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Ren Dhark Drakhon Band 16 – Die Verdammten Schleichfahrt war angesagt. So zumindest bezeichnete es Leon Bebir, Zweiter Offizier der POINT OF, die ebenso wie die EPOY mit »nur« 2,5facher Lichtgeschwindigkeit in die kosmische Gas wölke einflog, die sich in einem eher unbedeutenden Seitenarm der Galaxis Orn befand. Om, die Heimatgalaxis der Worgun! Der Mysterious, wie die Menschen sie damals genannt hatten, als sie zum ersten Mal auf deren technische Hinterlassenschaften stießen! Die Mysterious -ein Volk, das über eine unglaubliche Supertechnik verfügte, vor tausend Jahren spurlos aus der Milchstraße verschwand und nur technische Artefakte zurückließ, aber nicht einen einzigen Hinweis auf die Erbauer dieser Artefakte selbst. Die Hinterlassenschaften der Mysterious waren für die Terraner wie ein Geschenk der Götter. Ohne sie hätte es vielleicht weniger Bedrohungen aus interstellaren Räumen gegeben - aber auch keine Rettung vor den Giants, die Terra überfallen und unterjocht hatten. Und es hätte keine Chance gegeben, die galaktische Katastrophe zu verhindern, die durch Drakhon aus dem anderen Kontinuum gedroht hatte. Und jetzt hatte eine terranische Expedition die Galaxis Orn erreicht, einen Spiralnebel mit einem Durchmesser von 270 000 Lichtjahren, mithin wesentlich größer als die heimatliche Milchstraße, die von den Worgun Nal genannt wurde. Orn durchmaß im Querschnitt etwa 9 000 Lichtjahre; im Zentrum waren es sogar maximal 32 000. Auf dem Planeten Golden hatten die Terraner die Koordinaten dieser sehr aktiven Gas wölke in einem Seitenarm Orns erhalten, die einen Durchmesser von 370 Lichtjahren aufwies. Die POINT OF hatte starke energetische Aktivitäten im Inneren der Wolke gemessen. Daraufhin hatten Ren Dhark und Gisol beschlossen, sich nicht mit der gesamten Expeditionsflotte, sondern nur mit ihren beiden Flaggschiffen in den Risikobereich zu begeben. Der Worgun-Re-bell Gisol, bei den Terranern vorwiegend unter dem Namen Jim Smith bekannt, flog seine EPOY und verfügte über weitere neun Ringraumschiffe, so wie Ren Dhark, der Commander der Planeten, das Kommando über seine POINT OF und neun weitere S-Kreuzer hatte. Die Raumschiffe waren jeweils zu Zehnerringen zusammengekoppelt worden, um dadurch einen besonderen Beschleunigungseffekt des Antriebs zu nutzen und die enorme Entfernung von rund zehn Millionen Lichtjahren zwischen der Milchstraße und der im Sculptor-Haufen gelegenen Galaxis Orn schneller und gleichzeitig energiesparender zurückzulegen. Es hatte Commander Dhark eine Menge Überredungskunst und schließlich das Pochen auf seine Autorität gekostet, diese Expedition durchzusetzen. Die kostete Geld, das Terra nicht besaß nach dem geradezu verheerenden Krieg gegen die Grakos. Und es standen Wahlen bevor - aber wer würde einen Ren Dhark wählen, der während des Wahlkampfs irgendwo in Weltraumtiefen unterwegs war und Steuergelder verpulverte, statt vor Ort den Menschen begreiflich zu machen, daß er der richtige Mann für das höchste politische Amt der Menschheit war? Politgeschwätz, um das Dhark sich nie gekümmert hatte. Sein verstorbener Vater hatte in die Politik gehen wollen; Ren war diese Rolle ufgezwungen worden. Er selbst war eher der Weltraumzigeuner, dem die Erde längst viel zu klein war und der die Sterne zum Greifen nahe haben wollte, statt sich in ein Büro einsperren zu lassen. Oft, wenn er in der Zentrale der POINT OF die exzellente Wiedergabe der Bildkugel sah und darin die Pracht der Sterne, entsann er sich jener Zeit, in er als Kind spätabends vor dem Haus seiner Eltern gestanden und zum Himmel hinauf geschaut hatte, zu diesem Sternendschungel
mit all seiner Schönheit. Damals hatte er von sich selbst verlangt: Ich muß dorthin, ich MUSS diese Sterne aus der Nähe sehen! Zumindest dieses Lebensziel hatte er längst erreicht. Er war weiter gelangt als jeder andere Mensch zuvor, er hatte die Grenzen des Universums gesprengt und war nicht nur in einer anderen Galaxis, sondern auch in anderen Welträumen gewesen. Das Nor-Ex-Kontinuum, das blaßblaue Universum mit Erron-3, und vielleicht würde er eines Tages auch das Universum bereisen, aus dem Dra-khon gekommen war, um dorthin wieder zu verschwinden. /H'^ Einem anderen Lebensziel war er zum Greifen nah. Seit er auf Hope die POINT OF entdeckt hatte, war er auf der Suche nach deren Erbauern und hatte immer wieder Enttäuschungen erlebt. Bis er auf Gisol stieß. Und zusammen mit Gisol war er jetzt endlich in der Heimat der Erbauer der POINT OF... Jetzt, siebendrei viertel Jahre nach der Entdeckung des Ringrau-mers... Und im Januar, siebeneinhalb Jahre nach dessen Entdeckung, hatte Ren Gisol getroffen... Sieben... war das ein Omen? Sieben war doch die Zahl der Mysterious, auf der nicht nur ihre Supermathematik beruhte. Immer wieder war Dhark bei seiner Suche nach den Spuren der Mysterious auf diese Zahl gestoßen. Die Häuser der längst zerstörten Stadt vor dem Höhleneingang des Industriedoms auf Hope waren siebeneckig gewesen, Schalteinheiten wurden in Siebenergruppen zusammengefaßt, Schraubenköpfe waren siebeneckig, die Sieben war das Symbol der Mysterious. Und jetzt, nach gerade mal etwas über sieben Jahren der Erstkontakt... War das noch Zufall? Ganz objektiv und logisch betrachtet: ja! Aber rein subjektiv kam Ren bei diesen Gedanken immer wieder ins Träumen. Und er, der schon als Kind von den Sternen geträumt hatte, mußte einfach deshalb nach Orn fliegen. Jetzt war er hier, trotz aller Bedenken und Warnungen. Wie gefährlich diese Expedition war, hatte ihr Aufenthalt auf Planeten Golden gezeigt. Aber dieser Aufenthalt hatte ihnen auch die Möglichkeit verschafft, die bislang verbrauchten Energiereserven der Raumer zu erneuern, und er hatte ihnen die Koordinaten dieser kosmischen Gas wölke gebracht. Was genau sie hier erwartete, wußte noch keiner von ihnen, nicht einmal Gisol, der sich in Orn kaum besser auskannte als Ren Dhark in der heimatlichen Milchstraße. Wie denn auch? Bei Milliarden von Sternen, Milliarden von Planetensystemen und Millionen bewohnter Welten? Hinzu kam natürlich, daß Gisol ein Rebell war, der von den jetzigen Herrschern Orns gejagt und selbst von seinem eigenen Volk verachtet wurde. Gisol hatte nie Zeit genug gehabt, all das in Erfahrung zu bringen oder zu erforschen, was ihm vorschwebte. Und jetzt, im April 2059, flogen die POINT OF und die EPOY in die kosmische Gas wölke ein! Für Ren Dhark war das nicht das erste riskante Unternehmen dieser Art. Oft genug hatte es bei seinen früheren Aktionen auf der Suche nach Spuren der Mysterious ähnliche Situationen gegeben. Er war neugierig, aber auch vorsichtig. Und deshalb hatten sich die beiden Ringraumer POINT OF und EPOY von den anderen Schiffen getrennt und stießen nur mit »Schleichfahrt« in die Gaswolke vor, die sich ihnen in einer schier unglaublichen Farbenpracht zeigte... »Dhark, Funkspruch von der EPOY«, rief Glenn Morris aus der Funk-Z durch. »Da stimmt was nicht!« Der Commander zuckte zusammen. »Durchstellen, Glenn!« ordnete er an. Was konnte an Bord der EPOY nicht stimmen? Es hätte seiner Anweisung nicht bedurft; der Cheffunker hatte den eingehenden Funkruf ohnehin sofort nach seiner Ansage auf das Kommandopult der Zentrale gelegt. Dort wurde
ein Holomoni-tor aktiv und zeigte im nächsten Moment die elfjährige Juanita Gonzales in der Zentrale der EPOY, aber auch Gisol, der sich of10 fenbar in heftigen Schmerzen krümmte und nicht ansprechbar schien. Immerhin hielt er seine Jim-Smith-Gestalt noch unter Kontrolle. Die Mysterious waren Gestaltwandler, die jedes beliebige Aussehen annehmen konnten, solange der darzustellende Körper etwa eine Masse von 100 Kilo aufwies. Kleinere oder größere Körper nachzubilden war mit Schwierigkeiten verbunden; sie mußten ihre Körpersubstanz entweder komprimieren oder »aufblasen«, was beides aber nur bis zu einem bestimmten Grenzwert möglich war. Ihre Originalgestalt erinnerte an eine Amöbe - was täuschte, weil sie beileibe keine Einzeller waren. Bei Kontakten mit den Menschen pflegte Gisol stets sein Jim-Smith-Aussehen zu zeigen; seine letzte »Maske«, in welcher er vor der Manipulation des Schwarzen Superlochs im Zentrum der Milchstraße auf Terra aufgetreten war. »Juanita? Was ist passiert?« Dhark beugte sich unwillkürlich leicht vor, als könne er so besser sehen, was sich in der Zentrale des anderen Ringraumers abspielte. »Wir... wir... Jim...« Die Elfjährige rang nach Worten, streckte hilflos die Hand aus und wies auf den Mysterious. »Ganz ruhig«, sagte Ren Dhark. »Ganz ruhig bleiben. Wir sind hier. Erzähl uns einfach, was passiert ist.« »Aber ihr müßt Jim helfen«, rief sie verzweifelt. »Er stirbt vielleicht! Er hat so furchtbare Schmerzen! Und ich kann das Raumschiff doch nicht allein fliegen!« Dhark schluckte. »Natürlich werden wir ihm helfen«, sagte er beruhigend. »Aber du mußt uns erzählen, was geschehen ist, damit wir gleich das richtige tun können und nicht lange herumrätseln müssen, okay?« Seine Stimme hatte einen beschwörenden Klang. Bebir und Dan Riker, die neben Dhark am Kommandopult saßen, blickten den Commander erstaunt an. So hatten sie den breitschultrigen, weißblonden Sportlertyp mit dem energischem Kinn noch nie reden gehört. Allerdings waren sie alle bisher auch noch nie in der 11 Zwangslage gewesen, ein Kind zu beruhigen, das drauf und dran war, in Panik zu verfallen. Gisol-Smith hatte Juanita gebeten, die EPOY zu verlassen und an Bord eines der terranischen Schiffe zu gehen, ehe die beiden Ringraumer in die Gas wölke vordrangen. Er hatte sie in Sicherheit wissen wollen, aber sie hatte dermaßen vehement protestiert, daß er schließlich nachgegeben hatte. Kennengelernt hatte er sie bei seiner Aktion auf Terra in Rio de Janeiro. Sie war ein Waisenkind, das sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlagen mußte. Aber sie besaß eine geradezu fantastische Fähigkeit: Sie konnte sich »unsichtbar« machen! Es handelte sich zwar nicht um eine physikalische Unsichtbarkeit, wie die Terraner sie von den Mimikry-Schirmen der Nogk kannten oder von den beiden entarteten Cyborgs Mildan und Dor-dig, die vor zwei Jahren eine Menge Unheil angerichtet hatten. Aber irgendwie brachte etwas in Juanita Gonzales andere Menschen dazu, sie nicht zu sehen, wenn sie nicht gesehen werden wollte. Und - sie konnte andere ebenfalls »unsichtbar« machen, wenn diese sich in ihrer unmittelbaren Nähe befanden! Damals hatte Smith das Mädchen gezielt ausgesucht, um sich seiner zu bedienen. Offenbar war er mit seiner technischen Ausrüstung in der Lage gewesen, Juanitas Begabung zu erkennen und sie gezielt zu suchen. Ursprünglich hatte er beabsichtigt, sie nach dem Ende seiner Mission auf Terra zu beseitigen, damit sie ihn nicht verraten konnte. Aber irgendwie war sie ihm in jenen Tagen und Wochen ans Herz gewachsen, und er nahm sie mit in den
Weltraum. Sie hatte ein gewinnendes Wesen, ein großes Herz, und sie zeigte ihm eine Jugend
voller Träume und Hoffnungen, die ihm selbst verwehrt geblieben war.
Von einem Teil seiner Jugend hatte er Ren Dhark und seinen Freunden erzählt, während die
aus zweimal zehn Schiffen beste-
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hende Flotte Orn anflog.* Aber seine ursprünglichen Absichten Juanita gegenüber würden für
immer sein Geheimnis bleiben.
Er hatte sie längst ins Herz geschlossen, und es schien, als sehe sie ihn als eine Art Ersatzvater
an. Sie verehrte ihn - und jetzt mußte sie sehen, wie er hilflos litt.
»Erzähl«, bat Dhark ein weiteres Mal.
Jetzt endlich schaffte sie es, zu berichten, was sich in den letzten Minuten an Bord der EPOY
abgespielt hatte. Zunächst der Ausfall der Kommunikation mit den anderen Ringraumern, die
am Rand der Wolke zurückgeblieben waren. Das war nichts Neues, und damit hatten sowohl
der Commander als auch Gisol gerechnet. Aber dann - Ausfall wichtiger Systeme an Bord der
EPOY!
Gisol hatte versucht, etwas dagegen zu tun. Aber es war ihm nicht gelungen. Statt dessen litt
er plötzlich unter Schmerzen, deren Ursprung rätselhaft war, und reagierte schließlich nicht
einmal mehr auf Juanitas Versuche, ihn aus seinem Zustand zu reißen und wenigstens einen
Teil seiner Aufmerksamkeit zu erheischen.
In der Zentrale der POINT OF sahen die Menschen sich überrascht an.
Der Ausfall der Kommunikation mit den außerhalb der Wolke befindlichen Raumern war
registriert. Aber einen Systemausfall, wie Juanita ihn schilderte, gab es im Flaggschiff der
Terranischen Flotte nicht.
Was war der Grund?
Die EPOY war das neuere Raumschiff. Aber es sah so aus, als verfüge die tausend Jahre alte
POINT OF über technische Möglichkeiten, von denen Jim Smith in seinem modernen Raumer
allenfalls träumen konnte!
Was hatten Margun und Sola, die geheimnisvollen Konstrukteure der POINT OF, alles in
ihren Prototypen eingebaut?
Die Bildfunkverbindung zeigte Dhark den hilflosen Gisol, aber
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er wußte nicht, was er für den Mysterious effektiv tun konnte. , »Juanita«, bat er. »Versuche,
die EPOY zu stoppen.« »Aber wie?«, stöhnte das Mädchen. »Wie soll ich das tun?« »Ich
helfe dir dabei«, sagte Dhark. »Du brauchst nur zu tun, was ich dir sage.«
Nach dem, was Juanita ihm erzählt hatte, verschlimmerte sich Gisols Zustand um so mehr, je
weiter die beiden Raumer in die Wolke eindrangen. Ein Stop würde Dharks Vermutung
zufolge also die Verschlimmerung aufhalten. Eine Umkehr würde ihn »heilen«. Das war typisch für Absicherungsmaßnahmen der Mysterious. Es war sogar humaner als jene
Aktionen, die Dhark selbst erlebt hatte. Mehr als einmal war die POINT OF beim
»unautorisierten« Anflug auf Planeten oder Anlagen der Mysterious angegriffen worden - im
freundlichsten Fall mit Tele-Hypnose... und der erzwungene Anflug auf Planet Cutout hätte
seinerzeit beinahe zur Vernichtung der POINT OF geführt.
Um so eigenartiger fand Dhark es jetzt, daß die EPOY größere Probleme hatte als die POINT
OF - beziehungsweise, daß Gisol diese Probleme hatte und nicht die Terraner. Oder war diese
Wolke eine Falle der Zyzzkt? Dan Riker, Rens bester und ältester Freund, äußerte diesen
Verdacht, nur konnte er ihn nicht untermauern, weil der Planet Golden, auf dem sie die
Koordinaten dieser Wolke erhalten hatten, garantiert nicht unter der Kontrolle der größten
Feinde der Worgun stand.
Warum also unterlag ausgerechnet Gisol einem Negativeinfluß und nicht die Terraner?
Dhark sprach weiter mit Juanita. Sie hatte Angst, in die Steuerung des Ringraumers
einzugreifen, solange Jim Smith nicht in der Lage war, ihre Aktion zu überwachen und
notfalls zu korrigieren, falls sie etwas falsch machte. Aber Dhark konnte sie überzeugen, daß
er sich damit ebensogut auskannte wie Jim. Ein wenig hatte sie selbst von Jim auch schon
gelernt. Dhark
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leitete sie an und rief ihr in Erinnerung, was Gisol ihr beigebracht hatte.
Sie stoppte den Flug der EPOY.
Im gleichen Moment betätigte auch Leon Bebir in der POINT OF die entsprechenden
Steuerschalter, um auch die POINT OF abzubremsen und ihre Fluggeschwindigkeit wie die
der EPOY auf den Wert Null zu bringen. »Und jetzt schalte das Intervall ab«, bat Dhark.
»Aber - aber dann sind wir ja völlig schutzlos!« entfuhr es Juanita.
»Nein«, widersprach der Commander. »Vertraue mir. Die energetischen Prozesse in der
kosmischen Gaswolke können dem Unitall nichts anhaben. Ihr seid sicher.«
»Aber warum soll ich es abschalten?« wollte sie wissen.
»Damit wir einfacher an Bord kommen können«, sagte er. »Ich möchte per Flash einfliegen.
Ich bin aber nicht sicher, ob sich die Intervallfelder untereinander wirklich vertragen.
Immerhin liegen tausend Jahre Entwicklungszeit zwischen den beiden Raumern.«
»Es gibt doch die Transmitter«, erinnerte Juanita.
»Weißt du, wie man sie bedient?«
»Nein«, sagte sie kleinlaut. Wieder sah sie zu Gisol hinüber, der sich in Krämpfen wand und
seltsame Stöhnlaute von sich gab. »Er braucht doch Hilfe«, sagte sie leise.
»Deshalb wollen wir ja zu euch an Bord kommen«, sagte Dhark.
Plötzlich erwachte Mißtrauen in der Elfjährigen. »Was heißt zu uns?“
»Nun, ich schicke mit einigen Flash ein paar Leute, die sich...«
»Nein!« protestierte Juanita energisch. »Das kommt gar nicht in Frage, Mister Dhark!«
»Aber wie sollen wir Jim dann helfen?«
»Lassen Sie sich etwas einfallen!« verlangte sie. »Doch Fremde dürfen nicht an Bord. Jim
will das nicht. Das hat er oft genug gesagt. Ich weiß, daß er es auch jetzt nicht will.«
»Aber dann können wir ihm nicht helfen!«
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»Es muß eine Möglichkeit geben«, drängte Juanita. »Und das möglichst schnell! Er leidet!
Ihnen fällt doch sonst immer etwas ein, Mister Dhark!«
Nach ein paar Sekunden fügte sie hinzu: »Sie allein dürfen kommen. Ihnen vertraue ich, und
auch Jim vertraut Ihnen. Er hat Sie ja schon einmal in die EPOY gelassen. Aber nur Sie,
niemand sonst! Wenn noch ein anderer Sie begleitet, aktiviere ich die Sicherheitsschaltung.«
»Was soll das heißen?« stieß Dhark bestürzt hervor.
»Das werden Sie dann schon sehen«, sagte das Mädchen.
»Ich bin einverstanden«, sagte Dhark nach kurzem Zögern. »Ich komme allein an Bord. Mit
einem Flash.«
»Ich schalte das Intervallfeld ab. Bitte kommen Sie schnell!«
Die Bildsprech Verbindung erlosch. Juanita hatte abgeschaltet. Augenblicke später meldete
Tino Grappa von der Ortung: »EPOY hat beide Intervallfelder deaktiviert.«
Dhark erhob sich. »Dann will ich mal...«, murmelte er.
»Stop, alter Freund!« warnte Dan Riker, der sich ebenfalls aus seinem Sessel erhob. »Warte
mal. Ich kann's nicht glauben, daß du in einer kritischen Situation den närrischen Wünschen
eines kleinen Mädchens nachgibst!«
»Dieses kleine Mädchen«, erinnerte Dhark, »hat eine ziemlich lange Zeit mit Gisol
zugebracht. Sie kennt ihn, und wir haben ja selbst schon oft genug erlebt, wie eigensinnig er
ist, wenn es um sein Schiff geht.«
»Klar«, knurrte Dan, und der kleine rote Fleck auf seinem Kinn erschien wieder einmal und zeigte, wie sehr er sich erregte. »Der Raumschiffdieb hat Angst, daß ihm selbst sein Schiff geklaut wird.« »Ich denke eher, daß er verhindern will, daß andere etwas von den technischen Raffinessen mitbekommt, die er wahrscheinlich 16 an Bord hat und die er als Trumpf im Ärmel behalten will. Wir würden es doch nicht anders machen.« »Kein Grund, den Launen dieses Mädchens nachzugeben«, kritisierte Dan. »Wir haben jetzt die Möglichkeit, ihn zu zwingen...« »Dan!« protestierte der Commander scharf. »Wir sind Terraner, keine Erpresser!« »Wenn du das als Erpressung siehst, hm... nur möchte ich dich daran erinnern, daß es auch unter Terranern Erpresser gab und gibt, und zwar in Hülle und Fülle!« »Aber nicht an Bord der POINT OF!« »Verdammt, Ren, es ist eine kritische Situation! Gisol fällt praktisch aus, und wir bekommen hier in der POINT OF von dem Drama an Bord der EPOY erst etwas mit, als die Kleine uns anfunkt! Gibt dir das nicht zu denken? Du wirst da drüben Hilfe brauchen!« »Ich fliege hinüber, du hältst dich hier in Bereitschaft, damit deine Seele Ruhe hat und ich notfalls Rückendeckung bekomme, und Sie, Leon, haben während meiner Abwesenheit das Kommando.« »Aye«, brummte Leon Bebir nur. Riker sah seinen Freund an. »Willst du noch etwas dazu sagen?« fragte Dhark knapp. In seinen braunen Augen funkelte es. Riker schüttelte den Kopf. Erst als der Commander die Zentrale verlassen hatte, sagte er leise: »Im Alter wird der Knabe doch recht wunderlich.« /Bebir, der Zweite Offizier und derzeitige Kommandant der POINT OF, grinste schwach. Im Alter? Der Commander war gerade erst 30 geworden... »Vielleicht liegt's daran, daß er neuerdings Vater ist. Da wird man sensibler im Umgang mit Kindern.« Riker ließ sich wieder in seinem Kontursessel nieder. »Was brabbeln Sie denn da schon wieder, Mann?« »Ich kann ihn verstehen«, sagte Bebir, »seit meine Freundin und ^h ein Kind haben. Drei Jahre ist es inzwischen alt und so verdämmt süß, daß man dem verflixten Bengel keinen Wunsch abschlagen kann...« »He, davon weiß ich ja noch gar nichts!« stieß Riker verblüfft hervor. »Sie sind Vater? Sie haben«, er grinste breit, »also endlich mal was zustandegebracht, das Hand und Fuß hat?« »Sogar zwei Hände und zwei Füße«, grinste Bebir, »weil doppelt besser hält, und mit halben Sachen gibt sich ein Mitglied der POINT OF-Besatzung doch erst gar nicht ab, oder wie sehen Sie das?« »Warum heiraten Sie Ihre Freundin nicht?« »Ich will ja, schon allein, damit der Junge und sie versorgt sind, falls ich bei einem unserer Einsätze drauf gehe.« Das Grinsen war längst erloschen, und er klang etwas bitter. »Aber sie will nicht. >Wer nicht ständig zu Hause erreichbar ist, den muß ich nicht heiraten<, sagt sie. Verdammt, auf der einen Seite ist da der Junge, auf der anderen Seite die POINT OF. Was würden Sie aufgeben, Riker, wenn Sie an meiner Stelle wären?« Der seufzte und dachte an seine Frau Anja, die die Orn - Expedition an Bord der POINT OF mitmachte. Das war eine Lösungsmöglichkeit. Aber sie hatten ja auch kein Kind. »Ich weiß es nicht«, sagte Dan ehrlich. »Ich weiß es wirklich nicht.« Mit Flash 002 flog Ren Dhark in die EPOY ein. Er landete in einem der Flashdepots und eilte in die Zentrale. Juanita kauerte im Kommandosessel, eine ihrer Hände befand sich in
unmittelbarer Nähe eines Steuerschalters, den Ren Dhark von der POINT OF nicht kannte.
Aber das überraschte ihn nicht; viele Dinge in der EPOY unterschieden sich erheblich von
denen in der POINT OF, wie er früher schon festgestellt hatte.
Dhark wandte sich Gisol zu. Der Worgun hatte offenbar große
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Schmerzen und war nicht ansprechbar, aber auch nicht völlig bewußtlos. Dhark untersuchte
ihn, soweit es ihm ohne medizinische Kenntnisse möglich war.
»Was ist nun?« fragte Juanita drängelnd. »Können Sie ihm helfen, Mister Dhark?«
Der Commander ließ sich von ihr nicht irritieren.
»Allein kann ich es nicht«, sagte er. »Wenn du mir gestattet hättest, einige meiner Leute...«
Juanita zog eine säuerliche Grimasse. »Ich habe doch gesagt, daß ich das nicht zulassen kann,
weil Jim das nicht will!«
Dhark seufzte. Er fragte sich, ob Gisol in seinem derzeitigen Zustand überhaupt noch in der
Lage war, irgendwelche Entscheidungen zu treffen. Aber irgendwie brachte er es nicht fertig,
gegen den Willen dieses Mädchens zu handeln. In den Slums von Rio hatte Juanita gelernt,
sich durchzusetzen. Sie hatte es lernen müssen, um überleben zu können. Und jetzt setzte sie
dieses Durchsetzungsvermögen ein, um ihrem großen, bewunderten Freund zu helfen. Der Verstand sagte Ren Dhark, daß er sich über den Willen des Mädchens hinwegsetzen
mußte. Aber sein Gefühl sagte ihm, daß das falsch war.
»Ich kann ihm hier in der EPOY nicht helfen«, sagte er. »Ich bin kein Arzt, aber ich sehe, daß
Jim einen Arzt braucht.« Und dabei dachte er an Manu Tschobe, der sich momentan
wahrscheinlich nichts mehr wünschte, als einen Mysterious untersuchen zu können. Das wäre
sicher die absolute Krönung seiner medizinischen Laufbahn, nachdem er darin bestätigt
worden war, daß die Giants im Grunde Roboter waren - biologisch strukturierte Roboter, einst
erschaffen von den Mysterious.
»Aber so wie es aussieht, darf ich keinen Arzt hierher holen«, knüpfte Dhark an seine vorigen
Worte an. »Denn du willst ja nicht, daß Fremde die EPOY betreten.«
»Jim will das nicht«, beharrte sie »Was ich will, spielt keine Rolle.«
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Ihre Hand schwebte immer noch über dem Steuerschalter, mit dem sie die wie auch immer
geartete Sicherheitsschaltung aktivieren konnte.
»Ich kann Jim hier in der EPOY nicht helfen«, wiederholte Dhark. »Aber ich kann und muß
ihn per Transmitter in die POINT OF bringen. Nur allein schaffe ich das nicht.«
»Warum nicht?« fragte Juanita aggressiv.
»Er ist zu schwer für mich«, sagte Dhark trocken. »Ich kann ihn nicht allein bis zum
Transmitter oder bis in meinen Flash tragen. Weißt du, was Gisol wiegt?«
Natürlich hatte sie sich darüber niemals Gedanken gemacht; wozu auch? Somit erwischte
Dhark sie mit seiner Frage auf dem falschen Fuß. Ihm war das bewußt, und er fühlte sich
dabei auch gar nicht wohl. Aber irgendwie mußte er Juanita doch überreden! Und das wollte
er: sie überreden, nicht übertölpeln.
Obwohl er gerade nahe daran war. Denn er glaubte immer noch, Gisol notfalls auch von
einem Ärzteteam untersuchen lassen zu können, das an Bord der EPOY kam. Immerhin gab
es hier eine Medostation, die der der POINT OF in nichts nachstand.
»Ich möchte einen Roboter an Bord holen«, fuhr Dhark fort. »Der kann mir helfen, Jim zum
Transmitter zu bringen.«
Juanita überlegte. Schließlich erklärte sie sich einverstanden. Sie wollte ja unbedingt, daß Jim
Smith geholfen wurde, dem es sichtlich immer schlechter ging - obwohl die EPOY nicht mehr
tiefer in die Wolke vorstieß. Womit sich Rens Vermutung als falsch erwies.
»Sie dürfen einen Roboter rufen«, sagte Juanita schließlich. »Hauptsache, es ist nicht Artus.«
Dhark stutzte. »Wieso?« wollte er wissen. »Was hast du gegen Artus?«
»Leider nichts«, seufzte sie. »Zumindest nichts Wirksames - keinen Blaster, keine Handgranaten... ich traue ihm nicht, und deshalb will ich nicht, daß er hierherkommt.« »Du schätzt ihn falsch ein«, sagte Dhark. 20 »Ich will ihn nicht in der EPOY«, beharrte Juanita. Der Commander winkte ab. »Schon okay, reg dich nicht auf. Es wird ein anderer Roboter kommen.« »Versprochen?« »Jaaaaaaahhhhrrrggggg!« In der POINT OF hatte Glenn Morris es geschafft, eine offene Funkphase zwischen dem Flaggschiff der Terranischen Flotte und der EPOY herzustellen und damit einmal mehr bewiesen, daß Mysterioustechnik mit Mysterioustechnik auszutricksen war, sofern man sich einigermaßen damit auskannte. Und Morris kannte sich damit aus! So hatten die Menschen in der Zentrale der POINT OF die Gelegenheit, im Bild mitzuverfolgen, was in der Zentrale der EPOY geschah. Man amüsierte sich darüber, wie die Elfjährige den Commander kommandierte. Aber dann zeigte sich der Roboter Artus, der momentan ebenfalls in der Zentrale seinen Dienst verrichtete, tödlich beleidigt, als er aus erster Hand mitbekam, daß Juanita Gonzales ausgerechnet ihm nicht über den Weg traute. »Ruhe!« fuhr Dan Riker ihn an, als das Maschinenwesen sich darüber lautstark mokieren wollte. Artus war eine der von Wallis Industries entwickelten Maschinen, die ihres recht primitiv-martialischen Äußeren wegen als »Blechmänner« bezeichnet wurden, preiswerte Konstruktionen, die mit Hilfe mobiler Kommandorechner praktisch universell einsetzbar waren. Artus allerdings war durch ein Experiment Echri Ezbals mit Cyborg-Programmge hirnen dazu gekommen, eine echte »künstliche Intelligenz« und sogar Emotionen zu entwickeln und mittlerweile, wenn auch vorwiegend durch Ren Dharks Unterstützung, zum Staatsbürger Terras geworden. Als solcher war er jetzt Besatzungsmitglied der POINT OF. Um sich von den normalen Robotermodellen optisch besonders auffällig zu unterscheiden, pflegte er seinen kantigen 21 Metallschädel stets mit einem Stirnband zu schmücken, auf welchem ein goldenes A schimmerte. Artus wollte immer noch protestieren; offenbar hatte er die Kommandostruktur durchaus verinnerlicht und registriert, daß Ren Dhark das Kommando nicht an Riker, sondern an Leon Bebir abgegeben hatte - etwas, das allerdings in der POINT OF im Gegensatz zu allen anderen Schiffen der TF eher nebensächlich war und lediglich eine Formalität darstellte. Aber dann drehte sich Bebir in seinem Sitz halb zu dem Roboter um, streckte den Arm aus und deutete mit dem Zeigefinger demonstrativ auf Artus. Der besaß genügend Verstand, diese Geste als endgültige Anweisung zu begreifen - und schwieg. Womöglich jetzt noch beleidigter als zuvor. Sofern es überhaupt möglich war, eine Maschine zu beleidigen... Riker aktivierte eine Bordsprechfrequenz und forderte einen Roboter an, noch ehe Ren Dhark von der EPOY aus entsprechende Anweisungen geben konnte. Dann öffnete er von der Zentrale der POINT OF aus eine Transmitterverbindung, die sich nur von hier aus anwählen ließ. Die Zentrale war mit Transmittern regelrecht gespickt, wie man seit der Begegnung mit den Saltern wußte, und es stand zu erwarten, daß es in der EPOY nicht anders aussah. Schon der erste Kontaktversuch war erfolgreich. Es war lediglich eine Umkehrung der Schaltung, die Gisol damals vorgenommen hatte, als er in der Nähe des manipulierten Black Holes Ren Dhark in die EPOY geholt hatte. Über die offene Bildphase verfolgten die Menschen in der POINT OF-Zentrale, wie auf der Galerie der EPOY-Zentrale ein Ringtransmitter aus der Unitallwand hervorglitt, die bis dahin eine fugenlos glatte Fläche gewesen war. Dhark und Gonzales registrierten die Fremdaktivierung. Riker sah, daß das Mädchen recht verärgert wirkte. Ihr gefiel wohl nicht,
daß es in Gisols Raumschiff etwas gab, das fremdgesteuert werden konnte. Und es fiel ihr wohl auch auf, daß Dhark die Wahrheit zumindest ziemlich 22 weit gedehnt hatte, als er behauptet hatte, nur mit einem Flash an Bord der EPOY kommen zu können. Dan Riker konnte ihre Verärgerung sehr gut verstehen. Auch ihm hatte es nie gefallen, daß irgendwelche Steuereinheiten der Mysterious bisweilen die Kontrolle über den Ringraumer übernahmen, wenn sie ahnungslos oder forschungssüchtig gesperrte und gesicherte Planeten oder Sonnensysteme der Mysterious anflogen. Jedesmal hatte es bisher eine Menge Ärger gegeben, und Riker ahnte, daß dieser Ärger in der Galaxis Orn seine Fortsetzung finden würde - aber wahrscheinlich in einem weit gefährlicheren Maß, weil sie es hier nun nicht mehr »nur«-mit den Mysterious zu tun hatten, sondern auch mit jenem Volk, das die Mysterious besiegt und unterworfen hatte - den Zyzzkt. Und über diese wußte kaum jemand etwas. Die einzige Informationsquelle war Gisol. Aber wie zuverlässig war er? Riker stellte diese Frage erst einmal zurück - und das nicht zum ersten Mal. Bisher hatte immer sein Freund Ren alle Bedenken zwar akzeptiert, aber seiner eigenen Meinung untergeordnet. Jetzt ordnete Riker sie selbst unter. Er schickte einen Hochleistungs-Kegelroboter zur EPOY. Und wartete ab, was geschah. Ren Dhark und Juanita sahen, wie der Kegelroboter auf seinem Antigravfeld aus dem Transmitterring schwebte. Juanita zuckte deutlich zusammen. Offenbar traute sie der Maschine nicht so recht über den Weg. Vielleicht lag das daran, daß sie diese Konstruktionen bisher eher als Kampfroboter kennengelernt hatte. Dabei waren es, ähnlich wie die »Blechmänner«, Allzweckmaschinen, mit dem Vorteil, noch universeller ausrüstbar und dadurch für noch mehr Einsatzzwecke nutzbar zu sein. Die Blechkameraden wurden da teilweise durch ihre menschenähnliehe Gestalt eingeschränkt. Die Kegel allerdings waren wesentlich aufwendiger und dadurch auch teurer in der Herstellung. Einer von ihnen kostete so viel wie dreißig der humanoiden Billigroboter. Lautlos glitt die Maschine heran und erfaßte Gisol mit einem Antigravfeld, in dem sie ihn in den Transmitter bugsierte. Juanita sagte nichts, aber sie war besorgt. Und die ganze Zeit über stand sie unverrückbar am Kontrollpult und hielt die Hand über den Steuerschaltern, bereit, die Sicherheitsschaltung zu aktivieren. Der Roboter und Gisol verschwanden in der grauen Ringantenne. »Juanita, soll ich hier bei dir bleiben?« fragte Dhark, »oder soll ich dir sonst jemanden herschicken, der sich ein wenig um dich kümmert? Du siehst aus, als könntest du ein wenig...« »Nein!« unterbrach sie ihn trotzig. »Ich komme schon allein zurecht. Das mußte ich in Rio auch! Ich will nicht, daß Fremde in der EPOY herumspuken. Jim würde das auch nicht wollen!« »Ich könnte für eine Weile...« setzte er erneut an. Abermals unterbrach Juanita ihn. »Warum fliegen Sie nicht in die POINT OF zurück und sorgen dafür, daß Jim gut behandelt wird, Commander?« Beinahe hätte er nach Luft geschnappt. Sie war einmal respektvoller gewesen. »Schon gut«, sagte er. »Ich habe verstanden - ich bin hier unerwünscht. Keine Sorge, ich kümmere mich schon um Jim, auch ohne deine Aufforderung. Er ist nämlich auch mein Freund.«
Er trat neben sie an das Kommandopult. Sie beäugte ihn sehr mißtrauisch, als er eine
Schaltung vornahm. Danach glitt der Gul-Transmitter wieder in die Unitallwand zurück, die
sich unverzüglich schloß und nicht mehr verriet, was sich in ihr befand.
»Woher wissen Sie, wie man diesen Transmitter steuert?« fragte Juanita mißtrauisch.
Der Commander lächelte. ,
»Vergiß nie, daß ich selbst ein Raumschiff dieses Typs besitze und sehr viel über die Technik
der Mysterious gelernt habe«, sagte
er.
»Aber als dieser Transmitter eingeschaltet wurde, waren Sie hier«, überlegte Juanita. »Ihre
Leute kennen sich also auch damit aus. Wer garantiert Jim und mir, daß Sie nicht gleich jede
Menge von Ihren Besatzungsmitgliedern per Transmitter zu mir an Bord schicken?«
»Zwei Dinge garantieren das«, erwiderte Dhark. »Erstens die Sicherheitsschaltung, die du
kontrollierst. Zweitens mein Wort. Oder glaubst du mir nichts mehr?« .
,
Sie sah ihn nachdenklich an.
»Doch«, sagte sie dann langsam. »Ich glaube Ihnen, Mister Dhark.«
»Und du bist sicher, daß du vorerst allein hier an Bord bleiben willst, bis Jim wieder Herr
seiner Sinne ist?« hakte er nach.
»Ja. Sie sollten jetzt dafür sorgen, daß Jim wieder in Ordnung kommt«, sagte sie. Ein glatter Rauswurf, dachte Ren.
Schulterzuckend wandte er sich ab und kehrte zu den Flashdepots zurück, um sein Beiboot in
die POINT OF zurückzufliegen.
Als Jim Smith mit Hilfe des Kegelroboters in der Zentrale der POINT OF aus dem
Transmitter kam, verlor er endgültig die Kontrolle über sich. Sein Körper zerfloß innerhalb
weniger Augenblicke zu Gisols Amöbengestalt.
Fasziniert beobachteten die Terraner und Artus diesen Vorgang. Die meisten von ihnen sahen
die Verwandlung zum ersten Mal mit eigenen Augen.
Aber der Prozeß war noch nicht vollständig abgeschlossen, als der Worgun sein Bewußtsein
zurückerlangte und wieder zu Jim Smith wurde. So, wie er aus seiner Kleidung
herausgesickert war, zog er sich jetzt wieder in sie zurück.
Dan Riker erhob sich aus seinem Sitz. Er ging langsam um das
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Kommandopult mit der darüber frei in der Luft schwebenden Bildkugel herum und näherte
sich Smith und dem Kegelroboter.
Ein weiterer Offizier, der in der Zentrale Dienst tat, gesellte sich unaufgefordert zu ihm.
»Freigeben«, befahl Riker dem Roboter.
Das Antigravfeld, das den Mysterious bisher festhielt, erlosch jäh. Smith, noch in der gleichen
Position verharrend, in welcher er in der EPOY in seinem Kontursitz zusammengekrümmt
und nicht ansprechbar gekauert hatte, wäre gestürzt, wenn Riker und der Offizier ihn nicht
sofort gepackt und festgehalten hätten. Riker nickte dem Mann anerkennend zu; ohne dessen
Unterstützung hätte er selbst es kaum geschafft, den 100 Kilo schweren Mysterious
festzuhalten.
Gemeinsam stellten sie ihn richtig auf die Beine.
Smith sah sich etwas verwirrt um, fand sich aber schnell wieder zurecht. »Danke«, sagte er
leise. »Ihr könnt mich jetzt loslassen.«
Er stand sicher.
»Was war los?« wollte Dan wissen.
»Ich weiß es nicht«, sagte Smith. »Ich spürte plötzlich furchtbare Schmerzen, die immer
stärker wurden und mich lähmten. Wieso spüre ich sie hier in der POINT OF nicht?«
»Gute Frage«, knurrte Riker. »Nächste Frage!«
»Bitte? Ich verstehe nicht...«
Riker winkte ab. Warum sollte er Smith diese Scherzfloskel erklären? Das würde vermutlich
schon bald Artus tun, der ja gern mit seinem gespeicherten Wissen um sich warf und dabei oft
genug von einem Fettnäpfchen ins andere tappte - nur was ins Fettnäpfchen treten bedeutete,
hatte er wohl noch nicht herausgefunden. Riker fragte sich nicht zum ersten Mal, warum sein
Freund Ren diesem eitlen und vorlauten Roboter die Chance gewährte, »menschliches«
Besatzungsmitglied der POINT OF zu sein. Da gab es eine Menge Leute, die seiner
persönlichen Meinung nach weit besser qualifiziert waren und auf der Warteliste standen,
aber nicht zum Zuge kamen, weil weniger Besatzungsangehörige die POINT
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OF irgendwann aus persönlichen Gründen verließen als nachrük-ken wollten. Riker war der
Ansicht, daß man eher Chris Shantons Robothund Jimmy einen terranischen Paß und einen
Job im Flaggschiff der TF hätte verschaffen sollen als dieser Maschine, die der kuriosen
Ansicht war, durch eine offensichtliche Programmfehlschaltung Menschenrechte
beanspruchen zu müssen. Jimmy wußte wenigstens, daß er nichts anderes als ein Roboter war,
und agierte und reagierte entsprechend...
Aber Ren mußte wissen, was er tat.
»Sie sollten sich in der Medostation untersuchen lassen«, riet Riker. »Ich möchte sicher sein,
daß mit Ihnen alles wieder in Ordnung ist.«
Smith nickte. »Sie haben recht, Dan«, sagte er und setzte sich in Bewegung. Er ging völlig
sicher. Plötzlich merkte er, daß Riker und die anderen ihn anstarrten, und wandte sich um.
»Ich spüre wirklich nichts mehr«, sagte er. »Es ist alles in Ordnung. Ich habe keine
Probleme.«
»Hoffen wir's«, brummte Dan. Er winkte dem Offizier, der ihm eben hilfreich zur Seite
gestanden hatte. »Begleiten Sie Mister Smith zur Medostation.«
Der Mann trat sofort an Gisols Seite. Aber der winkte ab. »Ich kenne den Weg«, sagte er.
»Wenn die POINT OF so konstruiert ist wie alle unsere Schiffe, werde ich mich wohl kaum
verlaufen können.«
»Der Mann soll Ihnen notfalls helfen, nicht Sie bevormunden«, sagte Riker.
In diesem Moment betrat Ren Dhark die Zentrale. Er hatte sich nach dem Abflug aus der
EPOY beeilt und wirkte für ein paar Sekunden etwas kurzatmig, dann bekam er sich wieder
unter Kontrolle.
»Es geht dir wieder gut, Gisol?« fragte er. »Bestens«, sagte der Mysterious. »Ich danke dir für
deine schnelle Hilfe, mein Freund.« »Das hast du also alles mitbekommen?«
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»Sicher«, erwiderte er. »Und jetzt möchte ich wissen, weshalb ich in meinem Raumschiff
praktisch ausgeschaltet wurde und hier in deinem Raumer nichts von alledem spüre!«
»Da bist du nicht der einzige«, murmelte Ren Dhark.
Manu Tschobe schüttelte den Kopf. Fragend sah er seine Kollegen Maitskill, Hanf stick und
Anonga an, nur konnten die zur Lösung des Rätsels auch nichts beitragen. Gemeinsam hatten
sie Gi-sol einer Generaluntersuchung unterzogen, der er zugestimmt hatte. Ren Dhark, der
den Mysterious in die Medostation der POINT OF begleitet hatte, war davon durchaus
überrascht.
»Wie es zu erwarten war, gab es keine Daten über die Mysterious in den Medoarchiven«,
sagte Tschobe. Der Schwarzafrikaner, der sich mit seiner Eigenheit, anderen beim Sprechen
nicht in die Augen sehen zu können, selten Pluspunkte einhandelte, zuckte mit den Schultern.
»So, wie die Geheimnisvollen bei ihrem Verschwinden vor tausend Jahren alles Persönliche,
was Rückschlüsse auf sie selbst zugelassen hätte, mitnahmen, sind auch die entsprechenden
Daten hier gelöscht worden - oder sie wurden erst gar nicht eingespeist. Wir haben zwar
damals eine Menge Daten auf Tarrol übernommen und später auch auf Terra hinzugefügt,
aber dann mußten wir ja feststellen, daß die Salter, um deren Daten es sich handelte, eben nicht die Mysterious waren.« »Sondern ein sehr gutes und hochqualifiziertes Volk von Helfern«, sagte Smith. »Ich frage mich wirklich, weshalb sie sich für uns Worgun ausgaben.« »Sie waren die letzten ihres Volkes, und sie wollten noch einmal den Planeten sehen, von dem ihre Vorfahren abstammten«, sagte Dhark. »Dazu war ihnen jedes Mittel recht. Und was konnte ihnen besseres passieren, als diesen Traum von uns erfüllt zu bekommen? Gisol, warum hat dein Volk damals nie zugelassen, daß die Salter ihre Ursprungs weit, von der ihr sie entführt... rekrutiert 28 habt, jemals wieder betreten durften?« »Ich weiß es nicht«, sagte der Mysterious. Dhark war nicht sicher, ob Gisol in diesem Fall die Wahrheit sagte. Da schwang etwas in seiner Stimme mit, das der Commander nicht zu deuten wußte. Manu Tschobe, Funkspezialist und Arzt mit der größten Erfahrung, was fremde Lebensformen anging, fuhr unterdessen fort: »Also mußten wir die Biodaten von Jim Smith als Standard festlegen, aber dadurch wissen wir immer noch nicht, weshalb jener Effekt, der einen Worgun lähmt und gleichzeitig seine Gestaltveränderung verhindert, an Bord der POINT OF nicht wirkt. Smith zeigt hier nicht die geringste Beeinträchtigung, weder physisch noch psychisch. Und drüben in der EPOY hatte er die größten Probleme.« Was ist so anders an diesem Schiff? fragte sich der Commander. Das wollte auch Gisol wissen. »Beide Raumer entstammen unserer Technologie. Beide sind aus Unitall. Beide fliegen unter Intervallschutz. Wieso ist die EPOY betroffen und die POINT OF nicht? Was unterscheidet unsere beiden Raumer, Ren?« »Wir werden es herausfinden«, versprach der Commander, Die diversen Abteilungen - Funk-Z, Ortung, Astro - stellten auf Dharks Anweisung hin Messungen an. »Arbeiten Sie mit allem, was wir an Technik aufzubieten haben«, verlangte er. Währenddessen sprach Smith per Funk mit Juanita und versicherte ihr, daß es ihm wieder gutging. Sie ließ sich dadurch beruhigen, wollte aber wissen, wann er denn wieder in die EPOY zurückkäme. »Schwer zu sagen«, gestand er. »Das Problem besteht darin, daß wir immer noch nicht wissen, was für meinen Zustand verantwortlich war. Und solange wir keine Schutzmaßnahme dagegen entwickeln können, bin ich in der POINT OF sicherer.« 29 Juanita verstand das, aber sie fühlte sich ohne ihren großen Freund einsam in dem Ringraumer. Daran ließ sich zunächst aber nichts ändern. Der Alternative, Terraner an Bord zu lassen, die ihr Gesellschaft leisten konnten, stimmte Gisol nicht zu, und die EPOY vorübergehend verlassen und an Bord der POINT OF kommen wollte wiederum Juanita nicht. »Dann steht das Schiff doch leer, und niemand kann reagieren, wenn etwas passiert«, hielt sie Dhark und Smith vor. Das war zumindest nicht ganz falsch. Gisol hatte die EPOY nicht mehr via Gedankensteuerung entsprechend sichern können, weil er in seinem Zustand dazu einfach nicht in der Lage gewesen war. Und Juanita konnte das erst recht nicht. Die Steuerung war auf den Worgun eingestellt und auf niemanden sonst. Das ist zumindest etwas, das unsere beiden Raumer voneinander unterscheidet, dachte Dhark. In der POINT OF ließ sich die Gedankensteuerung zumindest im Bereich der Schiffsführung und der Sicherheit von niemandem »ansprechen«, der nicht zur Führungsebene gehörte, und konzentrierte sich da vorwiegend auf den Kommandanten. Aber es gab auch keine Möglichkeit, zu verhindern, daß zum Beispiel jemand anderer als Ren Dhark das Schiff
führte; zumindest war nichts anderes bekannt und erforscht. In der -EPOY gehörte das aber wohl zum Standard. Die Gedankensteuerung gehorchte nur Gisol. Es lagen eben fast tausend Jahre Bauzeit zwischen beiden Raumern. Aber welche der beiden Grundeinstellungen die bessere war, wollte Dhark jetzt noch nicht bewerten. Gisol aber wagte nicht, an Bord seines Schiffes zurückzukehren, solange nicht geklärt war, weshalb er dort einen Zusammenbruch erlitten hatte, sich aber in der POINT OF völlig normal bewegen konnte. Während die beiden äußerlich identischen Raumer - wenn man einmal von dem goldenen Schriftzug »Point of Interrogation« absah, der an mehreren Stellen an der blauvioletten Unitallhülle des Flaggschiffs angebracht worden war und schon nach dem ersten 30 Flug die Kreideschrift abgelöst hatte, mit der Flashpilot Pjetr Wonzeff den Raumer bei seiner Entdeckung im Höhlensystem von Deluge auf Hope getauft hatte - mit Nullfahrt im Raum trieben, tasteten die überlichtschnellen Ortungen diesen Raum ab. Einmal mehr sicherten die Astronomen und Astrophysiker eine unglaubliche Fülle von Daten und waren wie stets beleidigt, daß ihnen nicht genügend Rechnerzeit am Checkmaster zugestanden wurde, um all diese Daten auswerten zu können. Die teilweise erstaunlichen und ungewöhnlichen astronomischen und physikalischen Vorgänge in der Gas wölke waren faszinierend. Aber der Kommandant legte Wert auf andere Erkenntnisse! Nach etlichen Stunden des Datensammelns errechnete der Checkmaster aus den verschiedenen Werten, daß es offenbar mehrere Quellen einer geheimnisvollen Strahlung in dieser kosmischen Gas wölke gab, die Worgun unter Schmerzen lähmte, die Unitallhülle der POINT OF aber nicht durchdringen konnte. Immerhin konnten die Koordinaten dieser Quellen festgestellt werden. »Die sollten wir uns doch mal näher ansehen«, schlug Dan Riker vor. Gisol hieb sofort in die gleiche Kerbe. »Hinfliegen, ausschalten!« forderte er. Dhark schüttelte den Kopf. »Hinfliegen, ja - aber erst einmal nachschauen und analysieren!« »Das sagst du, obwohl du nach eigenem Bekunden so viel Ärger mit Hinterlassenschaften der Technik meines Volkes hattest?« wunderte sich Gisol. »Das war in meiner Galaxis«, sagte Dhark. »Das hier ist deine. Da liegen die Verhältnisse etwas anders.« »Ich verstehe dich einfach nicht«, gestand der Mysterious. »Und ich bin froh, daß du nicht grundsätzlich typisch für dein Volk bist, noch froher aber bin ich, daß du nicht typisch für meines bist.« »Soll ich das jetzt als Kompliment oder Beleidigung sehen?« fragte Dhark lächelnd. 31 Der Mysterious schwieg. »Bebir, nehmen Sie...«,begann Dhark. Er kam nicht weiter. Denn in diesem Moment schlug der unbekannte Gegner zu! Henk de Groot erhöhte die Geschwindigkeit des Schwebers, der mit einer auffälligen Lackierung versehen war, und stieg rund zweihundert Meter höher. Er griff nach der Sonnenbrille und setzte sie auf. Das Gefährt flog selbstverständlich mit Autopilot, aber Henk konnte jederzeit manuell eingreifen, falls es notwendig werden sollte. Er blickte durch die Seitenverglasung hinaus auf die vorbeiziehende Szenerie. Auf Babylon war es später Nachmittag. Die tiefstehende Sonne überschüttete die Parklandschaften und Stadtanlagen der Mysterious mit einer verschwenderischen Fülle goldenen Lichtes und verursachte scharf abgegrenzte Schlagschatten.
Den größten Schatten warf allerdings die gigantische, mehr als acht Kilometer in den Himmel ragende goldene Statue eines Hu-manoiden ohne Gesichtszüge. Das Wahrzeichen Babylons. Und - nach de Groots Meinung - die geheimnisvollste Hinterlassenschaft der Mysterious. Trotz ihrer unglaublichen Dimension wirkte die Statue weder klobig noch roh oder gar unvollendet. Nur das Gesicht zeigte kein einziges Detail, obwohl das Monument ansonsten exakt ausgearbeitet war. Glatt und konturlos, mit angedeuteten Vertiefungen dort, wo die Augen sein sollten, machte es den Eindruck, als sei versucht worden, ihm Ausdruck oder Persönlichkeit zu geben, die Arbeit daran aber plötzlich eingestellt worden, aus welchen Gründen auch immer. Standbilder wie dieses hatte man auf verschiedenen Stützpunktwelten der Mysterious gefunden. Auf Bog beispielsweise, aber auch auf Mirac und Soradan. Aber keines davon war so imposant wie das auf Babylon. Goldene Menschen nannten die Terraner sie, weil sie in ihren Proportionen den Menschen ähnelten. Viel war darüber spekuliert worden, was sie darstellten; eine schlüssige Antwort war noch 32 33 immer nicht gefunden. Nur eines stand fest: die unglaubliche Wirkung, die die Statue auf die Menschen ausübte. Auch auf Henk de Groot. Gerade auf ihn, war er doch von dem Gedanken beseelt, dem Goldenen seine Geheimnisse zu entlocken. Der Schweber passierte die gewaltige Statue auf der westlichen Seite des kreisrunden, mehr als 50 Kilometer durchmessenden Areals aus strahlendblauem Unitall, in dessen Mitte sie sich auf ihrem 1062 Meter hohen Sockel in den Himmel reckte. Sie hatte den Kopf mit dem unmodellierten Gesicht in den Nacken gelegt, schien mit emporgereckten Armen zu den fernen Sternen hinaufzublicken, als halte sie nach irgend etwas oder irgendwem Ausschau. Stumm und reglos. Stumm? Ja. Aber reglos? Nein! Zumindest nicht immer. Henk hatte den Goldenen Menschen bereits einmal in Aktion erlebt. Vor nicht allzu langer Zeit, als das Schattenschiff der Grakos Babylon mit katastrophalen Folgen für die junge Kolonie der Ter-raner angegriffen hatte.* Dabei hatte es sich gezeigt, daß die Statue nicht nur ein Mammut-Hypersender war, sondern gleichermaßen eine mächtige Waffe. Sie war imstande, sich sowie die Steuerungsanlagen in den Untergeschossen des Sockels in undurchdringliche Schutzschirme zu hüllen. Sie war außerdem in der Lage, sich um ihre Achse zu drehen. Obwohl sie ihren Platz nicht verlassen konnte, war es ihr möglich, die Haltung von Körper und Gliedmaßen zu verändern und aus ihren Händen die unterschiedlichsten Waffenstrahlen abzufeuern. Und dabei schienen ihre tatsächlichen Fähigkeiten viel, viel umfangreicher zu sein. Wie schon so oft fragte sich der Systemingenieur, welche Rätsel noch der Lösung harrten? Irgendwie hatte er das Gefühl, in seinen Bemühungen über Sinn und Zweck der Goldenen Menschen noch nicht einmal die Oberfläche vorhandener Möglichkeiten angeritzt zu haben... Die gigantische Statue blieb zurück. Vor Henk, noch mehr als zwanzig Kilometer entfernt und in direkter Flugrichtung auf die schrägstehende Nachmittagssonne, erhoben sich steil aufragende, von ihren Erbauern verlassene Wohnanlagen am Rande des Areals. Gewaltige Ringpyramiden, die sich nach oben stark verjüngten und breite Terrassen besaßen, teilweise mehr als 2000 Meter hoch, mit
Basisflächen von drei bis vier Kilometern. Die abgeflachten Spitzen eigneten sich in idealer Weise als Start- und Landeplätze für jede Art von Schwebern und Jetts. Sogar kleinere Raumschiffe konnten die Dachplattformen als Parkmöglichkeit nutzen. Jedes dieser Bauwerke war in der Lage, über eine Million Bewohner zu beherbergen. Im Grunde bestand Babylon aus einer einzigen, planetenumspannenden Metropole, die sich, von steil aufragenden Gebirgszügen, den unwirtlichen Gegenden und den flachen Binnenmeeren abgesehen, über die gesamte Welt ausbreitete. Eine Stadtanlage grenzte an die andere, häufig getrennt durch weitläufige Parks oder einfach durch große Plätze, dann wieder ohne klare Abgrenzung ineinander übergehend. Aber Babylon war eine Geisterwelt, von ihren Erbauern verlassen und aufgegeben seit rund tausend Jahren. Seit jenem Zeitpunkt nämlich, als eine Warnung durch die Milchstraße gehallt war und die Bewohner veranlaßt hatte, überstürzt ihr Heil in der Flucht zu suchen. Ron wedda wi terra! Ein Alarmruf von eminenter Tragweite. Eine Warnung vor einer furchtbaren Gefahr, der die Mysterious trotz ihrer offensichtlichen Überlegenheit über die Völker der Milchstraße hilflos gegenübergestanden haben mußten. In Erwar35 tung eines offensichtlich gnadenlosen Feindes hatten sie keinen anderen Ausweg, keine andere Möglichkeit gesehen, als sich aus der Milchstraße zurückzuziehen, sich so gründlich zu verstecken, daß kaum noch jemand an ihre Existenz glaubte. Zurück ließen sie in der Milchstraße nur die Erzeugnisse ihrer überragenden Technik sowie die leeren Gebäude der Wohnwelten, von denen Babylon nur eine war. In der Sprache der Mysterious hieß der Planet Fände. Seinen irdischen Namen hatte er wegen der ungezählten riesigen Ringpyramiden bekommen, die Ren Dhark und seine Gefährten sofort nach dem ersten Kontakt mit den Gegebenheiten des Planeten an den legendenumwobenen Turmbau zu Babel erinnert hatten. Es waren Städte voll brachliegendem, nahezu unerschöpflichem Wohnraum, in denen theoretisch die gesamte Menschheit Platz finden konnte. Was lag da näher, als Babylon unmittelbar nach seiner Entdeckung im November 2057 zur Besiedelung freizugeben, trotz der gigantischen Entfernung zum Sol-System! Jetzt, im April 2059, lebten und arbeiteten bereits an die 38 Millionen Menschen in den riesigen Pyramidenstädten. Und der Zustrom der Einwanderer hielt an. Henk de Groot betrachtete das Panorama, das die Rundumverglasung des Schwebers bot, war aber mit seinen Gedanken hauptsächlich bei dem bevorstehenden Treffen mit Präsident Appeldoorn. Vor ihm, in einiger Entfernung vom Goldenen, tauchte nach mehreren Streifen kaum durch künstliche Eingriffe veränderter, beinahe naturbelassener Parklandschaften ein weiterer Komplex der terrassenförmigen Ringpyramiden auf. Im Anflug auf die Ringpyramide, in der sich sowohl die planetarische Administration mit dem Präsidentensitz als auch die Militärkommandantur befanden, konzentrierte er sich auf das anstehende Gespräch. Es würde kein gemütlicher Plausch werden, dazu waren die Probleme zu groß, aber Henk war bereit, auch mit den unangenehmen Dingen nicht hinterm Berg zu halten. Und davon 36 gab es seit dem verheerenden Hyperraumblitz unzählige. Der Angriff des Schattenraumers hatte die Probleme der jungen Kolonie zusätzlich noch anwachsen lassen. Der Präsident würde von dem, was Henk ihm an Wahrheiten zu unterbreiten gedachte, bestimmt nicht angetan sein. Zumindest nicht sofort. Es hing vermutlich alles davon ab, wie verständlich er, Henk, ihm die Situation darlegen konnte. Er war kein großer Redner vor dem
Herrn. Als ausgesprochener Pragmatiker hatte er Probleme, seine Überzeugungen in die Sprache zu kleiden, die bei Politikern Usus war. Das war einer der Gründe für seine Unruhe. Einer von vielen Gründen. Der Mann, der nach dem Willen der knapp vierzig Millionen Menschen dazu ausersehen war, als treibende Kraft die Geschicke der terranischen Kolonie zu leiten, saß zur selben Zeit hinter der großen Multiprojektionsplatte seines Arbeitstisches und studierte scheinbar beiläufig die langsam abrollenden Texte auf der holographischen Anzeige. Hin und wieder schlugen seine kräftigen Finger kleine, abgehackte Trommelwirbel auf die spiegelnde Fläche, deren suprasensorische Schnittstellen größtenteils deaktiviert waren. Obwohl er nicht größer oder schwerer war als der Durchschnitt, schien Daniel Appeldoorn jeden Raum zu beherrschen, den er betrat oder in dem er sich aufhielt. Das neue Oberhaupt der exekutive auf Babylon war ein energischer Mann, über einen Meter achtzig groß und nahezu hundert Kilo schwer. In den Augen der Öffentlichkeit wirkte er nicht gerade charmant oder besonders aufregend oder gar charismatisch. Er erweckte mehr den Eindruck von Rechtschaffenheit und Biederkeit. Obgleich dieser Eindruck überhaupt nicht zutraf, forcierte er dieses Bild von sich voller Absicht. Er war Verfechter der Theorie, daß es immer besser war, wenn einen die Gegner und von denen gab es nicht wenige 37 eher unter- als überschätzten. Die Vorteile dieser Politik überwogen bei weitem die Nachteile. Und so war es auch nicht weiter aufgefallen, daß er sich gleich nach seinem Amtsantritt mit den begabtesten Männern und Frauen für seinen persönlichen Stab umgeben hatte. Der Raum, in dem sich der Präsident aufhielt, war mit jener Nüchternheit eingerichtet, die die meisten Anlagen der Mysterious auf Babylon kennzeichnete. Wer ihn so sah, mochte Daniel Appeldoorn als unbeteiligt einschätzen, dabei war es aber gerade diese Haltung, die seine ganze Konzentration verriet. Doch das wußte nur sein engerer Stab. In der Holographie bildeten sich ständig neue Zeilen: Informationen über den augenblicklichen Zustand der technischen Anlagen auf Babylon, soweit sie von den Menschen in Besitz genommen worden waren. Dabei handelte es sich, wie alles, was ihn an Zahlen erreichte, um schon gefilterte und von einem Stab von technisch versierten Mitarbeitern entsprechend aufbereitete Berichte. Je länger er las, um so tiefer wurde die Falte über der fleischigen Nase, die zusammen mit dem rotwangigen Gesicht, den dichten silberweißen Brauen und dem überraschenderweise völlig kahlen Schädel den Eindruck von Bauernschläue und starker Willenskraft noch verstärkte, derer sich der Präsident rühmte. »Nichts als Hiobsbotschaften im Augenblick! Womit habe ich das verdient?« murmelte er und wurde sich im gleichen Augenblick bewußt, daß Babylon nur knapp der totalen Vernichtung entgangen war, als das Schattenschiff der Grakos ohne Vorwarnung über dem Planeten erschienen war und seine Angriffe auf die menschliche Kolonie begonnen hatte. Wäre da nicht der heldenhafte Mut der Verteidiger unter Oberst Petains Führung und jenes Mannes namens Henk de Groot gewesen, stünde es vermutlich noch viel schlechter um die junge Kolonie. Er seufzte unwillkürlich. Ein für ihn ungewohnter Laut. Aber es war niemand anwesend, der sich darüber hätte wundern 38 können, daß dieser Fels von einem Mann offensichtlich von Sorgen geplagt schien. Daniel Appeldoorn war allein. Er hatte sogar seinen allgegenwärtigen Sekretär hinausgeschickt, trotz dessen leicht entrüsteter Miene. Allerdings hatte er die Tür zu den Vorzimmern offengelassen, um so den Eindruck zu vermitteln, für jedermann erreichbar zu sein, der das Bollwerk Lüttwitz erfolgreich zu überrennen imstande wäre.
Völliges Alleinsein war für den Babylon-Präsidenten eine Ausnahme. Noch seltener fand er absolute Ruhe, um sich mit einem Problem auseinanderzusetzen. Und wenn doch einmal ausnahmsweise Stille herrschte, dauerte es nicht lange, bis sich die nächste Störung einfand. Wie jetzt. Das Vipho summte aufdringlich. Appeldoorn runzelte die Stirn; eine senkrechte Falte erschien über seiner Nasenwurzel. »Ja?« Eine der vielen Kommunikationstechnikerinnen seines Stabes blickte ihn vom Schirm her an. »Sir, Doktor Schimitsu möchte Sie sprechen.« Arthur Schimitsu war indirekt für das Kolonisationsprogramm auf Babylon verantwortlich. Von Hause aus Verwaltungsfachmann mit einem akademischen Grad, stellte er seit der Landung des 400-Meter-Kugelraumers SKARLAND sein ganzes Wissen und seine Mitarbeiter dafür zur Verfügung, den Kolonistenstrom zu kanalisieren und in die richtigen Bahnen zu lenken. Seine vordringlichste Aufgabe lag in der Versorgung der ankommenden Siedler mit Grundnahrungsmitteln. Außerdem kümmerte sich sein Amt um die Bereitstellung von Energieversorgungssystemen und den Aufbau einer funktionierenden Infrastruktur für die Unterkünfte. »Stellen Sie ihn durch!« 39 Die Technikerin verschwand vom Bildschirm. Der zeigte nun das Gesicht eines Mannes, der nicht verleugnen konnte, daß seine Vorfahren aus dem Land der aufgehenden Sonne stammten. Schimitsu war ein starker Mann; er hatte einen breiten Brustkorb und kraftvolle Arme. Die Konturen seines Gesichts und seines ausladenden Kinns wirkten hart und schienen aus Stein gemeißelt. Um den Mund hatte er einen strengen Zug, der ihn abweisender erscheinen ließ, als er in Wirklichkeit war. Wenn man nicht zu genau hinsah, wirkte sein Gesicht ruhig, aber Appeldoorn bemerkte die Spannung, die etwas von den Empfindungen verriet, die den Immigrationskoordinator Umtrieben. Ohne Umschweife kam er zur Sache. »Ich glaube, wir haben ein Problem, Daniel.« Wenn sie ohne Zeugen waren, nannten sich die beiden Männer beim Vornamen. Appeldoorn schaute ihn stirnrunzelnd an. »Ein weiteres? Haben Sie schon einmal gezählt, Arthur, wie viele schlechte Nachrichten Sie mir in den vergangenen vierzehn Tagen bereits unterbreitet haben?« Schimitsu wirkte überrascht. »Mache ich den Eindruck eines Unglücksboten auf Sie, Daniel?« Er fuhr sich mit der Hand über das pechschwarze Haar, das bereits einige graue Strähnen aufwies. »Wenn ja, sollte ich wohl langsam in Erwägung ziehen, Seppuku zu begehen.« »Unterstehen Sie sich«, erwiderte Präsident Appeldoorn mit schiefem Grinsen und spreizte die Hände in einer abwehrenden Geste. »Die Zeiten des rituellen Selbstmordes sind glücklicherweise vorbei, außerdem kann ich nicht auf Sie verzichten. Aber worum geht es?« »Um die ZYKLOP.« »Was ist mit ihr? Ist sie etwa nicht angekommen?« »Natürlich ist sie angekommen. Aber dennoch...« »Berichten Sie!« Schimitsu sprach fünf Minuten lang eindringlich und ohne Floskeln. Der Strom der Auswanderer aus dem Sol-System nach Baby40 Ion riß nicht ab. Immer wieder trafen Schiffe mit Kolonisten ein. Erst vor vierundzwanzig Stunden war die ZYKLOP gelandet und hatte weitere 8000 Immigranten nach Babylon gebracht, die untergebracht und versorgt werden mußten. An Bord hätten sich außerdem eine
Anzahl dringend benötigter Fusionsreaktoren befinden sollen. Diese waren nicht mitgekommen, wie Schimitsu bitter anmerkte. »Wie soll ich meine Arbeit weiter tun«, sagte er abschließend, und es klang wie eine Anklage, »wenn uns die Grundvoraussetzungen zur Energieversorgung vorenthalten werden?« Der Präsident nickt ernst. Ein weiteres Problem. Und eines, das wie kein anderes über das Wohl und Wehe der Kolonie entschied, über Aufschwung oder Niedergang. Und alles hatte so vielversprechend begonnen. Als die SKARLAND auf Babylon eintraf, schien die Zukunft der ter-ranischen Kolonie gesichert, die vorhandene Mysterious- beziehungsweise Gianttechnik beherrschbar. Energiemangel schien ein Fremdwort zu sein. Doch dann hatte der Hyperraumblitz aus dem Zentrum der Milchstraße im Spätherbst des Jahres 2057 sämtliche Mysterioustechnik, die nicht zufällig von einem Intervallfeld geschützt war, außer Kraft gesetzt und Babylon innerhalb eines Augenblicks in den Zustand einer vorindustriellen Zivilisation versetzt, Naja, nicht ganz, aber fast. Seither versuchte Babylon zu überleben. Aber ohne die Hilfe von der Erde würde es ein mühseliger, ein steiniger Weg sein. Unglücklicherweise hatte Terra mit ähnlichen, nur ungleich größeren Schwierigkeiten zu kämpfen. Die angespannte Haushaltslage ließ es kaum zu, umfassend und in ausreichendem Maß Hilfsgüter aller Art nach Babylon oder den anderen Kolonien zu schaffen, weshalb im Augenblick auch so gut wie nichts aus dem Sol-System eintraf, außer Kolonisten - was die Lage Babylons nicht gerade verbessern half. Babylon war auf sich allein gestellt. 41 Das stand außer Frage. »Ich kümmere mich darum«, versprach Daniel Appeldoorn. »Vielleicht gelingt es mir, als Staatsoberhaupt von Babylon den Commander der Planeten oder jemand anderen aus dem Regierungslager von der Notwendigkeit zu überzeugen, daß Terras Vorzeigeprojekt in Sachen Kolonisation umfangreicher Hilfe bedarf, soll es nicht zu einem Desaster werden. Sobald ein brauchbares Ergebnis zustandekommt, hören Sie wieder von mir, Arthur. Versprochen.« Das Hologramm Schimitsus deaktivierte sich. Appeldoorn stand auf und begann, nachdenklich in dem weitläufigen, quadratischen Raum hin und her zu wandern. Schließlich blieb er an einem der in die Außenwände eingelassenen Fenster stehen, dessen leichte Neigung und Trapezform deutliche Rückschlüsse auf die Architektur des Bauwerks zuließ. Vor und unter ihm lag der Teil von Babylon, auf dem die menschliche Kolonie Fuß gefaßt hatte. Von seinem Standort aus konnte der Präsident deutlich die kühne Gesamtkonzeption der Megalopole der Mysterious erkennen. Für gewöhnlich ließ sich der Präsident in den wenigen Augenblicken der Muße von diesem Anblick fesseln - doch heute konnte er sich nicht darauf konzentrieren. Die Last der Verantwortung lag schwer auf seinen Schultern, drohte ihn zeitweilig fast zu erdrücken. Die Last, auch zu unpopulären, mitunter nicht gleich von jedermann zu begreifenden Maßnahmen zu stehen und sie mit der nötigen Dynamik, vor allem aber mit dem entsprechenden Durchsetzungsvermögen voranzutreiben - auch gegen den Widerstand unterschiedlichster Gruppierungen innerhalb der Bevölkerung Babylons.;> Schon die Lösung ganz alltäglicher, banaler Probleme wuchs sich mitunter zu einer gigantischen Arbeit aus, die eigentlich nur von Titanen bewältigt werden konnte. Oder von unzähligen Männern und Frauen mit organisatorischen, improvisatorischen Fähigkeiten und entsprechenden Talenten sowie einer gehörigen Portion 42 Selbstaufopferungswillen. Jedermann auf Babylon arbeitete rund um die Uhr am Wiederaufbau der Kolonie. Trotz des Niedergangs der M-Technik versuchte man die Standards zu halten, wie sie vor dem Desaster geherrscht hatten.
Was extrem schwer, ja fast unmöglich war. Aber damit nicht genug. Alle diese Anstrengungen verursachten Kosten in hundertfacher Milliardenhöhe. Kosten, die die finanziellen Reserven der Kolonie schnell reduzierten, schneller als man schauen konnte. Babylon benötigte in den nächsten Tagen einen weiteren Kredit. Die Studie, die Appeldoorn vorlag, sprach von einem Volumen von rund 300 Millionen Dollar. Eigentlich ein Klacks, aber für Babylon eine Menge Geld. Ohne zusätzliche Gewinne würde die Wirtschaftskrise unaufhaltsam sein, wäre der Niedergang vorprogrammiert. Man konnte es drehen und wenden wie man wollte, es sah nicht gut aus. Überhaupt nicht gut, fand Daniel Appeldoorn. Sein Sekretär klopfte an den Türrahmen, ehe er über die Schwelle trat. Die Stimme von Johan Lüttwitz holte ihn dann ganz aus seinen düsteren Gedanken. »Entschuldigen Sie die Störung, Sir. Darf ich an die Besprechung mit Oberst Petain und Mister de Groot erinnern?« »Gehen Sie schon vor, Johan«, sagte Appeldoorn über die Schulter. »Ich bin in einer Minute da.« »Sehr wohl, Sir.« Der Präsident konzentrierte sich auf das anstehende Gespräch; er hatte sich lange und eingehend mit der Person de Groots beschäftigt. Henk de Groot war die Art von Ingenieur, der für jedes Problem, mochte es noch so verzwickt erscheinen, eine technische Lösung entwickeln und konstruieren konnte und sie notfalls auch noch eigenhändig zusammenbaute, falls keine andere Möglichkeit der Realisierung bestand. Als Absolvent des technischen Zweigs der Kallisto-Akademie mit einem Abschluß am WCIT (World City Institute of Technology) hatte er sich vor allem der Erforschung und Beherrschung der Mysterioustechnologie verschrieben. Seine Fähigkeit zur Improvisation war einzigartig, und sein intuitives Erfassen von Fremdtechnologien, vor allem der der My-sterious, wurden dem Vernehmen nach nur noch von einem einzigen Mann übertroffen: Arc Doorn. Mit einem letzten, fast bedauernden Blick auf Babylons Wolkenkratzerpyramiden wandte sich Appeldoorn ab und begab sich schnellen Schrittes zum Konferenzraum. 44 »Fremdortung!« rief Tino Grappa von der Ortung den anderen zu. »Resonanzkontakt auf Rot 3:25, Gelb 2:04 und Grün 3:0! Zeichne sieben Objekte! Geschwindigkeit 1,2 Licht... fallend. Objekte sind auf Kollisionskurs!« Dhark fuhr herum. »1,2 Licht? Keine Strukturerschütterung?« »Keine. Objekte unterschreiten soeben Lichtgeschwindigkeit. Distanz...« »Registriert«, stieß Dhark hervor, der die Zahlen auf einer Anzeige des Kontrollpultes vor sich sah. Von diesem Augenblick an zeigte auch die Bildkugel die sieben Objekte, stellte sie aber als Lichtpunkte dar, denen nicht anzusehen war, woraus sie bestanden. »Ortungsdaten an Waffensteuerungen!« befahl Dhark. »Feuerbereitschaft!« »Feuerbereitschaft klar«, meldete nur ein paar Sekunden später Bud Clifton, der Mann mit dem Kindergesicht, der als Chef der Waffensteuerung West wieder mal einen Atemzug schneller reagiert hatte als sein Kollege Jean Rochard in der WS-Ost. »Kontakt in 50 Sekunden«, warnte Grappa, der junge Mailänder, dem man nachsagte, mit seinen Ortungen verheiratet zu sein. »Checkmaster analysiert Energiespektrum von Antrieb und Schutzschirmen - höh!« »Nennen Sie Ihren Aufschrei eine Meldung, Tino?« blaffte Be-bir, der immer noch das Kommando über die POINT OF hatte, obgleich Dhark mit Gisol in die Zentrale zurückgekehrt war. Als Bebir übergeben wollte, hatte der Commander kurz abgewinkt. »Das sind Ringraumer«, meldete Grappa. »Verzögern mit Höchstwerten. Beide Intervalle auf geschaltet. Checkmaster meldet Feuerbereitschaft.«
Dhark sah den Mysterious aus. »Deine Freunde, die Zyzzkt?«
»Bin ich Hellseher?« gab Smith knurrig zurück. »Aber vorsichtshalber sollten wir davon
ausgehen, weil meinem Volk die
Raumfahrt in Orn doch verboten wurde!«
»Und wenn es Rebellen sind?« fragte Riker. »Rebellen wie Sie, Smith?«
Der antwortete nicht.
»Grappa, wieso haben Sie die anfliegenden Objekte erst so spät angemessen?« wollte Dhark
wissen. »Wenn sie nicht hierher tran-sitiert sind, hätten sie doch viel früher angepeilt werden
müssen!«
»Ortungsschutz«, murmelte Gisol.
»Bitte?« stieß Dan Riker hervor.
»Verfügt die POINT OF nicht über diese Option?« zeigte sich nun wiederum der Mysterious
verblüfft. »Ich bin davon ausgegangen, das sei Standard, und gerade bei einem Raumer, der
von den Genies Margun und Sola konstruiert wurde...«
»Der Goldene Vonnock«, erinnerte Ren Dhark sich plötzlich. »Dieser Goldene Mensch, der
Wächter, der plötzlich auf Terra erschien und uns einen S-Kreuzer stahl... der Ringraumer war
plötzlich von keiner Ortung mehr zu erfassen und verschwand spurlos in Weltraumtiefen...«
»Dann hat dieser Vonnock den Ortungsschutz aktiviert«, sagte Gisol trocken.
»Aber wenn selbst die lausigen S-Kreuzer, diese ehemaligen Robotschiffe, so etwas können,
wieso dann nicht die POINT OF?« ereiferte sich Riker. »Keine einzige Mentcap hat uns
darüber Auskunft gegeben!«
»Kontakt in zehn Sekunden«, meldete Grappa.
Die sieben fremden Ringraumer waren erschreckend nahe herangekommen.
»Leichte Kurskorrektur. Ziel ist EPOY«, sagte Grappa.
Im nächsten Moment schrie er auf. »Ringraumer feuern auf EPOY!«
Die Bildkugel zeigte es ebenfalls. :
Sieben Ringraumer schössen mit Nadelstrahlen auf einen achten! Die überlichtschnellen,
blaßroten Energiebahnen, mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen, wurden von der Bildkugel
exakt dargestellt. Und die EPOY flog ohne Intervallschutz!
Das Unitall, aus dem sie bestand, war ein Kunstprodukt der Mysterious mit einem
Schmelzpunkt von 143 750 Grad Celsius und einem spezifischen Gewicht von 28,45.
Hochkomprimierte Metallstruktur wurde unter Strahlbeschuß so kompakt, daß sie jede
hochenergetische Strahlung in 16 Zentimetern Tiefe zum Stillstand brachte. Die Ausnahme
war Nadelstrahlbeschuß über 210 Sekunden Dauer. In seiner Zerfalls Wirkung übertraf
Unitall dann jede nukleare Bombe.
Die Angreifer schössen mit Nadelstrahl!
Noch weniger als 200 Sekunden Zeit, etwas zu tun!
Dhark handelte blitzschnell.
Er wartete Bebirs Reaktion nicht ab. Seine Hände flogen über die Steuerschalter und brachten
sie in andere Positionen. Die POINT OF schwang herum.
»Erbitte Feuerfreigabe!« drängte Jean Rochard aus der WS-Ost.
»Noch nicht!« kam es von Bebir, der Dharks Aktion nicht gestört sehen wollte,
Unteres Intervall aus! Von diesem Moment an war die POINT OF nur noch von einem der
künstlichen Mini-Welträume geschützt, aber Dhark hoffte inständig, daß es in der EPOY
keine Automatik gab, die gleich deren Intervallfelder hochfuhr. Das konnte seinen Versuch
zunichte machen.
Anflug auf die EPOY!
Immer noch schössen die fremden Ringraumer aus allen Strahlantennen. Dhark wagte nicht,
sich vorzustellen, welche Angst Juanita in diesen Sekunden ausstehen mußte.
Dann hatte die POINT OF die EPOY erreicht.
Unteres Intervallfeld wieder ein!
Und die EPOY befand sich innerhalb des Intervallschutzes der
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POINT OF!
Im gleichen Moment gab es keine Nadelstrahlen mehr, die versuchten, die EPOY zu einer
kleinen Sonne zu machen!
Sieben fremde Ringraumer hatten von einer Sekunde zur anderen ihr Strahlfeuer eingestellt!
Sie drehten ab!
Stillschweigend nahm Leon Bebir zur Kenntnis, daß Commander Dhark die POINT OF
wieder übernommen hatte.
Unter Dharks Fingerkuppen kippten Steuerschalter in neue Positionen.
Der Ringraumer beschleunigte. Dabei behielt er die EPOY im Intervallschlepp. So blieben
Juanita und das Schiff geschützt. Die POINT OF nahm die Verfolgung der Angreifer auf.
Ren aktivierte die Bordsprechanlage. »An Funk-Z: Fliehende Schiffe anrufen und zum Halten
auffordern!«
»Bist du irre?« flüsterte Riker. »Willst du eine erneute Konfrontation riskieren?«
»Ich weiß, was ich tue«, behauptete Ren.
»Hoffentlich...«
Die Wiedergabe in der Bildkugel wurde immer diffuser. Die da-vonrasenden Fremdschiffe
schienen förmlich zu zerfließen.
»Ortung! Wo bleiben...«
»... die Daten, Dhark?« wurde Grappa überraschend respektlos. »Das wüßte ich auch gern,
Commander! Diese verdammte Gaswolke mit ihren brodelnden Energieeffekten bringt hier
alles komplett durcheinander! Wir können uns auf die Ortungsdaten nicht mehr verlassen.
Yell hat das vor ein paar Minuten herausgefunden!«
»Deshalb konnten wir die überlichtschnell anfliegenden Raumer auch erst so spät anmessen«,
machte sich Yell über die Verbindung bemerkbar. »Sieht so aus, als wäre hier auf überhaupt
nichts mehr Verlaß!«
»Aber wir arbeiten dran«, versicherte Grappa prompt. »Wir müssen noch ein wenig mit
anderen Filtern und Trenngittern ex-
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perimentieren, dann bekommen wir die Sache auf jeden Fall in den
Griff!«
»Fremdraumer haben jetzt dreifache Lichtgeschwindigkeit«, meldete Yell. »Verdammt - weg!
Keine Echos mehr. Die sind verschwunden!«
»Wieder keine Strukturerschütterungen?« hakte Dhark vorsichtshalber nach.
»Keine... die sind nicht transitiert.«
»Sternensog auf voller Leistung müßte aber eigentlich noch anmeßbar sein«, gab Smith zu
bedenken.
