Atlan - Minizyklus 05 Dunkelstern Nr. 06
Die Varganen von Cramar von Michael Marcus Thurner
Wir schreiben das Jahr ...
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Atlan - Minizyklus 05 Dunkelstern Nr. 06
Die Varganen von Cramar von Michael Marcus Thurner
Wir schreiben das Jahr 1225 NGZ. Atlan, der unsterbliche Arkonide, ist gemein sam mit der geheimnisvollen Varganin Kythara auf die Fährte der Lordrichter von Garb gestoßen, die mit riesigen Armeen ihrer Garbyor-Völker und geraubter vargani scher Technologie an vielen Orten des Universums wirken. Zunächst wurden sie in der Southside der Milchstraße mit ihnen konfrontiert, und nun stehen sie in der Kleingalaxis Dwingeloo wieder im Kampf gegen die unheimli chen Invasoren. Zwar haben sie Unterstützung durch Cappin-Raumer, die aus Gruel fin hierher gelangt sind, doch die Übermacht des Feindes ist überwältigend. Mittlerweile wissen – oder ahnen – die beiden Unsterblichen zumindest, dass die Lordrichter mit einer Verkleinerungstechnologie und mit der weitgehend unerforsch ten Schwarzen Substanz experimentieren. Auch der Vargane Kalarthras ist davon befallen. Bei ihrer Suche nach Heilung entdecken Atlan und Kythara die VARGANEN VON CRAMAR …
Die Varganen von Cramar
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Die Hautpersonen des Romans:
Atlan - Der Arkonide sucht auf Cramar Heilungsmöglichkeiten für Kalarthras.
Flink - Eine genetisch fehlerhafte Frau wird zur Stütze der Freiberufler.
Fisker - Ein Cramar-Vargane lernt die Schrecknisse des Freiberuflertums kennen.
Kalarthras - Der Vargane trifft seine »Kinder«.
mehreren Jahren darauf bedacht, Tomanet das Leben zur Qual zu machen. Er war 1/a scharf auf zusätzliche Ablagefläche – oder Zur internen Kenntnisnahme: Das Ar gar auf den ganzen Schreibtisch, und es beitsantrittsformular 283/7 aus Dienststel mochte durchaus sein, dass Plastorex in lenformulierungsabteilung 58 des Ministeri Kürze sein Ziel erreichte. Wer einmal ins ums für Verbeamtung muss zuverlässig zu Visier der Revision geriet, musste bis zur so Beginn jedes Arbeitsquintals bei der Magi genannten Läuterung mit extremer Minde stratsabteilung 15 rung der Lebensqualität rechnen. Und selbst (Verwaltungspapiereinlaufstelle) eingehen. verständlich mit Schikanen, wie zum Bei Dienstanweisung lt. DAG § 259, Version spiel einer Verlegung des Arbeitsplatzes in 342.2, gez. Z-Tomanet die unteren Etagen, nahe den hausinternen Kläranlagen. »Kochfein?«, fragte Zigana, Verpfle * gungssachbeamtin im III. Rang und damit Der Schock raubte ihm den Atem, die für Getränkeversorgung während der Dienst Hände zitterten. Tomanet wandte furchtsam zeiten zuständig. seinen Blick von dem Schriftsatz ab, der so Tomanet hielt eine Hand über die Tasse eben im Einlaufordner gelandet war. Er hat und schüttelte den Kopf. Er hatte heute be te bei der Formulierung der Anweisung den reits acht oder neun Gläser der dunkelbrau falschen Paragraphen herangezogen! nen Brühe gehabt. Er ahnte, was auf ihn zukam. Mit Was mach ich bloß, was mach ich bloß?, Schrecken dachte er an das Schicksal von dachte er verzweifelt, während er nach au Hansen aus dem benachbarten Beamtenver ßen hin seinen gewohnt unverbindlichen Ge soldungs-Ministerium. sichtsausdruck zur Schau stellte. Der gute Mann hatte sich die Pulsadern »Blick immer interessiert und dienstbe aufgeschnitten. flissen drein, Bub«, hatte ihm die Mutter auf Gut, Hansen hatte seit jeher als labil und dem Totenbett als Rat mit auf den Weg ge nicht sonderlich belastbar gegolten. Aber geben. »Aber nicht zu interessiert, sonst Tomanet wusste, dass Fehler dieser Art in giltst du als ehrgeiziger Streber, und die offiziellen Verwaltungspapieren nicht so Kollegen rammen dir den Kritzopump in leicht ausgemerzt werden konnten und mit den Rücken.« Mit einem letzten Seufzer hat Sicherheit mehrere Jahre strengster Revisi te sie ihr Leben ausgehaucht und war noch onsarbeit nach sich zogen. am selben Tag gemäß der Befeuerungsver Oder noch schlimmer … ordnung in der hauseigenen Fernwärmezu Wie hatte ihm bloß dieser Fehler unterlau fuhrstelle verbrannt worden. fen können? Er war dumm, dumm, dumm! Zigana umkreiste den Tisch, goss Plastor »Probleme?«, fragte Plastorex hämisch ex auf dessen Wunsch hin die Tasse halb und grinste ihn an, die kurzsichtigen Augen voll und setzte dann ihren Rundmarsch zusammengekniffen. durch das Großraumbüro fort. Sein Gegenüber – klein, leptosom, schüt Tomanet blickte unauffällig die langen teres, dunkelgoldenes Haar – war schon seit Reihen zur Linken entlang. Eigentlich mus
4 ste er dankbar sein, in dieser relativ kleinen Abteilung des Ministeriums für Verbeam tung untergekommen zu sein. Hier flappten die riesigen Ventilatoren unablässig und sorgten für ausreichende Frischluft – was längst nicht überall der Fall war. Auch saßen nicht mehr als sechshundert Männer und Frauen in dem blaugrau getünchten Seiten trakt des krakenförmigen Hauptgebäudes. Jeder der Mitarbeiter hatte einen eigenen Pa pierkorb, einen Vierteltisch, einen Kritzo pump-Behälter und ein jährliches Quantum an Frischpapier, für das in anderen Ministe rien mancher hohe Beamte ein bis zwei Beine hergegeben hätte. Tomanet hätte sich wirklich, wirklich glücklich schätzen müssen. Die ersten vier zig Jahre seines Lebens waren in ruhigen Bahnen verlaufen. Ohne allzu viel Aufre gung – wenn man einmal von den intrigan ten Mobbing-Attacken Plastorex' absah. Die Besoldung reichte aus, um eine kom fortable Einzimmerwohnung im mittelstän dischen Stadtteil Kar unterhalten zu können, und beim allwöchentlichen Gesellschafts tanz im »Haus der Freude« hatte er bereits den einen oder anderen Blick einer der Jung gesellinnen auf sich ruhen gespürt. Er besaß einen ausgezeichneten Leumund, war ange sehen und – darauf durfte er durchaus stolz sein – bot eine imposante Erscheinung. Dennoch: Irgendetwas hatte ihm bislang gefehlt, um sich wirklich wohl in seiner Haut zu fühlen. Doch was sollte das Grübeln über die Vergangenheit, wenn er ohnehin keine Zu kunft mehr besaß? Dieser eine Schreib- oder Tippfehler würde sein Leben in neue Bah nen lenken. Tomanet sah an Plastorex vorbei, fixierte eine der vielen blinkenden Warntafeln, die in endlos scheinenden Reihen zwischen den einzelnen Sitzreihen von der Decke hingen. »Beamte des Ministeriums für Verbeam tung arbeiten fehlerfrei«, stand dort ge schrieben. Als Erinnerung, Mahnung und Drohung zugleich. Immer mehr wurde sich Tomanet der
