leute ... - also in einem größeren Zusammenhang wichtig, ob die ein paar von diesen Schiffen versenkten, obwohl die Passagiere noch an Bord waren? Vom moralischen Standpunkt aus, ja, da spielte es eine Rolle, aber ... die Schiffe selbst waren einfach eine Notwendigkeit. Nur Gott konnte wissen, was für Informationen der Verrückte zur Verfügung hatte. Also mußte man seinen Befehlen eben gehorchen. Die Iren müssen sämtlich nach Irland zurück, die Libyer nach Libyen und die Briten ebenfalls heim auf ihre kleine Insel. Es war der reine Wahnsinn! Die Berichte erregten bei Bergen Übelkeit. Mobs, aufgeheizte wilde Massen, machten Jagd auf die armen Flüchtlinge - Mobs in Spanien, Mobs in Deutschland, Mobs in Frankreich, Mobs in Kanada, Mobs in den USA; und mexikanische Mobs, japanische Mobs ... Sogar in Rotchina und Australien und wahrscheinlich überall sonst ... Mobs! Angst und Entsetzen waren so überwältigend geworden, daß man schon wieder einmal Sündenböcke brauchte. Die Berichte im Fernsehen über die gewaltsamen Repatriierungsmaßnahmen und über die Einschiffung der Menschen 210 hatten Bergen die Tränen in die Augen getrieben. Er wußte, daß es Einzelfälle von kühnem Widerstand auf der ganzen Erde gab: Säuglinge und Frauen und Kinder, die versteckt wurden ... doch die Paranoia und der wilde Wahnsinn -Selbstmorde, Morde, Lynchexzesse - sie waren es, die das Grundmuster der Zeit bildeten. Und wir haben immer geglaubt, wir wären >zivilisiert< und >MenschenToteneimer<, versenkte. Mit einem Seufzen knipste Bergen die Kranlampe an der Seite des Schreibtischs an und richtete sie auf seinen ' Schreibblock. Dann nahm er methodisch ein Blatt und schrieb einen kurzen Befehl an einen seiner Mitarbeiter. Admiral Delacourts Verhalten würde einer Überprüfung zu unterziehen sein. Als er fertiggeschrieben hatte, legte er beide Hände flach auf die Schreibunterlage und zwang sich, die Prioritätenliste durchzugehen. Die Saudis und Israel - Nummer eins. Der Feuerring oder ein Kobaltgraben? Da, fürchtete er, würden sich wohl keine Kaninchen aus dem Zylinder zaubern lassen. Was immer sie tun würden, es würde zu einer gigantischen Scheiße führen. Völlig ohne eigenes Zutun kam Bergen eine weitere Bemerkung Kissingers in den Sinn: »Die Schwierigkeiten im Nahen Osten sind nicht entstanden, weil die betroffenen Parteien sich nicht verstünden,
sondern vielmehr, weil sie sich gegenseitig nur allzu gut begreifen.« Es stand außer Zweifel, daß sich die Kobaltstrahlung aus211 breiten würde. Soviel immerhin gaben die US-Fachleute zu. Und wenn damit das nützliche öl aus Saudiarabien ausfallen mußte, würden dann die Sowjets, wie sie es bereits angedeutet hatten, einspringen? Bergen spürte, wie ein hysterisches Lachen ihm in die Kehle stieg. Er hätte am liebsten gesagt: »Versäumen Sie nicht die Fortsetzung morgen zur gleichen Zeit auf dem gleichen Kanal!« In keinem der gesponserten amerikanischen Monumentalschinken im Fernsehen war jemals eine derart gigantische Katastrophe gezeigt worden. Und dann verwandelte sich sein Angstfrösteln in ein Beben echten Zornes. Wieso mußte der Generalsekretär eigentlich die Verantwortung für dermaßen schauderhafte Entschlüsse allein tragen? Das war einfach zuviel! Aber dann mußte er sich eingestehen, daß er, in schlichtester Selbsterkenntnis, keineswegs die alleinige Verantwortung trug. Die Entscheidungsprozesse fanden heutzutage auf ganz anderen Ebenen statt. In einem plötzlichen Entschluß drehte er den Sessel zu dem roten Telefon herum, das sich in einer offenen Schublade befand, holte es auf den Tisch und wählte den Code für das komplizierte Scramblersystem. Ein Nachrichtenoffizier der US-Navy meldete sich, kaum hatte es einmal geklingelt. Er identifizierte sich als ein »Korvettenkapitän Avery«. »Könnte ich mit dem Präsidenten sprechen?« fragte Bergen. »Augenblick, Sir. Er ist in Camp David.« Die Stimme des Präsidenten klang wach und neugierig. »Was Neues, Hab?« Also immer noch die Freundschaftstour. Gut. »Adam, ich habe vergessen Sie zu fragen, ob die Sowjets auch über Ihren Kobaltvorschlag diskutiert haben, als sie sich meldeten.« »Oh. Gut, daß Sie das noch erwähnen.« Prescott klang nicht im geringsten erfreut. »Die haben darüber eine ziemlich 212 heftige Auseinandersetzung mit den Chinesen. Die Chinesen sind nämlich mehr für unseren Vorschlag.« »Wenn wir uns für die Kobaltlösung entscheiden, Adam, dann könnten wir doch gleichzeitig veröffentlichen, daß sämtliche Luftverkehrseinrichtungen der Erde in Bereitschaft stehen, um die Bevölkerung Israels in geordneten Transporten nach Brasilien zu verfrachten, oder?« »He, das ist aber dick aufgetragen, Hab.« »Aber ginge das?« »Sagen könnten wir's ja, aber es wäre nicht wahr.« »Wir müssen eben unser Bestes tun. Die Juden haben einfach zu lange gelitten und zuviel. Wir können sie doch nicht einfach im Stich lassen.« »So wie wir das mit den Griechen, den Zyprioten und ein paar anderen gemacht haben?« »Ja. Aber die hatten keine Atomwaffen!« »Das klingt mir recht kaltschnäuzig«, sagte Prescott. »Aber ich meine es überhaupt nicht so! Wir müssen diese Zwangssituationen mit Hilfe eines Prioritätensystems angehen, und das ist uns beiden doch wohl zur Genüge klar! Werden Sie Ihr Teil beitragen, Adam?« »Aufteilung der Verantwortung«, sagte Prescott. »Ja, das war's, woran ich gedacht habe, Adam.« »Ich werde mein Bestes tun, Hab.« Während der Präsident der USA sein rotes Telefon wieder in das Versteck in der Halle des Haupthauses in Camp David verstaute, warf er Charlie Turkwood einen hilflosen Blick zu. Charlie Turkwood stand, den Rücken den Flammen zugewendet, vor dem Kamin. »Dieser Saukerl von Bergen hat grad seinen Gegenzug rübergebracht«, sagte Prescott. »Und der ist eine wahre Wonne!« 213 Das Vergangene ist tot, Arabisches Sprichwort Die metallene Ladefläche des Lkws drückte eiskalt gegen Johns nackte Haut. Er rollte sich zu einem festen Ball zusammen, preßte die Arme um die Brust, doch die Fahrtbewegungen des Wagens warfen ihn hin und her, und durch die Wagenplane pfiff ein kalter Wind. Auf dem Schwimmer von Kinsale hatten sie ihn gezwungen, sämtliche Kleidungsstücke auszuziehen, dann hatten sie alles, auch die Sachen aus seinem Rucksack, unter sich verteilt. Wegen der sechs Tafeln französischer Schokolade wäre es fast zum Krach gekommen. Kevin O'Donnell schien an der ganzen Sache nicht interessiert zu sein. Er behielt nur das Geld und die belgische Pistole für sich. »Warum tut ihr das mit mir?« hatte John gefragt. »Ach, weil wir freundliche Menschen sind«, hatte Kevin O'Donnell geantwortet. »Sonst töten wir nämlich jeden, den wir fünfhundert Meter vor der Küste erwischen.« »Auch wenn jemand von draußen kommt, vom Meer?«
»Also, es ist so, Yankie, daß ich und die Jungs mit dir 'ne Enttäuschung erlebt haben. Wir hatten damit gerechnet, daß da noch ein paar Leute von einem Toteneimer ankommen, vielleicht 'ne hübsche Frau drunter, oder zwei.« Einer der Männer, die John die Kleider auszogen, sagte: »Da gibt's nämlich nicht mehr viel Weiber, die die Fahrt überleben.« Und dann zogen sie ihm sogar die Schuhe und die Socken aus, und er stand da, nackt, und schlang auf dem kalten Schwimmer die Arme um die Schultern, weil er vor Kälte bebte. »Freu dich doch, daß wir dich wie 'ne Ausnahme behandeln, Yank!« hatte Kevin O'Donnell gesagt. »Und jetzt rauf mit dir, Yank! Ins Auto mit ihm, Jungs! Und diesmal bringt ihr besser was Richtiges mit zurück, klar?« 214 Drei Mann Bewachung waren mit John auf die Ladefläche gestiegen. Er bekam den Namen des einen von ihnen mit: Muiris Cohn, ein kleiner Mann mit einem Gesicht, das irgendwie zwischen Stirn und Kinn zusammengequetscht zu sein schien; die engen Augen saßen zu dicht an der Nase, die Nase zu nahe über dem Mund, und das Kinn ragte fast an die Unterlippe heran. Die Wachmänner ließen sich auf einer Bank an der Längsseite nieder, aber John wurde gezwungen, auf dem kalten Boden zu bleiben. Als er sich über die Kälte beklagte, stieß ihn Cohn grob mit dem schweren Stiefel an und sagte: »Mann, du hassoch Kevin gehört! Du lebs' noch, und dassis mehr, als was dir zusteht.« Für John entwickelte sich die Fahrt zu einer langausgedehnten eisigen Tortur, und er hielt nur durch, indem er sich unablässig einredete, er werde das überleben und - sofern man ihm seine Geschichte glauben sollte - sich irgendwie einen Zugang verschaffen, um an die Maßnahmen heranzukommen, die man in Irland gegen die Seuche unternahm. Und dort würde er diese Bemühungen zunichte machen. Zuerst fuhr der Lkw einen steilen Hang hinauf, und John rollte gegen die hintere Ladeplanke. Seine Wächter zerrten ihn wieder nach vorn und verkeilten ihn zwischen ihren Füßen. »Welchen Weg fahren wir?« fragte einer die andern. »Ich hab wen sagen hören, die Straße durch Belgooly ist noch am sichersten«, sagte Cohn. »Und das heißt, daß sie Fivemilebridge wieder in Ordnung gebracht haben«, bemerkte der Frager befriedigt. Er schwieg kurz, dann fragte er: »Wie lang machen wir in Cork Pause?« »Aber, Gilly«, sagte Cohn, »wie oft machst du jetzt schon diesen Trip, und noch immer stellst du so blöde Fragen!« »Weil ich 'nen Durst hab, den der River Lee - und wenn er im Frühjahr überquillt - nicht löschen könnte«, sagte der Frager. »Da wirst du leider warten müssen, bis wir den Sack da los sind«, sagte Cohn und stieß John mit dem Stiefel in die 215 Schulter. »Auf dem Rückweg können wir ein ganzes Meer aussaufen. Das sind die zwei Möglichkeiten. Das oder wir müssen uns vor Kevin verantworten, was ich für meine Person nicht zu tun beabsichtige, wo der doch in so einer Scheißstimmung ist, wie ihr ja selber gesehen habt.« John verspürte eine flüchtige Wärme, die von den Füßen seiner Bewacher ausging, und rutschte näher, doch Cohn spürte die Bewegung in der Dunkelheit und stieß ihn unsanft mit einem Fuß fort. Er keifte: »Bleib uns mit deinem stinkenden Kadaver vom Leib, Yank. Ich wer' mich 'ne ganze Woche lang baden müssen, damit ich dein' Gestank wieder von den Füßen wegkrieg'.« John wurde gegen eine Metallstütze der Bank an einer Seite der Ladefläche gepreßt. Die scharfe Kante schnitt ihm in den Rücken, aber immerhin war der Schmerz ein anderer als der von der Kälte. Er konzentrierte sich auf diesen neuen Schmerz, klammerte sich geradezu an ihn. Die Dunkelheit, die Kälte, der Schmerz begannen sich auf ihn auszuwirken. Er hatte geglaubt, O'Neill für immer tief in sich selber begraben zu haben, ausgelöscht und versteckt für immer. Doch seine Nacktheit, dieses Dunkel, der kalte Boden des Lkws, das waren Umstände, die er sich nie zuvor hätte ausmalen können. Er spürte, wie sich da allmählich in seinem Innern ein schrecklicher Kampf vorbereitete. Und er begann wieder den wahnwitzigen Klang dieser Stimme in seinem Innern zu vernehmen - die Stimme des John Roe O'Neill, der nach Rache schrie. »Du sollst sie haben«, murmelte er. Seine Stimme wurde fast von dem Motorenkreischen übertönt, während sie so den Hang hinauffuhren. Doch Cohn hatte ihn gehört und fragte: »Haste was gesagt, Yank?« Und als John keine Antwort gab, stieß er wieder nach ihm. »Du wirst mir 'ne Antwort geben, oder deine sündige Seele soll verdammt sein!« »Mir ist kalt«, brachte John heraus. »Aaah, na das ist aber mal ganz recht so«, sagte Cohn. 216 »Weil, es war ja nicht so recht unsre Absicht, daß du so schön fein bequem bei uns zu Hause ankommst.« Cohns Gefährten lachten. »Genauso kommen wir alle nach Irland, kapierste das?« sagte Cohn. »Nackicht wie gerupfte Hühner, die gleich in den Topf wandern. Und hast keine Ahnung, in was für 'nem Scheißtopf du jetzt drinsteckst, du Teufel von
'nem Yank.« Dann schwiegen sie, und John sackte zurück auf die Arena seines inneren Kampfes. Ganz deutlich spürte er die Gegenwart O'Neills. Es war wie ein einzelnes isoliertes Auge, wie ein Lichtstrahl, was da aus seinem Kopf hervorstach. Keine Wärme in dem Blick. Kalt... kalt... so eisigkalt wie das Metall, auf dem sein Leib lag. Der Lkw holperte über eine Holzbrücke, und das Geräusch, das die Reifen auf den Planken machten, dröhnte wie Trommeln in Johns Ohren. Er spürte, daß O'Neill sich heraufzuwinden versuchte, und das erfüllte ihn mit Entsetzen. O'Neill gehörte nicht hierher! O'Neill würde brüllen! Und die drei Wächter würden sich dabei totlachen. Lichter! Er fühlte die Lichter draußen vor dem Lkw mehr, als daß er sie sehen konnte, aber ihr Vorhandensein brachte ihn wieder ein wenig zu sich selber. Er merkte, daß er die Augen fest geschlossen hatte, und öffnete sie nun langsam, und O'Neill versank wieder ins Tiefdunkle. Die Lichter waren zu beiden Seiten des Lkws - eine gutbeleuchtete Straße in einem Ort. Er hörte laute Männerstimmen. Es waren betrunkene Stimmen. Dann kam ein Gewehrschuß, auf den grelles Gelächter folgte. Er versuchte sich aufzusetzen, doch Cohn stieß ihn mit dem Fuß wieder zu Boden. »Aufgetakelt wie die Huren«, sagte einer der anderen Wächter. John verspürte eine lauernde Spannung. Hatten also doch Frauen überlebt? Dieses grelle Lachen? War seine Pest fehlgeschlagen? »Ich wollte, die wären Huren«, sagte Cohn. »Mir war sogar 217 meine alte Bella Cohen und die Monto recht. Mein Gott, wenn die noch die Röcke hochheben und mit dem Arsch wackeln würden!« »War jedenfalls besser als das da«, sagte der andere Wächter. »Männer mit Männern! Das ist gegen die Zehn Gebote, Muiris!« »Ja, aber sonst haben sie halt nichts, Gilly«, sagte Cohn. »Die haben nicht wie wir 'ne Chance, mal 'ne heiße Schwester ins Bett zu kriegen.« »Was mir dabei nicht gefällt, ist, daß sie danach eingescharrt werden«, sagte der zweite Wächter. »Warum hat man sie nicht in den Asylstationen aufgenommen, Muiris?« »Ooooh, das ist 'ne scheußlich ansteckende Geschichte, diese Pest. Das Leben ist kurz, also soll es besser lustig sein, wie der Dichter sagt.« »Also ich werd es nie mit 'nem Mann machen!« sagte Gilly. »Den Schwur heb dir besser auf, bis die Toteneimer überhaupt nicht mehr kommen, Gilly.« Cohn glitt die Bank an John vorbei nach hinten und spähte aus dem Lkw. »Isses nicht ein Jammer, daß die schöne Stadt Cork so ein Ende nimmt!« Er kehrte zu den andern zurück. »Habt ihr gehört, daß die englische Königin tot ist?« fragte Gilly. »Und ich schlag drei Kreuze hinter ihr drein! Je eher es ein Ende hat mit dem Haus Windsor, desto besser!« Der Lkw bog um eine enge Kurve, nach links, langsam, dann schaltete der Fahrer für die Talfahrt herunter. Die Wächter versanken in Schweigen. John ließ die Augen offen und beobachtete die Schatten auf der Plane über ihm. Auf glatter Bahn gewann der Lkw an Fahrt. »N-Fünfundzwanzig ist jetzt überwiegend sauber«, sagte Cohn. »Also werden wir ziemlich rasch in Youghal sein. Und dann heißt es wieder, zurück ins volle Scheinwerferlicht, was, Gilly?« »Ich glaub, deine Mutter hat den Teufel geküßt«, sagte Gil218 Cohn lachte. »Und vielleicht noch 'n bißchen mehr, wo sie grad dabei waren, was?« »Hast du auch 'nen gespaltenen Huf, Muiris?« »Oh, ich hab eben 'ne Ahnung, wie man in diesen schweren Zeiten am Leben bleibt, Gilly. Und du vergißt das besser nicht. Weil nämlich Kevin und ich, wir wissen genau, was jetzt nötig ist.« Gilly gab ihm keine Antwort. Trotz der Kälte und der Schmerzen merkte John, daß er dabei war einzuschlafen. Er hatte ziemlich lang am Ruder des Segelbootes gesessen, es hatte ihn angestrengt, und dann der Schock bei seinem Empfang an der Küste. Die Augen fielen ihm zu. Hastig riß er sie wieder auf, zwang sich mit aller Willenskraft, sie offen zu halten, obwohl er so erschöpft war. Er wollte nicht, daß O'Neill wieder auftauchte. Ab und zu kamen sie an einem in Gegenrichtung fahrenden Auto vorbei, und in dem fahlen Licht durch die Plane sah John, daß die Wächter die Augen geschlossen hatten. Einmal überholte ein sehr schnell fahrender Wagen sie. Die Scheinwerfer schössen einen Lichtblitz in ihren Wagen, dann wieder Finsternis. Der Motor des Wagens heulte überdreht und laut. »Von Dublin«, sagte Cohn. »Ich hab die Stander auf den Kotflügeln gesehn.« »Der hat doch mindestens zweihundert gemacht«, sagte Gilly. »Mindestens«, sagte Cohn. »Die reisen sehr schnell, was, unsere hohen Viecher!« Dreimal verlangsamte der Lkw die Fahrt zu einem ruckenden Kriechen über schweres Terrain, ehe sie wieder auf glatte Bahn gelangten. Beim vierten Mal fuhren sie ganz langsam, und Cohn murmelte nur ein Wort:
»Youghal.« »Bin ich froh, wenn wir aufladen und umkehren«, sagte Gilly. »Und wenn wir den Sack da los sind«, sagte Cohn und stieß John wieder mit der Fußspitze. John spürte eine schnelle Linkskurve, danach fuhren sie 219 etwa fünf Minuten lang im Niedriggang. Dann ein ruckender Halt, und jemand von vorn schrie: »Holt ihn raus!« Cohn schwang sich über die Rückwandung, es knirschte, als seine Füße auf Kies landeten. Und dann sagte Cohn: »Na also, los, runter mit ihm!« Die zwei Wächter bei John mußten ihm auf die Füße helfen. Mit nicht allzu unfreundlicher Stimme sagte Gilly: »Und jetzt hinaus mit dir, Yank! Vorsicht, da ist Schotter unter deinen Füßen.« Steif stieg John über die Ladeklappe. Seine Muskeln waren von der Kälte und dem bewegungslosen Liegen ganz verkrampft. Cohn packte ihn über dem linken Ellbogen und zog ihn rasch nach vorn ins Scheinwerferlicht des Lkws. Stolpernd und humpelnd kam John nach vorn und war froh, daß er nicht weiter über den Schotter und die Teerplacken laufen mußte. Die zwei Scheinwerfer des Lkws schnitten zwei von Insekten wimmelnde grelle Tunnels in die Nacht, und man konnte zu beiden Seiten der Straße buschbewachsene Böschungen ausmachen. Irgendwo rechts hörte er einen Fluß rauschen. Cohn wies in die Richtung, in der die Scheinwerfer strahlten. »Du gehst in die Richtung, Yank. Und komm bloß nicht wieder hierher zurück! Das da unten ist der Blackwater. Halt dich links davon, bis du über die Brücke bist! Anderthalb Kilometer weiter oben liegt 'ne Steinhütte. Die Priester heben dort 'nen Kleidervorrat auf für die, die's bis dort schaffen. Vielleicht ist da was für deinen häßlichen Kadaver dabei, was paßt. Und noch was, Yank, falls dich jemand fragt, es war Kevin O'Donnell von den Clogheen O'Donnells, der dir dein blödes Leben geschenkt hat. Aber wie ich Kevin kenne, wollte er nicht die Verschwendung von 'ner guten Kugel auf sein Gewissen laden. Was mich angeht, ich warte nur drauf, daß du tot den Blackwater runtergeschwommen kommst.« Vor Kälte zitternd, stammelte John: »Ww ... wwo . wwwelche Rrr ... Richtung ... gggeh ich?« »Von mir aus zur Hölle! Und jetzt los, aber Tempo!« Schmerztaumelnd machte John sich über den Schotter die 220 Straße entlang auf. Er hörte, wie der Lkw hinter ihm wendete, die Lichter waren auf einmal fort, das Motorengeräusch hielt ein wenig länger an. Er ging auf einer dunklen Straße, die nur spärlich von einem Mond wie ein weißlicher Tellerscherben erhellt wurde, wenn die Wolken aufrissen. Hohe Bäume mit dichtem Laub standen fast die ganze Strecke am Rand der Straße. Langsam ging er den Weg nach links, dann wieder nach rechts. Er fühlte sich lächerlich, zornig und hilflos. Womit hatte ich denn gerechnet? fragte er sich. Damit jedenfalls nicht'. Dann stieg die Straße stetig an, und er gelangte unter den ziehenden Wolken aus dem Schutz der Bäume auf einen schmalen Pfad zwischen Gestrüpp und Unkraut hinaus, direkt vor ihm lag eine Brücke über den Fluß, und direkt dahinter eine ypsilonförmige Weggabelung. Die linke Abzweigung war von einem Gewirr gefällter Bäume verbarrikadiert, und es roch nach Verfaultem. Vorsichtig tapste John über die Brücke, und als er an die versperrte Straße gelangte, sah er, daß ein nackter Leichnam in dem Baumgewirr hing. Der Bauch war grotesk aufgetrieben, aber das Fleisch fiel schon in fauligen Fetzen ab. Er ging eilends daran vorbei und gelangte zu einer steileren Strecke, einer Art Hohlweg mit steil zu beiden Seiten aufragenden Hängen. Das kalte Mondlicht beschien kahle Bäume, die von Efeu überwuchert waren: ein Hexenwall auf den Hügeln. Beide Füße bluteten inzwischen, aber er zwang sich, das nicht zu beachten und sich, trotz der Schmerzen, so leise wie möglich vorwärtszuschleichen. Wie war der Mann da hinten getötet worden? John hatte den Eindruck, daß man die Leiche als Warnung dortgelassen hatte. Die rechnen damit, daß ich nicht lange überleben kann. Am Hügelkamm gelangte er auf eine freie Fläche, auf der um eine Steinhütte herum das ganze Gras verbrannt war. Die Hütte lag in einer Senke rechts von seinem Weg. Im Mondlicht sah er einen flachen Bau aus Feldstein und Mörtel und 221 einen dahinter angebauten Schuppen. Genau auf der anderen Straßenseite lag die ausgebrannte Ruine eines Hauses. Was soll ich jetzt tun? Er überlegte sich, daß er, wenn er jetzt in die Hütte träte dort auf einen Bewohner stoßen könnte, der ihn möglicherweise sofort beim Betreten töten würde. Aber dieser Cohn hatte etwas über Priester gesagt. »Hallo, da in der Hütte!« rief John. Es kam keine Antwort. Ein schmaler Pfad, mit Steinplatten belegt, führte zwischen verbrannten Sträuchern zur Hütte. Ich brauche dringend Kleidung und Schuhe. Vorsichtig humpelte er den Pfad auf das schwarze Rechteck einer Tür zu. Er streckte die Hand nach dem
Türriegel aus, doch noch ehe er ihn berühren konnte, schwang knarrend die Tür auf. Eine Kerze flackerte, und er entdeckte einen braungesichtigen Mann in einem schwarzen Priesterrock. Hinter der hochgehaltenen Kerze starrte der Mann wortlos zu John zurück. »Sie haben mir ... gesagt ... was zum Anziehen ...« Er fand die Worte nur mühsam. Der Kuttenträger trat beiseite und winkte John mit einem Nicken in die Hütte herein. Dann schloß er die knarrende Tür, setzte die Kerze auf ein Wandbord und trat durch ein niedriges Loch in den Schuppen am anderen Ende der Hütte. Bald kam er mit einem Armvoll Kleidungsstücken zurück. John nahm ihm die Kleider ab, und nun bemerkte er auch den leeren Ausdruck in den Augen seines Wohltäters. Blind? Nein, der Schwarzrock bewegte sich mit zu großer Zielstrebigkeit, und er hatte John die Kerze auch ganz genau hingereicht. John blickte sich um, entdeckte einen niedrigen Schemel, links unter der Kerze. Er legte die Kleider dort ab und begann sich anzuziehen. Die Unterwäsche bestand aus einer knöchellangen Hemdhose und war weich und weiß. Sobald er das übergezogen hatte, fühlte sich sein unterkühlter Körper sofort ein wenig besser. Dann kam ein Paar 222 schwarzgrauer Hosen aus Tweedstoff, ein grobes dunkelgrünes Wollhemd und ein gelber Wollpullover. Während er sich anzog, starrte John immer wieder zu seinem Wohltäter hinüber. »Sind Sie ein Priester?« fragte er. Wortlos neigte der Mann zustimmend den Kopf. »Haben Sie ein Schweigegelübde abgelegt?« Wieder neigte der Mann den Kopf. John schaute auf seine zerschrundeten blutenden Füße. Auch der Priester schaute dorthin. »Haben Sie Schuhe?« fragte John. Wieder ging der Schwarzrock in den Schuppen, wo er mit den Schatten verschmolz. Spukhaft, wie der sich bewegt, dachte John. Er hörte einen Plumps, dann ein Knarren aus dem Schuppen. Dann kam der Priester zurück. Er hielt ihm zwei abgetragene derbe Wanderschuhe und ein Paar dicke grüne Wollsocken hin. John nahm sie dankbar entgegen. Er setzte sich auf den niederen Hocker und begann vorsichtig die Socken über die wunden Füße zu streifen. Die Stiefel waren lang genug, aber zu breit. Doch es ging, als er die Schnürsenkel fest anzog. Und die ganze Zeit stand der Priester stumm über ihm. John erhob sich. »Ich komme aus den Vereinigten Staaten, um zu helfen, wo ich kann«, sagte er. »Ich bin Molekularbiologe. Gibt es hier irgendwo eine Forschungseinrichtung, irgendeine, in der ich ...« Der Priester hatte die Hand erhoben und gebot ihm so Schweigen. Eine Hand fuhr unter die Kutte und holte einen kleinen Notizblock mit einem Bleistift an einer Schnur hervor. Der Priester kritzelte etwas auf den Block und reichte ihn dann John. John trat unter die Kerze und las: Nehmen Sie die Straße nach Cappoquin. Es gibt Wegweiser. Dann weiter nach Caher. Fragen Sie dort. Der Priester nahm den Block aus Johns Hand, riß das beschriebene Blatt ab und hielt es in die Kerzenflamme. Dann 223 ließ er es im Kerzenhalter verbrennen. Als das Papier restlos verbrannt war, ging er an die Tür und öffnete sie. Er führte John ins Freie und deutete auf den Weg, der über den Hügelkamm hinwegführte. John sah, daß der Pfad sich zwischen hohen Hecken verlor, die schwarz im Mondlicht standen. »Cappoquin?« fragte John. Der Priester nickte, und wieder fuhr seine Hand unter die Kutte. Da er mit dem Notizblock rechnete, übersah John beinahe das lange blitzende Messer, das aus der Kutte heraus plötzlich gegen ihn losfuhr. Er sprang zurück, und das Messer zischte knapp an seinem Hals vorbei. Der Angreifer stand nur so da und hielt das Messer bewegungslos in der Position, die den Endpunkt des Zustoßens bildete. Ohne die Augen von dem Mann zu wenden, taumelte John seitwärts den Steinpfad zur Straße hinauf. Und die ganze Zeit stand diese Kuttengestalt da wie eine todbringende Statue. Als er auf der Straße war, drehte John sich um und rannte auf die heckenumzäunte Strecke zu. Die Straße fiel ab und hob sich dann wieder. John rannte keuchend und warf immer wieder einen Blick zurück, wenn ihm das möglich war, und er blieb erst stehen, als er aus dem Heckenzaun auf einen weiteren Hügelkamm gelangte, wo die Straße den Kamm entlang nach links führte. Er setzte sich auf ein Steinmäuerchen, um wieder zu Atem zu kommen, aber auch um die zurückgelegte Strecke zu beobachten. Es war kein Laut zu hören, der auf eine Verfolgung hingewiesen hatte. War der Mann da wirklich ein Priester gewesen? Vielleicht ein wahnsinnig gewordener Priester? Und dann: Cohn hat das gewußt! Er hat damit gerechnet, daß ich umgebracht werde. Es war still hier hoben auf dem Kamm, nur ein schwaches Rascheln der Blätter im Wind war zu hören. John war dankbar für die warme Kleidung. Aber dieser plötzliche Angriff vor der Hütte war doch recht beunruhigend.
Also waren die Dinge nicht so, wie sie erschienen. Hier in diesem Land. 224 Als er sich ein wenig erholt hatte, marschierte er langsam weiter. Aber jetzt bin ich hier, dachte er. Das Zeug an seinem Leib roch nach frischer Seife und so, als wäre es in der Sonne getrocknet. Warm, aber unvertraut. Und plötzlich fiel ihm ein, daß er nicht das geringste Fetzchen irgendeines Identitätsnachweises bei sich trug. Cohn hatte recht gehabt: John war in Irland neugeboren. Und das war der allerbeste Ort auf der Erde, um sich zu verstecken. John Roe O'Neill konnte hier zuschauen, wie sich sein Rachefeldzug auswirkte, und kein Mensch würde eine Ahnung davon haben. O'Neill in seinem Innern gab keine Antwort, und dafür war John dankbar. Bei Tagesanbruch hatte er ein weiters Flußtal erreicht. Er blieb an einem ehemals weißgestrichenen verrosteten Tor stehen. Zu beiden Seiten lagen Backsteinsockel, von denen der Mörtel in unregelmäßigen Placken abgefallen war. Auf der anderen Seite des Tors führte ein verwachsener einspuriger Pfad mit Grassoden in der Mitte zu einem dichten Gehölz von Ahorn und Nadelbäumen. Nesseln und Malven wuchsen am Rand der Spur. John sah undeutlich zur Linken Steinsilhouetten aus dem Wildwuchs aufragen, und es wurde ihm plötzlich klar, daß er sich auf einem Friedhof befand. Ihm war ganz schwach vor Hunger, und sein Hals war wie ausgetrocknet. Cappoquin? dachte er. Und war es ungefährlich, dorthin zu gehen, wohin ihn der Mann im Priesterrock gewiesen hatte? Aber wen wage ich zu fragen? Jeder Mensch, dem er hier begegnen mochte, konnte gefährlich sein. Diese Lektion hatte ihn das Messer des Mannes im Priestergewand gelehrt. Und vielleicht war dies sogar seine Absicht gewesen. Der Fluß unterhalb der Straße rief ihn. Dort war kaltes Wasser gegen seinen Durst. Ich werde zuerst trinken, dachte er. Dann entscheide ich, was ich tun werde. 225 Für nichts wird mit größerer Leidenschaft gekämpft als für ererbte Privilegien, die man als geistige Überzeugung verbrämt. SEAN O'CASEY, irischer Dramatiker Joseph Herity stand mit lose baumelnden Armen an dem langen Tisch und schaute, allerdings nicht wirklich konzentriert, die drei Männer (>wichtigen< Männer) ihm gegenüber an. Es war einfach noch zu früh am Morgen, als daß er sich hätte konzentrieren können, es dämmerte ja kaum, und Kevin O'Donnell, der Mann, der ihm genau gegenübersaß, zwischen den beiden anderen, war berühmt für sein irres Geschwätz und hatte das bereits wieder einmal unter Beweis gestellt. Während er aufmerksam zuhörte, versuchte Herity zu ergründen, was dazu geführt hatte, daß sich ihm die Nackenhaare sträubten, kaum hatte er den Raum betreten. Es roch nach Angst hier drinnen. Und für Herity war das so erregend wie der Geruch von frischem Blut für ein Raubtier. Wer stank hier nach Angst? Und was fürchtete er? Waren es vielleicht alle drei Männer? Sie wirkten ein bißchen nervös ... Das Zimmer war bis auf den Tisch und drei Stühle unmöbliert. Ein kleiner Raum, nur etwa vier Meter lang, drei Meter breit. Ein hohes Fenster, schmal und ohne Läden, stand rechts von Herity offen und rahmte einen blaßrosa Himmel voller Wolken ein, als die Sonne irgendwo hinter Herity über den Horizont heraufschwamm. Das Licht im Raum kam von zwei doppelarmigen Wandleuchtern hinter den sitzenden Männern. Die Lampen warfen gelbliches Licht auf die eierschalenbraunen Wände. »Wir haben uns die Sache für dich ausgesucht, weil du genau der richtige Mann dafür bist«, sagte O'Donnell. »Das mußt du doch zu schätzen wissen, Joseph. Und es ist 'ne schöne Aufgabe für einen Mann von deinen Talenten, die wir hier ja alle außerordentlich zu schätzen wissen.« O'Donnell schaute nach links und rechts zu seinen Begleitern, dann blickte er wieder Herity an, und der verspürte er226 neut dieses Aufflammen einer Fast-Panik im Raum. Wer war das? Worum ging es? Er schaute prüfend die Gefährten O'Donnel's auf der andern Seite des Tisches an. Alex Coleman, der links von O'Donnell saß, wäre wahrscheinlich nicht von vielen seiner Zeitungskollegen aus der Dubliner Vor-der-Pest-Zeit erkannt worden. Seit seine Frau und seine Kinder von einem wilden Mob in Spanien ermordet worden waren, hatte sich Coleman zu einem subhumanen Gefäß brodelnder Wut zurückentwickelt. Oft zitterten ihm die Hände von dieser Wut, wenn sie nicht unter den Nachwirkungen des Saufens zitterten, in das er sich gerettet hatte: ein Mann, der von der Geißel seiner Sünden in den Schoß der heiligen Kirche zurückgepeitscht worden war. Colemans hageres Gesicht war zwar noch immer so dunkelhäutig, als wäre er ein über Bord gegangener Matrose der spanischen Armada, aber nun lag auf ihm ein Ausdruck bohrenden Fragens, fast ein wenig hinterhältig, verstohlen, fast wie der eines auf eine Beute lauernden Tieres. Am auffallendsten war, daß er nun völlig kahlköpfig war. Statt der einst dichten welligen Haarkrone, war er nun blankgeschoren, und es standen nur die Stoppelschatten auf seinem Schädel. Da gärt eine Wut in Coleman, und vielleicht noch was anderes, dachte Herity und richtete den Blick auf den Mann an der anderen Seite O'Donnell's. Und nun konzentrierte er sich, denn dieser Mann war ihm der wichtigste in dem Trio ... Fintan Craig Doheny. Keiner von den dreien würde diese Bedeutung zugeben. Coleman nicht,
weil es ihm egal war, O'Donnell aus Stolz nicht und Doheny, weil es nicht in seinem Wesen lag, laut über die Köpfe des Rudels hinwegzuheulen. Herity hatte es sich angelegen sein lassen, etwas über Doheny herauszufinden, als der Mann zum Staatssekretär für Seuchenforschung in der neuen Regierung All-Irlands ernannt wurde. Doheny entstammte einer Familie in Athlone, die unzählige Priester und Nonnen hervorgebracht hatte, aber nie einen Arzt, >bis Fin dann kam<. In diesem Augenblick jedenfalls sah Fin aus wie ein bartloser, aber dennoch 227 ganz lustiger Weihnachtsmann in Zivil. Das Gesicht war rund und sanftmütig, und hellblonde Haare rahmten es wie blonde Wattekräusel ein. Aus diesem arglosen Gesicht starrten weit auseinanderstehende blaue Augen einer Welt entgegen, die er anscheinend höchst komisch fand. Das war nur eine Maske, entschied Herity. Doheny hatte platte Lippen und Lächelfalten an den Mundwinkeln, eine ziemlich kurze dünne Nase, aber mit geblähten Nasenflügeln, deren Signalfunktion zwei Generationen von auszubildenden Krankenschwestern und Medizinstudenten am Dublin College zu lesen gelernt hatten, um zu überleben. So mildfreundlich er aussah, Fin Doheny war berüchtigt dafür, daß er >Schlampern< gegenüber von wilder Wut war, und wenn sich seine Nüstern blähten, galt dies als todsicheres Anzeichen, daß sein Zorn kurz vor dem Ausbruch stand. Die Furcht kam von Doheny, das wurde Herity klar. Aber auch von O'Donnell. Was war das bloß! Die drei bildeten das Regionale Komitee der Südostküste, ursprünglich eine eilig gebildete Notgruppe, die sich durch ihre Nützlichkeit und die Erkenntnis, daß sie die Macht in Händen hatte und sie zu nutzen verstand, offizielle Anerkennung erworben hatte. Schon zu Beginn ihrer Verbindung hatte sich Kevin O'Donnell den Vorsitz gesichert, indem er nachdrücklich darauf hinwies, daß er schließlich >über die Gewehre verfüge<, und dies war tatsächlich so, denn die Gewaltenteilung in der neuen Regierung war gespalten zwischen den >Strandjungs< und der Regulären Militärs breitmacht. Herity wußte, daß das Doheny sehr zupaß kam. Es gestattete ihm, sich bequem im Sessel zurückzulehnen und die > Schachfiguren hin- und herzuschieben<. Alex Coleman kümmerte sich nicht darum, wer im Komitee den Ton angab, solange da Aktionen eingeleitet wurden, die vielleicht irgendwann dazu führen mochten, die Mörder seiner Familie zu liquidieren. Es gab sogar Leute, die fest behaupteten, daß Coleman versuchen könnte, aus Irland zu fliehen, >um jeden allerletzten teuflischen Hurensohn zu infizieren, der in Spanien noch am Leben< sei. 228 Nein, alle drei Männer hatten Furcht vor irgend etwas. Herity roch, er spürte das. Aber, war es das gleiche, was sie alle fürchteten? Nachdem Kevin O'Donnell bei seinen Kumpanen nach einem Zeichen der Zustimmung zu seinen Worten gesucht hatte, und da er ihr Schweigen als Zustimmung wertete, schenkte er nun Herity ein krokodilhaftes Grinsen und einen aggressiven Blick, der reinste sadistische Lust verriet. Herity erkannte diesen Blick als das, was er war, da er ihn bereits bei früheren Gelegenheiten leidvoll erfahren hatte. Von dem Augenblick an, an dem er die Bombe an der Ecke Grafton Street gezündet hatte, war Heritys Leben das eines Kaninchens auf der Flucht gewesen. Wer davon wußte, welche Rolle er bei dem Bombenanschlag gespielt hatte, beschuldigte ihn, er beschwöre den Zorn Gottes auf uns alle herab<. Und seit dem Ausbruch der Pest lebte er unablässig in der Furcht, daß seine Rolle dabei allgemein bekannt werden könne. Jeder Person gegenüber, die ihm vertrauenswürdig erschien und ihm zuzuhören bereit war, quengelte Herity laut: »Aber wie hätte ich denn so was wissen sollen?« O'Donnell, der damals Regionalkommandant von Heritys Gruppe gewesen war, hatte sich geweigert, das als Entschuldigung gelten zu lassen. Er hatte sich Herity als ganz persönliche Zielscheibe ausgewählt und jede Gelegenheit benutzt, aus ihm einen Teufel zu machen. Und nun kam Herity der Verdacht, daß ihm etwas unvergleichlich Böseres als alle vorherigen Strafmaßnahmen bevorstehe. Er mühte sich, in sich selbst zurückzuschrumpfen, um seine Energien für eine sich vielleicht bietende Fluchtmöglichkeit zu bewahren. Und das ließ ihn körperlich als noch zusammengekrampfter, als noch >dichter gewickelt< erscheinen. Herity war einer von den Männern, die von vielen als >grad im Muster< bezeichnet werden, als würde sich Gott hinsetzen und mit einem Paar superlanger Stricknadeln auf höchstprofessionelle Weise das Wesen Heritys zusammenstricken, bis die ganze >Person Herity< fertig war. 229 Kevin O'Donnell schätzte Heritys Haltung falsch ein und dachte: Dieser Henry! Der tut so, als gehörte ihm jedes Haus, in dem er sich aufhält! »Das hier ist kein Karwochenaufstand!« sagte Kevin O'Donnell. Und er ließ einen verächtlichen Blick über Heritys ganzen Körper gleiten und schaute ihm dann wieder fest ins Gesicht. »Ein paar von uns werden es überstehen«, sagte Alex Coleman, ganz als habe er bisher ein Privatgespräch mit sich selbst geführt und komme erst jetzt zu der Oberzeugung, daß immerhin soviel den anderen mitgeteilt werden solle. Kevin O'Donnell blickte Coleman an. »Was hast du da grad gesagt, Alex?« »Und wenn bloß einer von uns durchkommt«, sagte Coleman, »der kann dann die Seuche bei denen verbreiten, damit die auch mal was vom Weißen Tod zu schmecken kriegen!« Er spuckte auf den Boden neben seine Füße und schaute sich dann im ganzen Zimmer um, als hoffe er, daß da irgendwo eine Flasche in der Nähe sein möge, mit der er seinen plötzlichen Durstanfall besänftigen könnte.
»Ah ja«, sagte Kevin O'Donnell. Manchmal klingt der Coleman, dachte er, wie wenn er schon die Kurve gekratzt hätte. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Herity zu. »Ich kann halt leider dein Versagen der Vergangenheit nicht - immer noch nicht - so ganz übersehen, Joseph.« Die Stimme klang traurig und dunkel. O'Donnell sprach weiter: »Sie sollten ausgelöscht werden, vollkommen ausradiert, deine Fehler, als hätte es sie nie gegeben.« »Wir haben keine Vergangenheit, keiner von uns«, sagte Coleman. »Alex sagt die Wahrheit«, sprach Kevin O'Donnell weiter. »Wir sind hier nur vier, aber wir sind noch immer Iren und Männer.« Fin Doheny räusperte sich. »Gott allein weiß, wie weit der Mann inzwischen gekommen ist, Kevin.« Herity war auf einmal hellwach. Aha! Da versteckte sich die Angst. Das alles hatte irgendwas mit dem ganzen Mate230 rial zu tun, das er vor diesem Treffen hatte auswendig lernen sollen, Material über John Roe O'Neill ... dieses Personenprofil aus den USA, die persönliche Geschichte, dann der Bericht von den Finn Sadal über jemand, der John Garrech O'Donnell hieß. »Du hast das ganze Material genau studiert, das wir dir ausgehändigt haben, Joseph?« fragte Kevin O'Donnell. Hier lauert die Angst, genau hier! dachte Herity. Irgendwas an der Sache heizt ihnen gewaltig ein. Herity nickte. »Der Yank, der sich' O'Donnell nennt, hält sich seit vielen Tagen in unserm Gebiet auf, seitdem wir ihn durchgeschleust haben, drunten bei Kinsale«, sagte Kevin O'Donnell. »Und solange wir nicht sicher sind, wer der Typ ist, darf dem Mann kein Leid zugefügt werden.« Mit geblähten Nüstern, aber mit ganz ebenmäßiger Stimme sagte Doheny, weit vorgebeugt: »Ihr habt doch seine Beschreibung gelesen. Das klingt stark überzeugend, bedenkt man das amerikanische Profil von diesem O'Neill.« »Um so schlimmer ist es, daß Sie dieses Profil nicht auch den Finn Sadal zugänglich gemacht haben«, sagte Kevin O'Donnell und in seiner Stimme schwang bitterer Hohn. »Wir haben euch ersucht, besonders auf Leute aufzupassen, die angeben, daß sie Molekularbiologen sind«, sagte Doheny. In seiner Stimme bebte ein scharfer Unterton, den jeder seiner ehemaligen Studenten als Warnung erkannt haben würde. »Aber wir dachten, das ist bloß wieder so ein Yankie, der angibt«, sagte Kevin O'Donnell. »Der ist doch nach Irland gekommen, bloß um zu helfen!« »Ja. Und wo hält er sich in diesem Augenblick auf?« fragte Coleman. »Er wandert in den Bergen über Youghal herum«, sagte Kevin O'Donnell. »Wo der doch, wie er sagt, auch ein O'Donnell ist wie ich, hab ich mir halt gedacht, der soll seine Chance kriegen. Er wird nicht schwer zu finden sein.« »Ja. Aber lebt er noch?« fragte Coleman. 231 »Also, was das angeht, das kann möglicherweise Joseph rauskriegen.« »Aber ihr behauptet, daß man ihn gesichtet hat«, sagte Doheny. Herity wollte genau in die Angstblase dieses Komitees hineinstechen, also sagte er: »Ihr glaubt also wirklich, dieser John O'Donnell ist ...« »Es steht dir nicht zu, daran herumzudeuteln, was wir eventuell denken!« schnarrte Kevin O'Donnell. »Du bist hier, um Befehlen zu gehorchen!« »Ja. Genau wie ich euren Befehlen in der Vergangenheit gehorcht habe«, sagte Herity. »Und sie gelegentlich überschritten hast, nicht wahr?!« Kevin O'Donnells Stimme ließ erkennen, daß er keineswegs bereit war, einen Teil der Schuld an dem Desaster in der Grafton Street auf sich zu nehmen. »Aber ihr meint doch, daß dieser Yank vielleicht der Verrückte ist«, beharrte Herity, »Und da wandert der frei herum, wo jeder ihn umbringen kann«, sagte Doheny. »Damit hab ich nichts zu tun!« protestierte Herity. Und nun sah er es genau: ja, diese Angst ... ja, diese Panik. Der Verrückte ist hier in Irland. Und was machte er hier? Hatte er eine noch furchtbarere Seuche mitgebracht, und wollte er die Überlebenden auch noch vernichten? Nein, man mußte es Joseph Herity nicht extra noch sagen! Wenn dieser herumstreunende Yank der Verrückte war, dann konnte der sich ja mit einer Schaltung für noch was viel Verheerenderes als diese Pest verkoppelt haben. »Also, ich hab ihn jedenfalls nicht durchgelassen wie 'nen willkommenen dollarstreuenden Touristen«, sagte Herity. »Du sprichst besser 'n bißchen höflicher!« Kevin O'Donnell zischte vor Ärger. »Du bist hier bloß einfacher Soldat.« Ein wölfisches Grinsen breitete sich über sein Gesicht aus. Herity zog finster die Brauen gegen dieses Lächeln zusammen. Dann blickte er aus dem Fenster in den bewölkten Himmel, es war jetzt ganz Tag geworden. Und es würde reg232 rren. Der dreckige Hund Kevin O'Donnell! Aber das waren sie alle, die O'Donnells, dreckige Hurensöhne! Doheny sagte mit tiefer, besänftigender Stimme in die gespannte Stille hinein: »Joseph, wir möchten, daß du
dich in die Gegend begibst und uns den Mann findest. Paß besonders auf, daß ihm nichts passiert! Du darfst ihm keinesfalls verraten, was wir vermuten! Behalte ihn nur im Auge und berichte uns! Bring heraus, ob er wirklich O'Neill ist!« »Und wie soll ich das herausfinden?« Herity starrte seinerseits in die angstvoll blitzenden Augen Dohenys. »Bring ihn dazu, sich zu verraten.« »Man kann ihn nicht einem scharfen Verhör unterziehen, leider, leider«, sagte Coleman. Er zitterte und schaute beiseite. Er überlegte, ob die andern etwas dagegen haben würden, wenn er sich für einen Moment entfernte und sich was zu trinken suchte. »Gott weiß, was der noch für Scheußlichkeiten parat hat«, sagte Doheny. »Er hat überhaupt nichts mehr bei sich«, sagte Kevin O'Donnell. »Wir haben ihn gerupft wie ein Huhn.« »Und seine Papiere habt ihr weggeworfen!« Dohenys Nüstern blähten sich. »Sollen wir denn jeden Fetzen aufheben, den die Leute von den Toteneimern mitbringen?« fragte Kevin O'Donnell. »Du hast jedenfalls das Essen verteilt und das Geld für dich behalten, dessen bin ich sicher«, sagte Doheny. »Und es ist ein gottverdammtes Glück, daß du Blödmann damit nicht noch eine neue Pest unter uns verbreitet hast!« »Ich wette, der Kerl ist auch bloß wieder so ein rumstreunender Yank«, sagte O'Donnell, aber in seiner Stimme schwang mehr Angst als Trotz mit. »Paaah!« Doheny wedelte mit der Hand, als wolle er Rauch wegwedeln. »Wenn es der O'Neill ist, dann paßt das genau zu seinem Stil, 'ne Zündschnur anzustecken. Das ist ein Typ, der eine Kamikazezündung in Vorbereitung hat, falls er draufgeht. Verlaß dich drauf! Ärgern wir ihn, kippt der Schalter, und wir stecken im kochenden Fett. Ganz sicher.« 233 »Denk dran, Joseph!« sagte Kevin O'Donnell. »Ein äußerst gefährlicher Mann. Wir schicken dich los, eine Kobra zu hüten.« Doheny schüttelte den Kopf. »Aber wenn er wirklich O'Neill ist, dann ist er der allerwichtigste Mann auf unserer Erde - einfach wegen der Sachen, die in seinem Kopf stecken!« »Und wenn er nicht der Verrückte ist?« fragte Herity. Kevin O'Donnell zuckte die Achseln. »Dann genießt du eben nur den schönen Trip durch die Hügel und Täler unseres lieblichen Landes. Und vielleicht ergeben sich dann ja auch mal Abende voll tiefgründiger Gespräche am Lagerfeuer. Du sollst dich mit ihm anfreunden, kapiert?« »Und wie lange setze ich diese kleine Pfadfinderei fort?« »Wenn nötig, den ganzen Winter lang«, sagte Kevin O'Donnell. »Die Entscheidung ist auf allerhöchster Ebene gefällt worden: wir dürfen ihm keine Schwierigkeiten bereiten.« »Vielleicht können uns die Amis O'Neills Dentalmuster oder seine Fingerabdrücke besorgen«, sagte Doheny. »Aber er muß dort draußen festgehalten werden, und zwar lebendig, bis wir ihn positiv identifiziert haben.« »Also trauen wir uns nicht, ihn frei laufen zu lassen, und wir trauen uns nicht, ihn festzunehmen, bis wir Genaueres wissen«, sagte Herity. »Aber ist das wirklich klug, den Yanks zu verraten, daß wir glauben, wir hätten den O'Neill hier bei uns? Was stellen die möglicherweise an, wenn die das hören?« »Wir glauben, die haben größere Angst vor O'Neill als wir hier«, sagte Doheny. »Und der hat vielleicht drüben in seiner Heimat sowieso 'ne üble Falle aufgestellt«, sagte Kevin O'Donnell. »Eine neue Seuche, die über alle kommt, über die Männer auch, nicht bloß die Frauen.« Alex Coleman funkelte Herity an. »Du wirst nicht noch mehr Fehler machen, verstanden?« »Du sollst an ihm kleben wie ein Blutegel«, sagte Kevin 234 O'Donnell. »Kein einziges Wort, das er sagt, ja nicht mal wenn er scheißen geht, darfst du es übersehen. Und wir wollen das alles direkt hierher berichtet haben.« »Wir haben Vorbereitungen getroffen, daß man sich unterwegs an dich wendet«, sagte Doheny. »Also, Kuriere und schriftliche Berichte.« Herity verzog das Gesicht zu einer Grimasse. In diesem Verein gab es keine Geheimnisse. Sie wußten alle, daß er es gewesen war, der die Grafton-Street-Bombe hatte explodieren lassen. »Ihr steckt mir den Sack Scheiße bloß zu wegen der Bombe«, sagte er grämlich. »Ja, weil du Arsch schließlich O'Neills Frau und Kinder in die Luft gejagt hast«, sagte Kevin O'Donnell. »Das hat also fast so 'ne Spur von dichterischer Größe, daß du dich da auf die Suche machst, um rauszufinden, ob er es wirklich ist. Immerhin hast du ja ein ganz persönliches Motiv.« »Ich hab mir sagen lassen, du kennst die Gegend über Youghal«, sagte Doheny. »Es ist gefährlich dort«, sagte Herity. »In eurem Bericht steht, daß dieser verrückte Priester ihn fast mit dem Messer abgemurkst hat.« Kevin O'Donnell lächelte. »Zwei meiner Jungs haben in dieser Nacht in der Ruine gegenüber kampiert. Sie hörten den Yank rufen. Das haben sie ganz komisch gefunden.« »Also ich kriege das Flattern, wenn ich bloß daran denke«, sagte Doheny. »Vielleicht ist er ja gar nicht der Verrückte«, sagte Kevin O'Donnell. »Es gibt 'ne Menge Verdächtige, die durch das Land streifen. Die Britischen haben zwei davon gerade unter scharfer Beobachtung. Die Heidenhunde in
Libyen verraten zwar nichts, aber dort ist wohl kaum der rechte Platz, wo sich so ein Mann verstecken könnte. Nein, dieser John Garrech O'Donnell könnte wirklich unser Preisbulle sein!« Mit fragendem Blick konzentrierte sich Alex Coleman auf Heritys Gesicht. »Du wirst ganz vorsichtig mit ihm umgehen, Herity! Wenn O'Neill sterben sollte, und die draußen kriegen was davon mit, dann verpassen die uns möglicherweise 'ne 235 Schnelldosis ihrer Atomsterilisierung.« Coleman verzog die Lippen zu einem schwachen Grinsen. Auf einmal war Heritys Mund vollkommen ausgetrocknet. »Man hat die verschiedenen Möglichkeiten ausgiebig diskutiert, Joseph«, sagte Kevin O'Donnell. »Es wurde in die Debatte geworfen, daß gewisse Mächte außerhalb unseres Landes, falls man ein Mittel gegen diese Pest entwickeln kann, gegen diese teuflische Seuche, daß die das möglicherweise für sich behalten könnten. Und wenn die dann erfahren, wo sich der Verrückte aufhält, könnten die uns 'ne Schnellbehandlung mit ihrem Atompotential angedeihen lassen und sozusagen - wie Alex uns so freundlich erinnert alle Fliegen auf einen Streich erschlagen.« Herity war zu nichts anderem fähig, als ungläubig zu blinzeln, als ihm die ganze Tragweite des Problems bewußt wurde, das man ihm da aufgeladen hatte. »Aber wen von denen draußen verdächtigen wir denn nun?« fragte er. »Sind's die Yanks oder die Russkis, die uns so was antun würden, wenn sie können?« Doheny schüttelte langsam den Kopf. »Spielt es für die Ameise eine Rolle, welcher Schuh sie zerquetscht?« Wenn abends alle Touristen verschwunden waren, haben wir oft den Blarney-Stein* angepinkelt. Und es gab uns dann immer so ein komisches Gefühl der Überlegenheit, wenn wir sahen, wie die Touristen genau die Stelle küßten, an der wir unsere Pisse so schön gelbschäumend hatten spritzen sehen. STEPHEN BROWDER Es war ein Bild wie aus der Urzeit: ein See, von keinem Wind berührt, schwarz, flach unter dem Frühnebel, der etwa einen Meter über dem Wasser hing. Eine grüne Bergkuppe, nur * Der Blarney Stone verleiht dem, der ihn küßt, angeblich die Gabe, mit geschickten Schmeicheleien erfolgreich zu flunkern. - Anm. d. Übers. 236 ganz oben von der Sonne vergoldet, bildete den festen Hintergrund für den See und die Nebelbank. John hatte sich in einem Gehölz von gewöhnlichen Kiefern am Westufer verkrochen. Er lauschte. Irgendwo draußen im Dunst hörte er ein sachtes Schwappen, das rhythmisch wiederkehrte und recht unheimlich war. Gegen die Kälte rieb er sich die Ärmel des groben gelben Sweaters auf der Haut auf und ab. Seit sechs Wochen hatte er keinen Menschen mehr gesehen; aber dabei hatte er die ganze Zeit das Gefühl gehabt, als beobachteten ihn Leute aus jedem Schatten, aus der Ferne, und als ob sie, in den Nächten, näher an ihn heranschlichen, um ihn zu töten. Was war das für ein rhythmisches Platschen? Drei Wochen lang hatte er sich in einer winzigen Kate aus festgefügten Steinen verborgen gehalten. Er hatte sich dort entschlußunfähig vergraben, bis die in der Hütte gelagerten Nahrungsvorräte aufgebraucht waren. Die Kate duckte sich in eine Senke an der Westseite des Sees, und weit und breit war keine andere menschliche Behausung zu sehen. An der Tür hing ein Brett mit einer Nachricht. Dieser Ort, an dem einst Leben war und Liebe, ist verlassen worden. Im Schrank ist Essen, Decken liegen auf dem Bett, im Wäscheschrank sind Laken, in der Küche die nötigen Geräte. Ich habe alles sauber und ordentlich zurückgelassen. Bitte tun auch Sie das. Vielleicht wird eines Tages hier wieder die Liebe einkehren. Die Botschaft trug keine Unterschrift. John hatte die Kate am Ende eines schmalen grasüberwucherten Pfades entdeckt. Das Schilfdach war hinter einem dichten Nadelgehölz versteckt gewesen. Es hatte ihn beinahe bestürzt, daß dieses Häuschen da so unberührt und friedlich lag, nachdem er Meilen über Meilen an Aschenhaufen und Ruinen vorbeigekommen war. Das Reetdach war erst vor kurzem ausgebessert worden; die Kate war ein Bild friedlicher Ruhe, wie sie da zwischen Farnen und Wildkräutern lag, in denen winzige rosa Blüten aufleuchteten. Am Pfad hatte er Brombeeren gefunden, die Früchte an den Stachelranken voll ausgereift. Hungrig und durstig hatte er sich die Beeren in 237 den Mund gestopft, bis seine Lippen und die Finger vom Saft dunkelrotblau gefärbt waren. An der Tür hatte er vor der Notiz haltgemacht: sauber in ein helles Brett eingebrannte Lettern. Er las die Worte mehrmals, und sie bestürzten ihn, ohne daß er sich dies hätte erklären können. Der O'Neill in seinem Innern regte sich, und das beunruhigte ihn, weil Zorn ihn zu überwältigen drohte. Ein rasches Verlangen, das Brett abzureißen, überkam ihn. Er griff sogar nach dem Brett an der Tür, aber dann zögerten seine Finger und glitten tastend zum Türgriff hinunter. Das Schloß klickte, die Tür ging leise quietschend auf. Drinnen roch es nach Moder, kalter Asche und Tabakrauch, vermischt mit schalen Kochdünsten. Die Geruchsmischung hing in dem kleinen Wohnraum, in dem auf dem gekachelten Boden zwischen zwei Schaukelstühlen vor dem Kamin ein ovaler Knüpfteppich lag. Auf der einen Seite der Feuerstelle lag ein Stapel Torfbriketts mit einer Schachtel Streichhölzern obenauf. John bemerkte das Afghanmuster auf der Rückseite der
Stuhllehnen: Häkelarbeit. Neben einem der Stühle stand ein Nähkorb auf dem Boden, das grüne Knäuel einer Strickarbeit, unbeendet, allem Anschein nach, lag darüber, und zwei lange rote Stricknadeln ragten aus der Arbeit hervor, als wären sie Mahnzeichen für einen Ort, an den jemand zurückzukehren gedachte, um nadelklickend das Garn weiterzustricken. John schob die Tür zu. War irgend jemand im Haus? Dann würde er sicher kommen, um festzustellen, was die quietschende Tür zu bedeuten habe. Er ging um die Schaukelstühle herum und durch einen schmalen Durchgang in eine winzige Küche mit einem von Wasserflecken bedeckten Trockenbord an einer Miniaturspüle. Es war fast wie ein Puppenhaus: saubere Teller, ordentlich neben der Spüle gestapelt. Irgendwo summten Fliegen. Hinter der einen Schranktür fand er säuberlich aufgestapelte Konservendosen. Der Schimmelgeruch kam von einer offenen Mehlpackung. Es war irgendwie feucht in der Kate. Konnte er es riskieren, 238 ein Feuer zu machen? Würde dann jemand den Rauch sehen und nachschauen kommen? In dem Zimmer neben dem Wohnzimmer stand ein Bett. Die Decken waren sorgsam zurückgeschlagen, als wollten sie jemanden einladen, unter sie zu kriechen und zu schlafen. Die Laken fühlten sich unter den Fingern klamm an. Er zog die Decken von dem Bett und legte sie über die Schaukelstühle. Dann machte er sich daran, ein Feuer anzuzünden. Er würde es einfach riskieren, beschloß er. Für einen verwirrten herumirrenden Wanderer war dieses Häuschen geradezu ideal Irland war überhaupt nicht so, wie er sich das vorgestellt hatte. Aber, was habe ich denn erwartet? Er wußte, diese Frage würde er sich noch oft und immer wieder stellen müssen, und er bezweifelte, ob er sie je würde beantworten können. Mit diesen Einzelheiten hatte er sich nicht eingehend genug befaßt. Als er, drei Wochen später, das Häuschen verließ, nahm er die letzten vier Fischkonserven mit. Er schloß die Tür - das Brett mit der Schrift hing noch immer dort -, und das Haus war sauber und ordentlich, als er ging. Das rhythmische Klatschen auf dem See war lauter geworden. Er spähte in die Richtung, aus der es kam. Da war etwas Dunkles in dem Nebelbrodem. Aus den Schwaden tauchte ein Boot auf, ein langes zweirudriges Fahrzeug, aber nur ein Ruderer stemmte sich in die Riemen. Das Boot glitt durch den seltsam bewegungslosen Dunst, die Riemen knarrten leise, ein leichtes rhythmisches Klatschen, das zu den Schlägen paßte. Unter dem Bug bildeten sich konzentrische Wirbel und breiteten sich in scharfem Winkel aus, während das Boot sich der schilfbestandenen Uferstrecke unterhalb von Johns Versteck in den Kiefern näherte. Dieses Gefühl der Zeitlosigkeit, das die Szenerie ausstrahlte, ließ John wie erstarrt dastehen. Das Boot war schwarz und 'ag im Wasser, als gehöre es seit ewigen Zeiten dorthin. 239 Dann konnte John drei Gestalten in dem Boot ausmachen im Bug hockte etwas, jemand, zusammengekauert, und im Heck sah er ein weiteres Bündel. Der Ruderer trug schwarze Kleidung. Sogar der Hut war schwarz. John rang mit sich: sollte er aus seinem Versteck ausbrechen und davonlaufen. Welche Gefahren mochten sich in dem dunklen Boot verbergen? Er spähte angestrengt zu dem Ruderer hinaus. Vor all dem Schwarz wirkten die Hände an den Griffen weißlich. Das Rollen der Schultern hielt ihn kurz gefangen: diese Muskelanspannung im Rücken, in den Schulterblättern, wenn der Mann die Riemen zurückriß, um einen neuen Schlag zu setzen. Erst als das Boot näher an Johns Ufer herankam, wurde ihm ganz klar, daß das blaue Ding im Heck und die massive grüne Masse im Bug tatsächlich menschliche Gestalten waren. Aus dem Blau stachen graue Hosenbeine hervor, eine Hand hielt die Kapuze einer Jacke gegen den kalten Nebel über dem Kopf fest. Das fahlblonde Haar eines jungen Menschen tauchte plötzlich unter der blauen Kapuze auf. Und helle goldbraune Augen schienen John in seinem Kiefernversteck direkt anzuschauen. Soll ich weglaufen? überlegte John. Er begriff nicht, was ihn hier festhielt. Der junge Mensch im Heck des Bootes hatte ihn offensichtlich gesehen, aber er sagte kein Wort. Das Boot stieß raschelnd zwischen den dichten Schilfgürtel am Ufer. Der grüne Haufen im Bug erhob sich, wurde zu einem Mann ohne Hut, lange strähnige blonde Haare, ein schmales, beinahe weibisch wirkendes Gesicht mit Knubbelnase und scharfem Kinn - ein Gesicht, das von hellbraunen Augen beherrscht wurde. Diese braunen Augen, als sie sich auf John konzentrierten, wirkten wie ein körperlicher Schlag auf ihn. Er stand wie erstarrt zwischen den Kiefern. Ohne den Blick von John zu wenden, zog der Mann eine grüne Mütze hervor und stülpte sie sich auf den Kopf. Dann hob er einen schäbigen grünen Rucksack hoch und hängte ihn sich an einem einzigen Träger über die linke Schulter. Der Ruderer war aufgestanden, hob einen Riemen aus der 240 Halterung und benutzte ihn zum Staken. So schob er das Boot durch das Schilf ans Ufer. Der Mann im Bug sagte etwas Über die Schulter zu denen hinten, doch das Rascheln im Schilf überdeckte seine Worte. Knirschend lief das Boot auf, fast eine halbe Bootslänge von dem schwankenden Modder entfernt, der sich zwischen dem Schilf und dem Kiefernholz erstreckte. Auf eine Kopfbewegung von dem Mann im Bug hin stand der Junge im Heck auf, stieg aus dem Boot und zog es watend an den brackigen Torfstrand. Und jetzt drehte der Ruderer sein Gesicht herüber, und John sah sich einem Leichenkopf gegenüber, der bleich unter dem schwarzen Filzhut hervorleuchtete. Strähnen grauschwarz melierter Haare hingen unter dem Hut
hervor. Die Augen waren elektrisch blau, die Nase wie ein Schiffsschnabel, der Mund messerschmal, fast ohne Lippen, ein scharf vorstoßendes Kinn über dem geschlossenen weißen Kragen, und nur eine Andeutung von Kinnspalte. Ein Pfaffe! dachte John, und sofort fiel ihm der Mann mit dem Messer ein, der ihm die Kleider gegeben hatte. Der >Priester< stemmte sich gegen die Ducht, blickte John an und fragte: »Und wer sind wir denn wohl?« Die Stimme klang rational, aber vernünftig war schließlich auch das Verhalten der Gestalt in der Mönchskutte gewesen. Zunächst jedenfalls. »Ich bin John O'Donnell«, sagte John. Der Mann vorn im Boot nickte, als habe er damit eine wichtige Information erlangt. Der Priester schob nur die dünnen Lippen vor. Er sagte: »Sie reden wie ein Yank.« John ging nicht darauf ein. Der junge Mann watete zum Bug und zog, ohne Erfolg, an dem Boot. »Laß gut sein, Junge!« sagte der Priester. »Und wer seid ihr?« fragte John. Der Priester warf dem Ruderer im Boot einen Blick zu. »Der da ist Joseph Herity, ein Wanderer wie ich auch. Der Junge da ... ich weiß nicht, ob er einen Namen hat. Er weigert sich zu sprechen. Die Leute, die ihn mir anvertraut haben, sagten, er 241 hat ein Gelübde abgelegt, kein Wort zu sagen, bis er mit seiner Mutter wieder vereint ist.« Und wieder schaute der Priester John direkt ins Gesicht. »Was mich angeht, ich bin Pater Michael Flannery von den Maynoth-Patres.« Herity sagte: »Nehmen Sie doch den Hut ab, Pater Michael, damit er sich selber überzeugen kann.« »Still!« sagte Pater Flannery. Er klang aber ziemlich verängstigt. »Tun Sie's!« befahl Herity. Langsam zog der Priester den Hut vom Kopf, und es zeigte sich die halbverheilte Narbe eines Kreuzes in einem Kreis auf seiner Stirn. »Manche Leute geben der Kirche die Schuld an unserm Elend«, sagte Herity. »Darum brandmarken sie die Geistlichen, sofern sie sie am Leben lassen: ein Kreuz im Kreis für die Katholen - und nur ein Kreuz für die Protes. Damit man sie auseinanderhalten kann, verstehen Sie?« »Wir leben in wilden Zeiten«, sagte Pater Flannery. »Aber unser Herr und Heiland hat Schlimmeres erduldet.« Er stülpte sich den Hut wieder auf den Kopf, hob einen prallen blauen Rucksack aus dem Boot und stieg in das Schilf hinaus. Er hielt sich an der Hand des Jungen fest und watete platschend durch den Morast, und dann blieben die beiden knapp vor John stehen. Ohne sich umzuwenden, fragte der Priester: »Wollen Sie mit uns kommen, Mister Herity?« »Und wozu sollte ich mich mit euch rumtreiben?« fragte Herity. »Aber warum nicht, ihr seid ja so eine noble Gesellschaft.« Er stieg aus dem Boot, watete über das Sumpfufer und kam an dem Priester und dem Jungen vorbei. Dicht vor John blieb er in der Schattendüsternis der Kiefern stehen und betrachtete ihn prüfend von Kopf bis Fui?. Schließlich schaute er John in die Augen und fragte: »Jetzt möcht ich aber gern wissen, was ein Yank hier bei uns zu suchen hat?«. »Ich bin gekommen, um zu helfen«, sagte John. 242 »Ah, Sie haben also ein Mittel gegen die Pest?« fragte Herity-»Nein, das nicht. Aber ich bin Molekularbiologe. Es muß doch in Irland irgendwo einen Ort geben, an dem ich meine Fähigkeiten einsetzen kann, um zu helfen.« »Na, das müßte dann ja wohl das Labor am Killaloe sein«, sagte Herity. »Und - ist es weit bis dorthin?« fragte John. »Oh, Sie sind jetzt noch ein ziemliches Stück von dem Labor entfernt«, sagte Herity. Pater Flannery trat, neben Herity. »Hören Sie auf damit, Mister Herity! Dieser Mann da hat sich aus reiner Menschenfreundlichkeit selber ins Exil getrieben. Sind Sie tatsächlich so borniert, daß Sie das nicht zu würdigen wissen?« »Der fragt mich, ob ich was würdigen kann!« sagte Herity mit einem Glucksen in der Stimme. John empfand das Geräusch als wenig freundlich. Dieser Herity sah aus und klang alles in allem wie ein recht hinterhältiger, ja gefährlicher Mensch. Der Priester drehte nun John fast den Rücken zu. Er streckte einen schwarzen Arm nordwärts den See entlang, wies mit der knochendürren Hand, die auf die irische Art alle Finger fest zusammengeschlossen hielt, ,in die Gegend und sagte: »Das Labor liegt dort drüben, ziemlich weit noch, Mister O'Donnell.« »Warum trampen wir nicht ein Stück Weg mit ihm? Bloß um unser gutes Herz zu beweisen - und daß wir sein Opfer zu würdigen wissen?« fragte Herity. »Er kann doch sicher unsere Hilfe brauchen, wenn er sich nicht verlaufen will.« Herity schüttelte betrübt den Kopf. »Aber wir müßten natürlich sicher sein, daß er nicht verhext ist.« Pater Flannery warf einen kurzen Blick in das Kieferngehölz, dann hinauf zur Straße, die den See entlangführte, dann wieder über das Gehölz zurück auf den See.
»Es sind jetzt höhere Gewalten als wir selbst, die unser Geschick bestimmen«, sagte Herity mit höhnischem Ernst. »So was haben Sie doch selber gesagt, Pater Michael, nicht 243 wahr, gestern abend, als wir den curragh* entdeckten.« er schaute zum Boot zurück. »Vielleicht ist das ein verhexter curragh, der uns da zufällig über den Weg geschwommen ist damit wir zu diesem Yank da finden konnten.« John hörte den schweren Akzent des McCarthy-Großvaters im Dialekt, den Herity sprach, aber da klang auch etwas wie Hohn und Haß mit. »Bitte bemühen Sie sich nicht«, sagte John. »Ich werde schon hinfinden.« »Aaahh, aber es ist gefährlich für einen allein da drüben«, sagte Herity. »Vier Leute zusammen, das bietet mehr Sicherheit. Was sagen Sie dazu, Pater Michael? Müßten wir uns nicht wie echte christliche Gentlemen betragen und diesem ehrenwerten Yank sicher bis zum Labor helfen?« »Er sollte jedenfalls wissen, daß es kein leichtes Unterfangen sein wird«, sagte Pater Michael. »Dürfte möglicherweise Monate dauern, denke ich. Und alles zu Fuß, wenn ich nicht irre.« »Aber sicher, Pater, sicher. Und der Mann, der die Zeit geschaffen hat, hat ja schließlich 'nen irre großen Vorrat davon angelegt. Wir könnten ja alle zusammen ein bißchen Sam Beckett spielen und quer durchs Land trampen und uns an dem traurigen Anblick erfreuen, den unser armes Irland bietet. Ach - außerdem braucht der Yank gerade jetzt ein paar freundliche Eingeborene, die ihn führen.« John spürte, daß zwischen den beiden Männern ein Streit auszubrechen drohte. Er fühlte diesen haßerfüllten unterschwelligen Sarkasmus in Herity beinahe körperlich. Der Junge stand die ganze Zeit mit gesenktem Kopf dabei, als gehe ihn das alles nichts an. Als der Priester keine Antwort gab, sagte Herity: »Also gut. Dann spiele ich eben selber den Führer für den Yank, weil unser tapferer Priester seiner Christenpflicht nicht gewachsen zu sein scheint.« Herity drehte sich leicht zu dem kaum * Boot aus Zweigen, das mit wasserdichtem Stoff bedeckt sind - Anm. d. Übers. 244 sichtbaren Pfad, der aus dem Kiefernholz zu der schmalen Seeuferstraße führte. »Also, dann machen wir uns wohl besser auf den Weg, Yank.« »Ich heiße O'Donnell! John Garrech O'Donnell!« sagte John. Mit fast höhnischer Höflichkeit sagte Herity: »Ooohh, also ich bin natürlich untröstlich, Mister O'Donnell. War ganz ohne Absicht. Wahrhaftig, O'Donnell, ein berühmter Name. Hab ich nicht 'ne ganze Menge O'Donnells gekannt, und darunter sogar den einen oder andern, der mir nicht nachts bei passender Gelegenheit die Gurgel durchschneiden würde. >Yank<, also das ist bloß so 'ne Art Verlegenheitsausdruck.« »Dürfte das jetzt nicht genug sein, Mister Herity?« mahnte der Priester. »Aber ich bin doch nur dabei, Mister O'Donnell die Sache zu erklären«, sagte Herity. »Es liegt uns doch vollkommen fern, ihm zu nahe zu treten, oder?« Er wandte sich erneut John zu. »Ich hab gehört, daß wir noch'n paar andere Yanks hier bei uns haben. Und ein paar Franzosen und Kanadakacker, einen oder zwei brave Briten und sogar 'ne Abordnung aus Mexiko. Und das ganze Ausländergesocks ist hier bei uns gestrandet, als die Blockadeschiffe ankamen. Aber keiner von den Typen, denk ich, war so blöd und hat sich hinterher in unser Land geschlichen. Wie sind denn Sie überhaupt durch die Blockadeschiffe gekommen, Mister O'Donnell?« »Sie konnten mich entweder durchlassen oder mich umbringen, oder?« fragte John zurück. »Ja, das klingt vernünftig«, sagte Herity. »Aber Sie haben sich da auf ein hohes Risiko eingelassen, Mister O'Donnell!« »Oh, es gibt in den Vereinigten Staaten wirklich ein paar Menschen, die zu helfen versuchen«, sagte John. Dieser Herity beunruhigte ihn sehr. Was tat der Mann sonst? Zu vieles blieb unausgesprochen. »Helfen«, sagte Herity. »Wobei? Alle die zauberhaften Frauen und Mädchen wieder zum Leben zu erwecken? Ach, lassen Sie das!« »Wenn wir das nur könnten«, sagte John. »Auch alle die 245 Frauen und Kinder, die bei den Bombenanschlägen der Terroristen sterben mußten!« Ein Ausdruck finsterster Wut huschte über Heritys Gesicht und war sofort wieder verschwunden. Als er sprach, klang es freundlich: »Was können Sie denn schon von solchen Bomben wissen, Mister O'Donnell?« »Was ich in den Zeitungen darüber gelesen habe«, log John. »Zeitungen! Das hat überhaupt nichts mit der echten Wirklichkeit zu tun, wenn neben Ihnen eine Bombe hochgeht.« »Das trägt aber nicht dazu bei, daß Mister O'Donnell den Weg zu dem Laboratorium findet«, mahnte Pater Michael. »Wollen wir uns nicht lieber aufmachen?« »Wir?« höhnte Herity. »Der liebe Pater geht also mit uns! Es wird ganz großartig sein, Mister O'Donnell, daß wir von jetzt an unter dem garantiert gnädigen Schutz Gottes trampen können!« Ohne darauf etwas zu erwidern, stakte Pater Michael um John herum den schmalen Pfad zur Straße hinauf. Der Junge hielt sich mit der Hand das blaue Jackett zu und lief eilig hinter ihm drein, holte den Priester ein und stapfte im Gleichschritt hinter ihm her.
»Also, kommen Sie schon, Mister O'Donnell!« rief der Priester, ohne sich umzuwenden. John kehrte Herity den Rücken zu und folgte den beiden. Er hörte, wie Herity ihm dicht auf den Fersen folgte, viel zu dicht, als daß es ihm angenehm gewesen wäre. Aber dieser Priester hatte angedeutet, daß er den Weg zum Labor kannte. In dem Punkt fühlte John sich leidlich sicher. Man würde ihn mitten ins Zentrum der irischen Bemühungen, ein Mittel gegen die Seuche zu entwickeln, führen. Herity seinerseits fühlte ein äußerst starkes Unbehagen wegen dieses Wortgeplänkels zwischen diesem >0'Donnell< und ihm selbst. Der Mann war möglicherweise wirklich genau das, was zu sein er behauptete. Aber was dann? Ein glatzköpfiger > nützlicher Idiot< - und die Personenbeschreibung von O'Neill paßte überhaupt nicht auf ihn! 246 Herity fluchte unterdrückt vor sich hin. Der Auftrag verbitterte ihn, und das Allerschlimmste daran war: er wußte, daß Kevin genau das beabsichtigt hatte. Und ihm dann noch in letzter Minute Pater Michael auf den Buckel zu laden! Und der Pfaffe, der sich weigerte, den Jungen mit dem Dorftrottelgesicht allein zurückzulassen! So ein unbrauchbarer Klotz am Bein! Alles an diesem Auftrag stank. Aber, je eher man damit anfing, desto eher war man damit fertig. Herity hielt sich dicht hinter O'Donnell. Er beobachtete genau, wie der Mann sich bewegte, wie sich die Schultern unter dem schweren Wollpullover spannten und entspannten. Der ist meine Kartoffel! dachte Herity. Natürlich nur, wenn er wirklich O'Neill ist... Inzwischen konnte Herity den Auftrag mit ein wenig mehr Spaß betrachten - er malte sich aus, wie er O'Donnells Camouflage Streifen um Streifen abschälte wie eine Kartoffel -, wie die dünne trockene Schale abfiel, und er dann darunter das mehlige matschige Seelenfleisch entdecken würde. Pater Michael war an der Straße angelangt und half dem Jungen über die kleine Steinmauer. Beide blieben stehen und sahen O'Donnell und Herity zu, wie sie ebenfalls heraufstiegen. Dieser Herity ist eine faule Frucht, dachte Pater Michael. Jedes zweite Wort beinahe ist eine Blasphemie. Stets eifrig auf der Suche nach den Schwächen in anderen Menschen, die er um sich hat. Irgend etwas war da in Herity, etwas sündhaft Böses, das sich an der Qual anderer ergötzte. Nein, der Amerikaner würde auf gar keinen Fall in Sicherheit sein, wenn er mit Herity allein weiterzog. Die Obrigkeit in Dublin hatte weise gehandelt, als sie entschied, daß er und der Junge an der Reise teilnehmen sollten. Dann hatte O'Donnell die Straße erreicht. Er atmete schwer von der Kletterei. Herity kam dicht hinter ihm, zögerte aber an dem Steinmäuerchen und schaute zurück auf den Pfad, den sie heraufgekommen waren. Muß immer noch mal seine Spuren überprüfen, dieser Herity! 247 dachte Pater Michael. Da hängt was Übles hinter ihm. Es ist ihm auf den Fersen. Der Priester wandte sich ein wenig um und sah sich dem Blick O'Donnells ausgesetzt: ein versteckter, ein abschätzender Blick war das, den ihm der Amerikaner da zuwarf. Konnte dieser Mann wirklich der >Verrückte< sein? Gewiß, er machte einen ganz merkwürdigen Eindruck. Aber wie immer, die Obrigkeit in Dublin hatte ganz klar und deutlich gesagt, daß diese Frage in die Kompetenz von Herity fallen sollte. Sie hatten betont, er, Pater Michael, habe nur dafür zu sorgen, daß Herity diesem O'Donnell keinen Schaden zufüge. Und er hatte nicht gefragt: »Warum ausgerechnet ich?« Denn er wußte es. Weil mir Herity das Leben gerettet hat. Wir sind aneinander gekettet, dieser Herity und ich, durch eine Schandfessel. Die Verantwortlichen in Dublin wissen genau, was in Maynooth geschehen ist! Pater Michael zog sich den Rucksack zurecht und begann die Straße in nördlicher Richtung hinauf zuwandern. Hinter sich konnte er Herity und O'Donnell gehen hören. Der Junge kam hastig nachgelaufen und marschierte dann dicht bei ihm, als suche er in der Nähe des Priesters Schutz. Es geht um dein Leben, mein junge, dachte Pater Michael. Und ich wünsche dir ein Leben in Freude. Aber ich wünsche mir auch sehr, daß du endlich mal ein Wort sprichst. Und dann begann Herity zu singen. Ganz irisch-nationalpatriotisch: »The Wearing of the Green«. Die Wörter hallten aus dem Seetal zurück. Doch, eine gute Stimme hat er, dachte Pater Michael. Aber ausgerechnet dieses Lied zu dieser Gelegenheit... Der Priester schüttelte bestürzt den Kopf. 248 Es gibt auf Erden keine Wahrheit, vor deren Bekanntwerden ich mich fürchte. THOMAS JEFFERSON, 3. Präsident der USA Fintan Craig Doheny sprach bereits seit guten fünf Minuten unter vier Augen mit Kevin O'Donnell, ehe ihm bewußt wurde, daß es hier um sein eigenes Leben ging. Er hatte zwar schon immer gewußt, daß Kevin ein Killer war, doch hatte er bislang geglaubt, seine medizinischen Erfahrungen böten ihm Schutz genug. Dem war jedoch anscheinend nicht so. Sie hatten sich auf Kevins Aufforderung hin in einem der neuen Zellen-Büros getroffen, die man im Kilmainham-Gefängnis eingerichtet hatte. Doheny verabscheute Kilmainham. Daß man das Gefängnis als Kontrollzentrum für das Dubliner Hauptkommando ausgewählt hatte, war auf Drängen der Finn Sadal - >aus historischen Gründen< - geschehen. Der Ort wirkte abstoßend auf Doheny. Jedesmal wenn er den Innenhof mit
dem stacheldrahtgeschützten Kontrollkorridor auf allen Seiten und dem riesigen Oberlicht der bedrückenden Kuppel darüber durchschreiten mußte, dachte er an die Männer, die hier in den ringsum angelegten winzigen Zellen gelebt hatten - oder dort gestorben waren: Robert Emmet, Patrick McCann, Charles Parnell ... Aber Kilmainham Castle und das Royal Hospital lagen nicht einmal einen Block voneinander entfernt, und Doheny mußte zugeben, daß die Einrichtungen des Krankenhauses hervorragend waren. Als sie, kurz nach dem Frühstück, in das Zellen-Büro getreten waren, hatte alles sich zunächst ganz harmlos angelassen. Kevin hatte einen Bericht >Zum allgemeinen Umlauf< über das Laboratorium am Killaloe erhalten. Als sie sich beide gesetzt hatten, zwischen sich ein winziges Tischchen mit einer Lampe darauf, hatte Kevin gesagt: »Die sagen selber, unsere einzige Hoffnung ist dieses Labor.« 249 »Wenn wir selbst ein Heilmittel finden, dann muß die ganze Welt zu uns kommen«, sagte Doheny. »Das Labor - ich seh da keine große Hoffnung nach all der verstrichenen Zeit«, sagte Kevin. »Unsere Chancen sind genauso groß wie die anderswo.« Aber es war, als habe Kevin ihn nicht gehört. »Allerdings sind wir hier in Irland an Enttäuschungen gewöhnt. Wir haben gelernt, mit ihnen zu rechnen.« Er lehnte sich zurück und starrte Doheny an. »Alles andere wäre dann das wirklich Unerwartete.« »So redet ein Defätist, Kevin. Ich sage Ihnen noch einmal; Adrian Peard ist einer der gescheitesten Männer, denen ich je begegnet bin.« Kevin zog eine Schublade des Tischchens auf, nahm eine kleine belgische Automatic-Pistole heraus und legte sie griffbereit neben seine rechte Hand. »Meine Gedanken gehen oft zu diesem jungen Medizinstudenten und seiner Frau in dem Tank dort«, sagte Kevin. »Ich stelle mir oft vor, wie die beiden nachts beisammenliegen, während wir allein in unsere leeren Betten steigen.« Doheny blickte auf die Pistole und verspürte auf einmal ein Kältegefühl im Magen. Was ging hier vor? Und was sollte dieses heuchlerische Gerede über den jungen Browder und seine Kate? Schließlich war ja allgemein bekannt, wie bestialisch die Strandjungs mit jeder Frau verfuhren, die lebend von den Totenschiffen an Land kam. Auch die Art und Weise, wie Kevins Männer oft mit Fremden verfuhren, die an den Strand kamen, weil sie von den Fremden mit der Pest angesteckt zu werden fürchteten. Die Finn Sadal betrachtete es als einen Sport, auf diese >Strandvögel< Jagd zu machen. Und dann verbrannten sie die armen Kerle auf die alte keltische Art - in Weidenkörbe gesteckt über dem offenen Feuer! Dieser Kevin O'Donnell war ein grausamer Mann, und die Pistole auf dem Tisch war unmöglich nur eine leere Geste. »Was bedrückt Sie?« fragte Doheny. < »Ich frage mich oft, wer wird wohl der letzte Mann in Irland sein? Manche glauben, daß es der arme kleine Bursche 250 in Athlone sein wird, den sie lebend aus seiner schon toten Mutter herausgeholt haben. Auf wen soll ich mein Geld wetten, Fin?« »Ich habe nicht die geringste Ahnung. An Ihrer Stelle würde ich überhaupt nicht wetten. Es gibt nämlich noch ein paar Frauen.« »Es gibt Leute, die glauben, es wird dieser Junge sein, den die Priester in Bantree unterrichten«, sagte Kevin. »Und dann ist da noch dieser >Zigeunerjunge von Moern< - der ist zwar auch schon acht, aber er kommt aus einer Familie, in der viele über hundert wurden. Geben Sie dem eine Chance, Fin?« »Mich interessiert nichts außer der Seuche«, sagte Doheny. »Und vor uns liegt kein anderes Ziel als die verzweifelte Suche nach einem Gegenmittel. Und Adrian Peards Leute sind ...« »Ah, dann glauben Sie also nicht, daß es O'Neill selbst ist, der da draußen mit Herity und dem Priester herumzieht?« »Ich habe meine Zweifel. Aber selbst wenn er es ist, wie bringen wir ihn dazu, uns bei einer Lösung zu helfen?« »Oh, da gibt es schon Methoden, Fin.« Kevin lachte zynisch. »Ja, die gibt es.« »O'Neill hat sich im Gebiet Seattle-Tacoma aufgehalten«, sagte Doheny. »Und nachdem sie die Spurensicherung an seinem Haus abgeschlossen hatten, haben sie das ganze Gebiet mit dem Panikfeuer gesäubert. Es gab nicht einmal eine Zahlenangabe über die Leichen und keine Möglichkeit, die Toten zu identifizieren.« »Fin, ich will Ihnen was sagen: diese ganze wunderschöne Insel hier ist ein einziger großer Toteneimer. Ich habe die Beweise dafür gesehen.« Ein Zorn, wie er ihn nie zuvor in sich gespürt hatte, erfüllte Doheny. Er brachte es kaum fertig zu fragen: »Was für Beweise?« »Zu gegebener Zeit, Fin. Zu gegebener Zeit!« Doheny machte Anstalten aufzustehen, doch Kevin legte eine Hand auf die Pistole. »All diese vielen Toten«, sagte Doheny. »Kein echter 251 Ire kann sich wünschen, daß sie alle umsonst gestorben sind!« »Welche Toten?« fragte Kevin, ohne die Hand vom Pistolengriff zu nehmen. »Die Leute, die von den Britischen und den Ulstermännern getötet wurden?«
»Ja, auch die!« Doheny starrte die Hand auf der Pistole an, und es wurde ihm klar: Der will mich umbringen! Warum? »Ach, die auch?« fragte Kevin, als könne er es nicht recht glauben. Seine Augen funkelten irre, als er Doheny über den Tisch hinweg anstarrte. Er ist verrückt geworden, dachte Doheny. Er ist wirklich nicht mehr zurechnungsfähig! »Kein Tod und kein Toter im Namen Irlands darf uns gleichgültig sein«, sagte Doheny. »Deshalb arbeiten Peard und ich und alle unsere Leute so schwer, um ...« »Mit solchem Gewäsch ist nichts erklärt, Fin! Ich weiß, warum uns dieser Fluch auferlegt worden ist. Es kommt daher, daß wir Dermot nicht verziehen haben - und der Frau, die er Ternan O'Ruarc geraubt hat.« »Heiliger Himmel, Mann!« Doheny schüttelte den Kopf. »Das ist über achthundert Jahre her!« »Aber sie ziehen immer noch durch Irland, Fin. Der Brefney-Fluch. Sie sollen nie Frieden finden, nie zueinander finden, es sei denn ein Ire verzeiht ihnen. Und da sitzen sie, die zwei in ihrem Drucktank am Killaloe - Dermot und Dervogilla, als Wiedergänger zum Leben erweckt! Fin, wir müssen ihnen verzeihen!« Doheny holte zweimal kurz Luft. »Wenn Sie das so sehen, Kevin.« »Und habe ich es nicht soeben deutlich gesagt?« Kevin nahm die Pistole und legte sie sich auf den Schoß, dann begann er sie mit einer Hand zu streicheln. »Jeder unserer Brüder, den die Briten ermordet haben, muß gerächt werden, aber Dermot und sein Weib müssen zuerst endlich Ruhe finden.« »Ohne die Arbeit, die Peard und ich tun, wird es für Irland überhaupt keine Zukunft mehr geben«, sagte Doheny. 252 »Fin, haben Sie von der Schar der enthaupteten Frauen im Tal von Avoca gehört? Es gibt Leute, die sagen, sie hören nachts ihre Schreie.« »Und das glauben Sie?« fragte Doheny. »Unsinn! Ohne Kopf, wie können sie da schreien?« Ich muß ihm Zucker geben, dachte Doheny. Bei Paranoikern kann man mit Vernunftgründen nichts erreichen. Als Doheny nicht antwortete, sagte Kevin: »In Amerika machen sie jetzt ihre eigene neue Art von Wake* für die Armen, die sie nach Irland heimschicken. Haben Sie davon gehört, Fin?« »Nein, davon habe ich nichts gehört.« »Und sie verteilen Gift an die Leute, die sich weigern, auf die Toteneimer zu gehen.« Doheny vermochte nur den Kopf zu schütteln. »Übrigens haben wir Ihre Telefongespräche nach England abgehört, Fin«, sagte Kevin und richtete den Pistolenlauf auf Dohenys Brust. Auf einmal wurden Dohenys Mund und Hals trocken. Kevin fuhr fort: »Fin, Sie haben vergessen, daß wir dem Gall nicht trauen dürfen. Niemals!« »Aber das Huddersfield-Institut hilft uns doch«, sagte Doheny mit einem Hauch Verzweiflung in der Stimme. »Ach wirklich? Und dieser Ehrenmann, dieser Dr. Dudley Wycombe-Finch, der ist kein Brite, wie?« »Sie wissen, daß er Brite ist, aber er verfügt über eines der bestausgerüsteten wissenschaftlichen Forschungszentren der ganzen Welt. Und sie haben dort gerade eine ganz frische Gruppe von Wissenschaftlern .aus Amerika bekommen, die mithelfen wollen.« »Oh, aber das ist ja ganz großartig, was? Wir haben Ihre Telefongespräche auf Band mitgeschnitten, Fin. Wollen Sie etwa leugnen, daß Sie Hochverrat begangen haben?« * Bis heute in Irland noch übliche > Totenwache» an der Bahre Verstorbener; meist begleitet von endlosen Gebeten, Volksgesängen und reichlichem Alkoholgenuß - Anm. d. Übers. 253 Kevins Finger legte sich fester um den Abzugshahn der Pistole. In Verzweiflung sagte Doheny: »Sie würden also Derrnot und seiner Gefährtin vergeben, aber Sie sind nicht bereit meine Erklärung anzuhören?« »Ich höre«, sagte Kevin. »Sämtliche uns von Wycombe-Finch gelieferten Informationen sind in unserem Labor nachgearbeitet worden. Sie waren in den kleinsten Einzelheiten korrekt. Er hat uns nicht belogen!« »Oh, ich habe viele Stunden damit verbracht, mir diese Bänder anzuhören«, sagte Kevin. »Dieser verfluchte hochnäsige britische Public-School-Akzent - wie oft habe ich den von Leuten wie Ihrem britischen Freund anhören müssen!« »Aber wohl kaum unter vergleichbaren Umständen«, sagte Doheny. »Die Briten stecken genauso wie wir bis zum Hals in der ... im Dreck!« »Dieser betont kultivierte Klang zuckersüßer Vernunft in ihren Stimmen«, sagte Kevin, »sogar dann noch, wenn sie die unvernünftigsten Forderungen stellen.« »Sie brauchen ja nicht mir zu glauben, wenn ich sage, daß er uns viel geholfen hat«, sagte Doheny. »Fragen Sie doch einfach Peard!« »Oh, das habe ich bereits getan. Das Problem mit diesem Akzent ist das, Fin, daß sie dazu neigen, dem Akzent selber zu vertrauen, und daß sie deshalb dem, was mit so einem Akzent gesagt wird, kaum größere Beachtung schenken.« »Aber was hat Peard gesagt?«
»Oh, fast das gleiche wie Sie, Fin. Und daß er es sehr bedauern würde, sollte er uns irgendwie verletzt haben. Keine böse Absicht dahinter.« »Ihr ... ihr habt ihm doch nicht etwa was getan?« »Aber nein! Der sitzt da noch immer am Killaloe und werkelt mit seinen Reagenzgläsern herum. Das ist ziemlich harmlos.« Kevin schüttelte betrübt den Kopf. »Aber Sie, Fin. Sie sind derjenige, der sich mit dem Gall, dem Erbfeind Irlands, zusammengetan hat. Sie, nicht Peard!« Kevin hob die 254 pistole, bis Doheny genau in die Mündung des Laufes blickte. »Nachdem Sie mich umgebracht haben«, fragte Doheny ruhig, »was haben Sie dann mit Peard und den Leuten draußen im Labor vor?« »Ich werde dafür sorgen, daß sie am Leben bleiben und sich wohl fühlen bis zu dem Tag, an dem ich mich entschließe, mir die Frau aus diesem Tank zu nehmen«, sagte Kevin. Doheny nickte. Er entschloß sich, es mit einer verzweifelten Lüge zu versuchen: »Das haben wir uns bereits gedacht. Und genau darum haben wir die Information bereits in ganz Irland verbreitet.« »Was für eine Information?« fragte Kevin drohend. »Oh, die über diese Frau und was Sie mit ihr vorhaben«, sagte Doheny. »Falls sie es versuchen, werden Sie es mit wilden Mobs zu tun haben, die sich auf Sie stürzen und Ihnen mit bloßen Händen das Herz aus dem Leib reißen werden. Und Sie werden kaum genug Kugeln haben, um sie in Schach zu halten.« »Das habt ihr nicht gemacht!« Aber die Pistole senkte sich ein wenig. »Doch, genau das haben wir getan, Kevin. Und Sie haben in dieser Welt nicht die geringste Chance, daran was zu ändern.« Kevin ließ die Pistole wieder in den Schoß sinken. Einen langen Augenblick lang starrte er Doheny prüfend an. »Das ist eine schöne echte Scheiße!« »Na, knallen Sie mich doch ab, wenn Ihnen jetzt noch danach zumute ist!« sagte Doheny. »Aber wenn Sie das erledigt haben, dann schießen Sie sich selbst am besten auch gleich eine Kugel in den Kopf.« »Das hätten Sie wohl gern, Fin, was?« »Ach, wir alle sterben sowieso, langsam oder schnell.« »Schön. Aber es wird keine weiteren Telefongespräche mit den Britischen mehr geben. Klar, Fin?« Auf einmal schwoll in Doheny der empörte Zorn in einem Maß an, daß er ihn nicht mehr unter Kontrolle halten konnte. 255 Ohne an die möglichen Folgen zu denken, schrie er: »O doch, die wird es geben. Und zum Teufel mit Ihnen! Ich werde mit den Yanks oder den Russkis oder sogar den Chinesen reden! Ich werde mit jedem reden, der uns vielleicht helfen kann!« Doheny fuhr sich mit den Fingern über die Lippen. »Und Sie können, verdammt noch mal, jedes Wort mithören, das ich sage!« Kevin hob die Pistole und ließ sie wieder sinken. »Halten Sie sich doch raus aus Sachen, von denen Sie keine Ahnung haben, Kevin O'Donnell, verdammt!« sagte Doheny. »Außer natürlich, Sie wollen gar nicht, daß wir ein Gegenmittel gegen die Seuche finden!« »Aber wie können Sie denn so was sagen, zu mir, Fin?« Kevins Stimme klar ehrlich verletzt. »Dann findet doch euer Gegenmittel, wenn ihr das könnt. Das ist schließlich eure Aufgabe, und ich wünsche euch viel Spaß dabei. Aber wenn ihr es entdeckt habt, dann gehört es mir genauso wie euch. Ist das klar?« Kevin steckte die Pistole in die Jackentasche. Doheny starrte den Mann an. Auf einmal war es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen, war ihm bewußt geworden, daß Kevin die Seuche nur als eine Art neue Waffe betrachtete. Sobald man ein Gegenmittel gefunden haben würde, würde Kevin die Pest im Kampf gegen alles und jeden außerhalb Irlands einsetzen wollen. Er würde die Rolle des >Verrückten< übernehmen, und die ganze Erde würde ihm ausgeliefert sein! »Sie würden tatsächlich diese Pest verbreiten?« flüsterte Doheny. »Es wird wieder Könige geben im Heiligen Irland«, sagte Kevin O'Donnell. »Und jetzt, jetzt verziehen Sie sich besser wieder in Ihr Labor, und danken Sie Kevin O'Donnell, daß er Ihnen das Leben geschenkt hat.« Doheny stand taumelnd auf und ging zur Zellentür. An der Schwelle stolperte er, weil er bei jedem Schritt damit gerechnet hatte, eine Kugel in den Rücken zu bekommen. Aber erst als er im äußeren Hof war und Kevins Wachhunde ihm das Tor öffneten, war er wirklich sicher, daß er verschont ge256 blieben war. Die Inchicore Road wirkte geradezu wahnsinnig normal, es gab sogar eine dünne Schlange von Autos. Doheny wendete sich nach rechts, aber sobald er außer Sichtweite des Gefängnistores war, mußte er sich an der Mauer des alten Kilmainham Castle abstützen. Seine Beine fühlten sich an, als hätte man ihm die Muskeln entfernt und als wäre da nur noch der Knochen und wabbliges Fleisch übrig. Was konnte man gegen Kevin O'Donnell unternehmen? Der Mann war genauso wahnsinnig wie dieser O'Neill! Eigentlich empfand Doheny für Kevin vor allem Mitleid, aber leider mußte etwas gegen ihn getan werden. Man konnte sich den Zwängen nicht entziehen. Doheny blickte an einem dichtbelaubten Baum vorbei in den Himmel hinauf, in dem sich kleine Fleckchen Blau zeigten. »Irland, o Irland ...« flüsterte er. »Wohin ist es mit deinen Söhnen gekommen!«
Doch, er verstand Kevin gut: Der unablässige Kampf, dies Gefühl, ständig mit dem Ellbogen den Tod zu streifen ... Das hielt ein verstecktes Feuer in jedem Iren am Schwelen. Und es hatte schon so lange gedauert - viel zu lange ... seit so vielen Generationen, daß diese niemals zu erstickende Flamme zu einem wesentlichen Teil der irischen Seele geworden war. Und dort lauerte das, pechfest verklebt durch das Bindemittel der Unterdrückung und der systematischen Aushungerung. Und jede neue Generation lernte es neu und als Wirklichkeit in den nächtlichen Geschichten am Kaminfeuer - die Grausamkeiten der Tyrannen und die entsetzlichen Leiden, die die Vorfahren hatten erdulden müssen. Die erschütternden Qualen, die Irland erleiden mußte, ihre handgreifliche Realität - all das hatte seine Wurzeln in jedem Iren, weil es das war, was ihm seine Familie an Wahrheit mitgab. Doheny schaute nach links, wo gerade eine Gruppe bewaffneter Finn Sadal aus Kilmainham Castle ausrückte. Dem Mann, der da an der Gefängnismauer lehnte, schenkten sie keinerlei Beachtung. Und da gehen sie und fachen das Feuer wieder an! dachte Doheny bitter. 257 Irlands Vergangenheit, das war wie ein oberflächlich aschgrauer, innen noch glühender Holzblock. Jederzeit konnte das wieder aufflammen. Diese träge Melancholie konnte sich blitzartig in fanatische Wut verwandeln. Blinde Wut. Und der Haß auf die Engländer, der bildete sozusagen die Nabe, um die das irische Leben kreiste. Jeder zum Mann gewordene Ire legte den heiligen Schwur ab, daß die tausend Jahre der grausamen Unterdrückung Vergeltung finden sollten. Es war wie ein Brandzeichen in der irischen Seele ... Hier liegt der Ursprung unserer Leidenschaftlichkeit, die brutale Kehrseite aller unserer Lustigkeit. Und das Ziel unseres Hasses lag immer nur sechzig Meilen weit weg - drüben jenseits der Irischen See. Ach ja, es war recht leicht, Kevin zu verstehen. Aber es würde viel weniger leicht sein, ihn aufzuhalten. Doheny stieß sich von der kalten Mauer des Kilmainham-Gefängnisses ab. Kalter Schweiß klebte ihm auf der Haut. Er ging in Richtung des Royal Hospital davon. Ich muß sofort Adrian anrufen'. Erbsünde? Ach, Pater Michael, was für eine kluge Frage mir gegenüber, der ich sie so gut kenne! Mit . der Erbsünde geboren zu sän, das heißt als Ire geboren zu sein. Und das reicht als Sünde für jeden Gott! JOSEPH HERITY Kate O'Gara saß an dem kleinen Wandschreibtisch in ihrem neuen Quartier und erzählte ihrem Tagebuch die Sachen, die sie zu Stephen nicht sagen konnte. Sie wußte, es war ein bißchen später als 10:30 Uhr, weil sie vor kurzem Moone Colum und Hugh Stiles draußen die Morgenwache hatte antreten hören, draußen auf dem Burghof, der, so glaubte sie, inzwischen wohl schon ganz zugemauert und überdacht sein mußte. Das Tageslicht kam ihr viel trüber vor als zu der Zeit, als sie hierhergebracht worden war. 258 Sie schrieb: »Ich mag Adrian Peard nicht. Seine Autorität macht ihm zu großes Vergnügen.« Fairerweise mußte sie zugeben, daß sie wußte, warum ihr Stephen diesen Mann so tief bewunderte. Peard war brillant, das war nicht zu leugnen, doch verlangte er dafür beständig Anerkennung. Irgend etwas fehlt an dem Mann, dachte sie. Peard strahlte nicht diese stabile Zuverlässigkeit aus, die Stephen besaß. Ich bin undankbar. Alles, was hier getan wurde, war Teil eines Planes, um die Seuche von einer einzigen einsamen Frau, ihr selber, fernzuhalten. Nichts sei zu teuer, versicherte man ihr, um sie in dieser lang sich hinziehenden Isolation bei guter Laune zu halten. Keine elf Tage, nachdem Stephen sie beinahe mit körperlicher Gewalt in die Druckkammer getrieben hatte, war eine große Schar von Männern gekommen, mit einem Lastwagen und Kränen und anderen großen Maschinen. Als es Nacht wurde, waren sie bereit, den ganzen Tank abzutransportieren, und Stephen und sie hockten drin wie zwei Bohnen, die in einer Dose rasseln. Überall waren Soldaten gewesen, gepanzerte Fahrzeuge und Motorräder und Gewehre. Die Luftkompressoren und ein großer Dieselgenerator waren mit dem Tank auf den Lastwagen verladen worden. Der auf einmal so nahe Lärm, den sie machten, hatte sie verängstigt, und sie hatte sich fest an Stephen geklammert. »Und wenn der Tank platzt?« »Der ist aus Stahl und sehr stark, Liebes.« Ihr Ohr lag an seiner Brust, und sie konnte da drin seine Stimme rumpeln hören und den kräftigen steten Schlag seines Herzens. Und das hatte sie, mehr als seine Worte, ruhiger werden lassen. Einmal hatte sie durch die Bullaugen gespäht und in der Nacht, weit drüben hinter einem Feld, die Lichter einer Stadt gesehen. Auf einem fernen Hügel hatten, als sie in ein Tal hinunterfuhren, Feuer gelodert, und einmal zwang anhaltendes Gewehrfeuer den Konvoi an einer Brücke zum Halten, unter der im Sternenschimmer dunkles Wasser dahin259 floß. Sie hatte sich dichter an Stephen gedrängt, und dann war der Lastwagen wieder weitergefahren. Schließlich waren sie in diesem Hof angelangt. An den Innenwänden hingen hoch oben grelle Lampen. Kate erspähte durch das Fenster Stapel von Steinen und Backsteinen überall auf dem Hof, Berge von Zementsäcken. Dann kam das zuckende grelle Blau von Schneidbrennern und Lötkolben, Männer arbeiteten an breiten Stahlblechen. »Sie bauen uns ein größeres Quartier, Liebes«, hatte Stephen ihr erklärt. »Die Luftschleuse an diesem Tank wird dann mit unserem neuen Quartier verbunden.«
»Ist das sicher?« Ihre Angst war kaum mißzuverstehen. Die Geschichten über die sterbenden Frauen - im Radio und in den Berichten der Männer außerhalb des Tanks - hatten sie mit Entsetzen erfüllt. »Adrian wird alles absolut keimfrei machen«, hatte Stephen ihr versichert. Trotzdem kroch sie nur zögernd durch die Schleuse in die neuen Räume, als die Arbeiten beendet waren. Stephen wies sie darauf hin, daß die neue Kammer einen Fernseher enthalte und einen abgetrennten Raum für die Toilette und sogar ein Bad. Für Kate waren die sanitären Umstände im kleineren Tank am Allerscheußlichsten gewesen. Da halfen ihr auch die Schwesternausbildung und ihr ganzes Verständnis für die Funktionen des Körpers nichts. Im kleinen Tank hatte es nur eine Absaugschüssel als Toilette gegeben, und die stand auch noch ausgerechnet frei sichtbar gegenüber einem Bullauge. Die Körperausscheidungen wurden durch eine Röhre in einen sterilen Behälter gesaugt, der ursprünglich zum Fangen von Exemplaren für die medizinische Untersuchung konstruiert war. Sie hatte Stephen gezwungen, sich abzuwenden, jedesmal wenn sie diese Annehmlichkeit benutzen mußte, aber von draußen konnte jeder hereingaffen ... allerdings mußte sie zugeben, daß sie nie ein Gesicht am Fenster gesehen hatte, wenn sie auf dieser verdammten Toilette hockte. 260 Und dann der Geruch. Nach einem einzigen Tag hatte der enge Raum den Gestank einer Latrine angenommen. Das Essen aus Dosen war ihr zweites Ärgernis. »Kalter Konservendosenfraß!« Die zwei Wörter, die sie mit Ekel in der Stimme zu äußern pflegte, hatten Stephen geschmerzt. Sie wußte das, aber sie brachte es nicht über sich, sie nicht immer wieder zu sagen. Und keimfreies Wasser in Flaschen! Nicht der geringste Geschmack! Die neue Wohnung hatte senkrechte Wände und eine flache Stahldecke. Auf dem Boden lag sogar weißbraunes Lino, und es gab zwei Elektrokocher auf einem Tisch neben einer kleinen Pressionsspüle. Kein Vergleich mit der großartigen Kücheneinrichtung in Peards Häuschen, aber man konnte jetzt wenigstens die Mahlzeiten warm machen. Die kamen zwar noch immer aus Dosen, und das Wasser kam noch immer geschmacklos in sterilen Flaschen! Aber immerhin konnten sie nun ab und zu eine Flasche Guinness bekommen, sofern es vor der Pest gebraut worden war. Zum Schlafen begaben sie sich noch immer in den Originaltank, doch inzwischen gab es da eine breite sterilisierte Matratze. In der Mitte sackte sie etwas ein, das kam von der Krümmung des Tanks, trotz der breiten Sperrholzplatte, die in der Mitte auf Holzblöcken ruhte. Diese Blöcke entwickelten die störenden Eigenschaft, zu hüpfen und zu dröhnen, wenn sie und Stephen sich liebten. »Wir sind wie Viecher in einem Zoo!« klagte sie und dachte an die Männer draußen, die den Lärm hören mußten, den sie veranstalteten. »Aber du lebst, Kate!« Sie vermochte nicht zu ergründen, warum ihr gerade das Angst einjagte. Es hätte doch eher beruhigend wirken müssen. Ich lebe. Doch die schrecklichen Nachrichten von draußen - nun auch noch teilweise im Fernsehen - ließen ihr das Weiterleben nur als noch furchteinflößender erscheinen. Sie fühlte 261 sich verletzlich und den gräßlichen Launen eines bösartigen Schicksals ausgeliefert. Sie hatte in ihr Tagebuch eine grobe Skizze der Erdkarte gezeichnet und darauf die sich unerbittlich ausbreitende Pest vermerkt - die Bretagne, Nordafrika, Sizilien, die südlichen Teile Italiens, dann Rom selbst, die Festung des Glaubens. Auf ihrer Karte malte sie jeden neuen Landstrich, in dem die Pest wütete, mit Tinte schwarz aus und hatte das Gefühl, daß sie, während sie dies tat, diese Gebiete von der Erde vertilge. Die Peststellen sahen nun schon aus wie die Gebiete auf alten Landkarten - terrae incognitae. Man würde sie neu entdecken müssen sofern jemand überlebte, sie zu entdecken. Sie wußte, daß sie nicht die einzige Frau in Irland war, die überleben durfte. Manchmal hörte sie die Männer draußen reden, und sie antworteten auf ihre Fragen, wenn sie welche stellte. Es gab Frauen in den alten Minen bei Mountmellick in Isolation, andere bei Castleblayney. Dann ging das Gerücht von einer weiteren Frauengruppe, die angeblich in einem großen Haus mit abgeschlossenem Grund bei Clonmel zusammen mit einem Verrückten namens Brann McCrae hausen sollten. Es gab Gerüchte und Berichte über winzige Grüppchen hier und da im ganzen Land, die von verzweifelten Männern beschützt wurden. Ihre eigene Position war allerdings einmalig. Auf die ihm eigene kaltschnäuzige Art hatte Peard es so eingerichtet, daß sie das Gespräch belauschen konnte, bei dem er mit Stephen die Lage diskutierte. »Es ist ziemlich sicher, daß die meisten anderen Frauen nicht überleben werden, weil sie sich bei ihren verseuchten Männern anstecken werden, wenn die selbst auf der Suche nach Lebensmitteln Überträger werden.« Sie hatte an einer der Luken gestanden, hatte zu Peard hinausgeschaut, während der übers Telefon mit Stephen redete. Dieser Peard war ein zitronengesichtiges kleines Kraftpaket, knapp anderthalb Meter groß, mit unterkühlten blauen Augen und einem dünnlippigen Mund, den Kate noch niemals hatte lächeln sehen. Er hatte
strohblonde Haa262 re, und er trug sie kurz oder völlig geschoren, genau wie die vielen anderen Männer, die sie durch ihr Bullauge sehen konnte. Peards Haut war sonnengebräunt, die Stirn von zahlreichen Denkfalten durchfurcht. »Aber können wir denn nichts für diese Frauen tun?« hatte Stephen gefragt. »Wir liefern ihnen keimfrei gemachte Nahrung, aber die Männer stecken voller Argwohn und nehmen weder unseren medizinischen Rat an noch sonstwas. Wir haben sogar daran gedacht, ein paar der Männer gewaltsam festzusetzen, aber das würde sich fatal auf die Frauen auswirken. Also lassen wir am besten die Dinge, wie sie liegen, und hoffen halt weiter.« »Was ist mit den Frauen, die aus Übersee zurückgeschickt werden?« hatte Stephen gefragt. »Nicht viele davon kommen hier lebend an. Und die wenigen ...« Peards Gesicht hatte einen düsternachdenklichen Ausdruck angenommen. »Nun, wir haben versucht, ein paar davon zu isolieren. Negativ! Und die Strandleute kontrollieren die ganze Küste. Sie sind nicht bereit, mit uns zusammenzuarbeiten. Wir mußten ihr Spiel mitspielen - oder einen Bürgerkrieg riskieren ... was uns ja vielleicht sowieso bevorsteht, obwohl Fin sagt...« Peard hatte wortlos den Kopf geschüttelt und nicht verraten, was Fin gesagt hatte. Fin, das wußte sie, das war Fintan Doheny, ein einflußreicher Mann in den höheren Rängen der Räte. »Aber was ist mit England?« Stephens Stimme hatte so mutlos, so erschöpft geklungen. »Noch schlimmer als hier. Lauten jedenfalls unsere Informationen. Aus irgendeinem Grund breitet es sich dort noch rascher aus. Die Walesleute sagen, sie haben ein paar Frauen in einer Kohlengrube isoliert, aber die Probleme der Versorgung mit keimfreier Nahrung sollen gräßlich sein. Und die Wasserversorgung ... Ein paar Leute in Schottland haben zweiunddreißig Frauen in Stirling Castle isoliert, aber es gibt in Edinburgh Gewalttätigkeiten und Mobs. Unsere letzte Information lautete, daß die Besatzung in der Burg am Verhun263 gern sei und daß irgend so ein religiöser Irrer sich mit seinem Anhang Einlaß zu verschaffen sucht.« »Aber wir haben doch sicher ein Mittel gegen die Pest gefunden, ehe alle Frauen sterben müssen!« In Stephens Stimme hatte zorniger Protest geklungen. »Wir arbeiten daran. Soviel immerhin kann ich dir versichern.« Das, was Peard da mit seiner kühl-unpersönlichen Stimme gesagt hatte, war absolut ungeeignet gewesen, Kate auch nur eine Spur von Zuversicht zu vermitteln. Sie hatte zu weinen begonnen, mit tiefen herzzerreißenden Schluchzern. Die arme Mutter - tot! Und nicht einmal ein anständiges Begräbnis, und kein Priester, der die Totengebete über ihr sagte! Alle Frauen von Cork tot und dahin - außer ihr selbst! Und sie, was war sie hier in diesem stählernen Behälter? Ein Versuchskaninchen! Sie konnte das in Peards Worten hören, es aus seinem Verhalten ablesen. Er hielt sie einfach für ein verfügbares Testobjekt] Sie verspürte Verlangen, sich mit Maggie zu besprechen, mit einer Frau und Freundin, die in einer gemeinsamen Sprache mit ihr über die Probleme sprechen, die sie verstehen könnte. Aber Maggie war tot und fort, wie all die anderen Frauen. Als Stephen sie schluchzen hörte, hatte er das Gespräch abgebrochen. Seine Arme, die sie festhielten, hatten sie ein wenig getröstet, aber ihr Schluchzen hatte erst aufgehört, als sie so erschöpft war und so tief in ihrem einsamen Elend versunken, daß sie einfach nicht länger zu weinen vermochte. »Ich will, daß wir heiraten«, hatte sie am Ende geflüstert. »Ich weiß, Liebes. Ich habe schon verlangt, daß sie uns einen Priester holen. Sie geben sich Mühe.« Vor der kalten Stahlwand an ihrem kleinen Wandschreibtisch schrieb Kate in ihr Tagebuch: »Und wann bringen die endlich den Priester? Es ist schon fünfzehn Tage her, seit Stephen darum gebeten hat.« Sie konnte hören, wie sich draußen Moone Colum und Hugh Stiles stritten. Durch irgendeine akustische Absonder264 lichkeit war ihre Schreibplatte genau in der richtigen Position, und sie konnte jedes Wort hören, das die beiden Männer draußen sprachen. Sie saß oft nur da und hörte den Leuten zu. Den alten Moone mochte sie gern - trotz seiner sündhaft blasphemischen Einstellung gegenüber der Heiligen Kirche. Aber er und Hugh kabbelten sich andauernd über die Religion, und das langweilte sie inzwischen. Und gerade jetzt waren sie schon wieder bei ihrem Erbstreit. »Der Kreislauf von Geburt und Tod ist zerstört worden, das isses«, sagte Moon gerade. In ihrem Rücken hörte Kate, wie eine Seite umgeblättert wurde, dann flüsterte Stephen: »Moone reitet wieder sein Lieblingssteckenpferd.« Also hörte auch er die Männer! Sie kreuzte die Arme auf dem Tischchen und ließ den Kopf auf sie niedersinken. Sie wünschte sich, daß die beiden Männer ihren theologischen Streit anderswo austragen würden. Aber Moone nörgelte weiter in diesem besonderen hechelnden Winselton, den Kate mittlerweile als die Stimme seines Zorns kennengelernt hatte. »Und damit findet der Entwicklungsprozeß seinen Abschluß, den die katholische Kirche in die Wege geleitet hat!« »Ach, du bist ein Spinner«, sagte Hugh. »Geburt - Tod ... - wie kann denn so was außer Kraft gesetzt werden?« »Gibst du wenigstens zu, Hugh, daß die Aufgabe, Kinder zu tragen und zu gebären, früher zu einem Kreislauf
gehört hat, also ein Teil einer nichtendenden Wiederkehr war?« »Ach, du hörst dich genauso an wie einer von diesen gottlosen Heiden in Indien!« In Hughs Stimme klang Protest mit. »Und jetzt wirst du mir gleich einreden wollen, du bist der Geist von Moses persönlich, der zu uns zurückgekehrt ist, um ...« »Ich rede nur über den ewigen Kreislauf von Geburt und Tod, du verblödeter alter Arsch!« Dann trat Stephen hinter Kate und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Versteh doch, die da draußen wissen, daß du schwanger bist.« 265 Ohne den Kopf zu heben, sagte sie: »Dann sollen sie uns endlich einen Priester herbeischaffen.« »Ich werde noch einmal darum bitten.« Er streichelte ihr die Haare. »Kate, bitte schneid sie nicht ab. Sie sind so wundervoll, so lang, wie sie jetzt sind.« Als sie draußen die Geräusche von Bewegungen hörte, hob Kate den Kopf und drückte ihn gegen Stephens Hand. Sie hörte Peards Stimme. Er gab jemandem den Befehl, die kleine Luftschleuse funktionsbereit zu machen. Stephen trat an den Sprechapparat und stöpselte ihn ein. »Was ist los, Adrian?« »Ich schicke euch eine Pistole rein, Stephen. Sie wird grad noch keimfrei gemacht.« »Eine Pistole? Ja, um Himmels willen, wozu?« »Fin hat mir befohlen, das so zu machen, nur für den Fall, daß jemand bei euch einzudringen versuchen sollte.« »Aber wer könnte so was wollen?« »Ach, wir würden das ja nie zulassen!« Das war die Stimme von Moone Calum. »Eine reine Vorsichtsmaßnahme, Stephen«, sagte Peard. »Aber behalte sie in Reichweite.« Er lügt, dachte Stephen. Andererseits wußte er genau, wenn er jetzt weiterbohrte, würde er Kate furchtbar aufregen. Sie schaute schon jetzt mit vor Angst weitaufgerissenen Augen zu ihm herauf. »Na schön, wenn Fin das sagt, dann mach ich es«, sagte Stephen. »Aber ich muß schon sagen, das ist verdammter Quatsch, wo doch Leute wie Moone und Hugh da draußen sind und uns bewachen.« Kates Mund hauchte eine lautlose Frage. Stephen nickte. »Hör mal, wann bringt ihr uns endlich den Priester her?« fragte er. »Wir tun unser Bestes. Aber es sind so viele davon in Maynooth getötet worden, und jetzt, also, wir müssen halt einen finden, der bereit ist herzukommen und dem wir außerdem noch vertrauen können.« »Was soll das heißen, vertrauen?« fragte Kate. 266 »Ach, es geht in unserer Welt jetzt ziemlich seltsam zu, Katie«, sagte Peard. »Aber darüber zerbrechen Sie sich mal nicht Ihren hübschen Kopf. Wir werden einen Priester für Sie finden.« Wie sie es haßte, wenn Peard sie >Katie< nannte! So verdammt intim und mitleidig! Aber sie fühlte sich hier drin dermaßen hilflos, so scheußlich abhängig vom guten Willen aller, die da draußen vor dem Tank waren. Und es passierten doch wirklich so furchtbare Sachen! »Danke«, sagte sie. Und dann fingen Stephen und Peard an, über sie als Patientin zu reden; Peard sagte, er würde einen Gynäkologen herbeiholen, der ihm die nötigen Anweisungen geben sollte. Kate schaltete ihr Empfangsgerät aus. Es paßte ihr nicht, daß man über sie redete, als wäre sie nur ein Stück Fleisch. Sie wußte allerdings, daß Stephen diese kollegiale Unterweisung verlangt hatte. Das zeigte immerhin, daß er sich in Liebe um sie sorgte, und sie war ihm, immerhin, dafür dankbar. Als die beiden fertig waren, verschwand Peard, aber er ließ die Sprechverbindung eingeschaltet, und sie konnte Hugh und Moone durch den Lautsprecher hören. Inzwischen diskutierten die zwei, wie man sich anstrenge, wenigstens eine Spur von normalem Leben im Lande aufrecht zu erhalten. »Sie sagen, man wird die Kanäle wieder in Ordnung bringen«, bemerkte Hugh. »Warum? Und wozu? Was soll auf ihnen verschifft werden? Von wo und wohin?« Moone gab ihm völlig recht. »Es gibt da einfach keine Zukunft, Hugh.« Kate preßte die Hände auf die Ohren. Keine Zukunft! Es verging fast kein Tag, an dem nicht irgendeiner da draußen dieses schreckliche Wort gebrauchte, und ganz genauso hilflos-verzweifelt: Keine Zukunft! Sie ließ die Hände auf ihren Unterleib sinken. Sie spürte die Schwellung, die das neue, das wachsende Leben dort bewirkte. Sie mühte sich, irgendein Signal, ein wirkliches, lebendiges, des heranwachsenden Lebens zu spüren. 267 Aber wir müssen eine Zukunft haben, flüsterte sie in sich hinein. Nur, Stephen war bereits wieder zu seinen medizinischen Büchern zurückgekehrt. Er hörte sie nicht. Sie ist das schmerzensreichste Land, das je es gab. Weil Grün sie trugen, hängt' man Fraun und Männer, trieb sie in das Grab. Weil man sie zwingt, der Briten blutig Rot zu tragen, Wird kein Sohn Irlands je der Rache für den Blutzoll, den sie fordern, sich versagen. DION BOUCICAULT, >The Wearing of the Green< Kaum eine Stunde nach dem Zusammentreffen am Seeufer begann die Straße, auf der John mit seinen neuen
Weggefährten ging, sich zu einem Einschnitt am Ende des Tales zu heben. Es war noch heiß auf der Teerdecke, die Sonne flimmerte auf den Blättern der Bäume, die die Straße säumten, und von den Mineraleinschlüssen im Fels zu beiden Seiten sprühten Glimmerblitze. Herity schaute immer wieder die Rücken der drei vor sich an. Er dachte, wie leicht es sein würde, sie hier und jetzt zu beseitigen - mit einem kurzen Feuerstoß aus der Maschinenpistole, die er in seinem Rucksack versteckt hatte. Allerdings würde bestimmt irgend jemand das hören. Und Kevins Männer würden sicher die Leichen finden. Dieser dreckige Bastard einer verhurten Hexe - Kevin! Von all den verrückten Typen, die jetzt in Irland herumhingen, war Kevin wahrscheinlich einer der gefährlichsten: alles Irre! Man konnte nie wissen, was sie als nächstes tun würden. Aber die drei da vorn - das waren echte Irrläufer, sogar der Yank. Kein Ort konnte die lange halten. Die waren nicht wie diese Scheintoten, die warteten nicht einfach nur, bis sie starben. Aber der Yank, der konnte genausogut auch ein Haßgetriebener sein. Der hatte was Stählernes in den Augen. Und der Pfaffe, der 268 konnte ganz leicht zu 'nem Todessüchtigen werden, zu einem Geiferer. Ein Glück war, daß der Junge nicht redete. Sonst würde der ganz sicher ein erbärmlicher Winsler sein. Gott schütze uns vor den Jammerlappen und den Psalmenblökern und den Berufspatriotisten! John warf einen Blick zu Herity zurück und dachte: Was sind wir doch für ein merkwürdig schweigsamer Trupp. Der Junge will nicht sprechen, der Priester trifft Entscheidungen, ohne darüber zu diskutieren, und dieser Herity da hinten -ein gefährlicher Mann, ganz vergraben in seine mürrische Zurückgezogenheit, aus der nur ab und zu seine dunklen Augen sich argwöhnisch in die Landschaft bohren. Etwas an diesem Herity beunruhigte den O'Neill-im-Kopf, verwirrte John selbst mit unerwünschten Erinnerungsfetzen aus dem >anderen< Erinnerungsbereich, mit Dingen, die man besser nicht heraufdringen ließ, weil sie vielleicht die Schreie wieder aufleben lassen konnten. Er blickte, um sich abzulenken, zu dem Priester hinüber, und er begegnete dort einem solch wilden Blick in den Augen, einem starren, stetigen Blick, daß John als erster den Augenkontakt unterbrach und mit Gewalt die aufschwellende Wut gegen diesen Pater Flannery unterdrücken mußte. Es war leicht zu erkennen, zu welchem Typ von Priester der Mann gehörte: ein Mann, der früh im Leben erkannt hatte, was für Macht- und Gewaltmöglichkeiten sich aus einem absoluten, überheblichen Glauben gewinnen ließen. O ja, genau das war dieser Flannery. Er hatte sich in seinen Glauben verschnürt wie in eine Rüstung ... - und jetzt ... jetzt war dieser Schutz durchbrochen worden. John warf dem Priester noch einen kurzen prüfenden Blick zu und stellte fest, daß dieser sich zu Herity umgewandt hatte. Bei dem findest zu keine Hilfe, Priester! Es war nur zu leicht zu erkennen, womit der Pfaffe beschäftigt war: er versuchte die Bresche in seiner Rüstung zu schließen. Sein ganzer Lebensinhalt sickerte durch die Risse davon, und er grapschte verzweifelt nach der altvertrauten arroganten Glaubenssicherheit, quälte sich damit ab, die 269 Trümmer wieder zusammenzufügen, den Schutz wieder undurchdringlich zu machen, hinter dem er, von der Welt unberührt, verharren und andere nach seiner Lust und Laune tanzen lassen konnte. Der Mann erweckte in ihm fast den Eindruck, als sei er eine gestrauchelte Jungfrau, und es haftete ihm etwas verstohlen Schmutziges an. Dann schaute John zu dem Jungen hinunter. Wo war denn diese Mutter? Wahrscheinlich war sie tot. So tot wie Mary und die Zwillinge. Pater Michael sah den Blick Johns und fragte: »Und wie sind Sie nach Irland gekommen, Mr. O'Donnell?« Es war, als gäbe ihm der Name seine Identität wieder, als ermögliche ihm die Frage, wieder zu seiner raffinierten Pose zurückzukehren, die, wie er wußte, hier am besten erfolgreich sein würde. »Bitte, nennen Sie mich doch einfach John.« »Ein guter Name: John«, sagte Pater Michael. John hörte, wie Herity rascher ging, um sie einzuholen. »Ich bin nach Irland gekommen ... - aber das ist eine lange Geschichte«, sagte John. »Ach, wir haben immens viel Zeit«, sagte Herity, der plötzlich rechts von John ging. Nun stiegen sie in Viererreihe die steiler werdende Straße hinauf. John dachte einen Augenblick lang nach, dann nahm er seine Erzählung da wieder auf, wo ihn die Barkasse des Kriegsschiffs in der Bucht von Kinsale zurückgelassen hatte. »Man hat Sie nackt und bloß ausgesetzt, damit Sie auf der Straße den Tod fänden?« fragte Pater Michael. »Ach, ach, ach, diese Strandjungen - was sind das für gewalttätige, wuterfüllte Männer. Sie haben kein Gefühl dafür, daß der Mensch gut ist.« »Sie haben ihn immerhin am Leben gelassen«, sagte Herity»Sie treiben Wucher mit unserem Elend«, sagte Pater Michael. Der Anflug von salbungsvollem Kanzelton verärgerte John. »Kommen die Leute von den Kriegsschiffen regelmäßig nach Kinsale herein?« 270 »Sie schicken Vorräte und Waffen auf unbemannten Booten, die hinterher versenkt werden. Die Strandjungs revanchieren sich, indem sie unsere Küsten bewachen und jeden daran hindern, das Land zu verlassen.« »Und was sollten die wohl Ihrer Ansicht nach sonst machen?« fragte Herity. »Würden Sie etwa diesen Wahnsinn in andere Länder ausbreiten? Sie, ein geweihter Priester des Herrn?«
»Das habe ich nicht gemeint, Joseph Herity, und Sie wissen das genau!« »Also glauben Sie nicht, daß wir unsere Küsten bewachen müssen?« »Doch, gewiß! Aber ich kann dabei keine Freude empfinden. Und ich würde Menschen wie Mister O'Donnell einen freundlicheren Empfang bereitet haben als den, den er uns beschrieben hat.« Pater Michael schüttelte traurig den Kopf. »Daß die IRA so tief sinken mußte!« »Was haben Sie da grad gesagt?« fragte John. Er merkte, daß sein Herz hastiger schlug. Er hatte das Gefühl, als sei sein Gesicht rot und als breche ihm der Schweiß aus den Poren. Pater Michael sagte: »Die Finn Sadal, unsere Strandjungen, das sind überwiegend Leute von der IRA. Und sie haben sich so leicht in diese neue Sünde ergeben, daß ich mich heute frage, ob sie nicht schon immer Profit aus unserem Elend geschlagen haben?« »Es gibt Leute, Pater, die würden Sie für eine viel weniger freche Behauptung umlegen!« sagte Herity. »Und Sie, Mister Herity, Sie würden dann wohl einer von ihnen sein, wie?« fragte der Priester und warf dem Mann einen prüfenden Blick zu. »Aber, aber, Pater«, sagte Herity, ganz geschmeidig - beschwichtigend. »Ich will Sie doch nur zur Vorsicht mahnen. Achten Sie auf das, was Sie sagen, Mannl« Der Junge, der bei dem Wortwechsel mit ausdruckslosem Gesicht von einem zum anderen geschaut hatte, schoß plötzlich an den Straßenrand. Er packte dort einen Felsbrocken und warf ihn schwirrend in die Baumwipfel am Seeufer. Als 271 der Stein in den Ästen verschwand, erhob sich eine Wolke von Krähen aus den Bäumen. Die scharfen Schreie der Vögel stießen durch die Luft herüber, während sie in einer schwärzlichen Spirale emporwirbelten, die sich zu einer dünnen Spur über dem Himmel verwandelte und südwärts über dem See verlor. »Da haben Sie das ganze Irland«, sagte Pater Michael. »Gebrüll und Geschrei, wenn wir gestört werden, und dann verziehen wir uns irgendwo anders hin, setzen uns und warten auf die nächste Störung.« »Es gibt also hier keine Regierung mehr?« fragte John. »O ja, wir haben noch immer das ganze Brimborium«, antwortete Pater Michael. »Aber die wirkliche Macht liegt in den Händen der Militärs, das heißt, es regieren die Gewehre.« Der Junge kehrte an die Seite des Priesters zurück und schritt weiter neben ihm her, als hätte er sich nie von da entfernt. Sein Gesicht war friedlich, und John überlegte, ob er vielleicht taub sein könnte. Doch nein, der Junge folgte ja, wenn man ihm etwas befahl. »Aber ich fürchte, wir haben immer unter Kriegsrecht gelebt. Also hat sich gar nichts geändert«, sagte der Priester. »Sind die Strandjungs Teil der Regierungsgewalt?« fragte John. Und er spürte, wie O'Neill in seinem Innern auf die Antwort lauerte. »Sie haben jedenfalls Gewehre«, sagte Pater Michael. »Und sie haben ihre Leute in hohen Regierungspositionen.« Herity sagte: »Ach, Priesterlein, einiges hat sich aber doch geändert. Einiges hat sich sogar sehr geändert.« »Gut, das stimmt, ich gebe es zu«, sagte Pater Michael. »Es hat sich insofern geändert, daß wir wieder ins feudalistische Mittelalter zurückgefallen sind. Und ganz vergeblich, falls ihr versteht, was ich damit sagen will.« »Ach, unser Pfaffe ist ein heimlicher Dichter!« sagte Herity. John blickte auf, als das Licht ringsum plötzlich düster wurde. Er sah, daß von Westen her sich Wolken herangeschoben hatten, daß ihre düsteren zerfetzten Ränder nach Regen aussahen. 272 »Es gibt keine Demokratie«, sagte Pater Michael. »Vielleicht hat es nie eine gegeben, weil sie ein so kostbares Juwel ist, daß es immer Männer geben wird, die es stehlen werden, wenn es schutzlos gelassen wird.« »Aber wir haben endlich eine einzige Regierung in Dublin für ganz Irland«, sagte Herity. »Und jetzt sagen Sie mir, Pater Michael, war das nicht immer das, was wir uns schon ewig gewünscht haben?« Er grinste den Priester hinterhältig von der Seite her an. »Es ist immer noch das gleiche alte eifersüchtige Gezeter und Gezerre«, sagte der Priester. »Wir sind noch immer ein geteiltes Volk!« »Ach, hören Sie nicht auf den, Mister O'Donnell«, sagte Herity. »Der ist bloß so ein alter verrückter Pfaffe!« Der Junge funkelte Herity wütend an, doch nur John schien das zu bemerken. »Das ist bei uns eine uralte Sache«, sagte Pater Michael. »Es ist Bestandteil unserer ererbten gälischen Verrücktheit. Wir spalten uns selbst, auf daß andere uns erobern und besiegen können. Den Wikingern ist es bei uns leichtgefallen, weil sie, als sie uns überfielen, feststellen konnten, daß wir zu sehr damit beschäftigt waren, gegeneinander zu kämpfen. Und hätten wir uns damals zu einer geschlossenen Front gegen die Nordmänner zusammengeschlossen - gleich ob sie weiß oder schwarz sein mochten -, wir hätten sie ins Meer zurückgetrieben!« Er schaute Herity ins Gesicht. »Aber dann hätten wir überhaupt keine blonden Iren in unserm Land!« Herity blickte ihn wütend an. Der Hieb auf seine Abstammung war ihm keineswegs entgangen. »Die Normannen haben ihr Blut mit dem unsrigen vermischt«, sagte der Priester und starrte weiter auf die blonde Haarsträhne, die unter Heritys grüner Mütze hervorhing. »Das war eines der großen Mißgeschicke der Menschheitsgeschichte - diese Blutvermischung zwischen den Berserkern und den Iren! Und so sind wir zu einem Volk geworden, das sich mit Wut und Wonne selbst zerfleischt - wir sind immer bereit, uns für jede
beliebige Sache in den Tod zu stürzen.« 273 John warf einen Blick auf Heritys Gesicht und war bestürzt über die hemmungslose Wut, die sich dort abzeichnete. Die Hände des Mannes verkrampften und entspannten sich, als bebten sie danach, den Priester zu würgen, damit er schweige Der Priester schien das nicht zu bemerken. »Es war in jeder Hinsicht eine verderbliche Mischung«, fuhr er fort. »Sie hat die in der Blutgemeinschaft verankerten Wurzeln der Iren verrotten lassen und damit zugleich das, was an den Nordmännern das Beste war, sündhaft pervertiert - ihr starkes Gefühl für Solidarität.« »Halt den Mund, du verrückter Pfaffe!« fauchte Herity. Aber Pater Michael lächelte nur. »Sie werden vielleicht feststellen, Mister O'Donnell, daß dieser Mischrasse nur ein Erbteil hinterlassen wurde: ungehemmt gierige Selbstsucht und das Renommiergehabe, das man jederzeit aufsteckt, um sich persönlich mit Ruhm zu schmücken.« »Sind Sie jetzt fertig mit Ihrem Sermon, Priester?« fragte Herity. Er konnte seine Stimme kaum noch unter Kontrolle halten. »Nein, das bin ich nicht. Ich wollte gerade noch drauf hinweisen, daß es uralte Bindungen zwischen uns und den Leuten in Northumberland gab, und die saßen genau mitten im Herzland der blutrünstigen Briten da drüben über dem Meer. Und auch diese Bande haben die Wikinger zerrissen. Aber wenn man sich das alles genau anschaut, Mister Herity, dann haben wir das alles uns selbst zuzuschreiben, weil wir uns geweigert haben, uns von den Wikingern besiegen und dann vereinigen zu lassen!« Herity vermochte sich nicht länger zu beherrschen. Er rannte ein paar Schritte vor, wirbelte herum und hieb dem Priester die Faust auf den Kopf. Pater Michael stürzte und riß im Fallen den Jungen mit, und beide landeten auf der Straße. Der Junge ballte die Fäuste und versuchte auf die Beine zu kommen. Es war offensichtlich, daß er sich auf Herity stürzen und ihn angreifen wollte, doch der Priester hielt ihn zurück. »Ruhig, Junge, ruhig! Gewalt bringt nie Gutes!« 274 Langsam verebbte der Zorn des Jungen. Pater Michael schien Schmerzen zu haben, als er wieder auf die Beine kam. Er klopfte sich den Straßenstaub von dem schwarzen Anzug, dann lächelte er John zu, wobei er Herity betont übersah, der immer noch mit geballten Fäusten dastand, aber inzwischen dümmlich-fragend dreinschaute, als lausche er nach Anzeichen für einen Angriff auf sich selbst, der aus jeder nur möglichen Richtung kommen könnte. »Das war eine Demonstration am lebenden Objekt, Mister O'Donnell, für das, was ich soeben sagte«, bemerkte Pater Michael. Er drehte sich um und half auch dem Jungen beim Aufstehen. Dann schaute er Herity an. »Und nun, nachdem Sie uns das ganze Ausmaß Ihrer Stärke demonstriert haben, Mister Herity, sollten wir vielleicht weitergehen, oder?« Der Priester faßte den Jungen an der Hand, trat um Herity herum und schritt einfach weiter die Straße hinauf, die hier nach links abbog und steiler hinauf durch Fichtengehölz führte. John und Herity faßten hinter den beiden Tritt. Herity ließ die Augen nicht vom Nacken des Priesters. John hatte das Gefühl, daß Herity da vorhin eine ganz saftige Niederlage beschert worden war. »Und was die Engländer angeht«, fuhr Pater Michael fort, als habe es nicht die geringste Unterbrechung gegeben, »wir hören aus dem Radio, Mister O'Donnell, daß sie dort zwei neue Parlamente haben - eines in Dundee für die Schotten und eines in Leeds für die Gälischen im Süden.« »Wenn man bedenkt, daß die Britischen auch die Pest haben«, brummte Herity, »und daß die jetzt auch in Nord und Süd geteilt sind ... also das ist eine der wenigen Freuden, die uns noch geblieben sind.« »Was hört man aus London?« fragte John. »Gütiger Himmel!« sagte Herity. Er klang auf einmal sehr viel fröhlicher. »In London haben sie noch immer die Mobs, die alles beherrschen. Sagen sie jedenfalls. Und das wäre in Belfast und in Dublin genauso, wenn die Armee das zulassen würde.« 275 »Ah, es gibt also keine Armee mehr in England?« »Ach, was das angeht«, sagte Herity, »sie behaupten, daß sie die Mobs in London nur deshalb nicht zerstreuen, weil sowieso kein Mensch in die Stadt gehen und sie wieder in Ordnung bringen will. Na, und klingt euch das nicht verdammt typisch britisch?« »Keine Nachrichten aus Libyen?« fragte John. Allmählich begann ihm das Gerangel um die Führerschaft zwischen dem Priester und Herity, so haßerfüllt es sein mochte, Spaß zu machen. »Ach, wer kümmert sich schon um die Heiden«, sagte Herity. »Gott. Gott kümmert sich«, sagte Pater Michael. »Gott kümmert sich?« Heritys Stimme triefte vor Hohn. »Wissen Sie, ich will Ihn' was sagen, Mister O'Donnell, das erste, was in Irland flöten ging, waren diese ganzen restriktiven Gesetze: der ganze Scheiß zum Schutz des Grundbesitzes, oder gegen erwachsene Bürger, die miteinander bumsen wollen, der Quatsch mit den idiotischen Geschwindigkeitsbeschränkungen, die Kleiderverordnungen, die sonntäglichen Sperrzeiten für Lokale ... ach, eben der ganze Quark! Das neue Gesetz ist ganz klar und einfach: Wenn es dich juckt, dann tu's halt!« Der Priester drehte sich zu Herity um und sagte voll Empörung: »Der Mensch muß noch immer darum besorgt sein, seine unsterbliche Seele zu retten. Und das vergessen Sie doch mal besser nicht, Joseph Herity.«
»Für Sie - Mister Joseph Herity, Priesterchen! Und würde es Ihnen was ausmachen, mir mal so eben Ihre unsterbliche Seele vorzuweisen? Na los, zeigen Sie sie mir, Sie Papistenschwein! Her damit!« »Ich will mit solchem blasphemischem Gerede nichts weiter zu tun haben«, sagte Pater Michael, aber seine Stimme klang schwach und unsicher. »Unser verehrter Pater Michael hat sich seinen priesterlichen Pflichten in Maynooth in der County Kildare geweiht gehabt«, sagte Herity mit hohntriefender Stimme. »Ach, erzäh276 len Sie doch mal unserem Mister O'Donnell, was da in Maynooth so passiert ist, Priesterchen!« John drehte sich nach dem Priester um, aber der hatte sich abgewandt und marschierte mit gesenktem Kopf dahin. Anscheinend betete er, leise murmelnd, und es waren nur ab und zu ein paar Worte zu verstehen: »Vater ... flehe ... gib ...« Und dann, lauter im Ton: »Gott! Hilf uns, daß wir die Brüderlichkeit finden!« »Ja, 'ne Brüderlichkeit der Verzweiflung«, sagte Herity. »Das ist das einzige, was uns derzeit überhaupt verbindet. Manche erleben diese Brüderlichkeit im Suff, andere halt auf andere Weise. Aber es ist ein und dasselbe.« Sie hatten inzwischen fast die Senke auf dem sich verengenden Talgrund erreicht. Die Felswände waren mit Brombeergestrüpp überwuchert, auf den Blättern tummelten sich zahllose Blattwanzen. Hinter den Straßensteinen links sah man niederes Gestrüpp, weiter unten die verbrannten Reste eines Bauernhofs, das Feldgerät im Hof sah verrostet und verbogen aus, ein Überlandleitungsmast hing in absurd schrägem Winkel über dem Metalldach eines Schuppens etwas abseits. Alles verriet die gleiche Zerstörungswut, wie John sie vom ersten Tag seines Aufenthaltes an in diesem Land fast überall bemerkt hatte. Er blieb stehen und blickte auf die Strecke zurück, die sie hinter sich gebracht hatten. Durch die niederen Kiefern konnte er den See schimmern sehen, die gekerbte Linie einer weiteren Straße jenseits des Wassers. Er schaute zu Herity, der gleichfalls die Straße beobachtete, die sie soeben hinter sich gelassen hatten, und auf einmal überkam ihn das Gefühl, daß die beiden, Herity und der Priester, sich in einem Wettstreit um ihn, John, befänden, daß er, John Garrech O'Donnell, der Siegespreis sei, nach dem diese beiden Männer so eifernd strebten. Der Priester und der Junge hatten nicht angehalten. Herity berührte Johns Oberarm. »Gehen wir ein bißchen schneller, ja?« Er klang, als hätte er Furcht. John paßte den Schritt dem hastigeren Tempo Heritys an. 277 Einmal schaute er zu den jagenden Wolken auf. In der Luft hing ein Geruch wie von nasser Asche. Die Straße bog jetzt nach rechts abwärts, es wurde kühler, und die Bäume an diesem Taleinschnitt waren größer als auf der anderen Seite. Herity gab sein Tempo nicht auf, bis sie den Priester und den Jungen wieder eingeholt hatten und wieder zu viert in Reih und Glied marschierten. Die Straße machte eine Linksbiegung um einen Felsausläufer herum, stieg dann an und senkte sich danach wieder. Zu beiden Seiten der Straße standen dort Gattertore, verwittertes Weiß, kalkig, die Tore selber von einem Gestrüpp umgestürzter Bäume ziemlich hoch versperrt. Hinter der rechten Barrikade konnte John einen verwachsenen Ochsenpfad erkennen, der durch ein Roggenfeld schnitt, auf dem das Unkraut hoch und üppig wucherte. Von dem Gatterpfosten hing ein verwittertes Schild, auf dem nur noch ein paar Buchstaben lesbar waren. John versuchte sie im Vorbeigehen zu entziffern: »JF-----PA-----offiziell-----Segen-----Rev. M----PO—ER.« »Was ist das hier?« fragte John mit einer Kinnbewegung. »Wen kümmert das schon?« fragte Herity zurück. »Das ist das Tote, das Vergangene.« Laubbäume bildeten hier ein Gewölbe über der Straße, und die vier Wanderer traten aus dem Schatten und sahen vor sich zu beiden Straßenseiten dicht am Rand je ein Haus. Das rechts von ihnen war eine zerstörte ausgebrannte Ruine, das linke dagegen schien intakt zu sein. Es wuchs nur ein bißchen Moos auf dem Schieferdach, und es kam kein Rauch aus den zwei Schornsteinen. Auch stand eine Tür offen, und an ihrer Innenseite hing ein Mantel, ganz so, als sei der Besitzer soeben von den Feldern heimgekehrt. John spürte, daß es bald zu regnen beginnen würde. Er fragte: »Sollten wir nicht lieber da drin Unterschlupf suchen?« Er blieb abrupt stehen, und die anderen drei ebenfalls. »Sind Sie blöd?« fragte Pater Michael leise. »Riechen Sie's denn nicht? Das da ist ein Todeshaus.« 278 John schnüffelte und nahm einen leichten Aasgeruch wahr. Er wandte sich an Herity. Der sagte: »Aber es ist ein Unterstand, Priester, und gleich regnet es.« Er tat, als wolle er nicht ohne die Billigung des Priesters ins Haus treten. »Es liegen Tote unbestattet irgendwo«, sagte Pater Michael. »Vielleicht ... Selbstmörder.« Er schaute die Straße hinauf, dann auf einen Strauch gelber Pimpinelle an der Hauswand. »Es muß ein Ort in der Nähe sein, dort finden wir Schutz.« »Auch die Dörfer sind nicht mehr so sehr sicher in dieser Zeit«, sagte Herity. »Ich hatte mir gedacht, wir nehmen die obere Straße und umgehen den Ort.« John hörte die scharfen Schreie der Krähen jenseits der Bäume, und seit sie nicht mehr marschierten, erschien ihm die Luft auf einmal kalt.