Grappa und Yell hatten mitgehört. Beide widersprachen vehement. »Es liegt an dieser
verdammten Gas wölke und den darin stattfindenden energetischen Prozessen«, behauptete
Grappa. Ȁhnliches haben wir doch schon in Dg-45 und anderen Sternballungen erlebt, nur
daß dies hier keine Sternballung ist, sondern...«
»Ein Ort, an dem vielleicht neue Sterne entstehen?«
»Möglich, für uns aber irrelevant, darum mögen sich die Astros kümmern... die Ringraumer
haben wir jedenfalls verloren.«
»Keine Emissionsspuren?« fragte Dhark, der an die Robotflotte der Mysterious dachte, die er
damals verfolgt hatte, nachdem sie das Sol-System verlassen hatte. Damals hatten sie noch
über längere Zeit die Energiefilamente registrieren können, die bei den Hyperraumsprüngen
der Robotflotte entstanden waren, bis sie sie schließlich doch verloren hatten, weil sie auf den
Planeten W4 im Ika-S-3-System gestoßen waren und danach auf das Sternbild der Sterne und
anschließend auf die Sternenbrücke - alles Hinterlassenschaften der Geheimnisvollen. Von der Sternenbrücke nach Er-ron-3 und von dort ins Imperium der Tel... und die Robotflotte war da längst irgendwo in den Weltraumtiefen verschwunden, aber was Dhark bei jener Aktion erlebt und erreicht hatte, war sicher v°n größerer Bedeutung als ein paar tausend Robotraumer, die durch den Galaktischen Blitz jetzt wohl ohnehin für alle Zeiten außer Betrieb waren. »Keine Emissionsspuren«, bestätigte Grappa, der Dharks Ge49 danken erriet. »Hier wird alles überlagert.« »Und wieso konnten wir dann die Strahlungsquellen anmessen, denen wir das kleine Problem unseres großen Freundes verdanken?« hakte Dan Riker nach. »Daran arbeiten wir noch«, erwiderte der junge Leutnant. »Der Checkmaster hat noch keine passende Antwort gefunden.« Die passende Antwort ließ auf sich warten. Der Checkmaster lieferte sie jedenfalls nicht, und Astronomen und Astrophysiker standen ebenfalls vor einem Rätsel. Ren Dhark ging davon aus, daß irgend etwas in dieser kosmischen Wolke jeden Worgun-Raumer angriff - mit Ausnahme der POINT OF. Zuerst hatte man versucht, den oder die vermuteten Worgun in der EPOY durch die Strahlung auszuschalten, anschließend erfolgte der Angriff der Ringraumer. Aber wer steckte wirklich dahinter? Die Zyzzkt? Sie mußten doch davon ausgehen, daß kein Worgun mehr per Raumschiff von Stern zu Stern flog! Sie hatten doch alles unter Kontrolle! Und die Rebellen waren nach allem, was Gisol Dhark bislang erzählt hatte, noch lange nicht soweit... Warum also diese Attacke, und wer steckte dahinter? Wer schickte die angreifenden Ringraumer, und wer hatte die Strahlungsquellen installiert, die Gisol so zu schaffen machten, solange er sich in der EPOY aufhielt, die aber in der POINT OF keine Wirkung zeigten? Ren Dhark betrachtete die Auswertungen der gesammelten Daten. Schließlich entschied er sich für die Koordinaten einer der ominösen Strahlungsquellen. »Dorthin«, sagte er, »fliegen wir und sehen uns die ganze Sache mal näher an!« 50 Die POINT OF behielt die EPOY weiterhin im Intervallschlepp. Dhark wollte nicht riskieren, daß es zu weiteren Attacken kam. Sie befanden sich in einem unbekannten, unerforschten Raum, in welchem sich energetische Prozesse abspielten, die bisher keiner von ihnen verstand. Wenn es in dieser Risikozone zu einem Kampf kam, war nicht abzusehen, ob es nicht zu ebenso unerwarteten wie unerfreulichen Ereignissen kam... Solange sich die EPOY aber innerhalb des POINT OF-Intervall-felds befand, schien sie nicht geortet oder zumindest nicht als feindliches Objekt eingestuft zu werden. Smith unterhielt sich über Bildfunk mit Juanita. Er konnte sie überreden, an Bord der POINT OF zu kommen. »Aber dein Raumschiff muß doch abgesichert werden, damit kein Unbefugter es betreten kann«, sagte sie. »Es ist wohl nicht nötig«, beruhigte Smith sie. »Ich vertraue meinen terranischen Freunden. Wenn Commander Dhark verspricht, daß niemand gegen meinen Willen und gegen meine Erlaubnis die EPOY aufsucht, glaube ich ihm.« »Versprochen«, sagte Ren Dhark. Dan Riker warf ihm einen nachdenklichen Blick zu. »Du hast es gehört, Juanita?« fragte Smith. »Ja. Ich komme zu dir.« Wenig später trat sie aus dem Transmitter. Sie lief sofort auf Smith zu. Sie schien wirklich froh darüber zu sein, daß sie nicht mehr allein in der EPOY war. Sie verstand auch, daß ihr großer Freund Jim vorerst nicht an Bord seines Schiffes zurückkehren wollte und durfte. Die
Gefahr bestand, daß er trotz des POINT OF-Intervallfelds wieder der fremden Strahlung unterlag. Ehe nicht feststand, weshalb er die Kontrolle über sich verloren hatte, wollte er kein weiteres Risiko eingehen. Natürlich konnten die Terraner ihn auch ein zweites Mal aus der EPOY holen. Aber warum sollte diese Arbeit auf sich nehmen, wenn es auch anders ging? Und 51 warum sollte Gisol diese Qual auf sich nehmen, wenn es nicht wirklich nötig war? Die POINT OF steuerte mit 15 OOOfacher Lichtgeschwindigkeit die am nächsten liegende Strahlungsquelle an. Das war relativ langsam, aber die Distanz war mit gut fünf Lichtjahren auch nicht zu riesig. Nach etwa drei Stunden Flug erreichten die beiden Ringraumer ihr Ziel. Bebir bremste den Raumer ab und »verankerte« ihn in gleichbleibender Distanz zu der Strahlungsquelle. Dhark ging hinüber in die Ortungsbude, die der Kommandozentrale ebenso wie die Funk-Z angegliedert war. Er sah Grappa und Yell über die Schultern. Die beiden Männer arbeiteten seit Stunden daran, mit immer neuen Filtermethoden mehr über die Strahlungsquellen herauszufinden. Bisher immer noch ohne Erfolg. Plötzlich sah Yell auf. »Was das für eine Strahlung ist, läßt sich immer noch nicht feststellen, Dhark, aber die Quelle ist verdammt klein. Etwa von der Größe eines Xe-Flash.« Das waren Flugobjekte, die von der Form her den normalen Flash glichen, aber entschieden größer und auch entsprechend anders konstruiert waren. Diese Fluggeräte der Mysterious hatten die Terraner erst kennengelernt, als sie mit den Tel in Kontakt kamen. Die Tel, die einst wie die Terraner auf das technische Erbe der Mysterious gestoßen waren, verfügten damals über eine beachtliche Menge dieser Flugmaschinen. »Hat es die Größe oder ist es einer?« fragte Dhark nach. »Läßt sich nicht eindeutig feststellen«, gestand Yell. »Größe, Masse und Aussehen stimmen, aber das Energiespektrum läßt sich nicht eindeutig ermitteln.« »Es gibt Energieemissionen, die wir anmessen können«, ergänzte Grappa. »Sie entsprechen der unbekannten Strahlung. Aber die für einen Xe-Flash typischen Emissionen fehlen. Sehen Sie, Dhark. So sieht ein Xe-Flash energetisch aus, und so dieses Objekt.« 52 Er schaltete, und auf zwei nebeneinanderliegenden Bildschirmen zeichneten sich entsprechende Schemata ab. »Und das ist das äußere Erscheinungsbild«, fuhr Grappa fort, schaltete erneut und zauberte das Archivbild eines Xe-Flash und das Ortungsbild des Objekts nebeneinander auf die Schirme. Ein Rätsel mehr... »Versuchen Sie es weiter«, bat der Commander und kehrte in die Zentrale zurück. »Das Objekt sehen wir uns doch mal näher an«, beschloß er. »Du willst doch nicht etwa...?« setzte Riker zu einem Protest an. Sein Freund winkte ab und aktivierte die Bordsprechanlage. »Stewart und Sass zur Einsatzbesprechung...« Die beiden Cyborgs Amy Stewart und Bram Sass näherten sich mit Flash 024 dem fremden Objekt, das auch bei Direktbeobachtung wie ein Xe-Flash aussah. Beide trugen filmdünne MRaum-anzüge und hatten auf ihr Zweites System umgeschaltet. »Fliegen wir ein?« schlug Stewart vor. »Besser nicht«, überlegte Sass bedächtig. Der im Jahr 2033 als Bauer in den ladinischen Alpen geborene Mann ohne jede Spezialausbildung war drei Jahre länger Cyborg als die 22jährige blonde Frau, das erste weibliche Mitglied der Truppe. Entsprechend größer war seine Erfahrung. In zahlreichen Einsätzen, zumeist an der Seite des Commanders der Planeten, hatte er gelernt, im Umgang mit Mysterioustechnik vorsichtig zu sein. Hinzu kam sein bäuerliches Mißtrauen, das ihn nie zuviel wagen ließ. Ohne auf die Gefahrenkalkulation
seines Cyborg-Programmgehirns zu achten, schlug er vor: »Wir docken an und betreten das Ding ganz normal durch die Schleuse. Wenn wir einfliegen, könnte das irgendeine Kontrollautomatik als aggressiven Akt mißverstehen.« »Und wenn die Schleuse blockiert ist?« gab Stewart zu beden53 ken. »Dann können wir's immer noch anders versuchen«, gab Sass gelassen zurück. Die 024 erreichte den Xe-Flash. Das Objekt war ohne Intervallschutz. Etwas, das angesichts der energetischen Vorgänge in der Wolke beiden Cyborgs zu denken gab. Aber es war natürlich hilfreich. Stewart steuerte die 024 so an den anderen Unitallkörper heran, daß die beiden Rümpfe sich berührten. Das reichte eigentlich schon aus, sie miteinander zu verbinden. Die gegenseitige Massenanziehung war zwar gering, aber wirksam. Dennoch schaltete Stewart kurz auf Normal zurück und gab der Gedankensteuerung der 024 die Anweisung, auf jeden Fall Berührungskontakt mit dem Xe-Flash zu halten. Dann schaltete sie auf ihr Zweites System zurück und unterrichtete Bram Sass von ihrer Maßnahme. »Raumanzüge schließen, Waffen überprüfen, Kameras mitnehmen und aussteigen«, ordnete Sass an. Die transparenten Falthelme, die kapuzengleich auf dem Rückenteil der M-Anzüge lagen, wurden über die Köpfe gezogen; die Verschlüsse arretierten und sicherten selbsttätig. Zugleich wurde automatisch der Helmfunk aktiviert. Sass betätigte einen Schalter. Der Ausstieg des Flash klappte auf. Die Luft entwich als weiße Wolke und kristallisierte in der Raumkälte sofort. Die beiden Cyborgs schwebten in den freien Weltraum hinaus. Stewart, die mit 18 Jahren zur Terra Defence Force gegangen war und dort als einzige Frau eine Einzelkämpferausbildung erfolgreich abgeschlossen hatte, benutzte ihren Blaster als Rückstoßpistole, um mit dem Energieimpuls Richtung und Geschwindigkeit zu steuern. Bram Sass stieß sich einfach vom Flash in die gewünschte Richtung ab. Den Gegenimpuls fing die Gedankensteuerung ab, indem sie den SLE einmal kurz mit minimalster Leistung arbeiten und die Abdrift korrigieren ließ. 54 Die beiden Cyborgs erreichten die Schleuse des Xe-Flash, die sich dicht hinter der plumpen Rumpfnase etwa zwei Meter über dem Boden befand. Sie hatte die Form eines romanischen Fensters. Wenn ein Xe-Flash gelandet war und auf seinen zwölf auffallend dünnen Teleskopbeinen parkte, konnte eine Rampe ausgefahren werden. Das war hier und jetzt nicht erforderlich. Mit traumhafter Sicherheit fand Sass die Sensorschaltfläche, welche die Schleuse auf schaltete. Sie hatte eine Tiefe von 1,5 Metern, ihr maximales Fassungsvermögen betrug zehn Personen. Sass betätigte den Innenschalter. Das Außenschott glitt wieder zurück. Weißer Nebel bildete sich in der Schleuse und verschwand, als immer mehr Luft in den kleinen Raum gepumpt wurde und der Druckausgleich erfolgte. Stewart warf einen Blick auf das Armbandgerät ihres Raumanzugs, das mehrere Funktionen erfüllte. »Atmosphäre ist atembar«, stellte sie fest und öffnete den Falthelm wieder. Sass folgte ihrem Beispiel. Beide Cyborgs nahmen ihre Blaster zur Hand, bereit, beim geringsten Anzeichen von Gefahr sofort das Feuer zu eröffnen. Es deutete zwar nichts darauf hin, daß sich Lebewesen an Bord des Xe-Flash befanden, aber es gab keine Garantien. Zudem bestand die Gefahr, daß sie es mit Robotern zu tun bekamen. Das Innenschott glitt auf.
Kaltes, blaues Licht sprang ihnen entgegen, typisch für die Mysterious, deren Heimatwelt eine
blaue Sonne umlief, wie man aus Gisols Erzählungen inzwischen wußte.
Kein Lebewesen erwartete sie, auch kein Roboter. Nur eine enorme Ansammlung technischer
Geräte, Instrumente, Monitore und sonstiger Aggregate.
Es gab auch keine verdächtigen Geräusche. Nur ein stetes, leises Hintergrundsummen erfüllte
das Innere des Raumfahrzeugs.
»Hier stimmt was nicht«, sagte Sass verblüffend ruhig. Er besaß einen organischen Fehler:
Sein Hormonspiegel im Blut veränderte sich selbst in den gefährlichsten Situationen nicht. An
sich spielte
55 das keine besondere Rolle, solange er auf das Zweite System geschaltet hatte, aber das
Programmgehirn steuerte gewöhnlich die Stimmlage so, wie sich auch ein »normaler«
Mensch artikuliert hätte. Nur wer sich mit Cyborgs auskannte und ein sehr gutes Gehör besaß,
konnte an der Stimme heraushören, ob sein Gegenüber gerade »Mensch« oder »Cyborg« war.
»Was meinen Sie, Sass?« fragte die blonde Frau.
»Schauen Sie sich um«, sagte Sass. »Das ist niemals ein Xe-Flash! Die sind ganz anders
ausgestattet!«
»Machen Sie mich schlau«, bat Stewart. »Ich hatte noch nicht das Vergnügen, mit so einem
Ding zu fliegen.«
»Es gibt zwei Decks«, erläuterte Sass, »und im Hauptdeck gibt es einen viereckigen Raum
mit Sesseln, die in drei Ringen hintereinander aufgestellt sind und Platz für 38 Personen
bieten. In der Decke befindet sich eine Bildprojektion. Können Sie hier etwas entdecken, das
auch nur annähernd danach aussieht?«
Stewart schüttelte den Kopf.
Was sie sah und was auch ihre Kameras zur POINT OF übertrugen, machte eher den
Eindruck des Innenlebens einer Raumstation, wie sie um die Jahrtausend wende Terra
umkreist hatten. Diese Station hatte offenbar nur die Außenhülle mit einem Xe-Flash
gemeinsam.
Die beiden Cyborgs bewegten sich durch die Ansammlung technischer Geräte, filmten und
waren jeden Moment auf einen Angriff vorbereitet, den eine wachsame Automatik gegen sie
einleitete. Aber diese wachsame Automatik, normalerweise typisch für Einrichtungen der
Mysterious, schien hier nicht zu existieren.
Sass nahm über sein Spezialvipho Verbindung mit der POINT OF auf. »Smith, können Sie
uns sagen, was wir hier vor uns haben?«
»Keine Ahnung«, erwiderte der Mysterious. »Diese Geräte sagen mir absolut nichts, ich
kenne sie nicht.«
»Keine Technik Ihres Volkes?« hakte Sass nach.
»Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen«, erwiderte Smith.
»Aber vermutlich erzeugen diese Geräte das Feld, vor dem mich nur die POINT OF schützt.«
»Dieses Ding verfügt nicht einmal über einen Antrieb«, behauptete Amy Stewart. »Dafür gibt
es in diesem Objekt überhaupt keinen Platz.«
»Sind Sie sicher?« fragte Bram Sass.
»Sehen Sie sich doch um! Ich weiß zwar nicht, wie groß das Antriebssystem eines Xe-Flash
tatsächlich ist. Aber hier paßt nicht mal der Triebwerkssatz für einen normalen Flash rein!
Das hier ist tatsächlich nichts anderes als eine kleine Raumstation!«
»Können Sie sie abschalten?« fragte Gisol an.
»Ja, wenn ich Arc Doorn wäre«, sagte Sass trocken. »Können Sie den nicht 'rüberschicken,
daß er sich diesen ganzen Krempel mal ansieht?«
»Nein«, entschied Ren Dhark. »Das ist zu riskant.«
»Was soll daran riskant sein, wenn Doorn sich mit dieser Technik befaßt?« wunderte sich
Bram Sass. »Der mit seinem geradezu unwahrscheinlichen Einfühlungsvermögen in
Fremdtechnologien dürfte doch am ehesten herausfinden, womit wir es zu tun haben, wenn selbst Mister Smith nicht weiter weiß...« »Trotzdem kommt Doorn nicht«, entschied Dhark. Er kannte den wortkargen, genialen Sibirier nur zu gut. Wenn der sich erst einmal im Inneren des offenbar komplett umkonstruierten Xe-Flash befand, würde er sich garantiert nicht darauf beschränken, herauszufinden, wie diese Geräte funktionierten und was sie bezweckten, sondern auch damit herumexperimentieren. Und in der momentanen Situation wollte Dhark das nicht riskieren. Niemand konnte sagen, was geschah, wenn er dabei möglicherweise etwas auslöste, dessen Folgen unabsehbar waren. Unter anderen Umständen wäre Dhark dieses Risiko vielleicht doch eingegangen. Aber hier befanden sie sich in einer fremden Galaxis, ohne jeden Rückhalt. Und sie waren in der augenblicklichen Situation durch Gisol und die EPOY in ihren Möglichkeiten begrenzt. 56 57 »Machen Sie noch weitere Aufnahmen, filmen Sie alles so detailliert wie möglich, so daß wir diese Station holographisch nachvollziehen können. Danach kehren Sie in die POINT OF zurück«, ordnete er an. »Verstanden«, bestätigte Bram Sass und schaltete sein Spezialvipho wieder ab. »Diesen Einsatz habe ich mir eigentlich etwas anders vorgestellt«, maulte Amy Stewart. ^r.;1'; »Und wie bitte? Hätten Sie gern einem Zyzzkt in die Weichteile getreten?« fragte Sass. »Ich bin froh, daß wir diesmal keinen Feindkontakt und keine Kämpfe zu bestehen haben. Ist doch echt mal was anderes.« »Etwas für stinknormale Raumsoldaten«, murrte sie, »aber doch nicht für Cyborgs!« Sass verzichtete auf eine Antwort. Die junge Frau erschien ihm doch etwas zu draufgängerisch. Aber sie würde sich die Hörner noch abstoßen. Sie filmten weiter, und nach etwa einer Stunde verließen sie die Station wieder und kehrten mit Flash 024 zur POINT OF zurück. Während Leon Bebir weiterhin die Verantwortung für die POINT OF hatte, fanden die anderen sich in einem der Konferenzräume zusammen - Dhark, Riker, Doorn und Smith. Ren hatte noch zwei Experten hinzugebeten. Nur konnten die zu der Diskussion herzlich wenig beitragen, weil es immer noch keine sicheren Erkenntnisse über die eigenartige Strahlung gab, die nach wie vor von der als Xe-Flash getarnten Station und auch den anderen Quellen ausging. »Wir brauchen mehr Daten«, war die allgemeine Ansicht. »Diese Art Strahlung ist absolut unbekannt und paßt zu nichts, das wir kennen!« »Haben Sie schon einmal versucht, einen Vergleich mit der 58 Strahlung anzustellen, die seinerzeit die Giants verwendeten, um die Menschen Terras zu stumpfsinnig dahinvegetierenden Befehlsempfängern zu machen?« »Haben wir. Keine Übereinstimmung.« »Und die CE-Strahlung, mit der wir diese Manipulation, diese Vergewaltigung des menschlichen Geistes wieder rückgängig machen konnten?« »Keine Übereinstimmung!« Arc Doorn war verärgert. »Dhark, ich hörte von Amy Stewart, daß Bram Sass mich anforderte, als die beiden Cyborgs in der Station waren! Warum haben Sie mich nicht hinüberfliegen lassen? Wir könnten schon ein paar Schritte weiter sein! Mit den gefilmten Holo-Daten kann ich herzlich wenig anfangen, ich muß die Technik direkt vor mir haben, muß sie sehen und fühlen können!« Dhark erklärte ihm seine Beweggründe. Zufrieden war Doorn damit nicht. »Dhark, lassen Sie mich hinüberfliegen! Ich stelle garantiert nichts an, aber vielleicht finde ich heraus, was...«
»Kommt nicht in die Tüte, mein Lieber!« stoppte ihn der Commander. »Wir gehen in diesem Fall kein Risiko ein!« »Als wir in unserer Galaxis dem Erbe der Mysterious nachjagten, und auch später in Drakhon waren Sie nicht so übervorsichtig!« »Beruhigen Sie sich, Are«, mahnte Dan Riker. »Ihre Zeit kommt garantiert noch! Wenn wir nicht überzeugt davon wären, daß wir Ihre phänomenale Fähigkeit brauchten, müßten Sie nicht an dieser riskanten Expedition teilnehmen, sondern könnten auf Terra anderen, kaum weniger wichtigen Aufgaben nachgehen.« »Wer sagt denn, daß ich das will?«, knurrte Doorn. »Vielleicht sollten wir zwischendurch auch mal wieder zur Sache kommen«, forderte Dhark. »Ich bin wahrscheinlich nicht der einzige, der sich fragt, warum uns von Golden aus der Weg hierher gewiesen wird, wenn Worgun offenbar nicht erwünscht sind? Was ist an der POINT OF so besonders, daß zwar die EPOY angegriffen w*rd, nicht aber unser Schiff, und daß die Angreifer sofort abdre59 hen, wenn wir die EPOY in unser Intervallfeld einschließen? Was ist an uns Menschen so anders, daß wir nicht von dem Strahlungsfeld beeinflußt werden, das von diesem Xe-Flash und zahlreichen anderen Stationen ausgeht und vermutlich die gesamte Wolke durchdringt? Auf diese Frage benötigen wir Antworten, und das so schnell wie möglich.« »Bist du sicher, daß wir hier das richtige Gremium sind, um die Antworten zu finden?« fragte Riker. »Mit Ausnahme unserer beiden Wissenschaftler sind wir alles andere als Koryphäen für diese Dinge und können uns mit Diskussionen die nächsten zig Nächte um die Ohren schlagen, ohne zu einem Resultat zu kommen!« »Gibt es an Bord der POINT OF Insekten?« fragte Gisol plötzlich. »Wieso fragen Sie?« wollte Doorn wissen. »Sind Sie etwa von einem Floh gebissen worden? Dann haben Sie den sicher mitgebracht. Ungeziefer gibt's in der POINT OF nicht.« »Blödsinn«, konterte der Worgun. »Verfügen wir hier über Insekten oder nicht?« Fragend sah er Ren Dhark an. »Wofür brauchst du die?« »Vielleicht für ein Experiment. Ich habe eine Idee, aber ich weiß noch nicht, ob sie durchführbar ist und was dabei herauskommt. Wenn derlei Kleingetier nicht verfügbar ist, hilft uns die Idee ohnehin nicht weiter.« »Insekten«, murmelte Dan Riker. »Hat Ihre Idee eventuell etwas mit den Zyzzkt zu tun?« s<; Gisol nickte stumm. Ren Dhark schaltete bereits die Bordsprechanlage ein und rief die Bio-Abteilung an. Rani Atawa, die dunkelhaarige Biologin und Zoologin, deren Wiege in Indien gestanden hatte, meldete sich. Sie war einst mit der GALAXIS nach Hope geflogen und hatte zu den vom Diktator Rocco Deportierten gehört, die auf dem Inselkontinent Deluge das Höhlensystem und schließlich auch den Ringrau-mer entdeckten. Später hatte sie längere Zeit ihre Forschungen auf 60 Hope betrieben und war nur knapp dem Vernichtungsschlag der G'Loorn entgangen, die die Kolonie brutal vernichtet hatten. Jetzt tat die 27jährige Inderin Dienst an Bord der POINT OF. »Insekten, Ren?« fragte sie erstaunt zurück. Wie alle, die damals auf Hope und speziell während der Deportation nach Deluge eine verschworene Gemeinschaft gebildet hatten, unterhielt sie ein di-stanziert-vertrauliches Verhältnis zu dem Commander. »Sicher, ich habe ein paar Kakerlaken zu Forschungszwecken in meinem Labor. Warum fragen Sie?« »Kakerlaken«, seufzte Dhark. »Ausgerechnet Kakerlaken. Warum keine Maikäfer? Aber man kann sich seine Nachbarn wohl nicht immer aussuchen, wie?« Er sah Gisol an, und der nickte.
»Packen Sie ein paar der lieben Tierchen sehr gut ein und kommen Sie damit zu uns in den
Konferenzraum«, bat Dhark.
Kurz darauf erschien Rani Atawa mit einer kleinen transparenten Kapsel im Konferenzraum.
Etwas unbehaglich beäugten die Männer die Kapsel, in der sich fünf Kakerlaken tummelten,
denen ihr derzeitiger Aufenthaltsort gar nicht zu gefallen schien, gehörten sie doch eher zum
»lichtscheuen Gesindel«.
In der Zwischenzeit hatte Gisol seinen Plan entworfen, und Dhark erteilte der Biologin den
Auftrag, mit den Kakerlaken und Juanita Gonzales an Bord der EPOY zu gehen. Gisol
bestand darauf, daß niemand sonst mit hinüber wechselte. Nach wie vor wollte er keine
Fremden in seinem Raumschiff haben, und es war schon erstaunlich, daß er Atawa den Zutritt
gewählte. Aber er bestand darauf, daß Juanita sie als Aufpasserin begleitete.
Die Elfjährige war selbst alles andere als begeistert davon, daß sie auf die Kakerlaken und
eine Wissenschaftlerin aufpassen sollte. »Wenn das Ungeziefer abhaut, laufe ich aber nicht
hinterher, um es wieder einzufangen!« protestierte sie.
»Ich würde die Aufgabe ja selbst übernehmen«, versuchte Gisol
61
sie zu beschwichtigen, »aber dann geht es mir wieder so wie vorher. Bitte, Juanita, tu es und
gib ein wenig acht, denn ich kann es nicht selbst tun.«
»Na schön«, gestand das Mädchen schließlich zu. »Aber dafür schuldest du mir einen großen
Gefallen, Jim! Kakerlaken... ausgerechnet! Brrrrrr!«
Per Transmitter gelangten Rani Atawa, Juanita Gonzales und die Kakerlaken an Bord der
EPOY. Atawa durchschritt die Zentrale und stellte das Behältnis mit den Insekten direkt auf
das Kommandopult.
»Grüße vom Planeten Erde«, murmelte sie.
Juanita eilte an ihr vorbei und nahm wieder ihre Position an der Sicherheitsschaltung ein. Mit
äußerstem Mißtrauen beobachtete sie, was Atawa tat: nichts.
Die Biologin beobachtete ihrerseits, was sich in der transparenten Kakerlakenkapsel abspielte. Nichts.
Die Kakerlaken waren offensichtlich in die gleiche Starre gefallen wie Gisol. Sie rührten sich
nicht, schon von dem Moment an, als sie in die EPOY gelangt waren. Atawa wartete eine
Weile, aber auch nach einigen Minuten regte sich immer noch nichts in dem kleinen
Behältnis.
Die Biologin öffnete es vorsichtig.
»Nicht!« fuhr Juanita sie an, »Die hauen doch sofort ab!«
»Die hier nicht«, sagte Atawa leise. »Komm, schau sie dir an.«
»Kann ich gern drauf verzichten!« rief Juanita. »Machen Sie das Ding wieder zu, schnell!« Atawa schloß die Kapsel wieder. »Ich glaube, wir können jetzt wieder zurück in die POINT
OF«, schlug sie vor.
»Was - das war schon alles?«
»Ich fürchte, ja«, sagte Atawa. Sie ging wieder in Richtung
Transmitter. Als Juanita sah, daß sie es ernst meinte, und daß keine Kakerlaken durch die
Zentrale wuselten und dunkle Verstecke suchten, folgte sie ihr endlich. Sekunden später
befanden sie sich wieder in der POINT OF.
»Ist es das, was Sie in Erfahrung bringen wollten, Mister Smith?« fragte die Inderin, während
sie die transparente Kapsel dem Mysterious entgegenhielt.
Der betrachtete die reglosen Insekten nachdenklich.
»Was geschah?« fragte er.
»Miß Atawa wollte die Schachtel aufmachen«, vermeldete Juanita sofort. »Das hätte uns noch
gefehlt, daß dieses Ungeziefer sich in der EPOY ausbreitet!«
Rani Atawa warf ihr einen tadelnden Blick zu. »Als wir den Transmitter verließen, krabbelten sie noch wild durcheinander. Dann erstarrten sie innerhalb kurzer Zeit und haben sich bis jetzt noch nicht wieder bewegt.« »Eigentlich müßten sie ja jetzt wieder zu sich kommen«, meinte Ren Dhark. »Sogar noch etwas schneller als zuvor Mister Smith. Insekten sind bekanntlich weitaus widerstandsfähiger als Menschen. Oder als Worgun«, fügte er nach einem kurzen Blickwechsel mit Gisol hinzu. Aber die Kakerlaken rührten sich nicht. »Scheinen tot zu sein«, vermutete Dhark. »Rani, können Sie. feststellen, woran sie gestorben sind?« »Erst einmal werde ich mich vergewissern, daß sie wirklich tot sind. Dann sehen wir weiter.« Sie verzog sich in ihr Labor. Wenig später meldete sie sich über die Bordverständigung. »Die Kakerlaken sind tatsächlich tot. Die mikroskopische Untersuchung der Tiere zeigte, daß sich ihr Nervensystem zersetzt hat. Können Sie mit dieser Information etwas anfangen?« »Ich hoffe es«, sagte Dhark. »Danke für Ihre Mühe.« 62 Er sah Gisol an. »Wie steht es eigentlich mit deinem Nervensystem?« »Das ist entschieden anders aufgebaut als das eines Insekts«, brummte der Worgun. »Du weißt, daß wir Gestaltwandler sind. Deshalb müssen unsere Nervenzellen mehr können als die Ganglien der Insekten. Sie müssen variabel sein, und sie sind praktisch überall, nicht nur in bestimmten Bahnen.« Er sprach etwas zögernd. Ren konnte seine Zurückhaltung sehr gut verstehen. Wer gab schon gern einem Fremden gegenüber seine persönlichen biologischen Eigenarten preis? Andererseits verriet er nichts, was Manu Tschobe bei seiner Untersuchung nicht auch schon erkannt hatte. Nur hatte Tschobe sich in einem fast unverständlichen Medizinerjargon ausgedrückt, der für Ren weit fremder klang als die Worgunsprache, die er perfekt beherrschte. »Vielleicht ist das der Grund, weshalb die Kakerlaken tot sind, du aber überlebt hast?« vermutete Dhark. »Die Insekten sind zwar von ihrer ganzen Konstitution her robuster, aber die Worgun sind die höher organisierte Spezies. Möglicherweise wärest du aber auch gestorben, wenn du dieser Strahlung längere Zeit ausgesetzt gewesen wärst.« Gisol nickte. »Du hattest doch einen Hintergedanken, als du ausgerechnet nach Insekten als Versuchstiere fragtest, nicht wahr?« fuhr Ren fort. Gisol nickte wieder. »Die Zyzzkt?« Gisol nickte erneut. »Du denkst also, es handele sich vielleicht um eine Art Zyzzkt-Abwehr?« »Da bin ich mir gar nicht so sicher«, sagte Gisol. »Ich gehe eher davon aus, daß diese Strahlung sowohl Zyzzkt als auch Worgun fernhalten beziehungsweise töten soll. Denn sonst müßte es doch relativ einfach sein, die Strahlung so abzustimmen, daß sie nur auf Zyzzkt wirkt.« »Aber wirkt sie auf die tatsächlich? Sie sind zwar auch Insekten, aber erheblich höher entwickelt und damit auch zwangsläufig biologisch höher organisiert als die vergleichsweise primitiven Kakerlaken.« Gisol zuckte mit den Schultern, eine Geste, die er von den Terranern übernommen hatte; die Ausdrucksmöglichkeiten worgunscher Körpersprache ließen sich auf die humanoide Gestalt nicht übertragen. »Wir können nur raten und hoffen, daß auch sie sterben. Wissen werden wir es erst, wenn wir es erleben.« »Hoffen, daß auch sie sterben? Jim, das sind Lebewesen, die...«, begann Riker. Auch Ren Dhark hatte tief Luft geholt.
»Sie scheinen nicht begreifen zu wollen, was die Zyzzkt meinem Volk angetan haben, Dan!« unterbrach Gisol ihn schroff. »Sonst würden Sie anders denken. Ihre terranische Humanität in allen Ehren, aber die Zyzzkt haben uns Worgun gemordet und morden uns immer noch. Sie haben mein Volk so zerbrochen, daß es nicht einmal mehr wagt, sich noch zu wehren! Sie haben uns zu ihren Marionetten gemacht, zu ihrem Spielzeug. Sie sind Bestien. Ich verabscheue sie! Ich hasse sie.« Er wandte sich abrupt um und verließ die Zentrale, noch ehe jemand etwas erwidern konnte. Betroffen sahen die Terraner ihm nach. Dhark und Riker kannten ihn besser als die anderen, aber so hatten sie ihn noch nie erlebt. Auch Juanita war geradezu erschrocken. Plötzlich rannte sie los, hinter Gisol her. Eine Weile herrschte lähmendes Schweigen, bis Ren Dhark sich lautstark räusperte. »Das Rätsel ist nicht kleiner geworden«, sagte er. »Fest steht, daß außerhalb eines geschützten Schiffes wie der POINT OF keine Worgun und keine Insekten in die Gas wölke einfliegen können, Menschen hingegen problemlos. Aber warum wirkt die Strahlung auf Menschen nicht, und was ist an der POINT OF so anders? Und nicht weniger wichtig: Wer steckt dahinter?« 65 Ren Dhark brütete an einem Plan. Daß sie von Golden aus hierhergeleitet worden waren, mußte einen Sinn haben, nur widersprach der den Verhältnissen vor Ort. Die Generatorstationen für das Abwehrfeld brachten die Terraner nicht weiter. Mit den technischen Einrichtungen konnte Doorn aus der Ferne nichts anfangen und forderte deshalb immer wieder, an Bord jenes umkonstruierten XeFlash gehen zu dürfen. Dhark verweigerte ihm das nach wie vor. Er lehnte es auch nach wie vor ab, die Stationen nacheinander anzufliegen und zu zerstören, um das Strahlungsfeld auszuschalten. Es war nicht abzuschätzen, was daraus resultieren würde. Seltsam fand er, daß die diversen Strahlungsquellen durchaus anzumessen waren, die energetischen Abläufe in der Gas wölke aber verhinderten, die so geheimnisvoll aufgetauchten Schiffe zu orten, die den Angriff auf die EPOY geflogen hatten. Es handelte sich um Ringraumer, aber wie hatten sie die EPOY orten können, während sie selbst nicht zu verfolgen waren? »Wenn der Prophet nicht zum Berg geht, muß der Berg zum Propheten kommen«, sagte Dhark nach einer Weile. »Was willst du damit sagen?« fragte Riker. Leon Bebir im Pilotensitz grinste. »Der Commander will damit andeuten, daß viele Erdrutsche in den Gebirgen Terras, bei denen um die Jahrtausend wende ganze Ortschaften verschüttet wurden, darauf zurückzuführen sind, daß es in besagten Ortschaften recht fußfaule Propheten gab, denen das Bergsteigen ein Greuel war...« Riker seufzte. »Bebir, wenn ich Sie einen dummen Hund nenne, wird das Schimpfwort blaß vor Neid!« Bebir grinste noch breiter. »Ich will damit sagen«, erklärte Dhark schmunzelnd, »daß wir die anderen herbeilocken müssen, wenn wir schon nicht in der Lage sind, sie zu verfolgen und aufzuspüren.« 66 »Und wie willst du das anstellen?« fragte Riker. »Futter aus- { streuen und >Lecker, lecker! < rufen?« »Du bist ein noch dümmerer Hund als Bebir«, grinste Dhark, wurde aber schnell wieder ernst. »Ich will die EPOY von der POINT OF abkoppeln und mit der Gedankensteuerung so viele ihrer Systeme aktivieren, wie das noch möglich ist. Vielleicht können wir so die fremden Schiffe wieder herbeiführen.«
»Und wie soll das funktionieren?« Riker schüttelte den Kopf. »Sobald Gisol wieder an Bord geht, ist er erledigt. Dagegen hilft auch das Intervallfeld nicht, wie der tragische Opfertod der hilflosen Kakerläkchen zeigte.« Ren verdrehte die Augen. »Hört mir hier eigentlich auch mal jemand zu? Ich sagte laut und deutlich: Ich will das machen. Von Gisol habe nichts erwähnt.« »Ich schätze mal, er wird einiges erwähnen, wenn du fröhlich in sein Schiff marschierst. Dann ist es mit der Freundschaft garantiert aus. Wollen wir wetten?« »Meine Mutter sagte immer: >Wetten tun die Kötten, wenn sie kein Geld haben<«, warf Bebir ein. »Kötten? Was sind das denn für Tiere?« wollte Riker wissen. »Durchgehend eßbar?« »Vermutlich eine regionale Bezeichnung für die Chatten«, erklärte der Zweite Offizier. »Das war ein germanischer Volksstamm. Europa, Deutschland, Region Hessen. Dialektische Abweichungen der Aussprache könnten...« »Danke, Herr Professor, ganz so genau wollte ich es doch nicht wissen«, winkte Riker ab. »Mann, wenn ich schon früher gewußt hätte, was für ein Genie hier in der Schiffsführung verblödet, hätte ich längst Ihre Beförderung angeordnet.« »Aber da Sie schon Ihre eigene Beförderung immer vergessen haben, wundert mich nicht, daß hochqualifizierte Angehörige der Terranischen Flotte immer noch in den untersten Chargen darben müssen.« murmelte etwas, das wie »Grmblhmfgrchzhknurr« klang. 67 In der Tat war er offiziell nur im Rang eines Majors, obgleich er Chef der TF war und selbst die Marschälle Bulton und Trawler ihm untergeordnet waren. Was nichts daran änderte, daß so oder so Ted Bulton die eigentliche Arbeit machte, während Riker nur zu gern mit dem Commander der Planeten zwischen den Sternen herumzigeunerte, dessen Arbeit als Regierungschef ebenfalls seinem Stellvertreter, Henner Trawisheim, oblag. »Wir werden das alles drastisch ändern«, beschloß Ren Dhark. »Kraft meines Amtes befördere ich hiermit den Herrn Leutnant zum Oberleutnant und den Herrn Major zum Oberstleutnant.« »Das kannst du gar nicht!« protestierte Riker. »Als Commander der Planeten kannst du Beförderungen vorschlagen, aber für die Prozedur an sich ist das Flottenkommando zuständig.« »Ich fasse es nicht«, heulte Bebir auf. »Dieser Mensch ist unmöglich! Der versaut sich nicht nur seine, sondern auch noch meine längst fällige Beförderung...« »Das hier sind sogenannte Feldbeförderungen«, stellte Dhark klar. »Ich bin hier in erster Linie Kommandant der POINT OF, zu deren Besatzung ihr beide gehört. Und als solcher steht es mir zu, Beförderungen auszusprechen, die später nur noch formell bestätigt werden müssen. Noch Fragen, die Herrschaften?« »Ja!« kam es von Riker. »Beförderungen kosten Geld. Wie willst du das Finanzminister Lamont beibringen?« »Darüber denke ich später nach, wie Scarlett O'Hara zu sagen pflegte. Können wir jetzt vielleicht endlich wieder zur Sache kommen?« »Wenn es der Wahrheitsfindung dient«, brummte Bebir. »Ich nehme an, ich soll jetzt Mister Jim Smith herzitieren, Commander?« »Trefflich erkannt, mein Bester. Und seien Sie sicher - nichts anderes könnte der Wahrheitsfindung besser dienen.« Bebir aktivierte die Bordsprechanlage. »Mister Jim Smith bitte zurück in die Zentrale! Commander Dhark hat ein neues Verfahren entwickelt, ein paar Zyzzkt umzubringen...« 68 Nur Augenblicke später trat Gisol mit Juanita Gonzales im Schlepp ein.
Als Ren Dhark ihm seinen Plan erläuterte, widersprach er vehement. Ein Nicht-Worgun, der seine EPOY flog? Damit war er absolut nicht einverstanden. Aber im Verlauf der Diskussion wurde ihm allmählich klar, daß er Dhark irgendwann vertrauen mußte, wenn die Mission Erfolg haben sollte. Sie mußten zusammenarbeiten, nicht nebeneinander her. Dabei besaß er selbst einen erheblichen Informationsvorsprung. Er hatte, ehe er sich nach der erfolgreichen Manipulation des Schwarzen Superlochs im Zentrum der Milchstraße Dhark zu erkennen gab, auf Terra und den Kolonial weiten - und möglicherweise auch auf Planeten anderer galaktischer Völker, aber darüber verriet er nichts - jede Menge Daten und Informationen gesammelt. Er wußte über die Milchstraße, deren Völker und ihre Sitten und Gebräuche mehr, als die Menschen über Orn, Worgun und Zyzzkt wußten. Auch Juanita drängte ihn, Dhark zu vertrauen. Da endlich gab der Mysterious nach langem Zögern und Überlegen seinen Widerstand auf. Aber es war ihm anzusehen, daß es ihm alles andere als leichtfiel. Der Roboter Artus, der entgegen seinen Gewohnheiten die Diskussion stumm verfolgt hatte, während er seinen Dienst am Checkmaster tat, meldete sich, um an dem Einsatz teilzunehmen. »Nein«, entschied Ren Dhark. »Aber...« »Nein!« sagte der Commander energisch. »Du begleitest mich nicht. Gisol hat nur einem Menschen den Zutritt gestattet.« »Aber ich bin kein...« Artus verstummte. Er hatte sich selbst in eine Paradoxschleife manövriert. Auf der einen Seite beanspruchte er dle Menschenrechte, auf der anderen wollte er sich als Roboter 69 profilieren, dessen Fähigkeiten die eines Menschen weit überstiegen. Aber nur mit einer dieser Optionen konnte er argumentieren. »Und deshalb bleibst du hier«, entschied Dhark. Zusammen mit Gisol verließ er die Zentrale. Der Worgun wollte Dhark einige »Kleinigkeiten« erläutern, mit denen er es zu tun bekommen würde, da sich die EPOY in diversen Details erheblich von der POINT OF unterschied. Welches der beiden Raumschiffe das bessere war, blieb offen - jedes hatte eine spezielle Ausrüstung. Die EPOY war moderner, die POINT OF besaß einige Geräte, die selbst bei den Mysterious als einzigartig galten... Als die beiden die Zentrale verlassen hatten, beschwerte sich Artus bei Dan Riker über die Abfuhr. »Ich habe mich darum beworben, Besatzungsmitglied der POINT OF zu werden, um etwas zu tun«, klagte der Roboter. »Wie aber soll ich das tun, wenn ich ständig an Bord bleiben muß?« Er wirkte regelrecht beleidigt. »Du warst auf Golden im Außeneinsatz«, erinnerte ihn Riker. »Du kannst nicht immer an vorderster Front sein. Und wenn wir dich hier in der POINT OF brauchen, mußt du dich damit abfinden. Du wirst dich daran noch gewöhnen.« <\A Artus bezweifelte das, aber Riker rief ihn zur Ordnung. »In jedem Raumschiff gilt, was der Kommandant befiehlt. Darüber wird nicht diskutiert. Widerspruch ist Meuterei. Und wie Meuterei bestraft wird, sollte dir bekannt sein.« »Natürlich. Man köpft die Meuterer oder knüpft sie in die Rahen.« »Korrekt.« »Aber das ist undemokratisch. Das galt in der sogenannten christlichen Seefahrt, die mir infolge meiner erworbenen Kenntnisse menschlicher Geschichte gar nicht so christlich erscheint, aber wir sind Raumfahrer und keine Seefahrer, und unsere moralischen und politischen Ansprüche sind...« »Vielleicht hast du nicht richtig gehört, was Oberstleutnant Riker sagte, Artus!« unterbrach ihn Leon Bebir. »Der Kommandant befiehlt, und es wird nicht darüber diskutiert! Abmarsch!«
70 Artus stakste davon und kehrte an seinen Arbeitsplatz zurück. »Erwähnen Sie nie wieder meinen Dienstrang«, seufzte Riker. »Sie wissen doch, daß dieser militärische Zirkus in der POINT OF verpönt ist.« »Was habe ich dann von meiner Beförderung?« ächzte Bebir. »Ich wußte es ja schon immer: Die ganze Welt ist schlecht, und ich bin der einzige Gute!« Ehe Gisol mit Ren Dhark sprach, nahm er in einem unbeobachteten Moment Juanita beiseite und fragte sie, welche Sicherheitsschaltung sie eigentlich aktivieren wollte, als er selbst in die Starre verfiel und sie bemüht war, seine Wünsche gegen die der Terraner durchzusetzen. Sie sah zu ihm auf und lächelte ihn verschmitzt an. »Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ich hätte tun sollen«, gestand sie. »Ich wußte nur, daß du keine Fremden an Bord hättest dulden wollen. Also habe ich einfach nur so getan, als wolle ich notfalls ein paar Knöpfe drücken. Das hat völlig ausgereicht, um dein Schiff vor einem unerwünschten Zugriff der Menschen zu schützen.« Gisol lachte leise auf. »Du bist unglaublich und unersetzlich«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob ich selbst auf diese geniale Idee gekommen wäre.« »Das liegt vielleicht daran, daß ich eine Terranerin bin und du nicht«, sagte sie keck. »Oh, ich könnte eine...« Sie unterbrach ihn. »Natürlich könntest du die Gestalt einer Terranerin annehmen«, sagte sie. »So wie du die Gestalt eines Terraners angenommen hast. Aber egal in welcher Form du dich zeigst, du wirst immer ein Worgun sein und bleiben.« »Du hast recht«, sagte er. Er war froh, daß sie gelernt hatte, mit 71 seiner Fähigkeit des Gestaltwandeins umzugehen. Anfangs hatte sie sich gefürchtet. Sie hatte ihn für ein Monster gehalten. Für sie war es ein Schockerlebnis gewesen, daß ihr großer Freund Jim kein Mensch war. Aber sie hatte sich sehr schnell damit abgefunden und seine Andersartigkeit akzeptiert. »Ja«, sagte er. »Ich unterschätze euch Terraner immer wieder. Und ich danke dir für deine Hilfe.« Er war wirklich beeindruckt von ihrem Bluff und dessen Wirksamkeit, und er war amüsiert über soviel bauernschlaue Frechheit. Juanita stieg noch einmal in seiner Achtung. Und deshalb durfte Juanita nun auch dabeisein und mitlernen, als er Ren Dhark instruierte, wie er die Gedankensteuerung auf sich einstellen und den Ringraumer fliegen konnte. In einem weiteren unbeobachteten Moment, später, wunderte Juanita sich, daß er tatsächlich so viel Vertrauen in Ren Dhark setzte. »Du warst doch immer so mißtrauisch, Jim...« »Das bin ich auch jetzt noch und werde es immer sein«, sagte Jim Smith. »Und deshalb darf ja auch nur Ren Dhark allein an Bord gehen.« Per Transmitter wechselte Ren Dhark in die EPOY. Einen Moment lang fühlte er sich etwas verloren in dem fremden Schiff. Er wußte nicht auf Anhieb, wann zuletzt er sich in einer völlig leeren Ringraumerzentrale aufgehalten hatte. Selbst wenn die POINT OF auf Cent Field lag und die Mannschaft Heimaturlaub hatte, befand sich immer eine Notwache von vier oder fünf Personen im Leitstand. Auch bei seinen bisherigen Besuchen in der EPOY war wenigstens Juanita zugegen gewesen. Jetzt aber war niemand hier. Ren Dhark befand sich allein im Schiff. Langsam näherte er sich dem Kommandopult und nahm im Pilotensitz Platz. 72 Bis auf den Checkmaster war die Zentrale identisch mit der der POINT OF. Den gab es hier nicht; dieses fantastische Bordgehirn schien einmalig im Universum zu sein. An seinem Platz
befand sich hier ein leistungsfähiger Hyperkalkulator, wie die Worgun ihre Superrechner nannten. Das Kommandopult glich dem der POINT OF bis ins letzte Detail. Auch wenn die technische Ausstattung der beiden Raumer sich teilweise voneinander unterschied, spielte das keine Rolle -über die Steuerschalter und Sensorflächen konnten in diversen Schaltkombinationen alle Aggregate gesteuert werden. Und was da nicht möglich war, erledigte die Gedankensteuerung. Gisol hatte Dhark etwas widerwillig erklärt, wie er diese auf sich abstimmen konnte. Normalerweise, so erläuterte Gisol, testete die Gedankensteuerung das Gehirnstrommuster und entschied danach, wer berechtigter Kommandant war und wer nicht. Gisol hatte ihm erklärt, wie sich über ein gedanklich formuliertes »Paßwort« eine Sperre öffnen und eine zusätzliche Berechtigung für ein weiteres Muster registrieren ließ. Was er nicht verraten hatte, war, daß jeder Berechtigte seinerseits jede andere Berechtigung wieder sperren beziehungsweise löschen konnte; aber Ren Dhark, der die Arbeitsweise dieser Spielart von M-Technolo-gie kannte, war sicher, daß es so war. Warum sonst sollte sich Gisol nur so zögernd bereit erklärt haben, ihm das »Paßwort« zu nennen, und warum sonst sollte er bisher nicht einmal Juanita eine Berechtigung erteilt haben? Wahrscheinlich fürchtete er, daß sie in ihrer spielerischen Art völlig unbeabsichtigt durch einen dummen Zufall seine eigene Berechtigung löschte... Der Commander nahm über das »Paßwort« die Verbindung mit der Gedankensteuerung auf. Es war eine Art bildliche Vorstellung, verbunden mit der gedanklichen Ausformulierung mehrerer zusammenhangloser Silben der Worgunsprache. »Mein Gehirnstrommuster als berechtigt registrieren«, forderte Dhark. ^standen, ausgeführt, vernahm er die lautlose Gedanken73 stimme, die nicht anders »klang« als die der POINT OF. Ab sofort war er der neue Kommandant der EPOY. Über die BildsprechVerbindung nahm er Kontakt mit der POINT OF auf. »Bin drin«, erklärte er. »Intervallfelder abschalten.« Das untere Intervallfeld der POINT OF erlosch und gab damit die EPOY frei. Dharks Finger berührten Steuerschalter und brachten sie in andere Positionen. Der Brennkreis des SLE entstand und ließ die EPOY von der POINT OF abdriften. Dhark beschleunigte den Raumer auf ein Viertel der Lichtgeschwindigkeit. Die bereits hier normalerweise einsetzenden Zeitdilatationseffekte traten nicht ein; die hochentwickelte Supertechnik der Worgun verhinderte das. Plötzlich fühlte Ren sich fast wieder »zu Hause«, obwohl ihm nach wie vor bewußt war, sich allein in dem Schiff mit seinen 180 Metern Ringdurchmesser zu befinden. Mittels der Gedankensteuerung aktivierte Dhark nacheinander alle Aggregate, die sich einschalten ließen, ohne sich gegenseitig zu stören, und fuhr sie auf maximale Leistung hoch. Dieser Energieschlag mußte einfach geortet werden. Um so sicherer, als ja schon beim ersten Mal ein Angriff erfolgt war, als die beiden Raumer noch mit >Schleichfahrt< und geringer Antriebsemission unterwegs waren. Die Anzeigen der Instrumente am Kommandopult verrieten ihm, daß die 23 kugelförmigen Konverter mit über 90 Prozent Leistungsabgabe liefen. Eine ungeheure Verschwendung, da diese Energiemengen überhaupt nicht benötigt wurden und sinnlos abgestrahlt werden mußten. Das machte die EPOY zu einem Fanal innerhalb dieser kosmischen Wolke. Die Gedankensteuerung warnte. Eine noch höhere Energieabgabe barg das Risiko der Selbstzerstörung. Die Geräte konnten nicht alles, was sie an Energiemengen von den Konvertern geliefert bekamen, im Leerlauf abstrahlen, und liefen allmählich heiß. Inzwischen betrug die Distanz der beiden Raumer zueinander bereits gut drei Lichtminuten. Mit Sicherheit genug, um die EPOY unverwechselbar zu machen. 74
Per Gedankensteuerung kontrollierte Dhark die Ortungssysteme des Ringraumers. Die überlichtschnelle Fernortung griff lichtjahreweit in die Wolke hinein. Der Commander wartete gespannt darauf, wann es zum ersten Resonanzkontakt kam. Er hoffte, daß dieser Kontakt nicht mehr allzulange auf sich warten ließ... Auch in der POINT OF wartete man auf das Erscheinen des Gegners. Auch hier griffen die Ortungen tief in den Weltraum hinein, nur noch wesentlich effizienter, als Dhark es in der EPOY zustandebrachte. Dhark hatte zwar seinerzeit an der Raumakademie eine Rundumausbildung genossen, und er kam auch mit der Worguntechnik bestens zurecht, aber Grappa und Yell waren Spezialisten, die es in den letzten Jahren gelernt hatten, mit allerlei Tricks auch das Letzte aus den M-Ortungen herauszukitzeln. Was sie nicht erfassen und analysieren konnten, das gab es entweder nicht, oder es überstieg selbst die Möglichkeiten der hochentwik-kelten Worguntechnik. Minuten vergingen. Eine Stunde verging. »Beim erstenmal waren sie fixer hier«, sagte Bebir. »Vielleicht können sie nicht so recht glauben, was hier abläuft«, sagte Riker. »Für die Ortungen strahlt die EPOY doch wie ein kleiner Stern...« Er wies auf einige Anzeigen. »Die überlagert doch alles.« Über die Dauerverbindung hatten Grappa und Yell mitgehört. »Riker, die EPOY können wir so sauber 'rausfiltern, als würde sie gar nicht existieren! Die stört uns überhaupt nicht, aber was wir können, können die anderen garantiert auch«, sagte Yell. Im nächsten Moment rief Grappa: »Da sind sie schon!« 75 Die Sitzung war auf Punkt sechzehn Uhr babylonischer Zeit anberaumt. Zwei Minuten vor dem angesetzten Termin trat Henk de Groot durch die Tür, neben der in Blockversalien KLEINER SITZUNGSSAAL stand. Präsident Appeldoorn kam mit ausgestreckter Hand auf den Ingenieur zu, ergriff dessen Rechte, schüttelte sie jovial und sagte: »Freut mich, Sie zu sehen, de Groot. Setzen Sie sich doch bitte, machen Sie es sich bequem.« Henk sank in den supermodernen Sessel aus Formschaum. Oberst Petain nickte ihm freundlich zu, und Johan Lüttwitz ließ sich zu einem Nicken herab. Appeldoorn fuhr fort: »Ich bin der Auffassung, daß wir das Notwendige mit dem Angenehmen in Verbindung bringen sollten. Ich nehme an, niemand der Anwesenden hat etwas gegen eine Tasse Kaffee einzuwenden?« Diese Annahme war richtig. Während der Präsident am Kopfende der Tafel wieder seinen Platz einnahm und Johan Lüttwitz über das Tischvipho Kaffee orderte, sah sich de Groot in dem Konferenzraum um, den man als »Kleinen Sitzungssaal« bezeichnete. Seine Mundwinkel zuckten. Die pure Untertreibung! Hier hätte man gut und gern die Jahresabschlußfeier eines ganzen Mädchenpensionats abhalten können, ohne in Platznot zu kommen. Die funktionalistische Einrichtung strahlte eine Art verschwenderischer Sparsamkeit aus, die auf den Ingenieur wirkte, als habe man weder Kosten noch Mühen gescheut, um den Konferenzraum absichtlich sachlich und nüchtern zu halten. Noch sachlicher und nüchterner als das ursprüngliche Mysterious-Interieur, das schon von sich aus auf wenig Brimborium ausgelegt war. »Tja«, sagte der Präsident plötzlich, und de Groot merkte, daß er 76 einen Moment lang unaufmerksam geworden war. »Was macht der Goldene?« Henk kniff leicht die Augen zusammen und versicherte: »Immer noch an Ort und Stelle, Sir.« Lüttwitz schien zusammenbrechen zu wollen, während Oberst Claude Petain angelegentlich in seine Tasse starrte; nur wer genau hinsah, entdeckte das Zucken seiner Mundwinkel. »Da wird dieses Riesenbaby wohl auch bleiben, Henk«, meinte Appeldoorn und grinste den Ingenieur mit seinen ebenmäßigen, weißen Zähnen an. »Zumindest nehme ich das stark an.«
Es gab viele Männer in hohen und höchsten Positionen, die auf Kommando Charme an- und abstellen konnten. An denen alles, was sie produzierten, aufgesetzt wirkte, deren Lächeln mechanisch kam, und deren scheinbar freundschaftliche Anrede mit dem Vornamen nichts als ein einstudierter Kunstgriff war. Bei Daniel Appeldoorn war die Freundlichkeit keine Pose, dessen war sich de Groot sicher. Der Präsident aktivierte den holographischen Projektor vor sich. Als er zu sprechen anfing, klang es wie die Verlesung eines gerafften Protokolls. »Ich habe die Unterlagen studiert«, sagte er mit seiner vollen Stimme, »die Sie mir vorab zur Kenntnis gebracht haben, Henk, und die Einzelheiten mit einigen kompetenten Leuten meines Stabes durchgesprochen - nicht nur mit den hier Anwesenden, möchte ich betonen. Man ist der Überzeugung, daß verschiedene Aspekte Ihres Plans machbar wären, andere wiederum nicht. Ich selbst muß gestehen, daß mein persönliches Wissen, abgesehen von den marktwirtschaftlichen Aspekten natürlich, zum Verständnis nicht ausreicht. Deshalb heute diese Zusammenkunft, um die einzelnen Punkte noch einmal näher durchzugehen. Doch bevor wir dazu kommen, möchte ich von Ihnen erfahren, weshalb Sie nicht der Ansicht sind, daß wir in absehbarer Zeit die technischen Anlagen der Mysterious wieder in Betrieb nehmen können. Die Meinungen innerhalb der von mir konsultierten Gruppe von Ingenieuren stehen da eigentlich konträr zu der Ihren.« 77 Henk de Groot zuckte mit den Schultern. »Auch auf Babylon steht jedem das Recht zur eigenen Meinung zu«, sagte er lapidar und schob die leere Tasse von sich. »Ganz egal, wie daneben sie auch sein mag oder wie wenig genau sie den Kern der Wahrheit trifft.« Auf der anderen Seite des Tisches räusperte sich Johan Lüttwitz und wandte sich an den Präsidenten. »Wenn ich hier etwas anmerken dürfte, Sir«, warf er ein, »so finde ich, daß Priestley, Merrows und Chandler kompetente Leute sind, die durchaus etwas von ihrem Metier verstehen und...« »Was nicht notwendigerweise bedeutet, daß sie auch recht haben«, unterbrach Präsident Appeldoorn seinen Sekretär und befeuchtete kurz seine Lippen. Er fuhr fort: »Natürlich kenne ich die herrschende Meinung, auf Babylon sei bei weitem nicht so viel zerstört wie vermutet. Was sagen Sie dazu, Mister de Groot?« »Das ist schon richtig.« Henk nickte. »Und auch wieder nicht. Richtig ist, daß auf Babylon nur die M-Technik, nicht aber die konventionelle zerstört ist, die hier in gewisser Weise überwiegt, weil der Planet vor allem eine Heimstatt für die Mysterious war. Hinzu kommt, daß die meiste Technik in den Wohnpyramiden zum Zeitpunkt des Hyperraumblitzes deaktiviert war. Es konnte deshalb kaum zu irgendwelchen Kurzschlüssen mit anschließender Zerstörung dieser inaktiven Energieversorgung kommen. Tatsächlich gäbe es relativ wenig zu reparieren, um die Systeme wieder ans Netz zu bringen. So gesehen haben die von Ihnen« - er wandte sich an Lüttwitz - »erwähnten Herren recht.« Der Sekretär gab einen zustimmenden Laut von sich. »Aber«, fuhr de Groot mit geduldiger Stimme fort, »woher soll die Energie kommen, wenn nicht von den Meilern und Konvertern der Mysterious? Dummerweise sind die aber komplett ausgefallen und stehen nicht mehr zur Verfügung.« »Wieso eigentlich nicht?« warf Johan Lüttwitz ein und mußte sich einen verweisenden Blick seines Präsidenten gefallen lassen. »Es ist falsch, auf Grund der leichten Reparierbarkeit der Haus78 technik der Ringpyramiden Rückschlüsse darauf zu ziehen, man könnte die M-Meiler ebenso leicht wieder aktivieren«, erklärte Henk de Groot nachsichtig. »Um es einmal klar zu sagen: Die Wiedernutzbarmachung aller M-Relikte hier auf Babylon ist nicht durchführbar. Heute nicht, morgen nicht - und auch sonst irgendwann nicht mehr. Alle nicht von einem Intervallfeld geschützten Anlagen wurden am 8. November 2057 vom Weißen Blitz im
subatomaren Bereich zerstört. Unwiderruflich. Sie wären nach allen Erkenntnissen, die ich
mir auf Grund meiner Arbeiten auf diesem Gebiet erworben habe, nicht einmal mehr von den
Mysterious selbst zu reparieren.«
»Nun machen Sie aber mal einen Punkt«, warf Johan Lüttwitz ein.
»Gerne«, erwiderte de Groot, »aber deswegen ist es nicht weniger wahr. Sämtliche wichtigen
Baugruppen müßten komplett erneuert werden. Aber dafür fehlen uns sowohl das notwendige
Wissen als auch Ersatzteile aus M-Produktion.«
»Hmm«, Daniel Appeldoorn nahm seine fleischige Nase zwischen Daumen und Zeigefinger
und rieb sie nachdenklich. »Sie sind davon überzeugt?« fragte er schließlich.
»Voll und ganz«, versicherte der Systemingenieur, der mit seinen Spezialisten für die Leitung
der technischen Abteilungen auf Babylon verantwortlich war. »Ich sage es nicht gerne,
glauben Sie mir, meine Herren, aber alle von dem Hyperimpuls betroffenen Aggregate und
Bauteile müßten komplett ausgetauscht werden, von den Mysterious wohlgemerkt, wenn sie
denn noch existierten. Wir Terraner sind dazu nicht in der Lage. Meine Arbeitsgruppe hat
schon die größten Schwierigkeiten, die nicht vom Weißen Blitz außer Kraft gesetzten, weil
von einem Intervallfeld geschützten Anlagen unter dem Goldenen wenigstens im Ansatz zu
verstehen. Aber das wissen Sie selbst, Herr Präsident. Die Berichte liegen Ihnen ja schon
länger vor.«
Eine volle Minute lang war es still im Konferenzraum Schließlich sagte Daniel Appeldoorn.
»Na schön. Kommen wir zum ei-
gentlichen Zweck der heutigen Besprechung.«
Henk nickte; wie ein Suprasensor konnte er ein Problem in eine Datei schieben und ein
anderes abrufen.
Jetzt sprach er halblaut und - wie er hoffte - überzeugend von seinem Konzept, einem
Alternativplan für den Ausbau der Kolonie, nur unterbrochen von wenigen, gezielten
Zwischenfragen des Präsidenten. Er kennzeichnete eindringlich die Lage, in der sich Babylon
seit jenem verhängnisvollen Tag vor achtzehn Monaten befand und unterbreitete dann seine
Vision, wie er sich die Zukunft der Kolonie vorstellte.
»... anstatt auf Unterstützung von der Erde zu hoffen«, erklärte er, »und über das
NichtZustandekommen eben dieser Hilfe zu jammern, sollten wir das Heft selbst in die Hand
nehmen. Haben wir doch die denkbar besten Voraussetzungen... jeder hier auf Babylon ist gut
ausgebildet und hat eine Menge Ideen. Wir sollten sie dazu verwenden, sie in Arbeitsgruppen
zu realisieren, um diesen Planeten zu dem zu machen, was er später einmal sein soll. Nämlich
wieder eine Heimstätte. Nur diesmal nicht für Mysterious, sondern für uns Menschen...« Er berichtete weiter über den Glücksfall, einen Planeten wie Babylon gefunden zu haben, auf
dem alles vorhanden war und nichts gebaut werden mußte: Energie Verteilerstationen, die nur
wieder ans Netz gehen mußten, ansonsten aber so gut wie betriebsbereit waren. Eine
Infrastruktur, die nur darauf wartete, in Betrieb genommen zu werden. Verkehrswege,
Erholungsflächen - und vor allem eines: Wohnraum!
Wohnraum im Überfluß.
»Der ganze Planet«, legte Henk dar, »ist nach dem augenblicklichen Erkenntnisstand fast
vollständig mit den Pyramidenbauten bedeckt. Sie besitzen zwar bis auf die wenigen, die wir
für unsere Bedürfnisse instandgesetzt haben, im Moment keine Energieversorgung, sind aber
ansonsten intakt.«
»Haben Ihre Teams denn überhaupt keine funktionierenden Meileranlagen mehr entdeckt?«
unterbrach ihn Präsident Appel-
80 doorn.
»Nein, Sir«, bedauerte Henk de Groot.
»Besteht wenigstens die Hoffnung, daß wir irgendwo auf diesem Planeten noch einige intakte
Anlagen finden könnten?«
»Ich müßte lügen, würde ich dies bejahen«, sagte Henk langsam. »Im Grunde kennen wir Babylon kaum. Wir können nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob es auf dem Planeten nicht doch noch weitere Goldene Menschen oder sonstige funktionierende M-An-lagen gibt. Wir wissen einfach zu wenig von unserer neuen Heimat. Die Planetenoberfläche wurde bis heute ja nicht einmal kar-tographiert. Die wenigen Gruppen, die sich von hier aus ins Landesinnere aufmachten, konnten bislang nur einen Bruchteil der Oberfläche in Augenschein nehmen. Niemand kann deshalb mit Bestimmtheit sagen, auf was wir noch stoßen werden! Ich halte es daher für dringend erforderlich, einen Satelliten für eine automatische Kartographierung des Planeten in eine Umlaufbahn zu bringen, der uns exakte Daten über die Topographie Babylons liefert. Darüber, ob es noch weitere Statuen gibt. Ob vielleicht planetare Festungen irgendwo in unzugänglichen Schluchten oder Hochtälern verborgen liegen.« Appeldoorn sah zu Claude Petain hinüber. »Was halten Sie davon, Claude«, wandte er sich an den Militärkommandanten, »ist das machbar?« »Sogar ohne großen Aufwand.« Der Oberbefehlshaber der militärischen Streitkräfte Babylons nickte. »Die VESTA hat vier Spionagesonden an Bord, die für ausgedehnte Beobachtung fremder Planetenoberflächen gedacht sind. Wir könnten eine davon so programmieren, daß sie in einem Langzeitprogramm zur Kartographierung Babylons eingesetzt werden kann.« Die VESTA war ein 200-Meter-Kugelraumer aus den ehemaligen Beständen der Giants, der zur der kleinen Flotte an Schiffen gehörte, über die der Militärkommandant verfügte. »Gut.« Appeldoorn nickte bedächtig. »Sie leiten das in die Wege, Claude. Umgehend!« 81 »Natürlich, Herr Präsident. Ich...« »Wäre es nicht wesentlicher einfacher, einen der Überwachungssatelliten dafür einzusetzen, die um Babylon kreisen?« warf Johan Lüttwitz ein, handelte sich aber nur ein Stirnrunzeln von Oberst Petain ein. »Kaum«, sagte dieser. »Bei diesen Satelliten handelt es sich um solche mit spezifisch militärischer Auslegung, vorgesehen dafür, weit draußen im Raum fremde Schiffe anzupeilen und ihre Beobachtungen an die Bodenstationen weiterzuleiten. Sie lassen sich nicht so ohne weiteres für das geforderte Einsatzprofil umrüsten. Jedenfalls nicht ohne erheblichen Zeitaufwand und noch erheblichere Kosten.« „.. Einen Augenblick lang herrschte Stille. Dann regte sich Appel-doorn. »Beantwortete das Ihre Frage, Johan?« Lüttwitz nickte. »Ausgezeichnet.« Appeldoorn nickte erneut und wandte sich an Henk de Groot. »Sie sind wieder dran, Herr Ingenieur. Wie ich Ihrem Konzept entnehme, haben wir noch ein paar Punkte abzuarbeiten.« »In der Tat!« Henk schwieg einen Moment, wie um sich zu sammeln, dann sagte er: »Energie ist, wie bereits erwähnt, unser Hauptproblem. Mit eigener Hände Arbeit und den vorhandenen Mitteln können wir eine kleine Fusionsmeilerproduktion auf die Beine stellen, die es uns ermöglicht, die notwendige Energie zur Verfügung zu stellen, um ein paar Pyramidenbauten mehr nutzbar zu machen. Aber damit hat es sich dann auch schon.« Er spreizte seine Finger und betrachtete sie, als sähe er sie heute zum ersten Mal. Dann fragte er langsam und mit Betonung: »Hat sich eigentlich schon mal jemand Gedanken darüber gemacht, welchen unvorstellbar hohen Nutzwert Babylons Immobilien auf dem terranischen Markt hätten?« »Immobilien? Nutzwert?« Oberst Petain beugte sich etwas vor. »Sie sprechen hier von Geld?« »Von eben diesem.« . »Sollen wir etwa unter die Makler gehen?« »So verkehrt wäre das gar nicht.« Henk de Groot grinste den hochdekorierten Soldaten an. »An der Tatsache, daß Kaufleute Geld verdienen, ist nichts Ehrenrühriges.«
»Richtig«, bestätigte der Präsident. »Auch Immobilienmakler sind ehrenwerte Leute - zumeist wenigstens.« »Meine Rede«, sagte Henk de Groot. »Wir sollten uns in dieser Hinsicht alle Optionen offenhalten.« »Kaufleute!« brummte Claude Petain mit gespieltem Naserümpfen. »Wenn Sie so wollen, Oberst«, sagte Henk. »Aber bedenken Sie, daß beispielsweise Ihre Kleidung, gewisse Annehmlichkeiten und einige andere kleine Dinge des Lebens auch vom Kaufmann geliefert wurden.« »Sie haben vermutlich recht«, gab sich Petain zerknirscht. »Ihr kluger Kopf sei gesegnet«, versetzte Johan Lüttwitz an de Groot gewandt, und seiner Miene war nicht zu entnehmen, ob diese Bemerkung als Kompliment verstanden werden mußte oder vielmehr das Gegenteil bedeutete. Wahrscheinlich letzteres, denn er fügte nach einem winzigen Zögern hinzu: »Sie scheinen eigentlich ein recht vernünftiger Mann zu sein.« »Viele Menschen wissen das längst«, erwiderte der Systemingenieur mit einem ironischen Funkeln in seinen graublauen Augen und strich sich eine widerspenstige Strähne seines blonden, schon etwas schütteren Haars aus der Stirn. »Schön, daß Sie jetzt auch zu dieser Gruppe zählen.« »Aber, meine Herren!« mahnte der Präsident. Henk de Groot wurde schlagartig ernst. »Wie gesagt, wir haben hier auf Babylon alle Optionen, die man je in diesem Gewerbe besitzen kann. Und dabei habe ich bislang nur die Grundzüge erarbeitet. Ich bin weder Kaufmann noch sonst irgendwie volkswirtschaftlich vorbelastet, dennoch habe ich mir die Mühe gemacht, zu berechnen, in welchem Verhältnis Flächen für Wohn- und Produktionszwecke einzusetzen wären und bin zu 83 einem Ergebnis gelangt, das uns, sollte mein Konzept erfolgreich werden - wovon ich eigentlich ausgehe - über Generationen hinweg aller Sorgen behebt.« Auf der anderen Seite des Tisches räusperte sich Johan Lüttwitz. »Dürften wir erfahren, worum es bei Ihrem Konzept geht?« Sie durften. Und was sie erfuhren, verschlug ihnen ein wenig den Atem. Henk de Groots Plan basierte auf der Grundlage, daß Babylon mehr als 20 Milliarden Menschen Wohnraum und Arbeitsplätze zu bieten hatte. Und dies zu wesentlich günstigeren Bedingungen als auf der von Rezession gebeutelten Erde, einfach deshalb, weil die Infrastruktur bereits zur Verfügung stand. Das Konzept, das Henk de Groot den Zuhörern vorschlug, war gigantisch und dennoch in seiner Einfachheit geradezu revolutionär: Es sah vor, Babylon zu einem Steuerparadies für potentielle Anleger zu machen, zur Steueroase für Schwer- und Leichtindustrie... Schiffswerften... Energieversorgungsanlagen - vor allem diese! - und Dienstleister großen Stils. Auf Babylon würden sich auch die Ableger aller großen Banken drängen, die begierig wären, ihre Milliarden dem Zugriff des terranischen Fiskus zu entziehen. Finanziert werden würde dieses auf Generationen angelegte Projekt auf die denkbar einfachste Art: durch die Miet- und Pachteinnahmen der Immobilien, die Eigentum des Staates waren und es auch bleiben mußten. Der wiederum würde sich per Gesetz verpflichten, weder Grund noch Boden zu veräußern. Henk de Groot redete lange und ausführlich - entgegen seiner sonstigen Gewohnheit - und endete dann: »Wir sollten sofort damit beginnen, Angebote an terranische Konzerne herauszugeben, sich steuerfrei auf Babylon anzusiedeln. Vorausgesetzt, sie produzieren die richtigen Produkte also zunächst einmal Fusionsmeiler, denn unser Problem ist vor allem ein Energieproblem. Ich bin mir bewußt, daß man uns das Leben schwermachen wird. Terras höchste Finanzbeamte werden Zeter und Mordio
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schreien. Aber die Erde ist weit. Bis das Echo dessen, was wir hier beabsichtigen, zu Dhark
beziehungsweise Trawisheim durchgedrungen ist, steht das Projekt und kann nicht mehr
aufgehalten werden.«
Lüttwitz holte tief Luft.
»Ein kühner Plan. Er erfordert Mut.«
Henk nickte.
»Ohne den gäbe es keinen Fortschritt.«
»Und ohne Macht auch nicht«, brachte sich der Präsident zu Gehör. »Die Macht nämlich, dies
alles öffentlich zu machen und zu vertreten. Ich befürchte, daß Terra nicht so ohne weiteres
Babylon als Steueroase im Weltraum akzeptieren wird.«
»Wie ich Sie einschätze, Sir«, sagte Henk ruhig, »werden Sie den politischen Konflikt mit der
Erde riskieren.«
»Sie scheinen ein kluger Kopf zu sein, Henk de Groot«, sagte der Präsident mit einem
angedeuteten Lächeln. »Ja. Wir werden sehen, wie Terra reagiert und entsprechend darauf
antworten.« Er schwieg eine Weile nachdenklich. Dann holte er tief Luft und sagte langsam
und akzentuiert: »Es ist für mich eine Überraschung zu erfahren, daß sich Babylons Bürger
für die Zukunft dieser Welt derart engagieren und dafür arbeiten. - Gut, wir werden von den
Versuchen absehen, die M-Technik wieder zu etablieren, und Ihren Plan, Henk, zur offiziellen
Maxime der Regierungspolitik machen. Beschlossen und festgeschrieben mit dem heutigen
Tag. Eine Frage: Wollen Sie dieses Projekt leiten?«
»Ich, Sir?«
»Natürlich, Sie! Oder denken Sie, ich lasse einen Mann mit Ihren Fähigkeiten so einfach
außen vor? O nein, mein Lieber.« Er schüttelte kategorisch den Kopf. »Babylon braucht
Männer Ihres Kalibers. Sie gehören von nun an dazu. Auf Gedeih und Verderb, wie man so
schön sagt.«
Henk de Groot sah auf, man konnte seine Überraschung förmlich mit den Händen greifen.
»Ist das Ihr Ernst?« Er beugte sich wie elektrisiert vor und starrte den Präsidenten an.
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»In solch schwerwiegenden Dingen pflege ich grundsätzlich nicht zu scherzen, Henk«, kam
Appeldoorns Antwort.
Der Systemingenieur verschränkte die Finger. Schließlich nickte er nachdrücklich. »Also gut.
Einverstanden, Sir.«
Der Präsident lächelte. »Ausgezeichnet. Hiermit ernenne ich Sie zum Beauftragten mit
besonderen Vollmachten für die Realisierung des von Ihnen entwickelten >Babylon-Plans<.«
Johan Lüttwitz und der Oberst applaudierten gedämpft.
Henk lächelte verlegen und machte eine abwehrende Handbewegung. Er fühlte sich zwischen
den Politikern und dem Militär hilflos und ein bißchen verloren. Im stillen schwor er sich, daß
er nicht länger als ein halbes Jahr brauchen würde, um den Umgang mit all dem Neuen
gelernt zu haben.
Der Präsident sagte: »Sie sind gerade in einem sehr exklusiven Klub aufgenommen worden,
de Groot. Ich hoffe, das ist Ihnen bewußt.«
»Ich weiß es zu schätzen, Herr Präsident«, erwiderte der Ingenieur. »Hoffentlich enttäusche
ich nicht Ihre Erwartungen.« Er schwieg einen Moment, dann sagte er: »Bei der Gelegenheit -
da ich jetzt sozusagen zum inneren Zirkel gehöre...«
Johan Lüttwitz hüstelte leicht, was Oberst Petain mit einem breiten Grinsen quittierte,
während Präsident Appeldoorn taktvoll ein Lächeln unterdrückte..
»... möchte ich, ehe ich mich in diese herkulische Arbeit stürze, um Urlaub nachsuchen.«
Schweigen.
»Wie lange sollen diese Ferien denn dauern?« fragte Appeldoorn schließlich.
»Zwei Wochen«, erwiderte Henk kühn.
»Zwei Wochen! Und was haben Sie vor?«
»Die nähere Umgebung erkunden - und ausspannen natürlich. Dies vor allem. Die letzten
Monate waren ziemlich heftig.«
Der Präsident sah zu Oberst Petain.
»Einwände...?«
m
Der Militärkommandant von Babylon schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts dagegen.«
»Gut.« Der Präsident wandte sich an Henk. »Melden Sie sich, sobald Sie aus Ihrem - hm -
Urlaub zurück sind. Ich werde veranlassen, daß Ihnen ein vernünftiger Dienstgleiter zur
Verfügung gestellt wird, sozusagen als Vorgriff auf Ihre neue Tätigkeit, die natürlich auch
entsprechend hoch dotiert sein wird. Ist das in Ihrem Sinne, Henk?«
Der Ingenieur blinzelte überrascht und nickte.
»Völlig. Könnte nicht besser sein.«
Charlize Farmer erwachte schweißgebadet.
Langsam nur klärte sich ihr Geist, und die Trugbilder der Nacht lösten sich in Nichts auf.
Mit einem tiefen Seufzer rollte sie sich auf den Rücken, atmete mit offenem Mund. Wie es
schien, war sie jenem riesigen, dunklen Schatten entkommen, vor dem sie durch lange
Fluchten unbekannter Räume geflüchtet war. Durch hallende Korridore und über Schächte,
die sich in grundlosen Tiefen verloren.
Mit dem Gefühl, viel zu wenig geschlafen zu haben, setzte sie sich auf, zog die Knie an und
schlang die Arme darum. Leicht benommen blinzelte sie in die vertraute Umgebung ihres
Schlafraumes.
Das Zimmer war kühl.
Tageslicht sickerte durch die polarisierenden Sonnenblenden.
Schmale Streifen von Licht und Schatten erstreckten sich über den Bodenbelag. Langsam
trocknete der Schweiß auf ihrer Haut.
Das dünne Laken von sich strampelnd, schwang Charlize die langen Beine aus dem Bett,
stand gähnend auf und zog sich das Nachthemd über den Kopf. Mit einer achtlosen Bewegung
ließ sie es zu Boden fallen. Sie schüttelte den Kopf, daß ihre blonden Haare nur so flogen, und
trottete in die Dusche.
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Die kalten Wasserstrahlen trugen wesentlich dazu bei, ihrer physischen Verfassung auf die
Sprünge zu helfen. Während sie sich abschließend in der Trockenkabine unter dem warmen,
mit Duftstoffen angereicherten Luftstrom drehte, betrachtete sie sich selbst in der Spiegel
wand.
Sie war ohne Zweifel attraktiv. Langbeinig, hellhäutig, die blonde Mähne trug sie meist zum
schlichten Pferdeschwanz gebunden. Sie hatte schimmernde, strahlend blaue Augen, von
Natur aus volle Lippen, ein ovales Gesicht und eine ansprechende Oberweite. Neben diesen
körperlichen Vorzügen besaß sie jede Menge Intelligenz, war technisch begabt (wenn sie
damit auch meist etwas hinter dem Berg hielt), und sie war spezialisierte Krankenschwester in
Babylons vorläufig einziger Klinik.
Sie beugte sich näher zum Spiegel und betrachtete prüfend ihr Gesicht auf der Suche nach den
ersten verräterischen Fältchen. Halt! War da nicht... nein, noch war nichts zu sehen, aber... '
Plötzlich streckte sie sich die Zunge heraus.
»Was soll diese Gefühlsduselei, dumme Pute«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. »Falten
bedeuten allenfalls eine winzige heilbiologische Korrekturmaßnahme, sollte es mal soweit
sein...«
Mitten in ihre Überlegungen zirpte das Vipho.
Sie warf sich in den Morgenmantel, schlang den Gürtel sehr lokker um ihre Taille und ging
zurück in den Wohnraum.
Sekundenlang starrte sie das Gerät an. Sicher die Klinik. Oder eine der Kolleginnen mit einem
Problem.
Eigentlich hatte sie ihre vierzehntägige Schicht hinter sich, zwei Wochen Freizeit lagen vor
ihr.
Eigentlich gab es keinen Grund, das Gespräch anzunehmen, doch dann siegte die Vernunft,
und sie sagte mit einem fatalistischen Achselzucken: »Ja?« '
Ihre Stimme aktivierte das Tischgerät.
Der Monitor erhellte sich.
»Hallo, Charlize!« sagte eine vertraut klingende Stimme.
Nicht die Klinik. Schon mal gut. Aber...
Sie legte den Kopf schief und blickte kühl.
»Sieh an, sieh an, wenn das nicht dieser verantwortungslose Bursche ist, der mich vor drei
Tagen hat sitzenlassen. Ich sollte kein Wort mehr mit dir reden - Schuft!« Sie versuchte,
Verachtung in ihre Stimme zu legen. Es gelang ihr nur unvollkommen.
Henk de Groot räusperte sich.
»Bist du aber nachtragend. Ich habe dir doch schon erklärt, weshalb aus unserem Rendezvous
nichts werden konnte...«
»Ja, ja«, unterbrach sie ihn. »Was war es gleich wieder...? Ach ja, du mußtest einige mobile
Speicheraggregate überprüfen, damit das Abfallentsorgungssystem in einer Wohneinheit nicht
den Geist aufgab, was zu unerträglichen Geruchsbelästigungen geführt und sich negativ auf
das Wohlbefinden der Bewohner ausgewirkt hätte... war es nicht so?«
»Ist ja schon gut, Liebes«, stoppte Henk den Redefluß seiner Freundin. »Ich bekenne mich in
allen Anklagepunkten für schuldig.«
Charlize Farmer registrierte verwundert eine ungewohnte Heiterkeit in seiner Stimme, wo er
doch eigentlich hätte zerknirscht sein müssen.
Sie räusperte sich und schnappte: »Was gibt es? Warum die frühe Störung? Ich hoffe für dich,
es ist was Wichtiges?«
»Könnte man so sagen.«
Erneut diese versteckte Fröhlichkeit.
»Mach mich nicht zornig, Henk de Groot!« sagte sie. »Ich...«
»Wie schnell kannst du in der Klinik Urlaub bekommen«, unterbrach er sie.
Hatte der Kerl denn überhaupt kein Feingefühl?
Sie kniff die Augen zusammen.
»Wie meinst du das?«
»Wie ich es sage.«
»Heißt das, daß wir...«
Wieder unterbrach er sie. »Genau das heißt es. Wir machen Urlaub. Vierzehn Tage. Was sagst
du?«
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»Wann?« Sie beugte sich vor, ohne zu bemerken, daß der Morgenmantel auseinanderklaffte
und einiges von ihr preisgab.
»Ab sofort. Was sonst?«
»De Groot, de Groot«, sie seufzte übertrieben. »Immer diese Hektik! Laß mir einen Moment
Zeit, darüber nachzudenken.«
Ihre Stirn legte sich in angestrengte Falten, was die niedlichen Sommersprossen um ihre Nase
ziemlich durcheinanderwirbelte. Dann hellte sich ihre Miene auf. Sie nickte und sah Henk
strahlend an. »Ich kann!« versicherte sie. »Wann wollen wir starten?«
Er grinste womöglich noch niederträchtiger.
»Sobald du dich vernünftig angekleidet hast.«
»Ich werde zwar noch einiges erledigen und ein paar Besorgungen machen müssen«, sagte
Charlize, »dann muß ich mich noch von meinen Kolleginnen verab... waaas?« Sie zuckte
zusammen, suchte mit hektischen Bewegungen ihre Blößen zu bedecken und ließ es dann mit
einem Achselzucken sein. Es gab nichts an ihrem Körper, was Henk nicht schon kannte. Der
aber hatte sich bereits mit einem breiten Lachen und einem »Ich hole dich in dreißig Minuten
ab« ausgeblendet.