Michael Marcus Thurner Konsequenzen seines Fehlers bewusst. Er fühlte sein Gesicht rot werden. Spürte, wie sich Schweißporen öffneten und er zu tran spirieren begann. Brachte das Zittern seiner Hände kaum mehr unter Kontrolle. Er hatte eine der wichtigsten Regeln, auf denen ein funktionierender Beamtenstaat beruhte, ge brochen. Was sollte er nur tun? Für einen Moment meinte er, einen klei nen Hoffnungsschimmer zu erfassen: Viel leicht würde niemand seinen Fehler bemer ken? Nein. Unter keinen Umständen. Sein Ver ordnungsentwurf war zeitgleich 36 weiteren Beamten zugegangen, die penibelst nach Fehlern suchen würden. Ein jeder, der auf diesen Planstellen Dienst tat, würde das Schriftstück mit größtmöglicher Aufmerk samkeit überprüfen. Rechts von ihm blinkte wie zum Hohn ein neues Mahnschild auf: »Ein gefundener Fehler ist ein weiterer Schritt auf Ihrer Kar riereleiter!« Tomanet dachte an die unzähligen freiwil ligen Überstunden, die er mit der Überprü fung neuer Gesetzestexte verbracht hatte, um eben diese Karriereschritte auf Kosten anderer zu machen. Die Sirene heulte. Dienstende. Stühle wurden gerückt, Nachbarn grüßten einander formell zum Abschied. Man holte die einheitliche Oberbekleidung der Beam tenkaste aus den Spinden und trat den Nach hauseweg an. Einige Männer und Frauen blieben sitzen, um Korrekturlesungen zu En de zu bringen. Der eine oder andere mochte bereits Tomanets Text in Händen halten. Sah vielleicht schon jemand zu ihm herüber, triumphierend und schadenfroh? Glücklich darüber, dass es einen anderen erwischt und man selbst die Chance auf eine Beförderung hatte? Nein, noch blieb es ruhig. Plastorex wandte sich soeben ohne Gruß ab, grinste schmierig in Richtung Ziganas, die ihren rie sigen Kochfein-Behälter wie jeden Tag un
Die Varganen von Cramar gereinigt stehen ließ, und begab sich den Massen hinterher, Richtung eigenes Heim. Tomanet blieb für einen Moment sitzen. Mit steifen Fingern packte er die halbe Para dosi weg, die er sich vom Mittagessen abge spart und für das Abendmahl zu Hause auf gehoben hatte. Das Wasser war ihm wäh rend der gesamten Nachmittagseinheit im Mund zusammengelaufen bei dem Gedan ken, welche lukullischen Freuden ihn erwar teten … War ihm vielleicht deswegen der Fehler unterlaufen? Tomanet schüttelte verzweifelt den Kopf. Es gab keinen Ausweg. Er musste eine Selbstanzeige machen und die Dienstanwei sungskorrektur beantragen. Nur so konnte er den Schaden einschränken. Er fingerte das rosarote Formular aus dem untersten Kartei kasten, sog routiniert am Tintenbeutel und füllte das Blatt mit dem Kritzopump aus. Sein Leben würde von jetzt an ziemlich … ziemlich – nun, aufregend war wahr scheinlich das richtige Wort – verlaufen.
1/b Alarm! Wieder einmal. Gorgh-12 schreckte aus seinem Dämmer schlaf, griff nach den wenigen Reglern der Aktiv- und Passivortungseinheiten, mit de nen er mittlerweile traumwandlerisch sicher umgehen konnte. Halbstoffliche Brustklammern wanden sich um mich, fixierten meinen Leib für den Fall der Fälle. »Garbyor?«, fragte ich knapp. »Haben sie unsere Spur erneut gefunden?« »Nein«, entgegnete Kythara. »Ich sehe keine fremden Schiffseinheiten.« Auch die Varganin schien ratlos, ein we nig desorientiert. »Alarm aus!«, befahl sie der Positronik. Das enervierende Geräusch, das wir in den letzten Tagen oft genug vernommen hat ten, verklang augenblicklich. Am Rande registrierte ich, dass alle
5 Schutzschirme der AMENSOON auf höch ste Leistung gefahren worden waren. Die Positronik reagierte atemberaubend rasch auf eine latente Gefahr, die wir noch nicht einmal entdeckt hatten. Nur Momente später explodierten die Bil der auf dem großen Holoschirm, zogen mei ne Blicke und die der anderen Anwesenden auf sich. Fehlfarbenes Gesprenkel weißer, roter und gelber Sonnen stob an uns vorbei, führte unsere Blicke durch die Schwärze des Welt raums in einen Sektor nicht allzu weit vor aus auf unserem Schleichkurs, den wir seit nunmehr drei Tagen flogen. Ein Kreis mar kierte fünf knapp nebeneinander stehende Sterne. »Diese Sonnen sind soeben im Normal raum aufgetaucht«, sagte die Positronik. »Definiere aufgetaucht«, verlangte Kytha ra. »Es ist die gängige Definition«, erwiderte das Schiffsgehirn. »Dort, wo nichts war, ist plötzlich etwas.« Klang da etwa Verwunderung in der wohlmodulierten Stimme mit? »Strukturerschütterungen!«, sagte Gorgh, gänzlich unaufgeregt, wie es seinem Natu rell entsprach. »Sie greifen mit Überlichtge schwindigkeit um sich, von der neuen Ster nengruppe aus. Eine Schockwelle kommt frontal auf uns zuge …« Strukturerschütterungen. Schockwelle. Hyperenergie. Dies waren aus Hilflosigkeit geborene Begriffe für Dinge, die aus einem fremden Kontinuum in unser Universum herüberschwappten; Ausprägungen einer an dersartigen Entropie, die wahrscheinlich ge rade mal die hundert klügsten Köpfe unserer Milchstraße verstandesgemäß erfassen konnten. »Können wir ausweichen?«, fragte Kytha ra. Sie wirkte beherrscht, ihre entzückende Nasenspitze glänzte bestenfalls ein wenig heller. In etwa wie Weißgold. Sehr witzig, kommentierte der Extrasinn, verhielt sich aber gleich wieder ruhig. »Nein«, antwortete die Positronik. »Ein