»Wir gehen am besten gleich weiter«, sagte Pater Michael. »Ich habe ein ungutes Gefühl an diesem Ort.« »Ganz sicher haben die faeries hier ihr Unwesen getrieben«, sagte Herity. Er rückte die Riemen seines Rucksacks zurecht und stapfte an dem Priester vorbei weiter. Pater Michael und der Junge eilten ihm nach. John folgte ihnen. Er war verwundert über den seltsamen Wortwechsel. Wieder eines dieser Wortgefechte mit versteckten Untertönen zwischen den beiden Männern. Gerade stritten sie noch miteinander, und in der nächsten Minute schienen sie insgeheim ein Herz und eine Seele zu sein. Auf dem Kamm des nächsten Hügels stießen sie rechts auf eine Rodung, auf der eine weitere niedergebrannte Ruine lag. An der Zu- und Ausfahrt war ein diesmal unversehrtes Schild. »Shamrock Inn.«* Herity eilte die Zufahrt hinauf und blickte hinter die Ruine. »Die hinteren Gebäude sind noch intakt«, rief er zurück. Er zog eine Pistole unter der Jacke hervor und bog um die * Das grüne Kleeblatt (shamrock) ist das irische Nationalabzeichen -Anm. d. Übers. 279 Trümmer nach hinten, aber kurz darauf kehrte er zurück und verkündete: »Niemand zu Hause. Allerdings riecht es nach Pisse, wenn Ihnen das nichts ausmacht, Pater Michael!« Noch während sie sich Herity näherten, begann es zu regnen. Herity führte sie auf einem schlammigen Pfad um die Ruine herum und präsentierte ihnen stolz ein niedriges fensterloses Gebäude dahinter. »Das Badehaus und die Toiletten sind übriggeblieben!« sagte er. »Die Wahrzeichen unserer Zivilisation überdauern. Riechen Sie sie, Pater Michael? Es stinkt nach Pisse, aber noch nach mehr.« Der Priester trat durch die offene Tür des verwitterten Gebäudes, die anderen hielten sich dicht hinter ihm. Inzwischen prasselte der Regen heftig herunter und trommelte laut auf das Metalldach über ihren Köpfen. Der Priester zog schnüffelnd Luft in die Nase. »Er riecht es tatsächlich!« sagte Herity mit einem Ausdruck diebischer Freude im Gesicht. »Er ist wie seine heißgeliebten Wikinger, so isser, mein guter Pfaffe, er folgt wie sie dem Heugeruch zu dem Dorf, das dann geplündert werden soll. Seht ihr, wie er die Luft schnüffelt? Der Duft des Bräuhauses dringt ihm in die Nase, und er denkt nur noch daran, wie köstlich es wäre, wenn er auch den wundervollen Geschmack auf der Zunge spüren könnte.« Der Priester warf Herity einen waidwunden, flehenden Blick zu. Aber Herity kicherte nur in sich hinein. John sog die Luft ein. Er konnte die Latrinendüfte aus den nebenan liegenden Toiletten riechen, aber Herity hatte sich nicht geirrt: hier in diesem Raum roch es wirklich nach Bier, wie wenn es auf dem Boden verschüttet worden wäre und über viele Jahre hin dort hätte eindringen können. John schaute sich um. Offensichtlich war der Raum ein Badehaus und eine Waschküche gewesen, aber es waren nur noch die Becken übrig, und anscheinend hatte jemand sie fast ganz aus der Wandverankerung gerissen. Ein Durcheinander von grünen Glasscherben und Papier schien in eine Ecke geschoben worden zu sein. Ansonsten machte der Fußboden den 280 Eindruck, als sei er kürzlich gekehrt worden, es lagen nur ein paar vom Wind hereingewehte Blätter herum. Herity ließ den Rucksack auf den Betonboden neben der Tür fallen und ging mit geducktem Kopf nach draußen. Er kam aber gleich wieder zurück. Seine Hände waren schwarz von nasser Erde, und er wiegte fünf Flaschen Guinness-Bier in den Armen. »Vergraben, mein Gott!« sagte er. »Aber ich kenn mich aus mit den Leuten, die was zu verbergen haben. Und es gibt in dem Loch noch massenhaft, genug jedenfalls, um all unsere Sorgen zu ersäufen. Hier, bitte, Pater Michael!« Herity stieß dem Priester eine dunkelbraune Flasche entgegen. Der nahm sie mit zitternder Hand. »Und hier ist auch eine für unseren Mister O'Donnell!« John nahm die Flasche entgegen, sie fühlte sich kühl an. Er wischte den Schmutz um den Verschluß ab. »Aber nehmen Sie doch das!« sagte Herity und zog einen Flaschenöffner aus seinem Rucksack. »Und schütteln Sie das kostbare Gebräu nicht so!« Als Herity die Flasche für John öffnete und sie ihm zurückreichte, hörte John O'Neill-im-Kopf schreien: »Nicht! Tu es nicht!« Nur ein Schluck, dachte er. Nur um die Kehle anzufeuchten. Über die erhobene Flasche hinweg begegnete er dem Blick Heritys. Der Mann hatte einen abschätzenden, einen lauernden Ausdruck in den Augen, und er trank nicht, obgleich der Priester seine Flasche inzwischen bereits geleert hatte. John ließ die Flasche sinken und blickte Herity erneut, diesmal grinsend, in die Augen. »Aber Sie trinken ja gar nicht, Mister Herity?« John wischte sich die Lippen am Ärmel seines gelben Pullovers. »Ach, ich habe nur Ihren Anblick genossen, wo Sie doch so enormen Spaß an diesem stolzesten Produkt Irlands zu haben schienen«, sagte Herity. Er reichte eine weitere offene Flasche an Pater Michael weiter. »Ich hol noch was.« Er ging dreimal, dann standen da in schöner Reihe zwanzig Flaschen 281 an der Wand, und das Glas schimmerte einladend aus der Schmutzverkrustung hervor. »Und es gibt noch mehr«, verkündete Herity und wischte eine Flasche ab, ehe er sie für sich selbst aufmachte. John nahm einen vorsichtigen Schluck. Das Bier schmeckte bitter, aber es löschte sofort den Durst. Er spürte,
wie es ihm den Magen mit Wärme füllte, und erinnerte sich plötzlich an die Fischkonserven in seiner Tasche. Er holte sie hervor. »Vielleicht sollten wir hier was essen?« »Ich hab mich schon die ganze Zeit gewundert, was die Ausbuchtung in Ihrer Tasche zu bedeuten haben könnte«, sagte Herity und trank einen kräftigen Schluck. »Aber essen können wir später. Das hier ist die seltene Gelegenheit zu einem ganz ernsthaften Besäufnis.« Er will mich betrunken machen, dachte John. Er stellte die halbgeleerte Flasche beiseite und starrte zur Tür hinaus. Er spürte das verworrene Murmeln von O'Neill-im-Kopf, die Schreie lauerten im Grenzbereich seines Bewußtseins. Wieso beuge ich mich den Forderungen dieses O'Neill in mir? überlegte er. Dieser O'Neill war stets dabei, beobachtete ihn stets, nahm immer wahr, was geredet wurde, was um ihn herum geschah, und immer besaß er ein besonders waches Gespür für den Schmerz derer, die er beobachtete.. John kam es so vor, als manipuliere dieser O'Neill-im-Kopf die persona O'Donnell, als wäre er ein Puppenspieler, der auf einer ganz besonderen Bühne die Marionette O'Donnell tanzen ließ. Und wie würde sich Herity freuen, wenn er diesem Puppenspieler auf die Spur kommen könnte! »Sie trinken ja wie 'ne Schwuchtel«, sagte Herity und öffnete eine neue Flasche. »In dem Loch da draußen liegen mindestens hundert schöne Flaschen.« Er reichte die offene Flasche an den Priester weiter, der sie fest in den Griff nahm und in einem Zug leerte, ohne Atem zu holen. Der Junge verkroch sich in die Ecke bei der kaputten Spüle und starrte die drei Männer mürrisch an. »Ich schlaf sofort ein, wenn ich auf leeren Magen trinke«, sagte John. Er schaute zu dem Jungen hinunter. »Und das 282 Kind hat Hunger. Sind Sie nicht auch der Meinung, Pater Michael?« »Ach, lassen Sie unser Pfäfflein damit in Ruhe«, schalt Herity. »Der ist ein Mann, der gern was trinkt, unser lieber Pater Michael.« Und der Priester nahm eine weitere Flasche von Herity entgegen. In seinen Augen zeigte sich bereits ein glasiger Schimmer. Er schüttelte sich, als sei ihm kalt, und hielt unentschlossen die Flasche vor sich. Er schaute vom Flaschenhals zu dem Jungen, offensichtlich war er bemüht, eine Entscheidung zu treffen. Plötzlich öffnete er die Hand, und die Flasche zersplitterte auf dem Betonboden. »Ach, schaun Sie, was Sie da jetzt angestellt haben«, sagte Herity vorwurfsvoll. »Will nichts mehr«, nuschelte der Priester. »Das ist aber nicht der Pater Michael, wie ich ihn kenne!« »Bring uns den Dosenöffner, Junge«, sagte der Priester. Der Junge stand auf und zog einen kleinen Dosenöffner aus der Tasche. Er brachte ihn dem Priester, der sich von John eine Fischdose reichen ließ, die er dann betont sicher öffnete, ehe er sie dem Jungen, mit dem Dosenöffner, reichte. Rauh fragte der Priester dann: »Haben Sie noch mehr davon?« Er wies auf die Dose in der Hand des Jungen. »Für jeden von uns eine.« »Nichts für mich«, sagte Herity. »Wenigstens einer in unserm Haufen weiß, was Trinken heißt.« Er hockte sich neben den verschlossenen Bierflaschen nieder und stützte sich mit einem Arm auf seinen grünen Rucksack. »Offenbar bin ich der einzige Mann unter uns, der den würdigen Anlaß zu schätzen weiß.« Dann begann er eine Flasche nach der anderen Leerzutrinken. John suchte sich eine Stelle an der Wand, wo er sich anlehnen und seine Gefährten im Auge behalten konnte. Der Junge nahm noch zwei Fischkonserven entgegen, öffnete sie und reichte eine davon dem Priester, die andere John, ehe er sich wieder in seinen Winkel verzog. Der Regen trommelte weiter auf das Metalldach, und es wurde dunkler und sehr kalt. 283 Irgendwas ist in diesem Jungen am Gären, dachte John. Da steckte irgendwo tief unten eine Sprengladung und wartete darauf, bis der Druck so weit angestiegen war, daß die Explosion erfolgen konnte. Und nun, zum erstenmal, seitdem er dieses Kind in dem Boot erblickt hatte, spürte John so etwas wie eine Persönlichkeit in ihm, etwas Trübes, das sich aus Ressentiments und Ängsten zusammensetzte. Einmal warf der Junge dem Priester einen Blick zu. John folgte dem Blick und sah, daß Pater Michael sich in einer Ecke zusammengerollt hatte und eingeschlafen war. Ein leises Schnarchen drang von ihm herüber. »Ah, der kleine Dreckfink interessiert Sie?« fragte Herity leise. John riß seinen Blick von dem Jungen los, und er merkte erst jetzt, daß Herity ihn die ganze Zeit beobachtet und sein Interesse an dem Kind bemerkt hatte. »Wie der Racker wohl heißen mag?« fragte Herity. »Hat er überhaupt einen Namen?« Er trank die Flasche leer und machte sofort eine neue auf. »Ist es möglich, daß der Kleine keine Eltern hat? Ist er was, das die faeries, die Feengeister, liegengelassen haben?« Der Junge starrte Herity mit blitzenden Augen an. Die Knie hatte er dicht unters Kinn gezogen. Er verharrte bewegungslos. »Sollten wir besser unsere Jacken mit dem Futter nach außen tragen?« fuhr Herity fort. »Die Geister können einem nicht nachgehen, wenn man die Kleider verkehrt rum anhat. Mir ist fast danach zumute, seinen Namen aus ihm rauszuprügeln. Was hat der denn für ein Recht, sich dermaßen in sich selber zu verschließen?« Herity schien völlig unbeeinflußt von dem Alkoholkonsum zu bleiben. Er leerte die Flasche, öffnete eine
weitere, ließ aber dabei den Blick nicht von dem Jungen. Allerdings hatte seine Stimme inzwischen ein bißchen an Rauheit gewonnen und klang schwerfälliger. Aber John fiel auch auf, daß der Mann vollkommen ruhig dahockte, daß der Kopf nicht wackelte, die Hände nicht fahrig wurden. 284 »Ach, ich könnte ihn schon ganz leicht zum Reden bringen«, sagte Herity, trank die Flasche aus und stellte sie säuberlich in die Reihe der bereits leeren Flaschen zu seiner Linken. Da hockte er, den Arm auf seinen Rucksack gelegt, den Kopf auf den Arm gestützt, und starrte unablässig den Jungen an. Was sollte dieser ganze Quatsch über >Faeries dachte John. Dieser Herity schien in einer ganz persönlichen Welt mit eigener Realität zu leben, mit ganz persönlichen Heiligen und seinen ganz persönlichen Teufeln. Herity, in nüchternem Zustand, war ein Mann, der seine Wertmaßstäbe vor langer Zeit gefunden und sie seitdem niemals geändert hatte. Herity betrunken dagegen (und inzwischen mußte ja auch er die Wirkung des Alkohols spüren), das war vielleicht was ganz anderes. Vorher hatte er streitsüchtig geklungen, verbittert, aber nun verfiel er in Schweigen ... - und John vermochte die tief in ihm verborgenen Schlichtungen von Wut und Zorn zu spüren. Was lagen dort für Erinnerungen? Vielleicht aber war Herity einer von jenen Männern, die sich im Suff nicht verkriechen können. Das Guinness hatte vielleicht ätzende Erinnerungen heraufsteigen lassen, vielleicht Schuldgefühle. Und weswegen würde sich ein Herity schuldig fühlen? Nur weil er dem Priester einen Schlag verpaßt hatte? Herity schloß die Augen, und bald danach bebte er am ganzen Leib, so heftig begann er zu schnarchen. Der Junge stand auf und schlich sich katzenhaft heran. Er stand über Herity und schaute zu ihm hinunter. Der Junge hielt etwas in der rechten Hand, aber John konnte in der Finsternis nicht erkennen, was es war. Plötzlich stürzte sich der Junge auf Herity. Er hieb mit etwas in der Hand auf den Mann ein, das John jetzt als den messerscharfen Dosenöffner erkannte. Der Junge versuchte die Kehle Heritys zu zerfetzen, aber der Jackenkragen verhinderte es. Abrupt aus seinem Stupor gerissen, packte Herity den Arm mit dem Dosenöffner und hielt ihn fest. Die beiden rangen stumm miteinander. Die wilde Kraft des jungen Körpers 285 zeigte sich in der heftigen, nichtgebremsten geißelnden Wut. Es war, weil alles so still vor sich ging, so zielgerichtet, ein erschreckender Anblick. »Ach, schon gut! Ich laß doch los!« In Heritys Stimme schrillte eine fast weibliche Hysterie. Er packte den anderen Arm des Jungen und hielt beide fest. Der Junge wand sich in seinem Griff. »Nun laß schon, Junge! Ich tu dir ja nichts mehr.« Der Priester richtete sich auf und fragte: »Was ist denn los?« Die Stimme des Priesters schien auf den Jungen ihre Wirkung auszuüben. Langsam gab er nach. Die Augen funkelten noch immer Herity an, aber er ließ seine Waffe fallen, und Herity gab seine Handgelenke frei und stieß ihn von sich weg. Der Junge richtete sich auf und wich nach hinten zurück. Merkwürdig demütig hob Herity die Waffe auf. Er schaute das Werkzeug an, als habe er nie zuvor so etwas gesehen, dann betastete er seinen Kragen, wo die Schneide eingedrungen war. Dann blickte er zu dem Jungen hinauf und sagte mit seltsamer Stimme, als bitte er um Vergebung: »Tut mir leid, mein Junge. Es steht mir nicht zu, deinem Schmerz zu nahe zu treten.« »Was geht hier vor?« fragte Pater Michael. Herity warf ihm den Dosenöffner zu, und der Priester tastete auf dem Boden herum, fand ihn und hob ihn hoch, bis er sehen konnte, was er da in der Hand hielt. »Das werden von jetzt ab Sie in Gewahrsam halten, Priester«, sagte Herity. »Ihr lieber kleiner Bursche da hat es gerade dazu benutzen wollen, mir die Gurgel durchzuschneiden.« Dann brach Herity in lautes Gelächter aus. »Der Junge ist mehr Mann als Sie, liebes Pfäfflein. Und dabei reicht er Ihnen kaum 'nen Kopf weit über Ihren heiligen Hosenlatz! Aber falls er das noch mal versucht, werde ich ihn zu Feuerholz verarbeiten!« Der Junge ging zu Pater Michael und ließ sich neben ihm auf dem Boden nieder. Seine Augen waren immer noch wachsam auf Herity gerichtet. 286 »Habe ich dir nicht immer wieder gesagt, daß Gewalt zu nichts führt?« fragte der Priester. »Da schau dir diesen Joseph an, da hast du einen Mann der Gewalt! Und dann frag dich, mein Sohn, willst du etwa so werden wie der?« Der Junge zog die Knie an die Brust und vergrub das Gesicht in ihnen. Seine Schultern bebten, aber es kam kein Laut aus seiner Kehle. Während er dem allem zusah, spürte John, wie eine unerklärliche Wut in ihm aufstieg. Diese Menschen da waren so ineffizient. Der Junge brachte noch nicht einmal einen richtigen Totschlag fertig. Dabei hatte er die beste Gelegenheit -und trotzdem mißlang es ihm! Der Priester legte dem Jungen den Arm um die Schultern. »Es ist gräßlich kalt«, sagte er. »Sollten wir nicht ein Feuer anzünden?« »Ach tun Sie doch nicht so, als wären Sie ein noch größerer Trottel, als Sie sowieso sind!« sagte Herity. »Nehmen Sie Ihren kleinen Mistkerl in den Arm und sorgen Sie dafür, daß der nicht noch mehr anstellt. Wir bleiben die Nacht über hier!« Die Iren, dieses unschuldige Volk, das den Engländern stets so freundlich gesonnen war. BEDA VENERABILIS (673-735) Dominikanermönch, Kirchenlehrer, Heiliger
Adrian Peard stand am Fenster des Büros von Doheny im Royal Hospital. Es war an einem früh hereingebrochenen Abend nach einem kalten wolkenverhangenen Tag. Der Himmel war von dem gleichen Grau wie die Befestigungsanlagen des Gefängnisses Kilmainham, das sich rechts davon erhob. Der Blick aus dem Fenster ging über die Inchicore Road zum Camac Creek, wo die ausgebrannten Ruinen einer Tankstelle schwärzlich aufragten. Er hörte, wie Doheny sich in dem Sessel an seinem Schreibtisch bewegte, aber er wandte sich nicht zu ihm um. 287 »Warum haben die Sie geschickt?« fragte Doheny. Die Stimme klang gepreßt. »Weil sie glauben, daß Sie auf mich hören würden.« »Er hatte die Absicht, mich umzubringen, sage ich Ihnen! Die Waffe hatte er direkt vor sich auf dem Tisch liegen, und er fingerte die ganze Zeit an ihr herum, wie er es halt immer gern tut. Sie kennen das ja.« »Keiner von uns zweifelt an Ihren Worten, Fin. Aber darum geht es hier gar nicht.« »Also, worum geht es?« »Es gibt einfach keinen, der die Strandjungs so gut unter Kontrolle halten kann wie Kevin.« »Und deshalb bleiben wir auf unserm Hintern sitzen und lassen zu, daß er unsere Leute am Forschungsprojekt unter Druck setzt? Und jeden abknallt, der ihm nicht ...« »Nein, Fin! Das ist es überhaupt nicht.« Peard wandte endlich dem Fenster den Rücken zu. Der Anblick da draußen war zu deprimierend; die Trümmer der Tankstelle erinnerten an die wilden Gewaltausbrüche der Mobs, die hier die Stadt verheert hatten, bevor die Armee und die Finn Sadal wieder eine Art Scheinordnung hergestellt hatten. Doheny hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt, seine Hände waren zu Fäusten geballt, und sein Kinn ruhte auf diesen Fäusten. Er sah aus, als werde er gleich vor Zorn platzen. »Sie sollen aufhören, Kevin O'Donnell unter Druck zu setzen«, sagte Peard. »So lautet die Nachricht, die man mir an Sie mitgegeben hat. Die Armee wünscht keine internen Kämpfe. Und was Kevin angeht, den haben sie sich beiseitegenommen und ihn dringend ermahnt, daß er das Labor in Ruhe lassen soll. Es ist für ihn Sperrgebiet.« »Außer er brütet in seinem verrückten Hirn die Idee aus, daß er uns alle im Schlaf umbringen muß!« »Man hat ihm klargemacht, daß die Armee ihn exekutieren würde, falls er den Gehorsam verweigert.« »Und das gilt ja dann wohl auch für mich, wie?« 288 »Tut mir leid, Fin.« »Aber er wird nicht weiter versuchen, uns am Datenaustausch mit den Leuten in Huddersfield zu hindern?« »Es ist ihm verboten worden, Fin.« »Die werden uns natürlich auch weiterhin abhören.« »Natürlich.« »Und die Informationen an Kevin weiterleiten?« »Er hat Freunde in der Armee.« »Ja, es sieht so aus.« »Ja, und das wäre dann auch schon alles, Fin. Sie werden sich dem Befehl nicht widersetzen?« »Ich bin doch kein tollkühner junger Idiot!« »Also gut.« Doheny ließ die Arme sinken und löste die zur Faust geballten Finger. »Wie steht es mit Kate und Browder?« »Ach, so gut, wie unter den Umständen möglich. Sie zetert immer noch, daß sie einen Priester haben will, der sie verheiraten soll.« »Dann verschaffen Sie ihr doch einen.« »Das ist nicht so leicht, wie Sie sich das vorstellen, Fin.« »Ja ... ja, ich weiß.« Doheny schüttelte den Kopf. »Das war ganz schlimm, das in Maynooth.« »Ein Mann, von dem ich mit Sicherheit weiß, daß er Priester ist, hat es mir glatt ins Gesicht hinein abgeschlagen«, sagte Peard. »Zwei andere, die noch ordinierten, weigerten sich, nachdem ich ihnen erklärt hatte, was sie tun sollten. Sie trauen einfach keinem mehr, der die Autorität vertritt, Fin.« »Ja, wir sind auf dem Weg in die Hölle, sagen sie.« »Ich habe mich bemüht, einen Pater Michael Flannery ausfindig zu machen«, sagte Peard. »Man hat mich informiert, daß der vielleicht...« »Flannery hat zu tun und kann nicht eingesetzt werden.« »Sie wissen also, wo er ist?« »Ja, so ungefähr.« »Könnten Sie ihm eine Nachricht zukommen lassen und anfragen, ob er ...« »Ich will tun, was ich kann. Aber sucht mal besser weiter.« 289 Peard seufzte. »Ich mach mich wohl jetzt besser auf und geh runter an die Ecke. Der Konvoi zum Killaloe soll angeblich pünktlich starten.« »Ach, das passiert doch nie!« »Ich werde es ihnen nicht übel nehmen, wenn sie sich verspäten. Jedenfalls nicht unter den Umständen. Je dunkler die Nacht, desto besser, meine ich.« »Ich habe gehört, daß die Strecke über die N-Sieben sicher ist«, sagte Doheny.
Peard zuckte die Achseln. »Ich bin nach wie vor überzeugt, daß es besser wäre, wenn wir den Drucktank und die zwei drin hierher nach Dublin bringen würden.« »O Gott, nein! Nicht solange Kevin O'Donnell hier gleich um die Ecke lauert!« »Ja, da ist was Wahres dran, Fin.« »Haben Sie Browder eine Pistole reingeben lassen, wie ich Ihnen riet?« »Ja. Aber er fand die Idee gar nicht gut, und ich dachte mir, daß Kate deswegen eine Szene machen würde.« »Es würde sowieso nicht viel helfen.« »Aber die Armee hat Kevin deutlich gewarnt, Fin. Das ist immerhin sicher.« »Wenn es sich um Verrückte handelt, darf man mit nichts rechnen, außer mit dem Unberechenbaren.« Doheny schob seinen Stuhl zurück und erhob sich. »Was mich angeht, ich gehe überall nur noch bewaffnet und unter Schutz herum. Ich rate Ihnen, das auch zu tun, Adrian.« »Nach Killaloe wird er nicht kommen. Ich habe ihr Versprechen!« »Ja, ja. Sicher! Aber sie haben auch versprochen, daß sie sämtliche anderen nicht-infizierten Frauen auffinden und beschützen können! Das haben Sie doch gehört, oder, was da passiert ist? Alle in den MountmellickBergwerken sind tot!« »Was ist da geschehen?« »Ein Mann hatte sich angesteckt. Natürlich haben sie ihn sofort getötet, aber es war zu spät.« 290 »Ich muß zurück ins Labor«, sagte Peard. »Wie ist die Lage hier?« »Nicht der geringste Schimmer bisher, aber damit mußten wir ja rechnen. Sie werden die Zusammenfassung unserer neuesten Ergebnisse vorfinden, wenn Sie in Killaloe ankommen. Sagen Sie mir dann, was Sie davon halten.« »Sicher. Verdammt! Ich wollte, wir könnten einen Pendelverkehr zwischen uns und Huddersfield durchsetzen!« »Das Blockadekommando läßt das nicht zu. Ich habe schon darum gebeten.« »Weiß ich. Aber es ist einfach verbrecherisch! Wen könnten wir denn schon anstecken? Alle die Leute da sind so randvoll von dem Pestvirus wie wir.« »Mehr noch als wir!« »Freie ungehinderte Forschung, das ist die einzige Hoffnung, die der Welt noch bleibt«, sagte Peard. »Die einzige Hoffnung, die für Irland noch bleibt«, sagte Doheny. »Vergessen Sie das bloß nicht! Aber wenn die Yankies oder die Russkis zuerst auf eine Lösung stoßen, dann steht es fünfzig zu fünfzig, ob sie uns einfach ausradieren. Und das alles unter dem süß-beschönigenden Decknamen >Sterilisierung<. Kapieren Sie es endlich?« »Und die in Huddersfield spielen da mit?« »Warum glauben Sie wohl, Adrian, daß wir zwei so offen miteinander reden? Die da drüben sind noch immer die Britischen, oder?« »Und wir sind immer noch Iren«, sagte Peard. Und sein magerer Leib wurde auf einmal von einem grellen hysterischen Lachen geschüttelt. Doheny hatte das Gefühl, daß es ein ganz besonders böse klingendes Lachen war. 291 Dos Recht auf freie Meinungsäußerung in Wort und Schrift bedeutet nicht nur das Recht, seine freie Meinung zu äußern oder zu drucken, sondern auch das der freien Veröffentlichung und Verbreitung dieser Meinung, das Recht auf den ungehinderten Empfang einer solchen Meinung, das Recht, (alles) zu lesen ... und die Freiheit, alles zu untersuchen, die Freiheit des Denkens, die Freiheit der Lehre ... Entscheidung des Höchsten Gerichtes der USA (Fall: Griswold gegen den Staat von Connecticut) Dr. Dudley Wycombe-Finch wußte genau, was seine Leute von dem ARBEITSBÜRO hielten, das er sich da ausgesucht hatte: viel zu klein und bescheiden für den Chef des allerwichtigsten English Research Establishment, viel zu eng und mit Dingen vollgestopft, und viel zu weit vom Brennpunkt der Ereignisse hier in Huddersfield entfernt. In den Tagen, in denen Huddersfield zu einer naturwissenschaftlichen Forschungsstätte ausgebaut worden war, hatte in diesem Büro hier im Keller ein Forschungsassistent gesessen. Das darüberliegende Gebäude lag an der Peripherie des umzäunten Geländes. Es handelte sich um einen zweistöckigen Betonbau, ganz ohne Efeubewuchs und absolut charakterlos. Wycombe-Finch leistete sich noch ein zweites Büro - >für Repräsentationsangelegenheiten< - weiter hinten im Verwaltungstrakt. Das war eine geräumige Zimmerflucht, eichengetäfelt und mit schweren Teppichen ausgelegt, und natürlich gab es die Hürden der üblichen Verwaltungssekretäre in den Vorzimmern ... Aber hier, in diesem kleinen Kabuff mit dem anschließenden Labor war er am häufigsten zu finden - hier, zwischen den fensterlosen Wänden voller Bücherregale, und die einzige andere Tür führte in das kleine Labor. Der Arbeitstisch war so klein, daß er leicht mit beiden Händen alles erreichen konnte. Der einzige Stuhl war ein bequemer Drehsessel mit hoher Rückenlehne. Und hier hatte er sein Radio untergebracht, die Abhörapparate und sein elektronisches Arbeitsgerät. Er lehnte sich im Sessel zurück, paffte Wolken aus seiner 292 langstieligen Pfeife und wartete auf den morgendlichen Anruf von Doheny. Er hatte Doheny mehrfach auf internationalen Symposien getroffen, und er konnte sich seinen Gegenspieler in Irland recht gut vorstellen, wenn
seine Stimme über das Telefon kam - ein kleiner, ziemlich untersetzter Mann mit einem aufbrausenden Temperament. Er, Wycombe-Finch, dagegen war das genaue Gegenteil: groß, mager, rundum eine graue Gestalt. Ein amerikanischer Kollege, der ihn einmal mit Doheny zusammen gesehen hatte, hatte es für nötig gefunden, sie als >Pat und Patachon< zu bezeichnen, ein Vergleich, den Wycombe-Finch als Beleidigung aufgefaßt hatte. Eine bittere Nikotinblase gurgelte durch den Pfeifenhals und verbrannte ihm die Zunge. Er wischte die leidigen Teilchen mit einem weißleinenen Taschentuch weg, und er bemerkte erst, als es bereits zu spät war, daß es eines aus der untersten Schublade war, die Helen, seine Frau, erst vor kurzem persönlich gewaschen hatte ... Dann lenkte er sein Denken bewußt in andere Kanäle. Da draußen vor seinem Büro, das wußte er, hing ein nebelgrauer kalter Morgen, und alle Entfernungen verloren sich in dem treibenden Gespinst. Ein echter Lakes-Country-Morgen, wie die Leute das hier nannten. Das Telefon vor ihm stand auf einem Wust von Papieren: Berichte, Zusammenfassungen. Er starrte den Stapel an, und rauchte und wartete. Die Telefonverbindungen zwischen England und Irland waren bekanntlich sogar in Idealzeiten nicht die allerbesten, und er hatte sich inzwischen angewöhnt, bei diesem regelmäßigen mündlichen Austausch mit Doheny Geduld zu bewahren. Dann summte sein Telefon. Er legte die Pfeife in einen Aschenbecher und hob den Hörer ans Ohr. »Hier Wycombe-Finch.« Dohenys klarer Tenor war deutlich erkennbar, trotz der miserablen Leitung und ihrer statischen Störungen und des eindeutig erkennbaren Kückens. Na, wer hört denn da alles wieder mit, dachte Wycombe-Finch. »Aah! Da sind Sie ja endlich, Wye. Das Telefonnetz ist 293 heut morgen mal wieder an 'nem Tiefstpunkt, was? Verdammt!« Wycombe-Finch lächelte. Seine letzte Begegnung mit Doheny war anläßlich einer Konferenz in London gewesen. Über Zusammenarbeit zwischen wissenschaftlichen Disziplinen^ Ein fröhlicher Bursche, dieser Doheny, und hinter den großen Blauaugen steckte ein erstklassiges Wissenschaftlerhirn! Aber erst seit ihren regelmäßigen Telefongesprächen hatte sich zwischen ihnen beiden eine Bindung entwickelt, die WycombeFinch bei sich als >Arbeitsfreundschaft< zu bezeichnen liebte. Doe und Wye ... Nach dem dritten Gespräch waren sie zu dieser vertraulichen Anrede gekommen. »Ich hege die Überzeugung, Doe, daß das Telefon nur erfunden worden ist, damit wir Geduld lernen«, sagte Wycombe-Finch. »Zähne zusammenbeißen und so weiter, was?« sagte Doheny. »Also, was gibt es Neues, Wye?« »Uns steht heut morgen ein Regierungs-Mabuse ins Haus, der sich einen Überblick über unsere Fortschritte verschaffen und sie dann bewerten soll«, sagte Wycombe-Finch. »Leider kenn ich den Kerl - Rupert Stonar ... Keine Ahnung von wissenschaftlicher Arbeit, aber unseligerweise spürt er genau, wenn man ihn einwickeln will.« »Stonar? Von dem habe ich gehört. Politisch?« »O ja, ziemlich.« »Wieviel müßt ihr ihm sagen?« »Eigentlich gar nichts. Wir ochsen halt weiter. Brave Knochenarbeit - so das Zeug, das irgendwann mal Resultate bringt, aber beleihe keinen großen Durchbruch, und den wollen Stonar und seine Leute eben sehen.« »Wie sind die vier neuen Leute, die Sie in Ihrem Team haben? Dieser Amerikaner, Beckett - ich hab gehört, der hat rausgekriegt, wie der Verrückte die Pest verbreitet hat.« »Ein brillanter Mann, ohne Zweifel. Ich habe die vier weiter in einem Team arbeiten lassen. Die haben da so was Besonde294 res in ihrer Arbeit. Ich möchte es nicht gerade als magischen Funken bezeichnen, was da unter denen spielt, aber sie sind tatsächlich eine von diesen glücklichen Gruppierungen, die Großes bewirken können.« »Das sagen Sie mal dem Stonar.« »Oh, er weiß es bereits. Ich hatte aber auch gehofft, daß ihr mit einer winzigen Kleinigkeit rüberkommt, die wir ihm dann vor die Nase halten können, Doe.« Nach kurzem Schweigen sagte Doheny: »Aber wir halten doch kaum was vor euch geheim, oder, Wye?« Wycombe-Finch erkannte die ausweichende Antwort als zu dem raffinierten Code gehörend, den er und Doheny sich aufgebaut hatten, um zwischen den Zeilen etwas zu sagen. Also, Doheny hatte etwas, das er ihm eröffnen wollte, etwas >Heißes<, und seine Chefs wollten nicht, daß er es weitergebe. Aber das war jetzt ja bedeutungslos geworden, da Wycombe-Finch es bereits wußte. , »Ich hoffe nur, ihr versucht es nicht mal«, sagte Wycombe-Finch, indem er seinen Part der verdeckten Unterhaltung aufnahm. »Bei Gott, ich finde Spione und Agenten widerlich, und ich versicher Ihnen, Doe, wir sind absolut ehrlich und offen Ihnen gegenüber.« Dohenys Lachen ließ die Hörmuschel dröhnen. Wycombe-Finch lächelte milde vor sich hin. Was, zum Teufel, hatte Doheny da ausgegraben? »Nun ja«, sagte Doheny, »es stimmt. Wir haben möglicherweise O'Neill höchstpersönlich.« Wycombe-Finch benutzte das ausgedehnte statische Knattern und fragte scharf: »Was? - Ich hab das nicht verstanden!« »Der Verrückte. Möglicherweise haben wir ihn, hier bei uns!« »Ihr habt den Mann in Gewahrsam? Verhöre und den ganzen Kram?«
»Gott im Himmel, nein! Ich schicke ihn auf Umwegen zu unserm Labor am Killaloe. Er reist unter dem Namen John Garrech O'Donnell. Behauptet, er sei Molekularbiologe.« »Und wie sicher seid ihr?« Wycombe-Finch spürte, wie 295 sein Puls zu jagen begann. Man hatte ja keine Ahnung, wer alles ihr Gespräch abhörte. Extrem gefährlich, das. Doheny mußte auf die Frage eine korrekte Antwort geben. »Wir haben keinen positiven Beweis, Wye. Aber ich sage Ihnen was: der Kerl jagt mir die Gänsehaut übern Rücken. Wir haben einen unserer besten Männer auf ihn angesetzt, und der hängt an ihm wie ein Blutegel. Ein Priester ist auch bei der Hand, falls er beichten möchte. Und ein armer Junge, der seine Eltern verloren hat, ist auch dabei, damit er beständig an das erinnert wird, was er angerichtet hat.« Wycombe-Finch schüttelte bedächtig den Kopf. »Doe, Sie sind ein ziemlich gräßlicher Mensch. Das haben doch Sie in die Wege geleitet?« »Ich habe nur eine Möglichkeit ausgenutzt, die sich uns von selbst geboten hat.« »Trotzdem sind Sie verdammt geschickt, Doe ... Gewissen -das wird der Schlüssel zu diesem Typ sein. Das heißt natürlich, falls wir dem Persönlichkeitsprofil Glauben schenken, das die Amis uns geliefert haben. Mein Gott! Da muß man wohl wirklich erst einmal nachdenken. Und ich gestehe Ihnen ehrlich ein, ich habe es nicht geglaubt, als unsere supergeheimen Agenten mir das einreden wollten.« »Wir setzen allerdings keine allzu großen Hoffnungen auf die Sache, aber da haben Sie immerhin etwas, das Sie Ihrem Stonar ums Maul schmieren können!« »Der weiß das wahrscheinlich schon. Ich schlage vor, Sie sind jetzt recht vorsichtig, Doe. Dieser O'Neill hat vielleicht noch irgendeine neue Scheußlichkeit im Ärmel versteckt ... vorausgesetzt natürlich, er ist wirklich unser Wahnsinniger.« »Och, wir machen das schon mit Samthandschuhen, keine Sorge!« »Das alles ist 'ne ziemlich trübe Brühe zum Fischen, was, Doe?« Das war ein Rückverweis auf einen harmlosen Gelehrtenwitz, über den sie bei einer Konferenz beide gelacht hatten. Denn eine »trübe Brühe« stellte ja nun wirklich den besten Nährboden für neues Wachstum dar ... 296 Doheny sprang sofort drauf an. »Ja, sehr trübe. Aber ich sage Ihnen Bescheid, wenn es noch schlammiger wird.« »Wunderbar. Sind die Amis irgendwie hilfreich?« »Aus begreiflichen Gründen haben wir denen nichts gesagt, Wye. Vor 'ner Weile haben sie uns Material geschickt... nur so für den Fall. Aber es ist ziemlich lückenhaft. Keine Fingerabdrücke, keine Dentalidentifizierung. Sie schieben es auf das Pan-Feuer, und wahrscheinlich ist das sowieso daran schuld.« »Und wenn dieser - O'Donnell, nicht wahr? Wenn er nun wirklich nur das wäre, was zu sein er vorgibt?« »Och, wir setzen ihm psychologische Daumenschrauben an. Dreifache, aus verschiedenen Richtungen. Und das Ganze führt nur zu einem Ziel: er muß einfach eine geniale Lösung, einen neuen Weg für unsere Forschungsbemühungen finden.« »Ein dreifacher Angriff? Ach so, falls er wirklich O'Neill ist, und ihr ihm das nicht beweisen könntet?« »Verdammt genau gedacht! Er könnte uns einen echten Hinweis geben, oder er könnte raffiniert verdeckt spielen, oder er könnte es mit einem Ablenkungsmanöver versuchen.« »Und viertens: mit echter Sabotage.« »Aber das wäre dann so gut wie ein Geständnis.« Dann unterbrach ein Gewitter von statischer Elektrizität in den Leitungen fast schmerzhaft-laut das Gespräch. Als es vorbei war, hörte man Doheny sagen: »... treibt Becketts Gruppe jetzt.« Wycombe-Finch verstand es als Frage. »Also, meiner Meinung nach sollte man den kleinen Froschschenkelfresser im Auge behalten. Diesen Hupp. Der hat so ein verqueres Hirn. Der füttert dem Beckett Sachen ein, fast als wäre der sein Spielautomat, als benutzte er den Mann als seinen ganz persönlichen Computer.« »Oh, wirklich? Wie ihr Britischen sagen würdet.« »Kein Brite sagt je so was, Sie armseliger irischer Kartoffelfresser!« 297 Dann kicherten beide. Aber es war nicht einmal ein halbherziges Kichern. Das genügt nicht, um die Abhörleute zu täuschen, dachte Wycombe-Finch. Aber immerhin war dies ja schon fast zu einem rituellen Schlagabtausch zwischen ihnen beiden geworden und bedeutete nichts weiter, als daß sie sich dem Ende des Gesprächs näherten. »Sollten wir einander jemals wieder Auge in Auge gegenübertreten, dann kitzle ich Ihnen die Ohren mit meinem shillelagh - das heißt, sofern ich das verdammte Ding finden kann«, sagte Doheny. Über die linke Wange von Dr. Wycombe-Finch rollte eine Träne. Diese fast rituellen Sottisen waren einmal erfunden worden, damit man darüber lachen könne. Aber durfte man sie so einfach außer acht lassen? Spielten sie dieses Spiel nur, damit die Fehler der Vergangenheit frisch in der Erinnerung bewahrt blieben? Das britische brolly gegen das shillelagh ... das eine Attribut der Lächerlichkeit gegen das andere. Wycombe-Finch seufzte, und er glaubte fast, über die Leitung das Echo eines Seufzens von Doheny zu hören.*
»Ich werde mir Mühe geben und Stonar mit einem Nebel von Zuckerpflaumfaenes aus Irland einwickeln«, sagte Wycombe-Finch. »Aber euer Mann, dieser O'Donnell, der ist aller Wahrscheinlichkeit nach nichts anderes, als was er zu sein vorgibt.« »Aber ein Molekularbiologe ist ein Molekularbiologe«, sagte Doheny. »Und wir hier würden in unserer Lage Jesus, Maria und Josef höchstpersönlich einsetzen, falls die sich bei uns zeigen sollten.« »Hatte dieser O'Donnell keine Papiere bei sich?« fragte Wycombe-Finch, als verfalle er soeben auf den Gedanken. »Ach irgend so ein Blödian, der den Trupp befehligte, der ihn aufgriff, hat den Paß des Mannes weggeworfen.« »Weggeworfen?« »Och ja, über die Schulter ins Meer. Und jetzt ist es natür* brolly von: umbrella, Regenschirm, typisches Karikaturelement für >den< Briten; shillelagh, irischer Knüttel aus Eichenholz oder Weißdorn; daher die stereotypischen Nummern in Varietes u. ä. - Anm. des Übers. 298 lieh nicht mehr möglich, da Untersuchungen anzustellen, ob das vielleicht 'ne Fälschung war.« »Doe, also manchmal glaube ich, wir sind wirklich Opfer eines ausgesprochen mißgünstigen Schicksals.« »Beten wir halt, daß es ausgleichende wohlwollende Feen gibt. Vielleicht wachen die über dem Team von Beckett.« »Ach, da fällt mir grad ein, Doe, Beckett und seine Leute glauben, daß unsere Theorie mit dem Reißverschlußprinzip uns wahrscheinlich nur durcheinanderbringt, uns sozusagen an der Nase herumführt.« »Ah? Interessant. Ich werde es weiterleiten.« »Tut mir leid, daß ich sonst nichts Handfestes für Sie habe.« »Wye? Mir kommt da grad so eine Idee. Warum setzen Sie nicht dem Beckett den Stonar in den Nacken? Wäre doch prima: Brillanter Yankee erklärt dem typischen politischen Dummkopf, wie wunderbar kompliziert die wissenschaftliche Forschung ist.« »Hm. Könnte vielleicht interessant sein«, stimmte Wycombe-Finch zu. »Und es könnte vielleicht zu ein paar neuen brillanten Ideen bei Beckett beitragen«, sagte Doheny. »Wenn man Idioten etwas erklären muß, kommt dabei manchmal was raus.« »Ich denke darüber nach. Wenn Beckett einmal anfängt zu reden, dann kann er ganz schön viel sabbern.« »Ich würde mal gern selbst mit ihm sprechen. Ist es vielleicht mal zu machen, daß er an einer unserer kollegialen Besprechungen teilnimmt?« »Ich mach das. Hupp auch?« »Nein ... Nur Beckett. Hupp dann vielleicht später, ja? Und bitte bereiten Sie Beckett auf 'ne schwere Kanonade von Fragen vor, ja?« »Wie ich schon sagte, Doe, er ist ganz gut in der Lage zu reden.« Wieder wurden sie durch statischen Müll in der Leitung unterbrochen, dann sagte Wycombe-Finch: »Ich stelle mal ei299 nen Bericht über ihre Reißverschluß-Theorie zusammen. Wir schicken auch das dann sofort per Telex. Es könnte was dahinterstecken, aber ich mag mich da nicht festlegen.« »Beckett hat wohl ein bißchen Widerstand nötig, wie?« »Ach, dann läuft er erst zu Hochform auf. Denken Sie daran, wenn Sie mit ihm reden.« »Wird er leicht ärgerlich?« »Er zeigt es nie, aber, ja, er wird.« »Schön! Schön! Ich werde mich anstrengen und ein Meisterstück an Yankie-Domptur leisten. Und was diesen unseren eventuellen Verrückten angeht, ich halte Sie auf dem laufenden, wenn das Wasser noch trüber werden sollte.« Wycombe-Finch nickte stumm vor sich hin. »Völlig trübe«, das würde dann natürlich heißen, daß die drüben mit Sicherheit feststellen konnten, daß der Mann O'Neill war. Er sagte: »Noch was, Doe. Es ist möglich, daß Stonar herkommt, um mich abzulösen.« »Dann sagen Sie ihm, er soll auch gleich die Telefonkabel zu uns durchschneiden, wenn er das tut!« »Ach, Doe, jetzt sprengen Sie doch nicht unnötig Brücken!« »O nein, es ist mein Ernst! Es fällt uns Iren nicht so ganz leicht, frei und offen mit euch Briten zu reden. Und ich habe keine Lust, meine Zeit damit zu verschwenden, mir einen neuen Gesprächspartner in Huddersfield zurechtzutrimmen. Sagen Sie das dem Mann!« »Aber wir beide brauchten doch nur knapp eine Woche, um eine vernünftige Basis zu finden.« »Ja. Aber heute heißt eine Woche - für ewig. Den Politikern ist das natürlich noch nicht in die dumpfen Schädel gedrungen. Die haben uns nötig! Wir die - nicht!« »Ach, irgendwie doch, meine ich, Doe.« »Also, jetzt sage ich Ihnen mal was, Wye! Entweder wir halten zusammen, oder das ganze verdammte Gebäude bricht über uns ein. Und Sie werden diesem Stonar genau das sagen, was ich Ihnen hier und jetzt gesagt habe. Also, bis zum nächstenmal?« 300
Wycombe-Finch hörte das Klicken, das die Unterbrechung der Verbindung anzeigte. Das Statikgeprassel hörte auf. Er legte den Hörer nieder und starrte lange seine erkaltete Pfeife an, die neben dem Telefon im Aschenbecher lag. Nun, immerhin wußten die Abhörer jetzt Bescheid. Und natürlich hatte Doheny auf seine Weise recht. Es war die Wissenschaft gewesen, die diesen garstigen Scheißhaufen produziert hatte. Oder jedenfalls hatten Wissenschaftler ihren Tai dazu beigetragen. Daran gab es nichts zu deuteln. Fehlerhafter Informationsaustausch, schlechte Verbindungen zu den Regierungen ... die Unfähigkeit, die Macht einzusetzen, die uns in die Hand gegeben war ... nein, auch die Unfähigkeit, die wahre Natur von Macht zu erkennen ... Und als wir uns dann in Bewegung setzten, spielten wir nur das gleiche uralte Scheißspiel der Politiker mit... Er blickte zu der Bücherwand zu seiner Linken auf, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Und wenn das nun wirklich dieser Verrückte war, dieser O'Neill, dort drüben in Irland? Wenn sich ein Weg zeigen sollte, wie man ihn benutzen konnte, dann war sicherlich Doheny gescheit genug, ihn zu entdecken. Aber, Gott sei uns gnädig, falls die falschen Leute draußen was davon erfahren! Wycombe-Finch schüttelte wieder einmal den Kopf. Es war ja wirklich gut, daß der Mann sich in Dohenys Händen befand! Er nahm seine Pfeife, zündete sie wieder an und dachte noch einmal über das ganze Problem nach. Und jetzt erst wurde ihm bewußt, wie groß das Vertrauen war, das er inzwischen in die Methoden dieses durchtriebenen Doheny setzte. 301 Wenn ein Grundsatz leichter zu begreifen ist als alle andern, dann dieser: Daß bei jedem Geschäft, sei es dem der Regierung oder des Handels, jemandem vertraut werden muß. WOODROW WILSON, 28. Präsident der USA Jetzt häng ich die ganze Zeit mit diesem verdammten Yank rum, und nicht der kleinste Hinweis1, dachte Herity. Es war früher Nachmittag, und sie stapften wieder einmal aus einem Tal hinauf. Der Junge und der Priester gingen ein wenig voran. Seit dem Angriff im Badehaus war der Junge sogar noch verschlossener geworden, hatte sein Schweigen noch tiefer gewirkt. Pater Michael strahlte anklagende Mißbilligung aus - und alles war Heritys Schuld. Schuld an allem ist der verdammte Yank! Und der Pfaffe hilft mir überhaupt nicht. Es war ein Yank, der uns das angetan hat - hat aus Irland ein Getto gemacht! Herity hatte sich selbst nie als einen übertriebenen Patrioten betrachtet, bloß als den typischen Iren mit seiner Verbitterung über die jahrhundertelange Unterdrückung durch die Briten. Seinem Volk gegenüber empfand er eine Art Stammestreue, ihm und dem Land gegenüber eine Art gemeinsame Zugehörigkeit zum gleichen rath*. In der Erde Irlands liegt eine saugende Kraft verborgen, dachte er. Eine Erinnerung, die im Boden selbst lebendig ist. Eine Kraft, die sich erinnert und immer erinnert hat. Und selbst wenn es keine Menschen mehr hier geben sollte, etwas würde bleiben, etwas Wesenhaftes, das Zeugnis davon ablegen würde, wie die Galen einst auf dieser Erde gelebt hatten. Pater Michael redete mit dem Yank. Er bohrte keineswegs, tat gar nichts von dem, was zu tun er beauftragt war, nämlich herauszufinden, ob der Mann sich hinter einer Maske versteckte und ob dahinter sich der Wahnsinnige selber ver* Das rath, eine prähistorische Erd-, Hügelfestung in Irland - Anm. d. U. 302 steckte. Voll schwarzer Gedanken im Kopf belauschte Herity die beiden. »Es kommen jetzt immer mehr Ruinen«, sagte der Priester gerade. »Haben Sie es bemerkt?« »Anscheinend mutwillige Zerstörung«, sagte John. »Aber es gibt massenhaft zu essen.« »Und noch mehr verfallen einfach. Wir haben den schönen romantischen Schein des Abenteuerlichen verloren, der manchmal an wirklich großen Ruinen haftet. Jetzt... ist das alles nur noch ein Haufen Trümmer.« Sie schwiegen, während sie an einem weiteren niedergebrannten Häuschen vorbeikamen, dessen Mauern an der Straße aufragten. In den scheibenlosen Fenstern hingen ascheschwarze Vorhangfetzen wie wundbrandige Augenlider. Jemand wird dafür bezahlen, dachte Herity. Er spürte die uralte irische Erinnerung in sich wie einen Speer, mit Widerhaken. Versündige dich dagegen, und du wirst eines Tages den Riß spüren und merken, wie dein Leben aus der Wunde davonsprudelt. Dann hatten sie den Kamm erreicht und machten eine Pause, um wieder zu Atem zu kommen. Sie schauten voran, wo sich ein neues Tal in breiter Biegung bis zu dem dunstigen Oberende hinzog. Dort fiel ein Bach in Kaskaden über schwarze Felsen, und der Dunstschleier über ihm verdeckte die ferneren Hügel. Irgendwo in der Nähe gackerte ein Huhn. Herity legte den Kopf schief. Er hörte Wasser gurgeln. Ein Bächlein, eine Quelle. »Ich höre Wasser«, sagte John. »Wir hätten Ruhe und was zu essen nötig«, sagte der Priester. Sie gingen an die Talseite der Straße, wo auf einem Hang hohes Gras wuchs, und weiter unten Bäume standen. Als der Priester eine Lücke in dem Steinmäuerchen gefunden hatte, durch die er klettern konnte, machte er ein paar Schritte in das dichte hohe Gras hinunter. Der Junge sprang über die Straßenmauer und gesellte sich zu ihm. John blickte zum Himmel auf. Wolken sammelten sich da
303 immer dichter über dem Horizont im Westen. Er warf Herity einen Blick zu, der winkte, er solle dem Priester und dem Jungen nachsteigen. John kletterte auf die Mauer und betrachtete das darunterliegende freie Land, ehe er sprang. Die Landschaft war von grauen Steinmauern in grüne Rechtecke zerteilt, ein paar Hütten darin, alle schwarz und ohne Dächer, wie willkürlich über das Ganze verteilt. Er hörte, wie Herity über die Mauer kletterte und neben ihn trat. »Es hat immer noch was Schönes«, sagte Herity. John warf ihm einen Seitenblick zu, dann betrachtete er wieder die Landschaft. Der feine Dunst ließ sie in der mittleren Ferne zu gedämpften Pastelltönen verschwimmen. Ein welliges Weideland, ein Flüßchen, das sich hindurchschlängelte, hohe Bäume und dunkleres Grün dahinter. »Sind Sie durstig, Mister O'Donnell?« fragte Herity. Aber ohne es zu merken, sprach er zu O'Neill. »Ein Schluck kühlen Quellwassers wäre mir jetzt schon recht«, stimmte John zu. »Ich denke mir grad, daß Sie keine Ahnung haben, was Durst ist«, sagte Herity. »Ein kühles Glas Guinness, und der Schaum läuft über den Rand, so weiß wie der Schlüpfer einer Jungfrau ... das ist 'ne Vision, die einem Mann Durst bereiten kann!« Pater Michael und der Junge gingen inzwischen auf die Bäume am Rand der Hangwiese zu. »Ich hab gehört, wie Sie mit dem Pfaffen über die Ruinen geredet haben«, sagte Herity. »Das sind keine Ruinen. Das ist einfach nur Verfall! Genau das ist das rechte Wort. Die endgültig zusammengebrochene Hoffnung.« Der Priester und der Junge hielten kurz vor den Bäumen bei einem Felsvorsprung an. Herity schaute zu ihnen hinab. Dann sagte er: »Ein feiner Mann, unser Pfaffe, was? Geben Sie mir nicht recht, Mister O'Donnell?« Bei dieser höhnenden Frage spürte John, wie O'Neill-im-Kopf sich aufzubäumen begann. Panik überflutete ihn, dann wilde Wut. »Andere Menschen haben genauso gelitten wie Sie, Herity! Sie sind wahrhaft nicht der einzige!« 304 Heritys Gesicht wurde dunkel von einem plötzlichen Blutandrang, seine Lippen preßten sich zu einem schmalen Spalt zusammen, die rechte Hand fuhr unter die Jacke nach der Pistole, zögerte dort und fuhr statt dessen wieder nach oben und kratzte die Bartstoppeln an seinem Kinn. »Also, wenn man uns beiden zuhört, das klingt ja wirklich wie wenn zwei kleine Scheißer im Kindergar ...« Der plötzliche Knall eines Schusses aus den Bäumen unter ihnen ließ ihn abbrechen. Mit einer einzigen fließenden Bewegung stieß Herity John ins Gras, rollte sich weg, eine Hand in seinem Rucksack, und noch ehe er zu rollen aufgehört hatte, hielt er eine kurze Maschinenpistole in den Händen und kroch in die Deckung des Felsausläufers hinunter. Dort machte er halt und spähte in die Bäume. John hatte sich dicht hinter ihm gehalten und stützte sich nun mit dem Rücken gegen den kalten Fels. John spähte um den Felsrand herum. Wo waren der Priester und der Junge? Waren sie verletzt? Wer hatte geschossen und worauf? Unter ihm knackte ein Ast, und Pater Michaels bleiches, hutloses Gesicht starrte aus dem buschigen Unterholz zwischen den Bäumen hervor. Vor dem grünbraunen Hintergrund wirkte das Gesicht wie ein bleicher Teigfladen mit weitaufgerissenen Augen, und die Narbe auf der Stirn stach sehr deutlich aus der blutleeren Haut hervor. Er schien direkt zu John heraufzustarren. »Nehmen Sie Ihren Kürbis da weg!« fauchte Herity und zerrte John in den Schutz des Felsens zurück. »Ich hab Pater Michael gesehen. Er scheint nicht verletzt zu sein.« »Und der Junge?« »Den habe ich nicht gesehen.« »Wir warten mal 'nen Moment geduldig ab«, sagte Herity. »Das war ein Gewehr.« Er nahm seine Maschinenpistole wie ein Baby in den Arm, drückte sie an die Brust und lehnte sich an den Fels zurück. Dabei strichen seine Augen prüfend das Steinmäuerchen am Straßenrand über ihnen entlang. John betrachtete die Waffe in Heritys Händen. 305 Als Herity dies merkte, sagte er: »Die Juden machen prima Schießeisen, was?« Als aber unter ihnen das Gras zu rascheln begann, fuhr er abrupt herum. John hob den Blick und sah den Priester, der zu ihnen herunterschaute. Der schwarze Filzhut verdeckte nun wieder das Brandmal auf seiner Stirn. Herity sprang auf und spähte an dem Priester vorbei zu der Baumgruppe hinunter. »Wo ist der Junge?« »In Sicherheit hinter einem Haufen Steine zwischen den Bäumen.« »Bloß ein Schuß aus 'nem Gewehr«, sagte Herity. »Wahrscheinlich jemand, der eine Kuh oder ein Schwein abschießt.« »Oder sich selber, was wohl jetzt das Üblichere sein dürfte.« »Sie sind ein Mensch, der voll des Bösen steckt«, sagte der Priester und zeigte auf die Maschinenpistole. »Woher haben Sie diese gräßliche Waffe?« »Ach, diese wundervolle Uzi, ein Meisterwerk der gescheiten Jidden, die hab ich einem toten Mann abgenommen, Pater Michael. Kriegen wir nicht in dieser Zeit so ziemlich alles auf diese Art und Weise?« »Was haben Sie damit vor?« fragte der Priester. »Ach, ich benutze sie, wenn es nötig werden sollte. Wo genau haben Sie den Jungen zurückgelassen?« Der Priester drehte sich um und zeigte auf einen grauen hellen Fleck, der Fels sein mußte, mitten zwischen den
Bäumen. Der Granit war zum Teil von wucherndem Gestrüpp verdeckt. »Wir gehen da jetzt einer nach dem andern runter«, sagte Herity. »Ich zuerst, dann Mister O'Donnell, dann Sie, Priesterchen. Ihr bleibt hier, bis ich euch rufe!« Gebückt rannte Herity hinter den Felsblöcken hervor und eilte im Zickzack den Hang zu den Bäumen hinunter. Sie sahen, wie er sich unten hinter den Felshaufen duckte, dann rief seine Stimme: »Macht es genauso wie ich!« 306 John schoß hinter dem Felsbrocken hervor. Er kam sich ganz schutzlos und preisgegeben vor, während er den Hang hinabrannte - links, rechts, links und dann in eine Schneise zwischen den Felsblöcken, wo er auf den Jungen stieß, der in seinen blauen Mantel vergraben dahockte. Keine Spur von Herity. Der Junge starrte ausdruckslos zu John herauf. Dann hörte man jemanden rennen, und Pater Michael gesellte sich zu ihnen. Sofort legte er schützend den Arm um den Jungen. Dann kam Herity aus dem dichteren Baumgehölz hervorgetrabt. Heftig atmend kam er in den Schutz der Felsen, die Maschinenpistole immer noch griffbereit vor der Brust. »Ihr drei bleibt hier, bis ich das Gelände unterhalb begutachtet habe«, sagte Herity. »Das war ziemlich dumm, was Sie da gemacht haben, Priesterchen, so ganz offen raufzupreschen, nach so 'nem Schuß.« »Wenn der Herr mich jetzt zu sich nehmen will, dann wird er mich zu sich nehmen«, sagte der Priester. »So haben Sie jedenfalls gehofft«, sagte Herity. »Aber das ist eine Sünde, Pater. Vergessen Sie das nicht! Wenn man mit dem Tod flirtet, dann ist das nicht viel anders als ein Selbstmordversuch, nicht wahr?« Der Priester verkroch sich in sich. Herity wandte sich zum Gehen, doch John hielt ihn mit einer Handbewegung zurück. »Joseph.« Herity kehrte ihm überrascht das Gesicht zu. »Ich bin Ihnen dankbar für Ihre Sorge«, sagte John. »Und ich möchte Sie bitten, mich John zu nennen, aber ich nehme kein Wort von dem zurück, was ich da droben gesagt habe.« Er wies mit dem Kinn den Hang hinauf, zu der Stelle hin, wo Herity ihn zu seinem Schutz zu Boden gerissen hatte. »Ich habe jedes Wort ernstgemeint.« Herity grinste. »Na klar doch Yank!« Und damit duckte er sich hinter den Felsen hervor und lief gebückt zwischen die Bäume. Sie hörten einen Zweig knacken, dann nur noch Stille. »Ein seltsamer Mann, der da«, sagte der Priester. 307 Der Junge machte sich frei und lugte über die schützenden Steine. »He, du! Bleib unten!« sagte der Priester und zog den Jungen zurück in Deckung. »Herity handelt fast wie ein Soldat«, sagte John. »Ja, das ist richtig.« »Wo haben Sie ihn getroffen?« Pater Michael blickte zur Seite, damit John sein Gesicht nicht sehen könne, aber nicht bevor John auf diesem Gesicht den Ausdruck fast panischer Angst bemerken konnte. Was war da zwischen diesen zwei Männern zwischen diesem Geistlichen und dem brutalen Mann der Tat? Mit erstickter Stimme sprach der Priester nun: »Vielleicht könnte man sagen, Gott hat Joseph und mich zusammengeworfen. Aber den Grund dafür vermag ich nicht zu nennen.« Er wandte John das Gesicht wieder zu, seine Züge waren nackt und offen. »Aber was ist mit dem Jungen?« fragte John. »Warum ist der bei Ihnen?« »Ein Trupp von Kesselflickern hat ihn mir übergeben«, sagte der Priester. »Sie würden die Leute Zigeuner nennen, aber das sind sie nicht, müssen Sie wissen. Sie hatten ihn gut behandelt. Und von ihnen weiß ich auch von seinem Schweigegelübde.« »Also kann er sprechen?« »Ich habe ihn im Schlaf schreien hören.« Der Junge senkte den Kopf mit geschlossenen Augen auf den Jackenausschnitt. »Hat er auch einen Namen?« fragte John. »Das könnte nur er uns sagen, und er will nicht.« »Haben Sie einen Versuch unternommen, irgendwelche Verwandte zu finden, seine Mu ...« »Still doch!« Der Priester funkelte John böse an. »In manchen Schmerzen stochert man besser nicht herum, Mann!« John riß abrupt den Kopf zur Seite, um das verkrampfte Grinsen zu verbergen. In seiner Brust fühlte er einen dumpfen Schmerz. Der O'Neill-im-Innern kroch immer dichter an 308 die Oberfläche heran. John preßte beide Hände auf das Gesicht, er versuchte diesen Schrecklich-Anderen zu ersticken. Das Geräusch rollender Steinchen ließ sein Gesicht jäh aus den Händen fahren. Herity kam geduckt in das Felsversteck. Schweiß strömte ihm übers Gesicht. Kletten und Haftsamen bedeckten die Hosenbeine bis zu den Knien. Die israelische Maschinenpistole hielt er noch immer an die Brust gedrückt. Er brauchte eine Weile, bis er wieder bei Atem war. »Direkt hinter dem nächsten Kamm liegen zwei Katen, aus beiden steigt Rauch. Sie haben ein Radio, hören gerade die Nachrichten und reden darüber.« Der Priester räusperte sich. »Irgendwelche ... Anzeichen von ...« »Keine Spur von was Weiblichem«, beantwortete Herity die Frage. »Nur Männerzeug auf der Wäscheleine. Ordentlich, das muß ich sagen, beide Häuschen sauber und in gutem Zustand. Ich denk mir, daß sind halt Männer, die von ihren Frauensleuten gut erzogen worden sind.« »Gräber?« fragte er Priester.
»Vier Stück, auf der Wiese unterhalb der Häuser.« »Dann würden uns die Leute dort vielleicht Unterschlupf gewähren«, fuhr der Priester fort. »Nur nicht so hastig!« sagte Herity und schaute John an. »Glauben Sie, daß Sie mit dieser Waffe umgehen könnten, John?« John schaute auf die MP, er glaubte fast die Gewalt in der Waffe zu spüren. Er krümmte die Finger. »Umgehen, wozu?« »Ach, ich denke, ich gehe einfach ganz offen und freundlich auf die zwei Katen da zu«, sagte Herity. »Und Sie geben mir von oben her Feuerschutz. Da sind Felsen und vom Kamm aus ein guter Überblick.« John blickte kurz zu dem Priester hin. »Ich geb dazu nicht meinen Segen«, sagte Pater Michael. »Die Sünden der Kirche sind groß genug - dadurch, daß sie immer Gott anrief, wenn sie den Mord, absegnete.« 309 »Wir haben nicht im Sinn, irgend jemand zu ermorden«, sagte Herity. »Sie wollen Soldat spielen«, sagte der Priester schlicht. »Oh, das«, Herity sagte es wegwerfend. »Nein, ich bin nur einfach nicht bereit, Selbstmord zu begehen, Pater.« Er blickte wieder John an. »Also, wie ist es, John?« John streckte die Hand nach der Maschinenpistole aus. »Zeigen Sie mir, wie sie funktioniert.« »Kinderleicht«, sagte Herity und trat mit der Waffe an Johns Seite. »Das da ist die Sicherung. Wenn die so liegt...« - er ließ den Sperriegel klicken -, »... brauchen Sie nur noch zu zielen und den Abzug zu drücken. Liegt so sicher wie der Fels von Cashel, wirklich.« Herity schob die Sicherung wieder ein und händigte John die Waffe aus. John wog das Gewehr abschätzend in der Hand. Es war noch warm von Heritys Körper. Hier hatte er etwas viel direkter Tödliches als die Seuche. Würde der O'Neill in seinem Innern jetzt heraufdringen und mit lautem Geknalle morden? John blickte auf und sah, daß Herity ihn prüfend betrachtete. »Na, werden Sie's schaffen?« fragte er. John nickte. »Dann kommen Sie mir nach - so leise wie 'ne Maus in einem Federbett. Priester, Sie und der Kleine bleiben hier, bis wir euch rufen.« »So Gott will«, sagte Pater Michael. »Aber, aber!« neckte Herity grinsend. »Jetzt hat er uns doch noch seinen Segen gegeben!« Dann führte er die Patrouille an, vornübergebeugt trabend. Sie stießen zwischen die Bäume vor, folgten einer verwischten Fußspur durch den Nadelteppich, stiegen über ein schmales Rinnsal, das über schwarzen Fels tröpfelte. Durstig blieb John stehen. Er schaute zuerst auf das Wasser, dann zu Herity. »Ich hab nicht davon getrunken«, flüsterte Herity. »Weiter oben ist ein Toter.« Er wies den Bach hinauf. »Mindestens 'ne Woche tot, macht das Wasser untrinkbar.« Herity lächelte schief. »Die Sauen haben sich an ihn rangemacht.« 310 John schüttelte sich vor Ekel. Herity drehte sich um, und John folgte ihm den gegenüberliegenden Hang hinauf. Sie bewegten sich langsam durch Nadelunterholz. Der Waldboden dämpfte ihre Schritte. Auf dem Kamm wies Herity John mit der Hand an, sich geduckt zu halten, dann deutete er nach links den Kamm entlang, wo zwischen den bräunlichen Stämmen ein grauer Felsvorsprung zu sehen war. »Von dort aus«, flüsterte er, »haben Sie einen guten Einblick direkt auf den Hof und die Tür. Ich warte, bis Sie in Stellung gegangen sind, dann geh ich runter, pfeifend und friedfertig, ohne daß 'ne Waffe zu sehen wäre. Verstanden?« John nickte. Er kroch geduckt durch die Bäume hinauf und kam hinter dem Kamm zu dem Felsvorsprung. Er schob sich über den Kamm und merkte, daß er sich gleitend bis an den Rand der Felsen vorschieben konnte. Der Stein roch nach Schiefer und war noch warm von der nachmittäglichen Sonne. Er blickte zum Himmel auf. Bald würde es dunkel sein, und die Wolken sahen schon wieder nach Regen aus. Langsam schob er sich in eine flache Mulde auf den Felsen und weiter, bis seine Augen über den Rand spähen konnten. Er sah über einen Steilhang auf einen eingezäunten Hof, nicht weiter entfernt als an die hundert Meter, .hinab, dahinter eine guterhaltene Bauernkate - weißgekalkte Mauern, zwei Kamine, aus beiden kam Rauch ... im Hof scharrten Hühner. Das Dach einer zweiten Kate schob sich vor dem Hintergrund des Talhangs hinter dem ersten vor, aber hier kam nur aus einem der Kamine Rauch. Links hatte man einen Kuhstall gegen den Hang gesetzt. Er konnte den Kuhmist von dort riechen. In dem Tal hinter dem Gehöft lagen verstreut ausgebrannte Häuser und zerfallene Stallungen, von keinem stieg Rauch auf. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem näheren Haus zu. Von einer Hausecke war eine Wäscheleine zu einem Pfosten in dem von einem Steinmäuerchen umgebenen Hof gespannt. Wäsche wehte dort im Wind - Hosen, Hemden, lange Unterhosen ... Er hörte leise ein Radio, jemand sprach. Die Szene wirkte so ländlich-fried311 lieh ... abgesehen von der unnatürlichen Stille ... irgend etwas fehlte da in dem Klang des Radios und dem Gackern der
Hühner. Abrupt erstarrte John, als er von direkt unter seinem Felsvorsprung, wohin er nicht sehen konnte, eine Stimme hörte. »Hier können sie uns nicht sehen.« Die Stimme eines Jungen im Stimmbruch. »Wieviel is' noch in 'ner Flasche?« Eine zweite junge Stimme. »Fast noch 'n ganzer Becher.« Die erste Stimme. »Meinste wirklich, daß das dran schuld ist?« Man hörte etwas kratzen, dann ein Glucksen, dem heftiges Husten folgte. »Ggrrraaahh! Das is ja gräßlich!« »Sie hat gesagt, es is das Trinken, Burgh, und jetzt isse weg.« »Ach, das is bloß alles wieder so'n Erwachsenenzeug!« Unterhalb von John streifte etwas gegen die Felsen. Er hielt den Atem an. »Die Erwachsenen, die wissen sowieso nie, was sie woll'n!« Dann kam drunten eine lange Stille, und John meinte fast, sein eigenes Herz schlage viel zu laut. Er wagte keine Bewegung. Er würde vielleicht irgendein Geräusch an den Steinen verursachen, die Jungen alarmieren, und die könnten dann den Leuten in den Katen drunten eine Warnung zurufen. Er bewegte nur die Augen, versuchte Herity auszumachen, wo war der Mann denn nur? »Ich bin froh, daß du mit dei'm Pa hergekommen bist und jetzt in dem zweiten Haus wohnst, Burgh.« Wieder das erste Kind. l »In der Stadt war es ganz schlimm.« »Viel Schießerei?« »Ja.« »Hier aber auch ... Wir haben uns in 'ner Höhle versteckt.« Wieder Stille. Was hielt diesen Herity bloß auf? In Johns Brust steckte ein Schmerz, den er bei jedem Atemzug spürte. »Weißt du, was mit deiner Ma passiert ist?« 312 Wieder der erste Junge. »Ja.« »Mir fehlt meine ganz furchtbar. Manchmal mein ich, es war am besten, ich geh auch rauf innen Himmel zu ihr. Mein Pa ist seitdem ganz scheußlich.« »Meiner trinkt das Zeug da.« »Ich weiß.« »Wie spürst'n du's?« »Ich glaub, mir wird schlecht davon.« »Pscht!« Wieder Stille unter Johns Versteck. Dann hörte er, wie Herity von seiner > schwarzbraunen Rosaleen< sang. Eine klare Tenorstimme. Er näherte sich den Katen von unten her. »Da kommt wer!« Die Stimme des ersten Kindes, rauh flüsternd. »Issen Fremder. Ich kann ihn sehen.« Eine Männerstimme aus dem nahegelegenen Häuschen: »Burgh! Terry!« »Sollen wir uns melden?« Dies war die Stimme des zweiten Kindes. »Nein! Wir bleiben hier. Wenn's Ärger gibt, sind wir hier sicherer.« »Aber der Fremde kommt allein.« Herity rief unten laut: »Hallo da im Haus! Ist da wer?« Eine Männerstimme antwortete: »Wer ruft da?« »Ich bin Joseph Herity aus der Stadt Dublin. Bei mir issen Priester und ein kleiner Junge und ein Yank, der sich einbildet, er ist zum Retter von Irland auserwählt. Wollt ihr nicht uns müden Wanderern was zu essen und ein Dach überm Kopf geben?« Der Mann im Haus rief: »Kommen Sie näher ran! Lassen Sie sich mal anschaun!« Herity kam bis auf ein paar Meter an die Hintertür des vornliegenden Häuschens heran. Er streckte die Arme in die Luft und drehte sich auf dem Absatz, um zu zeigen, daß er ohne Waffen sei. In einem offenen Fenster der Kate sah John 313 die Bewegung eines Gewehrlaufs. Aber es kam kein Schuß. »Sie haben einen Priester bei sich, sagen Sie?« fragte der Mann aus dem Haus. »Hab ich. Es ist der Pater Michael Flannery von Maynooth, und er ist einer der allerbesten, die je den schwarzen Rock getragen haben. Und ich seh, daß da über Ihrer Tür ein Kreuz ist, also weiß ich, daß ihr da in eurem Haus keine Kirchenfeinde seid.« »Wir haben hier Gräber, über die der Segen gesprochen werden muß«, sagte der Mann im Haus leise.
»Aber sicher doch, und Pater Michael wäre nur zu glücklich, das für euch zu tun. Soll ich ihn rufen, damit er zu uns runterkommt?« »Jaaa ... und willkommen!« Herity wandte sich um und legte die Handflächen an den Mund. »Pater Michael! Ihr könnt jetzt alle runterkommen. Sagt es auch dem Yank!« John hatte sich schon erheben wollen, aber bei den letzten Worten hielt er inne. Da drunten stimmte etwas nicht, oder? Denn Herity mußte ja wissen, daß John ihn hören konnte. Als die Tür des Häuschens von innen geöffnet wurde, trat Herity rasch und mit breitem Grinsen im Gesicht näher. Er schob die Rechte vor. »Es ist Joseph Herity, Sir, und ich möchte gern wissen, wie ich Sie anreden darf.« »Terrence Gannon«, sagte der Mann im Haus. Eine mächtige Hand streckte sich Herity entgegen. Herity packte die Hand und zerrte Gannon aus der Tür. Während er den Mann herumriß, stieß er den Lauf einer Schrotflinte beiseite und nahm ihm dann die Waffe ab. Gannon lag platt auf der Erde. Herity drückte ihm die Pistole an die Schläfe. »Also, ihr da drin!« rief Herity durch die offene Tür. »Eine einzige Bewegung, und ich puste dem armen Terry Gannon hier den Schädel von den Schultern. Mein Yankiefreund hockt da droben auf dem Kamm mit 'ner MP, falls ihr daran denken solltet, euch besonders opfermutig zu zeigen.« 314 Ein dünner ältlicher Mann mit grauem Haar und einem verkniffenen Gesicht trat mit erhobenen Händen aus der Tür. Er trug grüne Hosenträger über einem Unterhemd, an denen braune Wollhosen schlotterten. »Also gut«, sagte Herity. »Ihr zwei werdet jetzt schön brav mit den Gesichtern nach unten hier auf dem Boden liegen, verstanden?« Er hob die Schrotflinte auf und schleuderte sie über die Steinmauer des Hofes. Als beide Männer flach vor der Haustür auf dem Boden lagen, hob Herity den Kopf in Richtung auf Johns Ausguck. »Haben Sie ihn rufen hören, Yank? Da sind noch mehr von denen hier!« »Nur zwei kleine Jungs«, sagte Gannon undeutlich in den Boden hinein. »Die Kinder sind hier direkt unter mir zwischen den Felsen«, rief John laut zurück. »Und hier werden sie auch bleiben!« »Na prima!« rief Herity zurück. Mit der Pistole im Anschlag trat er ins Haus, kam aber fast sofort wieder zurück und ging zu der zweiten Kate hinüber. Man hörte, wie eine Tür aufgestoßen wurde, dann kehrte Herity unmittelbar zurück und stieß einen halbwüchsigen Jungen vor sich her. Das Gesicht des Jungen war eine runde bleiche Maske des Schreckens unter den lose wehenden schwarzen Haaren. »Da haben wir sie alle!« rief Herity. »Der da war da ganz allein hier drin und hat an sich rumgespielt. Das kleine Ferkel!« Heritys Lachen war laut und höhnisch. John stand auf. Er sah Pater Michael und den Jungen rechts auf einem schmalen Feldweg zwischen den Bäumen herankommen. Der Priester wedelte fröhlich mit der Hand, dann blieb er abrupt stehen, als er sah, wie Herity die Schrotflinte aufhob. Die beiden Männer lagen noch immer auf dem Bauch ausgestreckt da. »Also, was haben Sie jetzt wieder angerichtet, Joseph Herity?« sagte der Priester ernst. »Ich hab nur verdammt gut dafür gesorgt, daß wir uns nicht mit dem nackten Arsch in ein Hornissennest reinsetzen, 315 Ehrwürdiger Vater!« Er warf einen Blick auf die beiden Männer auf der Erde. »Sie und Ihr Freund, ihr könnt jetzt wieder aufstehen, Mister Gannon. Und ich ersuche euch, mir meine übergroße Vorsicht zu verzeihen.« Gannon kam auf die Beine und klopfte sich den Staub von den Kleidern, ehe er dem anderen Mann aufhalf. Gannon war ein recht untersetzter Mann mit langen schwarzen Haaren. Das Kinn war wuchtig, der Mund breit und dicklippig. Die Augen, als er sie zu John hob, blickten leer und hoffnungslos - die Augen eines Besiegten. John spähte über seinen Felsrand in die Vertiefung darunter. »He, ihr Jungen da drunten - kommt da jetzt raus! Keiner wird euch was tun.« Das war die reine Wahrheit, dachte John. Der O'Neill-im-Kopf hatte sich in irgendeinen stillen Winkel verkrochen und war vorläufig damit zufrieden, den Erfolg seiner Rache zu beobachten und sich daran zu erfreuen. Zwei flachshaarige Jungen - einer um die zehn, der andere ein bißchen jünger - tauchten unterhalb auf und schauten zu John herauf. »Wer von euch ist Burgh?« fragte John. Der Jüngere hob zögernd die Hand. »Also, Burgh, wenn da in der Flasche noch was drin ist, dann wäre ich dir sehr dankbar, wenn du sie mit runter zum Haus bringen könntest.« 316 Der Mensch als Gesellschaftstier kann sich nur schwer an eine vorausschauende Planung gewöhnen, es widerstrebt ihm, in den Maßstäben von Generationen zu denken. Die Ungeborenen, die noch nicht Gezeugten, haben kein Stimmrecht in der laufenden Politik. Wir biegen unsere Forschung so zurecht, daß sie kurzfristigen Überzeugungen entspricht, wir planen unsere Projekte nur auf kurzfristige Wunscherfüllung hin. Aber wo ist die Stimme, die für die Rechte derer spräche, die nach uns kommen werden? Ohne eine solche Stimme - werden sie
nämlich niemals leben! FlNTAN CRAIG DOHENY Das Mittagessen war eine Weile vorbei, und es würde noch dauern, bis sie ihr Abendessen bekommen würden. Stephen Browder stapfte ruhelos in dem stahlgepanzerten Quartier umher, in dem Kate und er eingesperrt waren. Er war sich ihrer Gegenwart stark bewußt, wie sie dort in der Ecke hockte und las, und er wußte, daß sie seine Ruhelosigkeit durchaus bemerkt hatte. Ihr Bauch wies bereits eine deutlich sichtbare Rundung auf - der Beweis dafür, daß dort ihr Kind wuchs und sich ausformte. Und Peard hatte noch immer keinen Priester finden können! Browder wußte, was drüben in Maynooth geschehen war, aber es mußte doch in ganz Irland irgendwo einen vertrauenswürdigen Geistlichen geben. Einen echten Priester. Natürlich konnte er sich denken, daß unzählige falsche Priester sich herumtrieben und daß Peard und seine Leute vorsichtig sein mußten, aber es mußte doch, verdammt, irgendwo einen echten geben, der die beiden Pestgefangenen trauen konnte. Er blieb vor dem winzigen Tisch stehen, auf dem er ein paar Arbeitsbücher und einen Stapel Berichte über die Fortschritte in der Seuchenforschung liegen hatte. Sollte er das Zeug schon wegräumen, damit der Tisch dann für das Abendessen frei war? Nein, es war noch zu früh. Peard und seine Mitarbeiter hatten geglaubt, die Spannungen in der Isolationskammer ein wenig lösen zu können, und 317 hatten ihm eine kleine Fax-Maschine hereingestellt. Die spuckte regelmäßig Kopien der Berichte aus den verschiedenen Forschungszentren aus. Und Browder gewann aus diesen bruchstückhaften Berichten eine Art Gesamtbild von der Arbeit, die auf der ganzen Erde getan wurde. Er konnte sich die unzähligen Leute in weißen Kitteln vorstellen, wie sie sorgfältig Abstriche von Kulturen aufteilten, die Inkubationskammern peinlich genau auf siebenunddreißig Grad Celsius eingestellt, die ungeduldige Warterei während der zwei obligatorischen Tage des Wartens bei jedem Einzeltest, bis die Inkubation stattgefunden haben konnte. Und ich, ich bin hier eingesperrt. Keine Arbeitsmöglichkeiten. Bloß die verdammten Bücher und die verdammten blöden frustrierenden Berichte'. Wie kann ich da was tun, um zu helfen? Ob Peard vielleicht wirklich absichtlich keinen Priester holte, wie Kate anklagend vermutet hatte? Beiläufig hob Browder den zuoberst liegenden Ausdruck vom Tisch - ein doppeltgefalteter Streifen, frisch aus dem Faksimileprinter. Material, ganz neu aus Huddersfield. Aber wozu sollte das gut sein? Ein paar Leute da drüben in England hielten also die Reißverschluß-Theorie für falsch! Er spielte eine Weile mit den Möglichkeiten dieser Theorie herum. Er wußte, daß die Japaner von ihr überzeugt waren: zwei Stränge der Spirale, durch chemische Bindung zusammengekettet, genau zueinander passend wie die Glieder in einem Reißverschluß. Was sollte daran falsch sein? Den Russen gefiel sie. Und Doheny hatte höchstpersönlich gesagt, er halte sie >für ein nützliches Konzept<. Also warum fingen da jetzt ein paar Leute in Huddersfield an, daran herumzuzweifeln? Er ließ den Ausdruck wieder auf den Tisch fallen. Diese Pest greift störend in die Enzymsysteme des menschlichen Körpers ein. Das war die eine, einzige Tatsache, die man aus allen Labors überall auf der Erde eindeutig zu hören bekam. Ein sehr geringer Säuregehalt in den Bakterienkulturen. Die Aminosäuren werden gleichermaßen als Strukturträger und als Energie benutzt ... aber die Energie war in 318 Strukturen eingebunden, die die Enzym-Systeme hemmten. Und ohne Enzyme mußte der Tod eintreten. Aber was für Systeme? Die Funktionen der Chemostruktur wurden an irgendeiner Stelle praktisch unterbrochen. Blockiert. Bei Eingabe von Antibiotika bildeten sich keine Agglutimne mehr. Die Struktur! Man mußte die Struktur herausbekommen! Die Seuche hemmte den Sauerstoff-Kohlendioxid-Zyklus. Durch einen schlichten Deduktionsschluß wußte man, daß das DNS-Muster bei Frauen an bestimmten Stellen geringfügig verschieden von dem für Männer sein mußte. Die Todesfälle und schweren Krankheitsbilder bei echt hermaphroditischen Intersexuellen bestätigten dies nur. Lag also der Schlüssel in den Hormonsystemen, wie die Leute in Kanada behaupteten! Es mußte so etwas wie eine direkte Koppelung zwischen Virus und Bakterium bei der Übertragung der Seuche geben. Es mußte einfach so sein! Aber wie sah dann dieser Bakteriophagen-Überträger aus? Welche Gestalt hatte er? Sie hatten es hier mit einem Pathogenfaktor zu tun, der so gebaut war, daß er gegen Antibiotika resistent war. Und die Amerikaner waren davon überzeugt, daß dieser O'Neill eine Art ungebundener DNS geschaffen hatte, die sich auf der genetischen Doppelspirale freie Stellen suchte und sich dort einkoppelte. »Wachstum in Kulturen beschleunigt«, sagten die Amis. Und wenn sie es dabei wirklich mit den Seuchenpathogenen zu tun hatten, dann war dieses rapide Wachstum an sich bereits furchterregend. Denn andere vom Menschen künstlich geschaffene Rekombinatoren taten das ja keineswegs. Die Gestalt ... die Struktur ... wie war sie? Stephen Browder dachte an das Doppelmolekül - eine Kette um die zweite in Gestalt einer Spirale gewunden, die Doppel-Helix. Eine doppelte Kette, die höchst elegant ineinanderpaßt: die Adenine, Guanine, Zytosine und Thymine, die jeweils auf der genau passenden Stelle der gegenüberliegenden Spiralkette die Verbindung
bestimmten. Wie ein supereleganter Maibaum sieht das aus, dachte Stephen Browder. Wie ein Maibaum ohne Baum in der Mitte, 319 und die Bänder halten nur zusammen, weil da eine gegenseitige Verhaftung im ... Stephen wurde steif vor Erregung. Er sah die Struktur deutlich in seinem Hirn vor sich! »Is' was, Liebling?« fragte Kate. Er starrte sie mit weitaufgerissenen Augen an. »Sie haben recht«, keuchte er. »Es ist kein Reißverschluß!« Er sah auf einmal die Spirale deutlich vor sich, wie sie sich um sich selber hochwand, ein Band um das andere eine Kette aus Ketten, und nur durch die Windung und Krümmung stabilisiert. Stephen begann in dem Papierhaufen auf dem Tischchen zu wühlen. Er suchte ein ganz besonderes Blatt. Dann hatte er es gefunden, strich es glatt und begann gierig zu lesen. »Die Geschichte ist wie eine Wendeltreppe, die aus nur vier Konstruktionsteilen besteht.« Das hatte jemand in Huddersfield gesagt. Jemand namens Hupp. Offenbar versuchte der Mann ein vereinfachtes Bild der Doppelhelix zu liefern, um so Zugang zu den Manipulationen zu finden, die dieser O'Neill vorgenommen hatte. Die berühmte DNS-Spirale ... »Es ist möglich, daß zwischen dem RNS-Träger und dem DNS-Ergebnis noch eine andere Beziehung besteht. War das vielleicht das, was der >Verrückte< mit seiner Doppel-Überlagerung meint? Die vergleichende Gegenüberstellung der jeweiligen Sets könnte vielleicht zum Verständnis der Wechselbeziehungen führen.« Stephen schaute hoch. Tief in Gedanken, aber dabei sich klar bewußt, daß Kate ihn mit besorgtem Gesichtsausdruck beobachtete. Maibaum, dachte er. Ein gedrehter, um sich selbst gewundener Maibaum von Bändern! Klarcodierte Information von nur jeweils vier bits pro Code, aber die vier Möglichkeiten zusammen stellen in allen nur denkbaren Kombinationen weitere Code-Möglichkeiten dar ... und so weiter ... und so weiter ... Die Bänder des Maibaums! Die Kombinationsmöglichkeiten! 320 Kate ließ ihr Buch fallen und stand auf. »Stephen! He, was ist denn?« »Ich muß mit den Leuten in Huddersfield sprechen«, sagte er. »Wo ist Adrian?« »Der ist doch wieder in Dublin. Weißt du das denn nicht mehr?« »Ach so ... ja. Ob die mich da draußen über Telefon verbinden können? Wer ist da überhaupt draußen?« »Ich glaube, es ist bloß Moone. Die haben fast alle die Grippe und sind unterbesetzt.« »Moone? Der könnte es schaffen! Der hat fünfzehn Finger, wo es um Elektronik geht! Hast du gehört, wie der mal Wanzen in das Hauptquartier der Paras geschmuggelt hat?« Stephen Browder trat ans Telefon, das auf einem Halter neben dem kleinen Wandtisch angebracht war. »Moone! He, ihr da draußen! Ich hab was für euch zu tun! Und, Moone, Sie sind der einzige Mann in ganz Irland, der das hinkriegen kann!« Die Geschichte der Herrschaft der Engländer - besonders die der Unterdrückung in Irland - ist eine Geschichte raffinierten gegenseitigen Ausspielens von Vorurteilen. Das Prinzip des teile und beute aus! Auf diesem Prinzip hat die herrschende britische Kaste ihren Lebensstil aufgebaut. Und ihr Yan-kies habt das von denen sozusagen von Kindesbeinen an übernommen! JOSEPH HERITY Ein echter Fillersuffie-Brotfresser!« hatte Herity mit übertriebenem falschen Hinterwäldlerakzent gesagt. Beim Nachtisch-Tee, der aus Wildkräutern bestanden hatte, hatte Terrence Gannon soeben noch einmal betont, daß er zur Fakultät am Dubliner Trinity College gehört habe. Man saß auf den steifen Möbelstücken in dem ungemütlichen Wohnzimmer des vorderen Häuschens. Draußen war es schon fast völlig dunkel geworden, dichte Wolken, die noch 321 zögerten, ihre Regenlast abzuwerfen. Man hatte drei Kerzen auf Untertassen angezündet. Sie verliehen diesem spießbürgerlichen Wohnzimmer mit den gerahmten Fotos und den schweren Holzmöbeln eine geisterhafte Atmosphäre. In dem engen Kamin zischelte ein Torffeuer, das wenig Wärme verbreitete, dafür jedoch stechende Rauchwolken ausstieß, wenn der Wind den Kamin herunterfuhr. Herity verriet einige Anzeichen der Unstetigkeit nach Gannons Selbstgebranntem Whisky, aber sie hatten den Krug auf dem Küchentisch stehen lassen und nicht mit ins Wohnzimmer genommen, als sie hinausgingen, um sämtliche noch versteckten Waffen des Hauses einzusammeln. Die Schießeisen, ein Gewehr und eine Pistole, lagen entladen zu Heritys Füßen auf dem Boden. Gannon redete inzwischen mit der gedämpften Stimme, die jemand in einem Raum benutzt, in dem es spukt. Er hatte dies von dem Moment an getan, in dem sie das Wohnzimmer betreten hatten, aber er behielt eine altmodische Förmlichkeit bei, als er sich erkundigte, ob seine Gäste es bequem hätten. »Wir sind hierher ins alte Haus meiner Familie geflohen, als man in Dublin nicht mehr bleiben konnte«, erklärte er. »Mein Schwager da, der kam aus Cork, weil man in dieser Zeit Kinder nicht in der Stadt lassen kann.«
Der Schwager, Wick Murphey, hatte seine beiden überlebenden Söhne, Terry und Kenneth, mitgebracht. Die beiden Töchter und die Haushälterin waren noch vor der Abreise gestorben. Seine Frau, Gannons ältere Schwester, war bei der Geburt Terrys gestorben. Die Familiengeschichte kam aus Murpheys schmalen Lippen gesprudelt, sobald er erleichtert festgestellt hatte, daß Heritys Gruppe sich nur vorsichtig verhalten hatte und nicht >ein paar von diesen schrecklichen üblen Leuten, die sich jetzt herumtreiben< war. John hatte sich einen niederen Hocker herangezogen und sich mit dem Rücken an die Wand beim Kamin gelehnt. Es stank zwar hier stärker nach dem schwelenden Torf, doch die Kacheln im Rücken waren warm. Pater Michael und die Kinder hatten eine Laterne genom322 men und waren zu den Gräbern in dem kleinen Steingeviert unterhalb der Katen gegangen. Murphey, merklich betrunkener als Herity, saß in einem Schaukelstuhl, der bei jeder Bewegung knarrte. Auf seinem Gesicht lag der befriedigte Ausdruck eines Mannes, der ausreichend gegessen und getrunken hat und dessen Leben ihm heute nicht schlimmer erscheint als gestern. Herity hockte allein auf dem Kanapee, die Maschinenpistole hing an einem dünnen Lederriemen von seinem Hals. Der rein maskuline Haushalt schien ihn zu amüsieren, und er lobte Gannons Kochkünste aus voller Brust. Gannon schien Herity die grobe Behandlung nicht übel zu nehmen. Auf seinem Gesicht allerdings lag ein Ausdruck, als werde er nie wieder ein Spiel spielen, das er von vornherein für verloren hielt. Seine Flinte war sogar noch gesichert gewesen, als Herity sie ihm abgenommen hatte. Der Mann wartet nur noch auf den Tod, dachte John. Das Abendessen hatte aus frischem Schweinefleisch mit Gemüse und Eierkürbis - paniert - aus dem Garten bestanden. Herity und John hatten die Gegend um die Häuschen inspiziert, während Gannon kochte, auch den Kuhstall. »Diesen Ausdruck in Gannons Augen, also ... das nennen wir den Selbstmörderblick«, hatte Herity gesagt. »Wie konnten die zwei Katen da verschont bleiben?« fragte John. Er schaute zu dem gelben Licht in Gannons Küchenfenster. Die Verwüstungen und Mordbrennerei schienen mindestens eine Meile von den Häusern entfernt plötzlich haltgemacht zu haben. Im Dämmerlicht des wolkenschweren Abends sah man sonst im ganzen Tal kein einziges Licht. »In diesen Zeiten der Umwälzung isses wirklich ein Wunder«, sagte Herity leise. »Aber ich glaube nicht, daß es ein kirchliches Wunder war. Es kann ja sein, daß in Gannons Haus niemals irgendwas in Scherben gegangen ist. Die faeries haben das gern. Ja, es gibt seltsame Dinge in unserem Land, da können die Leute sagen, was sie wollen.« »Ich trau diesem Schwager nicht so recht«, sagte John und wartete auf Heritys Reaktion. 323 »Murphey? Oh, der ist ein Überleber! Wie oft hab ich die Sorte schon gesehen. Die sind bereit, ihre Seele zu verkaufen, wenn sie dafür nur zehn Minuten länger schnaufen dürfen. Die verraten ihre Freunde und bestehlen auch noch die Verhungernden. Ja, Sie haben recht, John. Dieser Murphey muß im Auge behalten werden.« John nickte nur. Herity klatschte auf die israelische MP an seinem Hals. »Der würde nur zu gern meine Waffe haben, dieser Murphey.« Er blickte zum Kuhstall zurück, in dem er die Flinte ohne ihre Munition im Dachstroh versteckt hatte. »Haben die was gesagt, wer dort unten begraben ist?« fragte John und schaute zu der Gräbereinfriedung hinab. »Die Mutter von dem kleinen Burgh, zwei Nachbarsfrauen, die bei Gannon Unterschlupf gesucht hatten, und dann noch die Tochter von der einen. Gannon lebt hier schon 'ne Weile. Haben Sie den Garten bemerkt? Der ist schon seit einiger Zeit angelegt und bearbeitet.« John blickte zum Hügelkamm zurück. Er dachte an den Wasserlauf dahinter, in dem Herity eine Leiche entdeckt hatte. »Wissen die, wer das dort oben ist?« »Ein Fremder - sagen sie jedenfalls. Aber - er wurde mit einem Gewehr getötet.« »Und sie haben auch keine Erklärung für diesen Gewehrschuß, den wir gehört haben«, sagte John. »Ja, ist das nicht schon wieder ein Wunder?!« sagte Herity. »Ihr Schwein wurde mit einem Gewehrschuß getötet, und nirgendwo war ein Gewehr zu finden.« »Sind Sie sicher, daß es ein Gewehrschuß war, an dem das Schwein starb?« »Ach, ich hab es mir ziemlich genau angeschaut, als ich im Kuhstall war. Aaah, wissen Sie John, wir Iren haben 'ne ganze Menge Tricks gelernt, wie man Waffen versteckt, als wir unter der Herrschaft der Engländer litten. Ich rechne damit, daß ich auch diese Waffe finden werde.« »Vielleicht ist sie noch in einem der Häuser?« »Ich versichere Ihnen, nein, schließlich bin ich der raffinier324 teste Spürhund, den mein Vater je aufgezogen hat. Nein, John, das Ding ist unter dem Kuhstall, gut in Ölhaut gewickelt und gut eingefettet. Haben Sie nicht gesehen, wie der Murphey uns beobachtet hat, vom Fenster aus, als wir hier raufgingen? Und da liegt bestimmt auch noch 'ne Pistole dabei. Murphey ist der Typ, dem 'ne Pistole lieber ist. Und Gannon? Also, ich wette alles, daß der früher mal gejagt hat.« Herity wippte auf den Absätzen und sog prüfend die Luft ein - angenehme Essensgerüche drangen aus der
offenen Katentür zu ihnen herauf. John blickte auf die MP an Heritys Brust. Er erinnerte sich, wie sie sich in der Hand angefühlt hatte, welche Macht sie ausgestrahlt hatte. »Mich plagt da so eine gewisse Neugier, wie Sie zu dieser Waffe gekommen sind«, sagte John tastend. »Neugier! Ah - Neugier is, was der Katz den Kragen kostet.« »Von einem Toten, haben Sie gesagt.« »Diese prachtvolle Waffe war im Besitz eines Politoffiziers der Paras in Ulster«, sagte Herity. »Was war das für ein feiner Gentleman mit seinem kleinen Schnurrbärtchen, und Augen so blau wie Seide. Wir wußten alles über ihn, wirklich. Er war einer von diesen Public-School-Schwulen, die der englischen Nobelregierung soviel süßen Ärger gemacht haben. Den da haben sie uns zurückgelassen, als die Pest anrückte. Ich hab ihn in seinem Versteck inner alten Scheune bei Rosslea aufgestöbert. Und er hat den Fehler begangen, seine Waffe zurückzulassen, als er zur Pumpe rausging, um sich Wasser zu holen. Also schlich ich in die Scheune, ehe er mich entdeckte.« »Pater Michael haben Sie gesagt, er sei tot.« »Hab ich. Wo der doch mit 'ner Harke auf mich zukam! Was hätte ich denn da noch machen sollen?« Herity grinste breit und betätschelte die Maschinenpistole. »Und er hat außerdem auch noch 'nen ganzen Sack Munition gehabt.« Während des Essens beobachtete John Mr. Murphey und Mr. Gannon und mußte feststellen, wie exakt Heritys Einschätzung der beiden war. 325 Und wie schätzt Herity mich ein? überlegte er. Der Gedanke beunruhigte ihn. Er schaute zu Herity hinüber, der ihm gegenübersaß und eifrig die KürbisEierspeise in sich hineinschaufelte. Aber er hat mir die Maschinenpistole anvertraut. Das war nur ein Test, entschied John. Und aus Heritys Reaktionen schloß er, daß er den Test bestanden hatte. Trotzdem, es war nicht angebracht, diesem Mann gegenüber sorglos zu sein. Sie aßen an dem langen Küchentisch - rotkarierte Tischdecke, schwere Steingutteller, Gläser mit geschliffenem Rand. Wasser. Das Schweinefleisch war mit einem blättrigen Wildkraut zusammen gekocht worden, das ihm einen herben, recht angenehmen Geschmack verlieh und das Fett ein wenig verdaulicher machte. Gannon servierte wie jemand, der aus Spaß kocht, und er hatte seine Künste offensichtlich nicht verlernt. »Sie würden 'ne prima Hausfrau für jemand abgeben«, neckte ihn Herity. Gannon ging auf die Stichelei nicht ein. Murphey schaute ihn düster an, das verkniffene Gesicht verächtlichzornig, aber er setzte sofort ein Lächeln auf, als er merkte, daß Herity ihn ansah. »Haben Sie bemerkt, John«, sagte Herity und fuchtelte mit dem Tischmesser herum, »wie sehr in uns Iren die Leidenschaften leergebrannt sind? Ich glaube wirklich, der Verrückte selber könnte vollkommen unbeschadet in unsere Mitte treten, wo der doch von dem Blut all dieser Millionen besudelt ist. Und wir würden ihm einfach einen Stuhl an den Tisch stellen und ihn fragen, ob er einen Drink möchte ...« »Nein, es ist keine Apathie«, sagte Gannon. Es war das erste Wort, das er sprach, seit er die Speisen auf den Tisch gebracht hatte. Der Priester blickte über den Tisch. Er schien erstaunt über die Schärfe im Ton Gannons. »Mister Gannon schickt sich an, uns mit seiner höchstbedeutenden Meinung zu beglücken«, sagte Herity. 326 »Hören Sie gefälligst zu, wenn der Professor spricht!« Murphey sagte es mit gebremstem Zorn. Und dann hatte Gannon zum erstenmal seine Position am Trinity College erwähnt. »Wußte ich's doch, daß ich Sie schon mal irgendwo gesehen habe«, sagte Pater Michael. »Wir sind über die Apathie hinaus«, sagte Gannon. Herity lehnte sich lächelnd zurück. »Ach und würden Sie uns dann sagen, Professor, was jenseits der Apathie liegt?« »Unsere Frauen sind für immer fort«, sagte Gannon mit schwerer Stimme. »Die Frauen sind tot, und nichts ... nichts kann sie uns zurückbringen! Die Diaspora der Iren hat ihr Ende gefunden. Wir sind alle heimgekehrt, um zu sterben.« »Irgendwo muß es doch noch Frauen geben!« Das kam von dem älteren Jungen, Kenneth, der neben seinem Vater saß. »Und gelehrte Männer wie hier unser Mister O'Donnell werden ein Mittel gegen die Pest finden«, sagte Murphey. »Alles wird wieder ins Lot kommen, Professor. Verlassen Sie sich darauf!« »Als wir noch drüben in Cork waren«, sagte Kenneth, »hab ich gehört, es gibt noch Frauen im alten LukanSchloß - und die sind alle sicher, und man schützt sie mit Gewehren.« Während dieses Wortwechsels starrte Gannon nur stumm auf seinen Teller. »Ja, man hört 'ne Menge solcher Geschichten«, stimmte Herity dem Jungen zu. »Aber ich glaube bloß, was ich selber mit eigenen Augen sehe.« »Sie sind ein kluger Mann, Mister Herity«, sagte Gannon und blickte ihm in die Augen. »Sie erkennen die Wahrheit, und Sie akzeptieren sie.« »Und was wäre dann diese Wahrheit, bitte?« fragte Herity.
»Daß wir uns unerbittlich auf den Rand einer Klippe zubewegen, von der wir ins Nichts stürzen werden. Was liegt jenseits der Apathie? Das, was einige von euch als Leben ansehen - das ist doch bereits der Tod.« »Willkommen in Irland, Yank!« sagte Herity. »Da haben 327 Sie das Irland, das uns der Perfesser grad beschrieben hat. Und dann gibt's da noch das Irland der literarischen Traumgebilde. Haben Sie erwartet, eines von diesen zwei Irlands hier zu finden, Mister O'Donnell?« John spürte Aufruhr in seiner Brust. Er griff zurück auf den Vorwand, der ihn bislang noch stets abgeschirmt hatte. »Ich bin nur gekommen, um zu helfen.« »Ach ja, das vergeß ich halt immer wieder«, sagte Herity. »Also, hier ist Irland, Mister O'Donnell, das was Sie jetzt überall rings um uns herum sehen. Vielleicht ist es das einzige Irland, das es je gegeben hat, ein Irland, das seit tausend Jahren in Agonie liegt. Ich schenk es Ihnen!« Herity beugte sich wieder über seinen Teller und schaufelte. Gannon erhob sich, trat an einen Schrank und kehrte mit einem vollen Krug zurück, in dem ein klarer Hausgebrannter schwappte. Als er den Kork herausgezogen hatte, wehte der scharfe Geruch des Alkohols über den Tisch. John hatte das Gebräu bereits an dem Rest in der Flasche gekostet, die die Jungen vom Hügelhang wieder mitgebracht hatten. Er winkte mit der Hand ab, als Gannon ihm ein Glas vollschenken wollte. »Aber, aber, John«, sagte Herity. »Sie werden doch nicht unsern Selbstgebrannten zurückweisen wie unser Guinness? Sie werden uns doch nicht allein trinken lassen wollen?!« »Wir sind hier genug Leute, um mit Ihnen zu trinken«, sagte der Priester. »Ja, und Sie ganz besonders, was?« fragte Herity. Der Priester blickte über den Tisch zu dem stummen Jungen, der ihn erschrocken anschaute. Dann schüttelte der Priester steif den Kopf. »Nein ... Ich glaube, ich nehme nichts, Danke, Mister Herity.« »Ach, sind Sie inzwischen zu 'nem antialkoholischen Priester geworden?« fragte Herity. »O du heiliger katholischer Glaube! Das wäre ja schrecklich!« Herity nahm ein Glas Branntwein von Gannon entgegen, nippte prüfend und 328 schmatzte übertrieben genüßlich mit den Lippen. »Ahhh! Das ist wahrhaftig die >Milch der Kleinen LeuteThe little people<, in der irischen Folklore Erdgeister, die man besänftigen« muß; vergleichbar unseren Zwergen und Heinzelmännchen Anm. d. Übers. 329 seinen Vater finster an. Er stieß heftig den Stuhl zurück und stand auf. »Ich geh raus.« »Du bleibst da auf deinem Stuhl hocken!« sagte Herity und machte mit seinem Glas eine Bewegung auf den Stuhl zu. Kenneth blickte seinen Vater an, der mit dem Kopf stumm >Nein< sagte. Mürrisch ließ sich Kenneth wieder auf den Stuhl fallen, rutschte aber nicht wieder ganz an den Tisch heran. »Wo haste denn hingewollt, Kenneth?« fragte Herity. »Ach, bloß raus!« »Raus zum Stall, was, wo's so schönes weiches Stroh gibt? Wo man so schön träumen kann, wie du dich da drin mit der Frau deiner Träume wälzen kannst, he?« »Lassen Sie ihn in Ruhe«, sagte Murphey sanft.