»Offenbar hat's doch gereicht, um Aufmerksamkeit zu erregen«, murmelte Bebir.
In der Zentrale der POINT OF machte sich Anspannung breit. Erneut waren fremde
Ringraumer im Anflug geortet worden!
»Zehn Schiffe«, meldete Grappa. »Dreiviertel Lichtgeschwindigkeit, Kollisionskurs zur
EPOY!«
»Zehn diesmal?« Riker beugte sich zu den Steuerschaltern vor. »Man geruht ein wenig
massiver aufzutreten. Status der Raumer?«
»Ringschiffe, wie gehabt. Intervallfelder auf Maximum, 80 Prozent Konverterleistung«,
meldete Yell. Auf seinen Schirmen sah Riker die eingeblendeten Geschwindigkeitswerte.
»Ringraumer bereiten sich auf Angriff vor.«
Sekundenlang schwebten Rikers Finger über den Schaltern, führten Bewegungen in der Luft
aus. Eine Kombination, die dem neben ihm sitzenden Leon Bebir makaber bekannt vorkam.
Er hatte sie bei Ren Dhark schon einmal gesehen.
Aber Riker führte die Schaltung nicht wirklich durch. Der Gedanke, das Hy-Kon einzusetzen,
hatte ihn nur kurz durchzuckt. Es war nicht Sinn der Aktion, die Angreifer unentrinnbar in
den Hyperraum zu schleudern, sondern ihre Herkunft herauszufinden. ;
»Woher sind die Kähne schon wieder so überraschend gekommen?« fragte Riker.
Da sie im Moment des Auftauchens im Ortungsbereich nur mit 0,75 Licht flogen, war die
Frage berechtigt.
»Ich arbeite noch dran«, rief Yell.
»Arbeiten Sie schneller, es bleibt gleich nicht viel Zeit!« warnte Riker und brachte die POINT
OF in Fahrt.
Drei Lichtminuten zur EPOY waren kein Problem.
Die POINT OF flog mit eingeschaltetem oberen Intervallfeld. Riker schaltete auf Sternensog!
Aus dem Stand wurde der Ringraumer plötzlich überlichtschnell und legte die Distanz in
wenigen Sekunden zurück, um genau so schnell wieder unterlichtschnell zu werden, als von
Sternensog auf SLE umgeschaltet wurde, und zu stoppen.
Blitzschnell positionierte Riker die POINT OF über die EPOY und fuhr das untere
Intervallfeld hoch. Es stand wenige Augenblicke bevor die Fremdraumer angriffen.
Gerade hatte Grappa noch gewarnt: »Ringschiffe eröffnen das Feuer«, als er diese Meldung
auch schon wieder zurücknehmen mußte. »Kein Strahlbeschuß, wiederhole, kein
Strahlbeschuß!«
Die EPOY befand sich wieder im Intervallschutz der POINT OF und wurde deshalb von den
Angreifern nicht mehr registriert!
»Funk-Z...«
»Wir senden auf allen Frequenzen. Fremdraumer reagieren auf keines der Signale!«
»Fremdraumer drehen ab«, gab Grappa bekannt. Gehen auf Ge-
m
91 genkurs. Wir bleiben dran. Sie auch, Zentrale?«
»Und ob!« Bebir beschleunigte bereits wieder. Riker lehnte sich zurück.
Diesmal waren sie alle, Ortung wie Schiffsführung, besser vorbereitet. Sie ließen sich von
dem schnellen Rückzug der Angreifer nicht mehr irritieren. Bebir blieb am Ball, hielt mit den
fremden Ringraumern mit. Grappas Ortung ließ die Schiffe nicht mehr los.
Riker meldete sich über Viphoverbindung bei seinem Freund. »Du kannst wieder Dampf
ablassen, Ren, bevor dir die EPOY um die Ohren fliegt! Dein Energieumsatz ist riskant
hoch!«
»Fang du nicht auch noch damit an«, seufzte der Commander. »Die Gedankensteuerung geht
mir mit ihren Warnungen auch schon ständig auf die Nerven.«
Aber er schaltete die Konverter wieder auf normale Leistung herunter.
Die grell strahlende kosmische Fackel auf den Anzeigen des Kommandopults wurde wieder
zu einem normalen Echopunkt.
Im gleichen Moment beschleunigten die fremden Raumer mit Höchstwerten. Innerhalb
weniger Augenblicke rutschten sie der POINT OF aus der Ortung!
»Was ist das denn für eine Formulierung, Grappa?« fauchte Riker. »Aus der Ortung rutschen?
Wie bitte dürfen wir das verstehen?«
»Sagen wir's mal ganz einfach: Wir haben sie schon wieder verloren!«
»Aber wir waren doch relativ dicht dran!«, knurrte Riker.
»Das ändert aber nichts an den teilweise katastrophalen Verhältnissen in dieser verdammten
Wolke«, wurde jetzt auch Grappa knurrig. »Wir haben sie ganz einfach verloren, nicht mehr
und nicht weniger! Wir versuchen sie wieder zu erwischen, aber dafür sind Vorwürfe aus der
Zentrale auch nicht besonders hilfreich!«
Riker verstand den Hinweis und hielt sich zurück.
»Ob das an der Abschaltung der EPOY-Fackel liegt?« überlegte er. »Denn gerade als die die
Energieerzeuger runterfuhr, ver-
schwanden die Raumer...«
»Daran glaube ich nicht«, sagte Bebir. »Eher an Grappas Theorie.«
Aber beide Denkmodelle halfen ihnen in diesem Moment nicht
weiter.
93
6. Die »Schleichfahrt« ging weiter. Mit voll aktivierten Ortern flogen die beiden Schiffe mit geringer Überlichtgeschwindigkeit auf der Spur der fremden Raumer immer tiefer in die Gaswolke hinein. Dabei blieb die EPOY nach wie vor im Intervallschlepp des terranischen Flaggschiffs. Die »Spur« bestand in erster Linie aus einer Hochrechnung des Kurses, den die fremden Ringraumer vor ihrem Verschwinden eingeschlagen hatten. Einmal fing die Energieortung sekundenlang ein Echo ein, das dem Energiespektrum eines Ringraumers glich, aber im nächsten Moment war es bereits wieder verschwunden. Allerdings lag es in der Richtung, die der Checkmaster für wahrscheinlich ansah. Gisol äußerte das Verlangen, in seine EPOY zurückkehren, um deren Ortungen zu nutzen. »Mit Verlaub, Ren«, sagte er, »deine POINT OF ist ein erstklassiges Schiff, aber mein Raumer ist tausend Jahre moderner. Ich denke, daß ich mit meinen Ortungssystemen etwas mehr herausfinden kann.« Vom Bildschirm her sah Dhark ihn kopfschüttelnd an. »Zu riskant, Gisol«, sagte er. »Du kippst garantiert wieder weg, und diesmal vielleicht schlimmer als zuvor. Wir befinden uns jetzt wesentlich tiefer in der Wolke als beim ersten Mal. Wenn das Strahlungsfeld hier stärker wirkt, überlebst du es vielleicht nicht.« Der Worgun protestierte. »Die EPOY befindet sich im Schutz deines Intervallfelds. Daß es wirkt, hat sich doch schon zweimal gezeigt, als die Fremdraumer wieder abdrehten, nachdem die EPOY von der POINT OF geschützt wurde!« »Zu riskant«, wiederholte Dhark. »Ich halte es durchaus für möglich!« beharrte Gisol. »Ich komme rüber...« »Stop!« warnte Dhark ungewöhnlich scharf. »Erst machen wir noch einen Insektenversuch!«
Dan Riker in der POINT OF reagierte sofort. Er rief über die Bordsprechanlage Rani Atawa an. »Haben Sie noch ein paar von Ihren süßen Käfern?« »Nur noch vier«, erwiderte die Inderin. »Dann zeigen Sie doch bitte einem von ihnen die große weite Welt der Worgun.« »Sie meinen, ich soll noch einmal in die EPOY?« »Sie haben das mit präziser Schärfe treffend erkannt«, erwiderte Riker. »Ren wird sich über die Gesellschaft sicher sehr freuen.« »Über meine oder die der Kakerlake?« fragte Atawa spöttisch. »In Ordnung, wir zwei Hübschen kommen gleich zum Transmitter in die Zentrale.« . Es war, wie Ren Dhark es befürchtet hatte - das Insekt hörte innerhalb weniger Augenblicke auf, sich zu bewegen, nachdem Rani Atawa mit dem kleinen Behältnis aus dem Transmitter kam. »Danke, Rani, das war's«, sagte Ren. »Das müßte auch Gisol endgültig überzeugen, daß der Aufenthalt in seinem Schiff für ihn tödlich ist.« Er sicherte die EPOY via Gedankensteuerung und kehrte gemeinsam mit der Inderin und dem toten Insekt in die POINT OF zurück. Gisols Raumer wurde von der POINT OF im Intervallfeld geschleppt, ob jemand an Bord war oder nicht. Und da Ren mit den Ortungen vermutlich nicht so arbeiten konnte, wie es der Worgun getan hätte, war seine Anwesenheit in der EPOY zunächst überflüssig. Grappa oder Yell in das Worgunschiff zu holen, stieß auf Gisols heftigen Widerstand. Es hatte ihm schon nicht gefallen, daß neben Dhark nun auch Atawa kurzzeitig an Bord seines Raumers war. Hier sah er den Sinn der Aktion noch widerstrebend ein, aber er wollte einfach nicht so viele Terraner an Bord haben. Ren Dhark konnte diese Phobie zwar nicht so recht verstehen, aber er respektierte Gisols Wunsch. Der Worgun befand sich ohnehin in einem mentalen Ausnahmezustand. War er wirklich davon ausgegangen, im Schutz des POINT OF-Intervallfelds überleben zu können? Immerhin waren die anderen Kakerlaken ebenfalls unter Intervallschutz gestorben! Aber er klammerte sich wohl selbst an irrationale Vorstellungen. Er war ein Rebell, er war ein Ausgestoßener seines Volkes, von den Zyzzkt gejagt und von seinesgleichen verabscheut. Und nun verlor er auch noch seine Operationsbasis, seine eigenständige Mobilität, und war völlig abhängig vom Wohlwollen der Terraner. Das ging wider die Natur seiner Spezies. »Es ist also nicht das Intervallfeld, das vor dem Strahlungsfeld schützt, sondern die Hülle der POINT OF selbst«, stelle Dhark nach seiner Rückkehr fest. »Aber was an dieser Hülle ist anders?« »Unitall ist Unitall«, sagte Gisol. »Vielleicht nicht. Bedenke, daß die EPOY in Orn gebaut wurde, die POINT OF aber in der Milchstraße. Da könnte es schon leichte Unterschiede geben. Wir kennen das auf Terra schon bei ganz normalem Stahl. Je nach Region unterscheiden sich die Stahlsorten in ihrer Qualität voneinander. Die Hersteller verarbeiten die Rohstoffe, also Eisen und Zusätze wie Kohlenstoff und veredelnde Substanzen auf unterschiedliche Weise, und so rostet die eine Stahlsorte schneller als die andere, manche rosten fast gar nicht...« »Wir sprechen hier nicht von terranischem Stahl«, unterbrach ihn Gisol schließlich, »sondern von Unitall. Das ist ein künstlich geschaffenes Metall, die Herstellungsformeln sind in allen Werken gleich. Es kann keine Qualitätsunterschiede geben. Wenn es wirklich am Unitall liegt, dann muß noch eine andere Komponente im Spiel sein. Aber ich kann das einfach nicht glauben.« »Fest steht, solange wir uns in dieser Wolke befinden und das Strahlungsfeld wirkt, kannst du nicht in dein Schiff zurück«, stellte Dhark klar. Fragend sah er Gisol an. Er rechnete damit, daß der Worgun seine Forderung erneuerte, die Strahlungsquellen zu zerstören. Oder daß er verlangte, die Wolke schnellstens wieder zu verlassen. Beides war nicht im Sinne des Commanders. Dhark wollte das Rätsel dieser Gas
wölke lösen, er wollte aber auch nicht unabsehbare Folgen einer Zerstörung riskieren. Oft genug hatte er erlebt, wie radikal in der Milchstraße die dort nur noch von Automaten beherrschte M-Technik zurückschlug, wenn sie etwas in irgendeiner Form als Bedrohung interpretierte. Warum sollte das hier anders sein? Er ging mittlerweile davon aus, daß es sich tatsächlich um eine automatische j Steuerung handelte. Die Sturheit der an- und wieder abfliegenden Raumer sprach dafür. Es war das gleiche Muster, das er in der Milchstraße oft genug erlebt hatte. »Es muß einen Grund haben, weshalb wir auf dem Tankplaneten Golden vom Zentralrechner ausgerechnet die Koordinaten dieser Wolke erhielten«, sagte Gisol. »Also müssen wir den herausfinden. Auch wenn... wenn mir die Umstände, unter denen diese Aktion stattfindet, überhaupt nicht gefallen.« Ren legte ihm die Hand auf die Schulter. »Wenigstens wissen wir jetzt, daß du in der POINT OF absolut sicher bist - selbst wenn beide Intervallfelder ausfallen...« Gisol drehte den Kopf und sah ihn an. »Ihr Terraner habt wirklich eine sehr eigenartige Form von Humor...« Weitere Stunden vergingen, in denen die Ortungen der POINT OF intensiv nach Spuren der fremden Raumer suchten. Aber sie fanden nichts mehr. Die Zentralebesatzung wechselte, auch Artus zog sich zur Freiwache zurück. Bebir übergab das Kommando an den Ersten Offizier Hen Falluta und konnte sich nicht verkneifen, unter »besondere Vorkommnisse« auf seine Beförderung hinzuweisen. Dhark suchte die Offiziersmesse auf. 97 Sowohl Dan Riker als auch er standen eigentlich außerhalb der Dienstpläne. Wenn etwas anlag, waren sie da. Dennoch freute er sich auf ein paar ruhige Stunden und hoffte völlig irrational, daß in dieser Zeit nichts geschah. Als er mit seinem Tablett nach einem Platz suchte, entdeckte er Amy Stewart an einem der Tische, »Darf ich mich zu Ihnen setzen?« fragte er. »Wenn Sie nicht zu laut schmatzen.« Er lachte. »Keine Sorge, man sagt mir erträgliche Tischmanieren nach. Kommen Sie mit den paar Häppchen wirklich aus?« Er deutete auf ihren Teller. »Ich muß auf meine schlanke Linie achten«, sagte sie spöttisch. »Männer mögen doch schlanke Frauen.« »Es gibt auch die, die sich sagen, eine gute Köchin muß dick sein.« »Ich bin keine gute Köchin. Suchen Sie zufällig eine?« Er schüttelte den Kopf. »Eine vernichtete Ehe reicht mir erstmal. Außerdem - wenn ich gut essen will, gehe ich ins >Los Morenos<. Wozu brauche ich dann zu Hause eine gute Köchin?« »Dann muß ich mich also doch vor Ihnen in acht nehmen«, sagte sie. Dhark sah sie nachdenklich an. »Wie kommen Sie darauf?« »Sie interessieren sich für meine Eßgewohnheiten.« »Blödsinn!« stieß er verblüfft hervor. »Ich habe mich nur gewundert, daß Sie offenbar so sparsam im Unterhalt sind. Als Cyborg müssen Sie doch einen erheblich höheren Energieumsatz haben, mehr Kalorien verbrauchen.« »Das täuscht«, sagte sie. »Kommt nur bei kräftezehrenden Einsätzen vor. Das müßten Sie doch eigentlich wissen, schließlich haben Sie schon lange genug mit Cyborgs zu tun.« »Da habe ich mich aber nicht für deren Eßgewohnheiten interessiert, sondern für ihr Können.« »Dann sollten Sie das bei mir auch so sehen«, schlug Stewart vor. »Verzeihen Sie, wenn ich mich zwischendurch auch für Ihr Essen interessiere: Wenn sie mich weiter nur so anstarren, wird's kalt und schmeckt dann nicht mehr.«
»Ich - ich starre Sie an?«
Sie lachte leise und erhob sich, nachdem sie den letzten Happen verzehrt hatte. »Guten
Appetit, Commander.«
Er sah ihr nach, wie sie die Messe verließ.
Er mußte sich eingestehen, daß sie ihm mehr und mehr gefiel.
Aber - sie angestarrt? »Ich doch nicht!«, brummte er und machte sich über seine Mahlzeit her.
»Was Frauen immer in uns Männern zu sehen glauben...«
Irgendwann, Stunden später, weckte ihn das intensive Summen der Bordsprechanlage. Er
hatte das Gefühl, gerade erst eingeschlafen zu sein, und meldete sich entsprechend
benommen.
»Wir haben etwas gefunden«, sagte Falluta. »Ein schwacher Impuls nur, aber besser als gar
nichts.«
»Ich komme«, sagte Dhark.
Er sah auf sein Chrono. Immerhin - er mußte etwa fünf Stunden geschlafen haben, obwohl es
ihm nicht so vorkam. Die Ultraschalldusche weckte ihn endgültig; er kleidete sich an und
suchte die Zentrale auf. Gisol befand sich ebenfalls in der Zentrale, und der Commander
fragte sich, mit wie wenig Schlaf der Mysterious tatsächlich auskam.
»Eigentlich wollten wir die Suche schon aufgeben«, sagte Falluta. »Aber dann entdeckte die
Ortung doch noch einen schwachen Impuls. Diesen hier.«
»Was ist das für ein Muster?« fragte Dhark.
Auf dem Anzeigegerät am Kommandopult sah er die Daten, die von der Ortung eingespielt
wurden. Aber das war kein Energiespektrum eines Ringraumers.
Dhark glaubte das Muster zu kennen, doch er konnte es nicht
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genau einordnen. Er wußte, daß er ein solches Energieecho schon einmal gesehen hatte. Aber
wann und wo...?
Er straffte sich.
»Wir fliegen den Ausgangspunkt dieses Echos an.«
100
7.
Als sie das Objekt erreichten, wurde Ren Dhark klar, woran ihn die Ortungsdaten erinnerten. Er glaubte, Erron-1 zu sehen!
Erron-1, jene gigantische Raumstation der Mysterious, die sich in einer Wasserstoffwolke
befand und diese als Verstärker benutzte. Erron-1 hatte damals als Superfunkstation fungiert,
die selbst Hyperfunksender aus Andromeda sauber hereingeholt hatte. Darüber hinaus hatte es
in Erron-1 eine Produktionsstätte der Gi-ants gegeben und eine Kontrolle der
Transmitterstraßen der Mysterious. Damals hatte der Begriff All-Hüter, wie sich die Giants
stets selbst bezeichneten, eine neue Dimension erhalten, denn die in Erron-1 produzierten
Giants waren die Hüter der Transmitterstraßen!
Und dieses Objekt in der Orn-Gaswolke glich der Erron-Station in der heimatlichen Galaxis,
nur daß Erron-1 sich mit ihren riesigen Antennenkonstruktionen als »Kastanie« zeigte, diese
Station aber wesentlich glatter war.
Und es gab noch einen Unterschied: Erron-1 hatte sich damals hinter einem
Unsichtbarkeitsschirm versteckt, diese 68 Kilometer durchmessende Station dagegen zeigte
sich offen.
Warum? fragte sich Dhark.
Unsichtbarkeit... Ortungsschutz... und an die fremden Ring-raumer mußte Dhark dabei
denken, die verschwunden waren und möglicherweise über einen Ortungsschutz verfügten.
Warum die Raumer, nicht aber diese Station?
Plötzlich zeigte die Bildkugel Hunderte von Ringraumern, die die Station wie ein Bienenschwarm verließen. Tino Grappa, der trotz seiner Freiwache in die Ortungs-Z zurückgekehrt war, als er von dem Energieecho erfahren hatte, warnte. »Fremde Ringraumer haben Waffensysteme aktiviert. Energieerzeuger arbeiten mit maximaler Leistung. Angriff steht unmittelbar bevor!« 101 Wem der Angriff galt, war klar - der POINT OF mit der via jn_ tervallfeld angekoppelten EPOY! Die ausschwärmende Ringraumerflotte nahm die beiden Schliffe in die Zange! Wieso reagierten sie jetzt auch auf die POINT OF? Lag es daran, daß diese sich jetzt in der unmittelbaren Nähe der Station befand? Wurde sie, bislang ignoriert, dadurch plötzlichu zu einer Bedrohung? ^; 5 Dhark wandte sich zu Gisol um. »Ich weiß auch nicht, was das hier zu bedeuten hat«, gestand der Mysterious. »Es können keine Zyzzkt-Raumer sein, aber es s ;ind mit Sicherheit auch keine Rebellen. Sonst wüßte ich davon. LJnd das unterdrückte Worgunvolk übt keine Raumfahrt mehr aus, wveil die Zyzzkt das verbieten.« Es klang so verbittert, daß es Ren schmerzte. Aber mit diesen Überlegungen konnte und durfte er sich jeetzt nicht belasten. Die beiden Schiffe waren bereits eingekesselt, uund wenn auf der Gegenseite jemand auf die Idee kam, das Strahlfe suer zu eröffnen, hatten weder POINT OF noch EPOY auch nur öden Hauch einer Chance. Gegen die Überlegenheit mehrerer hundert Raumer half auuch das stärkste Intervallfeld nicht. »Erron-Station sendet!« meldete Elis Yogan aus der Funkz:-Z. »Stelle durch.« Ein Bild des Gesprächspartners wurde nicht übermittelt. iDie Worte, in der Sprache der Worgun formuliert, schienen von einnem Maschinensender zu kommen. Etwas, das sich »Zentraler Oon-trollo« nannte, meldete sich und fragte, was das nichtregistri^rte Schiff im Intervallschlepp solle. Die Menschen in der Zentrale lauschten der fremden Masc^hi-nenstimme und begriffen keine Silbe dessen, was jener »Zentrale Controllo« sagte. Sie erkannten nur das Herrische, Fordernde im erstaunlich perfekt modulierten Klang. Nur Dhark und Gisol verstanden, was gesagt wurde. 102 »Ein Controllo«, murmelte Dhark. »Wie auf Babylon, und da haben uns diese Controllos anfangs einen Haufen Ärger bereitet, bis wir sie einzeln unter Intervallfelder packten und damit blockieren konnten.« »Wie habt ihr das geschafft?« fragte Gisol erstaunt. Der Commander winkte ab. »Ist 'ne lange Geschichte, die ich dir erzähle, wenn wir mehr Zeit haben...« Der Zentrale Controllo wiederholte seine Anfrage mehrmals und forderte schließlich, das nichtregistrierte Schiff für die Vernichtung freizugeben. »Commander der Planeten an Zentralen Controllo«, sagte Dhark, ebenfalls in Worgun, noch ehe Gisol gegen die Forderung protestieren konnte. »Die Bitte ist abgelehnt! - Yogan, senden Sie das.« »Gesendet«, bestätigte der Funker. Im nächsten Augenblick wurden die beiden gekoppelten Schiffe von einem unbekannten Feld erfaßt. Das Traktorfeld ließ sich vom doppelten Intervallschutz der POINT OF nicht irritieren. Mit geradezu aberwitziger Beschleunigung wurden die beiden Raumer regelrecht in die Erron-Station hineingerissen. Die Andruckabsorber wurden bis an ihre Belastungsgrenze gefordert. Ein M-Konverter im Maschinenraum fuhr innerhalb von Sekundenbruchteilen bis zur Höchstleistung an, allein um
die unglaublichen Beharrungskräfte zu neutralisieren. Im Schiff schien ein Ungeheuer auf
zubrüllen, und trotz der Maximalleistung kamen für einen kurzen Moment mehrere Gravo
durch. Wer nicht saß, blieb nicht auf den Beinen. Schreie und wütende Flüche erklangen.
Auch die Menschen, die festen Halt hatten, traf es wie ein heftiger Keulenschlag.
Der Stopp, nur ein paar Sekunden später, kam ebenso abrupt wie die Beschleunigung.
Abermals riß es Menschen von den Beinen, die gerade versuchten, sich wieder aufzurichten.
»Verdammt, jetzt reicht es aber!« stieß Hen Falluta zornig hervor, der sonst die Ruhe in
Person war. »Dieser Controllo ist ja ge-
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meingefährlich und gehört verschrottet!«
»Zentrale an Besatzung! Verletzungsmeldungen sofort an Medo-station!« rief Dhark in die
Bord Verständigung. »Waffensteuerungen: erhöhte Alarmbereitschaft! Ortung, feststellen,
was um uns herum los ist!«
Die beiden Schiffe befanden sich jetzt in einer riesigen Halle, deren schiere Größe jedes
Vorstellungsvermögen sprengte. Die Bildkugel zeigte ihre Ausmaße. Die POINT OF hatte mit
beiden aktivierten Intervallfeldern darin Platz, ohne daß es irgendwo zu Berührungen kam,
und die Halle war immer noch groß genug, um mehreren tausend Giants den Aufmarsch zu
erlauben.
Giants hier in dieser Erron-Station!
In Erron-1 hatte es sie damals auch gegeben. Giants, die einst von den Mysterious geschaffen
worden waren - aber weshalb diese raub tierköpf igen, rund 2,50 Meter aufragenden
Biostrukte ein zusätzliches, verkrüppeltes Armpaar besaßen, hatte auch Gisol nicht erklären
können.
Organische Roboter... Wesen, die aus biologischem Gewebe bestanden, in ihrem Inneren aber
einen silbrig schimmernden, anorganischen Schlangenkörper besaßen, der bei einer Öffnung
zu einer atomar explodierenden Bombe wurde. Im Normalzustand war dieser
Schlangenkörper nichts anderes als eine Hytronik, das Programmgehirn, mit dem die
Biostrukte ausgerüstet worden waren.
»Giants«, knurrte Falluta. »Ausgerechnet die stecken hinter dieser ganzen Schweinerei?« »Diese Biostrukte sind ganz sicher nicht die treibende Kraft«, behauptete Gisol. »Sonst wäre
der Controllo nicht erforderlich.«
»>Defensive< gibt's auch«, stellte Dhark fest, der gerade eine Vielzahl dieser kleinen,
kugelförmigen Kampfmaschinen entdeckte, die ihnen schon auf Hope im Industriedom zu
schaffen gemacht hatten. »Kann lustig werden, die Sache...«
Der Zentrale Controllo meldete sich erneut. Er verlangte die Abschaltung der Intervallfelder,
damit das nichtregistrierte Schiff zer-
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legt und untersucht werden könne.
»Commander der Planeten an Controllo: Bitte wird abgelehnt!«
»Ob der überhaupt zwischen Bitte und Befehl unterscheiden kann?« zweifelte Falluta.
»Er wird es lernen müssen«, sagte Gisol grimmig. »Eine Maschine hat niemals über einem
Worgun zu stehen!«
»Das sieht der wahrscheinlich anders.«
Im nächsten Moment zuckte er zusammen. »Dhark, Intervallfeldbelastung bei 80 Prozent!
Steigend! Wir werden angegriffen!«
»Waffensteuerungen!« rief der Worgun. »Feu...«
»Befehl zurück!« unterbrach ihn Dhark. »Gisol, ich bin der Kommandant der POINT OF!«
»Belastung überschreitet 90-Prozentmarke!«
»Sie weichen es auf und bringen es zum Zusammenbruch!« schrie Gisol. »Ren, begreifst du
nicht?«
»95 Prozent!«
Früher hätte Ren Dhark sich nicht sonderlich darüber aufgeregt. Da hatte man sich längst
daran gewöhnt, daß Belastungswerte weit über 100 Prozent hinaus angezeigt wurden. Damals
aber hatten die Aggregate des Ringraumers nur mit »gebremstem Schaum« gearbeitet, im
Energiesparmodus, der nur in äußersten Extremfällen verlassen wurde. Seit die Konverter
jedoch bis zum Maximum mit Tofiritstaub beschickt worden waren, sah das anders aus.
Seither flog die POINT OF im Vollmodus, verfügte über ein bedeutend höheres
Leistungsvermögen als damals - und somit waren jetzt auch die Belastungswerte echt. Daß es
trotz der enormen Leistungssteigerung zu solchen Werten kam, bewies, mit welchen
unglaublichen energetischen Kräften in dieser Erron-Station gespielt wurde!
»Ren, sie setzen Mix-4 gegen uns ein«, erkannte Gisol. »Damit kann das Intervallfeld nicht
fertigwerden! Da wir es nicht abschalten, machen die das! Wir müssen zurückschlagen,
solange wir es noch können!«
Dhark schüttelte den Kopf. Er wollte sein Pulver nicht schon
jetzt verschießen.
Seine Hand lag über einem erst vor kurzem nachträglich installierten Sensorschalter.
»Das ist nicht die Nottransitionstaste«, glaubte Gisol ihn erinnern zu müssen.
»Belastung 100 Prozent«, meldete Falluta.
»Erwarten Feuererlaubnis«, verlangte jetzt auch Bud Clifton aus derWS-West.
»Intervallfeld bricht zusammen«, gab Falluta die Hiobsbotschaft durch.
Im nächsten Moment waren die beiden Ringraumer schutzlos!
Aber nicht einmal für eine Sekunde!
Dharks Hand berührte den Sensorschalter im gleichen Moment, in dem das Intervallum
zusammenbrach.
Weniger als eine Sekunde benötigte der neue Kompaktfeldschirm, um sich aufzubauen und
seine maximale Stärke zu erreichen, wobei er die EPOY gleich mit einschloß.
Die Maßnahme des Controllos, die Intervallfelder der POINT OF mit Mix-4 aufzuweichen
und zum Zusammenbruch zu bringen, erbrachte nicht das gewünschte Resultat. Die beiden
Ringraumer waren nach wie vor geschützt.
Dhark lächelte. Er war sicher, daß der graue Schutzschirm ^welcher der Technik der Galoaner
entstammte, den Controllo vor erhebliche Probleme stellte. Der energetisch dicht gestaffelte
Schirm konnte es in seiner Schutzwirkung durchaus mit der Leistung eines Intervalls
aufnehmen.
Gisol war beeindruckt, vor allem von der Schnelligkeit, mit der sich der KFS aufgebaut hatte.
Beeindruckt schien auch der Zentrale Controllo zu sein. Seine nächste Aufforderung war
äußerst aggressiv formuliert.
»Das nicht registrierte Raumschiff ist unverzüglich zur Zerle-
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gung freizugeben, oder es werden zerstörende Maßnahmen eingeleitet. Zur Ausführung
werden zwei Minuten gewährt. Danach beginnen die Zerstörungsmaßnahmen gegen beide
Schiffe.«
Natürlich nannte er die entsprechende Zeiteinteilung, die bei den Worgun gebräuchlich war;
Dhark rechnete sie in das terranische System um.
»Der will tatsächlich Krieg«, staunte Falluta. »Was nun, Commander?«
»Abgelehnt, Controllo«, blieb Dhark hart. »Jede von dir begonnene Zerstörungsmaßnahme
wird unverzüglich mit einem vernichtenden Gegenschlag vergolten. Ich weise den Zentralen
Controllo darauf hin, daß ein Einsatz der Waffensysteme meines Schiffes im Inneren der
Station unbedingt den Untergang derselben zur Folge hat.«
»Das ist angesichts der waffentechnischen Überlegenheit dieser Station unmöglich«,
erwiderte der Controllo prompt.
»Bereite Hy-Kon für Gegenschlag vor. Hy-Kon wird initialisiert.«
Ren Dharks Hände brachten Steuerschalter in andere Positionen. Die Anzeigen der
Instrumente veränderten sich.
»Commander!« entfuhr es Falluta entsetzt. »Sie wollen doch nicht wirklich...?« Auch Gisol zeigte deutliches Unbehagen.
Dhark antwortete nicht.
Der Zentrale Controllo zeigte sich von der Drohung nicht beeindruckt. Der Begriff Hy-Kon
mußte ihm bekannt sein, denn er wies darauf hin, daß ein Einsatz dieser Waffe auch die
Zerstörung der beiden Ringraumer bedeutete - was höchst unlogisch sei, da es dem
Eindringling doch andererseits daran gelegen sei, das nicht registrierte Schiff nicht zerstören
zu lassen.
Auch darauf antwortete Dhark nicht, stellte aber fest, daß die zwei Minuten bereits verstrichen
waren, ohne daß ein Angriff auf die POINT OF und die EPOY erfolgte.
»Der kocht schon auf mittlerer Flamme«, stellte er fest.
»Willst du das Hy-Kon tatsächlich einsetzen?« fragte Gisol.
>as wäre Selbstmord.«
Ich weiß, aber ich gehe auch davon aus, daß der Zentrale Con-
llo seine eigene Existenz zu schützen hat. Deshalb habe ich das Hy-Kon tatsächlich
initialisiert. Er muß es in der Energieortung erkennen.«
Es war wohl die furchtbarste Waffe, die die Mysterious jemals entwickelt hatten, kaum
weniger entsetzlich als die nogkschen Antisphären. Die vom Hy-Kon erfaßten Objekte
wurden unweigerlich in den Hyperraum geschleudert und verblieben dort wohl bis ans Ende
der Zeit - oder sie verflüchtigten sich einfach in dem übergeordneten Medium. Wirkliche
Erkenntnisse hatte man nicht.
Das Problem war, daß in diesem Fall die beiden Ringraumer sich selbst innerhalb des
auszuschleudernden Objekts befanden und sich nicht ausschließen konnten. Was das anging,
hatte der Controllo recht...
Erstmals hatte Dhark diese unheimliche Superwaffe auf Zwitt erlebt und einsetzen müssen,
als die Tel diesen hinter einer künstlichen Sonnenkorona versteckten Planeten mit ihrer
Robotflotte angriffen. Später stellte sich heraus, daß auch die POINT OF über diese Waffe
verfügte.
»Irgendwie kann ich es nicht glauben, daß die POINT OF diese Waffe besitzt«, sagte Gisol
leise. »Das Schiff ist dafür zu klein. Wenn ich nicht gesehen hätte, wie du schaltest, würde ich
es für ein Täuschungsmanöver halten.«
»Und damit der Controllo es nicht auch für ein Täuschungsmanöver hält, habe ich es aktiviert,
daß er es anmessen muß. Jetzt hat er wohl was zum Nachdenken.«
Nach ein paar Sekunden rief er dem Offizier zu, der den Checkmaster bediente: »Feststellen,
wo der Zentrale Controllo seinen Sitz hat!«
Doch der Checkmaster reagierte nicht auf die Anordnung, auch nicht, als Dhark über die
Gedankensteuerung versuchte, ihn zu einer Antwort zu zwingen. »Commander, der
Checkmaster befindet sich offenbar in einem regen Datenaustausch mit eben dem Zentralen
Controllo!« vermutete der Offizier.
Der Controllo schwieg ebenso wie der Checkmaster.
»Okay, das war's«, stieß Dhark hervor. Er schaltete die Bordsprechanlage auf Rundruf.
»Doorn, Artus, Sass, Oshuta, Alsop, Burton, Cindar, Yello, Carrell - Flasheinsatz in der
Station! Ziel: den Zentralen Controllo aufspüren und möglichst blockieren oder
gegebenenfalls zerstören. Wir treffen uns im Flashdepot. Gisol, du darfst zwar die POINT OF
wegen der Strahlung nicht verlassen, aber du kennst Stationen wie diese vom Grundriß her
besser als wir alle. Hast du eine ungefähre Vorstellung, wo der Zentrale Controllo zu finden
sein müßte?«
»Habe ich, Ren... aber wirklich nur ungefähr...«
»Dann lotst du uns von hier aus hin. Wir bleiben per Helmvipho miteinander in Kontakt. Die Frequenz muß der Controllo erst mal finden, ehe er sie stören kann.« Er federte aus seinem Sitz hoch. Im Ausgang prallte er mit Dan Riker zusammen, der ihn einfach in die Zentrale zurückschob. »Du bleibst hier, mein Bester«, sagte er entschlossen. »Du wirst nämlich noch gebraucht! Deinen Platz im Flash kann ein weiterer Cyborg einnehmen. Über Doorn läßt sich reden, der Technik wegen, aber die Cyborgs sollten nicht auch noch auf dich aufpassen müssen! Und falls wir POINT OF und EPOY trennen müssen, bist momentan du der einzige, der Jims Schiff fliegen kann! Weil nur du bei der Gedankensteuerung autorisiert bist!« »Aber...« Dhark verstummte. Sein Freund hatte recht. »Warum hat mich eigentlich keiner geweckt«, knurrte Riker, während er Dhark wieder zum Kommandopult bugsierte. »Wollt ihr den ganzen Spaß nicht mit einem frischgebackenen Oberstleutnant teilen?« Dhark seufzte. Dann rief er über die Bordverständigung nach Amy Stewart. Die fühlte sich wahrscheinlich schon übergangen, weil er sie für den Flasheinsatz nicht benannt hatte. »Stewart zum 110 Flashdepot. Auftrag bekannt - und raus! Ständige Helmviphover-bindung mit Jim Smith und mir! Wir lotsen euch in Zielnähe!« Die oberste Ringetage mit der Dachplattform blieb unter dem Gleiter zurück. Nachdem die vorgeschriebene Flughöhe erreicht war, übergab Henk de Groot die Maschine dem Autopiloten. Der Hochleistungsgleiter aus dem Fuhrpark der Regierung bewegte sich in nordöstlicher Richtung über die wolkenstürmenden, gigantischen Ringpyramiden hinweg, deren Terrassen und Flachdächer das gelbe Licht der Riesensonne widerspiegelten. Für kurze Zeit war ein Loch in der dichten Wolkendecke aufgerissen und gab den Blick auf die Systemsonne frei. Aus der Entfernung von Babylons Umlaufbahn hatte sie etwa die Größe der irdischen Sonne, war aber in Wirklichkeit ein Sternenungeheuer, gegen das Beteigeuze, der von der Erde aus gesehene östliche Schulterstern des Sternbildes Orion mit seinem mehr als 300fachen Durchmesser der irdischen Sonne, geradezu mickrig wirkte. Das System besaß achtunddreißig Planeten, von denen die inneren zehn unwirtliche Gluthöllen waren, vergleichbar mit Merkur oder anderen Welten, die einfach zu nahe um ihre Sonnen kreisten. Erst die Nummern elf bis siebzehn bewegten sich innerhalb der Ökosphäre, waren Atmosphärenwelten, mehr oder minder geeignet zur Besiedlung durch Sauer Stoff atmer. Die weiter draußen gelegenen Welten waren gigantische Gasriesen, die äußeren, für die die Systemsonne nichts als ein Lichtpunkt unter den unzähligen anderen war, dämmerten unter Panzern gefrorener Gase dem Ende der Zeit entgegen. Dort draußen in der ewigen Nacht war noch kein einziger FO-Kreuzer gewesen. Und für eine eigene, umfassende Exploration ihres Systems hatten die Babylonier weder Zeit noch Muße oder gar die nötige technische Ausrüstung. Die hatte der Hyperraumblitz aus den Tie111 fen des Alls auf geringfügige Reste zusammenschrumpfen lassen, die für alles mögliche gebraucht wurden - nur nicht für langwierige und aufwendige Exkursionen in die äußeren Bereiche des Planetensystems. Dreißig Minuten später erreichte der Gleiter die Peripherie des halbwegs erforschten Bereiches und folgte dem einprogrammierten Kurs in Richtung auf sein Ziel. Die topographische Karte, die sich im Suprasensor des Hochleistungsgefährts befand, stammte in ihren Grundzügen noch aus der Zeit, als Ren Dhark mit der POINT OF und Major Lefter als Kommandant der FO VII Babylon entdeckt hatten und erstmals auf die Statue des Goldenen Menschen gestoßen waren. Natürlich war sie im Laufe der Zeit verbessert worden, dennoch
enthielt sie noch lange nicht alle Einzelheiten der Planetenoberfläche. Zu viele weiße Flecken existierten nach wie vor, genau wie damals auf den Karten der alten Erde, als Afrika und Asien noch nicht erforscht waren und ihre Geheimnisse erst nach und nach und unter den größten Strapazen und Entbehrungen den wagemutigen Forschern und Abenteurern preisgaben, die in diese unbekannten Regionen vorstießen, oftmals unter dem Einsatz ihres Lebens. Bald lagen nur noch Parkanlagen unter dem Gleiter, die, wie Henk mit einem gewissen Bedauern bemerkte, immer mehr verwilderten. Seit dem Ausfall der Roboter kümmerte sich niemand mehr um die Pflege der Anlagen. Der von den Menschen bewohnte Bereich blieb hinter ihnen zurück. Doch auch hier standen inmitten der ehemaligen Parks die gigantischen Ringpyramiden, die seit tausend Jahren nicht genutzt wurden. Es war ein heller Tag; doch auch heute war der Himmel fast vollständig von der auf Babylon üblichen Wolkendecke verhangen. »Wohin fliegen wir?« fragte Charlize gutgelaunt. Sie hatte die 112 Füße auf die hufeisenförmige Steuerkonsole gestemmt und sah durch die Kanzelverglasung auf die unter ihnen hinweghuschende Landschaft. »Hast du ein bestimmtes Ziel?«, »Das habe ich«, nickte Henk. »Kenne ich es?« »Kaum. Es liegt von uns aus gesehen auf der entgegengesetzten Seite des Planeten.« »Und was wollen wir dort, mitten in der unerforschten Wildnis?« Henk drehte den Gliedersessel in ihre Richtung und wippte mit der entsperrten Lehne. /vv »Ich habe einfach Sehnsucht nach unberührter Natur«, sagte er leichthin. »So!« Ihr Tonfall ließ ahnen, daß da noch etwas nachkam. Und genauso war es. Spitz sagte sie: »Ich dachte bislang immer, du hättest einzig und allein Sehnsucht nach mir.« Henk seufzte innerlich. Wie sollte man als Mann auf eine derartige Bemerkung der Herzallerliebsten reagieren? Mit überschwenglichen Beteuerungen dessen, was man für den weiblichen Gegenpart empfand? Oder sollte man sich klug und weise verhalten - und gar nicht antworten? Henk beschloß, einen Mittelweg zu gehen. Er schenkte ihr sein allerbestes Lächeln, mit dem er schon Tausende von Frauen -jetzt übertreibst du aber schamlos, mein Bester! sagte eine kleine, spöttische Stimme in seinem Kopf - auf allen bekannten Planeten betört hatte. »Tut mir leid«, sagte er, und das meinte er in vollem Ernst. Er war rücksichtslos gewesen - eines Gentleman ganz und gar unwürdig. Aber einer Charlize Farmer konnte er natürlich nichts vormachen. Sie musterte ihn mit einem nachsichtigen Lächeln. »Nun gib es schon zu, es tut dir überhaupt nicht leid. Du hast was im Sinn. Du bist hinter etwas ganz Bestimmtem her, denn warum sonst haben wir das ganze Zeugs dabei?« »Zeugs?« Henk versuchte noch einmal harmlos zu lächeln. Er 113 kam sich wie ein ausgemachter Trottel vor. »Welches Zeug?« »Na, die ganze Ausrüstung!« Sie deutete mit dem Daumen in den hinteren Teil des Gleiters. »Was soll sein mit dem bißchen Ausrüstung?« »Ich zähle mal auf: zwei Zentner Notrationen. Sulfonamide. Verbandszeug, Seren. Antiseptika. Einige Rollen mit unzerreißbaren Mylarseilen. Zwei Äxte mit molekularverdichteten Unitall-schneiden, die man als Werkzeuge und als Waffen gleichermaßen einsetzen kann. Einen kleinen Reaktor als unerschöpfliche Energiequelle. Zwei schwere Blaster mit integrierter Abschußvorrichtung für Signalraketen, dazu die entsprechenden Pakete Signalmunition - natürlich mit sensorbestückten Köpfen. Und als kleine, aber feine Beigabe ein atomar betriebener Jetski.« Sie grinste spöttisch. »Wie gesagt,
nur ein bißchen Zeug. Sag, willst du mich verscheißern,de Groot?« »Ich werde mich hüten«,
antwortete er rasch. »Aber immerhin wollen wir doch vierzehn Tage fernab der Kolonie
verbringen. Da braucht man all das Zeug. Noch nie etwas von Abenteuerurlaub gehört?« »Abenteuerurlaub? Pah!« Sie schüttelte temperamentvoll den Kopf, daß die blonden Haare
nur so flogen. »Wildnis? Pah! Daß ich nicht lache! Babylon ist das Paradies schlechthin.
Keine Raubtiere, die uns gefährlich werden könnten. Keine Krankheitskeime, nach allem, was
unsere Bio- und Serologen herausgefunden haben. Keine gefährlichen Sand- oder
Staubstürme. Ich glaube, da will mich jemand wirklich auf den Arm nehmen.« »Nichts täte
ich lieber als das«, versicherte er rasch. »Wenn ich könnte, würde ich es dir beweisen.«
»Du willst es mir beweisen? Wie denn?« Die erste Andeutung eines Lächelns nistete sich in
ihren Mundwinkeln ein, während ihre Hand seinen Nacken suchte und ihn sachte kraulte.
»Laß uns erst einmal am Strand im Licht der untergehenden Sonne liegen. Ein paar
eisgekühlte Drinks...«
»Aus der Plastikflasche«, spottete sie.
114
»... ein süperbes Dinner...«
»In heißem Wasser gequollenes Konzentrat. Hmm, köstlich!«
Er machte trotz ihres immer breiter werdenden Grinsens tapfer weiter.
»Leise Musik. Und dann...«
»Was dann?« begehrte sie zu wissen, als er schwieg. »Verflixt, was ist los mit dir? Immer
wenn es anfängt, interessant zu werden, hörst du auf zu reden!«
»Und dann... na ja, alles, was uns dann so einfällt.«
Sie lachte perlend und gab ihm einen Klaps auf den Arm.
»Du bist ein Spinner, Henk de Groot. Ein hoffnungslos romantischer Spinner, obwohl du gar
nicht den Eindruck machst. Aber ich weiß es besser. Und deshalb liebe ich dich.«
»Wenn du es sagst«, murmelte er und lächelte zufrieden.
»Also«, begann sie nach einer Weile des Schweigens. »Was gibt es wirklich dort? Und
schwindle mich nicht an, verstehst du!«
Er tat es nicht, sondern berichtete ihr von einem großen, aber relativ flachen Binnenmeer mit
phantastischen Stränden, wildromantischen Inseln und Pyramidenanlagen, die den Eindruck
erweckten, speziell der Erholung am Wasser zu dienen.
»Ich habe die Aufnahmen, die von einem Raumschiff beim Überflug aufgenommen worden
waren, zufällig im Archiv der kartographischen Abteilung des Kolonialamtes entdeckt«,
erklärte er. »Wir werden dort in einer der Pyramiden am Wasser Strandurlaub machen.«
»Deshalb der Jetski!«
»Ein Geschenk des Präsidenten«, sagte er.
»Ziemlich teures Geschenk, wenn du mich fragst. Wie kommt so etwas nach Babylon?«
»Eigentlich will ich das gar nicht wissen«, bekannte er freimütig. »Vermutlich im Rahmen
eines Warenaustausches von Terra importiert, denke ich mal.«
Der Autopilot führte den Gleiter sicher auf das Ziel zu.
Eine Stunde verstrich.
115
Die zweite.
Die dritte verstrich...
»Du bist so schweigsam«, ließ sich Charlize vernehmen.
»Hmmpff?«
»Ich sagte, du redest seit geschlagenen vierzig Minuten kein Wort. Was ist los mit dir?«
»Nichts«, erwiderte er lahm.
»Nichts gibt es nicht«, sagte sie spitzfindig. »Was hast du?«
Oh, diese Frauen!
Da hatte er eine plötzliche Inspiration
»Wußtest du eigentlich, daß es eine Untersuchung über den aktiven Wortschatz der Spezies Mensch gibt, wonach Männer nur etwa zweitausend Wörter kennen, Frauen hingegen siebentausend.« »Und?« Eine steile Falte bildete sich auf ihrer Stirn. »Ahm... ich habe meine zweitausend schon verbraucht.« »Henk de Groot«, sagte sie mit eindeutigem Tadel in der Stimme, »Mit dir nimmt es mal ein schlimmes Ende - wenn ich nicht höllisch auf dich aufpasse.« »Ich befürchte es...« murmelte er und erntete einen Knuff in die Seite für diese Bemerkung. Das Landschaftsbild unter ihnen hatte sich unmerklich verändert. Die verwilderten Parks zwischen den hier erbauten Pyramiden besaßen savannenartigen Charakter. Die Sonne hatte den Zenit erreicht und begann bereits wieder abwärts zu wandern. Da tauchten die lang hingestreckten, zerklüfteten Fels- und Eismassive einer phantastischen Gebirgswelt am Horizont auf, zwölftausend und mehr Meter hoch. Dazwischen, über vierzehntausend Meter in die Troposphäre ragend, wildgezackte Gipfel deren vergletscherte Flanken hell schimmerten. Aus der Ferne wirkte es, als hielten die Ringpyramiden respektvollen Abstand zu den Bergen. Der Gleiter stieg automatisch höher. Der Autopilot suchte sich den sichersten Weg durch Hochtäler und über Pässe. 116 Nebel brodelte in Schrunden und bodenlosen Spalten. Die Außentemperatur sank von Minute zur Minute, je höher der Gleiter stieg. In den Hochtälern rumorte es; die Außenmikrophone fingen die Geräusche ein. Frost ließ überhängende Vergletscherungen mit Donnergrollen bersten. Eislawinen lösten sich und rauschten mit Urgewalt über die senkrechten Wände in die Tiefe. Wirbelnde Schneeschauer peitschten immer wieder gegen die Kanzelvergla-sung. Charlize fröstelte unwillkürlich. Ein rein subjektives Empfinden; im Innern des Gleiters saßen sie sicher wie in Abrahams Schoß, und es herrschten normale Temperaturen. Henk im Pilotensessel ließ den Blick von einer Anzeige zur anderen schweifen, um sich ein Urteil über ihre Lage zu verschaffen. Seine Miene wirkte ungerührt, er vertraute der Technik des Gleiters voll und ganz. Charlize Farmer hingegen fühlte eine Nervosität, die sie auf höchst intensive Weise irritierte und ein unbehagliches Gefühl in ihr hervorrief. Schlagartig erhöhte der Autopilot die Leistung der Aggregate und veränderte gleichzeitig den Flugvektor. Der Gleiter stieg in einer Parabel empor und flog in eine Schlucht hinein. Zu beiden Seiten rasten hohe Felswände an der Maschine vorbei. Riesig und dräuend ragten sie vor und neben ihr auf, schienen das vergleichsweise winzige Gefährt zwischen sich zermalmen zu wollen. Die Wirbelschleppe des Gleiters löste Lawinen aus. Schneebretter brachen von den Flanken der Abhänge und donnerten in die Tiefe, alles hinwegfegend oder unter sich begrabend, was sich ihnen in den Weg stellte. Erneut änderte sich der Flugvektor. Die Maschine jagte mit hoher Fahrt zwischen zwei Gipfeln hindurch - und kam auf der anderen Seite der Gebirgskette wieder heraus. »Da!« kam Henks Stimme. Er deutete nach vorn. »Wir sind durch! Was sagst du?« 117 Der gewaltige Paß lag hinter ihnen. Steil führte er geradewegs in die Tiefe und schien kein Ende nehmen zu wollen. Der Autopilot erhöhte den Abwärtsschub; der Schweber senkte sich, und im gleichen Maß fiel auch das Gelände unter ihnen. Innerhalb weniger Minuten sank der Gleiter aus 13 000 Metern Höhe bis auf 300 Meter über Grund herab, um dann seinen Flug fortzusetzen.
Vor und unter den beiden Terranern öffneten sich erneut die Weiten endloser ehemaliger Savannen, in denen die Ringpyramiden ein wenig weiter auseinanderzustehen schienen als in dem von den Menschen bewohnten Teil. »Ein Flug der Überraschungen!« murmelte Charlize. Dann, lauter: »Liege ich falsch, wenn ich annehme, daß wir die Gebirgskette hätten auch einfach überfliegen können?« Er starrte sie verdutzt an. »Aber dann wäre dir ein einmaliges Erlebnis entgangen, Liebes,« »Ich habe Ängste ausgestanden.« »Dazu lag kein Grund vor. Der Autopilot hatte alles unter Kontrolle.« »Das glaube ich jetzt einfach nicht! Automatiken können auch mal versagen, geht das nicht in deinen Dickschädel?« Er schüttelte den Kopf. »Dann wäre noch immer ich zur Stelle gewesen, um einzugreifen.« »Bist du ein so guter Pilot?« »Der beste!« sagte er mit Überzeugung. »Sag schon! Habe ich dich jemals in Gefahr gebracht?« »Nein, Henk. Nein. Ganz und gar nicht«, gestand sie, schon wieder halbwegs beruhigt. Sie legte ihre kleine Hand auf seine große und lächelte. Henk de Groot nickte und drückte leicht ihre Finger. Bei mir bist du sicher, hieß das. Was sie auch so empfand. Schweigend flogen sie weiter. Jeder in Gedanken an den anderen versunken. 118 Am Nachmittag erreichten sie ihr Ziel. »Da! Das Meer«, sagte Henk. »Siehst du?« Charlize nickte. l Henk deaktivierte den Autopiloten und übernahm selbst die teuerung des Gleiters. An der Berührungslinie von Wasser und [Strand nahm er Kurs auf eine Pyramidenanlage, die in der Ferne auftauchte. Wenig später überflogen sie sie; die Terrassenbauten waren nicht ganz so hoch wie gewohnt, wichen aber in Aussehen und Bauweise nicht von den anderen Anlagen der Mysterious ab. Die Gebäude schienen zu strahlen im gedämpften Nachmittagslicht. Breite Promenaden erstreckten sich zwischen ihnen und dem Strand, aufgelockert durch Baumbewuchs und Blütenstauden. Stege führten hinaus ins Wasser und endeten auf dort verankerten Pontons, die kleine Pavillons trugen. Alles trug den Stempel von Leichtigkeit und Frohsinn. Eine Oase der Entspannung. Ein Urlaubsparadies auf einem sowieso schon nahezu paradiesischen Planeten. Charlize stellte sich vor, daß hier die Gäste miteinander geplaudert und sich bei Musik und Getränken im Licht des Abends und einer warmen Brise entspannt hatten, während draußen auf dem Wasser die bunten Segel schnittiger Boote vorüberzogen. Du kannst nicht von eurer Kultur auf die einer fremden Rasse schließen, warnte eine leise Stimme in ihrem Innern sie vor einer Verallgemeinerung der Maßstäbe. Konnte gut sein, daß die Mysterious überhaupt nicht den Vorstellungen entsprachen, die sie sich von diesem geheimnisvollen Volk angeeignet hatten. Dennoch, gänzlich andersartig beschaffen konnten die ehemaligen Bewohner der ringförmigen Terrassenbauten nicht sein. Alle Geräte, alle Bedienungselemente, die Beschaffenheit und Dimensionen der Inneneinrichtungen, die die Menschen in den leeren Ringpyramiden vorgefunden hatten, die Korridore, Lifte und Treppen, die Türen - alles das ließ Rückschlüsse auf eine humanoide Gesellschaft zu, deren Mitglieder ungefähr die Größe des Homo sapiens 119 besessen hatten. Henk de Groots Stimme riß Charlize aus ihren Gedanken.
»Schau mal!« forderte er sie auf und deutete nach unten. Sie hatten die Ferienanlage passiert und wieder ein Stück freien Strand vor sich, dem der Ingenieur folgte, mit wesentlich verringerter Geschwindigkeit. »Siehst du, was ich sehe?« Sie folgte der Richtung seiner Hand. Tatsächlich, da war etwas, das sie irgendwie an die Vergangenheit gemahnte. An die irdische. An eine Zeit, in der sie und Henk noch gar nicht geboren waren, die sie aber aus den Medien kannten und aus den Unterrichtseinheiten in der Schule über technische Großtaten der Menschheit. »Ich sehe es«, sagte sie langsam und war noch dabei, die Umrisse des Objektes einzuordnen. Dann hatte sie es. Was dort unten dicht vor dem Strand halb untergetaucht im seichten Wasser lag, war das Wrack eines offenbar notgelandeten Raumgleiters. So ähnlich hatten einmal die Fluggeräte der ehemaligen Raumfahrtbehörde NASA ausgesehen. Charlize blickte ihren Partner von der Seite an. »Kannst du dir einen Reim darauf machen?« »Sekunde!« de Groot prüfte ein paar Anzeigen; seine Finger glitten über die Sensorfelder des kleinen Monitors auf der verbreiterten Armlehne des Pilotensitzes. »Schauen wir mal... Nein, keine Energie feststellbar! Das Wrack ist energetisch tot wie ein... ein...« Er suchte nach einem passenden Vergleich. »Wie ein toter Fisch?« half ihm Charlize aus der Klemme. »Wie? Hmm, ja. Natürlich. Und wie passend!« Er grinste kurz. Dann nickte er. »Ich werde mir das mal näher ansehen.« Charlize Farmer setzte zu einer Erwiderung an, ließ es dann aber bleiben. Diesen Gesichtsausdruck kannte sie bei Henk. Einmal zu etwas entschlossen, würde ihn nichts und niemand davon abhalten können. Es sei denn, man schlug ihn bewußtlos, aber das traute sie sich nun doch nicht zu. Henk bekam von all den Überlegungen seiner Freundin nichts 120 mit. Er flog eine Kontrollrunde um das havarierte Objekt und landete dann in allernächster Nähe auf dem Strand. Er öffnete das Schott und verließ die Kabine. »Hilfst du mir mal?« bat er, während er im feinkörnigen Sand nach hinten zum Frachtabteil stapfte. »Wenn man mich so nett bittet...!« Er bekam es gar nicht mit; vollauf mit dem Geheimnis des Wracks beschäftigt, hantierte er bereits an der Hydraulik, die die kleine Lade- und Entladerampe im Heck betätigte. Die Klappe senkte sich zu Boden und gab den Blick ins Frachtabteil frei. Im Innern stand, mit kräftigen Klammern verankert, der Jetski. Eine stromlinienförmige Einheit für zwei Personen. Es handelte sich um ein Standardmodell aus der Fertigung von Wallis Industries. Ein reines Spaßsportgerät, angetrieben von einem winzigen, vollgekapselten Atomreaktor, der die Verdichterschaufeln in den links und rechts angeordneten Tunneldüsen in Drehung versetzte. Der Jetski war primär für den Einsatz auf Wasser gedacht, dank einer leichten Antigravanlage konnte er sich jedoch eine Handbreit vom Boden erheben, so daß man ihn an Land gleiterähnlich bewegen konnte. Damit war eines der größten Probleme der früheren Modelle beseitigt: Es war kinderleicht, das Gerät über den Strand ins Wasser zu schaffen. Henk inspizierte den Jetski kurz, entfernte die Dockklammern und hockte sich auf die angenehm profilierte Sitzbank. Die Lenkung war ein wuchtiges, höhenverstellbares Gebilde, dessen Handgriffe bequem zu bedienen waren. »Machst du mal Platz«, bat er Charlize, die unmittelbar am Fuß der Rampe stand und die Hände in die Hüften gestemmt hatte. »Ich denke gar nicht daran«, sagte Charlize ohne sichtbare Gemütsbewegung. »Wie... was?«
»Henk de Groot. Du gehst nirgendwo hin ohne mich. Du kennst doch den Spruch: >Wo du hingehst, da will auch ich hingehen...<« Es klang spaßig und sie lächelte, aber Henk sah den Ernst dahinter, und den unbeugsamen Willen, den er schon ein paar Mal an ihr er122 lebt hatte. Er stemmte die Füße links und rechts in den Sand. »Wollen wir jetzt eine Grundsatzdiskussion vom Zaun brechen?« sagte er, um Beiläufigkeit bemüht, die sie beruhigen sollte. »Ist es das, was du möchtest?« Sie schwieg, sah ihn nur an. Er schüttelte verständnislos den Kopf. »Was ist schon dabei? Ich düse schnell hinüber, schau mich um und bin in Null Komma nichts wieder zurück. Einverstanden?« Sie rührte sich nicht von der Stelle. »Damit willst du vermutlich andeuten, daß ich keine Chance habe, an dir vorbeizukommen.« »Nur über meine Leiche«, bekannte sie. »Bring mich nicht auf eine Idee«, meinte er. Sie schnaubte nur und ihre Augen schössen Blitze. »Also gut«, sagte er und grinste schief. »Du sollst deinen Willen haben. Spring auf!« Sie trat zur Seite, ging an ihm vorbei in den Frachtraum und begann darin zu rumoren. Gleich darauf kam sie wieder zum Vorschein, beladen mit einigen Gerätschaften und den Blästern. »Was ist denn jetzt schon wieder...« begann Henk, drehte sich auf dem Jetski um - und duckte sich, als etwas Dunkles auf ihn zugeflogen kam. In einem Reflex griff er danach und hielt eine derbe Montur in den Händen. In trockenem Tonfall sagte Charlize Farmer: »Ich empfehle dir, sie anzuziehen.« Erst da sah er, daß sie bereits in den Hightech-Overall geschlüpft war und damit begann, die Gerätschaften, die sie angeschleppt hatte, in den aufgesetzten Taschen zu verstauen. »Hey«, sagte er. »Schon vergessen, Liebling? Wir befinden uns hier auf Babylon, einem uns bekannten Planeten. Hier ist keine lebensfeindliche Umwelt weit und breit!« »Papperlapapp!« Sie warf mit einer wilden Bewegung ihr langes Haar aus dem Gesicht, schlang ein Band um ihre Stirn und setzte 123 das Sprechset auf. Während sie das Kehlkopfmikro zurechtrückte, sagte sie: »Dieses Wrack dort draußen hat hier eigentlich nichts verloren. Es scheint ein Anachronismus zu sein, und solange wir nicht wissen, woher es stammt und wie es hierher kam, sollten wir entsprechende Vorbereitungen treffen.« Sprach's und hängte sich den Blaster um. Mit einem fatalistischen Schulterzucken schlüpfte Henk in die Montur und schloß die breiten Magnetverschlüsse an Hand- und Fußgelenken. Kommentarlos nahm er das Sprechset in Empfang, das ihm Charlize auffordernd hinhielt, und streifte es sich über den Kopf. »Glücklich?« fragte er mit hochgezogenen Brauen. »Die Zufriedene ist stets glücklich«, kam ihre überraschende Antwort. Sie nahm hinter ihm Platz und schlang die Arme um seinen Körper. »Reite er los, mein tapferer Ritter!«. Tapferer Ritter? Hmm. .,, »Zu Befehl, Mylady...« Henk de Groot startete die Aggregate. Der Jetski hob sich eine Handbreit vom Boden. Henk drückte sich mit den Füßen im weichen Sand ab, und schon glitt die Maschine den Strand hinab ins Wasser. Dort schaltete Henk den Antigrav ab, drehte am Beschleunigungshebel und zog voll auf. Mit einem gewaltigen Satz katapultierte sich der Jetski voran. Eine mächtige Heckwelle erzeugend, bewegte er sich mit hoher Geschwindigkeit vom Strand weg auf das Wrack zu. Es dauerte nur Minuten, dann hatten sie das Wrack im seichten Wasser erreicht. Henk umkreiste es ein paarmal.
Die Raumfähre mußte einen langen, weiten Weg genommen und am Ende eine Notlandung hinter sich gebracht haben. Eine Notlandung mit verheerenden Folgen. Auf der dem Strand zugewand124 ten Seite war der Rumpf großflächig eingedrückt und aufgerissen. Fetzen zerrissenen und verschmorten Metalls bogen sich nach außen. An der linken Deltatragfläche fehlte die Spitze, und die Verglasungen der Pilotenkanzel waren allesamt aus den Einfassungen gesprungen. Auf der Seeseite war der Raumgleiter bis auf eine Reihe Löcher verhältnismäßig unbeschädigt. Auf dieser Seite befand sich auch ie Frachtluke; sie stand offen. Die Schwelle lag knapp über dem Wasserspiegel. Jede größere Welle schwappte ins Innere. »Ich hätte nicht an Bord sein mögen«, sagte Charlize leise schaudernd. »Was mag da passiert sein? Vermutlich ein Ausfall aller Systeme«, beantwortete sie sich ihre eigene Frage. »Vielleicht«, knurrte Henk und näherte sich mit dem Jetski vorsichtig der offenen Luke, »Obwohl ich das nicht glaube.« »Nicht?« »Nein. Es paßt einiges nicht zusammen. Sicher, das Wrack hat eine relativ harte Landung hinter sich, weist aber Schäden auf, die keinesfalls vom unkontrollierten Eintritt in die Atmosphäre stammen können.« »Und das erkennst du so ohne weiteres?« fragte sie skeptisch. »Ich bin graduierter Ingenieur und kenne mich aus«, antwortete er. Seine Stimme ließ jede Überheblichkeit vermissen. »Belastungsprüfungen von Raumschiffstrukturen gehörten mit zum Ausbildungsprogramm. Nein, nein. An diesem Raumgleiter sind zu viele Schäden, die nicht von dem Eintritt in die Atmosphäre allein herrühren. Siehst du die Reihe von Löchern über der oberen Einfassung der Frachtluke, die sich bis zur Kanzel hinziehen? Die Ränder sind nach innen gebogen und geschmolzen; Einwirkungen einer Strahlwaffe. Jemand hat den Raumgleiter entweder schon im All angegriffen und die Besatzung dadurch zur Notlandung gezwungen, oder er wurde später überfallen, als er bereits im Wasser lag.« »Wie lange mag das schon her sein?« fragte sie halblaut. »Schwer zu sagen. Gehen wir doch an Bord«, schlug er vor. 125 »Vielleicht finde ich Zugang zum Schiffslog. Das könnte uns Aufschluß geben.« Charlize signalisierte Zustimmung. Geschickt manövrierte Henk den Jetski an die offene Frachtluke des havarierten Raumgleiters. Er aktivierte die Magnetverankerung und schuf so eine Verbindung zur Bordwand; sie verhinderte, daß der Jetski abtrieb. Gleich darauf standen sie im Frachtraum und mit den Füßen im Wasser. Das Wrack hatte eine leichte Schräglage, zum vorderen Teil mit dem Cockpit stieg der Boden leicht an. Dort würde man sich keine nassen Füße holen. Der Frachtraum selbst war absolut leer. Das Schott zum vorderen Teil des Wracks war nicht mehr vorhanden. Durch die teilweise geborstene Wandung drang genügend Tageslicht ins Innere, um jede Einzelheit erkennen zu lassen. Der Boden unter dem eingedrungenen Wasser war aufgeworfen, gewellt und korrodiert. »Gib acht, wo du hintrittst«, riet Henk seiner Freundin und klammerte sich an einer Abstrebung fest, als er aus dem Gleichgewicht geriet. Für Sekundenbruchteile dachte er, es läge an ihm. Dann erkannte er, daß es die Dünung des babylonischen Meeres war, die ihn aus der Balance gebracht hatte; das Wrack dümpelte in ihr wie ein alter Fischkutter. »Kann es sein, daß du selbst Hilfe brauchst, mein Lieber?« flötete Charlize spöttisch. »Ist ja schon gut«, sagte er angespannt. »Man kann ja mal straucheln. Das ist...« Charlize Farmer drehte den Kopf und flüsterte zischend: »Still! Was war das?« Sie schwiegen, lauschten angestrengt.
Ein hohles Geräusch hallte durch das Schiff, wie der tiefe Atem eines lebenden Wesens. Das
Geräusch veränderte sich, wurde erst heller und eine Spur lauter, dann tiefer und leiser, ehe es
mit einem Gurgeln und Knacken endete.
Dann bewegte sich der Boden des Frachtraumes.
126 Henk und Charlize sahen sich an.
»Es sinkt!« hauchte Charlize Farmer mit leichtem Erschrecken.
»Wahrscheinlich«, erklärte Henk de Groot, »haben wir mit unserem Eindringen das fragile
Gleichgewicht verändert. »Sehen wir in die restlichen Räume, ehe dieser Schrotthaufen noch
tiefer ins Wasser sinkt.«
»Gut, schauen wir uns weiter vorne um.«
Sie verließen den Frachtraum in Richtung Bug, arbeiteten sich schnell und umsichtig und mit
relativ wenig Aufwand voran, als wüßten sie, daß sie ihre Kraft sparen mußten für
Geschehnisse, die auf sie lauerten - jenseits der eingebeulten und zerfetzten Metallwände des
Schiffes.
Der zentrale Korridor.
Links und rechts öffneten sich die wenigen Kabinen.
Überall sprossen blanke Kabelenden und verschmorte Lichtfaserleitungen aus den Wänden.
Baugruppen waren aus den Halterungen gesprungen - oder gerissen worden? - und hatten
ihren Inhalt über den Boden verstreut. Das alles zu registrieren, kostete die beiden nicht mehr
Zeit als zwei Atemzüge.
Sie sahen sich an.
Verwundert.
Fragend.
»Was hältst du von dem hier?« Charlize machte eine unbestimmte Handbewegung.
»Hier finden wir kaum etwas«, bekannte Henk. »Es ist ein totes, leeres Schiff. Jemand hat
alles, was nicht niet- und nagelfest war, entfernt.«
Wieder ertönte das schreckliche Geräusch.
Das winselnde Heulen und Seufzen nahm zu und erfüllte den Torso des notgelandeten
Raumgleiters. Etwas Bedrückendes ging davon aus, als wäre es ein Vorbote von etwas noch
viel Schrecklicherem.
»Schnell, laß uns noch einen Blick ins Cockpit werfen! Danach verschwinden wir.«
127S
Sie bewegten sich über eine kurze, metallene Treppe aufwärts, durch einen kleinen,
röhrenförmigen Korridor.
Je weiter sie kamen, um so verkniffener wurde Henks Miene. Wohin er auch blickte, überall
waren Schränke aufgebrochen, Ein-Schübe standen offen, ihr Inhalt fehlte. Ganze Reihen von
Modulen waren aus ihren Verankerungen gerissen und entfernt worden.
Schließlich standen sie vor dem halboffenen Schott, dessen verbogene Zuhaltungen den
Eindruck machten, als seien sie mit Gewalt aufgestemmt worden.
Henk de Groot warf das Schott mit einem wuchtigen Fußtritt ganz auf.
Metall kreischte, als es nach langer Zeit bewegt wurde.
»Sieh an«, knurrte der Ingenieur. »Warum bin ich nicht überrascht?«
Im der Steuerzentrale des Raumgleiters sah es aus, als sei eine Bombe detoniert.
»Und warum bist du nicht überrascht?« Charlize schob sich neben ihn und spähte neugierig
ins Innere.
»Ich habe so eine Vermutung.«
»Erfahre ich die?«
»Noch nicht«, antwortete Henk und registrierte jede Einzelheit im Cockpit.
Durch die geborstene Kanzelverglasung drang Tageslicht und zeigte das volle Ausmaß der
Zerstörung. Die Nase des Schiffes war der Länge nach aufgerissen, und durch eine klaffende
Öffnung hinter den halbrund angeordneten Instrumentenkonsolen hatte sich ein
Korallenfelsen ins Kabineninnere gebohrt. Die Navigationskonsole war hinüber, die Schirme
zerbrochen. Überall lagen Splitter.
Neben sich hörte Henk, wie Charlize tief Luft holte.
»Das Ausmaß der Zerstörungen wurde aber nicht bloß vom Absturz verursacht«, meinte sie
zweifelnd. »Es sieht ja aus, als habe man hier sämtliches brauchbare Gerät aus den
Halterungen entfernt und mitgenommen. Sogar die Sitze fehlen. «
128 »Nicht nur hier, sondern im ganzen Schiff«, bestätigte Henk.
Sie sah ihn an. »War das deine Vermutung? Ist es das, was dich die ganze Zeit beschäftigt?«
Henk grinste unbehaglich.
»So ist es.«
»Ich glaube, das ist es nicht wirklich, was dich beunruhigt.«
Henk wandte sich ihr zu und fragte: »Nein?«
»Nein. Was dich wirklich in Sorge versetzt, ist die Frage: Wo ist die Besatzung geblieben,
und wer sind diejenigen, die dieses Chaos hier veranstaltet haben?«
»Ja«, gestand Henk nach einem winzigen Zögern. »Ich wüßte zu gern, wer diese Plünderer
sind. Immerhin haben wir niemanden auf Babylon vorgefunden, als wir ankamen. Die
Vorstellung, daß jemand anderer diesen Planeten ebenfalls kennt und möglicherweise von
Zeit zu Zeit Beutezüge auf ihm veranstaltet, ist meinem Seelenfrieden nicht gerade zuträglich.
Aber ich weiß gleichzeitig, daß ich so schnell wohl keine Antwort darauf bekomme - falls
überhaupt jemals.«
»Genau das wollte ich dir sagen, Liebling.«
Henk nahm die Unterlippe zwischen die Zähne und blickte auf das heillose Durcheinander in
der Steuerzentrale. Dann nickte er.
»Laß uns gehen. Nichts wie raus hier!«
Auf dem Weg zum Frachtraum mußten sie feststellen, daß das Wrack zwischenzeitig noch
tiefer gesunken war. Um die Luke zu erreichen, wateten sie jetzt bereits knietief durchs
Wasser.
Der Jetski dümpelte an seiner Verankerung.
Der salzige Geruch des Meeres war Balsam für die Nasen der beiden.
Henk schwang sich auf den Jetski, löste die magnetische Halte-ning und drehte sich zu
Charlize um, die in der Frachtluke stand und sich an der Einfassung festhielt.
»Was ist? Spring auf!«
Sie rührte sich nicht.
»Komm schon!« drängte er, »Laß uns verschwinden...« Er fuhr
12t
zusammen, als Charlize einen Schrei ausstieß und auf etwas deutete, das sich hinter Henk
befinden mußte.
»Schau doch! Da... da!« ,
»Was...?«
Im gleichen Augenblick fiel ein Schatten über ihn.
Ein großer Schatten.
Henk erstarrte. Vom Strand her schwebte ein graues Ungetüm heran. Schnell, sehr schnell
bewegte es sich über dem Wasser auf die beiden zu.
Das Ding war groß. Über zwanzig Meter lang, mit einem Durchmesser von etwa acht Metern
an seiner breitesten Stelle. Drei Halbkuppeln ragten jeweils über acht Meter in die Höhe. Das
Monstrum besaß keine eindeutig verifizierbare Körper Struktur. Es war nichts als ein riesiger,
mechanischer Wurm ohne Räder oder Teleskopstützen.
Vor dem Wrack der Raumfähre sank es herab und setzte im aufspritzenden seichten Wasser
auf.
»Was ist das, Henk?« schrie Charlize mit vor Schreck gellender Stimme.
»Ein Controllo! Keine Zeit für Erklärungen. Spring auf, Charlize, wir müssen verschwinden!
Los, los, LOS!«
Charlize Farmer sprang.
Der Jetski tauchte kurz ein, als sie auf die Sitzbank fiel und sich an ihn klammerte. Henk zog
den Leistungshebel voll auf - und dann merkte er, wie das Gefährt unter ihm plötzlich leichter
wurde. Er hörte einen verwehenden Schrei. Außerdem war der Druck ihrer Arme
verschwunden. Er vollführte eine scharfe Kehre, bekam das Robotungeheuer wieder zu
Gesicht und begann wild und rauh zu fluchen. Der Maschinenkoloß mußte Charlize Farmer
mit Hilfe eines Traktorstrahls einfach aus dem Sitz des Jetskis gepflückt haben. Regungslos
hing sie jetzt in den klauenartigen Greifwerkzeugen eines Armes, den der Controllo
ausgefahren hatte.
Henk mußte handeln, wenn er Charlize aus den Fängen des me-
tallenen Golems befreien wollte.
»Ich komme, Charlize!« rief er. »Halt durch. Ich komme...«
»Verschwinde Henk«, drang mit einem Mal ihre Stimme über das Wasser und gleichzeitig
auch aus den Ohrhörern des Sprechsets. »Rette dich, Henk. Ich flehe dich an! Du kannst mir
nur helfen, wenn du frei bist...«
Abrupt brachen ihre Worte ab.
Das Robotungeheuer setzte sich in Richtung auf Henk in Bewegung. Was es vorhatte, schien
eindeutig.
Das war der Augenblick, in dem Henk de Groot die Gefahr er- | kannte, in der auch er sich
befand, würde es ihm nicht gelingen, I rechtzeitig Reißaus zu nehmen.
Wenn es dafür nicht schon zu spät war.
Charlizes Warnung - und Hilferuf - noch im Ohr, brachte er die it Tunneldüsen auf volle
Leistung und preschte in einem riskanten Abschwung hinaus aufs Meer. Weg vom Controllo.
Nach der ersten Minute wagte er einen Blick zurück.
Merkwürdigerweise machte das Robotermonster keine Anstalten, ihm zu folgen; es hatte sich
inzwischen aus dem Wasser erhoben und schwebte in Richtung Strand.
Und dahinter...
Der Gleiter, durchzuckte es ihn. Was geht da vor?
Seine Verwunderung hatte einen Grund.
Der Gleiter war umringt von seltsamen, humanoiden Gestalten in Raumanzügen. Er konnte
sich irren, aber sie schienen nicht sonderlich groß zu sein.
Eine Welle brachte den Jetski zum Springen, salzige Gischt peitschte dem Ingenieur ins
Gesicht.
Henk bot alle Konzentration auf, das bockende Gefährt unter ; Kontrolle zu bringen.
Nachdem ihm das gelungen war und er wieder zurückblickte, waren sein Gleiter und die
unbekannten Gestalten in ihren Raumanzügen hinter einer Landzunge außer Sicht geraten.
Henk fuhr noch ein paar Minuten weiter, ehe er an einer Stelle
130
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an Land ging, die einmal so etwas wie ein Yachthafen gewesen sein mochte. Damals, als die
Mysterious noch Babylon bevölkerten.
Anlagen wie diese kannte Henk eigentlich nur von der Erde. Marina Beach beispielsweise.
Oder Marina Deluge in der Ma-nahasset Bay. Diese hier war fast identisch mit den Plätzen
der Superreichen, an denen die ihre Träume in Teakholz und Chrom zu verankern pflegten.
Und wieder fragte er sich, weshalb die Mysterious bei ihrem Exodus praktisch einen leeren
Planeten hinterlassen hatten. Nichts hatten sie zurückgelassen, nicht einmal die Werkzeuge
ihrer Freizeitaktivitäten. Weshalb nur waren sie so peinlich darauf bedacht, jedes Detail, das
irgendeinen Hinweis auf ihre physische Gestalt zu geben in der Lage gewesen wäre, vom Planeten zu tilgen? Es war müßig, jetzt darüber zu spekulieren, weshalb sie soviel Energie für die Verschleierung ihres Aussehens aufgebracht hatten. Eines Tages, das schwor er sich, würde er das Geheimnis lüften. Er war sich sicher, daß der Schlüssel dazu in dem Vitrinensaal tief im Felssockel unter der Statue des Goldenen zu finden war. Im Augenblick galt es jedoch, Charlize so schnell wie möglich aus ihrer mißlichen Lage zu befreien. Mark Carrell hatte das Kommando über den Flasheinsatz. Die zweisitzigen Beiboote jagten aus der POINT OF hinaus, durchstießen im Schutz ihrer Intervallfelder problemlos den KFS und rasten dermaßen schnell durch die gigantische Halle, daß keiner der Gi-ants oder >Defensiven< schnell genug reagieren konnte. /' Überraschung war angesagt. Von Gisol kamen sporadische Kursanweisungen. Der Worgun mußte selbst erst einmal überlegen, wohin er die Cyborgs mit ihren Flash schickte. Sie umflogen alle Bereiche, in denen sie mit ihren Brennkreisen 132 schwere Schäden verursachen konnten, was sie zu teilweise haarsträubenden Umwegen zwang. Aber weder Carrell als Einsatzleiter noch Ren Dhark waren an unnötigen Zerstörungen interessiert. Unitall wurde zwar durchflogen, ohne Schaden zu nehmen, aber bei weitem nicht alles in der Station bestand aus diesem unverwüstlichen Kunstmetall. Bei früheren Einsätzen war es durchaus schon vorgekommen, daß Flash mit ihren Intervallfeldern Konverter und Antriebsaggregate durchflogen, die der Brennkreis des SLE dabei zwangsläufig zündete. Die Vernichtung des jeweiligen Raumschiffs war dann kaum noch zu verhindern. Hier aber ging es vordringlich darum, den Zentralen Controllo zu finden und unschädlich zu machen. Trotz der Umwege gelangten die Flash innerhalb kurzer Zeit in den Bereich der Station, in welchem sich der Zentralrechner, der »Zentrale Controllo«, befinden mußte. Jetzt wurde die Sache schon entschieden gefährlicher, denn es gab nun praktisch keine Möglichkeit mehr, sensiblen Bereichen auszuweichen. Jeden Moment konnte einer der Flash mit seinem Brennkreis unabsichtlich verheerende Zerstörungen anrichten. »Landen und aussteigen«, ordnete Mark Carrell an, der wie alle anderen Cyborgs auf sein Zweites System geschaltet hatte. »Die Flash sichern. Ab jetzt geht's vorsichtshalber zu Fuß weiter!« Unwillkürlich stöhnte Arc Doorn auf. Er kannte das Marschtempo der Cyborgs nur zu gut... da konnte zwar der Roboter Artus mithalten, aber nicht er als normaler Mensch. Fünf Flash senkten sich dem Boden entgegen. Die Intervallfelder erloschen. Aus den plumpen, tonnenförmigen Fluggeräten klappten die spinnenbeinartigen Ausleger, auf denen die Flash federnd aufsetzten. Carrell schwang sich als erster ins Freie. Wie alle anderen hatte er den Raumanzug geschlossen. Durch die Volltransparenz der Helme waren die Gesichter aller Einsatzteilnehmer dennoch klar zu erkennen. ' Auch für die Giants, die plötzlich auftauchten. Ein gutes Dutzend war es, die jäh stoppten. Schlangenzischen wurde laut. Aufgeregt unterhielten die Giants sich in ihrer für menschliche Ohren bedrohlich klingenden Sprache. Über Helmvipho hörten Dhark und Gisol in der POINT OF mit. Gisol übersetzte! Nicht nur Ren Dhark war überrascht. Der Worgun beherrschte die Giantsprache? Bisher waren Übersetzungen stets nur vom Checkmaster durchgeführt worden. Der aber war immer noch nicht ansprechbar.
»Sie wundern sich, es mit >Verdammtem zu tun zu haben«, faßte Gisol die Diskussion der Giants zusammen. Die Cyborgs, Doorn und der Roboter hörten ihn über Helmfunk. »Und ich wundere mich, diesen Begriff hier zu hören«, erwiderte Ren Dhark. »Daß die Giants in unserer Galaxis uns so bezeichneten, ist ja sattsam bekannt und mittlerweile auch geklärt, aber diese hier können doch gar nicht wissen, daß wir aus Nal stammen!« Fragend sah er Gisol an. »Ich habe dafür keine Erklärung«, gestand der Worgun. In der Station veränderte sich die Situation soeben schlagartig. Das häßliche Schlangenzischen wurde bösartiger. »Verdammten ist der Zutritt nicht gestattet«, übersetzte Gisol. Es war der Moment, in dem die Giants zu den Waffen griffen... Grelle Blasterstrahlen fauchten durch den großen Raum, in dem die Flash gelandet waren. Ihre Einstiegsluken waren wieder geschlossen, die Strahlen, welche die Unitallzellen trafen und funkensprühend umtanzten, konnten im Inneren keinen Schaden anrichten. Acht Cyborgs und ein Roboter hatten plötzlich damit zu tun, den hochenergetischen Strahlenbahnen auszuweichen. Holger Alsop riß Doorn einfach mit sich. Ein Strahl flammte nur wenige Zentimeter an dem Sibirier vorbei. 134 Die Cyborgs und Artus setzten Paraschocker ein. Die Lähmstrahlen fächerten zwischen die Giants und brachten sie reihenweise zu Fall. So rasend schnell, wie die Cyborgs sich bewegten, konnten die Biostrukte sich darauf nicht einstellen. Obgleich künstlich geschaffene Kreaturen, wurden sie durch ihre biologische Komponente in ihrem Reaktionsvermögen beeinträchtigt. Ihre Hytroniken dachten schneller als ihre Körper reagieren konnten. In weniger als 30 Sekunden war der Spuk vorbei. Die Giants lagen paralysiert am Boden. Doorn nickte Alsop zu. »Danke«, sagte er leise. Der Cyborg schien es nicht wahrzunehmen. Mark Carrell wandte sich dem Sibirier zu. »Doorn, wir alle haben aufs Zweite System geschaltet und sind damit gewissermaßen außen vor. Können Sie über die Gedankensteuerung die Flash dazu ingen, daß sie in unserer Abwesenheit die Intervallfelder ein-Ichalten und erst wieder deaktivieren, wenn wir zurückkommen?« »Ich versuch's«, brummte Doorn. »Halten Sie mir solange die Giants vom Leib, falls die Nachschub kriegen!« Er öffnete die Einstiegsluke eines Flash wieder und nahm mentalen Kontakt mit der Gedankensteuerung auf, um ihr seine Anweisungen aufzudrängen. Sie mußte ihre Passivortung aktiviert lassen und jede sich nähernde Person identifizieren . Verstanden, Ausführung, erklang die lautlose Stimme in ihm. Zufrieden trat er vom Flash zurück, schloß die Einstiegsluke und ging auf Sicherheitsabstand. Im nächsten Moment fuhren die fünf Beiboote ihre Ausleger ein, sanken damit auf den Boden nieder, und gleich darauf zeichnete sich das Flimmern der Intervallfelder ab, die eng um die Maschinen herum lagen, statt wie bei der POINT OF ein großes Raumvolumen zu füllen. »Hoffentlich sinken die jetzt nicht in den Boden, und wir können sie später im Schwerkraftzentrum der Station suchen«, unkte Doorn. Carrell fragte über Helmvipho bei Gisol nach, wie es weiterge135 hen sollte. Der Worgun gab die Marschrichtung an. »Waffen bereithalten«, sagte Carrell. »Giants paralysieren, Roboter abschießen! Zuerst schießen und erst danach fragen, sonst haben wir keine Chance.« Zumindest Arc Doorn hatte damit gerechnet, daß Artus protestierte - immerhin war ja auch er ein Roboter, so menschlich er sich auch zu geben versuchte. Aber zu seiner Überraschung blieb der Blechmann still.