6 Umkehr- oder Abdriftmanöver kommt zu spät.« »Höchstbeschleunigung darauf zu. Nottransition!«, entschied Kythara sekun denschnell. »Das ist blanker Wahnsinn!«, rief ich. »Die Strukturerschütterungen beherrschen auch den höherdimensionalen Raum …« Sie ignorierte mich, ließ sich in ihrer Kon zentration nicht stören. An den Anzeigewer ten erkannte ich, dass die Sublichttriebwerke das Schiff mit nahezu 950 Kilometern pro Sekundenquadrat beschleunigten. Ein atem beraubender Wert – dennoch würden wir mehr als eine Minute benötigen, um in den Hyperraum vordringen zu können. Natürlich konnte ich nicht spüren, wie die AMENSOON auf die Notprogrammierung reagierte, und natürlich veränderte sich für uns an Bord des Schiffes scheinbar über haupt nichts. Zumindest gemäß den Gesetzen der Lo gik. Denn arkonidische – und menschliche – Sinne verlangen danach, sich einer Gefahr körperlich bewusst zu werden. Und so glaubte ich, ein leichtes Zittern der Außen wandung des Schiffs zu bemerken, als die AMENSOON mit Höchstwerten beschleu nigte. Ein Aufjaulen gequälter Aggregate. Ein Vibrieren, tief drinnen in meinem Ma gen, das Übelkeit hervorrief. »Die Ausläufer der hyperenergetischen Verwirbelungen erreichen mich in 18 Se kunden …« Warum, bei allen Sternenteufeln, wunder te ich mich just in diesen Momenten dar über, dass die AMENSOON in terranischen Einheiten rechnete? »… sechzehn …« »Alle Kraft in die Schutzschirme!«, schrie ich. »Kombischirm in Maximalentfernung zum Schiff errichten …« »Negativ!«, widersprach Kythara mit ei nem kurzen, wütenden Blick auf mich. »Weiterhin volle Beschleunigung auf den Ausgangspunkt der Strukturerschütterung zu.«
Michael Marcus Thurner »… zwölf …« »Das ist Unsinn!« Ich wollte aufspringen, wurde von den semitransparenten Brust klammern zurückgehalten. »Wir müssen un bedingt die Schutzschirme stärken!« Eine Gänsehaut zog über meinen Rücken. War die Varganin denn übergeschnappt? Ich fühlte mit jeder Faser meines Körpers, dass Kythara falsch entschied. Unlogisch, viel leicht von Panik oder von Hysterie gesteu ert. »… acht …« »Bitte!«, bat ich sie, flehte sie geradezu an. Sie würdigte mich keines Blickes. Ich sah, wie sich ihre Hände verkrampften und der Oberkörper steif wurde, noch steifer als sonst. Gorgh hingegen blieb stoisch ruhig. Er nahm die Entscheidung der Kommandan tin der AMENSOON kommentarlos hin. Hätte sie auf Kalarthras gehört, ihren ehe maligen Liebhaber? Kurz spielte ich mit dem Gedanken, den Varganen in seiner Ka bine zu kontaktieren, ihn aus einem medika mentös geförderten Schlaf zu reißen und zu bitten, Kythara zur Räson zu bringen. Aber es war zu spät, die Zeit zu knapp. »… drei …« Ich zwang mich, die Augen offen zu las sen. Zu beobachten, wie die hyperenergeti sche Welle über uns hinwegschwappte. Wie würde sie sich auswirken? Was würde sie mit uns allen anstellen? »… eins, Kont …«
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Zur internen Kenntnisnahme: Dienstan weisung lt. DAG § 259, Version 342.2 ist vorerst außer Kraft gesetzt, da es sich um die Zitierung eines falschen Paragraphen handelt (259 statt 253). Bis zur Konkordanz der in Planung befindlichen Dienstanwei sung Version 342.3 ist gemäß Rückgriffs rechtgesetz § 33 auf die Dienstanweisung Version 342.1 zurückzugreifen. Dienstanweisungskorrektur lt. DAK §11, Version 9.9, gez. Tomanet
Die Varganen von Cramar Schlimmer hätte es für ihn gar nicht kom men können. Seine Karriere, ja seine Exi stenz hing an einem seidenen Faden. Tomanet leerte das Kochfein nur so in sich hinein. Selbstverständlich musste er sich selbst bedienen – Zigana wich ihm seit heute Morgen bewusst aus. Er verlor wert volle Arbeitsminuten und geriet mit seinem Soll immer weiter in Rückstand. Doch was machte das heute schon? Auch alle anderen Kollegen und Bekann ten schnitten ihn, warfen ihm bestenfalls scheue Blicke zu. Lediglich Plastorex nahm ihn zur Kenntnis – allerdings nur, um ihn zu verhöhnen. Das rosafarbene Papier, so dünn, dass To manet es kaum zwischen seinen Fingern spürte, wog so schwer wie ein Schrank mit unerledigten Akten. Zum vielleicht fünfzig sten Mal las er sich die verhängnisvollen Zeilen durch. »… fordern wir Sie auf, nach Dienstschluss das Ministerium für Interne Revision, Abteilung III, Hrn. VB Zudalek, aufzusuchen.« »Schrecklich, nicht wahr?«, heuchelte Plastorex. »Da rackert man sich sein ganzes Leben lang ab, buckelt sich die Karrierelei ter hoch, um schließlich in ein tiefes schwar zes Loch zu fallen. Hm. Haben Sie sich ei gentlich überlegt, wer Ihr Papier-Kontingent erhalten soll?« »Noch ist es nicht so weit«, rief Tomanet zornig, konnte allerdings das verräterische Zittern in seiner Stimme nicht verhindern. »Es ist lediglich eine Aufforderung, in der Revision zu erscheinen. Das bedeutet noch lange nicht, dass ich verurteilt werde.« »Geben Sie sich bloß keinen falschen Hoffnungen hin.« Plastorex klappte eine handliche Nagelfeile hoch, kratzte den Schmutz unter seinen Fingernägeln hervor und schnippte ihn auf Tomanets Seite des Schreibtisches. »Haben Sie schon einmal ge hört, dass jemand den Schergen im Schwar zen Ministerium entkommen wäre? Eine Vorladung bedeutet, unwiderruflich in die untersten Ränge hinabgestoßen zu werden.« Tomanet wandte sich angeekelt von sei
7 nem Gegenüber ab. Plastorex suhlte sich in sadistischer Freude und gab sich erkleckli che Mühe, seine Ängste weiter zu schüren. Und leider, so musste Tomanet zugeben, hatte der Mann Recht. War man einmal ins Visier der Revision gelangt, war es vorbei mit einem geregelten, ordentlichen Leben. Die Sirene heulte. Was? Schon so spät? Tatsächlich. Das Flappen der Ventilatoren ließ nach, die Leuchtbalken mit den Lehr sprüchen verblassten. Ruhig, noch ruhiger als sonst, machten sich die Kollegen auf den Heimweg. Keiner wagte es, ihm Glück zu wünschen. Sie alle schlichen nach Hause, erleichtert darüber, nicht derjenige zu sein, den es erwischt hat te. Plastorex stand auf, kurvte um den Schreibtisch und platzierte demonstrativ mehrere leere Ablagefächer auf Tomanets Seite. »Sie erlauben doch?«, feixte er und mar schierte davon, eine fröhliche Melodie auf den Lippen. Am liebsten hätte Tomanet ihm in den fetten, fleischigen Hintern getreten. Doch das hätte seine Verhandlungsposition in der Revision keinesfalls verbessert. Es wurde gemunkelt, dass in jeder Abteilung haufen weise Beobachtungskameras versteckt wa ren. Er fuhr sich mit fahrigen Bewegungen durchs dünner werdende Haar, faltete aus al ter Gewohnheit das Revisionspapier sorgfäl tig an den Kanten zusammen und versorgte es in seiner speckig glänzenden Aktenta sche, dem einzigen Erbstück seines Vaters. Tomanet gab sich einen Ruck, sah sich ein letztes Mal um und verließ das Büro. Heute war niemand geblieben, um unbezahl te Überstunden zu leisten. Niemand wollte ihm begegnen, niemand wollte ihm in die Augen blicken. Gab es ein grässlicheres Schicksal, als ei nem Beamten der Revisionsabteilung gegen überzutreten?