Herity schaute ihn an. »Oh, das tu ich, Mister Murphey. Aber da es draußen schon fast Nacht ist und wir das Gewehr von dem Professor nicht gefunden haben, auch nicht Ihre Pistole, sehe ich es lieber, wenn wir alle hier schön brav versammelt bleiben, wo ich uns alle sehen kann.« Herity nahm einen großen Schluck und blickte dabei über den Rand seines Glases zu Murphey, dann zu Gannon. Der Priester sagte: »Joseph! Sie sind ein übler Gast. Diese guten Menschen hier führen nichts Böses gegen uns im Schilde.« »Genau wie ich ihnen gegenüber. Ich schwör's! Aber ist es nicht drollig, wieviel Ärger man sich erspart, wenn man vorsichtig ist bei Waffen?« Wieder trank er einen großen Schluck. Murphey versuchte zu lächeln, brachte aber nur ein Lippenzucken zustande. Sein Blick lag starr auf der Maschinenpistole vor Heritys Brust. Gannon starrte auf seinen Teller. »Mister Gannon?« fragte Herity fordernd. Ohne aufzublicken, sagte Gannon: »Wir werden die anderen Waffen nach den Radionachrichten holen.« »Nach den Nachrichten?« »Es ist die Zeit«, sagte Gannon. »Ich hol das Radio. Es steht in dem Schrank da hinter mir neben der Spüle.« 330 Herity fuhr auf seinem Stuhl herum und behielt Gannon im Auge, während er an den Schrank trat und mit einem Transistorempfänger zurückkehrte, den er mitten auf den Tisch stellte. »Wir haben noch ein paar Reservebatterien«, sagte Murphey. »Terrence hat die Sache gut geplant, als er hierherkam.« Gannon schaltete das Radio ein. Das Klicken klang in der plötzlich so stillen Küche sehr laut. Alle schauten auf das Radio. Es machte ein paar statische Krächzer, dann folgte ein Summen und dann eine Männerstimme: »Guten Abend! Hier ist Continental BBC mit unserer Sondersendung für Großbritannien, Irland und Libyen.« Die Stimme des Sprechers verriet einen Anflug von Eton-Erziehung. »Wie immer beginnen wir unsere Sendung mit einem stummen Gebet«, sagte der Sprecher. »Wir beten für eine rasche Lösung für diese Katastrophe und daß die Welt sich wieder aufraffe und zu einem dauerhaften Frieden finde.« Das Radio schien für Johns Ohren zu laut. Es erfüllte das Zimmer um sie herum mit Mahnungen, mit dem Hinweis auf andere Menschen und andere Orte. Es beschwor die Vorstellung von unzähligen anderen Menschen, die sich nun zum Gebet sammelten. John spürte einen sauren Kloß in der Kehle. Er schaute sich vorsichtig am Tisch um. Alle hatten den Kopf gesenkt, nur Herity nicht, wie er selbst auch nicht. Herity blinzelte ihm zu, als er seinem Blick begegnete. »Ist Ihnen die Reihenfolge aufgefallen?« fragte Herity. »Großbritannien, Irland, Libyen. Sagen können die's zwar, aber es ist jetzt wirklich nichts mehr >groß< an Britannien.« »Der Sender ist die BBC«, sagte Gannon. »Ja, und ausgerechnet aus Frankreich«, sagte Herity. »Nicht ein einziger Scheißbrite darunter, obwohl ich zugeben muß, daß sie alle wie Oxfordabsolventen klingen. Lauter Amerikaner, Franzosen und Pakistani, hat man mir gesagt.« »Und? Spielt das die geringste Rolle?« fragte Gannon. »Doch, es spielt eine Rolle, weil es eine Tatsache ist, die 331 kein vernünftiger Mann bestreiten kann! All diese Yanks und Pakkies und Franzmännchen ham 'ne Gehirnwäsche hinter sich. Zuerst kommt England - und dann, - mit Abstand - Irland und danach die Heiden.« »Mögen unsere Gebete bald rasche Erhörung finden«, sagte der Radiosprecher. »Amen!« Dann fuhr er, frischfröhlich, fort: »Und jetzt die neusten Nachrichten.« John hörte wie in Trance zu. Man hatte Istanbul mit Panikfeuer belegt. Neue >akute< Ausbrüche der Seuche wurden genannt. Einunddreißig Städte, Dörfer und Siedlungen in Afrika wurden namentlich aufgezählt, darunter Nairobi und Kinshasa, die als mit Sicherheit von der Pest befallen genannt wurden. Johannesburg war noch immer eine radioaktive Trümmerwüste. Der Verlust von Nimes in Südfrankreich wurde bestätigt. Ein Mob hatte in Dijon zwei Geistliche aufgeknüpft, die man für Iren gehalten hatte. In den USA bemühte man sich noch immer, > einen Großteil von New Orleans< zu retten. Die Schweizer hatten sich hinter die, wie sie es nannten, >Lausanne-Barriere< zurückgezogen und verkündet, daß die Restschweiz von Verseuchung frei sei. »Was für eine grandiose, was für eine herrliche Sache!« jubelte Herity. »Die ganze restliche Welt ist schweizerisch geworden! Eine wunderbar antiseptische Welt voller Federbetten, und die sind so schön weich wie 'ne junge Weiberbrust, was, Kenneth?« Herity starrte spöttisch den Jungen an, dessen Gesicht sich dunkel rötete. John allerdings verspürte nur Verwirrung und Erstaunen über die Ausmaße dessen, was da in Bewegung geraten war. Es übertraf bei weitem seine Erwartungen, wenn er auch nicht hätte sagen können, was das für Erwartungen gewesen waren. Und wenn er jetzt so an all das dachte, spürte er wieder, wie sich O'Neill in ihm zu rühren begann. Trotzdem, Gewissensbisse empfand er nicht, nur so eine Art von ehrfürchtigem Staunen darüber, daß Rache, persönliche Rache, sich bis in die Bereiche einer Naturkatastrophe emporzuschwingen vermochte. Der Sprecher hatte anscheinend eine endlose Liste von
332 Namen und Orten, in denen die Seuche zugeschlagen hatte. Und hier wurde John endlich klar, daß dies die allerwichtigste Nachricht des Programms sein mußte - nämlich, welche Orte man nicht aufsuchen sollte. Wie nahe ist es schon bei uns? Er begriff auf einmal die Reisebeschränkungen - die Sonderpässe, die vom Barrier Command der UNO ausgestellt sein mußten und die an den meisten Grenzen inzwischen obligatorisch waren ... und das waren inzwischen schon längst nicht mehr nur die Staatsgrenzen. Aus der Sowjetunion wurden keine weiteren Krisenherde gemeldet, aber aus Satellitenbeobachtungen, die die USA zur Veröffentlichung freigegeben hatten, ging hervor, daß es Anhaltspunkte für den Einsatz von >Panikfeuern< in den Gebieten südöstlich von Omsk bis nahezu nach Semipalatinsk gegeben habe - >wobei man viele Städte und Dörfer effektiv in Flammen sehen kann, aber Omsk selbst scheint noch intakt zu sein<. Der Sprecher unterbrach die Aufzählung mit einer Sofortmeldung über die völlige Zerstörung Istanbuls, das wie er sich ausdrückte - >in einem geschlossenen Auslöschungskreis erfolgreich entsorgt worden< sei. »So viele schöne neue Etiketten für brutale Gewalt«, murmelte Gannon. Er ließ seine Augen über den Tisch schweifen, als suche er da jemanden oder etwas, das gar nicht mehr da war. »Kann dieser Verrückte wirklich gedacht haben, daß er den Frieden bringt? Daß er so der Gewalttätigkeit ein Ende setzen kann?« John schaute auf seine Hände. Frieden - das hatte doch noch niemals etwas damit zu tun, dachte er. Es hatte da doch nur dieses zwanghafte Bedürfnis in O'Neill gegeben - zurückzuschlagen! Und wer konnte das dem vereinsamt zurückgelassenen Mann schon verwehren? Irgendwie fühlte John sich so, als wäre er O'Neills Psychiater, dazu da, den Mann zu verstehen, aber nicht befugt, ihn zu verdammen oder von Schuld freizusprechen. (Herity sollte in dieser Nacht in dem kleinen Notizbuch, in dem er sich Anhaltspunkte für seine Berichte nach Dublin 333 aufschrieb, folgendes notieren: »Wenn O'Donnell der Verrückte ist, dann scheint ihn das Ausmaß der Katastrophe absolut bestürzt zu haben. Konnte er eine Ahnung haben, wieweit sich seine Pest ausbreiten würde? War es ihm gleichgültig? Keine Anzeichen von Reue. Keine Spur eines schlechten Gewissens. Aber wie hätte er nicht reagieren können, wenn er O'Neill ist?«) Während die Nachrichten noch weiterliefen, schob man ein Telefoninterview mit Dr. Dudley Wycombe-Finch ein, dem Leiter des Huddersfield Research Establishment in England. Wycombe-Finch wußte von >keinen signifikanten Fortschritten in der Suche nach einem Mittel< zu berichten, allerdings gebe es bereits >vielversprechende neue Entwicklungslinien, über die ich in Kürze zu berichten hoffe<. Auf die Frage des Interviewers, ob er diese neue epidemische Seuche mit anderen ähnlichen Katastrophen der Geschichte< vergleichen könne, sagte Wycombe-Finch, seiner Ansicht nach sei es wenig sinnvoll, sich zu solchen Vergleichen versteigen zu wollen. Er fügte hinzu: »Eine derartige Massenvernichtung von Menschen haben wir lange Zeit nicht erlebt. Es handelt sich hier um Vernichtung in Maßstäben, die völlig neu sind und deren Auswirkungen auf unsere Nachfahren - sofern wir das Glück haben sollten, überhaupt welche zu haben - bislang nicht in gebührendem Maß von uns bemessen werden kann. Ganz schlicht finanziell gesprochen, gibt es hierfür kein Vorbild, nichts, womit wir das relevant vergleichen könnten. Menschlich gesehen ...« Und hier begann der Sprecher offensichtlich zu schluchzen. Die BBC ließ ihn eine ganze Weile lang weiterschluchzen, offensichtlich wollte man diese gottgeschenkte Publicitykuh bis zum letzten Tröpfchen ausmelken ... Dann sagte der Interviewer: »Wir danken Ihnen, Doktor Wycombe-Finch. Wir haben vollstes Verständnis für Ihre Reaktion. Und wir beten, daß Ihre tief empfundenen Gefühle Sie und Ihre Mitarbeiter im 334 Huddersfield-Instiut nur noch mehr bestätigen mögen, in Ihrer entschlossenen Suche nach einem Mittel fortzufahren.« »In ihrer Entschlossenheit!« fauchte Herity mit bereits alkoholschwerer Zunge. »Die Engländer können so gut heulen, daß man mit den Tränen ganze Dürreperioden überstehen könnte. Iss jedenfallss meine Meinung.« »Wie kann der Mann, wie können diese Leute auch nur einen Gedanken an die finanziellen Kosten verschwenden?« fragte Gannon. Das war das erstemal, daß John einen Funken von Zorn im Verhalten dieses Mannes bemerkt hatte. »Och, das heißt doch bloß, daß das Spiel zwischen Gott und Mammon abgebrochen wurde, weil die Hälfte der Mitspieler vom Feld verschwunden sind«, sagte Herity. John schaute zu Pater Michael hinüber und sah, daß dem Priester Tränen über die Wangen rollten., Das Brandzeichen auf der Stirn sah im Lichtschein wie ein roter Schmutzfleck aus. Der Sprecher der BBC-Sendung ließ es sich nicht nehmen, sein Programm mit einem weiteren Gebet zu beschließen. »Möchte es uns gegeben sein, alle die Taten des Unrechts in der Vergangenheit aus vollem Herzen zu verzeihen, auf daß wir den Boden bereiten für eine Welt, in der die Menschen zu wahrer Brüderlichkeit finden mögen, zu jenem Gefühl brüderlicher Barmherzigkeit, das alle Religionen von uns verlangen.« Und dann kam es: »Dieses Gebet wurde uns freundlicherweise von der Buddhist Overseas Mission Church aus San Rafael in Kalifornien, USA, zur Verfügung gestellt.«
Gannon drehte dem Radio den Saft ab. Es knackte. »Wir müssen sparsam mit den Batterien umgehen«, sagte Gannon. »Wossschu eihntlich?« fragte sein Schwager mit alkoholschwerer Stimme zurück. »Bloß um die beschissenen Nachrichten sssu hörn? Wasss? Wohssschuh? Das isssch doch no fiuhtschah drin!« 335 Der Fremde kam und sucht' uns seine Art zu lehren. Verhöhnte uns und unsre Art. >Galway Bay<, eine irische Ballade In knapp einer Stunde sollte das »Arbeitsessen« im kleinen privaten Speisesaal neben der Kantine des Weißen Hauses stattfinden, und Präsident Adam Prescott war sich darüber im klaren, daß er nicht den geringsten Ansatz für eine neue Lösung der anstehenden Probleme in der Hand hatte. Allerdings wußte er, er würde sich zuversichtlich zeigen müssen, voller Zielstrebigkeit. Schließlich erwartete man von einem Führer der Nation daß er führte. Er saß allein im Ovalen Büro, und die Geschichtsträchtigkeit dieses Raums umgab ihn beinahe spürbar. Gewaltige Entscheidungen waren hier getroffen worden, und ein Echo davon schien irgendwie noch an den Wänden zu haften. Der Tisch, an dem er saß, war ein Geschenk der Königin Victoria an Rutherford B. Hayes gewesen. Das Gemälde ihm gegenüber, über dem Kaminsims, war von Dominic Serres und stellte die Seeschlacht zwischen der Bonhomme Richard und der Serapis dar. Vom selben Platz aus hatte John F. Kennedy das Bild bewundert. Die Konsole hinter ihm war von James Monroe bestellt und benutzt worden. Der Sessel, auf dem Prescott saß, hatte zur selben Order gehört. Dieser Stuhl erschien ihm nun wie ein Folterinstrument. Trotz der exzellenten Gestaltung durch Pierre-Antoine Beilange schmerzte ihn oft der Rücken. Auf der grünen Schreibunterlage vor ihm lag ein Stapel von Berichten fächerförmig ausgebreitet, damit er die Etiketten lesen und seine Wahl treffen könne, was er sich ansehen wollte. Er hatte sie bereits alle gelesen, aber sie hatten nur dazu beigetragen, seine Bestürztheit zu vermehren. Information, dachte er. Was taugt die schon? Das alles schob nur eine bombastische inflationäre Wucht mit sich herum, dachte er, eine Art Wichtigkeitsautomatik. Sobald etwas für die Kenntnisnahme des Präsidenten be336 stimmt war, mußte es ja zwangsläufig nicht nur wichtig sein, sondern sehr wichtig. Schließlich durfte man Präsidenten niemals mit Kleckerkram belasten. Information ... Nicht Daten, nicht Fakten, nicht die Wahrheit. Information - die emsige Ernte menschlicher Beobachtungen. Jemand, die Leute, hatte etwas gesehen, oder gehört oder gespürt, und die vorverdaute Version davon landete dann auf diesem Schreibtisch, den Rutherford B. Hayes so bewundert hatte. Prescott schaute ärgerlich auf die Markierungen, die aus den Berichtheften ragten. Breakouts. In den Massenmedien nannten sie neue Gebiete, in denen sich die Seuche zeigte, >Heiße Stellen<. Es war nicht mehr die Rede davon, die Menschen von dort zu evakuieren. Wohin hätten sie auch gehen sollen? Fremde sind Feinde und gefährlich. Menschen, die entwurzelt, von zu Hause vertrieben waren, waren gefährlich. Gute alte Freunde, die aus fernen Gegenden heimkehrten, waren nicht länger gute Freunde. Man riß die Eisenbahnstrecken auf. Die Landebahnen auf Flughäfen wurden mit Trümmern gegen eventuelle Landungen blockiert. Straßen wurden verbarrikadiert und von bewaffneten Männern bewacht. Brücken wurden gesprengt. In einem der Berichte auf seinem Tisch hieß es, daß der Spaghettisalat von Überführungen und Zufädelbahnen auf der Autoroute-11 von Paris aus durch fachmännisch gelegte Sprengladungen auf die Autobahn niedergebracht worden seien und daß es wegen der fehlenden Transportmöglichkeiten zu >Nestern von Mangelversorgung< komme. Die alten Untergrundkämpfer des maquis hatten sich an das erinnert, was sie vor langer Zeit für einen ganz anderen Krieg gelernt hatten, doch sie hatten vergessen, daß auf den Fernstraßen auch der Nahrungsnachschub floß. Vielerorts in den USA war es nicht besser. Die Männer wagten es nicht, die Häuser zum Zwecke der Nahrungssuche zu verlassen, und so war die Lebensmittelversorgung in größeren Städten und sogar draußen im Land ein ernstes Problem geworden. New York kam über die Runden mit dem, 337 was man entlang der Feuerbarriere anpflanzte, und man war dankbar für die stark geschrumpfte Bevölkerungszahl und die Lagerhäuser voll Konserven. Washington D.C. hatte wohl schätzungsweise noch eine Schonfrist von zwei Jahren, ehe der Gürtel enger geschnallt werden mußte. Die Stadt schaffte es dank der Notreserven, die als Vorsorge gegen einen Atomangriff eingebunkert waren, und mit den Nutzgärten, die man auf Dächern, Rasenflächen und freien Plätzen angelegt hatte. Washington und sein Ring von Schlaf-Städten blieb vorerst von der Pest verschont, vor allem wohl weil General William D. Caffron aus eigener Machtvollkommenheit einen Flammenwerfer-Kordon um die Stadt gezogen hatte, der von Panzerfahrzeugen und Infanterie gedeckt war, die den Befehl hatten, alle Eindringlinge auf der Stelle zu erschießen oder zu verbrennen. Danach hatte er Kamikaze-Trupps zu jedem Seuchennest entsandt, das er dank seiner erbarmungslosen Methoden aufspüren konnte. An sämtlichen Zugangs wegen waren Quarantänestationen errichtet worden, und in allen taten weibliche Freiwillige Dienst, die man aus den Landesgefängnissen eingeflogen hatte. Sämtliche Stationen wurden durch automatische TV-Kameras überwacht.
Prescott zog den Ordner mit dem Etikett >Tribut< aus dem Stapel und öffnete ihn. Grausig - das war das einzige richtige Wort dafür. Zweifellos war das ein Auswuchs der >Freiboote<-Politik des Barrier Command, daß die da Nachschub an die irische Finn Sadal und die englischen Grenzschutz-Gänger lieferten. Zunächst hatte man die Freiboote für eine gute Idee gehalten -kleine funkgesteuerte Wasserfahrzeuge mit Eigenantrieb, die vom Barrier Command nach Kinsale, Howth, Liverpool und in andere Stationen geschickt wurden und Zeitungen, Lebensmitteln, Alkohol, Handfeuerwaffen, Munition und Kleidung anlandeten - und die Boote wurden nach erfüllter Mission durch ein einfaches Funksignal zerstört. Finn Sadal ... Grenzschutz-Gänger. Prescott erinnerte sich an Einzelheiten, die er aus Berichten 338 über das Verhalten der Finn Sadal erfahren hatte, und es schauderte ihn. Aber das? - Tributzahlungen? Dublin drohte damit, man werde die Finn Sadal von den Küstenschutzstellungen abziehen und >aktiv< versuchen, andere Gebiete außerhalb der Grenzen zu verseuchen, falls man ihren Wünschen nicht entsprechen sollte. Prescott überflog die Seite, die er aufgeschlagen hatte. Irland wollte allen Ernstes Reparationen für die Plünderungen durch die Wikinger. All die unschätzbaren Raubsammlungen in den Museen Dänemarks, Norwegens und Schwedens sollten nach Irland zurückgeführt und auf Freibooten >nach Hause< zurückgebracht werden. »All der Reichtum, den uns die Barbaren gestohlen haben, wird im Armagh begraben werden«, sagten die Iren. Begraben? Es war dann die Rede von einer großen Zeremonie, die von heidnischen Untertönen nur so strotzte. Norwegen und auch Schweden hatten sich sofort bereiterklärt, die irischen Forderungen zu erfüllen, aber die Dänen verrieten gewisse Anzeichen der Zurückhaltung. »Wenn Irland jetzt das verlangt, was fordert es dann als nächstes?« Diese verdammten, besitzgierigen Dänen! Prescott krakelte eine Notiz an den Rand des Bogens: »Erklärt den Dänen, daß sie überstimmt wurden. Entweder die spielen mit, oder wir erledigen die Sache auf die unsanfte Art!« Er kritzelte seine Initialen darunter. Natürlich würde man den Befehl ein bißchen diplomatischer verbrämen müssen, aber die Dänen hatten ja ein gutes Gespür für die stahlharte Entschlossenheit hinter diplomatisch doppelzüngigem Gewäsch. Kleinere Nationen mußten sich schließlich dieses Gespür schon recht früh zu eigen machen. Auf den ersten Blick waren die Forderungen Englands noch absurder. Sie erfolgten zwar nach der Radiosendung der Iren und sie waren weitaus höflicher abgefaßt, aber hinter ihnen verbarg sich eine ganz ähnliche Drohung. 339 Büchereien ... »Wenn einmal diese Zeit nur noch eine bittere Erinnerung sein wird, wollen wir die Nation sein, die über die Schätze des geistigen Wissens verfügt - Bücher, Manuskripte, Karten, Dokumente religiösen Charakters, Entwürfe von bildenden I Künstlern und Skizzen von Malern. Und wir wollen die Originale in Besitz nehmen, wo immer sie sich derzeit befinden mögen. Wir gestatten die Anfertigung brauchbarer Kopien ...« Die Security-Analytiker des Präsidenten hatten den Text als raffiniert weitsichtig< bezeichnet. Schließlich würden die >zivilisierten< Nationen der Erde es sich sehr genau überlegen, bevor sie dann eine derartige Ansammlung von Senatzen in Rauch und Flammen aufgehen lassen würden ... falls es je dazu kommen sollte. Das einzige Problem war nur, daß es jetzt nicht mehr eine Erde der >zivilisierten< Nationen war. Prescott nahm sich die Seiten mit den Tributforderungen für den Sektor England vor und schrieb oben auf die erste:! Seite: >Genehmigt<. Dahinter seine Initialen. Libyen hatte sich dem Rundum-ABSCHLAGSPIEL nicht angeschlossen ... Aber es war halt sowieso fraglich, ob es in Libyen noch so etwas wie eine Zentralregierung gab. Die Satellitenberichte gaben an, daß das Land zerstört sei, die Bevölkerung .wahrscheinlich auf eine minimale Zahl der ursprünglichen reduziert ... und wie hoch konnte die schon gewesen sein? Drei Millionen? Dieses ganze Nordafrika war ein Schutthaufen. SterilisationsSicherheitstrupps (man hatte sie als >die neue SS< bezeichnet) hatten die Atomfackel an jedes bewohnte Gebiet an den Grenzen Libyens und quer durch das Land von Suez zum Cap Blanc gelegt. Sie waren die Vorhut des Barrierenkommandos gewesen, das mit Kobaltsterilisation die zum Untergang verurteilten Landstriche zur >Entsorgung< vorzubereiten hatte. Und was war mit Israel los? Prescott schob die Akte mit dem Etikett >Brasilien< beiseite. Die Sache würde er, beschloß er, mit zum Dinner nehmen. 340 Aber Nordafrika blieb immer noch vorrangig ein Sorgenproblem. Im Tschad und im Sudan drängten sich die Überlebenden in Massen, und was sich da anbahnte, war ganz deutlich. Sie standen kurz vor dem Ausbruch einer neuen djihad, eines neuen Glaubenskrieges. Neutronenbomben? Sind sie die einzige Antwort darauf? dachte prescott. Das Gebiet lag ja eigentlich außerhalb der von O'Neill bestimmten Grenzen. Und was machte es jetzt schon noch für einen Unterschied, daß dieser O'Neill den Einsatz von Atomwaffen in Libyen ausdrücklich untersagt hatte? Es gab dieses Land einfach nicht mehr als politische Größe.
Der Nachrichtenkoordinator in der Sendung der >Letzten Nachrichten< im TV hatte offensichtlich noch nichts von den neuesten satellitenübertragenen Informationen des Präsidenten gewußt, aber irgendwas hatte er wohl bereits läuten hören. »Aus diesem Land dringt uns nur ein erschreckendes Schweigen entgegen.« Prescott schob die Akte mit den Tributforderungen beiseite und überflog noch einmal mit angewidertem Gesicht dieses Wortgewäsch, das da auf Papier vor ihm lag. Konnte auch nur einer dieser Phrasenwürmer bis zum Kern der Katastrophe vordringen? Rotchina schien das indische Problem unter Kontrolle zu haben. Aber der ätzende Konflikt zwischen China und den Sowjets, diese Glaubensspaltung, existierte weiter. Daraus würde er einen Hauptpunkt bei dem folgenden Arbeitsessen machen. Er warf einen Blick auf die Uhr: immer noch fast eine halbe Stunde. Krieg in Ostasien das wäre dann die endgültige absolute Katastrophe: Flüchtlinge, der Zusammenbruch der Zentralkontrolle, keine Möglichkeiten mehr, ein scharfes Kontroll- und Isolationsnetz über die Fluktuation von unglaublichen Menschenmassen zu breiten. Der Präsident wurde sich plötzlich wieder bewußt, wie höchst prekär die Situation des Menschen auf dieser Erde war. Auf einmal spürte er eine Verkrampfung in der Brust. Er 341 bekam nur noch keuchend und mit Mühe Luft. Diese Etiketten auf den Akten vor ihm gewannen auf einmal so etwas wie ein Eigenleben, die Buchstaben blähten sich auf und schienen zu brennen, und jeder einzelne beschwor vor ihm nur neue Vernichtungsmöglichkeiten herauf. »Denver ... Ulan Bator ... Peronne ... Omsk ... Tsien-po ... Luanda ...« Sehr langsam schwand dieses Gefühl der Bedrängung. Er dachte kurz daran, ob er nicht besser seinen Leibarzt rufen solle, doch ein erneuter Blick auf die Uhr sagte ihm, daß er nicht mehr genügend Zeit haben würde, ehe er sich dem Dinnerproblem stellen mußte. Wahrscheinlich nur so 'ne Geschichte mit erhöhtem Blutzucker, dachte er. Dann konzentrierte er sich wieder auf die Akte. >Sukzessiv-Probleme< ...? Doch, da lag ein dickerer Hund begraben. Was für Garantie hatte man, daß Irland oder England einen eventuellen wissenschaftlichen Durchbruch weltweit verkünden würden? Und wenn eins der beiden Länder ein Gegenmittel finden würde und dann auf gut Glück die restliche Welt damit zu erpressen versuchte? Und wenn sich dieser sogenannte Verrückte O'Neill nun tatsächlich irgendwo in England oder Irland versteckt hielt ... Ja, solche Fragen würde er bei dem gräßlichen Abendessen aufwerfen müssen. Und auch, daß die Zahl der Agenten, die sie in diesen beiden Ländern plaziert hatten, keineswegs ausreichend sei. Man würde irgendeine neue Methode der Direkt-Überwachung finden müssen. Der Summer unter der Schreibtischplatte gab zwei energischfordernde Piepser von sich. Also standen die jetzt da draußen und warteten auf ihn. Der Präsident stemmte sich mit beiden Händen vom Tisch hoch und stand auf den Beinen. Aber während er sich auf den Beinen ins Gleichgewicht zu bringen versuchte, packte ihn krallend eine würgende Hand, die ihm die Brust zu zerdrücken schien. Das Zimmer um ihn nahm plötzlich den Charakter einer Unterwasserszene an, es schwamm und 342 schwankte und kreiste um ihn herum. Er vernahm weit entfernt ein zischelndes Geräusch, ein Klingeln, das sein Bewußtsein zu sprengen drohte. Und er nahm nicht die Spur eines körperlichen Hinabstürzens wahr - nur dieses selige Gefühl des Nichtmehrbewußtseinmüssens, mit dem alle Angst verschwand ... und den Blick auf den Beistelltisch neben dem Präsidentenschreibtisch: dieser hölzerne Pfeiler mit Messinggaloschen, und das Holz von tiefen Kratzern zerfetzt, wo einst die Sporen von Andrew Johnson sich in das Rosenholz gegraben hatten. Gewalt und Frömmigkeit können keine Verbindung eingehen. Sie sind nicht aus dem gleichen Stoff. Nichts ist den beiden gemeinsam: nicht Freude, nicht Leiden, nicht einmal der lebendige Tod, den manche fälschlicherweise für Frieden halten. Das eine entspringt der Hölle, die Freude aber kommt vom Himmel. In der Frömmigkeit gewinnt ihr die Gnade; mit der Gewalt bleibt sie euch ewiglich versagt. Predigt des Pater MICHAEL John fühlte sich seltsam und irgendwie am falschen Ort, als er sich an diesem Abend in einem Zimmer im Obergeschoß des Häuschens der Gannons schlafen legte. Saubere Bettücher und eine klumpige Matratze. Als Beleuchtung hatte er einen kurzen Kerzenstumpen, und das Zimmer roch nach Seife und nach irgendeinem Blütenparfüm. Es gab einen einzigen Holzstuhl, eine niedrige Konsole und einen hohen Kleiderschrank, der ihn irgendwie an den im >Hotel Normandie< erinnerte. O'Neill-im-Kopf hatte sich beruhigt, war tiefer hinabgetaucht, war ganz fern ... und John fühlte es: er war befriedigt. Er hatte gesehen, was nötig war. Während er sich auszog, dachte John noch einmal über das Saufgelage nach dem Abendessen nach. Sie hatten weiterge343 trunken, nachdem man im Wohnzimmer einen Kräutertee zu sich genommen hatte. In der Küche hockten Herity und Murphey einander am Tisch gegenüber, schütteten Glas um Glas in sich hinein und starrten sich gegenseitig
mit einer merkwürdigen Intensität an. Der Priester hatte den stummen Jungen zu Bett geschickt und sich an der Schmalseite des Küchentisches niedergelassen, so weit wie möglich von den Trinkenden entfernt, aber seine Augen hatten sich an den Gläsern festgesaugt, nicht an den Gesichtern der Männer. Gannon hatte die anderen Kinder ins Bett geschickt und sich ans Geschirrspülen gemacht. John brachte seine leere Tasse aus dem Wohnzimmer und j reichte sie ihm, dann setzte er sich an die Seite des Priesters. Als sein Blick das Brandmal auf der Stirn des Mannes streifte, fiel ihm wieder die Sache mit seiner Familie ein. »Wo sind ihre Brüder jetzt, Pater Michael?« Der Priester schaute John mit einem gehetzten Blick an. »Sie sagten doch, Sie hätten noch zwei Brüder.« »Von Matthew habe ich seit dem Ausbruch der Pest nichts mehr gehört, aber er lebte in Cloone, und das liegt ziemlich weit entfernt. Und Timothy ... Mein kleiner Tim hat sich eine Hütte beim Grab seiner Frau in Glasnevin gebaut, und dort schläft er jetzt.« Murphey räusperte sich. Sein Blick folgte starr dem leeren Whiskykrug, den Gannon gerade zur Spüle brachte. »Wir wem die Sssache schschon hinkriehn, bei Gott! Ich weissch, wir wem esss hinkrien!« Er ließ seine verschwiemelten Augen über den Tisch gleiten. »Wo isschen mein Kennessch?« »Schlafen gegangen«, antwortete Gannon. »Ich wer' noch mein' Enkelssohn auffen Knien reiten lassschn«, sagte Murphey. »Alle hängen sie solchen Träumen nach«, sagte Gannon, an das Abtropfbord gelehnt. »Bis dann irgendwas kommt und sie umwirft. Es ist der Traum von der persönlichen Unsterblichkeit - vom Sieg über die Zeit. Manche lassen sich von Religionen kapern oder versuchen einen kühnen Vorstoß in die >Geheimnisse des Universums<, oder sie leben mit einer 344 Hoffnung auf irgendwelche magischen Geister, die ihnen wohlgesonnen sind. Es ist alles ein und dasselbe.« John konnte sich vorstellen, wie Gannon vor seinen Studenten in einem Hörsaal stand und derartig inhaltsschwangere Sätze mit demselben pedantischen Ton von sich gab. Er war sicher, Gannon hatte diese Worte oft genauso gesagt. Murphey schaute seinen Schwager mit betrunkener Bewunderung an. »Was für Weisschheit in dem Mann ssschteck'!« Herity lachte lautlos. »Wißt ihr, wie die Yanks das nennen, was euer Perfesser da als Geistermagie bezeichnet? Sie nennen das ... sie nennen es >die süße Blondine in dem Cadillac<, die dich für 'nen Prinzen hält!« Vor Lachen verschüttete er einen Teil des Selbstgebrannten aus dem Glas. »Es gibt noch mehr Varianten«, sagte Gannon. »Die magische Zahl, der richtige Einsatz auf das magische Pferd im Sweepstake, der verborgene Schatz, über den man in seinem eigenen Hinterhof stolpert.« »Ja, aber so was passiert«, sagte Murphey. Gannon lächelte trüb. »Ich glaub, ich werde jetzt mal zu den Gräbern runtergehen. Wo hast du die Laterne hingetan, Wick?« »Aufer Hintertreppe.« »Würde es Ihnen was ausmachen, mit mir zu kommen, Pater Michael?« bat Gannon. »Ich glaube, ich warte bis zum Morgen und spreche dann den Segen über sie«, antwortete der Priester. »Hat keine Lust, nachts Gräber zu besuchen, unser ehrwürdiger Pater Michael«, sagte Herity. »Zu viele Gespenster überall! Und die treiben sich in dieser schlimmen Zeit im ganzen Land rum, wie?!« »Es gibt keine Gespenster«, sagte der Priester. »Es gibt Seelen und Geister ...« »Aber sicher, und wir alle wissen ja, daß es Hexen gibt, nicht wahr, Pater Michael, und Hexenmeister?« Herity grinste den Priester mit eulenhaft aufgerissenen glasigen Augen an. »Und dann erst die faeriesl Was issen mit denen?« 345 »Sie können träumen, wozu Sie Lust haben. Ich gehe jetzt jedenfalls zu Bett«, sagte der Priester. »Das erste Zimmer rechts, gleich oben an der Stiege, Pater«, sagte Gannon. »So Gott will, werden Sie im Schutz der Engel schlafen.« Gannon drehte sich um und trat aus der Küchentür. Einem plötzlichen Impuls gehorchend, folgte John ihm. Gannon zündete gerade mit einem langen Küchenstreichholz die Kerze in einer hohen Sturmlaterne an. Der Himmel war wolkenschwer, und in der Luft hing ein Hauch von sich sammelndem Nebel. »Sagen Sie mir eins, Mister O'Donnell, begleiten Sie mich nur, weil Sie befürchten, ich könnte da draußen noch weitere Waffen versteckt haben?« »Ich habe keinerlei Befürchtungen«, sagte John. »Und um Herity kümmern Sie sich besser nicht. Er lebt geradezu von seinem Argwohn.« »Ein echter Söldner, der Mann«, sagte Gannon. »Der ist ein Provo, oder ich hab keine Nase. Ich kenne diesen Typ!« Auf einmal verspürte John eine große Leere im Magen. Herity ... sollte der einer von den Leuten der Provisional
IRA sein ... Aber Gannon hatte so überzeugend geklungen. Also gehörte Herity zu den Leuten, die Bomben bauten und Terroranschläge verübten wie den, bei dem unschuldigerweise seine Familie getötet worden war: Kevin und Mairead und Mary O'Neill? »Ich ... ich will mein Herz öffnen und beten, wie ich nie zuvor in meinem Leben gebetet habe, daß Sie .. .daß Sie gesund und sicher nach Killaloe gelangen und ein Gegenmittel gegen die Pest finden«, sagte Gannon. Als John am nächsten Morgen in dem kalten Zimmer erwachte, trat er ans Fenster und schaute zu dem Steinkreis mit den Gräbern hinüber. Sie lagen genau in seiner Blickrichtung, an der Ecke der zweiten Kate vorbei. In der Nacht hatte die Gräberstätte gespenstisch gewirkt wie ein rath aus der Vorzeit - in dem gelblichen Schimmer 346 aus Gannons Laterne. Das Schweigen war bedrückend gewesen. Eine Eule, ein Kauz war an ihnen vorbeigeschwirrt, aber Gannon hatte nicht einmal den Kopf gehoben und stumm weitergebetet. Als sie ins Haus zurückkehrten, saß nur noch Herity am Küchentisch. Er saß still da und ganz in sein halbvolles Glas versunken. Und da war John der Gedanke gekommen, daß Herity wahrscheinlich eines von diesen irischen Wunderkindern war, die sich mörderische Mengen von Alkohol durch die Gurgel jagen können und denen man kaum etwas davon anmerkt. Dies zu wissen war gut. John sah Herity auf einmal in einem ganz neuen Licht, seit Gannon dies über ihn gesagt hatte: ein Provo, ganz ohne Zweifel. »Was bin ich froh, daß Sie sicher aus der Gespensternacht zurück sind«, sagte Herity. »Es gibt da wilde Tiere draußen, wie Sie wissen.« »Ein paar herumstreunende Schweine«, sagte Gannon. »Ich hab eigentlich mehr die zweibeinige Sorte gemeint«, sagte Herity. Er trank sein Glas leer. Dann stand er langsam und um Haltung bemüht auf und sagte: »Ins Bettchen, Kinder, zum Schlaf der Gerechten - und Toten! Ich schenk euch den Schlaf - und wie jeglichem Schaf 'ne kleine Kugel am Morgen, dem roten.« Er befingerte zärtlich die Maschinenpistole, die immer noch vor seiner Brust hing. Als John dann in der Morgendämmerung an seinem Fenster stand, sah er auf einmal eine Gestalt durch die untere Weide streifen. Die Gestalt blieb an den Gräbern stehen. Es dauerte einen Moment, dann erkannte John Herity, dann sah er die MP, die sichtbar wurde, als der Mann hinter die Steinumfriedung trat und zum Haus herüber spähte. Herity trug einen grünen Überwurf. Hat er aus seinem Rucksack geholt, dachte John. Eilig zog er sich an. Von unten hörte er Geräusche und Stimmen von Menschen, die da sprachen und mit etwas beschäftigt waren. Er roch Speck, der in einer Pfanne gebraten 347 wurde, er roch dieses Kräutergebräu, das sie als >Tee< servierten und den schwelenden Rauch von einem Torffeuer. Das Frühstück fand unter Schweigen statt. Gekochte Eier und Backpulverbrot. Murphey präsentierte sich, mit klaren hellen Augen, als hätte es die Besäufnis der vergangenen Nacht nicht gegeben. Er blinzelte vergnügt, als er das Essen auf seinem Teller sah, den Gannon ihm zuschob. Nach dem Frühstück stapften sie alle hinter Pater Michael her, der zu den Gräbern ging, um den versprochenen Segen zu sprechen. Die Luft war noch kalt und dunstig, der Morgen voll grauen Lichts, das durch eine dichte Wolkendecke sickerte. John ging als letzter, der stumme Junge vor ihm. Der Junge zog den blauen Anorak an der Kehle fest zusammen. John war auf einmal sehr interessiert zu sehen, wie dieser Stumme auf das seltsame kirchliche Ritual reagieren werde. Hier lagen Frauen begraben ... Hatte der Junge die Beerdigung seiner Mutter miterlebt? In John rührte sich nicht das geringste Gefühl, während er darüber nachdachte. Seit dem gestrigen Abend, seit O'Neill sich spürbar zurückgezogen hatte, war John irgendwie innerlich kalt geworden. O'Neill hatte die Menschen mit seinem Zorn gestraft, die ihm Böses angetan hatten ... er hatte es durch die getan, die seine Nachfolger sein sollten. Durch mich, dachte John. Aber hatte sich O'Neill solch eine Szene jemals ausgedacht? Es kam keine Erinnerung an etwas Ähnliches, kein innerer Filmstreifen als Gedächtnishilfe. Eiskalt war ich, als ich das getan habe ... Kalt und mörderisch zur Rache entschlossen ... und es kümmerte mich nicht, wen ich vernichtete ... Ja, damals war nichts wichtig gewesen - außer der Tatsache, daß man zurückschlagen muß ... Der Priester war mit seinen Totengebeten fertig. Er schaute Gannon an und sagte: »Ich werde nun für Sie und für Ihre Lieben beten.« Gannon hob schlaff die rechte Hand und ließ sie wieder fallen. Dann drehte er den Gräbern den Rücken zu und 348 stapfte langsam, als schmerze ihn jeder Schritt, zu den zwei Katen zurück. »Na, dann los, Pater Michael«, sagte Herity. »Unser Mister Gannon hat uns Proviant für den Weg versprochen. Und wir müssen Mister O'Donnell nach Killaloe schaffen, und das ist 'ne ganz schön lange Strecke über die Berge.« Daraufhin legte der Priester dem stummen Jungen die Hand auf die Schulter und folgte Gannon. Murphey und
die drei anderen Jungen schlössen sich an. »Mister Murphey, wie wäre es mit 'nem Brocken von dem Schwein? Für uns auf den Weg?« fragte Herity. Murphey blieb stehen, drehte sich um, und Herity begann den Hügelhang hinaufzutraben. Aus verschiedenen Richtungen strebten die beiden Männer dem Kuhstall zu. John ging mit den anderen zum Häuschen zurück. Was machte der Herity da bloß? Er konnte doch nicht auf einmal eine wilde Sehnsucht nach Schweinefleisch entwickelt haben. Es war also etwas anderes. Gannon war in der Küche schon eifrig tätig, und der Priester half ihm, als John eintrat. Es war angenehm warm in der Kate nach der Frostluft im Freien. Auf dem Küchentisch stand ein großer militärisch wirkender Feldstecher. »Ich hab mein Fernglas dem Pater geschenkt«, sagte Gannon. »Wick hat seins mitgebracht, als er aus Cork hierherzog, und zwei Paar brauchen wir hier ja nicht.« Der Priester seufzte. »Es ist die traurige Wahrheit, John, aber je weiter voraus wir sehen können, desto sicherer wird unser Weg sein.« Gannon hatte einen kleinen blaugelben Wandervogelrucksack gefunden, an dem ein Tragriemen geflickt war. Er schichtete mehrere Scheiben Sodabrot zu einem Nest und verstaute frische Eier darin. »Ich hab auch noch ein Glas Süßkonfitüre und 'ne Handvoll Schweineschmalz. Ich hab oben Platz für das Schweinefleisch gelassen, wenn Wick es bringt«, sagte er. 349 »Sie sind ein mildtätiger Mann, Mister Gannon«, sagte der Priester. Gannon nickte dazu und blickte danach John an. »Mister O'Donnell, ich werde weiterbeten, daß Sie sicher nach Killaloe gelangen und daß uns dort Ihre Hände Hilfe bringen. Sie sind in der Zeit unserer größten Not zu uns über das Wasser gekommen, und ich möchte nicht, daß Sie unsere Art mißverstehen, sondern daß Sie begreifen, wie tief dankbar wir sind, daß Sie zu uns kamen.« Der Priester war eifrig damit beschäftigt, die Nahrungsmittel in dem Sack zu verstauen, und schaute weder zu John noch zu Gannon hin. »Heute morgen habe ich mit Mister Herity gesprochen«, sagte Gannon, »und jetzt verstehe ich besser die etwas seltsame Zusammensetzung Ihres Trupps. Er hat mir von der betrüblichen Behandlung berichtet, die Ihnen die Strandjungs angedeihen ließen. Ich glaube, es gibt da Meinungsverschiedenheiten bei der Soldateska über die Art, wie man Sie empfangen hat, wo doch Irland ein Wissen wie das Ihre so dringend nötig hat, besonders jetzt. Ich glaube, Herity ist gekommen, um Sie sicher nach Killaloe zu geleiten. Er ist ein ungehobelter Kerl, aber manchmal sind eben solche Leute nötig.« John rieb sich die Bartstoppeln am Kinn, während er überlegte, was er auf diesen pedantischen Ausbruch antworten solle. Dann kamen Herity und Murphey herein. Herity hatte seinen Rucksack übergestreift, auf nur eine Schulter, die linke, die Maschinenpistole lag in der Beuge des rechten Armes. »Die Sau fängt schon an zu verderben«, sagte Murphey. »Zu dieser Jahreszeit wäre halt Eis nötig«, sagte Herity. John schaute die beiden Männer an, er spürte, daß da irgendein unmerklicher Wandel vor sich gegangen war in ihrem Verhalten zueinander. Es schien eine Art geheimes Einverständnis zwischen ihnen zu herrschen. »Es ist 'n langer Marsch«, sagte Herity, »also machen wir uns besser auf den Weg.« Er warf dem Priester einen Blick zu, 350 der dabei war, den blaugelben Rucksack in seinen größeren zu verstauen, und sich anschickte, diesen zu schultern. »Rufen Sie den Jungen, Pater, und dann brechen wir auf!« »Er kann aber gern hierbleiben« sagte Gannon, »wenn Sie ...« Der Priester schüttelte den Kopf. »Nein, es ist besser, er geht mit uns.« »Der fromme Pater hat 'ne ganz besondre Zuneigung zu dem Kerlchen entwickelt«, sagte Herity. Es klang wie die Anspielung auf etwas Schmutziges, und Herity grinste unverschämt, als er es sagte. Mit finsterem Gesicht nahm der Priester seinen Rucksack und ging wortlos an Herity vorbei aus der Tür. Sie hörten ihn nach dem Jungen rufen. John ging ihm nach. Er fühlte sich durch Heritys Betragen merkwürdig verstimmt. Aber was mache ich mir Gedanken darüber, wie er mit dem Priester umspringt? fragte er sich. Auch nachdem sie sich verabschiedet hatten und den Feldweg zur Straße auf dem Hang hinaufgestiegen waren, rätselte er weiter an der Geschichte herum. Als sie hinter ein schützendes Gehölz gebogen waren und man sie von den Katen her nicht mehr sehen konnte, befahl Herity Halt. Der Himmel leuchtete bereits etwas heller, es zeigten sich sogar kleine Flecken Blau. John blickte den Weg zurück, den sie heraufgestiegen waren, dann zu Herity, der in seinem grünen Rucksack kramte. Herity zog einen kleinen Revolver mit kurzem Lauf hervor, eine Schachtel Munition. Die Waffe glänzte ölig. »Ein Geschenk von Mister Murphey«, sagte er. »Bloß 'ne fünfschüssige Smith & Wesson, aber in Ihrer Tasche hat sie gut Platz, John. Man ist in diesen Zeiten besser bewaffnet.« John nahm den Revolver entgegen. Er fühlte sich kühl und fettig in der Hand an. »In die Hüfttasche, und ziehen Sie den Pullover drüber! Ja, so ist's richtig.«
»Murphey, sagen Sie, hat Ihnen das Spielzeug gegeben?« fragte John. 351 Herity reichte ihm die Schachtel Munition. »Jawohl. Stecken Sie das da in die Seitentasche. Sie hatten da zwei davon, und Gannon wußte nichts von ihnen. Die andere ist ein schweres Monster von 'nem Colt, und die würden Sie nicht mit sich rumschleppen mögen, weil das Ding schwer wie'n Bleirohr ist und gar nicht so brauchbar.« Herity streifte den Rucksack wieder über die Schultern und wollte sich gerade wieder zum Gehen anschicken, blieb aber abrupt stehen, als hinter ihnen ein Schuß fiel. Der Priester wirbelte auf dem Absatz herum. Er wäre zu den zwei Katen zurückgelaufen, hätte ihn nicht Herity fest am Arm gepackt und zurückgehalten. Der Priester mühte sich, Heritys Finger aufzubrechen. »Vielleicht brauchen die unsere Hilfe, Joseph!« »Sie haben die Sache nicht durchdacht, Pater. Was für Möglichkeiten gibt es?« »Was wollen Sie damit ...« »Ein weiteres Schwein?« fragte Herity. »Ich habe ihnen ihre ganzen Waffen und die Munition zurückgegeben. Ist es ein Schwein, na gut! Dann werden die sich heute abend die Bäuche vollschlagen, besonders da Mister Gannon so gut kocht. Wenn es Marodeure sind, na, unsere Freunde da unten sind doch gut bewaffnet. Und das war ein Pistolenschuß, möchte ich Ihnen bloß sagen.« Argwöhnisch blickte der Priester sich um. Er lauschte. Das Gehölz um sie herum war still, man hörte nicht einmal einen Vogel rufen, und das Tal drunten lag noch im Morgennebel und war in urzeitliches Schweigen getaucht. »Und falls es Gannon war, der seinem Elend ein Ende machte, dann würden Sie ja nicht mal über seiner Leiche beten wollen«, fügte Herity hinzu. »Sie sind ein grausamer Mensch, Joseph!« »Ja, und das haben schon bessere Männer als Sie mir gesagt.« Herity kehrte ihm den Rücken zu und eilte den Pfad zur Straße hinauf. »Also, kommt jetzt!« Der stumme Junge schob sich an den Priester heran, zupfte ihn am Ärmel und blickte hinter Herity drein. 352 Fasziniert beobachtete John, wie die Unentschlossenheit auf dem Gesicht des Priesters sich in Resignation verwandelte und wie er sich von dem Jungen hinter Herity den Pfad hinaufführen ließ. John faßte hinter ihnen Tritt. Die Pistole fühlte sich schwer und ungewohnt in der Gesäßtasche an. Warum hatte Herity ihm die Waffe gegeben? Als Zeichen, daß er ihm traue? Und hatte Gannon die Lage richtig beurteilt? War Herity dazu abkommandiert, ihn zu dem Killaloe-Labor, zu eskortieren? Aber warum hatte er das dann nicht gesagt? Und warum schleppten sie den Priester und den Jungen mit? An der Straße blieb Herity stehen, um auf sie zu warten. Er schaute nach links, wo die Straße parallel zur Talsohle verlief, bevor sie zu einem weiteren baumbestandenen Paß weiter oben abbog. John blieb neben Herity stehen. Die in diffuses Licht getauchte Landschaft verwirrte ihn, das Muster dieser Landschaft zwang seinen Augen sozusagen ein Schema auf: der Flickenteppich von Acker und Gehölz in mittlerer Entfernung, ein Bach mit Weiden dort, dann entferntere Felder hinauf zu dem schmalen grauen Splitter, den die Straße bildete, die zum Paß hinaufführte. Die Wolken im Westen bildeten eine blaßrosa Grenzlinie für diese Szenerie. Herity sagte: »Das Land da trägt unsere Geschichte auf der flachen Hand.« Er streckte den Arm aus. »Die Schneise dort oben - O'Sullivan Beare und der erbärmliche Rest seines Heeres sind dort durchgezogen.« Etwas in der Stimme Heritys nahm John gefangen, zwang ihn, die Landschaft so zu sehen, wie Herity sie sehen mochte - ein Land, über das Armeen hin und her marschierten, wo vor nicht allzu langer Zeit vogelfreie Männer auf der Flucht vor den schwarzbraungefleckten Terriern durch die Finsternis gelaufen waren und Unterschlupf in den Hütten, der Armen gefunden hatten. Opa Jack McCarthy hatte die Geschichte oft und immer wieder erzählt und jedesmal geendet: »Es ist nun mal das Schicksal der Iren, daß sie immer zwischen Pontius und Pilatus hinund hergetrieben werden.« 353 Der Priester machte einen Bogen um Herity und begann stramm die Talstraße entlangzugehen. Der Junge trabte hin und wieder ein Stück, manchmal sprang er hoch und riß sich Blätter von herabhängenden Ästen. Herity wartete, bis die zwei fast hundert Meter vor ihnen waren, dann nickte er John zu und setzte sich in Bewegung. »Sicherer, wenn wir 'n bißchen Raum zwischen uns lassen.« Er deutete mit der MP auf die zwei Gestalten vor ihnen. »Schauen Sie sich bloß diesen verrückten Pfaffen an, bitte-sehr! Der will aus dem kleinen Burschen auch nur wieder so einen schwanzlosen Kuttenbrunzer machen. Und der Junge, der will bloß, daß seine tote Mammi zu ihm zurückkommt, wie Lazarus äussern Grab.« Aus den Augenwinkeln beobachtete Herity John. Er lauerte geradezu auf die Reaktion, auf seine Worte, aber es kamen keine. Na schön, es würde bald an der Zeit sein, ohne Bandagen zu kämpfen. Er dachte an die Nachricht, die er Wick Murphey hinterlassen hatte, damit der sie an den Reiterposten der Finn Sadal übermittle, von wo sie nach Dublin weitergeleitet werden würde. Ich habe ihn überzeugen können, daß man ihm vollkommen vertraut. Wir führen ihn jetzt an McCrae's vorbei, um zu sehen, wie er darauf reagiert. Wird er versuchen, die Seuche weiter zu verbraten? Informiert Liam, er soll
auf der Hut sein, wenn er uns weiterreicht. Das sollte Kevin O'Donnell zu denken geben, dieser raffinierte Plan! »Warum nennen Sie Pater Michael wieder verrückt?« fragte John in Erinnerung an die Kuttengestalt in der Kleiderhütte. Waren inzwischen alle Geistlichen wahnsinnig geworden? »Weil er total verrückt ist!« sagte Herity. »Ich hab 'nen Freund, ein gewisser Liam Cullen, der nennt die bloß die >Lucans der Liturgie<, aber der macht immer gern solche Wortspiele.« »Lucans der Liturgie?« fragte John. »Was soll denn das be ...« Er brach ab, weil er über einen Stein stolperte, fing sich aber wieder. 354 »Was, Sie haben nichts von Lucan-dem-Scheusal gehört? Der was den Angriff der Leichten Brigade befohlen hat? Nicht zu verwechseln mit Patrick Searsfield, dem Earl of Lucan, der nach Boyne Limerick verteidigt hat. Und als er seine Irische Brigade dem König Louis von Frankreich zuführte, haben die die Coldstream Guards in der Schlacht von Fountenoy geschlagen.« »Die Wildgänse«, sagte John. »Aaahh, also wissen Sie über die Brigade Bescheid. Aber es ist der andere Lucan, den mein Freund Liam meint, der Kerl, der vierzigtausend irische Bauern von ihrem Land verjagt hat - und die meisten davon in den Tod getrieben. Und was steht darüber in englischen Geschichtsbüchern? Sechshundert britische Bastarde - und die meisten davon so dumm, daß sie blindlings den Befehlen einer solchen grauslichen Bestie folgten!« »Aber was hat das mit den Priestern zu tun?« »Hören Sie sie denn nicht andauernd die Heilige Schrift im Maul kauen, wenn es um unsere Verzweiflung geht, um unsere Ausrottung? Gehorsam! Marsch ab ins Tal des Todes! sagen die Pfaffen. Rein mit uns! >Gebt euer Land auf!< sagt die Höllenbestie. Und wir gehen! Sie treiben uns alle dazu, uns selber umzubringen, und dann wollen sie nicht mal über uns beten. Und wir, wir blöken wie geduldige Lämmlein: >Ach, laßt uns doch ein Stückchen Erde, damit wir uns das Grab schaufeln können .. .< Nein, Liam hat recht: die Pfaffen sind Lucans der Liturgie!« John wandte den Blick ab und schaute in das niedere Gestrüpp zu seiner Linken, das Felsmäuerchen war hier teilweise schon mit Flechten überwachsen. Wie unablässig und genau ihn dieser Herity im Auge behielt! Wonach suchte der Mann? »Aber nur die, die gewillt sind, zurückzuschlagen, verdienen es, daß wir um sie weinen«, sagte Herity. »Haben Sie diesen Willen zurückzuschlagen, John?« John mühte sich, den Speichel, der wie in Klumpen in seiner Kehle saß, hinunterzuschlucken. Dann sagte er: »Sie se355 hen doch, daß ich hier bin. Ich hätte ja nicht zu kommen brauchen.« Aber ich habe kommen müssen, dachte er. Die Antwort schien Herity seltsam zu bewegen. Er klopfte John mehrfach auf die Schulter. »Richtig, richtig. Und hier sind Sie, mitten unter uns, die wir noch übrig sind.« Und warum bist du da? Herity schüttelte den Kopf. Er war sich bewußt, daß er unter der Annahme zu verfahren habe, daß der Mann da neben ihm O'Neill sei, der >Verrückte< persönlich. Und wenn er O'Neill war ... Herity zwang sich, der Möglichkeit endlich ins Auge zu blicken. Die Bombe, die wir gebaut haben, hat seine Frau und seine kleinen Kinder einfach ausgelöscht. Und er hat zurückgeschlagen! Soll seine Seele im Höllenfeuer braten! Aber dann begann Herity zu summen, und dann sang er halblaut: »Oh, meine schwarze Rosaleen! Du sollst nicht bangend weinen! Der Pfaff ist auf dem Meeresgrün Marschiert tief unten bei den Steinen.« Dann brach er plötzlich ab und starrte John prüfend an. Dieser Kahlkopf da an seiner Seite, die Schattengestalt vor dem Dunst, der aus dem Tal heraufstieg, das hagere bärtige Gesicht - und nicht die geringste Gefühlsregung war darin abzulesen. Herity seufzte. Dann schritt er eine Weile schweigend weiter. Dann aber beschleunigte er auf einmal den Gang und zwang John so, sich ihm anzupassen. »Überall marschieren sie, diese Pfaffen«, sagte Herity. Er nickte mit dem Kinn zu der schwarzgekleideten Gestalt vor ihnen. »Und die haben mehr als bloß Wein von 'nem Papstkönig im Gepäck. Obwohl, grad jetzt hätte ich ganz gern 'nen Tropfen von dem spanischen Glaubenssaft - nur so um ein bißchen Hoffnung zu schöpfen und mir das Herz froh zu machen.« 356 Mittlerweile wißt ihr, was meinen Zorn bewirkt hat. Nehmt ihn ernst! Erinnert Euch oft an die abgrundtiefe Ignoranz der Iren und der Engländer, an das Ausmaß, mit dem sie sich gegenseitig unablässig ins Elend stürzen. Denkt an die blutbefleckte Hand Libyens mit seinen Trainingslagern für Terroristen und den großzügigen Waffengeschenken. Wie könnte ich dulden, daß solche Narren weiterleben? JOHN ROE O'NEILL, aus dem Zweiten Brief Zu dem Treffen mit Rupert Stonar hatten sich fast alle Spitzenleute aus der Verwaltung und Forschung im
Direktionssaal des Verwaltungsbaus versammelt. Es war früher Morgen. Die Leute drängten sich auf den Fußwegen, die Regenschirme aggressiv vorwärts gerichtet, man hielt sich möglichst an die überdachten Passagen, um dem leichten Nieselregen zu entgehen, der bei Tagesanbruch eingesetzt hatte. Stonar war vierzig Minuten verfrüht eingetroffen, er hatte Wycombe-Finch beordert, seine Assistenten und dann auch Beckett vorab herbeizutelefonieren und dann zu Fuß aus seinem Arbeitsbüro zurückzulaufen. Er kam atemlos an, seine Tweedjacke wies dunkle Flecken auf, wo der Regen an seinem Schirm vorbei ihn getroffen hatte. Glücklicherweise hatten seine Assistenten für Kaffee und Croissants gesorgt, und dann gab es ein kurzes Vorspiel mit Stonar, während dessen beide in Erinnerungen an ihre Tage an der Public School schwelgten: >Wye< und >Stoney<. Wycombe-Finch hatte den Eindruck, daß Stonar sich kaum zu seinem bessern entwickelt habe, seit sie in die Oberstufe aufgerückt waren und sich darauf vorbereiteten, zu privilegierten Trägern der Bürde der Zivilisation zu werden. Stonar war damals ein vierschrötiger rotbackiger Junge mit wildem Haar gewesen, das fast wie nasses Werg aussah. Er hatte ein ziemlich eckiges Gesicht gehabt, fahlblaue, kalt beobachtende Augen darin. Und Stonar war seinem rotwangigen Typ treu geblieben, das weder braune noch blonde Haar war noch immer nicht zu bändigen, wenn dies auch inzwischen mehr nach 357 Absicht aussah. Die Augen waren womöglich noch eisiger. Der Neckname aus der Kinderzeit paßte nun noch genauer zu ihm: aus dem Stoney war ein Stein geworden. »Wir treiben die Leute in der Lounge zusammen, Stoney«, sagte Wycombe-Finch. »Es sollten inzwischen alle da sein. Ich habe kurz mit Bill Beckett geredet, und der müßte auch schon unterwegs sein.« »Ach, der amerikanische Kerl?« Stonar sprach mit einem voluminösen Bariton, der Spuren einer Rhetorikausbildung verriet. »Wirklich, er ist ein ganz bemerkenswerter Typ«, sagte Wycombe-Finch. »Kann unsere Arbeit Außenseitern prima erklären.« »Hat er etwas Definitives zu berichten?« Da haben wir den Salat! dachte Wycombe-Finch. Er fühlte deutlich die plötzliche Stille unter seinen Assistenten, die sich am Tisch an Kaffee und Hörnchen gütlich getan hatten. »Ich will ihm da nicht vorgreifen«, sagte er. »Hatte eigentlich damit gerechnet, Sie bei meinem Eintreffen hier in Ihrem Büro anzutreffen«, sagte Stonar. »Ich hab in einem Laborbau ein Arbeitsbüro«, sagte Wycombe-Finch. »Morgens ist 'ne gute Zeit, meinen eigenen Beitrag zur Sache zu leisten.« »Und was wäre wohl dieser Beitrag?« fragte Stonar. »Tut mir leid, es zu sagen, aber heute morgen war ich ziemlich lange damit beschäftigt, mich mit dem entsprechenden Typ in Irland zu unterhalten.« »Doheny? Dem Hund trau ich nicht!« »Nun, heute früh hat er mir jedenfalls ein paar recht interessante Informationen geliefert.« Wycombe-Finch berichtete sodann über Dohenys Enthüllungen bezüglich des als John Roe O'Neill verdächtigten Mannes. »Und Sie glauben die Geschichte?« fragte Stonar scharf. »Der Wissenschaftler wartet stets, bis er Beweise findet«, antwortete Wycombe-Finch. »Und da wir gerade davon sprechen, ich glaube, jetzt sind alle meine Leute da. Gehen wir rein?« 358 Er winkte einem seiner Assistenten zu. Dieser schritt ihnen voran und öffnete die Flügeltüren vor den Direktoren. Der Konferenzraum war ein angenehm unauffälliger Raum, entsprechend etwa dem Rauchsalon eines Londoner Clubs, nur etwas größer. Dunkle Holzpaneele, darüber eine schwarz- und braunbedruckte Stofftapete, bedeckten die Wände. Vier Fenster, vor denen jetzt die zur Tapete passenden Vorhänge zugezogen waren, und ein breiter Marmorkamin, in dem ein echtes Feuer flackerte, waren die einzigen Unterbrechungen an den Wänden. Schwere tiefsitzige Ledersessel von schimmerndem Rotbraun standen herum, an der einen Seite des Kamins befand sich ein langer Serviertisch aus dunkelleuchtendem Mahagoni, und dort und da wuchsen Standascher aus schweren Messingfüßen in die Höhe. Beleuchtet wurde der Raum von vier Kandelabern, die - so blödelte jedenfalls die Belegschaft - nach dem Modell des Raumschiffs aus Unheimliche Begegnung der Dritten Art konstruiert waren, und von einer Satellitenschar von Spotlights an den Wänden, die auf den Konferenztisch gerichtet waren, an dem sich Beckett inzwischen hinter drei säuberlich ausgerichteten Aktenordnern niedergelassen hatte. Die anderen Konferenzteilnehmer hatten sich bereits größtenteils in Sesseln abseits vom Tisch plaziert, sie wünschten offensichtlich nicht so sehr im Zentrum des Geschehens zu sein. Der Buschtelegraf funktioniert also prima, dachte Wycombe-Finch. Beckett erhob sich mühelos vom Präsidentensessel, als die Gruppe aus der Direktorensuite hereinkam. Man hörte leises Gerasche! im Raum. Da und dort räusperte sich jemand. An diesem Morgen sah Beckett wie ein rosiger, kernseifegewaschener Schuljunge aus, dachte jedenfalls Wycombe-Finch. Ein recht trügerisches Äußeres. Sie hatten nur wenig Zeit gehabt, um sich abzusprechen, aber er war sich ziemlich sicher, daß Beckett durchaus begriffen hatte, wie heikel die Situation sein würde. Wycombe-Finch übernahm die Vorstellung. Stonar und Beckett schüttelten sich über den Tisch hinweg knapp
die 359 Hand. Assistenten schleppten unauffällig Stühle für Stonar und den Direktor und verzogen sich dann in die entfernteren Winkel des Raumes. Einunddreißig Personen waren außer ihm noch hier versammelt, zählte Wycombe-Finch stumm ab. Er unternahm keinen Versuch, sie alle vorzustellen. Später vielleicht. An diesem Morgen fand keine Begegnung der Neugierigen mit den Mächtigen statt. Er befaßte sich damit, seine langstielige Pfeife zum Brennen zu bringen, dann nahm er auf dem Stuhl neben Stonar Platz. Wie durch Zauberei erschien hinter ihm eine Hand, schob ihm einen Aschenbecher vor die Nase. Er scheuchte den Assistenten fort, lehnte sein goldenes Pfeifenfeuerzeug an den Aschenbecher, behutsam und mit Bedacht, dann begann er: »Also, Stoney, ich weiß ja nicht, wieviel Einblick Sie in das haben, was wir ...« »Wye, lassen wir doch die wissenschaftliche Geheimnistuerei weg, was?« unterbrach ihn Stonar. Beckett beugte sich vor und sagt mit trügerisch ruhiger Stimme: »Die Worte unseres Herrn Direktors waren höflich und durchaus sachlich.« Aaahaah, dachte Wycombe-Finch. Jetzt hat Beckett eine Zielscheibe für seine Verärgerung gefunden. Das kann ja interessant werden - um es mal bescheiden auszudrücken! »Ach wirklich?« In Stonars Stimme rieselten Eissplitter. »Ich hätte mich nicht geäußert, wenn dem nicht wirklich so wäre«, sagte Beckett. »Wenn wir nicht wissen, wieweit Sie überhaupt in der Lage sind, unsere Arbeit zu verstehen, können wir nicht einmal damit beginnen, Sie zu informieren. Aber ich möchte gleich vorab betonen, daß ich es nicht für ein Manko halte, wenn jemand nichts über unsere Arbeit weiß. Eine schuldhafte Ignoranz sollte man nur jenen anlasten, die angesichts der Möglichkeit, etwas dazuzulernen, lieber unwissend bleiben.« Gut gebrüllt, alter Löwe! dachte Wycombe-Finch. Mit ausdruckslosem Gesicht lehnte Stonar sich auf seinem Stuhl zurück, nur der leicht zuckende Puls an seinem Hals 360 verriet seine Gefühle. »Man hat mir ja immer gesagt, daß Yankees recht dreist und ungestüm sind«, sagte er. »Also machen Sie weiter und erlösen Sie mich aus meiner Unwissenheit. « Beckett straffte sich. Diese hohepriesterliche Herablassung war genau das, was der Mistkerl braucht, dachte er. Erschüttere sein selbstgerechtes Gleichgewicht und laß ihn nicht wieder Fuß fassen. Wycombe-Finch hatte gesagt, der Mann sei wissenschaftlich ziemlich unbedarft, aber leidlich gut in Mathematik. Also konnte man annehmen, daß er ein paar Minderwertigkeitsgefühle hätschelte. Beckett ließ sich Zeit, als er die Ordner vor sich öffnete und den Inhalt ausbreitete. »Derzeit konzentrieren wir uns auf die enzymhemmenden Eigenschaften der Krankheit«, sagte Beckett. »Zweifellos sind Sie über die Arbeiten des kanadischen Forschungsteams unterrichtet. Wir interessieren uns dafür ganz besonders, weil das Fehlen eines Enzyms zur Absenz einer bestimmten Aminosäure führen kann, und weil die Veränderung in einer Aminosäure unter einigen dreihundert von ihnen zu einem tödlichen Zustand führen kann. Wir sind sicher, daß O'Neill bestimmte Aminosäuren blockiert hat, indem er die Strukturen unterband, aus denen sie sich bilden.« »Ich habe den Bericht der Kanadier gelesen«, sagte Stonar. Aber hast du Arsch ihn auch verstanden? fragte sich Beckett. Er sagte: »Schön. Dann sind Sie in der Lage zu begreifen, daß diese Seuche - wie wir inzwischen überzeugt sind - einen beschleunigten Alterungsprozeß hervorruft, einen ungeheuer schnellen, bei dem keine Zeit für die sonst üblichen Nebenerscheinungen bleibt. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf die weißen Verfärbungen an den Extremitäten lenken. Äußerst aufschlußreich das Faktum.« »Gene, die das Altern kontrollieren?« fragte Stonar mit einer plötzlichen intensiven Wißbegier. »Die Aktivität eines Gens hat mit der Bildung eines besonderen Enzyms zu tun, und das ist ein Protein«, sagte Beckett. »Die Gene kontrollieren den Aufbau der Aminosäuren in be361 stimmten Proteinen. Und wenn man bestimmte DNS-Verbindungen unfähig macht, ganz bestimmte Aminosäuren zu produzieren, kann das zu einer tödlichen Krankheit werden.« »Ich höre da immer was von RNS«, sagte Stonar, nun schon fast schüchtern. »RNS und DNS lassen sich etwa mit einer Schablone und dem fertigen Produkt vergleichen«, erläuterte Beckett. »Etwa wie eine Negativform und das dann aus ihr entstehende Positiv. Der mit der Krankheit infizierte Wirt produziert von der RNS gesteuertes Protein. Wenn Bakterioviren Bakterien infizieren, wird RNS gebildet, die der DNS des Virus entspricht, und nicht etwa der des Wirts. Und die Anordnung der Nukleotiden im neuen RNS-Molekül entspricht dann komplementär der Anordnung der RNS im Virus.« »Also hat der Kerl ein Virus benutzt, um die Sache zu übertragen?« fragte Stonar. »Er hat neue Bakterien mit einem neuen Virus gebaut. Äußerst feine Abgrenzungen in äußerst winzigen Strukturen. Es war eine hervorragende Leistung.« »Es erheitert mich keineswegs, wenn man das Lob dieses Kerls singt«, sagte Stonar mit ausdrucksloser Stimme. Beckett zuckte nur die Achseln. Wenn der Typ das nicht begreifen konnte, dann eben nicht. Er sagte: »O'Neill
hat Plasmide geschaffen, subzellulare Organismen, um ihre speziellen Koppelungseigenschaften zu nutzen, und hat sie beim Rekombinationsprozeß in Schlüsselstellungen eingebracht. Wäre der Mann nicht auf so fürchterliche Abwege geraten, seine Arbeit hätte ihm den Nobelpreis eintragen müssen ... Ein echtes Genie, aber getrieben von den wohl eher negativen Seiten menschlichen Strebens.« Stonar überging dies ohne Kommentar. Er fragte: »Sie haben da Nukleotide erwähnt.« »Nukleinsäuren sind die Moleküle, auf denen die Codierung geschrieben steht. Sie steuern die Proteinkonstruktion, und sie enthalten den genetischen Schlüssel für Erbeigenschaften. Genau wie die Proteine sind die Nukleinsäuren schwere Polymere.« 362 »Ich hab da so Gerüchte gehört, daß Sie hier Bedenken haben gegen das, was man die >Reißverschluß-Theorie< nennt«, sagte Stonar. Wycombe-Finch warf Stonar einen prüfenden Blick zu. Der Mann hatte also seine Spione auch hier in Huddersfield! Oder man zapfte die Telefonleitungen an! »DNS - also Desoxyribonukleinsäure - ist ein Doppelmolekül, bei dem sich die beiden Ketten spiralförmig, wendeltreppenartig, umeinanderschmiegen«, sagte Beckett. »Es ist eine gebogene Struktur, die sich auf ganz eigenartige Weise um sich selbst dreht und windet. Und wir halten diese Windungen für extrem signifikant.« »Und wie das?« »Dinge, die sich miteinander verkoppeln, tun das der ihnen zugrundeliegenden Gestalt entsprechend. Und die Windungen bieten einen Hinweis auf eben diese Gestalt.« »Raffiniert«, sagte Stonar. »Wir glauben, daß die Dinger sich wahrscheinlich so ineinander koppeln wie die Patentdruckknöpfe an Ihrem Winterregenmantel«, sagte Beckett. »Erst der eine Druckverschlußsatz, dann der zweite, der den ersten überlagert.« »Aber was kann diese Pest abwürgen?« fragte Stonar. »Außer natürlich - Feuer.« »Äußerst starke Ozonkonzentrationen scheinen den Krankheitsverlauf zu hemmen. Aber die Progression findet in Frauen wie Männern explosiv statt. Es hieße die Tatsachen verfälschen, wenn man das als nur biologisch aktiv bezeichnen würde.« Stonar zupfte an der Unterlippe. »Aber was für eine lebensnotwendige Geschichte blockiert dieses Zeug denn nun?« »Wir glauben, daß es das Vasopressin blockiert - unter anderem.« »Lebenswichtige Funktion, eh?« Beckett nickte. »Stimmt es, daß die Seuche auch Hermaphroditen, also diese Zwitter, umbringt?« fragte Stonar, und es klang, als 363 habe er gerade einen ganz besonders ungenießbaren und unappetitlichen Brocken ausgespuckt. »Physiologisch echte Hermaphroditen, ja«, sagte Beckett. »Das ist doch recht aufschlußreich, oder?« »Also, ich hab mir das so vorgestellt, daß das Bevölkerungsniveau danach in höchstem Maße eindeutig männlich und eindeutig weiblich sein kann, wenn diese ganzen Zwitter ausgemerzt sind.« Er räusperte sich. »Nun, das alles ist äußerst interessant, aber ich erfahre da überhaupt nichts Neues, nichts, was auf einen dramatischen Durchbruch oder eine fundamentale neue Erkenntnis Rückschlüsse zuließe.« »Wir sammeln immer noch Fakten«, sagte Beckett. »Zum Beispiel führen wir gerade eine Paralleluntersuchung durch zu Forschungsbestrebungen, gewisse Seuchensymptome zu untersuchen, die eine gewisse Ähnlichkeit zu denen der Neutropenie aufweisen.« »Neutro ... was?« fragte Stonar. Wycombe-Finch starrte Beckett an. Das war ja etwas ganz Neues! »Neutropenie«, begann Beckett zu dozieren, ohne daß ihm entgangen wäre, wie Stonar nachdenklich die Lider senkte. »Neutrophile sind kornförmige Leukozyten, also weiße Blutkörperchen, mit einem Zellkern von drei bis fünf Lappen, durch Chromatin und ein Zytoplasma verbunden, das äußerst feine Granulen enthält. Sie stellen teilweise die erste Abwehrfront des Körpers gegen das Eindringen von Bakterien dar. Dieses Krankheitsbild kann sich auf genetische Ursachen zurückverfolgen lassen. Manchmal.« Für Stoney ist er jetzt aber wirklich zu fachchinesisch, dachte Wycombe-Finch. Aber was er da gerade gehört hatte, faszinierte ihn. Er fragte: »Kam das bei der Autopsie von Dr. Foss heraus?« Beckett schwieg eine Weile. Er starrte auf die Papiere, die vor ihm lagen, aber er schien sie nicht zu sehen. Dann sagte er: »Ariane ... ähemm ... Dr. Foss lieferte uns eine ganze Reihe von Hinweisen, bevor sie starb.« »Das war die Dr. Ariane Foss, die mit Bill und den andern 364 zusammengearbeitet hat, ehe sie an der Seuche starb«, erklärte Wycombe-Finch Stonar. Stonar nickte. Der schmerzliche Ausdruck in Becketts Gesicht war ihm nicht entgangen. »Kurz vor ihrem Tod gab sie uns eine Art Introspektivbericht über ihre Symptome«, fuhr Beckett fort. »Die Krankheit verläuft bis zum Zusammenbruch des Zentralnervensystems und zur Enzymblockierung. Es tritt ein allgemeiner Funktionsverfall ein und finale Bewußtlosigkeit, auf die rasch der Exitus folgt.« »Ich habe schon Opfer dieser Pest sterben sehen«, sagte Stonar aggressiv.
»Der Krankheitsprozeß hält nicht lange genug an«, fuhr Beckett fort, »als daß sich viele Symptome manifest zeigen könnten. Wir sind gezwungen, aufgrund der anfänglichen Traumata zu diagnostizieren. Eher zu raten. Aber über die hat Ariane uns einen sauber-wissenschaftlichen Bericht hinterlassen.« Stonar klang nun etwas nervös: »Sehr interessant!« Wycombe-Finch paffte eine dicke Rauchwolke aus seiner Pfeife und wies dann mit dem Mundstück zu Stonar. »Wir wollen doch eines nicht übersehen, Stoney, daß nämlich diese Seuche auf ein ganz spezifisches Ziel hin maßgeschneidert wurde. Sie sollte ausschließlich Frauen töten, und sie sollte töten, trotz aller medizinischen Gegenmaßnahmen. Sofort!« Stonars Stimme klang brüchig: »Ich bin mir über den Selektionscharakter durchaus im klaren.« »Eine bewundernswerte Leistung«, sagte Wycombe-Finch. »Sofern es uns möglich sein sollte, aus der Tagesordnung dieser Versammlung zur Würdigung der Leistungen des Verrückten einen Augenblick lang auszuscheren«, sagte Stonar gehässig, »würde ich gern zu Protokoll geben, daß meiner Unwissenheit bislang keine Abhilfe zuteil wurde.« »Wir haben es mit einem höchst bemerkenswerten Code zu tun«, sagte Beckett. »Vielleicht kann man es mit einer höchstkomplizierten Zahlenkombination an einem extrem raffiniert 365 konstruierten Safe vergleichen. O'Neill hat die Kombination geschafft, also wissen wir, daß es geschafft werden kann!« »Ich gewinne allmählich den Eindruck, daß alles, was Sie mir zu sagen haben, nur das ist, daß Sie sich einem extrem komplizierten Projekt gegenübersehen«, sagte Stonar. »Aber daran zweifelt ja niemand. Wir wollen doch nur das eine wissen: Wie dicht sind Sie inzwischen an eine Lösung herangekommen?« »Vielleicht näher, als viele Leute vermuten«, sagte Beckett. Wycombe-Finch richtete sich abrupt auf. Beckett schaute verloren in die Vorhalle hinaus, wo Hupp friedlich im Schutz seiner dicken Brillengläser saß, den Stuhl nur einen Zentimeter vor die Sitze gerückt, auf denen Danzas und Lepikow saßen. Alle drei beobachteten Beckett aufmerksam, aber nach dieser seiner letzten Bemerkung war die Aufmerksamkeit des gesamten Stabes auf ihn gerichtet. Dieser unüberlegte Anruf von Browder an Hupp, dachte Beckett. Doch, er konnte sich den jungen Burschen recht gut vorstellen, wie er da mit seinem schwangeren Mädchen in der Druckkammer hockte ... und dann auf einmal, die große Idee! Wie war er auf sie gestoßen? Die Idee war zugleich genau richtig und völlig falsch - aber was für Einsichten hatten sich daran entzündet! Wycombe-Finch schenkte Beckett einen zurückhaltendglasigen Blick. Stonar beugte sich eifrig vor. »Näher, als wir vermuten?« »O'Neill gelang es, mehrere Dinge zugleich zu beweisen«, sagte Beckett. »Die Zelle ist nicht unverletzlich. Er hat bewiesen, daß die chemischen Bestandteile einer Zelle neu zusammengebaut, neu aneinandergesetzt werden können und daß sie dann außergewöhnliche Prozesse ausführen können. Die Lebensorganisation innerhalb der Zelle, das System, das die Einzeloperationen der Zelle beeinflußt, das ist nun erkannt! Wir können einfach nicht mehr länger daran zweifeln, daß dergleichen in unserer Macht steht. Aber das Wichtige dabei ist außerdem: wir wissen jetzt, daß genetisch bestimmte Veränderungen in der Funktion von Zellen nicht zwangsläufig mit 366 Erlangung der sexuellen Reife beendet sein müssen. Der Meutropenie-Schlüssel gibt uns die Gewißheit, daß wir auch noch als Erwachsene uns eine Erbkrankheit zuziehen können.« Stonar blinzelte verwirrt. Wycombe-Finch starrte weiter schweigend Beckett an. War das, was der Mann da machte, das berühmte amerikanische >Schneegestöber »Wenn nur ein paar der Tausend und Abertausend von chemischen Vorgängen, die beständig in jeder lebenden Zelle unseres Körpers ablaufen, blockiert werden, verlangsamt werden oder sonstwie ausgeschaltet werden, dann wird die Entwicklung des Organismus auf spezifische Art verändert«, sagte Beckett. »O'Neill hat uns bewiesen, daß diese Erkenntnis auch nach der Entwicklung komplexer höherer Organisationsformen Gültigkeit hat, genau wie bei den niedrigeren Formen. Also liegen massive Veränderungen im Bereich der Möglichkeiten. Und er hat nachgewiesen, daß das System auf feinste Regulationseingriffe reagiert.« »Was ich immer schon gesagt habe!« sagte jemand im Vorzimmer. Wycombe-Finch nahm die Pfeife aus dem Mund. Auf einmal war ihm klar geworden, was Beckett da angedeutet hatte. Es handelte sich um einen Reziprokvorgang! Und sobald es einmal ausgesprochen war, war die ganze Sache völlig einsichtig. Ob Stonar auch nur die geringste Ahnung hatte, was er da soeben gehört hatte? »Ich habe mich von einem Mediziner des Innenministeriums über die Sachlage informieren lassen«, sagte Stonar. Er klang verärgert, und seine Augen sahen wieder aus, als seien sie frostbereift. »Das ist doch wie eine Schnitzeljagd, bei der man auch nicht den kleinsten Fetzen Papier übersehen darf.« Es wurde Wycombe-Finch klar: Stonar verstand die Tragweite der Sache nicht. Sie überstieg einfach sein Begriffsvermögen. »Sie haben angedeutet, daß Sie sich dem Ende der Schnitzeljagd nähern«, sagte Stonar. »Darf ich Sie so verstehen, daß
367 dies Ihr Statement ist, das ich dem Premierminister übermitteln kann? Er wird mich fragen: >Wie nahe sind die der Lösung?<« »Das können wir jetzt noch nicht sagen«, erklärte Beckett I geduldig. »Aber wir erkennen die Spur inzwischen genauer. Das, was O'Neill entwickelte, war ein Virusstamm, der einen Spendercode in der DNS mittels eines bakteriellen Trägers auf die lebende menschliche Zelle übertrug.« »Ist das dieses Spirochätenzeug, das die Kanadier entdeckt zu haben behaupten, ist das die Ursache der Seuche?« fragte Stonar. »Ich vermute stark, daß es nicht der Fall ist. Wir glauben, daß die dort sich mit einem Überbleibsel, einem Zerfallprodukt der O'Neillschen Pest, herumschlagen. Vielleicht auch mit einer Mutation.« »Fest verankert in einer Zelle«, murmelte Stonar. »Genau wie die Überlagerungen an einem Maibaum«, sagte Beckett. »Maibaum - ha!« brummte Stonar. Anscheinend schien j ihm dieses plastische Bild zuzusagen. Sicher würde das im Innenministerium Eindruck machen. »Es gibt offensichtlich eine Genkette, die bestimmt, daß ein menschlicher Fötus sich weiblich entwickelt«, sagte Beckett. : »Dieses Pestvirus koppelt sich nun in das geschlechtsbestimmende Muster ein und kann sich dort lang genug fest- I halten, um rasch ein allgemeines Chaos zu bewirken.« »Grapscht sich den blöden Ball und jagt ihn quer übers Spielfeld«, sagte Stonar. Hab ich doch ganz vergessen, der war mal ein Footballnarr, dachte Wycombe-Finch. Aber er sagte: »Ganz richtig ausgedrückt. « Beckett klang ein wenig verwirrt. »Sobald sich diese Blockverbindung herausgebildet hat, ist sie bemerkenswert fest. Sie hat wohl mit noch stärkeren chemischen Verzahnungen zu tun. O'Neill konnte repetitive DNSSatellitenprozesse soweit in Einzelheiten identifizieren, daß er sich das für ihn Passende aus ihnen auswählen konnte.« 368 »Und ihr glaubt wirklich, ihr seid ihm dicht auf den Fergen?« fragte Stonar. »Ich sage hier, was ich glaube und wovon ich überzeugt bin«, sagte Beckett und bemerkte, daß Hupp weit drüben zustimmend nickte. Wycombe-Finchs Pfeife war ausgegangen, er biß die Zähne fest auf den Stiel, es gelang ihm, einen Ausdruck von gescheiter Informiertheit aufs Gesicht zu zaubern, aber er wünschte sich insgeheim, ein gleiches Maß an Zuversicht aufbringen zu können. Dann schaute Stonar den Direktor des Labors an, und es schwelte ein gewisser Argwohn in seinem Blick. »Und was sagen Sie zu dem Ganzen, Wye, alter Junge?« Wycombe-Finch nahm die Pfeife aus dem Mund. Er legte sie behutsam - Kopf nach unten - in den Aschenbecher und ließ sie nicht aus den Augen, während er sprach. »Wir sind inzwischen überzeugt, daß O'Neill es geschafft hat, die beiden spezifischen Hälften der DNS-RNS-Doppelspirale proportionsgenau aneinanderzupassen. Ich meine, was den genetischen Aufbau beim Menschen betrifft. Er hat das durch Koppelung erreicht.« Hier nickte Wycombe-Finch Beckett zu. »Die beiden Hälften paßten sich sozusagen schwalbenschwanzartig ineinander und bildeten eine starke Verbindung. Und Bills Gruppe glaubt, es könnte da voneinander unabhängige Replikationssysteme geben, die auf dieser Doppelspirale diese feste Bindung bewirken.« »Und was glauben Sie selber?« fragte Stonar. Wycombe-Finch blickte Stonar direkt ins Gesicht. »Es kann sein, daß sie uns den bislang meistversprechenden Einblick verschafft haben.« »Könnte sein«, sagte Stonar verdrießlich. »Also sind Sie nicht überzeugt.« »Ich bin Wissenschaftler. Ich brauche Beweise!« protestierte Wycombe-Finch. »Schön, aber warum glauben Sie dann, daß diese Richtung vielversprechend ist?« »Also, sie weist zuerst einmal darauf hin, daß es sich um 369 keinesfalls die Virus-DNS handeln kann. Wir sind uns ja alle einig, daß das ein Teil der Sache sein muß, aber wir sehen auch allmählich klarere Stufungen in das Zellsystem hinein.« »Ich bin außerstande, diese Stufungen zu erkennen«, sagte Stonar. »Der Papierschnipsel in dieser Schnitzeljagd«, sagte Beckett, »ist ganz einfach: die blockierten Enzyme.« Stonar ließ zuckend den Blick zu ihm schweifen, dann fixierte er wieder Wycombe-Finch. Es war allerdings ganz deutlich, der Kommentar war geschluckt worden, und er würde ihn wörtlich dem Premierminister weiterplappern. »Eine Virus-DNS läßt sich mit der eines Bakteriums auf ziemlich direkte Art verbinden«, sagte WycombeFinch. »Sämtliche Abkömmlinge des Bakterienstammes enthalten dann die Virus-DNS, und damit jede codierte Botschaft, die auf dieser Virus-DNS niedergeschrieben ist.« »Botschaft?« sagte Stonar tonlos. »Sie trifft auf jenes Stück in einer DNS-Kette beim Menschen, die dafür verantwortlich ist, ob ein künftiger Wirt weiblich sein soll«, sagte Wycombe-Finch. »Die Virus-DNS -nehmen wir jedenfalls an - koppelt sich dann in die zellulare Grundschicht ein und trennt sich von ihrem bakteriellen Träger.«
»Und die Botschaft ist übermittelt«, sagte Beckett. »Aber weiß man, wie das vor sich geht?« fragte Stonar. »Inzwischen können wir die Spur verfolgen«, sagte Beckett. »Und wir werden recht bald schon die wahre Gestalt vor uns sehen.« »Wie bald, verdammt noch mal?!« Stonar funkelte Beckett an. Aber Beckett zuckte nur die Achseln. »Wir arbeiten daran, so rasch es eben geht.« »Wir sind uns inzwischen ziemlich sicher, daß wir die Umstände der Reproduktion erkannt haben«, sagte Wycombe-Finch. »Ganz zu schweigen, daß wir wissen, das Zeug vermehrt sich rapide bei Vorhandensein von Antibiotika.« »Aber wir werden allmählich ungeduldig«, sagte Stonar. 370 »Was das angeht«, sagte Beckett, »so hindert uns in diesem Moment Ihre Ungeduld daran, uns wieder unserer Arbeit zu widmen!« Stonar stieß seinen Sessel zurück und stand auf. »Wenn vielleicht jemand die Güte haben würde, meinem Fahrer zu sagen, daß ich fahren möchte?« Wycombe-Finch hob die Hand. Er sah befriedigt, daß einer der Assistenten hastig aufsprang und aus dem Raum eilte. Dann drehte Stonar sich um und fixierte Wycombe-Finch. »Wye. Sie drehen mir den Magen um! Wenn es nach mir ginge, wir würden einfach hier aufmarschieren und euch alle mit Feuer vernichten. Wir würden die Erde keimfrei machen, auf der ihr Leute herumtrampelt, und dann würden wir versuchen, von vorn anzufangen.« »Ja, und die gleichen idiotischen Fehler wieder und immer wieder machen«, sagte Beckett, während er um das Tischende herumging. Stonar richtete seine kalt-abschätzenden Augen auf Beckett. »Vielleicht doch nicht. Wir könnten ja beschließen, daß wissenschaftliche Forschung zu einem Kapitalverbrechen erklärt wird.« Er drehte sich abrupt um und schoß aus dem Zimmer, ohne dem Sklaven, der vor ihm die Doppeltür weit aufstieß, auch nur einen Blick zu schenken. Beckett blieb still neben Wycombe-Finch stehen, bis die Türen sich fest hinter Stonar geschlossen hatten. »Was, meinen Sie, wird er dem Premierminister sagen?« fragte Wycombe-Finch. »Ach, er wird sagen, wir hätten eine neue Theorie, die sich vielleicht als brauchbar erweist, aber die Regierung solle doch besser erst mal abwarten.« »Das glauben Sie im Ernst?« Der Leiter des Instituts blickte Beckett scharf an, dann beugte er sich vor und nahm seine Pfeife aus dem Aschenbecher. »Absolut wissenschaftlich korrektes Verhalten«, sagte Beckett. »Warten Sie ab, bis Sie den Beweis in den Händen haben.« Wycombe-Finch klammerte sich mit den Augen an seine 371 Pfeife, als er antwortete: »Sagen Sie mir eins ehrlich, Bill, ist das da vorhin ein Beispiel für das gewesen, was ihr da drüben als ein >Schneegestöber< bezeichnet?« »Aber keine Spur!« Wycombe-Finch blickte auf und fing Becketts Blick ein. »Dann wäre es mir aber verdammt lieber gewesen, Sie hätten mich vorher eingeweiht, ehe Sie das so über den Tisch schleuderten. Ganz besonders das mit der Wechselbindung.« »Aber Sie werden doch nicht zweifeln an unserer ...« »Aber auf gar keinen Fall! Ich bin mir nur nicht so sicher, ob ich es an Ihrer Stelle Stoney zur Kenntnis gebracht haben würde!« »Ach, das war doch völlig jenseits seines geistigen Horizonts.« »Jaaa ... Da gebe ich Ihnen recht.« Wycombe-Finch schaute beiläufig den Leuten seines Stabes nach, die langsam aus dem Raum drifteten, und ein paar von ihnen vermieden weniger auffällig als der Rest seinen Blick. »Aber er hat hier sicher seine Spitzel hocken, und ich bin ziemlich sicher, daß es ihm einer von denen erklären wird.« »Aber dann weiß er auch Bescheid über die Taktik mit der Karotte, die wir vor seiner Nase baumeln lassen ...« »Politiker haben es gar nicht gern, wenn der Stecken mit der Karotte von jemand anderem vor ihnen rumgebaumelt wird. Und - komischerweise - mögen sie auch gar keine Karotten. Seltsam wie?« »Die Umstände versetzen uns doch in eine ganz begreifliche Erregung«, sagte Beckett. Wycombe-Finch warf Hupp einen Blick zu. Der kauerte noch immer in seinem breiten Ledersessel. Sonst war der Raum inzwischen fast menschenleer. »Ich bin überzeugt«, sagte Wycombe-Finch, »Dr. Hupp teilt Ihre Erregung in keiner Weise, Bill. Dr. Hupp ist nämlich brav eingeschlafen.« »Na und, was soll's!« knurrte Beckett. »Immerhin haben wir die ganze Nacht durchgearbeitet.« 372 Aus Irland sind wir kommen, Großer Haß und große Enge Hat uns früh den Mut genommen. Ich bring aus meiner Mutter Schoß Ein Herz voll Leidenschaft und groß. WILLIAM BUTLER YEATS (1865-1939)
Als sie die Mitte der Talsohle erreichten, es war kurz vor Mittag, sah John, daß das Tal nicht so flach war, wie es ihm von oben aus erschienen war. Unterhalb der Straße erhoben sich rollend Hügelchen, an manche schmiegten sich Bauernkaten. Einige wenige Häuschen waren nicht verbrannt worden, aber fast überall fehlten die Fensterscheiben. Türen standen weit offen. Nirgends mehr ein Anzeichen, daß da noch Menschen lebten. Hinten aus den Bäumen hörte man ab und zu einen Fuchsrüden kläffen, und einmal, als sie gerade um eine granitbefestigte Ecke bogen, kam das entsetzte Gackern einer Henne, dann ein brauner Federblitz, der ins Gebüsch an der Straße schoß. In vielen der Schornsteine nisteten Dohlen. Ein riesenhafter Ahornbaum, der einsam mitten auf einem Feld stand, war mit einer Schar Ringeltauben geschmückt, überall in seinem Grün waren Flecken von weichem Braungrau. Auf vielen Feldern wucherte frisches Gras. Herity an Johns Seite schnüffelte in die Luft und sagte: »Es gibt einen ganz bestimmten Geruch, wo Menschen hausen, und der ist nun aus diesem Tal verschwunden.« John starrte auf die Rücken des Jungen und des Priesters, die zwanzig Schritte vor ihnen marschierten. Zwischen den beiden lag die ganze Breite der Straße. Der Priester ging links, mit gesenktem Kopf, den Rucksack hoch auf den Schultern. Der Junge schoß manchmal auf die Mitte der Straße, spähte überall in der Gegend herum und senkte manchmal den Kopf und schien zu lauschen. Das Geräusch der Schritte hallte auf der Teerdecke zwischen den Felseinfassungen der Straße wider. John betrachtete das leere Tal um sie herum nun mit größerer Aufmerksamkeit, die Teerstraße wand sich hindurch, über die kleinen Erhebungen und um sie herum. Die Gegend 373 schien von einer durchdringenden Verlassenheit erfüllt zu sein, sie wirkte weit leerer, als eine bloße Wildnis es hätte sein können. John spürte, es mußte daher rühren, daß hier einst Menschen gelebt hatten. Da waren einmal Menschen gewesen, und nun waren sie verschwunden ... - von dieser Art war die Einsamkeit hier. »Was ist mit dem Tal passiert?« fragte John. »Wer kann das wissen? Ein simples Gerücht kann ein Dorf menschenleer machen. Vielleicht gab es hier Mobs. Vielleicht haben sie alles angezündet und sind fortgegangen. Man hört jetzt überall Geschichten: im nächsten Tal haben sie ein Kuh, und dort leben noch Frauen, oder dergleichen. Vielleicht sind Männer von anderswo hierher gekommen und haben festgestellt, daß das Gerücht falsch war, und dann ...« »Gehen wir wirklich den kürzesten Weg zum Labor?« »Den sichersten.« Aaahh! dachte John. Den sichersten! Also weiß dieser Herity Bescheid, wo es sicher ist. Aber woher erfährt er das? Die Straße bog um einen weiteren flachen Hügel, und dann öffnete sich der Blick auf Bäume am Fluß, etwa achthundert Meter voraus. Durch die aufgerissene Wolkendecke fielen Sonnenstrahlen. Eine Wiese leuchtete im goldenen Licht. Links hinter ihr standen dichte Holunderbüsche am Ufer, eine hohe Hecke, die aus dem Wasser zu wachsen schien. Die Holunderbäume bogen sich winkend in einer schwachen Brise. »Parnell kam zur Jagd in das Tal da«, sagte Herity. »Der war ganz anglifiziert, der Mann. Sein Mittelname, wissen Sie, der war nämlich Stuart, genau wie die Franzmänner es schreiben. Charles Stuart Parnell ... genau wie Jim Dung. James Dung Stuart! Johnny Pferdescheiße Stuart!« John war verblüfft über die Art, wie ihm hier Geschichte dargeboten wurde. Es war nicht bloß in breiten Zügen das historische Ereignis, die Daten von Schlachten, sondern ganz nebensächliche intime Einzelheiten. Parnell hatte in dem Tal gejagt! Und als James Stuart die Iren ihren Feinden überließ, hatten ihn die Iren umgetauft in »Jim Dung<. Das lag vier374 hundert Jahre zurück, aber in Heritys Stimme hatte noch immer eine Spur von giftiger Wut mitgeklungen, als er den Namen ausgesprochen hatte. Und wie stand es mit Parnell, dessen Traum einer Reform die Engländer abgewürgt hatten, indem sie bekanntmachten, daß er Kinder mit einer Mätresse gezeugt hatte? Also wurde Parnell zurückgestutzt und als >anglifiziert< abgetan! »Joyce hat über die Hügel da vor uns ein Gedicht geschrieben«, sagte Herity. John warf ihm einen verschmitzten Blick zu. »Aber er hat auch über Parnell geschrieben.« »Ahhh, Sie interessieren sich für Literatur!« sagte Herity. »Sie hatten bestimmt 'nen Großvater, der von Irland träumte, oder ich müßte mich verdammt irren.« John verspürte eine plötzliche Leere in der Brust. Er hörte Marys Stimme sagen: »Mir fehlt der Opa Jack immer noch.« Seine Gedanken verwirrten sich. Ich kann sagen, was ich will, Herity hört es und interpretiert es sich auf seine Weise. »Wohin wir Iren auch gehen, wir nehmen immer unser Irland mit uns«, sagte Herity. Dann gingen sie eine Weile schweigend weiter. Inzwischen war der Fluß vernehmbar geworden, und in einem Bruch der Holunderbüsche konnte man eine Steinbrücke sehen. Von dem Einschnitt gerahmt, lag weit dahinter am oberen Rand des Tales ein Dach mit Masardenfenstern und Reste einer Steinmauer. Beim Anblick des Landhauses mit dem grünen Holzwerk dachte Herity: Da haben wir ja endlich Brann McCraes kleinen Taubenschlag! Jetzt werden wir ja bald wissen, aus welchem Holz dieser ]ohn O'Donnell geschnitzt ist! Der Priester und der Junge hielten an der Brücke an und drehten sich zu ihren Gefährten um.
John trat auf die Brücke und schaute flußabwärts, wo das Wasser über grüne Felsen sprudelte. Die Wiese, die man durch die Uferbüsche sehen konnte, senkte sich zu einem schmalen Streifen Sumpflandes längs dem Ufer hinab. Über dem Marschgrund sah er gelbe und rote Sumpflilien. Bienen 375 waren eifrig im Wiesengras an der Arbeit, aber das Rauschen des Wassers übertönte ihr Summen. Die Sonne, die Wärme, der Fluß ... - John überkam ein Gefühl, als löse sich seine Spannung. Er ließ sich von dem Jungen einen Kanten Brot geben, drauf eine dünne Scheibe Hüttenkäse. Der Junge stützte die Ellbogen auf das Brückengeländer und schaute in den Fluß, während er aß. John konnte den Schweiß des Jungen riechen, ein süßer, sauberer Geruch. Die kindlichen Wangen mahlten langsam beim Kauen. Was für ein seltsames Kind, dachte John. Eine Person, die sich mühte, durchschaubar zu sein. Aber nicht hier! Dennoch war dieses Kind hier! Aß, was ihm Pater Michael zu essen gab. Weckte in einem das Interesse an Dingen, indem es sie genau betrachtete. Manchmal drängte sich der Junge eng an den Priester wie ein kleines verletztes Tier, das Schutz und Zärtlichkeit sucht, wo immer es sie finden kann. Und wie er die Aufmerksamkeit auf sich lenkte durch sein Schweigen das war ein Mißton! Ein Protest, lauter als jeder Schrei. »Ich will nicht sprechen'.« Jedesmal wenn John den Jungen anschaute, wiederholte sich dies. Und als Protesthaltung war das bemerkenswert irritierend - besonders für Herity. John blickte zu Herity und dem Priester, die am Ende der Brücke neben ihren Rucksäcken standen und, ohne sich anzuschauen, stumm aßen. Hin und wieder warf Herity John und dem Jungen wie beiläufig einen Blick zu. Herity, da drüben, langsam kauend an seinem Brotkanten mit Käse, immer wachsam ein Auge auf die Straße gerichtet, die sie gekommen waren, unablässig in die Gegend spähend, auf der Hut vor allem, was sich da bewegen mochte, weil alles zu einer Bedrohung werden konnte. Auf der Hut, genau das war dieser Herity. Er wirkte so autistisch isoliert wie der Junge, aber seine Wachsamkeit war eine andere. Da! Jetzt hatte er wieder sein Taschenmesser gezogen! Immer schnippelte und grub er an den Fingernägeln herum mit diesem Messer peinlich genau und zielstrebig, ein Verhalten wie ein alteingefleischter Habitus. Mechanisches Säuberungsbedürfnis. Und der Mann 376 hatte wirklich schöne Hände, lange schlanke Finger, in denen aber Kraft verborgen lag. John hatte gesehen, wie sich diese Finger krallenartig gekrümmt hatten, wie die Sehnen längs der Knöchel hervortraten ... Und dieser Geistliche neben ihm: hochgewachsen und hager. Sehr groß und schlank. Ein Hamlet in einem dunklen Kleid, den schwarzen Hut tief über die Augen gezogen. Das Gesicht erinnerte John an den Ausdruck >Pferdegesicht< das prognathische Kinn, der vorwärtsgeneigte Hals, die kräftige Nase, die dunklen Augen unter den schweren Brauen, die leicht vorspringenden breiten Zähne. Sicher, kein schöner Mann, aber ein Gesicht, das man nicht so leicht vergessen konnte. Der Junge an Johns Seite hustete und spuckte in den Fluß. John versuchte sich vorzustellen, wie das sein mochte, wenn dieses Kind da glücklich wäre, unbekümmert spielte, wenn es nicht mehr so Haut und Knochen wäre. Der Junge war einst ein kleiner Watschelknirps gewesen, überschäumend vor Lebenslust war er auf seine Mutter zugestolpert. Derartige Erinnerungen lauerten da irgendwo in dem Jungen. Ein gutgebauter Junge. Das Fleisch sah gesund aus, trotz seiner Magerkeit. Abgezehrt, aber nicht abgestorben. Warum irritierte dieser Junge Herity dermaßen? Immer und immer wieder hatte John miterlebt, daß Herity sich mühte, den Kleinen von seinem Schweigegelübde abzubringen. »Wozu taugt schon so ein Schwur? Er kann die Toten nicht zurückbringen!« Es erfolgte darauf nie eine Antwort. Der Junge zog sich nur noch tiefer hinter sein abwehrendes Schweigen zurück. Wie er den Kopf in seinen blauen Anorak zurückzog, das erinnerte vage an eine Schildkröte, aber der Vergleich paßte überhaupt nicht. Die Schildkröte zieht ihre verletzlichen Körperteile ein und starrt ängstlich nach draußen, bis die Gefahr vorbei ist. Dieser Junge hingegen verkroch sich weit tiefer als nur unter die Kapuze seines Anoraks. So tief war seine Zurückgezogenheit, daß die Augen des Jungen manchmal völlig ohne Leben waren. Und alles, was der Junge unter die377 sen Umständen dann tat, verwandelte sich in eine Art mürrischer Gleichmütigkeit, die noch erschreckender lautlos war als sein sonstiges Schweigen. Es war wie eine Art Winterschlaf der Seele, als wären die Lebensmechanismen vorläufig stillgelegt, während der Körper einfach weitermachte, nur noch Gefäß für einen kraftlosen Geist war, ein Stück Materie ohne Bestimmung von innen her. Außer wenn er mit Steinen auf die Krähen zielte. Warum haßte dieser Junge die schwarzen Vögel so bitter? Hatte er zusehen müssen, wie sie sich über den Leib eines ihm lieben Menschen hermachten? Vielleicht war das eine Erklärung. Irgendwo mochten da gebleichte Gebeine herumliegen, von den Vögeln saubergepickt, Knochen, die einmal jemand gewesen waren, den der Junge geliebt hatte. John aß den letzten Bissen Käsebrot, wischte sich die Krumen von den Fingern und schritt über die Brücke zu der Stelle, an der ausgetretene unregelmäßige Steinstufen zum Wasser hinabführten. Er kniete sich ans Ufer, schöpfte Wasser in beide Hände, trank schlürfend. Er genoß die Kälte auf Kinn und Wangen. Das Wasser schmeckte süß und leicht nach Granit. Ein Geräusch ließ John den Kopf wenden. Der Junge kniete neben ihm
und trank, das Gesicht tief ins Wasser getaucht. Mit triefendem Gesicht blickte der Junge dann zu John auf. Ein feierlicher, fragender Ausdruck lag in seinen Augen. Wer bist du? Sollte ich so sein wie du? In plötzlicher Verwirrung stand John auf, schüttelte das Wasser von den Händen und stieg zurück zur Brücke hinauf. Wie brachte der Junge es nur fertig, so deutlich zu sein, ohne ein einziges Wort? Dann stand John am Brückengeländer und schaute zu dem Jungen hinunter, ohne ihn aber zu sehen. Unterhalb der Holunderbüsche in dem Sumpfstreifen standen kleine Weiden. Gerade zog eine Wolke über die Sonne, und auf einmal war die Welt zwischen den Bäumen von einem frostigen Grau. Das Flußgemurmel war nur Wassergurgeln, nicht Menschen, die da redeten, sagte John zu sich. Früher einmal mochte die378 ges Land verzaubert gewesen sein, doch nun waren die Geister und Feen verschwunden. Es herrschte hier nur noch diese Leere, diese vollkommene Absage an den Menschen in Gestalt der verkrümmten Weiden unterhalb der Hollerbüsche und des feuchten Sumpfes am Flußrand. Und der Fluß schien ihm höhnend die eigenen Gedanken zurückzurufen: »Meine Lebensgeister sind dahin. Ich bin vergeblich.« Die Wolke zog vorbei, und wieder prallte die Sonne auf die Bäume nieder, funkelte auf dem Wasser, doch es war nicht mehr das gleiche wie zuvor. Der Junge trat neben John, der Priester kam auf sie zu. Er kam mit dem Rucksack in der Hand und ließ Herity einfach am andern Ende der Brücke stehen, wo er über die Wiesen starrte. »Das ist eine Entweihung«, sagte der Priester. Der Junge blickte zu ihm auf, die Frage war in dem verschlossenen Gesichtchen deutlich zu lesen: Was heißt das? Der Priester hielt dem Blick stand. »Das hier ist ein schrecklicher Ort.« Der Junge drehte sich um und blickte in alle Richtungen. Er schien wirklich verwirrt zu sein, und sein Ausdruck verriet, daß er das eigentlich für eine sehr hübsche Gegend hielt - die Bäume, den Fluß, und was im Bauch. Er ist dabei, gesund zu werden, dachte John. Würde der Junge sprechen, wenn er wieder ganz genesen war? Herity trat zu ihnen und sagte: »Aaah, unser Priester hat mal wieder eine seiner trüben Launen. Sein Glaube schwappt ihm im Maul mm, und das ist wie'n undichter Wasserhahn, alles läuft raus.« Der Priester wirbelte auf dem Absatz herum. »Sie würden wohl gern den Glauben vernichten, wie, Herity?« »Och! Aber das bin doch nicht ich, der den Glauben kaputtmacht, Priesterlein.« Herity lächelte John zu. »Es ist diese große Tragödie, die den Glauben sterben läßt.« »Darin immerhin haben Sie ausnahmsweise recht«, sagte der Priester. Herity tat erstaunt. »Ach, wirklich?« 379 Der Priester holte tief Luft. »Alle die Zweifel, die es jemals gab, wuchern jetzt wie Unkraut in dem unbestellten Garten, der einmal Irland war.« »Was sind Sie doch für ein Dichter, Pater!« Herity drehte sich um, der stumme Junge schaute ihn fest an. »Das ist Shaws steiniges Land, das du geerbt hast, armes Kerlchen, und du hast weder den Sinn noch den Verstand, das zu begreifen.« Ein schwerer, schmerzlicher Seufzer schüttelte den Priester. »Ich glaube manchmal, das alles muß ein grauenhafter Alptraum sein, der Schimmelhengst aller Schreckensträume. Und bald werden wir erwachen, uns über das Entsetzen der Nacht lustig machen und wieder wie zuvor unserer Wege gehen. O Gott, bitte!« Der Junge zog den Anorak am Hals fest, wandte sich ab und stapfte von der Brücke. Der Priester nahm den Rucksack auf und ging ihm nach. Herity warf John einen fragenden Blick zu: »Also, können wir jetzt weiter?« Zunächst fast unmerklich begann die Straße zu steigen. Auf dem Weg aus dem Talgrund herauf hielt sich Herity mit John an der Seite dichter hinter dem Priester und dem Jungen, höchstens fünf Schritte hinter ihnen. Ist es hier nun sicherer? fragte sich John. Herity ließ seine Truppe nicht mehr verteilt marschieren. Oder war es wegen der scharfen Wegbiegungen, hinter denen man nichts sehen konnte? Wollte Herity sich dichter bei dem Priester halten, um zu sehen, was die Straße ihnen als nächstes bieten würde? »Woll'n Sie wissen, was mit unserm heiligen Vater da vorn passiert is'?« fragte Herity. »Ich merk ja schon, der sagt es Ihnen selber nicht, dabei ist er doch das beste Zeugnis für die ganze Sache.« Der Priester wandte sich nicht um, aber seine Schultern versteiften sich. Mit lauter Stimme redete Herity auf diesen steifen Rücken ein: »In den ersten Tagen der schrecklichen Pestverheerung 380 brannte eine riesige wildgewordene Menge Maynooth im County Kildare nieder - den ganzen Ort, sogar das St. Patrick's College, wo einst Fitzgerald Castle gestanden hat - wo das doch ein Heiligtum war für unsere alte irische Art. Der neue Flügel brannte nieder wie 'ne Fackel, wahrhaftig. Und der alte Block stürzte krachend unter den Riesenmaschinen und von den Sprengladungen zusammen. Das war mal eine Pracht!« »Warum haben die Menschen es getan?« »Dieser schreckliche Zorn in ihnen. Gott hatte sie verlassen. Und da sie Gott nicht packen konnten, hielten sie sich halt an die Kirche.« Herity schob das Kinn vor und rief laut: »War's nicht das, was Sie mir erzählt haben,
Pater Michael?« Der Priester schwieg so hartnäckig wie der Junge neben ihm. »Drei Tage lang stieg der Rauch in den Himmel - länger, wenn man die schwelenden Reste mitrechnet. Aah, die hohen Flammen, und der Mob tanzt um sie rum und macht Jagd auf die Pfaffen, um sich die Zeit zu vertreiben.« »Sie haben Priester verbrannt?« »Klar! Schwupps direkt ins Feuer mit ihnen!« »Und Pater Michael war dabei?« »O ja! Unser guter Pater war dabei und hat die ganze Lustbarkeit miterlebt. Die Priester hatten nämlich prima Saufvorräte in ihren Kellern, o ja.« John dachte an das Brandmal auf der Stirn des Priesters. »Und dabei haben sie ihn gebrandmarkt?« »O nein! Das kam erst später. Das haben seine eigenen Leute getan, weil sie wußten, daß er in Maynooth gewesen war und trotzdem noch am Leben. O nein, wenn sich da während des Feuers ein Priester sehen ließ, dann war das sein Tod.« Herity verstummte. Zwischen den Steinbegrenzungen der Straße hallten nur ihre Tritte wider, aber von vorn hörte man das dünne Gebetsgemurmel des Priesters. »Hören Sie nur, wie er betet!« sagte Herity. »Denken Sie jetzt daran, wie es damals war, Priester? Aaah, John, der 381 Brand von Maynooth war meilenweit zu sehen. Und der Rauch, also der stieg kerzengerade in den Himmel, wahrhaftig. Ich kenn 'nen Priester, der war dabei, und den hab ich sagen hören, das war eine Botschaft an Gott.« Von dem Priester war nur das leise eintönige Beten zu vernehmen. »Wir haben die Botschaft an Gott gesehen, was, Pater Michael, haben wir nich'?« rief Herity. »Und was haben wir da gesagt? Gott kann lügen! Das haben wir ihm gesagt. Gott hat uns belogen!« John malte sich zu Heritys plastischer Schilderung die Szene aus. Er spürte, O'Neill-im-Kopf war da und lauschte, versuchte aber nicht herauszudringen. Das Feuer, die Schreie ... fast glaubte er sie zu hören. »Sie waren also mit Pater Michael dort?« fragte John. »Zu seinem Glück, ja! Hab ihm seine räudige Haut gerettet, hab ich.« Lachen gluckste in Herity hoch. »Oh, er hat das gar nicht gern, daß er so einem wie mir sein Leben verdankt. So viele Priester sind gestorben, und der da lebt. Das war vielleicht 'n Schauspiel, kann ich Ihn' sagen! Die haben zwar die Strecke nicht gezählt, aber ich bin sicher, sie haben mehr als zweihundert von denen verbrannt. Marsch rein ins Feuer und ab in die Hölle!« Der Priester streckte plötzlich die Fäuste zum Himmel, aber er drehte sich nicht um. Seine Stimme murmelte weiter Gebete, i Herity sprach weiter: »Es war ein Martyrium in den Flammen, wie man so was in diesem Land seit vielen Jahrhunderten nicht mehr zu sehen bekommen hat. Aber unser guter Pater Michael ist halt nicht aus dem Stoff geschneidert, aus dem man Märtyrer macht.« Das Beten verstummte. Die Bewegungen des Priesters wirkten müde, der Rucksack hing ihm schwer von den Schultern. »Manche sagen, daß bloß zwölf Pfaffen entwischt sind«, sagte Herity. »Als Laien verkleidet, von den paar wenigen unter uns versteckt, die wir den Verstand nicht verloren ha382 ben- Manchmal frage ich mich, warum ich da geholfen habe, aber es hat einfach so gräßlich gestunken, und dann gab's auch nichts mehr zu saufen. Also kein Grund, noch zu bleiben.« Herity lächelte verstohlen in sich hinein, dann drehte er j0hn den Kopf zu und kniff ein Auge zu. »Bloß, der Verrückte also der hätte den Anblick bestimmt genossen! Da bin ich nur ganz sicher.« John stolperte. Er spürte O'Neill-im-Kopf, hörte ihn nervös kichern. Warum hatte Herity das gesagt? Warum sagt er mir das? Herity hatte seine Aufmerksamkeit der Straße unter ihren Füßen zugewandt, sein Gesichtsausdruck war undurchdringlich. Die Strecke wurde nun steiler, wand sich um immer neue Hügelflanken, hinter denen man an einer Stelle, wo sie auseinandertraten, freie Sicht auf die Straße bekam, die zu einem baumbestandenen Einschnitt am oberen Ende des Tales anstieg. Die Nachmittagsluft war feucht und beinahe tropisch heiß. Johns Sinne verlangte es nach Dschungel und Palmen, nicht nach diesen grünen Hügeln mit der schwarzen schmalen Straße, die sich wie ein Schafspfad ins Land schob. Das Baumgehölz da vorn bestand überwiegend aus Pappeln, zerfetzt vom Kampf gegen die Winterstürme, die den Bergsattel als Aufmarschweg in die Wälder und Moorgebiete im Osten benutzten. Da ihm Heritys Worte noch im Ohr nachklangen, kam John der Gedanke plötzlich und überraschend: Wie stark und wie seltsam war doch die Beziehung der Iren zu ihrem Land! Warum hatte Herity den Priester gerettet? Weil Pater Michael auf demselben Erdboden geboren war. Irgend etwas geschah da bei dieser Verbindung zwischen Mensch und Erde. Die Kelten waren der irischen Erde sozusagen unter die Haut gedrungen. Sie wanderten nicht nur einfach wie Nomaden über die Oberfläche. Selbst ihre jetzige Fahrt ging ja mehr durch Irland als nur darüber hinweg. Heritys Volk war zu einem Teil des Bodens selbst geworden. Die Frage tauchte für 383
sie niemals auf, ob sie Irland besäßen. Ganz im Gegenteil sie waren von Irland besessen. John blickte zu dem Weg vor ihnen hoch. Hinter den Pappeln sah man undeutlich die dunkleren Flecken von Nadelbäumen, die in säuberlichen Reihen dicht an den Hängen klebten. Und dort, inmitten dichterer Bäume lag das große Haus mit dem Mansardendach. Hoch über den Ruinen im Tal ein französisches Chäteau, anscheinend völlig unversehrt. Rauch stieg aus den Kaminen. Das Haus kuschelte sich geradezu in die Bäume; Irland hatte es an seine mütterliche Brust genommen, es adoptiert. Nichts Französisches mehr das Haus war ein irisches Haus. Der Rauch würde nach Torf riechen. Und endlich sage ich den Iren, sie sollen sich an die Banshee von Dalcais Aibell erinnern, die Banshee, die Brian Boru warnte, daß er in Clontarf sterben würde. Höre auf die Banshee*, Irland, denn ich werde an euch allen Rache nehmen. Ihr könnt nicht mehr der persönlichen Verantwortung für das entgehen, was ihr mir und den mir Lieben angetan habt. Ich bin der allerletzte Gombeen Man*, und ich bin gekommen, um euch zahlen zu lassen - nicht bloß in den schweren Monaten, sondern für immer und ewig. JOHN ROE O'NEILL, aus dem Dritten Briet Samuel Benjamin Velcourt hatte sich im Konsulardienst der USA und in der US Agency for International Development nach oben gedient. Sein Unabhängigkeitsstreben hatte ihn in seiner Laufbahn etwas behindert, aber es war ihm dennoch gelungen, sich während seiner Zeit bei der USAID zahlreiche Freunde unter den Militärs zu machen, und diese Tatsache half ihm nun beträchtlich. Außerdem gab es da noch seine * Banshee, Geisterfee, die heulend den Tod ankündigt; Gombeen Man, Wucherer, Zinseintreiber - Anm. d. Übers. 384 Berichte, die oft wegen ihrer klaren analytischen Einsichten gepriesen worden waren. Als er mit einundsechzig Jahren den weiteren Aufstieg endgültig versperrt sah, hatte er die USAID verlassen, an die er sowieso nur leihweise aus dem Konsulardienst beordert gewesen war, und nun bewarb er sich für den Staat Ohio um einen Sitz im Senat. Er verfügte über beeindruckende Pluspunkte: - Die Fähigkeit, sich in nahezu jeder Gesellschaft und in vier Sprachen verständlich zu machen. - Eine reiche Familie, die bereit war, seinen Wahlkampf zu finanzieren. - Seine Frau, May, die wegen ihrer witzigen Direktheit bei jungen und alten Feministinnen gut ankam. (Ältere Frauen mochten sie auch deshalb gern, weil sie so aussah, wie sie war, eine muntere, unabhängige Großmutter.) - Die Unterstützung aus dem Allerheiligsten des Demokratischen Parteiapparates in Ohio im Zusammenwirken mit seinem Image der Unabhängigkeit, des einsames Wolfs sozusagen, verschaffte ihm unmittelbare Chancen bei den Independents und Liberal Republicans. - Und schließlich - als Krönung: eine saftige bezwingende Baritonstimme und eine würdevolle Erscheinung. Er sah aus wie ein Senator, und er sprach wie ein Senator. Am Rednerpult besaß Samuel Benjamin Velcourt presence, und er verstand es ausgezeichnet, über den Fernsehschirm zu kommen. Die Wirkung war verheerend gewesen - ein lawinenhafter Sieg in einem Jahr, in dem die Republikaner, außer mit dem Präsidentenamt, überall Stimmengewinne machten. Ein Kolumnist aus Akron fand die Worte: »Die Wähler sagten immer wieder, daß ihnen der Stil des Mannes gefällt, und sie wollten ihn im Senat haben, damit er auf die andern Mistkerle aufpaßt.« Ein britischer Beobachter des Wahlkampfes hatte kommentiert: »Das Verblüffende ist nur, daß er so lange Hinterbänkler gewesen ist.« 385 Zwei Monate nach seiner Wahl in den Senat brach Sam Velcourt aus dem Pulk aus und bewies, daß er in all den Jahren beim Troß auch wirklich gründlich gelernt hatte, wie das System funktioniert. Er ließ das System für sich funktionieren - mit dem glücklichen Zugriff eines Theatermanagers, der möglichst das äußerste aus den ihm zur Verfügung stehenden Talenten herausholt. Kaum jemand war erstaunt, als man ihn anging, er solle sich bei Prescotts zweiter Kandidatur um die Vizepräsidentschaft bewerben. Sie brauchten Ohio, brauchten jemand mit Appeal für die Republikaner, einen energischen Wahlkämpfer mit attraktiver Frau, der auch selbst bereit war, sich in die Schlacht zu stürzen, ein Mann mit eigener Machtbasis - der also all das besaß, was dann wirklich darüber entscheidet, welche Kandidaten man wählt. Nur diese Neigungen zu Alleingängen in Velcourt beunruhigte die bundesweite Parteiorganisation ein wenig. Adam Prescott hatte dann Zünglein an der Waage gespielt. »Stellen wir ihn mal da ab und warten wir, wie er sich macht. Es ist sowieso klar, noch eine Senatsperiode, und dann kann nichts mehr den Mann aufhalten. Also holen wir ihn gleich nahe ran, damit wir ihn besser im Auge behalten können.« »Das State Department hat eine Höllenangst vor ihm«, hatte ein Berater des Präsidenten gesagt. Das hatte Prescott amüsiert. »Das tut denen nur gut, wenn sie Schiß haben. Aber mir kommt er nicht wie einer vor, der mit der Axt loshaut. Ein paar kleine chirurgische Eingriffe da und dort vielleicht, aber keine riesigen Blutlachen.« Prescotts Einschätzung hatte sich in allen Punkten als richtig erwiesen, und als gegen Ende der zweiten Präsidentschaftsperiode die Seuche ausgebrochen war, hatten die beiden Männer bereits gelernt, wie zwei Teile
ein und derselben Maschine zusammenzuarbeiten. Damals hatten sich Velcourts Freunde unter den Militärs als von unschätzbarem Wert erwiesen, ja als wesentlich für die Aufrechterhaltung der Autorität des Präsidenten selbst. 386 An all das dachte Velcourt jetzt am Fenster des Blue Room, während er auf den sporadischen Verkehr auf der Executive Avenue South hinunterblickte. Es war später Nachmittag, vor nicht ganz drei Stunden hatte man ihm den Präsidentschaftseid abgenommen. Eine bescheidene Zeremonie war das gewesen, im Rosengarten, fast kein Getue und nur Routinezeug in den Medien - zwei Reporter, eine Fernsehkamera, zwei Fotoapparate, von denen einer Archivfotos für das Weiße Haus machte. Velcourt wußte, es war sein Schicksal, die pragmatische Entschlußfreudigkeit seines Vorgängers nicht aufbringen zu können. Adam war ein harter, ein ausgekochter Politprofi gewesen, ein Mann, der seine eventuellen persönlichen Zweifel geschickt verbergen konnte. Aber ich neige eher dazu, meine Zweifel zu zeigen, dachte Velcourt. Da werde ich aufpassen müssen. Als er viel jünger gewesen war, hatte einmal ein Professor in Harvard zu Velcourt gesagt: »Wer das Instrumentarium der Macht handhaben will, muß lernen, daß dies zwangsläufig zu einer gewissen Unmenschlichkeit führt. Phantasie, Empathie, Vorstellungskraft, das alles sind dann mitgeschleppte Gepäckstücke, die weiterzuschleppen man sich nicht leisten sollte und darf. Wenn Sie anfangen, Menschen so richtig als Einzelwesen zu sehen, dann wird das für Sie zu einer Stolperstelle. Menschen sind nichts weiter als eine Art träger Teig, den Sie formen müssen. Da haben Sie den wirklichen und wahren innersten Kern aller demokratischen Prozesse.« Aber trotz solcher Überlegungen - oder vielleicht gerade weil sie ihm nicht paßten - empfand Velcourt die Aussicht als ganz angenehm. May war oben in Sicherheit. Eine der Töchter hatte droben im Michigan-Reservat überlebt, und außerdem hatten sie sonst nur männliche Enkel. Eigentlich ein Abend wie für Liebeslieder gemacht, dachte er. Einer von jenen milden Abenden nach einer Kältewelle, die einem weitere warme Tage versprechen. Velcourt fand dafür die Bezeichnung >pastoral<, >ländlich-friedlich<: das 387 Vieh mahlte drunten im hohen Gras, das einst der Rasen des Weißen Hauses gewesen war. Gitarrenmusik, ja, die fehlte noch. Alles gedämpft, nirgendwo eine Spur von Lautheit oder Gewalt. Nichts erinnerte hier an die in Reih und Glied aufgeschichteten Leichen, die an der Ostperipherie der Hauptstadt verbrannt wurden. Aber den rötlichgelben Feuerschein konnte er sehen, wenn er in diese Richtung blickte. Das beißende reinigende Feuer würde bald ausgebrannt sein, die einbrechende Dunkelheit würde den Schauplatz aus dem Blickfeld ausradieren - nicht aber aus der Erinnerung. Clay, mahnte sich Velcourt. Nicht durch ein Wunder blieb Washington bisher pestfrei. Es war vielmehr so, daß die Region von Leuten bewohnt war, die zu brutalen Entscheidungen fähig waren. Manhattan war ja nicht anders, aber dort hatten sie noch den zusätzlichen Vorteil, von einem Wassergraben umgeben zu sein, über den es keine Brücken mehr gab, die Tunnels blockiert, eine zweite äußere Pufferzone mit den vom Feuer schwarzverbrannten Korridoren. Sämtliche >sicheren< Orte, in denen man auf das Ende der Seuche wartete, hatten zumindest dies gemeinsam, aber auch noch ein weiteres Charakteristikum: Es gab in ihnen keine Mobs. Der wilde Mob, der Washingtons Perimeter kaum eine Stunde nach Präsident Adam Prescotts Tod angegriffen hatte, war überzeugt gewesen, daß ein paar Panzerwagen und eine Handvoll Automatikgewehre ausreichen würden, die Washington-Barriere zu durchbrechen. Die Angreifer waren unfähig gewesen, sich die Höllenwirkung der Flammenstöße des >Newfire< auszumalen, die höllische Hitze, die Nutzlosigkeit normaler Feuerschutzmaßnahmen. Newfire brachte zwar kein Gefühl absoluter Sicherheit, aber es bewirkte große Veränderungen in der Landschaft. Der zerschmolzene Beton schien jene zu ernüchtern, die ihn sahen. Aber Velcourt gab sich keinen Illusionen hin: immer wieder würden einzelne oder Gruppen die Barriere zu durchbrechen versuchen. Und ein einziges infiziertes Individuum genügte, um die Pest 388 durch die Sperren zu bringen. Ein sehr dünner Überlebensfaden, dachte Velcourt. Er wandte sich in den abendlich dunkleren Raum zurück und blickte durch die Tür in den erleuchteten Flur. Man hörte die Agenten des Secret Service sich draußen gedämpft unterhalten. Das Stimmengeräusch mahnte Velcourt, daß Aufgaben ihn erwarteten, daß Entscheidungen zu treffen waren. Im hellen Korridor kam Bewegung auf, eilige Schritte. Ein Agent trat halb durch die Tür und fragte: »Mister Präsident?« »Ich komme gleich«, sagte Velcourt. »Im Ostzimmer.« Das Kabinett und die Vorsitzenden der Sonderkommissionen waren versammelt, um dem neuen Präsidenten Bericht zu erstatten. Man würde sich direkt gegenüber, am anderen Ende des Raums, treffen, wo der ganze Technikapparat für audiovisuelle Übertragung bereit stand. Es versprach eine lange Sitzung zu werden. Einem ganz speziellen Problem würde man vordringlich Aufmerksamkeit schenken - dem Problem der neuen Diaspora der Juden. Nur ein paar Handvoll sturer Hartnäckiger waren in Israel geblieben. Die nach Brasilien immigrierten Juden würden Nahrung und Unterkünfte benötigen. Es muß wie ein Irrenhaus sein da drunten in Brasilien,
dachte Velcourt. Gott im Himmel, wann werden die Juden einmal ein Zuhause finden? Die in Israel Zurückgebliebenen hatten das Versprechen gegeben, sie würden sich durch die Wüste durchkämpfen und das saudi-arabische öl wieder zum Fließen bringen. Was für ein Wahnsinn! Durch die Seuche waren die Energiebedürfnisse weltweit auf einen Bruchteil des vorpestlichen Niveaus abgesackt. Wer reiste schon noch? Die Mehrzahl der Überlebenden führte ein örtlich beschränktes Leben, und nur das Barrier Command brauchte große Mengen öl, die aber überwiegend von der Sowjetunion geliefert wurden. Nun konnte Velcourt eine andere Stimme hören; es war die von Shiloh Broderick, und ihretwegen hatte er seinen Auftritt hinausgezögert. Der alte Broderick war aus seinem Washingtoner Stadthaus herübergekommen und hatte um die Erlaubnis ersucht, >den Präsidenten informieren< zu dürfen. 389 Neben dem strikt protokollgerechten Ersuchen war eine Notiz einhergegangen, mit >Dear Sam< überschrieben, und darin Erinnerungen an ihre Verbindung in alten Tagen. Und ohne daß das auch nur mit einem Hauch angedeutet wurde, ging aus der Notiz deutlich hervor, wer Shiloh Broderick geschickt hatte. Aus einer Laune heraus (Schließlich bin ich ja jetzt der Präsident!) sagte Velcourt: »Lassen Sie Broderick rein! Sagen Sie den andern, sie sollen ohne uns anfangen. Dann können sie schon mal einen Teil ihrer Zwistigkeiten kleinhäckseln, bis ich komme.« Velcourt drehte sich um und knipste neben einem bequemen Sessel eine einzelne Stehlampe an, dann setzte er sich gegenüber in den Schatten. Broderick bemerkte beim Eintreten die Inszenierung und begriff. »Bitte stehen Sie nicht auf, Sir!« Shiloh war stark gealtert, seit sie einander zuletzt gesehen hatten. Es fiel Velcourt sofort auf. Er ging mit schleppendem Altmännerschritt, wobei er das linke Bein schonte. In dem hageren Gesicht hatten sich neue Falten eingegraben, die wellige Mähne war völlig grau. Die Augenwinkel wirkten feucht. Der schmale Mund sah noch strenger aus. Sie schüttelten sich die Hand, Velcourt war sitzengeblieben, Broderick stand. Dann setzte sich der alte Mann in den Sessel neben der Stehlampe, deren nach unten gerichteter Reflektor ihn unfreundlich in grelles Licht tauchte. »Danke, Mister Präsident, daß Sie mich vor den andern noch empfangen können.« »Ich habe nicht Sie vorgezogen, Shiloh, ich habe nur die anderen ein bißchen zurückgeschoben.« Das bewirkte ein beifälliges Kichern. Velcourt merkte, daß Shiloh mit sich rang, ob er den Präsidenten als >Sam< anreden solle, aber die diplomatische Schulung gewann die Oberhand. »Mister Präsident, ich weiß nicht, ob Sie die Chance richtig erkannt haben, die sich uns bietet, das Kommunismusproblem ein für allemal zu lösen.« 390 Oh, Mist! dachte Velcourt. Und ich habe mir eingeredet, daß seine Leute mal endlich mit was Neuem anrücken würden. »Machen Sie Ihrem Herzen Luft, Shiloh!« »Es ist Ihnen doch sicherlich klar, daß die noch immer etliche Agenten hier bei uns haben, sogar mitten in Washington.« »Immunität heißt heutzutage nichts mehr«, sagte Velcourt. Broderick schniefte. »Und Sie werden mir sagen, wir haben auch unsere Leute bei denen drüben sitzen. Aber ich ziele auf eine andere Situation ab. Die Sowjets und die USA bestehen heute nur noch aus Leopardenfellflecken von seuchenfreien Gemeinden. Und der Vergleich zwischen der relativen Verwundbarkeit dieser jeweiligen Bevölkerungszentren zeigt, daß wir klar im Vorteil liegen.« »Ach, wirklich?« »Gewiß, Sir. Wir haben eine größere Zahl verstreuter Gemeinwesen mit geringer Bevölkerung. Haben Sie dies schon bedacht?« Jesus Christus! Dachte der Mann etwa daran, den toten Hund von einem Erstschlag wieder auszubuddeln? »Mein Vorgänger in diesem Amt und ich haben über die Sache ziemlich lange gesprochen«, sagte Velcourt trocken. »Aber Sie wollen doch nicht im Ernst ...« »Nicht atomar, Sir. Bakteriologisch!« »Und dann schieben wir die Schuld natürlich auf diesen O'Neill.« Velcourts Stimme klang womöglich noch trockener. »Genau!« »Und was, bitte, haben sowjetische Agenten damit zu tun?« »Wir setze n sie auf eine falsche Spur, aus der sich ergibt, daß wir in der Sache schuldlos sind.« »Und wie sollen wir Ihrer Meinung nach die Russen infizieren?« »Mit Vögeln.« Velcourt verkniff sich ein Grinsen und schüttelte den Kopf. »Zugvögel, Mister Präsident«, sagte Broderick. »Das wäre so genau im Stil dieses Verrückten ...« 391 Velcourt konnte das Lachen nicht länger unterdrücken. Es schüttelte ihn am ganzen Körper. »Was ist denn, Mister Präsident?«
»Shiloh, sofort nach meiner Vereidigung habe ich den Sowjetpremier angerufen, und wir haben so etwa ein halbe Stunde lang geredet - die getroffenen Vereinbarungen haben weiterhin Gültigkeit, was für neue Möglichkeiten es geben könne - so in der Richtung.« »Guter Schachzug«, sagte Broderick. »Wiegelt ihren Argwohn ab. Wer war ihr Dolmetscher?« Er hüstelte, weil er seinen Fauxpas begriff. »Sony, Sir!« »Ja, wir haben russisch gesprochen. Der Premier meinte, ich hätte einen georgischen Akzent. Er empfindet es als sehr hilfreich, daß ich seine Sprache spreche. Das vermindere die Gefahr von Mißverständnissen.« »Aber warum haben Sie dann vorhin gelacht?« »Der Sowjetpremier hat sich enorme Mühe gegeben, mir über einen kürzlichen Vorschlag seiner Militärs zu berichten. Ich überlasse es Ihrem Scharfsinn zu raten, was für ein Vorschlag das war.« »Verseuchte Vögel?« Wieder gluckste Velcourt unterdrückt. Broderick beugte sich vor, er wirkte nun ganz eifrig. »Sir, Sie wissen doch, daß man denen und ihren Versprechen in nichts trauen darf! Und wenn die inzwischen bereits ...« »Shiloh! Die Sowjetregierung wird im eigenen besten Interesse verfahren. Genau wie wir. Der russische Premier ist ein Pragmatiker!« »Er ist ein verlogener Hurensohn, der ...« »Oh, sicher, und noch mehr! Und er weiß natürlich, daß auch ich ihm gegenüber nicht in allem offen und ehrlich gewesen bin. Waren nicht Sie das, Shiloh, der mal gesagt hat, daß dies das Wesen der Diplomatie sei - akzeptable Lösungen aus Lügen zu schaffen?« »Ihr Gedächtnis ist gut, Sir, aber die Kommunisten sind darauf aus, uns umzubringen. Wir können es uns nicht leisten, unsere Wachsamkeit auch nur ...« 392 »Shiloh, bitte! Ich brauche, glaube ich, keinen Vortrag über die Gefahren des Kommunismus. Aber wir alle sehen uns einer viel unmittelbareren Bedrohung gegenüber, und bislang arbeiten wir gut zusammen in der Suche nach irgendeinem Mittel, das Aussterben der gesamten menschlichen Rasse zu verhindern.« »Und wenn die zuerst ein Gegenmittel finden?« »In ihren Labors arbeiten ein paar von unseren Leuten, Shiloh, und die Russen haben Leute bei uns. Wir haben sogar Lepikow und Beckett zusammen in England. Der wissenschaftliche Austausch fließt frei. Ich habe gerade erst letzte Woche mit Beckett gesprochen, ehe ... also, jedenfalls kommunizieren wir mit den Russen. Natürlich hört jeder diese Kommunikationen ab. Ich glaube nicht, daß uns das in ein Tausendjähriges Reich Himmlischen Friedens führen wird, aber es ist immerhin ein Zeichen der Hoffnung in einer Welt, die sich der Gefahr der völligen Vernichtung ausgesetzt sieht. Und Shiloh, wenn sich daraus ein Vorteil gewinnen läßt, ein Vorteil aus dieser Kooperation, der nicht unsere wechselseitigen Bemühungen gefährdet, dann werde ich diesen Vorteil nutzen.« »Mit allem gebührenden Respekt, Sir, Sie glauben doch nicht etwa, daß die keine Forschungseinrichtungen haben, die sie vor uns absolut geheimhalten?« »Mit allem gebührenden Respekt, Shiloh, nehmen Sie etwa an, wir hätten die nicht auch?« Broderick lehnte sich zurück, baute einen Kirchturm aus seinen Fingern und drückte sie gegen die Lippen. Velcourt wußte, in wessen Auftrag Broderick handelte -bestimmte sehr mächtige und sehr reiche Leute, ein großes Kontingent der Bürokratie oder ehemaliger Bürokraten, Leute, deren Karrieren mit dem Prädikat versehen waren, daß sie »recht haben, auch wenn sie sich irren<. Velcourt hatte das früh erkannt: In der Bürokratie gewann man mit der schlichten Tatsache, recht zu haben, keine Beliebtheitswettbewerbe in der Öffentlichkeit, besonders wenn sich dann herausstellte, daß einer, der in der Hierarchie höherrangig war, auf diese 393 Weise als im Irrtum befindlich bloßgestellt wurde. Leute, die in einer Bürokratie Macht gewinnen, war Velcourt aufgefallen, neigten zu einer großen Medienfreundlichkeit. Sie wollten Schlagzeilen machen, je dramatischer, desto besser. Also: Primitive Lösungen, gleichgültig, als wie falsch sie sich später herausstellen mochten. Dramatik, das war das Wichtige - ein höchst gewaltiger Vorteil in einer Konferenz, insbesondere, wenn man dafür eine allertrockenste analytische Sprache benutzte. Broderick hatte mit dieser einzigen Methode seine ganze Karriere gebaut. Velcourt sagte: »Sie stehen den Regierungsgeschäften schon zu lange fern, Shiloh. Ich weiß, Sie haben gewichtige Kontakte, aber vielleicht sagen Ihnen die nicht immer alles, was sie wissen.« »Und Sie sagen es mir?« In der Stimme des alten Diplomaten war der Ärger deutlich zu vernehmen. »Ich habe mich einer Politik wachsender Ehrlichkeit verschrieben - nicht völliger, aber immerhin dahin tendierend.« Shiloh Broderick schluckte dies schweigend. Die Pest, so hatte Velcourt festgestellt, hatte bei den meisten Machthabern der Welt ein ganz neues Bewußtsein geschaffen. Es handelte sich nicht mehr nur um die Anpassung an eine Reihe neuer politischer Situationen, sondern um ein ganz neues Bewußtseinsniveau, um größere Einsicht. Man setzte das Überleben der Menschheit an erste Stelle, die Politspielchen kamen erst danach. Überhaupt war die Politik aufs Drastischste personalisiert worden: Wem schenke ich Vertrauen? Und wo immer diese Frage auf einem Gebiet gestellt wurde, wo es um Leben oder Tod ging, konnte es nur eine Antwort geben: Ich traue den Menschen, die ich kenne. Und dich kenne ich, Shiloh Broderick, und ich traue dir nicht! »Mister Präsident«, fragte Broderick, »warum haben Sie mich hierher gebeten?«
»Ich habe selbst gewisse Erfahrungen, Shiloh, wie es ist, wenn man durch politische Sperren vorzudringen versucht, wenn man versucht, bei jemandem Gehör zu finden, der >etwas tun< könnte. Ich verstehe Ihre derzeitige Lage recht gut.« 394 Wieder beugte sich Broderick vor. »Sir, da draußen ...« -er wies zu den Fenstern - »... gibt es Menschen, die etwas ^rissen, was Sie wissen müßten. Ich vertrete einige der edelsten ...« »Shiloh, Sie legen den Finger genau auf die Wunde. Mein Problem ist, wie finde ich diese Leute? Und wenn ich sie gefunden habe, wie soll ich dann durch das, was sie mir anbringen, hindurchwaten, wie die Spreu vom Weizen trennen?« »Sie trauen Ihren Freunden!« Velcourt seufzte.« »Aber, Shiloh, was mir unterbreitet wird ... also das, was ausgeklammert wird, ist oft viel wichtiger als das, was mir vorgelegt wird. Shiloh, ich bin jetzt der Präsident dieses Landes. Und mein erster Beschluß besteht darin, alle Ratgeber auszusortieren, die nur Dramatik produzieren. Ich werde sie mir einmal anhören, für den Fall, daß sie mir etwas Neues zu sagen haben, aber ich habe keine Zeit für ausgedroschenes Stroh.« Broderick hörte die Verabschiedung in den Worten des Präsidenten, doch er weigerte sich zu gehen. »Mister Präsident, ich wage mich auf unsere frühere Verbindung zu berufen. Wir haben einen langen gemeinsamen Weg, auf dem ...« »Auf dem ich oft recht hatte, und Sie sich irrten.« Brodericks Mund preßte sich zu einer dünnen Linie zusammen. Velcourt sprach jedoch gleich weiter. »Verfallen Sie nicht auf den Gedanken, daß ich nachtragend wäre. Für derlei Unsinn haben wir keine Zeit. Was ich Ihnen klarzumachen versuche, ist, daß ich beabsichtige, mich auf mein eigenes Urteil zu verlassen. So ist nun einmal die Natur dieses Amtes hier. Und es steht ja nun wirklich fest, daß mein Urteilsvermögen besser war als das Ihre. Shiloh, für mich sind Sie in einem Punkt wertvoll durch Ihre Informationen.« Und Velcourt dachte: Ist Shiloh irgendein Verdacht über den wahren Charakter der Information gekommen, die er mir da gerade zugeschanzt hat? Broderick war der Vertreter von Leuten, die möglicherweise unabhängig handeln konnten und die auf 395 diese Weise ein höchst prekäres Gleichgewicht stören könnten. Eine Störung dieses Gleichgewichts konnte aber dazu führen, daß dann am Ende der Planet menschenleer war. Die Leute hinter Broderick, das war Velcourt klar, handelten aus einem Systemdenken heraus, das ein für allemal nicht mehr in die Zeit paßte. Man würde die >Operation Backfire< in Alarmbereitschaft versetzen müssen. Brodericks Lippen rieben sich aneinander, aber sie öffneten sich nicht. Schließlich sagte er mit mühsam beherrschter Stimme: »Wir haben es ja schon immer gesagt, Sie waren und sind kein guter Mannschaftsspieler.« »Es freut mich zu vernehmen, daß Sie eine so hohe Meinung von mir hatten. Sie können mir einen Gefallen tun, Shiloh: Gehen Sie zu Ihren Leuten zurück und sagen Sie ihnen, daß sich meine Ansichten über unsere Bürokratie auch nicht viel gewandelt haben.« »Das habe ich noch nie gehört.« »Ihre Leute, Shiloh, haben einen fatalen Fehler begangen. Sie haben versucht, das Sowjetmodell zu kopieren.« Er hob die Hand abwehrend, als Broderick zum Sprechen ansetzte. »Oh, die Gründe sind mir durchaus bekannt. Aber schauen Sie sich das Sowjetsystem noch einmal genauer an, Shiloh. Dort haben sie eine Bürokratenaristokratie geschaffen, neugeschaffen, sollte ich besser sagen, weil das ja genau nach dem zaristischen Muster geschneidert ist. Und Sie, Shiloh, Sie wollten Ihr Leben lang ein Autokrat sein, mit absolutem Herrschaftsanspruch. Nur leider haben Sie sich für Ihren Versuch das falsche Land ausgesucht.« Broderick umklammerte mit beiden Händen die Armlehne seines Sessels, die Knöchel waren weiß. Als er sprach, war es mit kaum verhohlener Wut: »Sir, die Intelligenten müssen die Führung innehaben!« »Und wer sollte darüber bestimmen, was Intelligenz ist, Shiloh? War es Intelligenz, was uns in dieses Chaos gestürzt hat? Verstehen Sie doch, Aristokraten können ihre Fehler nur solange unter den Teppich kehren lassen, solange es sich um kleine Fehler handelt.« 396 Velcourt stand auf und sprach aus dem tieferen Schatten 0berhalb der Lampe zu dem noch sitzenden Broderick hinab. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen möchten, Shiloh, ich muß nach drüben und zusehen, daß ich rechtzeitig entdecke, was für neue Fehler wir gerade wieder zu begehen im Begriff sind.« »Ich habe also nicht mehr Zugang zu Ihnen?« »Ich habe mir ihr Argument angehört, Shiloh.« »Also wollen Sie nicht die Vorteile nutzen ...« »Ich werde jeden Vorteil nutzen, den ich für real halte! Und der nach meinem Urteil unsere Hauptsorge nicht in Gefahr bringt - nämlich ein Heilmittel gegen die Seuche zu finden. Aus diesem Grund, Shiloh, bleibt Ihnen meine Tür offen, wann immer meine Zeit es erlaubt. Vielleicht bringen Sie mir doch einmal etwas Brauchbares.« Velcourt drehte sich um und ging rasch aus dem Zimmer. Unbewußt kopierte er dabei den zielstrebigen Gang, den er so oft an Adam Prescott gesehen hatte. Im Hauptflur diktierte er einem seiner Adjutanten ein Memorandum, während sie zum East Room eilten.