Sie eilten auf das Schott zu, das in einen anderen Raum oder in einen Korridor führte. Die Cyborgs brauchten jetzt keine Anweisungen mehr. Sie hatten derlei Situationen oft genug geübt, und ihre Programmgehirne gaben ihnen die richtigen Empfehlungen. Schott öffnen! Sichern! Mit unglaublicher Geschwindigkeit, die selbst Artus in Erstaunen versetzte, stürmten die Cyborgs hinaus. Drei Giants, die sich im Korridor befanden und zu ihren Blastern griffen, wurden sofort paralysiert. Weiter! Ule Cindar packte Doorn, warf ihn sich wie einen Sack über die Schulter und rannte mit ihm los. Dem fiel auf, daß in dieser Station nicht das typische Blaulicht vorherrschte, wie es an Bord der Ringraumer üblich war. Neben ihnen flog ein Schott auf. Mehrere Giants, die dahinter lauerten, schössen sofort. Cindar machte einen weiten Sprung zur Seite, prallte gegen die Wand und achtete nicht darauf, daß er Doorn trug. Dem bekam der Aufprall gar nicht gut, und wütend brüllte er auf, löste sich aus dem Griff des Cyborgs und verpaßte dem einen kräftigen Tritt in den anatomischen Südpol. »Paß doch auf, Mann! Du bist nicht allein hier!« raunzte er ihn an. Cindar merkte von dem Tritt weniger als Doorn von dem Anprall und feuerte mit dem Paraschocker auf Giants, die nicht aus dem Nebenraum kamen, sondern hinter den Terranern im Korridor auftauchten, um ihnen in den Rücken zu fallen. Die Biostrukte mußten gemerkt haben, daß die »Verdammten« keine tödlichen Waffen gegen sie einsetzten, und gingen entsprechend risikofreudiger vor. Selbst benutzten sie weiterhin ihre Blaster. Weiter! Aus den Helmviphos kamen Gisols Richtungsempfehlungen. Je weiter sie vorstießen, desto erbitterter wurde der Widerstand der Giants und bewies den Cyborgs damit, daß sie sich tatsächlich auf dem richtigen Weg befanden. Plötzlich änderten die Biostrukte ihre Taktik und setzten >Defensive< ein. Diese Roboter waren schneller und gefährlicher. Artus griff verstärkt ein. Er konnte sich besser in Roboterlogik hineindenken als die Cyborgs, die auch im Bereich ihres Zweiten Systems immer noch in erster Linie Menschen waren. Artus schien vorauszusehen, wo die nächsten Roboter lauerten und auf welche Weise sie angriffen, um ihnen zuvorzukommen. »Wer ist bloß auf die Schwachsinnsidee gekommen, diese Kampfmaschinen als >defensiv< zu bezeichnen?« fragte Doorn. »Wenn die nicht offensiv sind, dann waren auch die Rahim das freundlichste und toleranteste Völkchen, das jemals Drakhon und die Milchstraße durchflogen hat...« »Beschweren Sie sich bei Jim Smith«, rief ihm Amy Stewart zu. »Der hat sie so genannt!« Cindar schrie nicht einmal auf, als ihn ein Streifschuß am Oberschenkel erwischte. Er hatte seine Strahlwaffe umgeschaltet und machte mit seinem Blasterstrahl den >Defensiven<, der auf ihn geschossen hatte, zu einer kleinen Sonne. Weißglühende Sprengstücke jagten durch den Korridor. Artus feuerte gleich aus zwei Blastern auf die Angreifer und machte kurzen Prozeß mit ihnen. Weiter! Immer noch keine eigenen Verluste! Inzwischen übernahm es Artus, Doorn zu schützen und zu tragen, weil der sich weder Cindar noch einem der anderen Cyborgs wieder anvertrauen wollte. Nach wie vor gab Gisol über Vipho Richtungshinweise. Bis sie schließlich vor einem mehrfach gesicherten Panzerschott standen und nicht mehr weiter vorankamen. »Sie haben die Rechnerzentrale erreicht«, sagte Gisol. »Versuchen Sie jetzt einzudringen.« 136 137 Das war leichter gesagt als getan. Das Panzerschott ließ sich nicht von Hand öffnen. Doorn versuchte es per Gedankensteuerung, bekam aber keinen Kontakt. »Vielleicht ist sie ähnlich verschlüsselt wie die in meiner EPOY«, vermutete Gisol in der POINT OF.
»Was ist mit dem Checkmaster?« drängte Doorn. »Hat der keinen brauchbaren Tip?« »Der scheint immer noch mit dem Controllo zu diskutieren oder streikt mal wieder«, warf Dhark ein. »Wenn man diese verflixten Superrechner mal braucht...« Damit tat er dem Checkmaster Unrecht, der oft genug unter Beweis gestellt hatte, wie wertvoll seine Unterstützung war. Wieder fauchten Strahlschüsse. Roboter und Giants griffen in Wellen an. Jetzt war es wirklich extrem gefährlich, weil die Terraner praktisch keine Deckung mehr besaßen. Doorn zwang sich zur Konzentration auf seine Arbeit. Dafür war er schließlich mit von der Partie - das Unmögliche möglich machen, die Fremdtechnik austricksen und den Terranern Zugang zum Zentralrechner und vielleicht sogar die Kontrolle über den Controllo zu verschaffen. »Ich brauche Ruhe, um arbeiten zu können«, knurrte er. »Könnt ihr nicht diesen verdammten Korridor irgendwie so dichtmachen, daß keiner mehr durchkommt?« »Dann kommen wir selbst aber auch nicht mehr durch, wenn wir zurückmüssen«, gab Bram Sass zu bedenken. »Mir doch egal!« fauchte Doorn ihn an. »Darum können wir uns hinterher kümmern!«. Carrell gab Anweisungen. Doorn hörte nicht zu. Er konzentrierte sich auf das Panzerschott. In Gedanken spielte er all die Varianten durch, die er jemals bei den Mysterious kennengelernt hatte. Wo gab es Ähnlichkeiten zwischen dieser Schott Verriegelung und anderen? 138 Plötzlich glaubte er es zu wissen. Wie stets konnte er auch jetzt nicht erklären, wie er zu dieser Erkenntnis gekommen war, die sich von einem Moment zum anderen in ihm bildete, aber es gab auch niemanden, der jetzt eine Erklärung von ihm hören wollte. ...... Und es war doch so einfach! Schon glitt vor ihm das Schott in die Wand zurück und gab den Zutritt zur Zentrale frei! Schlagartig hörte der Beschüß durch Giants und Roboter auf. Fürchteten die Biostrukte, mit ihrem wütenden Strahlfeuer irreparable Schäden in der Rechnerzentrale anzurichten? Doorn war der erste, der sie betrat; die anderen folgten ihm. Die Giants, die nicht mehr auf die Terraner schössen, blieben zögernd zurück. Dennoch verriegelte Doorn das Schott sicherheitshalber von innen. Er haßte unangenehme Überraschungen, und besonders aufmerksam sah er sich in der großen Zentrale um, ob es nicht irgendwo versteckte Transmitter in Wänden, Fußboden oder Decke gab, durch die plötzlich Heerscharen von Giants und Defensiven eindringen konnten. Spätestens seit die Salter ihnen gezeigt hatten, wo überall in der Zentrale der POINT OF Transmitter versteckt waren, hatte er ein Gespür dafür entwickelt. ! j Aber hier schien es nichts dergleichen zu geben. Dominiert wurde die Zentrale von der Fassade eines riesigen Rechners, der schon dem Äußeren nach moderner war als alles, was die Terraner je gesehen hatten. Doorn erschauerte. Wenn dieser Rechner wirklich so voluminös war, wie er aussah... über welche unglaubliche Kapazität mußte er dann verfügen? Die ersten Computer Terras in der elektronischen Steinzeit hatten auch noch gewaltige Abmessungen aufgewiesen. Nur zwanzig Jahre später leisteten Rechner, die auf einen Schreibtisch paßten, ein Vielfaches dessen, wozu jene alten Geräte imstande gewesen waren. Und die Technik der Mysterious war nicht nur ein paar Jahr139 zehnte, sondern über eine Million Jahre alt... Wenn die einen Rechner bauten, der wirklich dermaßen viel Platz beanspruchte - was mochte das für ein Leistungsgigant sein? Der Gedanke an ein Uraltgerät schied aus. Schon die Gestaltung der Rechnerfront war wesentlich moderner als die des Checkmasters. Langsam trat Doorn an diesen Rechner heran. Das mußte der Zentrale Controllo sein.
Abschalten!
Schalte ihn ab, und wenn du damit die gesamte Station lahmlegst! dachte Doorn. Er
orientierte sich, sah die Schaltflächen... und streckte die Hand aus.
Da brüllte es in ihm auf!
RUHE!
140
Es war später Nachmittag.
Henk war sich sicher, nicht mehr als zehn Kilometer entfernt vom Fundort des
Raumfährenwracks zu sein. Er versteckte den Jetski unter einem Steg (warum wußte er auch
nicht genau) und verbrachte ein paar Minuten damit, die Ausrüstung zu prüfen, die er auf
Drängen von Charlize in den Taschen der Montur verstaut hatte, ehe sie das Wrack
inspizierten. Er leerte die Taschen und legte alles auf einen Haufen vor sich. Es war nicht viel,
was er da zusammenbrachte. Ein paar Verbandspäckchen, einige Konzentratriegel, ein
Vielzweckwerkzeug, ein Multifunktionsgerät, mit dem man elektronische Verriegelungen und
dergleichen knacken konnte - sehr wichtig, wenn man den Zündschlüssel für den Gleiter
verlegt hatte! - sowie den schweren Blaster.
Und nicht zu vergessen das Armbandvipho mit dem integriertem Chrono.
Wie gesagt, es war nicht viel. Es war sogar sträflich wenig, um auf einem unbekannten
Planeten zu überleben, dessen Fauna und Flora sich als tödlich erweisen könnte.
Aber Babylon war kein solcher lebensfeindlicher Planet.
Henk de Groot verstaute seine Ausrüstung wieder und blickte nach oben. Der wölken
verhangene Himmel wirkte schon ein wenig gedämpft, dennoch blieben noch gut und gern
zwei Stunden Tageslicht.
Wenn er sich ranhielt, konnte er in diesen zwei mal sechzig Minuten die Distanz bis zu ihrem
Gleiter schaffen.
Abgesehen vom Geräusch der Wellen, die eine flache Dünung gegen den Küstenstreifen warf,
und dem Rauschen des Windes in den Bäumen der Parkanlage war es ruhig. Er orientierte
sich kurz, um zu sehen, welche Richtung er einschlagen mußte.
Die Strandpromenade konnte er nicht benutzen.
Das war von vornherein klar.
141
Henk hatte einen ausgeprägten Orientierungssinn, deshalb erkannte er, daß die Straße in die
falsche Richtung lief. Sie zu benutzen hieße, sich von seinem Ziel zu entfernen, anstatt sich
ihm zu nähern. Dafür existierten eine Reihe von breiten Wegen, die kreuz und quer durch die
Parkanlage liefen und die einzelnen Ringterrassen verbanden.
Doch die, so entschied er, würde er nicht benutzen.
Zu leicht einsehbar.
Also blieb ihm nur der Marsch durch die Parkanlagen zwischen den Gebäudekomplexen.
Er packte sich den schweren Zweihandblaster so bequem wie möglich auf die Schultern, holte
noch einmal tief Luft und machte sich auf den Weg durch den waldähnlichen Park.
Er kam rascher voran, als er geglaubt hatte.
Durch die ständige Präsenz der Pflegeroboter vor ihrem Ausfall durch den alle M-Technik
lahmlegenden Weißen Blitz war das Unterholz ständig gelichtet und gestutzt worden. Zwar
breitete sich jetzt der Pflanzenwuchs unkontrolliert aus, dennoch konnte man noch nicht
davon sprechen, daß er schon urwaldähnlichen Charakter angenommen hätte.
Die erste Stunde verging, ohne daß er sich in irgendeiner Weise erschöpft fühlte.
Bei nur 0,78 Gravo Schwerkraft war vieles einfacher.
Auch das Laufen.
Es war fast ein idyllischer Marsch. Nichts als das Gezwitscher von Vögeln und das Gezirpe
von Insekten.
Gab es auf Babylon eigentlich Raubtiere?
Seltsam, daß er gerade jetzt daran dachte.
Er hörte den Gleiter zunächst nicht kommen.
Henk lief gerade am Rand einer großen Lichtung, als er das Summen hörte. Er warf den Kopf
in den Nacken, versuchte die Quelle des Geräusches zu lokalisieren.
Da! Ein Gleiter!
Genauer gesagt sein Gleiter!
142
Er näherte sich über den Bäumen.
Henk lachte laut auf. Also war es Charlize gelungen, sich von dem Controllo zu befreien.
Jetzt suchte sie sicher nach ihm.
Er änderte die Richtung und wollte auf die Lichtung laufen, um sich ihr zu erkennen zu
geben.
Dann blieb er wie angewurzelt stehen.
Etwas stimmte nicht.
Der Gleiter flog so unsicher, daß niemals Charlize am Steuer sitzen konnte. Er hatte seine
Freundin schon als Pilotin erleben dürfen; sie hatte ein Händchen für alles Fluggerät, das
schwerer als Luft war.
Demnach konnte nur einer der Fremden am Steuer sitzen!
Mit einem wilden Hechtsprung warf sich Henk in die Deckung eines mit Blüten übersäten
Busches.
Das Summen wurde lauter; er kroch noch tiefer unter die Zweige.
Sekunden vergingen. Quälend langsam. Henk spürte das Blut in seinen Schläfen pochen...
Dann entlud sich die Anspannung in einem tiefen, erleichterten Atemzug.
Der Gleiter entfernte sich summend über den Bäumen.
Henk wartete sicherheitshalber ein paar Minuten. Aber das Geräusch kehrte nicht zurück, die
Gefahr schien vorüber zu sein.
Eigentlich hätte er seinen Weg jetzt fortsetzen können. Aber Henk beschloß, das Risiko einer
zufälligen oder gezielten Entdekkung nicht mehr einzugehen. Er würde bis zur Dämmerung in
diesem Versteck warten, ehe er den Marsch fortsetzte.
Er zog die Beine an, schlang die Arme darum und legte den Kopf auf die Knie.
So saß er reglos, nur mit seinen Gedanken beschäftigt, bis die Dämmerung hereinbrach. 143
Als die Sonne sank, wurde es unter der ewigen Wolkendecke Babylons rasch dunkel.
Allerdings sorgten die fünf Monde für ein schwaches Glimmen am Himmel, so daß eine
Orientierung nach wie vor möglich war.
Henk stand übergangslos auf, streckte sich, machte ein paar Dehnungsübungen und setzte
seinen Weg durch die Dunkelheit fort.
Sein Ziel war nach wie vor der Bereich am Strand vor dem Wrack der altertümlichen
Raumfähre, wo er die Suche nach Charlize aufzunehmen gedachte. Wie, das war ihm noch
nicht klar. Aber war er erst einmal dort, würde sich schon ein Weg finden lassen. Schade nur, daß er jetzt nicht mehr seinen Gleiter dazu benutzen konnte; die hocheffizienten
Sensoren und Ortungsgeräte an Bord hätten vieles einfacher gemacht.
Die Gedanken an Charlize beschäftigten Henk auch nach vierzig Minuten Fußmarsch noch
immer, als ihn etwas irritierte.
Er war mittlerweile dem Strand nähergekommen, lief über eine Terrasse, die vom Meer zu
seiner Linken nur durch eine niedrige Mauer getrennt war, gegen die die Wellen schlugen.
Zur Rechten erhob sich die schräge Außenwand einer Ringpyramide in den Nachthimmel.
Angewehter Sand knirschte unter seinen Stiefeln und übertönte fast das Rauschen der Wellen. Nirgends brannte ein Licht.
Dennoch war da ein heller Schein, wo eigentlich keiner sein durfte, waren Geräusche, wo
eigentlich auch keine sein durften. Ein Zischen und Kreischen. Metall schlug auf Metall.
Es kam von weiter vorn. Die Quelle war noch verdeckt durch den Gebäudekomplex vor Henk. Als er, der Rundung der Ringpyramide folgend, seine Schritte wieder landeinwärts lenkte, öffnete sich vor ihm ein Platz. Jenseits davon die nächste Pyramide. Ihr mächtiges Hauptportal stand sperrangelweit offen. Der Eingangsbereich war erleuchtet; 144 man konnte einen Blick ins Innere werfen. De Groot knurrte überrascht. Hier gab es offensichtlich Energie im Überfluß! Doch das war nicht die einzige Überraschung für den Systemingenieur auf Abenteuerurlaub. Vor dem Portal, grell angestrahlt, stand sein Gleiter. Umringt von den seltsam kleinen Gestalten in ihren Raumanzügen, die -Henk sträubten sich die Nackenhaare, als er erkannte, was sich da seinen Blicken bot - seinen Gleiter fachgerecht zerlegten. Große Teile der Außenhaut waren bereits entfernt worden. Es tat ihm in der Seele weh, zu sehen, wie die Fremden einzelne Sektionen des überwiegend in Modulbauweise gefertigten Gleiters auseinandergenommen und fein säuberlich nach Wichtigkeit getrennt auf verschiedenen Haufen verteilt hatten. Gerade nahmen sie sich die Antriebssektion vor... Waren das etwa die Plünderer, die das Wrack des Raumgleiters so gründlich gefilzt hatten? Mehrere Minuten lang starrte er auf das Bild und überlegte sein weiteres Vorgehen. Er mußte auf alle Fälle erst mal näher heran. Dazu bot die Dunkelheit genügend Schutz; der Bewuchs des Platzes in eigens dafür angelegten Pflanzeninseln würde ihm erlauben, sich dem Geschehen zu nähern, ohne daß er gleich seine Entdek-kung befürchten mußteEr nahm den Zweihandblaster von der Schulter, schaltete ihn mit einem Daumendruck auf Paralysebetrieb und erhöhte nach kurzem Überlegen die Intensität. Normalerweise würde er mit dieser Einstellung locker einen Elefanten auf die Bretter legen. Es konnte aber gut sein, daß die Fremden eine gänzlich andere Physiologie besaßen und lediglich ein Kitzeln verspürten. Dann mußte er sich etwas einfallen lassen, wenn er sie nicht töten wollte. Ein plötzlicher Windstoß wirbelte Staub und Sand empor. Die Büsche bewegten sich wie eigenständige Lebewesen. Henk duckte sich tiefer in den Schatten, der ihn umgab wie ein schützender Kokon, als einige der Fremden sondierend in die 145 Runde blickten. Gleich daraufwandten sie sich wieder ihrer Arbeit zu, und er atmete tief ein. Unwillkürlich hatte er die Luft angehalten, obwohl niemand aus der Entfernung sein Atmen aus den vielfältigen Geräuschen der Nacht hätte heraushören können. Langsam hob er die Waffe und aktivierte das Zielsuchgerät. Er kniff ein Auge zu und peilte durch den optischen Verstärker seinen Gleiter an. Die Mini-Zieldarstellungskamera holte die Stelle heran - und Henk spitzte den Mund zu einem tonlosen Pfeifen, als er auf dem winzigen, hochauflösenden Monitor einen der Fremden ins Visier bekam, umrahmt vom rötlich fluoreszierenden, segmentier-ten Kreis der Zieloptik. Bei dem fremden Raumfahrer handelte es sich eindeutig um einen Humanoiden. Zwei Arme, zwei Beine. Die Datensequenz, die am linken Rand mitlief, bezifferte seine Größe auf exakt 1,65 Meter; er schien der größte der Gruppe zu sein, War er auch ihr Anführer? Gewisse Einzelheiten an seinem Raumanzug deuteten darauf hin, so hatte er ein paar auffällige Markierungen im Schulterbereich, die die anderen nicht besaßen. Er schien sich auch nicht mit dem Eifer an der allgemeinen Arbeit zu beteiligen, den die anderen an den Tag legten. War er der primus inter paresl Es war müßig, darüber zu spekulieren. Henk hatte keinerlei Erkenntnisse über die Fremden, aber was er sah, ließ den Schluß zu, daß sie von einer Welt kommen mußten, auf der eine wesentlich höhere Schwerkraft herrschte als
auf Babylon oder Terra. Selbst der Raumanzug konnte nicht verbergen, daß sie ungeheuer
kräftig zu sein schienen. Leider gewährte die opalisierende Scheibe des Helmvisiers keinen
Blick auf das Gesicht, auch als Henk Infrarot hinzuschaltete, bekam er lediglich ein
Konglomerat an unterschiedlichen Wärmezonen auf dem Bildschirm zu sehen, aber keine
klare Darstellung der Physiognomie der Unbekannten.
Er zuckte mit den Schultern und schwenkte den Blaster erst nach
146 links, dann langsam zurück und weiter nach rechts; er suchte nach
einer Spur von Charlize.
Vergebens.
Außerdem - hier draußen würde er sie wohl kaum finden. Wenn
überhaupt, dann wohl nur im Innern dieses mit Energie versorgten
Gebäudes. Er mußte hinein!
Henk de Groot verbarg sich unter den herabhängenden Zweigen eines Baumes auf der
Westseite der Terrasse und starrte hinüber zu der Gruppe der fremden Raumfahrer, die noch
immer dabei waren, den Gleiter zu zerlegen. Stück für Stück. Wenn das so weiterging, würde
nicht mehr viel von diesem Erzeugnis terranischer Ingenieurskunst übrigbleiben.
Jede nur mögliche Deckung ausnützend, hatte sich Henk immer weiter der Gruppe und dem
hell erleuchteten, kathedralenartigen Eingangsportal der Ringpyramide genähert.
Seit Minuten zermarterte er sich das Gehirn, auf welche Weise er ungesehen an den Fremden
vorbei und ins Innere des Gebäudes gelangen könnte, als sich die Situation von einem
Sekundenbruchteil zum nächsten grundlegend änderte.
Im Eingangsbereich hinter dem Portal entstand Bewegung; ein mächtiger Schatten näherte
sich aus der Tiefe des Gebäudes, schwebte ins Freie und auf die unbekannten Raumfahrer zu.
Der Controllo!
Und...
Henk stockte der Atem, als er erkannte, daß der Roboterkoloß in einem seiner Greif arme
Charlize trug.
Reglos hing sie in seinem Griff.
Henk hatte ein Gefühl, als würde sich eine eisige Hand um sein Herz schließen.
»Verdammt, verdammt, verdammt!« fluchte er leise und erbittert, während er merkte, wie
sich Hilflosigkeit und Verzweiflung in ihm ausbreiteten.
Lebte sie? Er hoffte es inbrünstig.
Er schloß kurz die Augen - und riß sie sofort wieder auf, als er die Stimme hörte.
Ihre Stimme?
Ja! Und noch mal ja!
Es war ihre Stimme!
Eindeutig.
Sekundenlang schien sein Verstand unkontrolliert zu funktionieren, als er sie so unvermittelt
vernahm.
Sie war zu leise, um den genauen Wortlaut dessen zu verstehen, was sie sagte.
Aber wieso hörte er sie überhaupt?
Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Sein Sprechset. Natürlich. Es hatte nicht nur
die Funktion einer Sprechverbindung per Funk, sondern man konnte es auch dazu verwenden,
Umgebungsgeräusche so zu verstärken, daß man damit das Husten der Flöhe auffangen
konnte - wie sich Ladislaw Hanky einmal ihm gegenüber geäußert hatte.
Henk drehte die akustischen Verstärker höher, verhielt sich ruhig und lauschte.
»... nicht möglich«, hörte er Charlize sagen.
Der Raumfahrer sagte etwas in einer fremden Sprache.
»Weshalb nicht?« drang die Frage Sekundenbruchteile später in Angloter an Henks Ohren. Angloter?
Blitzschnell zählte der Ingenieur Eins und Eins zusammen - und hatte die Lösung parat. Der Fremde, der sich vor dem riesigen Roboter aufgebaut und in einer für Henk irritierenden, weil menschlichen Geste die Arme in die Seiten gestemmt hatte, stellte in seiner eigenen, unbekannten Sprache Fragen an Charlize, die vom Controllo ins Angloter und zurück übersetzt wurden. 148 »Ich sage es noch einmal«, hörte Henk in seinem Versteck Charlize antworten. »Mit dem Antrieb des Gleiters kann man weder weit noch sonstwie ins All fliegen. Dazu braucht man Raumschiffe. Kapiert?« »Raumschiffe? Wo finden wir die?« »Hier jedenfalls nicht«, erwiderte Charlize, und ihre Stimme klang müde. Auswirkungen der Lähmung, die ihre körperlichen Funktionen außer Kraft setzte? Oder war sie auf geistiger Ebene unter Druck gesetzt? Henks Gedanken liefen auf Hochtouren. Er überlegte hin und her, wie er Charlize aus den Fängen des Robotermonstrums befreien konnte, nur um schließlich das Sinnlose seines Vorhabens einzusehen. Er hatte keine Chance, hier draußen etwas für Charlize zu tun, denn solange der Controllo aktiv war, durfte er sich nicht in dessen Nähe wagen. Er mußte ins Gebäude. Daran führte kein Weg vorbei. Nur von dort war es möglich, das mechanische Monstrum der Mysterious zu deaktivieren. Längst war Henk zu der Erkenntnis gelangt, daß in der Ringpyramide M-Technik funktionierte, funktionieren mußte. Mit nichts anderem nämlich konnte man den Controllo aktivieren und steuern. Und dieses Robotermonstrum war ja ebenfalls ein Produkt der M-Technologie, das noch funktionierte. Während der galaktischen Katastrophe mußte es sich im Schutz des Intervallfeldes befunden haben, das offenbar auch die Energieerzeuger und eine unbekannte Anzahl weiterer MAnlagen in der Ringpyramide geschützt hatte. Henk brauchte nur die Zentraleinheit zu finden und außer Kraft zu setzen, und schon war Charlize frei. Er hob erneut den Blaster und sondierte durch das Zielgerät die unmittelbare Umgebung des Eingangs. Er suchte nach etwas ganz Bestimmtem. Die Erforschung der Mysterioustechnik war Henks Hauptaufgabengebiet, seit er mit der SKARLAND nach Babylon gekommen war. Daran änderte sich auch nichts, nachdem der Hyperraumblitz 149 jegliche M-Technik, die nicht im Moment des Impulses durch ein Intervallfeld geschützt worden war, unwiederbringlich in den Orkus der Geschichte katapultiert hatte. Die Auswirkungen des Weißen Blitzes zwangen ihn nur zu einer Neuorientierung seiner Aufgaben. Zu einer Zweiteilung. Einerseits verlor er die Entschlüsselung der M-Technik nicht aus den Augen, andererseits widmete er sich verstärkt der Arbeit, irdische Technik in den Ringpyramiden zu installieren, um sie wieder bewohnbar zu machen. Inzwischen hatte er es darin zur Perfektion gebracht, wie er mit Fug und Recht von sich behaupten konnte. Vermutlich wußte er inzwischen mehr über den inneren Aufbau der Ringpyramiden als jeder andere auf diesem Planeten. Aber es war allgemein bekannt, daß es neben dem Hauptportal in regelmäßigen Abständen noch Tore gab, durch die man in die Lager und Vorratsräume und zu den Energie verteilerknoten gelangen konnte. Ein solches Tor suchte Henk. Und fand es. »Genau wie ich gedacht habe«, murmelte er zufrieden, als er auf dem winzigen Karree des Visiers die dünnen Linien entdeckte, die verrieten, daß sich an dieser Stelle ein Eingang befand. Er konnte sogar relativ ungesehen zu der Stelle gelangen, weil sich auf einer angewehten Sanddüne Buschwerk und kleine Bäume etabliert hatten, die Deckung boten. Er hängte sich den Blaster über die Schulter und lief gebückt los.
Gleich darauf stand er am Fuß der Pyramide vor der steilen Außenwand. »Angenommen es stimmt, daß in dieser Ringpyramide M-Technik existiert, wovon ich ausgehe, dann müßte sich eigentlich...« Er hatte noch nicht ausgesprochen, als sich das zweiflügelige Tor ohne sein Zutun nur auf seine bloße Annäherung hin öffnete. Henk trat hindurch. Geräuschlos schlössen sich die wuchtigen Flügel wieder. Vor ihm lag ein breiter, hoher Gang. 150 Henk orientierte sich kurz. Mysteriouswohnbauten waren alle nach einem bestimmten Grundschema gefertigt, wie er während seiner Arbeit herausgefunden hatte. Mittlerweile hatte er dieses so verinnerlicht, daß er sich in den gewaltigen Ringpyramiden fast blind zurechtfand. Zumindest benötigte er keine Wege- oder Aufrißpläne, um dorthin zu gelangen, wohin er wollte. Es war hier nicht anders. »Also dann«, murmelte er und setzte sich in Bewegung. Er folgte dem Gang und kam nach einer kurzen Wegstrecke in einen riesigen Raum, der eine Art Verteilerkreisel innerhalb des Versorgungssystems darstellte. Von hier aus wurden die einzelnen Ringterrassen mit ihren unzähligen Wohneinheiten beliefert. Das logistische Problem war so gewaltig und umfangreich, daß es nur mit Hilfe großer, dezentralisierter Rechnernetzwerke bewältigt werden konnte. Von dieser Verteilerebene aus ging es auch in die Tiefgeschosse unter der Pyramide. Dort unten lag üblicherweise der Hauptenergiemeiler. Daß er in Betrieb war, ließ sich daran erkennen, daß alles in der Pyramide funktionierte. Türen öffneten sich selbsttätig bei Annäherung. Rolltreppen und -bänder liefen leise surrend. An-tigravliftröhren signalisierten ihre Betriebsbereitschaft. Ebenfalls in der Tiefe lag die Hauptsteuerung all dessen, was den Gebäudekomplex am Leben und in Funktion hielt. Irgendwo mußte doch der Hauptschacht sein...! Minuten später stieß Henk auf ihn; seine beiden Phasen leuchteten. Einen Augenblick zögerte de Groot, dann trat er in die abwärts führende Phase. Das Antigravfeld war aktiv, und der Ingenieur schnaubte erleichtert. Während des Abstiegs glitten die einzelnen Tiefgeschosse, gleißend hell erleuchtete Ebenen, an Henk vorbei nach oben weg. Er bekam Einblicke in labyrinthische Korridore, in hallengroße 151 Räume, voll mit technischen Artefakten der Mysterious, deren Verwendungszweck zu entschlüsseln ohne den entsprechenden Basiscode vermutlich eine Arbeit für Generationen von Technikern und Wissenschaftlern bedeuten würde. Manchmal glaubte Henk Schemen zu sehen, die sich in der Einsamkeit der gigantischen Untergeschosse herumtrieben, dann wieder kam es ihm vor, als könne er die Anwesenheit der Mysterious fühlen - und doch war alles nur Einbildung seiner überreizten Phantasie, von der er geglaubt hatte, sie unter Kontrolle zu haben. Schließlich erreichte Henk die letzte Ebene. Hier endete der Antigravschacht in einer Halle, die sich seinen Blicken öffnete wie eine riesige Krypta. Henk verließ den Schacht und lief einige Schritte in die Halle hinein. Ringsum flüsterten und raunten Maschinen. Ein irisierendes blaues Glimmen versperrte den Blick in die Tiefe der Halle. Aber Henk wußte auch so, was sich hinter der für jeden undurchdringlichen energetischen Wand des Intervallfeldes verbarg: das schlagende Herz eines M-Meilers - und das Hauptbetriebssystem. Die Anlage hier unten mußte sich von denen in den anderen Ringpyramiden grundsätzlich
unterscheiden. Denn in denen hatte man bisher keine von einem Intervallfeld geschützten
Anlagen gefunden. Selbst die Einrichtung, die das Raumüberwachungssystem und den
zentralen Controllo* steuerte, war seit der galaktischen Katastrophe ausgefallen.
Hier aber funktionierte die M-Technik ungestört. Was also war derart wichtig hier unten, daß
es von einem Intervallfeld geschützt wurde?
Nach links versetzt standen ein paar halbkreisförmig angeordnete Konsolen vor dem
abgesperrten Bereich.
Henk lief hinüber.
Seine Fingerspitzen spielten über die glatte Oberfläche der Be-
Siehe Band 16 des ersten Zyklus, »Die Straße zu den Sternen« 152
dienfelder, die sich mit einem sanften Glühen aktivierten.
Mysterioussymbolik.
Natürlich!
Was hatte er denn erwartet? ?
Doch mehr als die Sensortasten zu aktivieren würde ihm nicht gelingen.
Die Mysterious hatten besonders sensible Bereiche mit einem besonderen Schutz vor
unbefugten Manipulationen geschützt. Sämtliche Betriebssysteme waren mit einem Basis-
beziehungsweise Sperrcode abgesichert, den zu entschlüsseln sich Henk hier ohne eine
spezielle Ausrüstung abschminken konnte.
Dennoch unternahm er einige Versuche. Aber es gelang ihm nicht, einen Weg durch das
Intervallfeld zu finden.
»Verdammt!« Er fluchte leise und nachhaltig - und spürte, wie es kalt zwischen seinen
Schulterblättern wurde.
Da war was!
Hinter ihm!
Er fuhr herum, nur um zu sehen, wie eben der Controllo aus dem Antigravschacht schwebte,
die noch immer reglose Charlize in seinem Arm.
Innerhalb eines Atemzugs hechtete Henk hinter einer der Konsolen in Deckung.
Auf Händen und Knien robbte er bis zur Ecke und spähte herum.
Der Controllo schwebte aus dem Bereich des Antigravschachts heraus und vor das
Intervallfeld, wo er einfach Stellung bezog und sich nicht mehr rührte.
Henk malträtierte seine Unterlippe nachdenklich mit den Zähnen.
Sollte er es riskieren, Charlize zu rufen? Sie wissen lassen, daß er in ihrer unmittelbarer Nähe
war und versuchen würde, sie aus den Fängen des mechanischen Monstrums zu befreien?
Aber wie würde der Controllo reagieren?
Zu viele Wenn und Aber, meldete sich sein Pragmatismus. Wenn du es nicht versuchst, wirst
du es nie herausfinden...
153
»Charlize!« rief er unterdrückt. Dann lauter: »Charlize, verstehst du mich?«
Sekunden verstrichen.
Und wieder: »Charlize! Bist du okay?«
Endlich eine Reaktion.
»Henk, bist du es?« Ihre Stimme klang dünn und ängstlich. Es tat ihm in der Seele weh.
»Ja«, sagte er rauh. »Ich hol' dich hier raus.«
»O Gott.« Ein langer, zittriger Atemzug der Erleichterung kam über ihre Lippen. »Wie gut,
deine Stimme zu hören. Ich kann dich nicht sehen. Wo bist du?«
»Nicht weit von dir entfernt. Kannst du dich bewegen?«
»Nein. Etwas lähmt mich, ein Energiefeld vermutlich. Ich bin nur in der Lage zu sprechen.«
Mit voller Absicht, dachte Henk und hatte die Szene vor Augen, als der Unbekannte im
Raumanzug sie ausfragte.
Der Controllo rührte sich noch immer nicht.
Ob er durch irgend einen Befehl deaktiviert worden war? Vielleicht hatte er sich auch selbst
abgeschaltet, nachdem er seine Aufgabe als erfüllt ansah, das humanoide Wesen hier
herunterzubringen.
»Henk? Henk, bist du noch da?«
»Natürlich. Ich laß dich nicht mehr allein.« Charlizes unterschwellig durchschlagende Angst
schnitt ihm wie mit einem Messer ins Herz.
Er konnte, er durfte nicht länger warten, obwohl er wußte, wie sehr er sein Schicksal und das
von Charlize herausforderte, aber wahrscheinlich würde er nie mehr eine solche Gelegenheit
bekommen. Er mußte einfach handeln.
Zu allem entschlossen verließ er seine Deckung und sprintete hinüber zu dem mechanischen
Golem. Er hatte schon andere Roboter außer Kraft gesetzt, weshalb sollte es ihm gerade bei
diesem Koloß nicht gelingen?
Doch diesmal hatte er Pech.
154
Er wußte es spätestens in dem Augenblick, als einige der Fremden in ihren Raumanzügen aus
dem Antigravschacht auftauchten, an ihrer Spitze jener mit der farbig abgesetzten
Schulterpartie.
Mit einer raschen Bewegung nahm Henk den Blaster von der Schulter und richtete den Lauf
auf die kleinen Raumfahrer.
»Dies ist eine Waffe!« rief er scharf. »Zwingt mich nicht, sie einzusetzen! Hört ihr?«
Er war sich nicht sicher, aber irgendwie hatte er das fatale Gefühl, ein Rufer in der Wüste zu
sein, dem niemand antwortete.
Statt dessen erkannte er, daß der Anführer der Gruppe ein kleines Gerät ähnlich einer
Fernbedienung an seinem Gürtel trug und irgendeine Schaltung vornahm.
Henk sträubten sich die Nackenhaare, als er aus den Augenwinkeln sah, wie sich der
Controllo bewegte. Das Monstrum drehte sich plötzlich in seine Richtung, als könne es ihn
sehen - was vermutlich auch zutraf, wenn auch keine Linsensysteme zu erkennen waren.
Henk versuchte, sich dem Unausweichlichen durch Flucht zu entziehen. Doch seine Beine
versagten bereits ihren Dienst. Einen Atemzug später hatte die Lähmung sämtliche
Muskelpartien erreicht. Der Blaster entglitt seinen kraft- und gefühllosen Händen und
schepperte zu Boden. Er konnte sich nicht mehr aufrecht halten und sank langsam in sich
zusammen. Erst stürzte er auf die Knie, dann fiel sein Oberkörper nach vorne, schließlich
schlug er mit dem Gesicht auf den Bodenbelag.
Er fühlte keinen Schmerz, nur ohnmächtige Wut darüber, daß man ihn außer Gefecht gesetzt
hatte. .
Er wurde auch nicht bewußtlos.
Seine Sinne blieben merkwürdigerweise klar.
Und so registrierte er aus einer seltsam unbeteiligten Warte, wie er zu schweben begann und
auf den Controllo zutrieb. Der Riesenroboter fuhr einen weiteren Arm aus, mit dem er Henk
umfaßte und festhielt, ht
Der Ingenieur hatte das Gefühl, in einem Fesselfeld gefangen zu
155
sein, das ihn so eng einschnürte, daß er zu keiner noch so winzigen Bewegung fähig war. Er
konnte nur mit den Augen rollen - und merkwürdigerweise sprechen. Seine Stimmbänder
unterlagen nicht dieser Lähmung. Aber das hatte er ja schon bei Charlize erlebt.
Charlize. Im Augenblick war er ihr so nah - und doch wieder weiter entfernt, als lägen
Lichtjahre dazwischen.
»Henk? Henk, bist du in Ordnung?« Ihre Stimme ertönte unmittelbar neben ihm.
»Ich bin schon ein Held, nicht wahr, Liebling?« sagte er und wunderte sich, woher er diesen
grimmigen Humor nahm. Es gab eigentlich keinen Grund für diese Art von Heiterkeit, sagte
er sich. Es sei denn, man amüsierte sich über die Art seines Versagens.
»Mach dir nichts daraus...« Woher sie nur diese Zuversicht nahm? »... wir finden sicher einen
Ausweg.«
Und als wäre das das Zeichen für den Aufbruch gewesen, setzte sich der Controllo in
Bewegung.
Er hielt auf den Antigravschacht zu, wie Henk sehen konnte.
Ob es wieder nach oben ging? Oder wohin brachte man sie diesmal?
Er mußte abwarten.
»Charlize!«
»Ja?«
»Wie geht es dir? Hat man dir ein Leid zugefügt, dich verletzt?«
»Nein. Ich bin körperlich unversehrt... wie es allerdings um meinen Verstand steht, darüber
möchte ich im Augenblick schwei-
gen.«
»Verstehe. Dieses Verhör oben vor der Pyramide...« »Du hast das gesehen?« unterbrach sie
ihn erstaunt. P »Ich war in der Nähe«, bestätigte er. »Konnte aber nicht eingreifen. Im übrigen
habe ich nur noch den Schluß mitgekriegt. Konntest du herausfinden, wer unsere kleinen
Räuber und Plünderer sind? Woher sie kommen? Welcher Spezies sie angehören?«
Der Controllo schwebte mit ihnen aufwärts. Die Distanz zurück, die Henk vor nicht allzu
langer Zeit in die andere Richtung ge-
156
nommen hatte.
»Ziemlich viele Fragen auf einmal«, erwiderte Charlize. Ihre Stimme klang müde, erschöpft.
Sie fuhr fort: »Nein, ich weiß auch nicht, um wen es sich bei den Fremden handelt.
Vermutlich sind es keine Sauerstoffatmer, weil ich sie noch nie ohne ihre Raumanzüge
gesehen habe.«
»Da ist was Wahres dran«, pflichtete er ihr bei, war aber nicht ganz bei der Sache, weil er
registrierte, daß der Controllo gerade mit ihnen die unterste Ringterrasse, sozusagen das
Erdgeschoß der Pyramide, erreicht hatte und nun hinter der Gruppe der unbekannten
Raumfahrer einen breiten, hohen Gang entlangschwebte. Ein Vorgang, der völlig lautlos
ablief, Henk vernahm nicht das leiseste Summen.
Wohin wurden sie gebracht?
Was hatte man mit ihnen vor?
Wieviel Zeit wohl inzwischen vergangen war?
Leider war Henk ebensowenig wie Charlize in der Lage, auf sein Chrono zu sehen, um eine
exakte Zeitangabe zu erhalten. Aber da er ein ziemlich ausgeprägtes Zeitgefühl sein eigen
nannte, war er sicher, daß kaum eine Stunde vergangen sein konnte, seit er in die Pyramide
eingedrungen war.
Draußen mußte inzwischen Secundus, der zweitgrößte Mond Babylons, seine Bahn über das
Firmament des Mysteriousplaneten angetreten haben.
Und im Innern der Ringpyramide nahm der Weg der Gruppe ein Ende.
Der Korridor verbreiterte sich, eine Wand versperrte ihn, in die eine Schleuse eingelassen
war.
Aus ihrer Höhe sahen die beiden Terraner, wie die Fremden darin verschwanden, während der
Controllo mit ihnen davor Warteposition bezog. Er hätte ob seiner Größe sowieso nicht in den
Durchgang gepaßt, der sich beim Öffnen eindeutig als Luftschleuse entpuppte.
- :
Hatte Charlize mit ihrer Vermutung recht, die Fremden wären
157
keine Sauer stoffatmer?
Es schien sich immer mehr zu bewahrheiten.
Mit einem saugenden Seufzen schloß sich das Schott. Ein Winseln ertönte, als Servomotoren
massive Dichtungen gegen die Einfassung preßten.
»Sie sind weg«, sagte Charlize Farmer mechanisch. »Was jetzt?«
»Keine Ahnung«, versetzte Henk. »Ich denke...« Er kam nicht mehr dazu, ihr mitzuteilen, was
er dachte. Die Wand, vor der sie standen, wurde von einem Moment zum anderen transparent
und gab den Blick frei auf eine Szene, die keiner der beiden so erwartet hätte.
Niemand hatte etwas gesagt!
Aber in Arc Doorn hallte das Echo der Stimme wider, die nur in seinem Gehirn laut geworden
war. Und zwar extrem laut!
Die Gedankensteuerung der Erron-Station?
Auf Doorns Rückfrage versicherten ihm die Cyborgs, diese Gedankenstimme nicht
wahrgenommen zu haben. Das wunderte den Sibirier nicht. Im Bereich ihres zweiten Systems
waren Cyborgs auf der Para-Ebene »taub«.
Er konzentrierte sich und versuchte seinerseits Verbindung mit dieser Gedankensteuerung
aufzunehmen. Aber noch bevor er das von sich aus schaffen konnte, meldete die
Gedankenstimme sich erneut bei ihm und verlangte kategorisch Ruhe. „
Ruhe wovor? wollte Doorn wissen.
VERDAMMTE SIND UNERWÜNSCHT UND HABEN ZU SCHWEIGEN! brüllte es in
ihm auf, und diesmal war der mentale Schlag so stark, daß er beinahe die Besinnung verloren
hätte. Er taumelte und ging in die Knie.
Minutenlang war er nicht einmal in der Lage, halbwegs vernünftig zu denken.
158
Die Cyborgs, die nach wie vor ihr Zweites System aktiviert hatten, waren nicht beeinträchtigt.
Aber das half, was die Sache anging, zunächst niemandem weiter.
In der Zwischenzeit hatte sich auch Artus in der riesigen Rechnerzentrale umgesehen. Die
großen Holoschirme interessierten ihn, die keine Abbilder der Wirklichkeit zeigten, sondern
graphische Darstellungen diverser elektronischer Abläufe.
Auf einem der Holoschirme erkannte Artus eine solche Darstellung der »Unterhaltung«
zwischen dem Zentralen Controllo und dem Checkmaster der POINT OF. Die Impulskurven
waren dafür typisch.
»Ich kann diese Impulse lesen und aus der Worgunsprache übersetzen«, vermeldete der
Roboter.
»Wo und wann hast du die denn gelernt?« wunderte Doorn sich.
»Ich hatte mehrfach die Gelegenheit, mich während des Fluges nach Orn sowohl mit Ren
Dhark als auch mit Jim Smith zu unterhalten«, erläuterte Artus. »Dabei bekam ich einige
Grundbegriffe dieser Sprache mit. Eine weitere Hilfe waren die Instrumente der POINT OF,
die ihre Meßwerte bekanntlich in Schrift- und Zahlensymbolen der Mysterious ausgeben.
Daraus extrapolierte ich die Grundzüge der Sprache und kann jederzeit Begriffe, die mir noch
unklar sind, errechnen. Ich...«
»Ich glaube, so genau wollen wir es alle gar nicht wissen«, seufzte Doorn, der schon immer
ein Freund kurzer, knapper Ausdrucksweise war und ausufernde Reden nur in den
allerseltensten Fällen hielt. »Was erkennst du aus diesen Impulsen und der Übersetzung?«
»Ich übersetze nicht die Impulse, sondern deren Auswertung«, protestierte Artus.
v
»Zur Sache«, ermahnte ihn jetzt Mark Carrell.
»Ich fürchte, es wird euch gar nicht gefallen«, begann Artus und fuhr fort, als er Carrells
drohenden Blick sah: »Gerade erklärt der Zentrale Controllo, daß es in keinem Programm
vorgesehen sei,
159 daß Verdammte an Bord des Sonderschiffs wären.« »Sonderschiff?« echote Arc Doorn. »Soll das heißen, daß die POINT OF ein >Sonderschiff< ist?« Über Vipho mischte sich Ren Dhark ein. »Das ergibt Sinn«, sagte er. »Wir fliegen ein Sonderschiff, damit dürfte der Controllo die Einmaligkeit der POINT OF durchaus erfaßt haben, nur sagt uns das noch nicht, warum die EPOY für ihn ein nicht registriertes Schiff ist...« »Das ist noch nicht alles«, fuhr Artus nun fort. »Weil dem Zentralen Controllo nun einmal Sicherheit über alles geht, und weil es nach seinen Informationen keine Verdammten an Bord des Sonderschiffes geben dürfte, leitet er soeben die Selbstvernichtung der Station ein...« 160 9. »Um Himmels Willen«, brach es aus Charlize hervor. »Was...?« Henk flüsterte fast, während er versuchte, das Bild, das sich ihnen bot, einzuordnen. Er hatte Mühe damit. Hinter der transparenten Scheibe lag etwas, das aussah wie eine Müllhalde oder ein Schrottplatz. Der Raum, ein ehemaliger Lagerraum vermutlich, war vollgestopft bis in den hintersten Winkel und hoch bis unter die Decke mit unzähligen mechanischen Teilen. In dem Konglomerat erkannte Henk vieles, was aus dem Raumschiffs wrack stammte, das draußen vor der Küste im seichten Wasser lag, aber auch völlig Unbekanntes, Fremdes. Dazwischen es versetzte seiner Ingenieursseele einen Stich - erkannte er zerlegte Komponenten aus dem Antrieb seines eigenen Dienstgleiters. Und er sah erstmals ihre Entführer ohne ihre Raumanzüge. Auch Charlize sah sie - und reagierte. »Das sind doch... keine Menschen...« flüsterte sie, als befürchte sie, man würde sie hören. »Nein, das sind sie nicht.« Henk kniff die Augen zusammen und verwünschte den Umstand, daß er nicht mehr bewegen konnte als die Lider. »Keine Menschen«, wiederholte Charlize verblüfft. »Es sind Aliens!« Henk hatte sich inzwischen wieder in der Gewalt. Mit überwachen Sinnen sah er, wie sich einer aus der Gruppe von - er zählte rasch - 25 Individuen nach vorne schob und sich der transparenten Abtrennung näherte. Wie in einem Brennglas konnte Henk de Groot erstmals einen Blick auf die wahre Gestalt der galaktischen Plünderer werfen, wie er sie insgeheim bezeichnete. Der Fremde war humanoid, aber eindeutig nichtmenschlich. Klein. Stämmig. Mit massiven, ausladenden Schultern, breiten 161 Hüften und unförmig breitem Brustkorb. Er war fast so breit wie hoch. Das »Gesicht« besaß große, irisierende Augen, die hinter doppellidrigen Hautfalten verschwanden, wenn der Fremde blinzelte. Die Nase war eine halb über die wulstigen Lippen eines Froschmundes herabhängende Art von kurzem, geflecktem Rüssel, der ständig schnüffelte. Die Haut war durchscheinend, so daß Adern und Blutgefäße darunter zu erkennen waren. Der übrige Körper steckte in einem Kleidungsstück, das entfernt an einen einteiligen Overall erinnerte, mit einem seltsam auffälligen Emblem auf der Brust. Es sah aus wie die Darstellung eines Atommodells oder einer stilisierten Galaxis. Entweder ein Rangabzeichen, mutmaßte Henk, oder eine Personenkennzeichnung. .. oder gar nichts. Nicht jedes schmückende Beiwerk hatte zwangsläufig eine Bedeutung. Der Fremde mußte ungewöhnlich stark sein; bei jeder Bewegung war trotz der Bekleidung zu sehen, wie Stränge von Muskeln sich bewegten.
Auch der Rest der Gruppe näherte sich jetzt der Trennwand. Es waren weibliche Spezies
darunter. Und...
»Oh, Henk«, sagte Charlize erschüttert. »Kinder! Siehst du, es sind Kinder dabei!«
In der Tat waren auch Kinder unter der Gruppe der Fremden. Kinder, die wie alle Kinder
neugierig ihre »Gesichter« gegen die Transparentwand preßten und die Menschen
betrachteten.
»Warum leben sie in dieser...« Charlize suchte nach dem richtigen Begriff »... Enge?
Zusammengepfercht wie eine Herde?«
»Vielleicht erfahren wir es gleich«, meinte Henk. »Dieser Typ da ist vermutlich ihr
Anführer.«
Der »Typ« war eindeutig derselbe, der schon das Verhör von Charlize geführt hatte. Die
schon bekannte Fernbedienung hing an seinem Gürtel. Er griff jetzt danach und betätigte
einige Knöpfe.
Ein leises Summen erklang.
Der Controllo bewegte sich - und bestätigte einen Verdacht
Henks, der schon länger vermutete, daß dieser Alpha-Typ unter den Aliens das
Robotmonstrum aus den Arsenalen der Mysterious über die Fernbedienung an seinem Gürtel
steuerte.
»Gehört ihr zu dem Volk, das unser Raumschiff abgeschossen hat?«
Die Stimme war hart und kalt und maschinenhaft. Der Controllo konnte übersetzen, aber
keine Gefühle mit seinen Stimmodulen erzeugen..- :VS;^-
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, erwiderte Henk wahrheitsgemäß. Tatsächlich konnte
er nichts mit der Frage des Fremden anfangen. »Im übrigen ist es bei uns üblich, sich
vorzustellen, wenn man zum ersten Mal in Kontakt tritt. Ich bin Henk de Groot, ein Mensch.
Meine Gefährtin heißt Charlize Farmer.«
Aus dem Translator des Controllo drang kein Laut. Henk befürchtete schon, der Fremde hätte
ihn wieder deaktiviert, als die harte Stimme doch wieder erklang.
»Ich bin Narod, ein Kurrge, wie meine Gefährten.«
»>Freut mich< zu sagen ist wohl nicht angebracht«, murmelte Henk, und es war ihm relativ
egal, ob der Controllo über das Lautsprechersystem im Innern des Kurrgenlagers seine
Bemerkung übermittelte.
»Unser Schiff diente nur Forschungszwecken«, fuhr Narod fort. »Daraus können Sie ersehen,
Mensch, daß von uns keine unmittelbare Gefährdung ausgegangen ist. Dennoch haben Sie uns
beschossen und viele unserer Gefährten getötet. Warum? Wir müssen es erfahren.«
»Haben Sie uns deshalb gefangengenommen und alle unsere körperlichen Aktivitäten
unterbunden?«
»Deshalb, und um einen Weg zu finden, diesen tödlichen Planeten wieder zu verlassen.«
»Und wenn wir uns weigern?«
»Wir haben Mittel, dennoch aus eurem Geist das zu erlangen, was wir wissen wollen.«
»Sie meinen Folter?«
163 »Folter?«
»Einem anderen Individuum mit einer bestimmten Absicht absichtlich Schmerzen zufügen,
heißt bei uns Folter«, ließ sich Charlize vernehmen.
»Ich höre aus Ihren Antworten heraus, daß Sie beide sich Sorgen um Ihr körperliches und
geistiges Wohlbefinden machen. Wenn Sie nicht kooperieren, werden wir wohl diesen Weg
der Folter beschreiten müssen.«
»Und die Frage, ob wir damit einverstanden sind, erscheint Ihnen wohl überflüssig?«
erkundigte sich Henk de Groot sarkastisch, obwohl er fast sicher war, daß diese
Gemütsregung vom Controllo nicht an die Kurrgen weitergegeben wurde. »Oder sind wir nur
Versuchstiere für Sie?«
Pause. Dann ließ sich Narod wieder hören: »Um in Ihrer Terminologie zu bleiben: Würde einer von Ihnen ein Versuchstier fragen, ob es einverstanden ist, daß man es seziert? Seziert, sagt man nicht so in Ihrer Terminologie?« In Henks Magen bildete sich ein Eisklumpen. »Dagegen werden wir aber energisch protestieren, sollten Sie das in Erwägung ziehen.« Narod stieß eine Art Bellen aus, das der Controllo unübersetzt ließ. Offenbar hatte er keine angloterische Entsprechung dieser Lautäußerung in seinen Speichern. Henk war sich dennoch sicher, daß der Kurrge hinter der transparenten Wand lachte. Schließlich kamen wieder verständliche Worte aus dem Controllo. »Ein typisches Merkmal von euch Menschen scheint der Hang zur Selbstüberschätzung zu sein. Haben Sie noch nicht eingesehen, daß Sie in Ihrer Bewegungsfreiheit und Entschlußfähigkeit derzeit sehr stark eingeschränkt sind...« Henk hörte nicht mehr richtig zu. Längst hatte sich sein Geist ausgeklinkt und ging seine eigenen Wege, folgte einer Spur, die sich vage in seiner Erinnerung abzeichnete. Während seiner Arbeit auf Babylon und der Beschäftigung mit 164.
der M-Technik hatte er sämtliche Berichte studiert, die sich mit der Entdeckung des
Mysteriousplaneten durch Ren Dhark und Major Lefter befaßten. Vor allem die
Aufzeichnungen der POINT OF und des Forschungsraumers FO VII war er mehrmals
durchgegangen. Von besonderem Interesse war für ihn, daß Ren Dhark damals mit seinem
Controllo auf Gedankenebene kommuniziert hatte. Gedankenkontrolle, das war's, was Dhark
beschrieb. Ob das mit diesem hier auch machbar war? Narod schien davon nichts zu wissen,
da er ihn ausschließlich mit der Fernbedienung dirigierte.
Einen Versuch war es wert, fand Henk.
Aber wie übte man Gedankenkontrolle aus?
Konzentration lautete das Zauberwort.
Man konzentrierte sich auf einen bestimmten Befehl und ließ das, was er bewirken sollte, als
Bild im eigenen Gehirn entstehen -in der Hoffnung, es übertragen zu können.
Henk konzentrierte sich, legte alle Kraft in seinen Befehl.
»Laß uns los!«
Und wieder: »Laß uns los. Ich befehle es dir!«
Nichts geschah.
Nur die Zeit verrann.
War es nicht Dhark, der seine Macht über den Controllo damit erklärt hatte, daß er damals als
einziger die Sprache der Mysteri-ous beherrschte? Wenn das zutraf, würde Henk - obwohl er
inzwischen viel über die Geheimnisse der Mysterious wußte - keine Chance haben, das
Monstrum zu irgend etwas zu bewegen. Dennoch...
»Laß uns los. Löse deine Klammer!«
Wieder und wieder hämmerte Henk diesen Befehl durch seine Gedanken.
Er hörte nicht, daß Charlize neben ihm voller Angst seinen Namen flüsterte. Und auch nicht,
daß Narod via Controllo Fragen an ihn stellte.
»Laß uns los! Gehorche!« Und plötzlich ging ein Rucken durch den Controllo.
165 Reagierte er tatsächlich, oder war es bloßes Wunschdenken, das Henk glauben machte, er
habe dem Controllo seinen Willen aufgezwungen?
Nein. Es schien gelungen zu sein.
»Gehorche...!«
Wieder ging ein leichter Stoß durch das mechanische Monstrum und signalisierte Henk de
Groot, daß er die Gedankenkontrolle des Roboters erreicht hatte.
Aber auch Narod schien zu erkennen, daß der Controllo seinem Einfluß zu entgleiten drohte.
Wie wild drückte er auf die Knöpfe seiner Fernbedienung. Die widersprüchlichen Befehle verursachten einen internen Konflikt in der Befehlshierarchie des Controllo. Er bewegte sich ruckartig. Schwebte an, glitt zurück. Donnerte auf den Boden und hob sich wieder um mehr als einen Meter. Die Fesselfelder, die Henk und Charlize umklammert hielten, versagten ihren Dienst, und die Menschen glitten aus den Greif armen. Sie stürzten zu Boden, kamen einen Atemzug später auf die Füße und wichen dem Controllo aus, der den letzten Akt eines Dramas einläutete, als er wie beiläufig gegen die transparente Absperrwand donnerte und sie eindrückte, als bestünde sie aus Papier und nicht aus molekular verändertem Kunststoff. In wilder Panik wichen die Kurrgen vor dem Splitterregen zurück und versuchten sich wimmernd und schreiend vor etwas zu schützen, das sie in Todesangst zu versetzen schien. Narod gelang es, das Robotermonstrum wieder unter seine Kontrolle zu zwingen und von der zerstörten Wand wegzudirigieren. Aber damit verstummte das Schreien nicht. Henk war inzwischen zu Charlize gehetzt und hatte sie fast gewaltsam auf die Beine gestellt. »Raus hier!« rief er ihr durch den Lärm zu. »Los, los! Nichts wie weg! Das ist unsere Chance!« Sie begannen zu laufen, als hinter ihnen das Wimmern und Schreien einen Höhepunkt erklomm. ... Charlize blieb wie angewurzelt stehen. Sie packte Henk am 166 Arm. »Hör doch mal?« sagte sie mit aschfahlem Gesicht. »Was geschieht dort hinten?« Als Krankenschwester war sie mit Lauten des Schmerzes und der Verzweiflung vertraut. Was da an ihr Ohr drang, klang so furchtbar, daß sie ein Schauder überlief. »Die Sauerstoffatmosphäre«, mutmaßte Henk, während er mit Charlize zurücklief, »sie ist durch die zerstörte Wand eingedrungen und bringt sie um!« Zu keiner Zeit hatte er falscher gelegen mit einer Vermutung. Aber das würde er erst viel später erkennen, im Augenblick war er damit beschäftigt, die Bilder zu verarbeiten, die ihn und Charlize im Lager der Kurrgen erwarteten. Eine Tragödie spielte sich vor ihnen ab. »O Himmel«, war alles, was Charlize Farmer hervorbrachte. Henk war versucht, sich ihrem Ausruf anzuschließen. Die Kurrgen hinter der zerstörten Wand mußten noch versucht haben, wieder in ihre Raumanzüge zu kommen - ein vergebliches Unterfangen. Einige hatte schon der Tod ereilt, andere wanden sich bereits in Agonie, und die überwiegende Anzahl von ihnen wurden von Krämpfen geschüttelt, ausgelöst von... ja, von was? »Da!« rief Charlize halblaut und deutete auf einen der Körper, der sich vor ihnen seltsam veränderte. Er schien zu wachsen, sich auszudehnen - und dann war es an Charlize, angstvoll aufzustöhnen. Aus allen Körperöffnungen des Kurrgen wuchsen wie in extremem Zeitraffer rasend schnell weißlich-graue Pilzgeflechte, breiteten sich aus und überwucherten den Fremden, in dessen aufgerissenen Augen die Agonie des nahenden Todes leuchtete, bis der Ausdruck unsäglichen Leides von dem sprießenden Pilzgeflecht gnädig verdeckt wurde. Charlize streckte die Hand nach dem sterbenden Kurrgen aus. »Nein!« Henk hielt sie zurück. »Berühre ihn besser nicht.« »Wir müssen ihm helfen!« beharrte Charlize störrisch, aber ihre Miene verriet, daß sie wußte, daß hier jede Hilfe illusorisch war. 167 Wie auch bei den anderen.
Charlize versuchte zu helfen und konnte nicht; sie hatte nicht die geringste Ahnung über die Physiologie der Kurrgen - und nichts, womit sie deren Zerfall aufhalten oder zumindest ihre Schmerzen lindern konnte. Ein Kurrge nach dem anderen starb innerhalb der folgenden zehn Minuten. Was Charlize besonders betroffen machte, war das Sterben der Kinder, hatte sie sich doch als Kinderschwester die Verpflichtung auferlegt, besonders den Kleinen und Schwachen zu helfen. Henk sah Tränen in ihren Augen und wandte sich ab. Damit mußte sie im Augenblick selbst fertig werden. Ein Stöhnen lenkte seine Aufmerksamkeit auf einen Kurrgen, der nahe der zerstörten Transparentwand halb aufgerichtet gegen ein Wrackteil gelehnt saß.,h' Narod! Er lebte noch. Aus irgendeinem Grund schien sein Sterben langsamer zu verlaufen als bei den anderen Mitgliedern seiner Spezies. »Henk-Mensch«, sagte er undeutlich und in Angloter, allerdings drangen seine Worte wie ein Echo von weiter weg an Henks Ohr. Der Systemingenieur sah sich unwillkürlich um. Natürlich. Narod verwendete den wieder von ihm »übernommenen« Controllo zum Übersetzen. Er wandte sich dem Fremden zu, der ebenfalls die ersten Anzeichen der Seuche zeigte. Die Rüsselnase war schon von Geschwüren bedeckt. Pilz Wucherungen machten sich auf den Händen und im Gesicht breit; unter dem overallähnlichen Kleidungsstück würde es noch schlimmer aussehen, vermutete Henk de Groot. »Ihr seid nicht das, wofür ich euch gehalten habe«, fuhr Narod fort. »Ich habe eure Bemühungen verfolgt, mit denen ihr versucht habt, uns zu helfen. Warum?« Es war schon merkwürdig, einmal die wirkliche Sprache des Kurrgen zu hören - ein Bellen und Grunzen - und daneben, wie 168 bei einer Simultanübersetzung, eine zweite Stimme, die in verständlichem Angloter redete. »Weil es unsere Natur ist«, erwiderte der Ingenieur, »jedem Wesen zu helfen, das Schmerzen verspürt oder von Krankheiten heimgesucht wird.« »Auch wenn es aussichtslos ist?« »Das weiß man vorher ja nie«, mischte sich Charlize ein. Sie war inzwischen zu ihnen gestoßen und hatte sich neben Henk gesetzt. »Damit seit ihr aber die einzigen in der Galaxis.« Ich befürchte fast, daß dies so ist, dachte Henk. Laut widersprach er: »Ich bin sicher, daß es schon noch ein paar mehr gibt, die dem gleichen Leitbild folgen. - Aber sprich. Was ist mit euch geschehen? War es die Atmosphäre? Ist sie Gift für euch?« Narod machte eine Geste, die Henk als abwehrend interpretierte. »Nicht die Atmosphäre«, kam seine Stimme über den Controllo. »Keime, Sporen. Wir sind Sauer Stoffatmer wie ihr.« »Aber was...« Narod unterbrach ihn mit einer Bewegung seiner breitflächigen Hand. »Ich werde euch unsere Geschichte erzählen. Ich glaube, ihr solltet von unserem Schicksal erfahren...« Es war eine Geschichte, wie sie sich so oder ähnlich auf vielen Planeten im Universum zugetragen haben mochte. Narods Worten zufolge lebte das Volk der Kurrgen auf einem Planeten, der nach seinen Schilderungen etwa den technischen Standard der Erde des Jahres 2015 besessen hatte. Und der auch mit den gleichen Problemen zu kämpfen hatte, eher noch mit größeren. Kriege unter
den vielen kleinen und größeren Staaten um die langsam zur Neige gehenden Bodenschätze waren gang und 169 gäbe, Überbevölkerung und eine extreme Umweltverschmutzung an der Tagesordnung. Die Oberfläche des Heimatplaneten der Kurrgen mußte eine Industrie getragen haben, die einfach unvorstellbar war. Die Kolonisation von Welten in anderen Sternsystemen sollte die Lösung vieler Probleme bringen. Aber da die Auswirkungen von langen Reisen durch den Weltraum noch völlig unerforscht waren, baute die größte Nation zunächst ein Generationenschiff, um Erfahrungen mit Langzeitflügen zu sammeln. »... das gewaltige Schiff war in der Lage, eintausend Kurrgen zu beherbergen«, berichtete Narod weiter, nachdem er sich von einem Schwächeanfall erholt hatte; seine eigene Stimme klang keuchend, fast röchelnd, während die Übersetzungseinheit des Controllo diese Phasen einfach aussparte. Tausend Kurrgen, die in einem Wohnzylinder lebten, der, in Rotation versetzt, für eine permanente Schwerkraft von 2,1 Gravo sorgte, machten sich auf die lange Reise. Narod war der letzte Kommandant Üer UNISCOR, wie der Name der Generationen-Arche lautete. Treibhäuser und Farmen auf der Innenseite des rotierenden Zylinders erzeugten Luft und Nahrung. Der »schmutzige« atomare Antrieb war in einer eigenen Sektion ausgegliedert, um jegliche Verseuchung der Reisenden auszuschließen. Das weit unterlichtschnelle Schiff sollte etwa 400 Jahre unterwegs sein. Während dieser Zeit wurden an Bord neue Generationen geboren, die alten starben. Und immer suchten sie nach Planeten, auf denen sie ihre Zivilisation unter besseren Bedingungen etablieren konnten. »Die Idee der Generationenschiffe wurde auch von unserer Regierung einmal in Erwägung gezogen«, bekannte Henk, als Narod, dessen Zustand sich zusehends verschlechterte, eine kleine Ruhepause einlegen mußte, »aber schnell wieder verworfen.« Als es nämlich einem begabten Studenten im MIT namens Kyle Brewer gelang, das erste wirklich leistungsfähige Plasmatriebwerk zu entwickeln, mit dem man große Raumschiffen fast bis, zur Lichtgeschwindigkeit beschleunigen konnte, dachte der Systemingenieur. 170 »Alles schien perfekt zu funktionieren«, fuhr der Kurrge fort. »Wir hatten keinerlei Zusammenstöße mit anderen Planetenvölkern, die Raumfahrt betrieben. Wir wähnten uns allein im All. Unre Gemeinschaft gedieh prächtig. Die ersten Kinder wurden geboren, und wir mußten uns von einigen der älteren Wissenschaftler verabschieden, die überraschenderweise starben, obwohl es keinen Grund dafür zu geben schien. Heute weiß ich warum, aber damals fehlte uns das Wissen darüber, daß wir seit geraumer Zeit, es müssen etwa fünf Planetenumläufe unserer Welt um ihre Sonne gewesen sein, einer dramatisch angestiegenen kosmischen Strahlung ausgesetzt waren, deren fatale Auswirkungen sich erst später zeigen würden.« Charlize Farmer nickte und tauschte einen vielsagenden Blick mit Henk. Die Folgen der Entartung des kosmischen Magnetfeldes hatten alle raumfahrttreibenden Zivilisationen der Milchstraße zu spüren bekommen. »Wenn wir auch keinen lichtschnellen Antrieb zustande brachten, lichtschnellen Funk besaßen wir. Wir tauschten noch einige Zeit Botschaften mit unserer Heimatwelt aus. Die Nachrichten, die wir von dort erhielten, wiesen auf einen bevorstehenden Atomkrieg hin. 23 Jahre nach unserem Abflug erhielten wir überhaupt keine Nachrichten mehr. Es fiel uns schwer, die Folgerungen daraus zu akzeptieren, aber alles deutete darauf hin, daß sich unser Volk selbst vernichtet hatte. Wir waren allein. Zu allem Überfluß gerieten wir in einen vagabundierenden Meteorstrom, dem wir auf Grund unserer Trägheit nicht rechtzeitig genug aus dem Weg gehen konnten. Er kostete uns die Hälfte unserer Antriebs Sektion. Unsere Wissenschaftler entwickelten daraufhin Energiekollektoren, die von den unvorstellbar
gewaltigen Kraftfeldern, die diese gesamte Galaxis durchziehen, und von den Strahlungsfeldern der Sonnen auf unserem Weg mit immer neuer Energie versorgt wurden. Es gelang uns, unsere alte Geschwindigkeit wieder aufzunehmen, sie sogar noch um einiges zu übertreffen. Dennoch waren wir eine ausgestoßene Gemeinschaft, dazu ver171 dämmt auf ewig im Weltraum zu blei... arrghh«, gurgelte Narod und sank ein wenig in sich zusammen. Seine aufgerissenen Augen verrieten unendlichen Schmerz. Sein Gesicht war mittlerweile zu einer grotesken, von kleinen Pilzen überwucherten Maske geworden, die ihm das Aussehen einer seltsamen Pflanze verlieh. Henk sah Charlize an. Wie lange noch? schienen seine Blicke zu fragen. Charlize hob die Schultern in einer unbestimmten Geste. Narod schien sich wieder gefangen zu haben. »Ihr wollt sicher wissen, weshalb wir dazu verbannt waren, auf immer im Weltraum zu bleiben«, setzte er zu Sprechen an. »Nur wenn Sie sich dazu in der Lage sehen, Narod«, erwiderte Charlize. »Wir hatten uns unter dem langen Einfluß der verstärkten kosmischen Strahlung so verändert, daß unser Immunsystem über keinerlei Abwehrkräfte mehr verfügte. In der Sterilität an Bord unseres Schiffes war das kein großes Problem. Wir durften nur nicht den Boden eines Planeten betreten, ja, wir konnten uns nicht einmal ungeschützt seiner Atmosphäre aussetzen. Alles, worin Keime und Sporen gedeihen konnten, war auch in der Lage, uns umzubringen...« Narod redete weiter, von immer längeren Pausen unterbrochen, und nach und nach enthüllte sich das ganze Ausmaß der Tragödie, die letztendlich hier in der Ringpyramide ihr schreckliches Ende fand. Genaugenommen war es nur ein Zusammentreffen von Zufällen, wie es sie in Äonen nur einmal geben würde. Fatalerweise traf die Ankunft der UNISCOR im Babylon-System mit dem Angriff des Schattenschiffes der Grakos Anfang Februar 2058 zusammen.* Nach allem, was er von Narod erfahren hatte, gelangte Henk zu der Ansicht, daß der Schattenraumer das zerbrechliche Schiff der Kurrgen so ganz nebenbei aus dem Weltraum gefegt haben mußte. Auf Babylon war dieses Ereignis im herrschenden Schlachtgetümmel von keiner Abwehrstation geortet und somit einfach nicht registriert worden. Die Menschen hatten zu diesem Zeitpunkt andere Sorgen. Die Kurrgen ihrerseits wußten nichts von dem schrecklichen Kampf zwischen Grakos und Terra-nern und konnten sich nicht erklären, weshalb sie quasi aus dem Nichts heraus angegriffen wurden. In einem einzigen Aufflammen wurde die UNISCOR von schwarzen, dennoch seltsamerweise leuchtenden Energiebahnen getroffen und auseinandergerissen. Dabei fand die überwiegende Anzahl der völlig überraschten Kurrgen den Tod, weil der Rotationszylinder barst und seine Atmosphäre im Weltraum verpuffte. Von den insgesamt 1092 Besatzungsmitgliedern konnten sich lediglich 30 an Bord einer Landefähre retten und so dem Inferno entkommen. Unter den Überlebenden war auch Narod, der amtierende Kommandant des Generationenschiffes. Allerdings kreuzte die Raumfähre beim Abstieg durch die Lufthülle Babylons den Weg einer Rotte von Grako-Kampfgleitern, was sie nur mit viel Glück und dem Verlust ihrer Antriebssektion überstand. Narod blieb nichts anderes übrig, als die Fähre in einem riskanten Manöver im seichten Küstengewässer notzulanden. Sie sahen sich gerettet, aber was war das für ein Überleben? Wollten sie auf Babylon existieren, durften sie ihre Raumanzüge nicht verlassen, ansonsten hätte sie der Mikrokosmos der Umwelt aufgrund ihrer nicht mehr vorhandenen Immunität gegen Keime und Sporen umgebracht.
Sie versteckten sich in einer Ringpyramide des Ferienkomplexes nahe dem Wasser, bauten alles, was ihnen irgendwie brauchbar schien, aus der Fähre aus und begannen sich auf eine lange Periode der Entbehrungen und Unbequemlichkeiten einzurichten. »... auf meinen Streifzügen durch die Wohnanlage entdeckte ich das Intervallfeld unter der Pyramide und machte mich daran, den Meiler dahinter wieder zu aktivieren.« 173 »Aber wie konnte Ihnen das gelingen?« wunderte sich Henk. »Die M-Betriebssysteme sind durch einen verschlüsselten Quellcode vor unbefugtem Zugriff geschützt. Sagen Sie bloß, Sie haben...?« Er verstummte, von der Erkenntnis überwältigt, daß da erst der Angehörige eines bislang völlig unbekannten Volkes kommen mußte, um mal so im Vorübergehen ein hochsensibles Verschlüsselungssystem einer technisch überlegenen Rasse zu knacken. Henk konnte seine Bewunderung für Narod kaum verhehlen. Der Kurrge mochte aussehen wie ein von einem Dampfhammer gestauchter Sumoringer, seine Intelligenz war überragend, sein Einfühlungsvermögen in technische Systeme, mochten sie noch so fremdartig sein, phänomenal. Wenn Henk es genau bedachte, so konnte man Narod wohl mit Fug und Recht als eine Art kurrgi-schen Arc Doorn - oder Henk de Groot, wisperte eine kleine Stimme in seinem Hinterkopf - bezeichnen. Mit dem einen Unterschied, daß es Henk bislang noch immer nicht gelungen war, den Quellcode der M-Betriebssysteme zu knacken. Narods Bericht schien sich langsam dem Ende zuzuneigen... Nachdem es ihm gelungen war, die Energieversorgung der Pyramide in Gang zu setzen, wurde das Leben der Kurrgen etwas leichter; sie waren in der Lage, sich einen sicheren, weil sterilen Raum einzurichten, der durch eine Luftschleuse und ausgefeilte Filtersysteme gegen alle Umwelteinflüsse abgeschottet werden konnte. Wenn es auch in der Folgezeit etwas beengt zuging, da die kleine Gruppe - vom Wunsch beseelt, in den Weltraum zurückzukehren -jedes technische Gerät, dessen sie habhaft werden konnte, auf seine Tauglichkeit für den Bau eines kleinen Raumschiffes hin überprüfte. Inzwischen waren fünf der auf Babylon gestrandeten Kurrgen gestorben. Ihre Raumanzüge hatten bei der Flucht aus dem sterbenden Schiff mikroskopische Beschädigungen davongetragen, in die Keime aus der Umwelt Babylons eindringen und ihr Zerstörungswerk verrichten konnten. Unmittelbar nachdem es Narod gelungen war, die Energieversorgung wieder ans Netz zu bringen, tauchte der Controllo aus sei-em Stasis-Hangar auf. Dank des Quellcodes schaffte es der urrge, den mechanischen Koloß abzuschalten, ehe er größeren »chaden anrichten konnte. Doch die Möglichkeit, über einen me-ihanischen Diener verfügen zu können, ließ Narod nicht ruhen. Er 'entwickelte und baute eine Fernbedienung, um das Monstrum als Arbeitsroboter einsetzen zu können, auch wenn sich die Kurrgen in ihrem Refugium aufhielten... Narod mußte immer längere Pausen einlegen. Pausen, in denen er zusehends verfiel. Es war ein Wunder, daß er überhaupt so lange durchgehalten hatte. Aber nun ging es rapide mit ihm dem Ende zu, wie Charlize und Henk zweifelsfrei erkannten. Die Schmerzattacken kamen regelmäßig und in kurzen Abständen. Es war für die beiden Menschen erschreckend, mit ansehen zu müssen, wie sich der Kurrge veränderte. Seine Gestalt hatte sich inzwischen in ein unförmiges Etwas verwandelt, das nur noch aus Wucherungen und Pilzgeflechten zu bestehen schien, aus dem lediglich seine Stimme und seine schweren, mühsamen Atemzüge drangen. Aus seinen Augen sickerte Flüssigkeit - Tränen? Blut? fragte sich Charlize, bedrückt vom Prozeß des Sterbens, den sie so unmittelbar miterlebten und gegen den sie nichts unternehmen konnte.
Narod kippte stöhnend aus seiner halb sitzenden Stellung zur Seite und wälzte sich auf den Rücken. »Arrghh... Schmerzen... tut - das - weh!« Die unbeteiligt klingende, weil mechanische Stimme aus dem Übersetzungsmodul des Controllo stellte eine merkwürdige Distanz zu Narods Todeskampf her. ' 174 175 Charlize schluckte mit trockener Kehle und fühlte dankbar Henks Hand, die sich in einer Geste des Trostes um ihre Finger schloß. Bevor es mit Narod zu Ende ging, geschah etwas, was den beiden Terranern klarmachte, daß der Kurrge ihnen noch immer nicht vertraute, ihnen wohl nie vertraut hatte, trotz der Annäherung, die sein Bericht zwischen ihren beiden Rassen geschaffen hatte. Aber vielleicht war auch hier nur der Wunsch Vater des Gedanken. Narods Finger umschlossen die Fernbedienung des Controllo, die er zu keiner Zeit aus der Hand gelegt hatte. Was er machte, blieb den beiden Terranern verborgen. Sie erlebten nur die Auswirkungen. Narod mußte dem Controllo einen eindeutigen Befehl erteilt haben. Lautlos erhob sich das Monstrum von einem Roboter, der so gar nicht den Vorstellungen eines Mechanischen entsprach, mehr als einen Meter vom Boden. Dann setzte er sich in Bewegung und glitt in den Raum, die letzten Reste der zerstörten Transparentwand dabei aus dem Rahmen drückend. Er füllte fast die ganze Öffnung aus - und er hielt nicht inne. Unbeirrbar schob er sich weiter und weiter nach innen, direkt auf den Kurrgen zu. »Verdammter Mist! Was hat Narod vor?« rief Henk und sprang auf die Beine, Charlize mit sich zerrend, um sie und sich aus der Gefahrenzone zu bringen. Gegen die Massivität des Controllo hatten sie keine Chance. Um nicht von ihm gegen die Wand gedrückt und zerquetscht zu werden, blieb nur die Flucht. »O Mann!« stöhnte der Ingenieur. »Hört denn der Alptraum nie auf?« Sie wichen zur Seite aus. Henk sah eine Lücke zwischen dem Robotermonstrum und der Wand, gerade groß genug, um durchschlüpfen zu können. »Lauf!« befahl er seiner Freundin. »Dort hinaus!« Während sie losliefen, mit keuchendem Atem über das angehäufte Sammelsurium an technischen Komponenten hetzten, das ein Vorankommen schwierig machte, hatte Henk nur einen Gedanken: Hoffentlich hat sich Narod nicht im letzten Augenblick noch eine kleine Gemeinheit für uns ausgedacht! Aber sie gelangten an den Wandungen des Kolosses vorbei, ohne daß ein Greif arm herunterzuckte, um sie einfach vom Boden zu pflücken. Und kein Traktorstrahl oder Fesselfeld hinderte sie an ihrer Flucht. Sie waren draußen. Der breite Korridor lag vor ihnen. Der Weg in die Freiheit. Sie mußten ihn nur weitergehen, um alles hinter sich zu lassen: Das Leiden und Sterben eines vom Schicksal so benachteiligten kleinen Restes eines Volkes, das keine Rolle im Ablauf der galak-tischen Geschichte spielte - und auch nicht mehr spielen würde. Aber etwas hielt die beiden zurück. Sie sahen sich an, nickten und drehten sich um. Hinter ihnen tickten die letzten Sekunden eines Dramas.Der Controllo hatte sich über den sterbenden Narod geschoben. Verharrte jetzt auf seinem A-Gravpolster in dieser Position. »Was er wohl vorhat?« Charlize Stimme klang flach, sie atmete angestrengt. Sie hob den Kopf und sah Henk ins Gesicht. Dessen Stirn zeigte tiefe Falten. »Ich kann es mir vorstellen«, .antwortete er zögernd. Aber noch ehe Charlize nachhaken konnte, was er sich vorstel-
len konnte, nahm das Drama ein Ende.
Narod handelte ein letztes Mal aus freien Willen, um sein Leiden abzukürzen: Er schaltete das
A-Gravfeld des Monstrums ab.
Der Controllo stürzte aus einer Höhe von zirka einem Meter auf Narod herunter und
zerquetschte den letzten Kurrgen ebenso unter sich wie die Steuerung mit dem unersetzlichen
Quellcode der My-sterious.
Er hatte sich eingeredet, nur ein paar Minuten schlafen zu wollen. Aber als Henk de Groot die
Augen aufschlug, war es taghell
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im Zimmer. Er lag auf dem Rücken. Charlize' blonde Haare ruhten auf seiner Schulter, ein
Arm quer über seiner Brust. Sie atmete tief und fest.
Als er auf sein Chrono sah, bewegte er sich, und davon wachte Charlize auf.
Sie hob den Kopf, ohne die Augen zu öffnen. »Henk?« murmelte sie. »Was ist?«
»Zeit ist's, mein blonder Engel. Wolltest du mir nicht ein phänomenales Frühstück machen?«
,. ,.. Ihre blauen Augen öffneten sich erschrocken.
Sie fuhr hoch; ihre Schläfrigkeit war mit einem Mal wie weggeblasen.
»Henk de Groot!« sagte sie laut. »Es ist schon Morgen?«
»Du sagst es.« Er packte ihr Handgelenk und nahm ihren Arm von seiner Brust. Sie schlug
die Decke zurück, und ein paar Augenblicke lang bewunderte er ihren nackten Körper, das
Spiel der Muskeln unter der gebräunten Haut, als sie ihre Kleider zusammenraffte und in der
Hygienezelle verschwand. Sie würde nach exakt fünf Minuten wieder daraus erscheinen, er
konnte sein Chrono danach stellen. * Henk hatte noch nicht übermäßig viele Erfahrungen mit
Frauen sammeln können, aber von allen, die er kennengelernt hatte, war Charlize mit Abstand
die schnellste, wenn es darum ging, Morgentoilette zu machen.