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Michael Marcus Thurner
ben, als es mich einhüllte, mir gewaltsam den Mund aufriss, in mich eindrang und … 2/b »… Überlichtgeschwindigkeit erreicht!«, Die Schiffswände um mich verschwam meldete die Positronik, während die Effekte men zu undeutlichen Farbklecksen, die spürbar nachließen. Mein Oberkörper, ver Stimme der Positronik wurde zu undeutli krampft und wie gegen Sturmwind ankämp chem Geknurre. Übergangslos fühlte ich fend, fiel haltlos nach vor, hinein in die Fes mich einem Säureregen ausgesetzt, der mei selklammern meines Stuhls. ne Haut zersetzte … Ich schwitzte. Schließ die Augen, empfahl mir der Extra Ganze Bäche von Schweiß rannen über sinn. Deine Sinne sind überreizt. Das sind Stirn, Wangen und Kinn. Tropften hinab auf die üblichen Symptome einer hyperenergeti den glatt polierten Boden, wo sie zischend schen Sturmflut. und spurlos vergingen. Ich hatte solche Effekte schon öfter erlebt, Die bioaktiven Selbstreinigungsfunktio als mir lieb war, und sie konnten mich, ob nen der AMENSOON arbeiteten also wie wohl sie jedes Mal in anderer Form auftra der. Ein gutes Zeichen. ten, nicht mehr überraschen. »Das war … der blanke Wahnsinn«, Was mich allerdings verblüffte, war, dass krächzte ich. wir lebten. »Es hat funktioniert«, entgegnete Kythara Ich gehorchte dem Rat des Extrasinns kei seelenruhig. neswegs. Mühsam und gegen die Sinnesver Die Varganin blieb aufrecht sitzen. Sie wirrungen ankämpfend, wandte ich meinen bewegte lediglich da und dort einen Regler, Kopf den goldenen Anzeigedisplays zu. strich über Tasten und betrachtete konzen Schemen, feine Gespinste und hauchdünne triert ein Miniatur-Holo vor ihren Augen. Schleier tanzten durch die Zentrale. Rund »Wir sind durch«, sagte sie schließlich. herum, immer wieder rundherum, wie Der »Wir haben die Schockwelle frontal durch wische. stoßen und konnten, bevor ernsthafte Schä Ich beutelte den Kopf, vertrieb die Phan digungen des Schiffs auftraten, in den tasmagorien für wenige Momente. Hyperraum wechseln.« Die Belastungsanzeige der dreifach »Du bist, um die Strukturerschütterungen gestaffelten Schutzschirme war längst über so rasch wie möglich zu durchfliegen, auf den roten Bereich hinausgekrochen. Die Frontalkurs gegangen, nicht wahr?« Spitzenwerte des Hyperorkans lagen bei »Ja.« weit mehr als 180 Meg, und noch war der »Das war geplanter Selbstmord mit An Höhepunkt des Sturms nicht erreicht … lauf!«, rief ich. »Woher konntest du wissen, »Mehr Saft in die Schutzschirme«, wollte dass die AMENSOON die Spitzenbelastun ich von Kythara, die neben mir saß und ins gen verkraften würde?« Leere stierte, fordern, brachte aber nur ein »Es war die einzige Chance! Wären wir unartikuliertes Brabbeln über die Lippen. ausgewichen und hätten, so wie von dir vor Die AMENSOON beschleunigte nach wie geschlagen, bloß die Schutzschirmstaffeln vor, musste allerdings gegen die bremsende maximiert – wir wären den hyperenergeti Wirkung der hyperenergetischen Effekte an schen Effekten mehr als viermal so lang aus kämpfen. gesetzt gewesen.« Konnte ich den wenigen Anzeigen, die »Unter dem Schutz der verstärkten Kom noch funktionierten, Vertrauen schenken? bischirme!« Eine Welle weißgelben Lichts breitete »Es ist müßig, länger darüber zu diskutie sich aus, füllte die Zentrale, griff gierig nach ren, Arkonide.« Kythara hielt die Augen zu uns. Das Wabern schien ein Gesicht zu hasammengekniffen und musterte mich kalt.
Die Varganen von Cramar »Ich habe entschieden, und ich habe Recht behalten.« Ich wollte erneut aufbegehren, ihr das Ausmaß ihrer Unvernunft nochmals begreif lich machen … Lass es gut sein, empfahl der Extrasinn. Diese Dame ist genauso halsstarrig wie du selbst. Ich bin nicht halsstarrig!, wehrte ich mich. Aber nein – du doch nicht! Seine gedank liche Stimme triefte vor Sarkasmus. Ich hab bloß immer Recht. Natürlich. »Die Positronik meldet, dass lediglich ge ringfügige Schäden aufgetreten sind, die sich mit Hilfe der Selbstreparaturmechanis men beseitigen lassen«, unterbrach Gorgh 12 mein internes Zwiegespräch. »Gut«, murmelte Kythara und seufzte. Sie ließ sich erleichtert in ihren Stuhl zurück plumpsen. Die Varganin bemühte sich stets, nach au ßen hin möglichst beherrscht dazustehen. Insgeheim bewunderte ich sie für ihre Hal tung. Doch jetzt zeigte auch sie Wirkung. Keiner von uns konnte sagen, wie knapp es diesmal gewesen war. Wie viele Sekunden oder Sekundenbruchteile angesichts der Un abwägbarkeiten hyperdimensionaler Ver werfungen zwischen uns und dem Tod ge standen hatten. »Es ist noch nicht vorbei«, sagte Kythara und wies auf flackernde Anzeigen. »Der Sturm ebbt zwar ab, ist aber weiterhin spür bar. Es besteht die Gefahr, dass wir in den Normalraum zurückgesogen werden – bezie hungsweise dass das Schiff in einem Zwi schenkontinuum zerrissen wird.« Wie zum Beweis für die Gefahr verschob sich das Licht der Zentrale in einen unange nehmen Blaubereich, während die MegAnzeige abrupt in die Höhe schnellte. Ich hielt mich krampfhaft an den Stuhl lehnen an, wartete darauf, dass irgendetwas passierte – doch so abrupt, wie das Phäno men aufgetaucht war, verschwand es wieder. »Ein hyperenergetischer Nachzügler«,
9 sagte Gorgh unbeeindruckt. »Ich vermute, dass es der letzte war.« Nun – das konnte ich nur hoffen. Mein Nervenkostüm hatte in den letzten Tagen und Wochen ohnehin ziemlich gelitten.
* Wir unterbrachen unseren Hyperraumflug und verkrochen uns im Ortungsschatten ei ner namenlosen Sonne. Mehr als 2900 Lichtjahre lagen nunmehr zwischen uns und dem Sothin-System, in dem wir einer Falle der Garbyor entkommen waren. Die »Schwarze Substanz«, die schlus sendlich das ganze Sonnensystem in den Untergang gerissen hatte, war uns nach wie vor ein Rätsel. Nur langsam erschlossen sich die Zusammenhänge. Die schlimmste Be fürchtung jedoch – jene, dass die Garbyor einen Zugang zum Mikrokosmos der Varga nen suchten – gewann immer mehr an Wahrscheinlichkeit. Kythara hatte Kalarthras aus seinem »Schönheitsschlaf« geweckt. Der dunkle Vargane benötigte nach wie vor mehr Ruhe als unsereiner. Wir hatten die letzten drei Tage, die wir in »Schleichfahrt« auf der Flucht vor Garbyor-Truppen verbracht hat ten, dazu genutzt, ihm eine Schlafkur ange deihen zu lassen. Die Medi-Einheiten der AMENSOON päppelten ihn überdies mit Hilfe vitaminreicher Nahrung und eines aus geklügelten Fitnessprogramms weiter auf. Der Vargane nickte mir zu, nachdem er sich flüsternd mit Kythara unterhalten hatte, und ließ sich in einen Formenergie-Sessel fallen. Sein Hautteint war erneut nachgedun kelt. Noch konnte niemand etwas über die Zusammenhänge zwischen dem Dunkelstern und seinem veränderten Aussehen sagen. Die Vermutung, dass es welche gab, war zu mindest für mich nahe liegend. Doch wür den sie für den Mann existenzbedrohend werden? »Die Auswertungen sind abgeschlossen«, sagte Kythara schließlich und blickte uns der