Die Alternative zu den Brodericks, dachte er, bestand nicht darin, sich in Informationen ersäufen zu lassen. Nein, die Alternative war, sich mit Menschen zu umgeben, die ihr Denk- und Beobachtungsvermögen auf die gleiche Weise benutzten, wie er selbst. Einige wenige von diesem Schlag kannte er. Vielleicht würden die andere weitere kennen. Das Memo hier war ein erster Schritt in diese Richtung. Die >wachen< Leute würde man finden müssen ... die Gescheiten, die sich nicht davor fürchteten, auch unpopuläre Sachen zu berichten. Tiefenanalyse, das mußte ohne den Präsidenten, das durfte nicht mehr in seiner Anwesenheit stattfinden. Wahrscheinlich war genau das schon seit langem das große Manko gewesen. Aber es hatte der unmittelbaren Bedrohung durch die Pest bedurft, um diese ganze Horde von Drama-Dealern zum Schweigen zu bringen und diese andere neue Methode als so offensichtlich besser erscheinen zu lassen. Allerdings, Broderick hatte in einem recht. Man mußte die richtigen Leute finden. Doch wenn er sie gefunden hatte, wenn 397 er dann deren Informationen verarbeitet hatte und seine Entschlüsse entsprechend gefaßt hatte, dann mußte er auch sichergehen, daß seine Befehle ausgeführt wurden. Es war ihm klar, daß die Leute, die Broderick repräsentierte, oftmals über weitaus größere Macht verfügten als die Zugvögel, die im Ovalen Büro residierten. Die Macht dieser Leute überstieg sogar die von Personen in anderen Büros, in den Eckbüros oder den großen Räumen am Ende langer Galerien voller Porträts früherer Zugvögel. Bürokraten lernten meist sehr früh die fundamentale Wahrheit über die eigene Macht: Wir werden hier immer noch sitzen, wenn die Zugvögel durch die Wähler abgelöst worden sind. Die Bürokraten hatten stets die Zeit auf ihrer Seite. An der Tür zum East Room blieb Velcourt stehen. Nun, seit der Pest hatte sich auch dies gewandelt. Zeit besaß jetzt nur noch einen sinnvollen Nutzen - nämlich genug davon zu haben, um einen Weg für das Überleben zu finden. Ich war's, die Jesus einst den ersten Schimpf getan. Ich war's, die unsrer Saat das Himmelstor verschloß! Ich war's, die man ans Kreuz hätt' schlagen müssen. Es gab' nicht Hölle und es gab' nicht Erdenleid, Und gab' nicht Angst - ohn' mich, das Weib. >Evas Klage<, altes irisches Gedicht Die Straße unter Johns Füßen erreichte den Kamm am Oberende des Tales viel weiter rechts von dem schiefergedeckten Landhaus, als er es erwartet hatte. Rechts konnte er eine flache Senke ausmachen, von jungen Nadelbäumen bestanden, und dahinter, auf einer höheren kammartigen Erhebung, dichtere ältere Fichten. Links fiel ein Hang an die fünfzig Meter steil ab, ehe er sich zu einer tiefen, an die tausend Meter weiten Schüssel ausdehnte. Das chäteau, zweistöckig und mit vierfach gestuftem Dachfirst, kuschelte sich in eine Biegung aus schwarzem Fels auf der anderen Seite der Senke. Auf dem Gras vor dem Schloß weideten Schafe. Von weit rechts 398 jier führte eine Doppelreihe von Pappeln schräg heran, zwischen ihnen ein verwucherter Fahrweg. Die Pappeln und ein Gehölz hochgewachsener Nadelbäume verdeckten teilweise eine zweite, tiefergelegene Wiese dahinter. Der Westwind ließ die Pappeln schwanken und legte das hohe Gras um, das in der brüchigen Grenzmauer an der Straße wuchs. John drehte sich um und warf seinen Weggefährten einen Blick zu. Herity hatte einen Fuß auf das Mäuerchen am Straßenrand gestemmt, er beugte sich über das Knie vor und schien zu lauschen. Der Priester und der Junge standen dicht dabei und starrten auf die ländliche Szene vor ihnen. »Mann, jetzt schaut euch das mal an!« sagte Herity mit gedämpfter Stimme. Der Priester legte die Hand an sein linkes Ohr und lauschte. »Hört doch!« Und dann hörte John es: Das ferne Geschrei spielender Kinder - dünn, schrill, voller wilder Lebenslust. Ein Wettspiel, dachte John. Er stieg auf das Mäuerchen und starrte, direkt neben Herity, über die Talmulde hinüber zu dem Haus. Der Lärm kam hinter den Pappeln und dem Sichtschirm aus Nadelhölzern hervor. Herity zog den Fuß von der Mauer und trabte die Straße hinunter, bis er an den Fichten vorbeischauen konnte. John und die andern beiden folgten ihm eilends. Der Priester zerrte den von Gannon geschenkten Feldstecher aus dem Rucksack, während er ihnen nachlief. Dann blieb er stehen und richtete das Fernglas auf die flache weite Wiese, die man von hier aus nun einsehen konnte. Die anderen blieben neben ihm stehen. Und dann sah John sie auch - die Kinder, die auf dem Rasen spielten, Ball spielten, den sie hin- und herkickten. Die Kinder trugen weiße Blousons und weiße Strümpfe, schwarze Schuhe und Röcke! Dunkle Röcke! Herity streckte die Hand zu dem Priester hinüber. »Geben Sie mir das Glas! Rasch!« Der Priester reichte ihm den Feldstecher, und Herity rich399 tete ihn auf die Spieler. Während er beobachtete, bewegten sich lautlos seine Lippen. Dann stöhnte er: »Aaaahh! Die süßen kleinen Schönen. Wie schön sie sind!« Langsam ließ Herity das Glas sinken, dann gab er es an John weiter. »Da, schaun Sie mal, was der Verrückte nicht erwischt hat! Sehen Sie's?« Mit zitternden Händen regulierte John die Linsen und schaute auf die Wiese hinunter. Die Kinder, die da spielten, waren Mädchen, so etwa zwölf bis sechzehn Jahre alt. Die Haare waren zu Doppelzöpfen geflochten,
die weit flogen, wenn die Mädchen sich bogen und hinter dem Ball herrannten oder den anderen Spielerinnen zuriefen. Ein Teil der Mädchen, sah John, trug gelbe, der andere grüne Bänder am Arm. Zwei Mannschaften. »Ein Mädcheninternat?« fragte John mit heiserer Stimme. Er spürte, fern und schwach, wie O'Neill-im-Kopf sich regte, eine verdrossen-nörgelnde Unruhe, und John wußte, sie forderte Stillung. »Das ist Brann McCraes kleiner Taubenschlag«, sagte Herity. »Und der Mann hat es geschafft, daß sein kleines Paradies da für die Finn Sadal und andere Sperrgebiet ist, und jeder weiß, der McCrae hat mindestens fünf Raketenabschußvorrichtungen, ganz zu schweigen von dem übrigen Sortiment an Gewaltmitteln, die ihm zur Verfügung stehen - also bestreitet ihm der Militärrat seine Machtbefugnis nicht.« Der Stumme drängte sich dicht an den Priester und starrte wie gebannt zur Wiese hinunter. John ließ das Fernglas sinken und reichte es dem Priester zurück. Der bot den Feldstecher dem Jungen an, aber der schüttelte nur den Kopf. »Sind das wirklich Mädchen oder bloß Jungens in Mädchenkleidern?« fragte John. »Mädchen und scharfe junge Weiber, das isses, was die sind«, antwortete Herity. »Und alle heil und geschützt in Mister McCraes französischem Schlößchen. Würden Sie nicht auch sagen, John, daß das da ein französisches Schloß ist?« »Es könnte so sein.« John wurde sich der Antwort erst be400 wußt, als er sie ausgesprochen hatte. Er blickte zum Dach des Gebäudes, das über den Baumwipfeln sichtbar war. Aus vier Kaminen kräuselte Rauch. Er konnte sogar das Torffeuer riechen. »Joseph, warum haben wir diesen Weg genommen?« fragte der Priester mit zittriger Stimme. »Wir dürfen da nicht näher herangehen. Wir sind doch alle sicherlich infiziert!« »Genau wie die Soldaten, die die da unten bewachen«, sagte Herity. »Aber sie sind dort isoliert, und wir können sie durch die Bäume sehen, wie sie leben. Es sind nicht alle Frauen in Irland tot.« »Wer ist dieser Brann McCrae?« fragte John. »Der Krösus der importierten Landwirtschaftsmaschinen«, sagte Herity. »Ein ganz ein reicher Mann, und er hat schöne große Häuser wie das da und Waffen und - so sagen die Leute - stramme Weiber, die sie notfalls benützen werden.« Er wandte sich ab, und im selben Augenblick hörte man einen Gewehrschuß aus der Richtung des Schlosses. Eine Kugel traf den Fels neben Herity und prallte winselnd ab. Der Priester riß den Jungen hinter dem Straßenmäuerchen zu Boden, John duckte sich, merkte, daß jemand seinen Arm herunterriß Herity schleppte ihn quer über die Straße. Sie rollten gerade über die Mauer auf der anderen Straßenseite, als das zweite Geschoß einschlug. Der Priester und der Junge liefen geduckt herüber, rollten sich über die Mauer und waren bei John und Herity. Dann lagen sie alle vier da im dichten Gras über der flachen fichtenbesetzten Senke, die John vorher bemerkt hatte. Er lauschte. Das Geschrei der Mädchen beim Spielen hatte aufgehört. Eine Männerstimme bellte einen knappen Befehl, weit drüben. Sie dröhnte, als benutze der Mann ein Kuhhorn als Verstärker. Ins Haus! »Sie wollen uns nur warnen«, sagte der Priester. »Brann McCrae bestimmt nicht«, sagte Herity. Er lachte und spähte in die Senke hinab und zu dem Kamm auf der anderen Seite. »Kommt mir nach!« Mit geducktem Kopf 401 rannte Herity den sanften Hang in den Schutz der Fichten hinab, brach durch Zweige, schob sich seitlich mit der Schulter durch dichteres Geäst. John und die andern folgten ihm. Die zurückschnellenden Äste trafen ihn klatschend auf Arme und Schultern. »Hier herein!« rief Herity. Sie brachen durch die schützenden Stämme auf eine kleine Lichtung mit hüttengroßen Granitfelsen in der Mitte. Herity tauchte hinter die Felsen, die anderen ihm nach. Sie lagen keuchend auf Gras, das nach Staub und Flint roch. Der Priester bekreuzigte sich. Der Junge drückte sich dicht an ihn. »Wozu sind wir so gerannt?« fragte John. »Weil ich Mister McCrae kenne«, sagte Herity. Schweigen senkte sich über die Lichtung, dann kam von dem Kehldach des Schlosses ein zischendes Fauchen. Auf der Straße, die sie soeben verlassen hatten, krachte betäubend laut eine Explosion. Schwarze Fetzen der Teerdecke und Steine wirbelten durch die Luft. Herity grinste den Priester an. »Der mag nicht kooperieren, der Brann McCrae.« John dröhnten die Ohren noch von der Explosion. Er preßte die Hände auf sie und schüttelte den Kopf. Der O'Neill-im-Kopf rührte sich, erwachte beinahe. Explosionen bedeuteten für ihn Bomben, er dachte nicht an Geschosse. Bomben - haben deine Lieben getötet. »Du hast aber niemand mehr, den du liebst«, murmelte John vor sich hin. »Was haben Sie gesagt?« fragte Herity. John ließ die Hände sinken. »Nichts.« Er spürte, wie O'Neill-im-Kopf in seine Erstarrung zurücksank, doch bot das keinen Trost. Was würde sein, wenn O'Neill-im-Kopf mit voller Wut in Heritys Gegenwart auftauchte? Es wäre eine Katastrophe. »Wir müssen von hier weg!« sagte der Priester.
Herity hob die Hand, gebot Schweigen. Er spähte in das Fichtengehölz im Norden. Dort knackte ein Ast, und man hörte, wie etwas Großes sich durch die Zweige schob. Herity 402 zeigte auf Johns Gesäßtasche und flüsterte: »Die Pistole!« Er legte einen Finger auf die Lippen, drückte die Maschinenpistole fest an die Brust und begann auf das Geräusch zuzukriechen, dicht unter dem Schutz der Zweige, robbend. Nach ein paar Herzschlägen war er aus dem Blickfeld verschwunden. John zog die Pistole aus der Gesäßtasche und schaute Herity nach. Er kam sich idiotisch vor. Wozu sollte das kleine Blasrohr gut sein, wenn man es mit einem Geschütz zu tun hatte? Von dem großen Ding, das sich durch die Fichten schob, kamen keine weiteren Geräusche. Der Priester hatte seinen Rosenkranz hervorgeholt, befingerte die Perlen, die Lippen bewegten sich lautlos. Der Junge hatte den Kopf fast ganz in seinen Anorak geduckt. Die Stille dehnte sich - wurde drückend schwer. John kroch an dem Priester vorbei und drehte sich um, bis er sich mit dem Rücken gegen den warmen Fels lehnen konnte. Die jungen Fichten standen direkt vor ihm, nur ein paar Schritte weit weg; davor hohes braunes Gras, dichte grüne Äste dahinter. Sie bildeten einen fast vollkommenen Sichtschutz nach draußen. Eine Männerstimme rief etwas von rechts oben vom Kamm. John konnte die Worte nicht verstehen. Er kam sich hier sehr exponiert vor, wie als Zielscheibe hingesetzt für jeden, der in den Bäumen lauern mochte. John hob den Revolver und zielte. Geräusche, Bewegungen zwischen den Bäumen - Herity? »Yank!« Heritys Stimme. »Es sind Freunde. Wir kommen raus.« John senkte die Waffe, sicherte sie und schob sie wieder in die Tasche. Herity und hinter ihm zwei hochgewachsene Männer tauchten zwischen den Bäumen auf - Vogelscheuchen in grünen Uniformen, mit dunkelgrünen Baskenmützen, auf denen, wie auf den Achselklappen, das Harfensymbol der Nation Eire prangte. Beide trugen Maschinenpistolen. Herity schaukelte die seine wie beiläufig im rechten Arm. 403 John besah sich die beiden Fremden. Sie sahen einander so ähnlich, daß sie recht gut Zwillinge hätten sein können, allerdings wirkte der Vordere älter, mehr Falten um die Augen die Haut irgendwie wettergegerbter. Strähnen sandfarbener Haare hingen unter den Berets hervor. Die fahlblauen Augen spähten achtsam über den flachen Wangenknochen, an den kurzen Nasen vorbei. Beide hatten ein weiches rundes Kinn und volle Lippen. John und der Priester standen auf, als die drei Männer auf die schützenden Felsen zutraten. Der Junge blieb hocken und lugte unter der Kapuze seines Anorak nach oben. Die Männer blieben vor John stehen. Herity sagte: »Das ist John Garrech O'Donnell, Liam. Pater Michael wirste ja kennen. Und das da unten ...« - er blickte zu dem kauernden Jungen hinab - »ist der Junge.« Der ältere der beiden Neuankömmlinge nickte. Zu John gewandt, sagte Herity: »Das ist Liam«, und zeigte auf den älteren Mann, »und sein Vetter Jock. Sie sind Cullens, alle beide. Liam und Jock gehören zu den acht Vollschwadronen der regulären Truppe, die Mister McCraes hübsches kleines Institut da drüben zu beschützen haben, da das ja wirklich 'n verflucht verführerischer Bissen für Sittenstrolche ist.« »Gott sei gedankt!« sagte der Priester. »Diesen jungen Frauen darf kein Leid geschehen.« Liam starrte den Priester an, ein stark feindseliger Blick unter den schweren Lidern hervor. John, der dies wahrnahm, war erstaunt über den zur Schau gestellten Zorn. Hier gab es verdeckte Unterströmungen, die ihn beunruhigten. Herity kannte diese beiden Männer. Die Männer kannten den Priester. Die vorherige Frage des Priesters war berechtigt gewesen: Warum waren sie von Herity gerade hierher geführt worden? »Der Arrrmy sei gedankt«, sagte Jock mit einem starken Schnarren in der Stimme. Er spricht nicht wie ein Ire, dachte John. Als hätte er Johns Gedanken gelesen, sagte Herity: »Hat 404 eixr nicht 'ne wunderrrvolle Stimme im Bauch, unserrr Jock? gr ist einer von den katholischen Schotten aus Antrim, John.« »Genug davon«, sagte Liam. »Du weißt, daß diese Straße gesperrt ist, Joseph. Warum forderst du McCrae und sein Geschütz heraus?« »Damit er allmählich seine Munition aufbraucht«, sagte Herity mit einem Glucksen in der Stimme. »Ach, bist du heut mal wieder drollig!« sagte Liam. »Lang nicht so drollig wie du und lang nicht so scharf«, entgegnete Herity. »Wir haben 'ne Art Abkommen mit McCrae, und das weißt du! Diese Mädchen da drunten müssen geschützt und bewahrt bleiben, auch wenn McCrae sie in seinen Dreckspfoten hat.« Der Priester setzte sich plötzlich in Bewegung und trat neben John. »Was haben Sie da gerade gesagt, Liam Cullen?« »Halten Sie sich da raus, Priester!« sagte Liam. Er warf seinem Cousin einen Blick zu. »Geh zu den andern zurück und sag ihnen, hier ist alles sicher. Sie können Mister McCrae Bericht erstatten, daß es sich nur um unschuldige Pilger handelt, die auf seiner Straße wandern.«
Jock drehte sich um, seine grüne Gestalt schien mit den Bäumen zu verschmelzen, und bald hörte man ihn auch nicht mehr. Der Priester ließ sich nicht so leicht abspeisen. »Dreckspfoten, haben Sie gesagt, Liam Cullen. Was haben Sie gesehen?« »Also, zwei von den älteren Mädchen sind angebrütet, das steht mal fest«, sagte Liam. »Hat McCrae einen Priester in seinem Haus?« fragte Pater Michael scharf. »Was das angeht«, sagte Liam, »sollten Sie wissen, daß Mister McCrae mit Ihrer Kirche nicht viel im Sinn hat.« Der Priester schüttelte langsam den Kopf, von einer Seite zur andern. Herity hatte dem Wortwechsel mit unverhohlenem Vergnügen zugehört. Jetzt drehte er sich zu Liam: »Habt ihr schon die Kopfzahl?« 405 »Ganz genau nicht, aber wir haben neun ältere Frauen identifiziert, und es gibt an die dreißig jüngere.« »Woher kommen die alle?« fragte John. »Oh, das immerhin wissen wir«, antwortete Herity. »Unser Mister Brann McCrae hat beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten die jüngeren weggefischt. Und er hat ein teuflisches Glück gehabt dabei. Nicht eine in dem ganzen Haufen war krank. Was die älteren angeht ...« Herity warf Liam einen Blick zu. »Die sind schon seit Jahren bei ihm.« »Was meinen Sie mit >weggefischt« fragte John. »Er hat den Eltern gesagt, sie sollen vor der Pest versteckt werden«, sagte Liam. »Und das ist ja nun mal echt wahr.« »Der Mann ganz allein?« fragte John. Liam nickte. »Ich muß mit ihm sprechen«, sagte der Priester. »Sie Priesterchen haben ihm nichts zu sagen, was er hören möchte«, sagte Liam. »McCrae und seine Frauen, die sind jetzt Anhänger der Druidenreligion. Sagen sie jedenfalls.« »Eine neue Gotteslästerung!« Der Priester funkelte Liam zornig an. »Sie sagen, ihr habt ein Abkommen mit ihm. Sie stehen in Kontakt mit ihm. Sie haben Jock gesagt...« »Dachten Sie daran, eine Massenhochzeit zu veranstalten, Pater?« fragte Herity spöttisch. »Mister McCrae und sein Stall voller Weiber im heiligen Bund der Ehe abgesegnet? Das war mal 'ne tolle Show!« Der Priester beachtete den Stich nicht, sondern konzentrierte sich weiter auf Liam. »Wenn Sie mir nicht die Gelegenheit verschaffen, mit dem Mann zu sprechen, dann werde ich Ihnen die Gelegenheit bieten, mich rücklings abzuschießen, wenn ich dorthin gehe. Ich darf nicht zulassen, daß ihre Seelen in die Hölle kommen!« »Schön, warum nicht?« sagte Liam. »Der katholische Priester in 'nem Religionsdisput mit Mister McCrae - das bringt ein bißchen Spaß für meine Jungs. Aber Sie werden über ein Feldtelefon mit ihm reden, kapiert? Und das ist mindestens fünfhundert Meter von seiner äußeren Schutzlinie entfernt. 406 Mäher können Sie nicht ran. Wenn Sie bloß mit ihm reden wollen/ das können wir bewerkstelligen. Wenn Sie beabsichtigen, ihm persönlich gegenüberzutreten, dann allerdings Kriegen Sie 'ne Kugel ... in den Rücken oder sonstwohin, wo wir gerade Lust haben, Sie zu treffen.« »Wann würden Sie das Gespräch einrichten können?« fragte der Priester. Er klang inzwischen etwas ruhiger. »Heut abend.« Liam drehte sich um und schritt auf die Bäume zu. »Haltet die Köpfe drunten, sobald wir die Straße erreichen! Hinter dem Kamm haben wir Unterstände, dort könnt ihr warten.« Die anderen folgten Liam, und John schloß sich als letzter an. Er bog die federnden Zweige beiseite, bückte sich unter den stärkeren hindurch, sein gelber Pullover hing voller Nadeln. Er spürte sie in den Haaren. Spinnweben hingen an manchen Stellen über den Weg. Er schob sie beiseite, dann tastete er nach der kleinen Waffe in seiner Gesäßtasche. Während sich die Männer auf den Priester konzentrierten, konnte jemand anderes leicht davonschleichen und sich dem Chäteau dieses McCrae nähern. Der Gedanke verwirrte ihn. Dann nämlich würde Herity mit Sicherheit wissen, wer John O'Donnell wirklich war. Aber wer bin ich denn? Er hörte ein Summen in den Ohren und fragte sich, ob er gleich ohnmächtig werden würde. John O'Neill wollte nicht, daß auch nur eine Frau in Irland am Leben bliebe. Und da drüben im Schloß gab es Frauen. Er hörte, wie Liam und Herity sich vorn stritten. Plötzlich wurde Liams Stimme laut. »Du bist ein Idiot, Joseph Herity! Warst schon immer einer. Du hast deine Befehle mißachtet, genau wie damals bei der andern Sache. Ich hab dich schon mal gewarnt, und jetzt warne ich dich noch einmal. Du wirst keine Gelegenheit haben, meinen Auftrag zu gefährden!« Herity antwortete so leise, daß John nichts verstehen konnte. Doch John hörte sowieso nicht mehr zu. Befehle? Was für Befehle? 407 Irgend etwas warnte ihn dringend zur Vorsicht. Was war hier los? Er spürte O'Neill-im-Kopf deutlich, lauernd, kauernd, fragend, lauschend. Dieser Marsch durch die irische Landschaft war nicht das, als was er ihm
erschienen war. Wie lange waren sie nun bereits unterwegs? Über einen Monat! Warum dauerte es so lange, von einem Ort zu einem anderen zu gelangen? Warum diese vielen Umwege und die zeitverzettelnden Märsche über Nebenwege, und Herity sagte dazu immer nur, sie dürften sich nur auf der sichersten Route bewegen? Gannon hatte gespürt, daß da etwas faul war. Hatte Gannon mit seiner Vermutung recht? Wenn wir uns ausschließlich auf Verteidigungsmaßnahmen verlassen, werden wir uns in zunehmendem Maße verhalten wie gehetzte Kreaturen, die von einer Schutzvorrichtung zur nächsten rennen, und jede davon ist nur noch komplizierter und teurer als die vorhergehende. _ ,_ ° RENE DUBOS Die Burg da, also hier spukt es«, flüsterte Kate. Fröstelnd kuschelte sie sich im Bett an Stephen. Ausnahmsweise war sie einmal geradezu dankbar für die Kuhle in der Matratze, weil sie auf diese Weise gezwungen waren, die ganze Nacht lang dicht beieinander zu liegen. »Pscht!« flüsterte Stephen. »Nicht im geringsten.« In der Originaldruckkammer aus dem Forschungslabor Adrian Peards war es finster, und man hörte nur hin und wieder den Wachtposten draußen mit den Füßen scharren oder hüsteln. »Ist es aber doch, sage ich dir«, flüsterte Kate zurück. »Meine Großmutter merkte es immer genau, wenn es irgendwo spukte, und ich habe es von ihr geerbt. Das ist ein böser Ort hier.« »Aber er schützt dich vor der Infektion«, sagte Stephen lauter. Inzwischen hatte er die Hoffnung aufgegeben, Schlaf 408 zu finden. Wenn Kate in so einer Stimmung war, ließ sie sich picht so leicht beschwichtigen. »Die Gespenster wollen mich haben!« sagte sie. »Ich komme hier nicht mehr lebend heraus.« Sie ergriff Stephens j{and und legte sie auf ihren Unterleib. »Und dieses arme Hund wird nicht lebend auf die Welt kommen.« »Kate, hör auf damit!« sagte er. Sie redete weiter, als hätte sie ihn nicht gehört. »Zwischen den Soldaten hier gibt es Streit, Stephen. Und daran sind die bösen Geister schuld, und das weißt du so gut wie ich.« »Wir wissen gar nichts dergleichen!« »Aber du hast doch das von Dermott Houlihan und Michael Lynskey gehört. Wie sie getobt haben wegen dem Phantom-Klang!« »Wir haben verlangt, daß sie im Radio keine weiblichen Sprecher mehr verwenden«, sagte Stephen. »Und Dermott hat behauptet, die Frau im Radio hat genauso geklungen wie seine tote Lileen, und Michael sagt, nein, es ist die Stimme von seiner Peg. Stephen, ich hab gehört, wie Moone das erzählt hat, und das war keine Halluzination! Wie die beiden da auf einander eindroschen und sich auf der Erde wälzten, sich blutig schlugen, und die ganze Zeit liefen ihnen die Tränen übers Gesicht.« »Aber hinterher, Katie-Darling, sind sie Arm in Arm zur Bar im Saloon getorkelt. Erinnere dich auch daran! >Och, das war mal 'n doller Kampf<, sagten die zwei hinterher.« »Es ist Wahnsinn!« sagte Kate. »Ja, vielleicht, Katie.« »Sag nicht Katie zu mir! Ich bin kein Kind mehr!« »Liebling, Süßes, es tut mir so leid.« Er streckte die Hand aus, um sie zu streicheln, doch sie stieß die Hand fort. »Es sind die Geister«, wisperte sie. »Es gibt keine Frauen mehr, die die Leichen waschen und aufbahren. Die faeries bringen die Gespenster. Ohhh, die faeries holen sich jetzt viele Seelen.« »Kate, du mußt damit aufhören. Es ist nicht gut für das Kind.« 409 »Diese ganze Welt ist nicht gut für mein Kind!« »Aber, Kate, es ist doch nur, weil es so spät in der Nacht ist. Es muß schon mindestens drei oder vier sein.« »Die hohen Kosten, daran wird's scheitern«, sagte sie. »Die werden es bald leid sein, dafür zu zahlen, daß wir hier drin sind, und dann werden sie uns hinausjagen in das pestverseuchte Land.« »Ich werd jeden zerquetschen wie eine Filzlaus, der das versucht!« sagte Stephen mit Nachdruck. »Und wie willst du sie daran hindern? Mit der kleinen Pistole da?« »Ich finde eine Möglichkeit.« »Stephen, was ist, wenn sie kein Gegenmittel finden?« »Kate, du spinnst«, sagte er. »Kein Mittel? Also ... also...« Stephen brach ab, es fiel ihm nichts ein, was schrecklich genug gewesen wäre, diese Vorstellung zu verdrängen. »Und sie werden mir nicht einmal ein anständiges Begräbnis geben«, klagte Kate. »Sie haben ja nicht mal einen Priester mehr irgendwo.« »Doch, es gibt noch Priester.« »Und warum kriegen sie dann keinen her, damit wir endlich heiraten können?« »Sie finden einen, bestimmt. Du hast doch Adrian gehört. Sie suchen nach diesem Pater Michael Flannery, die ganze Zeit, auch jetzt.« »Mitten in der Nacht suchen sie nach einem Priester? Aber das macht man doch bloß, wenn man die letzte Ölung
braucht. Und es wird gar nicht mehr lang dauern, dann bin ich soweit.« Stephen gab darauf keine Antwort Wenn Kate in solch einer Stimmung war, würgte ihm das allen Mumm ab. Und dann, das Geschwätz überaenes! Eine fast fertig ausgebildete Krankenschwester - und faeriesl Was für ein Quatsch! »Wo ist die himmlische Heerschar, die uns aus diesem Elend befreit?« flüsterte Kate. Sie denkt an ihren Vater, machte Stephen sich klar. Engel! 410 Himmlische Heerscharen! So hatte Kates Vater immer und immer wieder geklagt. Sie hatte es ihm erzählt. »Wir sind immer zum Pferdemarkt gegangen, wenn einer nahe genug war«, sagte Kate. »Einmal waren wir auf der Pferdeparade in Dublin. Ich war noch so klein, daß er mich auf die Arme nehmen mußte, damit ich was sehen konnte. Es war so aufregend!« Sie soll nicht über die Parade in Dublin reden, dachte Stephen. Sie weiß, was dort nach der Pest und der Quarantäne passiert ist. Gleich wird sie damit wieder anfangen. »Kate, sie werden ein Heilmittel finden«, sagte er. »Und wir werden uns dann mal bald Gedanken machen müssen, in welche Schulen wir unsere Kinder schicken werden. Was am besten für sie sein wird.« »Ich hab nur ein Kind im Bauch, Stephen, und es ist viel zu früh, jetzt schon über Schulen zu reden.« »Sie richten gerade St. Edna's wieder ein«, sagte Stephen. »War das nicht großartig, wenn eins von unseren Kindern ...« »Die sind Idioten!« sagte Kate heftig. »Als könnten sie den Geist von Patrick Pearse heraufbeschwören, uns zu segnen. Paß gut auf, wenn du Geister beschwörst! Das hat meine Großmutter immer gesagt.« »Aber es ist doch nur eine Schule, Kate.« »Was für eine Schreckensvision, so was auf uns herabzubeschwören!« »Ich rede noch mal mit Adrian wegen dem Priester«, sagte er. »Und das wird uns einen schönen Dreck helfen! Der hat uns da, wo er uns haben wollte. Ihm ist es völlig egal, daß meine Seele in der Hölle brennen muß.« »Kate!« »Alles, was von mir übrig sein wird, ist so 'ne kleine Bronzetafel an der Gedächtnisstätte bei Glasnevin - >den heldenhaften Frauen Irlands, möge die Erinnerung an sie nie erlöschend Lauter Worte, Stephen, nichts als Worte] - Ach, dreh dich doch endlich um und schlaf endlich!« 411 Wie typisch für siel dachte er. Erst haut sie mir alle ihre Ängste rein, und dann sollen wir friedlich schlafen?1. Irland ist durch die englischen Strafgesetze verdorben worden. Die Engländer haben uns unsere Religion verboten, sie haben uns jegliche Form von Erziehung untersagt - und es dann gewagt, uns >ungebildet zu nennen! Wir durften keine freien Berufe ausüben, kein öffentliches Amt bekleiden, nicht Handel und Gewerbe traben. Wir konnten nicht in oder im Umkreis von fünf Meilen von einer Verwaltungsgemeinde leben! Wir durften kein Pferd besitzen, das mehr als fünf Pfund wert war, wir durften Land weder besitzen noch pachten, durften nicht wählen, keine Waffen besitzen und nichts aus dem Erbe eines Protestanten erhalten! Aus dem per Wuchermiete uns zu Bebauung gelassenen Land durften wir keinen Ernteertrag erzielen, der mehr als ein Drittel der Wuchermiete betrug. Durch Gesetz wurden wir zum protestantischen Glauben gezwungen, zur Teilnahme an ihren Gottesdiensten. Die Messe wurde uns verboten. Wir bezahlten doppelt, um die Milizzu unterhalten, die uns unterdrückte. Und wenn ane fremde katholische Macht dem Staat Schaden zufügte, wir mußten dafür bezahlen! Und Sie sind erstaunt, daß wir die Briten noch immer hassen? JOSEPH HERITY Herity und Liam Cullen standen auf einer Lichtung unterhalb der Schafweide vor Brann McCraes großem Haus. Sie waren sich bewußt, daß John sie von etwa hundert Metern weiter oben beobachtete. Die beiden Männer schienen die Dämmerung zu genießen, die sich über die Hügel, das Tal und das Chäteau senkte. In dem rötlichen Licht über den Köpfen der Männer schössen Schwalben hinter Insekten her. Weiter drüben unter den Bäumen hörte man einen Soldaten auf der Flöte spielen - ein dünner, irgendwie gespenstischer Ton im Spätlicht. Die Luft duftete nach Fichten und zertretenem Gras. 412 »Er ist dort oben und läßt uns nicht aus den Augen«, sagte Liam leise. »Ich hab ihn gesehn. Hast du gute Schützen auf der strecke postiert?« »Glaubst du, ich bin so blöd, daß ich das Glück herausfordere wie du?« »Sie sollen ihn runterbringen, nicht ihn umbringen, kapiert!?« »Ich jedenfalls bin einer, der Befehlen gehorcht, Joseph.« Liam warf einen Blick zu John hinauf, dann schaute er wieder ins Tal. »Ist er es?« »Manchmal glaube ich, er ist's, manchmal bin ich sicher, er ist es nicht. Und die draußen können uns auch nicht helfen mit ihrem Panikfeuer und all dem. Er könnte der Mann sein, und er könnte es nicht sein. Wo er gelebt hat, ist nichts mehr übrig, dieser kleine Ort - 'ne Warze am Arsch der Welt, und keiner mehr übrig, der uns was sagen könnte.« »Aber was macht dich unsicher?« fragte Liam. »Er schläft wie ein unschuldiges Kind, fast nie ein Zucken, und ich hab ihn weiß Gott beobachtet.«
»Aber warum glaubst du dann immer noch, er ist vielleicht der Verrückte?« »Ach, so Kleinigkeiten. Er hat so was in den Augen, wenn er sich die ganze Zerstörung anschaut.« »Und trotzdem hast du ihn hergebracht!« »Ich geb's ja zu, ich war selber neugierig, wie das hier ist.« Herity schüttelte den Kopf. »Wie hältst du das aus, das Tag für Tag mitansehen zu müssen?« »Ach, wir haben unsre Aufgabe, und die Armee gehorcht ihren Befehlen. Wir können nicht zulassen, daß da Leute durch die Gegend wandern und Märchen über unsere Schützlinge verbreiten.« »Kein Sterbenswörtchen kommt über unsere Lippen, Liam.« »Das sagste jetzt, wo du nüchtern bist. Aber wie isses, wenn du dann wieder mal den Wanst voll Whisky hast?« »Paß auf deine Zunge auf, Liam! Die IRA war die Hüterin 413 der Ehre Irlands, als nicht mal deine Armee uns helfen wollte.« Ein dünnes Lächeln huschte über Liams Lippen. »Aaah, aber da geht so 'ne Geschichte um, daß du das warst, der O'Neills Familie in die Luft gejagt hat.« »Über viele von uns werden Lügen erzählt, Liam.« Herity ließ den Blick über die Automatikwaffe in Liams Händen gleiten, und seine Stimme wurde seidenglatt. »Alter Junge, als wir zusammen im Heu rumtobten, wer von uns beiden hätte damals gedacht, daß so ein Tag kommen würde?« »Du hast schon immer gut reden können, Joseph, aber alles, was ich von dir zu hören kriege, ist, daß du glaubst, der Yank ist wirklich unser Verrückter. Warum ... alter Junge?« Herity schaute in die dichter werdende Dunkelheit über dem Tal. In den Fenstern des Schlößchens sah man Kerzen aufflammen. Irgendwo im Schatten drunten muhte eine Kuh. Herity sprach nachdenklich: »An dem ersten Tag, an dem wir zusammen über die Straßen trampten, habe ich das Gespräch auf den Terrorismus gebracht, wie sie das jetzt nennen. Und da hat der Yank gesagt, die IRA hat die Ehre Irlands verraten.« »Genau das steht in den Briefen des Verrückten, aber inzwischen kennt ja jeder diese Worte. Ich bin nicht befriedigt, Joseph. Was soll ich Dublin sagen?« »Sag ihnen, ich bin mir nicht sicher ... - und das heißt, er ist noch immer die scharfe Bombe, an der wir nicht rumfummeln dürfen.« »Und du hast ihm 'ne Waffe gegeben«, sagte Liam. »Warum?« »Damit er denkt, ich vertraue ihm.« »Tust du aber nicht.« »Nicht mehr, als ich dir traue. Gehn wir jetzt zu der kleinen Hütte mit dem Feldtelefon?« »Ich sollte keinen von euch hier am Leben lassen! Ich habe meine Befehle, und die lauten, daß ich McCraes Geheimnis zu schützen habe.« Herity wirbelte auf dem Absatz herum, sein Gesicht war 414 kaum einen Fingerbreit von dem Liams entfernt. »Der Yank gehört mir! Haste das begriffen? Nicht du entscheidest hier Über Leben und Tod, verstanden? Er gehört mir!« »Ja, das sagen die in Dublin auch.« Liam sagte es sanft. Dann drehte er sich um und ging auf dem Pfad dorthin zurück, wo John noch immer wartete. John beobachtete die beiden Männer, während sie näherkamen, und er war sehr überrascht, als Liam, ohne stehenzubleiben, sagte: »Sie kommen mit uns, Yank!« Da er nicht hatte hören können, was die beiden da unten geredet hatten, waren ihm wilde Vermutungen durch den Kopf gegangen. Herity war sein Wächter, nicht sein Beschützer, hatte John entschieden. Er argwöhnte etwas. Aber was? Auf der Hut und voll Furcht folgte er den beiden. Im Postenunterstand nahmen sie den Priester mit, der Junge lag schlafend auf einer Pritsche in der Ecke. Als sie dann die kleine Hütte tief unterhalb der Spielwiese unter dem Schloß betraten, war es völlig dunkel geworden. Als sie eintraten, kratzte ein Streichholz in Liams Hand, eine Kerze leuchtete auf, man sah das Innere der Holzhütte. Rohe Planken, darüber ein primitives Schuppendach. Ein einziger Stuhl und ein Tisch als Möbel, auf dem Tisch ein schwarzes Feldtelefon und in einem feldgrünen Kasten ein Lautsprecher. Ein Draht verlief vom Telefon zum Dach hinauf. Dann hörte man Schritte, und Jocks Stimme ertönte von draußen: »Alles an Ort und Stelle, Liam.« Liam schien sich sichtlich zu entspannen. Er bot dem Priester den Stuhl an. »Ich habe es eingerichtet, daß McCrae selbst Ihnen antworten wird. Er bibbert schon geradezu danach, ein theologisches Streitgespräch mit Ihnen zu führen. Sagt er jedenfalls.« Der Priester, der unterwegs kein Wort gesprochen hatte, nahm den Hörer und drückte ihn ans Ohr. »Danke, Liam.« »Der antwortet entweder, oder er schießt uns direkt 'ne Rakete hier rein«, murmelte Herity. »Was könnten wir dann wachen?« 415
»Wir könnten ihn aushungern, wenn ihm die Nahrungsmittel ausgehen«, sagte Liam. »Aber jetzt halt die Klappe! Du hast schon genug Ärger gemacht!« »Scharfe Worte, böse Worte«, sagte Herity. Liam leierte an der Kurbel des Telefons. »Warum haben wir gewartet, bis es dunkel ist?« fragte der Priester. »Mister McCrae macht das immer so«, sagte Liam. »Es macht ihm Spaß, wenn wir im Finstern rumtappen.« »Und ich möchte wetten, er hat 'n Suchgerät mit Infrarot«, sagte Herity. Dann fiel Stille über die Hütte, eine seltsame Starre, wie wenn ein Gespenst eingetreten wäre und alles Leben gedämpft hätte. Liam drückte einen Schalter an dem Kasten. Das Instrument gab ein leises Summen von sich. »Wir andern hören mit«, sagte er, »aber nur der Priester soll sprechen.« Dann gab das Telefon ein Klicken von sich, und eine tiefe, sorgfältig modulierte Männerstimme fragte: »Ist dort der Priester?« Pater Michael räusperte sich. »Hier ist Pater Michael Flannery.« Seine Stimme klingt nervös, dachte John. »Und was wünschen Sie, Priester?« McCraes Stimme klang, als amüsiere er sich. Eine geschulte kultivierte Stimme, bemüht, einem Untergebenen gegenüber höflich zu erscheinen. Der Priester straffte sich und preßte den Hörer fest ans Ohr. »Ich wünsche zu wissen, wie diese Jungfrauen schwanger wurden!« »Aaaah, die schlimme Ignoranz der römisch-papistischen Priesterschaft«, sagt McCrae. »Hat sich denn niemals jemand die Mühe gemacht, Ihnen zu erklären, wie ...« »Werden Sie nicht frech mir gegenüber!« unterbrach Pater Michael ihn scharf. »Ich muß wissen, ob diese jungen Frauen vermählt sind mit den Vätern ihrer ...« »Hüten Sie Ihre Zunge, Priesterchen, oder ich puste die Hütte da drunten aus der Welt und Sie mit!« 416 per Priester schluckte krampfhaft. »Würden Sie mir auf ^eine Frage antworten, Mister McCrae?« »Also, es ist so, die jungen Frauen sind schwanger, weil das zu den Funktionen von Priesterinnen gehört. Sie betteten sich im Vollmond unter den Ebereschenbaum, und ich habe sie fruchtbar gemacht. Möge der Segen des geheiligten rowan auf uns allen ruhen!« Pater Michael holte mehrmals tief Luft. Sein Gesicht war kreidebleich. N John nutzte die Unterbrechung und glitt näher an die einzige Tür der Hütte. Dort zögerte er. War Jock noch immer da draußen? Und was hatte er damit sagen wollen, daß >alles an Ort und Stelle< sei? Herity und Liam grinsten, sie ließen den Priester nicht aus den Augen. »Der rowan, der heidnische Sündenbaum«, murmelte der Priester. »Unsere Ahnen haben den rowan verehrt, und sie waren damit weit glücklicher als jene, die der gierigen Kirche den Peterspfennig berappen mußten«, sagte McCrae. »Als nächstes werdet ihr dann Mithra oder sonst ein heidnisches Götzenbild anbeten!« sagte Pater Michael anklagend. »Vorsicht, Priesterchen!« sagte McCrae. »Mithra war ein alter iranischer Gott, den uns die römischen Legionäre mitgebracht haben. Und als guter Gaele hasse ich alles Römische besonders die Römische Kirche!« Herity kicherte leise. »Hört euch das bloß an, wie die beiden miteinander hecheln - genau wie zwei Jesuiten! Mann, Liam, du hast recht gehabt... es ist ein seltsames Vergnügen!« John legte die Hand auf den Türgriff und zog die Tür einen Spalt auf. McCrae mußte irgendwo da draußen sein, genau Pater Michael gegenüber. Die Leitung führte dorthin. »Wer spricht da neben Ihnen?« wollte McCrae wissen. »Es ist Joseph Herity«, sagte der Priester. »Er selber? In Fleisch und Blut? Aaah, was für eine seltene Beute wäre das für einen alten Jäger. Aber da ist noch Liam Cullan bei Ihnen in der Hütte und noch einer, wer ist das?« »Sein Name ist John O'Donnell.« 417 Heritys Hand schoß plötzlich vor und preßte sich über die Lippen des Priesters. Dabei schüttelte er heftig mit dem Kopf. Der Priester schaute verwirrt zu ihm auf. »Was hatten Sie doch gleich noch sagen wollen, Priester?« Herity nahm die Hand von Pater Michaels Mund und wedelte warnend mit dem Zeigefinger. »Wir sind auf dem Weg nach Norden, bis wir jemanden finden, der uns aufnimmt«, stammelte der Priester. Seine Stimme klang schwach, und mit den Augen klammerte er sich an Heritys Gesicht. »Aha, und es ist kein Platz in der Herberge!« keckerte McCrae. »Und wer von euch, bitte, ist schwanger?« »Mister McCrae«, sagte der Priester, »ich gebe mir Mühe, Ihre Seele vor der ewigen Verdammnis zu bewahren. Könnten Sie nicht ...« »Das liegt ganz außerhalb Ihrer Macht«, sagte McCrae. »Wir hier sind Druiden, wir verehren den heiligen Baum, und wir sind so schuldlos wie die ersten Menschen, die in diese Welt gekommen sind. Nehmen Sie doch Ihren Sündenheiland, Sie römischer Hochstapler, und stecken Sie ihn sich dorthin, wohin keine Sonne scheint!« Herity brach abrupt in heiseres Lachen aus. Liam kicherte.
John öffnete die Tür noch ein wenig weiter und schob sich in die Dunkelheit hinaus. Der Pfad, auf dem sie gekommen waren, bog nach rechts ab, das wußte er. Er konnte weder Jock noch sonst jemanden ausmachen, nahm aber an, daß weitere Posten in der Nähe sein würden. Er konnte die Stimme des Priesters aus der Hütte noch deutlich hören. I »Mister McCrae, Sie müssen Abstand nehmen von Ihrem Weg des Bösen, erkennen Sie den Irrtum, ehe es zu spät ist! Gott wird Ihnen Vergebung sehen ...« »Ich brauch keine Vergebung!« Die Stimme klang wie die eines Besessenen, dachte John. Er schlich sich um die Ecke der Hütte und blickte zum Chateau hinauf. Ein grauer undeutlicher Fleck in der Dunkelheit, nur zwei von Kerzenschimmer erleuchtete Fenster konnte er 418 jetzt noch ausmachen. Er watete knietief durch Gebüsch, schob sich nach links, um einen Weg zu finden, auf dem er keinen Lärm machen würde. Die Geräusche aus der Hütte waren nun nur noch ein Gemurmel. Nun, da sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er eine Rampe niedriger grauer Sträucher zwischen sich und dem Chateau, graue Schatten vor einem dunkleren Hintergrund. Konnte er da irgendwo hindurch? Er bewegte sich vorwärts, stolperte und wäre gestürzt, hätte ihn nicht eine Hand am Arm gepackt und zurückgezerrt. Und auf einmal lag er auf dem Boden. Hinter seinem rechten Ohr preßte sich die kalte Mündung eines Gewehrs gegen den Schädelknochen. Aus der Finsternis hinter dem Gewehr kam Jocks Stimme: »Und wo wollen wirrr denn hin?« In Johns Schädel wirbelten verzweifelte Ausreden. Der Gewehrlauf drückte schmerzend in sein Fleisch. Mit der linken Wange lag er auf etwas Stachelig-Dornigem. »Antworten Sie ihm doch, Mister ... O'Donnell!« Heritys Stimme, tiefer aus der Finsternis kommend. »Dieser verrückte McCrae schießt 'ne Granate hier rüber und bringt uns alle um«, keuchte John. »Ihr könnt ja da hocken bleiben und darauf warten, aber ich ...« »Das sagt McCrae immer«, sagte Jock, »aber er wird's nicht machen, wenn wir nicht versuchen, näher an ihn ranzurücken.« Die Gewehrmündung preßte nicht mehr so stark gegen Johns Haut. Herity fluchte unterdrückt. Dann war Liams Stimme aus der Hütte zu hören: »Schluß der Vorstellung, Priester! Sie werden den Mann nicht überzeugen.« Der Priester tauchte aus der Hütte auf, Liam schien ihn fast zu stoßen. »Gott, verschone diesen Mann«, betete der Priester. »Verschone ihn und mit ihm deine armen Kinder, die da bei ihm sind.« »Und das, wo der von Geburt und Wiedergeburt redet«, neckte Liam. »Wenn man sich seinen rowan so anschaut, also dann scheint da ja was Wahres dran zu sein.« Er stieß den 419 Priester weiter und rief dabei Jock zu: »Mach dicht, Jock! Ich werd' die Kerzen ausmachen.« Und dann war da drüben nur noch Dunkelheit. John fühlte sich von Händen auf die Füße gehoben. Dann war sein Arm frei, doch er spürte, da waren noch weitere Menschen um ihn herum. »Pscht jetzt!« Herity dicht neben John. »Jetzt stoßen sie uns ganz schön mit der Nase in die echte Scheiße, was?« »Da sprichst du eine schreckliche Wahrheit gelassen aus.« Das war Liam, direkt auf der anderen Seite neben John, eine Schattengestalt im trüben Sternenlicht. »Ja, außer dem McCrae da droben«, sagte Liam, »wird keiner von uns mehr sagen können, daß er in seinen Kindern weiterlebt. Sie haben uns ein für allemal kastriert.« »Aaach! Sag das doch nicht, Liam!« Das war Jock, der hinter John stand. »Die ganzen süßen Dinger da droben, und wir hier draußen vor der Tür und dürfen die nicht mal anfassen.« »Das ist die Frucht dessen, daß wir immer nur mit unserem Haß gelebt haben«, murmelte der Priester. »Wir müssen dem Hassen ein Ende setzen, Joseph! Wir müssen diesen Sünder da droben zum Heil führen!« »Er ist ein guter Mann, das isser«, sagte Herity. »Böse ist er!« »Liam«, sagte Herity, »du und Jock, ihr seid so prima Freunde. So verdammt hilfreich!« »Wir haben den Auftrag, das Schloß da zu schützen«, sagte Liam, »und wir gehorchen unserem Befehl.« Während die anderen redeten, merkte John, wie die zittrige Verstörtheit in ihm sich beruhigte, verschwand. O'Neill-im-Kopf blieb still. Aber ich habe es versucht, dachte John. Um ihn herum bewegten sich Leute. Jemand packte ihn am rechten Arm. Dann die Stimme Heritys dicht an seinem Ohr: »Haben Sie wirklich bloß so einfach abhauen wollen, John?« »Das war ziemlich dumm, uns alle zusammen da in diese Hütte zu sperren«, sagte John. »Dieser Mann da droben, der ist ja verrückt. Dem ist doch alles zuzutrauen.« »Tja, so sind Verrückte nun einmal«, sagte Herity. 420 Aus der Finsternis vor ihnen meldete sich Liam: »Also kommt jetzt schon. Zurück zur Hütte, und zwar alle!« »Die Soldatenpflicht!« spottete Herity.
»Genau!« In Liams Stimme schwang Erleichterung mit und ein verstecktes Lachen. »Wir alle haben unsre Befehle, Joseph.« John wendete sich Herity an seiner Seite zu. »Wer hat Ihnen den Befehl gegeben, mich zu beschützen?« »Aaach, das war der rowan«, sagte Herity. ... Vernunft betrügt mich, und es ist die Folter, ist die Hölle. BEN JONSON (1572/73-1637) Aber warum nennen sie es die >Literatur der Verzweiflung^« fragte der Papst. Papst Lukas, ehemals James Kardinal Maclntyre, saß in einem Schaukelstuhl in der Ecke seines Speisezimmers vor dem schrägen Blick durch das Fenster, das über die Dächer Philadelphias hinweg auf den Alten Hafen blickte. Die Silhouette der Stadt zeichnete sich klar im Morgenlicht eines kalten Wintertages ab. Der Bademantel, den er trug, war ein dunkelblaues Stück, das er einmal als Geschenk erhalten hatte, als er noch ein einfacher Priester war. Der Mantel schloß nicht mehr über seinem vollen Brustkorb. Abgetretene braune Hausschuhe hingen an seinen Füßen, die Unterschenkel sahen fleischig aus und schimmerten leicht bläulich. Der Papst - das hatten schon mehrere Beobachter festgestellt - sah einer Beutelratte erstaunlich ähnlich: die zurückweichende Stirn, noch betont durch Haarlosigkeit, diese Augen, die es fertigbrachten, zugleich trüb und intensiv zu wirken. Konzentriert hatte einer einmal die Augen des Papstes genannt. Es waren die Augen eines stumpfsinnigen Tieres, das die ganze Zeit nur auf Nahrungssuche ist. 421 Die Frage des Papstes war an Pater Lawrence Dement gerichtet, seinen Sekretär, der bei der Anrichte stand, auf der das Frühstück bereitgestanden hatte. Der Papst hatte maßvoll gegessen, aber Pater Dement, der nie auch nur ein Gramm Gewicht anzusetzen schien, hatte sich den Teller mit Speck, vier Eiern, Toastbrot und Marmelade, Bratkartoffeln und einem kleinen Steak beladen. »Die Literatur der Verzweiflung«, sagte Pater Dement, »ach, das ist bloß wieder so typisch für die Iren.« Er trat an den Tisch, setzte seinen Teller ab und zog einen Stuhl heraus, von dem aus er dem Papst ins Gesicht sehen konnte. »Gibt es Kaffee?« »Er ist uns wieder mal ausgegangen. Da in dem Silbersamowar ist Tee.« Pater Dement, der mit fünfunddreißig noch immer wie ein Erstsemester aussah, die Blauaugen scharf und wachsam, die kleine schwarze Locke auf der Stirn, der breite Mund stets zu einem Lächeln bereit, Pater Dement trat an das Sideboard zurück und goß sich dampfenden Tee in eine Tasse. »Literatur der Verzweiflung«, murmelte der Papst. Pater Dement trug die Tasse zum Tisch, stellte sie neben seinen Frühstücksteller und setzte sich. Als Päpstlicher Sekretär war ihm die Ähnlichkeit des Papstes mit einem Opossum am frühesten aufgefallen; jetzt fragte er sich: Was bringt ihn dazu, sich so mit der neuen irischen Literatur zu beschäftigen? Der Speck war nicht durchgebraten, wie gewöhnlich, stellte Pater Dement mürrisch fest. Er runzelte die Stirn, aß den Speck aber dennoch. Möglicherweise würde ja das Mittagessen ausfallen. Trotz der Körpermasse und mit diesem Hungerblick in den Augen schien der Papst mit einer minimalen Nahrungszufuhr auszukommen. Manche Leute fragten sich, ob er vielleicht heimlich in seinen Privatgemächern futterte. Die Aufmerksamkeit des Papstes war an diesem Morgen durch einen Bericht über die Neueröffnung zweier Abteien in Irland erregt worden. Dort hausten nun Laienbrüder, die ihre Kraft der Anfertigung von illuminierten Manuskripten in der 422 uralten Manier weihten - auf Pergament oder feinem handgeschöpften Büttenpapier. Bisher hatte noch niemand Beispiele ihrer Arbeit außerhalb Irlands zu Gesicht bekommen, und über die Textinhalte wußte man nur bruchstückhaft etwas. Die Berichte hatten sich vorwiegend mit der künstlerischen Qualität beschäftigt und mit dem Begriff, unter dem man diese Arbeiten zusammenfaßte: >Die Literatur der Verzweiflung^ >Eine Renaissance der Sprache< hatte es in einem der Berichte geheißen. Dann kam ein kurzes Zitat: Uns sind alle drei Martyrien in reichlichem Maße zuteil geworden: Das Grüne Martyrium, das Weiße und das Rote. Das Grüne ist das Eremitenleben und die einsame Kontemplation Gottes. Das Weiße ist die Trennung von Familie, von Freunden und von einem Zuhause, denn es kann keine Familie geben und kein Zuhause ohne eine Frau. Und was ist Freundschaft, sofern sie nicht aus der aller-intimsten Gemeinsamkeit erwächst? Und das Rote Martyrium, das ist das älteste von allen dreien: die Hingabe des Lebens für den GLAUBEN. Insgeheim dachte Pater Dement, daß die Iren sich schon immer an Worte geklammert hatten, wenn alles andere nichts mehr nutzte. Die Gedanken des Papstes allerdings waren mehr politischer Natur, denn auf diesem Gebiet kannte er sich am besten aus, und er wußte, daß das eine sehr große Rolle bei seiner Wahl zum Papst gespielt hatte. Das und die Gnade Gottes, natürlich. Es war eine Gabe. Er war überzeugt, er sei dazu auserwählt, der eifersüchtigste Beschirmer der Kirche vor dem Schisma zu sein. Es waren zu viele Menschen auf Erden derzeit nur allzu bereit, sich in sich selbst zurückfallen zu lassen und nach mystischen Antworten auf Lebensfragen zu suchen, die die Kirche nicht gutheißen konnte. Unsere Heilige Mutter Kirche, die Eine und Einzige, so war es: Mutter Kirche 423 - Papst Lukas war mit dem Problem vertraut, das diese Bezeichnung in der seuchengequälten Welt aufwarf.
Wenn es keine Frauen mehr gab, dann konnte der Titel >Vater< leicht einen zynischen Beigeschmack bekommen. Und wie konnte es eine >Mutter< Kirche geben, ohne >Väter Das wühlte in Hinterbliebenen die dunkelsten und Verdrehtesten Neidgefühle auf. Papst Lukas kannte die üblichen bohrenden Fragen. »Sagen Sie mir, Priester, wie könnt ihr eine Mutter haben, wenn ich keine mehr habe? Wie dürft ihr euch Vater nennen lassen, wenn mir dieses heilige Privileg auf ewig versagt bleibt?« Und immer wieder die bittere Frage: »Wo wart ihr denn, ihr Priester, als der Schlag uns traf? Wo war euer Gott, als uns das widerfuhr? Gib mir darauf eine Antwort, wenn du kannst!« Waren diese Abteineugründungen in Irland Teil einer neuen mystischen Bewegung, die aus solchen Fragen entsprang? Papst Lukas fühlte sich durch eine weitere Passage dieser Neuen Literatur besonders beunruhigt, die einer der Kommentatoren zitiert hatte: »Unsere jungen idealistischen Männer haben zu lange in den Kellerlöchern als konspirative Gruppen gelebt. Sie betrachteten allmählich den Untergrund als ihren natürlichen Lebensbereich und setzten sich gegen alles zur Wehr, was sie von dort hervorzuholen drohte. Nun aber hat GOTT uns den Ausweg gewiesen. Warum wollen wir ihn nicht einschlagen?« Der Papst fragte sich: Welchen Ausweg? Der Kommentator hatte sich darüber ausgeschwiegen und die päpstlichen Anfragen in Irland waren ohne Antwort geblieben. Dann stand der Papst aus dem Schaukelstuhl auf und ging den Flur hinunter zu seinem Schlafzimmer, wo sein Habit bereitlag. Er konnte Geräusche draußen vor seinen Privatgemächern hören, der ganze Prachtapparat des Papsttums 424 wurde wieder einmal für einen weiteren arbeitsreichen Tag in Bewegung gesetzt. Er empfand Sehnsucht nach schlichteren Zeiten. Er verspürte sogar oft eine regelrechte Abneigung dagegen, sich unter Menschen zu begeben. Den Pater Dement vermochte er zu tolerieren, denn immerhin mußten ja Botschaften versandt, Worte aufgezeichnet und übermittelt werden. Was Pater Dement anging, trödelte er so genüßlich über einer vierten Scheibe Toast, die großzügig mit Marmelade Überhäuft war. In der päpstlichen Bäckerei in Philadelphia, sagte er sich, backen sie ein ganz anständiges Brot. Und es wäre sinnlos gewesen, sich mit dem Frühstück zu beeilen, es bestand keine Notwendigkeit, hinter dem Papst herzurennen und ihm beim Ankleiden zu helfen. Dieser neue Papst machte so etwas selbst, ja er hatte es sogar lieber so. Der Päpstliche Beichtvater klagte sogar darüber, daß sein Beichtkind viel zu rasch die Formeln des Heiligen Sakramentes herunterhaspelte. Aber wieso hatte der Papst die Bezeichnung bekrittelt, die die Iren diesen neuen illuminierten Handschriften gegeben hatten? Nach all den Monaten im Dienst von Papst Lukas war Pater Dement doch immer wieder einmal überrascht, wie unstet und wie verworren die Denkprozesse dieses Mannes ablaufen konnten. Aber vielleicht hatte das heute morgen etwas mit der Zeremonie zu tun, die hier in Philadelphia stattfinden sollte. »Wir müssen unsere Glückseligkeit in GOTT finden.« Die Worte des Papstes. Aber >Literatur der Verzweiflung<, das setzte allem einen Dämpfer auf. Dennoch, es würde wohl kaum in der Hektik dieses Tages bemerkbar werden. Trotz unzähliger Bemühungen, ihn davon abzubringen, verfolgte der Papst mit fester Entschlossenheit sein Ziel: die Philadelphia-Pilgerfahrt. Ein paar der neuernannten Kardinäle, besonders Kardinal Shaw, hatten Einwände erhoben und sich auf gefährliche Weise an die Seite von US-Präsident Velcourt und anderen politischen Führern gestellt, die auf die Schwierigkeiten hingewiesen hatten, die durch die Pest ent425 standen seien. Nicht nur runzelten die Regierungen angesichts der Idee von großen Massenbewegungen von Menschen - unter ihnen zweifellos viele Pestinfizierte - die weisen Stirnen, sondern isolierte Bevölkerungsgruppen zeigten die Tendenz zu unkontrollierbarer Gewaltanwendung gegen Fremde und überhaupt alle, die versuchten in Schutzzonen zu gelangen oder sie zu durchqueren. Aber Papst Lukas war unerbittlich geblieben. Pater Dement schüttelte den Kopf, als er sich selbst in der Wortwahl korrigierte. Nein, der Papst hatte mehr so etwas wie eine stille Hartnäckigkeit gezeigt - das mehr als alles andere. Es war fast, als habe GOTT direkt zu ihm gesprochen und als handelte der Papst aus einem Gefühl der garantierten Unterstützung von dieser Seite. Aber dies war natürlich etwas dem Papsttum sowieso Innewohnendes. Pater Dement wußte, an dem alten Glauben an die göttliche Führung des Papstes konnte man nicht zweifeln, und er teilte diesen Glauben auch selbst. Ein zum Papst Geweihter bewegte sich fortan in einer besonderen Aura göttlicher Fürsorge. Die ungebrochene Kette heiliger Nachfolge - Glied um Glied von Christus zu Petrus und hin zu Papst Lukas - barg in sich wahrhaftig das Versprechen der Macht und der Liebe GOTTES. Sogar die Räumlichkeiten hier in Philadelphia, ehedem Teile der Regionalverwaltung der KIRCHE, atmeten nun diesen Hauch Göttlicher Macht, wie sie die Gegenwart von Papst Lukas gewährleistete. Pater Dement tupfte mit einem letzten Stückchen Toast den letzten Eirest vom Teller, trank die Teetasse leer, schob sich seufzend vom Tisch ab und stand auf. Aus dem Schatten einer Durchgangstür, wo er in ehrerbietiger Furcht gewartet hatte, trat ein dienender Laienbruder lautlos und entfernte die Teller. Pater Dement runzelte die Stirn. Der junge Mann war wirklich auf Draht, aber es war nicht mehr wie in alten Zeiten, nein, wirklich, es war gar nicht mehr so ...
Aber der Papst hatte strikt untersagt, daß weibliches Dienstpersonal beim Heiligen Stuhl beschäftigt werde. Und wäre es nicht der Papst selbst gewesen, der so etwas be426 stimmt hatte, Pater Dement würde sicherlich auf einen pathologischen Geisteszustand geschlossen haben. Er schüttelte sich, als er an den Ärger dachte, der - das wußte er ganz sicher! - auf sie alle zukam. Der Papst mußte nämlich noch Öffentlich verkünden, was er bislang nur im geheimen gesagt hatte, aber das war nur noch eine Frage der Zeit, vielleicht würde er es zum Höhepunkt dieser ersten Pilgerfahrt sagen sofern man eine solche Pilgerfahrt überhaupt zulassen würde. »GOTT hat in SEINEM unergründlichen Ratschluß Gericht gehalten über die Frauen. Die Sündhaftigkeit des Weibes wurde uns vor Augen geführt. Wir sind deutlich dazu aufgefordert, diese Sünde auszumerzen.« Pater Dement straffte die Schultern. Das Rote Martyrium, wie die Iren es nannten - das war immer eine äußerste Forderung der Kirche an ihre Mitglieder gewesen. Aber jetzt hatte Pater Dement das Gefühl, als ob der Papst das geradezu herausfordere. Der Papst stand jeglicher Art Geschlechtsverkehr zutiefst ablehnend gegenüber, daran gab es nichts zu deuteln. Er war antifeministisch. Doch, Pater Dement wagte diesen Gedanken zu denken. Der Papst schenkte dem Pater Malcolm Andrews zuviel Gehör, diesem protestantischen Expastor, der sich in den Schoß der Heiligen Kirche gerettet hatte und hier bis in den Hohen Rat aufgestiegen war. Pater Dement trat an das Fenster, an dem der Papst gesessen hatte, und schaute auf die Stadt hinaus. Dunkel spürte er, daß sich da ein Muster aufzeigte - die Literatur der Verzweiflung ... die Iren und ihr Versuch, das alte Brauchtum wiedererstehen zu lassen ... Pater Andrews und seine misogyne Bewegung, die dicht in der Nähe des Papstes an Macht gewann ... Es war erst gestern gewesen, daß Pater Andrew gesagt hatte: »Die Dichter sangen einst, daß wir leben, lieben und zu Grabe gehen im sicheren Bewußtsein, daß Menschen nach uns leben werden. Dies ist uns genommen worden. Ein tödlicher Schlag, und wir sind verwaist und einsam, wir werden keine Nachkommen haben. Die Menschheit lebt von nun an 427 im Bewußtsein des Grabes. Und niemand kann sich der inneren Bedeutung dieses Begebnisses entziehen.« Und Papst Lukas hatte zustimmend genickt. Pater Dement hörte, wie sich der Päpstliche Haushalt versammelte, die Räte, die Kardinäle, Diener. Also sollte der Tag nun offiziell beginnen. Irgendwann heute würde der Papst in seine Privatkapelle gehen und dort um göttlichen Beistand beten. Aber nur eine Handvoll der Menschen um den Papst (und Pater Dement war einer von ihnen) wußte, von welcher Art die Krise war, deretwegen der Papst sich göttliche Weisung erflehen wollte. Die Auseinandersetzung zwischen Papst Lukas und Präsident Velcourt dauerte zwar nun schon geraume Zeit an, doch der Anruf gestern abend von Hüls Anders Bergen, dem Generalsekretär der UNO, hatte sozusagen öl ins Feuer des Zwists geschüttet. Wie gewohnt hatte Pater Dement am Zweitapparat mitgehört und Notizen für die späteren Entscheidungen des Papstes gemacht. »Ich bin überzeugt, Eure Heiligkeit verstehen nicht genau, zu welchen Maßnahmen der Präsident bereit ist, sollten Sie sich ihm in den Weg stellen«, hatte Bergen gesagt. Mit milder Stimme hatte Papst Lukas geantwortet: »Man stellt sich nicht Gott in den Weg, und man fordert ihn nicht heraus.« »Eure Heiligkeit, Präsident Velcourt sieht die Sache aber nicht in genau diesem Licht. Der Präsident der Vereinigten Staaten - und mit ihm tun dies andere Staatsoberhäupter der Erde - zieht einen Trennstrich zwischen den politischen und den religiösen Funktionen des Papstes.« »Eine derartige Unterscheidung kann es nicht geben, Sir!« »Eure Heiligkeit, ich fürchte, angesichts des neuen politischen Klimas kann und wird es eine derartige Trennung geben. Unglücklicherweise ist der Standpunkt des Präsidenten auch der der breiten Öffentlichkeit. Er verfügt über die politische Unterstützung für eventuelle Gewaltmaßnahmen, sollte er sich dazu entschließen.« »Gewaltmaßnahmen welcher Art?« »Ich zögere, Ihnen ...« 428 »Zögern Sie nicht, Sir! Hat er erkennen lassen, was er zu tun gedenkt?« »Eure Heiligkeit, nicht in Einzelheiten!« »Aber Sie befürchten etwas - Bestimmtes.« » Leider ja.« »Raus damit, Sir!« Während er eifrig mitschrieb, dachte Pater Dement, daß er niemals zuvor eine derartige Festigkeit und zielstrebige Autorität in der Stimme seines Papstes vernommen habe. Nie war er mehr von Stolz erfüllt gewesen - Stolz auf seinen Papst Lukas - als in diesem Augenblick. »Eure Heiligkeit«, sagte Bergen, »es ist durchaus möglich, daß der Präsident den Befehl erteilt, eine Rakete auf Sie abzuschießen.« Pater Dement bekam fast keine Luft mehr. Der Stift rutschte ihm weg und machte einen häßlichen Krakel auf dem Notizblock. Er erholte sich jedoch rasch und vergewisserte sich, daß er korrekt mitstenographiert hatte. Darüber würde es eingehende Erwägungen geben.
»Hat er so was gesagt?« fragte der Papst. »Nicht gerade wörtlich, aber ...« »Aber Sie zweifeln nicht daran, daß er möglicherweise so reagiert?« »Eure Heiligkeit, das ist eine seiner Möglichkeiten.« »Aber warum!?«. »Es erhebt sich mehr und mehr lauter Widerstand gegen Eure Pilgerfahrt in der Öffentlichkeit, Eure Heiligkeit. Die Leute haben Furcht davor. Und der Präsident wird den politischen Notwendigkeiten entsprechend reagieren, falls Sie ihn dazu zwingen.« »Eine Rakete ist eine politische Maßnahme?« Pater Dement hielt diese Reaktion des Papstes für recht weltfremd. Aber vielleicht handelte es sich ja auch nur um die berühmte sanda simplicitas, die Naivität der Heiligen. »Eure Heiligkeit, Präsident Velcourt sieht sich Petitionen ausgesetzt, die fordern, daß man Ihnen Einhalt gebiete«, sagte Bergen. »Es gab sogar den Vorschlag, daß das Militär429 kommando Philadelphia die Sache übernehmen und Eure Heiligkeit gefangennehmen solle.« »Dem würden sich wohl meine Garden widersetzen, Sir.« »Lassen Sie uns doch realistisch bleiben, Eure Heiligkeit. Eure Garde würde nicht einmal fünf Minuten lang standhalten können.« »Der Kirche war niemals mehr Macht überantwortet als gerade jetzt! Die Völker würden protestieren.« »Aber, Eure Heiligkeit, die Stimmung in Philadelphia findet in der übrigen Welt kaum Anklang. Und dies macht, meiner Einschätzung nach, die Raketenlösung zu einer echten Wahrscheinlichkeit. Die Sache hätte den Charakter der Finalität, und dem gegenüber blieben ja eigentlich kaum Einwände übrig.« »Sir, hat der Präsident der USA Sie gebeten, mit mir zu sprechen?« »Er hat mich ersucht, Sie zur Vernunft zu bringen, Eure Heiligkeit!« »Und Sie sind sehr besorgt?« »Ich gestehe, daß ich es bin. Ich gehöre zwar nicht zu Ihrem Glauben, aber Sie sind ein Mitmensch, und jeder meiner Mitmenschen ist für mich etwas Kostbares.« Da, so dachte Pater Dement, klang unverhohlene Aufrichtigkeit mit in dem, was der Generalsekretär sagte. Und anscheinend hatte auch der Papst dies gespürt, denn als er antwortete, klang da so etwas wie echtes Gefühl mit: »Ich werde für Sie beten, Mister Bergen.« »Ich danke Eurer Heiligkeit. Aber was darf ich dem Präsidenten sagen ... - und den anderen Betroffenen?« »Sie können ihnen sagen, daß ich für sie um göttliche Erleuchtung beten werde.« 430 Gott, Erbarmen! Gott gib Frieden! Mach dem Wahn ein End' hienieden! DR. WILLIAM DRENNAN >Totenwache für William Orr< Tjm das Weiße Haus breitete sich die Dämmerung aus, diese eigenartige Washingtoner Dämmerung, die endlos herabzuhängen schien, bis sie schließlich in die funkelnden Lichterketten der nächtlichen Hauptstadt verschwand: Präsident Velcourt schaute hinaus in die Dämmerung, sah, wie die Lichter allmählich aufflammten, und dachte: Noch nie zuvor war ich so müde. Er dachte, ob ich wohl die Kraft haben werde, aufzustehen und zu der Liege hinüberzugehen, die ich mir im Oval Office habe aufstellen lassen? Aber er wußte, hatte er erst einmal den Kopf aufs Kissen gelegt, würde ihm der Kopf von dringlichen Angelegenheiten wirbeln, er würde keinen Schlaf finden - es würde nur wieder diese Erschöpfung geben und diese entmutigenden Handlungszwänge. Was für ein Tag das wieder gewesen war! Begonnen hatte es mit Turkwood, der ins Amtszimmer gestürzt kam, das Gesicht finster vor Zorn, und der den Morgenbericht auf den Schreibtisch des Präsidenten geknallt hatte. Manchmal fragte sich Velcourt, ob er klug gehandelt habe, das Erbstück Turkwood von Prescott zu übernehmen. Es gab natürlich Anlässe, in denen man jemanden brauchte, der die Drecksarbeit erledigte, aber Turkwood erschien ihm als angefault, als vielleicht nicht mehr vertrauenswürdig. Velcourt hatte Turkwood, der gehen wollte, gefragt: »Was haben Sie denn?« »Ich hab grade jemanden aus der Kommunikationszentrale rausschmeißen müssen.« Wieder wandte Turkwood sich zum Gehen. »Warten Sie mal 'ne Minute! Warum haben Sie jemanden gefeuert? « »Ach, das ist nicht Ihr Problem, Sir.« 431 »Alles hier ist mein Problem. Warum haben Sie die Person gefeuert?« »Er hat die Leitungen des Weißen Hauses dazu benutzt, mit Freunden in dem Mendocino-Reservat zu reden.« »Wie, zum Teufel, konnte er das?« »Er hat irgendwie den Satellitencode in die Finger bekommen und hat dann einfach ... also umgeleitet zu seinen Freunden.« »Ich hab gedacht, das ist unmöglich.« »Anscheinend nicht. Er wird jetzt gerade verhört, wie er das gemacht hat. Er sagt, er hat es sich einfach
ausgeknobelt.« »Wie heißt der Mann, Charlie?« Velcourt spürte, wie sein Puls heftiger pochte. Ein unabhängiger, ein erfinderischer Kopf, direkt hier im Weißen Haus - das kam selten genug vor. »Sein Name? Ah, ja, er heißt David Archer.« »Holen Sie mir den Mann hierher, Charlie! Ich will ihn sofort sprechen!« Turkwood kannte die Stimme seines Herrn und rannte aus dem Zimmer. David Archer war ein bleichgesichtiger junger Mann mit Aknenarben und einem gehetzten Ausdruck in den Augen. Sein Eintreten in Velcourts Amtszimmer konnte nur als Schleichen beschrieben werden. Turkwood hielt sich mit grimmigem Gesicht dicht hinter ihm. Velcourt zauberte seinen liebenswürdigsten Ausdruck aufs Gesicht, gab seiner Stimme den allerwärmsten Klang. »Setzen Sie sich doch, David! Man nennt Sie doch so? David?« »Sie ... ah ... die Leute sagen DA zu mir, Sir.« Er setzte sich Velcourt gegenüber. »DA, aha?« Velcourt blickte zu Turkwood auf. »Sie können uns jetzt alleinlassen, Charlie. DA macht einen ganz friedlichen Eindruck auf mich.« Turkwood ging, aber in jedem Schritt lag Widerstreben. Ehe er die Tür schloß, sagte er: »Sie haben den Termin um neun:fünfzehn, Sir. Die Telefonkonferenz.« »Ich werde pünktlich sein, Charlie.« 432 Er wartete, bis die Tür sich geschlossen hatte, dann: »Die haben Sie heut morgen ziemlich grob angepackt, wie, DA?« »Also ... es war natürlich blöd von mir, so was zu machen, gir.« Seit Turkwood verschwunden war, wirkte David Archer viel aufgeweckter. »Möchten Sie mir sagen, wie Sie an den Satellitencode gekommen sind, DA?« Archer schaute zu Boden und schwieg. »Und bevor Sie es mir sagen, DA«, Velcourts Stimme schnurrte, »möchte ich Ihnen erklären, daß Sie wieder zu meinem Stab gehören und daß ich an eine Beförderung für Sie denke.« Archer hob das Kinn und starrte Velcourt mit dem Ausdruck ungläubiger Hoffnung an. Warm sagte Velcourt: »Also, wie haben Sie's gemacht?« »Es war ziemlich einfach, Sir.« Archer wurde ganz eifrig, als er sich an die Erklärung machte. »Aus den Übertragungsaufzeichnungen konnte ich entnehmen, daß da neunzig Ziffern und ein Zufalls-Scrambler waren. Also habe ich eine Zufallssuche mit Feedback-Bestätigung programmiert. Wenn ich dienstfrei hatte, habe ich einfach in den Satellitenkanälen herumstochern lassen. Es hat bloß einen Monat gedauert, oder so.« Velcourt starrte den jungen Mann an. »Sie haben den Code in einem Monat geknackt?« »Mein Programm hatte eine Selbstkorrektur, Sir.« »Was heißt das?« »Es sucht sich selbst die internen Kanäle aus, um die Sache zu vereinfachen. Ich gab eine Rippelreaktion ein, die jedes korrekt getroffene Bit der Codereihe rückbestätigte, und das Programm notierte einfach nur, jeweils neunzig Ziffern. Unser System ist verdammt schnell, Sir. Es hat in jeder Minute ungefähr eine Million verschiedener Serien durchgecheckt.« Velcourt hatte das Gefühl, er habe soeben etwas abgründig Wichtiges gehört, aber er konnte es nicht zu fassen kriegen. »Hören Sie, DA, man hat mir gesagt, der Code sei nicht zu knacken! « 433 »Es gibt keinen Code, den man nicht knacken könnte, Sir.« Er schluckte. »Und, wissen Sie, es gibt da noch andere, die private Nachrichten verschicken. Also habe ich mir gedacht das hat dann ja wohl seine Richtigkeit. Und ich habe die Kanäle nicht benutzt, wenn es offiziellen Verkehr gab.« »Was für andere Leute?« »Also, Dr. Ruckerman zum Beispiel. Der sprach mit jemandem namens Beckett in Huddersfield.« »Ach, aber das ist offiziell. Ruckerman ist bei Saddlers Stab - Wissenschaftlicher Berater.« »Aber er verzeichnet sie nicht, Sir.« »Vielleicht hat er zu viel Arbeit. Wer sonst noch benutzt das System für persönliche Kommunikationen?« »Ich verpfeif nicht gern jemand, Sir.« »Ich teile Ihre edlen Gefühle. Aber meinen Sie nicht, daß Sie soeben Ruckerman verpfiffen haben?« »Aber der spricht doch mit Huddersfield!« »Stimmt! Und die übrigen Gespräche sind wahrscheinlich genauso harmlos. Aber ich möchte dennoch gern wissen, wer!« »Mister Turkwood, Sir. Und Ruckerman ruft seine Familie im Sonoma-Reservat an. Es ist immer so was, Sir die Leute rufen ihre Familien an oder Freunde.« »Ich bin sicher, Sie haben recht. Aber ich hätte trotzdem gern, daß Sie mir eine Namensliste erstellen und meinem Sekretariat geben. Bitte unterzeichnen Sie mit Ihrem neuen Titel: Direktor der Kommunikationssektion des Weißen Hauses.« Archer war gescheit genug zu begreifen, wenn man ihn entlassen hatte. Als er aufstand, lag ein breites Grinsen
auf seinem Gesicht. »Direktor der Kommunikationssektion, Sir? Des Weißen Hauses, Sir?« »Ganz recht. Und Ihr Job wird 'ne ziemlich harte Nuß sein. Sie werden dafür sorgen, daß, wenn immer ich einen direkten Befehl nach draußen gebe, der zu der richtigen Person geleitet wird, dort bestätigt wird und daß meinem Befehl entsprechend gehandelt wird.« 434 Velcourt rekapitulierte dieses Gespräch mit einem gewissen Vergnügen, während er so in die dichter werdende pämmerung hinausblickte. Es war an dem ansonsten recht unerfreulichen Tag eine der raren Freuden gewesen. Während er hier saß und mit müden geröteten Augen aus dem Fenster starrte, wußte er, daß sowjetische Bomber erneut auf Istanbul herabtauchten. Satellitenbeobachtungen hatten ein Fahrzeug entdeckt, das sich auf der Stambuler Seite der zerstörten Galatabrücke in Bewegung gesetzt hatte - ob durch eine natürliche Ursache ins Rutschen gekommen oder von Menschenhand gesteuert, vermochte der Satellit nicht zu erkennen. Also würden die Trümmer einmal mehr durcheinandergewirbelt werden, das Goldene Hörn von taktischen Atomwaffen erbeben, würden Beyoglu über Usküdar zur Sicherheit noch einmal mit Feuer überzogen werden. Wann habe ich zum letztenmal geschlafen? Wirklich richtig geschlafen? Velcourt wußte es nicht mehr. Er verstand jetzt nur zu gut, warum Prescott so rasch in den Sielen gestorben war. Nach Archer hatte er die Telefonkonferenz mit den Russen gehabt, den Franzosen, den Chinesen, danach die Unterredungen mit Ruckerman und Saddler. Ruckerman hatte die nichtverzeichneten Gespräche mit einer Handbewegung fortgewischt. Zu verdammt viel bürokratischer Papierkram! Velcourt hatte die Antwort gefallen, aber jetzt noch wirbelte ihm der Kopf von der Besprechung. Was, zum Teufel, meinte Ruckerman, wenn er sagte, O'Neill müsse einen Weg gefunden haben, wie man >Poly G< in Mengen herstellen kann? Was, zum Teufel, war >Poly G Die Erklärungen hatten ihm nur das Hirn vernebelt. Und Saddler, dasitzend, mit dem Kopf wackelnd, immer wieder sagend, daß unter anderen Umständen dieser O'Neill zweifellos den Nobelpreis bekommen haben würde! Lieber Herr Jesus! Ein Molekularbiologe dreht durch und legt die ganze Welt aufs Kreuz! Hier in diesem Raum hatten Saddler und Ruckerman gesessen und gestritten. Saddler hatte gefragt: »Und woher 435 sollte er die natürliche DNS zur Induzierung der Polymerisation nehmen?« »Nun, er hat ganz offensichtlich einen Weg gefunden!« Was, verdammt noch mal, hatte das zu bedeuten? »Und wie hat er dann seine DNS biologisch aktiviert?« hatte Saddler gefragt. Velcourt verfügte über ein Gedächtnis, das solche Gespräche wortgetreu abspielen konnte, doch das Replay machte ihm nicht verständlicher, was er gehört hatte. »Denken Sie dran, der Mann war auch Apotheker«, hatte Ruckerman gesagt. Apotheker. Was das war, wußte Velcourt. Er verfluchte es nun, daß er es nicht für notwendig gehalten hatte, an der Uni mehr naturwissenschaftliche Kurse zu belegen. Dieses Fachkauderwelsch! »Es ist phantastisch!« hatte Saddler gesagt. »Es ist diesem Mann gelungen, auf allerfeinstem Niveau mit Polymeren zu arbeiten.« »Und vergessen Sie nicht«, hatte Ruckerman gemahnt, »er hat die Plazierungsnischen gefunden, durch die die präzise Anordnung der Monomere kontrolliert wird. Und wir sprechen hier von Riesenmolekülen.« »Hören Sie«, hatte Saddler gesagt, »wir müssen diesen Mann einfach finden und ihn am Leben halten! Mein Gott! All die Informationen, die der im Kopf hat!« Im Hinblick auf die Provokation hatte Velcourt seine Unterbrechung für recht sanft gehalten. »Meine Herren, würde es Sie sehr stören, wenn Sie mich an Ihrem Gespräch teilnehmen ließen? Es ist doch wohl Ihre Aufgabe, den Präsidenten zu informieren, nicht wahr?« »Entschuldigung, Sir.« Das war Saddler. »Aber wir sind alle beide mehr als nur recht bestürzt und voll Bewunderung darüber, wie O'Neill, allem Anschein nach, die Peptidband-Formationen in ...« »Was ist ein Peptidband, verdammt noch mal?« Saddler blickte Ruckerman an, der sagte: »Es handelt sich um eine Grundverbindung in der DNS-Spirale, Mister Präsi436 dent. Es funktioniert fast wie ein Reißverschluß, es fängt am vierten Ende mit Aminoisvaleriansäure an und schließt dann Kettenglied um Kettenglied, bis das Proteinmolekül vollendet ist.« »Also, ein Viertel von dem, was Sie mir gesagt haben, vergehe ich«, sagte Velcourt. »Und das heißt, ich begreife, verdammt noch mal, gar nichts!« Die Frustration und Verärgerung waren deutlich zu hören. Ruckerman runzelte die Stirn. »Sir, O'Neill hat sich ein ganz spezielles Virus zurechtgebaut, vielleicht mehr als nur eines.« »Aber ganz sicher mehr als nur ein Virus!« sagte Saddler. »Höchstwahrscheinlich«, stimmte Ruckerman bei. »Er hat es geschaffen, um damit bestimmte Bakterien zu infizieren. Wenn ein bakterielles Virus Bakterien infiziert, bildet sich eine RNS, eine Ribonukleinsäure, die der DNS, also der Desoxyribonukleinsäure, des Virus entspricht - und nicht der des Wirts. Die Reihenfolge des
neuen DNS-Moleküls entspricht komplementär nun der DNS-Anordnung des ursprünglichen Virus.« Saddler erkannte den Zorn in den Augen des Präsidenten und hob die Hand. »Sir, O'Neill hat die Genbotschaft in menschlichen Zellen identifiziert, durch die bestimmt wird, daß ein menschlicher Fötus weiblich sein wird. O'Neill hat eine Krankheit entwickelt, die sich nahtlos in diese genetische Information einbindet.« Soviel verstand Velcourt. Er nickte. »Und Huddersfield bestätigt uns, daß es keine asymptomatischen Träger der Seuche gibt«, fügte Ruckerman hinzu. »Sie befällt also Männer, aber sie bringt sie nicht um? Ist es das, was Sie meinen?« »Genau, Sir!« »Ja, aber warum sagen Sie es dann nicht so, verdammt!« Velcourt holte tief Luttr um sich zu beruhigen. Zur Hölle mit diesen Ärschen und ihrem Fachjargon! »Wie sehen die Symptome bei den Männern aus?« fragte er. »Da sind wir uns noch nicht sicher, Sir«, sagte Saddler. 437 »Womöglich nicht schlimmer als bei einer starken Erkältung.« Er gab ein nervöses Keckem von sich. »Ich finde nicht, daß da Anlaß für Fröhlichkeit gegeben ist«, sagte Velcourt. »Nein, Sir! Wirklich nicht der geringste.« Ruckerman sagte: »Die Krankheit maskiert entweder das Geschlechtsdifferenzierungsmuster oder verändert es mit tödlichem Ausgang.« »Aber wie konnte er wissen, daß das passieren würde?« fragte Velcourt. »Wir haben keine Ahnung, was für Tests er durchgeführt hat. Wir wissen sowieso nicht allzuviel darüber, aber wir sind dabei, einem Muster auf die Spur zu kommen«, sagte Ruckerman. »Was für ein Muster, und wie funktioniert es?« »Ich spreche von dem Muster in der O'Neillschen Forschungsarbeit, Sir«, sagte Ruckerman. »Wir wissen ein paar Dinge über sein erstes Labor - ehe er sich nach Seattle abgesetzt hat. Freunde haben ihn dort besucht. Also wissen wir, daß er einen Computer zur Verfügung hatte.« »Seine Chemotechnik muß nahezu perfekt gewesen sein«, sagte Saddler. »Er muß, zum Beispiel, bakterielle Enzyme benutzt haben, die er als Derivat irgendwoher - wir wissen noch nicht, woher - bezog, aber wir werden ständig gezwungen, uns daran zu erinnern, daß er immerhin seit fünf Jahren in der DNS-Forschung tätig war, ehe diese Tragödie in Irland ihn aus der Bahn warf.« Velcourt schaute die beiden Männer an, einen nach dem andern. »Was für ein abgrundtief böses Schicksal hat einen derartig einzigartigen Mann so ins Abseits treiben können?« »Die Bechtel-Gruppe hat eine Analyse durchgeführt«, sagte Saddler. »Danach hätte es zwangsläufig passieren müssen - früher oder später. O'Neill war alles in allem gar nicht so einzigartig.« Velcourt war entsetzt. »Sie wollen damit sagen, daß jeder x-beliebige so was Gräßliches hätte anrichten können?« »Also nicht gerade jeder«, sagte Ruckerman. »Aber im438 merhin doch immer mehr und mehr Menschen. Mit der wachsenden Verbreitung des Wissens über die Verfahrensweise, ja, damit und durch die vereinfachten Techniken, plus der Tatsache, daß jedermann mit genug Geldmitteln sich die kochkomplizierten Apparaturen kaufen kann ...« Er zuckte die Achseln. »Es war unvermeidlich in der Welt, in der wir leben.« »Unvermeidlich?« Ruckerman sagte: »Überlegen Sie mal, da war sein erstes Labor, und da gab es den Computer. Er muß wohl chemische proben für eine spätere Verwendung aufbewahrt haben. Das macht man in jedem gutgeführten Labor so. Und er muß den Computer zur Katalogisierung und Analyse benutzt haben. Daran besteht keine Zweifel.« »Und natürlich war es ihm ein leichtes, an Antibiotika zu kommen«, sagte Saddler. »Er hat sie einfach aus seinen eigenen Schubfächern geholt, als er die Apotheke verkaufte.« »Die Antibiotika, gegen die diese Seuche immun ist«, sagte Velcourt. An soviel erinnerte er sich noch aus früheren Gesprächen im Weißen Haus, als Prescott noch lebte. »Aus der Analyse der Apparaturen, die er benutzt hat«, sagte Ruckerman, »geht hervor, daß er ein kompliziertes Zusammenspiel chemokinetischer Faktoren benutzt hat, um zu seinen Ergebnissen zu gelangen.« »Ach, jetzt sind Sie schon wieder dabei!« fauchte Velcourt. »Sir«, sagte Ruckerman, »er hat die Techniken der Temperaturkontrolle und Enzymsplitting in den verschiedenen Stadien angewendet - Wärme als Antriebsenergie, beziehungsweise fehlende Wärme als Bremsfunktion.« »Er verwendete Röntgenstrahlen, Wärme- und chemische Prozesse«, sagte Saddler. »Uns liegt die Liste der wissenschaftlichen Publikationen vor, die er abonniert harte«, sagte Ruckerman. »Daraus wird ganz klar ersichtlich, daß er mit der Arbeit von Kendrew und Perutz vollkommen vertraut war. An den Rand hat er bei einem Text über Enzymsplitting von Bergman und Fruton Notizen gekritzelt.« 439 Keiner der Namen sagte Velcourt etwas, aber es entging ihm nicht, mit welcher ehrfürchtigen Scheu Ruckerman sie aussprach. Außerdem war da etwas, woran man sich - als Politiker - klammern konnte.
»Sie haben also eine wissenschaftliche Veröffentlichung, die er benutzt hat?« »Ja, aber nur eine. Er hatte sie einem seiner Studenten geliehen, und der hatte sie ihm nicht zurückgegeben.« »Dieser O'Neill wirkt auf mich, als wäre er ein ganzes Forschungsteam, in einer Person konzentriert«, sagte Velcourt. »Also, es kann gar keinen Zweifel geben, daß der Mann vielseitig begabt war«, stimmte Saddler zu. »Muß er ja wohl gewesen sein, wenn er diesen Code ganz allein knacken konnte.« Ruckerman sagte: »Das Psychoprofil deutet an, daß einige seiner Begabungsschwerpunkte latent gewesen sein könnten, bis sie durch einen gewaltigen emotionalen Schub freigesetzt wurden, als man seine Familie umbrachte.« Saddler sagte: »Milton Dressler vertritt inzwischen nachdrücklich den Standpunkt, daß O'Neill zumindest ein Latent-Schizoid-Typus gewesen sei, daß er sozusagen ins Genieverhalten getrieben worden ist durch die ihm gebotene Möglichkeit, Zugang zu einer völlig anderen Persönlichkeit zu finden, die latent in ihm angelegt war und die sich erst nach diesem Bombenanschlag in Irland manifestieren konnte.« Velcourt hatte von diesem Dressler gehört - der Mann leitete das psychoanalytische Profil-Team. Der Präsident sagte: »Also der Mann hat durchgedreht, und diese verkorkste Figur war dann in der Lage, diese ganze Scheiße anzurichten.« »Ja, gewissermaßen stimmt das, im Kern«, sagte Saddler. Und dann hatten sie alle drei nervös zu lachen begonnen. Und Saddler und der Präsident hatten einander danach ziemlich bestürzt angestarrt. Als die Männer fort waren, hatte Velcourt kaum die Zeit gehabt, sich noch einmal über das Gespräch Gedanken zu machen. Aber etwas, ein Satz, den sie gesagt hatten, bohrte 440 in ihm weiter. Etwas im Zusammenhang mit dem Aufbrechen des Codes. Und während ihn nun - nach den harten Anforderungen des Tages - die Erschöpfung doch zu überwältigen drohte, mühte er sich verzweifelt, diese eine flüchtige Information in den Griff zu kriegen, sie wieder zu fassen zu bekommen. Inzwischen war es draußen ganz dunkel geworden, die Lichter des Kapitols hoben sich scharf vom Wolkenhimmel ab. Ich muß morgen darüber nachdenken, sagte sich der Präsident. Jammert nicht, ich sei ungerecht verfahren, ihr Engländer und Iren und Libyer! Ihr habt euch eure Führer selbst gewählt, oder sie doch geduldet. Die Konsequenzen waren vorhersehbar. Und nun bezahlt ihr für euren Mangel an Vernunft. Ihr Iren wenigstens hättet es besser wissen müssen. Wie eine Gesellschaft mit landwirtschaftlicher Monokultur habt ihr für euer Überleben auf die Gewalt gesetzt. Ist die Lektion, die euch die Kartoffelseuche erteilte, in eurem Hirn so rasch gelöscht worden? Aber wie ihr sät, so sollt ihr ernten! JOHN ROE O'NEILL, aus dem Dritten Brief Es störte John nicht länger, daß er gezwungen war, aus dem Umkreis des McCraeschen Schlosses zu verschwinden, ohne dort seine Seuche verbreiten zu können. Er wußte inzwischen, daß man ihn für wichtigere Dinge im Labor am Killaloe verschont hatte. Seine Rache blieb ihm treu. Jock hatte ihn vor einem schrecklichen Fehler bewahrt. Herity war verwirrt. War John wirklich nur blindlings aus der Telefonhütte in die dunkle Nacht gerannt? Und durch sein Eingreifen hatte Jock auch preisgegeben, was Heritys wirkliche Aufgabe war. Herity war auf der Suche nach O'Neill! Das amüsierte John. Solange Herity in der Nähe war, würde sich O'Neill-im-Kopf niemals zu erkennen geben. 441 John Roe O'Neill lag gebändigt da, durch Angststarre gelähmt. Die Alptraumschreie waren für eine Weile eingeschüttet. John O'Donnell würde mit seinen drei Wandergefährten weitergehen und fröhlich die fessellosen Arme schwingen. Er fühlte sich befreit. Jock Cullen und vier bewaffnete Soldaten geleiteten sie zwei Meilen weit den Hügel hinunter vom Chateau fort, ehe sie ihnen ihre Waffen zurückgaben. Herity überprüfte seine Maschinenpistole sorgfältig, dann hängte er sie am Riemen um den Hals. John schob seine Pistole und die Munition einfach in die Gesäßtasche und zog den gelben Pullover darüber. Sie trennten sich an der Kreuzung, an der ein Wegweiser noch immer nutzlos die Richtung nach Dublin angab. Jock wies mit seinem Gewehr auf das Schild: »Ihr kennt ja den Weg. Kommt bloß nicht zurück!« Die Folgen eines Zuwiderhandelns mußten nicht ausgesprochen werden. Die Eskorte machte kehrt und marschierte den Hügel wieder hinauf. John und seine Gefährten waren allein auf der Straße zwischen den Steinmäuerchen. Überall standen hohe Kiefern, doch weiter vorn, wo die Straße sich senkte, sah man Wiesen. John warf Herity einen vorsichtigen Blick zu. Der Mann war wie dieses japanische Spielzeug, diese kleinen kugeligen Puppen, in deren unterem Ende Gewichte befestigt sind: sechsmal umgeworfen, siebenmal aufgestanden. Der würde immer wieder auf die Füße kommen. John schmunzelte insgeheim bei der Vorstellung, daß Herity auch als Toter noch auf den Beinen sein könnte. In dem Mann steckte etwas Bitteres, Hartnäckiges. Gefährlich! Sicher, jetzt mochte er verblüfft sein, aber er würde die Jagd nicht aufgeben. »Also, gehn wir endlich!« sagte Herity. Er scheuchte sie voran und zielte einen Kick mit dem Fuß gegen den Jungen, dem der auswich. In diesem Augenblick begriff John, warum Herity über den Jungen so verärgert war. Da war dieses junge
Fleisch, in einer Gestalt und Form, die Herity sozusagen in seinem Freund442 feind-Schema >erkennen< konnte, aber sie war ohne Leben, abgesehen von dieser schlummernden Wut. Dieses Fleisch vvar unbeholfen, war wie ein mechanisches Spielzeug, das abgelaufen ist und dessen Triebfeder nun fast ganz entspannt war. Tu was Richtiges! Oder so ähnlich hatte Herity gefordert. Deshalb wohl war Heritys Zorn durch den Angriff des Jungen im Badehaus beschwichtigt worden. Etwas >Richtiges< ... Nach anderthalb Kilometern kamen sie an eine Gabelung der Straße. Kein Wegweiser. Herity bog nach rechts, doch der Priester hielt an und der Junge mit ihm. »He, Joseph, einen Augenblick! Das ist die längere Strecke, ganz schön viele Kilometer weiter.« Herity hielt nicht einmal an. »Wir haben den Befehl, den Umweg über Dublin zu machen.« Der Priester lief ihm eilig nach, doch der Junge hielt sich hinten bei John. »Warum?« fragte der Priester. »Wer hat das gesagt?« »Jock hat's gesagt. Befehl aus Dublin.« Der Priester warf einen Blick zu John zurück, dann schaute er wieder Herity an. »Aber ...« »Halten Sie den Mund, Trottel von 'nem Pfaffen!« Heritys Stimme klang frustriert. Er marschierte rascher und zwang so den Priester, fast im Trab neben ihm herzurennen. Die Schritte klangen gedämpft auf dem Pflaster zwischen den dichten Bäumen und den Steinmauern. John glaubte eine neue Gespanntheit in Heritys Verhalten wahrnehmen zu können - hastige Blicke nach links und rechts, die Maschinenpistole immer schußbereit in der Hand. Der Priester schob sich den Rucksack höher auf die Schultern und fiel etwas zurück. Herity ging wieder normal, spähte aber dabei beständig weiter in alle Richtungen. John schaute durch die Bäume nach oben: ein seltsames Licht im morgendlichen Himmel, so als dringe es durch einen Graufilter. Die Entfernungen verschwammen diffus; alles war in den Dunst vom Meer im Osten her getaucht. Direkt über ih443 nen war der Himmel wie dunkles Silber, weiter ostwärts war er heller, stahlgrau gefärbt. Das Frühstück lag John schwer im Magen - frisches Rindfleisch und Brennesselspinat mit Kartoffeln. Die Bewacher des Schlosses hatten ihnen eine kleine Steinhütte als Kantine angewiesen, die anscheinend einmal zu einem mittleren Gehöft gehört hatte, das durch einen langen schrägen Hügelrücken von McCraes Besitz getrennt war. Die Innenwände des Häuschens hatte man oberflächlich herausgeschlagen, um Platz für einen langen Tisch und Holzbänke zu schaffen. Das auf einem Torffeuer bereitete Essen wurde ihnen gleich nach Tagesanbruch serviert, und nur Johns Gruppe und die Eskorte aßen. ; Herity war als letzter gekommen, zusammen mit Jock, und der jüngere Cullen hatte verlegen gewirkt und jedes Gespräch zu vermeiden versucht. Aber Herity platzte geradezu vor Fragen. John hatte still dagesessen und zugehört. Er konnte hier etwas erfahren. Liam war von seinen Pflichten als Kommandant am Erscheinen verhindert worden. Die übrigen Wachen waren bereits für den Tagesdienst rings um das Chateau postiert. Die anderen Soldaten am Tisch schienen zu merken, daß Jock irgendwie verändert war, und blieben stumm und wachsam. Langsam schien die Spannung in den Steinmauern des Häuschens zu wachsen. Der Priester brach das Schweigen: »Gott erlegt uns eine schwere Prüfung auf.« Die Worte klangen gezwungen, und hinterher war das Schweigen noch lastender geworden. »Gewiß, Pater, aber an welche Plage denken Sie?« fragte Herity. »War es etwa die Pest des Papsttums, die Sie meinten?« Heritys Stimme klang scharf und arrogant. »Was nutzt schon eine Schuldzuweisung?« fragte der Priester. »Ausgerechnet der fragt so was!« Herity lachte. »Wir werden für vieles zur Rechenschaft gezogen«, sagte 444 der Priester. »Die Briten haben eine üble Saat in unsere Mitte „gesät, aber ich frage euch jetzt, wo wurde diese Saat zur Reife gebracht? Waren es nicht wir selbst, die die Frucht erkannten und vom Baum pflückten?« »Aaah, Eva und der Apfel, wie?« sagte Herity. »Nur, wir haben das die Provos von der IRA genannt«, sagte Jock. »Ein wunderschöner roter Apfel, mit 'ner Bombe drin.« Herity biß die Zähne zusammen. Über sein Gesicht schoß Röte. Er legte beide Hände auf den Tisch. Die Luft schien von Gewalttätigkeit zu vibrieren. »Hört auf damit!« sagte der Priester. »Müssen wir nicht alle jetzt dem Rattenfänger unsern Tribut entrichten?« »Na, dann bezahlen wir ihn doch, damit wir unsern kleinen Tanz veranstalten können«, sagte Jock. »Möchste gerrrn mit mirrr tanzen, Joseph?« »Genug!« donnerte der Priester. »Ich werde den ersten von euch verfluchen, der zur Gewalt schreitet!« Jock schluckte krampfhaft, dann sagte er leise: »Vielleicht haben Sie rrrecht, Paterrr. Es wärrr am besten, alles wärrr vorbei und die Welt tat sich weiterrrdrrrehn ohne solches Unheil.«
Herity funkelte den Priester an. »Ich hab keine Angst vor Ihren Verfluchungen, Michael Flannery. Aber ich erweise der Wahrheit meinen Respekt, die der junge Jock da gesagt hat. Er sieht, wie die Dinge wirklich liegen.« Der Priester seufzte. »Joseph, Joseph, Sie waren einmal ein gottesfürchtiger Mann. Wollen Sie denn nie mehr in den Schoß der Kirche zurückkehren?« Herity starrte auf sein kaltgewordenes Stew, er wirkte seltsam bedrückt, seit Jocks Feuer so plötzlich erstickt war. »Ich hab meinen Glauben verloren, und das bedrückt mich, wahrhaftig, so isses.« »Aber warum dann ...« »Halten Sie Ihr dreckiges Maul, Pfaffe! Ich hab keinen Respekt mehr vor Pfaffen, nicht mehr seit Maynooth. Eher würde ich denen ihre Glocken einschmelzen und Bierhum445 pen daraus machen, als daß ich auch nur eine Minute in einer von ihren Kirchen bleiben möchte!« Er schaute den Priester mit einem Totenkopfgrinsen an. »Und wenn Sie das gotteslästerlich nennen, dann schmeiß ich Sie in den erstbesten Brunnen, den ich finde.« Danach hatte Jock sie weg vom Schloß durch die Felder geführt. Der Tau hatte ihnen die Hosenbeine naßgemacht. Sie konnten die gepflasterte Straße vor sich sehen und einen Feldweg, der zu ihr hinführte. Als der Trupp über den Hügelkamm zog, warfen sie noch einen letzten Blick auf das Chateau. Es war nur noch eine graue Burgmauer zu sehen, die sich zwischen die Bäume schmiegte. Dünn und fern hörten sie Kindergeschrei. Jock blickte sich bei den schwachen Lauten um. Er hielt an einem Zauntritt an, während die anderen auf den Feldweg kletterten. Als John herüberstieg, schaute Jock ihm ins Gesicht. »Hauptsächlich warrrn es die Mädchen, die unsrre Tänze in Irrrland gelerrnt haben«, sagte er. »Manchmal am Morrgen tanzen sie dort drrroben.« Er wies mit dem Kinn zum Schloß hinauf. »Wenn wirr auch diese Mädchen noch verrrlierrrn, dann ist alles zu Ende - all diese wunderrrvollen Tänze. Ich glaub, ich verrrzeih dem McCrae alles, wenn errr uns das errrhält!« Und nachdem Jock sie verlassen hatte, kehrten Johns Gedanken immer wieder zu seinen Worten zurück - zu dieser halb hoffenden Trauer, die sich in ihnen ausgedrückt hatte. Herity marschierte weiter an der Spitze, als vorgeschobener Späher, die MP im Anschlag. Dahinter kam der Priester. John und der Junge bildeten die Nachhut. Die Straße bog scharf nach links ab und aus dem Schutz der Bäume heraus. Direkt vor ihnen lag nun ein klar abgegrenzter Hügel aus hellem Granit inmitten büscheligen Grases. Herity blieb stehen und gab den anderen ein Zeichen, sie sollten ebenfalls anhalten. John blickte an Herity vorbei, neugierig, was ihn erschreckt haben könnte. Aber er sah nichts außer zwei Schafen, die auf dem Grasschelf unter dem Fels weideten. Die Schafe starrten erschrocken zu ihnen herauf. 446 »Es sind nur ein paar Schafe«, sagte der Priester. Herity wedelte Schweigen gebietend mit der Hand. Er betrachtete prüfend die Umgebung, die rundlichen Hügelchen unterhalb des Felsvorsprungs, das leere Tal dahinter - eng, von einem sumpfigen Wasser durchflössen. »Es ist ein echtes Wunder, daß Sie nicht schon lang draufgegangen sind, Michael Flannery«, sagte Herity. »Denn was die Schafe da stört, das muß uns gleichfalls vorsichtig machen.« »Und wer kann es sein, der sie stört?« fragte der Priester. »Ich frag mich, wohin Liam heut früh gegangen ist?« fragte Herity dagegen. »Gehn wir mal ein Stück zurück, aber seid so leise wie im Grab dabei!« Herity ging die Straße zurück, behielt dabei jedoch den Felsen und die Schafe beständig im Auge. John wandte sich um und ging neben ihm. Ab und zu drehte er sich um. Der Priester und der Junge gingen an der Spitze, schauten sich jedoch nicht nach Herity um. »Was ist los?« fragte John. Er tastete nach der Pistole in der Gesäßtasche, gab dann aber den Gedanken auf und zog die Hand leer zurück. »Heutzutage machen nur Menschen Jagd auf Schafe, wegen dem Fleisch«, sagte Herity. »Irgendwas hat die Biester erschreckt, lang bevor wir rankamen.« »Vielleicht bloß ein paar von Liams Soldaten auf Proviantsuche«, sagte John. »Was für Proviant?« fragte Herity. Der Priester war stehengeblieben und fragte nun: »Irgendwas ist zwischen Ihnen und Liam Cullen vorgegangen«, sagte er. »Was war das?« »Dublin hat ihm den Befehl erteilt, uns sicher auf den Weg zu bringen«, sagte Herity und warf John einen kurzen Seitenblick zu. »Und es würde gar nicht zu Liam passen, einem solchen Befehl nicht zu gehorchen, wenn da andere dabei sind, die ihn deswegen denunzieren könnten.« »Das ist doch nicht Ihr Ernst!« protestierte der Priester. »Liam und ich, wir waren schon als Hosenscheißer zu447 sammen«, sagte Herity. »Ich hab ihn als Kind gekannt, und ich kenn den Mann. Wer will ihm verbieten, wenn er hier in dem Tal ein bißchen was abstaubt? Da geben Sie mir mal 'ne Antwort drauf, Priester!« Sie waren an einer Stelle stehengeblieben, wo Steine aus der Grenzmauer an der Straße herausgebrochen und den Hang hinabgerollt waren. Herity trat näher und spähte über die Mauer in die Bäume, »'ne Art Pfad«, sagte er.