Ein antrainiertes Verhalten, hatte sie ihm einmal zu verstehen gegeben, als er seiner
Verwunderung darüber Ausdruck verliehen hatte. Als Krankenschwester hatte sie leider viel
zu häufig keine Zeit für ausgedehnte Verschönerungsaktionen, wie sie sich ausdrückte.
Henk setzte sich im Bett auf, zog die Knie an und legte die Arme darum.
»Ich fürchte«, sagte er halblaut, während seine Augen durch den Raum wanderten, »es wird
auch heute wieder ein harter Tag werden.«
Noch in der Nacht hatte er den Sender, der zum Glück von den Kurrgen noch nicht angetastet
worden war, aus seinem Gleiter geborgen und die Planetenregierung darüber informiert, was
geschehen war.
Oberst Petain persönlich hatte sich seine Geschichte angehört, kaum Zwischenfragen gestellt,
und ihm zum Schluß versichert, daß man sich darum kümmern würde, das Wrack der
Raumfähre zu bergen und die toten Kurrgen angemessen zu bestatten.
Das alles hatte bis weit nach Mitternacht gedauert.
Dann hatten sie sich ein Apartment in der Pyramide gesucht, was keine Schwierigkeit
bedeutete, da alle Energiesysteme funktionierten, und sich mit der Gewißheit zu Bett begeben,
daß keine kleinen Aliens oder ein Controllo ihre Nachtruhe stören würden.
Henks Blick fiel auf den Kasten des Senders; er war aktiviert, die Elektronik war in Ordnung,
und eine paar grüne Lichtpunkte auf der Leiste unterhalb des Monitors signalisierten seine
Bereitschaft.
Charlize kam wieder aus dem Bad, frisch wie der Morgen draußen am Meer, und lächelte ihn
strahlend mit ihren blauen Augen an. »Du bist dran!«
»Was ist nun mit dem Frühstück?« meinte er und schwang seine behaarten Beine vom Lager. Sie baute sich vor ihm auf, stemmte die Hände in die Seiten und sah ihn mißbilligend an.
»Bis ich die technischen Geheimnisse der Mysteriousküche in diesem Apartment
entschlüsselt habe, was eigentlich deine Aufgabe wäre...« So, das mußte mal sein! »... bist du
längst verhungert, mein Lieber«, bekannte sie freimütig und herzlos.
»Also wieder mal nur Konzentrate und Energieriegel«, seufzte »Na ja, man kann nicht jeden
Tag im Marriot von Alamo
3rdo frühstücken.«
»Du sagst es«, erwiderte sie und hatte nicht ein Jota des Bedau-
is in ihrem Blick. »Außerdem müssen diese Vorräte ja auch irgendwie mal aufgebraucht
werden. Oder bist du anderer Ansicht,
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mein Schatz?«
Er kam nicht dazu, seine Meinung zu äußern, obwohl er wirklich einiges dazu zu sagen
gehabt hätte, aber das Sendegerät schlug an.
»Ja?« Henks Stimme aktivierte das starke Vipho.
Der Pilot in der Uniform der kleinen Truppe von Babylon sagte betont forsch: »Sir, Oberst
Petain trug mir auf, Sie darüber zu informieren, daß wir in exakt sieben Minuten an den von
Ihnen übermittelten Koordinaten landen werden.«
»Wir?« Henk runzelte die Stirn. »Wer ist wir?«
»Der Oberbefehlshaber der babylonischen Streitkräfte ist mit an Bord, Sir«, bestätigte die
markige Stimme des jungen Piloten Henks Befürchtungen.
-
»Mir bleibt aber auch nichts erspart«, murmelte er.
»Das habe ich gehört, Henk«, ließ sich die vertraute, etwas näselnde Stimme des Oberst
vernehmen, der jetzt sein Gesicht in den 'Aufnahmebereich der Kanzeloptik brachte.
»Verzeihung, Sir«, sagte Henk und unterließ die Ehrenbezeugung. Er war kein Militär und
würde auch nie einer werden. Das hatte er dem Präsidenten unmißverständlich klargemacht,
als dieser ihn in die Regierungsmannschaft holte. »Ich habe es nicht so gemeint.«
»Das weiß ich«, versetzte der Oberst und grinste. »Sonst hätte ich mich auch sehr
gewundert.«
Henk räusperte sich. »Gut, wir erwarten Ihre Ankunft, Oberst.«
»Ich bitte darum. Und Henk - ziehen Sie sich etwas über, oder wollen Sie die ganze Truppe in
Verlegenheit bringen?«
Aus den angekündigten sieben Minuten wurden nur sechs; der Pilot schien um Pluspunkte bei
seinem Kommandanten zu buhlen. * Charlize Farmer und Henk de Groot erwarteten den
Mannschaftsgleiter mit dem Oberst auf der Terrasse des Erdgeschosses.
»Was verschafft uns die Ehre Ihrer Anwesenheit hier?« erkundigte sich de Groot, als Oberst
Petain aus dem Cockpit gestiegen
War.
»Ich bin nur das Vorauskommando, Henk.«
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Er nahm Charlize Farmers Hand in die seine und deutete einen formvollendeten Handkuß an.
»Guten Morgen, Mademoiselle Farmer.«
Charlize errötete verlegen und wirkte etwas kleinmädchenhaft, was Henk mit Erstaunen
registrierte, da er seine Charlize eigentlich ganz anders kannte.
»Vorauskommando?« dehnte der Systemingenieur und kniff die Augen zusammen.
»Sie haben richtig gehört«, sagte Petain und schüttelte Henk kräftig die Hand. Dann
betrachtete er mit einem mißbilligenden Grunzen den von den Kurrgen halb zerlegten Gleiter.
»Sagen Sie, mein Lieber«, wandte er sich an den Ingenieur. »Gehen Sie eigentlich immer so
mit Regierungseigentum um? Ich hoffe, das wird nicht zur Gewohnheit.«
»Selbstverständlich nicht, Oberst. Den Grund für den etwas desolaten Zustand der Maschine
finden Sie dort drin.« Er deutete hinter sich auf das Portal.
»Ah ja...« Oberst Petain nickte und zupfte mit Daumen und Zeigefinger an seinem Kinn.
»Sie sagten etwas von einem Vorauskommando«, erinnerte ihn Henk. »Wie darf ich das interpretieren?« »Wie klingt es denn für Sie?« Henk begann zu grinsen. »Wir können ja so weitermachen, Oberst, aber ob das sehr produktiv wäre, wage ich in Zweifel zu ziehen.« »Ahm... natürlich«, sagte Claude Petain, ohne zu lachen. »Sie haben recht. Was ich damit sagen will, ist, daß ich nicht alleine gekommen bin.« Er legte den Kopf in den Nacken und suchte mit seinen Blicken den Himmel ab. »Ahh«, dehnte er. »Da kommt die Hauptstreitmacht ja schon.« Aus dem Himmel Babylons senkten sich zwei große Mannschaftsschweber und ein Lastengleiter auf die Terrasse vor dem Hauptportal der Ringpyramide herab. Kaum hatte sich der Staub etwas gelegt, sprangen eine Reihe 181 Techniker und ein Team Einsatzspezialisten aus den Fahrgasträumen. Das Einsatzteam begann mit der Absicherung des Geländes, die Techniker machten sich an das Ausladen des Lastengleiters. Henk erkannte zu seinem Erstaunen darunter Männer seiner eigenen Arbeitsgruppe, die ihm bei der Erkundung der Gewölbe unter dem Goldenen halfen, und ein paar Roboterspezialisten. »Was soll das, Oberst...?« begann er und sah auf Petain. »Weshalb Ihre Einsatzspezialisten?« - : ^ ^ v ;>•
»Wir wollen vor Überraschungen sicher sein. Mehr nicht. Immerhin ist dies ein hochsensibler
Bereich - eine funktionierende M-Anlage unter der Pyramide. Die muß geschützt werden.
Stimmen Sie mir zu?«
Henk verzog das Gesicht
»Wenn Sie es sagen - na gut«, er wandte sich halb um. »Dann werde ich die Jungs mal
einweisen. Schließlich erwartet uns eine Menge Arbeit.«
Daß er eigentlich Urlaub hatte, hatte Henk de Groot schlicht vergessen.
»Die Jungs, ja!« Petain betonte das erste Wort sehr ironisch. »Sie-nein!«
»Wie... was?«
»Die Leute hier werden ohne Sie auskommen müssen, Henk«, bedauerte der Oberst. »Ich
habe Order vom Präsidenten, Sie und Ihre reizende Freundin mit zurück zur Babylon-Kolonie
zu nehmen. Sie werden dort dringend gebraucht. Tja, so ist das nun mal, wenn man sich selbst
unentbehrlich macht. Und das noch auf so hoher Ebene.«
Während Charlize Farmer zu lachen begann, forderte der Oberst die beiden mit einer
übertrieben einladenden Handbewegung auf, ihm zum Gleiter zu folgen.;
Henk seufzte innerlich. Auf was hatte er sich da bloß eingelassen, als er Präsident
Appeldoorns Angebot akzeptierte, seinen Babylon-Plan selbst zu koordinieren?
Er hoffte nur, daß er diesen Entschluß niemals bereuen würde.
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10.
Jede Persönlichkeit, die etwas auf sich hielt, hatte mindestens zwei Vornamen. Alex Basil
Christian David Edward Fortro$e hatte deren fünf.
Das war auch schon das einzig Besondere an ihm.
Er war in einer kinderreichen Lehrerfamilie aufgewachsen, hatte in jungen Jahren fortlaufend
das Studienfach gewechselt und war schließlich Anwalt geworden. Ein Entschluß, den er
schon bald wieder bereut, aber niemals rückgängig gemacht hatte.
Mittlerweile war Fortrose siebzig. Sein sich allmählich verflüchtigendes graues Haar bedeckte
nur noch die hintere Kopfhälfte, und in seinem fahlen Gesicht kämpfte ein kümmerlicher
Oberlippenbart ums Überleben. Seine Kleidung war so färb- und einfallslos wie er selbst.
Der Jurist bezog ein durchschnittliches, leistungsbezogenes Einkommen, wußte mit seinem Geld aber eigentlich nichts so recht anzufangen. Alkohol und Tabak waren ihm verpönt, selbst vor einer guten Tasse Kaffee schreckte er zurück. Kulinarische Genüsse schlugen ihm auf den Magen, weshalb er Schonkost und Kamillentee bevorzugte. Eine Ehefrau hatte er nicht, nicht einmal eine Freundin. Und seine einzigen kulturellen Interessen bestanden darin, daheim von einem Holounterhaltungskanal zum nächsten zu zappen. A. B. C. D. E. Fortrose war kein aufrichtiger Mensch. Seine persönlichen Ansichten behielt er lieber für sich und dachte sich seinen Teil. Das machte es schwierig, ihn richtig einzuschätzen. Diese Undurchschaubarkeit, die von seinen Gegnern fälschlicherweise als Verschlagenheit interpretiert wurde, war sein wichtigster Pluspunkt vor Gericht. Dadurch hatte er schon so manchen schwierigen Prozeß für sich entscheiden können. Terence Wallis hatte es nicht nötig, sich mit stapelweise Vornamen zu schmücken. Der facettenreiche Noch-Sechsundvierzigjäh183 rige war auch ohne derlei Schnickschnack eine interessante Persönlichkeit durch und durch. Obwohl ehrlich bis ins Mark, hatte er beruflich Karriere gemacht, vor allem durch geschickte Investitionen und lukrative Firmenkäufe. Seine Methoden waren unkonventionell und manchmal ziemlich rigoros, aber niemals ungesetzlich. Heute gehörte ihm das größte Industriekonglomerat der Erde. Von klassischen Beziehungsgeflechten hielt er nichts, weder im Privatleben noch in der Politik. Seinen Kopf gebrauchte er zum Denken, benutzte ihn aber auch gelegentlich, um damit durch die Wand zu gehen - geradeaus, nicht auf Umwegen. Umständliche Verschleierungstaktiken lagen ihm nicht. Seine größte Begabung lag darin, die Begabungen anderer Menschen zu erkennen und zu nutzen, sprich: jeden Mitarbeiter entsprechend seiner persönlichen Fähigkeiten einzusetzen und selbige durch langsam steigende Herausforderungen zu fördern. Wer das nicht beherrschte, hatte in einer Führungsposition nichts verloren, denn diese Gabe war wichtiger als jegliches Geschäftsgespür. Wallis war ein Frauentyp: groß, schlank, sportlich. Sein langes, leicht schütteres Haar trug er meist zu einem Pferdeschwanz gebunden. Der ehemalige Basketballspieler bevorzugte heute Golf und kleidete sich nur noch in seiner Freizeit so leger wie früher. Er liebte elegante Anzüge, konnte es sich aber nicht verkneifen, ab und zu grellbunte Westen zu tragen. Gutes Essen war für ihn eine Passion. Seinen Durst löschte er überwiegend mit Mineralwasser, manchmal mit einem guten Rotwein und hin und wieder mit schottischem Single Malt - aber bitte ohne Wasser, auch nicht in Form von Eis. Hätte man Fortrose einen attraktiveren Körper, ein wenig Modebewußtsein und außergewöhnlichere Freizeitbeschäftigungen verpaßt - die Frauenwelt hätte sich trotzdem nicht für ihn interessiert. Ein Langweiler blieb langweilig, wie sehr er sich auch bemühte, den Charmeur herauszukehren. Hingegen hätte man Terence Wallis einen Mehlsack umhängen und sein Gesicht einer »Phantom184 der-Oper«-Operation unterziehen können, er hätte dennoch viele weibliche Herzen zum Höherschlagen gebracht. Denn so ganz nebenbei war er der reichste Mann des terranischen Imperiums. Und Geld machte bekanntermaßen attraktiv - was auf beide Geschlechter gleichermaßen zutraf. Zwei derart grundverschiedene Männer atmeten nur selten denselben Sauerstoff, weil sie sich so gut wie nie im selben Zimmer aufhielten. Und schon gar nicht zogen sie beruflich am selben Strang. Bei Wallis und Fortrose war das anders.
Terras reichster Mann war ständig bemüht, sein Vermögen zusammenzuhalten und zu mehren. Und Terras farblosester Anwalt half ihm dabei. Schließlich wurde er von Wallis dafür bezahlt - er war einer seiner Firmenjuristen. Die achtzig Quadratkilometer umfassende Konzernzentrale von Wallis Industries lag bei Pittsburgh, Pennsylvania. Früher hatte es hier Stahlwerke gegeben, heute wurde Tofirit verarbeitet und Roboterentwicklung betrieben. Auf dem Gelände befanden sich ein eigener Jettport und ein kleiner Raumhafen, direkt neben der firmeneigenen Raumschiffswerft. Außerdem gab es dort einen weitläufigen Komplex mit Flachbauten, in denen unter anderem Versuchslabors untergebracht waren. Das dreistöckige Verwaltungsgebäude war verhältnismäßig unscheinbar. Es widersprach Wallis' Lebensphilosophie, seine Geschäftspartner durch unnötigen Pomp zu beeindrucken. Gegen einen gewissen Luxus am Arbeitsplatz hatte er zwar nichts einzuwenden, doch zuviel davon lenkte ihn nur von seinen Aufgaben ab. Für seine Verwaltungsmitarbeiter galt das gleiche. An diesem Morgen hatte Wallis die Elite seiner Ingenieure zu sich ins Büro gebeten. Er bot ihnen keinen Platz an, sie empfingen ihre Anweisungen im Stehen. Auch der Vertreter des Werkschutzes, der ebenfalls anwesend war, durfte sich nicht setzen. »Sie sollen es sich hier nicht bequem machen, sondern so schnell wie möglich wieder an die Arbeit gehen«, antwortete der 185 Firmenchef, als ihn einer der Ingenieure nach einem Stuhl fragte. »Ich erwarte Höchstleistungen von Ihnen. In der nächsten Zeit werden Sie sich vorwiegend der Aufgabe widmen, zwölf 200-Meter-Ikosaeder zu bauen. Über die Bewaffnung der Raumschiffe erhalten Sie noch gesonderte Anweisungen.« Ikosaederraumer wurden aus vorgefertigten, pyramidenförmigen Baueinheiten zusammengesetzt, jeweils zwanzig an der Zahl. Die Pyramiden bestanden aus dreieckigen Tofiritplatten, deren Stärke unterschiedlich war, je nachdem, ob es sich um Innenwände oder die Außenhülle handelte. Alle übrigen Strukturen im Schiff wurden aus Gewichtsgründen aus Leichtmetallen und Kunststoffen gefertigt. Maschinenräume und Zentrale lagen im Kern des Schiffes, der rundum durch ein zusätzliches Panzerschott geschützt war. Kein Raumschiff der Terranischen Flotte bot den lebenswichtigen Einrichtungen und den Insassen so viel geballte Sicherheit, denn die , Tofiritpanzerung war wirkungsvoller als die üblichen Schutzschirme und blieb auch nach einem totalen Energieausfall wirksam. »Darf ich fragen, wofür die zwölf Schiffe benötigt werden?« erkundigte sich ein Ingenieur. »Als Schutzflotte für das Achmed-System«, erwiderte Wallis. »Die Regierung verlangt neuerdings Horrorgebühren für ihren Schutz, darum werden wir in Zukunft darauf verzichten.« Er wandte sich dem stellvertretenden Werkschutzleiter zu. »Sie und Ihre Mitarbeiter werden Besatzungen für die Schiffe anwerben und ausbilden. Gefragt sind in erster Linie erfahrene, schlachtenerprobte Raumfahrer. Lassen Sie Ihre Beziehungen spielen, und schrecken Sie auch nicht davor zurück, anderswo geeignete Männer abzuwerben. Trawisheim muß begreifen, daß ich problemlos ohne ihn auskomme. Er wird mich nicht in die Knie zwingen!« Fortrose, der etwas abseits in einem Sessel saß, verfolgte die Unterredung voller Skepsis mit. Seiner Ansicht nach lehnte sich Terence Wallis ziemlich weit aus dem Fenster. Zu weit? Nachdem das Prospektorenehepaar Art und Jane Hooker seinerzeit im System NGK 1324/58, das seitdem den Namen Achmed-System trug, einen kolossalen Asteroidengürtel aus purem Tofirit entdeckt hatte, war umgehend die Abbaugesellschaft Wallis Star Mining gegründet worden. Nach zähen Verhandlungen hatte man sich auf folgende Aufteilung geeinigt: 72,5%
an der Gesellschaft waren an Terence Wallis gegangen, 25% an die terranische Regierung und 2,5% hatte man den Hookers zugesprochen, die seither nur noch für Wallis arbeiten durften. Für den Schutz des System war die terranische Flotte verpflichtet worden, natürlich kostenfrei. Mittlerweile hatte sich so einiges geändert. Ren Dhark hatte im Rahmen der vertrauensvollen Zusammenarbeit mit den Nogk die Unterlagen über die terranische Wuchtkanone an diese treuen Verbündeten weitergegeben. Darauf, daß Wallis Industries ein Patent auf die Kanone hatte, hatte der Commander der Planeten bei seiner mutigen Entscheidung keine Rücksicht genommen. Dhark war kein Papiertiger, sondern ein Mann der Tat. Genau das wußte Wallis an ihm zu schätzen. Insgeheim bewunderte er den Commander für seine entschlossene Handlungsweise. Das war für ihn allerdings kein Grund, auf die ihm zustehenden Lizenzgebühren zu verzichten. Wallis hatte der terranischen Regierung eine saftige Rechnung präsentiert, in Gegenwart eines Notars. Aus Sorge um einen Staatsbankrott hatte Dharks Stellvertreter Henner Trawisheim zähneknirschend zugestimmt, den fünfundzwanzigprozentigen Regierungsanteil von Wallis Star Mining als Ausgleichszahlung für entgangene Lizenzgebühren an den Multimilliardär abzutreten. Doch Trawisheim war nicht umsonst der einzige Cyborg auf rein geistiger Basis. Nach Unterzeichnung der notariellen Unterlagen hatte er noch eine Trumpfkarte aus dem Ärmel gezogen und angekündigt, den militärischen Schutz des Tofiritabbaus von nun an nur gegen Bezahlung zu leisten. Andernfalls würde er die bewaff186 187 neten Schiffe der TF abziehen. Das hatte Wallis nicht bedacht. Jetzt mußte er sich selbst um den Schutz des Asteroidengürtels kümmern - oder zahlen, und zwar heftig. Seine erste Maßnahme hatte darin bestanden, den Notar zu feuern. Als nächstes wollte er eine eigene Kriegsflotte auf die Beine stellen. Die Ingenieure und der Mann vom Werkschutz verließen sein Büro. Nur Anwalt Fortrose blieb zurück. Wallis wandte sich ihm zu. »Nun sagen Sie es schon!« fuhr er den unscheinbaren Juristen an. »Nur heraus mit der Sprache, Sie Leisetreter! Ich sehe Ihnen doch an, daß Sie mir Vorhaltungen machen wollen. Sie denken, ich handele falsch, stimmt's?« Fortrose öffnete den Mund zu einer Erwiderung, aber Wallis fuhr ihm ins noch unausgesprochene Wort. »Ich weiß auch ohne Ihre juristischen Kommentare, daß private Raumschiffe nur mit leichten Waffen ausgestattet sein dürfen, Fortrose, und selbst dafür wird eine Sondergenehmigung benötigt. Trawisheim hat mich mit gehässigem Grinsen unmißverständlich darauf hingewiesen und mich gewarnt, dagegen zu verstoßen. Sollte auch nur einer meiner Wachraumer über stärkere Waffen als Triple-Hy-Laser oder Paralysestrahler verfügen, vielleicht sogar über eine firmeneigene Wuchtkanone, mache ich mich strafbar.« Wieder setzte der Anwalt zu einer Bemerkung an, doch Wallis redete sich nun so richtig in Fahrt. »Wie soll ich mich Ihrer Meinung nach denn verhalten, Fortrose? Nachgeben und zahlen? Das kommt überhaupt nicht in Frage. Ich unterstütze diese unfähige Regierung finanziell weiß Gott schon mehr als genug! Eigene Kriegsschiffe zu bauen kommt mich billiger als die Schutzgelder, die Trawisheim mir aus der Tasche ziehen will. Und wenn der Staat mir die Genehmigung dafür verweigert, dann... dann...« 188
Dann? Fortrose hielt den Atem an, das Schlimmste befürchtend. »... dann brauche ich halt einen eigenen Staat!« sprach Wallis es aus und ließ seine Faust auf die Schreibtischplatte krachen. Der blasse Anwalt wurde noch eine Spur weißer um die Wangen herum. Offensichtlich hatte Wallis das Ende vom Anfang erreicht (die freundliche Umschreibung eines Menschen, der im Begriff war, seine geistige Orientierung zu verlieren). Fortrose fühlte sich an Wallis' verwirrtem Zustand irgendwie mitschuldig, obwohl es dafür gar keinen Grund gab. Nicht er hatte Wallis auf die Palme gebracht, der Milliardär war von allein hinaufgeklettert. Glücklicherweise kam er langsam wieder herunter, atmete tief durch. »Soweit ich informiert bin, Fortrose, haben Sie noch einen Termin mit dem Klienten in Cleveland«, sagte er nach einer Weile mit ruhiger Stimme. »Lassen Sie sich nicht aufhalten. Ich verlasse mich auf Ihre Loyalität und Schweigepflicht. Am besten, Sie vergessen, worüber wir uns gerade unter vier Augen unterhalten haben.« Unterhalten? dachte der schmächtige Jurist. Ich bin doch gar nicht zu Wort gekommen. Er haßte es, wenn sein Boß sich furchtbar aufregte und gleich danach erschreckend ruhig wurde. In diesem Zustand war Wallis unberechenbar und brandgefährlich. Wallis' Firmenanwalt Fortrose und die Sicherheitsbeauftragte Liao Morei gaben sich vor dem Büro ihres Chefs quasi die Türklinke in die Hand. »Reizen Sie ihn nicht«, raunte der siebzigjährige Engländer der einunddreißigjährigen Chinesin zu. »Er ist heute nicht gut drauf.« Liao schenkte ihm ein unergründliches asiatisches Lächeln und tratein. 189 Sie war knapp einssechzig groß und wirkte zerbrechlich wie ein zartes Pflänzchen. Größere Gewächse taten allerdings gut daran, sie nicht zu unterschätzen. Die wendige Frau beherrschte sage und schreibe elf verschiedene Nahkampf Sportarten plus eine zwölfte, die sie selbst entwickelt hatte und unterrichtete. Und weil sie zudem über einen messerscharfen Verstand verfügte, setzte Terence Wallis sie überwiegend zu seinem persönlichen Schutz sowie für Sonderaufgaben ein. Liao Morei befehligte die gesamte Wachmannschaft, sowohl den Werkschutz als auch die Truppe für Außeneinsätze. Da sie sich in diesem weiträumigen Arbeitsbereich nicht um alles selbst kümmern konnte, vor allem deshalb, weil Wallis sie fortwährend mit Beschlag belegte, wurden die jeweiligen Abteilungen von selbständig agierenden Stellvertretern geleitet. Der Multimilliardär begrüßte seine Mitarbeiterin mit finsterer Miene. Offenbar brütete er etwas aus. »Eine Handvoll Dollar für Ihre Gedanken«, sagte sie zu ihm und setzte sich, ohne daß er sie dazu aufgefordert hatte. »Wer diesen Spruch einst erfand, hatte keine Ahnung vom Marktwert der Gedanken«, knurrte Wallis. »Herauszufinden, was andere denken, ist eine kostspielige Angelegenheit. Apropos: Haben Sie das Dossier zur Wahl im November fertig?« Liao nickte und zückte eine Mikro-CD. »Statistiken, Umfrageergebnisse, Analysen, Zahlen... das alles und noch mehr befindet sich auf diesem winzigen Datenträger. Zu früheren Zeiten hätte ich einen Stapel Aktenordner zum Durchblättern anschleppen müssen.« Wallis nahm den Datenträger entgegen und legte ihn in seinen Suprasensorein. Im Jahr 2054 war Ren Dhark von fast allen damals existierenden Parteien für den Posten als Commander der Planeten vorgeschlagen worden. Terra brauchte einen starken Anführer, und Dhark war der einzige, dem die Wähler eine solche Machtfülle hatten zugestehen wollen, nach allem, was er für die Menschen getan hatte. 190 Kein Berufspolitiker hätte nach der Befreiung der Erde eine Chance gegen ihn gehabt, darum hatte man die Flucht nach vorn ergriffen und Dhark aufs Podest gehoben.
Von dort sollte er möglichst bald wieder herunter, zumindest nach dem Willen der meisten Parteien. Deren damaliges Kalkül ging nämlich hier und jetzt allmählich auf: Die Menschheit hatte sich an einen Commander der Planeten gewöhnt - so daß dieser Posten nun ebensogut von einem Berufspolitiker besetzt werden konnte. Dhark hatte gesät, ernten wollten die anderen. Der Mohr hatte seine Schuldigkeit getan, der Mohr konnte gehen. Unterstützt wurde Ren Dhark nur von der PfD - der Partei für Demokratie, deren Ehrenvorsitzender er war. Geleitet wurde die PfD von Henner Trawisheim, Dharks Stellvertreter auf Terra. Trawisheim hielt auf der Erde immer dann den Kopf für den Commander hin, wenn selbiger mal wieder in den Weiten des Weltalls unterwegs war. Befand sich Dhark auf seinem Heimatplaneten, nahm er sich nur wenig Zeit zum Regieren und konnte es kaum erwarten, mit der POINT OF erneut zu fremden Sternen aufzubrechen. Daß er lieber dem Geheimnis der Mysterious nachjagte als sich um Terras Probleme zu kümmern, nahmen ihm immer mehr Menschen übel - und vergaßen dabei, daß ohne die M-Technik die Erde noch heute unter Giant-Herrschaft stehen würde. War es da nicht verständlich, daß der Commander ständig versuchte, mehr über die unbekannten Retter der Menschheit herauszufinden? Obwohl die Partei für Demokratie bei der Bevölkerung noch viele Freunde hatte, sah man dort kaum eine Chance für einen Wahlsieg im Herbst. Dhark war das einzige Zugpferd, das man vor den Wahlkarren spannen konnte, doch das genügte inzwischen nicht mehr für die absolute Mehrheit. Im übrigen stand der derzeitige Amtsinhaber für den Wahlkampf ohnehin nicht zur Verfügung, da er wie üblich in Weltraumtiefen verschwunden war. Mögliche Koalitionspartner waren stärker als die PfD und hatten kein Interesse, sich mit einer Partei zu vereinen, die ums Überle191 ben kämpfte. Ohne die großzügigen Spenden, die Terence Wallis der PfD zukommen ließ, hätte sie sich wohl längst aufgelöst. Der bei der Bevölkerung derzeit angesagte Favorit hieß Antoine Dreyfuß - Spitzenkandidat der Fortschrittspartei. Er war Ende Fünfzig, schlank, bartlos und stets adrett, jedoch nie zu auffällig gekleidet. Als typischer, blaßgrauer Berufspolitiker legte sich Dreyfuß mit seinen Aussagen nie fest, so daß seine Reden immer etwas Schwammiges an sich hatten. Um die Wahl zu gewinnen, versprach er allen alles, ließ sich aber allezeit ein Hintertürchen offen. Er legte seinen Finger gern in die Wunden der anderen Parteien, wobei er sich darauf verstand, die Fehler seiner eigenen Fraktion geschickt zu kaschieren. Seine guten Aussichten für die Wahl verdankte er vor allem dem Medienkonzern Intermedia, der die Fortschrittspartei hemmungslos unterstützte und unverhohlen zur Abwahl der derzeitigen Regierung aufrief. Die ständigen Hetztiraden gegen Ren Dhark in den Klatschblättern waren Teil dieser Schmutzkampagne. Terra-Press berichtete zwar ebenfalls regelmäßig über die politischen Geschehnisse, hielt sich aber mit Wertungen zurück. Neutralität war für Sam Patterson und seine Mannschaft oberstes Gebot. »Mich würde interessieren, warum Intermedia so parteiisch ist«, sagte Terence Wallis, nachdem er das Dossier am Bildschirm überflogen hatte. »Da steckt mehr dahinter als pure Sympathie für den Kandidaten.« »Soll ich in dieser Richtung weiterermitteln?« fragte ihn Liao Morei. »Dann brauchte ich allerdings zusätzliche Mitarbeiter und...« »Sie bekommen alles, was Sie benötigen«, unterbrach Wallis sie. »Ich erhöhe Ihren Etat. Die Obergrenze bestimmen Sie selbst. Hauptsache, Sie bringen mir konkrete Ergebnisse, und zwar möglichst gestern.« »Bin schon so gut wie weg«, erwiderte die Chinesin, nickte ihm 192
kurz zu und verließ den Raum. Wallis nutzte volle neunzig Sekunden, um sich ein wenig zu entspannen und nachzudenken. Dann erhob er sich mit einem Ruck aus seinem Sessel und ging aus dem Büro. Im Vorzimmer aktivierte er kurz sein Armbandvipho und setzte sich mit Fortrose in Verbindung. Der Firmenanwalt befand sich bereits auf dem Weg in die Nachbarstadt Cleveland. Wallis wies ihn an, dort noch eine Erledigung einzuschieben, die keinen Aufschub duldete. Er hatte einen spontanen Entschluß gefaßt - und das bedeutete für einige seiner Mitarbeiter Ärger und zusätzliche Arbeit. Robert Saam nannte sich mit Fug und Recht Terras größtes Universalgenie (intellektuelle Bescheidenheit war keine seiner Stärken). Die Menschheit verdankte ihm viele bedeutsame Erfindungen. Nicht nur im Bereich der Raumschiffsbewaffnung hatte er sich verdient gemacht, auch praktische Schöpfungen stammten von ihm, beispielsweise die BlechmannRoboter. Genie und Wahnsinn lagen bei dem siebenundzwanzigjährigen Norweger dicht beieinander im Gegensatz zu seinem blonden Haar, das es irgendwie immer schaffte, wirr von seinem Kopf abzustehen, insbesondere nach dem Kämmen. Frauen waren ihm egal, zumindest behauptete er das. Wer ihn jedoch dabei beobachtete, wie er des öfteren in den Ausschnitt seiner vier Jahre älteren Assistentin schielte, mochte das schwer glauben. Regina Lindenberg kam aus der Schweiz. Die schöne Biologin hatte schon mehr Auszeichnungen erhalten als viele ältere Wissenschaftler in ihrem ganzen Leben. Das machte sie stolz, aber nicht eingebildet. Zu Robert pflegte sie ein freundliches, kollegiales Verhältnis, mehr aber auch nicht. Zwar war sie nicht unbedingt abgeneigt, 193 doch er sollte schon den ersten Schritt tun - und dafür war er zu schüchtern, zu verklemmt. Saams zweiter Assistent Saram Ramoya, ein neununddreißig-jähriger indischer Funk- und Ortungsspezialist, kannte Verklemmungen nur vom Hörensagen. Er war ein Macho durch und durch und neigte als Mann manchmal zur Selbstüberschätzung. Seiner Arbeit tat das allerdings keinen Abbruch, seine Kollegen (auch die Kolleginnen) konnten sich felsenfest auf ihn verlassen. Der dritte im Assistentenbunde war Kanadier und hieß George Lautrec. Der Zweiundsechzigjährige verfügte zwar über weniger Auszeichnungen als Regina, war aber auf vielen wissenschaftlichen Gebieten erfahrener als sie. Gemeinsam bildeten Saam, Lindenberg, Ramoya und Lautrec ein unschlagbares Quartett. Jeder einzelne von ihnen hätte eine steile Karriere in der Militärforschung oder eine geruhsame im Universitätsbereich machen können - doch sie zogen es vor, in der freien Wirtschaft zu arbeiten. Terence Wallis vereinnahmte sie fast gänzlich für sich, wobei er nahezu »erpresserische« Methoden anwandte: Er stellte ihnen auf dem Werksgelände in Pittsburgh die bestausgestatteten Labore und die modernsten Apparaturen zur Verfügung, schränkte ihren Etat nicht ein, ließ sie ihre Mitarbeiter frei auswählen und zahlte ihnen zudem ein überdurchschnittliches Gehalt plus Erfolgsprämien. Hinzu kam, daß Wallis die vier nur selten kontrollierte. Es genügte ihm, zu wissen, woran sie gerade arbeiteten. Ansonsten interessierten ihn ausschließlich die Resultate ihrer Forschungen, keine Details oder Zwischenergebnisse. Nur was vollständig ausgereift und erprobt war, konnte wirtschaftlich genutzt werden -Halbfertiges war auf dem Markt nicht gefragt. Robert Saam war der Kopf des Wissenschaftlerquartetts, der Planer, der Bestimmer. Ohne Druck von außen arbeitete er am effektivsten, allerdings schoß er so manches Mal übers Ziel hinaus. Und nicht immer sprach er sich mit seinem Gönner Wallis über
194 seine Vorhaben ab. Schlimmer noch: Wenn ihn der Forscherdrang packte, ignorierte er sämtliche ihm zugeteilten Aufgaben und be-schritt seine eigenen Wege. Bei seinen Assistenten stieß er damit nicht immer auf Gegenliebe. Regina, Saram und George waren sich nur zu gut darüber im klaren, daß Roberts eigenmächtiges Handeln jedesmal einen Haufen Scherereien nach sich zog. Diesmal war ihnen das jedoch egal. Die Forschungen, die sie seit einiger Zeit ohne das Wissen des Milliardärs betrieben, zogen sie so sehr in den Bann, daß sie dafür eventuellen Ärger gern in Kauf nahmen. »Das ist die größte Entdeckung seit der Erfindung des Rades«, bemerkte Ramoya euphorisch, als die neuesten Ergebnisse vorlagen. »Genaugenommen ist es keine Entdeckung, sondern mehr eine Entwicklung«, meinte Lautrec, der sich mit ihm im Großraumlabor aufhielt. »Ohne unsere intensive Forschungsarbeit wären wir nie so weit gekommen.« »Sollten wir nicht warten, bis wir am Ziel angelangt sind, bevor wir uns mit Lorbeeren überschütten?« gab Lindenberg nach einem Blick auf die Forschungsunterlagen zu bedenken. »Die letzten Tests sind noch nicht abgeschlossen.« »Reine Formsache«, warf Saam ein. »Ich bin überzeugt, daß die gesamte Testreihe positiv verlaufen wird. Ich kann es kaum erwarten, Terence vor vollendete Tatsachen zu stellen.« Robert Saam wußte immer, wann er kurz davor stand, eine bahnbrechende Erfindung zu machen. In solchen Augenblicken bewunderte Regina ihn heimlich für sein Selbstbewußtsein, das er dabei an den Tag legte. Selbst wenn es unerwartete Fehlschläge gab, ließ er sich nicht beirren und verfolgte den eingeschlagenen Weg konsequent weiter - so lange, bis er alle Hindernisse weggeräumt hatte. Wieder einmal schien er sich selbst übertroffen zu haben. Falls die noch ausstehenden Überprüfungen hielten, was man sich von 195 ihnen versprach, würde Wallis Industries schon bald mit einem neuen, bahnbrechenden Produkt auf den Markt kommen. Das Forscherquartett arbeitete nicht allein. Zahlreiche Labormitarbeiter standen den vieren zur Verfügung, um die Arbeit zu beschleunigen. Allerdings wußten nur Saam und seine drei engsten Vertrauten Bescheid, worum es eigentlich ging. Alle anderen kümmerten sich ausschließlich um ihren eigenen kleinen Aufgabenbereich, ohne zu wissen, wo und wie die Fäden am Ende zusammenliefen. »Bald ist es soweit«, murmelte Saam, der seine innere Anspannung kaum verbergen konnte. »Wenn bloß nichts dazwischenkommt...!« Regina war erstaunt. Sollte das Genie der Genies doch noch letzte Zweifel am Gelingen des Unternehmens haben? Oder befiel ihn plötzlich eine böse Vorahnung? Sie versuchte, ihn zu beruhigen, indem sie ganz nah an ihn herantrat und ihre rechte Hand auf seine linke Schulter legte. Irgendwie schien ihn das allerdings noch nervöser zu machen. Er wandte ihr sein Gesicht zu, und ihr fiel auf, daß seine Mundwinkel leicht zuckten. Anstatt sich diskret zurückzuziehen, damit sich seine Herzschläge wieder etwas verlangsamten, schaute Regina ihm tief in die Augen. Es gefiel ihr, ihm nur durch ihre pure Nähe den Kopf zu verdrehen, ohne daß dabei ein Wort gesprochen wurde. Normalerweise wich der junge Norweger ihren Blicken aus, sobald sie ihm zu intensiv erschienen. Diesmal hielt er den Augenkontakt jedoch tapfer aufrecht. Beide verspürten tief in sich eine Art chemischer Reaktion, einen Funken, den man zwar fühlen, aber optisch nicht erfassen konnte, verbunden mit einem Knistern, das akustisch nicht wahrnehmbar war.
Zaghaft legte Robert seine Hand auf Reginas. Die Frau nahm an, er wolle ihre Hand von seiner Schulter entfernen und zog sie freiwillig zurück. Schnell griff er zu, hielt die schlanke, zarte Hand 196 sanft fest... In diesem Moment öffnete sich der Seiteneingang zum Labor, und Terence Wallis trat ein. »Das habe ich gern!« machte er sich sogleich bemerkbar. »Terra steht vor einem politischen Kollaps, meine Firma wird systematisch in den Konkurs getrieben - und zwei meiner bestbezahlten Mitarbeiter flirten ungeniert miteinander. Hat das nicht Zeit bis Feierabend?« Von einer Sekunde zur anderen war der Zauber des Augenblicks verflogen. Robert und Terence verband so etwas wie ein Vater-Sohn-Verhältnis, obwohl sie in keiner Weise miteinander verwandt waren. Papa ließ seinem Filius manches durchgehen, solange er es nicht übertrieb. »Ihr begleitet mich auf eine Dienstreise«, ordnete Wallis ohne Umschweife an, und aus seinem Tonfall war herauszuhören, daß jedweder Widerspruch zwecklos war. »Alle vier. Jetzt sofort.« »Unmöglich!« erwiderte Saam. »Unsere laufenden Forschungsprojekte erlauben uns nicht...« »Die müßt ihr halt aufschieben. Mein Anliegen hat äußerste Priorität. Eure Mitarbeiter werden schon ein Weilchen ohne euch auskommen.« »Aber wir befinden uns mitten in der abschließenden Testphase«, warf Regina ein. »Wir benötigen nur noch etwas...« »Interessiert mich nicht«, schnitt Wallis auch ihr das Wort ab. »Ich weiß sowieso nicht, woran ihr gerade arbeitet, weil es niemand für nötig gehalten hat, mich zu informieren.« George Lautrec hatte Mühe, einen Fluch zu unterdrücken. »Verd...! Da gibt man wochenlang sein Bestes, und nun soll ich bei den letzten Tests mit dem Carborit nicht mit dabei sein?« ; »Carborit?« wiederholte der Milliardär. »Nie gehört. Was ist das?« Robert kam Georges Antwort zuvor. »Laß dich überraschen, Terence. Na schön, wenn es nicht anders geht, begleiten wir dich 197 halt. So ein kleiner Dienstausflug mit dem Schweber dauert schließlich nicht ewig. Wir müssen unseren Mitarbeitern lediglich noch ein paar Anweisungen erteilen, damit sie ohne uns weitermachen können. Wo treffen wir uns?« »Auf meinem Raumhafen. Ihr braucht nichts einzupacken, ich habe eure persönlichen Sachen bereits auf die SEARCHER bringen lassen. Im übrigen sind die Unterkünfte dort überaus komfortabel, es wird euch an nichts mangeln.« »Auf die SEARCHER?« entfuhr es Ramoya. »Heißt das, wir fliegen ins All?« »Logisch«, antwortete Terence Wallis lakonisch. »Und jetzt beeilt euch. Zeit ist Geld. Und eure Zeit ist mein Geld.« Art und Jane Hooker verfügten auf Terra über keinen festen Wohnsitz. Wozu auch? Die meiste Zeit verbrachten sie eh in ihrem diskusförmigen Raumschiff SEARCHER, immer dann, wenn sie im All unterwegs waren. Hielten sie sich auf der Erde auf, bezogen sie entweder eine Hotelsuite oder sie mieteten kurzfristig ein möbliertes Apartment an. Oftmals blieben sie auch auf ihrem Schiff, denn dort fühlten sie sich am wohlsten. Das Privatdeck war mit allem nur erdenklichen Luxus ausgestattet. Zudem bot es ausreichend Platz für Mitreisende. Bevor die Eheleute in die Dienste von Terence Wallis getreten waren, hatten beide als Freiberufler eine eigene Firma betrieben. Ihre Einkünfte hatten gerade so für das Nötigste gereicht. Als »Vagabunden des Weltalls« hatte man sie damals bezeichnet, und im großen und ganzen hatten sie sich recht wohlgefühlt.
Insbesondere Art war es nicht leichtgefallen, seine Freiheit aufzugeben, doch er hatte die wirtschaftliche Notwendigkeit eingesehen und war den Pakt mit dem Milliardär eingegangen. Seither waren der hagere Prospektor und seine gertenschlanke Frau vermögende Leute. 198 Mehr noch: Sie besaßen sogar ein Stück von einem Planeten. In den Monaten Mai und Juni 2058 hatten sie sich - im Auftrag von Wallis Star Mining - im noch unerforschten Kugelhaufen M 53 auf die Suche nach einer Welt begeben, die einer begrenzten Anzahl von Menschen Schutz vor der Strahlungsfront der vom Untergang bedrohten Milchstraße bieten sollte. Nach einem ersten »Fehlgriff« war es ihnen tatsächlich gelungen, einen solchen Platz ausfindig zu machen. Eden hatten sie die Welt getauft - und als Anteilseigner von Wallis Star Mining hatten ihnen 2,5 Prozent davon zugestanden, mit dem Recht der ersten Wahl als Entdecker. Selbstverständlich hatten sich Art und Jane seinerzeit das leckerste Stück vom Kuchen ausgesucht: einen Inselkontinent zwischen Subtropen und Tropen, ein Naturparadies, das sie Aloha genannt hatten. Aloha war für einen Urlaub wie geschaffen. Da sich aber auf Eden nach Rettung der Milchstraße niemand angesiedelt hatte, gab es dort auch niemanden, der Erholung brauchte. Erholung - ein Fremdwort für die Hookers, da Wallis sie laufend mit neuen kleinen und großen Aufträgen zuschüttete. »Manchmal komme ich mir wie sein Leibeigener vor«, bemerkte Art, der sich mit seiner Frau auf einer weiträumigen Hoteldachterrasse aufhielt. »Seit wir bei ihm unter Vertrag stehen, schickt er uns von einem Ende der Welt zum anderen. Es gibt Tage, da sehne ich mich nach unserem früheren Leben zurück.« »Aber garantiert nicht an Tagen wie heute, oder?« fragte Jane ihn lächelnd »Garantiert nicht«, bestätigte ihr Mann. »Derlei Bequemlichkeiten hätten wir uns damals nämlich nicht leisten können.« Die Terrasse war mit palmenartigen Gewächsen bepflanzt. Dazwischen hatte die Hotelleitung nicht etwa gewöhnliche Liegestühle, sondern bequeme Liegesessel und eine urgemütliche Sitzecke plaziert. Der Clou aber war ein überdimensionales, quadratisches Wasserbett, auf dem sich die Hookers unter einer dünnen Decke räkelten. Zwar war der Morgen lange schon vorüber, doch sie sahen keine Notwendigkeit, aufzustehen. Frühstück war ausgefallen, und das Mittagessen hatten sie sich auf die Terrasse senden lassen. Es war auf einem großen Tablett hereingeschwebt, direkt bis ans Bett. Selbstverständlich hätten die Eheleute auch in der angrenzenden geräumigen Suite schlafen und speisen können, doch die Dachterrasse war ihnen lieber. In der warmen Jahreszeit konnte man sich hier an der frischen Luft lümmeln, und an kühleren Tagen - derzeit schrieb man April 2059 - ließ sich die beheizte Terrasse rundum mit Glaswänden und einem Glasdach verschließen, dafür genügte ein einziger Knopfdruck. , Ihre Viphogeräte hatten die Hookers ausgeschaltet. Sie wollten von keiner Menschenseele gestört werden - was insbesondere für einen gewissen Terence Wallis galt, der die lästige Angewohnheit hatte, seine beiden »Lieblingsanteilseigner« während ihrer freien Tage anzurufen, um sie mit einer neuen Aufgabe zu betrauen. Damit ihnen das diesmal nicht passierte, hatten ihm Art und Jane eine falsche Urlaubsadresse hinterlassen. »Ob er wohl gerade in Reykjavik nach uns fahnden läßt?« bemerkte Art bestens gelaunt. »Wie ich ihn kenne, suchen seine Leute die gesamte Erdkugel nach uns ab«, entgegnete Jane und kuschelte sich an ihren Mann. »Aber auf den Gedanken, daß wir uns in unmittelbarer Nähe von Pittsburgh aufhalten könnten, kommt er nie. Frechheit siegt.« Die SEARCHER stand auf dem kleinen Raumhafen von Wallis Industries. Die Besitzer des diskusförmigen Raumschiffs befanden sich quasi um die Ecke, im teuersten Hotel von Cleveland. Hier, so hofften sie, würden sie ungestört eine volle freie Woche verbringen können. Heute war ihr vierter Urlaubstag.
Über das bruchsichere Glasdach der Terrasse tobte ein leichtes Unwetter hinweg. Regen prasselte rundum an die Scheiben, und hin und wieder erhellte ein Blitz den leicht verdunkelten Himmel. Jane fand das schlechte Wetter ungeheuer anregend. Sie trug nur ein dünnes Nachthemd. In dieser Aufmachung fiel es ihr nicht schwer, ihrem Ehemann deutlich zu machen, worauf sie gerade unbändige Lust verspürte. Janes Anblick und das sanfte Schaukeln des Wasserbetts brachten Art auf den richtigen Gedanken. Stürmisch zog er seine Frau an sich und küßte ihre weichen, warmen Lippen... »Ähem!« Ein dezentes Räuspern brachte die sprudelnde Leidenschaft schlagartig zum Versiegen. Erschrocken zuckten die beiden zusammen. Der Einschlag einer Bombe direkt neben dem Bett hätte keine größere Wirkung erzielen können. Im Durchgang zur Suite stand der Hotelmanager, ein breitschultriger, fetter Koloß im Maßanzug. »Bitte verzeihen Sie mein Eindringen«, entschuldige er sich mit breitem Grinsen. »Ich war gezwungen, zum Öffnen der Tür die Generalchipkarte zu benutzen. Es ging niemand ans Vipho, und auf mein Klopfen hat leider niemand reagiert.« »Ach nein?« erwiderte Art gereizt. »Woran könnte das bloß liegen? Vielleicht daran, daß wir unsere Ruhe haben möchten?« »Daraus wird leider nichts«, bedauerte sein Gegenüber und trat zwei Schritte auf die Terrasse. »Ich möchte Sie höflichst bitten, die Suite noch heute zu räumen.« »Wie bitte?« entfuhr es Jane. »Sie wollen uns vor die Tür setzen, nur weil Sie uns beim Sex erwischt haben? Wir sind verheiratet. Sowohl die Kirche als auch der Gesetzgeber segnen derlei intime Begegnungen zwischen Eheleuten ausdrücklich ab.« Art nickte zustimmend. »Als Ehepaar sind wir gewissermaßen verpflichtet dazu. Sex unter Verheirateten ist kein pures Vergnügen, sondern eine Amtshandlung.« »Ich mag Menschen, die auf überraschende Situationen mit schlagfertigem Humor reagieren«, entgegnete der Hotelmanager. »Keine Sorge, ich werfe Sie nicht hinaus. Sie müßten lediglich in eine andere Etage umziehen, diese hier habe ich soeben komplett vermietet.« »An wen?« wollte Art wissen. 200 201 »Labyrinth«, antwortete der Manager in geheimnisvollem Flüsterton und schaute die Eheleute abwechselnd an. »Da staunen Sie nicht wahr? Fassen Sie sich, und bewahren Sie bitte äußerstes Stillschweigen. Die Jungs sind inkognito hier. Deshalb habe ich ihnen die komplette obere Etage zugesichert. Dafür haben Sie doch sicherlich Verständnis, oder? Selbstverständlich zahlen Sie für Ihre neue Unterkunft keinen Cent. Betrachten Sie sich von nun an als Gäste des Hauses.« Art und Jane machten ratlose Gesichter. »Labyrinth?« »Jungs?« »Labyrinth heißt die derzeit angesagteste Boygroup des Universums«, half ihnen der Manager auf die Sprünge. »Die Jungs haben ihre technischen Mitarbeiter, den Bandmanager sowie einige Groupies mit dabei und benötigen daher eine Reihe von Zimmern und Suiten.« »Dann bringen Sie die Halbstarkentruppe doch in einer anderen Etage unter«, schlug Jane vor. »Unmöglich, sie bestehen auf der obersten Etage. Nur hier gibt es vier große Suiten mit Dachterrassen, verstehen sie?« Art nickte. »Verstehe ich gut. Auch wir wissen die Terrasse zu schätzen. Eben deshalb ziehen wir erst nach Ablauf der vereinbarten sieben Tage aus.« »Die übrigen Gäste auf diesem Stockwerk waren kooperativer«, hielt der Hotelmanager den beiden vor. »Der Botschafter von Liechtenstein zog mit seinen drei preisgekrönten Pekinesen
ohne viel Federlesens ins Erdgeschoß, und die junge Lady of Black, eine vornehme Dame aus bester Gesellschaft, erbat sich als Gegenleistung lediglich einige Autogramme von den Bandmitgliedern.« »Was soll ich mit Unterschriften von Leuten, die mir völlig unbekannt sind?« knurrte Art. »Meinethalben können sie allesamt nebenan einziehen, solange sie uns in Frieden lassen. Richten Sie ihnen schöne Grüße von uns aus und sagen Sie ihnen, sie mögen des Nachts bitte nicht zu laut singen.« 202 Das Grinsen entschwand aus den Gesichtszügen des Managers. »Allmählich reicht es mir mit Ihnen, Mister Hooker. Bis jetzt habe ich es mit Freundlichkeit versucht, aber ich kann auch andere Saiten aufziehen. Ist es Ihnen lieber, wenn ich mich auf mein Hausrecht berufe und Sie gegen Ihren Willen des Hotels verweise?« »Gegen den Willen meiner Mandanten geschieht hier überhaupt nichts«, sagte plötzlich jemand, der hinter dem Hotelmanager aus der Suite trat. Art und Jane erkannten den kleinen, unscheinbaren Mann mit dem schwarzen Aktenkoffer. Es war einer von Wallis' Firmenanwälten: Fortrose. > »Wenn ein Gast bei Ihnen eincheckt und Sie dagegen keine Einwände äußern, gehen Sie juristisch einen mündlichen Vertrag mit ihm ein«, belehrte A. B. C. D. E. Fortrose den Hotelmanager und reichte ihm seine Visitenkarte. »Von diesem Augenblick an dürfen Sie ihn nicht ohne triftigen Grund vor Ablauf der vereinbarten Zeit aus dem Haus weisen. Das Hausrecht an den vermieteten Räumlichkeiten liegt von jenem Zeitpunkt an bei Ihren Gästen. Sie würden mich enttäuschen, wenn Sie das nicht wüßten, junger Mann.« »Aber ich habe einen triftigen Grund! Eine prominente Band benötigt die oberste Etage für sich und ihren Anhang. Wissen Sie eigentlich, was für einen Imageverlust unser renommiertes Haus erleidet, wenn sich herumspricht, daß wir Labyrinth abgewiesen haben?« vi »Das ist Ihr Problem. Die unerwartete Ankunft von Prominenten lst als Vertragskündigungsgrund nicht ausreichend. Hat Mister Hooker die Zimmervorhänge in Brand gesteckt? Singt Mrs. Hooker unter der Dusche so laut, daß sich die Gäste unter ihr beschweren? Oder hegen Sie den Verdacht, die beiden planen, sich ohne zu bezahlen bei Nacht und Nebel abzusetzen? Derlei Verhaltenswei-en wären triftige Gründe für eine vorzeitige Auflösung des mlindlichen Vertrages. Da Sie aber nichts dergleichen vorgetragen haben, schlage ich vor, Sie schicken den Kindergarten, der sich unten in der Hotelhalle breitmacht, wieder heim. Oder wollen Sie eine Klage wegen Vertragsbruch riskieren? Außerdem müssen Sie damit rechnen, von den Hookers wegen entgangener Urlaubsfreuden verklagt zu werden.« Der Manager warf einen Blick auf die Visitenkarte in seiner Hand. »Sie sind Anwalt von Wallis Industries?« »Richtig«, bestätigte ihm Fortrose. »Und diese beiden Herrschaften sind enge Mitarbeiter und persönliche Freunde von Terence Wallis. Besser, Sie legen sich nicht mit ihnen an. Einen schönen Tag noch. Und schließen Sie beim Hinausgehen die Tür hinter sich, vorhin stand sie einen Spalt offen.« Der Hotelmanager, der sichtlich beeindruckt war, verließ umgehend die Suite. »Großartig, das haben Sie prima gemacht!« lobte Art Hooker den Juristen. Der Prospektor, der nur mit seiner Unterwäsche bekleidet war, erhob sich von dem Wasserbett und schüttelte dem Anwalt die Hand. Jane schlang sich die Bettdecke um den Körper und stand ebenfalls auf. »Was machen Sie eigentlich hier?« erkundigte sie sich. »Hat Wallis Ihnen ebenfalls ein paar Tage Urlaub gewährt?« »Nein, er hat mich zu Ihnen geschickt, um seine dringliche Bitte auszurichten, auf der Stelle zurückzukommen.«
»Warum hetzt er ausgerechnet einen Anwalt auf uns?« fragte Jane. »Hätte es der Bürobote
nicht auch getan?«
»Sicher, aber Mister Wallis ging wohl davon aus, daß Sie Schwierigkeiten machen würden.
Ein Bürobote würde Sie sicher nicht davon überzeugen können, auf ihren wohlverdienten
Urlaub zu verzichten, um Mr. Wallis einen persönlichen Gefallen zu erweisen. Aber er ist
wirklich äußerst dringend auf ihre Kooperationsbereitschaft angewiesen. Im übrigen hatte ich
eh in Clevelanu zu tun.«
»Woher wußte Wallis überhaupt, wo wir uns aufhalten.«
204 schimpfte Art Hooker. »Wir haben seiner Sekretärin lediglich eine Anschrift in Island
hinterlassen.«
»Ist mir bekannt«, antwortete Fortrose schmunzelnd. »Die halbe Geschäftsetage hat sehr
darüber gelacht. Haben Sie wirklich geglaubt, unser großer Boß würde auf so einen billigen
Trick hereinfallen?«
»Und wieso haben Sie den Hotelmanager zusammengestaucht?« stellte Art ihm die nächste
Frage. »Warum haben Sie ihm nicht gesagt, daß wir ohnehin ausziehen werden?«
»Ich führe ein ziemlich freudloses Leben«, räumte Fortrose offen ein. »Deshalb gönne ich mir
manchmal ein kleines Erfolgserlebnis. Es bereitete mir diebische Freude, den Kerl in seine
Schranken zu verweisen. Er mag körperlich umfangreicher sein als ich, doch auf juristischem
Gebiet hat er mir nichts entgegenzusetzen.«
Der Anwalt verabschiedete sich.
Auf dem Hotelflur traf Fortrose mit dem Hotelmanager zusammen, der noch nicht in die
Hotelhalle zurückgekehrt war. Statt dessen saß er mit nachdenklicher Miene in einem breiten
Korbsessel. »Probleme?« sprach Fortrose ihn feixend an.
»Still, ich bin am Abwägen«, erwiderte der Manager. »Eine Geldstrafe wegen Vertragsbruch
zu riskieren, ist eine Sache - eine der bekanntesten Boygroups abzuweisen eine andere.
Zugegeben, Terence Wallis ist ein mächtiger Mann. Aber er bringt nur selten Privatgäste bei
uns unter. Hingegen zahlt Labyrinth für die oberste Etage jeden Betrag, den ich fordere.
Vielleicht sollte ich das Risiko, mir Wallis' Unmut zuzuziehen, einfach eingehen. Was kann er
unserem Hotel schon groß anhaben?«
»Ich beuge mich Ihrer intellektuellen Überlegenheit«, sagte Fortrose mit gewichtiger Miene.
»Gratuliere, Sie haben Wallis Industries in die Knie gezwungen, wir geben klein bei. Unsere
beiden Mitarbeiter werden die Suite umgehend verlassen.« Es gab Tage, da machte ihm sein
ungeliebter Beruf so richtig Spass.
11.
Selbstvernichtung!
»Dieser Controllo muß doch 'ne Macke haben«, murrte Arc Doorn.
»Es ist völlig unlogisch«, stimmte auch Jan Burton zu. »Wenn er Sicherheit will, erreicht er
die doch nicht, indem er sich und die Station sprengt!«,
Doorn, wieder in seiner mundfaulen Phase, nickte nur. Burton, dessen Spezialgebiet die
Logistik war, hatte recht. Und man mußte kein Cyborg und auch kein Logistiker sein, um das
zu erkennen.
Aber vielleicht sah die Logik des Zentralen Controllo ganz anders aus, als Menschen sie sich
vorstellen konnten...?
»Wieviel Zeit bleibt uns?« wollte Mark Carrell wissen.
»Maximal fünf Minuten«, sagte Artus.
»Und minimal?«
»Der Countdown läuft seit einer halben Minute.«
»Klasse«, knurrte Doorn. »Und in der Zeit schaffen wir's nicht zurück zu den Flash. Die
POINT OF muß hierher durchbrechen und uns 'rausholen...«
Er winkte ab, als er sah, daß Carrell etwas erwidern wollte. Der Sibirier wußte selbst, daß das reines Wunschdenken war. Sie mußten hier vor Ort mit der Situation fertig werden, oder in weniger als viereinhalb Minuten wurde diese Station zu einer kleinen Sonne, die ihre gesamte Energie in einem einzigen Aufblitzen verstrahlte und dabei alles vernichtete, was sich in ihr befand. Wie krieg' ich das Mistding kaputt? fragte sich Doorn und verwünschte die Mysterious einmal mehr in die heißeste Ecke der Hölle. Er starrte die Verkleidung des Zentralen Controllo an. Dieser Superrechner war nichts für ihn. Er besaß die Fähigkeit, die Funktionsweise fremder technischer Geräte intuitiv zu erfassen, aber hier ging es nicht um die Funktionsweise, sondern um die Programmierung. Das war' was für den Dicken, dachte er und 206 wünschte sich Chris Shanton her, der für seinen Robothund Jimmy ständig neue Programmerweiterungen entwarf und hier sicher wertvolle Hinweise hätte geben können. »Wir müssen den Kasten aufmachen und ihm die Drähte abklemmen«, erklärte Doorn. Das war die einzige Chance, die er sah. »Drähte?« staunte Bram Sass. Doorn seufzte. Er betrachtete die Verkleidung des Controllo. Wo konnte die Schaltung verborgen sein, mit welcher dieser Rechner geöffnet werden konnte? Er entsann sich daran, wie damals die Salter in der Zentrale der POINT OF die Transmitter aus den fugenlosen Wänden hatten ausfahren lassen, oder wie die Verkleidung des Checkmasters geöffnet worden war. Langsam streckte er die Hand aus. »Checkmaster versucht stärkeren Einfluß auf den Controllo zu nehmen«, meldete Artus, der nach wie vor die Kommunikation der beiden Rechner verfolgte. Über den Helmfunk ließ Gisol wieder von sich hören. Er schien , zu ahnen, was Doorn plante. »Wenn Sie die Freifläche rechts neben der orange-grün-wechselnden Anzeige berühren, müßte sich die Verkleidung des Controllo öffnen. Etwa zehn Sekunden Ansprechdauer.« »Verdammt lang«, knurrte Doorn, dem die Zeit ebenso davonlief wie den anderen. Die Cyborgs waren in diesem Moment kaum eine Hilfe, weil sie zu wenig von M-Technik verstanden. Die Datengrundlagen, die in ihren Programmgehirnen gespeichert waren, nützten ihnen hier nichts. Er suchte die orange-grün changierende Anzeige und fand sie schließlich in Augenhöhe. Daneben berührte er die UnitallVerkleidung des Controllo. Zehn Sekunden... Eine Ewigkeit, wenn nur noch wenige Minuten zur Verfügung standen! »Warnung. Zentraler Controllo richtet Sperrschaltung ein«, kam eine monotone Stimme aus dem Helmvipho. Der Checkmaster der 207 POINT OF meldete sich per Funk direkt bei den Menschen vor Ort! »Kannst du das nicht verhindern?« funkte Artus prompt zurück. »Du stehst doch mit ihm in Verbindung!« »Aufschneiden!« verlangte Carrell und griff zu seinem Blaster. »Treten Sie zur Seite, Doorn.« Bevor der den Cyborg darauf hinweisen konnte, daß es sich bei der Verkleidung um Unitall handelte, gegen das die Blasterstrahlen nicht ankamen, öffnete sich die ControlloVerkleidung. Der Sibirier wollte schon aufatmen, als sich die Wandung unmittelbar danach wieder schloß. »Ist es denn wahr?« stöhnte er auf und wiederholte den Vorgang. Erneut öffnete sich die Verkleidung, aber diesmal war Doorn schnell genug und klemmte seinen Blaster als Stopper ein. Die Öffnung konnte sich nicht mehr komplett schließen. Bram Sass trat hinzu. »Wollen doch mal sehen, ob wir den nicht austricksen können«, sagte er. Mit seiner Cyborgkraft stemmte er sich gegen die Verschlußplatte und schob sie
zentimeterweise zurück. Äußerlich war ihm keine Anstrengung anzusehen, aber nicht nur
Doorn ahnte, welchen ungeheuren Kraftaufwand es erforderte, gegen den
Schließmechanismus anzukämpfen.
»Ich bin ausdauernder«, sagte Artus plötzlich. Er griff ein und löste den Cyborg ab. Der
Roboter brachte es tatsächlich fertig, die Öffnung noch schneller zu vergrößern, als es Sass
bisher gelungen war. Plötzlich knackte irgend etwas. Danach war es leicht, die Platte
zurückzuschieben, und sie schloß sich auch nicht mehr von allein.
Doorn klopfte dem Roboter auf die Schulter. »Gut gemacht, mein Junge. Dafür bekommst du
zum Geburtstag 'ne Dose Rostlö-ser.«
»Da gibt es ein Problem«, erklärte Artus. »Mein Herstellungsdatum ist zwar der 26. Januar
2058, aber meine Bewußtwerdung erfolgte in der Nacht vom 18. auf den 19. September 2058.
An welchem dieser Tage darf ich nun mein Geburtstagsgeschenk erwarten? Außerdem«, er
stoppte kurz und klang dann regelrecht em-
rt: »Rostlöser? Ich roste nicht!«
Doorn hörte schon gar nicht mehr zu. Er betrachtete die Schalterbindungen, die vor ihm lagen.
Der Zentrale Controllo bestand,
ie die meisten M-Geräte, aus einem System von verschachtelten Elementen, die dicht an dicht
gepackt waren. Thermische Probleme wie bei terranischen Rechnern schienen die Worgun nie
gekannt zu haben. Kein terranischer Suprasensor hätte so gebaut werden können; die
Prozessoren und Speicher hätten vor ihrer eigenen Wärmeentwicklung kapituliert.
Etwas besorgt registrierte der Sibirier, daß Artus die Verschlußplatte nicht mehr festhielt.
Wenn die jetzt plötzlich wieder zuschnappte, noch während er seine Hände am Gerät hatte...
aber der entsprechende Mechanismus schien ernsthaft beschädigt zu sein.
»Smith«, sagte Doorn in den Helmfunk. »Was kann ich jetzt am besten tun?«
»Schildern Sie mir den inneren Aufbau«, verlangte der Worgun.
»Wenn's mehr nicht ist...«
»Noch zwei Minuten«, meldete Jan Burton.
Doorn wurde grob. »Klappe halten!« fuhr er den Cyborg an. Und wenn die Zeit noch so
drängte, er konnte sich jetzt nicht unter Druck setzen lassen, weil das seinen Gedankenfluß
beeinträchtigte. Entweder sie schafften es in den zwei Minuten, oder sie waren tot. Damit
mußten sie leben oder sterben.
Er konzentrierte sich auf die Rechnerarchitektur des Controllo und schilderte sie Gisol. »Erstaunlich«, bemerkte der. »Da sind ein paar Kleinigkeiten, die ich nicht kenne. Versuchen
Sie mal, den Tril-Phent von der Gan-Basis zu lösen. Das müßte...«
Doorn seufzte. »Smith, ich habe keine Ahnung, was ein Tri-dingsbums und diese Basisgans
sind. Beschreiben Sie mir die Teile!«
Gisol begann zu erklären.
»Noch 45 Sekunden«, meldete Burton.
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»Dann hätten wir vielleicht doch noch eine Chance, die Flash zu erreichen und auszufliegen.
Auch die POINT OF sollte es versuchen«, schlug Burton vor. »Neuberechnung
abgeschlossen: Die Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg beträgt 12 Prozent.«
»Der Checkmaster hat den Zentralen Controllo manipuliert«, sagte Artus übergangslos. »Er
hat die Zeitzählung verdoppelt, seit das Tri-Phent nicht mehr mit der Gan-Basis verbunden
war.«
»Wieviel Zeit bleibt uns jetzt effektiv noch?« fragte Burton.
Doorn achtete nicht mehr darauf. »Smith, ich sehe hier Symbole auf den Tasten, die ich nicht
kenne. Sagen Sie mir, wie die Symbole aussehen, auf die ich drücken muß.«
»Sofort, Arc. Aber mit der letzten Eingabe müssen Sie zugleich eine andere Rechnerkomponente als Kontrollinstanz installieren.« Artus hatte mitgehört. »Ich stehe zur Verfügung. Wie erfolgt die Installation?« »Sie kann über folgende Funkfrequenz erfolgen, die dann nicht mehr unterbrochen werden darf, solange die Kontrolle stattfindet.« Gisol nannte die Zahl. »Gespeichert und geöffnet. Bin bereit«, erklärte Artus. Gisol beschrieb Doorn die Tasten, die er zu betätigen hatte. Es war eine Folge von einundzwanzig Zeichen. »Fertig...« »Übernehme Kontrolle«, sagte Artus. Und dann: »Übernahme nicht möglich...« »Das ist doch eine dreimal verfluchte...« setzte Doorn zornig an, sah Amy Stewarts tadelnden Blick und vollendete seine Verwünschung auf russisch. »Smith, wieso kann Artus diesen Controllo immer noch nicht unter seine Kontrolle nehmen? Was läuft hier eigentlich für ein Scheißspiel? Ich kündige, verdammt noch mal! Ich geh' nach Hause, sofort...« »Ich habe nicht die geringste Ahnung«, erwiderte Gisol. »Es 212 hätte funktionieren müssen!« »Der Checkmaster meldet, daß er sich als Kontrollinstanz installiert hat«, sagte Artus plötzlich. »Mit einer Art Vorrangimpuls. Dagegen komme ich nicht an.« »Das heißt also, wir haben es geschafft?« fragte Mark Carrell. »Ja«, sagte Artus. »Aber es ist unfair. Ich wollte es tun. Schließlich bin ich hier bei euch im Risikoeinsatz. Der Checkmaster ruht sich in Sicherheit aus und übergeht mich einfach. Das finde ich gar nicht gut.« »Ja, mein Lieber«, sagte Sass. »Das ist nun mal so im Leben. Die Kleinen machen die Drecksarbeit, und die Großen ernten den Ruhm. Aber wichtig ist doch, daß wir überleben und daß dieser Zentrale Controllo uns jetzt keine Schwierigkeiten mehr machen wird. Oder etwa doch noch?« »Er wird keine mehr machen«, sagte Artus. »Diese Station gehört jetzt uns.« Das allerdings hielten alle anderen für reichlich optimistisch. Die SEARCHER war grob in drei Deckbereiche unterteilt. Oben lagen Unterkünfte und Frachträume, unten befanden sich Maschinenraum, Dozerhangar sowie weitere Frachträume, und die Mitte wurde hauptsächlich von der Kommandozentrale ausgefüllt. Von hier aus erfolgte die Kontrolle der Steuerung und der Waffensysteme. Der ehemalige Frachter war lediglich mit einer leichten Bewaffnung für Notfälle ausgerüstet, allerdings konnte ein suprasensorgesteuertes Gefechtssystem die Geschütze so koordinieren, daß sie in der Wirkung einem viel schwereren Kaliber gleichkamen. Nicht alle Frachträume waren leer. Da die Searcher über keinen M-Antrieb verfügte, waren in einigen davon zusätzliche Deuterium- und Tritiumtanks eingebaut worden, damit auch sehr weite Strecken bewältigt werden konnten - zum Beispiel ein Flug nach 213 M 53, jenem Kugelhaufen, der ursprünglich als letzter Fluchtpunkt für die Menschheit vorgesehen war. Art und Jane Hooker waren inzwischen ein paarmal dort gewesen, um sich um ihr Anwesen auf Eden zu kümmern und bei den Vorbereitungen für die Teil-Evakuierung der Erde mitzuhelfen. Letztere hatte dann glücklicherweise nie stattfinden müssen. M 53 (oder NGC 5024) lag im Sternbild Coma, etwa 56 000 Lichtjahre von Terra entfernt, 40 000 Lichtjahre über der Hauptebene der Milchstraße. Nach dorthin war die SEARCHER nun erneut unterwegs. Außer den Hookers wußte niemand, daß Wallis und seine vier besten Forscher fünf bequeme Quartiere auf dem Schiff belegten. Die Dienstreise fand unter strengster Geheimhaltung statt. Nicht einmal Wallis' Sekretärin wußte Genaueres; sie hatte lediglich den Auftrag erhalten, in nächster Zeit alle wichtigen Termine abzusagen und die
unwichtigen sowieso. Maximal 5000 Lichtjahre konnte die SEARCHER bei jeder Transition überwinden. Damit das Material nicht überlastet wurde, führte das Pilotenduo jedoch nur Sprünge von 3000 Lichtjahren durch, was auch der Energieersparnis diente. Aus den gleichen Gründen riskierten sie nur einen Sprung alle sechs Stunden. Der gesamte Flug würde also fast fünf Tage dauern, Rückflug nicht mit eingerechnet. Theoretisch konnte das diskusförmige Schiff von einer einzigen Person geflogen werden. Weil das aber mit größter Anstrengung und ständiger Aufmerksamkeit verbunden war, ließen sich Art und Jane von Robotern unterstützen. Derzeit befanden sich fünf Billigroboter mit an Bord sowie zwei hochleistungsfähige Kegelroboter namens Cash und Carry. Die beiden Kegel hatten früher Terence Wallis beim Golf begleitet, als Caddys und Diskussionspartner - bis er ihrer überdrüssig geworden war. Daraufhin hatte er sie den Hookers überlassen. Auf dem Planeten Uriah, den Art und Jane zuerst als Fluchtplatz für die Menschheit in Erwägung gezogen hatten (was sich aber als Fehlgriff entpuppt hatte), waren die Roboter von einem 214 seltsamen Steinriesen-Fremdvolk manipuliert worden und hatten sich auf merkwürdige Weise verändert. Cash unterhielt sein Umfeld seither mit spontanen Opernarien, während sich Carry manchmal zum Philosophieren hinreißen ließ. Ansonsten benahmen sie sich wie ganz normale Roboter, die sie ja auch waren. Als leblose Maschinen waren sie sich ihres Verhaltens gar nicht bewußt; die Arien und philosophischen Texte entnahmen sie ihren Speichern. Uriah durfte von den Menschen nie mehr angeflogen werden, so war es mit den riesigen Ureinwohnern, die sich inzwischen wieder in eine Art Ewigkeitstrance versetzt hatten, vereinbart worden. Eden lag nur wenige Lichtjahre davon entfernt, auf der der Milchstraße abgewandten Seite des Kugelhaufens, und wies noch günstigere Lebensbedingungen für terranische Siedler auf. Von der Größe und der Gravitation her ähnelte dieser Planet der Erde, die Zusammensetzung der Atmosphäre war praktisch identisch. Zudem verfügte Eden über einen Mond. Nach terranischer Zeitaufteilung dauerte ein Edentag exakt 25 Stunden, 25 Minuten, 25 Sekunden und 25 Zehntel - ein zufälliges Phänomen ohne besondere Bedeutung. Ein Edenjahr zählte 333 Edentage. Bis zur Ankunft vertrieb sich jeder Passagier der SEARCHER die Zeit auf seine eigene Weise. Terence Wallis war als einzigem Sinn und Zweck dieser Reise bekannt. In seiner Kabine stellte er Planungen, Berechnungen und Überlegungen an, über die er mit niemandem an Bord sprach. Sein weiteres Vorgehen hatte er noch nicht vollständig durchdacht, zunächst einmal war er seinen spontanen Eingebungen gefolgt. Zwar wußte Wallis, was er wollte, doch über die exakte Durchführung seiner ehrgeizigen Zukunftspläne hatte er sich bisher keine greifbaren Gedanken gemacht. Es fehlte ihm der zündende Funke, die rettende Idee... Auch Robert Saam saß vor seinem Suprasensor und rechnete und plante. Das gehörte bei ihm zum gewohnten Alltag. Selbst 215 ohne konkrete Zielsetzung hatte er ständig irgend etwas auszutüfteln. Die besten Einfälle bescherte ihm der Zufall. Je mehr er sich anstrengte, ein Problem zu lösen, um so schwieriger erschien es ihm. Ging er die Sache jedoch locker an, flogen ihm die Ideen nur so zu. Momentan war es mit seiner Lockerheit allerdings nicht weit her. Seit dem Start ins All fiel es ihm schwer, sich auf seine wie auch immer geartete Arbeit zu konzentrieren. Ständig mußte er an Regina denken - an den kurzen Augenblick im Labor, in dem sie sich ganz nahegekommen waren. Rund fünf Tage Flug durch die unergründlichen Weiten des Weltraums lagen vor ihnen. Fast eine ganze Woche, in der alles oder auch nichts passieren konnte.
Robert war fest entschlossen, die Gunst der Stunde zu nutzen. Wissenschaftlicher Erfolg allein machte auf Dauer nicht glücklich. Jedes denkende und fühlende Lebewesen brauchte auch etwas fürs Herz. Regina Lindenberg empfand das ebenso. Sie hielt sich die meiste Zeit über in der kleinen Bordbibliothek auf, wo es außer zeitgemäßen Datenträgern auch echte Bücher (!) gab. Hier bildete sie sich weiter, oder sie las nur so zu ihrem Vergnügen, je nach Lust und Laune. Und wenn sie ihre Nase gerade nicht in ein Buch steckte, dachte sie an Robert, der ihr Herz mehr berührt hatte, als sie sich eingestehen mochte. Mit Herzensangelegenheiten hatte Saram Ramoya nicht sonderlich viel am Hut. Zwar verstand er sich wie kein anderer darauf, Frauen genau die Komplimente zuzuflüstern, die sie hören wollten, doch mit wahrer Liebe hatte das nur wenig gemein. Seine Gefühle wurden überwiegend von seinen Hormonen gesteuert. Regina »flachzulegen« betrachtete er als eine sportliche Herausforderung. Zwar entzog sie sich ihm immer wieder und hielt seinen Annäherungsversuchen stand, aber gerade dieses Verhalten heizte seinen männlichen Ehrgeiz noch mehr an. Sie spielte nur mit ihm, davon war der gutaussehende Inder fest überzeugt. Früher 216 oder später... Liebe und Triebe waren derzeit keine relevanten Themen für George Lautrec, der sich in seiner Bordunterkunft ganz und gar der Carborit-Forschung widmete. Es wurmte ihn unsagbar, daß er den vielfältigen Versuchen, die auf Terra durchgeführt wurden, nicht beiwohnen konnte. Deshalb absolvierte er ein paar eigene Tests als Simulation auf dem Suprasensor. Das war zwar nicht dasselbe wie die realen Experimente in den Labors von Wallis Industries, aber besser als nichts. Zwischendurch suchte er immer mal wieder das bescheidene Labor der SEARCHER auf, doch zum Erzielen von brauchbaren Ergebnissen fehlten ihm die nötigen Materialien und Zutaten. Am liebsten hätte sich George mit seinen Laborassistenten in Verbindung gesetzt, solange Terra noch in Hyperfunkreich weite war. Leider hatte Wallis ein Funkverbot über das Schiff verhängt, damit sich keiner verplappern konnte. Nur die Hookers durften im Ausnahmefall mit der Erde in Verbindung treten, wobei es ihnen nicht erlaubt war, über die Anwesenheit und Identität ihrer Passagiere zu sprechen. Offiziell befand sich die SEARCHER auf einem Privatflug nach Eden, was nichts Ungewöhnliches war, schließlich besaß das Prospektorenehepaar dort einen Inselkontinent. Die restlichen 97,5% des Planeten gehörten Wallis Star Mining - und somit Terence Wallis persönlich. Die Regierung hatte keinen Anspruch mehr auf ihr ursprünglich vereinbartes Viertel, schließlich war sie aus dem WSM-Gesellschaftervertrag ausgeschieden. So sah es zumindest der Multimilliardär. In Wahrheit war bei der Auflösung des Vertrages, beziehungsweise bei der Rückgabe des fünfundzwanzigprozentigen Regierungsanteils gar nicht über Eden gesprochen worden. Die Verhandlung hatte sich ausschließlich ums AchmedAsteroidensystem gedreht. Daß Eden ebenfalls davon betroffen war, empfand Wallis als Selbstverständlichkeit. Mit dem Ausstieg aus der Gesellschaft 217 waren sämtliche bisherigen Vereinbarungen mit der Regierung hinfällig. Natürlich erwartete Wallis nicht, daß Dhark und Trawisheim das so einfach hinnehmen würden. Ganz im Gegenteil, er rechnete mit einem Haufen Ärger. Aber war Ärger nicht das Salz in der Suppe des Lebens? 218 12.