10 Reihe nach an. »Jene fünf Planeten, die übergangslos im Normalraum aufgetaucht sind und die hyperenergetische Schockwelle ausgelöst haben, existieren in den Aufzeich nungen der AMENSOON. Auch Kalarthras kennt sie als markanten Bestandteil einer Sternengruppe namens Venad …« Venad … ein neuer Begriff in einer frem den Galaxis namens Dwingeloo. »… keine 90 Lichtjahre von unserem Ziel Cramar entfernt.« »Diese Sternenballung ist eurer Meinung nach also verschwunden, um heute unter hy perenergetischen Begleiterscheinungen zu rematerialisieren«, sagte Gorgh. »Habe ich das richtig verstanden?« »So könnte man es sagen«, antwortete Kythara zögernd. »Wie soll das vor sich gegangen sein?« »Ich vermute, dass es sich um einen wei teren Begleiteffekt handelt, der durch den Dunkelstern ausgelöst wurde.« Der Dunkelstern … Ein Begriff, den wir erst vor wenigen Tagen kennen gelernt hat ten. Dennoch kreisten unsere Gedanken un ablässig um diese blauweiße Riesensonne, die alle Merkmale eines enorm starken Hy perstrahlers aufwies. »Wir müssen uns endgültig mit der Idee anfreunden, dass die Lordrichter den Dun kelstern als Waffe einsetzen wollen«, sagte ich. Die beiden Varganen sahen mich nach denklich an. Gorghs starren Blick vermochte ich nicht zu deuten, aber ihn beschäftigten wohl ähnliche Gedanken. »Ich plappere jetzt nur so aufs Geratewohl dahin«, fuhr ich fort. »Unterbrecht mich bit te, wenn ich Unsinn rede.« Niemand sagte etwas. Also stand ich auf, durchmaß die Zentrale mit wenigen Schritten, marschierte zurück. »Die Schwarze Substanz geht vom Dunkelstern aus. Sie springt mal hier, dann dahin, befällt andere Sonnen. Es kommt in grob einem Drittel von Dwingeloo zu schwerwiegenden Irritationen des RaumZeit-Gefüges, die offensichtlich mit der Schwarzen Substanz im Zusammenhang ste-
Michael Marcus Thurner hen. Überschreitet diese eine bestimmte Massekonzentration, verwandelt sich der be fallene Stern in einem unkontrollierbaren Vorgang in eine Supernova – oder lässt gan ze Sektoren raumzeitlich kollabieren.« Wieder drehte ich mich um, begann mei nen Rundgang von neuem. »Der Gedanke, dass irgendjemand diesen Vorgang bewusst steuern könnte, ist schrecklich.« Bilder und Erinnerungen an Auseinandersetzungen, in denen Arkonbomben eingesetzt worden wa ren, kamen hoch. Vergehende Planeten, ei nem unumkehrbaren Atombrand ausgesetzt … oder jene an eine andere, ebenso schreck liche Waffe: überdimensionierte Paratron werfer, die Masse und Energie großräumig in den Hyperraum abstrahlten. »Weiter«, forderte mich Kythara auf, die unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her rutschte. »Kalarthras hat uns den wichtigen Hin weis geliefert, dass sich in der Verdickung der Dunkelstern-Akkretionsscheibe voraus sichtlich eine Varganen-Station befindet.« ' Der Mann nickte leicht, als ich ihn an blickte. »All die Phänomene, denen wir in Dwin geloo permanent begegnen, wurden mögli cherweise von dieser Station aus initiiert. Die weggeschleuderte Schwarze Substanz ist – noch – ein ungesteuertes Nebenpro dukt.« Ich holte tief Luft. »Ist sie es viel leicht deswegen, weil die Varganen dieser Station mit Kräften hantiert haben, die außer Kontrolle geraten sind? Weil eure Gefährten gewaltsam versuchen wollten, ein Tor zum Mikrokosmos zu öffnen?« Der Extrasinn schwieg – was kein Wun der war, da er diese Theorie gemeinsam mit mir entwickelt hatte. »Ich erinnere mich an etwas«, murmelte Kalarthras, während er aufstand und mir den Rücken zukehrte. »Es gab in der Tat Versu che, in unseren Heimatkosmos zurückzuge langen.« Kythara blickte ihn ebenso verblüfft an wie ich. Warum hatte er das nicht schon früher er
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wähnt? Sie wandte sich ab, mit verbissen zusam Die Antwort auf diese Frage liegt im be mengepressten Lippen. Als könnte sie die schränkten Erinnerungsvermögen der Var Erinnerung an das fürchterliche Debakel ganen, meinte der Extrasinn. Eine Lebens runterschlucken. zeit von 800.000 Jahren, unglaubliche Men »Sei's drum!«, führte der Vargane das Ge gen an Namen, Orten, Sprachen, angelern spräch kurzerhand auf das Wesentliche zu tes Wissen und so weiter erfordern selektives rück. »Ich kann keine weiteren Informatio Vergessen. Beziehungsweise assoziatives Er nen liefern.« innern, sobald die Notwendigkeit entsteht. Dreieinhalb Jahrhunderttausende waren So wie jetzt. also an dem Mann vorübergegangen, seit Ich hatte Kalarthras ein paar Stichwörter dem dieser Haitogallakin, einer von nur 74 hingeschmissen, und mit ein wenig Glück Varganen in Dwingeloo, erste Erfolge beim drängten die notwendigen Informationen aus Durchbruch in den Mikrokosmos gefeiert den Tiefen seines Unterbewusstseins nach hatte. Was mochte in diesem kaum über oben. schaubaren Zeitrahmen alles passiert sein? »Haitogallakin«, flüsterte er, kaum ver Ich musste unvermittelt an die Vielzahl ständlich. von Neutronenstern-Pulsaren denken, die al Ich kannte den Namen. Kalarthras hatte le mit einer übereinstimmenden Periode von ihn bereits einmal erwähnt. etwas mehr als eins Komma drei Sekunden »Der Chefwissenschaftler jener Varganen, Strahlung im Radiofrequenzbereich emittier die mit mir hierher ausgewandert sind«, fuhr ten. Ihre Geburt lag allesamt nur wenige er fort. »Er war nahezu besessen gewesen hunderttausend Jahre zurück … von dem Gedanken, ein Tor, das in die Hei »Es hilft nichts«, sagte Kythara. »Wissen mat zurückführte, zu finden.« werden wir nur vor Ort sammeln können, »Erzähl mir mehr«, forderte ihn Kythara am Dunkelstern.« auf. Ihre Augen leuchteten. »An den Truppen der Lordrichter ist vor Heimat – dieses Wort musste für die Var erst kein Vorbeikommen«, widersprach Ka ganen, die sich trotz ihres unglaublichen Al larthras. »Die 15.000 Garbyor-Schiffe, die ters noch immer als kosmische Vagabunden dort stationiert sind, zweifelsohne bewaffnet betrachteten, einen ganz eigenen Beige von Heck bis Bug, schießen uns in Gedan schmack haben … kenschnelle aus diesem Universum.« »Da gibt es nicht viel zu sagen.« Kalar »Ich weiß«, sagte Kythara und klopfte mit thras drehte sich der Frau und mir zu. »Als den Fingernägeln rhythmisch auf einen klei ich Dwingeloo verließ, vor ungefähr nen Beistelltisch. Ihre Ungeduld war nicht 350.000 Jahren, um Abenteuer und Wissen zu übersehen. »Zumal wir den Lordrichtern zu suchen, hatte Haitogallakin gewisse Tei trotz aller Bemühungen nicht entkommen lerfolge erzielt. Möglich – oder wahrschein können.« lich –, dass ihm in den nachfolgenden Jahr Kalarthras schluckte den mitschwingen hunderttausenden ein gewisser … Durch den Vorwurf, ohne auch nur mit der Wimper bruch gelungen ist.« zu zucken. »Ich weiß, dass ich ein … Si »Und du hast dich nicht weiter für die Ex cherheitsrisiko für die AMENSOON und ih perimente dieses Mannes interessiert?«, re Besatzung darstelle«, sagte er nach kurzer bohrte Kythara nach. Denkpause. »Wenn die Garbyor tatsächlich Kalarthras sah sie mit einem mitleidigen in der Lage sind, die Schwarze Substanz in Lächeln an. »Denk an die Eisige Sphäre. Als meinem Körper anzumessen, werden sie uns viele von uns in den Mikrokosmos zurück immer und überall finden. Selbst in unmit kehrten und alles schief ging, was nur schief telbarer Nähe und im Ortungsschatten einer gehen konnte …« Sonne wie dieser hier.« Er deutete zur Wan