»Ich denke, wir gehen hier runter.« Der Priester folgte ihm an den Spalt. »Das nennen Sie einen Pfad?« »Hat für uns 'nen großen Vorzug«, sagte Herity. »Man kann ganz genau sehen, daß da heut noch keiner gegangen ist.« Der Priester schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht glauben, daß Liam Cullen einfach alle so abknallen ...« »Hören Sie schon auf damit, ja! Liam issen Soldat. Was glauben denn Sie, warum's da hinten in dem andern Tal keine Menschenseele mehr gegeben hat? Die sind alle weggerannt, oder Liam und seine Jungs haben sie abgeschossen. Und hier in dem Tal da auch. Ich weiß, wie's in Liams Schädel aussieht. Der denkt, es gibt kein Gerede, wenn keiner mehr da ist, der reden kann.« »Aber wir wußten doch von ...« »Wußten? Gerüchte und 'n bißchen Gezwitscher von denen, die hören, was das Council beschlossen hat. Wir wissen gar nichts!« Herity hob den Fuß über die Mauer und sprang auf der andern Seite hinunter. Der Priester folgte ihm, dann John und der Junge. Der Pfad war eine dunkle Schneise durch einen Mischbestand von Nadelbäumen, der Grund von Schafshufen pockennarbig bedeckt, nirgends jedoch eine menschliche Fußspur. An den niederen Zweigen hingen Strähnen von Wolle wie Wegmarkierungen bei einer Schnitzeljagd. Es ging steil bergab, über freiliegende Wurzeln. Hinter Herity schlitterten und kletterten sie hinunter, hielten sich an Zweigen fest, um zu bremsen, stemmten sich an 448 jen steilsten Stellen gegen Wurzeln, bis sie unter den Bäumen hervor auf einen von Menschenhand gemachten Sims stießen und auf Felsstufen, die zu einer abfallenden Wiese hinabführten. Etwa fünfzig Meter tiefer stand mitten in der Wiese ein Steinhaus, das nur noch ein halbes Dach hatte, darum herum hohes Gras. Dahinter erstreckte sich eine Reihe von Felsterrassen nach rechts durch dichtstehende Bäume. Auf dem Grund verlief, die Terrasse entlang, eine tief eingegrabene, von Unkraut überwucherte Wagenspur, schräg von links nach rechts, durch zwei Tore, die man hatte offenstehen lassen. John klopfte sich Erde und Nadeln ab, während er sich die Szenerie betrachtete. Es war fast wie ein Stilleben mit dem Titel: Verlorene Träume. »Da haben Sie etwas, was man früher in Irland auf dem Land nie sehen konnte«, sagte Pater Michael leise. »Offengelassene Gatter.« »Ruhe jetzt!« flüsterte Herity. Er glitt über die Wiese auf das Haus zu, schob sich geräuschlos durch das hohe Gras wie ein Jäger auf Pirsch. John folgte ihm. Er hörte, wie der Priester und der Junge hinter ihm durch das Gras raschelten. Herity strebte auf das erste offene Gatter und auf die Wagenspur zu. Sie kamen an der Asche eines wohl ehemaligen Stalles vorbei, daneben war ein Misthaufen. Auf dem Misthaufen wuchs bereits dichtes Gras, und in den Trümmern sproß bereits Unkraut. Die Wagenspur stieg nach rechts hin zu den Felsmauern der Terrassen an, die sich von doppelter Mannshöhe allmählich zu Hüfthöhe in etwa zweihundert Metern Entfernung abflachten. Als sie über die zweite Terrassenstufe kamen, eröffnete sich ihnen der Blick über von Steinmauern begrenzte Weiden und auf die Straße, die sie eben verlassen hatten, dann jenseits der Straße auf eine Burgruine auf dem gegenüberliegenden Hügelkamm, nicht mehr als einen Kilometer entfernt. Herity blieb stehen. »Aaaah!« sagte er. John hielt neben ihm an. Der Priester und der Junge hinter ihnen gaben keinen Laut von sich. Alle starrten zu der Burg 449 hinüber. Sie lag wie im Dunst zwischen den Bäumen und Büschen, und nur die zinnbewehrten Wallanlagen waren ganz frei zu sehen. Durch den Schutz des Grüns konnte man da und dort Farbflecken an den Wällen ausmachen. Halbverfallene Türmchen und Strebepfeiler hoben sich vor dem Morgenlicht ab, ganz wie die Kitschillustrationen in den Werbeprospekten für Touristen. John ertappte sich bei dem Gedanken, wie unweigerlich doch Burgen, und seien es Burgruinen, dem Horizont etwas Grausames verliehen - fast wie gebleckte Reißzähne. »Ich brauch den Feldstecher«, sagte Herity gedämpft. Er streckte eine Hand nach hinten aus zu dem Priester, ließ aber den Blick nicht von der Burg. Der Priester drückte ihm das Fernglas in die Hand. »Was ist denn?« Herity gab ihm keine Antwort. Er richtete das Fernglas auf die Burg, musterte sie aufmerksam von Seite zu Seite, dann hielt er still. »Na also«, flüsterte er. »Und jetzt langsam, ihr alle, zurück hinter den Schutz der Mauer.« »Was ist denn?« beharrte der Priester. »Tun Sie, was ich Ihnen sage!« Herity drängte sie die Wagenspur zurück, bis sie hinter der Terrassenmauer standen. Dabei spähte er immer wieder zu der Burg hinüber. Dann ließ er den Feldstecher sinken und lächelte den Priester an. »Es is' Liam da drüben, und er hat das Schwesterchen von meiner kleinen Süßen hier dabei.« Er tätschelte die Maschinenpistole an seiner Brust. »Also, jetzt frag ich euch aber, warum wohl der Liam Cullen da diese Straße langschaut und dabei so 'ne Waffe in der Hand hat? Aaah, was für 'ne Schlange, dieser Mann!« »Was meinen Sie damit?« fragte der Priester. »Also, nun ja - nachdem er uns ja nicht gesehen hat, weil er sich so scharf auf die
Straße konzentriert, wo er uns erwartet, werd ich mich jetzt mal hinter ihm ranschleichen und ihn dann freundlich fragen, wie er sich das denkt, was er da macht, so weit entfernt von seinem Posten bei Mistet! 450 UcCraes hübschem Haus.« Herity räusperte sich und spuckte auf den Boden. »Ziemlich entmutigend, muß ich schon sagen. Ich hätte von Liam was besseres an Kampftechnik erwartet.« »Ich komme mit«, sagte der Priester. »Sie werden brav hier warten«, sagte Herity. »Sie warten hier als 'ne tote Leiche oder als 'n Lebendiger, damit Sie dann in der Lage sind, unseren Mister John O'Donnell nach Dublin zu bringen, sollte mir was Übles zustoßen.« Der Priester setzte zu einem Widerspruch an, schwieg aber, als Herity aus dem rechten Stiefelschaft ein langes Messer hervorzog. »Und falls Sie mich zwingen, Sie zum Schweigen zu bringen, Michael Flannery, dann muß ich das gleiche auch mit dem Jungen machen, weil der dann ja keinen Beschützer mehr hat.« Der Priester starrte Herity mit weit aufgerissenen Augen an. »Ich glaube, Sie könnten das wirklich tun!« »Aaah, endlich fließt Ihnen Weisheit zu! Also, ihr wartet jetzt alle hier, wo keiner euch sehen kann!« Er wandte sich zu John. »Würden Sie sich bitte darum kümmern, John?« Herity duckte sich, wandte sich um und huschte gebückt die niedere Mauer der Terrasse entlang. Er richtete sich nur auf, wo die Wagenspur sich tief genug senkte, daß er von der Burg her nicht gesehen werden konnte. »Ein schrecklicher Mann«, sagte der Priester leise. »Manchmal glaube ich, er ist eine Ausgeburt des Teufels selbst.« Er sah John ins Gesicht. »Meinen Sie, er hätte wirklich ...« Er brach ab und schüttelte den Kopf. »Ich glaube, er hätte es getan!« »Er ist dazu fähig, ja«, gab John ihm recht, und gleichzeitig überlegte er, warum ihm diese Vorstellung angenehm war. »Fähig, ja. Ein schönes Wort. Und ich vergesse immer wieder, daß ja Sie es sind, der hier wichtig ist, John O'Donnell. Wir müssen Sie unbedingt sicher zum Killaloe bringen. Wir müssen unablässig an das Laboratorium denken, an die Menschenleben, die wir vielleicht retten können. Aber was ist mit ihren Seelen? Das frage ich Sie. Was wird mit ihren Seelen?« Die Frage bereitete John Unbehagen. Die Stimme dieses 451 Priesters - so mild, und dann diese unterschwellige Wut und Gewalttätigkeit darin. Und da war auch wieder diese arrogante, absolute Gewißheit, diese Glaubensverkrustung, das keinen Zweifel zuließ. Aber wie zögernd klang er nun trotzdem, fast so, als spreche er seine Worte nur wie einen Rollentext, an den er sich nicht mehr genau erinnerte. »Also, warum gehen wir dann nach Dublin?« fragte John brüsk. »Die haben dort hinten Funk.« Der Priester nickte mit dem Kopf in Richtung auf das Chateau McCraes. »Ich nehme an, der Befehl wurde weitergeleitet. Zweifellos wird man Sie dann in einem Motorfahrzeug zum Killaloe bringen.« John tastete nach der Pistole in seiner Gesäßtasche, zog sie aber nicht heraus. Wenn das dort oben wirklich Liam war, und wenn er Mordabsichten hegte? Und wenn Herity selbst getötet werden sollte? John schaute sich vorsichtig um: offene Weideflächen, und nur ab und zu Steinmäuerchen, hinter denen sie sich würden verstecken können. »Ach, es sind schwere Zeiten«, seufzte der Priester. »Es ist so schwer, die richtigen Entscheidungen zu treffen.« John schaute nach rechts die Wagenspur hinunter. Herity war nicht mehr zu sehen. Ob ich es riskieren kann, an der Terrassenmauer vorbei zur Burg zu schauen? Aber Herity hatte den Feldstecher mitgenommen. Der Junge ließ sich mit dem Rücken gegen die Mauer zu Boden gleiten und hockte so da, neben John. Der Priester mummelte gedämpft in sich hinein, als sei er in ein langes Gespräch mit sich selbst vertieft gewesen und habe erst jetzt beschlossen, es den andern mitzuteilen. »Ich geb die Schuld den Englischen! Bei Gott, das tu ich! Wie könnten wir dem Verrückten eine Schuld geben? Die arme Seele, die laut aufschreit gegen das empörende Unrecht, und noch dazu wo der doch hier in unserm Land auf Urlaub war und bestimmt keiner Fliege was zuleide tun wollte.« Der Priester schüttelte traurig den Kopf. »Warum nur sind die Englischen je hierher gekommen? Was haben die jemals irgendwo an Gutem getan?« 452 John sprach geistesabwesend, auf etwas ganz anderes konzentriert: »Sie würden sicher sagen, daß sie euch Gesetze und eine verfassungsmäßige Regierung geschenkt haben.« Wo war bloß Herity? Sollten sie wirklich hier so weiter warten, so schutzlos? Und hockte dort oben wirklich Liam und plante, sie zu ermorden? »Das Gesetz der Engländer!« fauchte der Priester. »Wenn die anfangen, von Toleranz zu reden! Wann waren die Engländer jemals tolerant? Schauen Sie sich doch mal das blutige Gemetzel an, das die unter den Pakistani anrichten! Die waren schon immer bigotte Heuchler! O nein, ich gebe denen die Schuld für all das hier!« John antwortete trocken und bemühte sich dabei, seine Belustigung zu verbergen. »Beim Frühstück heute morgen waren Sie aber noch ganz voll Vergeben und Vergessen.« »Das ist ein Erbfehler von uns Flannerys«, sagte der Priester. »Wir stecken immer voller Unsinn, ehe wir wach im Kopf sind.« Er blickte starr den Weg hinab, den Herity gegangen war. »Wo der Mann nur bleibt? Er hat doch Zeit genug gehabt.«
»Langsam und leise«, sagte John, spürte aber, wie sich sein Magen bei der Frage verkrampfte. »Noch mehr Morden«, murmelte der Priester. »Ich möchte wissen, ob Joseph was von Gannons Selbstgebranntem mitgenommen hat...« John blickte ihn nur stumm an. Der Priester seufzte: »Kein Volk hat je soviel Grund gehabt, sich dem Saufen zu ergeben, wie die Iren.« Tränen quollen ihm aus den Augen und rollten die Wangen hinab. »Mein eigener kleiner Bruder, der kleine Timmy, sagte mir: >In der Flasche liegt mein Heil. < Und er hat mir die Worte von Jimmy Joyce zitiert: Irland nüchtern ist ein steifes Irland. < Aaah, ich segne dich trotzdem, kleiner Timmy.« Und wieder schüttelte ihn ein tiefer Seufzer. Er wischte sich die Tränen von den Wangen und schaute die Strecke zurück, die sie gekommen waren, seine Aufmerksamkeit war auf die eine Ecke des zerstörten Häuschens gerichtet, den 453 einzigen Teil der Ruine, den man von ihrer Position aus sehen konnte. »Keiner baut mehr etwas«, flüsterte er. »Nicht mehr. Bis die Pest kam, haben wir uns nicht klargemacht, warum wir Häuser bauten. Es war für die Kinder. Ohne Kinder ist nichts mehr übrig von uns.« Er schwieg eine Weile, dann sagte er: »Och! Wo ist das ...« Der seltsam scheppernde Klang einer Maschinenpistole hallte durch das Tal und ließ den Priester verstummen. John spannte alle Muskeln an. Welche MP war das? Heritys oder Liams? Der Junge bewegte sich und starrte zu ihnen herauf. John glaubte schon, er werde sein Schweigen brechen, aber er fuhr sich nur mit der Zungenspitze über die Lippen. Der Priester schaute John an. »War das ...« »Das war es.« »Welcher von den beiden?« flüsterte der Priester. John stieg über den sitzenden Jungen hinweg. Er sah den gehetzten Blick, mit dem der Kleine ihn verfolgte. Der Rand der Terrassenmauer lag nun direkt vor ihm. Zwischen den Steinbrocken wuchs rebartiges Unkraut. Ob noch weiter geschossen werden würde? Er streckte den Kopf aus dem Schutz der Steine, bis er mit einem Auge zu der Burg hinaufspähen konnte. »Was ist denn?« flüsterte der Priester. John wagte sich weiter vor und blickte nun mit beiden Augen zu der Ruine auf der Höhe hinüber. Nichts bewegte sich dort, außer daß eine sanfte Brise den Vorhang aus Bäumen und Sträuchern leicht schwanken ließ. Keine Vögel... nichts! Er spürte die Stille körperlich - es war wie ein Warten darauf, daß Leben sich von selbst entfalte, und es kam ihm höchst absurd vor, daß er auf diese Weise aus der Sicherheit seiner Steinbrüstung hervorlugen sollte. Der Priester zupfte ihn am Pullover. »Was ist denn?« »Nichts«, flüsterte John zurück. »Aber das war eine Maschinenpistole!« »Das war es, aber welche von ... Warten Sie!« An der östlichen Brustwehr der Burgruine hatte sich etwas 454 bewegt - undeutlich, kaum sichtbar hinter dem dazwischenliegenden Pflanzenwuchs. Verdammt, warum mußte Herity auch den Feldstecher mitnehmen! »Was sehen Sie?« drängte der Priester. Er wollte sich an John vorbeischieben, doch der drängte ihn zurück. Von der Wehrbrüstung her war irgend etwas zu sehen, das sich bewegte. Dann erkannte John es plötzlich - es war Heritys grüner Parka, der wie eine Signalflagge hin und her geschwenkt wurde ... ja, und Heritys Strohkopf unter den Armen, die den Parka wie ein Siegesbanner hochreckten ... »Es ist Herity«, sagte John. »Er winkt, wir sollen zu ihm raufkommen.« John trat aus der Deckung und wedelte mit den Armen. Die Jacke auf der Burgruine vollführte noch eine Bogenbewegung und senkte sich dann. Der Priester trat an Johns Seite. »Was ist das für eine merkwürdige Färbung an den Burgmauern?« »Gehn wir doch rauf und schauen es uns an«, sagte John. Der Priester hielt sich zaudernd zurück. »Es ist Blut«, sagte er. »Nun, dann werden Sie erst recht gebraucht«, sagte John. Er ging voran, den Weg hinunter, an dem zweiten offenen Gatter vorbei. Hinter sich hörte er den Priester und den Jungen gehen. Der Weg bog um die eine Mauer, stieß auf ein weiteres offenes Gatter und stieg dann zu der Pflasterstraße hinauf. Eine gepflasterte Zufahrt, genau gegenüber, stieg zu einer niederen Mauer, direkt unterhalb der Burg an, bog dort nach rechts zu einem ebenen Parkplatz ab, wo das Wrack eines ausgebrannten Busses stand, ein Rad hing über die Grenzmaut hinaus. Das ganze Fahrzeug, verwittertes Rot und Schwarz, der Bus hing in einem unmöglichen Winkel schräg über. Warum war er nicht abgestürzt? Und dann sah John es: Vor dem Kühler stand ein Baum auf dem Parkplatz. Die Baumwipfel wuchsen hoch über eine zweite Terrasse hinaus, auf der man den Wildwuchs anscheinend seit langem nicht geschnitten hatte. Keuchend kam der Priester an Johns Seite gerannt. Den 455
Jungen zerrte er an der Hand hinter sich her. »Ich kann ihn. nicht sehen! Wo ist Joseph?« »Da droben«, sagte John. Er schwieg, bis sie die Straße erreicht hatten. Dort blieb er stehen, blickte sich nach rechts und links um, dann mußte er lachen über den konditionierten Reflex - als könnte hier ein Auto kommen und ihn überfahren! Die Zufahrt zur Burg war mit Steinen gepflastert, die genauso schwarz waren wie die Grenzmauern am Straßenrand. Moos und Flechten bedeckten den Stein. Aus den Ritzen der Fahrbahn und der Grenzmauern sproß Gras. Aus seinem Versteck droben rief Herity ihnen zu: »Hier rauf!« John ging über den Terrassenparkplatz voran und trat dann in ein Gewölbe, das sich als gedeckter Zugang zum Burghof erwies. Sie traten ins Freie und standen auf einmal vor der Burg selbst, ohne die konturenverwischenden Bäume und Büsche. Irgend jemand hatte die Schlußsteine der Fensterbögen rötlichorange bemalt. Eine Farbe, unecht wie die von Plastikstoffen, wie die billiger Haarfärbemittel. »Da haben Sie das Blut«, sagte John. Dann schaute er zu der Mauer über den Fenstern hinauf. Man hatte die gleiche scheußliche Farbe verwendet, um quer über den ganzen sichtbaren Teil der Steinmauer ein unbeholfenes Sgraffito zu malen: grob hingepinselt, kindliche Großbuchstaben: SCHEISS AUF DIE VERGANGENHEIT! Aus einem Türchen am Fuß der Burgmauer tauchte Herity auf. Er trug jetzt zwei Maschinenpistolen und einen zweiten Rucksack. Der war militärisch feldgrün. Als er John sah, blieb Herity abrupt stehen. Er sah, wie John, der Priester und der Junge auf die Burgmauer über ihm starrten, drehte den Kopf und las. Dann brach er in brüllendes Gelächter aus. »Da habt ihr sie, die neue irische Poesie!« Er drehte sich auf dem Absatz um und kam auf John zu. Dann drückte er ihm die zweite Maschinenpistole in die Hand. »Da! Nehmen Sie! Jetzt sind wir alle beide angemessen bewaffnet, also besteht ja 456 wirklich 'ne Chance, daß wir uns bis Dublin durchschlagen gönnen.« Er ließ den neuerworbenen grünen Rucksack vom Unterarm gleiten und drängte ihn John auf. »Liam hat in weiser Voraussicht Extramagazine und 'ne Masse Munition mitgebracht.« »Es ... war also Liam?« fragte der Priester. »Was für ein grandioser Ausblick von da oben«, sagte Herity und wies mit dem Kinn zur Burgzinne hinauf. »Da lag die ganze Straße frei vor ihm. Allerdings hat er zuviel Munition mitgebracht. Es wäre bloß ein kleiner Feuerstoß nötig gewesen, und wir wären Hackfleisch gewesen.« Der Priester warf den Kopf hin und her wie ein verwundetes Tier. Er machte den Mund auf, sagte aber kein Wort. Und dann schließlich brach es aus ihm heraus: »Verflucht sollen sie sein! Verflucht!« »Das ist die richtige Einstellung, Priesterchen! Ein netter kleiner Fluch ab und zu, das bringt uns alle prima weiter.« Er grinste John mit einem Verschwörerlächeln an. »Es ... war ... Liam?« stammelte der Priester hartnäckig. Es klang, als werde er gleich weinen. »Sie haben ganz korrekt die Vergangenheitsform verwendet«, sagte Herity. »War! Gewesen! Liam ist inzwischen Plusquamperfekt.« Herity kicherte über seinen Witz. »Tot?« fragte der Priester bohrend. »Ach, hab ich das nicht gesagt? Ich bin hintenrum raufgekrochen, und da war er und hat mit seinem kleinen Kanönchen da die Straße beobachtet, und war dermaßen damit beschäftigt, daß er mich nicht gehört hat, bis es zu spät war.« »Wo ist seine Leiche?« fragte der Priester. Er klang unendlich müde. »Sparen Sie sich ihre nutzlosen Gebete, bis wir mehr Zeit haben«, sagte Herity. »Es wird 'ne Weile dauern, bis sie ihn finden, falls sie überhaupt nach ihm suchen kommen.« Herity packte den Priester am Arm, zwang ihn, sich umzudrehen, und hielt ihn so fest, daß er gezwungen war, auf den ausgebrannten Bus hinunterzuschauen. »Der war ganz voller Leute, als er verbrannt ist«, sagte er. »Die kleinen Löcher un457 terhalb der Fenster stammen von einem schweren Militär-MG. Und natürlich dürfen Sie ein paar Worte sagen, wenn wir dran vorbeikommen ... Pater! Aber wir sind im Moment ziemlich in Eile, und wir werden gut auf Rückendeckung achten müssen, unterwegs. Wegen Jock.« Herity gab den Arm des Priesters frei und ging auf die Stufen zu, die zum Parkplatz hinabführten. Als er ihnen den Rücken zuwandte, sah man, daß zwischen seinen Schulterblättern ein großer dunkler Fleck war - ein Fleck, wie er entsteht, wenn jemand einen Körper auf dem Rücken trägt, aus dem noch das Blut läuft. Denn solange sie weiterhin die Kontrolle über Leben und Tod ausüben, sind Aristokraten - ganz richtig - davon überzeugt, daß ihre Macht von ihren Familienverbindungen abhängt und weit weniger von dem Volk, das man in Knechtschaft halten muß. Darum bleibt die Heirat auch weiterhin so wichtig für die Sippenstruktur des Adels. Macht vermählt sich mit Macht. An diesem Charakteristikum erkennt ein Aristokrat den anderen sofort. Ihnen ist an gemeinsames Verhaltensmuster eigen. Hier haben wir die Sippenökonomie, hier findet der wahre Kuhhandel statt - an der immer noch höchst lebhaft florierenden Mitgift-Börse. DR. MED. JOST HUPF Bill Beckett stand am Fenster in Wycombe-Finchs elegantem Arbeitszimmer und betrachtete sich den Union
Jack, der am Mast vor dem Huddersfielder Verwaltungsbau flatterte. Er sah, wie die adrett uniformierten Flaggenposten, die die Fahne an jedem Morgen hißten, zu ihren Baracken an der Außenstation nahe dem Haupteingang marschierten. Eine Schar Bachstelzen flog über die marschierenden Männer, wendete ; die weißen Bäuche blitzten vor dem grauen Morgenhimmel. In der Fensterscheibe konnte er sein Spiegelbild sehen, ein 458 undeutlicher Schemen, viel magerer, als er es je gewesen vvar. Es wird regnen, dachte Beckett. Er hörte, wie die Tür hinter ihm sich öffnete, Wycombe-Finchs barsche Stimme, Joe tfupps mildakzentuierte Antwort. Joe ging wieder einmal das Problem der Computerbenutzung an. Es war entscheidend wichtig. Beckett hatte noch den Geschmack seines Frühstücks im Mund - Haferpfannkuchen mit Speckscheiben. Eines mußte man Huddersfield lassen: das Essen hier war handfest und solide. Allerdings setzte er dabei kein Fett an. Danzas verabscheute ganz offensichtlich die einheimische Küche, hatte sich aber wohl damit abgefunden. Beckett hörte, wie Danzas und Lepikow ins Büro kamen. Er drehte sich um und vergewisserte sich, daß alle anwesend waren. Der Direktor war an der Tür stehengeblieben. Er schloß sie, dann drehte er das bleiche, von winzigen Äderchen durchzogene Gesicht Beckett zu und nickte. Die anderen rückten eilig Stühle an den schmalen Tisch an einer Wand des Büros, an dem sie ihre kleinen internen Konferenzen abhielten. Beckett schritt langsam durch den Raum. Er überlegte sich noch einmal, wie er den anderen seine Sache am besten verkaufen sollte. Die Nukleinsäuren waren die Moleküle, auf denen der genetische Code aufgezeichnet war. Das immerhin brauchte man nicht noch einmal zu betonen. Sie bestimmten den Aufbau der Proteine. Sie enthielten den Schlüssel zur Erbstruktur. Schwere Polymere wie Proteine. Und die DNS war effektiv ein Doppelmolekül, bei dem sich die eine Kette spiralig um die andere wendelte, aber inzwischen wußten sie, daß es nicht bloß eine zweiteilige Struktur mit einem Code von vier Lettern war. Hatte Hupp recht? Brauchten die beiden dominanten Teile die Anwesenheit eines Zünders, der sich zwischen sie schob, fast wie eine Schlange, die in ein Erdloch kriecht? Das würde zu Browders Konzept vom Maibaum passen. Es würde partielle Übereinstimmung an jedem Verbindungspunkt erfordern, worauf sie sich in dem neuen 459 Medium entspannten, dann zum nächsten Stufenpunkt weiterwackelten und so weiter und so weiter, bis zum Augenblick der Komplettierung: Totalzündung ... Kontakt! Doch um derart komplexe Geschehen zu begreifen, waren höchst raffinierte Computerprogramme nötig. Und wenn Wycombe-Finch ihnen die dazu unabdingbare Computerzeit nicht bewilligen wollte, vielleicht konnte dann Ruckerman sie aus dem neuen amerikanischen Präsidenten herausholen. Ohne diese Hilfsapparate würden sie nämlich diesen Code nie aufschlüsseln können. Beckett setzte sich neben Danzas und schaute Lepikow und Hupp auf der anderen Seite des Tisches an. Der Institutsleiter setzte sich ans Tischende und stemmt die Ellbogen auf die Platte. »Wir müssen heute diese Entscheidung treffen«, sagte Lepikow. Die vollen Lippen bewegten sich kaum beim Sprechen, doch seine dichten Augenbrauen machten dies wett, sie hoben und senkten sich mit jedem Wort. Wycombe-Finch drehte den Kopf und blickte auf den Stapel von Computerausdrucken, die Beckett ihm in Leporellofaltung zuvor auf den Schreibtisch geworfen hatte. »Das ist ungefähr ein Drittel vom Durchlauf der letzten Woche«, sagte Hupp. »Aber es ist das wesentliche Drittel.« Beckett sagte: »Wye, Sie müssen uns eine ganze Menge mehr Computerzeit bewilligen. Es hält uns auf, wenn wir Schlange stehen müssen für ...« »Sie glauben also wirklich, Sie können die Struktur reproduzieren?« fragte Wycombe-Finch. Er zog seine Pfeife aus der Tasche seines Tweedjacketts, ein sicheres Zeichen dafür, daß er beabsichtigte, fest zu bleiben und die Besprechung lang auszudehnen. »Wir haben immerhin die Zehe schon in der Tür«, sagte Beckett. Der Direktor kannte diesen Ausdruck, fragte sich aber, wie genau er zutreffen mochte. Er stopfte die Pfeife, zündete sie an und schenkte der Glut seine ganze Aufmerksamkeit, die unter dem Feuerzeug zu leuchten begann. 460 »Ist es absolut sicher, daß es in ganz England keine Frauen mehr gibt, die für Tests in Frage kämen?« fragte Danzas. »Noch zu früh, uns mit dem Problem zu befassen, meinen Sie nicht?« sagte der Direktor. Er blickte Beckett an, und sein puls beschleunigte sich dabei. Wie nahe war dieses Team an die Lösung gekommen? »Aber wir werden irgendwann Testpersonen brauchen«, sagte Beckett. »Man hat mir versichert, es gibt keine Frauen, an die wir leicht herankommen könnten«, sagte Wycombe-Finch. »Aber ich bin sicher, sie werden uns welche zur Verfügung stellen, wenn es soweit ist. Vielleicht die Amerikaner? Ich habe gehört, die haben Quarantänestationen, besetzt mit...« »Wir wagen nicht, darum zu bitten«, sagte Lepikow. Danzas rieb sich die lange Nase mit dem Zeigefinger und nickte zustimmend. »Darüber haben wir doch schon ausgiebig diskutiert«, sagte Hupp. »Die Vereinigten Staaten, die Sowjetunion, China ... wir wagen es nicht, einen von denen anzugehen. Sie würden sofort wissen, daß wir einen Durchbruch
geschafft haben.« »Ich bin mit dieser Theorie vertraut«, sagte Wycombe-Finch, den Pfeifenstiel im Mund, durch eine dichte Rauchwolke hindurch. »Aber wie dicht dran sind wir?« Hupp zuckte die Achseln. »Die Zehe in der Tür heißt ja noch nicht, daß wir das Geschäft gemacht haben«, sagte Beckett. Der Direktor nahm die Pfeife aus dem Mund. »Nehmen wir einmal an, ich tue, worum Sie mich bitten, ich gebe Ihnen mehr Computerzeit - und wir wollen uns wegen dieser hypothetischen Erwägung nicht darum streiten, wie viel Zeit mehr es sein soll. Aber sagen wir, ich tue es. Was dann?« »Wenn Sie uns genug Zeit mit dem Computer geben, dann sorgen Sie am besten auch gleich raschestens für Testpersonen«, sagte Beckett. »Was ist mit dieser Frau in dem Isolationstank am Killaloe?« fragte Hupp. »Ihr Mann hat mich neulich angerufen, 461 das wissen Sie ja. Ich hab das Problem nicht mit ihm besprochen, aber es ist mir durch den Kopf gegangen.« »Was genau befürchten Sie von den Großmächten?« fragte Wycombe-Finch. Beckett warf Hupp einen Blick zu, der langes geduldiges Leiden ausdrückte. Das Ganze hatten sie schon mehrmals ausführlich mit dem Direktor durchgesprochen. Der Mann übte eine Verzögerungstaktik aus, wägte seine Möglichkeiten immer wieder ab. Hypothetische Überlegungen! Ja, die waren eine der ärgerlichsten Eigenschaften Wycombe-Finchs. Er weigerte sich, rasch und entschlossen zu handeln. Auch nur so ein verdammter Bürokrat! »Wenn wir bekanntwerden lassen, daß wir das Geheimnis der Seuche entdeckt haben«, sagte Hupp, »würden die Großmächte der Welt mehrere für sie attraktive Möglichkeiten haben, von ihrem jeweiligen selbstsüchtigen Standpunkt aus gesehen. Zunächst würde jede Macht feststellen, wie gut ihre eigene weibliche Bevölkerung gegen einen Angriff mit konventionellen Mitteln geschützt oder zu schützen ist. Sobald die Frauen immunisiert wären, würde man sie als höchstes nationales Gut erklären und in Schutzhaft nehmen können.« »Unter Bedingungen, die man in der Vorpestzeit als absolut unannehmbar angesehen haben würde«, warf Danzas ein. »Wir müßten mit einem Überraschungsangriff direkt hier auf uns rechnen«, sagte Beckett. »Sie würden uns unter Kontrolle haben wollen.« »Selbst wenn sie herausfinden, daß wir einen gewissen Erfolg erzielt haben«, sagte Lepikow. »Wir dürfen die Lösung nicht weltweit bekanntmachen. Sie darf nicht über dieses Institut hinausdringen.« »Das meinen Sie alles wohl sehr ernst«, sagte Wycombe-Finch mit leicht nörgelndem Ton. »Die Sowjetunion würde die statistischen Vorteile abwägen, um ihre tatsächlichen oder potentiellen Feinde zu schlagen«, sagte Lepikow. »Wenn man diese Pest heilen kann, 462 besonders wenn man auch die anderen Implikationen der Sache begreift, dann entwickelt sich der Gedanke an einen Erstschlag zu einer äußerst attraktiven Möglichkeit. Und dann wird dieses Forschungszentrum hier ganz zweifellos sofort abgeschrieben werden.« Wycombe-Finch blickte Beckett an. »Sie teilen diese Meinung?« »Jede Atommacht wird für uns unter diesen Umständen ganz ungewöhnlich gefährlich werden«, sagte Beckett. »Es dreht sich alles um Faktoren, die wir hier unmöglich genau wissen können: nämlich, wie gut haben sie ihre weibliche Bevölkerung schützen können.« »Jedes beliebige andere Bevölkerungssegment könnte großzügig geopfert werden«, sagte Lepikow. Hupp beugte sich vor. »Alle haben sie bereits derartige Verluste hinnehmen müssen, daß sie ja jetzt bereits von einer Reserveposition aus verfahren. Menschen, die mit dem Rücken an der Wand stehen, neigen zu gefährlichen Entschlüssen.« Wycombe-Finch kratzte sich mit dem Pfeifenstiel an der Kinnbacke. »Die Denkweise von Militärs«, brummte Lepikow. »Es ist überall die gleiche.« Wie es bei ihm leitmotivisch stets so kam, räusperte sich Danzas, blickte alle am Tisch der Reihe nach an und verkündete somit, daß er daran gehen werde, eine bedeutsame Äußerung von sich zu geben. »Sie müssen auch erwägen, was von Nationen wie Argentinien oder Indien unternommen werden kann, Nationen, deren Potential für katastrophale Entschlüsse nicht das Siegel dessen trägt, was Bill als genügend gesicherte Verhaltenskontinuität< bezeichnen würde, von der aus man auf ihr Verhalten würde schließen können. Diese Nationen könnten sehr wohl einen Konflikt zwischen den Supermächten zum Ausbruch bringen, in der Hoffnung, daß sie selbst sich heraushalten und später die Trümmer einsammeln könnten.« Wycombe-Finch schnippte einen Tabakkrümmel vom 463 Rand seines Pfeifenkopfes. »Eine interessante Theorie. Verrückt!« »Verrücktheit ist ansteckend«, sagte Hupp, »genauso ansteckend wie diese Seuche selbst. O'Neill hat eine zweite Pest auf unsere Welt losgelassen - nämlich diesen Wahnsinn!« »Man darf als sicher annehmen, daß die Regierungen überall derzeit schon daran denken, wie sie das Genpotential der Welt aus ihren eigenen Reserven wiederaufstocken könnten«, sagte Beckett. »Und sobald sie
wissen, wie man die DNS so manipuliert, wie das O'Neill getan hat ...« Er schüttelte den Kopf. »Noch mehr Seuchen?« fragte Wycombe-Finch. »Warum nicht?« entgegnete Hupp. Danzas nickte, sein Kopf beschrieb eine seltsam hüpfende Bewegung wie die eines Kinderspielzeugs. Wycombe-Finch langte hinter sich und angelte sich von einem kleinen Beistelltischchen einen enormen Aschenbecher, den er vor sich abstellte. Er klopfte die Pfeife aus und stopfte sie sofort wieder. »Und wenn es wirklich der O'Neill ist, da drüben in Irland?« fragte er. »Und es gelingt den Iren, ihn zur Zusammenarbeit zu bewegen?« Becketts Stimme klang müde. »Ja, wahrhaftig«, sagte der Institutsleiter, zündete seine Pfeife an und paffte. »Sie haben ja mein Gespräch mit Doheny gehört«, sagte Beckett. »Ich sage, die Chancen stehen schlecht, daß sie O'Neill dazu bewegen können, ihnen zu helfen ... wenn er wirklich O'Neill ist. Ich meine ... - o Gott! Wie lange halten die den jetzt schon fest? Vier Monate?« »Aber was ist, wenn der Mann O'Neill ist und er weitere Seuchen für uns vorbereitet hat?« fragte WycombeFinch. »Dann wird die Welt Institute wie dies hier mehr als je nötig haben«, sagte Lepikow. »Warum wollen wir nicht erkennen, was wir wert sind? Wie unendlich viel wir wert sind?« Wycombe-Finch sagte: »Gerade das aber scheint mir das entscheidende Argument gegen irgendeinen Angriff auf uns 464 zu sein. Mir macht es mehr Angst, daß jemand vor uns eine Teilung dieser Seuche finden könnte.« »Aber das ist doch was ganz anderes, mein Gott«, sagte Beckett. Er hatte gehofft, daß ihr Direktor selbst diese Möglichkeit vorbringen werde. »Also, wie ist es nun mit mehr Computerzeit?« Wycombe-Finch stieß eine blaue Rauchwolke aus und starrte den Stiel seiner Pfeife entlang. Er war nicht bis zu seiner jetzigen Position aufgestiegen, ohne ein wenig begriffen zu haben, wie das Kräftespiel der politischen Macht funktionierte, aber die tatsächliche Anwendung solcher Macht hatte ihn stets mit einer gewissen Unruhe erfüllt. Er wußte, was sie hier diskutierten, das konnte möglicherweise geschehen geschah ja auch oft genug. Aber sein eigener Wahlspruch war es stets gewesen, niemals eine Bedrohung für die ihm unmittelbar Vorgesetzten zu sein und, gleichzeitig, in seinem eigenen Wirkungskreis stetig und nachhaltig auf Erfolge hinzuarbeiten. Er hielt dies für das Wesensmerkmal der wissenschaftlichen Methode. Phantasie, kühne Gedankensprünge all so etwas sah er als eine Bedrohung für die ordentliche wissenschaftliche Forschung an. Wycombe-Finch lehnte es ab, über eine nichtgeordnete Welt nachzudenken, aber, und dies war ihm klar, Unordnung war genau die Haupteigenschaft der Welt, in der sie jetzt lebten. Dieser O'Neill hatte eine Brechstange ins Getriebe geworfen. Der echte Wissenschaftler durfte nur ein Ziel, eine Hoffnung haben: die Ordnung wiederherzustellen. Und dann würde man etwas tun müssen, um die erschütternden umwälzenden Auswirkungen wissenschaftlicher Entdeckungen einzugrenzen, etwas, so dachte er, woran die anderen hier am Tisch noch keinen einzigen Gedanken verschwendet hatten. Erwartungsvoll starrten ihn die restlichen Mitglieder des DlC-Teams an. »Ich werde im Verlauf des morgigen Vormittags eine neue Zuteilung von Computernutzzeit bekanntgeben«, sagte Wycombe-Finch und schaute dabei Beckett an. »Aber wir müssen natürlich dabei ganz ordnungsgemäß verfahren, alter 465 Junge. Lassen Sie mir Zeit, mich mit der Situation vertraut zu machen.« Er wies mit dem Pfeifenstiel zu dem Stapel Computerausdrucke auf seinem Schreibtisch. »Bei Gott, ich glaube, in dem Berg da steckt 'ne Menge Futter zum Nachdenken.« Beckett seufzte. Es war zwar nicht, worauf er gehofft hatte, aber es war immerhin schon etwas. Der Direktor würde ihnen einen Knochen reichen - mehr Zeit, irgendwie. Aber es sah doch so aus, als wäre der Ball nun wieder in Ruckermans Feld gelandet. Würde der es schaffen, ohne die Spielstrategie preiszugeben? Die Spinne webt den Baldachin im Palaste des Chosroes. Die Eule ruft den Wachwechsel aus in der Burg Afrasiyäb. SA'DI, persischer Dichter (um 1215-1292) In der dritten Woche nach dem Zwangsaufbruch von McCraes Schloß ließ Herity sie bei Einbruch der Nacht an einem kleinen Hüttchen mit nur einem Raum haltmachen, das, durch eine leichte Bodenerhebung verdeckt, von der Straße her nicht eingesehen werden konnte. Sie kamen durch die unvermeidlichen Grenzmauern aus Granit zu beiden Seiten eines Pfades darauf zu. John ertappte sich dabei, daß er fast wollüstig an die schützenden Wände und ein Dach überm Kopf dachte. Die Nacht vorher hatten sie, ohne ein Feuer, in einem verlassenen Heuschuppen verbracht, und der Wind hatte den Regen durch die Ritzen gefegt. Die Hütte roch innen nach Moder und Schimmel, aber die Fenster waren heil, und die Tür schloß fest, Herity kam von seinem Spürgang zurück und berichtete, es gebe nichts an frischer Nahrung, nicht einmal Hühner auf dem Hof, die sie zu einem Nest mit Eiern führen könnten. Vor dem Kamin stand ein Tisch mit einem kaputten Bein, das man mit einem grünen Holzknüppel befestigt hatte. In
466 dem Schuppen daneben hatte der Priester trockenen Torf entdeckt, Spanholz daneben auf einem Bord, und bald hatten sie ein Feuer brennen. »Ich habe nichts bemerkt, was darauf schließen läßt, daß sie uns verfolgen«, sagte Herity nachdenklich. »Aber das bringt uns nichts. Keine Sicherheit. Wir werden heut nacht wieder Wachen aufstellen.« Der Priester ging zu seinem Rucksack, den er in der Ecke neben der Feuerstelle abgelegt hatte, und holte ein in Plastik gewickeltes Päckchen hervor. »Da habt ihr das Stück Schweinefleisch«, sagte er. Der Junge saß vor der Feuerstelle und reckte die Hände gegen die Flammen. Herity stellte seinen Rucksack neben dem Johns an der Tür ab, streichelte die MP, die darübergelehnt war, mit einem lächelnden Blick und schaute sich dann in ihrer neuen Behausung um: kein Dachboden, nur dieser eine kleine geschlossene Raum. John trat an eines der beiden Fenster, die der Tür gegenüberlagen, und starrte nach Westen in den dunkler werdenden Himmel. Die untergehende Sonne hinter den Wolken färbte die Luft mit einem gelblichen Licht, das, während er schaute, immer schwächer wurde. In der Ferne zuckten bläuliche Gabelblitze tanzend unter den Wolken hervor wie auf einer Kinderzeichnung. Die Blitze erschienen ihm unwirklich, bis er die krachenden Explosionen des Donners hörte. Er zählte die Sekunden zwischen dem Blitz und dem Donner -zehn und rümpf! Beim nächstenmal war es kürzer. Das Gewitter zog rasch herauf. Der Priester machte auf dem Tisch das in Plastik gewickelte Päckchen auf. »Es ist gemütlicher mit so einem Feuer«, sagte er. Herity nahm seine Maschinenpistole, ließ seinen Rucksack liegen und eilte geduckt aus der Tür. »Also, wo will der den jetzt wieder hin?« fragte der Priester. »Die Hütte hat nur eine Tür«, sagte John. »Und das gefällt ihm nicht.« 467 »Da sind aber Fenster auf drei Seiten«, sagte der Priester. »Aber wahrscheinlich ist es immer noch eine Falle. Was glauben Sie, John, hat er Liam wirklich einfach umgebracht?« John schaute ihn nur wortlos an. Der Priester seufzte. Wieder grub er in seinem Rucksack herum und zog ein Stück von Gannons Käse heraus. »Ich möcht nicht die Sünden dieses Joseph auf meiner Seele haben«, brummte er. Das Schweinefleisch hatte einen stark fauligen Geruch, und John schüttelte sich. Verdorben, ganz ohne Zweifel. Merkt das denn dieser Priester nicht? »Ach, ich wünsche Gottes Segen auf Mister Gannon und seine kleine Familie herab, möge es ihnen Wohlergehen«, sagte der Priester. »Ich will heut abend für sie beten.« John dachte an Gannon. Dieser einzelne Pistolenschuß. Aufschlußreich. Gannon war ein Mann, der zum Sterben bereit war, todessehnsüchtig sogar. Viel zu sensibel und zu seelenvoll für diese Zeiten. Wie war das Urteil Gannons über diese vier Fremden gewesen, die so plötzlich Herren in seinem Haus gespielt und ihn dann allein zurückgelassen hatten? Hat er in uns so etwas wie eine Gruppenpersonalität gesehen? Der Priester war neben den Jungen getreten, und beide stierten nun in die orangerote Glut des Torffeuers. Warum sind wir alle hier beisammen? John versuchte sich vorzustellen, wie Gannon sie alle vier gesehen hatte: ihn, den Priester, den Jungen und Herity. Angeblich besaßen Gruppen so was wie eine gemeinsame Identität. Ein Philosoph würde wahrscheinlich versuchen dieser Identität auf den Grund zu gehen. Ganz in der Nähe zuckte ein Blitz; der Donner war nahe und laut. Danach schien die Dunkelheit draußen noch finsterer und dichter zu sein. Da waren sie, vier ganz verschiedene Menschen, durch ganz unterschiedliche Gründe aneinandergebunden. Das war es, entschied John. Aber die fehlende Symmetrie in ihrer Gruppe beunruhigte ihn. Es gab da eine gefährliche Ungleichheit. War es Herity der Jäger, der nicht dazu paßte? 468 Aber nein, die Atmosphäre hier in der Hütte war nicht besser geworden, seit Herity nach draußen gegangen war. Dann begann Regen auf das Dach der Hütte niederzuprasseln. Aus einem Leck nahe der Wand gegenüber der Feuerstelle tropfte es stetig und spritzte auf die Rucksäcke an der für. John trug sie unter das eine Fenster und lehnte die MP fest gegen den Rucksack, den Herity Liam abgenommen hatte. Und dann kam John der Gedanke, daß jeder einzelne von ihnen von einem persönlichen seelischen Zwang vorangetrieben werde. Ich muß tun, was O'Neill gebietet. Der Junge stand unter seinem Schweigegelübde. Herity war ein Jäger. Und Pater Michael, ja ... der Priester war auf der Suche nach seiner Religion. Und was ihren Trupp zusammenhielt, entschied John, das hatte etwas Unnatürliches an sich. War es etwas Unnatürliches? Er hatte das Gefühl, es sei wichtig, das auszuloten, was sie alle aneinanderband. Der Regen trommelte jetzt sehr laut aufs Dach, aber Blitze und Donner verzogen sich nach Nordosten. John nahm dies mit nur halbem Bewußtsein wahr. Aber seine Nachdenklichkeit war keine bloße Spinnerei, fand er. Die uralten Unheimlichkeiten dieses Landes, die Geister der >kleinen Leute< und der faeries, auf denen Herity so unablässig herumritt, waren verschwunden. An ihre Stelle war etwas unausweichlich Reales getreten, etwas ganz naturhaft Überwältigendes. Ich tat es. Ich tat es für O'Neill. »Wohin ist dieser Joseph Herity verschwunden?« fragte der Priester weinerlich.
»Er wartet wahrscheinlich ab, bis der Regen aufhört, irgendwo in einem Unterstand«, sagte John. »Ja, der Regen scheint ein bißchen nachzulassen«, sagte der Priester. »Wir haben einen milden Winter. Sollen wir mit dem Essen auf ihn warten?« »Wenn Sie es möchten.« Schweigen senkte sich über den Raum, nur das Torffeuer zischte leise im Hintergrund, und der Regen tröpfelte nur 469 noch auf das Dach. John sah, daß neben der ersten undichten Stelle eine zweite Wasser durchließ. Der Junge schniefte laut. Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen, Herity kam rasch herein und schob sie hinter sich zu. Er hatte einen leichten Poncho übergezogen, von dem es triefte, und bald war auf dem Fußboden eine große Wasserlache. Herity hatte ein wildes Funkeln in den Augen. Er schüttelte den Regen von seiner grünen Mütze. »Wir werden nicht verfolgt«, sagte er und zog den Poncho über den Kopf. Die Mütze warf er mit nassem Platschen zu Boden. Die Maschinenpistole hing an ihrer Schlaufe um Heritys Hals, doch was ihre Aufmerksamkeit erregte, war ein Schnurnetz, das von seiner linken Schulter hing. Es umfaßte drei weiße Plastikflaschen und mehrere Konservendosen von der Vorpestqualität mit farbenprächtigen Papierbanderolen. »Aber wo haben Sie denn solche Schätze gefunden?« fragte der Priester. Herity grinste. »Futter für unsere Flüchtlinge. Wir haben Verstecke über ganz Irland verteilt angelegt.« »Sie sind also hier schon einmal vorbeigekommen?« stellte der Priester fest. »Stimmt, bin ich.« Er hängte den Poncho an einen Holzpflock neben der Tür und warf das Netz auf den Tisch. Der Tisch wackelte gefährlich auf seinem Ersatzbein. »Und da ist auch noch Gannons Käse«, sagte er, den Blick auf die Tischplatte gerichtet. »Das gibt 'n prima Abendessen, aber das Fleisch ist fast hinüber. Wollen Sie, daß wir alle krank werden, Priester?« »Ich werfe nicht gern Nahrung fort.« »Aaah, wir erinnern uns noch immer an die Hungerzeiten, was?« Herity hob das Päckchen Fleisch in der Plastikhülle hoch und warf es ins Feuer. Das Fett flammte kurz auf und verbreitete den Gestank von verdorbenem Schweinefleisch und schwelendem Plastik im Raum. Herity schaute mit zusammengekniffenen Augen zu John am Fenster herüber. »Wissen Sie, wie brennendes Schweinefleisch stinkt, John? Genauso wie wir, wenn wir brennen.« 470 John gab keine Antwort. Herity nahm sich eine Scheibe Fladenbrot und belegte sie mit Käse. Der Priester und der Junge traten an den Tisch und folgten seinem Beispiel. Der Priester reichte John einen Kanten Käsebrot und sagte: »Segne, oh HERR, diese Speise zur Stärkung unseres Fleisches.« John aß am Fenster und starrte dabei hinaus. Das Gewitter war über die Hügel abgezogen und hatte den Regen mitgenommen. Von den Dachtraufen fielen noch immer kleine glitzernde Wassertröpfchen, die kurz sichtbar wurden, wenn sie den vom Feuerschein beleuchteten Teil des Fensters passierten. Der Käse roch leicht nach Tabak und schmeckte sauer. John spürte mehr, als daß er es sah, wie Herity neben ihn trat. Heritys Atem roch nach dem säuerlichen Käse lind nach noch etwas anderem, John schnüffelte - Whisky! Er blickte dem Mann direkt in das vom Feuer rötlich bestrahlte Gesicht. Aber Heritys Augen blieben stetig, und in seinen Bewegungen war nichts Fahriges. »Es ist mir aufgefallen, John, daß Sie nie was aus Ihrem reichen Erinnerungsschatz ausgraben.« Heritys Stimme klang flach. »Genau wie Sie.« »Ach, das ist Ihnen also auch aufgefallen?« »Haben Sie was zu verbergen?« fragte John. Er kam sich kühn vor, daß er diese Frage stellen konnte, aber auch sicher, denn O'Neill-im-Kopf würde sich niemals in Gegenwart dieses Mannes melden. Heritys Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln. »Haargenau die Frage hatte ich Ihnen stellen wollen!« Der Priester kehrte dem Feuer den Rücken zu und starrte sie quer durch den Raum an. Seine Augen lagen im Schatten. Der Junge kehrte an seinen vorigen Platz zurück und hockte auf dem Herdstein. »Ich frag mich schon lange«, sagte Herity, »woher Sie ihr Wissen über Irland haben.« »Von meinem Großvater.« 471 »Hier geboren?« »Sein Vater.« »Wo?« »Cork.« John bremste sich gerade noch, ehe er die Geschichte von Großpapa Jack mit den siebenhundert Gewehren ausplap. pern konnte. Das war möglicherweise bereits als Bestandteil des O'Neill-Background publik geworden. Eine Starre breitete sich über seinen ganzen Körper aus, als er daran dachte. Er wußte, in seinem Verhalten lag eine gewisse verrückte Vorsicht, aber die Begründung dafür wurde ihm nicht bewußt. Es gab eine Verbindung zwischen O'Donnell und O'Neill.
Ich weiß Dinge, die O'Neill gewußt hat. Sie waren Verwandte, das war es, entschied er. Aber es war eine beunruhigende Verwandtschaft, und man vermied besser die Zusammenhänge. »Also sind Ihre Vorfahren halbirisch«, sagte Herity. »Ganz irisch.« »Von beiden Seiten. Aber ist das nicht wunderbar?« »Was sollen diese Fragen, Joseph?« »Ach, nehmen Sie's als natürliche Neugier, John. Ich frag mich schon die ganze Zeit - wirklich! -, wo Sie mit Ihren Mikroskopen und Reagenzgläsern und den ganzen andern wundervollen wissenschaftlichen Instrumenten herumhantiert haben?« John schaute auf den Feuerschein, der um die dunkle Gestalt des Priesters glühte. Der Junge war nur ein bewegungsloser Haufen zu seinen Füßen. Die beiden wirkten wie postierte Pappsilhouetten. »Na ja, er mag mir nicht antworten«, sagte Herity. »Es war an der University of Washington«, sagte John. Das bot genug Sicherheit. Das Gebiet war vom Panikfeuer betroffen worden, noch ehe er aus Frankreich abgereist war. »Und ich möchte wetten, Sie waren da 'n ganz wichtiger Mann«, sagte Herity. »Ein sehr unbedeutender Mann.« 472 »Aber wie sind Sie aus dem ganzen Trouble dort rausgekommen?« »Ich hatte Urlaub.« Herity bedachte ihn mit einem langen abschätzenden Blick, einem starrenden Blick. »Aaah, aber dann sind Sie einer von den wenigen, die Glück hatten.« »Genau wie Sie.« John sagte es leise. »Und Sie haben einen persönlichen Grund, hierher zu uns zu kommen, um zu helfen?« »Meine Gründe gehen Sie nun wirklich gar nichts an!« Herity machte eine Drehung und starrte aus dem Fenster. In seiner Stimme schwang ein nachdenklicher Unterton mit, als er dann weitersprach. »Sie haben ganz recht, Mister John O'Donnell.« Er schaute mit einem verzerrten Grinsen den Priester an. Im von unten strahlenden Feuerschein wirkte es fast satanisch. »So lautete doch das Elfte Gebot, Pater, nicht wahr? Du sollst deine Nase nicht in andrer Leute Angelegenheiten stecken!« Der Priester gab keine Antwort. »Ach, könnten Sie nicht 'nem armen Iren seine bäurischen Manieren verzeihen?« bat Herity. John starrte ihn nur an. Jock hatte deutlich zu verstehen gegeben, daß Herity zu den Provos gehört hatte. »In unsrer Welt gibt es alle Sorten von Leuten«, sagte John. »Und wie Pater Michael vielleicht sagen würde, kann man alles verzeihen, was einem nicht sozusagen die lebendige Seele aus dem Leib reißt.« »Ein Mann mit Witz«, sagte Herity, aber es klang bitter. Der Priester bewegte sich. Er rieb sich die Hände vor dem Bauch. Dann blickte er zuerst Herity an und danach John. »Sie wissen nichts über unseren lieben Joseph Herity, John.« »Halten Sie den Mund, Priester!« zischte Herity. »Ich werde nicht schweigen, Joseph!« Der Priester schüttelte den Kopf. »Unser Joseph hier sollte mal ein bedeutender Mann im Land werden. Er hat Jura studiert, unser Joseph Herity. Und es hat Leute gegeben, die gesagt haben, er wird eines Tages ein Großer sein in unserer Mitte.« 473 »Das ist lang her, und es ist ja nichts draus geworden« sagte Herity. »Und was hat Sie so verwandelt, Joseph?« fragte der Priester. »Die ganzen Lügen und der ganze Schwindel! Und Sie Michael Flannery, waren einer von den übelsten Betrügern.« Herity legte John kameradschaftlich die Hand auf den Arm. »Der Fußboden ist kalt, aber er ist trocken, John. Ich übernehme die Wache bis Mitternacht, dann können Sie bis zum Morgen aufpassen. Es ist wohl am besten, wenn wir frühzeitig aufbrechen und quer übers Land gehen und nicht auf der Straße. Es gibt da versteckte Pfade, müssen Sie wissen.« »Männer auf der Flucht lernen immer rasch, wo diese Pfade sind«, sagte der Priester. »Ja, und sie lernen auch, Leute zu vermeiden, die zuviel reden«, fuhr Herity ihn an. Er hob seine Maschinenpistole auf, zog sich den Poncho über den Kopf und schaute die durchnäßte Mütze auf dem Fußboden voll Widerwillen an. Der Regen auf dem Dach war verstummt. Herity legte die Mütze auf den Herdstein, richtete sich auf und reckte sich. Bei seinen Bewegungen konnte man deutlich die Waffe unter dem Poncho sehen. »Laßt das Feuer nicht ausgehn!« befahl er. »Ich halte draußen Wache.« Er ging zur Tür und war verschwunden. »Wir hatten einmal große Hoffnungen auf ihn gesetzt«, sagte der Priester. Er rückte sich seinen Rucksack als Kissen zurecht und legte sich auf den Boden, die Füße dem rötlichen Torffeuer zugewandt. Der Junge lag zusammengerollt da wie ein Igel, den Kopf tief in die Anorakkapuze gezogen, ein dunkler Haufen seitlich von der Feuerstelle. John folgte dem Beispiel des Priesters. Aber seine Gedanken kreisten noch immer um das scharfe Kreuzverhör, das Herity mit ihm anzustellen versucht hatte. Sie graben nie was aus Ihrem Erfahrungsschatz aus ... Der Mann war ein genauer Beobachter. John begann ihre vielen Gespräche noch einmal vor sich ablaufen zu lassen, alles,
was sie so geredet hatten, 474 jährend sie übers Land gingen. Von Herity war da nicht ein einzigesmal eine harmlose oder unbedachte Bemerkung gekommen. Viel zu spät wurde John nun klar, daß der Mann ein hochqualifizierter Inquisitor war, daß er seine Schlüsse aus den Reaktionen ziehen konnte, die er erzielte, genauso gut wie aus dem, was er als Antwort bekam. Er hat die Jura studiert. Das grobe Getue, der bäurische Akzent - alles gehörte zu einer höchst raffiniert gespielten Rolle. Dieser Herity war gründlich. Und während er noch darüber nachdachte, was er diesem argwöhnisch-wachsamen Mann möglicherweise enthüllt haben könnte, schlief John ein. Viel später wachte er auf, weil er glaubte, ein seltsames Geräusch gehört zu haben. Er tastete nach der MP neben seinem Rucksack auf dem Boden. Dann spürte er das kalte Metall. Er atmete tief durch. Er nahm den Geruch der Leiber wahr, die da in der Enge lagen - die Geruchsmischung aus menschlichem Schweiß von der langen Wanderung und aus menschlicher körperlicher Erschöpfung, die sie hatte schlafen lassen, wo und wie sie waren. Und wann immer es möglich war. Er setzte sich in der Dunkelheit auf und zog sich die MP über die Schenkel. Dicht neben ihm schnaufte jemand. Dann ein Schnarchen. Das Feuer war niedergebrannt. Der Raum war wie eine schwarze Kiste, aber plötzlich gab es da ein kratzendes Geräusch. Ein Streichholz flammte auf, und da war Heritys Gesicht, knapp einen Meter über dem von John. »Ach, Sie sind wach«, sagte Herity. Das Streichholz erlosch. »Sie können von hier drin Wache halten, John, falls Ihnen das lieber ist. Keine Spur von irgendwelchen Verfolgern, weit über 'ne Meile weit zurück.« John stand auf. Im Fenster konnte er Sterne im Himmel sehen. »Es ist ziemlich kalt geworden«, flüsterte Herity. John hörte, wie er sich auf dem Fußboden ausstreckte, er hörte die leisen Bewegungen, als Herity sich bequemer zu475 rechtzulegen versuchte. Dann wurde der Atem des Mannes tiefer, langsamer und gleichmäßiger. Die MP lag kalt und schwer in Johns Händen. Warum hatte Herity ihm diese gefährliche Waffe übergeben? Mit dieser Waffe könnte er sekundenschnell diese drei schlafenden Gestalten da unten töten. John trat an ein Fenster und starrte in die sternklare Nacht hinaus. Fahlsilbern lag die winterliche Grasweide vor dem dunklen Hintergrund von Bäumen. Da stand er, und verlagerte das Gewicht ab und zu von einem Fuß auf den anderen, und er dachte nur über diesen seltsamen Mann Herity nach, Joseph Herity. Die Lügen und der Schwindel ... Also war Herity ein Idealist gewesen'. Aber er war es nicht mehr. Die Frage, die der Priester gestellt hatte, drängte sich in Johns Gedanken: Was hat sie verändert, Joseph? Veränderung ... Veränderung ... John Roe O'Neill war verändert worden. Keine Frage, was die Verwandlung bewirkt hatte. Die Umstände. Dann, allmählich, wurde der Himmel im Osten heller, und eine rötlichgelbe Sonne stieg über den Baumwipfeln auf. Sekundenlang war es das vollkommene Abbild der japanischen Aufgehenden Sonne mit den scharfen durch den Dunst aufwärtsstrebenden Radialstrahlen. Aus dem Baumbestand jenseits der Wiese drangen Vogelrufe. Das wachsende Licht schien die Landschaft zu überschwemmen. Die dunkle Spur niedergetretenen Grases quer durch die verwucherte Wiese zeichnete sich deutlich wie im Relief ab. Die Stimme Heritys vom Boden hinter John: »Wir haben leider keine Kirchenglocken mehr, die uns am Morgen wecken könnten.« Der Priester räusperte sich und setzte sich geräuschvoll auf. »Wir werden wieder Glocken haben, Joseph.« »Aber nur, um über Stadt und Land ihren Alarm zu bimmeln. Eure Kirche ist tot, Priesterlein. Sie ist so tot wie alle unsere Frauen.« 476 Im Jahre 1054 exkommunizierten der Patriarch von Konstantinopel und der römische Papst sich gegenseitig. Das war das Ende der Heiligkeit für beide Kirchen. Fortan wurden sie zu Werkzeugen des Satans. Ich bin fest davon überzeugt. JOSEPH HERITY Ober schmale Jägersteige und Landwege, über Sumpfgrund und kaltdunkle dichte Baumhügel, mit zahlreichen Abbiegungen und Umwegen über die Höhen, manchmal nachts ohne ein Feuer, manchmal gemütlich in einem verlassenen Häuschen kampierend, führte Herity seine Truppe auf Dublin zu. Sie benötigten achtzehn Tage, bis sie die Wicklow-Vorberge erreichten, weitere neun, um einen Bogen zu schlagen, damit sie von Nordosten in die Stadt kämen, von wo man sie nicht erwartete. Und auf der ganzen Fahrt sahen sie kaum je einen Menschen. Für John war die Reise zu einem unablässigen vorsichtigen Kräftemessen zwischen ihm und Herity geworden. Das scheinbar harmloseste Gespräch konnte eine gefährliche Wendung nehmen. Eines Nachmittags waren sie an einem schiefstehenden Wegweiser mit einem einzigen Wort darauf vorbeigekommen: Garretstown. Der Tag war kalt gewesen, der Wind peitschte über die Hügel, und John hätte gern etwas Wärmeres zum Anziehen gehabt als nur seinen Sweater. »In diesem Land tun wir Dinge ohne einen Grund«, sagte Herity plötzlich und warf John einen scharfen Seitenblick zu. Beide trugen inzwischen dichte Barte, und Johns kahler venendurchzogener Schädel bildete dazu
einen starken Kontrast. »Was für Dinge?« fragte John. »Na zum Beispiel, daß man die Jagdhunde von der Kildare Hunt abgeschlachtet hat. Das war 'ne sehr erbärmliche Art und Weise, sich für das, was verantwortungslose Menschen getan haben, an dummen unschuldigen Tieren zu rächen.« Der Priester sagte hinter ihrem Rücken: »Aber diese Jagd war etwas Englisches!« 477 »Ich war da«, sagte Herity. »Und vielleicht gab's ja einen Grund, wie Sie meinen, Priester. Die Provokation diese feinen Jägersleute haben nicht begriffen, wie leicht es ist, das Böse in unseren Nächsten freizusetzen.« John nickte. Er gab dem plötzlichen Drang nach, nun seinerseits Herity zu reizen. »Genauso wie jemand diesen O'Neill provoziert hat?« Herity nahm den Köder nicht an, aber er schritt danach eine ganze Zeitlang schweigend dahin. Als sie auf einen engen Feldweg stießen, unbefestigt, reine nasse Erde, schob sich der Priester vor und ging an ihrer Seite. Den Jungen hörte man hinter ihnen dreinstapfen. »Genau das habe ich auch schon oft gedacht!« sagte der Priester. Er schaute John mit seinem langen Gesicht voller Erstaunen direkt an. »Die Torheit der Menschen übersteigt jegliches Verständnis!« »Wie zum Beispiel, daß sie die Dubliner Pferdeparade wieder einführen wollen?« fragte Herity hinterhältig. Auch er schaute John direkt an, während sie weitergingen: John zwischen den beiden Männern, und beide starrten ihn an. »Damit wollte man nur versuchen, die gute alte Zeit zurückzubringen«, sagte der Priester, ohne den Blick von John zu wenden. »Ach was, Geschäftemacherei, wie immer!« sagte Herity und blickte den Weg hinauf. »Als wäre nichts geschehen, wodurch all so was einfach zur Obszönität wird. Erzählen Sie uns doch was darüber, Pater! Sie waren ja schließlich dabei!« Sie gingen schweigend etwa fünfzig Schritt weiter durch den Modder, ehe der Priester antwortete. Inzwischen hatte er den Blick von Johns Gesicht gelöst und starrte auf den Boden vor seinen Füßen. »Es hat leicht geregnet«, sagte der Priester schließlich. »Und wir kamen hin, als sich der Mob größtenteils schon zerstreut hatte. Ich hab noch ein paar Nachzügler gesehen, wie sie sich davonmachten. Manche trugen Reitstiefel in den Händen, ja. Und Teile von Jagdkleidung. Ich sah einen Mann, 478 der über dem einen Arm ein gutes Jackett trug und blutige Reithosen über dem andern. Sein Gesicht war zu einem breiten Grinsen verzerrt.« Die Stimme des Priesters klang leise und dünn, fast als berichte er von etwas, das er in einem fernen Land gesehen hatte, von einer wunderlichen Begebenheit in einem fernen heidnischen Land, und nicht über ein tatsächliches Ereignis im zivilisierten Irland. Inzwischen waren die vier Wanderer an einem Punkt angekommen, wo sich ihr Weg senkte; unten war eine kleine Brücke zu sehen und ein schlammiger Wasserlauf, der sich zwischen Binsen unter der Brücke durchschlängelte. »Der Mob damals«, sagte der Priester, »die schienen sich überhaupt nicht darüber zu schämen, was sie da getan hatten.« »Aahh«, sagte Herity, »spür' ich da so was wie Zorn, der nach 'nem Ziel sucht, auf das er losschlagen kann?« »Alles war voller Leichen«, sagte der Priester. »Männer ... tote Pferde ... überall Blut und Eingeweide. Keine Möglichkeit, die Katholiken von den andern zu unterscheiden. Sie haben alle Kreuze genommen, wegen dem Metall. Nicht einmal ein Ring war noch an den Leichen. Sie haben Ihnen die Finger abgehackt, um die Ringe zu kriegen. Ich hab mich in den Kot gekniet und hab gebetet.« »Aber wer hat das getan?« fragte John. »Ein Mob. Wildgewordene, zum äußersten getriebene Menschen«, sagte Herity. Fasziniert schaute John dem Priester ins Gesicht. Er malte sich aus, wie der Mann dorthin kam, wie er auf die zerfetzten Leiber der Funktionäre und Zuschauer der Pferdeparade hinunterstarrte ... Aus den einfachen Worten des Priesters entstand für John eine Vision des Grauens. »Sie haben auch den meisten die Stiefel und Strümpfe weggenommen«, sagte der Priester leise. »Die Stiefel und Strümpfe ... Warum haben sie das gemacht?« Die Vision der nackten Beine in dem Blutschlammgemisch ~ diese äußerste Demonstration einer Verneinung des 479 Menschseins - rührte John seltsam tief an. Seine Bewegtheit reichte in weit tiefere Bereiche seines Wesens, ließ die brutalen Tatsachen, die der Priester mit trüber Stimme berichtete weit hinter sich ... Etwas anderes, mehr als nur das Leben war mit diesen hingemetzelten Leibern aus Irland verschwunden. John spürte es. Er bemerkte auch, daß O'Neill-im-Kopf ganz ohne hämische Schadenfreude blieb. Interesse ja - ein fasziniertes Interesse, aber ohne besondere freudige Erregung. Vielleicht war es Befriedigung, die O'Neill-im-Kopf verspürte ... eine Art satter Zufriedenheit. Und dann wurde John sich bewußt, daß es einen tiefen sehr aufschlußreichen Unterschied gab zwischen
Beglückung und Zufriedenheit. O'Neill-im-Kopf mochte zufrieden sein mit dem, was da bewirkt worden war, aber es brachte ihm kein Gefühl des Glücks. »Und wie denken Sie darüber, John?« fragte Herity. »Es erfüllt mich nicht gerade mit Freude«, sagte John. »Ein schwarzer Tag«, sagte der Priester. »Na, jetzt hören Sie sich den mal an!« sagte Herity. »Die einzigen Katholiken dort waren die Stallknechte und die Pferdepfleger, also, wie immer, die Leute, die die Drecksarbeit machen. Und ein paar Dutzend protestantischer Grundbesitzer haben für ihre Missetaten bezahlt, und unser Priesterchen ist ganz außer sich darüber.« Der Priester sprach jetzt lauter: »Aber sie wurden ermordet Abgeschlachtet wie Tiere - mit Messern, Knüppeln Mistgabeln und mit den bloßen Händen. Es fiel nicht ein einziger Schuß.« Herity schaute John an. »Kriegen Sie jetzt allmählich 'ne Vorstellung davon, was da passieren wird, wenn der Verrückte jemals in unserer Mitte auftauchen sollte?« John spürte, daß O'Neill-im-Kopf still und aufmerksam lauschte. »Die ganzen Toten, und ganz ohne vernünftigen Grund«, sagte Herity. »O doch, Gründe gab's schon, aber ich stimme mit unserm Priester überein, es wäre besser nicht passiert.« Herity beugte sich an John vorbei und sprach zu dem Prie480 ter. »Aber trotzdem, heiliger Vater, waren Sie von soviel Tod fasziniert, wie? Gab ihnen doch 'nen guten Grund, im Dreck auf den Knien zu liegen und zu beten.« per Priester stapfte weiter, den Blick auf die Erde gesenkt. gr schauderte zusammen. John beobachtete ihn. Er spürte, wie pfeilgenau Heritys Bemerkung getroffen hatte. Doch, ja, dieser Pater Michael teilte die schizophrene Haßliebe seiner Kirche gegenüber dem Tod. Hier lagen die Quellen seiner Macht als Priester versteckt, aber der Mann im Priester ließ sich gleichfalls nicht unterdrücken. Genauso wenig, wie er selbst O'Neill-im-Kopf verleugnen konnte. Tod - das war der äußerste Fehlschlag, war die Schwachstelle im Menschen, wo die eine Illusion in die große Illusion hinübergriff, Tod war dieser eine einzige Eingriff, der absolute Schnitt, vor dem es kein Entrinnen gab. Dieser Herity sah hinter die Dinge! »Es hat 'nen gewissen Bildungswert, hat es wirklich«, sagte Herity, »wenn du so auf die Stimme von 'nem Mann hörst, ohne daß du sein Gesicht sehen kannst.« Wieder beugte er sich vor und schaute an John vorbei zu dem Priester hinüber. »Und wie ich Ihnen zugehört hab, Michael Flannery! Wie Sie da so von dem Gemetzel berichtet haben, und nicht das kleinste Zeichen dafür, daß Sie endlich begriffen haben, warum ich auf eure Kirche scheiße!« Der Priester gab keine Antwort. Herity verzog das Gesicht zu einem Grinsen und richtete dann seine Aufmerksamkeit wieder der vor ihnen liegenden Straße zu. Dann hörte man, wie der Junge hinter ihnen einen Stein in die Büsche schleuderte. Inzwischen waren sie über den Hang jenseits des Baches gekommen und schauten nun einen weiteren Hang hinunter, an dem die Straße in einem dichten Sperriegel von Nadelholz mündete. »Wissen Sie was, Priester?« sagte Herity. »Was am allerschlimmsten ist: das ist, wenn Gott einen verlassen hat. Er hat mich verlassen. Nicht ich IHN! Sie haben mir meine Religion gestohlen!« 481 In den Augen des Priesters glitzerten Tränen. Er dachte: n ja, Joseph Herity, wie ich dich verstehe. Ich weiß noch alles, was sie uns im Seminar über Psychologie beigebracht haben. Du mußt ia glauben, daß die Heilige Kirche für mich zum Sexualitätsersatz geworden ist. Die Liebe, die ich nicht von einer Frau erfahren durfte O ja, ich versteh dich. Du glaubst, wir haben jetzt eine neue Kirche und nirgendwo ein Weib für einen von uns. Ohne zu begreifen, warum, spürte der Priester, wie ihm aus Heritys Worten eine Kraft zuwuchs. »Ich danke Ihnen, Joseph«, sagte er. »Mir danken? Was haben Sie da gesagt?« Heritys Stimme klang ehrlich empört. »Ich habe immer geglaubt, ich sei allein«, sagte der Priester. »Nun begreife ich, ich bin es nicht. Und dafür danke ich Ihnen.« »Den Kerl soll einer verstehen!« sagte Herity. Er verkroch sich in ein wütendes Schweigen, dann jedoch lächelte er hinterhältig. »Sie sind wohl 'n bißchen durcheinander, Priesterchen«, sagte er. »Sie und ich haben nämlich nichts gemeinsam.« John sah den amüsierten Ausdruck in Heritys Gesicht. Und bei dem Priester? - Verwirrung? Offenbar bereitete es Herity ein boshaftes Vergnügen, wenn er andere in Verwirrung stürzen konnte. Genoß er es auch auf diese Weise, daß Irland in solcher Verwirrung steckte? Nein ... das mußte ja der Sache, die Herity verfocht, zuwiderlaufen. Durch die Pest war alles Sakrosankte nichtig geworden. Und als ihm dies klar wurde, wußte John auch mit plötzlicher, fast schockhafter Gewißheit, daß er den Schlüssel zu Heritys Persönlichkeit gefunden hatte, daß er wußte, wie man den Mann auseinandernehmen konnte. Du mußt seinen Glauben an die >Sache< zerstören! Doch genau dies versuchte ja Herity mit Pater Michael! Wie konnte etwas in Herity eine Schwachstelle sein, wenn er - er, John - das gleiche als eine Stärke in dem Priester erkannt zu haben glaubte?
»Wie stehen Sie politisch, Joseph?« fragte John. 482 . »Och, politisch?« Herity grinste. »Also, ich bin so'n Liberale ja immer schon gewesen.« »Er ist ein gottloser Marxist«, sagte der Priester. »Immer noch besser als ein gottloser Priester«, sagte Herity»John, haben Sie je von dem zeitlich unbegrenzten Krieg gehört?« fragte der Priester. »Halten Sie den Rand, Michael Flannery!« Heritys Stimme Klang flach, aber voll Gift. »Nie was davon gehört«, sagte John. Er spürte, wie etwas in Herity auf der Lauer lag. »Das sind die Provos«, sagte der Priester und setzte dem finsteren Blick Heritys ein Lächeln entgegen. »Verhindert jeden Versuch einer friedlichen Regelung, bringt die um, die vielleicht zu Kompromissen bereit sind, terrorisiert alle, die friedenswillig sind, verhindert jede nur denkbare Lösung ... Gebt den Menschen nichts anderes als Krieg und Gewalt und Tod und Terror, bis sie davon die Nase so voll haben, daß sie alles andere akzeptieren wollen, sogar die gottlosen Marxisten.« »Ich erinnere Sie daran, John«, sagte Herity, »daß dieser gleiche Priester da sich in den Dreck gekniet hat, um für die protestantischen Grundbesitzerschweine zu beten. Da bei der Pferdeparade in Dublin. Für die geldgierigen Kapitalisten!« »Geldgierig waren sie, das ist richtig«, sagte der Priester. »Das muß ich Ihnen zugeben. Es ist immer Besitzgier, was die Konservativen antreibt. Aber es ist der Neid, der die sogenannten Liberalen treibt. Und diese Marxisten ...« - er wies verächtlich mit dem Daumen auf Herity - »wollen ja nichts weiter, als daß sie selber sich breitmachen können auf den Stühlen der Macht, um dann alle anderen zu beherrschen. Als intellektuelle Aristokratie sozusagen!« John glaubte in der Stimme des Priesters so etwas wie eine frische Kraft wahrnehmen zu können. Anscheinend verfügte der Mann über tiefreichende starke Wurzeln, und nun schien er sie gefunden zu haben. Vielleicht plagten ihn Zweifel, 483 doch die Kraft, die er im Kampf gegen seine Zweifel gewann schien ihm immer mehr Stärke zu verleihen. John hatte da* von Tag zu Tag wachsen sehen. »Und jetzt, da ich weiß, wie ich für Sie beten muß, Joseph Herity, werde ich für Sie beten«, sagte der Priester. John schaute von einem der beiden Männer zum anderen Er fühlte die unterschwelligen Strömungen zwischen den beiden geradezu körperlich. Heritys Mund verzog sich zu einem boshaften Grinsen aber seine Augen blieben davon unberührt. Er klopfte auf die MP an seiner Brust. »Da haste meine Seele, Priesterchen. Bet mal dafür!« »Joseph, in unserem Land treibt sich ein Dämon herum« sagte der Priester. Herity riß sich zusammen. Auf einmal war ein wildes Funkeln in seinen Augen. »Ach, ein Dämon, was?« »Ein Dämon«, wiederholte der Priester. Immer noch mit dem gleichen glatten Gesicht sagte Herity: »Die Güte des Himmels schütze euch alle und bewahre euch vor den Goblin in eurem Schlaf.« Das Wolfsgrinsen war auf sein Gesicht zurückgekehrt. »Das sind die Worte von Robert Herrick, Priester! Da sieht man's mal wieder, wozu klassische Bildung gut ist!« »Es ist aber auch gut, wenn man daneben auch gottesfürchtig ist.« Die Stimme des Priesters klang ruhig und sicher. »Ach, Priester, wir haben Angst vor Dingen, weil sie wirklich sind«, sagte Herity, »und Angst vor anderen Dingen, weil sie unwirklich, die reine Illusion sind. Wie zum Beispiel Ihre köstliche Kirche mit ihrem ganzen kostbaren Wortgelabere und dem ganzen Brimborium. Was für ein armseliger Ersatz für ein Leben als freier Mensch.« »Und Sie, sind Sie ein freier Mensch, Joseph?« fragte der Priester. Herity wurde blaß und schaute zur Seite. Als er sprach, war sein Blick noch immer auf den Straßenrand gerichtet. »Ich bin freier als jeder andere Mann, der hier mit uns ist.« 484 und er starrte John abrupt in die Augen. »Ich bin freier als T0hn Garrech O'Donnell, der da irgendwas Schreckliches tief in seinem Inneren versteckt hält!« Johns Lippen schlössen sich fest. Er spürte, daß einer seiner Kinnmuskeln zuckte. Der verdammte Kerl! »Es gibt Illusion und Illusionen«, sagte Herity weiter. »Ach, aber das wissen wir doch alle.« John zwang sich, seine Aufmerksamkeit nur auf den Weg zu richten. Er spürte die bedrängende Gegenwart der Männer von beiden Seiten. Aber bildete er sich das nicht wirklich nur ein? »Ersatz für echtes Leben«, sagte Herity, und in seiner Stimme klang eine erschreckende Intensität mit. John schaute nach rechts zu Pater Michael, hilfesuchend, doch der Priester starrte weiter fest auf den Boden vor seinem Schritt. »Haben Sie den Eindruck, daß Ihre persönlichen Illusionen was Angenehmes haben, John?« fragte Herity. »So wie die von unserm Priester da?«
John spürte, wie O'Neill-im-Kopf sich rührte. Wie bin ich nur da gelandet? fragte er sich. Gab es da einen bestimmten Moment, an dem genau das passierte? John spürte, daß es ihm langsam zugewachsen war ... wie eine karzinogene Wucherung vielleicht, oder wie eine neue Haut. Hartnäckig, beständig, zuweilen fordernd, aber nie aufdringlich. Das ehrliche wirkliche Selbst. Und die Erinnerungen waren real ... Der Priester schien mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen. Anscheinend hatten Heritys Worte sie heraufbeschworen. Und auch wenn der Priester wußte, daß diese Worte nicht gegen ihn selbst gerichtet waren, sondern gegen die arme verlorene Seele, die da mit ihnen durchs Land wanderte ... War dieser friedliche Amerikaner wirklich der Verrückte? Wie wächst uns das zu, was wir dann am Ende sind? fragte sich Pater Michael. Die Erinnerung an einen Kellerraum drängte sich ihm auf: in seiner Dorfkirche, Ballinspittle, ein Ortsname, der bei Yankee-Touristen unweigerlich hysterisches Ki485 ehern auslöste. Aber es war seine Pfarrei gewesen ... Die kleine Kirche, in der ein Handwerker aus dem Ort kostenlos die Stukkaturarbeiten ausgeführt hatte - als ein löbliches Werk im Dienste Gottes ... Die Erinnerung daran bot Pater Michael einen Rettungsanker in dem, was vergangen war. Sauber war der Stuck gewesen, ja, und weiß. Bilder in guten Rahmen an den Wänden: Das Heilige Herz Jesu ... die Heilige Gottesmutter Maria ... Eine stattliche Zahl von Päpsten, ein gesegnetes Medaillon an einer Kette auf rotem Samt, in schwerem Prachtrahmen und hinter Glas, und mit einer Bronzeplakette am unteren Bildrand, auf der stand, daß Papst Pius höchstpersönlich das Ding gesegnet hatte. Falls jemand das wissen wollte. Und da hatte es Kirchenbänke in diesem Kellerloch gegeben. Pater Michael erinnerte sich noch daran, wie er selbst auf einer von ihnen gehockt hatte. Seine Beine waren zu kurz gewesen, er konnte den Boden nicht erreichen ... seine Augen hatten starr auf die Plakette auf der Rückseite der Bank vor ihm geblickt: DEM SELIGEN ANGEDENKEN VON: AILEEN MATHHEWS (1896-1931) VON IHREN KINDERN - IN LIEBE Wie weit weg, wie ferngerückt dies alles nun war. John empfand das Schweigen seiner Gefährten als quälend, ja beinahe auch ihre bloße Gegenwart. Er wäre am liebsten davongerannt, in die Felder, um sich dort zu vergraben und das Gesicht nie mehr aus dem schützenden Grün zu heben. Für immer und ewig. Aber Herity war eine zu große Gefahr! Alles, was ich tue, kann er sehen, und er durchschaut es. »Also, ich möchte ja nicht unverschämt fragen«, sagte He486 rity wie beiläufig. »Immerhin ist das ja inzwischen eins der göttlichen Gebote in unsrer Zeit geworden.« John spürte ein trockenes Kratzen im Hals. Wie gern hätte er einen Schluck frischen Wassers gehabt - oder was Kräftigeres. Was schleppte Herity da in diesen kleinen Plastikdingern mit sich herum? Der Mann stank oft nach Whisky, aber anscheinend war er nicht bereit, andern davon abzugeben. John schaute nach rechts: ein Hügel, das Skelett einer abgestorbenen Fichte am Hang, Efeu hatte die Baumleiche bereits umklammert. Der Efeu war ein spiraliges Hexengespinst um den nackten Baumleib. »Hier machen wir jetzt Pause!« sagte Herity. Und sie blieben alle gehorsam stehen. Herity spähte nach links. Da lag ein winziges Häuschen, knapp ein, zwei Meter neben dem schlammigen Feldweg. An der geschlossenen Tür ein Schild: >Donkey House<. Vor dem Eingang lief ein Bächlein entlang, kaum breiter als eine Handspanne. Das Wasser rann lautlos über schwarze Steine. »Donkey House«, sagte Herity. Er brachte seine Waffe in Feuerbereitschaft. »Na, ist das nicht ein prima Platz für unsereins, um ein bißchen auszuruhen? Besonders wo das hier alles so unbewohnt aussieht.« Er sprang über den Wasserlauf und spähte durch das einzige Fenster neben der Tür. »Dreckig, aber dafür leer«, sagte er. »Und wäre das nicht 'ne ganz gute Beschreibung für gewisse Leute in unsrer Nähe?« 487 Die Mütter sind fort, Jesuschristus! Wie der Mann sagt: »Es gibt den ursprünglichen Mittelpunkt der Familie nicht mehr in diesen Regionen. Die Bewahrerinnen des Glaubens sind dahin.« Das ist das Ende der Römischen Kirche in Irland - und noch verdammt vielen anderen Orten. Ich sag, laßt die Leute doch von allein aussterben! CHARLES TURKWOOD Kate hatte sich ein Gedankenspiel ausgedacht für die Stunden, in denen sie das Gefühl bekam, daß Stephen sie satt habe, diese öden Stunden, wenn er ganz in seine Bücher versank und sich weigerte, ihr auch nur auf die allereinfachsten Fragen eine Antwort zu geben. Gerade jetzt spielte sie ihr Spiel wieder; es war morgendlich ruhig in ihrem Verlies, und sie hatte die Augen geschlossen und die Beine auf dem Sessel unter sich gezogen. Sie konnte Stephen gegenüber hören, wie er die Seiten seines Buchs mit irritierender Gleichmäßigkeit umblätterte. Gerade vor ein paar Minuten hatte sie gesagt: »Mir tut der Rücken weh, Stephen. Kannst du ihn mir bitte massieren?« Stephen hatte nur etwas gegrunzt. Wie sie dieses Grunzen haßte. Es bedeutete: »Stör mich jetzt nicht! Laß mich in Ruhe!«
Und sie konnte nirgendwo hingehen, konnte sich nur in ihre Gedanken zurückziehen. Das Spiel war faszinierend und verlangte ihre ganze Einbildungskraft. Was ich tun werde, wenn wir diese Zeit überstanden haben .., In der Sicherheit ihrer Wunschvorstellungen vermochte sie ganz ohne Zweifel zu sein, daß sie persönlich überleben würde. Die übrige Welt mochte in Trümmern liegen. Eine Hand würde aus den Trümmern auftauchen und einen Überlebenden aus den Ruinen ziehen, und dieser Überlebende war dann stets sie. Draußen vor der Druckkammer wechselten die Wachen, und einer der Kompressoren wurde überholt. Ab und zu 488 schlug Metall gegen Metall. Stimmen redeten belangloses Zeug. Sie schob das alles aus ihrem Bewußtsein und sank tiefer und tiefer in die Welt, die sie sich selbst erschaffen hatte. Und ich werde prächtigen Schmuck tragen, dachte sie. Aber diese Traumrichtung hatte im Augenblick nichts Anziehendes für sie. Das Besitzspiel hatte sie schon zu oft gespielt: Juwelen, Modellkleider, ein schönes Heim ... Früher oder später führte sie die Flucht in künftige Besitztümer immer in ihr Traumhaus, aber heute frustrierte sie diese Vorstellung. Sie konnte ein solches Heim nicht wahrhaftig ausfüllen, es nicht einmal so möblieren, wie es sich gehörte. Ihre Vorstellung von einem perfekten Heim klebte an dem, was sie in Peards Häuschen am See gesehen hatte. Natürlich wußte sie, es gab großartigere Wohnungen. In Filmen hatte sie Landhäuser bewundert. Und einmal hatte sie die grandiose Residenz eines im Ruhestand lebenden Arztes bei Cork besucht, weil ihre Mutter dort die Haushälterin, die eine alte Freundin von ihr war, aufsuchen wollte. Die Freundin hatte sie durch stille, unbenutzte Räume geführt - ein Bibliothekszimmer, ein Musikzimmer, ein Solarium ... und eine riesige Höhle von Küche mit einem Torfherd. Also der Torfofen, das ging auf gar keinen Fall! Es würde schon Gas sein müssen ... mindestens Propangas wie in Peards Häuschen! Paff! Und da zerplatzte das ganze Traumgespinst. Sie besaß einfach nicht genügend Erfahrung, sich eine einigermaßen annehmbare Phantasiewelt zusammenzubasteln. Aber wie immer es sein sollte, es würde ein Heim zusammen mit Stephen sein, selbstverständlich, denn sie waren ja inzwischen so fest verbunden, wie Mann und Frau es nur sein konnten. Und unsere Kinder werden bei uns sein, dachte sie. Und Stephen wird ... Nein! Diesen Traum wollte sie jetzt nicht haben! Immer war Stephen im Traum irgendwo in ihrer Nähe, und gerade jetzt war sie böse auf ihn. Er könnte allerdings sterben. Das schockierte sie, aber sie ließ den Gedanken nicht los, fühlte 489 sich schuldbewußt und plötzlich wie ohne Halt. Stephen könnte getötet werden, bei dem Versuch, sie zu beschützen. Sie zweifelte nicht daran, daß Stephen sein Leben für sie hingeben würde. Wie traurig, dann mit der Erinnerung an ein solches Opfer leben zu müssen. Dann wäre ich eine einsame Witwe. Nörgelnd drängte sich ihr rationales Bewußtsein vor: Eine einsame Witwe? In einer Welt, wo Tausende von Männern auf eine Frau kommen? Die Vorstellung war irgendwie erregend, und sie atmete hastig ein. Also traurig würde es ja sein ... aber was für Macht sie dann haben würde! Wen könnte sie sich als zweiten Gatten nehmen? Natürlich einen bedeutenden Mann. Sie wußte, sie war zwar keine hinreißende Schönheit, aber immerhin ... Und plötzlich wußte sie mit einem Teil ihres Bewußtseins, daß all dies nicht nur reines Traumspiel war, daß ihr Phantasiegebilde an etwas Lebendig-Wirkliches gestoßen war. Es war fast greifbar, und sie empfand es als gleichzeitig verführerisch und erschreckend. Sie wußte jetzt, daß sie da eine Tür aufgestoßen hatte, die zu mehr als nur einem Traum führte. Es waren Räume, wo das Imaginationsdenken sie vielleicht wichtige Dinge lehren konnte ... oder sie doch wenigstens auf absurde Möglichkeiten schützend vorbereiten konnte. Und dann konzentrierte sich Kate gewaltsam auf die Außenwelt - auf das da draußen, um die Druckkammer herum, das Draußen, wo sich ganz neuartige Beziehungen aufbauten. Da draußen war ein Hexenkessel, ein Schmelztiegel voller Qual und herzzerreißender Einsamkeit. Jede Traumphantasie, die sie von nun an fabrizieren würde, mußte künftig diese fremde Wirklichkeit miteinbeziehen, die sie nur aus den Worten der Wachtposten und aus den Bildern im Fernsehen sozusagen aus zweiter Hand, als Spiegelung kannte. Wenn sie ein Gegenmittel gefunden haben, werde ich auch in diese andere Welt hinausgehen, dachte sie. Das war eine zutiefst bestürzende Erkenntnis, und sie war ihren phantastischen Wunschvorstellungen auf einmal böse, 490 weil sie sie in solch eine Zwangslage gebracht hatten. Nein, sie zweifelte noch immer nicht daran, daß sie selbst überleben werde; hier bot ihr die Traumwelt noch Schutz. Doch sehr dicht am Saum ihrer Träume lauerten die Gespenster der realen Welt und starrten sie lüstern an. Wild entschlossen packte sie sich einen Traum, der ihr Schutz bieten konnte. Eine Insel! Ja, das war es! Sie und Stephen würden eine Insel ganz für sie allein finden, und dann ... »Woran denkst du, Kate? Du verziehst das ganze Gesicht, wie wenn du was Bitteres im Mund hättest.« Stephens Stimme drang in ihren Traum ein, gerade als sie merkte, daß ihr Phantasiegebilde an neuen anderen Unmöglichkeiten zu zerschellen drohte. Was für eine Insel? Wie würden sie zu ihr gelangen können? Sie begrüßte die Unterbrechung dankbar. Sie öffnete die Augen und sah, daß Stephen sein Buch weggelegt hatte und
dabei war, Brotteig anzurühren. Komisch, daß er gerade so etwas gern tat, ein Zug von Häuslichkeit, den sie vorher nie in ihm vermutet hatte. Die Zutaten waren alle steril in Dosen verpackt. Na schön, und er hatte sich das also ausgesucht, um ein bißchen Abwechslung in ihr Leben zu bringen. »Ich hab nur darüber nachgedacht, was aus uns werden wird, wenn wir mal hier rauskommen«, sagte sie. Er strahlte sie freudig überrascht mit einem breiten Grinsen an. »So hab ich mein Mädchen gern! Wir beide zweifeln nie, nicht mal 'ne Minute lang, daß wir's schaffen, wie, Schatz?« »Aber werden wir es schaffen, Stephen?« Ohne ihre Traumwelt kam sie sich vor, als wäre sie plötzlich wieder in eine Welt voller Zweifel zurückgeschleudert worden. Bitte, Stephen, bitte, sag mir was Tröstliches! »Wir sind hier absolut sicher«, sagte er. Aber seine Stimme hatte irgendwie einen Beigeschmack von Unaufrichtigkeit, und sie hatte inzwischen gelernt, das sofort zu bemerken. »Ach, Stephen!« Kate begann zu schluchzen, und damit war an Brotbacken, jedenfalls in diesem Augenblick, nicht mehr zu denken. Mit 491 mehlbestäubten Händen kam Stephen zu ihr herüber, kniete sich neben ihren Sessel, legte ihr fest die Arme um den Leib und drückte die Wange an ihren Bauch. »Ich bin da, und ich werde dich beschützen, Katie«, flüsterte er. Sie krallte sich in seine Haare und preßte seinen Kopf an ihren Leib. 0 mein Gott! Und vielleicht stirbt er mir ja, wenn er versucht mich zu beschützen! Die Hand, die unterschrieb, die fällte eine Stadt; Fünf königliche Finger legten Steuern auf die Luft, Verdoppelten den Totenapfel, spalteten ein Land; Fünf solcher Könige schickten einen König in die Gruft. DYLAN THOMAS (1914-1953), Dichter aus Wales Als sie näher an Dublin herankamen, führte Herity den Trupp noch mehr auf Umwegen und Schleichpfaden über das Weideland im Nordwesten der Stadt und vermied tunlichst die intakten Zubringerwege, an denen angeblich noch immer Wegelagerer lauerten. John war für Herity noch immer ein Rätsel, aber er zweifelte inzwischen nicht mehr daran, daß der Mann irgend etwas Dunkles in sich verbarg. Er könnte recht gut der Verrückte sein ... Aber andererseits war es genauso gut möglich, daß auch er nur eine einsame verlorene Seele war, von ganz persönlichen Sünden beladen, daß ein ganz privater Kummer ihn veranlaßt hatte, hierher in dieses Land zu kommen. Es war sogar möglich, daß er ehrlich danach strebte, dem armen Irland in den Zeiten seiner Not zu helfen. Während sie über die Felder auf Dublin zumarschierten, hörte Herity nicht auf, John zu sticheln und jedes seiner Worte genau zu analysieren. Es war zum Verrücktwerden! 492 \Vie konnte der Typ da der Verrückte, der Wahnsinnige sein? Gut, da schimmerte oft eine verräterische Emotionalität durch. Aber was verriet sie? Und dann machte der Priester auch noch eine Bemerkung darüber, daß da kein Vieh mehr weidete, als sie näher an die Stadt kamen. »Die Leute essen trotzdem noch«, sagte Herity. »Aber es bleibt ziemlich viel für die Vögel übrig«, sagte der Priester. Als der Priester die Vögel erwähnte, zog ein Ausdruck heftiger Sorge über das Gesicht des Jungen. Etwas abseits von ihrem Weg erhob sich eine uralte Steinruine. Krähen kreisten über ihr. Dahinter konnte man die Hügel im Süden der Stadt sehen. Entlaubte Bäume, schwarz und ohne das geringste Grün, ragten wie Zähne von den Hügelkämmen aus. Irgendwo dort drüben lag Tara. Herity wußte es. Da hatten einmal Könige gelebt, und nun grasten da nicht einmal mehr Rinder. »Ist es nicht seltsam«, sagte der Priester nachdenklich, »daß in so vielen alten Gedichten schwarze Vögel vorkommen?« Er starrte auf den Dohlenschwarm, der über der Ruine kreiste. Auch John beobachtete den Vogelschwarm. Er dachte daran, daß gerade diese Vogelart sich hier in dieser Landschaft so breitmachte. Er kam zu dem Schluß, daß dies wohl schon immer so gewesen sein mochte. Und er sprach das auch aus. Dabei fiel ihm auf, wie argwöhnisch der Junge von einem Sprechenden zum anderen blickte, wenn immer das Wort >Vögel< erwähnt wurde. Herity ließ den Blick unablässig über die Landschaft um sie herum streifen, er schien immer nervöser zu werden. Da drüben lagen grüne Obstgärten und niedergebrannte Häuser, die Wiesen wie Sumpfland, und unkrautverwucherte Schneisen führten hindurch. Links eine Brandstelle auf einer Weide, häßliche Erdhaufen darauf - schwarzverkohlte Umrisse, die an etwas Gräßliches erinnerten. Und der Regen hatte da noch nichts verwaschen. Tote? 493 Eine dunkle Regenfront zog über die Felder und durch die Baumgruppen - schwarz wie die Schwingen der
kreisenden Dohlen. Vor sich sahen sie ein paar nichtzerstörte Gebäude und rannten los, um dem Sturm zuvorzukommen. Ihr Feldweg stieß auf eine gepflasterte Straße, schmal, aber mit einem intakten Schuppen am Rand, Glas an beiden Fronten des Schuppens, im Hintergrund eine lange Bank, daneben ein leerer Holzrahmen für den Fahrplan der Busse, die hier schon lang nicht mehr verkehrten. Der Schauer fuhr über sie hrn, kurz bevor sie den Unterstand erreicht hatten, und sie waren nicht sehr durchnäßt, als sie sich hinten zusammendrängten. Der Regen peitschte dann aufs Dach und hüpfte auf dem Teersplitt hoch, überall tanzten helle Wasserkügelchen. Die Temperatur sank scharf ab. Aber so rasch er gekommen war, verzog sich der Schauer wieder. Er ließ hinter sich lange Bahnen blauen Himmels zurück. In der regengesäuberten Luft zeichneten sich die Hügel im Süden klar ab, die Kämme von der sinkenden Sonne rötlich vergoldet. Grün war es dort, mit Flecken von gelbem Stechginster, die Bäume auf den Kämmen dicht beisammen wie Speere, aufgepflanzt von den uralten Königen, die einst von diesem Ort aus geherrscht hatten. John trat aus dem Unterstand und blickte sich um. Über dem Land lag ein smaragdgrünes Leuchten, eine Schönheit, dachte er, die seit Äonen so war wie in diesem Augenblick ... - etwas, das in der Brust des Menschen die Liebe zu der Erde unter den Füßen entbrennen lassen konnte. Er spürte, hier war etwas weit Tieferes als bloßer Patriotismus am Werk, denn es überfiel Menschen gälischer Herkunft, die nie zuvor in diesem Land gewesen waren. Menschen, die sich plötzlich in dieser Liebe gefangen sahen, identifizierten sich damit. Sie wurden darin eingebunden auf eine Art und Weise, daß sie bereits beglückt sein konnten, wenn man sie in ein Grab legte, das von solcher Schönheit überdeckt war. War es möglich, überlegte John, daß man ein Land liebt, ohne sich große Gedanken zu machen über die Menschen, 494 die ihm ihren Stempel aufgeprägt haben? Es wäre also doch denkbar, daß bloßer Besitz nicht gleich neun Zehntel Recht bedeutete. Überlegte man es sorgfältig, so war aller Besitz etwas höchst Kurzlebiges, nicht viel mehr als das Recht, deine Initialen in ein Felskliff zu kratzen ... oder eine Mauer zu bauen, die dann nach einiger Zeit wieder in Mutter Erde zurücksinken würde. Herity kam um den Unterstand herum und zog sich den Reißverschluß der Hose zu. »Also, machen wir uns wieder auf den Weg. Wir schaffen es zwar nicht mehr vor Einbruch der Nacht bis ins Zentrum von Dublin, aber weiter vorn gibt es Unterkunft und ein bißchen mehr Komfort und Zivilisation. Wenigstens sind wir hier schon innerhalb der Dubliner Bezirksgrenze.« Herity marschierte los, und John paßte sich seinem Gang an. Der Priester und der Junge bildeten wieder einmal die Nachhut. »Auch wenn Joseph das sagt, erwarten Sie hier kein zivilisiertes Leben«, sagte der Priester. »Das hier ist ein Ort der Brutalität, John. Es mag wohl sein, daß die Zentren der Herrschaft immer so waren und daß wir jetzt nur die Masken abgerissen und die nackte Wahrheit bloßgelegt haben.« »Brutalität?« fragte John. »Es gehen Geschichten um von Folterung und Wahnsinn, und es gibt genug Beweise dafür, daß sie wirklich wahr sind.« »Aber warum kommen wir dann hierher? Warum sind wir nicht direkt zu dem Labor am Killaloe gegangen?« Der Priester wies mit dem Kinn auf Heritys Nacken. »Befehl!« John spürte, wie seine Handflächen über der MP feucht wurden, die ihm an einem Riemen um den Hals hing. Ein kleines Fingerschnippen, und die Sicherung war gelöst, genau wie Herity es ihm gezeigt hatte. Er würde allein weitergehen und sich selbst nach Killaloe durchschlagen können. Konnte er es wirklich? Drei Leichen zu beseitigen ... - und man konnte nicht wissen, wer auf die Schüsse hin neugierig 495 ankommen würde. Er warf dem Jungen einen kurzen Blick zu. Könnte ich das tun? Er merkte, daß seine Finger das harte Metall der Waffe weniger verkrampft hielten, und das war ihm Antwort genug. Zwischen ihnen, den vier Wanderern auf Irlands Straßen, war etwas anders geworden. O'Neills Rache war auf diese Menschen gefallen bis zur Neige. Und John wußte auf einmal, daß er nicht fähig war, seinen Gefährten noch mehr Qualen zu bereiten. »Was soll das heißen ... Folterungen?« fragte er. »Ich sage nichts mehr darüber«, antwortete der Priester. »Es gibt in diesem elenden Land schon zuviel Schlimmes.« Er schüttelte den Kopf. Die Straße führte auf ein hohes Koniferengehölz zu, und inzwischen gingen sie schon unter den ersten Bäumen. Zwischen den dunklen Stämmen hindurch sah John rechts Gebäude liegen - weißer Stein, schwarzes Dach. Ein großes Gebäude mit mehreren Kaminen. Aus zweien stieg senkrecht ein Rauchfaden. Herity pfiff im Gehen vor sich hin. Plötzlich hörte er damit auf, blieb stehen und hob warnend die Hand. Er legte den Kopf schief und lauschte. Und dann hörte auch John das Singen, die Stimmen von einem Chor in der Ferne, von dem Gebäude her. Es klang lieblich und harmonisch, und er fühlte sich an Feiertage erinnert. Erinnerungen stiegen in ihm auf - Opa
Jack, Kaminfeuer und Geschichten, Musik aus dem Radio. Das Singen wurde lauter und löschte seine Erinnerungen aus. Und jegliche Illusion zerstob, als er die Worte verstand, die da die Chorknaben sangen. »Nun hört euch doch mal die kleinen Schweinchen an. Hört doch bloß!« jubelte Herity. »Hören Sie genau hin, Michael Flannery!« Die süßen Knabenstimmen sangen klar und unmißverständlich: 496 »Dich, Bumsmaria grüßen wir, O Bumsmariechen, Gottes Tier. Und wenn wir alle jubilieren, So weil wir mächtig onanieren!« Der Priester hatte die Hände auf die Ohren gepreßt und merkte so nicht, daß das Singen abbrach. Jetzt war aus dem dichteren Wald nur noch eine Art Grunzchoral zu hören, eine Parodie auf die alte Gregorianik: »Aaah, aaah, aaah - haaah ...« Herity warf den Kopf in den Nacken und brüllte vor Lachen. »Na, da haben wir ja mal 'ne bemerkenswert gute Blasphemie, was, Priesterchen! Bei der Blasphemie kann man sogar zaubern!« Er packte den Priester am rechten Arm und zwang ihn zuzuhören. »Ohaha, Michael, ich wollte bloß, mir war das Liedchen eingefallen!« »Irgendwo müssen Sie noch einen Rest von Gewissen haben, Joseph«, sagte der Priester. »Und ich werde es noch finden, und wenn es im tiefsten Pfuhl vergraben liegt.« »Gewissen, sagen Sie!« höhnte Herity laut. »Es ist wieder mal der uralte Schuldtrick eurer Kirche, was? Wann lernt ihr denn jemals was dazu? Wann begreift ihr endlich?« Er drehte ihnen den Rücken zu und schritt rasch die Straße entlang. Die anderen schlössen sich ihm an. Der Priester fragte im Gesprächston: »Warum sprechen Sie von Schuld, Joseph? Lastet da irgend etwas auf dem Gewissen, das nicht zu haben Sie vorgeben?« Für John war klar, daß der Priester sich besser unter Kontrolle hatte. Heritys Verärgerung wuchs mit jedem Schritt. Die Fingerknöchel traten weiß über dem Schaft der MP hervor. Und John fragte sich, ob der Mann imstande war und sich umdrehte und die Waffe auf den Priester richten würde. »Warum mögen Sie mir nicht antworten, Joseph?« fragte der Priester. »Sie tragen doch die Schuld!« schäumte Herity. »Sie und Ihre verdammte Kirche!« »Sie hacken immer wieder auf der Kirche herum«, sagte der Priester mit sachlichem Ton. »Wenn jemand sagt, Sie 497 sind mit Schuld beladen, auch wenn Sie selbst es sagen, dann ist das ein schmerzliches Problem, Joseph. Aber eine kollektive Schuldzuweisung an ein ganzes Volk - das ist etwas ganz anderes!« »Sie sind auch bloß ein dreckiger verlogener Pfaffe!« »Wenn ich Ihnen so in Ihrem geschwollenen Geschwätz zugehört habe, Joseph, hab ich immer ganz schwer nachdenken müssen.« Der Priester beschleunigte den Schritt, bis er an Heritys Seite ging. »Und mir ist da der Gedanke gekommen, ehrlich, daß es für eine Gesamtheit von Menschen unendlich schwer ist, das Erwachen von einer Art von Kollektivgewissen zu akzeptieren.« Herity blieb mitten auf der Straße stehen und zwang den Priester, gleichfalls anzuhalten. John und der Junge hielten ein paar Schritte dahinter und beobachteten die beiden Gegner. Herity betrachtete den Priester mit stummer Wut. Seine Stirn lag nachdenklich in Falten. »Die Kirche«, sagte der Priester, »vermochte dem Individuum Heil zu spenden, nicht aber dem ganzen Volk. Hier haben wir versagt. Aber wo liegt das versteckt, das Gewissen eines Volkes?« Ein Ausdruck törichter Überlegenheit wischte den Grimm von Heritys Gesicht. Er starrte den Priester an. »Ach, findet unser verrückter Pfaffe endlich den Weg zum Licht der Vernunft? Erkennen Sie endlich, was für eine Welt ihr uns da geschaffen habt?« »Ich sage nichts weiter, als daß es schwer ist für die Menschen, gemeinsam Schuld zu empfinden«, sagte der Priester. »Und das ist alles, ja?« In Heritys Stimme klang plötzlich Amüsiertheit auf. Der Priester wandte sich um und schaute den Weg zurück, den sie gekommen waren. Er starrte an John und dem Jungen vorbei die Straße entlang, die aus dem Gehölz zu den Wiesen anstieg. »Nein, Joseph. Das ist nicht alles. Denn ehe Menschen ihre Schuld anerkennen, gemeinsam, verüben sie lieber gräßliche Dinge - gemeinsam! Lieber ein Blutbad, besser 498 ^an bringt Unschuldige um, entfacht einen Krieg, lieber Lynchmorde und Massaker ...« Für John waren die Worte des Priesters wie körperlich empfundene Peitschenhiebe. Was war das dann nur? Was hatte der Priester da gesagt, das eine derartige Reaktion in ihm bewirken konnte? John wußte, daß sein Gesicht in diesem Augenblick ganz starr wirken mußte. Er konnte O’Neill-im-Kopf nicht fühlen. Er war alleingelassen und mußte sich allein dem stellen, was immer ihn da konfrontierte. Er kam sich vor wie zerfetzt, wie wenn ihm der feste Boden unter den Füßen weggezogen worden wäre. »Aha, also bedauern Sie die ganzen Qualen, die Sie über die Menschen gebracht haben?« fragte Herity. John hatte das Gefühl, als sei die Frage an ihn direkt gerichtet, obwohl er genau wußte, die Worte waren auf den Priester gezielt. »Bedauern?« Der Priester schaute Herity direkt ins Gesicht und zwang ihn so, seinem Blick standzuhalten. Es
war beinahe, als sähe der Priester Herity zum erstenmal wirklich. »Warum sollte ich etwas bedauern?« »Trübes Geschwätz!« fauchte Herity. Aber die Stimme klang recht unsicher. »Der gute Pater Michael ist ein notorischer Lügner, und die Jesuiten haben ihn das gelehrt!« »Joseph, Joseph«, sagte der Priester mitleidsvoll. »Die Glocke von John Donne kann für den einen läuten, aber nicht für die Masse. Ich werde für Ihre eine persönliche Seele beten, Joseph, und für die Seele eines jeden Menschen, den ich persönlich kenne. Aber was die Vielen angeht ... - ich sehe schon, darüber muß ich noch nachdenken.« »Dann denken Sie mal! Mehr bringen Sie nicht zustande, Sie blöder alter Narr!« Herity funkelte jetzt John an. »Was gaffen Sie den so blöd, Yank?!« Der Junge trat rasch einen Schritt von John fort. Mit ausgetrockneter Kehle versuchte John zu schlucken. Er wußte, seine innerliche Aufgewühltheit mußte sich irgendwie auch äußerlich zeigen. Doch Herity schien nichts zu bemerken. »Na, was is', Yank?« 499 »Ich ... ich hab nur zugehört.« »Und was haben Sie gehört, bitteschön? Sie, bei dem die Ohren aussem Kopf spreizen wie die Flügel von 'nem Vogel in der Luft?« »Ein ...«John räusperte sich. »Ein Streitgespräch zwischen Intellektuellen!« »Ach, noch ein Lügner!« sagte Herity. »Aber, Joseph«, sagte der Priester milde. »Ich glaube, unser John hat sich halt nur geirrt.« »Halten Sie sich da raus, Priester! Das ist 'ne Sache zwischen dem Yank und mir!« »Nein, Joseph, das ist es nicht! Ich habe Ihren Zorn erregt, und Sie konnten mich nicht unterkriegen. Und jetzt greifen Sie statt dessen unseren Gast an.« Herity warf dem Priester einen verachtungsvollen Blick zu. »Was, ich hätte Sie nicht besiegt?« »Es war kein intellektueller Streit«, sagte der Priester. »Da geb ich Ihnen recht.« Er blickte John gütig an. »Wir Iren mögen nämlich intellektuelle Auseinandersetzungen gar nicht.« Herity machte den Mund auf und schloß ihn wieder, ohne ein Wort zu sagen. »Jaja, ich weiß, wir sagen oft, ein geistiges Streitgespräch ist unsere tiefste Herzenssehnsucht«, fuhr der Priester fort. »Aber das ist nicht wahr. Wir haben Leidenschaft viel lieber. Wir fächeln gern die Glut in unseren Eingeweiden an. Und wir prahlen gern mit unserer Qual.« »Sie sagen so was, Michael Flannery?« Heritys Stimme klang sehr erstaunt. »So ist es. Und ich sage, das ist bloß ein kleiner Schritt über die Pfuhle der Hölle, ein kleiner Schritt, und wir schaffen uns die Qualen selbst, die wir dann prahlerisch herumzeigen.« »Ich darf doch wohl meinen Ohren nicht trauen?« fragte Herity in die Luft. Er beugte sich zu dem Priester hinüber und spähte ihm unter dem Hut ins Gesicht, als wolle er sich vergewissern, daß da wirklich der Priester sei. »Das kann doch wohl kaum wahr sein, daß Sie auf dermaßen wundervolle Gedanken kommen?« 500 ein komisches Kichern schien den Priester zu schütteln, aber, Joseph, auf unserer langen Pilgerfahrt, da haben wir doch wohl auch ein wenig Zeit gehabt zum Nachdenken, oder?« Herity gab keine Antwort. Dann richtete der Priester den Blick auf John, und John war gestürzt, daß dieser Blick so schmerzvoll war, so voller Milde und voller Anklage. Er spürte ihn, als schneide ihm ein Messer durch die Brust. »Das alleräußerste Bestreben der Iren«, sagte Pater Michael, »auf intellektuellem Gebiet ist auf bitterbösen schwarzen Humor gerichtet.« Er warf Herity einen streifenden Blick zu, und Herity wich ihm aus, schniefte und rieb sich die Nase. »Und es ist ein Jammer, daß wir dabei immer schon kurz davor haltmachen, ehe wir über uns selber lachen könnten. Genau das, was wir machen müßten, wenn wir uns den bitteren Wahrheiten unseres Lebens gegenübergestellt sehen.« »Ach, gehn Sie doch, Sie würden ja eine Wahrheit nicht erkennen, wenn die Ihnen in die Eier tritt, und Sie haben ja sowieso keine«, fauchte Herity anklagend. »Also ist alles Frieden und sanfte Ruhe in unserm armen Land? Oder?« fragte der Priester. »Der süße Brei von allgemeinem Konsens, wie? Überall - wie schon immer!« »Was dieses Land je an Leiden erdulden mußte«, sagte Herity, »das kommt doch von unserer geduldigen, stupiden Leichtgläubigkeit gegenüber dem Zinnoberzauber der Kirche, und das hat uns jahrhundertelang den Saft aus den Knochen gesaugt.« Der Priester seufzte. »Joseph, ich fürchte beinahe, Ihr größtes Laster ist, daß Sie unfähig sind zur Großmut.« »Ja, so ist es, bei Gott, und Sie stolpern einfach so darüber«, sagte Herity. »Großmut ist wirklich nicht die meistgepriesene irische Nationaleigenschaft, wie das mal irgend so ein armes Schwein gesagt haben soll. Und ich bekenne mich dazu, Michael Flannery, weil ich weiß, wir sind verloren, wenn wir uns nicht an unsern Haß klammern. Wo sonst sollten wir die Kraft finden weiterzumachen?« 501 »Ich danke Ihnen, Joseph«, sagte der Priester. »Für Sie besteht noch Hoffnung, und ich werde wirklich weiterhin