»Ich weiß alles, Fortrose.«
Liao Morei schaute den unscheinbaren Anwalt mit ernster liene an. In ihrer Hand hielt sie ein Stück Folie, einen Farbausjck ihres Suprasensors. Alex B. C. D. E. Fortrose, der hinter seinem viel zu großen Büroschreibtisch noch kleiner wirkte als sonst, machte ein ratloses Gesicht. Er bearbeitete gerade ein paar Kanzleiunterlagen und hatte eigentlich nicht gestört werden wollen. »Sie sprechen in Rätseln«, bekannte er. »Normalerweise empfange ich keinen unangemeldeten Besuch. Bei Ihnen habe ich eine Ausnahme gemacht, weil ich annahm, es sei wichtig. Kommen Sie bitte zur Sache.« »Ist Ihnen illegaler Handel mit Drogen wichtig genug?« fragte ihn die Chinesin. »Sie sind enttarnt, Fortrose. Die Presse berichtet bereits ausführlich über Ihr Doppelleben.« Sie legte die Folie auf seinen Schreibtisch. Siebzigjähriger Anwalt wegen Rauschgifthandels angeklagt! stand darauf zu lesen. Darunter war eine Fotografie des Angeklagten abgebildet. Neben dem Foto befand sich ein zweispaltiger Bericht. »Im Zuge meiner derzeitigen Ermittlungen stochere ich gerade ein bißchen im Medienbereich herum«, erklärte ihm Liao. »Dabei fiel mir zufällig diese aktuelle Meldung von Intermedia ins Auge. Finden Sie nicht auch, daß Ihnen der Dealer ziemlich ähnlich sieht?« Fortrose besah sich die Folie näher und schüttelte den Kopf. »Was für ein häßlicher Bursche.« »Sie beide haben sogar denselben Vornamen: Alex«, fuhr Liao fort. »Na ja, eigentlich heißt er Alexander. Und genaugenommen hat er den Anwaltsberuf seit drei Jahrzehnten nicht mehr ausgeübt. Drogengeschäfte erschienen ihm wohl lukrativer und weniger 219 anstrengend. Alexander Helmut Wagner ist gebürtiger Deutscher und treibt seit Jahren in Marseille sein Unwesen. Jetzt geht es ihm wohl endlich an den Kragen.« »Solchen gewissenlosen Verbrechern ist nur schwer beizukommen«, entgegnete Wallis' Firmenanwalt und legte die Folie beiseite. »Jede Wette, daß er sich bald wieder auf freiem Fuß befindet. - Und nun heraus mit der Sprache: Was wollen Sie von mir? Sie sind doch nicht allen Ernstes gekommen, nur um mir diesen Medienbericht zu zeigen?« »Nein, damit wollte ich nur die Gesprächsatmosphäre etwas auflockern«, gab die Chinesin schmunzelnd zu. »Ich habe nämlich eine große Bitte an Sie.« Sie nahm Platz und ließ die Folie achtlos im Papierkorb verschwinden. »Ich weiß ja, daß Sie als Rechtsanwalt zum Schweigen verpflichtet sind, was Ihren Mandanten betrifft. Dennoch möchte ich Sie bitten, mir den momentanen Aufenthaltsort von Terence Wallis zu nennen, damit ich ihn über den Stand meiner Ermittlungen unterrichten kann. Seit fast einer Woche ist er wie vom Erdboden verschluckt.« »Wie kommen Sie darauf, daß ausgerechnet ich darüber informiert bin, wo Mister Wallis sich aufhält?« wunderte sich der Anwalt. »Seine Sekretärin gab mir den Tip«, antwortete Liao Morei. »Bevor Wallis zahlreiche Termine verlegen ließ und diverse Aufgaben auf die Schnelle delegierte, soll er am Vipho mit Ihnen gesprochen haben. Sie haben in Cleveland etwas für ihn erledigt.« »Nur belanglose Geschäfte«, erwiderte Fortrose. »Außerdem sollte ich die Hookers auffordern, umgehend ihren Urlaub abzubrechen und sich in Wallis' Büro zu melden.« »Art und Jane machten Urlaub in Cleveland?« »Sie hatten wohl gehofft, Wallis würde sie dort nicht vermuten. Doch sie haben ihn unterschätzt, er war jede Sekunde über ihren Aufenthaltsort informiert. Wahrscheinlich hat er den beiden einen Schatten angehängt, einen Mitarbeiter der Sicherheitsabteilung. Darüber müßten Sie eigentlich besser Bescheid wissen als ich.« Liao winkte ab. »In letzter Zeit bin ich ständig im Sondereinsatz. Wallis betraut mich mit den seltsamsten Aufgaben. Der alte Fuchs plant etwas, aber bislang ist es mir noch nicht gelungen,
herausfinden, was in seinem Kopf vorgeht. Manchmal grübelt er tagelang über irgendwas nach. Dann wiederum trifft er Entscheidungen ganz spontan, einfach aus dem Bauch heraus. Ich werde nicht schlau aus ihm. Welchen Eilauftrag könnte er den Hookers erteilt haben?« Fortrose zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nichts Näheres, ehrlich. Soweit ich unterrichtet bin, sind beide in privater Angelegenheit nach Eden unterwegs.« »Wäre die Sache privat, hätten sie nicht ihren Urlaub abbrechen müssen. Nein, ich bin überzeugt, Wallis hat sie nach Eden geschickt. Oder ganz woanders hin - Eden könnte nur ein Vorwand sein. Möglicherweise befindet sich der Chef sogar mit an Bord der SEARCHER.« »Sie sind die engste Vertraute unseres Brötchengebers«, sagte der Anwalt und reichte ihr über den Tisch hinweg die Hand. »Wenn die Zeit gekommen ist, wird er Sie garantiert in alle Einzelheiten einweihen. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, aber ich habe noch viel zu tun und möchte pünktlich Feierabend machen.« Liao verabschiedete sich von ihm und verließ nachdenklich das Büro. Kaum war sie fort, holte Fortrose die Folie aus dem Papierkorb und nahm sie noch einmal näher in Augenschein. Anschließend stellte er sich vor den Spiegel und betrachtete sich selbst. »Nie im Leben sieht mir dieser Strolch ähnlich«, murmelte er kopfschüttelnd. 221 Durchs Weltall reisen, fremde Sonnensysteme besuchen - noch vor wenigen Jahrzehnten war das als Wunschtraum unbelehrbarer Science-Fiction-Fans und -Autoren abgetan worden, die sich mit der Realität nicht abfinden wollten. Doch der Fortschritt hatte sich nicht zerreden lassen. Was gestern noch mild belächelte Zukunftsphantasien waren, stellte heute die ganz normale terranische Wirklichkeit dar. Früher hatte der Weg ins All nur gut ausgebildeten Astronauten oder zahlungskräftigen Millionären offengestanden. Sonderlich weit waren die Sternenreisenden nie gekommen, ihren heimatlichen Himmelskörper hatten sie stets im Blickfeld behalten. Heutzutage, im April 2059, waren die nahegelegenen Planeten für jeden Bürger erreichbar, und die Terranische Flotte hatte inzwischen nicht nur fremde Systeme, sondern auch eine neue Galaxis erkundet. Augenblicklich war Drakhon zwar wieder in unerreichbare Ferne gerückt, doch das Wiedersehen mit den Galoanern, Owiden, Rahim, Nomaden und all den anderen Völkern dort war - vielleicht - nur eine Frage der Zeit. Über Flüge durchs All war schon viel geschrieben und berichtet worden. Unbekannte, endlose Weiten versetzten die Raumfahrer immer wieder aufs neue in Faszination und weckten die Abenteuerlust in ihnen. Allerdings durfte man die Gefahren, die da draußen überall lauerten, niemals unterschätzten. Deshalb mußten die Schutz- und Abwehreinrichtungen ständig erneuert und verbessert werden. Die engen Kapseln von einst hatte man längst ins Museum verbannt, es gab jetzt bequemere Raumfahrzeuge. Insbesondere die größeren Schiffe glichen fliegenden Häusern, manche stellten sogar Kleinstädte in den Schatten. Den Passagieren mangelte es an nichts - außer an uneingeschränkter Bewegungsfreiheit. Zwar existierten riesige Kreuzer, die man fast schon als eigene kleine Welt bezeichnen konnte, doch auch dort wurde man zwangsläufig mit einer unüberwindlichen Barriere konfrontiert: mit der Außenwand des Raumers. 222 Den Passagieren auf der SEARCHER erging es nicht anders. Zum Ende des Fluges hin kamen sie sich vor wie Vogelspinnen in einem artgerecht ausgestatteten Terrarium. Die regelmäßige Fütterung und der geregelte, höhepunktlose Tagesablauf machten sie träge, weshalb sie es kaum erwarten konnten, ihren Käfig zu verlassen und auf die Jagd zu gehen. Die Landung auf Eden stand kurz bevor. Jeder an Bord zog seine persönliche Reisebilanz. Terence Wallis war ein paarmal versucht gewesen, das in seinen Diensten stehende Spezialistenquartett in seine Pläne einzuweihen. Letztlich hatte er sich jedoch dafür entschieden, damit noch ein wenig zu warten. Da er mit seinen Überlegungen nicht über einen gewissen Punkt hinauskam und aufgrund seiner Geheimniskrämerei mit niemanden darüber
diskutieren konnte, hatte er sich während der zweiten Hälfte des Fluges weitgehend darauf beschränkt, die Freizeiteinrichtungen zu nutzen. Auch George Lautrec hatte sich die meiste Zeit über Zerstreuungen hingegeben. Mit seinen im kleinen Rahmen durchgeführten Berechnungen und Forschungen auf dem Carborit-Gebiet kam er schon seit geraumer Weile nicht mehr weiter. Er benötigte die Testergebnisse aus den Labors von Wallis Industries. Bevor er nicht wußte, wie die Versuche dort verlaufen waren, würde er mit Sicherheit keine Nacht mehr durchschlafen können. Robert Saam kannte die Testergebnisse ebenfalls nicht, was ihm allerdings keine sorgenvollen Gedanken bereitete. Er war fest davon überzeugt, daß auf Terra alles positiv und somit in seinem Sinne verlief. Daß er dennoch abends mitunter nicht sofort in den Schlaf fand, lag an seiner Unzufriedenheit mit sich selbst, genauer gesagt mit seinem unbefriedigenden Privatleben. Zwar hatte er sich redlich Mühe gegeben, Regina während der Reise menschlich näherzukommen, aber er schaffte es einfach nicht, seine Schüchternheit zu überwinden und ihr seine Zuneigung offen einzugestehen. Regina Lindenberg wußte seine Nähe zu schätzen. Robert war in 223 schöner Regelmäßigkeit zu ihr in die Bordbibliothek gekommen und hatte sich lesend zu ihr gesellt. Beide hatten in den vergangenen Tagen so manches interessante wissenschaftliche Gespräch geführt, ohne jedoch ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Hin und wieder war Saram Ramoya mit hinzugekommen und wie ein lüsterner Kater um Regina herumgestreunt. Irgendwann war ihm das Spiel allerdings zu langweilig geworden. Während Saams Anwesenheit war er sich jedesmal vorgekommen wie das dritte Rad am Tretroller - einem primitiven, oft totgesagten Kinderspielzeug, an dem auch Erwachsene ihren Gefallen fanden, und das schon seit vielen Jahrzehnten. > Lediglich für die Hookers war die Zeit wie im Fluge vergangen - im wahrsten Sinne des Wortes. Als Besitzer und Piloten der SEARCHER hatten sie ständig gut zu tun gehabt. Im übrigen betrachteten sie den diskusförmigen Raumer als ihr Zuhause. Davon hatten sie mittlerweile mehr als eines. Aloha auf Eden war für sie wie eine zweite Heimat. Der zwi-, sehen Tropen und Subtropen gelegene Inselkontinent verfügte in etwa über die Landmasse Chinas. Zusammen mit den zahlreichen Inselgruppen ringsherum und den Aloha umgebenden Wasserflächen nahm der hookersche Privatbesitz 2,5 Prozent der Oberfläche Edens ein. Die SEARCHER landete auf einer Aloha vorgelagerten Insel im Tropengürtel. Dort hatten sich Art und Jane von Robotern ein gemütliches Strandhaus bauen lassen. In einiger Entfernung vom Haus war ein Stück Strandfläche betoniert worden; es diente als Landeplatz. Sanft setzte das Raumschiff dort auf, ein Routinemanöver, das die beiden Grundstückseigentümer schon mehrmals vollzogen hatten. Es war hellichter Tag auf diesem Teil des Planeten. Die Passagiere verließen das Schiff, welches ihnen rund fünf Tage lang als fliegende Unterkunft gedient hatte. Eben noch hatten sie sich über die »Enge« innerhalb des Diskusraumers beklagt -nun strebten Saam, Lautrec, Ramoya und Lindenberg mit ihrem Handgepäck dem Strandhaus zu, als ob sie darin das Paradies erwartete. Lediglich Terence Wallis schlug eine andere Richtung ein. Er schritt dem Meer entgegen. In der Nähe des Hauses gab es eine anheimelnde Badebucht, nur einen kurzen Fußweg entfernt. Wallis zog es jedoch nicht nach dorthin, sondern zu den niedrigen Klippen, die dem einstöckigen Strandhaus direkt gegenüberlagen und an denen sich fortwährend das Wasser brach. Immer wieder stürmte die See heran, zog sich wieder zurück, startete einen erneuten geräuschvollen Angriff... da kein Unwetter herrschte, brandeten die Wellen nicht allzu hoch, so daß sich Wallis den Klippen gefahrlos nähern konnte.
Neben einem von sanften Fluten glattpolierten Felsen blieb er stehen - das war nahe genug. Tief atmete er die gesunde Seeluft ein. Ein sanfter, beruhigender Wind wehte durch sein zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenes langes Haar. Weiter draußen schlug das Meer an ein Korallenriff. Nach einer Weile drehte sich Wallis langsam um und vergewisserte sich, daß die anderen bereits ins Haus gegangen waren. Niemand konnte ihn jetzt hören. Der Multimilliardär wandte sich wieder der See zu, holte noch mal tief Luft und stieß dann einen langgezogenen, markerschütternden Schrei aus. Mit mächtiger Stimme brüllte er gegen das um die Klippen tosende Meer an. Das war seine Art, diesen Planeten in Besitz zu nehmen. Erst als seine Lungen nicht mehr mitspielten, senkte er seine Stimme. Das Brüllen des Meeres war stärker als er. Es klang wie eine Warnung. Was maßt du dir an, Menschlein? Glaubst du wirklich, du könntest mich bezwingen? »Keine Sorge«, sprach Wallis heiser in den Wind. »Ich werde nicht zulassen, daß hier dieselben unverzeihlichen Fehler gemacht werden wie auf Terra. Eden wird für seine zukünftigen Bewohner 225 mehr sein als ein Objekt gnadenloser Ausbeutung. Wir werden dich behandeln wie einen guten Freund.« Terence Wallis drehte sich um und ging gemächlichen Schrittes auf das Strandhaus zu, dessen Front in Richtung der Klippen zeigte. Irrte er sich, oder war das Gebäude tatsächlich als Quadrat angelegt worden? Die Maße der Vorderfront schienen auf den ersten Blick mit den seitlichen Abmessungen identisch zu sein. Terence hatte allerdings nicht die Absicht, das ganze nachzumessen. Direkt über dem ersten und einzigen Stockwerk befand sich ein mit Gras und bunten Wildblumen bepflanztes Flachdach. Einen Dachboden gab es offensichtlich nicht. Wallis vermutete, daß sich die Hookers statt dessen ein Kellergeschoß angelegt hatten. Unter der Erde war es mit Sicherheit kühler als unter dem Dach. Sämtliche Fensterrahmen waren mit Fliegengittern ausgestattet. Zwar konnte Wallis nirgends stechfreudige Insekten entdecken, aber Art und Jane hatten sich bei dieser Maßnahme sicherlich etwas gedacht. Möglicherweise wimmelte es hier am Abend von kleinen Blutsaugern. Augenblicklich bevölkerte lediglich Schmetterlings- und käferähnliches Kleingetier die warme, sonnendurchflutete Luft. Beim Betreten des Hauses staunte der Milliardär nicht schlecht. Dort, wo sich normalerweise die Haupteingangstür hätte befinden müssen, gab es lediglich zwei niedrige Schwingtüren wie im Eingang zu einem Western-Saloon. Nicht gerade ein sicherer Einbrecherschutz, dachte Wallis. Als ihm bewußt wurde, daß sich derzeit nur eine Handvoll Menschen auf Eden aufhielt, schmunzelte er über diesen Gedanken. Diebe gab es weit und breit keine. Wie er kurz darauf feststellte, hatten die Hookers dennoch einige Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Zu seiner Linken befand sich im Mauerwerk eine stabile, bewegliche Tür, die jederzeit elektronisch ausgefahren werden konnte. Vermutlich ließen sich die Fensteröffnungen bei Bedarf auf ähnliche Weise verschließen, mittels 226 versteckter Fensterläden. Dadurch wurde das Haus im Fall eines Angriffs zu einer kleinen Festung. Wallis hielt nach verborgenen Waffen Ausschau, konnte aber keine entsprechenden Wandöffnungen entdecken. Der Eingangsbereich hielt, was die originellen Schwingtüren versprachen. Art und Jane hatten den Vorraum ähnlich einem Saloon eingerichtet - mit kleinen Tischen sowie bequemen
Polstersesseln anstelle von harten Holzstühlen. Es gab sogar eine richtige Theke mit einem breiten Spiegel dahinter. Ein Wallis-Billigroboter, der während der Abwesenheit seiner Besitzer Haus und Grundstück versorgte, schenkte den Gästen Getränke ihrer Wahl ein und servierte sie auf ferngesteuerten Schwebetabletts. Saam & Co. hatten es sich in den Sesseln bequem gemacht. Ihr Handgepäck hatten sie rundum auf dem Fußboden verteilt, irgendein Roboter würde es nachher sicherlich auf ihre Zimmer bringen. Die Hookers betraten ihr Haus. Cash und Carry befanden sich in ihrer Begleitung und trugen ihre Gepäckstücke. Cash hüllte sich in Schweigen, aber Carry ließ sich, angesichts der Unordnung auf dem Boden, zu einer unfeinen Bemerkung hinreißen. »Dreitägiger Fisch taugt auf keinen Tisch. Und dreitägiger Gast wird einem oft zur Last.« »Willkommen in der Villa Paradiso, liebe Freunde«, fuhr Art dem Kegelroboter rasch ins Wort, bevor er begann, ausführlich über den Sinngehalt seiner boshaften Anmerkung zu philosophieren. »Unser Robotbutler zeigt Ihnen nachher gern die Gästezimmer. Sie können zwischen sieben verschiedenen Einrichtungsstilen wählen. Zur Auswahl stehen Rokoko, Biedermeier, zwanzigstes Jahrhundert, griechisch-römisch, Modern Art, geheimnisvolles Persien oder die Präsidentensuite.« »Die nehme ich«, stellte Wallis sogleich klar. »Wird der jeweilige Flair mittels Holoprojektion erzeugt? Oder haben Sie all den Kram von Terra nach Eden transportiert?« 227 »Kram?« entrüstete sich Jane. »Jedes Möbelstück, jeder Teppich und jeder sonstige Einrichtungsgegenstand wurde von meinem Mann und mir sorgsam ausgesucht - bei angesehenen Antiquitätenhändlern. Die Einrichtungspläne wurden von namhaften terrani schen Architekten entworfen und von unseren Robotern perfekt umgesetzt.« »Aber weshalb so viele unterschiedliche Stilrichtungen?« wollte der Milliardär wissen. »Beabsichtigen Sie, hier einen Hotelbetrieb aufzuziehen?« »Hier?« entgegnete Art. »Auf gar keinen Fall. Zwar könnte man über den Bau einiger Hotels an anderer Stelle nachdenken, zu einem späteren Zeitpunkt, aber dieser herrliche Platz bleibt uns und unseren Privatgästen vorbehalten. Wir wollten unser schönes Strandhaus lediglich besonders abwechslungsreich ausstatten. Bei dem vielen Geld, das Wallis Star Mining abwirft, können wir uns solche Vergnügungen leisten.« Er sagte das voller Schadenfreude, denn er wußte, daß Terence Wallis jeder Cent wurmte, den er laut Vereinbarung an die Hookers abdrücken mußte. Auch daß sie sich mit Aloha das »Filetstück« des Planeten herausgepickt hatten, ärgerte ihn. Doch Vertrag war nun einmal Vertrag, das hatte er auch in Bezug auf seine Abmachung mit Trawisheim einsehen müssen. Art gab Cash die Anweisung, das Gepäck der Gäste aufzusammeln und in die gewünschten Zimmer zu bringen. Der Roboter kam dem Befehl sofort nach, und weil Arbeit bekanntlich fröhlich macht, stimmte er die Arie »Letzte Rose« aus der romantischkomischen Oper »Martha« an. Daß es sich dabei eigentlich um eine traurige Arie handelte, ein Abschiedslied, das einer irischen Volksweise nachempfunden worden war, war ihm nicht bewußt -schließlich war er nur eine tumbe Maschine. Cashs Interpretation war so stimmungsvoll, daß man meinen konnte, sich von einem geliebten Menschen zu trennen sei eine lustige Sache. Wallis war zufrieden mit seiner Suite. Die das Zimmer umspannende Fototapete zeigte das Mount Rushmore National Memorial, und an den Wänden hingen Bilder von weiteren, nicht nur amerikanischen Staatsoberhäuptern. Ansonsten war die Suite so luxuriös ausgestattet, wie man es als Präsident eines weltweit bekannten Unternehmens erwarten konnte. Selbst das obligatorische Zigarrenkistchen fehlte nicht. Robert Saam hatte sich für das Zwanzigste-Jahrhundert-Zimmer entschieden, Regina Lindenberg für Rokoko, und George Lautrec gesellte sich zu den Griechen und Römern.
Saram Ramoya war es egal, wo er wohnte. Cash brachte sein Gepäck ins BiedermeierZimmer - dabei war der Inder alles andere als bieder. Obwohl Siegar von ansehnlicher Gestalt war, zählte er auf seinem Heimatplaneten Burun zu den Kleinwüchsigen. Seine dreibeinigen Artgenossen überragten ihn im Durchschnitt um eineinhalb Impf. Wahrscheinlich war das der Grund, weshalb er nur selten unter Burunier ging und statt dessen lieber mit seinem Weltraumgleiter fremde Galaxien besuchte. Es bereitete ihm Freude, neue Welten zu entdecken, besonders dann, wenn die Bewohner dort kleiner waren als er und fasziniert zu ihm aufsahen. Der in einem Kugelhaufen gelegene Planet, auf dem er diesmal gelandet war, schien leider überhaupt nicht bewohnt zu sein, jedenfalls nicht von intelligenten Lebewesen. Siegar konnte nur primitive Daseinsformen ausmachen. Er beschloß, hier eine kleine Reisepause einzulegen und verließ seinen Gleiter. Grüne Büsche und Bäume, knallbunte blühende Blumen, klare Meere und Seen... und dazwischen immer wieder weite Freiflächen. Dieser Planet war ein Naturparadies ohnegleichen, geradezu prädestiniert zum Besiedeln. Siegar legte sich ins Gras, lehnte seinen viereckigen Schädel gegen einen Baumstamm, schloß für einen Moment den Sehschlitz ließ seine Phantasie spielen. Er stellte sich bildlich vor, wie 228 229 sich die fremdartige Atmosphäre dieses Planeten positiv auf seinen Körperwuchs auswirkte und wie er zum Riesen mutierte. In neuer monströser Gestalt kehrte er nach Burun zurück und verbreitete dort Angst und Schrecken unter denen, die ihn wegen seiner Kleinwüchsigkeit immer verspottet hatten... Der Burunier verscheuchte seine düsteren Phantasien, öffnete den Sehschlitz und stand auf. Er nahm sich vor, in Zukunft keinen Gedanken mehr an seine Körpergröße zu verschwenden. Wahre Größe kam schließlich von innen. Was nutzte einem Lebewesen seine mächtige Statur, wenn es dumm war wie Grüff? Siegar wollte zu seinem Raumgleiter zurückkehren, da senkte sich ein großer, tief schwarzer Schatten auf ihn herab. Ein riesiger Rachen öffnete sich, und zweihundertsechzig spitze Zähne schnappten gnadenlos zu. Der unvorsichtige Sternenreisende wurde innerhalb weniger Augenblicke zermalmt und verschlungen. Von einem Urbewohner des Planeten, einem kolossalen fleischfressenden Saurier, dessen Gehirn nicht größer war als ein Staubkorn. : Der Saurier war der letzte Überlebende seiner Art, ein Einzelgänger, und sein erbärmliches Dasein bestand nur aus Fressen und Überleben. Daß er soeben einen anderen Außenseiter verzehrt hatte, war ihm nicht bewußt, und hätte man es ihm mitgeteilt, er hätte es aufgrund seiner mangelnden Intelligenz überhaupt nicht registriert. Noch während er auf seinen säulenartigen Beinen da-vonstapfte, hatte er den blutigen Vorfall bereits vergessen... »Was ist das für ein merkwürdiges Gestell auf Ihrem Kopf?« er" kundigte sich George Lautrec bei Art Hooker. Der Prospektor saß in seinem Zimmer in einem Sessel, mit Blickrichtung zur Tür. Obwohl er leicht weggetreten wirkte, registrierte er, daß jemand den Raum betreten hatte. Art trug ein brillenähnliches Gerät, das er jetzt absetzte. »Ich hatte angeklopft«, entschuldigte sich der Kanadier, »aber es hat niemand reagiert. Haben Sie vergessen, daß wir uns gestern zu einem Rundflug über Eden verabredet haben?« »Nein, natürlich nicht«, antwortete Hooker und schaute auf sein Wandchronometer. »Ich habe unter dem Sensorium nur nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vergangenen ist.« »Sensorium?« wiederholte Lautrec. »Davon habe ich schon gehört. Diese Geräte sind angeblich der letzte Schrei.«
»Wenn Sie Stillschweigen bewahren, leihe ich es Ihnen mal aus«, versprach Art ihm. »Jane war dagegen, daß wir uns so ein Ding zulegen, deshalb habe ich mir eines heimlich gekauft. Gerade eben habe ich es zum ersten Mal ausprobiert. Einfach phantastisch! Holographie ist dagegen kalter Kaffee!« »Und? Was haben Sie sich angeschaut?« »Eine Filmerzählung über einen heimatvertriebenen Außerirdischen, der auf einem unbesiedelten Planeten von einem Saurier gefressen wird. Den Chip gab's gratis als Werbegeschenk - entsprechend ist auch die Handlung einzustufen. Glücklicherweise habe ich mir noch drei weitere Chips gekauft, mit einer Dokumentation über Giftspinnen auf der Venus, einem englischen Edgar-Wallace-Krimi und der Neuproduktion eines weltberühmten Musicalklassikers.« Art Hooker ließ das Sensorium in seiner Schreibtischschublade verschwinden, in welcher auch die zusätzlichen Chips lagen. Anschließend begaben sich George und er zu Wallis und den anderen, die bereits hinter dem Haus auf sie warteten. Dort stand startbereit ein großer Gleiter. Angesichts der vielen Sitzplätze argwöhnte Wallis, daß die Eheleute den Gleiter nicht ausschließlich für eigene Zwecke zu verwenden gedachten. Offensichtlich spielten sie mit dem Gedanken, bezahlte Rundflüge für Touristen anzubieten. In puncto Geschäftstüchtigkeit lernen sie allmählich dazu, achte Wallis anerkennend, während sich der Gleiter in die Lüfte 230 231 erhob. Dabei liegen noch gar keine aktuellen Besiedelungspläne vor. »Gibt es hier eigentlich Saurier?« fragte George Lautrec, in Anspielung auf die SensoriumSzene, die Art ihm geschildert hatte. »Mir sind noch keine begegnet«, erwiderte der Prospektor, der neben ihm saß. Gesteuert wurde der Gleiter von einem Blechmann, so daß sich alle Passagiere voll und ganz auf die Besichtigungstour konzentrieren konnten. Edens Durchmesser war mit dem Terras fast identisch. Auch sonst hätte man Eden durchaus als »Erde zwo« bezeichnen können. Ozeane dominierten die Oberfläche, die nur zu einem guten Drittel von Landmassen bedeckt waren. Acht unterschiedlich große Kontinente (Aloha mitgezählt), die teilweise aneinandergrenzten, bildeten die »Landfraktion«. Sechs davon waren noch ohne Namen, da bislang nur provisorische geographische Karten angefertigt worden waren. Bevor die Gruppe zu den übrigen Kontinenten aufbrach, zeigten Art und Jane ihren Gästen Aloha in seiner ganzen Pracht. Nicht nur Sommerurlauber würden hier auf ihre Kosten kommen. Im ewigen Schnee eines hochalpinen Gebirges hatten sie sich eine rustikale Skihütte bauen und gemütlich einrichten lassen - natürlich von Robotern. Die Hookers hatten allerdings nicht vor, Touristen zu bewirten. Aloha sollte ihr »kleines« Privatparadies bleiben. Auch die übrigen Landstriche konnten sich sehen lassen. Der gesamte Planet sah aus wie eine unberührte Erde. Wallis hatte auf dem Hinflug sämtliche Informationen über Eden studiert, so daß er sich nun als Reiseführer betätigen konnte. »Nach Edens Entdeckung wurden hier zahlreiche Robotsonden ausgesetzt. Sie haben weder gefährliche Keime noch sonstige Lebensformen ausmachen können, die dem menschlichen Organismus schaden könnten. Auch sonst drohen künftigen Siedlern keine Gefahren. Die Vögel und Säugetiere sind friedfertig. Um auf ihre Frage nach Sauriern zurückzukommen, George: Der größte Landbewohner ist ein sechsbeiniges, einäugiges Irgendwas, das ungefähr Dackelgröße hat und bisher über keine biologische Bezeichnung verfügt.«
»Wie steht es mit den Meeresbewohnern?« erkundigte sich die Schweizer Biologin. »Die Meere sind fischreich«, antwortete Terence Wallis. »Gefährliche Unterwasserräuber scheint es keine zu geben.« »Keine Haie oder Muränen?« staunte Saram Ramoya. »Bisher nicht«, erwiderte der Milliardär trocken. »Jedenfalls nicht, bevor sich die ersten Geschäftsleute angesiedelt haben.« Der Besichtigungsflug wurde in gemäßigten Breiten fortgesetzt. Dort hatten Roboter eine große Zahl von Billigunterkünften für die geplante Notevakuierung der Menschheit gebaut. Nun wurden die primitiven Gebäude von denselben Blechmännern wieder abgerissen - wie bei einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Eine Gruppe von sechs Männern und Frauen überwachten die Arbeiten. Als sie den Gleiter erblickten, winkten sie den Insassen zu. Art wies den Roboter an, im Kreis zu fliegen und dabei die Scheinwerfer ein paarmal aufblinken zu lassen. Der Blechmann kam dem Befehl zwar nach, betonte aber, den Zweck dieses seltsamen Flugmanövers nicht zu begreifen. »Warum läßt du die Unterkünfte eigentlich abreißen, Terence?« erkundigte sich Robert Saam bei seinem Freund und Gönner. »Über kurz oder lang soll Eden doch sowieso besiedelt werden.« Wallis nickte. »Mehr über lang als über kurz. Da wir uns mit der Besiedelung jetzt viel Zeit lassen können, brauchen wir uns nicht auf billige Baracken zu beschränken, sondern können solide Häuser errichten. Die ersten Baupläne sind bereits in Arbeit. An diesem Platz werden jedoch keine Wohnsiedlungen entstehen. Ich beabsichtige, hier meine neue Firmenzentrale einzurichten. Nach und nach soll mein gesamter Firmensitz nach Eden verlagert werden.« »Einfach so?« wunderte sich Jane Hooker. »Müssen Sie nicht 232 233 erst mit der Regierung darüber verhandeln?« »Dhark und Trawisheim sind raus aus dem Rennen«, erklärte Wallis. »Eden gehört jetzt ausschließlich Wallis Star Mining. Im Klartext: Ihnen und Ihrem Mann gehört Aloha - der Rest des Planeten ist mein Privatbesitz. Ohne meine Einwilligung darf sich hier niemand ansiedeln. Übrigens plane ich, die Industrie prinzipiell unter der Erdoberfläche verschwinden zu lassen, nach dem Vorbild der Rahim, von deren Lebensumständen mir berichtet wurde. Eden soll weitgehend seinen natürlichen Charakter behalten.« »Und um uns das mitzuteilen, haben Sie uns nach hierher verschleppt?« fragte Regina Lindenberg. »Hauptsächlich wollte ich euch einen Vorschlag unterbreiten. Ich beabsichtige, die erste Gruppe Siedler so bald wie möglich nach Eden zu verbringen. Handverlesene, risikobereite Freiwillige, deren Dossiers ich mir persönlich vornehmen werde. Ich möchte, daß ihr vier Sie, George, Sie, Regina, Sie, Saram, und du, Robbie - euch dieser Pioniergruppe anschließt. Ihr werdet die Spitze einer Elite bilden, die Eden zum wirtschaftlich wichtigsten Planeten des bekannten Weltalls machen wird, ohne das vorhandene Paradies aus Leichtsinn und Unvernunft zu zerstören.« »Abgelehnt«, äußerte sich Robert Saam unmißverständlich. »In Pittsburgh habe ich exakt die Arbeitsbedingungen, die ich für meine vielfältigen Forschungen benötige. Du hast bislang von meinem Genius nicht schlecht profitiert. Wenn das so weitergehen soll, darfst du mich keinesfalls in diese Einöde abschieben.« »Wir werden auf Eden neue Labore und Werkstätten errichten«, versicherte ihm der Multimilliardär und fügte pathetisch hinzu: »Größer und schöner als alles zuvor.« Robert verhielt sich weiterhin ablehnend. »Bis das neue Unternehmen den Standard des alten erreicht hat, bin ich alt und grau.« Nun schlug Lautrecs große Stunde.
»Ich weiß, wie Ihnen beiden geholfen werden kann«, verkündete er geheimnisvoll - und jeder im Gleiter spitzte die Ohren (bis auf den Roboter, der keine hatte). Spontane Geistesblitze waren eigentlich Saams Privileg. Doch George hatte einen Einfall, der sämtliche bisherigen Ideenrekorde um Längen schlug. Er sagte nur ein einziges Stichwort: »Carborit.« 234 235 13. In der Tat stand die Erron-Station den Terranern nun offen. Die Giants kooperierten mehr oder weniger bereitwillig. Sie blieben mißtrauisch. Wären sie reine Roboterkonstruktionen, hätten sie den neuen Anweisungen des Zentralen Controllo bedingungslos gehorcht. Aber sie waren eben auch lebendig, und der biologische Anteil leistete den Anweisungen des silbrigen Schlangenkörpers Widerstand, in dem sich die Hytronik verbarg. Sie wußten nur zu gut, daß sie bis vor kurzem noch die »Verdammten« bekämpft hatten. Und jetzt sollten sie mit ihnen zusammenarbeiten. Das gefiel ihnen nicht. Sie schienen zu ahnen, daß der jähe Sinneswandel des Controllo nicht mit rechten Dingen zuging. Aber sie hatten ihm zu gehorchen. Ren Dhark kam in die Zentrale der Station. Gisol hätte ihn liebend gern begleitet, konnte die POINT OF aber nicht verlassen. Die merkwürdige Strahlung war, wie sich bei einem weiteren Test mit einer unglücklichen Kakerlake herausstellte, auch innerhalb der Erron-Station wirksam. Also blieb dem Worgun nichts anderes übrig, als weiter in der POINT OF zu verbleiben und über Helmvipho Kontakt mit Dhark und den anderen zu halten. So mißtrauisch die Giants waren, so mißtrauisch zeigte sich auch Ren Dhark. Er traute diesen Wesen nicht über den Weg. Jedesmal, wenn er eines dieser raubtierköpf igen, gelbhäutigen Geschöpfe sah, mußte er an die Erde denken. An damals, als sie mit der POINT OF von Hope zurückkehrten und feststellen mußten, daß während ihrer Abwesenheit das Sol-System von den Giants besetzt und unterjocht worden war. Immer wieder tauchten die Bilder von mental versklavten Menschen vor ihm auf, deren Gehirne durch die CE-Strahlung der Giants zu Funkempfängern gemacht worden waren. Menschen als willenlose Marionetten, die ohne entsprechende Befehle der Invasoren nicht einmal essen oder 236 schlafen konnten... Die hiesigen Giants hatten damit nichts zu tun, das wußte er. Keines dieser Biostrukte, wie Gisol sie nannte, war jemals in der Milchstraße gewesen; vermutlich ahnten sie nicht einmal, daß ihre »Artverwandten« dort unter dem Befehl des CAL eigene Wege gegangen waren. Und doch - die einen wie die anderen waren Giants, und so wie jene in der Milchstraße nannten sich auch diese hier in Orn »All-Hüter«! Und die bösen Erinnerungen an die damaligen Kämpfe und Gefahren ließen sich nicht einfach beiseiteschieben. Der Verstand sagte Ren, daß eines mit dem anderen nichts zu tun hatte, aber das Gefühl schrie ihm zu, es mit Feinden zu tun zu haben. Zu bitter waren die Erinnerungen an einst. Giants und Mysterious... All-Hüter und Worgun. Die Zentrale der Station war riesig. Der Zentrale Controllo stellte nur einen kleinen Teil dar, und seit er unter dem Befehl des Checkmasters stand, hatte sich der Raum erheblich verändert. Wände waren im Fußboden oder in der Decke verschwunden. Der riesige Saal erinnerte Ren an Erron-1, war aber dennoch anders aufgebaut. Teilweise kam es ihm so vor, als hätte man hier mehrere Ringraumerzentralen ineinander verschachtelt. Der Kommandositz immerhin war unverkennbar.
Dhark nahm darin Platz. Er versuchte, Kontakt mit der Gedankensteuerung der Station zu bekommen und hatte auf Anhieb Erfolg. Auf diesem Weg setzte er sich mit dem Zentralen Controllo in Verbindung. Er verlangte Informationen. Die kamen mit kurzer Verzögerung. Offenbar war der Controllo von sich aus doch nicht ganz so kooperativ, aber der Checkmaster zwang ihn dazu, sein Wissen preiszugeben. Er stellte die höhere Instanz dar, und an dieser kam der Controllo nicht vorbei. Er hatte dem Vorrangbefehl zu gehorchen, und der verlangte, Ren Dhark die angeforderten Informationen zur Verfügung zu stellen. So erfuhr der Commander, daß die POINT OF als »das Schiff der 237 Meister« in der Gaswolke erwartet worden war, daß der Zentrale Controllo aber »überrascht« darüber war, daß sie von »Verdammten« gelenkt wurde. »Wir wurden erwartet?« hakte Dhark nach. »Wieso?« Der Controllo teilte ihm mit, daß die entsprechende Information vom Planeten Golden gekommen war - natürlich nannte er eine andere Bezeichnung, aber es war völlig klar, welche Welt damit gemeint war. Über Vipho rief Dhark die Funk-Z der POINT OF an. »Feststellen, ob während unseres Aufenthalts auf Golden oder später ein Hyperfunkspruch vom Planeten hierher geschickt wurde.« »Negativ, Dhark«, meldete Funker Elis Yogan kurz darauf. »Nichts gespeichert. Wenn es tatsächlich einen solchen Funkspruch gegeben hat, dann wurde der auf einer Frequenz gesendet, die von der POINT OF nicht erfaßt werden kann. Hätte mich auch stark gewundert, wenn uns da irgendwas entgangen wäre. Übrigens, Commander, ich habe eben mal die Echokontrolle benutzt und Golden abgetastet. Dort gibt's ein paar hundert sende- und empfangsklare Hyperfunkgeräte.« Das paßte. Wie auf Babylon, mußten auch die Goldenen Menschen von Golden mit leistungsstarken Sendern und Empfängern ausgerüstet sein und nicht nur als unwahrscheinlich stark bewaffnete Wächter fungieren. Dennoch blieb rätselhaft, auf welche Weise die POINT OF hier avisiert worden war. Der Zentrale Controllo ließ sich darüber nicht weiter aus. Statt dessen verdeutlichte er Dhark, daß das »Schiff der Besiegten« nicht in die Wolke einfliegen sollte. Dharks Rückfrage ergab, daß mit diesem Begriff eindeutig die EPOY gemeint war. »Controllo, nach welchen Kriterien unterscheidest du zwischen dem >Schiff der Meisten und dem >Schiff der Besiegtem? Wie kannst du Unterschiede treffen und definieren?« Darauf antwortete der Controllo nicht. In diesem Fall übte auch der Checkmaster keinen Druck aus. Offenbar war die Frage irrelevant. 238 Zumindest für die Logik der beiden Superrechner. Aber immerhin ließ der Controllo sich dazu herab, klarzustellen: »Das Schiff der Besiegten ist von den All-Hütern zu untersuchen und gegebenenfalls zu zerstören.« »Das wird keinesfalls gestattet«, sagte Ren Dhark. »Diese Anordnung hat untergeordnete Priorität. Dem Schiff der Besiegten wird der Weiterflug oder die Rückkehr nicht gestattet.« »Aber die POINT OF darf weiterfliegen?« »Das Schiff der Meister soll in seinen Aktionen nicht eingeschränkt werden«, gab der Controllo zu verstehen. »Eine schützende Begünstigung des Schiffes der Besiegten kann hingegen nicht toleriert werden.« Ren seufzte. Er nahm wieder Funkkontakt mit Gisol auf und berichtete ihm von dem, was er via Gedankensteuerung als Vermittler vom Controllo erfahren hatte.
»Eine Untersuchung und Zerstörung der EPOY ist indiskutabel«, sagte Gisol scharf. »Das müssen wir diesem verdammten Controllo begreiflich machen. Die EPOY ist mein Schiff. Was damit geschieht, bestimme nur ich und niemand sonst, schon gar nicht ein größenwahnsinnig gewordener Hyperkalkulator, der als Controllo fungiert. Ren, ich versuche das über den Checkmaster dem Controllo klarzumachen, ja?« »Wenn du's schaffst... meinen Segen dazu hast du«, erwiderte der Commander, fragte sich aber, auf welche Weise Gisol den Checkmaster zu einer solchen Aktion bringen wollte. Und er fragte sich, wie der Controllo seine Forderungen durchsetzen wollte, obwohl er vom Checkmaster kontrolliert wurde. Wie erwartet, kam es zu Schwierigkeiten - allerdings auf beiden Seiten. Der Zentrale Controllo bestand nach wie vor auf seiner Forderung, und der Checkmaster konnte ihn davon nicht abbringen. Es schien, als sei das Grundprogramm des Hyperkalkulators nicht zu knacken. Fünf Giants hielten sich seit einer halben Stunde in der Zentrale der Erron-Station auf. Sie ignorierten die Terraner und gingen friedlich ihrer Arbeit nach, worin auch immer diese bestehen mochte. Dennoch blieben die Cyborgs wachsam und mißtrauisch. Sass und Oshuta, der kleine Japaner mit dem Temperament einer Quecksilberkugel, hielten sich bereit, Dhark jederzeit zu schützen. Einmal sah der Commander zu Artus hinüber, der sich ebenso wie die Cyborgs immer noch vor Ort befand. Er fragte sich, wie der Roboter mit dem Controllo hätte zurechtkommen wollen, wenn das schon der Checkmaster nur teilweise schaffte. »Wenn das Mistding weiter Widerstand leistet, baue ich's aus und werfe es auf den Schrott«, drohte Arc Doorn an. Im gleichen Moment richteten fünf Giants, die sich seit ihrem Dienstantritt nicht für die Terraner interessiert hatten, ihre Strahlwaffen auf den Sibirier. Schlangenzischen wurde laut. Die Giants dachten keine Sekunde lang daran, daß kein Terraner ihre Sprache verstand. Aber sie selbst verstanden die Sprache der Cyborgs! Nicht nur Sass und Oshuta, sondern auch die anderen hielten plötzlich ebenfalls ihre Blaster in den Händen, und selbst Artus demonstrierte deutlich, daß er bewaffnet und durchaus bereit war, seine Waffe gegen die Biostrukte einzusetzen. »Sieht so aus, als hätten die Giants etwas dagegen, daß Sie den Controllo zerlegen wollen, Doorn«, vermutete Dhark. »So wie Smith etwas dagegen hat, daß sie seine EPOY zerlegen«, knurrte Doorn. »Offenbar kommen wir alle nicht richtig miteinander klar. Wenn wir wenigstens die Giants verstehen könnten - die verstehen nämlich verdammt gut, worüber wir uns unterhalten!« Ungeachtet der Strahlwaffen ging Dhark auf die Giants zu und blieb direkt vor einem von ihnen stehen. Er mußte den Kopf in den Nacken legen, um dem vierarmigen Riesen ins Raubtiergesicht sehen zu können. »Mach dem Zentralen Controllo begreiflich, daß er 240 zerstört wird, wenn er weiter auf seiner unannehmbaren Forderung beharrt! Aber so, wie ihr uns nicht zwingen könnt, die EPOY auszuliefern, könnt ihr uns auch nicht an der Zerstörung des Controllo hindern. Auch mit euren lächerlichen Waffen nicht!« Er griff zu und nahm dem völlig überraschten Giant den Blaster aus der Hand, warf ihn weit von sich. »So einfach geht das, Freundchen. Und jetzt erzähl deinem Controllo, woran er ist!« > : Geradezu wütendes Schlangenzischen war die Antwort. Plötzlich redeten alle fünf Giants wild durcheinander, bis einer von ihnen sich plötzlich an seinen Arbeitsplatz zurückbegab und Eingaben an einem Tastenfeld machte. Blitzschnell war Artus neben ihm, um ihm auf die Finger zu sehen.
»Ach, so machen die das«, sagte er dann. »Wenn wir das vorher gewußt hätten, hätten wir uns nicht mit dem Öffnen der Verkleidung herumplagen müssen! Diese Bedienungskonsole ist viel besser als die interne! Unser Mister Smith scheint, was die Technik seines Volkes angeht, nicht gerade auf dem aktuellsten Stand zu sein.« Doorn trat neben den Commander. »Dhark, hatten Sie eben vor, Selbstmord zu begehen, als Sie dem Giant fast auf die Füße getreten sind? Ich hätte beinahe einen Herzinfarkt bekommen.« »Sie doch nicht, Are!« erwiderte Ren. »Ich gebe zu, daß mir bei der Sache nicht ganz wohl war, aber ich habe darauf vertraut, daß die Giants nicht deshalb auf mich schießen würden, und gehofft, die Cyborgs mit ihrer überlegenen Reaktionsschnelligkeit würden Schlimmeres verhindern. Manchmal muß man einfach bereit sein, ein Risiko einzugehen. Erinnern Sie sich an den Singu der Rateken? Bei dem half auch nur, ihm gehörig auf die Finger zu klopfen und seine Frechheit mit eigener zu beantworten.« »Und beide Male hatten Sie unverschämtes Glück und Cyborgs n Ihrer Seite... irgendwann werden Sie es mal übertreiben, Commander.« m. 241 Plötzlich meldete sich der Zentrale Controllo über die Gedankensteuerung. Es wird zugesichert, daß das Schiff der Besiegten nicht zerstört und wieder freigegeben wirdy sofern bei der Untersuchung keine versteckte Gefahr festgestellt wird. Die Untersuchung muß unter allen Umständen erfolgen. »Na, das ist doch schon mal ein Kompromiß«, sagte Dhark trok-ken. »Wenn jetzt auch Gisol einen Schritt vorwärts macht...« Gisol zögerte, diesen Schritt zu tun. Er wollte wissen, was der Zentrale Controllo mit »versteckter Gefahr« meinte, doch der Controllo wollte sich dazu nicht näher äußern. Einmal mehr drohte alles zu versacken. »So kommen wir doch nicht weiter«, drängte Dhark. »Einer wird nachgeben müssen. Es geht nicht an, daß wir uns weiter unter ständiger Bedrohung für die EPOY in dieser stellaren Wolke bewegen, oder daß diese Bedrohung auch in anderen Bereichen Orns auftritt! Wir müssen hier und jetzt zu einem für uns zufriedenstellenden Ergebnis kommen!« Aber hier trafen Sturköpfe aufeinander - ein sturer Mysterious und ein sturer Rechner, der von Mysterious konstruiert worden war. Nach einigem Hin und Her erklärte sich Gisol dann aber doch endlich damit einverstanden, daß die Giants sein Schiff untersuchen durften. Aber er verlangte eine verbindliche Zusage, daß die EPOY nicht zerstört werden dürfe. »Falls der Controllo sich nicht an diese Zusage hält, fliege ich mit der POINT OF einen Angriff und zerstöre diesen verdammten Hyperkalkulator«, drohte er an. »Vergiß nicht, daß die POINT OF mein Schiff ist«, erinnerte ihn Dhark. »Der Controllo wird sich daran halten, weil der Checkmaster ihn überwacht. Das reicht, Gisol! Oder hast du tatsächlich etwas an Bord zu verbergen, das als >versteckte Gefahr< erkannt werden könnte?« »Unsinn!« knurrte der Worgun wütend. »Ich kann's nicht fassen! Früher waren Roboter unsere Diener, und jetzt soll ich mich den Wünschen eines Roboters beugen? Den Wünschen eines Rechenknechts? Begreift das Ding überhaupt nicht, wen es vor sich hat?« »Einen Besiegten, Gisol«, sagte Ren Dhark. »Die alten Zeiten sind vorbei, waren es schon vor deiner Geburt. Wer auch immer hinter dieser Programmierung des Controllo steckt, er weiß nur zu gut, daß dein Volk keine Rolle mehr spielt auf der kosmischen Bühne. Tut mir leid...« Gisol schwieg einige Minuten lang. Dann erklang seine Stimme wieder aus dem Helmfunk: »Die Biostrukte sollen die EPOY untersuchen. Ich öffne die Haupteingangsschleuse. Aber
wenn die nur einen Fehler machen, ist das das Ende des Controllo und vielleicht der ganzen Station.« Der neunundzwanzigjährige Sensationsreporter Bert Stranger war altersmäßig schwer einzuschätzen. Sein untersetzter Körper wies rundliche Pölsterchen auf, und auf seinem kanonenkugelförmigen Kopf zeigten sich die ersten Geheimratsecken. Allerdings trug er sein rotes Haar so kurz, daß letztere nur bei genauem Hinsehen auffielen. Zudem verfügte er über kindliche Gesichtszüge, die dem unschuldigen Antlitz eines Babys ähnelten. ^ Bert hielt sich in einem Linienjett auf, hoch über den Wolken, auf dem Flug nach Frankreich. Er war, wie so oft, im Auftrag von Terra-Press unterwegs und einer heißen Sache auf der Spur. Obwohl er ein Vollprofi war, hätten ihn seine Recherchen diesmal beinahe nicht nur das Leben, sondern auch die Seele gekostet. Und schuld daran war das Sensorium... Eine bislang noch anonyme Firma hatte es mit großem Werbe242 243 aufwand auf den Markt geworfen. Rein äußerlich sah das Gerät lediglich wie ein Kopfhörerbügel mit einer glaslosen Brille aus, keine große Besonderheit also - aber das Sensorium hatte es in sich! Es übertrug Bilder und Töne direkt ins Bewußtsein seines Trägers und stellte damit jede technisch noch so perfekte Holoauf-nahme in den Schatten. Obwohl man für den Erwerb des Geräts, das leicht zu bedienen war, ein paar tausend Dollar lockermachen mußte, schien der Untergang von Holo-TV und Holo-Kino bereits absehbar zu sein. Der Konkurrenzsender Intermedia stellte bereits auf Sensoriumstechnik um, so daß Terra-Press bald wohl oder übel würde nachziehen müssen. Oder auch nicht. Strangers Ermittlungen führten derzeit in eine Richtung, die sämtliche Pläne der (noch) unbekannten Sensorium-Vertreiber zunichte machen konnte. Am eigenen Leib hatte er erfahren müssen, wie schädlich die Geräte für ihre Träger waren -wenn man eine ganz spezielle Art von Chip einsetzte. Die handelsüblichen, nicht gerade billigen Chips enthielten harmlose Aufzeichnungen, Filme, die man nach Belieben immer wieder abspielen konnte. Es gab auch die Möglichkeit, leere Chips zum Selbstbeschreiben zu kaufen. Damit ließen sich eigene Filme aufnehmen und hinterher ebenfalls so oft abspielen, wie man wollte. In beiden nahm man Bild und Ton wahr, als wäre man leibhaftig dabei, ein Effekt, der mit den gewohnten Hologrammen bisher nur unzureichend erzeugt wurde. Zu unerwünschten Nebenwirkungen kam es nicht. Das Sensorium mit seinen normalen, bei jedem Händler erhältlichen Chips war demzufolge eine tolle Sache. Doch da gab es noch eine weitere Art von Chip, die sich während des Abspielens automatisch löschte und daher jeweils nur ein einziges Mal verwendet werden konnte. Damit spürte man die gespeicherten Geschehnisse wesentlich intensiver. Sie drangen so tief in das menschliche Gehirn ein, daß es dem Sensoriumsnutzer während der Anwendung unmöglich war, Fiktion und Wirklichkeit voneinander zu unterscheiden. Sämtliche Sinne wurden angesprochen, man erlebte die aufgezeichnete Handlung, als wäre sie vollV kommen real. Entsprechend der Natur des Menschen waren die in diesem System aufgezeichneten Erlebnisse überwiegend sexueller Art. Hinterher fühlte man sich fix und fertig, aber auch unendlich glücklich und befriedigt, zumindest für eine Zeitlang. Beit Stranger hatte mehrere jener Chips bis zur Neige ausgekostet und die wildesten Sexabenteuer »erlebt«. Und mit jedem neuen Datenträger hatte es noch eine Steigerung gegeben, bis hin zu Praktiken, die ihn zum Schluß hin entsetzt und abgestoßen hatten und die er bei klarem Verstand strikt abgelehnt hätte. Den ersten Speicher dieser Sorte hatten ihm zwei Unbekannte nach einem Überfall gewaltsam aufgenötigt. Danach hatte er es kaum erwarten können, weitere zu erhalten. Er hatte sie
bekommen, über zwielichtige Kanäle aus anonymer Hand - unter der Bedingung, daß er seine Nachforschungen in puncto Sensorium einstellte. Stranger hatte sich gefügt, seine heiligsten Prinzipien achtlos über Bord geworfen, seine Seele dem Teufel verkauft... Fast schon zu spät hatte er begriffen, daß er süchtig nach den Intensivchips war, schlimmer als ein Drogenjunkie. Erst als ihn seine unbekannten Peiniger unverhohlen aufgefordert hatten, bei den kommenden Wahlen eine bestimmte Partei - die Fortschrittspartei - zu unterstützen, hatte er gehandelt und sich einer lebensgefährlichen Entgiftung unterzogen, bei der sein Blut komplett ausgetauscht und ein Teil seiner Erinnerungen gelöscht worden war. Der geheilte Journalist besaß jetzt noch neun volle Intensivchips. Würde er auch nur einen einzigen davon verwenden, wäre er sofort wieder süchtig. Unheilbar süchtig, denn eine zweite Entgiftungstortur würde er nicht mehr überleben. Vor dem Abflug hatten ihn die beiden Unbekannten erneut überfallen und versucht, ihn wieder abhängig zu machen. Doch Sam Patterson, der oberste Chef von Terra-Press, hatte seinem besten Mann vorsichtshalber einen Roboter-Leibwächter mitgege244 245 ben: Theta 3. Der Blechmann hatte den Verbrechern keine Chance gelassen und sie kompromißlos getötet. Bert Stranger war unterwegs nach Le Puy, um dort ein zweites Mal Veronique de Brun von der Firma Biotechnologique aufzusuchen. Das französische Unternehmen, das zu Wallis Industries gehörte, war auf den medizinisch-technischen Bereich spezialisiert. Der Reporter hoffte, dort eine Möglichkeit zu finden, die von den Intensivchips erzeugten Impulse zu analysieren. Bei seinem ersten Besuch hatte ihn die brünette, leicht unterkühlte Veronique ziemlich unfreundlich abgefertigt. Inzwischen wußte sie über fast alles Bescheid; er hatte sie per Vipho eingeweiht und auch seine über-standene Sucht nicht unerwähnt gelassen. Die Wissenschaftlerin war bereit, ihm einen halben Tag ihrer wertvollen Arbeitszeit zu opfern. Zwei wichtige Vorkommnisse hatte Bert ihr bisher verschwiegen. Er würde sie zu gegebener Zeit davon unterrichten. Während des Fluges war ihm eine Stewardeß aufgefallen, die anfangs fahrig und nervös wirkte, sich den Passagieren aber kurz darauf gut gelaunt und euphorisch präsentierte. Das hatte ihn mißtrauisch gemacht. Unauffällig hatte er sich zum Personalabteil begeben und einen Blick hineingeworfen. Seine Befürchtungen waren bestätigt worden. Auf einem Hocker hatte das Gestell eines Sensoriums gelegen. Welche Chipsorte gerade verwendet worden war, daran gab es für Bert nicht den geringsten Zweifel. Eine rasche Inaugenscheinnahme des Gerätes bestätigte seinen Verdacht. Offensichtlich war er nicht der einzige, den seine unbekannten Widersacher, die geheimnisvollen Drahtzieher im Hintergrund, süchtig gemacht hatten. Wie viele Menschen haben sie inzwischen wohl unter Kontrolle? fragte er sich. Werden sie alle gezwungen, die Fortschrittspartei zu unterstützen? Das war der Stand der Dinge, als Bert Stranger auf dem Flughafen von Lyon eintraf. Am Jettport wartete ein Firmenschweber von 246 Biotechnologique auf ihn und Theta 3. Von dort aus ging es weiter zu der kleinen, im kargen französischen Zentralmassiv gelegenen Ortschaft Le Puy. Die dreißigjährige Veronique de Brun war die Standortleiterin der hiesigen Firmenniederlassung. Sie staunte nicht schlecht, als Stranger in Begleitung eines Roboters ihr Büro betrat. »Respekt, Euer Gnaden reisen mit eigenem Diener«, spöttelte sie, während sie hinter ihrem Schreibtisch hervorkam. »Theta 3 ist nicht mein Diener, sondern mein Leibwächter«, stellte Bert richtig.
»Sieh an, der prominenteste unter den prominenten Starreportern leistet sich neuerdings eine Leibwache«, stichelte de Brun weiter. »Fürchten Sie sich so sehr vor mir, daß Sie einen Blechmann zu Ihrem Schutz benötigen? Keine Sorge, ich werde mir jeden Annäherungsversuch verkneifen, und das fällt mir nicht einmal Schwer.« »Schade, daß die beiden Typen, die mich auf dem Jettport von Alamo Gordo überfallen haben, nicht ebenso zurückhaltend waren«, entgegnete Stranger scharf. »Dann wären sie jetzt noch am Leben. Theta 3 hat kurzen Prozeß mit ihnen gemacht. Der Oberkörper des ersten Angreifers wurde von einem Strahlenschuß glatt durchschlagen. Das ging so schnell, daß er es gar nicht mitbekam und noch bei seinen letzten Atemzügen die Waffe auf mich anlegte. Daraufhin schoß ihm der Roboter den Unterarm weg. Anschließend zerschmolz er den zweiten Angreifer mit beiden Blastern gleichzeitig. Der ätzende Geruch von verbranntem Menschenfleisch breitete sich überall im Raum aus... was ist denn, Made-moiselle de Brun? Sie spotten ja gar nicht mehr.« »So plastisch hätten Sie mir das ganze nicht zu schildern brauchen«, erwiderte die Frau mit belegter Stimme. »Ich wollte Ihnen nur begreiflich machen, wie ernst die Lage ist. Wenn wir nicht umgehend etwas gegen diese Verbrecher unternehmen, wird sich die Sensoriumssucht epidemieartig ausbreiten. Glauben Sie mir, ich übertreibe nicht, dieses Lumpenpack macht 247 vor niemandem Halt. Auf dem Linienflug hierher beobachtete ich eine Stewardeß, die sich eine kleine Sensoriums-Arbeitspause gönnte - mit einem jener gefährlichen Chips im Gerät. Allmählich erlangt die Sache weltpolitische Bedeutung.« Veronique, die sich weiterhin von ihrer skeptischen Seite zeigte, forderte Bert auf, mit ihr zu kommen. Beide begaben sich in ihr Labor, wo eine kleine Mannschaft von Spezialisten bereits auf sie wartete. Alle machten sich kurz miteinander bekannt und anschließend an die Arbeit, denn Zeit war auch bei Biotechnologique bares Geld. Zunächst besah man sich die zehn mitgebrachten Chips oberflächlich von außen. Sie wiesen keine Besonderheiten auf. Als nächstes ließ sich Veronique den Chip mit der Nummer 1 gfeben, den der Journalist nach eigenen Angaben zuletzt abgespielt hatte. »Ein handelsübliches Billigprodukt«, stellte sie nach eingehender Überprüfung fest. »Absolut leer, verbraucht bis aufs letzte Bit. Was soll daran so außergewöhnlich sein? Sind Sie wirklich sicher, daß wir hier alle nicht unsere Zeit verschwenden, Mister Stranger?« Sie nahm einen weiteren Chip zur Hand, einen vollen. Bert hielt sie davon ab, den Chip in den Suprasensor einzulegen. »Warten Sie, ich muß Ihnen vorher noch etwas beichten. Ich habe Ihnen nämlich etwas verschwiegen.«; , »Ach ja?« entgegnete de Brun. »Was denn?« »Als man mir diese zehn Chips zuspielte, hatte ich noch einen aus einer früheren Lieferung übrig. Bratislav, ein Suprasensorspe-zialist, der mir noch einen Gefallen schuldig war, unterzog den elften Chip einer Analyse...« »Und was war das Ergebnis der Untersuchung?« »Ein total zerstörter Suprasensor mitsamt drei Monitoren.« Veronique blickte den Reporter ärgerlich an. »Und damit rücken Sie erst jetzt heraus? Wollten Sie mit Ihren verdammten Chips unsere Firma komplett ausradieren?« »Vielleicht passiert ja gar nichts, schließlich stammen die mitge248 brachten Chips aus einer neueren Lieferung«, meinte Stranger. »Isolieren Sie den Suprasensor trotzdem vorsichtshalber vom Firmennetz.« »Worauf Sie sich verlassen können«, erwiderte de Brun und leitete umgehend alles in die Wege.
Für den Versuch verwendete man einen älteren Rechner, auf den man notfalls verzichten konnte. Alle schauten gespannt zu, wie Veronique de Brun höchstpersönlich den Chip in den Aufnahmeschlitz schob - einen von den letzten neun vollen..... »Großartig! Wirklich großartig!« Veronique de Brun funkelte Bert Stranger böse an. »Eine Glanzleistung erster Klasse! Nie zuvor habe ich einen Suprasensor so schnell durchbrennen sehen. Das Innenleben des Geräts wurde komplett zerstört, genau wie der Chip. Haben Sie noch mehr solcher Zauberkunststücke auf Lager?« »Wir können das ganze noch achtmal wiederholen«, erwiderte der Journalist ungerührt. »Ich hatte Sie ja gewarnt, Mademoiselle de Brun. Das Programm hat eine Sicherheitssperre, die jeden unberechtigten Zugriff abwehrt und zerstörerisch wirkt. Offensichtlich ist gegen diese Chaosschaltung kein Kraut gewachsen. Tut mir leid, daß ich Sie überfordert habe.« »Überfordert? Mich?« Veroniques Stimme überschlug sich fast. »Wenn Sie glauben, ich würde aufstecken, irren Sie sich gewaltig, Mister Stranger. Ich laufe jetzt erst richtig zur Hochform auf.« Ihre Labormitarbeiter konnten sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Offenbar hatte der Reporter bei Veronique de Brun den richtigen Nerv getroffen. Das Programm auf den Intensivchips zu entschlüsseln war für sie nun eine Frage der Ehre. »Was grinst ihr so blöd?« fuhr sie ihre Leute an. »Besorgt mir gefälligst einen neuen Suprasensor! Aber nicht irgendeinen, sondern den Suprasensor. Ich habe eine Idee, wie wir die verdammten 249 Chips überlisten können.« Wenig später wurde im Labor ein zweites Gerät aufgestellt. Gerät? Eine hochmoderne Anlage mit diversen Nebenstellen und mehreren Beobachtungsbildschirmen breitete sich über mehrere Tische aus. Es dauerte seine Zeit, bis alle Anschlußstellen miteinander verbunden waren. Anschließend wurde die Anlage vom übrigen Netz isoliert. »Normalerweise holt sich der Suprasensor die Daten vom Chip in einem Stück«, erläuterte Veronique ihren Plan. »Wir setzen eine Verzögerungsschaltung ein, die nur geringfügige Datenmengen durchläßt, kleinste Bits-und-Bytes-Häppchen sozusagen. Die analysieren wir dann Portion für Portion.« *»Könnte funktionieren«, meinte Stranger. »Könnte? Es wird funktionieren!« entgegnete Veronique selbstbewußt. »Falls es nicht klappt, nehme ich Ihre Einladung zum Essen an.« »Welche Einladung?« wunderte sich Bert. »Haben Sie ein schlechtes Gedächtnis?« stellte de Brun ihm die Gegenfrage. »Schon vergessen, daß ich Sie abblitzen ließ?« »Aber... aber das ist Wochen her«, stotterte der Journalist perplex. »Seinerzeit war es Februar, inzwischen schreiben wir den Monat April.« »Heißt das, Ihre Einladung hat keine Gültigkeit mehr?« »Doch, doch, natürlich gilt sie noch! Gesagt ist gesagt. Ich begreife nur nicht, warum Sie Ihre Meinung inzwischen geändert haben.« »Habe ich doch gar nicht«, widersprach Veronique. »Ich bin fest davon überzeugt, daß mein Plan funktioniert. Also werden Sie heute abend wieder einmal allein das Dinner einnehmen müssen. Aber das sind Sie ja sicherlich gewohnt.« Sie hat den Charme eines Kühlschranks, dachte Bert Stranger und verkniff sich jede weitere Bemerkung. Nachdem der Suprasensor entsprechend präpariert und mit dem nächsten Chip versehen worden war, versammelte sich das kleine 250 Forschergrüppchen im Halbkreis am Tisch. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, so still war es im Zimmer, als Veronique die Schaltung aktivierte.
Langsam, ganz langsam versuchte man, dem Chip seine Geheimnisse zu entlocken. Da
jeweils nur sehr geringe Datenmengen abgerufen werden durften, stellte man sich auf eine
harte Geduldsprobe ein.
Mit ersten konkreten Ergebnissen wurde erst in Stunden gerechnet.
251
14. Strangers Robot-Leibwächter Theta 3 war der einzige im Labor, dem Warten nichts ausmachte. Teilnahmslos stand er etwas abseits im Raum, so als ginge ihn das ganze Geschehen um ihn herum nichts an. Hingegen wurde Berts Geduldsfaden auf eine harte Zerreißprobe gestellt. Der SensoriumChip, den Veronique de Brun und ihr Team zu analysieren versuchten, gab seine Geheimnisse nur sehr zögerlich preis - genaugenommen überhaupt nicht. »Wieso dauert das so lange?« fragte der Journalist ungeduldig. »Weil wir nichts falsch machen dürfen«, antwortete de Brun. »Dieser Suprasensor ist keine Klapperkiste wie der vorige, sondern ein hochwertiges Spezialgerät auf dem allerneuesten Stand der Technik. Eine Zerstörung dieser Anlage wäre kein Bagatell-schaden, sondern eine Katastrophe. Wir gehen Schritt für Schritt vor, wie es mein Plan vorsieht. Wenn Ihnen das zu lange dauert, können Sie inzwischen ja einen Kaffee trinken gehen.« »Noch mehr Kaffee?« stöhnte Bert. »Mein Kreislauf fährt bereits Achterbahn mit mir. Mit dem rabenschwarzen Zeug, das eure Kantinenautomaten ausschenken, könnte man einen ganzen Straßenzug teeren.« »Wir rufen nur winzigste Datenmengen aus dem Chip ab«, fuhr Veronique unbeirrt fort. »Aus Sicherheitsgründen werden sie zunächst in kleinen Päckchen auf die Nebenstellen des Suprasen-sors verteilt und sorgfältig untersucht. Droht Gefahr, koppelt sich die betreffende Nebenstelle selbsttätig vom Suprasensor ab. Erst nach einer gründlichen Kontrolle fließen die Daten zurück zum Suprasensor, wo sie nach und nach zu einem Paket zusammengefügt werden.« »Und wann erfahre ich, was in dem Datenpaket enthalten ist?« hakte Stranger nach. »Sobald es uns gelingt, es aufzuschnüren«, informierte ihn einer 252 von Veroniques Assistenten. »Das hätte theoretisch längst der Fall sein müssen, aber...« »Aber was?« »... aber leider behält das Datenpaket seinen Inhalt hartnäckig für sich.« »Wahrscheinlich ist es noch nicht komplett gefüllt«, suchte de Brun nach einer Erklärung. »Um eine sinnvolle Analyse vornehmen zu können, benötigen wir offenbar eine bestimmte Mindestmenge an zusammenhängenden Daten. Deshalb erhöhen wir die Datenrate nach und nach in langsamen Schritten - ein Vorgang, der sehr viel Zeit beansprucht, will man keinen Fehler machen.« »Wo liegt das Problem?« fragte Bert Stranger. »Um bei Ihrem plastischen Beispiel zu bleiben: Inzwischen müßte doch wenigstens teilweise ersichtlich sein, was sich in dem Paket befindet.« »Ist es aber nicht«, entgegnete seine Gesprächspartnerin. »Die bisher heruntergeladenen Daten lassen sich partout nicht lesen. Der Chip scheint Informationen erst ab einer gewissen Größenordnung freizugeben. Ab wann genau das der Fall ist, kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen. Wir müssen uns in Geduld üben.« Der Reporter seufzte. »Darin habe ich mittlerweile reichlich Übung. Was soll's? Hole ich mir halt noch einen Kaffee.« Gerade wollte er sich von seinem Stuhl erheben, da legte Veronique eine Hand auf seine Schulter. »Warten Sie, setzen Sie sich wieder hin. Ich glaube, es tut sich was.«
In der Tat kam endlich Bewegung in die Sache. Offenbar war die erforderliche Datenmenge erreicht worden. Einem Blick ins Innenleben des Sensorium-Intensivchips stand somit nichts mehr im Wege, wie es schien. Veronique hörte ihr Herz schlagen. Oder war es das von Bert Stranger, der wie gebannt auf den Suprasensor starrte? 253 Zunächst gab nur eine der angeschlossenen Nebenstellen ihren Präzisionsmaschinengeist auf. Der Bildschirm erlosch von einer Sekunde auf die andere. Weitere Monitore und sonstige Apparaturen folgten. Im Labor breitete sich der Geruch von durchgeschmorten Kabeln und zerschmolzenen Metallplättchen aus. »Experiment abbrechen!« rief Veronique de Brun, während sie verzweifelt versuchte, den unberechenbaren Chip aus dem Supra-sensor zu entfernen. »Trennt die beschädigten Geräte vom Hauptanschluß!« Ein sinnloses Unterfangen, schließlich ging die Störung hauptsächlich vom Suprasensor selbst aus. Zwar vergriff sich die Chaosschaltung zuerst an den angeschlossenen Nebengeräten, den Hauptrechner rettete das jedoch nicht, ihm wurde lediglich ein kleiner »Überlebensaufschub« gewährt. Als der Suprasensor geräuschvoll und funkensprühend durchbrannte, war vom Rest der Anlage kein Stück mehr heil. Einige Apparate wirkten äußerlich unversehrt, doch ihre Innereien hatten sich in eine breiige, schwarzsilbrige Masse verwandelt. »Gott sei Dank haben wir die Anlage vom übrigen Firmennetz isoliert!« bemerkte einer der Laborassistenten erleichtert. »Sonst wäre ganz Biotechnologique jetzt handlungsunfähig.« »Ist der Chip noch zu gebrauchen?« fragte Bert Stranger leichtsinnigerweise. Veronique warf ihm einen Killerblick zu, der ihn augenblicklich zum Verstummen brachte. Zu spät erkannte der Journalist, daß er besser seinen vorlauten Mund gehalten hätte. »Sie wagen es, sich nach Ihrem dreimal verfluchten Teufelschip zu erkundigen?« zischte ihn die Standortleiterin an. »Sind Sie eigentlich des Wahnes, Stranger? Vor meinen Augen wurde gerade eine unserer teuersten Computerlagen vernichtet. Sämtlichen Geräten wurde innerhalb von Sekunden das Lebenslicht ausgeblasen. Die Anlage wurde ausgetilgt, niedergemacht, ausgerottet mit 254 Stumpf und Stiel... und Sie Unglücksbringer machen sich Sorgen um das Teil, das die Katastrophe ausgelöst hat? Der Chip ist hin, und wäre er es nicht, dann würde ich ihn jetzt höchstpersönlich in seine Einzelteile zerlegen. Wie soll ich das bloß der Versicherung erklären?« »So ganz begreife ich immer noch nicht, was da eigentlich passiert ist«, bekannte eine Laborassistentin. »Wir sind doch mit äußerster Vorsicht vorgegangen.« »Der Chip wurde offenbar so programmiert, daß er beim unbefugten Lesen der Daten als erstes die Chaosschaltung freigibt«, vermutete Stranger. »Befugtes Datenlesen erfolgt ausschließlich durch das Sensorium, alle sonstigen Geräte werden gnadenlos hingerichtet.« »Aber warum haben wir nicht vor dem Zusammenfügen der jeweiligen Datenpäckchen gemerkt, daß wir im Begriff waren, uns ein Kuckucksei ins Nest zu legen?« hakte die Assistentin nach. Diesmal kam die Antwort von Veronique. »Es ist nicht möglich, einzelne Abschnitte der Chaosschaltung zu analysieren, weil sie nur an einem Stück freigegeben wird, als datenmäßig kleines, aber überaus gefährliches Paket. Sobald es komplett ist, entwickelt es eine rasante Zerstörungswut, in dessen Verlauf sich der Chip letztlich selbst eliminiert. Dagegen scheint kein Kraut gewachsen. Der Schutz vor einer Entschlüsselung des Sensorium-Vollprogramms ist somit perfekt.« »Es gibt nichts Perfektes auf dieser Welt«, meinte Stranger. »Irgendeine Schwachstelle hat jeder - das gilt für Lebewesen und technische Apparaturen gleichermaßen.«
»Sagen Sie bloß nicht, Sie haben schon wieder eine Idee«, fuhr Veronique ihn ungehalten an. »Ich verzichte dankend, die beiden zurückliegenden Pannen reichen massig aus. Der halbe Tag, den ich Ihnen zugestanden habe, ist eh so gut wie um.« »Ein paar Minuten werden Sie schon noch entbehren können«, entgegnete der kugelige Reporter. »Im übrigen stammte die Idee, nur winzigste Datenmengen aus dem Chip herauszulassen und sie 255 erst nach gründlicher Überprüfung zu einem Datenpaket zusammenzufügen, nicht von mir, sondern von Ihnen. Ein genialer Einfall, wie ich zugeben muß. Leider waren die Programmierer jener speziellen Sensorium-Datenträger auf diese technische Möglichkeit vorbereitet. Eben deshalb müssen wir einen anderen Weg finden.« »Ich werde Ihren durchgeknallten Chips keinen dritten Suprasensor opfern«, machte de Brun ihm deutlich. »Wie viele volle Chips haben Sie eigentlich noch?« »Sieben. Und das zum Abspielen notwendige Sensorium habe ich ebenfalls mitgebracht - für einen ganz speziellen Test.« ff ; »Das Sensorium bleibt aus dem Spiel! Oder wollen Sie etwa ein weiteres Selbstexperiment an sich vornehmen?« »Keine zehn Pferde bringen mich jemals wieder dazu, mir ein Sensorium aufzusetzen«, versicherte Stranger ihr. »Ich benötige einen Freiwilligen.« »Das lasse ich niemals zu!« machte Veronique ihm unmißverständlich klar. »Wenn Sie glauben, ich würde einen meiner Assistenten überreden, sich als Versuchskaninchen zur Verfügung zu stellen...« »Sie verstehen mich falsch«, sagte Stranger und grinste sie frech an. »Ein Assistent käme bei der Bedeutsamkeit des geplanten Versuchs nicht in Frage. Ich dachte da an jemand wichtigeren.« Veronique de Brun wußte nicht so recht, was sie von Strangers Idee halten sollte. Manchmal entpuppten sich ja gerade die simpelsten Einfälle als die genialsten. Aber einem Roboter ein Sensorium aufsetzen...? Bert versuchte, ihre Zweifel zu zerstreuen. »Entweder es funktioniert, oder es funktioniert nicht. Was haben wir schon groß zu verlieren?« »Einen weiteren Chip und einen wertvollen Roboter«, antwor256 tete de Brun. »Wenn ich es mir allerdings recht überlege... Bio-technologique hat eine teure Suprasensoranlage eingebüßt. Wäre es da nicht ausgleichende Gerechtigkeit, wenn ausnahmsweise mal Terra-Press bluten muß?« »Theta 3 wird nicht durchbrennen«, war Stranger überzeugt. »Sein eingebauter Selbstschutz würde das Sensorium eliminieren, noch bevor es in ihm nennenswerten Schaden anrichten könnte. Im übrigen zieht er keine Daten direkt aus dem Chip, wie wir es mit den Suprasensoren versucht haben. Diese Aufgabe übernimmt das Sensorium, das bekanntlich von der Chaosschaltung als befugt akzeptiert wird. Somit wird die Schaltung erst gar nicht ausgelöst, und das Sensorium kann die freigegebenen Daten in Form von Sinneseindrücken an den Roboter weiterleiten. Theta 3 wiederum informiert uns über sein Sprachmodul, was er gerade sieht, hört und empfindet.« »Genau darin liegt Ihr Denkfehler, Mister Stranger. Diese Maschine auf Beinen kann rein gar nichts empfinden, sie kann auch nicht sehen oder hören wie wir Menschen. Das Sensorium wurde hergestellt, um die Gehirnströme von biologischen Lebewesen zu manipulieren. Hingegen wird das Zentralgehirn des Roboters die ausgestrahlten Sinnesreize überhaupt nicht wahrnehmen.« »Genau das möchte ich mit diesem kleinen Experiment in Erfahrung bringen. Ich muß wissen, ob das Sensorium auch auf Roboter Einfluß nehmen kann, und ich hoffe inständig, daß Sie recht haben, Mademoiselle de Brun, und daß Theta 3 unempfänglich für die Ausstrahlungen
des Gerätes ist. Nicht auszudenken, wenn der Test positiv verläuft. Dann könnten die
Hersteller des Sensoriums eines Tages riesige Robotarmeen befehligen.«
»Eine entsetzliche Vorstellung, aber ziemlich unrealistisch. Derlei Phantasien gehören in den
Bereich Science Fiction. Glauben Sie mir, Sie verpulvern nur unnötig einen Ihrer Chips.«
Bert kratzte sich am Kinn, dachte über Veroniques Worte nach. In der Tat würde er nach dem
Experiment nur noch über sechs dieser speziellen Chips verfügen. War es das wert?
257 Gewöhnliche Sensorium-Chips konnte er sich überall im normalen Handel besorgen, aber die
raren Intensivchips hatte er ausschließlich über seine unbekannten Peiniger bezogen. Diese
Quelle war nun versiegt. Leere Chips waren für weitere Tests und Analysen ohne jeden
Nutzen, er mußte daher sparsam mit ihnen umgehen.
»Nach Ihrem letzten Besuch habe ich mir übrigens ebenfalls ein Sensorium angeschafft«,
teilte ihm de Brun zu seiner Überraschung mit. »Meine Neugier war geweckt - und ich wurde
nicht enttäuscht. Ich tauchte in mehrere harmlose Erlebnis weiten ein und war total
fasziniert.« In ihrer Begeisterung ließ sie sich zu einem breiten Lächeln hinreißen - ein
hübscher, aber seltener Anblick. Die schöne Biotech-nologin war stets auf ein gewisses Maß
an menschlicher Distanz bedacht, und man sah sie nur im Ausnahmefall lächeln.
»Erstaunlich«, kommentierte der Reporter ihre spontane Begeisterungsbekundung. »Ich hätte
nicht gedacht, daß ausgerechnet eine gebildete Frau wie Sie Spaß an derlei profaner
Unterhaltung findet.« Augenblicklich wurde es wieder kühl im Raum.
»Mit Spaß hat das nichts zu tun«, behauptete sie. »Meine Nachforschungen auf diesem Gebiet
dienten rein wissenschaftlichen Zwecken. Im Anschluß an die Selbsterfahrungstests schloß
ich mein Sensorium an ein Analysegerät an. Dabei stellte sich heraus, daß tatsächlich nur
Deltawellen anzumessen waren.«
Stranger nickte. »So steht es auch in der Patentschrift. Aber wie verhält es sich, wenn das
Sensorium mit den Spezialchips gefüttert wird? Um das zu ermitteln, sollten wir gleich noch
einen weiteren Versuch mit dem Analysegerät anschließen. Nein, mir fällt gerade etwas
Besseres ein! Wir koppeln das Analysegerät an Theta 3. Damit schlagen wir zwei Fliegen mit
einer Klappe. Erstens finden wir heraus, ob Roboter tatsächlich unempfindlich für Sensorium-
Ausstrahlungen sind. Zweitens können wir gleichzeitig die Wellenmessung vornehmen. Auf
diese Weise verbrauchen wir nur
einen einzigen Chip.«
»Sind Sie sicher, daß sich Theta 3 auf Ihr geplantes Experiment einläßt?« fragte ihn
Veronique. »Ich könnte mir vorstellen, er mag es gar nicht, wenn man ihm an seine Innereien
geht.«
»Der Roboter untersteht meinem Befehl und tut das, was ich ihm sage«, entgegnete Bert.
In wenigen Worten erklärte er seinem Leibwächter, was Veronique und er vorhatten.
»Negativ«, sagte die Maschine mit ihrer Metallstimme. »Mein Auftrag lautet, Sie zu
beschützen. Ich kann es daher nicht gestatten, daß Schaltungen an mir vorgenommen werden,
durch die meine Programmierung beschädigt oder gelöscht werden könnte.«
»Ich werde zum Ankoppeln des Analysegerätes einen erfahrenen Techniker hinzuziehen«,
sagte Veronique. »Er wird achtgeben, daß die bestehende Programmierung von unseren
Aktivitäten nicht berührt wird.« Theta 3 lehnte ihr Vorhaben erneut ab. »Negativ.«
»Positiv!« widersprach Stranger ihm ärgerlich. »Du bist verpflichtet, mich in jeder Situation
zu beschützen. Die am Sensorium durchgeführten Experimente und Messungen dienen
meinem Schutz. Dieses vermaledeite Gerät hat mich krank gemacht, und wenn es mir nicht
gelingt, herauszufinden, wie genau das vonstatten gegangen ist, könnte mir dasselbe noch
einmal zustoßen. Verweigerst du meinen BefehL fügst du mir damit unter Umständen
körperlichen und seelischen Schaden zu.«
Theta 3 schwieg zunächst. Sein Maschinengehirn war damit beschäftigt, das Für und Wider
von Strangers Argumentation abzuwägen. Offensichtlich bereitete ihm das Schwierigkeiten,
denn er wurde sichtlich unruhig.
»Hoffentlich habe ich seine Schaltkreise nicht allzusehr verwirrt«, flüsterte Bert Veronique
zu. »Wenn diese Blechkiste durchdreht, möchte ich nicht in der Nähe sein. Mein Erlebnis auf
dem Flughafen schreit nicht nach Wiederholung.«
Der Roboter griff nach seiner Schußwaffe.
»Ich betrachte jede technische Manipulation an mir als Angriff!« schnarrte seine mechanische
Stimme. »Ich habe das Recht, mich gegen Angriffe zu wehren. Ich werde Sie töten...!«
Der letzte Satz war an Veronique de Brun gerichtet.
260
15. In der POINT OF blieben Dan Riker und der Erste Offizier Hen Falluta vorsichtig und schauten Gisol sehr genau auf die Finger. Keinem war daran gelegen, daß der Worgun einen Amoklauf startete, falls das Resultat der Untersuchung anders ausfiel, als er es sich wünschte. Der Worgun fieberte vor Unruhe. Er konnte weder an Bord der EPOY gehen, um die Giants zu beaufsichtigen, noch konnte er sich in der Erron-Station bewegen. Hier wie dort war immer noch die rätselhafte Strahlung wirksam, die ihn sofort ausgeschaltet, wenn nicht sogar getötet hätte. Es gefiel ihm nicht, daß jemand sich in seinem Raumschiff bewegte, ohne daß er die Kontrolle darüber hatte. Schon bei Rani Atawa und Ren Dhark hatte er seine Bedenken geäußert. Aber jetzt wimmelte es plötzlich von Biostrukten an Bord! Sein Unbehagen war ihm deutlich anzusehen. Auf irgendeine Weise schienen bestimmte Regungen und Reaktionen typisch für humanoide Gestaltgebung zu sein; so wie die Tel in ihrer Körpersprache den Terranern glichen, glich ihnen auch Gisol in seiner Smith-Gestalt. Und das, obwohl er in seiner wahren Gestalt alles andere als humanoid war! Daß er seine Unruhe nur künstlich darstellte, um sie den Terranern deutlich zu zeigen, war mehr als unwahrscheinlich. Diese Unruhe ging so weit, daß er Juanita in die EPOY schicken wollte, damit sie ihm berichtete, was die Biostrukte da taten. Aber Riker hielt ihn davon ab. »Zu riskant«, warnte er. »Die Giants könnten das für eine Überwachungsmaßnahme ihrer Tätigkeit halten...« »... was es ja auch sein soll!« knurrte Gisol. »... und eventuell aggressiv reagieren. Außerdem bin ich nicht sicher, ob Juanita den Anblick dieser raub tierköpf igen, vierarmi261 gen Riesen seelisch verkraftet. Gisol, sie ist noch ein Kind!« »Sie hat auch meine Originalgestalt seelisch verkraftet«, konterte der Worgun. »Das ist etwas ganz anderes«, sagte Riker. »Ihr hat geholfen, daß sie Sie als eine Art Vaterfigur ansieht. Die Giants aber sind für sie Fremde. Fremde wie die Grakos, die ihre Mutter töteten. Fremde, die die Erde überfielen und die Menschheit versklavten.« »Diese hier doch nicht.« »Aber sie sehen genauso aus wie die anderen!« »Die sie höchstens aus Bildreportagen kennt.« »Bilder zu sehen und einem solchen Wesen direkt gegenüberzustehen, sind zwei verschiedene Dinge, Gisol. Hinzu kommt die Art, in der die Giants reden, dieses bösartige Schlangenzischen. Schicken Sie Juanita nicht zur EPOY. Oder Sie bekommen gewaltigen Ärger mit mir.« Widerwillig gab Gisol nach. Aber seine Unruhe und sein Unbehagen blieben.
Nach einigen Stunden beendeten die Giants ihre Überprüfung und teilten das Ergebnis mit.
Versteckte Geheimwaffen hatten sie nicht gefunden.
»Nichts anderes habe ich erwartet«, gab Gisol über Funk durch.
Per Gedankensteuerung setzte Dhark sich mit dem Zentralen Controllo in Verbindung. Da das
Untersuchungsergebnis negativ ausfiel, wirst du die EPOYalso freigeben, verlangte er.
Das widerspricht meiner Programmierung.
»Geht das jetzt schon wieder los?« seufzte Dhark. Den verständnislosen Blicken seiner
Mitarbeiter begegnete er mit einer kurzen Erklärung und sprach dann seine und die Rede des
Controllo laut mit. »An dem Punkt waren wir doch schon einmal! Deine Programmierung
steht hier nicht zur Debatte. Wir haben deine Zusage.«
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»Sie widerspricht meiner Programmierung.«
»Wir diskutieren nicht länger«, entschied Dhark. »Wir kehren sofort an Bord der POINT OF
zurück. Der Zentrale Controllo ist mit allen Mitteln zu vernichten. Ich setze das Hy-Kon ein.
Es wird punktuell begrenzt, so daß es nur den Controllo ausschaltet. Das schaffen Sie doch,
Doorn, oder?«
Der holte tief Luft. »Ja«, sagte er. »Natürlich. Ein Kinderspiel.« Er trat zu Dhark und flüsterte
ihm zu: »Wenn Sie mir verraten, wie ich das machen soll! Wir wissen ja nicht mal, wo die
Emitter eingebaut sind...«
Dan Riker meldete sich über Funk.
»Gerade teilt der Checkmaster mit, daß der Controllo die EPOY freigibt. Aber nicht, weil du
mit dem Hy-Kon drohst, Ren, sondern weil der Controllo sich der Autorität des Checkmasters
beugen mußte.«
Das Schiff der Besiegten wird freigegeben, meldete sich gleichzeitig der Controllo via
Gedankensteuerung.
»Du wirst noch ein wenig mehr freigeben müssen, mein lieber Zentraler Controllo«, verlangte
Ren Dhark. »Nämlich Navigationshilfen für uns. Wir verlangen eine detaillierte Karte dieser
Gas wölke, um uns darin orientieren zu können.«
Datenpaket wird freigegeben, bestätigte der Controllo.
Aber irgendwie schien in der mentalen Botschaft der Gedankensteuerung eine gehörige
Portion Wut mitzuschwingen...
Das dreidimensionale Kartenwerk wurde sofort in den Check-master und auf Dharks
Veranlassung von dort unverzüglich in den Bordrechner der EPOY überspielt. Die kosmische
Gas wölke trug den Namen »Gardas« - das Worgunwort für »Bastion«.
Dhark wechselte wieder zurück in die POINT OF. In der Astro-abteilung sah er sich mit
Riker, Gisol, den Astronomen und den Astrophysikern die Karten an.
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Die Struktur der Gas wölke war genau zu erkennen.