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dung des Schiffes. Dort, wo ein glühendes, gieriges Monster mit Temperaturen jenseits der 40.000 Grad Kelvin die Schutzschirme zu durchdringen und uns zu rösten versuch te. »Du willst also weiterhin, dass wir Kurs auf Cramar halten?«, fragte ich. »Unbedingt.« Er reckte das schwarzgol dene Kinn energisch nach vorne und blickte träumerisch geradeaus. Nicht zum ersten Mal spürte ich etwas von dieser unbändigen Energie, die der Mann besaß. Kythara war keineswegs die Frau, die sich bedingungslos jedem Mann in Leidenschaft hingab. Kalarthras stellte in ih rem Leben etwas ganz Besonderes dar. Nicht umsonst war er äonenlang ihr Liebha ber gewesen. »Cramar ist der richtige Ort für uns«, fuhr der Vargane fort. »Ein Hafen der Sicherheit. Eine Welt, in der ich mich in aller Ruhe um dieses … Problem in meinem Körper küm mern kann.« »Bist du sicher?«, fragte ich ein letztes Mal nach. »Zum letzten Mal: ja. Cramar ist wie das Kyriliane. Oder, wie du sagen würdest: wie das Paradies.«
3/a Cramar, seine Heimat, war für Tomanet seit heute nur eine bessere Umschreibung für »ewige Verdammnis«. Das dunkle Tor, der Eingang zum Mini sterium für Interne Revision, schob sich erst quietschend zur Seite, nachdem er mehrmals den Türöffner betätigt hatte. Sein vorsichti ger Schritt hallte von den hohen, dunklen Wänden wider. Geduckte Gestalten mit ein gefallenen Gesichtern schlurften an ihm vor bei. Es war nicht schwer, Delinquenten von Pragmatisten zu unterscheiden. Jene bemüh ten sich, möglichst unauffällig zu bleiben, an den Wänden entlangzuschleichen, während die anderen mit der Selbstverständlichkeit von geschulten Scharfrichtern umhermar-
schierten. Eine kleine Warteschlange hatte sich vor der Portiersloge in der Mitte der Vorhalle gebildet. Tomanet stellte sich hinten an. Zer mürbend langsam und in gespenstischer Stil le ging es voran. Keiner der Männer und Frauen hier wagte es, den anderen anzuse hen. Sie alle wussten, warum sie hier waren. Es war unnötig, über die Schande auch noch zu reden. Endlich kam Tomanet an die Reihe. »Name?«, forderte ihn der Portier auf. Ein vierschrötiger Mann, dessen blasses Gesicht von Akne verunziert wurde. Sein Atem roch nach Alkohol und kaputten Zähnen. »Z-Tomanet«, antwortete er dienstbeflis sen und hielt sogleich wieder die Luft an. Die fleischigen Finger des Portiers glitten über einen Listenausdruck, bis er seinen Na men gefunden hatte. »Sie sind zu spät!«, fuhr er ihn schließlich an. »Ich wusste nicht, dass ich mit längeren Wartezeiten zu rechnen hatte …« »Wollen Sie sich etwa beschweren?« Der Portier richtete sich halb auf, hob seinen massigen Körper ungelenk in die Höhe, während sein Gesicht dunkelgold anlief und die Eiterpusteln umso deutlicher hervortra ten. »Keineswegs … ich …« »Dann antworten Sie gefälligst nur auf Fragen, die ich Ihnen stelle, und geben keine unnötigen Kommentare ab!« Tomanet nickte eingeschüchtert. Mit krakeliger Handschrift füllte der Por tier ein Formblatt aus und überreichte es ihm. »Sie gehen links die Treppe hoch, mit dem Aufzug in die erste Etage, rechts zum Halbstock, linker Korridor, durch die große Schwingtür, über den Lichthof, hinab ins Mezzanin, rechts, den Gang entlang, halb links, dann immer geradeaus bis zur Tür 867/II. Vertragsbediensteter Zudalek erwar tet Sie dort. Der Nächste, und gefälligst ein bisschen schneller!« Tomanet wurde beiseite geschoben. »Die linke Treppe hoch, und dann …?«, fragte er verzweifelt nach.
Die Varganen von Cramar »Herr!«, brüllte der Portier. »Wollen Sie mich für dumm verkaufen? Kein Wunder, dass Sie revidiert werden sollen, wenn Sie sich nicht einmal die einfachste Anweisung merken können! Und jetzt verschwinden Sie und schauen gefälligst zu, dass Sie allein zu rechtkommen!« Tomanet zog die Schultern noch weiter hoch. Er spürte die Blicke aller anderen auf sich. Sie hatten nur Spott und Häme für ihn übrig, froh, dass es nicht sie erwischt hatte. Die Suche nach dem richtigen Zimmer wurde zu einem Martyrium sondergleichen. Niemand, der ihm begegnete, wollte ihm auch nur im Geringsten weiterhelfen. Hoch näsig sahen die Beamten der Revision auf ihn herab oder lästerten bestenfalls darüber, dass »heutzutage schon jedes Subjekt hier her vorgelassen wird«. Es ging endlose Gänge entlang, in deren Wänden sich Werksküchenmief und Schweißgeruch ganzer Generationen festge fressen hatten. Treppauf und treppab, über Höfe, durch Großraumbüros, an automati sierten Kontrollstellen vorbei, Halbstock rauf, Zwischentreppen runter, mit einem knarrenden Aufzug in Etagen, die man zu Fuß nicht erreichen konnte … Ach, wie sehr sehnte er sich zurück nach seinem großzügig bemessenen Büro! Irgendwann und eher zufällig fand er schließlich vollkommen entnervt das richti ge Zimmer. 867/II. Hier also würde seine Laufbahn enden. Zögerlich klopfte er an. »Nur herein, mein Bester, nur herein!«, schallte es dumpf durch die Tür. Tomanet öffnete und trat ein. Der Holzbo den knarrte laut, als er auf den wuchtigen, aber wie leer gefegten Schreibtisch zuging. Dahinter saß ein kleines Männlein mit listig glitzernden Augen, die ihn aufmerksam be obachteten. Er registrierte fettige Haarsträh nen, die pedantisch genau über die hohe Stirn gescheitelt waren. Einen schäbigen grauen Anzug. Olivgrüne Ärmelschoner, of fensichtlich selbst aufgenäht. Ein ausgewa
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schenes Hemd mit verblichenen Essensre sten auf dem Kragen. Schmale, kleine Fin gerchen, deren größter Kraftakt während der letzten vierzig Jahre wahrscheinlich das Öff nen von Aktenordnern gewesen war. Zudalek, kein Zweifel. Genau so hatte er ihn sich vorgestellt. »Sie sind also das Subjekt Z-Tomanet«, sagte der Beamte statt einer förmlichen Be grüßung. »Setzen Sie sich, setzen Sie sich.« Tomanet ließ sich vorsichtig auf der einzi gen Sitzgelegenheit nieder, einem wackeli gen Hocker ohne Lehne. »Entschuldigen Sie mein Zuspätkommen …«, begann er zöger lich, wurde aber sofort unterbrochen. »Unser Portier hat mich bereits darauf hingewiesen, dass Sie ein Problem mit Pünktlichkeit haben.« Er kramte in einer Schublade umher und warf schließlich einen dicken Akt auf den Tisch. »Hm … er meint, Sie seien auch renitent geworden, meint er.« »Das stimmt gar nicht!«, sagte Tomanet und sprang empört auf. »Ich hatte den Mann nicht richtig verstanden und mich deswegen nochmals nach dem Weg hierher erkun digt!« »Soso, Sie bezeichnen sich also nicht als renitent, hm? Und wie würden Sie Ihr der zeitiges Verhalten nennen, hm? Soso …« Die Augenlider des kleinen Mannes vereng ten sich noch weiter, wurden zu schmalen Schlitzen. Tomanet hätte am liebsten geschrien, sei nen ganzen Frust in die Welt hinausgebrüllt. Jedes Wort, das er sagte, wurde ihm im Mund umgedreht … Plötzlich hatte er eine Eingebung. Er wus ste mit einem Mal, was hier geschah: Ich werde getestet! Seitdem ich das Ministeri umsgebäude betreten habe, wird mein Ver halten wahrscheinlich pedantisch genau festgehalten. Die Revisionsbeamten notieren jedes unbedachte Wort, jede unnötige Geste, jedes Zeichen einer Unsicherheit oder eines Fehlverhaltens … Er setzte sich behutsam nieder und zwang sich mit aller Gewalt zur Ruhe. Zudalek faltete die Hände ineinander, sag