für Sie beten.« Und damit machte der Priester auf dem Absatz kehrt und ging die Straße hinunter. In dieser Sekunde wurde John klar, irgend etwas in dem Wortwechsel hatte bewirkt, daß der Priester erneut Sicherheit in seinem Glauben gefunden hatte. Aber was hatte Herity gesagt, was das bewirken konnte? John starrte der sich entfernenden Gestalt des Priesters nach. Er stapfte so fest dahin, so sicher, so glaubensfelsenfest. Auch Herity starrte hinter dem Priester drein. »Da macht er sich davon. He, Priester!« rief er hinter ihm her. »Rennt einfach davon!« Er schaute John an. »Sehn Sie das, wie der rennt?« Aber die Stimme klang so schwach, und man merkte ihr deutlich an, daß da ein Besiegter sprach. Herity hatte sich mit allen Mitteln darum bemüht, den Glauben des Priesters abzuwürgen - und es war ihm nicht gelungen. Der Junge lief hinter dem Priester her, erreichte ihn und griff nach seiner Hand. »Hoffnungslos! Für alle beide«, sagte Herity. »Ach, kommen Sie schon, John! Meine Freunde warten schon sehnsüchtig auf uns ...« Er wedelte mit seiner MP, als zwei Männer vor dem Priester und dem Jungen auf der Straße auftauchten. »Und da sind sie jetzt.« Herity langte zu John herüber, als sie wieder zu gehen begannen, und zog ihm die Maschinenpistole über den Kopf. »Weil die das möglicherweise nicht kapieren würden. Und, bitte, würden Sie mir das kleine Knalleisen auch zurückgeben?« John starrte die Straße hinab als träume er. Er gehorchte Heritys Befehl, ohne auch nur zu merken, wie er die Pistole aus der Hand gab. Einer der beiden Männer, die auf sie zukamen, war Kevin O'Donnell. Und er trug noch immer diesen absurden australischen Schafhirtenhut wie damals in der Nacht an der Pier von Kinsale. 502 Die Römer haben die Gallier verdorben, und daraus ist der Engländer entstanden. Und die Engländer stürzten sich auf alles Römische wie die Schweine zum Trog. Die römische Taktik ist direkt: Macht die Familie zu Geiseln! Sie konnten uns in ihre Heere pressen, weil das die einzige Alternative war zum Verhungern. Sie haben uns unseren Glauben durch ihre Habgier verdorben. Sie haben unser schlichtes, billiges, leichtbegreifbares Recht durch ein Rechtswesen verdrängt, das kostspielig war und für den einfachen Mann nicht, oder fast nicht durchschaubar. Es war die legalisierte Ausbeutung, weiter nichts. JOSEPH HERITY Sie haben sich geweigert, zu bestätigen oder zu dementieren, daß und ob sie diesen O'Neill tatsächlich in Gewahrsam haben?« fragte Velcourt. Charlie Turkwood hob beide Hände, die Handflächen nach oben, in die Luft. In seinen dunklen Augen schwelte es. Die prallen Lippen lächelten beinahe. Sie befanden sich im Lincoln-Salon des Weißen Hauses, den Velcourt zu seinem privaten Arbeitszimmer gemacht hatte. Er warf einen ärgerlichen Blick, auf seine Armbanduhr. »Wie spät ist es dort drüben jetzt genau?« »Etwa neun Uhr morgens, Sir«, sagte Turkwood. »Merkwürdig«, sagte Velcourt. »Wie haben die rausbekommen, daß wir sein Zahnschema und die Fingerabdrücke haben?« Wieder machte Turkwood die verneinende HandbewegungVelcourt hatte Hunger, und er wußte, das machte ihn gereizt. Er zwang sich zur Beherrschung. »Sie wissen, was ich denke, Charlie?« fragte der Präsident. Turkwood nickte. Es war ja auch ganz klar. »Wenn die den Code dieser Seuche entschlüsselt haben ...«, sagte Velcourt. »Dann können die uns alle an den Eiern packen«, sagte Turkwood. 503 Ein seltsamer Ausdruck der Geistesabwesenheit trat in Velcourts Augen. Er flüsterte nachdenklich vor sich hin: »Code.« »Wie bitte?« fragte Turkwood. Velcourt beugte sich zu dem Sprechapparat auf dem Schreibtisch und drückte die Taste. »Sucht mir Ruckerman. Ich möchte ihn so rasch hier drin haben, wie ihr ihn finden könnt. Außerdem will ich DA sprechen!« Aus dem Lautsprecher gurgelte eine Frage. »Genau, ich meine den Asher!« Wieder eine Frage. »Es ist mir scheißegal, wohin Ruckerman gegangen ist! Dann schickt ihm eben einen Wagen!« Turkwood starrte seinen Präsidenten mit verwirrtem Stirnrunzeln an. »Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß die in Irland Raketen haben?« fragte Velcourt und lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Das Pentagon glaubt, die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, Sir. Sie glauben, daß zumindest der europäische Kontinent erreichbar und gefährdet sein kann.« »Also eine neue Pest, made in Ireland«, sagte Velcourt. »Ja, so lauten die Hypothesen, Sir.« James Ryan Saddler, der Berater des Präsidenten in wissenschaftlichen Fragen, kam in den Raum, streifte den stehenden Turkwood und den bequem zurückgelehnten Präsidenten hinter dem schmalen Tisch kurz mit einem Blick und fragte: »Sie suchen Ruckerman, Sir?« Er räusperte sich. »Irgendwelche Fragen, die ich beantworten kann?« »Ja. Warum Sie nicht anklopfen, wenn Sie hier hereinkommen?« sagte Velcourt mit Nachdruck. Saddler wurde bleich. »Arnos stand draußen vor der Tür. Er hat gesagt ...«
»Schon gut, schon gut!« Velcourt wedelte beschwichtigend mit der Hand. Erneut beugte er sich zu seinem Sprechgerät. »Arnos, bereiten Sie eine Nachricht zu meiner Unterzeichnung vor. Eine direkte Adresse an die Regierung Irlands in 504 Qublin - ohne namentlich genannten Empfänger. Darin soll jie Zahl der Leute genannt sein, die wir verloren haben, um Jas Dentalmuster und die Fingerabdrücke aus der pestverseuchten Zone herauszuholen. Wiederholen Sie unser Ersuchen, uns zu informieren, ob sie dort jemanden in Gewahrsam halten, den sie verdächtigen, O'Neill zu sein, und, falls dem so sei, verlangen wir, daß sie uns ihre Begründungen angeben, warum sie ihn verdächtigen. Sagen Sie den Leuten, wir fordern eine unmittelbare Antwort, aber wir ziehen es auch weiterhin in Erwägung, ihnen eventuell die Kopien der Fingerabdrücke und Zahnkarten zu senden. Haben sie unmittelbare Antwort! Und falls die nicht reagieren, dann können sie sich selber ausmalen, was passieren wird.« Der Lautsprecher schnarrte: »Sehr wohl, Sir.« Velcourt lehnte sich erneut in seinen Sessel zurück und verschränkte beide Hände hinter dem Kopf. »Ist das klug, Sir?« fragte Turkwood. Velcourt gab ihm keine Antwort. »Was ist denn los?« fragte Saddler. »Anscheinend hat es in Irland einen Machtwechsel gegeben«, sagte Turkwood. »Wir glauben zwar, daß die Militärs noch immer im Sattel sitzen, aber sie haben die Staatsautorität aufgeteilt - der Minister für Seuchenforschung, Fintan Doheny, und der Chef der Finn Sadal, Kevin O'Donnell, sind jetzt gleichberechtigt in ihren Machtbefugnissen.« »Was berichten unsere Agenten dort drüben?« fragte Saddler. »Wir haben keinen einzigen, auf den wir uns verlassen könnten.« »Ja, immer wenn man die Typen am nötigsten braucht«, sagte Velcourt. »Aber warum setzen wir da Druck an, Sir?« fragte Turkwood. »Das Barrier Command wird uns sicher die Frage stellen. Warum eine unmittelbare Antwort? Ich werde den Leuten was erklären müssen.« »Erklären Sie ihnen halt was mit dem üblichen Blahblah-Mah! Die sollen sich um ihre Blockade kümmern und sonst 505 nichts. Ich spreche zu den Iren. Und die werden denken, wir haben was besonders Tückisches vor, oder daß wir vielleicht nur nach 'nem Vorwand suchen, sie nuklear zu bedienen. Entweder fangen die dann an zu bibbern, oder sie werden ihre Karten aufdecken müssen. Und wenn die wirklich was Gefährliches in der Hand haben, dann werden sie uns das halt mitteilen müssen.« Saddler sagte: »Sir, zweifellos ist Ihnen das militärische Planspiel bekannt, daß wir jedes Land nuklear verseuchen werden, das zugibt, diesen O'Neill zu beherbergen.« »Dann sollen sie sich halt mal Sorgen machen. Sie können doch gar nichts machen, verdammt noch mal, außer uns zu antworten, und aus ihrer Antwort können wir 'ne Menge Schlüsse ziehen.« »Was ist mit der Möglichkeit, daß O'Neill eine weitere Seuche über eine Totmannschaltung parat hat, wenn ihm was passiert?« fragte Turkwood. »Die Russkis und die Chinesen sagen, sie sind bereit, das Risiko einzugehen«, sagte Velcourt. »Genau darüber haben wir uns gestern nacht gestritten, die Joint Chiefs und ich. Und wir sind inzwischen auch dieser Meinung.« »Aber, Sir«, sagte Saddler, »das kann doch bedeuten, daß die Russen und Chinesen ein Gegenmittel gefunden haben!« Velcourt schüttelte nur den Kopf. »Die können nicht mal ein Aspirin herstellen, ohne daß wir davon wissen.« Turkwood schaute Saddler an. »Was ist mit unserer Anfrage bei der Biochemical Society?« »Deren Unterlagen waren computergespeichert und sind verloren«, sagte Saddler. »Ein paar der noch lebenden Mitglieder erinnern sich an O'Neill, aber ...« Er zuckte die Achseln. »Wir haben ganz wenige Karten in der Hand«, sagte Velcourt, »und wir müssen sie geschickt ausspielen. Unsere Trumpfkarten sind derzeit diese Fingerabdrücke und das Dentalmuster. Und die dürfen wir im Augenblick einfach noch nicht aus den Fingern lassen. Es wäre zu riskant.« »Ich bin aber immer noch überzeugt, daß ich dem Barrier 506 Command was Handfestes sagen sollte«, bohrte Turkwood weiter. »Wenn ich denen Aufklärung verweigere ...« »Was soll denn auf einmal das Gezetere über das Barrier Command?« zischte Velcourt. »Wen kümmert es schon, was so'n Schrumpffranzose von 'nem kanadischen Admiral denkt?« Turkwood schluckte und schaute bitter drein. »Jawohl, Sir.« Velcourt bedachte den Mann mit einem langen starren Blick, ehe er sprach: »Und was ist mit der andern kleinen Sache, die Sie erledigen sollten? He, Charlie?« Turkwood warf Saddler einen beunruhigten Blick zu, ehe er sich wieder dem Präsidenten zuwandte. »Es läuft glatt, Sir.« »Ich mache Sie dafür verantwortlich, daß da keine Panne passiert!« »Ich sollte mich auch jetzt besser darum kümmern. Haben Sie sonst noch was für mich, Sir?«
»Nein. Halten Sie mich auf dem laufenden! Sie, Jimmy, bleiben bitte noch!« Als Turkwood gegangen war, fragte der Präsident Saddler: »Wie hoch ist Ihr Vertrauen in Ruckerman?« »Ein ehrenwerter Mann, Sir.« »Zweifellos, aber er hat mit Beckett in Huddersfield ungecheckt gesprochen, und er hat kein Protokoll darüber gemacht.« »Ich bin sicher, das handelte sich um bloße technische Sachfragen, Sir. Im Seuchenzusammenhang.« »Ja, das sagt er auch.« »Aber Ruckerman lügt nicht, Sir.« »Jeder Mensch lügt, Jimmy. Jeder!« Saddler runzelte die Stirn, gab aber keine Antwort. Velcourt schaute auf einen wirren Haufen von Berichten auf dem kleinen Tisch. »Unsere Lage wird nicht besser. Hongkong müssen wir abschreiben. In Südafrika herrscht Chaos. Die führen einen Vernichtungskrieg gegen ihre schwarzafrikanischen Nachbarn. Die Sowjets haben den Vorschlag gemacht, das ganze Gebiet nuklear zu befrieden.« 507 Er zog ein Watt aus dem Papierhaufen, warf einen Blick darauf und legte es säuberlich auf die andere Seite. »Und jetzt hat sich auch gerade noch Brasilisrael für unabhängig erklärt und will nichts mehr mit dem Gastland zu tun haben. Und ich kann es ihnen ja eigentlich nicht mal übelnehmen. Die CIA sagt, die Brasilianer hätten angefangen, Identitätslisten über alle israelischen Frauen anzulegen - >zur späteren Verwendung^ Die Brasilianer planen, ihr überschüssiges Frauenkontingent später in verseuchte Gebiete als Handelsware zu exportieren. Mein Gott!« Saddler schluckte, dann sagte er: »Sir, ich muß dringend mit Ihnen über die letzte Nachricht aus dem chinesischen Forschungszentrum in Kangsah sprechen. Sie bitten uns um die neusten Informationen über computergesteuerte Seuchenforschung. Ich zögere ...« »Halten Sie sie hin! Wie lautet der neueste Satellitenbericht über das Gebiet nördlich von Kangsha?« »Anzeichen für Panikfeuer, Sir, aber es gibt eine unangemessen hohe Zahl von feuersicheren Gebäuden. Trotz der fotografischen Auswertung können wir nicht mit Sicherheit sagen, was dort los ist. Man glaubt, sie haben ein Antiseuchenmittel getestet, und es ist schiefgelaufen.« Velcourt beugte sich zu seinem Sprechapparat. »Arnos! Ich will innerhalb einer Stunde einen Bericht mit höchster Priorität über Kangsha haben!« Und wieder lehnte er sich in seinen Sessel zurück. »Ich will Ihnen was sagen, Jimmy, aber es darf nicht über diese vier Wände hinausdringen. Die Gründe dafür sage ich Ihnen später mal.« Saddlers Gesicht nahm einen feierlichen, fast ängstlichen Ausdruck an. »Weil sie dermaßen viele Landstriche sauberbrennen mußten, sind die Sowjets im Moment vom Dünnschiß geplagt. Die Selbstmordziffern dort sind astronomisch. Und wir müssen so tun, als wüßten wir nichts davon, und wir müssen das weiter so spielen, solang die dort 'ne Menge von TU-Neunundzwanzig und Backfire 3 und andere Totalvernichtungswaffensysteme haben. Haben Sie das kapiert?« 508 Saddler nickte wortlos. »Die australische Outback Reserve ist noch immer intakt, und wir haben sie inzwischen militärisch aufgerüstet«, sagte Velcourt. »Das ist unser As im Ärmel, aber es kann natürlich auch nach hinten losgehen. Diese australischen Hinterwäldler sind nämlich manchmal verdammt unabhängig.« »Aber die wissen doch, daß sie nur mit uns eine Zukunft haben, Sir.« »Wissen die das?« Der Präsident blickte zur Tür, durch die Xurkwood vorhin verschwunden war. »Und jetzt muß ich mit Ihnen über Charlie Turkwood reden. Er wurde bei allzu intimen Gesprächen mit Shiloh Broderick beobachtet.« »Ich verstehe nicht, Sir.« »Ach? Sie wissen nichts über Shiloh?« »Also ... ich ... ähemm ...« »Ich dachte, hier weiß jeder über Shiloh und seine Bande Bescheid?« »Ziemlich reaktionär, Sir, habe ich mir sagen lassen.« »Reaktionär? Der Welthandel ist so ziemlich auf dem Nullpunkt, wenn Sie wissen wollen, was den Leuten an die Nieren geht. Und da werden die halt ungeduldig.« »Aber davon gibt es doch überall ein Überangebot, Sir.« Es war ein müder Witz, und Saddler bedauerte ihn, kaum hatte er ihn ausgesprochen. Doch der Präsident grinste ihn an und sagte: »Danke, Jimmy. Das ist - unter anderem - einer der Gründe, warum ich Vertrauen zu Ihnen habe. Wir müssen unsern gesunden Verstand bewahren, mit allen nur erdenklichen Mitteln.« »Sir, aber unsere eine und einzige Priorität muß doch wohl sein, ein Gegenmittel gegen die Seuche zu finden.« »Doch, immerhin unsere allerhöchste Priorität. Und damit komme ich wieder auf meine Gründe zurück, warum ich Ihnen das alles auf den Hals lade ... Ruckerman.« »Was ist mit ihm, Sir?«
»Sie werden ihn nach Huddersfield schicken.« »Sir! Die sind dort verseucht in dem ...« »Und das wird eine echt gute Motivation für ihn sein, dort 509 was Vernünftiges auf die Beine zu stellen. Denn wenn er es nicht schafft, sieht er seine Familie nie wieder.« »Sir? Warum tun Sie das?« Velcourt blickte auf die Papierhaufen auf seinem Tisch und wischte ihn plötzlich mit einer heftigen Bewegung auf den Boden. »Was für ein Scheißamt! Jedesmal wenn man sich umdreht, wird man von was anderem abgelenkt!« »Sir, was ....« »Ich hab den Entschluß schon vor Wochen überdacht! In allen Einzelheiten! Aber man läßt einem ja keine Sekunde Zeit zum Nachdenken!« »Ja, aber das mit Ruckerman, Sir?« »Sie werden ihn nach Huddersfield schicken, Jimmy. Nicht ich mach das, sondern Sie! Ich habe damit nicht das geringste zu tun, außer natürlich, daß ich Ihrem Begehren stattgebe.« »Wenn Sie das so wünschen, Sir. Aber ich ...« »Sie kennen David Asher.« »DA? Doch. Ein gescheiter junger Mann, Sir, aber was ...?« »Ich wage es einfach nicht, ihn rüberzuschicken, weil Shiloh sicher davon erfahren würde, und der ist immerhin so gescheit, daß er dann anfängt, in den falschen Löchern rumzustochern. Inzwischen weiß ja sowieso jeder, daß DA unseren Satellitencode geknackt hat und daß er ihn benutzt hat, um mit seinen Freunden drüben in Mendocino zu quatschen.« »Man fragt sich, wie er das geschafft hat, Sir. Hat er irgendwie eine Kopie ...« »Nein. Er hat es mit etwas geschafft, was er selber als Computer-Suchprogramm bezeichnet. Und ich weiß über diesen ganzen Bereich soviel, daß ich glaube und hoffe, man kann die Methode adaptieren, um den Zellcode der Pest aufzubrechen.« »Aber die Chinesen!« sagte Saddler. »Haben die möglicherweise ...« »Möglicherweise ja, aber sie könnten auch ganz unabhängig einen Weg gefunden haben.« »Aber, Sir, warum sollten wir diese Information nach Huddersfield weitergeben?« 510 »Nachdem wir die Information zu Beckett gebracht haben, werden wir sie in unseren eigenen Labors bekanntmachen, aber ich habe nicht allzu hohes Zutrauen zu denen. Das sind doch lahmarschige Ackergäule. Die würden nicht mal auf Wasser stoßen, wenn sie aus 'nem untergetauchten U-Boot steigen. Und dann Bethesda!« »Aber sie geben sich große Mühe, Sir!« »Große Mühe und althergebrachter Trott, das genügt einfach nicht. Was wir brauchen, ist Inspiration, und darum ist Beckett mein Mann. Ich kann die Lösung schon fast riechen, Jimmy. Aber eigentlich hab ich das ja schon immer gekonnt. Und genau darum, mein Lieber, werden wir dafür sorgen, daß die Sache sicher an Beckett in Huddersfield geht. Es gibt nämlich Leute, Jimmy, die das ganz sicher gern verhindern würden. Auch darum ist Ruckerman der richtige Kurier. Außerdem kennt er sich prima mit Computern aus.« »Das weiß ich alles, Sir. Er hat sogar versucht, das Labor in den Rocky Mountains rumzukriegen, daß die ...« »Ja, ich hab den Bericht gesehen. Verdammt noch mal! Ich hab das ganze Zeug gelesen und bin nicht mal auf die Idee gekommen, daß da ... Nun ja, wir versuchen es ja immerhin jetzt!« »Wieweit kann ich Ruckerman informieren?« »Sie werden ihm sagen, er soll sein verdammtes Maul halten! Er darf nur mit Beckett sprechen. Ruckerman geht unter dem Vorwand hin, daß er sich an Ort und Stelle überzeugen will, um mir dann Bericht zu erstatten. Und wir haben ihn dafür ausgewählt, weil er sich, leider, zufällig infiziert hat.« »Gut, Sir, aber ...« »Also wird er sich eben zufällig anstecken! Und zwar so rasch wie möglich, nachdem DA ihm die Tricks gezeigt hat. Und dieses Gespräch wird genau hier in meinem Arbeitszimmer stattfinden. Die Einzelheiten überlasse ich Ihnen, möchte aber einen Vorschlag machen. Es gibt da einen jungen Piloten namens Cranmore McCrae, der in Woodbridge, direkt an unserer Bannmeile wohnt. Und der ist infiziert. Er hat mehrere Male ein Gesuch eingereicht, daß wir ihm erlau511 ben sollten, nach Irland zu fliegen, wo er einen Onkel wohnen hat. Der Onkel ist 'ne verrückte Nudel, aber höllisch reich, und anscheinend verfügt der noch immer über ziemlichen Einfluß. Mir liegt ein umfassender Bericht über den jungen McCrae vor. Ein ziemlich heller Bursche. Ist für die CL\ in Vietnam geflogen und hat außerdem ein paar andere Jobs für uns gemacht. Hat Phantasie und ist zuverlässig.« »Aber warum geht denn dieser McCrae nicht einfach nach Irland, sobald er außerhalb unserer Staatsgrenzen ...« »Wir werden dem Kanackenadmiral befehlen, ihn runterzuschießen, außer er fliegt direkt nach England. Und wenn er dann Ruckerman abgesetzt hat, kann er direkt nach Irland zurückfliegen, und dort wird dann das Barrier Command wie üblich mit seinem Flugzeug verfahren.« »Aber was ist, wenn die Engländer nicht ...« »Ach, die werden schon kooperativ sein, weil Sie ihnen nämlich zu verstehen geben werden, daß wir äußerst ungehalten sein würden, falls sie es nicht sind. Wenn Ruckerman den Iren in die Hände fallen würde, bestünde die Gefahr, daß sie ihn einfach abmurksen. Aber die Briten sind da ein bißchen vorsichtiger.« »Wie Sie wünschen, Sir.« »Was könnten die schon verlieren? Ich meine, ehrlich, was? Er ist immerhin einer meiner wissenschaftlichen Berater!«
Saddler hatte ein Gefühl im Mund, als hätte man ihm Hobelspäne zu essen gegeben. Dieser ganze Intrigenquatsch, wie in einem Schauerroman! Er kam sich vor wie eine Schattenfigur hier im Weißen Haus. Gut, der Präsident vertraute ihm. Aber das war nicht der Grund gewesen, warum er sich in den Dienst der Regierung gestellt hatte ... Dann dachte Saddler daran, was für Druck er auf Ruckerman würde ausüben müssen, und davon bekam er Sodbrennen. Und Velcourt, als hätte er Saddlers Gedanken gelesen, sagte: »Jimmy, Sie sind der engste Freund von Ruckerman hier am Platz. Ich bin überzeugt, daß Sie der einzige sind, der ihn dazu bewegen kann.« »Aber er hat ja seine Familie gar nicht hier«, sagte Saddler. 512 „Seine Frau sitzt da draußen im Sonoma-Reservat fest, wie gje wissen.« »Weiß ich.« »Aber dann werde ich ihm doch ziemlich viel sagen müssen, Sir.« »Ach, es ist mir eigentlich ziemlich egal, wie weit Sie ihn einweihen wollen. Aber sorgen Sie mir auf jeden Fall dafür, daß Turkwood keinen Wind davon bekommt. Denn dann würde das sofort bei Shiloh landen. Und den Mistkerlen traue ich nicht einen Fingerbreit. Was ich sagen will, Jimmy, die Typen hinter Shiloh sind ein Haufen echter Wahnsinniger. Hören Sie zu, das Allerneueste, was die planen, ist die Ermordung des Papstes!« Im großen Bogen der Geschichte erscheint uns Rache als etwas recht Langweiliges. Geisteskranke und junge Idealisten allerdings werden leicht darein verstrickt. Die Jugend will daß die >Alten Mannen schuldig sind. Das macht es ihr leichter, sie zu entmachten. Die idealistische Jugend ist jederzeit gefährlich, weil sie handelt, ohne vorherige tiefe Selbstprüfung zu üben und ohne die Probleme zu durchdenken, die sie angehen will. Meist trabt sie die eigene Heißblütigkeit an. Eine vorwiegend sexuelle Sache. Sie wollen die Kontrolle über das Zuchtmaterial in die Hand bekommen. Und der tragische Moment liegt darin, daß sie dann nur einer neuen Generation junger Idealisten neu eingekleidete uralte Racheträume weitergeben ... - entweder das, oder sie bringen einen wahnsinnigen Obermenschen hervor, einen Hitler oder einen O'Neill. FlNTAN CRAIG DOHENY fcs ist Ihnen ja wohl klar«, sagte Doheny, »daß wir notgedrungen einen großen Teil unserer Bemühungen auf die Erforschung der Geschlechtschromatinträger richten.« »Das überrascht mich überhaupt nicht«, sagte John. »Ich 513 nehme doch an, daß Ihnen spektralmikroskopische Analysenmöglichkeiten zur Verfügung stehen?« »Aber ja doch.« Sie saßen in Dohenys Büro, hoch oben im Verwaltunestrakt des Kilmainham Royal Hospital. Ein etwa sechs Qua. dratmeter großer Raum mit weißgekalkten Wänden. Dort hingen gerahmte Fotos von Landschaften und Städteansichten. Aber nach einem ersten Blick schenkte John ihnen kaum noch Beachtung. Doheny saß in einem bequemen Sessel hinter einem breiten Tisch. Er sah aus wie ein wuschelhaariger Troll mit Augen, die alles festzuspießen schienen, was ihnen unterkam. John saß auf einem Holzstuhl ihm gegenüber. An der einen Wand des Raumes stand eine gelbbezogene Couch vor einem niederen Tisch. Bücherregale füllten die Wand hinter Doheny. Zwei Fenster zu Johns Rechter gingen über die parkähnliche Anlage hinaus und boten einen Blick auf Kilmainham Jail, das uralte Gefängnis, wohin sich (so hatte man John erklärt) Kevin O'Donnell zurückgezogen hatte, da dort sein Hauptquartier sei. Man hatte sie in Panzerwagen ins Stadtzentrum gebracht. Den Priester, den Jungen, Herity und Kevin O'Donnell in einem Fahrzeug, John und Doheny allein mit dem Fahrer und einem Posten in einem zweiten. An der Inchicore Road hatten sich die Wagen getrennt, und der mit John war unter dem Bogen hindurch auf das Hospitalgelände gerast. Doheny hatte ihn ein paar Treppen hinaufgeführt. Er hatte sich erstaunlich rasch bewegt für jemand mit soviel Fleisch auf den Knochen. Sie waren an verschlossenen Türen einen langen Gang hinuntergegangen, in einen Aufzug gestiegen, drei Stockwerke aufwärts gefahren, wieder durch einen Korridor geeilt und schließlich in diesem blendendweißen Zimmer angelangt. Ein Zwerg von einem Mann in einem grünen Kittel war ihnen gefolgt und hatte John die Fingerabdrücke abgenommen. »Sie haben doch nichts dagegen, oder?« hatte Doheny verspätet gefragt. 514 Das lag nun schon fast eine Stunde zurück. John starrte auf die Farbreste, die das Lösungsmittel nicht von seinen Fingern beseitigt hatte. Wozu brauchten die seine Fingerabdrücke? John merkte, daß O'Neill-im-Kopf sich zu regen begann. Hier war Gefahr! Er hatte sich in Gefahr getaucht gefühlt, seit diese Begegnung auf den Höhen vor Dublin stattgefunden hatte. Doheny war der Mann bei Kevin O'Donnell gewesen - flaumiges Gelock, wie das Haar von einem Neugeborenen auf seinem Schädel. Das Gesicht freundlich-gütig: große Blauaugen, eine kurze schmale Nase, ziemlich flache Lippen mit Lächelfältchen. Eine >Frohnatur< wäre die passende Bezeichnung für Doheny gewesen, wenn von ihm nicht etwas Bedrohliches ausgegangen wäre. Kevin O'Donnell hatte als erster gesprochen. »Aha, Sie haben also was Warmes zum Anziehen gefunden, Yank. Erlauben Sie mir, Sie mit Fintan Craig Doheny bekanntzumachen. Dr. Doheny hat die Aufgabe übernommen zu entscheiden, ob man Sie am Leben läßt, oder nicht.«
Doheny hatte kein Wort dazu gesagt. John hatte es vermieden, Kevin anzuschauen, und er hatte die Lippen fest zusammengepreßt, damit sie nicht zittern konnten. Herity und die anderen hatten sich im Hintergrund gehalten. Ein stummer Chor von Beobachtern. »Wir wissen inzwischen, wer Sie sind«, hatte Kevin gesagt. Kurz hatte John das Gefühl, daß sein Herzschlag ausgesetzt habe. Er ließ weiterhin Doheny nicht aus den Augen. Und der blickte John eindringlich prüfend an. Und dann begriff John: Doheny war der Jäger am Wasserloch, lauernd, den Blick stetig auf das Ziel gerichtet, alle Sinne auf eines konzentriert: den Todesschuß! Aber was war der Köder, den sie ihm hier ausgelegt hatten? »Sie haben nichts zu sagen?« fragte Kevin. Dann bekam John seine Stimme unter Kontrolle und sagte mit bestürzend gleichgültigem Ton, der aus einer eisigen Ruhe entsprungen sein mußte: »Was erwarten Sie denn, das 515 ich sagen soll?« Er wagte einen Blick in Kevins Gesicht UM traf dort nur auf ein begieriges Starren. »Selbstverständlich wissen Sie, wer ich bin. Sie haben ja schließlich meine Papiere selbst geprüft. Meinen Paß ...« »Sie sind John Roe O'Neill!« sagte Kevin anklagend. John gelang es, ein Lächeln hervorzubringen, ein raffiniert langsames Lächeln, die Lippen hoben sich, langsam, die Mundlinie öffnete sich leicht. »Hätten Sie die Güte, uns zu sagen, was Sie daran so komisch finden?« sagte Kevin scharf. John holte tief Luft. Er hatte es in Kevins Stimme gemerkt: es war Bluff, die ganze arrangierte Szenerie. Nein, an dieser Wasserstelle gab es keinen Köder. »Mir sind nur sehr viele Dinge klargeworden«, sagte John als Antwort. »Das werden Sie mir bitte erklären«, fuhr Kevin ihn an. John warf einen Blick zu Herity hinüber. Der stand da mit einem spöttischen Ausdruck im Gesicht; der Priester, Pater Michael, wirkte in sich selbst gekehrt und als habe er Schmerzen; der Junge, ein dunkles Bündel neben dem Priester. Dann schaute John wieder Doheny an. »Geben wir doch diese kindischen Spielchen auf! Sie haben mich die ganze Zeit den Verhören von Herity ausgesetzt, und Sie ...« »Unser Joseph hat manchmal recht grobe Finger«, sagte Kevin. »Und das amüsiert Sie?« »Ach, ich bin nur erleichtert, daß ich endlich begreife, was hier vorgeht«, sagte John. Kevin wippte auf den Fußballen nach vorn. »Also leugnen Sie ...?« »Ach, ihr seid alle so idiotisch!« sagte John. »Irland, das wäre ja wohl doch das letzte Land, wo der Verrückte hingehen würde, oder?« Kevin schaute ihn fest an. »Doch, auch an das haben wir gedacht. Und wenn ich nämlich dieser Verrückte wäre, dann würde ich gern Gott spielen. Dann würde ich gern mit meinen eigenen Augen sehen wollen, was ich angerichtet habe. Sozusagen der Siebte Tag der Schöpfung für den Wahnsin516 nigen! Also, wie sollte der nicht herkommen und sein Werk bewundern wollen?« »Das ist irre«, sagte John. »Na, reden wir nicht die ganze Zeit schon über einen Irren?« fragte Kevin. Aber als John zu einer Antwort ansetzen wollte, hob Doheny eine Hand und gebot Schweigen. Und dann begriff j0hn: Doheny war der >Großinquisitor<. Andere stellten die peinlichen Fragen und folterten. Doheny schaute zu und urteilte. John schaute den Mann an. Wie würde sein Urteil lauten? Und dann sagte Doheny zum erstenmal bei dieser Begegnung etwas. Die Stimme war tief und zwingend, und John war überrascht, wie sanft sie dabei klang - ja, es war Samt in dieser Stimme. »Nehmen wir ihn doch mit«, sagte Doheny. »Ich brauche die Fingerabdrücke, und dann wird sich ein Zahnarzt seinen Mund anschauen müssen.« , John spürte, wie ihm die Kehle austrocknete. Daktyloskopische Ermittlung, Dentalüberprüfung! Er spürte, wie O'Neill-im-Kopf zu zucken begann. Über welches Beweismaterial verfügte dieser irische Inquisitor? Nichts war drüben im College in den USA übriggeblieben. Sicherlich nichts im Haus. Oder? Das Panikfeuer war doch dort eingesetzt worden. Das* hatte er in den Nachrichten gehört, und da war er noch in Frankreich gewesen! Von diesem Moment an hatte John sich herumschieben lassen, als wäre er eine Marionette, und hatte sich ausschließlich darum bemüht, ausdruckslos dreinzuschauen, ausdruckslos und - gelangweilt. Jemand, der durch lange Erfahrung abgestumpft ist. Die erste halbe Stunde in Dohenys Büro war schlimm gewesen. Dieses Warten ... Warten. Was konnten die Fingerabdrücke schon bringen? Wann würden sie ihn zu einer Zahnuntersuchung führen? Und dann hatte ein Telefon geklingelt. Doheny hatte es aus der Halterung an der Seite seines 517 Schreibtisches gehoben und ein einziges Wort gesagt: »Doheny.« Dann hatte er nur zugehört... am Ende: »Danke. Nein nein ... weiter ist nichts.«
Wir haben unsere Charade ziemlich dick aufgetragen, dachte Doheny, als er den Hörer einhängte. Und dieser John Garrech O'Donnell ist nicht zusammengebrochen. Ja, inzwischen verstand Doheny, warum Herity so durcheinander war. Aber was war das Besondere an diesem John O'Donnell? Doheny wirbelte auf seinem Sessel herum und schaute durchs Fenster zum Kilmainham Jail hinüber. Sollte man den Verdächtigen Kevin überantworten? Das Gefängnis da drüben war in jeder Hinsicht ein zu glatter Boden. Dort waren Menschen gestorben, ohne daß es einen anderen Grund gegeben hatte, außer der Laune eines andern Menschen. Und die Regierung, die jetzt an der Macht war, tat auch nur alles, um dem Gefängnis diesen Ruf zu erhalten. Warum, um Himmels willen, haben wir ausgerechnet diesen Ort ausgewählt, um den Sitz der Regierung dahin zu verlegen? Doheny begriff es wirklich nicht.. Einen Ort des Grauens, ein Mahnmal für nie gezahlte Läden. Aber er wußte die Antwort. Weil es weit genug ist - und eng genug. Weil es in Dublin ist. Weil wir uns konzentrieren mußten. Weil wir ein Symbol brauchten. Und eins muß man Kilmainham lassen: es ist ein Symbol! »Sie behaupten, Sie sind Molekularbiologe?« fragte Doheny. »Es stimmt.« Und dann hatte sich John einem zwanzigminütigen bohrenden Gespräch ausgesetzt gesehen. Es ging um seine Kenntnisse, mit besonderer Betonung auf künstlicher DNS-Kombinierung. Doheny legte ein beachtliches Wissen über die Materie an den Tag, aber John hatte die Grenzen des Mannes recht bald erkannt, als nämlich die Fragen auf das Gebiet gescheiter Vermutungen abgeglitten waren. Es war für John leicht, die Spezialbereiche zu erkennen, auf denen sein eigenes Wissen das von Doheny weit überstieg, besonders als sie auf das Gebiet der Interphasensynthese gerieten. 518 Johns Trick mußte es also sein, mit seinen Antworten möglichst wenig preiszugeben. Doheny legte die Hände in den Nacken und ließ sich in seinem Sessel zurückkippen. »Und wo, glauben Sie, würden Ihre Fähigkeiten am besten eingesetzt werden können?« »Meine Arbeiten in der Mikromethodologie galten als sehr gut.« »Ah, darauf haben Sie sich also konzentriert, als Sie an dieser University of Washington waren?« »Unter anderem auch darauf.« Ohne den Kopf zu senken, richtete Doheny den Blick auf seinen kahlen Schreibtisch. »Sie haben Erfahrungen mit mitotisch aktiven kleinen Lymphozyten?« »Aber ja.« Doheny beugte sich vor, stemmte die Ellbogen auf den Tisch und faltete die Hände locker vor sich. »Ich vermute, Sie sind auf diesem Gebiet erfahrener als ich. Allerdings haben auch wir hier ein paar neue Sachen entdeckt.« John spürte, daß sein Puls sich beschleunigte. Von O'Neill-im-Kopf kam eine Art fragendes Rumoren. »Ich bin neugierig, etwas über Ihre Fortschritte zu erfahren«, sagte John. »Und ich möchte Sie warnen! Gehn Sie diese Seuche behutsam an!« sagte Doheny. »Da Sie Forschungsmediziner sind, dürften Sie wohl mit einer gewissen Voreingenommenheit Krankheiten gegenüber behaftet sein. Und diese unsere Seuche macht uns für dieses Fehlverhalten besonders anfällig.« John brauchte eine Weile, ehe er antworten konnte. Was hatte dieser Joheny da soeben gesagt? Versuchte er ihn hinzuhalten? Hatten sie in Irland nach all den Monaten nichts von Bedeutung herausgefunden? Als John ihm nicht antwortete, sagte Doheny: »Sie sollten sich damit vertraut machen, daß Sie sich der unmittelbaren, der absoluten Terminierung gegenübersehen. Für den Forscher, wie wir ihn bisher kannten, waren Krankheiten etwas, das seinen Lauf nimmt. Aber das Leben ging weiter, auch 519 wenn wir eine ganz bestimmte Krankheit nicht heilen konnten.« John nickte, schwieg aber beharrlich. »Wir rechnen natürlich damit, daß sich irgendwie eine Resistenz entwickeln wird, Immunität«, sagte Doheny. »Oder wir erwarten, daß irgendein anderer natürlicher Mechanismus eingreift. Aber diese Pest wird das Ende der ganzen Menschheit bedeuten, es sei denn, wir finden ein Mittel gegen sie.« O'Neill-im-Kopf flüsterte in Johns Gehirn: Sie haben das mit der Langphasendormanz rausgekriegt. Und dann wurde es John klar: Doheny stocherte nur immer so herum; er schob seine Sonden geschickt und raffiniert vor, weil er immer noch auf der Suche nach O'Neill war. Und als ihm das bewußt wurde, spürte John, wie O'Neill sich wieder zurückzog in seine versteckte Tiefe. Aber dieser Doheny war weitaus gefährlicher als Herity. Und was war eigentlich mit Herity, dem Priester und diesem stummen Jungen passiert? »Quarantänemaßnahmen werden sich nicht ewig durchhalten lassen«, sagte Doheny gerade. John merkte, daß er in hastigen flachen Zügen atmete. Er versuchte sich zu gleichmäßigeren, tieferen Atemzügen zu zwingen, aber ihm tat die Brust weh. »Haben Sie sich schon einmal klargemacht, daß wir möglicherweise einem unlösbaren Problem gegenüberstehen?« fragte Doheny. John schüttelte den Kopf. »Es muß ... es muß eine Lösung geben.« Und dann dachte er über das nach, was er da soeben gesagt hatte. Nie zuvor war ihm in den Sinn gekommen, daß der Rachefeldzug, den O'Neill veranstaltete, den absoluten, endgültigen, unabänderlichen Fehlschlag für die gesamte Menschheit darstellen könnte. Jedes Problem ließ sich lösen! Und er wußte, wie diese Pest geschaffen worden war! Die Formel stand da, in seinem Hirn, konnte abgespult werden wie ein ganz privater Film, wann immer er es wollte. - Kein Heilmittel? Aber das
war doch wahnsinnig! 520 »Ist es Ihnen schon aufgefallen, daß wir hier in Irland uns keine neuen Hoffnungsmythen schaffen?« fragte Doheny. »Was?« Dohenys Worte purzelten in Johns Bewußtsein herum wie trockene Erbsen. Was hatte der Mann da gerade gesagt? »Wir haben wieder nur einmal die uralten Mythen von Tod und Zerstörung«, sagte Doheny. »Also paßt es ja ganz gut, daß von uns die Literatur der Verzweiflung ausgeht.« »Aber was hat denn das zu tun mit ...« »Brauchen Sie noch einen stärkeren Beweis für die äußerste Niederlage?« »Haben Sie alle hier etwa aufgegeben?« »Darum geht es gar nicht, John. Ich darf Sie doch John nennen?« »Ja sicher, aber ... was sind ...« »Die Erkenntnis einer äußersten, unabänderlichen Niederlage, John, das bringt schreckliche psychische Beschädigungen mit sich, John! Furchtbar bittere Folgen ...« »Und doch haben Sie selbst angedeutet...« «... daß wir die bittere Pille schlucken müssen.« John starrte den Mann an. War der Kerl verrückt? Hatte er es hier mit einer neuen Variante des wahnsinnigen Priesters in der Kleiderhütte zu tun? »Was möchten Sie dazu sagen, John?« fragte Doheny. »Wo ist Herity, und Pater Michael und der Junge?« Doheny wirkte verblüfft. »Ja, aber was kümmern denn diese Leute Sie?« »Ich ... ich möchte es halt nur wissen.« »Aber die sind nicht Irland, John!« Doch, sie sind es! dachte John. Sie sind mein Irland! Aus der Rache waren sie entstanden, waren geformt worden wie der Ton auf der Scheibe eines Töpfers. Der stumme Junge tauchte auf einmal als mächtige Figur in seinem Hirn auf. Was würde dieser Kindjunge sein, besäße er nicht diese leidensvolle Zerbrechlichkeit? Irgendwo mußte da doch in dem Kind auch eine Stärke verborgen liegen. John versuchte sich vorzustellen, wie der Junge zum Mann reifen würde 521 mit diesen Augen eines Fauns. Ein Herzensbrecher, sofern ihm jemals eine reife Frau über den Weg laufen sollte, die ihn dann haben wollte. Aber das konnte natürlich nie Wirklichkeit werden, falls sich Dohenys Befürchtungen als wahr erweisen sollten! Nein, der Junge soll nicht noch mehr Qualen leiden! dachte John. Es ist genug! O’Neill-im-Kopf ist satt! »Noch sind wir ja nicht geschlagen«, sagte John. »Und genau davor wollte ich Sie warnen, John. Schauen Sie sich nur um! Ein geschlagenes Volk wird sich immer bemühen, in Mythen und Legenden einen Ersatz zu finden.« »Aber wir reden doch nicht über Mythen und Legenden!« »Ach? Aber genau das tun wir doch! Wir reden über diese wabernden Vergangenheitskulissen, hinter denen sich unangenehme, nichtwillkommene Tatsachen verstecken lassen. Also: es war keine Katastrophe, dafür gibt es dann immer die Heldenlieder! Kein Volk hat uns Iren je darin übertroffen, grandiose Mythen zu schaffen!« »Also keine Hoffnung«, sagte John. Und seine Stimme klang sehr leise. Er erinnerte sich an den Opa Jack und an die verwirrend bezaubernden Geschichten am Kamin. »Es ist leider teuflisch wahr«, sagte Doheny. »Stellen Sie sich das mal richtig vor, John. Jedes einzelne Faktum in unserer Geschichte wirkte wie verhext zusammen, um diese absurde Geschicklichkeit in uns Iren hervorzubringen, unsere Niederlagen durch den Heldenmythos zu versüßen.« »Das sagen Sie mal dem Pater Michael!« »Michael Flannery? Ach ja, aber auch die Kirche hat mit ihren eigenen Mythen ganz schön tapfer mitgemischt. Da wird dann die Niederlage auf die göttliche Gerechtigkeit reduziert. Die Rache Gottes für früheres Fehlverhalten. Und dabei haben die Engländer sogar unabsichtlich der Erzfeindin geholfen. In einem Anfall von perverser Idiotie haben die Engländer unsere Religion für ungesetzlich erklärt. Und es ist ja doch klar, daß jedes Verbot die Sache nur stärker macht, die es zu unterbinden versucht.« 522 Johns Gedanken kreisten verwirrt. Was steckte hinter Dohenys Worten? Doheny klopfte sich auf seinen prallen Bauch. »Die Hungersnöte haben uns Iren ein besonderes Trauma verpaßt, und wir haben sie nie vergessen. Zwanghafte Freßsucht ist eine unserer am weitesten verbreiteten Reaktionen auf Schicksalsschläge.« John kam zu dem Schluß, daß der Mann sinnlos vor sich hinbrabbele. Kein vernünftiges Argument darin, keine Vernunft. »Ich bin einer der wenigen fetten Männer Irlands in dieser Zeit«, sagte Doheny. »Also haben Sie nicht aufgegeben.« »Vielleicht bin ich der einzige noch übrige Mythenmacher«, sagte Doheny. »Geniale Forschung, das ist es, was
wir jetzt dringend brauchen.« John schüttelte verständnislos den Kopf. »Da hab ich auf diesem Stuhl gesessen und habe mir einen Mythos über John Garrech O'Donnell zusammengesponnen«, sagte Doheny. »Garrech.« Er rollte die Silben mit seiner Samtstimme. »John Garrech O'Donnell, ein schöner alter irischer Name. Der braucht einen ganz besonderen Mythos, bei Gott.« »Wovon, zum Teufel, sprechen Sie?« »Ich spreche von John Garrech O'Donnell, einem Yankee, der aus starkem gälischen Blut stammt. Davon spreche ich. Und Sie sind zu uns zurückgekehrt, John Garrech O'Donnell. Sie haben uns einen sensationellen neuen Weg zu Heilung dieser Pest gewiesen! Sie sind die Vision der Hoffnung, John Garrech O'Donnell! Ich werde das sofort unters Volk bringen lassen.« »Spinnen Sie?« »Die Menschen werden Sie umjubeln, John.« »Weswegen?« »Wegen Ihrer Vision. Wir Iren bewundern Visionen immer.« »Ich werde nicht mitspielen bei ...« 523 »Dann werde ich Sie leider Kevin zur sofortigen Beseitigung übergeben müssen. Wir haben Unmengen von Labortechnikern. Was wir brauchen, ist Inspiriertheit und Hoffnung.« »Und was passiert, wenn ich nichts ...« »Wenn Sie versagen? Ahhh, dann ist das auch gleich Ihr Ende. Wir sind nicht sehr tolerant gegenüber Versagern nein, sind wir wirklich nicht.« »Wollen Sie damit sagen, ihr bringt hier einfach alle um die ...« »O nein! Weder so blutig, noch so simpel. Aber Kevin hat 'nen kurzen Geduldsfaden und ein schnelles Schießeisen.« »Dann werde ich meine Fehler verheimlichen müssen.« »Nicht vor mir, das werden Sie nicht tun!« Doheny stieß sich vom Tisch ab. »Wir werden Sie zu Peard am Killaloe schicken. Und ich schlage vor, Sie arbeiten Ihre sensationelle neue Methode gegen die Seuche aus, bevor Sie dort ankommen.« John folgte dem Mann mit den Augen, als der aufstand. »Also heißt das: Schaff es oder stirb?« »Ja, und ist das nicht genau der Kern unseres Problems?« fragte Doheny zurück. John zwang sich, den Mann nicht mehr anzuschauen. Wie der da stand, so anklagend! »Verstehen Sie mich recht, John«, fuhr Doheny fort. »Die Pest hat sich 'ne neue Teufelei einfallen lassen - sie mutiert. Jetzt befällt sie schon die Meeressäuger, die Wale, die Delphine, die Seehunde und so weiter. Jetzt gibt es nichts mehr, was sie aufhalten kann.« John wußte, sein Gesicht war eine eisige Maske. Eine Mutation! Das war etwas, woran er nicht gedacht hatte. Die Sache war außer Kontrolle geraten. Die Pest war wie ein Steppenbrand, wie eine atomare Kettenreaktion. »Wenn Sie bitte hier warten würden«, sagte Doheny, »ich geh nur rasch und treffe die Arrangements für die Fahrt.« Er ging auf den Flur. Dort kam ihm Kevin bereits aus einem Nebenzimmer entgegen. 524 »Sie sind ein Narr, Doheny!« flüsterte Kevin. »Was ist, wenn er unsere Arbeit am Killaloe zu vernichten versucht?« »Dann werdet ihr ihn töten müssen«, sagte Doheny. »Haben die uns endlich die Fingerabdrücke und das Dentalmuster geschickt?« »Nein, die machen auf Vorsicht! Warum wollen mir das haben? Haben wir einen Verdächtigen? Was glauben die denn? Warum sollten wir sie sonst darum bitten?« »Es war gefährlich, darum zu bitten, Kevin.« »Es ist gefährlich, zu leben!« »Kevin ... wenn der Mann da drin O'Neill ist und es mir gelungen ist, ihn richtig zu motivieren, dann bringt der uns die Lösung.« »Aber Sie haben ihm doch fast direkt gesagt, daß es kein Gegenmittel geben kann!« »Das hat ihn überrascht, müssen Sie wissen. Er war schockiert. Daran hat er vorher nie gedacht. Der typische Forscher. Das Hirn fest und ausschließlich auf sein Ziel gerichtet.« »Und was wird, wenn Sie recht haben?« fragte Kevin. »Was, wenn der wirklich O'Neill ist und wenn er dann versagt?« »Dann gibt es überhaupt keine Hoffnung mehr.« Ein Medikus sagt: »Herr, es wäre besser, gemäß den Regeln zu sterben, als im Widerspruch zur Medizinischen Fakultät zu leben.« MOLIERE zu einem Patienten, der durch unorthodoxe Behandlung geheilt wurde William Ruckerman begegnete seinem Piloten zum erstenmal auf dem Flugfeld bei Hagerstown in Maryland. Die Dämmerung zeigte einen dünnen Lichtspalt am Osthorizont. Es war kalt, dunstignaßkalt, und Ruckerman machte sein nervöser Magen zu schaffen. Er hatte sich zwei Tage lang in einem vom Militär verwalteten Hotel in der Nähe des Flug-
525 platzes aufgehalten, ehe die Meteorologen sagten, man könne nun sicher den Transatlantikflug antreten. Die zwei Tage waren von Schniefen und Kopfschmerzen erfüllt gewesen, und er war sich immer klarer bewußt geworden, daß er an den milderen Symptomen der Pest leide, und dann war ihm, mit einem Gefühl der Verlorenheit, bewußt geworden daß er nun ein Krankheitsträger sei. Aber einer aus der Washingtoner Machtelite hatte es tun müssen, angesichts dessen, was langfristig auf dem Spiel stand. Becketts kleine Kabale hatte tatsächlich die Möglichkeiten abgesteckt, aber die waren verrückt, wenn sie glaubten, sie könnten das allein unter Kontrolle halten. Cranmore McCrae, sein Pilot, erwies sich als ein kleiner und ziemlich untersetzter junger Mann mit einem überdimensionalen Schädel - einem Kopf, der so groß war, daß Ruckerman zu der Diagnose neigte, das sei die Auswirkung einer hormonalen Fehlfunktion. In der Luke des Flugzeugs wirkte McCrae wie eine Mißgeburt: kleine blaue Schweinsäuglein, weit auseinanderstehend, eine flache Nase, großer Mund mit dicken Lippen, kantige Kinnbacken, die an einem Scharnier weit hinten im Nacken befestigt zu sein schienen. Das Flugzeug war ein kleiner doppelsitziger Jet, und Ruckerman erkannte das Modell nicht. Es sah aus wie das teure Privatflugzeug eines Wirtschaftsbosses - schlank und schnell, die Nase stieß weit über das vordere Fahrwerk vor. Die Luke ließ sich nach außen klappen und bildete eine Treppe. Der Sergeant, der Ruckerman zum Flugfeld gefahren hatte, stand an Fuß der unteren Stufe; nasser Wind peitschte gegen seinen Mantel, bis McCrae endlich die Luke schloß und verriegelte. Dann schnallte er Ruckermans Tasche auf einen freien Sitz und führte ihn nach vorn, wobei er die seltsamste Befragung durchführte, der Ruckeman sich je ausgesetzt hatte. »Sagen Sie mir, Dr. Ruckerman«, fragte McCrae, »gibt es irgendeinen Ihnen bekannten Grund, warum Charlie Turkwood Ihren Tod wünschen könnte?« Ruckerman, der sich gerade im rechten Sitz im Cockpit 526 niedergelassen hatte und den Sicherheitsgurt umschnallen wollte, hielt inne und starrte McCrae an. Was für eine absurde Frage. Ruckerman überlegte sich, ob er sich nicht verhört habe. »Machen Sie den Gurt da fest«, sagte McCrae, »wir verschwinden hier wie 'ne gesengte Sau!« »Haben Sie eben angedeutet, daß Sie glauben, Charlie Turkwood wünscht meinen Tod?« fragte Ruckerman und klickte das Schloß des Sicherheitsgurts in den Sitz. »Ja, das sind so die allgemeinen Vermutungen.« McCrae stülpte sich die Kopfhörer über und brachte das winzige Mikrofon dicht an den Mund. Dann drückte er mit dem Daumen einen Schalter am Steuerknüppel. »Hier Rover Boy«, sagte er. »Klar für die Startbahn.« »Klar für Startbahn, Rover Boy.« Die metallische Stimme aus dem Tower kam aus einem kleinen Lautsprecher über ihren Köpfen. Ruckerman blickte zu dem Gitter hinauf. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie geredet haben«, sagte er. Und dann überlegte er, in was für eine Sache Jim Saddler ihn da hineingehetzt hatte - wo es Leute gab, die seinen Tod wollten! Er dachte darüber nach, während McCrae zur Startbahn und in Position rollte und die Maschine dann auf das lange Flugfeld ausrichtete. Dann schaute McCrae ihn von der Seite her an. »Ich hoffe sehr, Sie haben recht.« Er gab Gas. Das Flugzeug nahm Fahrt auf, langsam zunächst, dann wurde Ruckerman in den Polstersitz gepreßt. Das Abheben ging glatt, dann folgte ein steiler Anstieg über die niedere Wolkendecke hinaus. Ruckerman blinzelte gegen das grelle Sonnenlicht an, das von einem wolligen Wolkenozean reflektiert wurde. »Zirka sechseinhalb Stunden geschätzte Flugzeit«, verkündete McCrae. »Warum, verdammt, haben Sie mir die Frage über Turkwood gestellt?« fragte Ruckerman barsch. »Ich war früher Pilot für die CIA, und ich hab noch immer dort ein paar Freunde, denen ich ein paar Infos abluchsen 527 kann. Darf ich Sie >Will< nennen? Man hat mir gesagt, so nennen Ihre Freunde Sie.« Ruckerman sagte steif: »Nennen Sie mich, wie Sie mögen aber erklären Sie mir dieses ... dieses ...« »Also schön, Will, meine Freunde sagen mir, Turk ist 'ne üble gefährliche Nummer. Also hab ich mich mal 'n bißchen umgeguckt, wissen Sie? Hab versucht rauszufinden, ob da irgendwo der Wurm drin ist in unserem Flug ... ob es vielleicht 'nen andern Grund für unsern kleinen Trip gibt.« »Was für andere Gründe könnte es denn geben?« Ruckerman schaute auf die Wolkendecke hinaus, eine sich ständig verändernde Landschaft ohne sichere Markierungspunkte. Er fragte sich, ob man ihm vielleicht einen geisteskranken Piloten zugeteilt hatte. »Glauben Sie wirklich, daß die Iren diesen Verrückten, den O'Neill haben?« fragte McCrae. »Die daheim wollen nämlich, daß ich mich darum dann kümmere, nachdem ich Sie abgesetzt habe.« »Ich versichere Ihnen, ich weiß es nicht«, sagte Ruckerman. »Ich kenn den Sergeant, der Sie aufs Feld gefahren hat«, redete McCrae weiter. »Issen Mann für Sonderaufgaben. Worüber haben Sie mit ihm geredet während der Fahrt?« »Er fragte sich, wer es arrangiert haben könnte, daß ich so etwas unternehme. Ich ... ich sagte ihm, soweit ich wisse, stamme der Befehl vom Präsidenten höchstpersönlich.« »Oh, Jesus mit Krücken!« sagte McCrae. »Wollen Sie mir vielleicht sagen, was das alles soll?« »Sehn Sie mal, Will, wir fliegen jetzt bei genau zweiunddreißigtausend, und alles hier oben schaut ziemlich glatt aus. Ich werde unsern Vogel auf Automatik
legen und nach hinten gehen und mich noch mal umschauen. Sie bleiben brav ruhig hier sitzen und fassen ja nichts an. Schrein Sie, wenn Sie irgendwelche anderen Flugzeuge entdecken. Okay?« »Umschauen? Wonach?« »Ich würde mich bei unserm Flug verdammt viel sicherer fühlen, wenn ich genau wüßte, daß wir nicht was an Gepäck mithaben, was dann plötzlich peng macht.« 528 »Eine Bombe?« Ruckerman spürte ein leises Kribbeln in der Magengrube. McCrae hatte seinen Harnisch aufgeknüpft und war aus dem Sitz geglitten. Gebückt stand er da und schaute zu Ruckerman zurück. »Vielleicht ist es bloß meine angeborene Vorsicht.« Er drehte sich um und verließ das Cockpit, aber seine Stimme war weiter zu vernehmen. »Verdammt! Ich hätte darauf bestehen sollen, mir die Kiste selbst vorher anzuschauen!« Ruckerman kehrte sich um und blickte aus dem Fenster. Sie flogen gerade über eine tiefe Kluft in der Wolkendecke, durch die Dunstglocke tief unten lugte ein Stückchen grauer Atlantik. Es war Wahnsinn. Plötzlich erschien ihm dieser ganze Flug als irgendwie faul. Er fühlte sich versucht, McCrae zu befehlen, er solle umkehren. Aber würde der Mann ihm gehorchen? Und selbst wenn McCrae mitmachte, würde man sie wieder landen lassen? »Das ist ein Trip ohne Rückkehr, bis wir das Gegenmittel haben«, hatte Saddler gesagt. Ruckerman dachte an die dichten Staffeln von Flugabwehrraketen rings um Washington. Eine einzige MUSAM mit ihren Mehrfach-Sprengköpfen mit Wärme- und Bewegungsdetektoren ... McCrae glitt in seinen Sitz zurück und hakte die Gurte wieder zu. »Ich finde nichts, verdammt, gar nichts.« Er blickte prüfend über die Instrumente, dann schaute er zu Ruckerman herüber. »Wie hat man Sie für diesen Job eingefangen?« »Ich war die offensichtlich beste Wahl.« »Aha? Für was?« »Ich genieße das Vertrauen des Präsidenten und seiner wichtigsten Berater. Ich verfüge über das nötige Fachwissen, um ... äh, um den Dingen auf den Grund zu gehen.« »Meine Freunde sagen, Sie sind bloß 'n Gimpel, vielleicht.« »Was meinen Sie damit?« »Ach, es gibt jetzt überall 'ne Menge Haß gegen Wissen529 schaft und Wissenschaftler. Und wie haben Sie sich überhaupt angesteckt?« Ruckerman schluckte. Jetzt kam der schwierige Teil »Ich ... es war ganz blöd. Ich bin in einer der Quarantänestationen durch 'ne falsche Tür gegangen. Sie hätten die Tür nicht unverschlossen lassen dürfen!« »Ja, und vielleicht hätten Sie auch vorsichtiger sein sollen.« Ruckerman suchte in seinem Kopf nach einer Möglichkeit das Gespräch in andere Bahnen zu lenken, dann fiel es ihm ein: »Und wie hat man Sie als meinen Piloten ausgewählt?« »Hab mich freiwillig gemeldet.« »Warum?« »Ich hab 'nen Onkel in Irland. Ist ein richtiger Querkopp. Hat soviel Geld, daß er die Gesamtverschuldung mancher Länder so hinblechen könnte.« McCrae grinste. »Und ich bin der einzige noch lebende Verwandte.« »Ist er noch ... ich meine, er lebt noch?« »Er hat 'nen Amateursender. Und Amateure haben über ihre Sender seine Botschaften weitergereicht. Onkel Mac hat sich da drüben einen Privatbesitz aufgebaut. Und jetzt wird's Ihnen an die Nieren gehn: er ist dabei, die alte Druidenreligion neuzubeleben - Verehrung der Bäume und den ganzen Zauber.« »Aber - das klingt doch irre.« »Nein, nicht irre, nur sonderbar.« »Und Sie sind der einzige Erbe? Wie können Sie da sicher sein, oder besteht das Erbrecht immer noch ... Es hat sich einiges verändert, das wissen Sie doch?« McCrae zuckte die Achseln. »Onkel McCrae und ich sehen uns ähnlich wie ein Ei dem andern. Wahrscheinlich mochte er mich darum immer ganz gern. Und wie die Dinge jetzt mal liegen, was für 'ne bessere Chance finde ich denn, als wenn ich da rübergeh und mich um meine eigenen Interessen kümmere?« »Na, ich wünsch Ihnen jedenfalls Glück.« »Ich Ihnen auch, Will. Sie werden's brauchen können.« 530 »Ich begreife noch immer nicht, warum Sie mit einer Bombe gerechnet haben?« »Weil ich Sachen über Turkwood weiß, die die meisten Leute nicht mal zu flüstern wagen würden.« »Sie kennen ihn?« »Aus der Zeit vor der Pest und auch seither - per Telefon. Und das beunruhigt mich nämlich, Will. Ich weiß da Dinge, die er sicher am liebsten ganz ausgelöscht haben möchte. Aber was Sie angeht, ich kann mir einfach nicht denken, warum er Sie aus dem Weg haben will - es sei denn, er nimmt sie einfach so als 'nen weiteren auf der Liste in Kauf.« Ruckerman versuchte mit trockenem Hals zu schlucken. Ihm fiel ein, wie vorsichtig Saddler gewesen war. Kein
Wort über das, was er in seinem Aktenkoffer mitbrachte, das spezielle Forschungsprogramm des Computerchefs DA, kein Wort davon dürfe zu Turkwood dringen. Das war der Grund für diese lächerliche Gaukelei in der Quarantänestation gewesen. Ansteckung durch einen Zufall, pah! »Sind Sie okay?« fragte McCrae. »Sie sehn so'n bißchen grün aus.« »Aber das ist wahnsinnig«, murmelte Ruckerman. »Es ist absolut lebenswichtig, daß ich nach England komme! Und Sie müssen nach Irland und rausbekommen, ob die wirklich O'Neill haben. Mein Gott, wenn es wirklich O'Neill wäre und man ihn bewegen könnte zu reden!« »Wenn«, sagte McCrae. »Wenn die wirklich O'Neill haben und wenn der Saukerl noch am Leben ist. Ich weiß nich', Will. Also wenn ich in Irland wäre und kriegte den Typ in die Finger ...« »Sie wissen dort genau, wie wichtig es ist, ihn zu schützen!« »Ach ja? Und was für 'nen Unterschied macht es schon für die? Was können die noch verlieren?« McCrae schnallte wieder die Gurte auf. »Ich geh noch mal nach hinten und schau mir das noch mal an. Gleicher Drill: Nichts anfassen, Wül!« »Mister McCrae?« 531 »Aber nennen Sie mich doch Mac!« »Ja, also, Mac ...« Ruckerman schüttelte den Kopf. »Nein, das wäre zu verrückt.« »Nichts ist heut mehr zu verrückt. Was macht Sie nervös?« »Sowohl Dr. Saddler wie der Präsident selbst legten allergrößtes Gewicht darauf, daß dieser Flug ... äh ... vor Turkwood Geheimbleiben sollte, jedenfalls bis ...« »Geheim? Warum?« »Ich ... äh ... ich weiß es nicht.« »Sie wissen es, aber Sie werden's mir nicht sagen. O Jesus! Ich hab noch 'ne heiße Ladung an Bord!« »Es tut mir leid, Mac, aber vielleicht sind das ja alles nur Ausgeburten unserer übererregten Phantasie. Es gibt Zeiten ...« »Es gibt Zeiten für sehr rege Phantasie, und wir sind mitten drin!« McCrae starrte auf das Instrumentenbord. Dann berührte er einen weißen Knopf über der Ventilkonsole. Über dem Knopf flammte ein rotes Licht auf. »Könnte sein, weil wir zu schnell sind«, murmelte er. Er schaltete den Autopiloten aus, nahm die Hebel und drückte sie leicht zurück. Ruckerman starrte auf den Luftgeschwindigkeitsmesser, der wieder auf das grüne Band zurückkroch und dann bei 120 stehenblieb. Wieder beruhte McCrae den weißen Schalter. Und wieder blinkte das rote Licht auf. »Vielleicht bloß 'n Leitungsfehler«, sagte McCrae. »Was machen Sie denn?« fragte Ruckerman. McCrae stieß die Hebel nach vorn, überprüfte den Kurs und schaltete die Automatiksteuerung wieder ein. Sie waren inzwischen über dem weiten Ozean, und unter ihnen breitete sich eine dünne Wolkenschicht aus. Die Sonne war sehr hell, weiße Funken schienen von den Wellen zu sprühen. »Es gibt da so'n kleines Schaltbarometerding, das schon mehrfach benutzt wurde«, sagte McCrae. »Meine Freunde haben mich gewarnt, daß Turkwood das besonders gern mag. Es ist mit 'nem Päckchen Plastiksprengstoff verbunden, und das ganze Dings sitzt irgendwo im Landefahrwerk. Wenn 532 man das Fahrwerk rausfährt, wird die Bombe aktiviert, und wenn du dann unter 'ne bestimmte Höhe kommst, rumms, kapowiel« »Was ... was für eine Höhe?« »Vielleicht ein paar hundert Meter. Ganz am Schluß, wenn du schon anfliegst, das Feld genau vor dir, und du kannst verdammt gar nichts mehr dagegen machen. Keine Zeit mehr, mit 'nem Schirm abzuspringen, vorausgesetzt, du hast einen, was bei uns beiden nicht der Fall ist. Direkt da drunten, wo du dich dann mit Sicherheit in winzigen Fetzchen über die Landschaft verteilst. So der richtige Scheiß für ein Heldenbegräbnis mit deinen Überresten innem Helm.« »Helm?« »Nun, sie finden allenfalls soviel von deinem Körper, daß sie damit 'nen Standard-Pilotenhelm vollkriegen.« »Was für Beweise haben Sie, daß ...« »Das kleine rote Lämpchen da. Notschaltungsbestätigung. Grün heißt, Fahrwerk oben und eingerastet oder drunten und eingerastet, je nachdem, was sich droben an dem Anzeiger meldet.« McCrae deutete auf einen weiteren Schalter über seinen rechten Knie. Ein grünes Licht >Gear up< glühte über dem Schalter. »Wenn ich also meine Tests mache, sagt das Licht, das Fahrwerk ist nicht oben, aber wir fliegen trotzdem, als wäre alles in Ordnung.« »Ist keine andere Erklärung möglich?« »Fehler in den Leitungen. Aber, Jesus! 'ne ganze Mechanikerabteilung hat diese Maschine durchgecheckt.« Ruckerman überdachte das einen Augenblick lang. Er holte tief Luft und schüttelte dann den Kopf. »Es ist die reine Paranoia!« »Bei Turkwood? Da geh ich am liebsten ganz sicher!«
Ruckerman spürte, wie Zorn ihn zu überwältigen drohte. Es war ein Gefühl, das er tief verabscheute. Das Hirn arbeitete nicht korrekt unter dem Einfluß starker Gefühle. Rationales Denken - die Welt würde nur eine Zukunft haben durch rationales Denken. Die Wissenschaft versagte, wo das rationale Denken versagte. Aber sein Zorn stieg weiter an. 533 »Und was, zum Teufel noch mal, können wir dagegen tun?« fragte er. »Wie können wir uns vergewissern, ob Ihr Verdacht auch nur ...« »Lassen Sie mich darüber nachdenken, Will.« McCrae checkte nochmals die Instrumente und den Autopiloten überprüfte ihre Position und lehnte sich dann in den Sitz zurück. Er machte die Augen zu. Ruckerman beobachtete ihn. Er schämte sich über seinen heftigen Zornesanfall. Ein Gimpel! Nein, die Vermutungen McCraes waren wohl doch bloß reine Hirngespinste. Das Computerprogramm, die Zusammenfassung anderer Projekte, das ganze Material dort hinten in seinem Aktenkoffer und O'Neill womöglich in Irland! O Gott! Vielleicht bot sich ihm sogar die Chance, den Mann persönlich zu befragen. Was konnte denn wichtiger sein als dies? Der Präsident mochte ja ziemlich viel anstellen, um an der Macht zu bleiben und seinen Teil der Welt in Ordnung zu halten, aber er würde dafür ganz zweifellos nicht die Bemühungen um ein Gegenmittel gegen die Pest aufs Spiel setzen. Langsam begann Ruckerman sich eines fremdartigen Geräusches bewußt zu werden. Er schaute zu McCrae hinüber. Der Mann schnarchte friedlich vor sich hin! Wie konnte der schlafen, nach ... nach ... Dann gab McCrae einen letzten lauten Schnarchlaut von sich, setzte sich aufrecht und öffnete die Augen. »Die haben doch Seen in England«, sagte er. »Ein hochgelegener See ... oder vielleicht auch ein hochgelegenes Feld.« Er griff links an seinem Sitz hinunter, wühlte in einem Packen Karten, holte eine herauf und breitete sie vor sich aus. Er überflog die Karte, und die dicken Lippen mahlten dabei. »Jaah. Ha, da ist ein hübscher hoher See, genau da direkt über Abeffeldy.« Er stopfte die Karte wieder zurück. »Wir tun einfach so, als hätten wir 'nen Motorschaden, und dann ... sivuuusch!« »Wie weit sind wir dann von Huddersfield weg?« fragte Ruckerman. »Machen Sie sich keine Gedanken, Will«, sagte McCrae. »Sie sind 'n VIP. Sie werden in 'ner dicken Limousine rumkut534 schiert werden. Ich, ich bin bloß Kroppzeug, kleine Kartoffeln ... Ich werd mir 'ne Möglichkeit suchen müssen, nach Irland heimzukommen. Und dort dann zu meinem Onkel Mac.« McCrae drehte sich herüber und grinste Ruckerman an. Es war ein breites Zähnefletschen in diesem Kastenschädel. »Und außerdem bin ich der Kapitän auf diesem Schiff hier, und ich bestimme, wohin es geht.« Ruckerman schaute ihn finster an. Dann wandte er sich weg. Ungesunder Argwohn! Aber ... ein paar Stunden Verzögerung ... Was spielte das noch für eine Rolle? Solange McCrae nur zufrieden war. Dieser selbstsüchtige Bastard! Gedankenlos, der Kerl! Und dann kroch ein anderer Gedanke in Ruckermans Kopf. Er wandte sich wieder McCrae zu. »Angenommen, es ist da wirklich ein Sprengsatz in unserm Flugzeug, was ist, wenn es so eingestellt ist, daß es nach einer bestimmten Zeit hochgeht?« McCrae blickte ihn an. »Dann sind wir Fischfutter.« Die lange Leiter rauf Und dann der kurze Strick Zur Hölle mit König Billy, Und schmeißt den Papst ihm obendrauf1. Songs of the New Irland John saß ganz hinten in dem Panzerwagen. In der Stahlwand an seiner Seite war nur ein schmaler Schlitz, durch den er die vorbeiziehende Landschaft sehen konnte: alles grün, üppig grün im Morgenlicht. Es war kalt draußen, und der Stahl ließ ihn frösteln, wenn er dagegen stieß. Der Sitz war ungepolstert. Vor ihm saßen der Priester und der Junge, der Junge zusammengerollt, den Kopf an der Brust des Priesters. Der Fahrer vorn und der bewaffnete Soldat neben ihm waren ein stummes Paar, rotwangige Milchgesichter in Feldgrün, beide schwarzhaarig, und in ihrem Verhalten ein seltsamer Zynis535 mus, als lauschten sie einem unsichtbaren Sprecher, der sie vor den schrecklichen Dingen warnte, die da kommen würden. Etwa hundert Meter vor ihnen fuhr ein zweiter Panzerwagen, zwei weitere folgten ihnen, alle drei waren vollbemannt. Auf dem ersten Wagen war ein Geschütz. Von Herity war nichts mehr zu sehen gewesen, seit John ihn zuletzt erblickt hatte, wie er auf das KilmainhamGefängnis zugesteuert hatte, und weder der Priester noch jemand sonst konnte - oder wollte - ihm sagen, wo er geblieben sei. Der Priester beugte sich vor, machte sich von dem Jungen an seiner Seite frei, und der gab ein schlaftrunkenes Stöhnen von sich. Der Priester redete mit dem Fahrer, aber John konnte nicht verstehen, was er sagte. Die Antwort des Fahrers allerdings war deutlich bis nach hinten vernehmbar. »Wir nehmen die Strecke, die relativ sicher ist, Pater. Der weite Wege ist in dieser Zeit oft der kürzeste.«
Der Priester nickte und lehnte sich wieder zurück. Der Panzerwagen hüpfte und schwankte über Straßenaufbrüche. Die Straße wand sich durch Berge aufwärts, bot ab und zu einen Durchblick durch Schneisen zwischen Nadelholz auf die Irische See und auf Häuser mit rauchenden Schornsteinen - auf Placken schimmernden Eises, wo immer John frisches Wasser in den Brüchen erspähte. Es war eine Landschaft von solch schlichter Großartigkeit, daß sie in John ein Gefühl zuckender Unruhe hervorrief und O'Neill-im-Kopf zu hohlen Wimmerlauten, leisen Schreien aufstörte, und dahinter immer dieser gräßliche Schrei in den tiefen Höhlen des Gehirns. Dieser Blick zum Meer hinunter dürfte nicht so heil und unberührt sein. Es müßte Anzeichen dafür geben in dieser Landschaft, daß das alte Irland verschwunden sei. Denn sonst... - wozu das Ganze? Der Fahrer drehte den Kopf zu seinem Beifahrer und sagte etwas. John hörte nur die zwei letzten Worte, die lauter gesprochen wurden, als das Rumpeln des Panzerwagens am Beginn einer steilen Steigung lauter wurde. 536 »... aber jetzt ...« Diese beiden Worte am Ende einer Äußerung, ihre Wiederholung, immer die zwei gleichen Worte, und danach nichts mehr ... das traf John, als wäre es das neue Kennzeichen des neuen Irland. Es beschwichtigte O'Neill-imKopf und gab John Gelegenheit, in Ruhe nachzudenken. »... aber jetzt ...« Eine passendere Bezeichnung für die Jetztzeit konnte kaum gefunden werden. Nichts mußte auf diese Worte folgen. Einst hatte der Mensch geglaubt, er könne jedes Problem lösen, sei es wissenschaftlicher oder anderer Natur, wenn er sich nur peinlich genau und hartnäckig und mit bestem Wollen daranmachte, mit einer Geduld, die sich um Zeit nicht kümmerte. So immerhin waren die Wissenschaftler gewohnt zu denken. Aber jetzt ... Was konnte er im Labor in Killaloe ausrichten? Würden sich die düstersten Befürchtungen Dohenys als wahr erweisen? Das durfte nicht sein! John erinnerte sich an den Abschied von Doheny an diesem Morgen. Es war in der dunklen Stunde vor der Dämmerung gewesen, eisigkalt in dem Büro. Das Licht über dem Schreibtisch war eine gelbe Insel im trüben Dunkel gewesen. Doheny war damit beschäftigt gewesen, ganze Stapel von Papieren abzuzeichnen, die er nacheinander einem alten Mann reichte, der an seiner Seite stand - ein krummrückiger alter Knabe, der die Papiere mit gichtknochigen Fingern entgegennahm, sie auf dem Tisch glattstrich, ehe er mit ihnen verschwand. Die ganze Zeit war zwischen den beiden Männern kein Wort gesprochen worden. John hatte sich damit beschäftigt, im Büro umherzugehen. Er hatte sich die Fotos an den Wänden betrachtet, in dem trüben Licht mußte er ganz nahe herangehen und die Augen anstrengen. Vor einem blieb er stehen, weil ihn das Rätselhafte an diesem abgebildeten teilweise verwischten Aufruf auf einer Backsteinmauer fesselte. Er versuchte den Wortlaut zu erraten. »WEN S NFORMA ABEN ÜB ORDANSCHL GE - ERPRES 537 NGSVE UCHE ODER ERROR KTIO EN - UFEN SI - ÖLLIGJ ERTRAULICH - BEL AST 65 155.« Doheny bemerkte Johns Interesse an dem Foto und sagte: »Ich hab mir das als Mahnung aufgehängt. Es hat wohl nie viel genutzt. Worte statt Taten. Nichts als Worte, und kaum je etwas Vernünftiges getan. Aber die Botschaft ist trotzdem da, und die Machthaber in Ulster haben sich viel davon versprochen. Das Ding bietet eine interessante Vergleichsmöglichkeit mit unserem jetzigen Problem. Wenn man die fehlenden Lettern ergänzt so: Wenn Sie Information haben über Mordanschläge - Erpressungsversuche oder Terroraktionen rufen Sie - völlig vertraulich - Belfast 65-155 an.« John drehte sich um und schaute auf den sitzenden Mann hinunter. Er verspürte eine Woge von Aufruhr in sich hochsteigen. Terroraktionen! »Der Verrückte hat uns eine Botschaft geschickt, in der Teile fehlen«, sagte Doheny. Er wies mit dem Kinn auf das Foto. »Der Aufruf da hat in Derry gehangen. Belfast war die zentrale Sammelstelle für Informationen.« John sprach langsam, während er weiter auf das Foto starrte. Terrorismus? »Informationen über Leute wie Joseph Herity?« »Und über die von den Protestanten ebenfalls. Es bedeutete für einen Menschen keinen großen Unterschied, ob er zur Zielscheibe der Kugeln und Bomben der einen oder der anderen Seite wurde.« John drehte sich langsam um, widerstrebend. Doheny blickte ihn mild von unten herauf an. In den dunklen Augen ein leichtes zynisches Funkeln. Der Mann sah in dem gelben Lichtschein wirklich auf absurde Weise wie ein wuschelköpfiger Troll aus, während der Morgen das Fenster hinter ihm grau werden ließ. »Damals hatten wir an die sechzigtausend Seelen dort«, sagte Doheny. »Aber jetzt ... ich schätze nicht mehr als vier-, fünftausend Männer, die dort im ganzen Umkreis leben. Eine Stadt stirbt ohne ihre Frauen.« John räusperte sich, sagte aber nichts. 538 »Städte leben vom Handel«, sagte Doheny. »Aber der Handel ist abhängig davon, daß die Menschen ein festes Heim haben. Eine Stadt...« Er blickte zu dem Foto hinter John. »Eine Stadt ist ein Ort für Handwerker, für Ladenbesitzer, für Dienstleistende und so weiter. Aber die Frauen bilden den innersten Kern des Handels in einer Stadt. Männer ohne Frauen werden aufs Land zurückgetrieben, sind gezwungen, sich ihre Nahrung aus dem Dreck zu schaufeln und müssen neuentdecken was es heißt, ein Hauswirt zu sein. Komisches Wort übrigens.« John starrte auf den oberen Fensterrahmen, er vermochte dem stechenden Blick Dohenys jetzt nicht zu
begegnen. »Das Farbfoto rechts davon zeigt den gleichen Aufruf vom anderen Flußufer. Da, der kleine weiße Fleck! Man kann ihn aus der Entfernung nicht lesen, selbst wenn die Schrift intakt wäre.« John drehte sich um und betrachtete das Foto. Eine Studie der Altstadt von Derry, die Steinmauern von den Kämpfen der Jahrhunderte zernarbt und zahnlückig ... schmutzigbraune Felsen, die über dem River Foyle aufstiegen ... und tief unten an einer Seite, das kleine weiße Rechteck mit der schwarzen Schrift... »Die Männer, die dort noch hausen, wollen nicht fort«, sagte Doheny. »Aber die Lohntüte hat ihren Zweck verloren. Auch die Männer werden bald fort sein. Es ist nämlich die Lohntüte, wissen Sie, John. Die Grundlage für die Existenz der Familie, die Quelle für Wohnung, Nahrung, Kleidung, Freizeitvergnügen. Und, ich frage Sie jetzt ganz direkt, John, was glauben Sie, wieviele Möglichkeiten, eine Lohntüte zu bekommen, gibt es heute noch in Derry?« John drehte sich zu Doheny und seinem hypnotischen Blick um. »Nicht ... nicht mehr viele.« »Und was für einen Zweck haben unvollständige Nachrichten?« fragte Doheny. »Aber wir sind halt literarisch so eingebildet und hartnäckig, daß wir nicht aufgeben.« John trat von der Wand weg, ging um den Tisch herum zu dem unbequemen Holzstuhl. Etwas in diesen Fotos hatte ihn 539 angesteckt, ihn vergiftet! Der Stuhl war kalt und hart. Doheny verfolgte ihn mit den Augen, ohne zu blinzeln . Als er jetzt durch den Schlitz in dem Panzerwagen starrte dachte John über dieses Gespräch nach. Der Konvoi überquerte soeben ein breites Hochmoor mit frischgestochenen Torfziegeln in sauberen Stapeln. Über jeden Stapel war schwarze Plastikfolie gebreitet und durch Steine beschwert Der Anblick war dermaßen alltäglich und normal, daß J0hn spürte, wie O'Neill-im-Kopf davon aufgestört wurde. Plötzlich drehte sich der Priester um und starrte John ins Gesicht. »Sie stechen ja noch immer Torf«, sagte John. Der Priester sprach leise, um den Jungen an seiner Seite nicht zu stören. »Der Damm des Wasserkraftwerks bei Ardnacrusha wurde schon ganz früh gesprengt. Wir haben jetzt nur noch die Torfkraftwerke, und es gibt nicht mehr viele Männer, die im Moor arbeiten wollen.« John bemerkte, daß der Priester sich einen grauen Sweater mit V-Ausschnitt und weißen Knöpfen unter seine schwarze Anzugjacke gezogen hatte. In der Farbe ähnelte der Pullover stark einem, den ein zahnloser alter Wachmann im Hof des Krankenhauses getragen hatte. Statt seines Hutes trug der Priester jetzt eine schwarze Schirmmütze. Doheny hatte John dort mit dem alten Wachmann alleingelassen und war gegangen, >um nachzusehen, warum es mit den Wagen so lang dauerte Der Sweater des alten Mannes war handgestrickt gewesen, aus dicker Wolle und mit diesen kleinen Unvollkommenheiten behaftet, wie sie nur Handarbeit aufweist. John hatte dagestanden auf den kalten Steinen, und die feuchte Kälte des Morgens war ihm so recht bewußt geworden. Im Himmel gab es kleine Flecken Blau, der Dunst bewegte sich in die Höhe. Immer wieder kehrte seine Aufmerksamkeit zu dem alten Mann zurück, der da so aufmerksam und stumm Wache hielt. Und diese magere Brust unter dem grauen Sweater. Die Hände seiner Frau haben diesen Pullover gestrickt, dachte 540 John. Und im gleichen Augenblick, da er das dachte, zog der alte Mann den Pullover enger an sich gegen den Frost. Das Stück klaffte, unten fehlte ein Knopf. Die Maschen sahen verdreckt aus, so als wäre der Sweater nie gewaschen worden, und John dachte: Der alte Mann will diese ferne Berührung mit ihr haben, durch das Kleidungsstück, an dem ihre Finger gearbeitet haben. Er hörte O'Neill-im-Kopf flüstern: »Ist denn gar nichts mehr übrig, was Mary berührt hat?« Tränen brannten ihm in den Augen. Der alte Mann schaute in Richtung auf ein Geräusch hin, draußen vor dem Hof, legte den Kopf schief und lauschte, und als er sich wieder umdrehte, war die Wachsamkeit aus seinem Blick verschwunden. Es war ein verwittertes Gesicht, stumpfe unintelligente Augen, ein Mund ohne Zähne - weiter nichts. Er sprach mit brüchiger Stimme: »Sie sind der, was mit dem Priester gekomm' is'?« »Ja, das stimmt.« »Dann warnen Sie den, der soll hier bloß nich' mit seiner Kirche und seiner Messe antanzen!« sagte der alte Mann. »Ich wer' ihm die Kutte um die Gurgel zudrehn, wenn er das versucht.« John war überrascht, wie stark und bitter die alte Stimme klang. Es war in ihr eine Kraft, die sich nicht bis in die Augen erstreckte, die den schlaffen Mund nicht berührte, so als wäre dieses zahnlose Loch nur eine mechanische Sprechvorrichtung für eine Botschaft, die von ganz tief innen kam. »Sie möchten nicht, daß Pater Michael die Messe zelebriert?« vergewisserte sich John. »Zelebrieren!« Der alte Mann spuckte auf die Steine im Hof, dann sagte er mit schwacher Stimme, als habe das eine Wort seine Kraft aufgebraucht: »Ich bin 'nen alter Mann, und die Zeit, wo ich noch frisch und lustig war, is' lang vorbei. Ich hab keinen Saft mehr in mir, und ich geh nich' mehr in die Messe, weil ich dort immer zuviel dran denken muß, wie meine Fiona da immer gekniet und gebetet hat.« Auf einmal kehrte Feuer in die brüchige Stimme zurück: »Und was ha-
541 ben ihre ganzen Gebete mir gebracht, außer daß ich jetz' gar allein bin?« John spüre O'Neill-im-Kopf, den stummen Beobachter den dieser zahnlose Mund und die bitteren Worte, die er sprach, faszinierten. »Ich bin um Mitternacht gebor'n, und ich kann die Schatten von den Toten sehn«, sagte der alte Mann. »Un' wenn ich die Augen richtig zukneifen tu und lang genuch auf die gleiche Stelle schau, dann seh ich da meine Frau am Feuer, so wirklich wie im richtigen Leben, wie sie mir mein Porridge zum Frühstück kocht.« Der alte Mann kniff die Augen zusammen und spähte in den hinteren Teil des Hofes. Seine Stimme sank nun fast zu einem Flüstern ab. »Aber es is' nich' wie die Erinnerung an 'nen alten Schmerz. Die kann man nämlich wegkriegen, wissen Sie. Das da issen Schmerz, der bleibt Ihn'! Den könn' Sie spüren, ohne dasse es wissen. Der sitzt im Schädel, mitten drin, und der hört nich' auf, nich' vor dem Grab.« Er schüttelte schwach den Kopf. »Aber vielleicht' nich' mal dann.« Doheny kehrte dann zurück, kam unter dem Eingangsbogen über die Steine herüber - ein merkwürdig kraftvoller Schritt für solch einen schwerleibigen Mann. Der Alte grüßte ihn matt, als er bei ihnen anhielt. »Sie holen jetzt gerade Pater Michael und den Jungen«, sagte Doheny. »Die sollten jede Minute hier sein. Hat Ihnen der alte Barry hier mit einer seiner Geschichten die Zeit gut vertrieben?« John nickte. Doheny klopfte dem alten Mann auf die Schulter. »Geh Sie rüber zum Eingang, Barry! Winken Sie, wenn die kommen! Wir kommen dann zu Ihnen raus.« Doheny ließ den Alten nicht aus den Augen, während zu John sprach. »Manche unter uns leben nur von der Hoffnung auf Rache.« Er streifte John mit einem raschen Blick. »Manche leben nur in Verzweiflung, und andere leben, indem sie sich jedem Vergnügen hingeben, das sie finden kön542 „en - dem Suff, Drogen, scheußlichen sexuellen Ersatzhandlungen, ohne Hoffnung auf Kinder.« Er nickte hinter dem alten Mann drein, der sich mitten unter dem Einfahrtstorbogen postiert hatte und nach rechts Ausschau hielt. »Der Barry da, der hat nur noch den einzigen Wunsch im Leben, er will den Verrückten sehen und ihm eine Frage stellen: >Bist du zufrieden mit dem, was du getan hast?<« Und wieder warf Doheny John einen kurzen Blick zu. »Wir alle sind schon fast jenseits der Grenze der Erschöpfung.« Er räusperte sich, und John dachte, er werde ausspucken, aber Doheny schluckte. »Wir haben alle unsere verschiedenen Methoden, der Wirklichkeit nicht ins Auge schauen zu müssen. Und wenn uns einer zwingen würde, uns ihr in jedem Augenblick unserer Tage zu stellen, dann würden wir alle wahnsinnig werden.« Auf der Straße draußen, noch fern, konnte man mehrere Fahrzeuge rollen hören. Der alte Mann beugte sich vor und starrte in die Richtung. Doheny sagte: »O'Neills Rache, glaube ich, war seine Methode, seiner eigenen Wirklichkeit auszuweichen. Und die Terroristen, die ihn in seine Wut und Empörung getrieben haben, deren Bombe war auch nur ihre Methode, sich ihrer eigenen Wirklichkeit zu entziehen.« Wieder schaute er John mit festem Starren an. »Sie würden hier seltsamerweise sogar hie und da einen Funken Sympathie für diesen armen Irren finden können. Für O'Neill.« John rieb sich am Hals, er konnte den Blick nicht von Doheny s Augen wenden. »Wenn einer keine Alternative zur Verzweiflung findet, kann es passieren, daß er zerspringt«, sagte Doheny. »Uns standen nur die Rollenmodelle unserer Väter zur Verfügung, die Beispiele in der Kirche und im Staat und in der Familie -gewalttätig, wuterfüllt und schmerzlich.« Doheny wandte sich wieder dem Tor zu. »Ahhh, da sind sie ja endlich.« John blickte auf und sah, wie der alte Mann ihnen heftig zuwinkte. Hinter ihm war ein olivgrüner Panzerwagen aufgetaucht. »Wenn Sie am Killaloe ankommen«, sagte Doheny, »dann 543 lassen Sie sich was Frisches zum Anziehen geben, Sachen die Ihnen passen. Sie sollen es doch wenigstens bequem haben.« Auf der Fahrt nach Killaloe in dem Panzerfahrzeug kehrte John immer und immer wieder in Gedanken zu dieser seltsamen Szene im Hof des Hospitals zurück - der Alte und Doheny. Es war wie eine Theaterszene, die ausschließlich für ihn gespielt wurde. Aber mit welcher Absicht? War es eine Fangexpedition, die es auf O'Neill abgesehen hatte? O'Neill-im-Kopf verhielt sich stumm. Kein Seufzen, kein Flüstern, nicht einmal die Echos der Schreie, auch nicht das Heulen wie von einem verstoßenen Hund. Und das war der schrecklichste unter allen Lauten - das Geheul. Der Alte im Hospitalhof blieb lästig bei ihm. John empfand Sympathie für ihn. Es war die gleiche Sympathie, die er für O'Neill in sich spürte. Beide hatten einen tragischen Verlust erlitten. Und was konnte der arme alte Kerl schon dagegen tun? Vor einer Tür Wache schieben? Nachrichten für Doheny überbringen? Vielleicht. Irgendwie seine Tage ausfüllen, bis er dann endlich sterben würde - allein und verlassen. John hatte sich nie solche alten Männer in Irland vorgestellt - und im übrigen auch keine stummen Jungen. Auf einmal glitten John Tränen über die Wangen. Er drückte die Lider zu, um sie aufzuhalten, und als er die Augen wieder öffnete, sah er, daß der Priester ihn über die Rückenlehne seines Sitzes anstarrte.
John klopfte auf den Platz an seiner Seite. »Pater, bitte setzen Sie sich zu mir.« Sacht, um den schlafenden Jungen nicht zu stören, hob der Priester den Kopf von seinem Schoß und glitt unbeholfen zu John nach hinten, stieß gegen ihn, als der Wagen um eine enge Kurve bog und sank schließlich auf den Platz neben John. »Was ist, John?« fragte der Priester. »Ich möchte Ihnen beichten, Pater. Sind Sie bereit?« flüsterte John. 544 Endlich ist es soweit, dachte der Priester. Vorahnungen auf diesen Augenblick hatten ihn gequält, seit er John erstmals da a0i See erblickt hatte - diesen absonderlich haarlosen Schädel, das zerquälte Gesicht, das nun von einem Bart bedeckt war - aber diese Augen, in ihnen brannten noch immer schreckliche Feuer. »Natürlich will ich Ihre Beichte hören«, sagte der Priester. John wartete, während der Priester seinen Pack unter dem Sitz hervorholte und sich für das uralte Ritual rüstete. Er empfand Ruhe in sich, größere Ruhe, als er sie seiner Erinnerung nach je empfunden hatte, seit... seit... Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals so ruhig gewesen zu sein. Der Priester neigte sich zu ihm herüber. »Wie lange ist es seit Ihrer letzten Beichte, mein Sohn?« Die Frage verwirrte John. Er hatte im Leben noch niemals gebeichtet. John Garrech O'Donnell hatte noch nie die Worte gesprochen, die nun auf seiner Zunge lagen. Er sprach sie aus: »Vergeben Sie mir, Vater, denn ich habe gesündigt.« »Ja, mein Sohn. Worin haben Sie gesündigt?« »Vater ... ich trage ... John Roe O'Neill in mir.« Über das Gesicht des Priesters huschte ein Ausdruck der Verwirrung. Er flüsterte heiser: »Sie ... Sie sind O'Neill?« John starrte ihn an. Wieso begriff denn der Priester nichts? »Nein, Vater, ich bin John O'Donnell. Aber ich habe O'Neill in mir drin.« Die Augen des Priesters weiteten sich, sie schienen zu fiebern vor Faszination. Er hatte bei einem guten Jesuiten Psychologie gelernt. Pater Ambrose Dreyfus, promoviert und ein Experte für Freud und Jung und Adler und Reich und die Spielarten dazwischen. Begriffe wie Schizophrenie, Bewußtseinsspaltung, Spaltungsirresein waren Pater Michael nicht fremd. Doch dies hier! Die Ungeheuerlichkeit darin ... die Gefahr ... Doch die Gewöhnung an den Beichtstuhl schützte ihn. »Ja, mein Sohn. Bitte sprechen Sie weiter.« Weiter? John saß verwirrt da. Wie konnte er weitersprechen? Er hatte doch alles gesagt. Er kam sich vor - es war ein 545 absurdes Bild - wie eine vergewaltigte Frau, die von ihrem Angreifer schwanger ist und die ein Gynäkologe, ein Mann natürlich, fragt: »Und was haben Sie sonst noch für Symptome?« Als John beharrlich schwieg, fragte der Priester: »Ist es der Wunsch von O'Neill durch Ihren Mund die Beichte abzulegen?« John spürte die schreckliche Bewegung in seinem Innern, spürte, wie der Schrei heraufdrängte. Das Geheul. NEIN! Er preßte die Hände auf die Ohren, wußte aber im gleichen Augenblick, daß nichts imstande sein würde, dieses schreckliche qualvolle Gebrüll von ihm fernzuhalten. Der Priester spürte Johns Bestürzung und sagte mit gezwungen ruhiger Stimme: »Sie möchten also selbst beichten?« Mehrere unendlich lange Herzschläge lang, blieb John vollkommen bewegungslos. Er ließ die Hände erst wieder von den Ohren sinken, als er spürte, daß die Ruhe ihm zurückkehrte. »Ja, meine eigene Beichte«, flüsterte er. Der Priester wurde gegen John geschleudert, als der Wagen um eine furchendurchzogene Biegung fuhr. Der Motor jaulte laut auf, als er auf einen niedrigeren Gang geschaltet wurde. Der Priester warf einen Blick nach vorn. Der Fahrer und der Mann neben ihm schienen nichts von dem Drama bemerkt zu haben, das sich hinter ihnen abspielte. Der Junge schlief immer noch. John schob den Mund nahe an das Ohr des Priesters und flüsterte: »Die Last ist furchtbar, Vater.« Der Priester in Pater Michael merkte, daß er hier nur zustimmen dürfe. Ein bestürzendes Gefühl von Mitleid überwältigte ihn. Dieser arme Mensch! In den Wahnsinn getrieben ... - und dennoch kommt er hierher zu uns, in der scheuen und hartnäckigen Gestalt dieses John O'Donnell! Und will helfen! Und in ihm steckt ein in den Irrsinn gestürztes Geschöpf Gottes, das versucht, all das schreckliche Unrecht wiedergutzumachen. 546 »Helfen Sie mir, mein Vater«, flehte John. Pater Michael legte John die Hand auf den Kopf. Er spürte, wie sich bei der Berührung Johns Nackenmuskeln spannten und dann lösten, als John den Kopf neigte. Wie kann man eine solche Angstschuld von ihm nehmen? dachte der Priester. Und welche Buße könnte hier gerecht sein? Dann spürte er, daß die andere Person, daß O'Neill, darauf wartete, daß er spreche. »Bitte, Vater!« flüsterte John. Und Pater Michael schaltete auf Automatik um und flüsterte die altvertraute Floskel der Absolution und des
Segens. Blieb nur die Buße zu bestimmen. Was konnte er da nur zuweisen? Wie konnte überhaupt jemand diesem armen Geschöpf helfen? Mein Gott, hilf mir! betete Pater Michael stumm. Und dann breitete sich die Lösung in seinem Bewußtsein aus, und er verspürte eine gnadenvolle Ruhe und Stille, als er sprach. »John, Sie müssen alles tun, was Ihnen möglich ist, um ein Heilmittel gegen diese Pest zu finden. Und das soll Ihre Buße sein.« Er machte das Kreuzzeichen über Johns Stirn. Er hatte das Gefühl, als habe er selbst nun ganz persönlich die Last auf sich genommen, die John gequält hatte. Welcher Priester vor ihm war je in solch ein Dilemma gestürzt worden: ein so furchtbares Geheimnis unter dem Siegel der Beichte wahren zu müssen? Vielleicht hatte nur der Erlöser selbst je solch eine Last getragen. Pater Michael jedenfalls konnte das nicht entscheiden. John saß stumm und in sich versunken da. Die Augen waren fest geschlossen, die Fäuste im Schoß verkrampft. Pater Michael spürte den Tumult, der in diesem Mann tobte. Aber das Geheul hörte er nicht. 547 Eines der Schlüsselmerkmale einer geschlossenen Elitegruppe ist die Empfindlichkeit denen gegenüber die noch mächtiger sind als sie selbst. Elitäre Macht fühlt sich ganz natürlich zu einer Machthierarchie hingezogen und fügt sich säuberlich und gehorsam in die ein, die die höchsten persönlichen Vorteile verspricht. Genau hier liegt die Achillesferse der militärischen, polizeilichen und bürokratischen >Eliten<. JOST Hupp Rupert Stonar, der Wachhund der Regierung für die Forschungsarbeit im Pestlabor Huddersfield, stand direkt im Strahl eines Spotlights in Hupps Labor. Licht blitzte auf Glasbehältern und Glasplatten auf dem Tisch an seiner Seite; das Licht hob rote Töne in seinem wilden sandfarbenen Haarschopf hervor. Sein Gesicht war wie aus Granit. Es war schon nach Mitternacht, aber Hupp hatte keine Ahnung, wie lange danach. Er hatte seine Uhr auf dem Nachttisch vergessen, als er dringend gerufen wurde, und hatte nicht einmal die Zeit gehabt, nach der Uhrzeit zu sehen. Ein grobschlächtiger Bursche von der Royal Marine, den Hupp nie zuvor gesehen hatte, brachte ihn, fast gewaltsam, in sein Labor und verschwand erst, als Hupp direkt vor Stonar stand. Es war sonst niemand da. Hupp fühlte sich in seinem Bademantel irgendwie benachteiligt. Als der Soldat abtreten wollte, sagte Stonar: »Stellen Sie eine Wache auf und lassen Sie keinen sonst hier herein!« »Yessir!« Hupp fand den verächtlichen Ausdruck in Stonars verwaschenen Blauaugen nicht sehr angenehm. Es war ein emsiges Durcheinander von militärischen Typen in den Gängen und auf dem Gelände gewesen - und das gefiel Hupp ebenfalls nicht. Aber er ließ sich nichts davon anmerken. »Was ist los?« fragte er. »Sie stehen an einem kritischen Punkt Ihrer Forschungen«, sagte Stonar. »Wie entscheidend?« Wie hat Stonar das rausfinden können? überlegte Hupp. Er 548 sagte: »Wäre es nicht besser, wenn Sie darüber mit Wycomfre-Finch oder mit Dr. Beckett sprächen?« »Warum schlagen Sie mir nicht vor, ich soll mich mit Dr. Ruckerman unterhalten? Der hat doch schließlich vor kurzem eine eingehende Untersuchung über die Arbeit angestellt, die hier in diesem Labor vor sich geht?« Also wußte Stonar auch schon, was Ruckerman mitbrachte. Die Sache könnte eventuell unangenehm werden. Er sagte: »Ruckerman wäre dafür eine gute Adresse. Wo ist er?« »Er wird zu mir gebracht, wenn ich für ihn Zeit habe.« »Aber warum reden Sie dann mit mir?« fragte Hupp. »Weil ich sichergehen muß, daß ich die Wahrheit erfahre. Ihre Familie lebt näher und ist für uns leichter zu erreichen. Und die Folgen, falls Sie mich belügen, würden für Sie äußerst schmerzlich werden.« Jedes Wort wurde mit einer flachen monotonen Stimme gesprochen, und Hupps Magen krampfte sich zusammen in plötzlicher Furcht. Genine und die Jungs! Hupp wußte nur allzugut, wie fragwürdig ihre Sicherheit im Reservat in der Dordogne war. »Wie weit sind Sie gekommen?« »Wir stehen kurz davor, eine genaue biochemische Darstellung der Seuche liefern zu können«, sagte Hupp. »Und Sie würden dafür Ihr Leben einsetzen?« »Ja!« Hupp starrte Stonar fest an. Er dachte, wie passend doch der Spottname des Mannes war: Stoney. Diese Augen hatte jemand aus Saphiren geschnitten. »Heißt das, das Sie binnen kurzem in der Lage sein werden, die Seuche labormäßig nachzukonstruieren?« »Das ... oder ein Gegenmittel.« »Überzeugen Sie mich mit Beweisen.« Hupp blickte sich in seinem übervollen Labor um. Nirgendwo ein Stuhl zu sehen. Das war kein Ort, den er sich für eine Unterredung gewählt haben würde - viel zu viele Beweise für seine eigne Fahrigkeit und Sprunghaftigkeit. »Es ist ziemlich kompliziert«, sagte Hupp.
»Dann vereinfachen Sie!« 549 Hupp grub in der Tasche seines Bademantels nach seine Brille. Alles wäre ihm jetzt recht gewesen, woran er sich hätte klammern können. Aber der Marinesoldat hatte ihm nicht gestattet, sich anzukleiden, und so fiel ihm ein, daß seine Brille neben seiner Uhr auf dem Nachttisch liegengeblieben war. ]?s war ihm kalt an den Füßen, er trug nur Hausschuhe, und der harte Boden war eisig. »Die Doppelhelix ist umeinandergewunden«, sagte Hupp »Man findet das, zum Beispiel, im Gen für Choleratoxine oder Botulismustoxine, also Fleischvergiftung, und sogar in ganz gewöhnlichen enterischen Organismen.« »Enterisch?« fragte Stonar. »Lebewesen, die im menschlichen Dünndarm leben können.« »Wollen Sie damit sagen, daß es O'Neill gelungen sein könnte, einen gewöhnlichen Organismus zu so was wie Cholera umzuwandeln?« »Könnte? ... - Ja. Aber er hat nicht. Die Seuche ist kein gewöhnliches Virusgenom. Es handelt sich hier um etwas, das die Natur nicht ohne menschliche Beeinflussung hätte hervorbringen können. Sind Sie sich über den allgemeinen Verlauf der DNS-Rückverbindung im klaren?« »Nehmen Sie mal an, ich weiß gar nichts.« Hupp blinzelte. Stonar mußte doch eigentlich gut Bescheid wissen, worum es dabei ging, jedenfalls inzwischen sollte er Bescheid wissen! Er zuckte die Achseln. Dann sagte er: »Es handelt sich um eine Art Trenn- und Neubindungsvorgang, bei dem überwiegend Enzyme verwendet werden. Man zertrennt DNS-Plasmide und führt fremde DNS ein, bevor man das Plasmid dem Träger wieder einfügt. Ein Plasmid ist eine Art Miniaturchromosom, ein Ring aus doppelbändriger DNS, wie er in Bakterien zusätzlich zu dem einbändigen Bakterienhauptchromosom vorhanden ist. Und diese Plasmide verdoppeln sich bei jeder neuen Zellteilung.« »Weiter!« Hupp setzte zum Sprechen an, wurde aber durch einen Lärm draußen im Korridor unterbrochen. Er erkannte die 550 grimme von Wycombe-Finch, und dann sagte jemand anders: »Verschwinden Sie, oder Sie werden mit Gewalt weggebracht!« Stonar schien das nicht zu bemerken. Er fragte weiter: „Was bewirkt dieses neue Genmaterial im Wirtsorganismus?« »Es bringt neue Geninformation mit und erlaubt es der Zelle so, anders zu funktionieren, aber es ist für die Existenz der Zelle nur unter außergewöhnlichen Umständen von Bedeutung.« »Außergewöhnlich? So wie in dieser Pest.« »Genau. O'Neill hat einen höchst subtil abgestimmten Gensatz geschaffen, der sich in einer ökologischen Nische einnistet, die nie zuvor von einem Krankheit erregenden Organismus besetzt war.« »Ihre biochemischen Darstellungen sind noch nicht fertig, und trotzdem wissen Sie schon soviel darüber?« »Oh, wir kamen schon vor einer ganzen Weile zu diesem Schluß. Die Seuche blockiert nicht nur körpereigene Mechanismen, die einen derartigen Angriff bekämpfen könnten, sie blockt auch die lebenswichtigen Enzyme ab und schafft so einen künstlichen, äußerst raschen Pseudo-Alterungsprozeß. Und das Allerschrecklichste ist, daß sich das genau an der richtigen Stelle verzahnt.« »Also die Reißverschlußidee?« »Ja, so etwa.« Stonar schaute sich in dem Laboratorium um. Verdammt unordentlich hier! Genauso mußte das ausgesehen haben, wo diese scheußliche Krankheit erfunden worden war! Stonar schenkt seine Aufmerksamkeit wieder Hupp - einem Typ, den er für einen >kleinen hinterhältigen französischen Froschschenkelfresser< hielt. Diese Typen logen ja fast immer! »Kann das aus seiner Verankerung herausgelöst werden?« fragte Stonar. »Diese Frage werden wir mit größerer Sicherheit beantworten können, sobald wir die genaue Gestalt kennen, aber wir 551 sind auch jetzt schon ziemlich sicher, daß es dann möglich sein wird.« »Aber nicht wirklich sicher«, sagte Stonar anklagend. »Mister Stonar, es handelt sich bei unseren Objekten um Aminosäurenstränge. Jeder Strang endet in einer Einzelkette und das ist ein Umstand, den man im allgemeinen in der Natur nicht vorfindet, weil das normalerweise beim Fortpflanzungsvorgang eliminiert würde.« »Und warum wird dann die Pest nicht eliminiert?« Hupp atmete flach und frustriert ein. Er hätte sich so sehr gewünscht, Beckett könnte hier sein. Bill wurde mit solchem Zeug so viel leichter fertig. »O'Neill hat sozusagen eine lebende Fabrik geschaffen«, sagte Hupp. »Die reproduziert seine Pathogene und ist gleichzeitig abhängig von diesem Reproduktionsprozeß, um weiterzubestehen.« »Sie wollen mir also sagen, daß Sie nicht in der Lage sein werden, auf meine Fragen definitiv Antwort zu geben, ehe Sie nicht den Punkt erreicht haben, an dem Sie diese Krankheitserreger tatsächlich selbst reproduzieren
können?« »Ich habe Sie darauf hingewiesen, daß die Sache kompliziert ist!« »Und ich habe Sie ersucht, sie mir vereinfacht darzustellen!« Stonars Stimme klang tödlich ernst. Wieder versuchte Hupp mit ausgetrockneter Kehle zu schlucken. Er sagte: »Die genetische Information für ein Protein, das in einer Zelle produziert wird, muß auf eine ganz andersgeartete Zelle übertragbar gemacht werden. Vor O'Neill hatten wir geglaubt, daß wir durch Rekombinationsverfahren nur einige, ganz wenige Eigenschaften würden verändern können, nichts, was auch nur annähernd dem nahekam, was einen einschneidenden Umschwung oder eine neue Krankheit wie diese Pest hätte herbeiführen können. Wir glaubten, daß wir nur in der Lage sein würden, alte Krankheiten sozusagen in neuer Verpackung hervorzubringen. Aber O'Neills Krankheit ist nicht bloß eine Art Streckung gewöhnlicher Aminosäurenstränge. Die enzymatischen und anderen Spal552 tungsprozesse sind außergewöhnlich. Wir lernen durch ihn unendlich viel. Unendlich ...« Und dann verlor sich Hupps Stimme in einem nachdenklichen Brummen. Schließlich sagte er: »Ich glaube nicht, daß er sich darüber im klaren war.« »Worüber im klaren?« »Unsere Entdeckungen könnten möglicherweise von weit größerer Bedeutung sein als ... sie könnten weit über die Wirkungen dieser Seuche hinausgehen.« Stoney starrte Hupp böse an. »Aber natürlich gehört Ihre Familie ja noch zu den Überlebenden.« Es wurde Hupp bestürzend deutlich, wieviel Stonar durch die Pest gelitten haben mußte. Also sprach er rasch: »Ich will nicht etwa leichtfertig über die Pest reden. Ich versuche nur, einen langfristigeren Gesichtspunkt in Erwägung zu ziehen. Die Menschheit hat einen neuen Schritt getan, unter Qualen. Und ich sage nur, daß das ungeheure Ausmaß dieses Schrittes erst noch erkannt werden muß.« »Sie wollen doch nicht etwa andeuten, daß die Geschichtsschreibung der Zukunft auf unseren Wahnsinnigen wie auf einen Helden zurückblicken wird?« »Oh, das? Nein! Aber er hat uns wirklich einen ganz neuen Zugang zur Genetik eröffnet.« »Pfaaah!« machte Stonar. Hupp, in seinen Gedanken verloren, hörte ihn nicht. »Wir sehen plötzlich einen ganz neuen Horizont vor uns. Und sehen ihn voll Ehrfurcht und Bewunderung.« »Ihr Wissenschaftler jagt mir eine Scheißangst ein!« sagte Stonar. Das hatte Hupp immerhin mitgekriegt, und schockartig fiel ihm wieder ein, was für eine Macht in die Hände dieses Stonar gegeben war. Er antwortete: »Ich muß aber doch darauf hinweisen, Sir! Es waren nicht wir Wissenschaftler, die O'Neill in den Wahnsinn getrieben haben! Eine politische Geschwulst, die plötzlich aufbrach, hat unglücklicherweise einen Mann getroffen, der kompetent genug war ... Heilige Muttergottes, was für ein ungenügendes Wort! Nein, nicht 553 kompetent, sondern auf diesem gefährlichen Sektor außer gewöhnlich begabt.« »Sie werden es mir sicher mitteilen, wenn Sie daran denken O'Neill in Ihre sehr erhabenen Geistesränge aufzunehmen?« Da er inzwischen die Schwingungen in Stonars Stimme argwöhnisch abschätzte, begriff er endlich auch den Hohn in dieser Frage. »Die Büchse der Pandora ist schon seit einer geraumen Zeit geöffnet«, sagte Hupp. »Und es gibt keine Möglichkeit, Erscheinungen wie diese Seuche zu verhindern, es sei denn, es gelingt uns, den Wahnsinn der Politiker zu verhindern - und dazu zähle ich den wahnsinnigen Terrorismus und die wahnsinnigen Ungerechtigkeiten von Polizeistaaten.« »Sie haben nicht die geringste Vorstellung davon, wie weit Regierungen in der Unterdrückung zu gehen vermögen«, sagte Stonar. »Aber ich bin nicht hergekommen, um mit Ihnen über politische Probleme zu diskutieren. Ich denke, das liegt sowieso außerhalb Ihrer Kompetenz.« »Sie glauben ehrlich, Sie hätten einen O'Neill verhindern können? Durch eine ... durch irgendeine Art Sicherungs und Überwachungstechnik?« »Wir werden uns jetzt wieder anstehenden Problemen zuwenden«, sagte Stonar. »Wie sieht Ihre Darstellung der Pest aus? Und wie gelingt Ihnen diese Rekonstruktion?« »Es beruht auf einer Vielzahl von Schlüsselhinweisen, davon wurden uns einige von den Iren und von anderen geliefert ...« »Und die hat Dr. Ruckerman mitgebracht.« »Er hat dazu beigetragen, ja«, gab Hupp zu. »Wie ich bereits sagte, die umeinandergewundene Helix der DNS dreht sich vorwärts und rückwärts um sich selbst. Und diese Windung ist extrem interessant. Wir haben jetzt herausgefunden, daß die Form submolekularer Elemente in der DNS aus diesen Biegungen und Windungen abgeleitet werden kann. Es dämmerte uns allmählich, daß O'Neill eine ganz neue Technik mit dem Felddesorptions-Massenspektrometer entwik554 kelt hat, eine sozusagen sanfte Analysetechnik der aus der Pyrolyse der DNS gewonnenen Produkte.«
»Wie?« »Er hat dazu Stereoisomere verwendet - links- und rechtswendig. Er ... er verbrannte sie, machte eine Superimposition der Spektralbildermessungen und deduzierte die submolekulare Gestalt von ... von ... Also, es ist wie wenn man einen Schattenumriß über einem Schattenbereich sieht und daraus auf die Gestalt schließt, die diesen Schatten geworfen haben muß.« »Na, sehen Sie?« sagte Stonar. »Sie sind durchaus in der Lage zu vereinfachen, wenn Ihr Leben davon abhängt.« Hupp würdigte ihn keiner Antwort. »Dr. Ruckerman hat seinem Präsidenten erklärt, daß ihr hier kurz davor steht, was Erstaunliches zu bringen. Ist Wye auch dieser Meinung?« »Dr. Wycombe-Finch?« Hupp kratzte sich am Kopf. Er brauchte Zeit für die Antwort. »Ich vermute, er würde uns gern carte blanche geben, damit wir die Krankheitsmuster genauer untersuchen können, die wir produzieren können.« »Aber er hat ja auch noch an andere Wissenschaftler und andere Projekte zu denken?« »Ja, so etwa wird das wohl sein. Wir verbrauchen jetzt bereits etwa die Hälfte der zur Verfügung stehenden Computerzeit.« »Und Sie sind ganz sicher, daß Sie mir nicht sagen können, ob Ihre Pest- ... äh, Reduplikationen ... zu einem Gegenmittel führen werden?« Hupp zuckte die Achseln. Stonar fand die Körpergestik abstoßend. »Sie wissen es also nicht?« »Wir werden darauf eine Antwort haben, sobald wir das biochemische Modell der Krankheit erstellt haben.« »Würde es von Nutzen sein, wenn man Ihnen einen größeren Spielraum mit den hier zur Verfügung stehenden Apparaten einräumen würde?« »Vielleicht, aber erst wenn wir ...« 555 »... das Modell der Pest erstellt haben! Ja! Also, ich möchte, daß wir uns genau verstehen, Hupp! Ich mag Sie nicht. Sie sind genau der Typ Mensch wie der, der diese Katastrophe verursacht hat. Sie ...« »Sir/« »Ich hege nicht etwa den Verdacht, daß Sie verrückt oder geistesgestört genug wären, den Versuch zu wagen, in O'Neills Spuren Fortzufahren. Auf jeden Fall wird man euch sorgfältig überwachen, und so etwas wird nicht zugelassen werden. Ich persönlich erachte es für ein Übel, daß wir Typen wie Sie überhaupt brauchen. Und ich warne Sie davor, das Ausmaß dieser unserer Zwangslage zu überschätzen.« Kein Zweifel, deine Mutter war 'ne billige Hure auf dem Montmartre, du Schwein, dachte Hupp. Er gab Stonar keine Antwort. Ein sehr flüchtiges Lächeln zuckte um Stonars Lippen und verflog sofort wieder. Er drehte sich auf dem Absatz um und ging zur Tür, riß sie auf und befahl: »Bringt mir Ruckerman rein!« Man hatte Will Ruckerman recht ähnlich geweckt wie Hupp, doch ihm hatte man immerhin gestattet, sich anzukleiden. Dann hatte man ihn unter Bewachung in einem Geräteraum gegenüber von Hupps Labor warten lassen. Irgendwas war schiefgelaufen, das wußte Ruckerman, aber er konnte nicht erraten, was. Der erhöhte Einsatz von Militär auf dem Huddersfield-Gelände allerdings war nicht zu übersehen gewesen. Trotz der Kälte in dem kleinen Geräteraum hatte er heftig zu schwitzen begonnen, und sein mürrischer Wächter hatte dies sehr wohl bemerkt. Dabei war alles so gut verlaufen! Velcourts Plan, ihn in Huddersfield einzuschleusen, hatte funktioniert, und nicht einmal Saddler hatte den wirklichen Grund dafür vermutet. Nur Turkwood hatte gerochen, daß da was nicht stimmte, und hatte mit einem typischen Turkwood-Manöver gekontert. Ruckerman dachte daran, wie sie über England angekommen waren. McCrae hatte ihm in dem kleinen Cockpit des Flugzeugs 556 zugegrinst, während er die Maschine in eine enge Schleife über dem See über Aberfeldy in Schottland brachte. »Jetzt werden Sie mal 'nen echten Künstler bei der Arbeit sehen«, hatte der Pilot gesagt. »Warum können wir nicht einen Flugplatz finden, der oberhalb der Deton ...« »Schauen Sie mal da rauf!« McCrae fuhr mit dem Daumen nach oben, wo weit über ihnen die Jets des Barrier Command kreisten. »Wir produzieren hier einen Notfall. Wenn wir plötzlich anfangen nach 'nem anderen Landeplatz zu suchen, dann werden die da droben das Mäuschen riechen. Und Sie können wetten, die haben den Befehl, uns beim geringsten Verdacht, daß bei uns nicht alles koscher ist, abzuschießen.« »Aber der See schaut scheußlich klein aus.« Ruckerman starrte nach vorn, wo das Wasser immer näher kam. Darüber tiefliegender Dunst. »Der Trick besteht darin, daß ich uns haargenau an der richtigen Stelle runtersetze«, sagte McCrae. »Wir werden ein bißchen Schaum abschöpfen, aber es wird nicht allzu schlimm werden.« Sanft und leicht bockend wie bei Fehlzündungen, tauchte die Maschine in das Tal am Ende des Sees und richtete sich horizontal aus. Ruckerman klammerte sich mit beiden Händen an die Kanten seines Sitzes. McCrae würde sie beide umbringen! Diese Hänge am gegenüberliegenden Seeufer waren viel zu nahe!