Gardas war unregelmäßig geformt, bei einem durchschnittlichen Durchmesser von 370
Lichtjahren. Die Wolke war heiß, was sie schon selbst festgestellt hatten, und sehr aktiv. Es
gab eine Reihe von Bereichen im präsolaren Stadium. Das bedeutete, daß sich das Gas in
diesen Bereichen besonders dicht zusammenballte. Dabei heizte es sich so stark auf, daß hier
in einigen tausend Jahren Sonnen entstehen würden.
Was aber die Astronomen und Astrophysiker als höchst ungewöhnlich bezeichneten, war, daß
es in der Gaswolke keine bereits bestehende Sonne gab - von einer einzigen Ausnahme
abgesehen. Unter normalen Umständen hätte es, dem Alter der Galaxis Orn entsprechend, hier
längst mehrere junge Sonnen geben müssen.
»Was bedeutet das?« fragte Dan Riker.
Jerome Sheffield räusperte sich. Der Astronom balancierte eine Tasse Kaffee vor sich her,
deren aromatischer Duft den anderen verlockend in die Nase stieg. Der Himmel mochte
wissen, wo Sheffield immer wieder seine Vorräte echten Bohnenkaffees hortete, während andere sich mit synthetischem Gebräu zufriedengeben mußten. Dafür war er schon auf Hope berüchtigt gewesen. Und natürlich dachte Sheffield niemals daran, sein Geheimnis mit anderen zu teilen... »Das deutet darauf hin«, sagte er, »daß diese Wolke künstlichen Ursprungs ist.« Dabei sah er Jim Smith fast drohend an. »Offenbar haben die Worgun auch hier wieder mal mit Schöpfungskräften gespielt«, warf Sheffields Kollege Jens Lionel ein. »So wie sie in unserer Galaxis Sterne an andere Positionen verschoben haben... aber diese Wolke setzt allem die Krone auf.« »Kann ich was dafür?« murrte Gisol. »Sie sollten so etwas als einen Triumph der Technik ansehen und nicht dermaßen abschätzig darüber reden, als hätten meine Vorfahren mit ihren großartigen Experimenten Verbrechen begangen!« »Nun fühlen Sie sich doch nicht gleich in die Ecke gedrängt«, seufzte Sheffield und nippte am heißen Kaffee, um dann fortzufahren: »Schließlich sind wir Terraner und keine Zydingsbumse.« »Zyzzkt«, half Gisol aus. »Werd' ich nie aussprechen können«, brummte Sheffield. »Hätten diese Superwespen sich nicht einen vernünftigeren Namen aussuchen können?« »Vermutlich wird es den Zyzzkt ebenso schwer fallen, den Begriff Terraner zu artikulieren«, erwiderte Gisol spöttisch. »Klar. Worgun können sie auch nicht aussprechen. Deshalb haben sie Ihr Volk ja auch kleingemacht, Smith. Sie sollten unsere Bezeichnung übernehmen: Mysterious! Das ist für die Zischkatz sicher einfacher zu artikulieren, und sie lassen euch danach endlich in Ruhe...« »Sheffield«, drohte Riker. »Sie beleidigen unseren Freund und das ganze Worgunvolk. Wenn Sie weiter so idiotisch herumkaspern, lasse ich Ihnen den Mund mit Sekundenkleber schließen.« »Das wäre aber übel. Dann könnte ich ja keinen echten Bohnenkaffee mehr trinken«, seufzte der Astronom. »Um so mehr bleibt für uns andere übrig«, konterte Riker. »Könnten wir zwischendurch vielleicht auch mal wieder zur Sache kommen?« mahnte Ren Dhark. »Wir haben uns hier nicht versammelt, um über unaussprechliche Namen und Kaffee zu reden.« Sie kamen zur Sache. Und zu den Überraschungen, bei denen die einzelne Sonne nur eine von vielen war. Aus dem Kartenwerk ging hervor, daß es insgesamt 59 Stationen wie diese gab! Sie waren gleichmäßig über die Peripherie der Wolke verteilt, immer etwa 15 Lichtjahre vom Außenrand entfernt. Dhark erschauerte bei dem Gedanken an die Macht der Stationen und die unzähligen in ihnen stationierten Ringraumer. Die Gardas-Wolke war wirklich eine Bastion, im wahrsten Sinne des Wortes! Außerdem gab es ein feingesponnenes Netz mit Milliarden von Generatorstationen in den umkonstruierten Xe-Flash, die das Anti-Worgun- und Anti-Insektenfeld erzeugten. Es umfaßte Gardas wie eine Schale, reichte von der äußeren Hülle rund 50 Lichtjahre nach 264 265 innen. Somit gab es im Inneren der Wolke also offenbar einen Bereich von etwa 270 Lichtjahren Durchmesser, in dem dieses Feld nicht wirkte. »Eine Schale, die etwa 50 Lichtjahre stark ist«, überlegte Dhark leise. »Sieben mal sieben ist 49... und vier mal sieben ist 28, 280 oder auch 270 Lichtjahre, das paßt, und damit haben wir wieder die Basiszahl sieben der Mysterious...« »Die in diesem Fall aber irrelevant ist, Ren«, sagte Gisol. »Weil unsere Lichtjahre nicht unbedingt euren entsprechen. Meine Heimatwelt hat eine andere Umlauf zeit als eure. Aber
brauchst du diese Zahlenmystik wirklich, um auf meine Vorfahren als Konstrukteure dieser Wolke zu schließen?« Dhark lächelte. »Glaubst du selbst, daß sie es waren? Warum sollten sie dann ein Strahlungsfeld installieren, das gegen ihre eigenen Leute wirkt?« »Dann verstehe ich dein Spiel mit der Zahl sieben erst recht nicht«, erwiderte Gisol. »Vielleicht will uns jemand vorgaukeln, die Worgun hätten diese Gaswolke geschaffen?« »Ren, mit dir geht die Fantasie durch«, protestierte Riker, und Gisol stimmte ihm zu. »Laß uns auf dem Boden der Tatsachen bleiben, statt wilde Spekulationen in den Raum zu stellen. Alles, was wir in dieser Erron-Station gesehen und erlebt haben, ist Wor-guntechnik. Die Goldenen Menschen auf Golden, die uns hierher verwiesen, sind Worguntechnik. Verdammt, was willst du mehr? Früher hättest du dich blind darauf gestürzt. Und jetzt läßt du Zweifel zu? Mann, wer außer den Worgun wäre denn überhaupt in der Lage, so etwas zu erschaffen?« Der kleine rote Fleck an seinem Kinn zeigte sich wieder einmal, deutliches Zeichen für seine innere Erregung. »Lassen wir uns einfach überraschen«, sagte Dhark. »Und schauen wir mal nach, was uns Gardas noch alles zu bieten hat.« 266 Es blieb bei dem einzelnen Stern, der im Zentrum der Gaswolke existierte. Das Kartenmaterial gab nichts weiter darüber her; exakte Angaben fehlten»Vielleicht sollten wir unseren Freund, den Zentralen Controllo, danach fragen«, schlug Riker vor. Aber der Controllo gab zu verstehen, nichts über den einsamen Stern zu wissen. Weder ob er Planeten aufwies noch ob es Besonderheiten gab. Auch über die Wolke selbst besaß er bemerkenswert wenige Informationen. »Der lügt uns doch in die Tasche«, behauptete Riker. »Ein Rechner seines Formats und seiner Bedeutung muß doch über entsprechendes Wissen verfügen!« »Oder auch nicht... immerhin ist diese Station nur eine von 59, und nur für einen begrenzten Sektor der Wolke zuständig«, sagte Dhark. »Was deine Zahlenmystik übrigens am Boden zerschmettert«, sagte Gisol trocken. »56 wäre eine Siebener-Zahl - drei mehr liegt verdammt weit daneben.« Ren zuckte mit den Schultern. »Nimm's nicht so ernst. Ich denke aber, wir sollten diesen Stern anfliegen. Warum sonst hätten uns die Goldenen hierher schicken sollen? Nur, um das Anti-Feld zu erleben und uns mit Computern wie dem Controllo herumzuschlagen?« »Vielleicht war es der Weg in eine Falle«, gab Riker zu bedenken. »Das wäre schließlich nicht das erste Mal.« »Ich glaube nicht daran«, widersprach Dhark. »Sie hätten es einfacher haben können, uns zu vernichten.« »Denke an die Schranke hinter Soradan«, erinnerte Riker seinen Freund. »Entsinnst du dich der Inschrift auf jener Unitalltafel? >Es tut gut, sich gerächt zu haben, auch wenn die Rache erst später wirksam wird<«, zitierte er. »Welche Rache denn, und wofür? Dan, als wir W-4 und später 267 die Sternenbrücke entdeckten, hattest du weniger Bedenken. Es muß einen Grund geben, weshalb wir in die Gardas-Wolke verwiesen wurden, und diesen Grund finden wir nicht in den Erron-Stationen oder Xe-Flash, sondern in der Umgebung der einsamen Sonne. Und um die werden wir uns als nächstes kümmern!« Die Führungsmannschaft der POINT OF versammelte sich in der Zentrale des Ringraumers zur Lagebesprechung. Niemand hatte etwas dagegen einzuwenden, die Sonne anzufliegen, nur Dan Ri-ker mahnte zu erhöhter Vorsicht und warnte erneut vor einer Falle. »Bisher hat es doch immer wieder Verdruß gegeben, wenn wir ein solch exponiertes Objekt anflogen. Diese Sonne sieht aus, als hätte man sie eigens für uns dorthin gestellt und gezündet.«
»Gestellt...« murmelte Leon Bebir, der seine Freiwache für die Besprechung unterbrochen hatte. »Da muß der Weltraum aber einen verdammt stabilen Boden haben, damit er nicht durchbricht. Wissen Sie, wie schwer so eine Sonne werden kann, wenn man sie gut füttert? Also, ich könnte die keinen Meter weit weifen...« Riker verdrehte die Augen. »Nehmen Sie's doch nicht so wörtlich, Mann!« »Eine Sonne füttern?« erkundigte sich Artus aus dem Hintergrund. Er war wie die Cyborgs wieder in die POINT OF zurückgekehrt. »Wie soll das geschehen, und aus welchem Grund?« »Damit sie groß und stark wird und Junge wirft«, grinste Bebir. »Als Futter bestens geeignet sind vorlaute Roboter.« »Gibt es die denn überhaupt?« fragte Artus harmlos. »Hier in der Zentrale steht gerade einer nutzlos herum.« »Ich sehe keinen.« »Dann kauf dir 'nen Spiegel.« »Meinst du wirklich, damit würde ich vorlaute Roboter sehen, Bebir?« »Och jo«, brummte der Zweite Offizier, der sich wie alle ande268 ren längst daran gewöhnt hatte, daß Artus jeden mit dem Nachnamen ansprach, aber trotzdem duzte. »Ganz absolut. Du mußt nur exakt hineinschauen und darfst ihn nicht zur Seite drehen.« »Sind wir jetzt im Kindergarten?« unterbrach Dhark das Geplänkel scharf, nachdem er eine Weile immer ungeduldiger werdend zugehört hatte. »Wie wäre es, wenn vorlaute Roboter und frisch beförderte Oberleutnants mal wieder auf den Teppich zurückkämen und sich an der eigentlichen Diskussion beteiligten?« »Teppich?« Artus neigte den Kopf so, daß er den Unitallboden besser betrachten konnte. »Welcher Teppich? - Ach, ich verstehe, das ist wohl eine Redensart.« »Bei Gott, jetzt hat er's«, trällerte Bebir ungerührt von Dharks Verweis. »Es grünt so grün...« Prompt fiel Artus in den Gesang des Musicals »My Fair Lady« mit ein. Offenbar hatte er auch solche Spielarten terranischer Kultur in seine Datenspeicher aufgenommen. »Ruhe!« übertönte der Commander sie beide. »Ich werfe euch beide 'raus, wenn nicht unverzüglich Ruhe herrscht! Dann geht ihr ohne Hut und Mantel auf der Außenseite der Station spazieren!« »Ui!« flüsterte Bebir. »Da soll's aber verdammt kalt sein... okay, bin ja schon still... aber eine Frage darf ich doch stellen, oder, Commander?« »Wenn sie sachdienlich ist!« »Wenn wir die Sonne anfliegen, müssen wir doch noch ein Stück durch diese Strahlungszone fliegen. Das heißt, wir müßten die EPOY weiter im Intervallschlepp haben. Damit ist Mister Gi-sols Schiff für uns aber ein Klotz am Bein.« Dhark nickte. »Stimmt, mein Lieber. Was hinzukommt: Wir wissen nicht, was uns in der Nähe der Sonne erwartet und wie man da auf das sogenannte Schiff der Besiegten reagiert. Deshalb halte ich es, wie wohl auch Sie, Bebir, für besser, wenn die EPOY zurückbleibt.« »Wieso?« fragte Gisol. »Wenn wir die EPOY auch da wieder vor Fremdangriffen ab269 schirmen müssen, behindert uns das in unserer eigenen Wehrhaf-tigkeit. Wenn nur die POINT OF vor Ort ist und wir auf nichts und niemanden Rücksicht nehmen müssen, vereinfacht das die Sache ungemein.« »Und wenn wir die POINT OF hier lassen und mit der EPOY fliegen?« »Abgelehnt, Gisol«, sagte Ren. »Zum ersten kann sich die POINT OF hier wesentlich unbehelligter bewegen, und zum zweiten haben wir hier für alle möglichen Eventualitäten Spezialisten an Bord. Eine Mannschaft aus Spitzenfachleuten. Die EPOY hat keine Besatzung. Du würdest ja wohl kaum zustimmen, wenn wir alle zu dir an Bord kämen...«
»So ist es.«
»Also bleibt die EPOY hier.«
»Wo-hier?«
»In der Station natürlich. Sie wird hier geparkt und gesichert, während wir die Sonne
anfliegen.«
»Das kommt überhaupt nicht in Frage«, protestierte der Worgun. »Sobald wir weg sind, läßt
der Controllo sie zerlegen und verschrotten!«
»Das wird er nicht tun. Der Checkmaster hat ihn unter seine Kontrolle gebracht.«
»Der Checkmaster ist dann aber nicht mehr hier, Ren! Der mag sehr viel können, aber wo er
nicht ist, kann er auch nichts ausrichten. Oder willst du ihn ausbauen und in der EPOY
installieren lassen?«
»Natürlich nicht. Aber der Zentrale Controllo wird sich so oder so der Anweisung des
Checkmasters beugen. Der ist schließlich die übergeordnete Autorität.«
»Ja, das haben wir vor kurzem gemerkt, als dieser Controllo sich nicht an die Absprache
halten wollte...«
»Jetzt steht er aber endgültig unter dem Einfluß des Checkmasters. Selbst wenn er versuchte,
den Befehl zu umgehen, müßte er damit rechnen, daß wir ihn bei unserer Rückkehr
zerstören.«
270
»Nachdem er uns in eine Falle geschickt hat, aus der wir nicht wieder herauskommen.« Gisol
nickte Riker zu. »Auch ich bin sehr skeptisch, was diese Sonne angeht.«
Plötzlich vernahmen alle in der Zentrale - bis auf Artus - die lautlose Mentalstimme der
Gedankensteuerung in ihren Köpfen.
Checkmaster an Worgun Gisol! Sei nicht so stur!
»Das darf doch wohl nicht wahr sein!« entfuhr es diesem. »Das Ding wird frech! Und es hat
uns die ganze Zeit über belauscht!«
»Aber es hat recht, das Ding. Du bist wirklich stur«, warf Ren dem Worgun vor.
»Mir geht es um die Sicherheit meines Schiffes!«
Die Sicherheit wird garantiert, meldete sich der Checkmaster erneut. Nicht nur Dhark hatte
den Eindruck, als sei das Gerät ein wenig genervt.
Ein weiterer Hinweis darauf, daß dieser Superrechner über eine biologische Komponente
verfügte?
Nach einigem Hin und Her erklärte Gisol sich schließlich doch noch dazu bereit, die EPOY
hier in der Station zurückzulassen. Aber er schickte per Transmitter noch einmal Juanita in
seinen Raumer. Sie aktivierte nach seinen sehr genauen Instruktionen, die er ihr zuvor unter
vier Augen gegeben hatte, echte Sicherheitsschaltungen.
Dann endlich konnten sie starten.
Aber es sah nicht so aus, als sei der Mysterious glücklich mit der Entscheidung...
271
16.
»Wie fühlst du dich?« erkundigte sich Bert Stranger.
»Danke, es geht so«, antwortete Veronique de Brun. »Der Streß der vergangenen Stunden hat
mein Nervenkostüm ziemlich strapaziert, aber als Leiterin einer Biotechnologique-Filiale
schiebt man nun mal keine ruhige Kugel. Im übrigen möchte ich Sie bitten, einen weniger
vertrauten Tonfall anzuschlagen, Mister Stranger. Daß wir beide heute abend miteinander
essen gehen werden, sollte Ihnen nicht zu Kopf steigen.«
Der Journalist konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Entschuldigen Sie bitte,
Mademoiselle de Brun, aber ich habe gerade mit Theta 3 gesprochen, nicht mit Ihnen.«
»Ach so«, murmelte Veronique und errötete leicht.
Sie stand neben Strangers Wachroboter und nahm einige Einstellungen an seinem künstlichen
Gehirnzentrum vor. Das war nicht ganz ungefährlich. Der Blechmann, dessen hintere
Kopfhälfte offenlag, saß auf einem Stuhl und hielt schußbereit seine Waffe in der Hand. Beim geringsten Fehler würde er eiskalt Veroniques Leben auslöschen. Und das ihres technischen Mitarbeiters Larry, der ihr assistierte. »Ich habe das Recht, mich gegen Angriffe zu wehren«, hatte die seelenlose Robotmaschine vor diesem technischen Eingriff klargestellt und - an Veronique de Brun gerichtet hinzugefügt: »Ich werde Sie töten, sollten Sie versuchen, mich abzuschalten oder bestehende Programmierungen zu verändern. Mein Schutzauftrag darf durch nichts gefährdet werden. Unter dieser Bedingung stimme ich Ihrem Vorhaben zu.« Bert wiederholte seine Frage an den Roboter. »Wie fühlst du dich?« »Als Maschine fühle ich überhaupt nichts«, lautete die lakonische Antwort. »Ist alles mit dir in Ordnung?« formulierte Bert den Satz neu. 272 »Meine technischen Funktionen weisen bisher keine Unzulänglichkeiten auf«, antwortete Theta 3. »Wünschen Sie einen detaillierten Bericht?« »Verzichte«, erwiderte Bert und wandte sich Veronique zu. »Sind Sie bald fertig? Sie wissen doch, wie sehr ich Warten hasse. Insbesondere in einer derart brisanten Situation. Wenn Sie etwas falsch machen, gibt es hier im Labor ein Blutbad.« »Haben Sie Angst, Stranger?« fragte Larry. »Dann gehen Sie besser hinaus zu den anderen. Sie sind hier eh überflüssig und machen uns nur unnötig nervös.« »Ich bleibe!« entschied der Reporter und verschränkte die Arme vor der Brust, Auf Veronique und Larry wirkte sein Verhalten eigensinnig. Doch Bert hatte guten Grund, das Labor nicht zu verlassen, in welchem sich außer der Biotechnologin, ihrem Mitarbeiter und ihm selbst keine Menschenseele mehr aufhielt. Im Notfall war er vielleicht der einzige, der die beiden vor einer Attacke des Roboters schützen konnte. Der Journalist trug einen schußbereiten, vom Werkschutz ausgeliehenen Blaster in einem Holster unter seiner Jacke. Falls Theta 3 Anstalten machte, Veronique oder Larry anzugreifen, würde Bert ohne zu zögern auf ihn schießen. Zwar war er sich bewußt, daß der Roboter die verborgene Waffe längst sensorisch erfaßt hatte und vermutlich viel schneller sein würde als er - doch er ging davon aus, daß es dem mechanischen Leibwächter verboten war, die zu beschützende Person zu verletzen. Glücklicherweise schien alles reibungslos zu verlaufen. »Ich bin heilfroh, dich an meiner Seite zu haben, Larry«, sagte Veronique. »Das Innenleben von Robotern ist nicht gerade mein Spezialgebiet. Obwohl es einen gibt, den ich liebend gern in seine Einzelteile zerlegen würde - um neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen. Allerdings bezweifle ich, daß sich Artus freiwillig von uns auseinandernehmen ließe.« »Zu diesem Thema kann ich nicht viel beitragen«, entgegnete 273 Larry. »Ich bin Artus noch nie begegnet und kenne nur die Berichte über ihn. Aber vielleicht weiß ja unser anwesender Medienspezialist mehr darüber.« Stranger winkte ab. »In meinen Augen ist die ganze Sache ein Riesenschwindel. Anfangs dachte ich, alles sei nur ein Werbegag von Wallis Industries. Allmählich gelange ich jedoch zu der Überzeugung, es steckt wesentlich mehr dahinter. Terence Wallis ist eine undurchschaubare Persönlichkeit. Er spielt sich gern als Wohltäter der Menschheit auf, streckt aber in Wahrheit seine Hände nach der Macht aus. Seine Freundschaft zu Ren Dhark dient meiner Ansicht nach vor allem einem Zweck: Wallis erhofft sich ein politisches Amt. Womöglich plant er sogar, den Commander der Planeten zu stürzen.« »Und was hat das alles mit Artus zu tun?« wollte Larry wissen. Stranger blieb ihm die Antwort nicht schuldig. »Der angeblich lebende Roboter hat Dharks Neugier geweckt, wie es vermutlich von vornherein geplant war. Inzwischen bekleidet Artus sogar eine leitende Position auf der POINT OF. Muß ich noch mehr sagen?«
»Sie unterstellen Wallis allen Ernstes, Artus gezielt einzusetzen, um das nähere Umfeld des Commanders auszuspionieren?« merkte Veronique skeptisch an. »Das halte ich für ziemlich weit hergeholt. Meinen Informationen nach sind Dhark und Wallis die besten Freunde.« »Was hat das schon groß zu besagen?« erwiderte der Reporter. »Die Geschichte der Menschheit lehrt uns, daß es nicht selten die sogenannten besten Freunde sind, die einem hinterrücks das Genick brechen - vor allem in der Politik.« »Ich weiß, schon Cäsar wurde von seinem - wenn auch illegitimen - Sohn Brutus aus politischen Motiven ermordet«, pflichtete ihm Veronique bei. »Logische Schlußfolgerung: Trau niemandem über den Weg! Doch was bleibt uns noch, wenn wir alle das Vertrauen zueinander verlieren? Ein sinnloses Dahinvegetieren in Angst und Chaos. Darauf kann ich gut und gern verzichten. Ich vertraue darauf, daß Artus keine raffiniert konstruierte Spionage274 maschine ist, sondern ein unerklärbares Wunder. Seine Existenz führt manche der uns bekannten Naturgesetze ad absurdum - und gerade das macht ihn für mich so interessant.« »Die Erforschung biologisch-technischer Symbiosen ist eine der Hauptaufgaben dieses Institutes und müßte für Sie daher längst zum Alltag gehören«, meinte Stranger. »Dennoch ist Artus für mich etwas Besonderes. Er ist keine Maschine mit einer biologischen Komponente, sondern eine einstmals man nachweislich leblose Apparatur, die von einem Tag auf den anderen zum Leben erweckt wurde. Wenn so etwas wirklich möglich ist - vielleicht kann man dann irgendwann auch Tote wieder ins Diesseits zurückholen.« Bert schüttelte sich. »Wozu sollte das gut sein? Allein die Vorstellung, daß massenweise vergammelte Leichname auf der Erde umherwandeln, jagt mir einen eiskalten Schauer über den Rücken, Mademoiselle de Frankenstein. Was tot ist, soll auch tot bleiben! Andernfalls käme es zu einer unkontrollierten Bevölkerungsexplosion.« »Verstehen Sie mich wirklich nicht - oder wollen Sie mich nur nicht verstehen?« fragte Veronique ihn ärgerlich. »Ich bin eine ernstzunehmende Wissenschaftlerin, keine VoodooZauberin. Ihre Unterstellung, ich wolle Tote aus den Gräbern holen und als Zombies auf die Menschheit loslassen, zeugt nicht gerade von geistiger Reife, Mister Stranger. Wie wäre es, wenn Sie zur Abwechslung mal Ihren Verstand bemühen? Die medizinische Heilkunst hat in der jüngsten Vergangenheit große Fortschritte gemacht, doch viele Probleme kriegt man noch immer nicht in den Griff. Beispielsweise können Herzinfarktpatienten nur gerettet werden, wenn der Notarzt rechtzeitig zur Stelle ist. Mitunter geht es dabei um Sekunden. Manches Opfer stirbt dem Arzt buchstäblich unter den Händen weg, trotz verbesserter Medikamente. Gäbe es ein Mittel, mit dem man frisch Verstorbene innerhalb von vierundzwanzig Stunden wieder ins Leben zurückrufen...« »Wenn ich eure blasphemische Diskussion kurz unterbrechen 275 dürfte«, meldete sich Larry, der an Theta 3 soeben die letzten technischen Handgriffe durchgeführt hatte, zu Wort. »Ich bin fertig -der Roboter ist jetzt einsatzbereit.« Theta 3 stand auf und steckte seine Waffe ein. Daraufhin wagten sich die übrigen Mitarbeiter wieder zurück ins Labor. Bert Stranger setzte seinem Beschützer das Sensorium auf, steckte einen der Intensivchips in den dafür vorgesehenen Schlitz und erteilte Theta 3 die Anweisung, ihm zu berichten, welche Eindrücke ihm durch das Gerät vermittelt wurden. Der Roboter schwieg eine Weile und teilte dann den Anwesenden ein paar belanglose technische Daten mit, die man ebensogut auf der handelsüblichen Verpackung des Sensoriums hätte ablesen können. »Ich benötige keine oberflächliche Analyse des Gerätes, sondern eine exakte Schilderung der Geschehnisse, die deine Sensoren just in diesem Moment registrieren«, machte Bert dem Roboter deutlich.
»Verstehe«, entgegnete Theta 3. »Ich orte mehrere Menschen in einem Raum. Er ist spärlich möbliert und voll mit wissenschaftlichen Apparaturen und Instrumenten. Es gibt dort verschieden große Behälter mit unterschiedlichen Chemikalien...« »Klingt nach einer interessanten Geschichte«, meinte Larry und machte es sich auf dem Stuhl bequem, auf dem der Blechmann gesessen hatte. »Mal sehen, ob der Chip hält, was uns die Werbung verspricht.« »Merkst du es denn nicht?« sagte Veronique kopfschüttelnd zu ihm. »Er redet von uns - von diesem Labor hier.« Bert nickte. »Theta 3 gibt wieder, was er wahrnimmt: die reale Welt um ihn herum. Offensichtlich existiert die irreale Welt, die der Intensivchip erzeugt, für ihn gar nicht, womit bewiesen wäre, daß er durch das Sensorium nicht manipuliert werden kann.« Man merkte ihm an, wie erleichtert er über diese Erkenntnis war. Um ganz sicherzugehen, befahl er dem Roboter, die äußeren Einflüsse kurzzeitig außer acht zu lassen und sich mit seiner gesamten Wahrnehmungsfähigkeit einzig und allein auf das Sensorium auf seinem Kopf zu konzentrieren. Theta 3 kam der Anweisung nach. »Weder meine optischen noch meine akustischen Sensoren empfangen virtuelle Signale«, sprach er. »Um es mit menschlichen Begriffen auszudrücken: nichts als Schwärze und Stille. Allerdings erfasse ich leichte Vibrationen, die von dem Datenträger innerhalb des Gerätes ausgehen.« Bis zu einem gewissen Grad waren die Blechmänner in der Lage, logische Schlußfolgerungen zu tätigen und in eigene Entscheidungen umzusetzen. Theta 3 schaltete das nicht sonderlich große Analysegerät, mit dem er verbunden war, selbständig ein. Larry hatte es mittels einer provisorischen Halterung auf seiner linken Schulter befestigt. Veronique wollte nachschauen, was die Analyse ergab, doch der Roboter kam ihr zuvor und informierte sie, daß starke Alphawellen angemessen wurden. »Alphawellen«, murmelte Stranger. »Keine Deltawellen wie bei den normalen Chips.« »Vielleicht ändert sich das nach einer gewissen Zeitspanne«, überlegte Veronique und riet ihm abzuwarten. Eine Stunde lang blieben die Meßergebnisse unverändert. Bert entschloß sich, den AbspielVorgang abrupt zu unterbrechen, indem er den Chip aus dem Sensorium nahm. Seine Hoffnung, dadurch den noch verbliebenen Inhalt zu retten, erfüllte sich nicht. Obwohl der Chip noch nicht vollständig abgespielt war, erwies er sich als leer, wie eine rasche Untersuchung ergab. »Offenbar löst das vorschnelle Herausnehmen des Chips eine weitere Schutzprogrammierung aus«, vermutete der Journalist. »Die gehen wirklich auf Nummer sicher.« ^ vf »Die?« fragte Larry, während er das Analysegerät von Theta 3 abkoppelte. »Wer sind >die« »Wenn ich das wüßte, würde meine Story noch in dieser Nacht in Druck gehen«, erwiderte Stranger. 276 277 Es war einundzwanzig Uhr, als Bert Stranger und Veronique de Brun in einem der vielfältigen kleinen Feinschmeckerlokale von Marseille ihr wohlverdientes Abendessen einnahmen. Der Journalist hatte die Biotechnologin eingeladen - und sie hatte sich, wie versprochen, nicht dagegen gesträubt. Es sollte ein friedlicher Abend werden, weshalb erneute Diskussionen über unaufrichtige Freunde und zum Leben erweckte Tote vermieden wurden. Statt dessen redeten beide über ihre teils hektische Arbeit.
Bert erzählte, daß ihm früher ein richtiges Zuhause als Ruhepunkt gefehlt hatte. Meistens war er unterwegs, weshalb er überwiegend in Hotels nächtigte. Diverse gemietete Apartments hatte er immer nur als Übergangslösung betrachtet. Mittlerweile hatte er eine wirklich feste Adresse. Aus der hochmodernen, mit allen Annehmlichkeiten ausgestatteten Wohnkugel, die er in Alamo Gordo bezogen hatte, würde er nicht so bald wieder weggehen. Die auf Säulen befestigten, stetig langsam rotierenden, riesigen Kugeln boten nicht nur Platz für viele luxuriöse Wohnungen, sondern auch einen herrlichen Ausblick über die gesamte Stadt. ... Veronique hielt sich mit Schilderungen über ihr Privatleben merklich zurück. Sie war kein Mensch, der sich einem anderen gleich beim ersten Rendezvous anvertraute. Um ihr Vertrauen zu gewinnen, sprach Bert offen über seine überwundene Sensorium-Sucht. An die virtuellen Erlebnisse erinnerte er sich heute nicht mehr - dank der körperlichen Entgiftung und seelischen Therapie, die er über sich hatte ergehen lassen. Er wußte nur noch, daß die vom Sensorium übermittelten Eindrücke so intensiv gewesen waren, daß sie völlige Gewalt über ihn gehabt hatten. »Am Vipho hatten Sie erwähnt, der Fall sei von weltpolitischer Brisanz«, sagte Veronique de Brun. »Steht das mit Ihren Mutmaßungen über Terence Wallis in Zusammenhang?« »Nein, das eine hat mit dem anderen nichts zu tun«, antwortete 278 Bert Stranger. »Die Schlagzeile >Artus spioniert für Wallis auf der POINT OF< existiert bislang nur in meiner Phantasie. Mal sehen, vielleicht nehme ich ja eines Tages entsprechende Recherchen auf, doch augenblicklich ist das nicht mehr als eine vage Vermutung.« Er zog ein zerknülltes Notizblatt aus der Tasche. »Zwei wichtige Informationen habe ich Ihnen neulich am Vipho verschwiegen. Daß einer der gefährlichen Chips den Suprasensor meines Freundes Bratislav zerstört hat, habe ich ja noch rechtzeitig gebeichtet. Dies hier ist die zweite Verheimlichung.« Veronique nahm den Zettel zur Hand, konnte damit aber wenig anfangen. »Sie haben eine Sauklaue, Mister Stranger. Wieso benutzen Sie keinen normalen Datenträger für Ihre Notizen? Seit dem Siebenjährigen Krieg schreibt kein Mensch mehr auf Papier.« »Nachdem ich meinen letzten Intensivchip verwendet hatte, war ich körperlich und seelisch am Ende. Mir wurde erschreckend klar, daß ich dringend etwas unternehmen mußte, wollte ich nicht vor die Hunde gehen. Meine Peiniger hatten mir zu verstehen gegeben, sie würden mir keine weiteren Chips mehr liefern, sollte ich mich weigern, die Fortschrittspartei zu unterstützen. Obwohl ich der Sucht verfallen war, erkannte ich die Bedeutung dieser Forderung und notierte mir das ganze auf dem nächstbesten Zettel. Nach der erfolgreichen Therapie wußte ich zunächst nichts mehr davon - bis ich zufällig die Notiz in meiner Hosentasche entdeckte.« »Sind Sie sicher, daß sie von Ihnen stammt? Vielleicht spielt Ihnen jemand einen bösen Streich.« »Nein, das habe ich geschrieben, daran gibt es für mich nicht den geringsten Zweifel. Sie selbst sagten gerade, meine Handschrift sei einmalig, Mademoiselle de Brun.« »Ich sprach von einer Sauklaue«, stellte sie richtig. »Wieso haben Sie nicht von vornherein die Karten offen auf den Tisch gelegt?« »Weil ich nicht wußte, ob ich Ihnen trauen kann«, antwortete Stranger in aller Offenheit. »Genaugenommen weiß ich es noch immer nicht, allerdings habe ich inzwischen ein gutes Gefühl. Sie 280 sind keine Anhängerin der Fortschrittspartei, nicht wahr?« »Ich kann diesen Schleimer Dreyfuß nicht ausstehen«, bekannte die Biotechnologin. »Vor der Wahl biedert er sich auf erbärmlichste Weise bei seinen Wählern an - hinterher rümpft er über das einfache Volk die Nase und fühlt sich an keines seiner Versprechen gebunden.«
»Tut das nicht jeder Politiker?« »Ich bin überzeugt, es gibt auch anständige Staatsmänner. Ren Dhark beispielsweise. Leider nimmt er seine Regentschaft zu sehr auf die leichte Schulter. Wie kann man eine Welt regieren, wenn man fortwährend in fremden Sonnensystemen unterwegs ist?« »Eine gute Frage«, entgegnete Bert. »Mich beschäftigt derzeit jedoch eine viel wichtigere: Was hat die größte Partei der Erde mit den illegalen Chips zu tun?« Nachdenklich ließ er seinen Blick durchs Lokal wandern. Die Ausstattung des Feinschmeckerrestaurants war so teuer wie die Kleidung der Gäste und die winzigen, teils undefinierbaren Speisen auf den Tellern. Insgeheim verspürte er Sehnsucht nach einer deftigen Currywurst mit fettigen Pommes frites. Vielleicht hätte er doch nicht Veronique, der es sichtlich mundete, die Bestellung überlassen sollen. Theta 3 stand unauffällig in einer Ecke. Ein weiterer Wachroboter hielt sich in seiner Nähe auf. Hätte es sich um zwei Hunde gehandelt, hätten sie sich vermutlich fortwährend angebellt, doch die Maschinen beachteten sich überhaupt nicht. Stranger stellte sich vor, was passieren würde, würde er versehentlich mit dem ihm unbekannten Besitzer des zweiten Roboters in Streit geraten. Dann würden beide Roboter versuchen, ihren Herrn zu beschützen und zwangsläufig aufeinander losgehen. Im Nu würde aus dem friedlichen Lokal ein Kriegsschauplatz werden. »... mit den illegalen Chips zu tun«, wiederholte Bert seinen letzten Satz leise. »Illegale Chips. Das ist es! Jetzt weiß ich, wo ich mit meinen Recherchen weitermachen werde. Warum bin ich da nicht gleich draufgekommen? Sobald wir aufgegessen haben, 281 trennen sich unsere Wege fürs erste, Mademoiselle de Brun. Ich habe heute nacht noch so einiges vor.« So schnell ließ sich Veronique jedoch nicht abschieben. »Eigentlich hatte ich nach dem Essen in mein Apartment nach Lyon fahren wollen, keine zwanzig Schweberminuten von hier. Aber jetzt komme ich mit. Sie haben meine Neugier geweckt, Mister Stranger, selbst schuld.« »Gar nicht mal so eine schlechte Idee«, meinte Bert nach kurzer Überlegung. »Mit einer Frau an meiner Seite mache ich mich weniger verdächtig. Allerdings müßten wir so tun, als würden wir uns näher kennen. Im Klartext: Wir spielen ein Liebespaar.« Veronique schluckte. »Auch das noch. Na schön, wenn es unbedingt sein muß. Reden wir uns künftig halt bei den Vornamen an, Bert.« »Ist mir recht, Veronique. Allerdings wäre >Schatz< oder >Liebes< angebrachter. Außerdem schadet es nichts, wenn du deine Kleidung auf der Toilette ein wenig in Unordnung bringst, um heruntergekommener zu wirken. Ich spüle derweil meinen Mund mit Wein und Schnaps aus, damit ich eine richtig schöne Alkoholfahne vor mir hertrage.« »Ich bin Wissenschaftlerin«, sagte die junge Frau. »Keine Charakterdarstellerin .« »Wer mit dem besten Reporter Terras zusammenarbeitet, muß die Kunst des Tarnens und Täuschens perfekt beherrschen«, erwiderte der Journalist. Prahlhans! dachte Veronique, begab sich aber ohne weiteren Widerspruch zu den Damenwaschräumen. Die POINT OF flog das Zentrum der Gas wölke an. Nachdem sie die errechnete Schale der Anti-Worgun-Strahlung durchstoßen hatten, wartete Dhark noch etwa zehn Lichtjahre ab, bis er Rani Atawa bat, mit einer ihrer beiden verbliebenen Kaker282 laken einen weiteren Ausflug im Flash zu machen. »Wenn mir die jetzt auch wegstirbt, bleibt nicht mehr viel Spielraum für weitere Versuche«, warnte die feingliedrige Inderin.
Dhark grinste. »Vielleicht haben wir ja auch irgendwo noch Freikrabbelnde an Bord. Früher,
zu Zeiten der Seefahrt, gab es in jedem Schiff Ratten. Warum soll's hier nicht auch Insekten
geben, die wir bei Aufenthalten auf allerlei Planeten ahnungslos mit an Bord genommen
haben?«
»Sie haben wirklich eine charmante Art, einem den Aufenthalt im Flaggschiff der TF zu
vermiesen, Ren«, seufzte Atawa.
Wenig später befand sie sich im geschlossenen Raumanzug mit einem Flash außerhalb des
Ringraumers. Sie betrachtete nachdenklich die transparente Kapsel mit dem Insekt. Dann
schaltete sie das Intervallfeld des Flash aus, entlüftete die Flugmaschine und öffnete die
Ausstiegsluke.
Sie mußte davon ausgehen, daß das Unitall des Flash die gleiche Konsistenz wie das der
POINT OF besaß und auch ohne Intervallfeld für Schutz gegen die Strahlung sorgte.
Jetzt sah sie über sich den freien Weltraum. Doch der bestand nicht aus Dunkelheit und
Sternen, sondern aus farbigen Wolkenschleiern, in denen es hier und da aufblitzte -
energetische Reaktionen, von deren Natur sie aber keine Ahnung hatte, weil das nicht ihr
Fachgebiet war.
Sekundenlang überkam sie Panik.
Was, wenn ich jetzt hinausgetrieben werde und nie wieder zum Flash zurückkomme? Ich
werde bis in alle Ewigkeit durch die Gardas-Wolke treiben, werde sterben, wenn der
Sauerstoff im Anzug verbraucht ist...
Aber dann kehrte der Verstand zurück.
Sie konnte nicht hinaustreiben. Im Flash herrschte künstliche Schwerkraft, die die Pilotin
ebenso wie die Kapsel festhielt. Kritisch konnte es nur werden, wenn sie auf die Idee kam,
auszusteigen und sich der Schwerelosigkeit hinzugeben.
Und selbst dann konnte sie noch den Helmfunk benutzen und
283
Hilfe anfordern.
Sie sah wieder die Kapsel an. In der bewegte sich das Insekt unvermindert lebhaft.
Aber die Kapsel...
... veränderte ihre Position?
Begann zu schweben?
Und Atawa glaubte zu spüren, daß sie selbst ein wenig leichter wurde, daß sie den Kontakt
mit dem Sitz verlor! Was stimmte hier nicht?
Erschrocken schloß sie die Luke wieder. Im gleichen Moment war das Phänomen vorbei.
Intervallfeld ein, Atemluft aus den Tanks in die Kabine pressen und nichts wie zurück in die
POINT OF...!
In der Zentrale betrachtete Gisol beinahe andächtig die Kakerlake, die unausgesetzt versuchte,
aus dem hermetisch verschlossenen Behältnis zu entkommen, nachdem Atawa es einmal kurz
geöffnet hatte, um dem Insekt Frischluft zukommen zu lassen. Das winzige Insektenhirn
begriff nicht, daß es von Wänden umgeben war, da diese ja durchsichtig waren...
Die Inderin berichtete von dem Schwerkraftphänomen, das sie erlebt hatte.
»Wundert mich nicht«, sagte Dhark. »Wir messen ständig wechselnde gravitatorische Felder
an. Das dürfte ein spezielles Phänomen dieser Gas wölke sein. Zusammenballungen darin
erzeugen Gravitation. Offenbar sind Sie in einen Ausläufer eines solchen Schwerkraftfeldes
geraten. Wir befinden uns derzeit in einem Bereich größerer Dichte.«
»Hätte man mir das nicht vorher sagen können?« tadelte Atawa, nahm den Transportbehälter
und verließ die Zentrale.
Dhark legte Gisol die Hand auf die Schulter. »Was hältst Du davon, wenn auch wir zwei jetzt
einen kleinen Ausflug machen? Nur testweise.«
»Da die Kakerlake überlebt hat, müßte ich eigentlich auch sicher sein. Probieren wir's aus.«
Kurz darauf waren sie mit Dharks 002 im freien Raum. Auch Gisol spürte keinerlei Beeinträchtigung mehr, als die Flashluke geöffnet wurde. Erleichtert atmete Ren Dhark auf. Es stimmte also; im Inneren der Wolke, innerhalb der Strahlungsschale, war der Mysterious sicher. Das, dachte er, konnte vieles leichtermachen... Der Anflug auf das Zentralgestirn erwies sich als nicht unkompliziert, denn hier, tief im Inneren der Wolke, kam es besonders häufig zu Zusammenballungen von Protosternen. Im Umkreis von fünf Lichtjahren um die zentrale Sonne würden in den nächsten tausend Jahren etwa 20 neue Sterne entstehen, wie die Astronomen aus den Meßwerten und dem Kartenwerk der Erron-Station errechneten. Gase und Staub kontrahierten an den betreffenden Orten und erzeugten Gravitation. 'Etwas davon hatte schon Rani Atawa bei ihrem Flashausflug erlebt. Aber sie war nur in einen harmlosen Ausläufer geraten, der zwar schon genug Gravitation erzeugte, um dem internen, künstlichen Schwerefeld des Flash entgegenzuwirken, aber darüber hinaus keine Rolle spielte. Gefährlicher waren schon elektrochemische und magnetische Prozesse, die die Ortungen irritierten und auch Einfluß auf den Antrieb nahmen. Deshalb ließ Ren Dhark die POINT OF im Schutz des Intervallfeldes und nahm einen relativ langsamen Überlichtanflug in Kauf, statt das Risiko einer Transition einzugehen. Was bei einem solchen Hyperraumsprung herauskommen konnte, hatte er vor Jahren in der Sternballung Dg-45 mit ihren schon fast teuflisch extremen Verhältnissen erlebt, und auch vorher schon einmal in einer Dunkelwolke, deren Name ihm entfallen war. 285 Astrophysiker Wren Craig äußerte die Vermutung: »Wenn die Erron-Stationen mit ihrer enormen Masse sich nicht in der Schale befänden, sondern in Zentrumsnähe, würden sie im Laufe der Jahrhunderttausende sicher auch genügend Masse an sich heranziehen, um die Entstehung von Sternen zu begünstigen.« , Dr. Ken Wask, wie immer recht hektisch und fahrig wirkend, widersprach. »Dazu brauchen sie nicht in Zentrumsnähe zu sein. In der Schale dauert es nur ein wenig länger - wenn es denn funktioniert, nur kann ich das nicht glauben, Kollege, weil...« Und er bewarf Craig mit einem Schwall von Fachchinesisch, das teilweise nicht einmal mehr seine Kollegen Bentheim und Ossorn verstanden. »Mann«, unterbrach Claus Bentheim ihn schließlich, »haben Sie dafür 'ne Mentcap geschluckt, oder wollen Sie uns jetzt nur am Nasenring durch die Manege führen?« »Im Gegensatz zu anderen bilde ich mich eben ständig fort«, fauchte Wask beleidigt. Yve Ossorn war lautlos verschwunden und meldete sich in der Zentrale an. »Dhark, wir müßten in unmittelbarer Nähe der Sonne recht normale Verhältnisse vorfinden«, berichtete er. »Die von den Zusammenballungen dieser Gaswolken erzeugte Gravitation nimmt den Gasdruck von dem zentralen System. Dessen Sonne -ein normaler G2-Typ - erzeugt somit genug eigenen Strahlungsdruck, um einen Bereich von einem halben Lichtjahr um das System gasfrei zu halten.« »Sie gehen also davon aus, daß es sich um ein Planetensystem handelt und nicht um einen einzelnen Himmelskörper?« fragte der Commander. »Hören Sie, Dhark, natürlich muß es sich um ein System handeln! Sonst ergäbe das alles hier doch keinen Sinn! Wir wissen nur noch nicht, wie viele Planeten es gibt.« »Wenn überhaupt. Haben Sie Zwitt vergessen, die siebte Sonne in der Sternenbrücke, die in Wirklichkeit ein Planet mit einer künstlichen Sonnenkorona war? Dazu wurden selbst unsere Ortungen getäuscht und erhielten Werte, die auf eine ganz normale, 286 echte Sonne hinwiesen!« »Aber Zwitt bekam die dafür nötige Energie von den acht anderen Sternen geliefert! Hier gibt es hingegen keine.« »Dafür aber genügend energetische Vorgänge. Wenn die angezapft werden können, könnte uns auch hier eine künstliche Korona eine Sonne vorgaukeln«, sagte Gisol.
Ossorn schnappte nach Luft.
»Das rechnen wir mal durch!« stieß er hervor. »Commander, geben Sie uns genügend
Rechnerkapazität des Checkmasters dafür frei!«
Dhark nickte.
Als Ossorn davonstürmte, sah der Commander Gisol stirnrunzelnd an. »Glaubst du wirklich,
es könnte sich um ein zweites Zwitt handeln? Diese energetischen Prozesse anzuzapfen, ist
etwas anderes als mal eben beim Nachbarstern zu tanken.«
Hen Falluta ächzte. »Mal eben beim Nachbarstern... heiliger Größenwahn!« Dabei war er in
der Sternenbrücke mit dabeigewesen und wußte, welche technische Großleistung die
Mysterious mit dieser schier unglaublichen Konstruktion auf die Beine gestellt hatten. War
das hier in Orn wirklich noch zu übertreffen?
»Ich weiß es nicht«, gestand Gisol. »Aber es kann gedacht werden, also kann es gemacht
werden. Das ist ein altes Sprichwort bei uns.«
»Bei uns Terranern auch...« sagte Dhark leise. »Nur haben wir vermutlich mehr
Bedenkenträger, als sie es bei euch jemals gab. Nun, wir lassen uns überraschen.«
»Etwas anderes bleibt uns ohnehin nicht übrig«, bemerkte Dan Riker. »Wäre ja ein Wunder,
wenn's ausnahmsweise mal anders wäre als immer...«
Dabei ahnte er noch nicht, welche Überraschung sie alle erwartete...
287
Die Voraussage der Astrophysiker stellte sich als richtig heraus. Die Sonne befand sich in
einem gasfreien Bereich, der sogar geringfügig größer war als errechnet.
Am Rand der gasfreien Zone stoppte Dhark die POINT OF. »Funk-Z«, verlangte er. »Morris,
kriegen Sie das hin, einen Hy-perfunkspruch mit so geringer Leistung zu senden, daß
außerhalb der Gaswolke niemand etwas davon mitbekommt?« »Wo soll das Problem sein?«
fragte der Cheffunker. »Die Wolke ist das Problem. Denken Sie an ERRON-1. Die Station
kann ihre gigantische Funkleistung nur deshalb erbringen, weil sie sich inmitten einer
Wasserstoffwolke befindet, deren energetisches Potential sie als Superverstärker nutzt. Mit
etwas Pech wird hier auch der Sender der POINT OF gewaltig verstärkt und funkt notfalls bis
zum Sombrero-Nebel.«
»Habe ich schon überprüft, Dhark«, erwiderte Morris. »Diese Wolke kann nicht als
Verstärker dienen. Selbst wenn es Gasanteile gibt, die dazu verwendet werden könnten,
werden sie von anderen Mischungen wieder blockiert. Das ist hier ein chaotisches
Durcheinander von Gas- und Staubpartikeln, das eher stört als verstärkt. Übrigens können wir
von hier aus mit der Echokontrolle die Sender auf Golden nicht mehr erfassen. Was aber auch
an der Entfernung liegen mag.«
»Na schön... dann schalten Sie mal zu mir herüber.«
»Sie können sprechen, Dhark.«
Ren formulierte einige Sätze in Worgunsprache, die per Hyper-funk abgestrahlt wurden. Die
Botschaft wurde mehrmals wiederholt.
Plötzlich herrschte Hochspannung an Bord!
Wie sah die Reaktion aus?
Reagierte überhaupt jemand?
Dan Riker zeigte sich wieder als Unke vom Dienst. »Gleich wimmelt's hier wieder von
Ringraumern, die uns angreifen... nur daß die diesmal nicht vor der POINT OF
zurückschrecken, sondern ihr Zentralsystem verteidigen und uns in den Orkus blasen!«
»Dan, heute bist du unerträglich mit deinem Pessimismus!« sagte Dhark schroff. »Vielleicht
solltest du deinen versäumten Schlaf nachholen.«
»Und das Beste verpassen?«
»Antwort kommt herein!« meldete Glenn Morris. »Ebenfalls sehr schwache Sendeleistung.
Schalte auf Zentrale. Senderpeilung läuft.«
Vor Dhark wurde ein Holo-Bildschirm auf dem Kommandopult aktiv.
Das Bild zeigte einen Menschen, der in eine Art moderner Toga gekleidet war. »Humanoid?« keuchte Dan Riker überrascht. »Hier in Orn? Der sieht aus wie frisch von Terra importiert! Gisol, könnte das einer Ihrer Leute sein, der das Aussehen eines Salters angenommen hat?« »Möglich«, erwiderte der Worgun, »aus Höflichkeit, weil er ja seinerseits gesehen haben muß, wie Ren aussieht, aber andererseits würde er dann sicher nicht dieses Kleidungsstück zeigen, sondern etwas ähnliches wie eine terranische Uniform. Außerdem hat er einen leichten Akzent, der mir unbekannt ist.« Zumindest das ließ sich nicht widerlegen. Da alle Worgun von den Zyzzkt auf einem einzigen Planeten, ihrer Heimatwelt Epoy, zusammengepfercht worden waren, war es unwahrscheinlich, daß Gisol einen Dialekt nicht kannte. Dhark konnte in der perfekten Worgunsprache, die der Mann in der Toga benutzte, logischerweise keinen Akzent erkennen. So wie Ren Dharks Funkspruch wurde auch der des Togaträgers mehrfach wiederholt. Er sagte, die MASOL sei schon von der Er-ron-Station gemeldet worden und werde hier mit Freude erwartet. »MASOL?« stieß Ren überrascht hervor. Seine Frage wurde gesendet und unterbrach damit den Standardfunkspruch des Togaträgers. »Dieses Schiff heißt nicht MASOL, sondern POINT OF.« »Aber das kann nicht sein«, entfuhr es dem anderen. »Uns wurde die MASOL angekündigt, kein Raumschiff anderen Na288 289 mens. Und die Identifikationsdaten der Erron-Station besagen eindeutig, daß es sich um die MASOL handelt.« Gisol übersetzte den Dialog für die anderen in der Zentrale. Riker aktivierte die Bordsprechanlage. »Grappa«, flüsterte er. »Haben Sie einen Abtastversuch registriert?« »Gerade eben! Sie sind meiner Meldung um eine Sekunde zuvorgekommen«, sagte der junge Mailänder. »Passive Fremdortung, nur eine Hundertstelsekunde lang. Wäre mir fast entgangen. Ausgangspunkt ist ein Ort nahe dem Stern. Dort scheint sich ein Planet zu befinden.« »Scheint...?« »Riker, wir sind noch zu weit weg. Ich müßte Hyperortung einsetzen, und die...« »... wird von den anderen bemerkt und vielleicht als aggressiver Akt gesehen, schon gut. Danke, Grappa. Sie handeln richtig.« Unterdessen führte Dhark das Gespräch mit dem Togaträger fort, während er der leisen Unterhaltung Rikers und Grappas lauschte. »Dieses Raumschiff heißt POINT OF«, sagte er nachdrücklich. »Wir fanden es auf Kaso in der Galaxis Nal. Es war noch nicht fertiggestellt. Das erledigten wir und nahmen es somit rechtmäßig in Besitz. Wir sind Terraner. Die POINT OF ist das Flaggschiff der Terranischen Flotte und gehört somit auf keinen Fall mehr zum Worgun-Imperium.« »Das Worgun-Imperium gibt es längst nicht mehr«, gestand der Togaträger und klang dabei traurig. »Dennoch stimmen die Daten der POINT OF mit denen der MASOL überein. Terraner nennen Sie sich? Das Wort hat einen guten Klang... Terra heißt Ihre Welt?« »Terra, Erde, Gäa... oder Lern, wie die Salter sie nannten. Wir bevorzugen die Bezeichnungen Terra oder Erde.« »Terraner von Terra. Ja, das klingt wirklich gut. Fast zu gut... kommen Sie zu uns. Sie sind herzlich willkommen. Ich sende Ihnen einen Peilstrahl, der Sie zum zweiten Planeten des Systems bringt.« 290
»Peilstrahl steht«, meldete Glenn Morris. Dhark lehnte sich zurück und überlegte. Die Freundlichkeit des Togaträgers war ihm nicht so ganz geheuer. Dieser Mann, der wie ein Terraner oder Salter aussah, stellte für ihn ein Rätsel dar. Daß er speziell auf den Begriff Terra ansprang, nicht aber auf die anderen Namen, schon gar nicht auf Lern, machte den Commander mißtrauisch. Wenn der Togaträger von Saltern abstammte, hätte er Lern kennen müssen. Er beugte sich wieder vor, daß er in den Aufnahmebereich der Holofeldkamera kam. »Verzeihen Sie mein Mißtrauen«, sagte er. »Aber wir kennen Sie nicht, Sie kennen uns nicht. Ihre Einladung kommt zu spontan. Was wollen Sie? Unser Schiff, die POINT OF?« »Sie glauben, wir wollen Ihnen die MASOL - die POINT OF -wegnehmen?« Plötzlich lachte der Togaträger auf, aber er wurde sofort wieder ernst. »Terraner, wir haben Schiffe genug, mehr als wir brauchen. Die Probleme liegen ganz woanders. Ich bitte Sie, der Einladung zu folgen. Wir wissen, daß Sie aus Nal kommen, weil Sie die MASOL fliegen. Wir möchten Sie kennenlernen, wir wollen mit Ihnen reden. Wäre es anders, gäbe es Sie und Ihr Schiff längst nicht mehr.« »Wir sind in Nal schon mit ganz anderen Fallen der Worgun fertiggeworden«, sagte Dhark rauh. »Fallen der Worgun? Terraner... so etwas trauen Sie uns zu? Ich sagte doch schon, daß es das Worgun-Imperium längst nicht mehr gibt. Falls Sie deshalb hierher kamen, kamen Sie vergebens.« »Aber Sie benutzen Worguntechnik«, erwiderte Dhark. »Die ganze Gardas-Wolke wird von Worgun-Technik beherrscht.« »Die Sie auch beherrschen, denn sonst wären Sie nicht mit der MASOL hier. Bitte, glauben Sie mir. Es ist keine Falle. Wir sind wirklich an einem Kontakt interessiert, Terraner. Es ist uns eine Ehre, das legendäre Schiff der Meister zu Gast auf unserer Welt zu 291 haben.« Als »Schiff der Meister« hatte es auch der Zentrale Controllo bezeichnet... und diesmal betonte der Togaträger das Wort Terra-ner ganz besonders stark. Warum? Dharks Neugier siegte über sein Mißtrauen. »Wir kommen«, entschied er. Die POINT OF folgte dem Leitstrahl. Den größten Teil der Etappe legte der Ringraumer überlichtschnell zurück, um dann im Inneren des Systems von Sternensog auf SLE zurückzuschalten und Planet zwei anzufliegen. Die Ortungen waren aktiv und sammelten die Daten des Systems. Die Sonne entsprach der irdischen, besaß aber gleich zwölf Planeten. Das Ziel, der zweite Planet, umkreiste sie in nahezu dem gleichen Abstand, in dem die Erde um Sol kreiste. Auch Größe und Rotationsdauer stimmten weitgehend überein. »Unfaßbar!«, behauptete Jerome Sheffield. »Sogar die Neigung der Polachse ist fast gleich bei Terra 23,5 Grad, hier 22,7! Das heißt, Jahreszeiten und Klima Verhältnisse dürften sich kaum von denen auf der Erde unterscheiden!« »Das ist eine zweite Erde«, bestätigte auch sein Kollege Jens Lionel. Weitere Messungen ergaben, daß der Planet auch bezüglich Masse, Atmosphäre, Zusammensetzung der Elemente und Struktur her der Erde verblüffend glich. Bedeutendster Unterschied waren Form, Größe und Lage der Kontinente... »Da unten dürfte es sich gut leben lassen«, meinte Leon Bebir, der turnusmäßig wieder das Kommando über den Ringraumer hatte. »Falls unser Finanzminister die Steuern noch weiter erhöht, werde ich mich wohl mit Frau und Kind hier ansässig machen...« 292
»Falls die Zuwanderungsgesetze dieses Planeten das ermöglichen«, warnte Riker spöttisch.
»Und falls Sie ein Unternehmen finden, das Umzüge in eine andere Galaxis übernimmt.«
Ren Dhark räusperte sich.
Für solche Kindereien war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Er konzentrierte sich wieder auf
das, was vor ihm lag: das unbekannte Sonnensystem in der Gardas-Wolke.
Die anderen elf Planeten waren vernachlässigbar. Keiner von ihnen befand sich in der
Biosphäre des Sterns. Sie waren tote Welten, heiße Wüsten, kalte Eisklumpen oder lodernde
Gasbälle wie Jupiter und Saturn.
Die POINT OF flog den Planeten an, der so blau wie Terra leuchtete, mit weißen
Wolkenbänken in der Atmosphäre. Der Ringraumer verlangsamte seinen Anflug und tauchte,
den Leitstrahl abreitend, in die Lufthülle ein.
Es war, als kehrten sie heim...
293
17. Während des Anflugs setzte die POINT OF alle verfügbaren Fernerkundungstechniken ein. Natürlich war für sie nur ein Teil des Planeten erfaßbar. Um mehr oder alles zu sehen, hätte sie schon in eine Umlaufbahn schwenken müssen, um dem Planeten vor der Landung mehrmals zu umkreisen. Bei »normalen« Forschungsflügen terranischer Raumschiffe war das Standard. Das hier aber war kein normaler Flug. Ren riskierte es nicht, die Bewohner dieser Welt dadurch zu brüskieren, indem er den Leitstrahl verließ, um zunächst mehrere Erkundungsumrun-dungen zu fliegen. »Eine wunderschöne Welt«, flüsterte Leon Bebir fast andächtig. Über Tele holte die Bildkugel einzelne Landschaftsbereiche herein. Es gab grüne Landschaften, kleine Ansiedlungen, breite Straßen und weite Felder, die der Landwirtschaft dienten und auf denen Getreide wuchs oder Tiere grasten - Pferde, Esel, Rinder, Schafe, Ziegen... sowohl auf den Feldern als auch in den Ortschaften in abgezäunten Pferchen. »Das sind terranische Tiere! Wie kommen die auf diesen Planeten? Das wird ja immer unglaublicher«, stieß Dan Riker verblüfft hervor, um im nächsten Moment vor einem Waldstück Tiere zu sehen, die es auf Terra nicht gab und auch nie gegeben hatte. »Also keine Suggestion, die mit unseren eigenen Erinnerungen spielt... das hatten wir doch auch schon mal«, entsann sich Dhark. »Wenn wir hier auch eine uns fremde Fauna neben der irdischen sehen, schließt das eine Manipulation weitgehend aus.« Womit das Rätsel nicht gelöst war, sondern nur noch größer wurde. Eine gewaltige Stadt tauchte auf. Ein wenig erinnerten die her-angezoomten Bilder Dhark an römische Architektur, aber die Bauten hier waren erheblich moderner und irgendwie leichter, spielerischer ausgeführt. So wie die Toga seines Funkpartners ihn eben294 falls an das antike Rom erinnert hatte, aber Ziermuster aufwies, die für das alte Rom untypisch waren. Tino Grappa meldete sich. »Wir messen an verschiedenen Positionen unterirdische Energieerzeuger an. Könnte auf Fabrikationsstätten hinweisen. Oder auf verborgene Kampfforts.« Die hatten sie hin und wieder bei den Mysterious erlebt. Waffenstarrende Kampfstationen, die plötzlich aus dem Boden emporfuhren und Tod und Verderben auf jeden spien, der sich ihnen aus dem Weltraum unerlaubt näherte. »Können Sie das spezifizieren?« wollte Ren wissen. »Bis jetzt nicht, Dhark. Tut mir leid.« Unterdessen führte sie der Leitstrahl zu einem etwa 50 Kilometer von der großen Stadt entfernten Raumhafen, auf dem mehrere tausend Ringraumer von jeweils 190 Meter Durchmesser geparkt waren.
»190?« hakte Ren Dhark nach. Die POINT OF und auch die EPOY durchmaßen 180 Meter, und die Raumschiffe, die in den submarinen Produktions statten auf dem Planeten Dockyard produziert und wieder abgewrackt wurden, weil sie niemand abholte, waren wesentlich kleiner. Nur produzierte Dockyard inzwischen nicht mehr, weil zur Zeit des Galaktischen Blitzes die dortige M-Technik nicht von Intervallfeldern geschützt worden war. Damit waren die Dockyard-Werften so »tot« wie alle andere ungeschützte M-Technik in der Milchstraße. Noch bevor die terranische Expedition nach Orn aufbrach, hatte Dhark die Frage gestellt, ob dieser Hyperraumblitz, der von Dra-khon ausging, nicht auch Orn hätte erreichen müssen. Immerhin bewegte er sich überlichtschnell fort und hatte innerhalb nur weniger Sekunden die Milchstraße durchdrungen und selbst den Nogk auf ihrem Planet weit draußen im Exspect zu schaffen gemacht. « 295 Wenn diese Schockwelle im Hyperraum in unverminderter Stärke weiterlief, hätte sie trotz der zehn Millionen Lichtjahre Distanz mittlerweile auch Orn längst erreicht haben müssen. Was bedeutete, daß dort keine ungeschützte M-Technik mehr hätte funktionieren dürfen. Auf Gisols EPOY traf das natürlich nicht zu; er hatte sich zu der Zeit mit seinen Raumschiffen längst in der Menschheitsgalaxis befunden, und seine Raumer waren von Intervallfeldern geschützt gewesen - dank seines Mißtrauens... Die Astrophysiker erklärten dem Commander und jedem anderen, der es wissen wollte oder auch nicht, daß dieser Hyperraumblitz anderen Gesetzen folgte. Eigentlich, so die Aussage, hätte seine Wirkung mit dem Quadrat der Entfernung abnehmen müssen, so daß vermutlich in Orn kaum noch etwas von seiner zerstörerischen Energie wirksam geworden sein könnte. Aber aus ungeklärten Ursachen kumulierte er im Exspect, wirkte also auch nur in selbigem. Ähnlich wie der zuvor in Drakhon aufgetretene Hyperraumblitz sich nur auf den Raum Drakhon beschränkt hatte. Das hatte wohl etwas mit höherer Hypermathematik zu tun, aber in diesem Fall mußte selbst Anja Riker kapitulieren, die als die Expertin in diesem Fach galt. Vereinfacht ausgedrückt, fand die Wirkung des Hyperraumblitzes am jenseitigen Rand des Exspects ihr Ende. Und das Exspect selbst, das die Milchstraße und Drakhon einschloß, gab es mit der Rückkehr Drakhons in sein eigenes Universum in diesem Weltraum auch nicht mehr. So oder so war Orn von dieser galaktischen Katastrophe verschont geblieben. »Dhark, diese 190-Meter-Raumer scheinen wesentlich moderner zu sein und mehr zu können als die POINT OF und die EPOY«, vermeldete Tino Grappa von der Ortung. »Zumindest deuten die ersten Auswertungen daraufhin, daß sie stärkere Bewaffnung und stärkere Intervallfelder haben als wir. Was den Antrieb angeht, tippen wir noch im Dunkeln. Bei einer offenen Auseinandersetzung dürften wir kaum eine Chance haben.« »Solche Schiffe habe ich noch nie gesehen«, sagte Gisol. Er betrachtete die Daten, die Grappa auf das Kommandopult überspielte, und sah in der Bildkugel die Raumer. Auch optisch wirkten sie anders, irgendwie moderner. Die Rumpfringe besaßen keinen kreisrunden Durchmesser mehr, sondern waren leicht oval, wobei die schmalen Enden des Ovals oben und unten lagen. Diese Raumer waren also nicht nur größer vom Durchmesser her, sondern im Vergleich zu allen bisher bekannten Ringraumem etwas »in die Höhe gezogen«. Der Leitstrahl führte die POINT OF zu einem abgesonderten Teil des Raumhafens. Offenbar hatte man eine relativ große Fläche eigens für das »Schiff der Meister« reserviert. Bebir schaltete die Intervallfelder ab und stoppte den Raumer dicht über dem Boden. Die 45 Paar Doppelausleger fuhren aus der Schiffswandung hervor; sanft federnd setzte der Ringraumer auf.
Drei Schweber näherten sich und hielten nur wenige Dutzend Meter vor der Hauptschleuse der POINT OF. Männer stiegen aus. Wie jener, mit dem Dhark über Hyperfunk gesprochen hatte, trugen sie Togen im römischen Stil, allerdings auf eine kaum wahrnehmbare Art moderner geschnitten als die, welche Dhark aus Illustrationen in Geschichtsbüchern oder von alten Filmen her kannte. Die Männer nahmen eine abwartende Haltung ein. »Dreizehn... keine sieben«, bemerkte Gisol. »Ist die 13 bei euch Terranern nicht eine Unglückszahl?« »Und die 7 bei euch Worgun eine Glückszahl?« vermutete Dhark. Der Mysterious verneinte. »Daß unsere Mathematik und unser Weltbild sich auf der 7 aufbaut, liegt an der inhärenten Logik unserer Mathematik, aber allein die Sternenbrücke mit ihren neun Sonnen sollte dir zeigen, daß wir die Zahl Sieben nicht unbedingt vergöttern.« »Und trotzdem war Zwitt die siebte Sonne...« »Du beißt dich in etwas fest, Ren«, sagte Riker. »Wie gehen wir jetzt vor?« 296 297 »Wir gehen raus und reden mit diesen Leuten. Du, Stewart, Gi-solundich.« »Nur wir vier?« Der Commander lachte leise. »Theoretisch würden Gisol und ich reichen, weil doch niemand sonst die Worgunsprache beherrscht! Aber dich will ich sowieso dabei haben, und Stewart ist Cyborg. Ach ja... Blaster und Paraschocker sind obligat. Ich traue diesem Völkchen nicht über den Weg. Die sind mir einfach zu freundlich -und zu rätselhaft!« r ^ Über die ausgefahrene Rampe der Hauptschleuse traten Dhark und seine Begleiter ins Freie und den Togaträgern entgegen. Ihr aristokratisches Aussehen und würdevolles Auftreten war beeindruckend. Dhark versuchte in den Gesichtern der Männer zu lesen; sie schienen zufrieden damit zu sein, daß die Delegation der Ter-raner zahlenmäßig geringer war, aber als sie Amy Stewart sahen, wirkten sie etwas befremdet. Unter ihnen selbst befand sich keine Frau. Spielten Frauen hier nur eine untergeordnete Rolle? Gab es etwa eine radikale Geschlechtertrennung wie bei den Rateken? Was Dhark ebenfalls auffiel, war, daß die Togaträger offensichtlich keine Waffen mit sich führten. Es gab auch kein bewaffnetes Schutzpersonal im Hintergrund. Daraufhin kam er sich mit den Waffen, die er und seine Begleiter am Gürtel trugen, ziemlich blöde vor. Aber vielleicht verfügten diese Leute über ganz andere Machtmittel, um ihren Willen zu erzwingen. Sie flogen Ringrau-mer, sie waren also mit M-Technik vertraut. Und die war immer für Überraschungen gut und barg zahllose Gemeinheiten. Einer der Männer trat vor. Er mochte Mitte 40 sein, dunkelhaarig, mit scharfer Hakennase und dunklen Augen. »Terraner, ich heiße euch herzlich willkommen auf unserer Welt«, sagte er in Worgunsprache mit dem gleichen Akzent, den 298 der Mann im Hyperfunkgespräch gezeigt hatte. Gisol übersetzte leise für Riker und Stewart. »Mein Name ist Marcus Cethegus Sulla«, fuhr der Redner fort. »Ich bin Mitglied des Hohen Senats, wie auch meine Begleiter. Wir sind erstaunt und erfreut zugleich darüber, die MASOL, das legendäre Schiff der ebenso legendären Hohen Meister Margun und Sola, endlich in Orn zu sehen.« Dhark sah ihn nachdenklich an. Der Name paßte nicht in die Worgunsystematik, klang eher lateinisch. Dazu paßte auch die Kleidung dieses Sulla und seiner Begleiter. »Ich muß doch hoffentlich nicht noch einmal betonen, daß mein Schiff tatsächlich POINT OF heißt, Flaggschiff der Terranischen Flotte ist und daß man mir zugesichert hat, diesen Anspruch zu akzeptieren?«
Gleich mehrere der Senatoren redeten im nächsten Moment heftig durcheinander. Sie
versuchten, Dhark zu beschwichtigen. »Natürlich ist es so, Terraner, wie Sie es sagen, aber
wir bitten um Verständnis, daß es uns ein wenig schwerfällt, uns daran zu gewöhnen. Wir
hatten nicht damit gerechnet, daß andere dieses Schiff fliegen würden.«
ii'
»Wen hatten Sie denn erwartet, Sulla?« fragte Dhark, dem dieser Name aus dem
Geschichtsunterricht bekannt war als der eines Mann, der sich einst in Rom über das Gesetz
gestellt hatte und herrschte, bis er an einem Herzinfarkt verstarb.
»Salter«, erwiderte Cethegus Sulla. »Salter hatten wir erwartet.«
»Die entstammen dem gleichen Planeten, von dem wir kommen. Sie waren nur vor uns da -
und wurden von den Worgun geholt, um ihre Heimatwelt niemals wieder zu betreten...«
»Darüber wissen wir nichts«, sagte Sulla. »Aber verzeihen Sie meine Unhöflichkeit - als
Sprecher des Senates hätte ich Ihnen zuerst meine Kollegen vorstellen müssen.«
Er rasselte die Namen seiner zwölf Begleiter herunter.
Dhark stutzte.
Mochten Kleidung und Name des Sprechers vielleicht noch Zu-
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fall sein, aber all diese Namen paßten nicht in die Worgunsprache. Sie waren lateinisch. Und
die Reaktion des Mannes beim Hyper-funkgespräch ... Terraner und Terra - Terra war das
lateinische Wort für Erde.
Aber Römer in einer anderen Galaxis?
Unmöglich...
»Sind Sie verantwortlich für die tödliche Strahlung, die diese stellare Wolke einhüllt und
Zyzzkt und Worgun tötet?« fragte Gisol plötzlich.
Dhark hielt den Atem an.
Er hatte nicht damit gerechnet, daß Gisol dermaßen undiplomatisch vorging.
»Was meinen Sie?« fragte Sulla zurück.
»Die Strahlung, die von Xe-Flash emittiert wird.«
»Darüber wissen wir wenig«, sagte Sulla. »Diese Maßnahme stammt aus alten Zeiten. Sie soll
verhindern, daß der Krieg zwischen den Hohen und den Zyzzkt auch hierhergetragen wird.
Sie ist erfolgreich, denn in Gardas findet kein Krieg statt.«
»Hoffentlich! Silent leges inter arma!« sagte Ren Dhark. :
Er wußte selbst nicht genau, weshalb er diesen lateinischen Spruch zitierte - »Im Krieg
schweigen die Gesetze«. Vielleicht, weil er in diesen Männern immer mehr Römer zu sehen
glaubte, von denen er nicht fassen konnte, wie sie nach Orn gelangt sein konnten, denn an
eine Parallelentwicklung zweier Welten mochte er nicht glauben. Das war wider alle
Vernunft.
Die Reaktion war verblüffend.
Die Hafengegend von Marseille hatte ihre hellen, bunten Seiten - und ihre dunklen. Wer sich
nicht auskannte, geriet dort leicht unter die Räder beziehungsweise unter die Räuber.
Die Faustregel lautete: Je weiter ein Lokal vom Kai entfernt lag, um so gefahrloser konnte
man es betreten. Im vorderen Teil des
Viertels befanden sich lediglich die typischen Touristenlokale mit ihrem gewohnten
Ambiente. Das Fischernetz unter der Decke, der verrostete Anker an der Wand, der alte
geschwätzige Seemann vor der Theke, die knackige Bordsteinschwalbe auf Männerfang, der
akkordeonspielende dicke Wirt hinter dem Tresen, Buddelschiffe, Bier, Schnaps und Snacks...
Abenteuerhungrige Lokalbesucher aus aller Welt bekamen das geboten, was sie hier
erwarteten: Seefahrer-Klischee »light« - allerdings zu »Heavy-Nepp-Preisen«. Dort, wo das
nostalgische Kopfsteinpflaster begann, erstreckte sich das eigentliche Hafengebiet. Wer sich
hierhin verirrte, die Brieftasche voller Geld und den Kopf voll Alkohol, dem war nicht mehr zu helfen. Dies war das Reich der Vertriebenen und Verlorenen. Die Klientel in den schäbigen Bars, deren Einrichtung so billig war wie der gepanschte Schnaps, bestand überwiegend aus Matrosen mit und ohne Heuer sowie Hafenarbeitern mit und ohne Job. Der alte Seemann schwätzte nicht fröhlich mit den Gästen, sondern schlief an einem Ecktisch seinen Rausch aus - mit dem Kopf in einer Rotweinlache. Die Wirtsleute konnten weder spielen noch singen, nur dreckige Witze erzählen und verwässerten Wein ausschenken. Und die Prostituierte, die sich an der Theke bei einem doppelstöckigen Grog aufwärmte (bis ihr Lude kam und sie nach draußen prügelte), sah aus wie eine Burgruine auf Beinen. In einer solchen Umgebung fiel eine Klassefrau wie Veronique de Brun auf, ganz gleich, wie sehr sie sich »entstellte«. Der rundliche Rotfuchs an ihrer Seite sah nicht aus wie ihr Zuhälter, eher wie ein Freier, den sie gerade aufgerissen hatte. »Laß das Rumpelstilzchen stehen, und komm mit mir nach oben«, rief ihr ein angetrunkener, bärtiger Matrose von der Theke her zu, kaum daß sie sich in der verräucherten Schankstube des »Plat de Poisson« an einem Zweipersonentisch niedergelassen hatte. Ein paar der Gäste grienten, so als hätte er gerade einen tollen Scherz gemacht. Die meisten Anwesenden kümmerten sich jedoch 301 um ihre eigenen Angelegenheiten. »Hast du überhaupt Kohle?« fragte Veronique den großspurigen Redner keß. »Mehr als der da«, behauptete der Bärtige. Bert Stranger, der sich noch nicht hingesetzt hatte, ging auf ihn zu und trat ganz dicht an ihn heran. » >Derda< trägt unter der Jacke einen Blaster«, raunte er ihm zu. »Außerdem hat >Derda< ein paar Gläser Absinth zuviel intus und in diesem Zustand nichts übrig für dumme Spaße. Denk daher beim nächsten Mal lieber nach, bevor du dein Maul zu weit aufreißt, das wäre besser für deine Gesundheit.« »War nicht so gemeint«, nuschelte der Mann, drehte sich auf seinem wackligen Barhocker wieder zur Theke und stierte in sein schmutziges Pernodglas. Eine dürre Frau, die aussah als hätte sie eine ansteckende Krankheit und würde jeden Augenblick leblos in sich zusammensinken, trat aus einem hinter der Theke gelegenen Raum und zog die Tür hinter sich zu. Nur einen kurzen Blick konnte Bert hindurchwerfen, doch das genügte ihm bereits. Zweifelsohne befand sich dort die Küche, und die war in einem erbärmlichen Zustand. »Was soll's sein?« fragte die dürre Wirtin den neuen Gast. Stranger hatte mit dem Gedanken gespielt, hier noch eine kleine Mahlzeit zu sich zu nehmen. Der vielversprechende französische Name des Lokals lautete in der Angloterübersetzung »Fischgericht« und wies vermutlich auf die Spezialität des Hauses hin. Angesichts der verwahrlosten Küche zog er es jedoch vor, lediglich zwei Glas Wein zu bestellen. Eine Salmonellenerkrankung konnte er jetzt weiß Gott nicht gebrauchen. Den Wein mußte er selbst an den Tisch bringen, eine Bedienung gab es hier nicht (und die Wirtin hätte den weiten Weg vermutlich nicht mehr geschafft). Nachdem er die Gläser abgestellt hatte, begab er sich erneut zu dem angetrunkenen bärtigen Matrosen. »Laß mich in Ruhe, ich will keinen Ärger«, nuschelte der See302 mann, mit einem nervösen Blick auf die Ausbeulung unter Berts Jacke. »Ich auch nicht«, erwiderte Bert leise. »Ich suche keinen Streit, sondern den gewissen Kick wenn du verstehst, was ich meine.«
Der Bärtige grinste. »Und ob ich verstehe. Ich selbst handele zwar nicht mit dem Zeug, aber ich kenne da ein paar Leute...« »Komm mir jetzt bloß nicht mit Marihuana, Kokain oder Heroin«, fuhr Stranger ihm grantig über den Mund. »Der Dreck wurde mir bereits in zwei Hafenpinten zum Dumpingpreis angeboten. Ich suche was echt Aufregendes, etwas, das man nicht überall kaufen kann und keine Nebenwirkungen hinterläßt. Man nimmt's sozusagen durch die Brille auf... du verstehst?« Der Matrose nickte. »Mein Kumpel Alex wird dir weiterhelfen. Ich setze mich sofort mit ihm in Verbindung. Du kannst am Tisch auf ihn warten. Wenn Alex ein gutes Geschäft wittert, ist er innerhalb weniger Minuten zur Stelle. Alexander, wie er eigentlich heißt, ist ein kluges Köpfchen und soll mal Jura studiert haben. Deshalb nennt man ihn auch scherzhaft den > Anwalts« Er räusperte sich. »Du bist doch hoffentlich kein V-Mann, oder? Der Anwalt riecht Polizeispitzel zehn Meilen gegen den Wind. Alex hat ständig vier Leibwächter bei sich, bullige Kerle, mit Armen wie Oberschenkel und bewaffnet bis an die Zähne. Wenn sie dich in die Mangel nehmen, nutzt dir dein Blaster auch nichts mehr.« »Erstens bin ich kein Spitzel«, versicherte ihm Stranger. »Zweitens bin auch ich nicht ohne Schutz. Mein bester Freund paßt auf mich auf.« Der Bärtige stand auf und begab sich langsamen Schrittes zum Hinterausgang. Dabei schaute er sich unauffällig in der Schank-stube um, konnte aber den Freund des Rothaarigen nirgends ausmachen. Es hielten sich mehrere Fremde im Lokal auf, von denen theoretisch jeder in Frage kam. Im Bereich vor der Hintertür gab es eine schmale Diele. Dort stand ein Schrank mit Putzutensilien, der viel zuviel Platz ein303 nahm. Der Bärtige mußte sich durch einen engen Spalt zwischen dem klobigen Möbelstück und der Wand zwängen. Würde im Lokal ein Brand ausbrechen, wäre dieser Ausgang nur bedingt als Fluchtweg geeignet. Neben dem Schrank stand regungslos ein Roboter. »Hast du nichts zu tun?« ranzte ihn der Matrose an. »Schnapp dir den Schrubber, und putz das Lokal!« »Negativ«, antwortete Theta 3. »Sie sind nicht weisungsbefugt.« »Ach, leck mich doch am...!« brummelte der Bärtige und ging hinaus. In einer dunklen Seitengasse betätigte er sein Vipho. Bert Stranger war inzwischen an den Tisch zurückgekehrt. »Bekomme ich jetzt endlich eine Erklärung für dein Verhalten?« drängte ihn Veronique. »Das ist schon der dritte miese Schuppen, den wir aufsuchen, Ich mime deine schlampige Begleiterin, und du tuschelst mit lauter finsteren Gestalten. Was ist das Ziel deiner Recherche? Wie lange wollen wir dies Spielchen noch betreiben?« »Bis mir jemand illegale Sensorium-Chips anbietet«, antwortete der Reporter. Veronique zog die Stirnbrauen hoch. »Wie bitte? Glaubst du wirklich, für die Dinger gibt es mittlerweile einen eigenen Schwarzmarkt? So wie für Rauschgift?« »Ein guter Vergleich. Ich habe dir doch von der Stewardeß im Jett erzählt. Ihr Verhalten nach dem Sensoriumsgebrauch war irgendwie anders als meines. Ich war jedesmal total erschöpft, wie jemand, der gerade eine harte Arbeit hinter sich gebracht hatte. Sie hingegen wirkte auf mich mehr wie ein Junkie nach einer frischen Spritze. Das brachte mich auf den Gedanken, Intensivchips auf dem illegalen Drogenmarkt aufzutreiben. Bisher bot man mir nur die üblichen Drogen an, doch ich bin überzeugt, daß mit den Chips längst ein schwunghafter Handel betrieben wird. Ein Mann namens Alexander, genannt >der Anwalt<, will sich gleich mit mir treffen.«
»Und was erwartest du von mir?« »Daß du deine Rolle als geistig unbedarftes Flittchen weiterspielst. Tu so, als wärst du ganz heiß auf die Chips. Alles weitere kannst du getrost mir überlassen.« »Mal angenommen, du hast recht, und die Chips werden tatsächlich auf dem Drogenschwarzmarkt verkauft. Was nützt dir diese Information?« »Ich wüßte endlich, wo ich mit meiner Suche nach den Hintermännern ansetzen kann«, erklärte Bert Stranger seiner Begleiterin. »Eine Rund-um-die-Uhr-Beschattung des betreffenden Dealers wird mich früher oder später zu seinen Lieferanten führen - und mich der Lösung des Politkrimis ein Stückchen näherbringen.« »Jagst du nicht vielleicht doch nur Gespenstern hinterher?« gab Veronique zu bedenken. »Sehen die vielleicht wie Gespenster aus?« stellte Bert ihr die Gegenfrage und machte eine Kopfbewegung zum Haupteingang hin. Vier Kerle wie Bäume betraten die Schankstube und verteilten sich lautlos auf die vier Ecken des Raumes. Dort angekommen verschränkte ein jeder von ihnen die Arme vor der Brust und bewegte sich nicht mehr. Man hätte sie für Statuen halten können, hätten sie nicht ab und zu geblinzelt. »Starker Auftritt«, sagte Stranger leise zu de Brun. »Jetzt bin ich höllisch gespannt auf Alexander den Großen.« Der unscheinbare, farblos gekleidete Mann, der sich zu Stranger und de Brun an den Tisch setzte, war schätzungsweise siebzig Jahre alt und hatte schütteres, graues Haar. Seine fahle Gesichtsfarbe ließ auf ungesunde Ernährung schließen, sein kümmerlicher Oberlippenbart auf einen sehbehinderten Typberater. »Ich bin Alex«, stellte er sich vor. »Alex - und weiter?« hakte Stranger nach. »Jede Persönlichkeit, die etwas auf sich hält, hat mindestens zwei Vornamen. Und einen Nachnamen!« 304 305 »Ich habe in der Tat mehrere Vornamen«, entgegnete der »Anwalt«. »Alex ist der erstgenannte, das sollte Ihnen genügen. Wie ich hörte, sind Sie auf der Suche nach dem gewissen Etwas, Mister...?« »Diogenes«, ergänzte Bert Stranger den Satz und fügte hinzu: »Monsieur und Madame Diogenes, das sollte Ihnen genügen.« Alex hielt sich nicht lange mit Vorreden auf. Er zog ein Zigarettenetui aus seiner Jackentasche, öffnete es per Knopfdruck und hielt es »Diogenes« hin. »Bedienen Sie sich«, forderte er ihn auf, schränkte aber sogleich ein: »Falls Sie es sich leisten können. Pro Kippe verlange ich 350 Dollar.« Bert fiel auf, daß jede Zigarette über zwei Filter verfügte, einen am oberen und einen am unteren Ende. Daraus schloß er, daß sich im Inneren kein Tabak befand. Vermutlich dienten die vermeintlichen Glimmstengel als Aufbewahrungsröhrchen für ein pulver-förmiges Rauschgift. »Kokain?« fragte er und fügte hinzu: »Kein Interesse, schon gar nicht zu solchen Horrorpreisen.« »Das Zauberpülverchen stammt aus dem Telin-Imperium«, flüsterte Alex geheimnisvoll. »Die Beschaffung erfolgt über dunkle, sehr kostspielige Kanäle. Deshalb kann ich Ihnen im Preis leider nicht entgegenkommen, ich lege eh schon drauf.« »Wer's glaubt«, knurrte Stranger. »Wie heißt das Teufelszeug?« »Auf dem Markt wird es unter der Bezeichnung >Brush< gehandelt. Es darf nur in geringen Mengen eingenommen werden. Überdosierung führt zu einem qualvollen Tod. Bei richtiger Handhabung erlebt man jedoch nie gekannte Glücksgefühle.«
»Dieses Gift nehme auf gar keinen Fall, Liebes!« warf Veroni-que ein. »Du weißt genau, was
ich will. Wenn du es mir nicht beschaffen kannst, suche ich mir halt einen anderen Typen für
die Nacht.«
»Schon gut, Schatz, du kriegst ja, was du willst«, redete Bert beschwichtigend auf sie ein.