14 te ebenfalls kein Wort mehr und beobachtete ihn konzentriert. »Sie sehen den Fehler, den Sie in Ihrer Abteilung gemacht haben, ein, sehen Sie?«, fragte der Revisionär nach langer Zeit und völlig zusammenhanglos. »Selbstverständlich«, antwortete Tomanet leise. »Es war pure Schlampigkeit von mir.« »Soso.« Zudalek sog am Tintenbeutel und begann mit dem Kritzopump auf ein Form blatt zu schreiben. Er störte sich nicht daran, dass Tomanet genau mitverfolgen konnte, was er langsam niederschrieb: »Unangepasst. Erhöhtes Aggressionspoten zial. Intelligent. Täuscht Einsicht nur vor. Empfehle Entlassung aus dem Beamten dienst.« Das war es also. Fünf kurze Sätze oder Wortbrocken, die über sein weiteres Leben entschieden. Zu Papier gebracht von einer komplexbehafte ten Kreatur, die keinen normalen Satz her vorbrachte. Das konnte nur ein Alptraum sein! »Sie können gehen, hm, können Sie«, sagte Zudalek schließlich und musterte ihn noch einmal kurz. »Ihre Entlassungspapiere liegen in zwei Tagen hier in der Auslaufstel le bereit für Sie, liegen bereit. Eine postali sche Benachrichtigung wird nicht mehr möglich sein. Angesichts der Umstände wer den Sie wohl mit einer kleineren Wohnung vorlieb nehmen müssen, werden Sie müs sen.« »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!« Un gläubig schüttelte Tomanet den Kopf. »Ein einziger, winziger Fehler – und mehr als zwanzig Jahre treuester Mitarbeit im Dienste des Ministeriums für Verbeamtung sind weggewischt?« Zudalek klopfte mit flacher Hand zornig auf den Tisch. »Sie! Was erlauben Sie sich!« Erregt schüttelte er den Kopf. »Sie nennen das einen kleinen Fehler? Einen falsch zi tierten Paragraphen, der das Gefüge ausge klügelter Dienstrechtsanweisungen ins Wan ken bringen kann, hm? Der Ihrem Ministeri um haufenweise Klagen unbescholtener Be-
Michael Marcus Thurner amter einbringen kann, hm? Der ein sorgfäl tig konstruiertes, perfekt abgestimmtes In einander unserer Lebensmaximen ins Wan ken bringen kann, hm?« »Fehler lassen sich ausbessern«, vertei digte sich Tomanet verzweifelt. »Sie können nicht jeden Kalaro'on, der sich irrt, seiner Lebensexistenz berauben.« Er wusste längst, dass er verloren hatte. Aber irgendetwas in ihm befahl ihm, weiter zu widersprechen, diesen fürchterlich bornierten Mann zu rei zen … »Das ist die größte Impertinenz, die mir jemals untergekommen ist!« Zudalek krallte die Finger so fest um den Rand seines Schreibtischs, dass sie sich hellgold verfärb ten. »Sie verhöhnen alles, was uns hoch und heilig ist, spucken auf die Gesetzblätter, zie hen den gesamten Beamtenstand in den Schmutz, tun Sie! Herr, wenn ich so könnte, wie ich wollte, würde ich … würde ich …« Allmählich entspannte sich Zudalek und kritzelte weitere Worte auf das Formblatt. Rollte es sorgfältig zusammen und steckte es in ein silbern glänzendes Rohr, das mit sat tem Schmatzen in die Vakuumpost glitt. »Vom jetzigen Moment an sind Sie in den Ministerien von Cramar als unerwünschte Person registriert. Betrachten Sie sich von nun an als Freiberufler.« Freiberufler … das Wort dröhnte wie ein Todesurteil in Tomanets Kopf. Schlimmer hätte die Strafe nicht ausfallen können.
3/b Das Dagg'tzo-System schälte sich allmäh lich aus dem Schwarz des Weltalls. Eine orangefarbene Sonne geriet in den Blick punkt unseres Interesses. Die AMENSOON sammelte Daten, die Kalarthras mit jenen aus seinem Wissenspool verglich. Was den zweiten Planeten Cramar betraf, war sein Erinnerungsvermögen wirklich bemerkens wert. Er ratterte die üblichen Standardinfor mationen wie aus der Pistole geschossen herunter und ging dabei durchaus ins Detail.
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Sein Enthusiasmus war groß; er fühlte sich Und wahrscheinlich war es auch so. »Erzähl mir mehr über die Zeit, die du auf diesem arkon- oder erdähnlich geformten Planeten offensichtlich sehr verbunden. Cramar verbracht hast«, forderte ich Kalar thras schließlich auf. »Aber bitte keine wei Schwerkraft, Luftdruck, Zusammenset teren Daten. Ich will vielmehr wissen, wa zung der Atmosphäre und Außentemperatu rum diese Welt für dich etwas derart Beson ren lagen alle in einem akzeptablen Bereich. deres ist.« Automatisch registrierte ich die wichtigsten Informationen und Kriterien. Über alles an Der Mann strahlte richtiggehend, als er dere wollte ich mir mein eigenes Urteil bil antwortete. »Von den 400.000 Jahren, die den. Eine Gefahr konnte, wenn überhaupt, ich in Gantatryn – beziehungsweise Dwin nur von den Oberflächenbewohnern ausge geloo, wie du dazu sagst – verbracht habe, hatte ich meine schönste Zeit auf Cramar. hen. »Nie und nimmer!«, rief Kalarthras im Meine größten Forschungserfolge passierten hier. Das Leben, das sich hier ausbreitete, Brustton der Überzeugung, als ich ihn dar auf ansprach. »Das Leben wurde seinerzeit war hundertprozentig so, wie ich es mir im durch varganische Aktivierungskapseln hier mer erdacht hatte. Varganoid. Friedlich. her gebracht und sorgfältig ins Ziel gesetzt.« Mentalgenetisch so konditioniert, dass es Aktivierungskapseln … Von den Varga nicht einmal die Idee von Kampf oder Krieg nen mit höchster Ehrfurcht behandelt. Sie kannte. Ich konnte mich unter meine … Er durften vor dem Erreichen ihres Bestim zeugnisse mischen, mich mit und durch sie fortpflanzen!« mungsortes nicht einmal berührt werden. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, Welten, die prädestiniert schienen, höheres dass Kythara zusammenzuckte. Leben auszuformen, wurden mit den Kap »Du hast auf Cramar Kinder gezeugt?«, seln beschickt. Konservierte Embryonen la fragte ich nach. gerten in ihnen oder Konzentrate des Leben »Selbstverständlich«, antwortete der Var digen in seiner puren biochemischen Form. Dies waren schwammige Begriffe für gane mit einer Selbstverständlichkeit, die gottähnliche Spielereien, die zu weit reich mir gar nicht behagte. Irgendwie missfiel ten, als dass ich sie mit meinem bescheide mir der Gedanke – nein, die gesamte Gedan nen Verstand erfassen konnte. Auch die kenkette! –, dass sich jemand mit Geschöp Kosmokraten betrieben mit den Biophoren fen, die er gezüchtet und jahrhunderttausen die Aufzucht von Leben. Ich wusste ehrlich delang ausgebrütet hatte, vereinigte und gesagt nicht, wie ich dazu stehen sollte … Kinder in die Welt setzte. Es klang verdreht »Träumst du, Arkonide?«, fragte mich und … pervers. Kythara spöttisch lächelnd. Ich war eben – wie Kythara bereits gesagt hatte – kein Vargane. Und ich war froh dar Gleichzeitig griffen ihre Gedanken nach über. Wurde man so, wenn man zu lange mir. Ich weiß, woran du denkst. Aber Ant worten, die du verstehen – und akzeptieren – lebte? Stand auch mir irgendwann eine sol könntest, wirst du auf deine Fragen niemals che Einstellung bevor? erhalten. »Weiter im Text!«, forderte ich Kalarthras »Warum nicht?«, fragte ich laut. auf, vielleicht ein wenig zu schroff. Kalarthras sah kurz von seinem Datenter »Ich hatte Kinder. Kindeskinder. Genera minal hoch, kümmerte sich aber nicht weiter tionen an Kalaro'on – so nannten sie sich –, um mich. Diese merkwürdige Art der Ver die neben und mit mir lebten. Selbst heute ständigung war ihm wohl nur allzu gut be noch muss es Nachkommen von mir geben kannt. …« »Du bist kein Vargane«, antwortete Ky »Wie sieht es mit dem technischen Ent thara knapp, als wäre damit alles gesagt. wicklungsstand aus?«, unterbrach ihn Ky