McCrae quasselte - ebenso sehr zu sich selbst wie zu Ruckerman: »Nase 'n bißchen höher ...« Er zog den Steuerknüppel an die Brust. »Noch 'n Hauch mehr!« Ruckerman starrte entsetzt den Berghängen entgegen, die höher und höher vor ihnen aufragten. Da war doch nicht genug Platz für dieses Manöver! Er wollte gerade laut protestieren, als das Heck das Wasser berührte. Er spürte das Klatschen, dann sackte die Nase scharf mit kreischendem schüttelnden Bocken des Metallrumpfes ins Wasser, und er wurde gegen die Sicherungsgurte geschleudert. Das Bugfenster der Kanzel war unter Wasser, er konnte die Küste nicht mehr se557 hen. Unter der Nase scharrte und kratzte etwas. Das Wasser wirbelte von der Scheibe. Die Nase tauchte auf, und die Maschine hielt. Ruckerman sah vor sich eine dünne Linie kahler Bäume, dahinter ein Feld, auf dem Schafe weideten. »Yaaahuu!« McCrae riß den Mund zu einem Freudenschrei weit auf. Er sagte noch etwas, aber das ging im Donner von drei Barrier-Command-Jets unter, die brüllend über sie hinwegflogen. Ruckerman war wie betäubt von dem Lärm. Er brauchte einen Augenblick, bis er sich wieder in der Hand hatte, und dann knarrte und gurgelte etwas hinter ihm. »Nun schauen Sie sich das bitte mal an«, sagte McCrae. »Wir sitzen mit der Nase auf festem Boden!« McCrae drückte auf den Knopf für den Notausstieg und klappte dann eine dreieckige Sektion der Scheibe neben sich beiseite. Er machte die Gurte auf und stellte sich auf seinen Sitz, steckte den Kopf nach draußen und schaute sich um. »Schaun wir, daß wir unsern Arsch hier rauskriegen«, sagte er. Er stieg über die Wandung der Kanzel und glitt seitlich das Flugzeug hinunter auf einen Kiesstrand, aus dem dolchartige Binsen wuchsen. Dann steckte auch Ruckerman über ihm den Kopf heraus. »Was wird mit unserem Gepäck?« fragte er. »Wenn da drin 'ne Bombe ist«, sagte McCrae und schüttelte den Kopf, »kommen Sie besser raus und warten ein bißchen.« Ruckerman runzelte die Stirn. Wahrscheinlich war da gar keine Bombe! Das Ganze war vielleicht bloße Angabe von diesem jungen Spund da. Er duckt sich in das Flugzeug zurück, ging nach hinten, bis über die Knöchel im Wasser watend. Er holte seinen Koffer und den von McCrae, der auf den Sitz daneben geschnallt war, dann watete er zum Notausstieg zurück und warf die beiden Gepäckstücke McCrae zu. »Komm'nse schon!« McCrae drängte. »Los, raus mit Ihnen!« Langsam, wie um seine Geringschätzung zu demonstrieren, kletterte Ruckerman wie McCrae auf festen Boden. Dort 558 hob er seine Tasche auf und ging hinter dem Piloten her über den Kies hinauf zu den Bäumen. »Das war eine verdammt dumme und waghalsige Sache!« sagte Ruckerman. »Sie hatten keine ...« Die dumpfe Explosion im Flugzeug hinter ihnen unterbrach ihn. Beide wirbelten herum. Die linke Tragfläche des Flugzeugs war dicht am Rumpf in einer gezackten Bruchstelle abgerissen. Das abgetrennte Stück war etwa sechs Meter weit geschleudert worden und lag nun verkehrt herum in den Binsen. »Eins muß man Turkwood ja lassen«, sagte McCrae, »er leistet saubere Arbeit.« Mit vor Entsetzen offenstehendem Mund starrte Ruckerman auf die Szene. Mein Gott! Wenn das in der Luft passiert wäre? Er starrte noch immer das Flugzeug an, als der Landrover brüllend über den Berg vor ihnen gekrochen kam und dann zum See herunterhoppelte. »Da, wir haben Besucher«, sagte McCrae. Während er jetzt den Militärposten in dem kleinen Vorratsraum gegenüber von Hupps Labor anstarrte, dachte Ruckerman an den armen McCrae. Die Engländer blieben unerbittlich, er würde nicht nach Irland gehen dürfen. »Wir haben keine Transportmittel für Ferienspritztouren«, hatte der Ortskommandant gesagt, als er den Transport für Ruckerman nach Huddersfield anordnete. Und der arme McCrae war an einen Ort abgeschoben worden, der sich >Zentralverwahrung für Ausländer nannte. Jemand klopfte an die Tür. Ruckermans Posten öffnete sie. Draußen sagte jemand: »Bring ihn rüber!« Und dann stand Ruckerman neben Hupp. Stonar betrachtete sie beide, als hätte man sie wie Gewürm unter einem Stein hervorgekratzt. Ruckerman, der Stonar nur kurz bei einer von dessen Routineinspektionen gesehen hatte, wußte, daß er sich nunmehr einer Autoritätsperson gegenübersah und sich also beschweren könne. »Was hat dies zu bedeuten?« fragte er scharf. »Sind Sie sich darüber im klaren, mit wem Sie es zu tun haben?« 559 »Sie sind ein Spion«, sagte Stonar. »Und wir sind bekannt dafür, daß wir Spione gegebenenfalls auch erschießen.« gr warf Hupp einen streifenden Blick zu. »Der Froschschenkelfresser da hat mir vorhin gerade eine ganz interessante Geschichte erzählt. Und er wird jetzt gefälligst die Schnauze halten, während Sie mir ein paar Fragen beantworten werden!« So, jetzt ist die Milch verschüttet! dachte Ruckerman. Und der Präsident hatte ihn gewarnt, daß er in Huddersfield ganz auf sich allein gestellt sein würde. Die Regierung der Vereinigten Staaten würde keine offiziellen Demarchen zu seinem Schutz unternehmen können. »Wir fanden Ihren jüngsten Bericht an Präsident Velcourt ziemlich interessant«, sagte Stonar. »Beckett und sein Team sind dabei, ein paar erstaunliche Dinge zu machen. Was für erstaunliche Dinge?«
»Sie stehen kurz vor einer kompletten wissenschaftlichen Darstellung der Seuche«, sagte Ruckerman und räusperte sich. »Und ich weise es mit Empörung zurück, als Spion bezeichnet zu werden. Alles, was ich unternommen habe ...« »Ist von uns überwacht worden«, sagte Stonar. »Mit >erstaunlich< - wollten Sie damit ausdrücken, daß die Leute ein Gegenmittel bringen werden?« »Wie könnten wir das sagen, solange wir das Gesamtbild noch nicht haben?« fragte Ruckerman. Hupp nickte. »Sie halten sich da raus, Frenchie«, warnte Stonar. Doch damit hatte Ruckerman seinen Hinweis. Hupp hatte die Katze nicht aus dem Sack gelassen. Nicht diesem Scheißer gegenüber! »Ihr Verhalten fördert unsere Bemühungen in keiner Weise«, sagte Ruckerman. »Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß wir ein ... ähemm, ein Heilmittel, wenn Sie so wollen, produzieren können.« »Aber Sie haben den Ausdruck erstaunlich benutzt.« »Der Präsident ist ungeduldig«, sagte Ruckerman. »Und es ist meine fundierte Annahme, daß wir Erfolg haben werden. 560 Als Wissenschaftler allerdings bin ich außerstande, Ihnen in diesem Augenblick plump zu erklären, daß wir imstande sein bürden, die Pest zu vernichten. Alles, was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, daß wir schon sehr bald ein genaues Gesamtbild haben werden.« »Wie bald ist sehr bald?« Ruckerman warf Hupp einen Blick zu, der zu sagen schien: »Es ist zuviel!« Hupp zuckte nur die Achseln. »Wochen, vielleicht«, sagte Ruckerman mit einem Seufzen. »Aber vielleicht auch nur Tage. Wir müssen einen extrem komplizierten Organismus aufspüren, für den es bisher noch keinen Präzedenzfall gibt. Er ist vollkommen neu, eine Schöpfung des Menschen.« »Sie haben Ihrem Präsidenten gesagt, daß Sie Hupp und den andern im Team >ein komplettes Bild< vermittelt haben. Ein komplettes Bild von was?« »Ich habe ein Paket neuer Software mitgebracht, ein Computer-Suchprogramm, das unsere Arbeit enorm beschleunigt hat. Und mein Präsident wußte, daß ich dies hierher bringen würde.« »Und wieso haben Sie uns darüber nicht sofort informiert!« »Ach, ich dachte, Sie würden das sowieso nicht verstehen«, sagte Ruckerman. »Man hat mich dahingehend informiert, daß nur das Team von Beckett soweit fortgeschritten sei, diese Computer-Software sinnvoll einzusetzen.« »Informiert? Durch wen?« »Oh, durch Beckett selbst, unter anderen.« »Und durch die Berichte eurer Spione!« fauchte Stonar. »Mister Stonar«, sagte Ruckerman, »das neue Suchprogramm steckt im Computersystem von Huddersfield, wo jeder Wissenschaftler es abrufen kann. Sollten Sie also den Wunsch verspüren, es zu untersuchen, bitte sehr, tun Sie sich keinen Zwang an!« Stonar funkelte in eisig an. Dieser arrogante Saukerl Ruckerman! Der wußte doch genau, daß die ComputerSoftware außerhalb der Kompetenzen des Regierungsinspektors lag. Mit finsterem Gesicht ging Stonar zur Tür, öffnete sie und 561 rief: »Schickt mir General Shiles rein!« Er wartete an der geöffneten Tür. Fast sofort erschien ein Brigadegeneral und kam mit weiten Schritten ins Zimmer. Seine Uniform war von exzellentem Schnitt. Er ruckte Stonar kurz zu. Der Brigadegeneral war eine große, dürre Gestalt, ein Monokel im rechten Auge, das Angeberstöckchen unter den linken Arm geklemmt. Die Haut im Gesicht wirkte verwittert, über dem verkniffenen kleinen Mündchen und einem kantigen Kinn ragte eine Geiernase hervor. Auch seine Augen waren von einem ausgeblichenen Blau, und das Auge, vor dem kein Monokel saß, starrte glasig in die Welt. »Sie haben unsere gesamte Unterredung mitangehört, General?« fragte Stonar. »Sicher, Sir.« Die Stimme klang brüsk und abgehackt. »Ich muß sofort zum Stützpunkt zurück«, sagte Stonar. »Ich lasse Sie hier, und Sie werden hier jedermann klarmachen, wie die Dinge liegen. Sie können mit dem Froschschenkelfresser und seinem Freund anfangen, dem Spion.« »Sehr wohl, Sir!« Stonar bedachte Hupp und Ruckerman mit einem verächtlichen streifenden Blick, sagte aber kein Wort mehr, sondern drehte sich um und verließ den Raum. Von draußen langte ein Arm in Uniform herein und schloß die Tür hinter ihm. »Ich habe eine ganze Brigade zusätzlich zu dem ursprünglichen Wachpersonal um das Institut in Stellung«, begann Shiles, wobei er auf einen Punkt zwischen Hupp und Ruckerman zu starren schien. »Niemand wird sich von hier entfernen dürfen. Die kleinen abendlichen Ausflüge ins Dorfpub haben damit aufgehört. Es wird, ohne meine höchstpersönliche Erlaubnis, keinerlei Kontakt mehr nach draußen stattfinden. Haben Sie das kapiert?« »Sir«, setzte Hupp an, »ich glaube, ich kann ...« Aber Ruckerman legte Hupp die Hand auf den Mund und
schüttelte den Kopf. Shiles betrachtete Ruckerman mit Verblüffung. Ruckerman nahm einen Schreibblock und einen 562 Stift von Hupps Arbeitstisch, kritzelte etwas und reichte den Block dem General weiter. Zeit für die Karotte für den Esel, dachte Ruckerman. Der Stock dürfte ja bei dem Typ nichts ausrichten. Shiles bedachte ihn mit einem flüchtigen abschätzigen Blick, ehe er den Block entgegennahm und las, was Ruckerman geschrieben hatte. Das Monokel fiel aus der Augengrube. Er klemmte es wieder fest; ehe er nach dem Stift tastete und unter Ruckermans Information schrieb: »Wie ist das möglich?« Ruckerman nahm das nächst untere Blatt und schrieb: »Was wir entdeckt haben, läßt keine andere Schlußfolgerung zu.« Shiles warf einen Blick zur Tür, durch die Stonar verschwunden war, dann blickte er wieder Ruckerman an. Der schüttelte den Kopf, nahm den Schreibblock und kritzelte: »Er kann den Tod zuteilen, wir können das Leben zuteilen.« General Shiles riß die benutzten Blätter vom Block und stopfte sie sich in die Jackentasche. Er klopfte sich mit seinem Renommierstöckchen auf den linken Oberschenkel. Ruckerman konnte geradezu sehen, wie sich in dem Mann der Entschluß entfaltete. Es war eine besonders verführerische Karotte gewesen, die er ihm da auf dem Schreibblock unter die Nase gehalten hatte. Ein langes, sehr langes Leben in völliger Gesundheit. Und Shiles war ein Mann, der Vertrauen in die Wissenschaftler besaß. Das waren doch immerhin die Leute, die ihm Atombomben und Atomraketen beschert hatten! Also mußte er wissen, daß sich der Einsatz in diesem Spiel möglicherweise lohnte. Und er würde das Spiel gern kontrollieren wollen. »Verd ... - das ist ja 'ne Wucht!« sagte General Shiles. »Das sieht ja fast so aus, als hätte man mir die goldenen Eier anvertraut ...« »Aber vergessen Sie nicht, was passiert ist, als die Gans geschlachtet wurde, die die goldenen Eier legt«, sagte Hupp. »Für 'nen Frenchie sind Sie ziemlich intelligent«, sagte Shi563 les. »Aber vergessen Sie dabei bloß nicht, daß ich der Bauer bin, der die Gans unterm Arm hat.« »Ich darf doch annehmen, daß Sie Diskretion wahren werden«, sagte Ruckerman beiläufig. »Aber sicher«, sagte Shiles. »Und nun werde ich Sie beide Ihrer Wissenschaft überlassen. Ich verlasse mich darauf, daß Sie die neuen Anordnungen den Mitarbeitern Ihres Teams sorgfältig erklären werden? WycombeFinch können Sie mir überlassen.« Ruckerman wackelte warnend mit dem Zeigefinger. »O ja, aber gewiß doch«, sagte Shiles. »Je weniger Leute davon wissen, desto besser.« Er machte auf dem Absatz kehrt, stapfte zur Tür, riß sie auf und war verschwunden. Hupp hörte draußen die Hacken knallen und stellte sich den adretten Salut vor. Diese Briten konnten das ziemlich gut: zackig salutieren. »Es hätte schlimmer kommen können«, sagte Ruckerman. Hupp nickte zustimmend. Natürlich hatte Ruckerman recht gehabt, ihn zum Schweigen zu bringen. Hier steckten Ohren in jeder Wand. Und es war auch richtig, daß Ruckerman Shiles eingeweiht hatte. Es lag da ein so großes Machtpotential im Teich, daß alle genug abbekommen konnten. Und dieser Shiles hatte so ausgesehen, als genieße er Macht, je größer die Macht, desto besser ... »Also, Wycombe-Finch haben wir vom Angelhaken los, dafür zappeln jetzt wir dran«, sagte Ruckerman. 564 Unser wohl größtes Verbrechen war diese leidenschaftliche Hingabe an Gewalt und Fanatismus. Das verführte uns dazu, unsere allgemein schweigenden Gemäßigten abzuschlachten. Wir haben unsere gemäßigten Gruppen zerstört, genau das haben wir getan. Und nun seht, was uns das eingetragen hat! FlNTAN CRAIG DOHENY John faßte bei ihrer ersten Begegnung mit Peard im Forschungslabor am Killaloe eine sofortige Abneigung gegen den Mann. Der Typ stand da aufgetakelt in seinen grüngrauen Tweeds am Eingang um die Neuankömmlinge zu begrüßen. Unter der scharfen Beleuchtung des Burghofes sah er mit seinem gebräunten Gesicht aus wie die Karikatur eines Grandseigneurs. Das Labor war sichtbar geworden, als John in seinem Panzerwagen im schwindenden Licht aus den Hügeln herabgefahren worden war. Es lag nicht direkt bei Killaloe, hatte der Fahrer erklärt, sondern ein wenig nördlich davon. Die Namenswahl sei eine bewußte Irreführung, die geheimzuhalten sei. Das Institut war ein geräumiger Steinbau, der früher einmal eine Burg gewesen war. Der lehmgraue Steinhaufen ruhte im gekrümmten Schwung eines Hügelhangs wie eine bösartige Geschwulst, die mehrere Metastasen zum nahegelegenen Seeufer ausstreckte. »Das paßt da nicht hin, das isses, was Sie denken«, hatte der Fahrer gesagt. »Alle denken das. Aber drin sieht es besser aus. Von drinnen kannste nicht sehen, wie das draußen aussieht.« »Willkommen im Killaloe-Labor«, sagte Peard, nachdem er sich vorgestellt hatte. Der Händedruck war trocken und flüchtig gewesen. »Ihr Ruhm ist Ihnen vorausgeeilt, Dr. O'Donnell. Wir sind hier alle schon ganz aufgeregt.«
John spürte Zorn in sich aufsteigen. Doheny hatte also seine Drohung wahrgemacht und einen John-O'DonnellMythos in die Welt gesetzt! Man gab dem Priester und dem Jungen einen Führer und schickte sie in den >anderen Flügel. 565 Der Priester vermied es, Johns Blick zu begegnen, als sie gingen. Seit der Beichte war der Priester schweigsam und in sich verschlossen gewesen. Aber O'Neill-im-Kopf hatte aufgehört zu heulen, und John fühlte sich ein wenig ruhiger. Das Geständnis hatte ihm geholfen. Die geistige Verwirrung, die ihn daraufhin befallen hatte, ruhte in einer festummauerten Rumpelkammer. Das einzige, wonach John sich jetzt sehnte war etwas zu essen, Ruhe und Zeit zum Nachdenken. »Wir haben eine kleine Sitzung der Spitzenmitarbeiter einberufen«, sagte Peard. »Ich hoffe, Sie fühlen sich dem gewachsen. Die Zeit drängt.« John blinzelte ihn an. Die Erschöpfung überlagerte seinen Zorn. Peard hatte den Eindruck, der Mann sehe übermüdet und verwirrt aus, aber Doheny hatte befohlen, ihm keine Zeit zum Nachdenken zu lassen. Haltet ihn unter Druck ... Aber immerhin, der Mann da sollte O'Neill sein? Im Burghof roch es nach der Feuchtigkeit vom See und nach Schimmel mit einem Beigeschmack der Auspuffgase der inzwischen wieder abgefahrenen Panzerwagen. John war froh, da wegzukommen. Peard führte ihn unter ständigem leichten Geplapper durch die große Doppeltür. Sie gingen durch eine lange Halle, zahlreiche Türen standen offen, dahinter sah man Menschen, die mit allem möglichen beschäftigt waren - an ComputerTerminals, an einer sausenden Zentrifuge, hinter dem zischenden Dampfschleier von Sterilisatoren. In einem Raum erkannte John blaues Laserlicht. Das Ganze machte den Eindruck einer bemühten, aber sinnlosen Geschäftigkeit. Überall wuselten Menschen hastig herum, beugten sich gebannt über Petrischalen und Reagenzgläser, einige arbeiteten an einem Elektronenmikroskop. Hinter einer geschlossenen Tür war das Summen eines starken Elektromotors zu hören. Am hinteren Ende der Halle lag eine geschwungene Treppe. Sie stiegen zu einem Absatz hinauf, wo Peard eine schwere Eichentür aufstieß und John in ein Bibliothekszimmer führte. Über Bücherschränken und Regalen und einer Trittleiter auf 566 Rädern hingen alte Porträts. Ein kleiner Kamin aus italienischem Marmor mit Puttenskulpturen zierte das Ende eines freien Raumes, wo man Stühle und einen schweren Tisch aufgestellt hatte. Das Bibliothekszimmer roch nach Pfeifenrauch und alten Büchern. John wurde wenigstens zehn Leuten vorgestellt. Nach dem dritten Namen gab er es auf zu zählen, überwiegend trugen sie Tweeds und Rollkragenpullover, ein paar auch Strickjacken. Es gab da einen Jim Irgendwer, einen Dr. Balfour, »von dem Sie selbstverständlich gehört haben«. Als John dem letzten die Hand geschüttelt hatte, wurde hinter einem Regal eine Tafel hervorgerollt und neben dem Kamin plaziert. Peard deutete auf die Tafel und dachte dabei, daß seine Leute sich recht gut gehalten hätten. Natürlich hatte man sie sorgfältig vorbereitet. Auf den Gesichtern war nur ängstliche Neugier zu lesen. John starrte von den inzwischen sitzenden Leuten zu der sauberen Tafel. Die Fläche war absolut saubergewischt worden, nicht der kleinste Hinweis darauf, was da vorher gestanden haben mochte. Eine leere, dunkelgrüne Fläche. Was erwartete man von ihm, was sollte er damit tun? Und dann fiel ihm blitzartig die Buße ein, die der Priester ihm auferlegt hatte. Würde sie den O'Neill-im-Kopf aufstören? »Doheny sagt, Sie hätten einen bemerkenswerten neuen Zugang zu der Seuche entdeckt«, soufflierte ihm Peard. John nahm die Kreide auf dem Ansatz unter der Tafel auf. O'Neill-im-Kopf erhob keine Einwände. Es war faszinierend, die eigene Hand zu beobachten: sie bewegte sich wie von selbst. Sein Körper war von einem neuen, anderen Leben bestimmt. Mit ruhigem Lächeln wandte John sich Peard und den anderen zu und begann mit fester Stimme zu sprechen. »Wir sind uns natürlich alle darin einig, daß das besondere Bauteilchen, vermittels dessen die Nukleinsäure in die Zellen dieser neuen Bakterienstämme injiziert werden konnte, ein Virus gewesen sein muß. Ich darf annehmen, daß der Phagus-Ansatz hier in diesem Kreis nicht erklärt zu werden braucht.« 567 Das brachte als Reaktion mehrere trockene Gluckser von verschiedenen Leuten. John wandte sich um und starrte ein paar Augenblicke lang an der Tafel vorbei, wie um seine Gedanken zu sammeln. Sein Blick fiel auf den Kamin und darüber auf ein Gemälde: das Porträt eines Gecken aus der Zeit Elisabeth I., in enganliegendem dunklen Wams, Spitzenhalskrause und Spitzenjabots, grausame Augen - ein Gesicht wie ein Raubvogel. »Dem DNS-Komplement des Virus wurde eine synthetische Erbinformation eingefügt«, sagte John und wechselte die Kreide aus einer Hand in die andere und wieder zurück. Wie gebannt sie ihm zuhörten, wie sie sich an jedes Wort klammerten. »Doch es muß noch ein weiteres bestimmtes Charakteristikum der Phagen geben«, fuhr John fort. »Daß nämlich das Virus bei der Parasitierung der neuen Bakterien über eine DNS verfügen muß, die am Ende in nur einer Kette ausläuft also eine nichtkomplette Helix, die so gebaut ist, daß sie sich in die Empfänger-DNS einkoppeln kann. Dem Gast wird auf diese Weise eine Komplementär-Botschaft eingeschleust. Ich nehme an, die synthetische DNS hängt sich in einer Weise an die DNS des Virus, daß sie das Virus veranlaßt, immer mehr von
der erwünschten Form zu produzieren.« Was für eine bemerkenswerte Sache war doch seine eigene Stimme! Sie tönte fast wie von selbst weiter, ruhig, sachlich informierend. Im Kreis ringsum nickten Köpfe zustimmend. »Was aber wäre, wenn die Seuche aus mehr als nur einer losen Kette aufgebaut wäre?« fragte John. »Gewisse Zellen im menschlichen Körper besitzen Rezeptoren für, beispielsweise, Testosteron. Frauen besitzen ÖstrogenRezeptoren. Es gibt eine Vielzahl ähnlicher Rezeptorstellen. Es muß auch ein Nachrichtenmuster geben, das bestimmt, ob der Fötus sich entweder männlich oder weiblich entwickeln wird. Dieses Muster müßte für jedes Geschlecht anders aussehen. Der Nukleinsäure-Schaltplan, der die Schaffung von Proteinen 568 lenkt, muß über ein Formungspotential verfügen, das Substanzen in festhaftende Positionen führen kann.« Er wandte sich der Tafel zu und beobachtete diese erstaunlich selbstherrliche Hand, wie sie ein paar Reihen von Kombinationen aus je drei Lettern hinkritzelte: UCU - UCC - UCA - UCG GGU - GGC - GGA - GGG GCU - GCC - GCA - GCG ... Er beobachtete seine Hand bei der Arbeit, bis sie innehielt, nachdem sie fünf Reihen der Tripelserien geschrieben hatte. Dann glitt die Hand wieder nach oben und fügte jeder Serie Identifikationskürzel hinzu: Ser Gly Ala Thr Pro Ein Pfeifenraucher in handgestricktem blauem Pullover links von John deutete mit dem Pfeifenstiel auf die Tafel. »Das ist nicht komplett«, sagte er. »Unvollständige Reihen.« »Ich gebe Ihnen die fehlenden gleich«, sagte John. »Ich möchte nur, daß Sie in Fünfergruppen denken. Die Anordnung ist wichtig, wie Sie andeuteten. Aber die Fünferwahl ist, glaube ich, wesentlich wichtig. Die Codeübermittlung wird in Fünfergruppen aufgebrochen, die Verteilung mit den verfügbaren chemischen Bindestellen abgecheckt und eingepaßt, die sich auf der Empfängerseite anbieten.« »Sind das die von Ihnen postulierten geschlechtsbestimmenden Stellen?« fragte der Pfeifenraucher. »Ja. Ich möchte Sie bitten, sich Flagellen vorzustellen, die Fibern in einer einzelnen inkompletten Kette, die hinausgreifen und sich in lebende Rezeptoren einpassen - ein Fünfer-Stecker, könnte man sagen, der nur für eine ganz spezifische Steckdose paßt. Er kann nur an einer ganz bestimmten Stelle zum Kontakt gebracht werden. Aber sobald er einmal festsitzt, fällt er nicht wieder heraus.« Peards Mannschaft rückte mit schabenden Stuhlbeinen näher. Alle spähten jetzt zu John herauf. 569 »Aber warum gerade fünf?« fragte einer. »Jede dieser Vierergruppen ...« - John wies auf die Kolumnen, die er an die Tafel geschrieben hatte - »ist an einem Ende offen, und dort kann ein fünftes Segment hinzugefügt werden, wenn Sie so wollen. Und man kann es passend genau formen.« »Gütiger Himmel!« sagte der Pfeifenraucher und starrte John ehrfürchtig an. »Das schaltete den Lebensprozeß aus. Wie sind Sie bloß darauf gestoßen?« »Es ist die einfachstmögliche nötige Form«, sagte John. »Angesichts der Pestsymptome«, warf Peard hilfreich ein. »Aber wie bestimmen Sie die Seitengruppen?« fragte ein anderer. »Der einzige chemische Unterschied zwischen DNS und RNS ist der vierte Baustein, Thymin bei der einen, Uracyl bei der anderen«, sagte John. »Die unterschiedlichen Reihen lassen sich bestimmen, indem man die FDMassenspektren vergleicht, natürlich unter Verwendung von Stereoisomeren. Aus der unterschiedlichen Gestaltung der DNS-Spiralen können wir die submolekularen Formen in ihnen ablesen.« »Sie sagen also, daß Cricks Zentral-Dogma nicht stimmt«, sagte Peard. John nickte. Dieser Peard hatte einen raschen Verstand, alles was recht war! Offensichtlich war er bereits zu den Schlußfolgerungen aus den bisherigen Enthüllungen vorausgeeilt. Dann schössen Fragen von allen Seiten auf John ein: »... mehr als nur ein Aminosäurenersatz? ... aus der Peptidbindung? - Ja! Die Karboxylgruppe und die Aminogruppe . . . Aber muß es nicht ein Hochpolymer sein? Müßten sich nicht die Phagen auflösen?« Schließlich sprang Peard auf und gebot mit der Hand Schweigen. »Es muß ein Feedback vom Zytoplasma geben«, sagte John, »ganz so wie Dr. Peard vorschlägt.« John legte die Kreide unter der Tafel ab und rieb sich mit 570 der Hand über die geschlossenen Augen. Er spürte einen beginnenden Kopfschmerz, und seine Schultern zitterten vor Übermüdung. Peard berührte John am Arm. »Lange Fahrt, was? Ich würde sagen, ein paar Bissen Futter und dann Ruhe wären jetzt angebracht.« John ruckte stumm. »Es paßt, verdammt noch mal«, sagte jemand. »Klingt rundum vernünftig.« »Wir kommen morgen wieder zusammen, wenn Dr. O'Donnell sich ein wenig ausgeruht hat«, verkündete Peard. John ließ sich willenlos von dem Mann fortschleppen. Im Weggehen hörte er die Leute in der Bibliothek reden, erregte Stimmen, einige fast streitsüchtig. Sollte Doheny schließlich doch rechtbehalten? Kam es wirklich bloß auf die Inspiration an? Aber er hatte den Leuten den Sachverhalt genau dargelegt. Das verlangte seine Buße von
ihm. Peard führte ihn in eine grell erleuchtete Küche, wo ein alter Mann in weißer Schürze belegte Brote und Milch hervorzauberte. Dann brachte Peard ihn zu einem kleinen Gästezimmer mit eigenem Bad. Aus dem einzigen Fenster hatte man einen Blick auf den im Mondlicht gebadeten lough. John hörte, wie die Tür sich schloß, dann wie ein Riegel sich vorschob. Klick. Er drückte prüfend die Klinke. Er war eingesperrt! Er knipste die Lichter im Zimmer aus und trat wieder ans Fenster. Dicht am See lag inmitten einer Steinmauer eine Viehweide mit Unterstand, dahinter Sumpfgrund mit hohen Binsen. Ich bin ein Gefangener, dachte John. Dohenys Befehl? Während er sich dem Anblick des Mondlichts auf dem lough und über dem Sumpf hingab, erlaubte er der Müdigkeit in seinem Körper, ihn zu überwältigen. Was spielte es schon für eine Rolle, daß er ein Gefangener war? Dieses Mondlicht da draußen, dachte er, das ist etwas Geisterhaftes, ist das Licht, aus der Liebe langverstorbener Liebender, es verströmt sich, wo es keine Liebe mehr geben kann. Erinnerungsbruchstücke an die lange Fahrt hierher zerrten an seinem Bewußt571 sein. Sie waren endlos lange durch die lastende Dämmerung gefahren, durch eine zeitlos dröhnende Ewigkeit. Als das Geheul von O'Neill verstummt war, war er sich vorgekommen, wie wenn er von einem schweren Gewicht befreit worden wäre. Durch den Stahlschlitz im Panzerwagen hatte er die Aussicht auf einen Hügelkamm in orangerotem Abendsonnenlicht erhascht, schwarze Restschatten dort oben, wo einst ein rath, eine urzeitliche Ringburg, gestanden hatte. Einst war das ein Ort voller Leben gewesen, dachte er jetzt ist es nur ein schweigender Trümmerrest. Ihn überkam das Gefühl, daß die Menschen in dem Panzerwagen genauso leicht zu hohlen Schatten ausbluten könnten, zu bloßen Knochen und rostendem Metall. Diese Fahrt war so ganz anders, als die Pilgerfahrt zu Fuß durch das Land gewesen war. Während der Monate ihrer langsamen Vorwärtsbewegung waren die Scheingefechte mit Herity beinahe zu instinktiven Reflexhandlungen geworden. Beim Wäschewaschen in einem Bach, beim Ausbuddeln von versteckten Nahrungsreserven, beim Töten verwilderter Schweine und Rinder. Was für ein Land war das! John erinnerte sich an einen schmalen Bach zu seinen Füßen, das Wasser schlängelte sich durch die Binsen, die Uferränder sumpfig. Die Wasserströmung hatte die Binsen in einem arglosen Rhythmus schwingen lassen, nieder, auf, nieder, auf... Es war eine Bewegung wie die ihrer dahinwandernden Füße. Es war voller Freiheit gewesen. Ja - Freiheit: ihren einzigen Besitz trugen sie auf dem Rücken mit sich. Ein seltsames Gefühl. Er hatte sich damals befreit gefühlt, so unterwegs mit Herity, dem Priester, dem Jungen, er hatte ein Befreit sein von den Dingen der Welt verspürt, wie es vielleicht nur die wandernden Nomadenhorden der Urzeit gekannt haben mochten - diese Menschen zu Fuß oder zu Pferd mit immer wieder abgebrochenen Zelten. Erst mit den Rindern und dem Rad hatte Besitz diese Art Freiheit zu ersticken begonnen. John hatte das Gefühl, daß er mit Gannon gern über diesen Gedanken diskutiert haben würde. Wir nahmen uns nur mit, was für einen Nomaden lebenswichtig ist... 572 Während John so an seinem Fenster stand und auf den mondbeschienen See hinunterstarrte, bemerkte er auf einmal unterhalb des Fensters eine Bewegung. Aus den Schatten auf der anderen Seite der ursprünglichen Burgmauer war eine Gestalt getreten. Am Gang erkannte John, daß es Pater Michael war. Der Priester schritt ziellos bis zum Rand des Steinpflasters und trat dann auf die Grasfläche über den See hinaus. Die Gestalt des Priesters da unten erinnerte John an seine Buße - daß er den Menschen helfen müsse, ein Heilmittel zu finden. Er wandte sich vom Fenster weg, knipste die Beleuchtung an und zog sich aus, um ins Bett zu steigen. Ihnen helfen, ein Mittel zu finden ... Ja, das würde er tun müssen. Pater Michael hatte dem Gebäude das Gesicht zugewandt, als in Johns Zimmer das Licht anging. Er sah kurz Johns Profil, seine vagen Bewegungen, sah, wie dann das Licht erlosch. Die Beichte, die John ihm abgelegt hatte, hatte in dem Priester einen absurden Bodensatz zurückgelassen - das Gefühl einer schrecklichen Bürde, aber auch ein Gefühl der Leere. Pater Michael fühlte sich an den Augenblick erinnert, in dem er sich von einem anderen Abschnitt in seinem Leben getrennt hatte - den Jahren, in denen er in einem Eckhaus in Dublins Coombe gehaust und als Geistlicher Berater an der Catholic School tätig gewesen war. Er hatte an eben diesem Morgen eben dieses Haus wiedergesehen, als die Panzerwagen auf einem Umweg aus der Stadt gefahren waren - die Reihe der Häuser nur noch von Trauer überschattet, alles von Unkraut überwuchert, leere Fensterhöhlen. Das Gebäude der Church School nur noch eine Granitruine, ihr Inneres von Flammen leergebrannt. Was er am meisten vermißte, waren die Knaben und Mädchen, wie sie aus der Schule ins Freie schössen, der Lärm und die Rangeleien in diesem kurzen Zwischenspiel der Freiheit zwischen Klassenzimmer und Zuhause. Wann immer er die Augen schloß und sich dies ausmalte, konnte Pater Michael das Geschrei wieder vor sich heraufbeschwören, die lauten 573 Spottrufe, das Imponiergebrüll, die kurz verschwörerisch zusammengesteckten Köpfe, die Jubelrufe über für später ge. plante Eskapaden, das Jammern über leidige Pflichten. Der Priester blickte zu Johns nun dunklem Fenster hinauf ... Er dachte darüber nach, welche Wirkung der stumme Junge auf diesen armen Mann da droben ausgeübt hatte. Doheny hatte diese Wirkung mit meisterlicher
Bosheit berechnet. Der Junge war exzellent ausgewählt. Er stellte sozusagen die Essenz von etwas dar, das man an den wenigen Jungen entdecken mochte, die man in dieser jetzigen irischen Welt zu Gesicht bekommen konnte. Keine Spur der alten Lebenslust und Lebenskraft war übrig geblieben. Rührte das daher, daß die Jungen, seit sie keine Mädchen mehr als Zuschauerinnen hatten, keinen solchen Spektakel mehr veranstalteten? Hinter all dem Lärm und Getöse hatte sich eine Art ganz besonderer Glückseligkeit gezeigt, die - so fürchtete Pater Michael - in dieser jetzigen Welt nicht mehr möglich sein konnte. Nicht nur die Knaben und jungen Männer waren in eine Art Starre versunken, die an jene toten Steingesichter der Häuser im Coombe erinnerten - es war, als ob jeder einzelne Mensch sich hinter einer ausdruckslosen Maske versteckte, die alle anderen ausschloß - die versuchte, nicht einen Hauch des Grams und der Schmerzen durchschimmern zu lassen, die sich dahinter verbargen. Johns Beichte änderte gar nichts, entschied der Priester, es sei denn sie veranlaßte den Mann dazu, in seinem kleinen Möglichkeitsbereich einen Teil dessen wiedergutzumachen, was da an Furchtbarem angerichtet worden war. Und wenn es nun keine Heilung gibt? Pater Michael fühlte, daß ihn seine eigenen Gedanken in die Irre geführt hatten. Es war pflichtvergessen, so zu denken, war seiner nicht würdig. GOTT konnte so etwas nicht wollen! Aber hier hatte er wieder einen neuerlichen Beweis dafür, daß die alten Prinzipien dahin waren, ausradiert durch das Tun eines einzigen Menschen. Pater Michaels Glaubenszuversicht, die soeben wieder auf die Beine gelangt war, begann erneut zu stolpern. 574 Prinzipien! Eines von den großen Worten - genau wie Verantwortung! Solche Worte waren Schamtücher für höchst private Leidenschaften, bloßgelegt wie ein Stück Stoff auf einem Ballen Meterware auf dem Tisch eines Ladners, und sie zeigten in keiner Weise auf, was dann unter den Stoffballen lag. Synonyma mit einer ganz andersartigen Bedeutung, das waren diese großen Worte. Glaube trieb sich als Prinzipien verkleidet herum. Glaube. Ein Wühltisch-Wort, eins von diesen kleinen rot-und-schwarzen Zeichen, wie man sie in Billigläden kauft. Das Wort sagte: Rasen nicht betreten! Es sagte: Für Unbefugte kein Zutritt! Es sagte: Sperrgebiet! Zutritt nur mit Sondergenehmigung! Der Priester vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Mein GOTT, was haben wir getan!? Die Unschuld zerstört für alle Zeiten, das haben sie getan, dachte er. Ja, das haben sie getan. Der Gedanke drängte sich ihm auf, daß auch John Roe O'Neill eine gewisse Unschuld besessen haben müsse, ehe ihn seine persönliche Tragödie hatte zerbrechen lassen. Nein, keine vollkommene Unschuld, denn auch damals bereits hatte ja O'Neill mit schrecklichen Gewalten herumgespielt... - der Zauberlehrling, der sich an Zauberformeln versucht, während sein Herr und Meister abwesend ist. Lebte also GOTT nicht in SEINEM Himmel? Und war es GOTTES Plan, dieser Verlust der Unschuld? Von diesem Verlust aus gab es keine Umkehr mehr. Und das war das, was am tiefsten erschreckte an all dem. Die verlorene Unberührtheit war unwiederbringlich dahin. Nichts würde sie zurückkehren lassen. Und dann kniete Pater Michael sich in das feuchte Gras unterhalb von Johns Fenster und begann laut zu beten. »Domine, restauranos. Gott, setz uns wieder ein in deine Gnade ...« Peard, der von seinem Gespräch mit Doheny zurückkehrte, hörte die Stimme vom Seehang und blieb im Schatten ste575 hen, von wo aus er die kniende Gestalt anstarrte. Der Mond schien hell, und er erkannte den Priester. Man hatte dem Mann noch nichts von dem kleinen Trauungszauber gesagt, der ihm bevorstand. Peard überlegte sich, ob er jetzt gleich zu ihm hinübergehen und das Thema anschneiden solle, aber allem Anschein nach betete der Priester gerade. Peard entstammte einer Klasse, für die Beten etwas äußerst Privates war, etwas, zu dem andere keinen Zugang haben durften. Es berührte ihn peinlich, daß er nun jetzt einen anderen Menschen sozusagen beim Beten beobachtete. In der Kirche murmelte er jedesmal die Gebete nur leise vor sich hin, weil er sich der Anwesenheit all der vielen möglichen Zuhörer um ihn herum nur zu sehr bewußt war. Ich warte bis zum Morgen, dachte Peard. Dann verschwand er eilig in seinem Quartier. Der Kopf schwirrte ihm von dem, worüber er mit Doheny gesprochen hatte. Es war wirklich faszinierend gewesen. Doheny war bereits in seinem Büro gewesen; er hatte die kurze Strecke zum Killaloe in einem Eilkonvoi unter Motorradeskorte hinter sich gebracht. Er hatte telefonisch mit Wycombe-Finch gesprochen, was eine ziemlich einseitige Unterhaltung gewesen sein mußte, da der Brite kaum etwas dabei gesagt hatte. Doheny hatte Peard auf einem Block etwas aufgeschrieben: »Dort drüben ist was im Gange. Jemand hört uns ab, und Wye macht sich deswegen die Hosen naß.« »Ich sage Ihnen, Wye, in dem Mann hat vor unseren Augen eine Persönlichkeitsveränderung stattgefunden!« Er gab Peard ein Zeichen und deutete auf den Fernsehmonitor am Rande des Schreibtisches, auf dem noch immer der Kamerablick auf die Bibliothek und auf die Stelle gerichtet war, von der aus John seine Demonstration an der Tafel geliefert hatte. Dohenys Lippen formten stumm die Worte: »Ich hab zugesehen.« Peard nickte. Dann sagte Wycombe-Finch anscheinend etwas Beiläufiges, oder er widersprach Doheny. Dieser verzog finster
das Gesicht. 576 »Der Fahrer hat die ganze Zeit im Rückspiegel beobachtet«, sagte Doheny. »Ja! Der Priester hat ihm die Beichte abgenommen. Und was immer da gesagt wurde, Pater Michael ist davon absolut verstört.« Doheny bedeutete Peard, er solle sich ihm gegenüber an den Schreibtisch setzen. Peard gehorchte. Aber er fragte sich, wieso Doheny es wagte, eine derartige Information diesem Engländer preiszugeben. Das war gefährlich. Es konnte ja schließlich jeder das Gespräch abhören. »Fünf, ja«, sagte Doheny. »Er sagt, die Grundserie ist weiterhin durch vier teilbar.« Doheny hörte eine Weile in den Apparat, dann sagte er: »Was ist daran unnatürlich? Wir haben das direkt aus dem Munde des Propheten!« Dann sagte Wycombe-Finch anscheinend etwas, was Doheny amüsant fand. »Aber warum sollte er uns austricksen wollen? Auf jeden Fall ist es wunderschön simpel: fünf Einzelausläufer für die Doppelspirale, und alle darauf angelegt, sich in die Rezeptorform einzufügen. Das ist ziemlich elegant. Ich sage Ihnen, Wye, der Mann da, wie der so dastand und uns all das erklärt hat, der wußte, wovon er redete.« Doheny spricht ganz schön britisch, wenn er mit Wycombe-Finch redet, dachte Peard. Er geht so verdammt offen vor mit dieser Kollaborationsgeschichte! Das riecht nach Verrat. Doheny hörte wieder zu, dann rollte er die Augen und sagte: »Ja, die möglichen Implikationen könnten einen am eigenen Verstand zweifeln lassen. Ich sprech dann später noch mit Ihnen, Wye.« Er legte vorsichtig den Hörer auf, ehe er zu Peard aufblickte. »Adrian, haben Sie wirklich noch nicht begriffen, was für 'ne Art Tiger wir da am Schwanz packen wollen?« »Was meinen Sie damit?« »Haben Sie mal darüber nachgedacht, wohin ein solches neues Wissen führen kann?« »Wir könnten die Welt wieder zusammenbauen«, sagte Peard. Doheny spähte unter gesenkten Lidern an Peard vorbei in 577 den Schatten. »Zusammenbauen? Und - wieder? O nein, Adrian! Das Ei Goggelmoggel aus Alicens Wunderland ist irreparabel zerbrochen. Und was immer wir vielleicht wieder zusammenkleben werden, die gleiche alte Welt wird es nicht mehr sein. Die ist endgültig kaputt. Vergessen wir sie!« »Zwei Generationen, höchstens drei«, sagte Peard. »Ach, seien Sie doch nicht töricht, Adrian!« Dohenys Stimme klang nun zornig. »Wissen war schon immer Macht, aber niemals früher in diesem Ausmaß. Wenn wir nämlich nicht sehr aufpassen, dann könnten wir Gefahr laufen, eine Welt zu schaffen, neben der diese Pestzeit vergleichsweise so harmlos wie eine Dorfkirmes wirken würde.« Peard blinzelte. Was meinte Doheny wohl damit? Sicher, es würde auf der Erde noch eine Zeitlang Frauenknappheit herrschen. Aber wenn es ihnen gelang, diese Seuche zu besiegen und von ihr zu heilen, konnten als Folge möglicherweise viele andere Krankheiten beseitigt werden. Ein düsterer Schatten würde von der Zukunft der Menschheit genommen sein. »Ich empfehle uns beiden jetzt etwas Schlaf«, sagte Doheny. »Unser Gast... - ist er für heut nacht sicher und bequem untergebracht? « »Die Tür ist verschlossen, Wachen aufgestellt.« »Wenn er sich über den Riegel beschwert, sagen Sie ihm, ich hätte das angeordnet«, sagte Doheny. »Der Posten fällt nicht zu stark auf, oder?« »Alles ganz normal. In Zivil und immer 'ne Entschuldigung parat, warum er sich in den Gängen aufhält.« »Es gibt da die paar Einschränkungen bezüglich seiner Bewegungsfreiheit tagsüber«, sagte Doheny. »Er darf auf keinen Fall in die Nähe des Sicherheitstanks da drunten gelangen, in dem Kate und Stephen sich aufhalten. Es muß ständig jemand bei ihm bleiben. Genaue Überwachung und sofortiger Alarm - und lassen Sie ihn nicht vom Gelände. Außerhalb des Perimeters ist es für ihn nicht sicher, er wird das ganz gut verstehen.« »Was ist mit dem Priester und diesem Jungen?« 578 »Keinerlei Einschränkungen für sie. Aber ich möchte, daß unser Mann ihnen oft zufällig begegnet. Ist der alte Moone greifbar?« Peard warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Hält sich jetzt in seinem Quartier auf.« »Er soll irgendwann morgen Wanzen in O'Neills Zimmer anbringen!« »Sie sind sicher, er ist O'Neill?« »So sicher wie das Gold in der Bank.« »Und falls er merkt, daß man ihm Wanzen ins Zimmer gesetzt hat? Wird ihn das nicht mißtrauisch machen?« »Ach, Moone kennt sich damit aus. Sagen Sie Moone, er soll ein Bandgerät anschließen, und ich will die Aufzeichnungen jeden Tag haben.« »Sie bleiben also?« »Ich bleibe. Nichts könnte mich jetzt von hier wegbringen.« Peard kniff die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Diese Entwicklung gefiel ihm gar nicht. Er zog es vor, Herr über sein eigenes kleines Imperium zu bleiben, mit eigener Machtbefugnis. Und diese Machtbefugnis wurde durch Dohenys Anwesenheit geschwächt. »Und ich will keine Pannen«, fuhr Doheny fort. »Keine Reprisen der plumpen Eseleien wie die von Kevin
O'Donnell! Falls das hier schiefgeht, dann trage ich die Verantwortung. Und da dies so ist, bestehe ich darauf, daß man meinen Anordnungen aufs Tüpfelchen genau nachkommt, und ich bleibe hier, um dafür zu sorgen, daß das auch geschieht.« Peard nickte. Damit hatte er gerechnet. Wenn die Sache fehlschlug, dann konnte Doheny sich ganz allein die Schuld zuschreiben. »Hat man mir mein altes Zimmer zugewiesen?« fragte Doheny. \ »Ja.« »Dann kommen Sie jetzt«, sagte Doheny. »Wir brauchen dringend etwas Ruhe. Morgen wird ein ziemlich hektischer Tag werden.« 579 »Ich muß aber noch die Vorratslisten überprüfen«, sagte Peard. Doheny lächelte, aber es fiel Peard auf, daß das Lächeln sich nicht von den Lippen bis zu den Augen ausbreitete. »Na dann. Schön«, sagte Doheny und ging aus dem Raum. Peard stapfte mehrere Minuten lang auf und ab, ehe er den Telefonhörer aufnahm und ein Gespräch mit Dublin anmeldete. Als er seine Verbindung bekam, identifizierte er sich und sagte nur: »Ich glaub, jetzt haben wir Doheny am Schwanz!« Bis zum Ausbruch dieser Pest machte man sich wenig Gedanken darüber, wie Technologie - wissenschaftliche Forschung und Entwicklung inbegriffen - sowohl Erfolge wie Katastrophen sozusagen im Eiltempo möglich macht. SAMUEL B. VELCOURT Hüls Anders Bergen fühlte sich überhaupt nicht wie ein einflußreicher Generalsekretär der Vereinten Nationen. Er schmetterte die Tür seines Büros zu, marschierte zum Schreibtisch und stemmte beide Fäuste auf die Platte. Das darf so nicht weitergehen, dachte er. Draußen war es fast ganz dunkel geworden. Ein nebeltrüber Frühlingstag in New York City ging zu Ende - ein Tag, der auf seltsame Weise fast so war wie derartige Frühlingstage seit über fünfzig Jahren: die Menschen beeilten sich, vor Einbruch der Dunkelheit von den Straßen wegzukommen. Diese Hektik in den abendlichen Straßen war kennzeichnend für diese Stadt gewesen, so weit er sich zurückerinnern konnte. Bergen hörte den Verkehrslärm sogar bis hier herauf. New York war schon immer eine lärmerfüllte Stadt bei Einbruch der Nacht, dachte er. Vor seinen Türen, in den Gängen und Büros, summte es noch immer vor Aktivität. Die Vereinten Nationen waren in Gärung durch Berichte und Gerüchte. Die Chinesen stritten nicht ab, daß sie in Kangsha kurz davor stünden, eine be580 deutsame medizinische Neuigkeit zu veröffentlichen. Ein brillantes neues Forscherteam in Brasil-Israel hatte am selben Morgen vorsichtige Enthüllungen über eine Kryogen-Tiefschlaftechnik preisgegeben, bei der man das Leben einer pestinfizierten Frau auf unbegrenzte Dauer tiefgekühlt erhalten konnte. Die Schweiz meldete >einen Mischerfolg< mit einer gefährlichen chemotherapeutischen Behandlungsversuchsreihe der Pest. Typisch, natürlich müssen es die Israelis und die Schweizer sein, die mit brillant-unorthodoxen Methoden an das Problem rangehen, dachte Bergen. Darin waren die beiden Völker sich ähnlich - die Reihen fest geschlossen, und dann marsch, den Blick starr auf die eigene innere Stärke gerichtet. Und was war drüben in Huddersfield los? Bergen richtete sich auf und schüttelte die schmerzenden Handmuskeln frei. Schlechte Gewohnheit so was, die Fäuste zu ballen, wenn man sich aufregte. Als hätte es nicht bereits genügt, was am Morgen in Philadelphia passiert war, kam dann auch noch das Verhalten der Briten, die sämtliche außer den grundwichtigen Kommunikationsverbindungen zur Außenwelt abgeriegelt hatten ... -und das erfüllte Bergen mit tiefer Besorgnis. Er bog um den Schreibtisch und ließ sich in seinen prachtvollen dänischen Sessel fallen. Von dieser Position aus konnte er den Verkehrslärm besonders deutlich vernehmen. Die Differenzen mit BP-New York waren weitgehend akzeptiert worden, hatte man ihn unterrichtet - alle paar Blocks Kontrollpunkte, elektronische Personalausweislesegeräte, Haus- und Blockwarte, die jeden Bewohner vom Sehen her kennen sollten. Wie schnell doch das unerträglich Empörende wieder zur Routine werden konnte! Kaum noch eine Party irgendwo heutzutage, dachte Bergen. Ist eigentlich ein Jammer! Eine hübsche, entspannende, altmodische Party war genau das, was er jetzt nötig hatte. Das würde von den anliegenden Problemen ablenken. Besonders von dem da, diesem neuen Problem, das eine Entscheidung von ihm verlangte. 581 Zu viele unbekannte Faktoren lauerten dicht an den Kanten der Erkenntnis, dachte Bergen. Warum wurde Ruckerman nach England geschickt? Bergen fiel nicht eine Sekunde lang auf die Story herein, daß ein Berater des Präsidenten der Vereinigten Staaten sich zufällig infiziert habe. Velcourt braute irgend etwas zusammen. Schlauer Bursche, dieser Velcourt! Denk bloß, wie schnell der sich als Trittbrettfahrer bei der Papstkampagne gegen die >ungezügelte Wissenschaft populär gemacht hat! Aber natürlich würde er seinen Standpunkt angesichts dessen, was gerade in Philadelphia passiert war, >neu überdenken< ... Die Explosion einer Gashauptleitung, gefolgt von nicht unter Kontrolle zu bringendem Feuer - und der Heilige
Vater und neun seiner Kardinäle waren tot. Ein Unfall? Bergen bezweifelte es. Es roch stark nach einem geplanten Unfall. Zu viele Leute aus der Gerüchteküche auf den Straßen unterwegs, die flüsterten, das sei die Strafe GOTTES dafür, daß der Papst die Wissenschaftler angegriffen habe. Nein, die Sache war geplant und durchgeführt worden - von einem Meistermörder, dem nahezu unbegrenzte Ressourcen zur Verfügung standen. Steckte Velcourt dahinter? Aber die Straßen waren wirklich ein gefährliches Feld für solch ein Spiel; die Sowjets hatten das zu ihrem Verdruß erfahren müssen. Bring die Menschen dazu, daß sie sich daran gewöhnen, als Mob zu handeln, und du läufst Gefahr, daß der hirnlose Vielfüßler sich gegen dich wendet. Gewöhne die Menschen an die Verbreitung von Gerüchten - und das Gerüchtesystem entwickelt seine Eigendynamik! In der ganzen Welt wimmelte es von falschen Wahrheiten und Patentkuren. Er, Bergen, wußte das. Man brauchte Spezialtrupps, diese Gerüchte und Quacksalber zur Strecke zu bringen, oder ... Gott helfe ihnen! Oder herauszufinden, daß an einem was Wahres sei. Essigbäder - du lieber Himmel! Es bestand kein Zweifel mehr daran, daß die Seuche mutierte und sich auch auf Tierpopulationen ausbreitete, auf wilde und zahme. Velcourt hatte bereits im geheimen erklärt, 582 daß er schon Maßnahmen eingeleitet habe, um bestimmte Tiergattungen mit Schlüsselrolle für den Menschen zu erhalten und zu konservieren: Rinder, Schweine, Hunde, Hauskatzen. Und andere Nationen unternahmen zweifellos ähnliche Schritte oder würden es doch bald tun. Das >private Warnsystem< der UNO hatte im stillen das Wort in Kurs gebracht, aber in ein paar Stunden würde es allgemein bekannt sein. Was können wir tun? Müssen wir wirklich alle wildlebenden Tierarten abschreiben? Afrika wäre verlorene Liebesmüh. Da gab es überhaupt keine Hoffnung mehr. Ein paar indische Elefanten würden möglicherweise zu retten sein, besonders an Orten wie etwa dem Berliner Zoo, der dank der Pufferzone der Sowjets, dieses Eisernen Rings, noch unbeschädigt war. Der Eiserne Ring wurde als grandiose selbstlose sowjetische Intervention gepriesen ... Bergen konnte nur den Kopf schütteln. Vor ein paar Jahren hatte die ganze Welt den Eisernen Vorhang in Bausch und Bogen verdammt. Heute war der Eiserne Ring eine >Wohltat< für die Menschheit. Bergen ließ den Kopf in die Hände sinken. Warum waren nur seine Gedanken so zersplittert! Jede Ablenkung schien ihm willkommen zu sein, damit er nur den Augenblick hinauszögern könne, in dem er seine Entscheidung treffen mußte. Die Frage lautete: Sollte die Menschheit versuchen, die wildlebenden Tierarten der Erde zu retten? Die Frage lautete: Wie machen wir es den Menschen der Erde klar, daß ein solches Unterfangen unmöglich wäre? Die Meeressäuger würden nicht überleben können. Das Ende der Wale. Das Ende der freundlichen Delphine. Das Ende für die drolligen Seelöwen. Das Ende für die verspielt-glücklichen See-Otter. Ende, Finis, Schluß, Aus! Wolf, Coyote, Dachs, Präriehund, Koala, Panda, Zibetkatze, Igel, Antilopen, Rehe, Hirsche ... Gerechter Gott! dachte Bergen. Die Rehe und Hirsche. Er bekam eine Vision von passionierten Jägern, wie sie, die jetzt schon wild über die Beschränkung ihrer alljährlichen 583 Schlachtorgie schäumten, auf den Beschluß reagieren würden, daß das Hochwild erledigt sei. Und der Schaufelhirsch ... das Bison ... Kein Groundhog Day mehr! Kein Gemetzel der Murmeltiere] Das Konzept zum Schutz der >Gefährdeten Arten< war absurd geworden! Wie konnte er, Bergen, sich um Tiger, Jaguar, Leopard und Seekuh kümmern, wenn inzwischen der Mensch die am direktesten vom Aussterben bedrohte Tiergattung geworden war? Wenn man die Menschen nur dazu bewegen könnte, gemeinsam ... Bergen richtete sich auf, und der Gedanke richtete ihn auch innerlich auf; er spürte: da steckte etwas Wesentliches und Wertvolles. Ein Freiwilligen-Projekt? Beiträge? Die Menschheit würde ihm ins Gesicht lachen, wenn er ein Finanzprojekt zur Rettung der Wildtiere vorschlagen würde. Geld aufzutreiben, während die Menschen immer noch der furchtbarsten Gefahr ausgesetzt sind! Es würde scheußliche Proteste geben gegen die > sentimentale Tierschützerei< ... Aber die wildlebenden Tiere waren unendlich wertvoll - für die Wissenschaft, besonders für die Genetik, für die Forschung. Es könnte sonst dazu kommen, daß Wissenschaftler nur noch Menschen als Versuchstiere verwenden konnten. Der Gedanke schmeckte ziemlich übel, wenn man seine Auswirkungen auf die Moral bedachte. Moral - ja! Bergen dachte über den Bericht nach, den man ihm vor knapp einer halben Stunde übergeben hatte, dieses Papier, das ihn so zutiefst erzürnt hatte. Seit ein paar Wochen war er darüber informiert, daß bestimmte Elemente, die in engem Kontakt standen zu den Machtklüngeln im Capitol, eifrig Unruhe unter den American Muslims schürten. Es gab wilde Gerüchte über eine geheime Ausbildungsbasis im Sudan. Es gab Stories darüber, daß Moslems aus dem Sudan bereitstünden, einen Vergiftungs-Jihad, einen Heiligen Krieg mit der Pest, zu beginnen; daß sie auf dem Sprung stünden, aus ihrer Isolation auszubrechen, um die Ungläubigen mit Schwert und Dolch zu 584 töten ... und die Frauen der Ungläubigen, indem sie sie einfach unter ihrem Atemhauch begrüben ...
Was war nur mit den alten humanistischen Wertbegriffen der Welt geschehen? Bergen hatte in dieser Stunde das Gefühl, als kämpfe er einen einsamen, einen verlorenen Kampf, um wenigstens etwas von diesen alten humanistischen Werten zu erhalten. -Liebe Deinen Nächsten! - dieses simpelste, dieses idealste Gebot. Die Goldene Regel. Der Bericht, den man ihm ausgehändigt hatte, ehe er dann so wütend in sein Büro gestürmt war, hatte die Hintermänner bloßgestellt, die für den örtlichen Aufruhr der Muslims verantwortlich zu machen waren. Und da kam der Name Shiloh Broderick! Inzwischen betrachtete Bergen Broderick als eine Art Inkarnation des Satans, als die in einer Person verkörperte Essenz all dessen, was niedergehalten werden müsse, wenn die Welt auch nur annäherungsweise wieder zur früheren Ordnung zurückgeführt werden sollte. Broderick hatte seine Agenten in New York City und fünf weiteren Schlüsselzentren der Macht in den USA eingeschleust, darunter auch Philadelphia. Das ging unzweifelhaft aus diesem Bericht hervor. Stand also Broderick hinter dem Tod des Papstes? Bergen hielt es keineswegs mehr für ausgeschlossen. Aber wie sollte man das, was die Menschheit an Anstand und moralischer Verantwortung je hervorgebracht hatte, verteidigen, wenn es solche Männer gab? Bergen hatte es durchaus im Gespür, daß in der Seuchen-Forschung ein neuer Aufschwung stattfand. Die Leute standen kurz vor ungeheuren entscheidenden Entdeckungen. Und öffentliche Erklärungen konnten nun jeden Augenblick eintreffen. Aber all das, was aus der Vergangenheit an Gutem noch geblieben war - das mußte unbedingt erhalten werden! Rettet die Tiere! Und dann begann er zu sehen, welche Form das annehmen mußte: ein lauter Aufschrei, ein Hilferuf an die geschlagene Menschheit, ein Ablenkungsmanöver für die Leidgeprüften, 585 das ihre Phantasie beschäftigen und sie über die schlimme Zeit hinwegtragen würde, bis die Forscher ein Heilmittel gegen die Pest gefunden haben würden. Der Gedanke wirkte sich wie eine Vitaminspritze auf Bergen aus. Und ganz nebenbei bahnte sich hier für ihn auch die Antwort auf sein zweites Problem an. Wäre es richtig, wenn er diesen Bericht über Broderick dem Präsidenten der USA zur Kenntnis gelangen ließ? Bergen konnte den Verdacht nicht so recht loswerden, daß Velcourt vielleicht doch irgendwie in die Machenschaften Brodericks verstrickt sein könnte. Es galt zwar als allgemeine Weisheit, daß die beiden einander haßten, aber auch das war in der Politik natürlich ein uralter Trick. Vielleicht war Broderick nur ein äußerst bequemes Werkzeug für Leute wie Velcourt. Ach, was! Wenn bekannt war, daß der Generalsekretär der Vereinigten Nationen über Brodericks allerjüngste Einmischung Bescheid wußte, würde das vielleicht gewalttätigen Aktionen aus dieser Richtung einen Dämpfer aufsetzen. Und Bergen war sich sicher, daß er bei diesem Ballwechsel den Aufschlag haben würde ... Rettet unsere Tiere! Bergen griff nach dem roten Telefon in der Schublade seines Schreibtisches, ja, er hatte es bereits in der Hand, als eine Veränderung im Geräuschpegel vor seinem Büro ihn zögern ließ. Da draußen fiel irgend etwas mit Krach zu Boden. Er hörte die Veränderung in den Geräuschen und Lauten, die die Menschen dort sonst von sich gaben - da waren auf einmal Schreie, Rufe, Angstschreie ... die zum Teil abrupt abbrachen. Er zog die Hand von dem roten Telefon zurück und stand auf. Er stand immer noch unentschlossen so da, als seine Tür krachend aufgestoßen wurde. Da stand plötzlich ein Mann mit dunkler Schneemaske vor ihm. Er hielt eine MP mit Schalldämpfer in den Händen. Die Geschoßgarbe, die Bergens Brust durchsiebte, stickte ein dunkles Lochmuster in das Glas der Fensterscheibe hinter ihm. Der Schütze stieß ein wildes Geschrei aus, ein Heulen. Es 586 war der letzte menschliche Laut, den Bergens Ohren, den Bergens Gehirn registrierten: »Insh-Allah!« O König, der geboren ward, Die Sklaven zu befreien, Hilf in der künft'gen Schlacht Den Gaelen, deinem Volk! Altes irisches Gebet Es waren drei Reiter, die von Süden her das Seeufer entlang geprescht kamen - eine dunkle Bewegung im sterbenden Licht. John sah sie in der Ferne, hörte im gleichen Augenblick auch die Bewegung zahlreicher schwerer Fahrzeuge in den Bergen über dem Forschungslabor. Er sah: Die Pferde waren schaumbedeckt, reagierten aber noch immer auf die Reitgerten. John sah ihnen zu. Er befand sich auf der Wiese über dem Lough, und er war hierher gekommen, um nach einem Tag voller Hetze allein zu sein. Natürlich wußte er, daß er nicht wirklich allein war; aus einer Türöffnung in seinem Rücken wurde er von Männern beobachtet. Aber es war ihm nicht einmal soviel Gefühl geblieben, sich darüber zu ärgern. Er fühlte sich ausgelaugt, zu jeder starken Bewegung unfähigFragen ... Fragen ... Fragen ... Es hatte den ganzen Tag über kaum einen Augenblick gegeben, an dem ihn nicht irgend jemand angezapft hatte. Und die Antworten waren ihm aus dem Mund geströmt, ohne daß er es bewußt wollte - eine andere Stimme, eine andere Persönlichkeit, die von innen her handelte, die sich aus einer bestürzend fremden Quelle der Unabhängigkeit nährte. War das O'Neill-im-Kopf? Nicht einmal dessen war er sich sicher.
Die Reiter waren noch immer ein Stück weit entfernt, verlangsamten jedoch die Gangart nicht. John merkte, daß die Reiter sich nie umblickten, was er für ein Zeichen dafür hielt, 587 daß sie nicht verfolgt wurden. Und dann schlagartig der Gedanke: Warum haben die es so eilig? Da war etwas an diesen Reitern ... Er spürte den kalten Hauch bevorstehenden Unheils. Der Lärm der sich nähernden Fahrzeuge wurde stärker, doch er konnte jetzt auch das Hämmern der Pferdehufe hören. Er rang nach Luft. Dann erkannte er zwei der Reiter ... O Gott! Es waren Kevin O'Donnell und Joseph Herity daneben, und ein Fremder dicht dahinter. Die Pferde stoben vor dem Hintergrund eines steinübersäten Hügelgeländes dahin, einer Landschaft, die von Sekunde zu Sekunde dunkler wurde, je tiefer die Sonne auf die Hügel im Wesen zusank. Warum kamen Kevin O'Donnell und Joseph Herity hierher? Und warum zu Pferd? Er schaute zu, wie die Männer an ihm vorbei die Wiese heraufpreschten. Herity grinste John fratzenhaft an, aber die andern beiden wendeten nicht einmal den Kopf. Sie hielten in dem Hof, der durch die beiden seewärts gerichteten Flügel des Gebäudes gebildet wurde, ließen die Zügel fallen und eilten wortlos an Johns Bewachern vorbei ins Haus. Kommen zu Pferd her? Aber wieso sollte das bedrohlich sein? Die Sonne rutschte hinter die Hügel, und in dem langen nun folgenden Dämmerlicht über Johns Welt wurde es kälter. Er fröstelte. Seit neun Wochen war er nun schon hier, und er hatte gesehen, wie sich planlose Geschäftigkeit langsam in eine neue zielstrebige Vitalität verwandelt hatte. Die besten Apparate der Erde standen ihnen zur Verfügung, ausnahmslos über die Freiboote und die Finn Sadal importiert, und endlich schien die Sache richtig Gestalt anzunehmen. John hatte die Erregung den ganzen Tag lang gefühlt, und dies war ein weiterer Grund für seine Erschöpfung. Fast den ganzen Tag lang hatten sie ihn im Westflügel festgehalten, wo Labortechniker mit fortschrittlichen Computertechniken vertraut zu machen waren, wo sie lernen sollten, ihre Bemühungen durch Automatisierung zu erleichtern. Noch eine weitere Woche, zwei im äußersten Fall, und sie würden das Seuchenpathogen in Händen halten. 588 Und danach ... was? Einmal heute hatte er kurz Doheny auf der anderen Seite des Geländes zu erblicken geglaubt. Dort drüben bei der alten Burgruine, dem zentralen Kern der Anlage, hatte heftige Aktivität geherrscht. Durch eine frischgebrochene Schneise in der Backsteinmauer war dort ein großer Flachlader rückwärts angerückt. Nach einiger Zeit war er wieder erschienen, und ein großes tubusähnliches schwarzes Ding war auf seiner Ladefläche vertäut. John hatte es für einen Stahltank gehalten. Zu dem Lkw hatten sich Panzerwagen gesellt, ein ganzer Fahrzeugkonvoi, und dann waren sie auf die Straße nach Nordosten gebogen. Man hatte John früher gesagt, in dieser Richtung lägen Keils und Dundalk an der Irischen See, Orte, die er - so glaubte er - wahrscheinlich niemals sehen würde. Dann kam Old Moone herein und bat John mit zu den Kulturen ins Labor zu kommen, um die Aufstellung der Geräte für die automatischen Veränderungen zu prüfen. Moone, das war John bald klar, gehörte sozusagen zum Inventar im Labor. Der alte Mann schlurfte klapprig umher, zielstrebig, aber ohne den notwendigen inneren Antrieb. Viele der Forscher hier hatten diesen gleichen Mangel an Lebhaftigkeit und Unabhängigkeit zur Schau gestellt, bis Johns Enthüllungen sie mit neuem Feuer erfüllt hatten. Vielleicht wußte Moone nicht, was an den gekachelten Arbeitstischen und in dem fremdartigen Instrumentengewirr vor sich ging, an denen er so oft vorbeischlurfte. Der Mann zeigte nicht die geringste Ehrfurcht vor Wissenschaftlern. Wenn überhaupt, dann schien er alles und alle um sich herum geringzuschätzen. Ein altes Verhaltensmuster, dachte John. Wissenschaftler verdienten diese Reaktion. Er erinnerte sich an die wenigen berühmten Wissenschaftler, denen er begegnet war; es wurde ihm klar, wie verschieden von den beiden Sterblichen sie gewirkt hatten. Das Hirn eines Wissenschaftlers unterscheidet sich vom Gehirn anderer Menschen, dachte John. Der Wissenschaftler bewegte sich auf einer höheren Höhe. Er blickte 589 weiter über die Landschaft hinweg. Die Menschen erwarteten von solchen Leuten das Betragen des edlen Ritters, der romantischen Anführer. John blickte über den lough hinaus. Alles war dort inzwischen grau geworden über dem Wasser. Und ich war einmal ein Wissenschaftler, dachte er. Ein seltsamer, fremdartiger Einfall; er zwang ihn, die Unterschiede, die er gespürt hatte, neu zu bewerten. Diese Unterschiede waren weitaus drastischer, als es in den alten romantischen Legenden erlaubt war, das wurde ihm nun klar. Er hatte mit eingeengtem Sichtfeld gearbeitet, das war es. Sogar die nächste Umgebung war ihm versagt geblieben. Es war ein Blick, der ohne den Fokus zu verändern über den Einzelmenschen hinwegschweifen konnte. Abstrakte Hingabe an das Projekt. Nicht einmal die Hoffnung war erlaubt, nur das unmittelbare Resultat. John begann in den Worten, die Doheny ihm dort im Kilmainham-Gefängnis gesagt hatte, einen neuen Sinn zu finden. Schluß mit den Mythen? Die Menschen in diesem Land waren in ihren persönlichen Höllen der Verzweiflung herumgeirrt, bis John auf den Plan trat. Sie hatten sozusagen aus Gewohnheit, mechanisch, weiterexistiert. Die Ausbildung hatte sie mit Verhaltensschemata versehen, denen sie folgen konnten, aber diese Verhaltensmuster erlaubten kein Abweichen von den alten ausgefahrenen Gleisen.
Können sie wirklich anwenden, was ich ihnen gegeben habe? fragte sich John. Ein verzweifelter Gedanke, der sich aus diesem verlorengegangenen Ort in seinem Innern aufbäumte. Er konnte die Seuche im Labor rekonstruieren. Das wußte er. Aber das Heilmittel gegen sie? Er wandte sich zu den Gebäuden zurück, dann stieg er langsam, von seinen Wachhunden gefolgt, zu seinem Zimmer hinauf. Das Abendessen lag ihm schwer im Magen, und er wußte, er würde nicht so bald schlafen können, aber er war doch froh, als er hörte, wie sie den Riegel vorschoben, daß er nun abgeschirmt und in seinem Zimmer isoliert war. Er 590 schaltete kein Licht an. Er schaute zu, wie sich die Dunkelheit immer tiefer über den See senkte. Irgendwo ein Hämmern ... Als tauche er aus einem Traum auf, erkannte John, daß das Geräusch von rennenden Füßen im Flur stammte. Die Tür wurde aufgerissen, und Doheny kam hereingestürzt. Er blinzelte in der Dunkelheit nach dem grellerleuchteten Flur, knipste die Deckenbeleuchtung an, schloß die Tür und starrte John an. »Sie müssen mir jetzt sehr genau zuhören und dann tun, was ich Ihnen sage«, sagte Doheny. »Wir haben nicht viel Zeit.« Vor dem Haus waren Rufe zu hören, noch mehr Lärm von schweren Fahrzeugen. John starrte Doheny an. »Es ist der Fluch Irlands«, sagte Doheny. »Wir sind dazu verdammt, uns endlos immer zu wiederholen.« »Was ist los?« »Kevin O'Donnell hat sich der Kontrolle über diese Region hier bemächtigt«, sagte Doheny. »Seit zwei Tagen wußte ich, daß er das beabsichtigte. Alex hat mich gewarnt...« Doheny schüttelte den Kopf. »Kevin und Joseph haben irgendeinen teuflischen Pakt geschlossen und sind jetzt hergekommen, um ihn auszuführen.« »Aber warum kommen Sie da so zu mir hereingestürzt? Was hat das mit mir zu tun?« »Sie verhören den Priester und den Jungen«, sagte Doheny. John spürte, wie etwas in seiner Brust sich verkrampfte. »Wenn sie den Jungen bedrohen«, sagte Doheny, »wird Pater Michael das Beichtgeheimnis brechen. Ich kenne ihn. Und was wird er ihnen dann sagen, John?« John öffnete den Mund, vermochte aber nicht zu sprechen. Die Stimme kam einfach nicht. »Kevin und Joseph sind der gleiche Typ Mann. Sie sind Extremisten, Fanatiker! Ihnen ist alles gleich, und alles bietet ihnen die Entschuldigung, um an ihrem eigenen Adrenalin high zu werden. Es ist eine Droge für sie, und sie würden alles tun, bloß um einen Fix zu kriegen. Sie werden den Prie591 ster so lange nicht in Ruhe lassen, bis sie ihn leergepumpt -und sich ihren Fix verpaßt haben.« John klappte den Mund zu, er konnte noch immer nicht sprechen. »Wer sind Sie, John Garrech O'Donnell?« fragte Doheny. »Wer sind Sie wirklich?« »Ich habe es Ihnen gesagt«, keuchte John. Es schmerzte ihn in der Kehle. »Haben Sie das auch dem Priester gesagt?« John zog die Schultern hoch und beugte sich nach vorn. Der Schmerz in seiner Kehle, seiner Brust schrie nach Linderung. »Sie haben seine Fingerabdrücke und Dentalmuster in den Staaten entdeckt«, sagte Doheny. »Seine ... wessen ...« Mehr brachte John jetzt nicht hervor. »O'Neills natürlich. Sie halten's geheim, die Mistkerle, aber wir werden sie bald doch bekommen. Und was werden wir aus diesen Fingerabdrücken und den Zahnkarten herauslesen, John?« John schüttelte, erneut stumm, den Kopf von einer Seite zur anderen. Er konnte O'Neill-im-Kopf nicht fühlen. Dort war nun nur noch eine große Leere. »Sie sind ein sonderbares Exemplar, ohne Zweifel«, sagte Doheny. »Haben Sie überhaupt wirkliche Gefühle?« John starrte den Mann an. Die fragenden Augen nagelten ihn bewegungslos fest. »Wir sind dem Sieg so nahe«, sagte Doheny. »Schon so nahe!« Er hob Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, die Finger lagen nur einen Spaltbreit auseinander. »Und jetzt das!« Es gelang John zu flüstern: »Was ... geschieht?« »Das, was uns immer wieder zerstört«, sagte Doheny. »Der Sieg. Wir vertragen den Sieg nicht. Ein Sieg, der hetzt uns gegeneinander auf, ja, das tut er. Wie Hunde über einem Knochen. Das wird aus jedem Sieg in Irland - ein Knochen, saubergenagt von unseren eigenen Zähnen! Kein Fetzchen 592 Fleisch mehr dran. Und am Ende werfen wir ihn weg, weil er für uns wertlos geworden ist.« Wieder formten Johns Lippen Worte: »Was geschieht?« Er sagte es stimmlos. Doheny neigte ein Ohr zur Tür hin. Etwas entfernt konnte man undeutlich schlagende Laute hören. Doheny sagte: »Die Wahrheit ist, wir Iren machen lieber Heldenepen aus unseren Katastrophen, also haben wir nie einen Sieg finden können, der den gleichen Zweck erfüllt hätte. Wir behaupten zwar vielleicht was anderes, aber unsere Taten beweisen, daß ich die Wahrheit sage. Wir haben lieber Katastrophen.« John wich vor Doheny zurück und blieb an der Bettkante stehen. Die Knie zitterten ihm. »Man wird Sie vor Gericht stellen, John«, sagte Doheny. »Und dann hinterher werden sie mich auch auf die Anklagebank zerren.« Er grinste. »Weil ich Kevin die Beute verweigert habe, die er hier wirklich gesucht hat:
die kleine Katie Browder!« Rennende Schritte waren im Gang zu hören. »Hören Sie mir gut zu, John!« sagte Doheny. »Sie müssen darauf bestehen, daß Pater Michael als Ihr Verteidiger bestimmt wird!« John brachte ein heiseres Wispern heraus: »Mein Verteidiger, wobei?« »Versprechen Sie's mir, Sie Narr!« Johns Kopf nickte ganz von allein zustimmend. Die Tür hinter Doheny wurde mit solcher Gewalt aufgestoßen, daß sie gegen die Wand knallte. John starrte durch die Türfüllung auf eine Gruppe bewaffneter Männer. In der vordersten Reihe stand Joseph Herity und grinste ihm entgegen. 593 Rachel, Rachel, ich denk immer: Ach, wie schön das Leben war, Kämt ihr Mädchen zu uns wieder Weit vom tiefen blauen Meer. Aus: Songs of the New Ireland Für Kate O'Gara Browder war die Flucht aus dem Forschungszentrum von Anfang bis zum Schluß ein Alptraum. Doheny hatte ihnen kaum Zeit zum Nachdenken gelassen oder dazu, gegen seine Entscheidung zu protestieren. »Es geschieht zu eurer Sicherheit.« »Aber wohin bringt ihr uns?« hatte Stephen gefragt. Er hatte Doheny durch die gleiche kleine Luke angestarrt, vor der Pater Michael Flannery am Morgen zuvor gestanden hatte, um die Trauung zu vollziehen. »Zunächst nach Dundalk«, hatte Doheny gesagt. Und während er noch redete, gab es auf einmal kein Zurück mehr. Es begann damit, daß die Luftpumpen stoppten, dieser konstante beruhigende Laut, der ihnen garantierte, daß der Luftdruck in ihrer Kammer höher lag als draußen, daß kein Pesthauch sich in ihre Zuflucht einschleichen konnte. Sie hatten mit diesem Geräusch so lange gelebt, daß es ihnen erst durch sein Nichtmehrvorhandensein auffiel! »Stephen! Die Pumpen arbeiten nicht mehr!« Er sprang auf und schoß an die Hauptluke, durch die man einen weiten Blick über die Außenwelt und auf einen Teil der Apparate hatte. »Was siehst du?« drängte sie dicht hinter ihm. Ein Gefühl aufsteigenden Entsetzens packte sie. Bitte, Gott! Nicht jetzt! »Da ist keiner draußen«, sagte Stephen. Er trat an das Kommunikationsbord und schaltete das Mikro ein. »He! Ihr da draußen! Was ist den los?« Es kam keine Antwort. Dann hatten sie es gehört - zahlreiche Schritte, die Laute durch den Lautsprecher über der Luke seltsam lokalisiert. Neben den Schritten Schiebe- und Zerrgeräusche ... schwer, dann Metall, das über Steine scharrt. 594 »Da ist Doheny«, sagte Stephen. Sie zwängte sich neben Stephen, um nach draußen, um Doheny zu sehen. Er wirkte aufgeregt. Die Zauselhaare auf seinem Kopf waren noch wirrer als sonst. Doheny nahm den Außenhörer ab. »Es ist schon okay«, sagte er. »Die Pumpe bleibt nicht lange abgeschaltet.« »Aber was passiert denn?« fragte Stephen scharf. Und da hatte Doheny gesagt, man verlege sie zu ihrer eigenen Sicherheit nach Dundalk. Warum Dundalk? fragte Kate sich. »Denkt bestimmt dran, euren Vorrat an Antiseptika mitzunehmen«, sagte Doheny. »Und den Strick, den ihr als Sicherungsleine benutzt habt, als wir euch aus der Scheune raufholten. Spannt den wieder aus. Kann sein, daß ihr ein bißchen rumgeschüttelt werdet.« Doheny hatte seine Anweisungen mit einer intensiven Eintönigkeit gegeben, die sie nie zuvor an ihm gehört hatten. Sie sollten alles mitnehmen, von dem sie glaubten, sie würden es brauchen, und sie sollten es sorgfältig und sicher in der ursprünglichen Druckkammer aus Peards Scheune verstauen. Stephen sollte die Zugangsluke zum Tank mit Antiseptiksprays desinfizieren. Und Beeilung! Männer mit Schneidbrennern warteten bereits, um die Metallschleuse zwischen dem Originaltank und der hier gebauten Isolationskammer wegzuschneiden. »Wir können nicht beide transportieren«, hatte Doheny erklärt. »Aber warum machen wir das überhaupt?« hatte Stephen weitergebohrt. »Weil ich ein paar meiner Freunde beim Militär davon überzeugen konnte, daß wir Katie hier nicht am Leben halten können!« »Wo ist Adrian?« fragte Stephen. »Unter Bewachung in seinem Quartier. Adrian ist zum Feind übergelaufen. Behalt deine Pistole in der Nähe, Stephen! Kevin O'Donnell kommt, und nichts kann ihn aufhal595 ten. Er ist verrückt geworden, und er will Kate unbedingt haben.« »Aber warum Dundalk?« fragte Kate. »Weil wir hoffen, wir kriegen euch ganz aus Irland raus. Wir haben genug Leute in der Armee und auch andere, die loyal sind, so daß wir euch sicher bis Dundalk bringen können. Von dort aus ...« Doheny sprach nicht weiter. »Wohin?« wollte Stephen wissen.
»Nach England, hoffen wir. Alles hängt vom Barrier Command ab.« Dann wiederholte Doheny noch einmal seine Anweisungen. »Und es könnte nicht schaden, wenn ihr ein Laken mit Antisept tränktet. Das hängt ihr über die Eingangsluke, nachdem ihr sie geschlossen und luftdicht verriegelt habt.« »Der Luftdruck ...«, erinnerte Stephen. »Sobald wir euch auf dem Lastwagen haben, wird wieder eine Pumpe arbeiten. Dann habt ihr wieder erhöhten Druck. Am besten geht ihr jetzt so schnell wie möglich in die kleine Kammer.« Dann war Nylan Gunn, der Kommandant der Wachmannschaft am Killaloe-Institut, gekommen und hatte die Stellung von Doheny übernommen, dem er sagte, er werde im Kommunikationszentrum benötigt. Gunn war ein schlanker dunkler Mann aus Galway mit leichten O-Beinen und einem Miniaturgesicht. Vor der Pest war er Commander bei der Landpolizei gewesen. »Machen Sie sich keine Sorgen, Mädchen«, sagte er zu Kate. »Wir sorgen schon dafür, daß der wahnsinnige O'Donnell Sie nich' kriegen tut.« Moone hatte direkt hinter ihm gestanden, »um Adieu zu sagen«. »Verlaßt euch mal brav auf Fin Doheny und Nylan hier«, sagte er. »Die bringen euch heil raus. Und haltet euch bloß von dem Adrian Peard weg!« »Was hat Adrian getan?« fragte Stephen. Er hatte das Gefühl, als zöge man ihm den Boden unter den Füßen fort. Adrian sollte sie hintergehen? Wie? Was hatte er getan? 596 »Ich hab schon seit 'n paar Monaten 'n kleines Mikro in dem Büro von dem Hundesohn dringehabt«, sagte Moone. »Der war zu glitschig für mich! Und recht hab ich gehabt, jetzt hat er dem Kevin O'Donnell die Tür aufgemacht, damit der herkommt und uns herumkommandieren kann.« Stephen hatte die Geschichten über Kevin O'Donnell und seine Beach Boys gehört. Er warf Kate einen kurzen Blick zu. »Macht ihr mal schön, was Nylan euch sagt«, sagte Moone. »Alles Gute, Kate. Bring 'n tapferes Kind zur Welt, auch wenn ihr jetzt verheiratet seid.« Und unter Glucksen war er fortgegangen. Und dann war alles wilde verrückte Bewegung, laute Gespräche, der Lärm schwerer Apparat und Geräte, als die Bresche in die Außenmauer geschlagen wurde. Schließlich gingen Stephen und sie in die kleine Druckkammer, Stephen versiegelte die Innenluke, tränkte ein Laken in Desinfektionslösung und befestigte es über dem Einstieg. Es stank in dem kleinen Gelaß nach dem scharfen Antiseptikum. Kate setzte sich dicht neben Stephen auf das Bett und klammerte sich fest an ihn, als sie hörte, wie die Schneidbrenner die größere Druckkammer wegschnitten, und noch fester, als die Kabel um ihren Behälter geschlungen wurden, er in die Luft schwang und heftig auf der unstabilen Unterlage des Lastwagens abgesetzt wurde. Die Vertäuungskabel dröhnten gegen den Stahl der Kammer, als sie angebracht und gespannt wurden. Durch die Luke am Ende hatten sie eine neue Aussicht durch die Bresche in den Backsteinen, die erst vor so kurzem dort vermauert worden waren, um ihre Behälter einzuschließen. Dann kehrte das Geräusch des Kompressors wieder. Es beruhigte sie ein wenig. Sie konnten den Motor des Generators laut hinter sich, an der Kabinenrückwand des Lkws, tuckern hören. Der Lastwagen fuhr so langsam an, daß sie es zunächst gar nicht bemerkten, dann sahen sie die Öffnung zur Burg zurückweichen und spürten, wie ein Reifen in eine Rinne rutschte. Sie hörten Geräusche von anderen Fahrzeugen, ei597 ner ganzen Anzahl. Stephen spähte hinaus, »'ne Menge Panzerwagen«, sagte er. »Müssen zehn bis zwölf sein.« Nylan Gunns Stimme kam aus dem kleinen Notlautsprecher am Kopfende des Bettes. »Alles in Ordnung da drin?« Stephen fand das Mikrofon und schaltete es ein. »Sieht okay aus. Wie lang müssen wir so bleiben?« »Kann ich nicht sagen, mein Junge. Aber ich hock hier vorn beim Fahrer. Geben Sie einfach Laut, wenn Sie mich brauchen.« Stephen schaute Kate an. Sie sah bleich aus, auf ihrer Stirn tiefe Runzeln. »Warum streckst du dich nicht ein bißchen aus und versuchst ein bißchen zu schlafen, Liebes?« »Ich könnte jetzt nicht schlafen!« »Aber es wäre für dich sicherer, da auf der Matratze.« »Nein, war' es gar nicht. Nichts hier ist sicher.« Sie schloß die Augen. Das Kind fühlte sich in ihrem Bauch so schwer an. Und sie mußte dringend die Blase entleeren. Und es gab da keine andere Möglichkeit als die kleine Toilette, die sie anfangs benutzt hatten. Sie zwang Stephen, sich umzudrehen, während sie hinüberkroch und den Eimer benutzte. Dann hatte sie Hunger, und Stephen konnte ihr nichts weiter anbieten als Fisch und Bohnen in Dosen, beides kalt. Er bestand darauf, daß sie ihre Vitamine nähme, ehe er ihr das Essen gab. Er kann so gefühllos sein, dachte sie. Studiert immer in seinen medizinischen Büchern! Nie schaut er auf, auch wenn ich ihn anstarre, wenn ich ihn brauche. Er hatte nicht die geringste Ahnung davon, wie sehr sie sich nach einem knackigen Selleriestengel sehnte, wie scharf sie nach dieser frischen Kühle direkt aus dem Garten gierte ... nach frischem grünem Kopfsalat. Oh, wie sie sich danach sehnte! Oder eine rohe Karotte. Die mußten doch in der ganzen Zeit endlich einen Weg gefunden haben, wie sie frische Nahrungsmittel für diese Folterkammer hier sterilisieren konnten! Nachdem sie gegessen hatte, legte sie sich zurück und beobachtete Stephen, der dort bei einem der Bullaugen
kauerte und auf die vorbeiziehende Landschaft gaffte. Sie trug kein 598 Verlangen danach, mit ihm zusammen hinauszuschauen. Es würde sie nur die ganze Zeit daran erinnern, daß sie eingesperrt war, daß sie nicht dort hinausgehen konnte, nicht durch die Felder gehen, frische Luft atmen konnte, die nicht nach der chemischen Toilette stank. Was würde er machen, wenn sie jetzt plötzlich anfing ihn anzukreischen? Sie überlegte sich das ganz ernsthaft. Sie hatte große Lust zu kreischen. Was für ein trübseliges kleines Gefängnisloch war das hier. Über sechs Monate hier eingesperrt! Und wenn sie sich beklagte, fiel Stephen nichts Besseres ein, als sie daran zu erinnern, daß dieses Loch da ihr das Leben rettete. Kate hatte Beschreibungen gehört, wie die Seuche sich auf die Frauen auswirkte. Entsetzlich! Aber sie klammerte sich noch immer an eine verführerische Traumvorstellung. Es mußte irgendwo eine pestfreie Insel geben. Und dorthin würde sie mit Stephen gehen, und dort würden sie dann wieder unter freiem Himmel herumwandern. Vielleicht würde das ja gerade jetzt so kommen. Das Allerwiderlichste an diesem Eingesperrtsein war, daß es keine Tür nach draußen gab. Sie starrte auf das Bettlaken, das die versiegelte Luke bedeckte. Aber jetzt hatten sie eine Tür. Etwas rollte gegen ihren linken Ellbogen. Es war durch eine plötzliche ruckartige Bewegung des Lkws aus dem Gleichgewicht geraten: sie sah den kleinen Fernsehapparat, den man ihnen im Labor gegeben hatte. Sie zwang hastig den Wunsch nieder, das Ding zu zertrümmern. Es war wie die Bullaugen. Wenn es einem nicht den Anblick des Unerreichbaren bot, dann bombardierte es einen mit schlechten Nachrichten. Wenn es doch hier drin nur nicht so eng und so langweilig wäre! Und immer mahnte Stephen sie, daß sie doch unendlich viel zu lesen hätten. Ihre Hüter konnten ihnen Bücher sterilisieren - aber frisches Obst und frisches Gemüse konnten sie nicht keimfrei machen! Das kommt daher, daß sie scharfe Desinfektionsmittel und schwere Ultraviolettbestrahlung bei den Büchern verwenden können, wie ihr das 599 Schlauköpfchen Stephen jedesmal erklärte, wenn sie damit anfing. Verdammter Mistkerl Stephen! Erst macht er mir ein Kind, und jetzt will er nicht mal mit mir reden, wenn ich ihn brauch! »Ich will raus!« flüsterte sie. Über den Geräuschen des Lkws, die in der Enge des Tanks widerhallten, hörte Stephen sie nicht. Kate versuchte sich auszumalen, wie es sein würde, wenn sie aus der Druckkammer träte. Sie wußte, sie würde noch eine Zeitlang leben. Aber es war ja draußen gar nicht mehr die Welt, die sie einmal gekannt hatte. Die Welt war nicht mehr die Welt-vor-O'Neill! Der Wahnsinnige hatte sie verändert. Wegen einer Frau! Die hatten ihm seine Frau umgebracht. Kate wußte, da waren auch Kinder getötet worden. Zwei Kinder. Aber es war irgendwie romantischer, sich vorzustellen, daß die ganze Sache nur geschehen war aus Liebe zu einer Frau. Würde Stephen so was auch für mich tun? Der Wahnsinnige O'Neill hatte ihre Welt vollkommen verwandelt, weil sie ihm seine Frau umgebracht hatten. Verwandelt! Sie hatte am Abend zuvor die Nachrichtenzusammenfassung von Continental BBC gehört: auf der ganzen Erde kamen fünftausend Männer auf jede überlebende Frau. Das hatte sie fasziniert, aber Stephen hatte ein bißchen beunruhigt ausgesehen, als er sie danach angeschaut hatte. Der Bericht des Sprechers über die Disproportion war nur die Einleitung zu einem Kommentar über ein neues Phänomen gewesen. »Das Lysistrata-Syndrom«, hatte der Mann es genannt. Kate erinnerte sich noch genau an seine Worte: »Frauen erheben laut Anspruch auf Machtpositionen. Und wer könnte sie ihnen verweigern? Wird etwa die Kirche ihnen jetzt immer noch die Funktion als Priester und Geistliche verwehren?« Priesterinnen, dachte Kate. »Während die Katholische Kirche noch damit ringt, im Kielwasser der Tragödie in Philadelphia einen neuen Papst 600 zu wählen«, sagte der Kommentator, »sieht sie sich gleichfalls gezwungen, das veränderte Rollenbild von Männern und Frauen anzuerkennen. Diese Welt entfernt sich von ihrer Vergangenheit mit einer nie zuvor erahnten Geschwindigkeit. Wer immer der neue Papst sein mag, er wird gravierende, umwälzende Entscheidungen zu fällen haben. Jeder Tag, der uns ein Heilmittel gegen die Pest versagt, macht es nur deutlicher, daß wir, armselige Sterbliche, uns in der Vergangenheit falsch entschieden haben.« Der Kommentator hatte sich geräuspert und dann gesagt: »Hier ist George Bailey von BBC Continental in Paris.« Stephens einziger Kommentar hatte gelautet: »Die Besitzenden und die Besitzlosen - das hat jetzt eine" völlig neue Bedeutung.« Sie wußte, was Stephen als möglich fürchtete: jede Frau mit einem Dutzend oder mehr Gatten. Vieh. Frauen, die von ihren Gatten anteilig als Besitz betrachtet wurden. Das Schaukeln des Lkw lullte sie ein, und nach einiger Zeit fiel sie in Schlaf. Stephen blickte zu ihr hinab. Er sah besorgt aus. Arme Kate! Außerdem wurde es kalt in der Druckkammer. Er suchte eine Decke und breitete sie über Kate. Unruhig bewegte sie sich unter der Berührung, wachte aber nicht auf. Und sie schlief auch weiter, als
Nylan Gunn von der Fahrerkabine aus erneut zu Stephen sprach. »Wir haben grad ein Signal vom Barrier Command erhalten, Admiral Francis Delacourt höchstpersönlich. Er wird sich über unser Ersuchen beraten, aber er sagt auch, daß seine Befehle lauteten, er solle jede gesetzmäßige Unternehmung, die im Zusammenhang mit der Seuchenforschung steht, unterstützen. Er hört sich wirklich an wie ein geschwollener Arsch!« Nach einer Weile wachte Kate auf, benutzte aber nur die Toilette und fragte, ob sie Gunn reden gehört habe, oder ob das >ein Traum< gewesen sei. »Das Barrier Command ist aufgefordert worden, uns eine Passage nach England zu besorgen«, sagte Stephen, sinngemäß Gunns Worten entsprechend. 601 Als Kate wieder aufs Bett zurückkehrte, klang ihre Stimme verschlafen: »Warum wollen die uns nach England schicken?« Sie zog sich die Decke bis unters Kinn. »Ich glaube, es wird in Irland wieder Bürgerkrieg geben«, sagte Stephen. »Doheny will, daß wir an einem sicheren Ort sind.« »Männer!« murrte sie. Der Lkw machte in der Dämmerung unterhalb eines Hügelkammes halt. Als Stephen aus einem Bullauge blickte, sah er acht Panzer an der Straße stehen. Aus der Einstiegsluke des vordersten Panzers ragte eine behelmte Gestalt und rief dem Lastwagenfahrer zu: »Wir haben die Lage unter Kontrolle! Fahrt direkt runter zu den Docks! An der nächsten Kreuzung wartet ein Jeep auf euch, der bringt euch hin.« Im Kriechgang fuhr der Lkw weiter, kam über den Hügelkamm und nahm Fahrt auf. Aus den Seitenluken konnte man Ausblicke auf brennende Gebäude erhaschen. Sie kamen an einem Haufen hingeworfener Leichen an einer zerschossenen Mauer vorbei. Als sie auf die Pier rollten und hielten, verbarg die Dunkelheit alles ringsum, nur auf den umliegenden Hängen konnte man Flecken orangeroten Feuers sehen. Es war kalt auf der Pier und wurde immer noch kälter. Stephen fand die Taschenlampe und blickte mit ihr in Kates Gesicht. Ihre Augen wirkten glasig vor Angst. »Mach das aus! Bitte, Stephen!« Er knipste die Stablampe aus und kroch neben sie unter die Decke. Sie hörten, wie die Kabel bewegt und am Metall der Kammer neu befestigt wurden. Mahlendes Motorengeräusch. Stimmen die Befehle riefen. Nylan Gunns Stimme schnarrte aus dem Lautsprecher: »Das Barrier Command versorgt euch mit Transfergelegenheit nach England. Sie haben eine Barkasse und einen Schlepper geschickt. Habt keine Angst. Alles geht klar. Aber jetzt müssen wir den Kompressor wieder abkoppeln, um euch rüberzuhieven. In ein paar Minuten wird er auf der Barkasse wieder angeschlossen. Bon voyage!« 602 Sie hörten den Kompressor mit einem Husten zum Stillstand kommen, noch mehr Bewegung mit den Kabeln, weitere Maschinenlaute. Metall schabte scharf gegen die Seitenwand der Druckkammer, eine Stimme rief laut: »Haltet euch fest da drin! Wir hieven euch jetzt rüber.« Die Kammer ruckte, und dann spürten sie, wie sie frei schwang. Stephen legte den Arm über Kate, um sie festzuhalten. Durch die Luke am Hinterende konnten sie helle Spotlights und schwarzes Wasser erkennen, rötliche Gichtknoten von Feuern, dann kurz schwingend der Blick auf Hafenbauten. »Stabilisiert das Ding, ihr Trotteln!« brüllte eine Stimme. Das Pendeln hörte auf. Es folgte ein Übelkeit erregender Fall. Kate stieß einen leisen Schrei aus. Der Abstieg wurde unterbrochen, dann ruhiger fortgesetzt. Er endete mit einem abrupten Plumpsen. »Legt die Leine über beide Enden!« rief jemand. »Gut so! Und dann hier rum! Macht fest! Jetzt das Netz! Es wird da draußen ziemlich kabbelig werden.« Kate dachte über die Bemerkung nach, als sie losfuhren. Sie hörte das dumpfe Grummeln gewaltiger Maschinen, dann folgte eine sanfte Bewegung, die sie vorwiegend daran ausmachte, weil die Scheinwerfer am Dock sich langsam zurückzogen. Stephen machte sich daran, lose Gegenstände zu sichern, indem er sie am Rande der Matratze feststopfte oder unter der Sperrholzplatte des Bettes mit Büchern verkeilte. Er überprüfte die Sicherungsleinen. Die glatte Bewegung wechselte plötzlich zu einem stetigen Heben und Senken von vorn nach hinten. Stephen beugte sich über Kate, um durch das Bullauge an ihrer Seite hinauszuschauen. Er sah nur die dunkle Wandung des Schleppkahns und den Schein einer roten Positionslampe. Minuten später war das Schaukeln zu heftigem Heben und Senken geworden, und gegen die Front der Druckkammer schlug eindeutig Wasser. Gischt schoß an den Bullaugen vorbei. Kate hatte ein saures Würgen im Hals. Die neue Bewegung 603 verwandelte sich plötzlich: ein wuchtender stampfender Irrsinn mit einem Seitendrall nach jedem Absacken. Stephen klemmte sich gegen die Bettkante und hielt Kate ganz fest an sich gepreßt. Kate dachte: Erst gestern habe ich mich beklagt, daß nichts in unserem Quartier sich je ändert. Die Raumtemperatur war immer so ärgerlich konstant warm gewesen. Den Großteil des Morgens hatte sie damit zugebracht, die paar Kleidungsstücke, die sie besaßen, zu sortieren und zusammenzulegen. Das war gescheit
gewesen. So war der Umzug in die kleinere Druckkammer ihr leichter gefallen. Sie klammerte sich an Stephens Arm, als die Barkasse unter ihnen sich gerade in diesem Augenblick entschloß, in ein Wellental zu tauchen. Es drehte ihr fast den Magen um. Als sie aus dem Wellental wieder auftauchten, spürte sie etwas Warmes an beiden Beinen hinabrinnen, dann schoß die Flüssigkeit nur so aus ihr heraus. »Stephen!« »Ist ja schon gut, Liebes. Die kriegen uns rüber.« »Stephen, das Baby kommt!« wimmerte sie. Sie versuchte sich aufzusetzen, stützte sich mit einer Hand gegen die Holzleiste, die Stephen an ihrem Bett angebracht hatte, aber die Barkasse unter ihnen sackte schon wieder in ein Tal ab und warf sie durch die Bewegung auf den Rücken. Es stimmt alles nicht, dachte sie. Da mußten doch zuerst die Wehen kommen, Kontraktionen, oder? Und es war viel zu früh! Das Baby sollte doch erst in zwei Monaten kommen. Stephen tastete nach der Taschenlampe, fand sie, knipste sie an. Kate hatte die Decke fortgestoßen und lag in einer Pfütze von Fruchtwasser. Er verließ sie für einen Augenblick und riß das sterilisierte Laken von der Einstiegsluke. Sie half ihm, es unter sie zu breiten. Der Stoff war noch feucht und roch scheußlich nach dem Desinfektionsmittel. »Sind denn gar keine Kontraktionen gekommen?« fragte er. »Nichts, bloß das Fruchtwasser. Es stimmt was nicht, Stephen.« Ihre Stimme war schrill und sank zu einem Wimmern herab. »Ich hab Angst.« 604 Er klammerte die Taschenlampe neben die Matratze, damit sie nach oben wies, und das Licht von der Metallwandung reflektiert wurde. Sein Gesicht wirkte ruhig, aber Kate wußte, er hatte seine Kenntnisse über Schwangerschaft und Geburt nur aus Büchern gelernt. Aber sie spürte, daß er das Kommando übernahm. Er hatte sich die Seile über die Schultern gelegt, ein anderes Seil spannte sich über Kates Brust. Das Bett unter ihr warf sich und wackelte fürchterlich im Seegang. Sie hörte den Wind pfeifen, das dumpfe Klatschen des Wassers an der Tankwand. Die Taschenlampe fiel aus der Verankerung, aber Stephen fing sie auf und stopfte sie fester in die Ritze. »jetzt spür ich die Kontraktionen«, keuchte sie. »Ohhh! Nicht jetzt!« »Ruhig, Liebling! Bleib ganz ruhig!« »Warum konnte es nicht noch warten?« Eine neue Kontraktion entriß ihr einen Schrei. »Ich weiß nicht, was ich tun muß«, jammerte sie. Schweiß strömte ihr über den Leib. »Ich weiß, was zu tun ist, Liebste. Laß die Wehen kommen!« Was machte er da drunten? Sie versuchte den Kopf zu heben und zu ihm hinunterzuschauen, wie er da zwischen ihren Beinen hockte. Er drückte sie sanft wieder zurück. »Bleib liegen! Halt dich an der Leine fest!« »Aber es ist zu früh! Es ist viel zu früh!« jammerte sie. Sie spürte das Stampfen des Schiffes, Stephen wurde gegen ihre Beine geschleudert. Eine neue Kontraktion packte sie. Und noch eine. »Ich messe sie«, sagte Stephen. Seine Hand lag auf ihrem Unterleib. »Erstes Kind«, keuchte sie. »Dauert vielleicht lang.« So hatte es jedenfalls in den Schwesternanweisungen gestanden, wie sie sich erinnerte. Wieder eine Wehe. Und noch eine. Sie spürte, wie ihre Welt sich in irre Bewegungen und in diese periodischen Kontraktionen auflöste. 605 »Ich kann schon das Köpfchen sehen«, sagte Stephen. »Die Rolle trockener Decken links von dir ... Versuch mal sie zu fassen zu kriegen!« Sie war dankbar, daß sie etwas tun konnte. Zwischen den Kontraktionen fand ihre verkrampfte Hand die Decken und zog eine herunter. Ein heftiges Rollen des Schiffes schleuderte ihren Kopf gegen die harte Wand des Tanks. Sie schrie auf vor Schmerz, ließ aber die Decke nicht los. Stephen schaute nicht hoch. Sie spürte seine Arme an der Innenseite ihrer Schenkel. Eine neue Wehe rang ihr ein Stöhnen ab, aber dann erinnerte sie sich an ihr Training. Drück los! Preß dagegen an! Und sie spürte, wie das Kind aus ihr herausglitt. »Die Decke!« schrie Stephen. Er riß sie ihr aus der Hand. Sie sah, wie er das Baby darin einwickelte. »Ich hab den Nabel abgebunden«, sagte er. »Ist ... lebte es?« keuchte sie. »Es ist ein Mädchen - und es lebt!« Freude klang in Stephens Stimme. »Ist ... ist sie in Ordnung?« »Die Fingernägel sind nicht ganz ausgebildet, aber sie hat Haare, und sie atmet. Aber wir müssen sie jetzt warmhalten.« »Was ist mit der Nachgeburt?« »Alles schon raus.« »Es ging so rasch!« »Sie ist sehr klein, Liebes.« Er machte einen der Stricke los, an die er gebunden war, und legte das Neugeborene in der Decke neben Kate. »Halt sie da mit einer Hand fest, während ich diese Leinen anders verknote. Es stampft schlimmer als zuvor. Kannst du die Decken noch zu fassen kriegen?« »Ja.« Kate starrte auf das winzige Gesicht, das aus der Decke an ihrer Seite hervorlugte. Es war ein altes Gesicht... so voller Runzeln. An der Nase hing ein Tröpfchen Schleim, der bewegte sich, wenn das Baby atmete.
»Es ist zu kalt hier drin!« sagte Stephen. Er befestigte einen Strick über ihrer Brust, brachte die Lampe näher an ihren Kopf heran und zog noch mehr Decken über sie. Dann zog er 606 das Seil fest an, legte sich neben sie und hielt sich an dem Seil fest. Er baute aus einer Decke ein Zelt über ihren Köpfen. »Wir werden die Luft mit unserem Atem und mit unserm Körper wärmen.« »Stephen, sie ist fast zwei Monate zu früh. Sie braucht mehr als bloß die Decke da über sich.« »Ich weiß.« Er knipste die Lampe aus. »Aber mehr haben wir nicht.« Kate begann leise zu weinen. »Was für eine schreckliche Art, geboren zu werden. Was für eine schreckliche Welt!« »Sie hat nur diese eine Welt, Liebes.« Das Baby gab einen winzigen Schluckauflaut von sich. Stephen leuchtete ihm mit der Lampe ins Gesicht. Das Baby bewegte die Lippen ein- und auswärts. Er fühlte Lebenshunger in dieser Bewegung. »Ich will sie sehen«, bat Kate. Sie hob sich auf einen Ellbogen und starrte in das Gesichtchen ihrer Tochter hinab. »Sie hat noch keinen Namen«, sagte sie. »Wir haben noch nicht mal an einen Namen für sie gedacht.« »Das eilt nicht so.« »Stephen, wenn die Kabel reißen, dann versackt dieser Stahltank wie ein Stein.« »Die Kabel werden nicht reißen. Sie haben uns sogar noch mit einem Netz festgezurrt.« »Ich laß meine Tochter nicht ohne Namen sterben!« Er starrte Kate im Schein der Taschenlampe an. Er spürte die wilde Bewegtheit der See, hörte den Wind heulen, die Wellen gegen die Barkasse hämmern. Es war leicht, sich hier morbiden Gedanken hinzugeben, aber sie führten zu nichts. »Sie haben alle Vorkehrungen getroffen«, sagte er. »Aber es ist ein Mädchen, Stephen. Begreifst du denn nicht? Es ist ein Mädchen! Die Pest ... es wird was Schreckliches passieren. Ich weiß es!« Er konnte die Hysterie in ihrer Stimme anschwellen hören. »Kate! Du willst doch Schwester werden. Du bist meine Frau, und ich hab grad unser ersten Kind aus dir herausgeholt.« 607 »Es ist dreckig hier drin«, jammerte sie. »Sepsis!« »Also, ich sage, wir werden dich nicht am Kindbettfieber sterben lassen. Kapiert? Und jetzt hör auf damit!« Er knipste die Taschenlampe aus. »Dervogilla«, sagte Kate. »Was ist?« »Wir werden sie Dervogilla taufen«, sagte Kate. »Kurz >Gilla<. Gilla Browder. Das klingt hübsch.« »Kate! Hast du daran gedacht, mit was für einem Namen du das arme Ding da belasten willst? »Denkst du an den Fluch, der auf der ersten Dervogilla liegt?« »Und auf Diarmud, dem Mann, mit dem sie davongelaufen ist.« »Wir laufen ja auch davon.« »Das ist nicht das gleiche.« »Dervogilla und Diarmud«, sagte Kate, »die beiden, die über Irland wandern müssen und niemals Frieden finden, die nie zusammenkommen können, bis ein Ire ihnen verzeiht.« »Ich glaub nicht allzu sehr an Schicksal«, sagte er, »aber der Name wäre wirklich eine Herausforderung an das Schicksal.« Kate sagte mit fester Stimme: »Es ist der Fluch, der auch auf unserm armen Irland ruht. Sprich nicht dagegen, Stephen! Ich weiß, warum uns diese Pest auferlegt worden ist. Weil wir uns geweigert haben, Diarmud und Dervogilla zu verzeihen.« »Das hast du irgendwo gehört. Die alten Männer droben in der Burg haben davon geplappert.« »Alle sagen es.« »Du spinnst.« »Du mußt ihnen vergeben, Stephen, du mußt sagen, daß du einverstanden bist, daß unsere Tochter diesen Namen trägt.« »Kate!« »Sag es!« Stephen räusperte sich. Dieser neuen Kate gegenüber fühlte er sich in die Enge gedrängt. Sie war auf einmal fast 608 eine keifende Xanthippe. Und dann fiel ihm plötzlich ein, daß sie nichts anderes war als eine Mutter, die ihr Kind auf die einzige Art zu schützen versuchte, die ihr eben in den Sinn kam. Er fühlte eine heftige Zärtlichkeit für sie in sich aufsteigen. Für seine Frau und für seine Tochter. »Ich vergebe ihnen, Kate. Und es ist ein hübscher Name.« »Ich danke dir, Stephen. Jetzt wird unsere Tochter am Leben bleiben.« Er spürte, wie sie das Baby verschob, und leuchtete sie mit der Taschenlampe an. Sie versuchte sich das Kind an die Brust zu legen. »Ich glaube nicht, daß sie schon trinkt, Kate.« »Aber sie bewegt die Lippen.« »Das ist ihr Atmen.« »Gilla«, sagte sie. »Ein schöner Name.« Stephen löschte die Lampe wieder. Der Schein wurde bereits trüb, und sie würden sie vielleicht noch brauchen. Kate schloß die Augen. Wenn doch nur diese schreckliche Schaukelei endlich aufhören würde. Die Finsternis machte es nur noch schlimmer. Und der wilde Lärm draußen. Wieder stieg es ihr sauer in den Mund herauf. Und plötzlich - sie hatte gerade noch Zeit, den Kopf aus dem Deckenzelt hervorzustrecken und sich von Stephen und
dem Kind abzuwenden - erbrach sie. Der Geruch erfüllte sofort die Druckkammer. »Es geht schon wieder«, keuchte sie und tastete nach seiner Hand, um ihn davon abzuhalten, die Taschenlampe anzuknipsen. Sie wollte nicht, daß irgend jemand sie in diesem Zustand sah. »Nimm die Kleine!« Sie legte die Wange auf die harte Holzkante neben der Matratze und würgte und würgte. Sie bemerkte, daß das Erbrochene in die Bücher unter dem Bett lief. Der Geruch war scheußlich. Sie hörte Stephen tief und langsam durchatmen, um sich davor zu bewahren, selbst seekrank zu werden. Sie versuchte das auch zu tun, aber ihr Magen war dazu viel zu verkrampft. Der Alptraum hörte und hörte nicht auf, er saugte alle ' Energie aus ihr heraus. Und es dauerte lange, bis sie allmäh609 lieh merkte, daß die Bewegung des Schiffes sich geändert hatte. Die Barkasse schaukelte nun nur noch leicht auf und ab. Kate wischte sich die Lippen mit einem Zipfel der Decke ab. Sie hatte das Gefühl, vielleicht doch am Leben bleiben zu können. An der Bootsflanke brüllten die Maschinen des Schleppers auf, dann kehrte sich die Fahrtbewegung um, dann kam ein Knarren an Duckdalben. Man konnte draußen den Dialekt britischer Hafenarbeiter hören. »Paß doch auf, du blöder Hammel! Kostbare Fracht ham wir da. Näher ran mit dem Lkw!« Wieder verstummte der Kompressor. Sie spürten, wie die Druckkammer in die Höhe gehoben wurde, diesmal viel ruhiger. Und dann folgte der erwartete Plumps, als sie auf eine Ladefläche abgesetzt wurden. Stephen fand das Mikrofon und schaltete es ein. »Hallo, ihr da draußen!« Es kam keine Antwort. »He, riechst du das?« fragte draußen eine Stimme. »Gottverdammte Kotze!« sagte ein anderer. »Schaut mal unter das Ding!« Dann begann der Kompressor zu arbeiten. Jemand hämmerte an die Seitenwand des Tanks. »Hallo, da drin! Ich glaub, ihr habt n Leck! Muß hier hinten am Ende sein, ziemlich tief unten.« Das Hämmern ging weiter, um das Leck zu orten. Stephen packte die Taschenlampe, kroch aus den Seilfesseln und auf das Pochen zu. Das Licht war nun bereits sehr trübe, doch er sah etwas, was er für einen dunklen Riß hielt, dicht unterhalb des Kopfendes des Betts. In panischer Angst blickte er sich nach etwas um, mit dem er den Riß verstopfen könnte. Seine Bücher! Er hatte einen Teil davon in einen Karton gepackt und hinter den Toiletteneimer geklemmt. Er riß das erste Buch heraus und begann wild einzelne Seiten aus ihm herauszufetzen, die er in den Riß stopfte. »Bringt 'nen Schweißapparat hier rüber!« brüllte jemand draußen. Eine andere Stimme rief etwas, was Stephen nicht mifbe610 kam. Papier und Erbrochenes ergaben zusammen zwar ein unvollkommenes Pflaster, doch wenn der Druck im Tank anstieg, das wußte er, würde es nicht halten. »Es ist mir scheißegal, ob ihr seine verdammte Tür aufbrechen müßt!« brüllte draußen jemand. »Bringt den Schweißapparat!« Wir haben ein Leck, dachte Stephen. Die Pest! Das ist passiert, während der Kompressor nicht arbeitete. Er blickte auf und sah in Kates starre Augen - Schattenlöcher in dem reflektierten Scheinwerferlicht, das durch die Bullaugen drang. Sie hielt Gilla fest an sich gedrückt. »Du hast es in Ordnung gebracht, Stephen, nicht wahr?« flüsterte sie. »Ja, Liebes.« »Ich hab gewußt, daß du das tun wirst.« Glauben, dachte er. Er widersetzt sich aller Vernunft. Daß ein Molekularbiologe davon träumen könnte, durch einen hochdramatischen Beitrag zur Mikrochemie der DNS berühmt zu werden - daran haben die Makler an den Machtbörsen dieser Welt nicht gedacht. JOST HUPP Kurz nach zwölf Uhr mittags am fünften Tag nach der Machtübernahme Kevin O'Donnells im Forschungslabor Killaloe wurde John aus dem Vorratsraum im Keller geholt, in dem man ihn gefangengehalten hatte. Die Zelle war einer von drei dunklen Räumen mit Steinmauern unterhalb des alten Burgfrieds, ein ungesundes Gelaß mit Schimmel an den Wänden und einem feuchten Boden. Die Gitterfenster an den drei gleichartigen Türen ließen darauf schließen, daß hier einst das Verlies der Burg gewesen war. Man hatte Doheny eine Zeitlang in einem der anderen Kerker festgehalten, aber ihn dann schon früher fortgeschafft. In der dritten Zelle lagen der Priester und der Junge. Die Deckenbalken der äußeren 611 Kammer waren von Spinnweben bedeckt. An der Wand gegenüber den drei Zellen stapelte sich fast bis zur Decke Gerumpel: alte eingesackte Sofas, verquollene Tische, rostzerfressene elektrische Lampen, ein Gasherd mit drei Beinen verschieden lange Eisenröhren, eine Autofelge mit Gummifetzen, die noch am Rand klebten. In einer Ecke lag ein Stapel vor sich hinmodernder Planken. Zwei Wachen in Uniform kamen John holen. Er kannte ihre Namen nicht, aber es waren die beiden, die den Gefangenen ihr Essen gebracht hatten. Für John waren sie inzwischen >der Dürre< und >der Kahlkopf <
geworden. Sie befahlen ihm, sich auszuziehen, und nachdem er das getan hatte, stießen sie seine Kleidung mit den Stiefelspitzen in eine Ecke und reichten ihm einen Kittel für das sterile Labor aus dem Bestand des Instituts. Der Kittel war eher grau als weiß. John durfte nur seine Schuhe anbehalten. Der Tag war kalt und Wolkenverhangen, es blies ein Wind, als sie ihn in den Burghof eskortierten. Er fror unter dem dünnen Kittel. Die dichte Wolkendecke ließ den Hof düster erscheinen. Durch den gerundeten Torbogen zum Seeufer sah er, wie der Wind das Wasser im See schaumig peitschte. Und der Wind preßte ihm auch den dünnen Mantel gegen die Schienbeine. »Wohin bringen Sie mich?« fragte John. Der Dürre sagte: »Halt die Klappe, Gefangener!« Die Burg selbst hob sich wie ein grauer Monolith gegen das graue Licht ab, hie und da ein paar gelbe Lichtflecken in den schmalen Fenstern, wo jemand Lampen gegen die Düsternis angemacht hatte. An den Fenstersimsen aber sah er Strähnen weißer Blüten, und die Luft roch, nach dem Verwesungsgestank im Kerker, sauber. Der Dürre und der Kahlkopf hielten John mit eisernem Griff am Oberarm fest, als sie ihn über den Burghof zerrten, dann in den Verwaltungstrakt, einen gelben Korridor hinunter und die Treppe zur Bibliothek der Burg hinauf. Dort brannte jede Lampe. Die Kristalleuchter sprühten Diamanten. Scheinwerfer bestrahlten eine erhöhte Plattform, 612 die man neben dem Kamin aufgebaut hatte: Spanplatten, auf rohe Balken genagelt. Auf Böcken ruhte eine Tischplatte, dahinter lederbezogene Sessel. Kevin O'Donnell und Joseph Herity hockten auf zweien der Ledersessel. Pater Michael saß an der Schmalseite des improvisierten Tischs, der Junge stand neben ihm. Fintan Craig Doheny stand mit dem Rücken zu John vor dem Tisch. Sechs weitere Stühle hatte man an einer Seite so aufgestellt, daß das Ganze wie eine Geschworenenbank wirkte. Eine Art Anklagebank aus Wasserrohren, die man neben Doheny auf dem Boden verschraubt hatte ... Johns Bewacher ketteten ihn dort mit Handschellen fest, ehe sie zwei Schritte zurücktraten. John schaute sich verwirrt um. In den Regalnischen standen dichtgedrängt Leute und verrenkten sich den Hals nach ihm. Er erkannte Adrian Peard in seinem grüngrauen Tweedanzug ganz vorne. Peard vermied es, John in die Augen zu schauen. Doheny und Kevin O'Donnell unterhielten sich mit gedämpfter Stimme, während John hereingebracht wurde. Sie schenkten der Ankunft des Gefangenen keinerlei Aufmerksamkeit, sondern sprachen einfach weiter. Herity nahm immer wieder einen Schluck aus einer offenen Whiskyflasche. Auf dem Tisch zwischen Kevin und Herity lagen Papiere in Schnellheftern wie willkürlich verstreut. Auf einem Stuhl rechts von Kevin stand ein großer Pappkarton. John durchlebte eine Sequenz von Helldunkel-Stimmungen, während er da so auf das wartete, was sie sich als Ritual für ihn ausgedacht haben mochten. Die Szenerie war gleichzeitig absurd-lächerlich und erschütternd, weil sie sich in so armseligen Kulissen abspielte, die man - unbeholfen - von tödlich ernsten GerichtsverhandlungsSpielen entlehnt hatte. Der Priester starrte fest auf den Tisch vor sich und bewegte sich auch nicht, als der Junge ihn bei Johns Eintreten anstieß. Der Junge allerdings starrte John mit einem nicht zu enträtselnden Ausdruck an. John richtete einen Gedanken an O'Neill-im-Kopf: Sie haben vor, mich umzubringen, weil sie glauben, ich bin du. 613 O'Neill-im-Kopf gab keine Antwort. Dann sprach plötzlich Kevin laut: »Der Junge ist ein Zeuge und er wird seine Aussage machen, wenn ich das anordne!« Der Junge drehte den Kopf zur Seite und schaute Kevin an Mit heller Stimme, die vor Erregtheit überschlug, schrie der Junge: »Du bist ein Haufen Scheiße! Deine Mutter hat gedacht, sie kriegt 'n Kind! Aber sie hat nur 'n Haufen Scheiße zur Welt gebracht!« Von hinten drang nervöses Lachen. Kevin lächelte nur »Laßt den Kleinen mal«, sagte er. »Wir wissen ja inzwischen daß er den Bauch voll Geschrei hat, und das zum großen Teil aus der Gosse.« Herity setzte seine Whiskyflasche an und genehmigte sich einen großen Schluck. Dann setzte er sie vorsichtig genau vor sich ab und betrachtete sie starr. Die Flasche war beinahe halb geleert. Pater Michael schaute zu Kevin und Herity hinauf. »Ihr seid schlechte Menschen. Ein Schwur bedeutet euch nichts - nicht euer eigener und nicht der eines anderen. Ich frage Sie, Joseph, wenn ihr schon wußtet, daß sie drüben in Amerika die Fingerabdrücke und die Zahnarztkarten hatten, warum habt ihr dann dieses Kind hier bedroht und mich gezwungen, das Siegel der Heiligen Beichte zu brechen? Warum?« »Ich hab das getan, damit der Junge redet, nicht Sie«, sagte Herity. »Kein Mensch darf wie ein schweigendes Gespenst durchs Leben gehen!« »Ich spreche den Bannfluch über euch aus! Anathema!« sagte der Priester mit dunkler Stimme. »Du bist
verflucht in alle Ewigkeit, Joseph Herity! Und so bist du verflucht in alle Ewigkeit, Kevin O'Donnell! Ich überantworte euch der schrecklichen Last eurer abscheulichen Sünde, und möge sie euch schwerer werden mit jedem Atemzug, den ihr tut!« »Dein Fluch ist ein Furz für uns«, sagte Herity und nahm wieder einen Zug aus seiner Flasche. Mit einem Anflug von Nervosität sagte Kevin: »Leben und Tod sind in unserer Hand, nicht in der Ihren!« 614 Pater Michael wandte die Augen John zu. »John! Vergeben Sie mir, ich bitte Sie demütig! Sie hätten diesen armen Kleinen da sonst gefoltert. Und das konnte ich nicht zulassen. Ich habe das Siegel der heiligen Beichte gebrochen. Verzeihen Sie mir!« In Johns Brust tobte ein Tumult. Beichtsiegel? Was sollte das denn schon für eine Bedeutung haben? Schweiß rann ihm über die Stirn und brannte ihm in den Augen. Kevin O'Donnell grinste und klappte den Karton auf dem Stuhl an seiner Seite auf. Er hob einen großen verschlossenen Glasbehälter heraus und stellte ihn neben sich auf den Tisch. John starrte gebannt auf das Glas. Es war mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefüllt, in der irgend etwas herumschwebte. O'Donnell drehte den Behälter ein wenig, und John sah da auf einmal - ein Gesicht! Es war ein Kopf! Die Augen waren geschlossen, aber die Lippen waren leicht geöffnet. John glaubte das Gesicht des dritten Reiters zu erkennen, der mit Herity und Kevin auf die Burg gekommen war. »Darf ich Alex Coleman vorstellen«, sagte Kevin. »Er ist zwar nun endgültig in Whisky eingelegt, aber das war ja wohl sowieso das Paradies, das er sich erträumt hat. Glaub ich jedenfalls.« Kevin starrte John mit weitoffenen Augen an. Dann winkte er Doheny zu, er solle beiseite treten. »Das da war der Verräter, der es diesem Fin da ermöglicht hat, uns den Stolz von Irland unter der Nase fortzuzaubern.« Doheny sagte: »Kevin ...« »Unterbrechen Sie mich nicht! Sie sind hier bloß geduldet, und das nu: o lange, wie Sie sich an unsre Übereinkunft halten!« Auf einen Wink Kevins hin kamen sechs Männer nach vorn und setzten sich auf die Stuhlreihe. Die Stuhlbeine scharrten laut, die Männer husteten und redeten leise miteinander. Kevin trommelte einmal kurz mit einem schwarzen Holzstück auf den Tisch. Er hob das Holz. 615 »Ich habe hier in meiner Hand ein Stück von den Dachbalken von Cashell. Dies soll als Zeichen dienen, daß hier Irisches Gesetz herrscht.« Er legte das Holzstück sanft auf den Tisch zurück. »Wir sind hierher auf dem Rücken der Pferde gekommen, wie es die irischen Könige der Urzeit getan haben, weil das das Merkmal des Eroberers ist. Das Brehon-Gesetz wird wieder in Kraft gesetzt.« Sein Blick streifte durch den Raum. »Ist sonst noch einer von den O'Neills anwesend?« Niemand rührte sich. »Der Gefangene ist von seiner Familie verlassen worden«, sagte Kevin. »Der Gefangene steht für sich allein.« Er klopfte gegen die Flasche vor sich auf dem Tisch. »Aber das Triumvirat ist versammelt, und das Gericht wird hören und urteilen.« Kevin ließ den Blick über alle Anwesenden gleiten und fixierte dann schließlich Herity. »Es ist soweit, Joseph.« Herity schob sacht seine Flasche beiseite und nahm einen Stapel Papier vom Tisch. Er begann zu lesen, wobei er hin und wieder John einen Blick zuwarf. »Wir behaupten als erstes, daß du, Gefangener vor dem Gericht, John Roe O'Neill bist. Wir behaupten, du bist der Urheber jener Pest, die unser armes Land und überdies einen Großteil der restlichen Welt in so empörendes Elend gestürzt hat, wobei wir die Briten und die Heiden ausnehmen wollen, weil es für sie die gerechte Strafe war. Wir behaupten, du hast nicht das Recht gehabt, uns auf solch feige Weise Schaden zuzufügen. Und wie lautet deine Erklärung, John Roe O'Neill? Schuldig oder nichtschuldig?« John stierte den Kopf in dem Glasbehälter an. Der Kopf sprach auf einmal mit der Stimme O'Neills zu ihm! »Was war mein Verbrechen?« fragte der Kopf. »Man hat mir Unrecht getan. Der Priester da weiß es! Man hat mir furchtbares Unrecht getan!« Wer könnte das leugnen? dachte John. »Was habe ich je getan«, fragte der Schädel im Glas, »zur Unterstützung dieser feigen terroristischen Halunken und Mordbrenner, die die Iren duldeten und offen ermutigten 616 was hatte ich im Leben verschuldet, was den kaltblütigen Mord an meiner Familie verdient hätte?« »Es war eine schreckliche Herausforderung«, flüsterte John. »Will der Angeklagte sich äußern?« fragte Kevin. John hörte ihn nicht. Der Schädel in Spiritus redete weiter: »Die Iren sollten hier vor Gericht stehen! Sie sind es gewesen die die scheußliche Seuche des Terrorismus genährt haben!« John nickte stumm. Pater Michael warf John von der Seite her einen Blick zu. Die plötzliche starre Ruhe an dem Mann verwirrte ihn. Es kam ihm so vor, als habe John sich an einem geheimen Ort eingeschlossen, zu dem kein Laut mehr vordringen konnte.
Dann drehte Doheny sich um und blickte John voll an. Sic semper, die Ehre Irlands, dachte Doheny. Was der arme Kerl wohl denken wird, wenn ihm klar wird, daß ich sein Ankläger bin? Ein hoher Preis! Aber Kevin O'Donnell würde zweifellos das Forschungslabor hier zerstören, wenn seinen Befehlen nicht Folge geleistet würde. Sogar Adrian Peard - verflucht soll er sein! - würde darunter leiden! Aber sie mußten einfach mit dem weitermachen, was der Wahnsinnige ihnen preisgegeben hatte. Ein Heilmittel für die Seuche zu finden, das allein hatte hier Priorität. Und Irland konnte es ja noch immer allein finden! Kevin warf Pater Michael einen Blick zu. »Haben Sie eine Eröffnungserklärung abzugeben, Priester?« Pater Michael hüstelte und richtete seine Aufmerksamkeit auf John. »Was immer der Wahnsinnige getan haben mag, es ist deutlich erwiesen, daß er von keiner bösen Absicht beherrscht war, ehe man ihm schweres Unrecht zufügte.« »Wir werden in bezug auf den Gefangenen als von O'Neill sprechen!« sagte Kevin. Herity lächelte hinterhältig und trank wieder aus seiner Whiskyflasche. Der Priester sagte: »Auch der Begriff >böse Absicht< ist ungenau, um sein Verhalten zu beschreiben. O'Neill scheint von blindem Zorn motiviert gewesen zu sein, mehr jedenfalls 617 als von irgendeinem anderen Gefühl. Er wollte blindwütig auf die einschlagen, die ihm sein Leben und seine Welt zerstörten. Wir müssen zugeben, daß er in dieser Hinsicht genau gezielt hat - nicht absolut genau, aber doch ausreichend, um seine wahnwitzige Wut zu befriedigen.« John rasselte mit den Handschellen gegen das Leitungsrohr und starrte dabei den abgeschlagenen Schädel im Glas an. Der Kopf schwieg. Warum wollte ihm O'Neill nicht zu Hilfe kommen? »Ich setze nicht voraus, daß O'Neill aufgrund irgendwelcher Prinzipien handelte«, fuhr Pater Michael fort. »Ich nehme als erwiesen an, daß er sehr genau wußte, wer für sein Handeln verantwortlich war, aber auch wer verantwortlich war für die empörende Untat, die man ihm angetan hatte. Und wenn dabei irgendein Glaube eine Rolle gespielt haben sollte, dann nur die Überzeugung, daß er über die Fähigkeiten verfügte, uns zu zerschmettern.« Der Priester stand auf und wandte sich den Geschworenen zu. Der Junge wich einen Schritt zurück. »Aber ein leidenschaftliches Gefühl bestand da, daran darf nicht gezweifelt werden!« donnerte der Priester. »Eine leidenschaftliche Wut gegen die Verursacher seiner Qualen! Gegen uns!« Er ließ die Stimme zu einem sanft monotonem Säuseln absinken: »Und so hat er uns gleichfalls Leiden geschaffen. Was werden wir damit beginnen?« Pater Michael wandte sich wieder Kevin zu. »Wenn wir es auf Rache abgesehen haben, dann müssen wir sie auch bei ihrem richtigen Namen nennen. Wenn wir bereit sind, das geheiligte Verbot der Racheausübung zu mißachten, dann laßt uns mit dem Gedanken an Rache im Herzen urteilen, aber dann müssen wir uns auch den zwangsläufigen Folgen stellen.« Herity höhnte: »Richte nicht, auf daß du nich' gerichtet wirst, was?« »Laßt ihn reden!« sagte Kevin. »Ich habe versprochen, daß wir kein Argument der Verteidigung unterdrücken wollen.« 618 »Ja!« sagte der Priester. »Wir haben einen heiligen Eid bei der heiligen Ehre Irlands geschworen! Wahrheit und Gerechtigkeit hochzuhalten, das haben wir beim Allmächtigen Gott geschworen.« »Allmächtiger Gott«, sagte Herity und nahm einen Schluck aus seiner Flasche. »Joseph Herity hier erinnert uns«, fuhr Pater Micheral fort, »an die heilige Warnung. Christus wollte, daß sie der Dorn in unserm Fleische sei. Das wirft die schreckliche Frage auf: Wer urteilt? Wagen wir es, die Richter zu richten? Wenn wir sagen, daß nur Männer richten dürfen, verleugnen wir Gott. Und wollen wir Gott leugnen?« »Ich schon!« sagte Herity. »Still, Joseph!« sagte Kevin. »Laßt ihn weitersalbadern!« Pater Michael sandte seinen brennenden Blick durch den Raum. »Wir hatten eine Zivilisation in Irland, als die übrige Welt noch im heidnischen Schlamm steckte. Also laßt uns handeln wie zivilisierte Menschen.« Er starrte Doheny an, der mit dem Ausdruck finsteren Mißvergnügens vor dem Richtertisch stand. »Wenn wir überhaupt den Anspruch erheben, ein Gericht zu sein, das nach Irischem Recht urteilen will, wie uns dies Richter Kevin O'Donnell sagt, dann soll es in diesem Gericht auch keine Heuchelei geben! Dann wollen wir uns nicht durch Illusionen betören lassen. Laßt uns nicht so tun, als wären wir die Reinen und Guten, während dieser arme Wahnsinnige ... Mister O'Neill - das schlechthin Böse sein soll. Das ist das Problem, das wir durch unsern Eid zu lösen gezwungen sind.« »Sind wir das?« fragte Herity. »Wir müssen!« Pater Michael rief es laut. »Wie lautet die Anklage gegen diesen Mann?« »Anklage?« Herity wiederholte es mit spöttischer Feierlichkeit. »Er wird nur beschuldigt, das Allerschönste in unserm Irland vernichtet zu haben.« »Er war zu dem Zeitpunkt zweifellos geistesverwirrt!« sagte der Priester. 619 »Zeitpunkt?« fragte Herity scharf. »Er hat doch sicher ziemlich lange gebraucht dafür!« Er warf Adrian Peard
einen Blick zu, der gerade aus einer der Regalnischen hervorgetreten war. »Haben Sie dazu etwas zu sagen, Dr. Adrian Peard?« »Er erschien mir geistig völlig gesund bei jeder Gelegenheit, bei der ich ihn sah«, sagte Peard. »Und ich habe ihn genau beobachtet, seit man mich informiert hatte, daß er O'Neill ist.« »Und was hat er hier getan?« fragte der Priester. »Er gab vor, uns zu demonstrieren, wie die Seuche gemacht wurde«, sagte Peard. »Gütiger Himmel, Mann!« Pater Michael protestierte laut. »Er hat uns alles enthüllt, war wir brauchen, um ein Heilmittel zu entwickeln!« »Ich sehe kein Heilmittel«, sagte Peard. »Ich glaube zwar, wir werden eines finden, aber nicht durch sein Zutun.« »Ahhh!« Pater Michael nickte bedeutungsvoll. »Und dann wird dieses Heilmittel die Großtat von Adrian Peard sein. Ich beginne zu begreifen!« Er blickte Doheny an, der dem Blick auswich. Dann schaute Pater Michael wieder die Geschworenen an. Sie erschienen ihm als ein buntgemischter Haufen, und sie wirkten alle sehr gelangweilt. Hatte es da vorher Besprechungen mit Kevin und Joseph gegeben? War ihr Urteil bereits gefällt? War also die ganze Gerichtsverhandlung nur eine Farce? »Der höchste Widerstreit findet zwischen Gut und Gut statt, nicht zwischen Gut und Böse - ist es das, worum es hier geht?« fragte Pater Michael. »Und ich sage euch, daß hier in diesem Raum wir alle dabei sind, den Konflikt zwischen Böse und Böse zu enthüllen. Besitzt das eine Übel das Recht, über anderes Übel zu urteilen? Ihr mögt fragen: >Wer wüßte besser darüber Bescheid?< Doch ich ermahne euch, begebt euch mit einem klaren Kopf an die Sache! Begreift genau, welches Eingeständnis ihr selbst macht, wenn ihr hier urteilt!« Pater Michael schritt zu seinem Stuhl zurück und setzte sich. Der Junge drängte sich wieder neben ihn. John starrte noch immer den Kopf in dem Glasbehälter an. 620 Würde der Kopf endlich sprechen? Dieser Schädel war der einzige wirkliche Richter hier im Raum. An diesen Gedanken klammerte sich John, er wärmte ihn. Kevin warf Doheny einen Blick zu und nickte. Es amüsierte und stabilisierte ihn, wenn er daran dachte, wie man Doheny gezwungen hatte, die Rolle des Anklägers zu übernehmen. Gott, mußte der Mann sich dabei giften! Doheny hatte das aufflackernde Interesse in den Gesichtern der Geschworenen bemerkt. Das Urteil war beschlossene Sache, das hatte Kevin in den privaten Anweisungen an diese Männer deutlich gemacht, die aus seiner eigenen Truppe ausgewählt worden waren. Aber die Lust an einem tragischen Schauspiel ist uns Iren noch immer geblieben, dachte Doheny. Man kann nicht leugnen, eine Gerichtsverhandlung über ein Kapitalverbrechen ist noch immer höchst attraktiv. Wir drängen uns zu jedem Schauspiel der Qual, zu jedem Totentanz. Wir rennen gierig nach Golgatha ... Er wappnete sich mit dieser Vorstellung, ehe er zu sprechen begann. Meine Aufgabe ist einfach, dachte er. Ich brauche den Idioten da nur einen Wortschwall zu ihrer Rechtfertigung zu liefern, ehe sie ihr Urteil verkünden. Mit äußerst kühl-sachlicher Stimme wandte Doheny sich an die Geschworenen. »Ich trage kein Verlangen, O'Neill zu erniedrigen. Auch ich bin der Überzeugung, daß er geistig nicht zurechnungsfähig gewesen sein kann, als er seine Tat beging. Doch das ist keine Entlastung. Selbst angesichts der Tatsache, daß Unzurechnungsfähigkeit als mildernder Umstand oder Entschuldigung für andere verabscheuungswürdige Verbrechen angeführt wurde, dies hier übersteigt alles uns aus der Geschichte Bekannte. Es läßt sich an Abscheulichkeit nur mit der Kreuzigung des Gottessohnes vergleichen.« Doheny warf dem Priester einen flüchtigen Blick zu. Der hatte sich ja schließlich nicht gescheut, den religiösen Aspekt hereinzuzerren. »Leidenschaft und Leiden, sagt der Priester«, fuhr Doheny 621 in seinem Singsang fort. »Es ist die höchste Passion der Menschheit. Und kann die Menschheit einem O'Neill Gnade erweisen? Dürfen wir die offenkundige Tatsache seiner Geistesgestörtheit ins Auge fassen und sagen, sie ist ein mildernder Umstand? Ich behaupte, wir können es nicht! Es gibt Verbrechen, für die Unzurechnungsfähigkeit keine Entschuldigung bietet! Es gibt Verbrechen, bei deren bloßer Betrachtung wir uns gezwungen sehen, den Wahnsinnstäter für schuldig zu halten.« Doheny machte eine Wendung und schaute O'Neill an. Wieso stierte der Mann dermaßen fixiert den Kopf des armen Alex an? Der Wahnsinnige reagierte auf die ganze Verhandlung überhaupt nicht, es sei denn durch ein geringfügiges Heben seiner Schultern, und dabei blickte er starr und unablässig den Kopf in diesem Glas an. »Der Priester sagt: >Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet. < Ein sehr verführerisches Zitat, und ich hatte damit gerechnet, es hören zu müssen. Aber wessen Urteil sprechen wir hier aus? Sollen wir etwa glauben, Gott billigt die Verbrechen dieses O'Neill?« Wieder warf Doheny dem Priester einen Blick zu. Und jetzt soll er mal versuchen sein Plädoyer weiter auf Unzurechnungsfähigkeit aufzubauen! Die Augen noch immer auf den Priester gerichtet, fuhr Doheny fort: »Nur der Teufel selbst könnte O'Neills Verbrechen gutheißen. Aber vielleicht haben wir ja den Siebenten Tag des Satans - den Tag, an dem er ausruht und bewundert, was er getan hat. Ich vermag nicht zu sagen: >Gott soll über diesen Mann urteilen, denn wir
armen bloßen Menschen können es nicht!<« Doheny wandte sich wieder den Geschworenen zu und merkte, daß sie wieder träge gelangweilt dahockten. Hatte er ihnen bereits genügend Gründe geliefert? »Gottes Ratschluß ist der beste. Soll das euer Urteil sein?« fragte Doheny. »Sollen wir glauben, daß wir bloßen Sterblichen nicht beurteilen können, was dieser O'Neill getan hat? Ja, können wir denn nicht sehen?« 622 Einer der Geschworenen, ein Mann mit einer roten Narbe über der rechten Wange, blinzelte Doheny zu. Doheny mußt sich abwenden. Er kam sich vor, als habe er sich irgendwie an einem schmutzigen Verbrechen beteiligt. Seine Stimme klang leise, als er fortfuhr. Das veranlaßte Kevin zu dem Befehl: »Sprechen Sie lauter, Mann!« »Ich sage und erkläre euch«, begann Doheny erneut, »daß uns das Urteil gebührt! Wir sind die Überlebenden gräßlicher Verbrechen. Uns obliegt es, tabula rasa zu machen. Reinen Tisch. Hier und heute und in diesem Raum geht es nicht um Böses gegen Böses. Nein, wir bekämpfen das Böse! Wir sind im Krieg gegen das Böse! Krieg! Das ist das Prinzip, das wir anerkennen und anwenden müssen!« Mit einer - wie er hoffte, dramatischen - Geste wies Doheny mit der Hand auf John. »Was streitet er ab, was leugnet er? Die einzige mickrige Erklärung, die er vorbringt, lautet, daß nicht er es war, sondern ein anderer, der in seinem Innern lebt. Doch wir hier kennen die Wahrheit, der zu dienen wir geschworen haben.« Wieder bewegten sich Johns Handfesseln rasselnd an dem Rohr. Und nun sprach der Kopf in dem Glasgefäß zu ihm! Die Stimme war ganz eindeutig die von O'Neill: »Was treiben diese Narren da? Ich habe getan, was ich tun mußte. Etwas trieb mich dazu. Und wieso stehst du hier vor ihnen, John Garrech O'Donnell? Weil kein Mensch mir näher war als du. Weil du mich am besten gekannt hast!« »Wünscht der Priester noch irgend etwas hinzuzufügen?« fragte Kevin. »Ich möchte nicht, daß einer sagen kann, wir hätten Sie nicht reden lassen.« Pater Michael stand langsam auf, warf Doheny einen Blick zu und sagte dann: »Das Gesetz und - dem Anschein nach auch dieses Irische Gericht erheben den Anspruch, sie hätten einen ethischen Grundsatz mit der Wissenschaft gemein. Die Wahrheit! Also müssen wir nach der Wahrheit streben, gleichgültig, was daraus erwachsen mag. Die Wahrheit auch wenn uns die Hölle den Weg versperren sollte.« Er dreht sich um und ließ den Blick über die Reihe der Ge623 schworenen schweifen. »Alles, was ich zu Ihnen gesagt habe war: Sobald Sie diesen fundamentalen Grundsatz einmal sich zu eigen gemacht haben, können Sie ihn nur unter großem Schaden und großer persönlicher Gefahr für sich selbst verleugnen. Es freut mich, daß Richter O'Donnell entscheidet, er wolle keine Demarche der Verteidigung unterdrücken. Wenn immer wir Menschen nämlich auch nur Teile in einer Wahrheitsfindung unterdrücken, die zu unerwünschten Enthüllungen führen könnten, erweisen wir der Wahrheit einen üblen Dienst. Wir wenden uns vom Gesetz ab. Vom Recht. Vom Irischen Recht oder jedem anderen Moralgesetz, dem Menschen sich verpflichtet fühlen können. Ein Atemzug der Wahrheit - und ein lügenhaftes Gebäude stürzt in sich zusammen. Wir haben uns zu dem Prinzip der offenen Darlegung entschlossen - und dagegen darf kein Verfahrenstrick angewendet werden.« Pater Michael ließ seinen sanften Blick durch den Raum schweifen. Die Geschworenen sahen noch immer völlig gelangweilt drein. Nun, im nächsten Augenblick würden sie sich nicht länger langweilen! Es war unmöglich abzuschätzen, was in Kevin O'Donnells verwirrtem Schädel vor sich ging. Doheny schien aufmerksam zuzuhören, fast als argwöhne er, wohin das Ganze zielte. Und der Verrückte hatte endlich aufgeblickt und verwirrt um sich gestarrt. »Krieg?« fragte Pater Michael. »Wäre das ein Prinzip, das ich übersehen hätte? Gibt es überhaupt so etwas wie das Grundprinzip Krieg? Und wenn ja, dürfen wir es dann wagen, es ausschließlich auf den Krieg zwischen Völkern und Nationen zu beschränken? Oder es zu beschränken auf Politgruppen wie die Provos oder die Finn Sadal? Wenn es dieses Grundprinzip gibt - wie Mister Doheny es fordert -, dann muß es für sich selbst stehen und bestehen können, oder es handelt sich nicht im Wortsinn um ein Prinzip. Aber ist es ein Prinzip? Ein Mann für sich allein kann sich einem Prinzip verschreiben. Jeder Mensch kann das. Aber dürfen wir seine Wahl verhöhnen, dürfen wir ihn wegen der Wahl seiner Waffen verurteilen?« 624 Kevin hob das Fragment des verkohlten Deckenbalkens von Cashell, ließ es aber sacht wieder sinken. »Und war die Pest nicht eine Waffe in einem Krieg?« fragte Pater Michael. »Wagen wir es, das zu bestreiten? Da könnte der da ja genauso gut gegen die Bombe angehen!« Der Priester hatte sich umgedreht und starrte nun zu Herity hinauf, der gerade den letzten Tropfen Whisky aus seiner Flasche getrunken hatte. »Es war nämlich Joseph Heritys Bombe!« donnerte der Priester. »Wie darf der da sitzen und als Richter Urteil sprechen, wo es doch seine Bombe war, die O'Neills Weib und die kleinen Kinder gemordet hat?« Ein Ruck ging durch die Reihe der Geschworenen. Sie schauten von dem Priester zu Herity. In Kevin O'Donnells Gesicht zeigte sich ein Ausdruck hämischer Freude. Herity schien nichts gehört zu haben. Er stierte die leere Flasche auf dem Tisch an. John schaute sich angstvoll um. Er spürte noch immer diese Worte, die ihn ansprangen wie etwas Lebendiges.