»Ich kann doch nichts dafür, daß sich
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alle Händler, die wir angesprochen haben, als unfähig entpuppten. In dieser Branche neigt
man offenbar leicht zur Selbstüberschätzung. Keine Sorge, früher oder später finden wir
bestimmt jemanden, der etwas von seinem Geschäft versteht.«
»Diogenes« blickte den Dealer herablassend an. »Offensichtlich kommen wir nicht ins
Geschäft, Alexander. Tu mir den Gefallen, und geh mir aus der Sonne.«
Alex verzog ärgerlich das Gesicht.
»Puder dir die Nase, Schätzchen«, sagte er zu Veronique. »Dein Stecher und ich müssen mal
unter vier Augen miteinander reden.«
Veronique sah entrüstet zu Bert. »Schatzi! Läßt du es zu, daß man mich einfach wegschickt?«
»Nun verzieh dich schon«, erwiderte Stranger brummig. »Manche Verhandlungen führt man
besser von Mann zu Mann.«
Veronique spielte die Gekränkte, erhob sich von ihrem Platz und begab sich zu den
Waschräumen, wobei sie gekonnt mit dem Po wackelte.
»Nun zu uns beiden, Diogenes oder wie auch immer du heißen magst«, ergriff der »Anwalt«
das Wort. »Wage es nie mehr, in diesem hochnäsigen Ton mit mir zu reden, klar? Ich bin
weder unfähig noch überschätze ich mich selbst. Brush ist spitzenmäßige Qualitätsware.
Wenn deine Kleine eine Prise davon nimmt, ist sie hinterher wie Wachs in deinen Händen.
Dann hält sie dich für Adonis und wird zum willenlosen Püppchen.«
»Eben darauf lege ich keinen Wert«, erklärte Bert ihm. »Ich will im Bett keine mit Drogen
vollgepumpte Junkie-Braut, sondern eine Granate. Als sie sich neulich diesen Apparat
aufsetzte, war sie total außer Rand und Band. So hatte ich sie noch nie erlebt.«
»Ein Apparat? Wie sah er aus?«
»Stell dich doch nicht so dumm. Willst du behaupten, du hättest noch nie etwas vom
Sensorium gehört? Meine Freundin steckte einen Chip hinein, und ab ging die Post. Ich wollte
das Ding hinterher selbst mal ausprobieren, doch leider war kein voller Chip mehr
vorhanden.«
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»Ja, und? Chips für das Ding gibt es in allen Sorten in jedem Fachgeschäft.«
Bert schüttelte den Kopf. »Jene speziellen Chips nicht. Die zeichnen nicht nur Bild und Ton
auf. Die bieten dir das volle Programm, als wärst du selbst am Zug. Sozusagen mittendrin
statt nur dabei.«
Alex strich mit dem rechten Zeigefinger sein armseliges Bärt-chen glatt. »Ich habe von den
Spezialchips gehört. Ein paar Kleindealer handeln seit einiger Zeit damit. Einer von ihnen,
Quinn, hat mir kürzlich vorgeschlagen, als sein Geschäftspartner mit einzusteigen. Ich habe
jedoch abgelehnt, weil ich der Meinung war, daß sich damit nichts verdienen läßt. Offenbar
habe ich mich geirrt.« »Wo finde ich diesen Quinn?«
»Unten am Kai, hinter den großen Lagerhallen. Er betreibt sein Gewerbe nur im kleinen Stil,
als Einmannbetrieb. Bin ich erst mal sein Partner, wird sich das ändern. Halbe Sachen liegen
mir nicht.«
Der »Anwalt« stand auf und verließ das Lokal. Seine vier hünenhaften Leibwächter folgten
ihm so lautlos, wie sie hereingekommen waren.
Veronique kehrte zum Tisch zurück. Bert unterrichtete sie in wenigen Worten über den Inhalt
des Gesprächs.
»Dem Kerl bin ich nicht zum letzten Mal begegnet«, sagte er leise zu seiner Begleiterin.
»Sobald ich den Sensorium-Fall abgeschlossen habe, kümmere ich mich um den neuen Stoff,
den er uns angeboten hat. Die Weltöffentlichkeit hat ein Recht darauf, zu erfahren, daß skrupellose terranische Dealer Rauschgifthandel mit dem Telin-Imperium betreiben. Die Galaxis wächst zusammen, und das ist gut so. Aber leider bringt der neue Zusammenhalt auch neue Probleme mit sich, die es auszumerzen gilt.« Veronique empfand leichte Bewunderung für den engagierten Journalisten. Bisher hatte sie in ihm nur den wichtigtuerischen Sensationsreporter gesehen, der für eine Schlagzeile nötigenfalls über Leichen ging. Sollte sie sich so sehr in ihm getäuscht haben? 308 Quinn sah aus, als wäre er sein bester Kunde. In erster Linie handelte er mit LSD - eine Droge, von der Stranger geglaubt hatte, daß sie längst vom Markt verschwunden sei. Haschisch konnte man ebenfalls bei ihm beziehen. Und Intensivchips fürs Sensorium. »Die sind allerdings rar und entsprechend teuer«, teilte der knapp dreißigjährige Mann mit dem Gesicht eines Fünfzigjährigen seinen beiden neuen Kunden mit. »Versuch ja nicht, den Preis hochzutreiben, Freundchen!« warnte ihn Bert. »Ich kenne mich aus und weiß, was die Dinger wert sind.« »Willst du jetzt etwa feilschen?« zischte Veronique ihn an. »Hast du mal auf die Uhr gesehen, Schatz? Die Nacht ist bald vorbei. Wenn wir von den Chips noch etwas haben wollen, sollten wir uns beeilen, zurück ins Hotel zu kommen. Dort ist es garantiert angenehmer und wärmer als hier.« Sie rieb sich fröstelnd die Oberarme. Um die Lagerhallen pfiff ein eisiger Wind. Quinn schien ihn nicht zu spüren, er hatte wohl irgend etwas eingenommen. »Du hast recht, Liebes, wir sollten machen, daß wir hier wegkommen«, pflichtete Bert seiner Begleiterin bei und wandte sich wieder dem Dealer zu. »Wieviel verlangst du für vier SpezialChips?« »Tausend.« »Ich gebe dir achthundert, das wären zweihundert Dollar pro Stück. Nimm das Geld, oder laß es. Ach ja, und noch eins: Falls sich herausstellt, daß du mir lediglich ganz gewöhnliche Senso-rium-Chips verkauft hast, brauchst du keine Pläne mehr für deinen nächsten Geburtstag zu machen. Haben wir uns verstanden?« Quinn nickte. »Keine Bange, ich weiß, was ich meiner Kundschaft schuldig bin, schließlich lebe ich von der Mundpropa309 ganda.« Geld und Chips wechselten den Besitzer. Bert und Veronique machten sich auf den Rückweg. Es graute ihnen davor, erneut am Kai entlangzugehen, vorbei an den verschlossenen großen Containern und verschnürten riesigen Ballen, die zur Verschiffung bereitstanden. Zwischen Ladegut, A-Grav-kränen und Transportfahrzeugen trieb sich jede Menge zwielichtiges Gesindel herum. Streckenweise wurde die Finsternis von vereinzelten, schumm-rigen Hafenlaternen unterbrochen. Nur dort, wo die ganze Nacht hindurch gearbeitet wurde, konnte man sich einigermaßen sicherfühlen. Quinn hatte keine Probleme mit der Dunkelheit. Für Männer wie ihn, die ihr Dasein am Rande der Gesellschaft fristeten, war die Nacht der beste Freund, schützte sie ihn doch vor dem langen Arm des Gesetzes. Als er bemerkte, wie eine hagere, hochaufgeschossene Gestalt aus dem Schatten des Lagerhauses trat und auf ihn zukam, lief er nicht davon. Wer an einem derart unheimlichen Ort seine Ware verkaufte, durfte nicht ängstlich sein.Der Hagere wollte jedoch nichts kaufen, sondern ihn zur Rede stellen.
»Bist du dir eigentlich darüber im klaren, an wen du gerade deine Chips verkauft hast?« fragte er den Dealer. »Das war der Schnüffler Stranger. Die Organisation hat alle Verkäufe an ihn strikt verboten.« »Und wenn schon«, erwiderte Quinn gelassen. »Ich habe Schulden, und mein Hauswirt setzt mich vor die Tür, wenn er nicht endlich seine Miete bekommt. Deshalb bin ich dringend auf jedes Geschäft angewiesen, Organisation hin, Organisation her. Im übrigen habe ich den Kerl nicht erkannt. Ich hielt ihn für einen Drogenkonsumenten, der mit seiner Braut mal was ganz Besonderes erleben wollte. Solche verkommenen Typen suchen mich jede Nacht auf.« 310 Beide Männer gerieten in Streit. Quinn wollte nicht einsehen, daß er etwas falsch gemacht hatte und brachte seinen Kontrahenten damit in Rage. Der Hagere zückte ein Messer und stach es dem Dealer voller Jähzorn mehrmals in den Bauch. Nachdem er sich wieder abgeregt hatte, ging er davon. Übers Vipho rief er Verstärkung zur Verfolgung von Bert Stranger herbei. An den Leichnam, den er hinter den Lagerhallen zurückließ, verschwendete er keinen Gedanken mehr. Kaum jemand würde Quinn vermissen. Er war ein Verlorener, an dessen Grab niemand eine Rede halten würde. »Können wir nicht woanders langgehen?« fragte Veronique ihren Begleiter leicht verängstigt. »Dort vorn gibt es reihenweise unbeleuchtete Anlegestellen - genau der richtige Platz für einen Überfall. Vielleicht sollten wir lieber nach rechts abbiegen.« ; »An den aufgestapelten Containern entlang?« entgegnete Stranger. »Nein danke, da ist es ja noch dunkler. Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen. Theta 3 ist ständig in unserer Nähe und folgt uns unauffällig in einigem Abstand.« »Und warum sehe ich ihn dann nicht?« »Weil er ein perfekter Leibwächter ist. Sobald uns etwas zustößt wird er...« Der Rest von Berts Satz ging in einem ohrenbetäubenden Knall unter. Etwa achtzig Meter von den beiden entfernt schoß hinter einem hohen Kistenstapel ein mächtiger Feuerpilz empor und erhellte die Nacht für mehrere Sekunden. Die Szene hatte Ähnlichkeit mit einer Atombombenexplosion, allerdings waren Flammen, Rauch und Druckwelle wesentlich geringer. Es wurde keine ganze Stadt zerstört - lediglich der Kistenstapel krachte in sich zusammen. Die mit Bananen bestückten Kisten polterten über den Boden, zerbrachen oder stürzten ins Wasser. Hinter dem Stapel wurde ein 311 brennendes Metall skelett sichtbar. Stranger und de Brun begriffen, daß sie auf den Schutz von Theta 3 nicht mehr zählen konnten. Jetzt waren sie auf sich alleingestellt. Sie befanden sich in einem zwielichtigen Hafenviertel und schwebten in höchster Lebensgefahr. Spontan entschlossen sie sich, doch noch nach rechts abzubiegen. Voller Panik liefen sie an einer Reihe übereinanderstehender Warencontainer entlang, auf der Suche nach einem sicheren Versteck. »Glücklicherweise hast du noch den Blaster bei dir, den du dir in meiner Firma vom Wachschutz ausgeliehen hast«, bemerkte Ve-ronique atemlos. »Den mußte ich beim Verlassen des Firmengeländes zurückgeben«, erwiderte er keuchend. »In dieser Hinsicht habt ihr strenge Sicherheitsvorschriften.« Er blieb kurz stehen, langte in seine Jackeninnentasche und nahm eine zusammengeknüllte doppelte Zeitungsseite heraus. »Damit habe ich die Ausbeulung unter der Jacke erzeugt«, verriet er Veronique. »Das reichte aus, um den bärtigen Matrosen zu bluffen - aber unsere Verfolger können wir damit sicherlich nicht abhängen.«
Die Senatoren waren wie elektrisiert und redeten auf Latein durcheinander! Es gab keinen Zweifel! Die Sprache, die sie untereinander verwendeten, war kein Worgun, sondern Latein! Dhark, der diese Sprache als Schüler hatte lernen müssen, verstand nicht einmal ein Zehntel des wilden Geschnatters, aber was er mitbekam, reichte völlig aus, das Latein zu erkennen. Gisol mußte kapitulieren. Stewart ebenfalls, nur Dan Riker murmelte verblüfft: »Das ist doch...?« »Woher kennen Sie diesen Ausspruch?« wollte Sulla wissen, der 312 bisher noch nicht einmal nach den Namen der Terraner gefragt hatte. Dhark kramte seine Lateinkenntnisse von einst zusammen. Viel war nicht übriggeblieben, und er war sicher, daß es in den Ohren von Römern mehr als holprig klingen mußte. Aber er hatte sich damals für römische Geschichte interessiert und auch für die Sprache; er hoffte, daß er sich einigermaßen verständlich machen konnte. »Es sind die Worte des Marcus Tullius Cicero«, sagte er auf Latein. »Ich lernte sie in der Schule auf meiner Heimatwelt Terra. Das Volk der Römer hat unserer Kultur sehr viel gegeben.« »Terra...«, seufzte Sulla. »Ich konnte es kaum glauben, als uns der Funkverkehr zwischen unserer Leitstelle und Ihrem Schiff übermittelt wurde. Sie kommen von Terra, Sie sind Terraner... und Sie sprechen unsere Sprache, allerdings - verzeihen Sie -nicht besonders gut. Es ist unfaßbar. Kommen Sie wirklich aus der Heimat unserer Ahnen?« Dhark hatte etwas Mühe, das Latein zu übersetzen, das Sulla redete. »Sprechen Sie bitte langsamer«, bat er. »Ich lernte Ihre Sprache zwar, bin sie aber nicht gewohnt, weil sie bei uns nur noch rudimentär von Wissenschaftlern und Medizinern benutzt wird.« Sulla verdrehte die Augen. »Nur noch rudimentär? Sie transit gloria mundi... * Terraner, bitte erweisen Sie uns die Ehre, vor dem Senat zu erscheinen. Es gibt sicher viel zu besprechen. Es ist unfaßbar - Nachfahren unseres großen Volkes besuchen uns hier in Orn...« * »So vergeht der Glanz der Welt.« 313 18. Die vier Besucher wurden in einen der bereitstehenden modernen Gleiter gebeten. Teilweise erkannten Dhark und Riker M-Technologie, andererseits hatten diese Maschinen auch etwas irgendwie... Moderneres. Und etwas Eigenständigeres. Es erinnerte Dhark daran, wie die Menschen die Technologie der Giants und der Arnphis assimiliert hatten. Das hier war eine Stufe mehr - eine Weiterentwicklung. Gisol schwieg sich aus. Mittels seines Armbandviphos unterrichtete Dhark die POINT OF von der Entwicklung. Sulla und zwei andere Senatoren, die neben dem Piloten noch mit an Bord waren, reagierten nicht darauf. Daß sie weder nachfragten noch versuchten, die Funkverbindung zu unterbinden, schien ein Beweis ihrer Friedfertigkeit zu sein. »Wir fliegen zur Hauptstadt«, erklärte Sulla unaufgefordert, noch ehe der Gleiter startete. »Roma befindet sich nicht weit von hier.« Das war eine Untertreibung, die wiederum zu den Mysterious gepaßt hätte. Während des Fluges streiften sie mehrere kleine Dörfer. Überall waren Menschen unterwegs, und überall waren sie gekleidet wie die Römer der Erde - nur ein wenig moderner. Der Abend brach über diesen Teil des Planeten herein; es wurde aber nicht wirklich dunkel. Der Abend- und Nachthimmel war nicht wie auf der Erde schwarz und von Sternen übersät, sondern leuchtend bunt! Dafür sorgte die Gas wölke mit ihrem prachtvollen Farbspektrum, welches das Licht der Sonne reflektierte. Dan Riker fragte sich, wie Leon Bebir darauf reagieren würde. Er selbst war sicher, sich mit einer solchen permanenten nächtlichen Illumination nicht auf Dauer abfinden zu können.
»Erzählen Sie uns etwas über Ihre Welt«, bat Ren Dhark. »Terra Nostra ist eine schöne Welt«, sagte Sulla. »Wir leben hier weitgehend unbehelligt und in Frieden. Das soll auch so blei314 ben.« »Terra Nostra - >unsere Erde<«, sann Ren Dhark. »Stammen Sie wirklich von unserer Heimatwelt ab? Aber wenn, wie sind Sie alle dann hierher gelangt? Zwischen unseren Welten liegen zehn Millionen Lichtjahre!« »Ihre Fragen werden sicher beantwortet«, sagte Sulla. »Aber nicht jetzt von mir. Verzeihen Sie meine Aufdringlichkeit, aber -wir kennen bisher nicht einmal Ihre Namen. Wir wissen nur, daß Sie das Schiff der Meister hierher gebracht haben.« Dhark hob beide Hände. »Mea culpa«, sagte er. »Es tut mir leid. Verzeihen Sie die Unhöflichkeit. Aber wir sind dermaßen überrascht...« »Wir nicht weniger...« Dhark stellte sich und seine Begleiter endlich vor. Sulla griff zu seinem aufwendig gestalteten Armband und drückte auf eine leicht erhaben gearbeitete Stelle. »Ich danke Ihnen für die Auskunft.« »Was ist das?« fragte Dhark und deutete auf das Armband, das wie ein etwas übertrieben prunkvolles Schmuckstück aussah. »Ein Aufnahmegerät«, gestand Sulla. »Ich habe soeben Ihre Namen per Funk weitergegeben, damit Sie standesgemäß angesprochen werden können.« Ren Dhark hatte das irdische Rom nie besucht, aber er kannte es aus Filmen und von Bildern. So hatte er auch einen Eindruck vom antiken Rom der Cäsaren. Die Hauptstadt von Terra Nostra wurde ebenfalls Roma genannt. Aber es war viel größer, viel prunkvoller. In seiner Ausdehnung übertraf es fast das moderne Rom der Erde, nur herrschte hier keine drangvolle Enge, kein dichtgepackter Straßenverkehr. Alles war viel großzügiger angelegt. Vielleicht lebten in diesem Roma trotz seiner Größe weniger Menschen als einst auf der Erde im 315 klassischen Rom. Moderne, große Häuser, die römischen Palästen glichen, breite, freie Straßen, in denen sich keine Esels- und Ochsenkarren der ärmeren oder Pferdegespanne der reicheren Bevölkerung bewegten, sondern Schweber und motorisierte Bodenfahrzeuge. Menschen in römisch-moderner Kleidung waren zu sehen, hier und da spielten Gruppen von Kindern mit Katzen und Hunden. Alles war weiträumig und freizügig angelegt und atmete einen Hauch von Freiheit, wie Dhark ihn selten irgendwo erlebt hatte. In großen Teilen war dieses Roma dem irdischen nachgebildet. Schon beim Anflug fiel Dhark das Kolosseum auf, daneben der Circus Maximus und dahinter die Cäsarenpaläste, von deren Baikonen aus man schon damals die Rennspiele im Circus hatte beobachten können, ohne sich unter die sicher nicht immer wohlriechenden Plebejer in den Zuschauerreihen zwängen zu müssen, wenn man nicht gerade das Privileg besaß, in der Cäsarenloge verweilen zu dürfen. Auch diese Anlagen erschienen Dhark weit größer ausgebaut als er sie von den Bildern des antiken irdischen Rom in Erinnerung hatte. Der Gleiter näherte sich dem Kapitol. Wie es zu erwarten war -es war größer, schöner, prunkvoller als das im echten Rom. Es war, als hätten die Römer von Terra Nostra alles daran gesetzt, das Original in allen Dingen zu übertrumpfen. Und all das gewürzt mit Worguntechnik... Die Maschine landete vor dem großen Senatsgebäude. Als die Insassen ausstiegen, warf Dhark einen Blick nach oben. Hinter den großen Bauwerken mit ihren kunstvoll verzierten
Marmorsäulen und Standbildern leuchtete der farbenprächtige Himmel, der schon fast die Nacht anzeigte. Es war ein eindrucksvoller, beinahe ehrfurchtgebietender Anblick. Auf den Stufen der breiten Treppe, die zum Eingang des Gebäudes führte, erwartete eine große Gruppe von Togaträgern die Ankömmlinge. »Der Senat ist vollzählig versammelt«, sagte Sulla, »um Sie zu 316 begrüßen.« »Um diese Abendstunde?« wunderte sich Dhark. »Läßt man etwa auf Terra Gäste warten, hungern und dürsten, bis der neue Tag anbricht? O temporae, o mores!« * »Das nicht gerade«, erwiderte Dhark. »Man gibt ihnen Quartier, erfüllt ihre Wünsche, soweit das möglich ist, und führt die Gespräche am kommenden Tag.« »Aus Bequemlichkeit, vermute ich. Doch wir Römer machen es uns nicht auf Kosten unserer Gäste bequem. Aber ich muß gestehen, daß auch eine gewisse Wißbegierde vorherrscht. Wann jemals erhielten wir solchen Besuch?« Er sprach jetzt wieder Worgun, und Gisol übersetzte für Riker und Stewart. Riker murmelte: »Ob vielleicht wir selbst zu müde für tiefschürfende Unterhaltungen sind, fragt wohl keiner...« »Soll ich das übersetzen?« fragte Gisol. »Bloß nicht...« Sie näherten sich der Treppe und stiegen bis zu den Senatoren hinauf. Einer von ihnen trat vor. »Terraner, Besucher, die von unserer Ursprungs weit kommen, wie wir vernahmen - seid uns herzlich willkommen auf Terra Nostra und in Roma. Es ist uns eine große Ehre. Mein Name ist Pompejus Julius Agricola. Bitte...« Er trat zur Seite, und auf seinen Wink hin schufen die anderen Senatsmitglieder Raum. »Dignus sunt intrare«, verkündete er würdevoll.** Ren Dhark nickte ihm dankend zu und setzte sich an die Spitze der Vierergruppe. Sie betraten das Gebäude. Roboter, die halbwegs menschlich gestaltet waren, wiesen ihnen den Weg und leiteten sie in einen großen Saal, an dessen Seiten es mehrere Sitzreihen gab. An der Stirnseite des Saales befanden sich auf einem halbmeterhohen Podest vier freistehende Sitzgelegenheiten, von * »O Zeiten, o Sitten!«
** »Sie sind würdig, einzutreten.«
317
denen eine sich genau in der Mitte befand, eine andere im Abstand von zwei Metern an der
linken Seite und die beiden letzten, ebenfalls zwei Meter vom mittleren entfernt, aber dicht
nebeneinander, rechts. Die recht bequem aussehenden Sessel schwebten auf Anti-gravkissen,
ebenso wie die vier anderen, die zwischen den Sitzreihen der Senatoren in der Mitte des
Saales bereitgestellt waren.
Über den ebenfalls sehr bequem gestalteten Sitzreihen der Senatoren an beiden Wänden und
auch hinter den vier Sitzen auf dem erhöhten Podest leuchteten große Holoschirme, die auf
fast unwirkliche Weise jeweils den gesamten Saal wiedergaben, so daß jeder, unabhängig
davon, wo er sich aufhielt und wie seine Blickrichtung war, alles und jeden sehen konnte. ^;
Nach den Gästen betraten die Senatoren den Saal und nahmen ihre Plätze ein. Agricola ließ
sich auf dem Einzelsitz in der Mitte des Podestes nieder.
Sulla trat zu den Gästen.
»Er ist der Konsul«, sagte er.
»Und der Imperator? Gibt er sich nicht die Ehre, uns mit seiner Anwesenheit zu erfreuen?«
»Imperator? Wir haben keinen Befehlenden. An der Spitze unseres Staates steht der Konsul.«
Dhark entsann sich, daß es vor der Zeit der Imperatoren, die mit Julius Cäsar begann, jeweils zwei Konsuln gab, die das römische Reich mit Unterstützung des Senats regierten. »Nur ein Konsul?« fragte er deshalb nach. »Es erwies sich als zweckmäßiger, weil wir niemals in die Lage kamen, Kriege führen zu müssen«, sagte Sulla gelassen. »Si vis pacem, evita bellum. * Außerdem haben wir keine Feinde.« »Und was ist Ihr Platz in dieser Runde?« fragte Ren. Er sah, daß die Plätze der Senatoren an beiden Seiten des Saales vollständig besetzt waren. Für Sulla blieb da kein Platz. * »Wenn du Frieden willst, vermeide den Krieg.« 318 Der wies lächelnd auf den Einzelsitz links. »Mein Platz ist dort. Ich bin der Volkstribun. Noch etwas, mein Freund. Mir fällt auf, daß Sie der einzige sind, der Latein zu verstehen scheint, und Dominus Riker und Domina Stewart scheinen auch die Sprache der Hohen nicht zu verstehen, weshalb Sie und Dominus Smith ständig übersetzen. Ist das richtig?« »Es ist richtig«, sagte Dhark. Bei der Vorstellung hatte er darauf verzichtet, Gisols richtigen Namen zu nennen. Der Worgun war in Orn als Rebell bekannt und wurde gesucht. Da er in Gestalt eines Terraners auftrat, war es nur logisch, auch seinen terranischen Tarnnamen zu verwenden. Solange nicht klar war, ob Gisols »Steckbrief« auch auf Terra Nostra in der Gardas-Wolke bekannt war, wollte Dhark dieses kleine Geheimnis nicht lüften. »In unserem gesamten Volk sind wir«, er deutete auf Gisol und sich, »die einzigen, die die Sprache der Worgun beherrschen.« Auf den Begriff ging Sulla nicht ein, sondern fragte erstaunt: »Obgleich Sie das Schiff der Meister fliegen?« »Wir fanden es und machten es flugtüchtig, aber die Sprache blieb uns fremd, weil wir keinen Worgun fanden, der sie uns lehren konnte. Tausend Jahre zuvor verließ auch der letzte Worgun unsere Galaxis.« »Und doch verstehen Sie beide die Sprache.« »Wir erlernten sie durch Mentcaps«, schloß Dhark den Myste-rious gleich mit ein, obgleich das sogar in seinem eigenen Fall nicht stimmte - er erlernte diese Sprache, als er in der Station im Zentrum des Planeten Zwitt durch die Hypnosperre gegen seinen Willen vorübergehend zum Checkmaster der Station gemacht worden war. Aber das mußte dieser Sulla ja nun wirklich nicht erfahren. Es war auch etwas, an das Dhark selbst nur sehr ungern zurückdachte. 319
Es hing mit der Vernichtung Tausender von Tel-Raumschiffen zusammen, und auch wenn die
alle nur von Robotern besetzt gewesen waren - der Kommandant war jeweils ein Lebewesen...
»Was sind Mentcaps?« fragte Sulla, dem dieser Begriff natürlich nicht geläufig sein konnte,
weil er ein terranisches Kunstwort war, zusammengesetzt aus mentale capsule.
»Informationsträger«, sagte Gisol. »Kleine Kapseln, die Wissen übermitteln.«
»Ich verstehe«, sagte Sulla. »Die Besatzung Ihres Schiffes versteht die Sprache der Hohen
also auch nicht?«
»So ist es«, sagte Dhark.
»Wie viele Köpfe?«
»Was meinen Sie damit?«
»Wie groß ist diese Besatzung?«
Sekundenlang wurde Ren wieder mißtrauisch. Versuchte Sulla ihm Informationen zu
entlocken? Aber dann schob er das Mißtrauen zurück. Es spielte keine Rolle, ob diese
Menschen erfuhren, wieviel Terraner sich in der POINT OF befanden oder nicht. Er nannte
die nach oben aufgerundete Zahl.
Sulla klatschte in die Hände. Einer der Roboter eilte herbei.
Sulla trug ihm auf, Informationskapseln in der entsprechenden Anzahl zu besorgen - und zwar unverzüglich. »Diese Maßnahme wird unsere gegenseitige Verständigung fortan wesentlich erleichtern«, sagte er. »Wenn nicht ständig übersetzt werden muß, reduziert sich die Zahl der Mißverständnisse erheblich.« Er lächelte Dhark zu, schritt zum Podium hinüber und beugte sich kurz zu Agricola, um mit ihm zu flüstern. Der Konsul nickte und richtete dann einige lateinische Worte an das Auditorium, die Ren nicht verstand. Sie waren zu schnell, und zudem unterschied sich das Latein, das hier gesprochen wurde, ein wenig von dem, was Ren in der Schule hatte lernen müssen. Sprachen entwickelten sich eben im Lauf der Zeit weiter. Die Senatoren warteten stumm ab. Sie verfügten offenbar über 320 eine beachtliche Geduld. Sulla kehrte zu Dhark und den anderen zurück, die bisher noch nicht auf den bereitschwebenden Sitzen Platz genommen hatten. »Es dauert einige Minuten«, bat er um Verständnis. »Eine solche Menge von Informationsträgern abzurufen erfordert eine gewisse Zeit.« »Wir«, sagte Ren Dhark, »haben Zeit genug...« Während sie alle warteten, fragte sich Ren Dhark einmal mehr, wie diese Menschen - diese Römer - hierhergelangt waren. Er zweifelte inzwischen nicht mehr daran, daß sie tatsächlich Nachfahren der antiken Römer waren. Aber wo war die Verbindung? »Dieser Senat besteht wohl nur aus Männern«, unterbrach Amy Stewart seine Gedanken. »Ich sehe nicht eine einzige Frau. Scheint ein recht patriarchalisches System zu sein. Finde ich nicht so besonders gut.« »Die Römer waren nun mal sehr patriarchalisch ausgerichtet«, erwiderte Dhark. »Die Männer bestimmten die Politik, die Frauen den Haushalt. Ich weiß nicht, wie lange diese Leute nun schon hier leben und sich entwickeln konnten, aber daran hat sich offenbar nichts geändert. Übrigens hat auch die katholische Kirche, nachdem sie in römische Hände geriet, das Patriarchalsystem übernommen und sogar noch drastisch verschärft - mit Ausnahme der Heiligen Maria galten Frauen teilweise bis ins vorige Jahrhundert hinein überhaupt nichts. Zeitweise wurde sogar bezweifelt, ob sie eine Seele hätten. Das alles verdanken wir Rom.« »Gut, daß ich in dieser Finsternis nicht leben mußte«, sagte der weibliche Cyborg. Zwischendurch informierte Ren Dhark über Vipho die POINT OF über die derzeitige Lage. Auch jetzt dachte kein Römer daran, ihn an seinem Tun zu hindern. 321 Nach einer Weile kehrte der Roboter zurück, den Sulla losgeschickt hatte. Er kam nicht allein; ein anderer Maschinenmensch dirigierte eine Antigravplatte, auf der ein zylindrischer Behälter stand. Roboter Eins begab sich zu den Besuchern und händigte ihnen zwei graue Metallscheiben aus. Sie durchmaßen 4,8 Zentimeter und waren neun Millimeter dick. »Mentcaps«, stellten Dhark und Riker unisono fest. »Sie werden Ihnen die Sprache der Hohen vermitteln«, sagte Volkstribun Sulla. »Das Behältnis dort beinhaltet weitere Informationsträger für Ihre Besatzung.« Dabei deutete er auf den Zylinder auf der Antigravplatte. »Sie verfügen also tatsächlich über ein Archiv?« staunte Dhark. »Was ist daran ungewöhnlich?« fragte Sulla zurück. Gisol zeigte ein düsteres Grinsen. »Gute Frage... nächste Frage: wie können wir diese Mentcaps öffnen? Wo ist der Ultraschallsender?« Gewöhnlich wurden die Scheiben auf Anforderung per Gedankenbefehl vom Archiv ausgegeben. Sie enthielten das gewünschte Wissen, das aber nach zehn bis vierzehn Tagen unwiderruflich verloren ging, wenn man sich nicht intensiv damit befaßte und es sich
verinnerlichte. Zweitanforderungen einer betreffenden Ment-cap waren stets erfolglos geblieben. Die Scheiben ließen sich mit einem 19 500-Hertz-Sender öffnen. Dann fand sich in einem winzigen, kugelförmigen Hohlraum eine schneeweiße Kugel, deren Durchmesser knapp einen Millimeter betrug. Die Metallschale wurde fortgeworfen, die Kugel geschluckt, die aus einem synthetischen Stoff einer unbekannten Molekülkette bestand, der sich sofort in Wasser und erst recht in der Magenflüssigkeit auflöste. Direkt nach der Einnahme war das in der Kugel gespeicherte Wissen für den Benutzer präsent und anwendbar. Aber hier fehlte der »Dosenöffner«! Der 19 500-Hertz-Sender befand sich als Element mit im Ar322 chiv, wie Ren Dhark von Hope und auch von Erron-3 her wußte, und Gisols Erzählung über seine Jugendzeit, in welcher er mittels der Mentcaps das Wissen seines Volkes verinnerlicht hatte, sagte auch nichts anderes aus. Hier aber gab es einen solchen Sender nicht. Wie sollten Riker und Stewart die grauen Metallscheiben öffnen? »Sie benötigen keinen Sender«, sagte Sulla. »Das ist doch antiquiert. Diese Informationskapseln sind selbstöffnend. Nehmen Sie sie zwischen beide Handflächen und drehen Sie diese gegenläufig.« »Unglaublich!« entfuhr es Gisol. »Sie haben das Prinzip weiterentwickelt?« »Natürlich«, sagte Sulla, der nicht ahnte, wen er vor sich hatte. »So ist man unabhängiger und kann die Informationskapsel zu sich nehmen, wann man es will, und nicht nur vor Ort im Archiv.« Riker drehte seine Handflächen. In der Tat öffnete sich die Scheibe, wie sie es sonst nur unter dem Sender des Archivs tat, und gab das weiße Kügelchen frei. Riker schluckte es und wußte dann nicht, wohin mit der offenen Metallscheibe, die im Archiv einfach in die Öffnung für Abfall geworfen wurde. Um so überraschter war er, als die Scheibe sich in seiner Hand auflöste. Noch eine Neuerung der Römer! Dhark empfand plötzlich Respekt vor diesen Leuten. Was den Terranern bisher noch nicht gelungen war, hatten sie geschafft: M-Technik weiterzuentwickeln! Gisols Erstaunen war der Beweis dafür. Die Worgun selbst hatten hier nichts mehr gemacht, oder er hätte davon wissen müssen. Immerhin lagen tausend Jahre zwischen dem Verschwinden der Mysterious aus der Milchstraße und der Gegenwart. Mehr als achthundert aber auch bis zu Gisols Geburt, der jetzt etwa 180 Jahre terranischer Zeitrechnung alt war und damit noch zu den Jungen in seinem langlebigen Volk ge323 hörte. »Wenn es Ihnen recht ist, schicken wir den Behälter mit den anderen Kapseln unverzüglich zu Ihrem Raumschiff«, bot Sulla an. Es war recht. Der Roboter erhielt einen entsprechenden Befehl und verschwand mit der A-Gravplatte und dem zylindrischen Behälter. Inzwischen wirkte die Mentcap bei Dan Riker. Er sagte ein paar launige Sätze in der Worgunsprache. Daraufhin nahm auch Amy Stewart ihre Mentcap ein. "»Felix qui potuit rerum cognoscere causas«, bemerkte Ren Dhark etwas spöttisch. »Glücklich, wer alles versteht.« »Vir audax, vir beatus est«, konterte Dan Riker. »Der kühne Mann ist ein glücklicher Mann. Soviel habe auch ich im Lateinunterricht mitbekommen. Gib nicht so an mit deinem Halbwissen, Commander.« »Mann! Von Frauen ist in diesen lateinischen Sinnsprüchen wohl nie die Rede?« fragte Amy Stewart spitz.
»Desinit in piscem mulier formosa superne«, sagte Marcus Ce-thegus Sulla und grinste dabei
Von einem Ohr zum anderen. *
»Was hat er gesagt?« fragte Stewart.
»Das übersetze ich wohl besser nicht«, seufzte Ren. »Sonst bringen Sie ihn auf der Stelle um
und sorgen damit für einen Krieg zwischen Terra und Terra Nostra. Das wollen wir doch
lieber nicht riskieren... die haben ein paar Ringraumer mehr als wir.«
»Männer!« fauchte Stewart. »Wie von Terra gekommen, so auf Terra Nostra gehabt... alles
eine Soße... der Teufel soll euch alle holen!«
Jetzt grinsten auch Dhark und Riker. Nur Gisol zeigte sich neutral, weil etwas verständnislos -
Geschlechterkampf war in seinem Volk unbekannt.
»Nun, da wir alle die Sprache der Hohen verstehen, können wir
wohl anfangen«, sagte der Volkstribun und begab sich zu seinem
Sitzplatz.
Konsul Pompejus Julius Agricola erhob sich.
»In nomine senatus populusque romanum eröffne ich diese Sondersitzung.« *
»Terraner«, sagte der Konsul. »Von Terra... von unserer Ursprungswelt, der Erde? Ihr kommt
wirklich von dort?«
»Ja«, sagte Dhark. »Aber warum gibt es euch Römer hier? Wie seid ihr hierhergelangt? In
eine ganz andere Galaxis?«
»Wir leben hier seit dem Jahr 738 ab urbe condita«, verriet Agricola.
Ren rechnete nach. »Ab urbe condita« hieß »seit Gründung der Stadt«, und gemeint war
natürlich die Stadt Rom. Das Jahr 738 a.u.c. entsprach dem Jahr 15 vor Christi Geburt.
Das bedeutete, daß diese Menschen Terra Nostra lange nach der Amtszeit des berühmten
Julius Cäsar erreicht hatten. Der war 44 vor Christus ermordet worden.
Um so erstaunlicher war es, daß diese Römer einen Konsul als Regierungsoberhaupt hatten;
immerhin hatte Cäsar sich einst zum »Diktator auf Lebenszeit« ernennen lassen und damit der
Regentschaft zweier gleichberechtigter Konsuln ein unwiderrufliches Ende gesetzt. Cäsars
Nachfolger hatten das Prinzip der tyrannischen Alleinherrschaft fortgeführt. Aus dem Diktator
war der Imperator geworden, und der Name Cäsar wurde zum Titel.
Ren versuchte sich zu erinnern, was aus dem Geschichtsunterricht in seiner Erinnerung
verblieben war. Das Jahr 15 vor der Zeitenwende...
Damals war Gaius Octavius Herrscher des römischen Volkes. Er
• •
»In einen Fischschwanz endet das schöne Weib.«
* »Im Namen des Senates und des Volkes von Rom...«
325 entstammte dem ehemals plebejischen Geschlecht der Octavier und trug den Beinamen Augustus, was »der Erhabene« bedeutete. Er war der erste römischer Kaiser - der Begriff entstand eben aus dem Namen »Cäsar«, ebenso wie in späterer Zeit die Titel »Schah« und »Zar« hieraus abgeleitet wurden. Nach dem Ende des Triumvirats mit Antonius und Lepidus häufte Augustus, den Schein der republikanischen Tradition mit der tatsächlichen Amtsgewalt eines Monarchen verbindend, die wichtigsten Ämter auf sich; unter anderem Tribun mit Vetorecht gegen alle Gesetze, Zensor mit Oberaufsicht über Senat, Pontifex Maximus, also »oberster Priester«, mit Unverletzlichkeit seiner Person. Er erhielt die Ehrentitel Augustus und Princeps. Im Jahr 15 erfolgte der Vorstoß seiner Truppen zur Donau und führte zur Inbesitznahme der Provinzen Raetia und Noricum.
Das sogenannte Augustinische Zeitalter war die klassische Epoche der lateinischen Literatur mit Virgil, Horaz, Ovid oder Livius. Unter Augustus Octavius, der Roms Machtstellung sittlich untermauern wollte und die klassische »Römertugend« zum Vorbild machte, wurden Gesetze gegen Luxus und zur Familienförderung erlassen und die zum Teil verfallenen Tempel wiederhergestellt oder neue errichtet, so der Tempel des Cäsar, des Apoll, Mars Ul tor und das Pantheon des Agrippa. Zugleich trieb er den Ausbau der Stadt voran. Aus dem »hölzernen Rom« wurde das »marmorne Rom«. Das Marsfeld wurde ebenso bebaut wie der Janiculushügel. Das Forum Augusti entstand, ebenso der Domus Augustana, der Kaiserpalast auf dem Pa-latin, und auch das Theater des Marcellus, die Thermen des Agrippa, der Palast der Livia auf dem Palatin, und schließlich das Mausoleum des Augustus auf dem Marsfeld. Unter dieser Voraussetzung wunderte es Dhark nicht mehr, daß das hiesige Roma weit bombastischer und prunkvoller ausfiel als sein Original auf Terra. Irgendwie paßte es. Aber die politische Struktur paßte nicht dazu. Hier hatte sich doch wohl einiges vor- oder zurückentwickelt. Sicher zum Besseren, zum Demokratischeren, wie Ren vermutete. »Es freut mich, und es freut bestimmt auch alle anderen Anwe senden«, unterbrach Agricola seine Gedanken, »Besuch von unse rer Ursprungswelt zu haben. Was uns interessiert ist, ob Sie tat sächlich über das legendäre Schiff der noch legendäreren Meister Margun und Sola verfügen. Alles, was wir bislang erfuhren, deutet darauf hin. Und doch ist es eigenartig, nach tausend Jahren wieder davon zu hören.« »Eigenartig?« fragte Riker. »Wieso?« »Es ranken sich viele Gerüchte um dieses Raumschiff«, sagte der Konsul. »Es soll damals das beste und modernste gewesen sein, voll von Neuentwicklungen, die Margun und Sola erfunden hatten. Es heißt, daß den beiden Wissenschaftlern eigens ein riesi ges Forschungs- und Entwicklungszentrum zur Verfügung gestellt wurde, um ihre genialen Ideen zu verwirklichen. Wo, Commander Dhark, haben Sie dieses Raumschiff gefunden, das bei uns den Namen MASOL trägt?« »AufKaso!« »Kaso... ja... Kaso mit dem Industriedom und den Labors...« Dhark und Riker sahen sich an. »Die Labors waren dem Industriedom vorgelagert?«, fragte der Commander. Er hegte plötzlich eine Vermutung. »Das weiß ich nicht«, gestand Agricola. Aber es ergab ein stimmiges Bild. Damals, als sie auf der Flucht vor den Schergen des Diktators Rocco das Höhlensystem in den Bergen des Inselkontinents Deluge auf Hope - oder Kaso - fanden, gab es eine Vorhöhle, voll von technischem Gerät, das aber niemand je hatte untersuchen können, weil es zu Staub zerfiel. Dahinter kam der sogenannte Industriedom als Produktions statte, und zum Schluß die Ringraumerhöhle, in der die damals noch nicht fertiggestellte POINT OF lag. Sollte es jetzt also eine Lösung geben, eine Erklärung für die zerfallenen Maschinen in der ersten Höhle? War das wirklich ein
326
327 »Labor« gewesen, eine Forschungs- und Experimentierstätte der beiden genialen Mysterious? Es sah so aus - denn die Forschungseinrichtungen, von denen damals auch die letzten Salter sprachen, hatten die Terraner nie gefunden... »Und Sie haben das Raumschiff schließlich vollendet und in Betrieb genommen?« »Sonst wären wir jetzt nicht hier«, sagte Dhark. »Es ist wie ein Traum«, sagte Agricola leise. »Ein Traum, der Wirklichkeit wird. Das Schiff der Legenden, das Schiff der Meister... es existiert wirklich, es ist hier, und es wird von Menschen geflogen, die von unserem Ursprungsplaneten kommen! Es ist wie die Erfüllung aller Wünsche. Jupiter ist uns gnädig wie niemals zuvor.« »Das ist mir fast zu euphorisch«, raunte Dan seinem Freund auf Angloter zu. Ren antwortete nicht. Er war zu gefangen in der Begeisterung des Konsuls, und er fragte sich, wie die Enttäuschung diesen Mann und seine Kollegen niederschmettern würde, wenn sich herausstellte, daß alles nur ein Bluff wäre... aber das war es natürlich nicht. Es stand seit langem fest, daß die POINT OF das Werk dieser beiden Worgun-Genies war. »Sie haben uns immer noch nicht erzählt, wie Ihr Volk hierher verschlagen wurde, Konsul«, erinnerte Dhark den Römer. Pompejus Julius Agricola lächelte vieldeutig. »Dazu möchte ich, wenn Sie gestatten, Dominus Dhark, im Moment nichts weiter sagen. Es gibt kompetentere Leute dafür. Ich habe bereits nach Socrates Laetus und Marcus Gurges Nauta geschickt, den beiden Präsidenten der Akademie. Sie können Ihnen viel mehr sagen als ich Unwissender, der nur ausersehen wurde, dank der Beratung durch den Senat die Geschicke des römischen Volkes zu lenken. Es dauert nur noch wenige Minuten, bis die beiden Herren hier eintreffen werden.« 328 19. In der POINT OF drehte man Däumchen. Seit die »Viererbande«, wie Leon Bebir die kleine Delegation ironisch nannte, mit den Planetariern in Richtung Hauptstadt abgeflogen war, gab es nichts mehr zu tun. Warten war angesagt. Irgendwann tauchte ein annähernd humanoider Roboter auf, der eine Antigravplatte vor sich herschob, auf welcher sich ein zylindrischer Behälter befand. Der Maschinenmensch begehrte Einlaß. Bebir schickte einen Offiziersanwärter und drei Raumsoldaten zur Hauptschleuse, um der Sache auf den Grund zu gehen. »Offenbar handelt es sich um ein Geschenk der Planetarier«, meldete der Offizier Minuten später über Funk. »In dem Behälter befinden sich graue Metallscheiben.« »Mentcaps?« fragte Bebir nach. »Könnte sein.« »Prüfen Sie, ob der Behälter noch mehr enthält. Wenn er sauber ist, nehmen Sie ihn an Bord und schicken Sie den Roboter heim. Sollte es sich um ein trojanisches Pferd handeln, packen Sie den Roboter und sein Danaergeschenk in ein Prallfeld. Ich schicke Ihnen vorsichtshalber ein paar Kampfroboter zur Verstärkung, Fähnrich. Die erledigen das dann.« Aber es sah so aus, als sei diese Vorsichtsmaßnahme überflüssig. Die Überprüfung ergab, daß sich in dem Behälter keine Bombe und kein Giftgas- oder Virendepot befand. »Okay, Fähnrich«, entschied Bebir von der Zentrale aus. »Nehmen Sie den Behälter mit den Mentcaps an Bord. Der Roboter samt seiner Antigravplatte darf wieder verschwinden, so schnell wie möglich.«
»Wäre es nicht ratsam, den Commander zu befragen, ob er von dieser Aktion etwas weiß?«
fragte der Roboter Artus.
»Ich werd' den Teufel tun, den jetzt zu stören«, sagte der 2. Offizier. »Wer weiß, in welchen
Verhandlungen er gerade steckt. Ar-
329 tus, Artus... hältst du uns alle für so blöde, daß wir nichts ohne Ren Dhark entscheiden und
unternehmen können?«
»Wie kommst du denn auf diese bizarre Idee, Bebir?« wunderte der Roboter sich. »Ich habe
doch nur eine Frage gestellt.«
»Dann laß diese Frage sich wieder setzen«, sagte Bebir brum
mig.
»Widersetzen?«
»Ihr grundgütigen Götter und Götterchen«, seufzte Bebir. »Ich
glaube, ich muß mich mal um deine Datenbank kümmern und dir
beibringen, was rhetorische Wortspiele sind.«
»Daraufbin ich schon gespannt«, erwiderte Artus, »allerdings frage ich mich, was grundgütige
Götter und Götterchen damit zu tun haben.«
»Geh mir bloß nicht weiter auf den Keks und halt die Klappe.«
»Auf den...«
»Ruhe jetzt!«
Inzwischen war der Behälter mit den Mentcaps an Bord gebracht worden und der fremde
Roboter wieder verschwunden.
Bebir trommelte mit den Fingerspitzen einen Takt auf die Lehne des Kommandantensitzes. Er
wartete darauf, daß Dhark sich wieder meldete. Er war nicht sicher, was er von diesem
Planeten und seinen Bewohnern halten sollte. Die schienen ja recht freundlich zu sein, aber
irgendwie rechnete Bebir dennoch mit einer Falle, und er war auch nicht sicher, ob er sich
nicht mit dem Mentcap-Behälter ein böses Kuckucksei ins Schiff geholt hatte.
Da war die dumpfe Ahnung einer Bedrohung, die in ihm allmählich stärker wurde, nur konnte
er nicht sagen, wie diese Bedrohung aussehen sollte. Vielleicht war er nur überreizt, und sein
Unterbewußtsein spielte ihm einen Streich. Aber.
Manchmal war es gut, seinen Gefühlen zu vertrauen.
Er aktivierte die Bord Verständigung.
»Yello, Alsop, Sass, Oshuta - bitte zu den Flashdepots. Halten Sie sich in Einsatzbereitschaft.
Unter Umständen müssen Sie den Commander und seine Begleiter heraushauen. Deshalb pro
Cyborg
ein Flash, um Platz zu haben.«
»Was ist denn los, Sir?«, meldete sich Jes Yello über die Verbindung.
»Ich weiß es nicht«, gestand Bebir. »Es ist nur ein verdammt dummes Gefühl. Vielleicht ist
nichts dran, aber falls doch... warten Sie den Startbefehl ab. Er wird Sie dann zur Stadt führen.
Wo genau Dhark und die anderen sich dort befinden, weiß ich allerdings nicht.«
»Wenn's drauf ankommt, finden wir alles und jeden«, versprach
der Cyborg.
Der 25jährige Jes Yello, Cyborg der zweiten Serie, der schon mit Ren Dhark im Raumschiff
des Singu der Rateken gewesen war und sich später auch in der ersten Robonenkrise bewährt
hatte, fand sich vor dem Flashdepot 2 ein. Nur Augenblicke später tauchten die drei anderen
Cyborgs auf.
»Sie leiten den Einsatz, Jes?« erkundigte Alsop sich beiläufig, der wie Sass und Oshuta zu
den ersten Cyborgs überhaupt gehörte.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Weil Sie mit Bebir geplaudert haben, während wir Stockfisch spielten.«
»Ich lege keinen Wert auf die Leitung«, gestand Yello. »Sie drei haben die größere
Einsatzerfahrung.«
»Machen Sie ruhig«, sagte Alsop. Er betrat das Depot, in dem die Flash 003 und 004 in ihren
Bettungen lagen. Die Beiboote der POINT OF waren paarweise in den Kammern
untergebracht. Alsop blieb neben der 004 stehen.
Yello trat ebenfalls ein. Die beiden anderen Cyborgs warteten noch; sie würden in Depot 3 die
beiden nächsten Flash übernehmen.
Yello kletterte in die 003 und betätigte den Schalter, der die Einstiegsluke schließen sollte.
330 Nichts geschah.
Er wiederholte den Tastendruck mehrmals - ohne Erfolg. Auch mit der Gedankensteuerung
bekam er keinen Kontakt.
»Hier stimmt was nicht«, sagte er und stieg wieder aus.
»Was ist los?« wollte Holger Alsop wissen.
Yello erklärte es ihm. Alsop überprüfte es an der 004 mit dem gleichen Ergebnis.
»Bram, Lati, checken Sie die 005 und 006«, bat Yello, der sich in seiner Führungsrolle gar
nicht wohlfühlte.
Das Ergebnis war identisch.
»Ich glaube, das sollten wir Bebir jetzt ganz schnell mitteilen«,
meinte Yello und aktivierte die Bordverständigung. »Flashdepot
an Zentrale. Die Hornissen funktionieren nicht mehr! Einsatz un
möglich!«
Ich hab's geahnt, dachte Bebir. Und auch Riker hat es prophezeit: Dieses System ist eine
Falle!
»Zentrale an alle. Alarmstufe 3. Außenschotts werden geschlossen in zwanzig Sekunden.«
Seine Hände ruhten bereits über den Steuerschaltern. Er zählte bis 20, bis 25, dann schaltete
er.
Keine Rückmeldung.
Start! Antigrav auf maximale Leistung!
Keine Rückmeldung, und auch die Bildkugel zeigte, daß der Ringraumer sich nicht auch nur
um einen Millimeter vom Boden des Raumhafens erhob.
»SLE ein!«
Die Flächenprojektoren emittierten keinen Brennkreis.
Die POINT OF war nicht in der Lage zu starten!
Bebir versuchte es über die Gedankensteuerung.
Am Checkmaster leuchteten plötzlich alle Kontrollen in Alarm-rot. Alle Funktionen gesperrt
und deaktiviert, meldete sich das
Steuergehirn des Ringraumers über die Gedankensteuerung.
»Blockierung aufheben!« befahl Bebir. »Sperre aufheben, Funktionen wieder aktivieren! Das
ist ein Notfall!«
Ausführung verweigert. Alle Funktionen gesperrt und deaktiviert.
Er schaltete noch einmal manuell. Aber nicht einmal die Instrumente zeigten mehr Ausschlag.
Es war, als sei das Kommandopult völlig abgekoppelt worden.
Aus dem Maschinenraum meldete sich Miles Congollon, der Chefingenieur. »Bebir, was
machen Sie da für Spielchen in der Zentrale? Meine Instrumente zeigen mir an, daß Sie
gerade eben Unmengen an Energie für den Antrieb angefordert haben, die Konverter fuhren
auch prompt hoch, nur ging die Energie nicht an die Flächenprojektoren! Mann, uns fliegen
die Dinger hier bald um die Ohren! Was haben Sie da angestellt?«
»Fragen Sie mich was Leichteres, Congollon!« knurrte der 2.
Offizier. »Versuchen Sie, die POINT OF vom Maschinenraum aus
zu starten! Hier sind alle Schalter tot!«
»Wohl nicht tot genug...«
Congollon wechselte zu seinem Kontrollpult. Von hier aus ließen sich die wichtigsten
Funktionen des Ringraumers steuern - für den Fall, daß die Zentrale ausfiel.
Der nur 1,61 Meter kleine Eurasier mit den fast wimpernlosen, mandelförmigen Augen
begann zu schalten.
Keine Wirkung!
»Warte, Freundchen«, murmelte er und nahm eine neue Schaltung vor. Mentcap-Wissen aus
Erron-3 kam zum Tragen; Wissen, über das Bebir nicht verfügte, weil er jene Mentcap nicht
zugeteilt bekommen hatte. Mit dieser Trickschaltung glaubte Congollon die Sperre
überwinden zu können.
Der Sub-Licht-Effekt sprang an!
Antriebsenergie erreichte die Flächenprojektoren. »Intervallfeld ein, Bebir!« rief Congollon in
die Bordverständigung.
Im nächsten Moment lag der SLE wieder still. Das Intervallfeld
332 33t
kam erst gar nicht. Dafür tauchte vor Congollon auf einem kleinen Monitor eine blinkende
Zeichenkette auf, nur war der Eurasier nicht in der Lage, die Mysteriousschrift zu lesen. Dafür
aber »hörte« er, wie im gleichen Moment auch Bebir, die Gedankensteuerung:
Sonderschaltung als unzulässig erkannt. Alle Funktionen gesperrt und deaktiviert.
In der Zentrale rief Bebir zur Ortung durch. »Grappa, werden wir von irgendeinem
Energiefeld erfaßt, das uns...«
Er kam nicht dazu, die Frage zu beenden. »Sorry, Bebir«, meldete der junge Mailänder. »Alle
Ortungen sind blockiert!«
Und im Maschinenraum glaubte Congollon seinen Augen nicht zu trauen, weil drei Roboter
vom Blechmanntyp, die hier zusätzlich zum menschlichen Personal Dienst taten, sich nicht
mehr bewegten. Mißtrauisch ging er auf die Roboter zu, sprach sie an. Erhielt keine Reaktion.
Die Blechmänner waren abgeschaltet!
Das konnten sie aber nicht aus eigenem Antrieb getan haben.
Er meldete Bebir den Vorfall. Wenig später stellte sich heraus, daß sämtliche Roboter an Bord
der POINT OF außer Betrieb waren - bis auf Artus. Der bot sich an, seine »Kollegen« einer
Überprüfung zu unterziehen.
»Sie sind mit einem Funkbefehl abgeschaltet worden«, berichtete er daraufhin. »Ich habe
versucht, einen der Roboter zu reaktivieren. Aber im gleichen Moment kam der nächste
Funkbefehl, der ihn wieder abschaltete. Das geschah dreimal hintereinander.«
»Konntest du herausfinden, woher dieser Funkbefehl kommt?«
»Vom Checkmaster.«
Im gleichen Moment fiel auch die Bordverständigung aus.
Der Checkmaster sollte die Roboter stillgelegt haben? Leon Bebir konnte es kaum glauben.
Und weshalb war dann Artus noch aktiv?
»Dann hat dieses verdammte Miststück da auch die ganze POINT OF lahmgelegt!«
behauptete Arc Doorn, der zusammen mit seinem Chef Congollon in die Zentrale gekommen
war. Ebenso war Artus zurückgekehrt, und Anja Riker, die Chefmathematike-rin, lehnte am
Checkmaster, den der Sibirier eben mit dem »verdammten Miststück« gemeint hatte. »Kein
Eingriff von außen. Warum dreht dieses Rabenaas plötzlich durch?«
»Artus, wieso bist du nicht ebenfalls abgeschaltet worden?« wollte Bebir wissen.
Wenn der Roboter Emotionen hätte ausdrücken können, wäre er vermutlich jetzt vor Stolz
erglüht. »Weil ich keine Maschine bin wie die da, sondern ein richtiges Bewußtsein habe!«
erklärte er hoheitsvoll. »Deshalb kann ich von außen nicht mehr beeinflußt werden. Ich bin
und bleibe Herr meines eigenen Willens. Selbst den Menschen bin ich damit in mancherlei
Hinsicht überlegen.«
»Scheiße, jetzt wird der Blechmann auch noch größenwahnsin
nig«, stöhnte Doorn auf.
»Immerhin ist das eine Erklärung«, meinte Congollon. »Artus, hast du selbst den Funkbefehl
bei dir nicht wahrgenommen?«
»Nein, weil die interne Empfangsschaltung stilliegt. Aber als ich
mich mit einem der normalen Roboter zusammenschaltete, konnte
ich über dessen Anlage den Funkbefehl wahrnehmen, ohne ge
zwungen zu sein, ihn selbst auszuführen, und ich konnte den
Checkmaster als Sender identifizieren. Er besitzt eine ganz spe
zielle Signatur.«
Das war selbst Arc Doorn neu.
Glenn Morris, der Cheffunker, der seine Bude verlassen und sich zu den anderen Offizieren
gesellt hatte, staunte. »Wir wissen zwar, daß der Checkmaster sich mit uns per
Gedankensteuerung und mit diversen Schiffseinrichtungen über ein internes Funknetz
verständigt«, brummte er. »Aber daß er so etwas wie eine Signatur hat...?«
»Konnten Sie diese Funkbefehle nicht wahrnehmen? Wenn man dieses interne Netz stört,
müßte der Checkmaster doch die Kon-
334
335
trolle über das Schiff verlieren«, überlegte Bebir.
»Vergessen Sie's, winkte Morris ab. »Dieser interne Funkverkehr wird uns nur angezeigt, aber
wir können uns von der Funk-Z her nicht einmischen. Das läuft über eine Frequenz, die von
unseren Geräten nicht angesprochen wird. Die Absicherung ist perfekt.«
»Aber Artus hat diesen Befehl doch wahrnehmen können.«
»Das besagt nur, daß die Frequenz in diesem Fall heruntermoduliert wurde, damit unsere
Robs sie verstehen. Aber auch da können wir nichts machen, weil nicht nur die Ortung,
sondern auch die Funk-Z komplett tot ist.
Und selbst wenn wir es könnten«, fuhr Morris fort, »was bringt uns das? Damit bekämen wir
nur unsere Blechmänner wieder unter Kontrolle, nicht aber die POINT OF.«
»Wollen doch mal schauen«, sagte Doorn in seiner typischen mürrischen Art, »was der Herr
Checkmaster selbst dazu verlautbaren läßt.« Er ging auf die Verkleidung des Bordgehirns zu.
»Was haben Sie vor, Doorn?« fragte Bebir.
»Denken Sie nicht mal dran«, warnte Doorn und murmelte das große Einmaleins vor sich hin.
Damit hoffte er, seine eigentlichen Gedanken zu tarnen für den Fall, daß der Checkmaster
über die Gedankensteuerung die Menschen an Bord überwachte. Nach allem, was er in all den
Jahren an Heimtücke bei der Mysterioustechnik erlebt hatte, traute er dem Bordgehirn so
etwas durchaus zu.
Leon Bebir erinnerte sich, daß der Checkmaster sich schon in der Erron-Station etwas seltsam
verhalten hatte. Checkmaster an Worgun Gisol! Sei nicht so stur! hatte er sich bemerkbar
gemacht, als der Mysterious die EPOY nicht in der Station zurücklassen wollte. Und er hatte
dabei durchaus menschliches Verhalten gezeigt und recht genervt gewirkt.
Und - er mußte die Menschen belauscht haben. Von daher war Doorns Vorsichtsmaßnahme
wohl durchaus angebracht, egal, was der Sibirier jetzt plante.
Der machte eine Handbewegung, die unter anderen Umständen beleidigend gewesen wäre,
aber Anja Riker kannte Doorn lange genug, um zu wissen, wie der es meinte. Sie machte ihm
Platz.
Doorn berührte Sensorflächen an der Verkleidung, nahm eine Schaltung vor und war sicher,
daß die Checkmaster-Verkleidung jetzt vor ihm aufklappen mußte.
Statt dessen vernahm er die »Stimme« der Gedankensteuerung: Warnung! Zugriff verweigert!
Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück. Er wußte, was es bedeutete, wenn der Checkmaster
eine Warnung aussprach: Mordsärger!
»Tschort wos mi«, knurrte er in seiner Heimatsprache. »Es war ein Versuch.«
»Was hatten Sie vor, Doorn?« wollte Bebir wissen, als Doorn zum Hauptpult zurückkehrte.
»Was wohl? Das verdammte Miststück aufmachen und von Hand lahmlegen, wie ich's mit
dem Zentralen Controllo gemacht habe, nur möchte ich hier in der POINT OF nicht noch mal
den Streß haben wie in der Station! Und unser liebster Freund dürfte wesentlich bessere
Abwehrmöglichkeiten haben als der Controllo.«
Er ging um das Kommandopult herum und ließ sich in einen freien Sessel fallen. Mit
geballten Fäusten saß er da und überlegte, wie er dem Checkmaster auf andere Weise an den
Kragen gehen konnte.
Die Situation war neu.
Sie hatten es in der Anfangszeit, als sie die ersten Flüge unternahmen, mehrmals erlebt, daß in
kritischen Situationen der Checkmaster die Kontrolle über das Schiff an sich riß, wohl weil er
erkannte, daß die Besatzung von diesen Situationen überfordert war. Aber jetzt stellte sich das
Bordgehirn erstmals gegen die Menschen!
»Schauen Sie sich das an«, sagte Anja Riker plötzlich, die wie immer auf die Borduniform
verzichtete und Jeans sowie einen etwas zu engen Pullover trug. Sie deutete auf die Bildkugel.
Die 2,68 Meter durchmessende Kugel schwebte wie immer über dem Kontrollpult und zeigte
momentan in plastischer Darstellung die gelandete POINT OF und ihre künstlich erleuchtete
Umgebung.
Sie zeigte aber auch Roboter aus Worgunfertigung, die plötzlich rings um das Schiff
auftauchten. Und es sah nicht danach aus, als wollten diese Roboter nur als Ehrenwache
fungieren...
»Jetzt ist der Bart endgültig ab«, sagte Bebir. Er schaltete sein Spezialvipho ein. »POINT OF
ruft Commander Dhark - dringend...«
338 20. Wenige Minuten vorher: Von einem Moment zum anderen erhoben sich alle im Senatsgebäude Versammelten und schauten zum großen Eingangsportal. Unwillkürlich erhob sich auch Dhark und wandte sich um, mit ihm seine Begleiter. Das Portal stand nach wie vor weit offen. Der Vorplatz war von Lichtquellen erhellt, und in diesem fast schattenlosen Licht sahen sie alle zwei freundliche ältere Herren, die mit
schlichten Togen und Sandalen gekleidet waren und einfach über den Platz heranspazierten.
Sie kamen zu Fuß, statt eindrucksvoll mit einem Gleiter einzutreffen, wie es für sie vielleicht
standesgemäß gewesen wäre.
Agricola und Sulla verließen ihre Plätze, gingen an den Terra-nern vorbei, und mit einer
leichten Handbewegung bat der Konsul Dhark und seine Begleiter, mitzukommen zum Portal
und zur Treppe, der die beiden Ankömmlinge in gemütlichem Schritttempo, aber durchaus
zielbewußt entgegenstrebten.
»Das sind sie«, sagte der Konsul. »Die beiden Akademiepräsi
denten. Sie werden Ihren Wissensdurst weitaus leichter stillen
können als jeder andere von uns.«
Gisol atmete tief durch.
Ren Dhark warf ihm einen Seitenblick zu. Er hatte den vagen Eindruck, daß etwas am
Anblick der beiden alten Männer ihn elektrisierte. »Kennst du sie etwa?« raunte er dem
Worgun zu.
»Nein. Aber ich...«
In diesem Moment sprach Dharks Spezialvipho an.
Leon Bebir meldete sich aus der POINT OF.
Nicht über deren Funk-Z, sondern per Vipho!
»Commander, der Checkmaster spielt verrückt! Er hat das Schiff und sämtliche Einrichtungen
und Roboter an Bord vollständig blockiert. Und draußen wimmelt es plötzlich von Worgun-
Robo-
339
tern!«
»Die Falle!« zischte Riker.
Er und Dhark warfen sich einen kurzen Blick zu. Der Commander nickte.
Sie handelten blitzschnell. Dhark und Riker stürmten los, auf die beiden Akademiepräsidenten
zu. Die Stufen hinunter und auf den Platz, und im nächsten Moment packten sie die alten
Herren, die scheinbar nicht einmal wußten, wie ihnen geschah.
Mehrere der Senatoren schrien überrascht auf.
»Wache!« brüllte Konsul Agricola.
Ohne sich vorher abgesprochen zu haben und ohne genau zu wissen, was Dhark und Riker
eigentlich beabsichtigten, griffen Amy Stewart und Gisol zu ihren Waffen und richteten sie
auf die erschrockenen Senatoren. »Befehl zurück!« forderte der weibliche Cyborg und zielte
beidhändig auf den Konsul.
Der riß beide Arme hoch. Totenbleich war sein Gesicht, eine Fratze des Entsetzens. »Befehl
zurück«, schrie er in gleicher Lautstärke wie zuvor.
»Was tun Sie da?« rief Sullaf. »Was soll das? Was haben wir Ihnen getan?«
Dhark zischte einen kurzen Befehl. Gisol griff Socrates Laetus und zerrte ihn mit sich über
den Platz zu einem der Gleiter, mit denen sie vom Raumhafen hierhergebracht worden waren.
Stewart folgte ihm mit Marcus Gurges Nauta. Dhark und Riker hielten ihre Paraschocker
schußbereit, sicherten die beiden ab.
Gisol drängte Laetus in den Gleiter. Stewart folgte mit Nauta sogleich hinterher. Im
Laufschritt näherten sich nun Dhark und Riker, die dabei ständig zu den Senatoren
zurückschauten, um die weiter unter Kontrolle zu halten.
»Warum machen Sie das?« rief Sulla ihnen zu, als die Gleitertür geschlossen wurde. Gisol
ließ sich in den Pilotensitz fallen. »Zur POINT OF?«
»Aber wie ein geölter Blitz!« verlangte Dhark.
Gisols Hände flogen über die Steuerschalter. Der Antrieb des
Gleiters wurde aktiviert. Sanft hob die Maschine ab, um dann radikal beschleunigt zu werden.
»Wir werden verfolgt«, sagte Amy Stewart, die neben Gisol Platz genommen hatte und über ihr Zweites System versuchte, mit den Instrumenten des Gleiters zurechtzukommen, die sich doch erheblich von denen eines Flash unterschieden. »Fünf Flugobjekte nehmen Verfolgung auf.« »Die Wache«, sagte Riker. »Nun hat er sie doch gerufen, der Konsul. Was machen wir jetzt eigentlich?« »Der Checkmaster flippt garantiert nicht von allein aus«, sagte Dhark. »Der muß von außen beeinflußt worden sein, aber schon in der Erron-Station. Erinnerst du dich, wie er Jim Smith zurechtwies? Du hattest wohl recht, Dan. Terra Nostra ist eine Falle.« Eingedenk der anwesenden beiden Akademiepräsidenten blieb Dhark bei dem terranischen Namen des Worgun. Wofür auch immer das gut sein mochte... »Die Verfolger kommen näher«, meldete Stewart. »Jim, kannst du nicht schneller fliegen?« drängte Dhark. »Ich schon, aber dieser Gleiter nicht...« »Jetzt bin ich mal gespannt«, sagte Riker, »ob sie Rücksicht auf unsere beiden Geiseln nehmen oder trotzdem das Feuer auf uns eröffnen. Dulce et decorum estpropatria mori...« ' »Soweit wollen wir's doch mal nicht kommen lassen«, seufzte Dhark. Sie schafften es, vor ihren Verfolgern die POINT OF zu erreichen. Während des Fluges protestierten die beiden Akademiepräsidenten immer wieder gegen ihre Entführung, wurden aber von keinem der Anwesenden beachtet. Riker hielt nach wie vor si* »Süß und ehrenvoll ist's, fürs Vaterland zu sterben.«
340 chernd seinen Schocker auf sie gerichtet, für den Fall, daß »die Römer frech geworden«, wie er es launig ausdrückte. Vorsichtshalber fand ihre Unterhaltung auf Angloter statt, das Laetus und Nauta garantiert nicht verstanden. Dhark nahm zwischendurch über Vipho Kontakt mit Bebir auf und ließ sich Einzelheiten berichten. Seine Überzeugung wuchs, daß der Checkmaster auf rätselhafte Weise manipuliert worden sein mußte. Ein solches Verhalten wie in der letzten Zeit hatte er früher nie gezeigt. Aber Dhark war fest entschlossen, sich die POINT OF nicht wegnehmen zu lassen. Egal, wer nun dahintersteckte - die Römer oder eine noch unbekannte weitere Macht. Worgun und Zyzzkt schieden hier in der Gardas-Wolke jedenfalls aus. »Bebir, funktionieren wenigstens die Lebenserhaltungssysteme noch?« wollte Dhark über Vipho wissen. »Die ja, alles andere nicht, Commander.« Gisol bremste den Gleiter einige hundert Meter vor der POINT OF ab, trotz der Verfolger, die sich immer mehr näherten. Über der Steuerkonsole entstand plötzlich eine etwa 30 Zentimeter durchmessende Bildkugel aus dem Nichts. Darin zeigte sich der Kopf eines Römers. Vermutlich einer der Verfolger. »Dominus Dhark, wir können Ihr aggressives Handeln nicht verstehen. Bitte geben Sie Socrates Laetus und Marcus Gurges Nauta frei. Wir haben Ihnen nichts getan, und das Wohlergehen der beiden Akademiepräsidenten liegt uns sehr am Herzen. Falls wir Sie in irgendeiner Weise beleidigt haben sollten, bitten wir um Verzeihung.« »Das ist doch verrückt!« entfuhr es Riker. »Die legen unser Schiff lahm und tun so, als wären sie die weißesten Unschuldslämmer!« »Verbindung kappen«, verlangte Dhark. Gisol berührte eine Sensortaste. Die Bildkugel erlosch.
»Die Verfolger haben gestoppt«, meldete Stewart, die mit der Ortung mittlerweile bestens
zurecht kam. »Wenn das hier ein
Flash wäre, könnte ich feststellen, ob sie Waffen besitzen und die aktiviert haben. Aber...«
»Bei Jupiter, woran denken Sie?« fragte Socrates Laetus. »Warum sollten wir Sie angreifen
oder auch nur bedrohen? Wir waren glücklich, mit Ihnen in Kontakt zu kommen. Sie aber
erweisen sich als kriegerische Barbaren!«
»Ist das da keine Bedrohung?« fragte Dhark und wies durch die Frontverglasung des Gleiters
auf die POINT OF, die in der künstlichen Illumination dieses Raumhafensektors prachtvoll zu
sehen war - mit ihren offenen Schleusen, durch die soeben W-Roboter in das Schiff
eindrangen!
»Ist es keine Bedrohung, wenn unser Raumschiff von Ihren Robotern geentert wird, nachdem
zuerst alle wichtigen Systeme von außen lahmgelegt wurden? Glauben Sie im Ernst, wir
lassen uns das gefallen?«
»Das ist sicher ein Mißverständnis«, sagte Nauta. »Bitte, Dominus Dhark. Sie sind doch Ren
Dhark? Oder liege ich mit meiner Vermutung falsch? Ihre Namen wurden uns genannt.«
»Ich bin Dhark.« Ren stellte kurz die drei Gefährten vor.
Nauta fuhr fort: »Glauben Sie uns. Unser Volk hat damit nichts zu tun. Ich weiß nicht, was
dort geschieht.« -
»Auch mir ist das ein Rätsel«, versicherte Laetus.
Dhark bemerkte einen seltsamen Glanz in den Augen der beiden alten Männer, während diese
die POINT OF betrachteten.
»Wenn Sie nichts damit zu tun haben - dann rufen Sie die Roboter doch zurück!« forderte er.
»Und zwar sofort, ehe es in der POINT OF zu Kämpfen kommt. Denn meine Mannschaft
wird es sich nicht gefallen lassen, daß unser Schiff von Ihren Robs gekapert wird!«
»Bei allen Göttern!« entfuhr es Laetus. »Kämpfe? Das liegt keinesfalls in unserer Absicht.
Wir sind ein friedliches Volk. Wir sind keine Krieger mehr, wie es unsere Vorfahren vor 2000
Jahren waren! Und schon gar nicht wollen wir gegen Sie kämpfen, die Sie doch von dem
Ursprungsplaneten unserer Ahnen stammen!«
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»Rufen Sie die Roboter zurück, sofort!« verlangte Dhark. »Oder wenn Sie es selbst nicht
können, sorgen Sie dafür, daß andere es tun.« Er wies auf die Steuerkonsole. Dort mußte ja
auch eine Funkeinrichtung schaltbar sein.
»Wir können es«, sagte Nauta.
Er hob seinen linken Arm. Am Handgelenk befand sich ein Gerät, das wesentlich kleiner war
als die Armbandviphos der Terraner. Weder Dhark noch den anderen waren diese Geräte
bisher aufgefallen; auch Laetus trug eines am Gelenk. Mit der rechten Hand berührte Nauta
einige kleine, farbige Sensortasten. An der Reihenfolge seiner Berührungen und der
Anordnung der Farben erkannte Dhark, daß es sich auch bei diesem Gerät um Mysterious
technik handelte.
»Ein Impulsgeber«, erklärte Nauta ruhig. »Ich habe den Robotern den Befehl gegeben,
umzukehren und auch ihr Eindringen in die MASOL zu begründen.«
»Und?«
»Ich warte auf eine Antwort.« Marcus Gurges Nauta lächelte.
Riker schüttelte den Kopf. Er verstand die beiden Römer nicht. Sie zeigten nicht die geringste Panik, blieben souverän, blieben freundlich, obgleich ihnen bewußt sein mußte, daß sie sich als Geiseln der Terraner in einer recht prekären Lage befanden. Sie hatten doch damit zu rechnen, daß die Terraner sich an ihnen schadlos halten würde, wenn etwas nicht wunschgemäß verlief. An dem Impulsgeber flackerten kleine Lichtfelder unrhythmisch auf. Zugleich erklangen akustische Signale in unterschiedlichsten Tonhöhen. Nauta lauschte. Dann sah er Ren Dhark an. »Die Roboter geben an, vom Checkmaster in Ihr Schiff gerufen worden zu sein, aber natürlich haben die Befehle ihrer Herren, also unsere Befehle, Vorrang vor denen des Checkmasters.« »Woher kennen Sie den Begriff Checkmaster?« wurde Dhark mißtrauisch. »So nennen Sie doch das zentrale Kontrollorgan der MASOL, nicht wahr? Der Begriff wurde von unseren Robotern an uns übermittelt. Es ist schon faszinierend, daß der Zentralrechner der MASOL eine terranische Namensgebung akzeptiert.« »Das Schiff heißt POINT OF«, sagte Riker trocken. »Spielt das eine Rolle? Es wurde auf Kaso gebaut, es ist ein Unikat, ein Raumschiff, wie es niemals wieder existieren wird. Die Krone aller technologischen Entwicklung... selbst hier auf Terra Nostra dürfte es schwerfallen, diese Entwicklung zu übertreffen. Es mangelt hier an den Ressourcen, wie sie Kaso zu bieten hatte... und es ist eine andere Zeit.« »Die Blechkameraden gehorchen offenbar«, unterbrach Amy Stewart die träumerische Rede des alten Mannes. Sie sahen, wie die Roboter wieder aus den Schleusen des Ring-raumers zurückkehrten. Sie verschwanden aber nicht völlig, sondern bildeten weiterhin einen weiten Kreis um die POINT OF. Dhark schaltete wieder sein Spezialvipho ein. »Bebir?« »Commander?« »Sind alle Worgun-Roboter wieder draußen?« »Sieht so aus, Dhark.« »Okay. Drei Cyborgs zur Hauptschleuse. Wir kommen gleich herein und bringen Gäste mit.« »O, wie fein«, bemerkte Bebir trocken. »Rate mal, wer zum Es sen kommt... Dhark, die Cyborgs Sass, Alsop und Yello werden Sie und Ihre Gäste empfangen.« 'Gisol betätigte wieder die Steuerschalter des Gleiters. Die Maschine machte einen regelrechten Sprung vorwärts; wieder war die Beschleunigung enorm und verriet die ungeheure Spurtkraft dieses Fahrzeugs, das nur in der Endgeschwindigkeit anderen Maschinen unterlegen war. Ebenso abrupt erfolgte das Abbremsen und die Landung vor der ausgefahrenen Rampe der Hauptschleuse. Laetus und Nauta wurden in ihren Sitzen hin- und hergewirbelt und protestierten. »Die Verfolger verharren an ihren Positionen«, meldete Stewart. »Sie warten wohl ab. Irgendwie verrückt. Wenn ich da was zu sagen hätte, würde ich versuchen, uns unbedingt zu stoppen und die Geiseln zu befreien. Ich hätte uns schon auf dem Weg hierher flügellahm schießen lassen.« »Offenbar sind sie solche Aktionen wie unsere nicht gewohnt«, sagte Dhark. »Wir steigen aus. Ab in die POINT OF. Was auch immer an Bord los ist - dort haben wir Heimspiel.« Auf Worgun forderte er auch Laetus und Nauta zum Aussteigen auf. Gisol hatte den Gleiter vorsichtshalber so geparkt, daß die Ausstiegsöffnung der POINT OF zu- und von den Verfolgern ab gewandt war. Auf diese Weise wurde direkter Beschüß verhindert. Ein Risiko blieben die Roboter, die die POINT OF umstellt hatten;
gegebenenfalls würden einige von ihnen durchaus noch zum
Schuß kommen.
Aber nichts dergleichen geschah.
Sie eilten über die Rampe in die Schleuse, wo sie von den drei Cyborgs erwartet wurden.
Geradezu andächtig blieben die beiden Römer stehen.
»Ich hätte nie gedacht«, sagte Socrates Laetus, »daß ich dieses Raumschiff einmal in
flugfähigem Zustand sehen würde.«
»Geschweige denn, es in diesem Zustand zu betreten«, ergänzte
Nauta. »Dominus Dhark, Sie haben uns einen Herzenswunsch er
füllt, wenn auch unter wenig erfreulichen Umständen. Es stimmt
also, was man uns mitteilte - Sie haben die MASOL fertigge
stellt?«
»Ja«, sagte Dhark knapp. »Die POINT OF; gewöhnen Sie sich an den Namen. Es blieb ja
auch nicht mehr viel zu tun, außer ein paar Aggregate einzubauen, die noch außerhalb
lagerten. Ein Puzzle.«
»Ich verstehe nicht.« -
»Ein Zusammensetzen passender Teile. Und jetzt entschuldigen Sie uns bitte.« Er nickte den
beiden zu und wandte sich an die Cyborgs, Amy Stewart eingeschlossen. »Je zwei von Ihnen
passen
auf einen der beiden Römer auf. Den beiden darf nichts geschehen, sie dürfen aber auch nicht
befreit werden und nicht selbst aktiv werden.«
»Wir sollten ihnen die Impulsgeber abnehmen«, schlug Riker vor.
Dhark schüttelte den Kopf.
»Nein. Aber sie dürfen sie nicht ohne Genehmigung benutzen. Passen Sie darauf auf, Cyborgs
- die Geräte an den Handgelenken der beiden. - Und jetzt los.«
Er stürmte los, in Richtung Zentrale. Riker und Gisol folgten ihm.
»Warum läßt du ihnen die Impulsgeber?« wollte Riker wissen.
»Gefühl«, erwiderte Dhark. »Ich weiß es selbst nicht genau.«
Aber irgendwie hatte er den Eindruck, daß die beiden Akademiepräsidenten ihnen keinesfalls
Schaden zufügen würden...
Sie erreichten die Zentrale. Dhark ließ sich von Bebir und den
anderen Versammelten noch einmal einen exakten Lagebericht
geben. Die Bildkugel zeigte nach wie vor die W-Roboter, welche
die POINT OF einkreisten. Die Gleiter der Verfolger waren fort.
»Die sind verschwunden, als Sie die Schleuse betraten«, sagte ' Bebir.
»Wieso funktioniert die Bildkugel, wenn alle anderen Funktionen stillgelegt sind?« wunderte
sich Ren Dhark.
Er ging zum Checkmaster und versuchte selbst, Befehle einzugeben. Aber das Bordgehirn
reagierte auch bei ihm nicht. Also versuchte er es über die Gedankensteuerung.
Checkmaster - Kommandant der POINT OF verlangt Kontakt und Befehlsannahme!
Es dauerte einige Sekunden. Dann erst kam die mentale Antwort.
Checkmaster an Kommandant Ren Dhark. Befehlsannahme ist
347 unzulässig.
»Wieso?« fragte Dhark. »Du bist zu Gehorsam verpflichtet. Du bist das Bordgehirn, der
Zentralrechner. Wir sind die, die das Schiff lenken.«
Das ist nicht mehr akzeptabel.
»Weil du von außen beeinflußt wirst«, hielt Dhark dem Checkmaster vor. »Gib uns die
Möglichkeit, dich von dem Fremdeinfluß zu befreien.«
Riker trat zu ihm, berührte mit der Hand seine Schulter. »Du hast Kontakt?« fragte er, weil
Dhark seine Worte laut aussprach, die mentale Antwort des Checkmasters aber weder bei
Riker noch den anderen wahrnehmbar war.
Dhark nickte.
»Aber wir anderen bekommen davon nichts mit. Wieso will das verdammte Ding nur mit dir
reden? Die Sache geht doch uns alle etwas an!«
Im gleichen Moment vernahm Dhark wieder die »Stimme« des Checkmasters.
Ich wende mich ausschließlich an den Kommandanten. Eine Beeinflussung von außen findet
definitiv nicht statt. Aber die Kommandogewalt der Menschen über das Schiff ist nicht länger
zu akzeptieren.
Von diesem Moment an antwortete der Checkmaster auf keine Fragen mehr.
Ende