Und dann sprach wieder der Kopf in dem Glas zu ihm. Er befahl ihm: »Also los, rede schon! Es war Herity, der Mary und die Zwillinge ermordet hat.« John heftete den Blick fest auf Herity. Eine Stimme zwängte sich aus ihm heraus, schrill und zitternd: »Wie finden Sie jetzt Ihren Krieg, Joseph Herity?« Er kicherte, rasselte mit den Handschellen, sein Kopf wackelte von einer Seite zur anderen, als wären da nur die schwachen Muskeln eines Säuglings. ' Pater Michael blickte John an, dann schaute er quer durch den Raum zu Adrian Peard und sagte sarkastisch: »Geistig normal, nicht wahr, Professor?« Peard vermied die Augen des Priesters. Kevin hämmerte dröhnend mit dem Holzstück auf den Tisch. »Das genügt! Nicht wir stehen hier vor Gericht! Und das Argument mit der geistigen Schuldfähigkeit wurde bereits verworfen.« »Ach, ich darf also nicht über diesen Punkt bezüglich des Krieges sprechen, den Mister Doheny in die Verhandlung 625 eingeführt hat?« fragte Pater Michael mit sanfter Stimme. Er bemerkte, daß einige der Geschworenen grinsten. Aber das Grinsen erlosch, sobald Kevin sie anschaute. Als Kevin nicht antwortete, fuhr der Priester fort: »Dieser Mann da, O'Neill, vor Gott vermählt, verlor seine ganze Familie durch das Tun von Männern, die sich brüsteten, das sei eben Krieg, und sie handelten im Namen des Volkes. Krieg ~ so haben die Provos es genannt!« Wieder schmetterte Kevin das Holz heftig auf den Tisch. »Ich habe gesagt, es reicht!« »Ahhh«, sagte der Priester und lächelte dabei Doheny an, der starr zu Boden blickte. »Haben wir also endlich den Punkt erreicht, an dem eine tiefergreifende Untersuchung nicht mehr gestattet ist! Da haben wir eine jener Wahrheiten, denen wir uns nicht zu stellen wagen!« Kevin blickte zu Herity hinüber, doch der schaute nur stumpfsinnig in die Gegend. »Hast du gehört, was er gesagt hat, Joseph? Willst du dich nicht dazu äußern?« »Es frißt an Ihnen wie ein Wurm, Joseph«, sagte der Priester. »Diese Last werden Sie niemals abwerfen.« Herity kam schwankend auf die Beine und stützte sich gegen den Richtertisch ab. »Wir wer-wern jehm ... jedem Wahnsinnigen fo ... folgen, solange da nur 'n Schmiß dahin-ner schteht! Schschneid! Dassisses, was wir lieben!« Mit ernstem Gesicht schaute Herity Pater Michael an. »Wir, wir sahgn nich'... Kkkühnheit ... wir sahgn Schschneid! Un' da haste all ... allesch beide drin ... Mut und ... Mut und Scheiße!« Er begann dünn zu lachen, fing sich dann aber und schaute zu Kevin. »Du hast mir was in meine Flasche getan, Kevin! Was ha ... hascht du mir in die Flasche getan?« »Sie sind besoffen, Joseph«, sagte Kevin und lächelte dabei. »Nicht zu betrunken, als dassich mein' ganzen Verstand verlorn hab!« Er sank wieder auf seinen Stuhl zurück. »M-m-meine Beine! Machen nich' m-m-mehr mit!« Und plötzlich sackte Heritys Kopf nach rechts. Der Mund klaffte auf. Er holte einmal keuchend Luft und war dann still» 626 Peard schoß von der Flanke her zur Plattform. Er stieg hinauf, drückte Herity die Hand in den Nacken und schaute dann zu Kevin hoch. »Er ist tot!« »Ich hab's ja immer gesagt, daß der Suff ihn eines Tages noch mal umbringt«, sagte Kevin. »Wir lassen ihn mal schön in Ruhe, so wie er ist. Damit ist das Triumvirat immer noch vollständig anwesend.« Pater Michael machte eine Bewegung auf Herity zu. »Sie bleiben, wo Sie sind!« brüllte Kevin und zog unter dem Tisch eine Pistole hervor. »Die Gerechtigkeit der Schießgewehre, das ist es, was wir hier haben, ja?« fragte der Priester. »Auf Ihren Platz, Priester!« befahl Kevin und unterstrich dies mit dem Lauf seiner Waffe. Pater Michael zögerte. »Tun Sie's!« drängte Doheny leise. Pater Michael gehorchte. Er fiel geradezu auf seinen Stuhl. Der Junge drängte sich eng an ihn. Kevin legte die Pistole auf den Tisch und schaute zu Doheny. »Ich danke Ihnen, Mister Doheny. Wir müssen die Ordnung aufrechterhalten. Wollen Sie sich nun zu O'Neills schuldhaftem Wissen auslassen?« Doheny ließ rasch den Blick über die Gestalt des toten Herity gleiten. Mit einer Geste verwies er Peard von der Richterplattform. Peard kehrte zu seinem Platz in den Bücherbordnischen zurück. »O'Neill hat sträflich sein Wissen im medizinischen Bereich eingesetzt«, sagte Doheny. Es klang, als bete er ein auswendig gelerntes Textstück herunter. »Schuldhaftes Wissen ist alles, was bereits im Entstehungszustand hätte unterdrückt werden müssen. Wenn derartige Dinge in unser friedliches Leben eindringen, dann steht die Schuldenhaftigkeit außer Frage.« Pater Michael machte den Mund auf und schloß ihn wieder. Anscheinend wurde ihm bewußt, daß dies ein Punkt war, den vorzubringen Kevin Doheny gezwungen hatte. Was für einen Teufelspakt hatten diese beiden unter sich geschlossen? 627 Kevin starrte den Priester an. Pater Michael stand auf und stieß dabei den Jungen beiseite. »Was war das für ein schuldhaftes Wissen? Eine
medizinische Sache doch wohl? Ausschließlich eine interne Angelegenheit für Mediziner? Aber warum veröffentlichen dann Mediziner ihre Erkenntnisse? Geben sie sich etwa der Illusion hin, daß ausschließlich sie selbst fähig sind, die Sprache ihrer Entdeckungen zu verstehen?« »Jeder, der schuldhaftes Wissen benutzt, ist schuldig!« brüllte Kevin. »Und daß O'Neill sich über solches Wissen informierte, das beweist, daß er schuldig ist?« fragte der Priester. Kevin nickte grinsend. Der Kerl müßte es eigentlich besser wissen, als daß er sich mit jemand anlegt, den die Jesuiten ausgebildet haben, dachte Pater Michael. Er wandte sich den Geschworenen zu und fragte: »Was geschieht, wenn wir solche Erkenntnisse unterdrücken? Bedenken Sie die vielfältigen Unterdrückungsmechanismen -und bedenken Sie, wer das Recht besitzt, solche Mechanismen anzuwenden. Und dann sehen Sie sich sofort mit einem bestürzenden Problem konfrontiert. Diejenigen nämlich, die etwas unterdrücken, müssen zwangsläufig genaue Kenntnisse von dem haben, was sie zu unterdrücken beabsichtigen. Wer Zensur ausübt, muß das kennen, was er zensiert! Ihr habt in Wahrheit gar nichts unterdrückt! Ihr habt nur das Wissen überantwortet und eine ganz besondere Elite damit betraut. Und jetzt frage ich euch: Wie wählen wir uns eine solche Elite?« Pater Michael drehte sich um und lächelte Kevin an. »Die Frage ist nicht zu beantworten«, fuhr der Priester fort. »Wollen wir unterstellen, daß O'Neill konspirativ schuldhaftes Wissen eingesetzt hat, um unsere Welt zu zerstören?« »Das ist es. Genau!« Kevins Stimme klang wie ein Peitsche. »Er hat konspiriert.« Pater Michael warf Doheny einen Blick zu. Doch der hatte sich abgewandt und beobachtete John. Johns Interesse war 628 wieder ganz von dem Schädel in dem Glasbehälter gefangen: er neigte ihm den Kopf zu und nickte immer wieder, als spreche der Schädel zu ihm. »Dann lassen Sie sich durch uns an das Latein erinnern, das Sie anscheinend vergessen haben«, sagte Pater Michael. »Conspirare! Im Lateinischen, das der Rechtsprechung so lieb und teuer ist, heißt >conspirare< nichts anderes als - miteinander atmen
und womöglich unbeeindruckt bleiben? Dürfen wir uns auf eine Verteidigung aufgrund verminderter Zurechnungsfähigkeit einlassen?« Die Geschworenen kicherten. Dann überlegte Doheny noch einmal alle Punkte, die er und Herity und O'Donnell abgesprochen hatten, ehe sie in 630 den Saal gekommen waren. Hatte er sie alle berücksichtigt? Unzurechnungsfähigkeit ... Vernunft ... gerechtfertigte Provokation. Doheny kam zu dem Schluß, er habe genug geredet. Blieb nur noch die Konfrontation mit dem Jungen. Aber das ließ sich bis zum Schluß hinauszögern. Er schritt zu seiner Ausgangsposition neben John zurück und streifte dabei Heritys schlaffen Körper mit einem Blick. Wieso stellte eigentlich niemand Fragen wegen dieses Todes? Zitterten denn alle vor Kevin und seinen Killern? Es mußte ja wohl Gift gewesen sein. Immerhin, Herity war doch ein Mann gewesen, der eine Menge Alkohol vertrug. Dohenys Blick fiel auf John. Schon wieder starrte der Verrückte den Kopf im Glas an. Was faszinierte ihn denn nur dermaßen an dem Schädel des armes Alex? Das war doch nichts weiter als noch etwas Totes in einem ganzen Zimmer voller Toter! Aber zu John sprach der Kopf: »Wieso fragen die noch? Alle möglichen Antworten stehen ja schon in den Briefen.« »Aber ich wollte doch nur die Schreie von O'Neill zum Verstummen bringen«, sagte John. Pater Michael sprang auf. »Haben Sie das gehört? Er wollte die Qual O'Neills besänftigen!« Schweigen breitete sich im Raum aus. Pater Michael seufzte. Er drehte sich um und blickte die Geschworenen an. Was für einen Sinn hatte es, auf noch mehr Totenschädel einzureden? Man könnte ja genauso gut zu dem Totenschädel von Alex in dem scheußlichen Glas da reden. Aber er mußte es trotzdem versuchen. »Ich sehe hier ein Grundmuster«, begann er. »Ein ganz klares Grundmuster, das unentwirrbar in andere Muster verwoben ist - in die Boyne-Schlacht, in die britischen Strafgesetze, verbunden mit Caesars drückendem Stiefel auf Britannien und sogar mit der Tatsache, daß kein Wind wehte, als die römischen Galeeren auf die keltische Flotte vor Gallien stießen.« Ich hab es mit Iren zu tun, dachte Pater Michael. Und die kennen ihre keltische Geschichte ... 631 »Sie nehmen Ihre Zusammenfassung vor?« fragte Kevin. »Wenn Sie es als solche bezeichnen wollen«, sagte Pater Michael. Er rieb sich den Nasenflügel, während sein Blick über die sechs Geschworenen streifte. »Ich spreche von einem Muster, einem Gewebe, das sich von Stalingrad bis Antiochia erstreckt, von Bir-sin-aba bis My-Lai, und noch viel, viel weiter, weil es nicht immer in gewaltigen Entscheidungsschlachten sichtbar wird, sondern zuweilen in ganz kleinen Konflikten. Wenn wir diesem Grundmuster keine Aufmerksamkeit schenken, werden wir unsere Welt durch Dummheit Zugrunderichten! Aber wenn wir es erkennen, dann müssen sich unsere Wertmaßstäbe ändern. Und dann werden wir wissen, was wir schützen und erhalten müssen!« Der Priester schwieg einen Augenblick lang und schaute fest den Jungen an, der ihm mit einem Ausdruck höchster Verwirrung und Begeisterung entgegenstrahlte. Konnte dieses Kind, dieser Halbwüchsige begreifen? Verbarg sich in dem Jungen das einzige vernunftbegabte Wesen, zu dem zu sprechen es sich lohnte? Doheny fand sich zu seinem Erstaunen von den Worten des Priesters tief gerührt. Guter Himmel! Dieser Mann war ja ein irischer Redner von bester alter Tradition, und die Geschworenen hatte er ganz offensichtlich verwirrt. Sie hatten doch die ganze Geschichte so sorgfältig geplant! Der Junge sollte als letzter Trumpf ausgespielt werden. Man würde ihn fragen: Würdest du O'Neill töten? Das hatte doch den Ruch von Gerechtigkeit, oder? Was hatte schließlich dieses Kind jemals dem O'Neill angetan? Kevin hatte gesagt, der Junge habe unter vier Augen zugestimmt und würde mitspielen. Er sei bereit, die Fallklappe am Galgen auszulösen, und er werde das mit einem Fluch tun. Er würde das Streichholz entzünden, auf den Abzug drücken ... alles ... Die Tür hinter Doheny krachte schmetternd auf. Einer von Kevins Wachen in Uniform eilte quer durch die Bibliothek. »Sir!« keuchte er, noch ehe er vor dem Richtertisch angelangt war. »Sir! Es ist bekannt geworden, daß wir O'Neill haben! Wir mußten die Tore verbarrikadieren! Tausende von Men632 sehen - es müssen mindestens zehntausend sein im Umkreis! Sie wollen den O'Neill haben! Hören Sie?« Und dann hörten sie es alle. Ein trübdumpfes Singen von außerhalb der Burg: »O'Neill! O'Neill! O'Neill!« Und dann brach plötzlich der Wahnsinnige in wildes Lachen aus und brüllte: »Ja, warum gebt ihr ihnen denn nicht den O'Neill?« Verzweiflung schafft Gewalt, und die Britischen verstanden es meisterlich, unter den Iren Verzweiflung zu verbreiten. In England, müssen Sie wissen, ist die Überzeugung weit verbreitet, daß die Iren - wie die Frauen und die Neger - im wesentlichen Kinder seien, unfähig, sich selbst zu regieren. Aber kein Volk kann jemals wahrhaftig frei sein, ehe es sich nicht von seinen ererbten Vorurteilen befreit hat. Die Englischen und ihr Satellit Ulster sind noch immer die Sklaven ihrer Vorurteile gegenüber den Iren. FINTAN CRAIG DOHENY
Sind sie infiziert worden?« fragte Wycome-Finch scharf. »Zu früh, da was zu sagen«, antwortete Beckett. Es war beinahe Mitternacht, und die beiden Männer redeten laut, um den Baulärm zu übertönen, der in dem großen Lagerhaus herrschte, wohin man den Drucktank mit den Browders gebracht hatte. Das Summen der Luftpumpe der Kammer bildete dazu einen übergelagerten Lärm, der sich störend in den übrigen Geräuschpegel mischte. Der Tank war auf ein Holzgestell fast in der Mitte des Lagerhauses gesetzt worden, und man hatte darum herum Platz freigeräumt. Hohe Stapel von Konserven und Paletten mit anderen Vorräten waren an die Wände gerückt worden. Ein Schwärm von Schreinern und anderen Freiwilligen schufteten um den Tank herum an der Konstruktion eines Zimmers aus Sperrholz und Plastik, mit dem dann der Tank verbunden werden sollte. 633 Wycombe-Finch und Beckett standen etwa sechs Meter außerhalb dieses geschäftigen Treibens, aber sie konnten auch an dieser Stelle noch den Gestank von Erbrochenem riechen, den die Pumpen aus der Kammer absaugten. Es war ein abstoßender Geruch, besonders in der Mischung mit den bei der Notschweißung entstandenen Dünsten, und das war schon vor Stunden bei der Landung bei Ellesmere an der Küste erfolgt. »Sind Sie sicher, die größere Kammer läßt sich durch Säure sterilisieren?« fragte Wycombe-Finch. »Das wahre Problem sind die Dämpfe«, antwortete Beckett. »Wir müssen die Luft da drin sauberkriegen, ehe wir sie in die neue Kammer lassen.« Wycombe-Finch beugte sich vor und betrachtete die frische Schweißnaht unter dem Tank, dann richtete er sich wieder auf. »Da drin muß es ziemlich höllisch sein«, sagte er. »Haben Sie ihnen gesagt, wie dicht vor einem Gegenmittel Sie stehen?« »Ich habe ihnen gesagt, wir arbeiten so schnell wir können, um genug für die Mutter und das Neugeborene herzustellen.« Er schüttelte den Kopf. »Aber wissen Sie, Wye, wenn sie sich angesteckt haben ... - wir können von Glück sagen, wenn wir rechtzeitig genug für das Baby zusammenkriegen, von der Mutter ganz zu schweigen.« »Wie sicher sind Sie wirklich, daß das Serum wirken wird?« »Sicher? - Quark!« »Wollen Sie damit andeuten, daß es vielleicht nicht klappt?« »Es funktioniert im Reagenzglas.« Er zuckte die Achseln. »Verstehe. Gut, aber wenn es nicht auch außerhalb der Glasmenagerie funktioniert, wird Stoney ziemlich ärgerlich sein.« »Ach, scheiß doch auf Stoney!« »Ihr Amerikaner! Ihr werdet immer gleich so grob, wenn ihr unter Druck steht. Ich glaube, das ist der Grund, warum ihr so wenige wirklich gute Administratoren hervorgebracht habt.« 634 Beckett kniff die Lippen zusammen, um eine zornige Antwort zurückzuhalten. Plötzlich ließ er den Direktor stehen, wich zwei Arbeitern mit einem Sperrholzpaneel aus und blieb an einem Bullauge am Ende der Druckkammer stehen. Drinnen war es dunkel, sämtliche Lichter ausgeschaltet. Die können doch nicht schlafen? dachte er. Er begriff nicht, wie sie bei all dem Arbeitslärm schlafen können sollten. Der vorläufig über der Luke angebrachte Lautsprecher knarrte, und Stephen Browders Stimme nörgelte: »Wie lange müssen wir diesen Krach noch aushalten? Und das Baby braucht dringend Sauerstoff zusätzlich!« »Wir füllen gerade einen kleinen Tank ab«, sagte Beckett. »Wir mußten erst was finden, das klein genug war, um durch die Versorgungsluke zu passen.« »Aber wie lange noch?« »Höchstens noch eine Stunde«, sagte Beckett. Er konnte jetzt Browders Gesicht am Bullauge erkennen: ein bleicher Fleck in der Düsternis des Tanks. »Sie bauen was mit Holz? Wie wollen Sie das keimfrei ... »Wir haben Säuren, die es schaffen müßten.« »Müßten?« »Sehn Sie mal, Browder! Wir haben den Erreger festgenagelt, und es ist uns gelungen, ihn außerhalb des menschlichen Körpers abzutöten.« »Und wie lang wird es dann dauern, bis ihr das Serum habt?« »Noch mindestens sechsunddreißig Stunden.« Dann hörte Beckett Kates fragende Stimme: »Stephen! Was sagen die denn?« »Sie holen das Serum, Liebes.« »Werden sie rechtzeitig herkommen damit?« »Es besteht aber doch keine Gewißheit, daß du dich angesteckt hast, Liebes! Die haben das Leck ziemlich schnell geschweißt, und bei der Hitze, also das überlebt kein Krankheitserreger.« Aber er breitet sich in der Atemluft aus, dachte Beckett. Er sagte: »Wir arbeiten, so rasch wir können.« 635 »Da sind wir äußerst dankbar dafür«, sagte Browder. Dann tippte Wycombe-Finch Beckett auf die Schulter, und der zuckte zusammen, weil der Lärm die Annäherung
des andern überdeckt hatte. »Sorry«, sagte Wycombe-Finch. »Hab grad die frohe Botschaft erhalten, daß Stonar am Telefon ist. Er besteht darauf, mit Ihnen zu reden.« Beckett blickte zu einem offenen Tor des Lagerhauses, wo sich in der breiten Öffnung zahlreiche Betriebsangehörige der Forschungsanstalt Huddersfield drängten und ins Innere gafften. »Sie hoffen, sie kriegen die Frau zu sehen«, erklärte Wycombe-Finch, als er merkte, in welche Richtung Beckett schaute. »Shiles hat Wachen aufgestellt, die sie nicht reinlassen.« »Jaah.« Beckett wollte sich zum Ausgang aufmachen, wurde aber von der Hand des Direktors auf seinem Arm zurückgehalten. »Bill, fassen Sie Stonar mit Glacehandschuhen an. Er ist gefährlich.« »Mach ich.« Beckett nickte zu den Betriebsangehörigen hinüber. »Wir werden sie denen bald zeigen müssen - so 'ne Art Besichtigungszeiten oder so.« »Shiles kümmert sich darum.« »Ordnet auch besser Durchsuchungen der Leute an, wir müssen sicherstellen, daß keiner einen Hammer mitbringt und die Scheibe zertrümmert.« »Aber Sie glauben doch nicht im Ernst...« Wycombe-Finch schnüffelte. »Wir sind hier in England! Wir haben Anordnung erteilt, daß alle nicht für die Arbeit wichtigen Betriebsangehörigen sich fernhalten müssen. Und überhaupt ... - es wird ja nichts zu sehen geben, nur einen großen Holzkasten und einen kleinen Stahlzylinder.« »Welches Telefon benutze ich für Stonar?« »Im Sicherungsbüro im Verwaltungsbau, direkt gegenüber, das ist wohl das nächste. Erste Tür rechts nach dem Eingang.« Beckett stapfte zum Tor. Dort hielt ihn die Menge mit 636 drängenden Fragen auf: »Haben die da drin wirklich 'ne echte Frau?« »Und ihren Mann und ihre kleine Tochter«, sagte Beckett. »Aber Sie müssen jetzt hier leider vorläufig verschwinden.« »Mein Gott, Mann!« sagte einer. »Haben Sie 'ne Ahnung, wie lang wir keine Frau mehr gesehen haben?« »Es gibt keine Möglichkeit, wie ihr sie sehen könntet. Jedenfalls vorläufig«, sagte Beckett und machte sich frei. Er schritt rasch über das Gelände davon. Die Männer drängten sich weiter vor dem Tor. Beckett konnte gerade noch hören, wie einer fluchte: »Beschissene Yanks!« Auf seinem Weg hatte er Licht von der ständig eingeschalteten Wegbeleuchtung, die das Forschungszentrum Huddersfield wie einen nächtlich arbeitenden Fabrikbetrieb erscheinen ließ. Es waren ziemlich viele Menschen wach und unterwegs, stellte er fest: noch mehr Neugierige, die einen Blick in das Lagerhaus werfen wollten. Das Sicherheitsbüro war grell erleuchtet. Eine Wache hockte hinter dem einzigen kleinen Tisch, die Augen fest auf die Fernsehmonitore oben an der Wand gerichtet. Auf Becketts Verlangen hin schubste er das Telefon über den Tisch, ohne dabei aber den Blick von den Monitoren zu wenden. Die Vermittlung stellte Stonar sofort durch. »Wo hat man Sie denn suchen müssen?« blökte Stonar. »Am Land's End?« Stonar per Telefon ist genauso wenig eine Wonne wie Stonar in Person, dachte Beckett mürrisch. »Ich war in dem Lagerhaus, in dem wir den Container mit dem irischen Ehepaar untergebracht haben.« »Entspricht es der Wahrheit, daß sie bei der Überfahrt ein Kind gekriegt hat?« »Ja. Es ist ein Mädchen. Frühgeburt. Die Sache hängt an 'nem seidenen Faden.« »Ja, aber das heißt zwei Meerschweinchen für euer Serum, oder?« »Stimmt. Mehr, als Sie sich denken können. Es ist nämlich möglich, daß die beiden angesteckt sind.« 637 »Schön-schön ... Ich glaube, wir werden eine ganze Anzahl Frauen aus dem Busch locken, wenn wir euer Serum bekanntmachen.« »Sie machen überhaupt nichts bekannt, solange wir es nicht erprobt haben!«, »Aber sicher doch, alter Junge! Sicher!« Stonar klang beinahe liebenswürdig. »Sie sind aber doch ziemlich zuversichtlich bei dem Ding, oder?« »Wir drücken alle Daumen. Und die letzten paar Informationen von den Iren haben uns tatsächlich übern Berg gebracht. Die Fünferserie im Trägercode ... mein Gott!« »Das müssen die direkt von O'Neill rausgeholt haben. Die Iren wären von selbst nie auf so was gekommen.« »Ist es wahr, daß die dort O'Neill selber haben?« »Zweifeln Sie nicht daran, alter Junge! Außerdem, wenn ich mich so ausdrücken darf, scheinen dort derzeit Fäkalien durch die Gegend zu wirbeln. Unsere Informanten berichten, daß man dort knapp vor dem Ausbruch eines Bürgerkrieges steht. Der eine Haufen hat sich im Forschungsinstitut eingegraben und hofft, daß er dort vor einem direkten Angriff sicher ist. Und ein anderer Haufen hat einen Großteil der Küste im Nordosten unter Kontrolle gebracht und dazu 'ne stattliche Anzahl von Stellungen im Innern. Typisch irischer Sturm im Wasserglas!« Beckett blickte auf den Nacken des Sicherheitsbeamten. Stonars Verhalten verwirrte ihn. Der Mann klang fast geschwätzig, ja beinahe freundlich. »Wo haben Sie den O'Neill?« fragte er. »In ihrem Forschungszentrum, sagt man mir jedenfalls. Sagen Sie mal, Bill, könnten Sie mir nicht den Gefallen
tun und mich restlos ins Bild setzen, falls Sie dazu bereit sind? Ich stehe kurz vor einer Besprechung mit dem Premierminister und dem König. So'n bißchen medizinisches Fachchinesisch, oder so?« Stonar erlaubte sich tatsächlich ein Kichern. »Alle sind dermaßen aufgeregt! Aber was treibt ihr da unten eigentlich wirklich?« Beckett nickte vor sich hin. Jetzt war ihm die Sache nur 638 allzu klar geworden. Ein gefährlicher Mann, bei Gott! Der wollte etwas haben, womit er seine Vorgesetzten beeindrucken konnte! »Wir arbeiten daran, die Seuche mit einer andern Seuche zu infizieren«, sagte Beckett. »Sie wissen ja sicherlich, daß die zwanzig möglichen Aminosäuren durch den Gencode angeordnet werden. Das Pestvirus mischt sich nun störend in diese Anordnung ein. Es bringt sozusagen eine neue Information ein in die Kontrollstellen der biochemischen Aktivität in den Zellen. Die Codierung der Zellen, durch die sie ihre Spezialfunktionen erfüllen können, wird durch das Pestvirus stimuliert- spezifizierte Informationen an ganz spezielle Zelltypen. Können Sie mir dabei folgen?« »Ich schneide es mit, alter Junge. Dann laß ich's mir abtippen ... Aber würden Sie bitte fortfahren?« »Bringen Sie die Metapher von der Wendeltreppe«, sagte Beckett. »Es handelt sich um eine Genkrankheit, die die DNS-Spirale an kritischen Punkten der Wendeltreppe angreift.« »Genau.« Stonar gelang es, gleichzeitig trocken und begeistert zu klingen. »Wenn die neue Information in eine Übermittlerzelle eingeführt wird, dann geschieht dies, statt in der Viereranordnung, in Fünferserien ...« »Das, was sie uns von O'Neill rübergegeben haben.« »Genau.« Es bereitete Beckett Vergnügen, Stonar nachzuäffen. Doch der schien das nicht zu merken. »Wir wußten, daß O'Neill ein Virus verwendet haben mußte als Nachrichtenübermittler zu seinem bakteriellen Wirt«, fuhr Beckett fort. »Und dann war da dieser quälende Hinweis auf die Ähnlichkeit mit der Granulozyten-Leukämie.« »Und was heißt das, alter Junge? - Nur falls die mich fragen sollten?« »Es läßt auf eine Durchbrechung der normalen Gencodierung schließen. Die Struktur der DNS war auf jeden Fall verändert.« »Genau. Aber warum greift das Zeug keine Männer an?« 639 »Männer besitzen die biochemische Nische nicht, in die das Pestpathogen sich einnisten könnte, um dort seine Verheerungen anzurichten. Es wird von den Körpermechanismen aufgelöst, die das Zellwachstum regulieren.« Beckett lächelte in sich hinein. Ihm war klar, daß er soeben sämtliche wichtigen Informationen weitervermittelt hatte, durch die Fachkundige auf all die anderen Möglichkeiten gestoßen werden mußten, die nun greifbar geworden waren: das Ende der Mitosekrankheiten, das Ende des Krebses. Man würde bald in der Lage sein, die energieschaffenden Aktivitäten verwandter RNS zu kontrollieren. Und noch unendlich viel mehr ... »Aber das ist ja großartig«, sagte Stonar. »Und ihr habt mit dem alten Computerdings 'ne Menge Arbeit geleistet, was?« Oja, dachte Beckett. Der muß ja unbedingt das neueste grandiose Werkzeug der Wissenschaft aufs Tapet bringen! »Wir hatten da zwei Programme laufen - ein exzellentes neues Suchprogramm, das ein junger USAmerikaner entwickelt hat, und daneben die Bildvergrößerungstechniken, die die NASA entwickelt hat, um die aus dem Weltraum aufgenommenen Bilder besser auswerten zu können. So konnten wir Dinge innerhalb der Genstruktur sehen, die kein Mensch vorher je gesehen hat.« »O'Neill muß sie aber gesehen haben«, sagte Stonar. »Genau«, konterte Beckett. »Dieses Suchprogramm, war das die Geschichte, die dieser Ruckerman uns rübergebracht hat?« »Ja.« »Ich hab ihn hier runterbringen lassen, wissen Sie das? Der König wollte das so. Steht uns noch 'ne Menge Gerangel über die Neuorientierung der Welt bevor.« Beckett kreuzte die Finger zu einem Abwehrzauber. »Ja, das kann ich mir denken.« »Ruckerman, in Vertretung von eurem Präsidenten, der König persönlich dabei, der Premierminister - alles sehr stark auf höchster Ebene!« 640 Und du glaubst, du hockst richtig schön mittendrin! dachte Beckett. »Ach ja, da fällt mir grad was ein«, sagte Stonar. »Es wird Sie vielleicht interessieren, daß Kangsha versteckte Andeutungen bezüglich eines dort gefundenen Gegenmittels macht.« »Die Chinesen?« »Sie geben keine Einzelheiten preis, aber das Signal ist klar genug, alter Junge. Sie verwenden das Wort Heilmittel« Stonar räusperte sich. »Die Japaner und die Sowjets schweigen sich noch immer über ihre Fortschritte aus, aber aus Jaipur hört man, daß sie in einem Monat Angebote für eine chemische Behandlung der Pest anzunehmen bereit wären, mit der sie bemerkenswerte Ergebnisse erzielt haben, sagen sie.« »Das ist interessant. Besonders das mit den Chinesen.« »Geben Sie's Wye weiter. Das tun Sie doch, nicht wahr, alter Junge?« »Selbstverständlich. Meine besten Grüße an Ruckerman.« »Sicher, sicher. Wir kommen blendend miteinander zurecht, müssen Sie wissen. Allerdings muß ich sagen, er
wird es nie schaffen, das alles genau so schön wie Sie auszusprechen.« Das Gespräch wurde durch ein endgültiges Klicken unterbrochen. Aber ehe Beckett noch den Hörer auflegen konnte, war Shiles in der Leitung. »Warten Sie noch Bill, bitte! Ich komm gleich rüber zu Ihnen.« Beckett legte auf. Also hatte Shiles sie abgehört. Was hatte das zu bedeuten? Wahrscheinlich nicht viel. Schließlich wußte man ja hier, daß jeder jeden abhörte. Aber daß Shiles höchstpersönlich gerade dieses Gespräch mitgehört hatte? Und dann stieß eine Gestalt in weißem Kittel die Tür zum Sicherheitsbüro auf, übersah Beckett vollkommen und wandte sich an den Wachtposten vor den TV-Monitoren. »He! Arley! Drüben im Lagerhaus ham sie 'ne Frau in 'ner Art Isolierbehälter!« »Weiß ich«, brummte der Posten, ohne den Blick von den Bildschirmen oben an der Wand zu wenden. 641 Der Informant verschwand unter Türeknallen. Sie hörten ihn laut durch den Flur rennen. Und dann blickte auch Beckett zu den Monitoren hinauf. Er merkte, daß der eine ganz rechts in Nahaufnahme das eine Ende der Browderschen Druckkabine zeigte. Hinter dem Lukenglas waren undeutliche Bewegungen zu erkennen. Dann kam Shiles herein. Die sonst so adrette Uniform wirkte ein wenig zerknautscht. Er begriff sofort, was hier los war, und sagte: »Sie können jetzt gehen, Arley. Sie übernehmen die Monitoren im ersten Stock.« Der Posten verschwand mit einem letzten sehnsüchtigen Blick zu dem Monitor ganz außen rechts. Als die Tür ins Schloß gefallen war, sagte Shiles: »Wir haben einen Fehler gemacht, daß wir Wye nicht von Anfang an eingeweiht haben. Er ist gestern abend in mein Büro gekommen und hat höchst vorsichtige Anspielungen gemacht auf >einige extrem aufregende Nebenergebnisse< bei eurem Durchbruch. >Damit kriegen wir 'ne Unmenge Sachen in den Griff«, hat er gesagt.« »Ach, bloße Schnüffelei auf gut Glück«, sagte Beckett. »Wir könnten es ja auf Ihren Freund, den Froschschenkelfresser, schieben«, sagte Shiles. Beckett starrte den Mann an. Langsam wurde es ihm klar: Es war den Engländern in Fleisch und Knochen gezüchtet worden, niemals jemandem von außerhalb ihrer Küsten zu vertrauen. Und darin eingeschlossen waren Bill Beckett, Danzas und Lepikow genauso wie Hupp. Wie, zum Teufel, sollten sie diese Welt wieder einigermaßen in Ordnung bringen, wenn sie hier ringsum von solchen Scheißern umgeben waren? »Wenn da jemand Mist gebaut hat, dann nehme ich das auf mich«, sagte Beckett. »Furchtbar anständig von Ihnen«, sagte Shiles. »Aber können Sie sich wirklich vorstellen, was für Kräfte wir unter Kontrolle halten müssen! So eine Beschuldigung könnte recht gefährlich werden.« Beckett betrachtete Shiles nun mit größerer Wachsamkeit. 642 Er dachte an das dumpfe vulkanische Emotionspotential, das da draußen brodelte und das zum großen Teil nur deshalb nicht explodierte, weil es da die Hoffnung gab, daß irgendwann, eines Tages, ein Gegenmittel gegen die Seuche gefunden werden würde. - Könnte! Wie waren die neuesten Verhältnisziffern für die Geschlechtsstruktur der Erdbevölkerung? - Achttausend Männer pro eine überlebende Frau. Und jeden Tag wuchs die Diskrepanz bestürzend weiter. »Ich will nicht haben, daß Wye Sie den Löwen vorwirft«, sagte Shiles. Wie sollte den Wycombe-Finch irgend jemanden irgend jemand vorwerfen können? überlegte Beckett. Was ging hier eigentlich vor? »Ich war der Ansicht, wir beiden hätten eine Übereinkunft getroffen, General?« sagte Beckett. »O ja, das haben wir, alter Freund und Kumpel! Das haben wir, bei Gott! Aber da tauchen auf einmal große Zwänge auf. Wer bekommt das Serum - und wer bekommt es nicht? Wer bekommt die Frauen - und wer nicht. Etcetera, etcetera ...« Er brach ab, da sich die Tür hinter seinem Rücken leise öffnete. Wycombe-Finch lugte durch den Türspalt. »Ah, da sind Sie ja, Bill. Und der General auch!« Der Institutsleiter kam herein und schloß die Tür fest hinter sich. »Hab ich mir doch gedacht, daß ich euch beide hier finden würde.« »Was gibt's denn, Wye?« fragte Shiles. »Also, es ist ja eigentlich recht peinlich.« Er blinzelte zu. den Monitoren hinauf, dann schaute er wieder Beckett an. »Muß wohl in den sauren Apfel beißen, was?« »Bitte tun Sie's!« sagte Shiles. Wycombe-Finch holte tief Luft. »Ich habe Ihre Unterhaltung mitgehört«, sagte er. »Nein, nicht beim erstenmal. Ist 'ne üble Angewohnheit von mir. Neugier - Sie verstehen.« Shiles warf Beckett einen Blick zu, in dem stand: Na, hab ich's Ihnen nicht gesagt? »Stoney und ich haben in der Beziehung unsere Informationen ausgetauscht«, sagte Wycombe-Finch. »Er wird aller 643 Wahrscheinlichkeit nach - heut nacht noch den König und den Premierminister ins Bild setzen.« Shiles massierte sich den Nacken. Sein Blick haftete starr auf den Lippen Wycombe-Finchs, und langsam breitete sich eine Röte von seinem Hemdkragen nach oben aus. »Stoney kann manchmal ganz schön beschränkt sein«, sagte Wycombe-Finch. »Allerdings, ein guter Kopf für die Politik. Hab ich bereits erkannt, als wir zusammen in der Schule waren. Tut mir leid, ihr zwei, aber ich
fürchte, wir haben halt das Zaumzeug selbst zwischen die Zähne genommen.« »Was haben Sie getan?« brachte Beckett mühsam heraus. »Also, ziemlich früh schon kamen Fin Doheny und ich zu der Oberzeugung, daß wir bald irgendeine Verbindungs-Möglichkeit für den Notfall brauchen würden. Und Radio ist nun mal eines meiner Hobbies, wissen Sie? Ich habe da 'n amerikanisches Fabrikat - ihr nennt das, glaube ich, CB. Und ich hab da ... ähh ... ein bißchen dran rumgebastelt. Größere Reichweite. Antenne im Dachboden. Also all das. Das Barrier Command hat uns ziemlich bald aufgespürt, aber denen schien es nichts auszumachen, solange wir ganz offen redeten. Ich hab versucht, den alten Fin früher zu erreichen. Aber ich krieg heut keinen Pieps rüber. Schlimme Zustände da drüben, fürchte ich. Aber beim Barrier Command haben sie jetzt eure Formel für das Serum und das ganze hübsche biochemische Bild und so weiter. Stoney war der Meinung, die würden das dann nach Amerika weiterleiten und auch zu allen andern.« »Verdammt und zugenäht!« keuchte Shiles. »Wollen hier keine Gewalttätigkeiten, verstehen Sie?« sagte Wycombe-Finch. »Ist ja schließlich ein scheußlich attraktiver Preis, wie? Also müssen wir ihn teilen, klar? Können schließlich nicht zulassen, daß uns da Leute mit Kanonen und anderen Sachen auf den Leib rücken und uns das wegnehmen wollen.« Beckett begann zu lachen. Er wackelte dabei heftig mit dem Kopf hin und her. »Oh, Kinder! Wartet bloß, bis ich das Joe beigebracht habe!« 644 »Ach, ich vermute, Lepikow hat es ihm bereits gesagt«, bemerkte Wycombe-Finch wie beiläufig. »Ein recht amüsanter Bursche, dieser Russe. Hat mir so 'nen alten russischen Spruch zitiert: Jeder, der eine Verschwörung plant, pflanzt einen Samen in die Erde.< Ganz hübsch, was?« »Ja, aber man weiß nie, was aus dem Samen wird, bis er nicht aus dem Erdgrund herauswächst«, sagte Beckett. Er blickte Shiles an. Inzwischen war die Röte bis hoch in das Gesicht des Generals gestiegen. »Die Regierung konnte es nicht zulassen, daß eine kleine Gruppe von Leuten die Kontrolle über die Ernte ausübt, wenn Sie mich verstehen«, sagte Wycombe-Finch. Shiles fand Worte: »Ich schwöre Ihnen, Sir, meine einzige und ausschließliche Sorge galt dem Aufbau eines Verteilersystems, damit sichergestellt werden könnte, daß eine gleichmäßige und gerechte Verteilung möglich würde.« »Aber natürlich doch, alter Junge!« sagte Wycombe-Finch. »Es wird aber genug für jedermann geben«, sagte Beckett. Er schaute Shiles an. Der General hatte seine Fassung wiedergewonnen. »Und Sie, General, haben noch immer das Kommando über eine beachtliche militärische Stärke!« »Ja, aber ich werde mich dem Beschluß der Regierung beugen müssen«, sagte Shiles. »Genau das habe ich doch früher schon zu erklären versucht.« Goethe sagte irgendwo, die Iren erschienen ihm immer wie eine Hundemeute, die einen edlen Hirsch zur Strecke bringt. FINTAN CRAIG DOHENY Die Ankunft des Menschenmobs schien in Kevin O'Donnell eine ganz neue, fremdartige Persönlichkeit zu entzünden. Doheny bekam davon nur einen Hauch zu spüren, als er mit den anderen Hauptakteuren der Gerichtsverhandlung unter Bewachung weggeführt und befehlsgemäß in den Zellen un645 ter dem Burgfried eingeschlossen wurde. Zuerst hatte Kevin sich an die Geschworenen gewandt und ihnen befohlen, sich zu bewaffnen. Sie seien jetzt nicht länger Geschworene, sondern >Kämpfer in der Schlacht von Armageddon
rhythmischen Gebrüll der Menge stolperten sie die vielen Stufen hinunter. Der Mob 646 war zu dem Introitusgeschrei zurückgekehrt: »O'Neill! O'Neill!« Am Fuß der Treppe hielten sie in dem Gelaß inne, das voll alten Gerumpels steckte. Pater Michael wischte sich Spinnweben aus dem Gesicht. John ging zu seiner früheren Zelle und trat ein. Der Junge stieg auf ein durchgesessenes Sofa und versuchte durch ein vergittertes Fenster hoch oben in der Mauer hinauszuspähen. Dort war das Gebrüll der Masse noch deutlicher zu hören. Dann kam John zurück, er trug nun wieder die Kleider, die abzulegen die Wachen ihn gezwungen hatten. Sie waren feucht und stellenweise voller Schleim, den er mit dem Laborkittel wegzuwischen versuchte. »Warum haben sie mir meine Kleider genommen?« fragte er mit ganz ferner Stimme. »War das, weil der Priester ein Messer hatte?« »Schon gut, John«, sagte Pater Michael und legte ihm die Hand auf die Schulter. Er spürte das tiefe Zittern, von dem John befallen war. Der Junge kletterte weiter auf dem Haufen Gerumpel in der Ecke herum. Er konnte noch immer nicht bis zu dem Gitterfenster hinaufreichen. »Gib's auf, mein Junge!« sagte Doheny. »Du wirst noch fallen und dir weh tun.« Dann kam von der Masse männlicher Tiere lautes Gebrüll. Dann kurze Feuerstöße aus Automatikwaffen. Dann Stille. Sogar die Litanei hatte aufgehört. »Was machen die draußen?« fragte der Priester. »Schleifen die Sensen und Sicheln, die Gartenmesser und Mistgabeln, aller Wahrscheinlichkeit nach«, sagte Doheny. »Sie machen sich bereit zum Bauernaufstand.« Das letzte Wort ging fast in einem neuerlichen Aufbrüllen des Mobs unter. Der Keller hallte davon wider. John schien nichts zu hören. Er stierte zu dem Jungen hinauf, wie er da droben auf dem Gerümpelhaufen kauerte. Er erinnerte sich daran, wie der Kleine gewesen war, als sie zusammen übers Land gezogen waren. Jetzt war der Junge von 647 einer wilden Energie beherrscht, er strahlte zielstrebige Gespanntheit aus. »Pater Michael!« rief der Junge mit dunkler drängender Stimme. »Hier hinten issen Tunnel!« »Ein Tunnel, wirklich?« Der Priester kletterte über das Gerumpel zu dem Jungen hinauf, zerrte Bretter beiseite, spähte hinter den Jungen. Dann hob er den Kopf und sagte zu Doheny: »Da kommt frische Luft rein! Es gibt einen Weg nach draußen!« Er riß noch mehr Bretter weg, und dahinter zeigte sich eine niedrige Öffnung. »Bringen Sie John mit!« Doheny faßte John am Arm. »Kommen Sie!« »Ich kann nicht«, sagte John. »O'Neill will nicht gehen.« Er ließ wild den Blick durch das düstere Gelaß schweifen. »Wozu sind sie gekommen? Ich habe nichts ...« Die restlichen Worte gingen in einem erneuten Brüllen der Masse und weiteren MP-Salven unter. Dann wurde das Gebrüll der Masse zu einem rhythmischen Wogen, keine Worte mehr verständlich, nur heisere unartikulierte Geräusche - ein gewaltiges Stöhnen und Grunzen, das Doheny mit panischer Furcht erfüllte. Pater Michael schoß über das Gerumpel auf John zu und packte ihm am rechten Arm. »Ich fürchte, wir werden ihn schleppen müssen«, sagte Doheny. »John, kommen Sie mit uns!« bat der Priester. »Wir versuchen Sie zu retten. Das tun wir doch, Fin?« »Das tun wir.« »Aber nehmt ihr O'Neill auch mit?« fragte John. »Aber natürlich!« versprach Pater Michael. »Aber wo ist er denn?« fragte John zurück. »Vorhin war er noch in dem Glas da auf dem Tisch. Ich seh ihn ja gar nicht mehr!« »Er ist schon vorausgegangen«, sagte Doheny. »Oh?!« John ließ sich taumelnd und stolpernd über das Gerumpel ziehen, an dem aufgestapelten Holz vorbei. Dort wartete der Junge auf sie in einem gewölbten Durchgang aus schimmelbedeckten Steinen. Der Boden unter den Füßen war glitschig, 648 Steine kippten hervor, es gab Lachen von Wasser auf dem Boden des Tunnels. Durch Ritzen drang der Gestank von Sielen. Doheny horchte auf den Lärm, den der Mob über ihnen veranstaltete. Man konnte das Stampfen zahlreicher Füße spüren, es fielen nur noch vereinzelte Schüsse. Pater Michael stieß John vor sich her durch den niederen Gang. Ganz vorn ging der Junge. Der Tunnel war dunkel und stank, aber weit voraus schimmerte ein blasses Licht. Und dann erblickten sie Flecken von Tageslicht durch Gebüsch und ein Eisengitter, das halb den Weg versperrte. Pater Michael gebot ihnen durch eine Handbewegung, an dem Rost anzuhalten. Er lauschte. Das Gebrüll der Menge klang nur noch dünn zu ihnen her, weit von hinten. Es fielen auch keine Schüsse mehr. Doheny erkannte, daß sie in einer kleinen Steinhütte gelandet waren, in der zu beiden Seiten verrostetes Gartengerät lag - Hacken, Rechen, Schaufeln, kleine Stechspaten, Handkultivatoren. Von vermoderten Borden waren ganze Reihen von Blumentöpfen gestürzt, und die Scherben brachen krachend unter ihren Füßen. Drahtreste und rostzerfressene Dosen lagen überall herum. Durch die Ritzen zwischen den Steinen drang Tageslicht. Auch durch die eine halb von einem rostigen Eisengatter und dichtem Gebüsch blockierte Türöffnung fiel Licht.
John schloß die Augen und preßte die Arme eng an sich. Er atmete flach und hastig, seine Finger verkrampften und entspannten sich unablässig. Der Junge kroch unter dem Gestrüpp durch, man hörte ihn in der Hütte herumgehen. Doheny berührte John an einer Hand. Die Reaktion war ein abruptes Zurückwerfen des Kopfes, die Augen weit aufgerissen und funkelnd. Der Priester bedeutete Doheny, er solle dableiben, und ging hinter dem Jungen her. Er kam sofort wieder zurück und sagte: »Die Hütte liegt neben einem alten Treibhaus, und es gibt einen überwachsenen Pfad, der anscheinend zur 649 Straße hinausgeht. Der Junge ist vorausgegangen, um sich umzuschauen.« Er nickte mit dem Kinn zu John. »Sagt er irgendwas?« »Es ist faszinierend«, sagte Doheny, ganz in die klinische Beobachtung der Symptome Johns versunken. »Kontrollierte Identitätsübertragung, vermute ich. Er weiß, daß da noch eine zweite Person gegenwärtig ist, und er kann sogar mit ihr sprechen, aber ich bezweifle, daß er die Dissoziation überwinden kann.« Der Priester schien zu frösteln. »Was aber sollen wir denn mit ihm anfangen?« Bei diesen Worten kauerte John sich auf den schmutzigen Boden nieder, barg das Gesicht auf den Knien, krümmte sich in sich zusammen wie ein gehetztes Tier in seinem Bau. Es würde ihn umbringen, wenn man ihn wieder zu O'Neill aufzubauen versuchte, dachte Doheny. Und wohin war der Junge gegangen? Plötzlich tauchte ein eisiger Gedanke in seinem Bewußtsein auf: Kevin hatte gesagt, der Junge giere danach, die Falltür unter dem Galgen für O'Neill zu bedienen. War der Junge gegangen, um Kevin oder die Meute aufzustacheln? Ein Geräusch am Eingang lenkte seine Aufmerksamkeit von John weg. Der Junge glitt durch die Öffnung. Er wirkte bedrückt, mehr so, wie sein früheres Selbst es gewesen war. Er machte eine auffordernde Handbewegung, sie sollten ihm folgen, und verschwand wieder nach draußen. Das Gebüsch raschelte, als er verschwand. »Das ist ein guter Junge«, sagte Pater Michael, »seine Seele wird vom Heiligen Herzen Jesu geleitet.« Ich hoffe, du irrst dich da nicht, dachte Doheny. »Hoppla, wir stehn jetzt auf, John«, sagte er und half ihm auf die Füße. Der Priester zog vorn, Doheny schob hinten - so gelang es ihnen, John aus der Hütte ins Freie zu bringen. Es war ein verwilderter Park mit hohen Nadelhölzern ringsum, und zwischen den Stämmen schimmerte der See. Ein schmaler Pfad aus Steinplatten unter überhängenden Sträuchern 650 führte vom lough fort. Von dem Jungen war nichts zu sehen. Im Gänsemarsch, John zwischen dem Priester und Doheny, zwängten sie sich über den Pfad. Stellenweise waren die Sträucher zu dicht zugewachsen; Äste peitschten, Pater Michael drückte sich mit dem Rücken voran gegen die Hindernisse, zog John hinter sich drein, tastete vorsichtig mit den Absätzen nach den Steinplatten. Doheny schützte das Gesicht mit dem Arm. Dann gelangten sie durch eine dichte Hecke auf eine schmale Teerstraße voller Brüche und Löcher. Der Junge wartete an der Hecke auf sie, und als sie hindurchgekrochen waren, wandte er sich nach links und ging eilig davon. Fort von der Burg. Doheny zögerte. Er lauschte. Man hörte keinen Ton mehr von dem Mob, und es war auch nichts zu sehen. Das Schweigen war unheimlich. »Kommen Sie schon!« flüsterte der Priester. Er spürte es auch, dachte Doheny. Aber Flucht war das einzig Vernünftige in diesem Augenblick. Pater Michael trottete hinter dem Jungen her, der inzwischen schon an die hundert Meter vor ihnen war. Doheny folgte mit John. Der schien ganz bereitwillig mitzugehen. Doheny führte ihn durch einen leichten Griff am linken Arm, aber er schien von einer Schwäche befallen zu sein, als habe er keinerlei eigenen Willen mehr, als bewege ihn nur die Kraft, die sein Gefährte auf ihn übertrug. Die Straße bog am Ende einer langen Baumallee ab und begann vom See weg anzusteigen und sich in scharfen Haarnadelwindungen in die Berge hinaufzuschlängeln. Keuchend kamen sie nach einer anstrengenden Kletterei an einen Aussichtspunkt mit von Unkraut überwachsenem Steinmäuerchen, der Wegweiser stand noch. Er wies nach »Bally ...« -der Rest des Namens war unleserlich. »Das muß wohl Ballymore sein, glaube ich«, sagte der Priester. Der Junge war an den Rand der Aussichtsplattform getre651 ten und starrte zum lough zurück. Die anderen folgten ihm. Dabei brachen sie durch hohe Stämme eines Gehölzes und hatten nun endlich den Blick auf die Burg hinab. Aus den Fenstern und durch das Dach leckten Flammen. Rauch stieg in einer senkrechten Säule in die unbewegte Luft. Beim Anblick des Rauchs schüttelte es den Priester. Er erinnerte sich an das Feuer in Maynooth. Und auch hier war eine wildgewordene Meute Mensch. Die vier Zuschauer starrten stumm über die Baumwipfel zur Burg hinab. Sie lag vielleicht einen Kilometer weit entfernt. Das Burggelände war von einer dichtgedrängten Masse erfüllt, ein hin- und herwogender Menschenteppich. Körper an Körper gepreßt, und was sich da bewegte, waren schwingende Arme, war das Blitzen von Waffen. Was aber den vier Zuschauern die Gänsehaut über den Körper jagte, war die Stille. Nicht
ein Schrei ... kein Laut, kein rhythmisch-rituelles Singen mehr ... nur diese lautlose Bewegung der Masse. »Ihr Heiligen, beschützt uns!« flüsterte Pater Michael atemlos. Der Junge kroch näher an den Priester heran und faßte ihn am Arm. John schien erst jetzt den Priester und das Kind zu bemerken. Sie erschienen ihm als vertraute Gestalten. Ja, sie waren zusammen weit übers Land gewandert. Er wandte sich nach links und erblickte da ein ihm unvertrautes Gesicht. »Wer sind Sie?« fragte er unsicher. »Ich bin Fin Doheny.« »Wo ist denn Joseph?« Doheny begriff. Er sagte: »Ich habe ihn abgelöst. Ich bin hier für Joseph Herity.« »Und wohin gehen wir jetzt?« fragte John. Doch ehe Doheny antworten konnte, hob der Priester warnend die Hand und sagte: »Hört mal!« Und dann hörten sie es alle: Reiter, die über ihnen auf der Straße herabgeritten kamen. Um eine Biegung der Straße kamen Reiter in einer Gruppe. An der Spitze ein großer bär652 tiger Mann, über dem Sattelknauf lag ein Gewehr. Er hob das Gewehr in die Luft, zum Zeichen, daß die hinter ihm anhalten sollten, als er die Gruppe auf dem Aussichtspunkt erblickte. Der Bärtige starrte die Menschen unter ihm einen Augenblick lang an. Seine Begleiter hielten sich im Schutz der Bäume, nur die Nüstern von zwei Pferden waren sichtbar. Da er keine Waffen bei der Gruppe auf dem Aussichtspunkt entdecken konnte, ließ der bärtige Mann sein Gewehr sinken. Er sagte über die Schulter zurück: »Ihr wartet hier.« Dann ritt er herunter und hielt schließlich am Straßenrand an. Doheny sah, daß sein Pferd um den Biß Schaum stehen hatte. Die Männer waren scharf geritten. »Was ist da drunten los auf der Burg?« fragte der Bärtige mit einer Kinnbewegung. »Wir haben es selber auch gerade erst bemerkt«, sagte Doheny. »Sieht aus wie ein Mob.« »Und wer wärt denn dann ihr, wenn ich so frei sein darf zu fragen?« forderte der Reiter. »Mein Name ist Fintan«, sagte Doheny. »Das hier ist Pater Michael und ...« »Ach, ein Priester!« sagte der Bärtige. »Seid ihr vielleicht nach Ballymore unterwegs? Es ist nämlich wahr, so wahr wie Gott lebt, das mit den wundervollen Heilungen durch unser Quellwasser.« Pater Michael blickte den Berghang hinauf. Auf seinem Gesicht stand deutlich der Ausdruck zu lesen: »Na ja, warum nicht?« Er nickte. »Ja, wir wollen die Wasser von Ballymore trinken, so Gott will!« »Es ist wirklich was Wunderbares, ich sag's euch«, sagte der Bärtige. Er beugte sich im Sattel vor und schaute John forschend an. John ließ den Kopf sinken und schloß die Augen unter der ihm auf einmal zugewendeten Aufmerksamkeit. »Und was fehlt eurem Freund da?« Doheny fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Er merkte, daß der Priester ihm einen ängstlichen Blick zuwarf. Aber ehe einer von beiden eine Antwort zustandebrachte, 653 trat der Junge vor und ergriff Johns Hand. »Wir wollen zu euren Quelle, Herr. Das ist mein Vater. Der ist schon so, seit Mutter gestorben ist.« Der Richter richtete sich auf. Seine Stimme klang traurig, als er sprach: »Ja, viele sind jetzt so. Gott helf uns allen!« Er wandte sich im Sattel um und rief seinen Gefährten zu: »Des! Bring mir den Sack mittem Brot und Käs!« Er wandte sich dem Priester zu. »Ich hab gemerkt, ihr habt nichts zu essen mit. Und es ist ein Stück Weg bis Ballymore. Also wollen wir unsers teilen und beten, daß ihr bei uns in Ballymore bleibt.« Er wies über die Burg drunten hinaus. »Wir haben da drunten bei Killaloe was zu erledigen. Könntet ihr uns vielleicht sagen, wie wir an dem Mob vorbeikommen?« »Was in Killaloe zu erledigen?« fragte Doheny. »Ich heiß mich Aldin Caniff, und ich bin der Anführer in Ballymore«, sagte der Bärtige. »Wir bringen Erskine McGinty runter zum Killaloe, wo sie angeblich 'nen Funksender haben, mit dem man übers Wasser reden kann. Und Erskine hat 'ne Vision gehabt und den Befehl erhalten, dem neuen Papst von unserm Wasser da zu berichten!« »Ich weiß nichts von einem Radiosender in Killaloe«, sagte Doheny. »Ach, das ist schon bekannt«, sagte Caniff. »Der neue Papst, wißt ihr, der heißt nämlich >Adam<, wegen des Neuen Anfangs! Und das war mal ein David Shaw. Stellt euch das bloß mal vor! Ein schlichter Priester heut, und morgen Kardinal ... und dann! Jetzt isser jedenfalls Papst!« »Wenn ihr zum Killaloe hinunter wollt, dann haltet ihr euch besser von den Straßen fern«, sagte Doheny. »Diese Mobs sind ziemlich gefährlich.« »Ein guter Rat, Mister Fintan«, sagte Caniff. »Und ich, Aldin Caniff persönlich, möchte Ihn' dafür danken.« Aus dem Schutz der Bäume tauchte ein Reiter auf und zügelte sein Tier dicht neben Caniff. Dieser Reiter war ein schlanker Bursche mit einer schütteren schwarzen Haarmähne, die ihm um das hagere Gesicht hing, in dem ein zahnlückiges Grinsen stand. In der linken Hand hielt er eine Flinte 654 und gleichzeitig den Zügel. In der andern Hand trug er einen Ledersack. Er reichte den Sack zu Pater Michael hinab.
Caniff wandte sich an seinen Gefährten: »Geh und sag den andern, sie solln zurückreiten, da wo wir gekommen sind. Weißte noch, der eine Weg, den wir gesehn haben? Wartet dort auf mich. Wir gehn nicht auf der Straße weiter.« Der andere Reiter zog sein Pferd herum und verschwand wieder zwischen den Bäumen. Caniff wandte sich Pater Michael zu, der den Ledersack mit beiden Händen festhielt. »In der Richtung isses sicher bis nach Ballymore, Pater. Ihr werdet die Steinzeichen finden, immer 'n Haufen von sieben mit 'nem Richtweiser voran in die Richtung. Aber seid vorsichtig, wenn ihr auf die N-6 kommt und macht 'nen Bogen um Moate. Das sin' böse Männer in Moate. Und wenn einer euch anhält, dann sagt ihr, ihr steht unter dem Schutz von Aldin Caniff!« »Zieh mit Gott!« sagte Pater Michael dankbar. Caniff kickte sein Pferd in die Flanken, wendete und war rasch zwischen den Bäumen verschwunden. Das Hufgetrommel verlor sich rasch. Doheny wartete, bis von den Reitern nichts mehr zu vernehmen war. Dann schaute er den Priester an. Pater Michael nickte. Sie verstanden sich beide wortlos. Sollte irgend jemand aus Kevin O'Donnells Bande das überlebt haben, was der Mob da unten angerichtet hatte, dann konnten John und seine Gefährten identifiziert werden. Es würde sich rasch das Gerücht verbreiten, daß ein Priester, ein Junge und zwei Männer auf der Straße nach Ballymore gesichtet worden seien. »Wir können es nicht riskieren nach Dundalik rüberzugehen«, sagte Doheny. »Die rechnen bestimmt damit, daß ich mich zu meinen Freunden durchschlagen will.« Der Priester schaute zu John hin, der dastand und stumpf auf den lough hinausstarrte. Immer noch hielt der Junge Johns Hand umklammert, und auf seinem unfertigen noch kindlichen Gesicht lag ein eindringlich fragender Ausdruck, 655 als versuche er zu John vorzudringen, als ob der ihm die Antwort auf verwirrende Fragen bieten könnte. Man würde dem Jungen nun bald einen Namen geben müssen, da er sich immer noch weigerte, seinen Familiennamen preiszugeben. Ein neuer Name - der Junge wünschte sich eine nochmalige Taufe, womit er zugab, daß er bereits den Segen des Taufsakraments der Kirche erhalten hatte. Aber zu weiteren Zugeständnissen und Eingeständnissen war das Kind nicht bereit. »Uns ist eine seltene, eine kostbare Fracht anvertraut« sagte der Priester. »Ich hab Hunger, Pater Michael«, sagte John auf einmal. »Hat uns Joseph was zu essen dagelassen?« »Wir werden bald essen«, sagte Doheny. »Aber wir sollten von der Straße da weg. Wir haben zwar Glück gehabt mit dieser Begegnung, aber es ist für Landfahrer gefährlich, sich ausschließlich auf ihr Glück zu verlassen.« Er machte kehrt und führte die Gruppe hinauf zur Straße. Er konnte die andern hinter sich hören, und als er sich umwandte, sah er, daß der Junge John noch immer an der Hand führte. Bei Einbruch der Nacht waren sie schon weit auf einem schmalen Pfad durch dichtes Nadelgehölz vorangekommen. Doheny wußte, was für eine Art Weg sie gingen - die Arbeitsschneise von Holzfällern, und irgendwo würde es dann auch einen Unterschlupf geben. Feuerholz gab es überreichlich, damit sie die zweifellos kalte kommende Nacht durchstehen konnten. Sie hatten mehrere Landstraßen überquert, und einmal hatten sie eine ganze Weile gewartet und aus dem Gebüsch gespäht, ehe sie hastig über eine breitere geteerte Bezirksstraße gerannt waren. Doheny wußte nicht genau, wo sie sich befanden, aber er hatte sich die Position der Sonne gemerkt, und er wußte, daß sie eine allgemein östliche Richtung eingehalten hatten. Und wenn sie den Beach Boys aus dem Weg gehen konnten ... John stapfte brav und folgsam weiter mit, es war die dumpfe Folgsamkeit des völlig Erschöpften. Er marschierte nun allein, denn der Priester und der Junge bildeten die Nachhut. John hob nur selten den Blick vom Boden, von der 656 Stelle, wohin er beim nächsten Schritt den Fuß setzen würde. Einen Unterschlupf fanden sie mehr oder weniger dort, wo Doheny damit gerechnet hatte, direkt hinter einer Bodenerhebung in einer kleinen Senke, wo Schutz vor dem Westwind bestand. Es war ein aus Stangen errichteter Unterstand, mit Lehm und Moos abgedichtet. Die Tür bestand aus weiteren Stangen, die an drei Querbalken befestigt und an Lederriemen aufgehängt war. Als Riegel diente ein Pflock. Es gab kein Fenster, aber im Dach war ein kleines Loch über der Ecke, in der eine Feuerstelle lag. Daneben ein Stapel trockenes Feuerholz. Es roch nach Waldmulch und nach Rauch. John sackte zu Boden und saß da, den Rücken an die Wand gelehnt. Pater Michael ließ den Ledersack sinken und blickte sich in der armseligen Behausung um. Der Junge setzt sich neben John. Im ersterbenden Tageslicht entzündete Doheny ein Feuer und hockte sich davor hin, um sich die Hände zu wärmen. Der Priester schob die Tür zu und stemmte einen Stecken dagegen, um sie geschlossen zu halten. Der Junge kroch hinter die Feuerstelle und drückte sich an die Wand, wo die Wärme zurückgestrahlt wurde. John stand auf und tappte ziellos in dem kleinen Raum herum. Pater Michael ließ ihn sorgsam nicht aus den Augen. Auf einmal blieb John stehen und sprach: »Es gefällt O'Neill hier nicht.« Der Priester warf Doheny am Feuer einen furchtsamen Blick zu. Dieser starrte ihn seinerseits an, dann bedeutete
er ihm, er solle näherkommen. Pater Michael machte einen Bogen um John und stellte sich, den Rücken zum Feuer, vor Doheny auf. Er blickte zu ihm hinab. Von der durchnäßten Kleidung des Priesters begann Dampf aufzusteigen. »Möchte uns O'Neill sagen, warum er diesen Ort hier nicht mag?« fragte der Priester. Doheny wedelte mit der Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Begriff denn dieser Priester überhaupt nichts? Es war unmöglich, O'Neill aus seiner menschlichen Muschel657 schale herauszuholen! Der Mann hatte einfach zu viele Eindrücke der gräßlichen Folgen mit ansehen müssen, die seine Seuche hervorgebracht hatte. Rache mochte er sich vielleicht ersehnt haben, aber doch nicht das\ Pater Michael blickte mit einem verwirrten fragenden Stirnrunzeln zu Doheny hinunter. John schwieg. Sein Kopf war zur Seite geneigt, als lausche er. Nur ein vollkommen amoralisches Ungeheuer könnte weiterleben mit diesem Irland auf dem Gewissen, dachte Doheny. Alles, was sie über O'Neill erfahren hatten, hatte darauf hingewiesen, daß er ein Mensch mit einem normalen Gewissen gewesen sei - zumindest bis zu dem Augenblick, als Heritys Bombe explodierte. Plötzlich hob John den Kopf und sagte: »O'Neill sagt, diese Welt ist nicht sicher.« Er schaute Doheny an. »Hat Joseph Ihnen eins von seinen Gewehren dagelassen?« »Hier brauchen wir keine Waffen«, sagte Doheny und rappelte sich steif auf. »Ist da noch was von dem Brot und dem Käse übrig, Pater?« »Es wird für heut abend reichen und auch noch für morgen früh«, sagte der Priester. Der Junge kam hinter dem Feuer hervor. Seine Kleidung roch nach dampfender Wolle. »O'Neill hat recht«, sagte der Junge, und in seiner Stimme klang ein nachdenklicher, sehr erwachsener Ton mit. »Gewehre und Bomben schaffen eine verrückte Welt. Und das ist nicht sicher!« Aus dem Munde der Narren und der Kinder - die Wahrheit, dachte Doheny. »O Heilige Dreifaltigkeit, wann wird es je eine nicht-verrückte Welt geben?« fragte Pater Michael. »In der dann jedermann seine Lügen ungestraft verbreiten darf«, sagte Doheny. »So etwas zu sagen, ist brutal. Mister Doheny!« Doheny drehte den Kopf weg und lauschte auf den Wind, der durch die Bäume um die Hütte keuchte. Das Feuer flak658 kerte in einem plötzlichen Zug, der durch die Ritzen in den Knüppelholz wänden strich. »Brutal, das ja«, sagte Doheny. »Aber Veränderung ist oft brutal und grausam, und das genau geschieht jetzt: die große Veränderung. Wir haben nicht dicht genug am Puls der Veränderung unserer Welt gelebt.« »Nahe genug!« Pater Michael war schockiert. Das Morden! Die Zügellosigkeit! »Ich glaube, ich bin Realist«, sagte Doheny. »Die Mehrzahl der Menschen lebte in einer braven Welt mit vier Wänden, und Posten und Wächter an sämtlichen Zugängen: Ärzte, Prediger, Juristen, durch Wahl an die Macht gekommene Volksverführer - alles nur, um ihnen die bestürzenden Winde des Wandels, der Veränderung vom Leib zu halten!« »Und wie konnte es dann geschehen, daß diese schreckliche Pest die Wächter überraschen konnte?« fragte Pater Michael heftig. »Weil auch sie in den Mechanismen dieser Welt gefangen waren. In diesen lächerlichen Scheuklappenideen von einem Universum der monatlichen Löhne auf dem Konto, der allabendlichen Idiotie vor dem Fernsehapparat, des jährlichen Urlaubs und des sporadischen Segens von gnädig zugeteilten Bonbons und Fußballspielen.« »Ich kann noch immer nicht begreifen, wie dies geschehen konnte«, sagte der Priester mit einer Stimme, die sich kaum über ein Flüstern erhob. Ängstlich blickte er zu John, der an die Tür gegangen war und durch den Spalt bei den Angeln nach draußen spähte. »Weil wir halt nur den reichen Amerikanern Gehör geschenkt haben«, sagte Doheny. »Ich habe bisher nicht gewußt, daß Sie die Amerikaner hassen«, sagte der Priester. »Die Leute hassen? O nein, ich habe sie beneidet] Aber so furchtbar wenige von diesen Amerikanern haben jemals in hautnaher Berührung mit dem gelebt, was auf der Erde wirklich vor sich geht!« 659 »Sie sagen das immer wieder«, protestierte Pater Michael. »Aber was meinen Sie damit?« »Ich meine damit die absolut Armen, die in dem Wissen leben, daß sie jederzeit verhungern können. Ich meine die Leute am Meer und die Bauern und die Förster, deren Leben sich dicht an den Rändern der jederzeit möglichen Naturkatastrophen abspielt. Ich meine die Propheten, die sich geißeln, bis ihnen der Blick über den blockierenden Schmerz hinaus zuteil wird.« Pater Michael schaute den Jungen an, der schweigend dastand und zuhörte. Auf dem Gesicht des Jungen lag ein fast gieriger Ausdruck. Die nächtlichen Geräusche des Windes in den Bäumen schienen sich dichter an die Hütte zu drängen. Was mochte John wohl durch den Spalt an der Tür sehen? Da draußen war doch nur Nacht und Wald und Dunkelheit. »Unsere Hüter waren falsche Hüter«, sagte Doheny leise und sehr nachdenklich. »Sie sagten, sie würden es nur den guten Überraschungen erlauben, bis zu uns herunter zu kommen: die netten Päckchen vom Christkindl, vom Nikolaus, vom Väterchen Frost. Nichts würde jemals in diese glatt funktionierende Welt hereingelassen werden, was die Glätte stören könnte, nichts würde je die Überzeugung der quadratisch-sturen Besitzdenker in ihrer
Besitzsicherheit stören ...« John wandte sich um und stieß auf den Blick des Priesters, und in Johns Augen schwelte ein merkwürdig wacher, ein erstaunter Ausdruck. Dachte jedenfalls Pater Michael. »Wo sind wir hier?« fragte John. »Es ist eine Holzfällerhütte«, sagte Doheny, ohne den Blick vom Feuer zu wenden. »Und wer, bitte, sind Sie?« fragte John und schaute Doheny an. Doheny schüttelte den Kopf. Er blickte noch immer nicht zu John. Er schien tief in seine eigenen Gedanken versunken zu sein. »Ich heiße Fintan Craig Doheny, und auch ich bin als Hüter genauso miserabel wie irgendein anderer.« Dann wandte Doheny sich vom Feuer ab und bemerkte den seltsam wachen Ausdruck auf dem Gesicht von John. 660 »Wie sind wir hierher gekommen?« fragte John. Leise, sehr zögernd, sagte Doheny: »Wir sind gewandert.« »Das ist aber komisch«, sagte John. »Sie haben 'nen irischen Akzent. Sind wir denn noch immer in Irland?« Doheny nickte. »Ich möchte bloß mal wissen, wo Mary und die Zwillinge sich rumtreiben«, sagte John. Der Priester und Doheny schauten einander an. Der Junge fragte plötzlich: »Was ist hier los?« Doheny winkte mit dem Finger: Keine Fragen! »Ich bin John Roe O'Neill«, sagte John. »Das immerhin weiß ich. Hab ich, leide ich unter Gedächtnisschwund? Amnesie? Nein ... das kann es ja wohl nicht sein. Ich glaube ... ich erinnere mich ... an ... an Dinge.« Doheny verlagerte das Gewicht auf die Fußballen, um für einen eventuellen Angriff seitens Johns bereit zu sein. »Wer hat mich hierher gebracht?« fragte John. »Sie wurden von John Garrech O'Donnell hierher gebracht«, sagte Pater Michael. John warf dem Priester einen kurzen bestürzten Blick zu. »John ... Garrech ...« Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Er wich zurück, bis er dicht an die Wand neben der Tür gepreßt stand. Sein Blick zuckte wild von Doheny zu dem Priester und zu dem Jungen. An dem Jungen blieb der Blick hängen. Man konnte fast sehen, wie Erinnerungen wild hinter Johns Augen zu kreisen begannen. Doheny streckte ihm eine Hand entgegen. Johns Mund klaffte auf, war ein rundes dunkles Loch in einem Gesicht voller Qual. »Nei-ei-ei-ei-nnn!« Der Schrei aus diesem weit aufgerissenen Mund war gespenstisch. John taumelte einen Schritt auf Doheny zu, der die Muskeln spannte. Dann wirbelte John herum und warf sich gegen die Tür, die krachend aufsprang. Ehe einer der drei anderen es hätte verhindern können, war John schon im Freien und rannte schreiend und kreischend durch das Unterholz davon. Doheny streckte den Arm aus, um den Priester und den 661 Jungen daran zu hindern, John zu folgen. »Ihr würdet ihn sowieso nicht einholen können. Und selbst wenn ...« Er schüttelte den Kopf. Dann standen sie da und lauschten auf die Schreie aus der Dunkelheit - auf die klagenden Schreie, das wilde Knacken im Unterholz. Das Heulen hielt eine lange Weile an, ehe es irgendwo in der Ferne leiser wurde und mit dem Tosen des Windes in den Bäumen verschmolz. »Aber man muß ihn doch suchen gehen«, sagte Pater Michael. »Einer muß sich um ihn kümmern und ihm Schutz geben. Der Verrückte ist uns allen als besondere Aufgabe überantwortet, und er müßte ...« »Ach, halten Sie doch den Mund!« sagte Doheny brüsk. Er ging zur Tür und schob sie wieder so zurecht, daß sie einigermaßen Schutz bot gegen das nächtliche Draußen. Als er sich wieder ans Feuer begab, traf ihn der starre Blick des Jungen. Der Junge lauschte gebannt auf die schwachen Laute, die aus der Dunkelheit noch herüberdrangen. War es möglich, daß die unverdorbenen jungen Ohren des Kindes noch immer die schrille Klage hören konnten? »Es sind die Banshee ...«, flüsterte der Junge. Nein, solcher Form, die Hellas' Goldschmied wählt Auf Gold gehämmert und mit Goldlasur, Die einen schläfrigen König wacherhält, Oder auf goldnem Zweig mit Koloratur Singt Herrn und Damen von Byzanz, was frommt Von dem, was war, vergänglich ist und kommt. WILLIAM BUTLER YEATS >Meerfahrt nach Byzanz< Pater Michael gefiel das Leben in England gar nicht. Ganz besonders mißfiel es ihm, hier in Huddersfield eingesperrt zu sein, obgleich der Ort in diesen Tagen aufregend genug war: all die vielen bedeutenden Leute aus der ganzen Welt, die hier Station machten, um sich über das Gegenmittel der Seuche zu informieren. Doch Pater Michael ließ Dohenys Be662 gründung gelten, warum er ihn nach Huddersfield geschickt hatte. Kate O'Gara Browder war ein Kulturgut der irischen Nation und, was weitaus wichtiger war, sie würde zweifellos zu einem bedeutenden politischen
Werkzeug werden. »Die Frau im Tank!« Pater Michael hielt Kate für ein ziemlich törichtes junges Weib, doch steckte in ihr auch ein harter Kern von Eigensinn und Selbstherrlichkeit, was Pater Michael als >bäurisch< zu bezeichnen beliebte. Seine eigene Mutter hatte davon ein gerüttelt Maß besessen, und er erkannte es in Kate sofort wieder. Sie konnte hartnäckig bis zur Sturheit sein, sogar grausam, wo es um ihr Eigeninteresse ging. Wenn diese Frau einen Fetzen Macht in die Finger bekam, konnte sie grauenvoll werden - außer natürlich, wenn ihr Handeln von einem Glauben an den Zorn Gottes durchdrungen und gemildert wurde. Doheny hatte gesagt: »Sie werden zu ihr als ihr geistlicher Ratgeber gehen, und das stimmt ja auch wirklich. Ich schätze Sie als einen guten Priester, Pater, aber Sie werden auch bei ihr sein müssen, um aufzupassen, daß sie nichts Dummes anstellt, was Irland Schaden bereiten könnte. Ich hab kein Zutrauen zu den Britischen.« »Aber was könnten die schon tun?« »Genau das sollen Sie ja herausfinden.« Und hier saß er nun, direkt am Busen des gallischen Erbfeindes, und das schon seit mehr als zwei Monaten. Als er jetzt auf dem Weg zu seiner morgendlichen Routinevisite bei Kate über den Campus schritt, spürte er die Machtkonzentration dieses Ortes. Gefährlich, ja! Es gab gefährliche Strömungen an diesem Ort - Komplotte und merkwürdige Ränke. Er war eigentlich froh, daß er hergekommen war, wenn er auch den >britischen Beigeschmack« verabscheute, der hier allem anhaftete, was geschah. Seine persönlichen Motive, Dohenys Auftrag zu übernehmen, waren zunächst reine Neugier gewesen, hatten sich jedoch sehr rasch gefestigt, als er erkannte, wie dringend nötig es war, >den Jungen< aus Irland herauszuschaffen. 663 Für Pater Michael war der Stumme noch immer >der Junge<, obwohl der Knabe erklärt hatte, man könne ihn Sian nennen. Kein Familienname. Er weigerte sich, irgendwelche Angaben über seine Familie zu machen. Es war, als habe >der Junge< seine Angehörigen in irgendeinem geheimen Grab eingemauert, an dem nur er allein trauern konnte. Der Junge war entschlossen, Priester zu werden. Und das war ein Trost: Pater Sian ... Er wird ein guter, ein starker Priester werden, dachte Pater Michael. Ein Priester voll Mitgefühl und Mitleidensfähigkeit. Vielleicht, eines Tages, sogar ein Kardinal ... und - es gab die Möglichkeit - vielleicht einst Papst. Ja, das gab es zu bedenken! Pater Michael wartete an einer Autozufahrt, während ein langer Konvoi vorbeizog. Der Tag wird sonnig werden, dachte er. Vielleicht sogar heiß. Aus den Emblemen an der Seite der Lkws entnahm er, daß der Konvoi zur Wildlife Rescue Force gehörte. Im Fernsehen brachten sie andauernd Berichte über die gute Arbeit dieser Leute da schössen Männer Medizinampullen in Wale und Delphine und Seehunde und Wölfe und Bären und viele andere Geschöpfe. Es war wie ein Wunder. Und ja, der Junge war hier weitaus besser aufgehoben als im unruhigen Irland, wo die Restgruppen der Finn Sadal aus ihren Verstecken immer wieder plündernd ins Land fielen. Allerdings gab es jetzt wohl kaum noch einen Zweifel, wie das enden würde. Der Tod Kevin O'Donnells durch den wilden Mob hatte die Strandpiraten, diese Beach Boys, ihrer mystischen Antriebskraft beraubt. Sie hatten zwar noch einige Zeitlang mit brutaler Wildheit weitergekämpft, aber ohne zentrale Steuerung. Der Teufel in Person, dachte Pater Michael. Und es war nicht das Eingreifen der Vereinten Nationen und ihre Unterstützung der regulären Armee gewesen, wodurch die Finn Sadal schließlich geschlagen wurden; ihre Niederlage war gekommen, als ihnen die führende Hand Satans entzogen war. Ja, Kevin, der war eine Verkörperung Satans höchstpersönlich gewesen. 664 Der Lkw-Zug war vorbei, und Pater Michael überquerte die Fahrbahn, wobei er fast von einem wild um eine Ecke biegenden Jeep überfahren worden wäre, der hinter dem Konvoi herraste. Der Fahrer drohte ihm mit der Faust und schrie dem schwarzgekleideten Priester gräßliche Schimpfworte zu. Manches wird sich niemals ändern, dachte Pater Michael. Aber es war doch sehr viel besser, daß der Junge nun hier leben konnte und daß er eine gute Ausbildung an der Spezialschule erhalten würde, die sie innerhalb Huddersfield für ausgewählte Studenten eingerichtet hatten. Den Jungen hatten sie aufgenommen, weil er das Mündel Pater Michaels war und weil Pater Michael als Gesandter des Staates Irland einen Sonderstatus genoß. O ja, eine gute wissenschaftliche Ausbildung, die sich dann später durch ein Studium bei den Jesuiten untermauern lassen würde, an einem sicheren Ort, vielleicht in Amerika. Sian würde eines Tages wichtig werden. Pater Michael hatte das zum erstenmal an jenem Tage unterwegs gespürt, als sie über der vom Mob belagerten Burg standen und als da der Junge John O'Neill bei der Hand genommen und diese fromme Lüge gesagt hatte, um diesen armen Menschen zu schützen. Bedachte man das offensichtliche Leid, das der Junge mit sich herumschleppte, das ihn eigentlich hätte dazu drängen müssen, Rache zu üben, dann war sein Verhalten unendlich großmütig gewesen, er hatte wahrhaftig dem, der ihm Böses angetan hatte, die andere Wange geboten. Doheny hatte die Sache nur für smart und raffiniert gehalten, aber er, Pater Michael, hatte tiefer geschaut: das Verhalten des Jungen war richtig gewesen! An diesem Morgen trieben sich sehr viele Leute auf dem Campus herum, merkte Pater Michael beiläufig. Sie rannten durch die Gegend, stießen ihn an, so eilig hatten sie es. Mit jedem Tag drängten sich hier mehr
Menschen. Manche der eiligen Männer erkannten den Priester und grüßten nickend. Andere setzten ein vages Lächeln auf, weil sie ihn irgendwo einmal gesehen zu haben glaubten. 665 Ihr habt mich genau hier gesehn, ihr blöden britischen Sassenachs!* Aber sofort verbannte Pater Michael diesen Gedanken als böse und seiner unwürdig. Er sollte wohl besser Großmut von dem Jungen lernen! Die Gerüchte und Legenden, die aus Irland über O'Neill herüberkamen, wie seltsam! Man hatte ihn hier gesehen, man hatte ihn dort gesehen - nie gab es dafür eine sichere Bestätigung. Angeblich legten ihm die Menschen Essen und Trinken vors Haus, so wie sie es früher für die >Kleinen Leute< getan hatten. Ach, es war unmöglich, einen Sinn im Aberglauben der Iren zu suchen. Bedenk doch nur, wie sie diesen Brann McCrae zum Helden hochstilisieren, und der hat persönlich sechsundzwanzig von seinen jungen Mädchen geschwängert! »Aber er hat fast fünfzig irische Frauen vor dem Tod bewahrt!« sagten die Leute. Bewahrt! Was nutzte es schon, ihr sündiges Fleisch zu retten, wenn dabei ihre Seelen der Verdammnis anheim fielen? Und außerdem war McCrae ja nicht der einzige, der die Frauen vor der Pest gerettet hatte. Die Leute sagten, es würde generationenlang dauern, ehe alle Geschichten erzählt sein würden, wie einer Frauen heimlich und schlau versteckt und beschützt hatte. Nicht in ausreichender Zahl allerdings. Aber man würde große Anstrengungen unternehmen, sie alle wieder zu Gott zurückzuführen ... - doch, ja, auch die armen Mädchen im Chäteau des McCrae. Es war ja schließlich nicht ihre Schuld, und sie hatten es nicht freiwillig getan. Sie waren nur in den Mahlstrom der fürchterlichen Zeitläufe geraten. Als er sich dem Verwaltungsbau näherte, in dem Kate und ihr Mann untergebracht waren, sah Pater Michael die übliche lange Männerschlange warten, bis man sie an dem Besichtigungsfenster vorbeischleusen würde, hinter dem Kate zu se* >Sassenach<, d. h. eigentlich >schottisch<, abfällig für >Engländer< -Attm. d. Übers. 666 hen war. Der bloße Anblick einer Frau zog sie schon magnetisch an, war so gewaltig, daß den Behörden nichts weiter übrig blieb, als dem Verlangen nachzugeben. Zu gefährlich, sagten sie, wenn wir das zu unterdrücken versuchten. Und was kann es schon schaden? Es schadet Kate, dachte Pater Michael. Die schlichte Tatsache, daß sie sich da so präsentieren muß, bewirkte in der Frau eine Verwandlung, die dem Priester Furcht einflößte. War es das gewesen, wovor Doheny gewarnt hatte? Pater Michael drängte sich an den wartenden Männern vorbei. Er konnte nicht umhin, Teile der Unterhaltung mitzubekommen: »Sie is 'ne ganz Hübsche, hab ich gehört.« »Und sie hat das Kind anner Brust.« In den Gesichtern der Männer, an denen er sich vorbeischob, entdeckte Pater Michael Ressentiment. Sie wußten, er besaß das Recht, vorzugehen, aber in den Männern schwelgte das eifersüchtige Bewußtsein, daß er auch Zugang zu der Frau Kate finden würde, daß er mit ihr reden, ja sie sogar berühren durfte. Im Innern des Baus wand sich die Schlange der wartenden Männer über die ganze Treppe hinauf. Pater Michael ließ die Treppe außer acht und ging zu dem Aufzug in der Mitte der langen Eingangshalle. Der Posten öffnete ihm die Fahrstuhltür und drückte den Knopf für das oberste Stockwerk. Als Pater Michael dort aus dem Lift stieg, erwartete ihn bereits Pater Birney Cavanagh. Unmöglich, den Kerl zu vermeiden ... also blieb Pater Michael stehen. »Ahhh, da sind wir ja, Pater Michael. Ich warte schon auf Sie.« Wo hatten die Britischen so einen Priester aufgetrieben? Pater Michael hätte es wirklich gern gewußt. Oh, sicher, Cavanagh war schon ein echter katholischer Priester, ganz bestimmt. Das war ihm auch bestätigt worden. Aber er hatte viel zu lange mit dem gallischen Erbfeind gelebt. Der sprach je sogar mit dem Akzent eines alten Etonschülers. »Was wünschen Sie?« fragte Pater Michael barsch. 667 »Ach, nur ein Wort mit Ihnen, Pater.« Cavanagh packte Pater Michael am Ärmel und zerrte ihn fast gewaltsam fort vom Lift in eine Ecke. Pater Michael schaute starr auf den anderen Priester hinab. Cavanagh war ein erwachsen gewordener Cherub, kurzleibig und mit bleichen Pausbacken. In den blauen Augen flackerte Unsicherheit, als sei er beständig auf der Suche nach einem Fluchtweg. Und kämmt der sich je diesen grauen Mop auf seinem Kopf? überlegte Pater Michael. Sein Haarschopf sah stets aus, als sei er gerade einem Wirbelsturm entronnen. Er behauptete, >ein guter Ire< zu sein. Kam er doch schließlich aus dem St. Patrick's College in Maynooth, genau wie Pater Michael selbst! Pater Michael hatte gebohrt: Hatte Pater Cavanagh die furchtbaren Ereignisse dort miterlebt? Er hatte den Mann in Versuchung gebracht, eine Lüge zu erzählen. »Nein. Man hat mich schon vor zehn Jahren hinausgeschickt.« Und auch das hatte sich als die reine Wahrheit erwiesen. Aber Cavanagh durfte Kate besuchen und mit ihr sprechen. Und Pater Michael gefiel die Stimmung
der jungen Frau überhaupt nicht, in der er sie vorfand, wenn Pater Cavanagh sie verlassen hatte. Außerdem trieb sich Pater Cavanagh dauernd bei dem Päpstlichen Nuntialen herum, die aus Philadelphia gekommen waren, und das, was Pater Michael über diese Leute hörte, gefiel ihm überhaupt nichtl Es gab Gerüchte über eine Anpassung »an die Notwendigkeiten der sich verändernden Zeiten«. Und Pater Michael wußte, was das im Klartext heißen sollte: ein Rückfall! Daraus konnte nichts Gutes entstehen. Vielleicht würde es sogar zu einem neuen Schisma kommen, und die Kirche würde erneut gespalten werden! Und wie konnte überhaupt jemand Achtung vor einer katholischen Kirche haben, deren Göttlicher Verwaltungssitz in den USA lag? Nein, die Dinge würden erst dann wieder normal werden, wenn Rom als Sitz des Papstes erneut fest etabliert sein würde! »Sie können im Augenblick leider nicht zu Kate hinein«, 668 sagte Pater Cavanagh, wobei er es geflissentlich vermied, Pater Michael in die Augen zu schauen. »Sie hat einen wichtigen Besuch.« »Und wer ist das bitte?« »Der Admiral, der Oberkommandierende des Barrier Command. Der Mann, der sie gerettet hat, indem er ihr die Fahrt über den Channel ermöglicht hat.« »Gott hat sie gerettet!« sagte Pater Michael heftig. »Oh, daran besteht kein Zweifel«, stimmte Pater Cavanagh zu. »Aber es war der Befehl des Admirals, der ihr die Überfahrt ermöglicht hat.« »Die Irische See hätte sich geteilt, wenn Gott das gewollt hätte«, mahnte Pater Michael. »Oh, sicher, ich stimme Ihnen da vollkommen zu«, sagte Cavanagh. »Aber der Admiral verfügt über eine gewisse Macht, und wir dürfen ihn deshalb in diesem Augenblick nicht stören. Und, ich versichere Ihnen, es ist auch zu Kates Bestem.« »Warum will er mit ihr sprechen?« fragte Pater Michael kurz. »Was das betrifft, so bin ich nicht befugt, es Ihnen zu sagen.« Pater Michael unterdrückte die aufschwellende Wut. Er merkte, daß Cavanagh dies gleichfalls spürte, denn der Mann wich von ihm zurück und gab seinen Ärmel frei. »Was geht da drin vor sich?« fragte Pater Michael. Er bemühte sich, die Stimme mit Gewalt unter Kontrolle zu halten. »An der Türe stehen Wachtposten, und man wird Ihnen den Zutritt verwehren«, sagte Cavanagh. »Aber ich versichere, ich verspreche es Ihnen, es wird ihr kein Leid geschehen.« Pater Michael hörte den Ton der Wahrheit in dem, was Cavanagh sagte. Er überlegte, ob es sinnvoll sein könnte, auf seinem Recht zu beharren. Immerhin bin ich Gesandter des Staates Irland! Aber dem hafteten natürlich gleichzeitig auch Restriktionen an. Es obliegt einem Gesandten, sich mit einem gewissen Aplomb zu betragen und ein gewisses decorum zu 669 wahren. Pater Michael bekam das Gefühl, daß die Befürchtungen Dohenys sich allmählich als wahr zu erweisen beginnen könnten. Dieses törichte Weib da war eine Weltberühmtheit geworden. >Die Frau im Tank!< Irgend etwas an ihr, an der Geschichte hatte das gierige Interesse der Öffentlichkeit angeheizt. Natürlich, das war Schuld der Massenmedien! Dieser ganze Schwall von Sensationsberichten und Sensationsgeschichten. Und Unseligerweise war das arme Kind auch noch in einem Sturm auf der Fahrt über die Irische See geboren worden ... »Wann werde ich sie sehen können?« fragte Pater Michael. »Vielleicht heute nachmittag, irgendwann. Vielleicht möchten Sie lieber in meinem Quartier warten, Pater? Man hat mir gleich hier unten auf dem Flur eine Bleibe zugewiesen.« Pater Michael spürte, wie sich in seinem Magen eine scharfe Leere breitmachte. Was da geschah, war etwas Übles, und man versuchte ihn davon fernzuhalten. Nun, er würde kämpfen! Doch ehe er noch zu sprechen beginnen konnte, schwammen drei bewaffnete Marineoffiziere durch den Gang auf ihn zu. Ihr Blick war starr auf ihn gerichtet. Und da begriff Pater Michael, daß er von jetzt an ein Gefangener war und daß die Männer da seine Bewacher waren. 670 Die Welt, in der wir leben, untergräbt zu ihrem eigenen furchtbaren Schaden das Selbstwertgefühl im Einzelmenschen, jene Kraft, die der Ursprung aller Kräfte im Menschen ist. Und damit unterminieren wir unser Überlebenspotential, unsere Fähigkeit, mit Lebensherausforderungen fertig zu werden. Es handelt sich dabei um eine uns angeborene Möglichkeit, und ohne sie kann es keine Menschheit geben. FlNTAN CRAIG DOHENY Kate saß gern am Fenster ihres neuen Zimmers im Obergeschoß des Verwaltungsbaus in Huddersfield, wenn sie ihr Baby fütterte. Sie wußte, der große Spiegel ihr gegenüber war in Wahrheit ein Spiegelfenster, durch das die Männer, die draußen im Korridor vorbeidefilierten, zu ihr hereinschauen konnten. Sie brauchte selbst nur in den Spiegel zu sehen, und sah genau, was die Männer draußen sahen. Sie fand es ein wenig seltsam, daß sie keinerlei Scham dabei empfand, Gilla die Brust zu geben und dabei von Männern beobachtet zu werden. Was für ein wundervolles kleines Mädchen Gilla wurde wie sie mit den Beinchen ruderte, wie die Runzeln sich glätteten, dieser wache Blick mehr und mehr in den Augen. Sie würde rote Haare haben, fein und seidig, wie es
das Haar von Kates Mutter gewesen war. Was für ein Schatz war doch dieses Kind! Die paar Tage waren schlimm gewesen, als sie ihr das Serum gebracht und ihr ihre Entscheidung mitgeteilt hatten. Die Leute hatten so eiskalt dahergeredet, und Kate hatte Dr. Beckett angebrüllt, diesen Riesenkerl mit seinem Kastenkinn, dem riesigen Maul, und was da für gräßliche Worte herausgekommen waren. »Sie und Ihr Gatte, Mrs. Browder, können viele Töchter bekommen. Das haben Sie ja bereits bewiesen, und mit unserer neuen Technik der genetischen Kontrolle können wir auch sicherstellen, daß Sie nur Töchter bekommen.« Männer in weißen Kitteln hatten sie die ganze Zeit festge671 halten, hatten sie von Gilla ferngehalten, hatten nicht einmal Stephen zu ihr gelassen. Beckett hatte sie mit einem ärgerlichen Funkeln in den Augen angeschrien: »Wir haben nur genug Serum für Sie, Mrs. Browder!« »Dann gebt es Gilla!« »Nein! Wenn Ihr Blut sich rasch genug anpaßt, dann können wir Serum aus Ihrem Blut dem Baby geben. So können wir sie vielleicht retten.« »Vielleicht!?« hatte sie geschrien. Aber sie konnte sich gegen die starken Männer nicht wehren, und so war es also so gekommen - der Arm festgezurrt, die Nadel in der Vene. Sie hatte gräßliche Tage durchgestanden, hatte Gilla gewiegt, geschluchzt, in jedem Augenblick davor gezittert, daß sich die schrecklichen Symptome de Pest an der Kleinen zeigen würden. Nach der Injektion hatte man Stephen zu ihr hereingelassen. Der hatte fast wie ein Priester geredet, als er sie anfleht >ruhig zu bleiben und hinzunehmen, was Gott uns beschert<. Stephen und die Drogen, die man ihr gab, sollten si dämpfen, doch sie mußte noch immer an diese Erfahrung zu rückdenken und konnte dann die gräßlichen Zuckungen im Magen spüren. Aber Gilla an ihrer Brust brachte ihr die Ruhe zurück. Da Blutserum war rechtzeitig aufgebaut worden. Und jetzt gaben alle Serum. Es verbreitete sich wie eine Woge über die ganze Erde. Die Tür in Kates Rücken öffnete sich, sie hörte, wie Stephen vorsichtig eintrat. Sie sah ihn im Spiegel, sah, wie er den Einwegspiegel anstarrte, den er gar nicht mochte, aber als Notwendigkeit akzeptierte. Er hatte die lange Schlange da draußen gesehen, diese geilen Blicke, diese gierigen Augen die zu der Mutter mit dem Kind hereinstarrten. Stephen wehrte sich gegen eine Ausdehnung der Besichtigungszeiten, aber Kate war sich nicht so recht sicher, ob dies gut und richtig sei. 672 Weltweit war das Verhältnis von Männern zu Frauen jetzt angeblich zehntausend zu einer - oder noch schlimmer. Hier in England war es natürlich schlimmer, obwohl immer noch Frauen aufgepürt wurden, die von entschlossenen Männern gerettet worden waren, und die man jetzt schutzimpfte. In Aldershot hatte man einen riesigen modernen Kasernenkomplex errichtet, wo diese Frauen geschützt unter strenger Bewachung lebten. Kate fragte sich manchmal, wie diese andern Frauen wohl über sie und ihren Sonderstatus denken mochten - sie, die als erste gerettet wurde. Die Frau im Tank. Sie wußte, es wurde Druck ausgeübt, um sie wieder nach Irland zurückzuschaffen, doch darin stimmte sie mit Stephen überein: es war noch nicht sicher genug. Es strolchten noch immer Beach Boys mit Waffen frei herum. Und man erzählte sich auch Geschichten von überlebenden Frauen in Irland, allerdings erfüllten die Berichte über ihre Leiden Kate mit Entsetzen. Kummer und Aufruhr! Mehr schien es für Irland nie zu geben. Ich habe Glück gehabt! Dunkel spürte sie die Macht, die ihr ihre Position verlieh. Sie war ein Symbol in einer Welt, die gierig auf jede Veröffentlichung aus Kangsha und Huddersfield wartete. Trotz ihrer Schwesternausbildung fand sie manche dieser Statements denn doch zu dick aufgetragen, als daß man ihnen hätte Glauben schenken können. Konnte es zum Beispiel wahr sein, daß sie und Gilla fünftausend Jahre alt werden könnten oder sogar noch älter? Die Wissenschaftler behaupteten, sie könnten von der Empfängnis an festlegen, daß ein Baby ein Junge oder ein Mädchen würde, und sie würden die weiblichen Geburtenziffern vorerst >auf ein sehr hohes Niveau< festsetzen, bis wieder ein Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern herrschte. Es fiel Kate schwer, sich eine Lebensdauer von fünftausend Jahren vorzustellen. Was sollte sie mit dieser unendlich langen Zeit anstellen? Es würde da noch etwas mehr geben müssen, als nur Kinder in die Welt zu setzen, wenn sie auch 673 wußte, dies würde für viele kommende Jahre ihre Pflicht sein müssen. Pflicht! - Das klang hart aus dem Mund eines Priesters, ein Männerwort ... eine brutale Gesetzesentscheidung. Und sie würde sich dem nicht entziehen können. Sie und Stephen würden immer weiter Töchter produzieren müssen! Allerdings gab es dabei auch ausgleichende Annehmlichkeiten. Kate empfand ihren derzeitigen Zustand weiblicher Erhabenheit als recht angenehm, und sie hatte das Gefühl, sie müsse soviel wie möglich daraus machen, solange er andauerte. In Anbetracht dieser neuen genetischen Wissenschaft konnte er ja nicht ewig dauern. Aber solange es so war, fand sie das alles recht aufregend. All die Männer, die ihr da Ehrerbietung erwiesen! Ja, man konnte es gar nicht anders ausdrücken: Ehrerbietung. Und ein todernstes Werben. Nichts von
Flirt oder plumpen Verführungsversuchen ... nein, diese Männer waren tödlich ernst, und es machte Stephen rasend. Im Spiegel sah Kate, daß Stephen sich einen Stuhl am kleineren Fenster hinter ihr genommen hatte, vor dem Fenster, das auf den Campus des Instituts hinausging. Wie er da saß und so tat, als lese er in seinem Buch! Das war ein stummer Protest gegenüber all den anderen Männern da draußen, die vorbeizogen: »Die da gehört mir« Das gefiel ihr. Gefiel ihr sogar sehr! Sie spürte Stephens Liebe wie einen warmen Strom, der durch ihren ganzen Leib kreiste. Zwischen ihnen war ein unglaublich festes Band geschmiedet worden, als sie da in dem Tank eingesperrt waren. Sie wußte von ihm jetzt winzige Einzelheiten, seine verborgensten Schwächen und Stärken. Er hat mir das Leben gerettet. Jede Saugbewegung des Babys, das die wahre Milch des Lebens aus ihrer Brust sog, verstärkte diese Woge heißer Liebe, die sie für Stephen fühlte. Sie spürte sie tief in ihrem Unterleib pulsieren. Aber die vor dem Spiegel balzenden Männer waren ebenfalls interessant, besonders dieser Russe, Lepikow hieß er. 674 Was für ein charmanter Mensch! Ein altmodischer Charme. Wie lustig war es, wenn er die dicken schwarzen Augenbrauen vor ihr hochzog und die dunklen Augen rollte. Armer Mann. Seine ganze Familie irgendwo tot in Rußland. Es machte sie sehr traurig, wenn sie daran dachte. Wie gern hätte sie seinen Kopf an ihrer Brust geborgen, um ihn zu trösten. Aber das würde Stephen natürlich nie zulassen. Nun, nachdem das Bäuchlein voll war, drehte sich das Baby von ihrer Brust weg und glitt in den Schlaf. Auf den Lippen hing ein winziges Milchbläschen. Kate lächelte zu ihrem Töchterchen hinab. Sie ließ sich Zeit, ehe sie ihre Brust wieder bedeckte. Gilla war so faszinierend, wenn man sie betrachtete: das winzige Gesichtchen in unschuldigem Schlummer, das kleine Grübchen auf der linken Wange. Was für ein Segen ... - und was für ein Wunder. Kate warf einen Blick auf die Armbanduhr: 10:10 Uhr vormittags. Sie hob die Uhr ans linke Ohr. Nach der ganzen Zeit ging sie noch immer genau. Traurig erinnerte sie sich, wie ihre Mutter ihr diese Uhr geschenkt hatte, als sie in den Schwesternkurs eingetreten war. Ahhh, Mamma. Wie sehr wünschte ich mir, du könntest deine Enkeltochter sehen, dein eignes Fleisch und Blut, wie es lebt und glücklich ist. Aber vielleicht war es ja auch ein Segen, daß Mama bloß so aus dem Himmel runter auf diese Szene schauen konnte. Den Frauen wurde ein schrecklicher Preis abgefordert. Zweitgatten ... - vielleicht sogar noch mehr. Kate verspürte ein aufregendes Frösteln den Rücken hinablaufen, als sie daran dachte, was man von ihr verlangen könnte. Und wie eigenartig, daß ihre beiden Priester in der Frage nicht einer Meinung waren. Stephen gegenüber wagte sie es nicht einmal, auch nur andeutungsweise über das Problem zu sprechen. Sie wußte nur zu gut, wie er reagieren würde. Aber die kleine enge Stahlkammer hatte zwischen ihnen beiden in dem immer gegenwärtigen Geräusch der Druckpumpe so etwas wie eine Einheit hervorgebracht, und Kate argwöhnte, daß Stephen genau wisse, was sie dachte. 675 »Der Priester ist da«, sagte Stephen. Nur aus dem Ton seiner Stimme und noch bevor sie aufblickte, wußte Kate, daß Pater Cavanagh gekommen sei, nicht Pater Michael. Stephen mochte Pater Michael, aber Pater Cavanagh konnte er nur mit Mühe höflich behandeln. Es fiel Kate schwer, das zu begreifen. Gut, Pater Michael hatte sie drüben in Irland damals vermählt, aber er war doch ein recht harter Mann, und dieses Pferdegesicht, mit dem er rumlief, lächelte niemals. Pater Cavanagh dagegen war lustig und so angenehm. Der sprach von einem glücklichen Gott, der seiner Herde angenehme Dinge wünschte. Pater Michael war streng, ja, und bedrohlich. Und er redete so oft mit Stephen über Philosophie. Das wurde manchmal richtig langweilig Pater Cavanagh brachte einen Stuhl und setzte sich Kate gegenüber. Er berührte sie fast mit seinen Knien. »Und wie geht es uns heute?« fragte er mit volltönender Glockenstimme. »Gilla sieht aus wie ein sonniger Tag, ganz voller Frühlingsblumen.« Kate konnte im Spiegel sehen, wie Stephen dabei höhnisch das Gesicht verzog. Sie wußte genau, was er dachte. Cavanagh klang ja auch wirklich ein wenig absurd, wenn er mit seinem komischen britischen Akzent versuchte, irische Redewendungen zu produzieren. Der Priester beugte sich vor und zupfte an einer von Gillas Zehen. Das Kind verzog mürrisch das Gesicht, schlief aber friedlich weiter, als er die Hand fortnahm. »Also, Kate«, fuhr der Priester fort, »in Ihrem Gesicht leuchtet das kostbare Licht der Gesundheit. Brauchen Sie heute einen besonderen Zuspruch? Ist Ihr Herz ruhig und in Frieden?« »Ich hab mich noch nie besser gefühlt, Pater!« »Das kommt von dem Heilmittel«, sagte der Priester lächelnd. »Es kräftigt den Leib. Sehen Sie doch nur, wie die Injektionen Ihrer kleinen Gilla geholfen haben, die Nachwirkungen der frühen Geburt zu überstehen.« »Ja, es ist ein Wunder«, pflichtete sie ihm bei. 676 »GOTT ist gütig und freigebig.« Er betätschelte ihr Knie, und er ließ die Hand dort ruhen, während er aufstand. »Gehen Sie so rasch schon wieder, Pater?« fragte sie neugierig.
»Man hat mich ersucht, es heute mal kurz zu machen. Es wartet ein wichtiger Besucher, der Sie sprechen möchte. Ist es nicht ein Wunder? Sie sind ein kostbares Geschöpf, Kate. Und ich schließe Sie und Gilla jeden Morgen bei der Messe in mein Gebet ein.« Und mit einem steifen Lächeln zu Stephen hinüber verließ Pater Cavanagh die heilige Familie. »Ein Besucher?« fragte Kate. Gilla wimmerte leise. Kate wiegte sie sanft, wandte aber den Blick nicht von Stephen. »Ich hab keine Ahnung«, sagte er und schaute Kate an. »Mir haben sie kein Wort gesagt.« Kate schauderte zusammen. Sie fühlte eine Gefahr, sie spürte da irgendwie eine Veränderung. Ja ... die Geräusche der Männer, die sich an ihrem Spiegelfenster vorbeischoben, waren verstummt. Die Luft im Raum roch auf einmal abgestanden und dick und nach Tabakrauch, ein Aroma das der Priester jedesmal hinterließ. Plötzlich öffnete sich die Tür, durch die Pater Cavanagh verschwunden war, und Rupert Stonar trat mit einem Unbekannten in Marineuniform ein. Der Fremde hatte breite Schultern und lange Arme. Das Gesicht war extrem schmal, und eine riesige Römernase warf Schatten auf einen kleinen Mund und ein spitzes Kinn. Die Augen sitzen zu dicht beisammen, dachte Kate, aber die Wimpern sind lang und schön geschwungen. Stonar allerdings kannte sie, also blickte sie ihn fragend an. »Ich möchte Ihnen Admiral Francis Delacourt vorstellen«, sagte Stonar. »Wie Sie vielleicht wissen, ist der Admiral der Oberbefehlshaber des Barrier Command und - seit den empörenden Ereignissen in New York inzwischen auch Kommissarischer Präsident der Vereinten Nationen. Es war Admiral Delacourt, der Ihnen das Leben gerettet hat, indem 677 er Ihnen die Barkasse und den Schlepper schickte, als der Bürgerkrieg in Irland ausbrach.« »Wir sind ihm sehr dankbar«, sagte Stephen. Er reichte dem General die Hand und spürte den knappen kräftigen Druck der muskulösen Finger. Delacourt wandte sich zu Kate, neigte sich über ihren Scheitel und küßte sie auf den Kopf. »Enchante!« sagte er. Kate wurde rot und schaute zu ihrem Baby hinunter. Gilla suchte sich diesen Augenblick aus, um ihre Blase zu entleeren. »Ach du liebe Güte!« sagte Kate und reichte Stephen den Säugling. »Würdest du so lieb sein und sie trockenlegen, Lieber?« Stephen übernahm das feuchtwarme Bündel. »Die Windeln sind drüben im andern Zimmer«, sagte Kate und lächelte zu dem Admiral hinauf. »Ich bin noch nie einem echten Admiral begegnet.« »Ich komm mal eben mit Ihnen mit, Stephen«, sagte Stonar und ergriff Browder am Arm. »Der Admiral hat eine Bitte an Kate.« »Was für eine Bitte?« fragte Stephen. Ihm fiel auf, daß Stonar sich plötzlich äußerst kühl gab. »Die Bitte richtet sich an Kate O'Gara, nicht an Sie«, sagte Stonar und drängte Stephen weiter. »Das hier ist Kate Browder, und ich bin ihr Mann!« Stephen stemmte die Hacken auf den Boden und ließ sich nicht weiterschieben. »Ach ja, ich nehme an, Sie haben es noch nicht gehört«, sagte Stonar. »Künftig tragen Frauen nicht mehr die Namen ihrer Gatten. Das Matronym ist gesetzlich festgelegt worden, Name und Abstammung vom Vater sind sekundär.« »Durch was für ein Gesetz?« fragte Stephen wütend. »Durch das Gesetz dieser Welt. Eine Demarche der Vereinten Nationen«, sagte Stonar. Er versuchte noch immer Stephen aus dem Raum zu drängen. »Ich geh hier nicht raus!« sagte Stephen. »Und lassen Sie meinen Arm los!« 678 »Paß doch auf!« rief Kate. »Du tust ja dem Baby weh!« »Lassen Sie nur«, sagte der Admiral. »Er sollte dabei sein, auch wenn mein Ersuchen sich an die Dame richtet.« Stonar gab Stephens Arm frei, hielt sich aber dicht an seiner Seite. »Was für ein Ersuchen?« fragte Stephen. »Ich habe durch die Pest meine ganze Familie verloren«, sagte Delacourt. »Und meine Bitte lautet ganz einfach, daß die Dame mir ein Kind schenkt.« Stephen machte eine Bewegung auf den Mann zu, das Baby hielt er dabei ungeschickt mit beiden Armen an die Brust gedrückt, doch Stonar bremste ihn mit einem gebieterisch ausgestreckten Arm. »Passen Sie doch auf das Kind auf, Sie Trottel!« Stonar packte erneut Stephen am Arm und hielt ihn fest. »Warum empört Sie eine derartige Bitte?« fragte der Admiral und blickte dabei Stephen fest an. »Sie müssen sich doch inzwischen klar darüber geworden sein, daß das jetzt das Normale ist ... es gibt eben so wenige Frauen. Und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als daß meine Familie nicht ausstirbt.« Kate stand auf und strich sich den Rock glatt. Ein Blick in den Spiegel verriet ihr, daß das Baby in ihrem Schoß einen großen feuchten Fleck hinterlassen hatte. Und sie war bleich, sah sie. »Gibt es denn keine anderen Frauen, die ...« Sie konnte den Satz nicht beenden. Dann sprach Stonar. Er hielt Stephen noch immer fest, und der erlaubte es ihm aus Furcht wegen des
Kindes, das sonst möglicherweise zu Schaden kommen konnte. Sag's ihnen doch, Kate! dachte Stephen. Sag ihnen, sie sollen, verdammt noch mal, hier verschwinden mit ihren widerwärtigen dreckigen Absichten! Und nur langsam nahm Stephen wahr, was Stonar gerade sagte: es würden zu wenig Frauen in die verheerten Gebiete geschickt! »China, Argentinien, Brasilien und die USA sind die einzigen Nationen der Erde, die sich bereit erklärt haben, und 679 zwar in landeseigenen Wahlen, die zuchtfähigen Frauen aufzusplittern, sagte Stonar. »England wird danach etwas über eintausend zugeteilt bekommen.« Wie Vieh, wie die Kühe, dachte Kate. Sie schaute den Admiral an. Ein Mann mit Macht, der Herr des Barrier Command. Und das bedeutete Kriegsschiffe und die Unterstützung durch die UNO. Ihn zu akzeptieren, das konnte heißen, daß man damit Schlimmeres abwendete. Sie warf Stephen einen flehentlichen Blick zu. Begriff der denn gar nichts? Der Entschluß, den sie vor ein paar knappen Minuten gefällt hatte, erschien ihr nun wie das dumme Backfischverhalten eines Schulmädchens, über das sie in einem plötzlichen Sprung hinausgewachsen war. »Wäre es Ihnen möglich, Admiral, in etwa einer halben Stunde noch einmal vorzusprechen, bitte?« fragte sie. »Stephen und ich brauchen einen Augenblick Zeit, um uns zu besprechen.« Sie lächelte Stonar an. »Ach, Mister Stonar, es wäre nett, wenn Sie inzwischen Gillas Windeln für uns wechseln würden, geht das? Die liegen in dem kleinen Schubfach unter ihrer Wiege.« Stonar nahm Stephen das Baby aus den Armen. Stephen leistete keinen Widerstand. Der Admiral strahlte Kate an und beugte sich zu einem Handkuß nieder. Seine Antwort hatte er bereits aus dem Ton ihrer Stimme herausgehört. Eine vernünftige Frau war das - und fast eine Französin in ihrem Betragen. Vielleicht ... nun vielleicht würden sie nicht nur ein Kind miteinander haben ... Im Zimmer nebenan klappte Stonar das Seitenteil des Kinderbettchens herunter und legte den Säugling darauf ab. Gilla strampelte ihm mit den Füßen ins Gesicht und gluckste vor Vergnügen, während er sie von ihrer nassen Windel befreite. Der Admiral war ihm gefolgt und half ihm, und beide Männer lächelten ein bißchen idiotisch vor sich hin. Die Szene war ja auch wirklich absurd: zwei Männer von ihrem Kaliber - und da standen sie und erledigten die Arbeit einer Säuglingsschwester. »Ich glaube, sie wird Sie annehmen«, sagte Stonar. 680 »Aahh? Sie haben es also auch in ihrer Stimme gehört?« Der Admiral hob das kleine Menschenweibchen hoch und lächelte es an. Und war das, was ihm da als Erwiderung entgegenkam auch ein Lächeln? Oder war es nur ein Bäuerchen, wie man so sagte? »Fast möchte ich sie mir ja selber auch nehmen«, sagte Stonar. »Aber dann ... ich könnte ja doch nie darüber wegkommen, daß sie Irin ist.« »Gütiger Himmel, Mann, kauen Sie denn immer noch am alten Zeug herum ...« »Mein einziger Sohn wurde während der Bloody Amnesty in Belfast getötet ... nach dem Ausbruch der Pest! Er war Offizier bei den Fallschirmjägern. Die haben ihn zu Tode gefoltert. « »Oh, verzeihen Sie!« Der Admiral legte sich das Baby über die Schulter und betätschelte leicht seinen Po. Er fühlte sich sehr wie ein Vater. Man hatte ihn recht genau über die Unruhen in Ulster unterrichtet. Ein Kanadier irischer Herkunft hatte dazu mehrere Stunden gebraucht. »Was wirklich dahintersteckte, da im Norden Irlands, war die Angst der Ulstermen, daß die Katholiken gerechte Vergeltung für die ganze Unterdrückung in der Vergangenheit fordern würden.« Der Mann war seit zwei Generationen Kanadier gewesen, und noch immer hatte man den Zorn des empörten Iren gespürt, als er dem Admiral eine Kopie der Ulsterproklamation überreicht hatte, die von einem gewissen William Boyce, dem Kommandanten der Belfaster Brigade, unterzeichnet war: »Nun, dies waren genau die Entwicklungen, die wir zu Recht befürchtet hatten, sollten die Katholiken aus dem Süden den Sieg über uns erringen: Verbot der Ehescheidung, Empfängnisverhütungsmittel gesetzwidrig, keinerlei Gesundheitsfürsorge - kurz alles, was man in der Verfassung des Staates Irland vorfindet. Wir kennen diese katholischen Familien, jede davon hat mindestens zwölf Kinder, und sie 681 hausen in elenden Hütten in Slums, und sie betteln auf der Straße, jeder einzelne aus diesem dreckigen Haufen!« »Glauben Sie im Ernst, daß wir empfängnisverhütende Mittel als gesetzwidrig erklären können?« fragte der Admiral. »Aber gewiß doch! Jetzt, wo die Kirche hinter uns steht, wie sollte es uns nicht gelingen?« Der Fehlschlag einer Zivilisation läßt sich ablesen an der Kluft, die zwischen öffentlich propagierter Moral und privat erfahrenem Moralempfinden auftritt. Je breiter diese Kluft, desto näher ist eine Zivilisation ihrer Auflösung. JOST HUPP
Bill Beckett saß für sich allein im VIP-Salon der Air Force One. Teuerste Schallisolierung ersparte ihm den Lärm der Jets. Es roch nach Leder hier und nach gutem Whisky. Beckett warf einen Blick auf die Armbanduhr: 10:28 Eastern Standard Time. Die Parade in Washington sollte um 13:00 beginnen. Er schaute dumpf auf all die leeren Sessel ringsum und dachte darüber nach, was hinter dieser bevorzugten Isolationsbehandlung wirklich steckte. Ruckerman, der jetzt da drüben in dem privaten Schlafzimmer schnarchte, hatte beim Anblick des Flugzeugs geschnauft: »Numero Uno, gütiger Himmel!« Der Präsident hatte das Flugzeug ganz speziell ihretwegen geschickt, nur für sie beide, und noch dazu einen echten Vollgeneral als Reisebegleiter und um sie auf die Zeremonien vorzubereiten, die ihnen in Washington bevorstanden: eine Parade, Reden vor beiden Häusern des Kongresses, Orden, ein Festessen im Weißen Haus. Der General, ein Mann namens Walter Monk, hatte eigentlich für seinen Job zu jung gewirkt - nichts als breitmäuliges Lächeln mit weißen Zähnen und darüber eisige Augen, erbarmungslos. 682 Beckett seufzte. Es stimmte alles, was Marge ihm übers Telefon ins Ohr gebrabbelt hatte. »Aber du bist ein Held, ich sag's dir doch!« Was für eine absurde Unterhaltung das gewesen war: die Mädchen hatten gekreischt und geheult und ihm gesagt, wie innig sie ihn liebten, und wie berühmt er jetzt sei, und dann hatten sie den Hörer an Marge zurückgereicht mit der Bemerkung: »Mutter muß dir aber noch was wirklich Wichtiges sagen.« »Es gibt da so Gerede, daß man dich für die Kandidatur zum Präsidenten haben will«, sagte Marge. Mein Gott! Er konnte das noch gar nicht gleich runterwürgen. Er hatte mit der Nase viel zu tief im Seuchenprojekt gesteckt, viel zu lange, die Alltagsanforderungen ihrer Arbeit hatten ihn viel zu stark beansprucht. Und Marge ließ ihm gleich die nächste Eröffnung ins Gesicht platzen, ohne ihm auch nur ein Zipfelchen einer Vorwarnung zu geben, nicht die winzigste Andeutung in einem der sporadischen Gespräche übers Telefon oder über Funk - und die hatten das Kommunikationssystem schon über Gebühr belastet. »Bill, also ich will nicht, daß du dir irgendwelche Sorgen machst. Du bist und bleibst mein Primärgatte. Für immer und ewig.« Primärgatte! Wie rasch sich die gräßlichen Bezeichnungen verbreiteten ... Aber er hatte dann auch begriffen, was sie ihm mitzuteilen wünschte. Die >Sekundärheirat< zwischen Kate O'Gara und Admiral Francis Delacourt hatte sozusagen den Ton bestimmt. »Aber natürlich möchte ich, daß du Bescheid weißt, bevor du hierher zurückkommst, Liebling«, hatte Marge gesagt. »Es wird sich schließlich kaum verheimlichen lassen, wenn du mich siehst. Ich bin schwanger.« In ihrem Rücken konnte er die Mädchen schnattern hören: »Und sag ihm, daß ...« Der Rest ging unter, als Marge weiterhechelte. »Hast du mich nicht verstanden, Bill?« 683 »O doch, ich hab dich verstanden.« »Aber du klingst schon wieder so verkrampft und ärgerlich, wie du das immer machst. Bill, du mußt das einfach akzeptieren!« »Ich akzeptiere es ja!« »Also, der Vater ist Arthur Dalvig, Lieber. General Arthur Dalvig. Er ist unser Ortskommandant. Er wird dir gefallen. Ich weiß, daß er dir gefallen wird!« »Hab ich eine andere Wahl?« »Ach, Bill, nun sei doch nicht so. Er war furchtbar gut zu uns. Und die Mädchen lieben ihn. Und, nebenbei, Liebling, er hat eine ganze Menge Dinge für uns möglich gemacht. Als es zum Schlimmsten kam, hat er uns beschützt und uns ... also alles. Liebling, bitte! Er weiß genau, daß er für mich nur mein Sekundärer ist und daß du für mich mein Primär bleiben wirst. Er ist bereit, das zu akzeptieren ... Bill, Arthur bewundert dich! Und er ist einer von den Leuten, die sagen, man müßte dich zum Präsidenten machen!« Und wieso nicht? dachte Beckett zynisch. Ein Präsident in der Familie, das kann eine enorme Hilfe in der Karriere eines Berufsoffiziers sein, oder? »Ach, ich liebe dich, Bill«, quäkte Marge, und die Mädchen quäkten im Hintergrund: »Sag ihm unbedingt, daß ...« Und wieder ging unter, was immer seine Mädchen ihm zu sagen wünschten, weil Marge wieder dazwischen redete und sagte, sie wolle sich >all das übrige< aufheben, bis er wieder zu Hause sei. Und dann: »Ach, Kinder! Also schön! Sie wollen, daß ich dir sage, wie viele interessante Männer sich um sie bewerben. Aber sie sind natürlich noch viel zu jung dazu. Nein, ihr werdet warten müssen, mindestens bis ihr fünfzehn seid! Und das ist mein letztes Wort!« Es wurde Beckett klar, daß er in eine völlig veränderte Welt heimkehrte, eine ganz andere, als die es war, die er vor langer Zeit verlassen hatte. Und ]oe, der war vor das gleiche Problem gestellt. Der arme Hupp! Seine Träume, er könnte einer der großen Makler der Macht werden und mit behutsamer Hand die
684 Wohltaten der wissenschaftlichen Erkenntnisse verteilen ... - alles dahin! Was für ein brutales Erwachen in eine neue, in diese neue Zivilisation! »Wir sind wie Rindvieh«, hatte Hupp gesagt. Damals hatte das bei den anderen Mitgliedern des Teams, den vieren, die noch übrig waren, bei ihrer letzten Zusammenkunft schockiertes Schweigen bewirkt. Da hatten sie gesessen und Abschied genommen, endlich, über den geschmacklosen dicken Tassen und Tellern der Kantine, den Kachel wänden und dem stumpfen Chrom in Huddersfield. Es war in einem weiten Umkreis von ihrem Ecktisch laut und hektisch zugegangen. Huddersfield hatte sich zu einem Drehkreuz für die Welt entwickelt, und der Ansturm legte alle vorgesehenen Arrangements lahm. »Joe macht sich Sorgen, weil unser altes Team jetzt aufgelöst wird«, hatte Lepikow erklärt. »Joe hat recht«, sagte Danzas. »Sie sind nicht auf dem Land aufgewachsen wie wir, Sergej«, sagte Hupp. »Sie können das mit den armen dummen Kühen nicht begreifen. Kein guter Bauer geht zu seiner Kuh und läßt an ihr frech seine Wut aus!« Danzas hatte wissend genickt. »Ein guter Bauer spricht sanft auf seine Kuh ein«, sagte Hupp. »Er gibt ihr gutes Futter. Und er striegelt sie und macht sie sauber und läßt ihr die beste medizinische Fürsorge zuteil werden. Er behandelte sie sanft, aber mit Festigkeit, ganz genau so wie Stonar und seine Freunde mit uns umgehen. Die verstehen was von Rindvieh! Wenn die Kuh den Kopf zwischen die Stangen steckt, blockiert man ihn dort. Und dann holt man die wundervolle fette Milch heraus und achtet genau darauf, auch noch den letzten Tropfen rauszustrullen, damit das arme Geschöpf nicht etwa krank wird von dem, was da noch in ihr drinbleibt.« Beckett hatte das während des ersten Teils ihres Fluges General Monk erzählt und beobachtet, wie amüsiert und nachdenklich die Augen des Mannes geworden waren. Was hält ein potentieller künftiger Präsident der Vereinigten Staa685 ten von derartigen Einsichten? schien der General zu spekulieren. Nun, hier war eine Kuh, die sich als steiler Stier entpuppen würde, dachte Beckett. Und nachdem Monk ihn verlassen hatte, begann er eine Wahlrede zu entwerfen. »Wir brauchen einen Wissenschaftler im Weißen Haus. Wir brauchen einen Mann, der die wirklichen Gefahren erkennt, die unsere Welt bedrohen. Wir brauchen jemand, der fähig ist, die wahre Natur dessen zu beurteilen, was in unseren wissenschaftlichen Labors produziert wird.« Ja - tränke ihnen die Vorstellung ein, daß es die Pest womöglich nicht gegeben hätte, wäre der Präsident ein Wissenschaftler gewesen. Damit könnte man es schaffen. »Eine Frau für jeden Mann!« Ein Slogan, außerdem vielleicht sogar im Bereich des Möglichen. Allerdings schwang da ein gefährlicher Unterton von Besitzdenken mit. Sollten die Frauen Geiseln und Unterpfand für die Zukunft der Menschheit sein? Hupp hatte allerdings mit einem absolut richtig gelegen: Sie brauchen uns, die verdammten Mistkerle! Es tauchten immer mehr Hinweise auf, daß O'Neill in seinem primitiven Labor weit mehr geschaffen hatte, als er selbst wußte. Jetzt, wo die Menschen wieder reisten, die alten - und die neuen - Grenzen überschritten, begannen nie dagewesene Krankheiten aus dem Boden zu sprießen. Dieser O'Neill war wahrscheinlich eine ganze wandernde Hexenküche von Infektionskrankheiten gewesen. Man konnte seine Spuren anhand der Krisenherde verfolgen,. in denen die neuen Krankheiten auftraten. Mein Gott! Ein Mann allein hatte das getan! Wanderte O'Neill noch immer als Wahnsinniger durch Irland? Es konnte möglich sein. Die Iren waren von einer Abart jener fastreligiösen Scheu der Primitivvölker vor dem Verrückten befallen worden. Sie brachten es tatsächlich fertig, den Mann möglicherweise bei sich ins Haus aufzunehmen, ihn zu ernähren, ihn zu beschützen. Man durfte die Geschichten, die aus Irland kamen, nicht einfach in den Wind 686 schlagen - Gerüchte, Mythen. Die Kleinbauern und Häusler setzten Teller mit Essen vor ihre Hütten, genau wie sie es einst für die >Kleinen Leute<, die Geister, getan hatten. Aber jetzt war das für den Verrückten bestimmt. Und was sie für Geschichten erzählten, die dann prompt in den Zeitungen erschienen: »Ich hab das Schreien in der Nacht gehört. Weit drunten im Tal war das, und gar nicht wie von einer Menschenseele. Es war der Verrückte, ich bin sicher! Und die Milch, die ich ihm vor die Tür gestellt hab, die war am nächsten Morgen fort.« NACHBEMERKUNG Einige Verfechter der strikten Kontrolle über die Forschung im Bereich der künstlichen DNS-Verbindungen erstreben den Einsatz der Regierungsgewalt, um neue Ideen zu unterdrücken, die sonst vielleicht aus einer solchen Forschung sich ergeben könnten. Doch dies würde uns in eine Ära des Dogmatismus zurückwerfen, der die Menschheit erst vor so kurzer Zeit entronnen ist. Überdies wäre das ein zur Wirkungslosigkeit verurteiltes Unterfangen. Es ist auf lange Sicht unmöglich, sich gegen die Erforschung der Wahrheit zu stemmen. Immer wird irgend jemand die Wahrheit irgendwann und irgendwo herausfinden. PHILIP HANDLER Präsident der National Academy of Science