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thara. stellt.« Mit seinen dünnen, scheinbar so fra Seltsam. Sie müsste eigentlich über Kalar gilen Chitinfingern deutete er auf ein Holo, thras' Treiben hier in Dwingeloo Bescheid das den breiten Trümmerring aus einer wissen. Schemadarstellung farblich hervorhob. Ein Sie hat es vergessen … oder verdrängt, goldener Punkt schwebte mittendrin und be meinte der Extrasinn. wegte sich langsam näher auf das Mutterge Das mochte gut möglich sein. Meines stirn zu. Wissens waren sich die beiden Varganen vor »Und?« Ich blieb betont nüchtern. Ich war 50.000 Jahren das letzte Mal über den Weg in meinem Leben zu vielen Hinweisen auf schreckliche Vernichtungstaten begegnet. gelaufen, wenn man das so salopp formulie ren durfte. Hatte Kalarthras ihr tatsächlich Oftmals stammten sie aus anderen Zeitepo chen, deren Geschichte und Geschichten für nichts über Cramar erzählt? »Der zivilisatorische Standard war stets das heutige Leben keinerlei Bedeutung mehr hatten. Mochten sich Wissenschaftler und sehr hoch, aber nicht auf Expansion ausge richtet«, beantwortete der Mann Kytharas Historiker darum kümmern. Frage. »In meinen Wachphasen achtete ich »Manche der Gesteinsbrocken oder Plane persönlich darauf, dass die genetische Kon toiden erreichen einen Durchmesser von bis ditionierung beibehalten wurde. Keinerlei zu 2000 Kilometern. Ich habe sozusagen im Aggressionen, die über einen gewissen Vorbeiflug die Oberflächensubstanz mehre Selbsterhaltungstrieb hinausgingen. Ausge rer von ihnen analysieren lassen.« Gorgh war Forscher durch und durch. Un glichenheit. Das Streben nach optimaler Le bensordnung. Chancengleichheit für alle«, ermüdlich grübelte und suchte er. Was er durch sein starres, ihm angeborenes Sche zählte er an seinen Fingern auf. »Und diese Konditionierung hat deiner ma-Denken als scheinbares Manko besaß, Meinung nach gehalten?«, hakte ich nach. glich er durch wissenschaftliche Akribie »Sicherlich.« Kalarthras nickte bestimmt. mehr als aus. Niemand von uns hätte mehr »Es ist einfach ein lebensnotwendiger Be Arbeit als notwendig in die Erforschung des standteil von ihnen.« Asteroidenrings investiert. Gorgh hingegen »Dann lassen wir das mal so stehen.« Ich nahm en passant komplexe Tiefenstruktur wandte mich Gorgh-12 zu, der immer besser messungen vor. mit den technischen Gegebenheiten der »Was hast du also gefunden?«, hakte ich AMENSOON zurechtkam. »Hast du schon nach. direkte Informationen von Cramar erhalten? »Weitere Hinterlassenschaften der Rhoar Hyperfunksignale? Hast du Wachraumschif xi«, sagte der Insektoide. fe oder Stationen geortet? Oder gar … Ich dachte zurück an die Inselwelt Alarna, Schiffseinheiten der Garbyor?« auf der ich erstmals die Relikte der nunmehr ausgestorbenen Avoiden zu Gesicht bekom »Noch nicht«, antwortete der Insektoide knarzend. »Es gibt aber eine kleine Überra men hatte. Riesige Steinblöcke, fugenlos schung.« aufeinander gestapelt zu monumentalen »Und zwar?« Hochbauten, architektonisch durchbrochen »Das Dagg'tzo-System bestand ursprüng durch feine, fast zerbrechlich wirkende Brücken und Viadukte … lich aus vier Planeten, von denen einer ver nichtet wurde. Ein Asteroiden- und Planetoi Die Rhoarxi … ein hoch technisiertes denring umkreist die Sonne in einem Ab Volk, das Dwingeloo vor langer Zeit mit sei stand von 375 bis 415 Millionen Kilome nen atemberaubenden Bauten überzogen tern. Wir durchstoßen ihn soeben an der son hatte, aber vor mehr als 1,1 Millionen Jahren nenabgewandten Seite zu Cramar. Du siehst rätselhafterweise von der kosmischen Bühne unsere Position hier schematisch dargeabgetreten war.
Die Varganen von Cramar »Wusstest du von diesen Relikten?«, frag te ich Kalarthras. »Ich kann mich, ehrlich gesagt, nicht mehr erinnern.« So selbstbewusst der Varga ne manchmal auftrat – wenn er auf seine Ge dächtnislücken angesprochen wurde, klang er regelrecht kleinlaut. Noch wusste ich nicht, wie ich Kalarthras einordnen sollte. Er stellte sich mir als durch und durch ambivalent dar. »Lassen wir diese Informationen über die Rhoarxi-Relikte einfach mal so stehen«, meinte Kythara, die Eigentümerin der AMENSOON. »Gorgh – du speicherst das eingefangene Datenmaterial vorläufig nur ab und sorgst dich wieder hundertprozentig um die Aktivortung.« Leichter Tadel klang in ihrer Stimme durch. »Wir werden nicht noch einmal blindlings in eine Falle der Garbyor tappen. Die Kennungen der lordrichterlichen Schiffe sind mittlerweile hinlänglich be kannt, also kümmere dich um einkommende Funksignale. Wir werden auch den Ortungs schatten der Sonne bestmöglich durchkäm men. Achte auf unbekannte StrahlungsEmissionswerte, ungewöhnliche Partikel strömungen und -verwirbelungen. Ich möch te bei der Annäherung an Cramar unsere Risken minimieren und mich nicht nur auf die Positronik des Schiffs verlassen müssen. Ich will eine Garantie haben, dass der Planet sauber ist. Wir sollten zudem so viele Or tungssonden wie möglich in breit gefächer ten Umlaufbahnen um die Sonne platzieren. Die wahrscheinlichen Einflugschneisen ins innere System gehören bestmöglich über wacht, während wir uns auf Cramar tum meln oder herumtreiben.« Gorgh-12 erzeugte mit den kräftigen Mandibeln ein scharrendes Geräusch der Zustimmung und kümmerte sich dann um sein Instrumentarium. Wenn es um pedanti sche Arbeit ging, war der Insektoide mit Si cherheit der richtige Ansprechpartner. Kythara schlug ihre aufregend langen Beine übereinander. Zu Kalarthras sagte sie: »Und du, mein Lieber, erzählst ein bisschen mehr über deinen so genannten Lieblings
17 planeten. Wenn wir schon das Risiko einer neuerlichen Landung eingehen, will ich über alles Bescheid wissen, was uns dort unten erwarten könnte …«
4/a Tomanet war – wie jeden Morgen – zeitig aufgestanden, hatte eine Scheibe trockenen Fruchtbrotes gegessen und die übliche Kör perpflege betrieben. Seitdem saß er auf seinem Sofa und war tete – auf was? Er fühlte sich wie betäubt, seines Nutzens und seines Lebensinhaltes beraubt. Es läutete. Tomanet erhob sich mit klopfendem Her zen. Er ahnte, wer vor der Tür stand. Ein Beamter des Wohnungsministeriums, in adrettes Blassgrün gekleidet, trat ein und las aus einem mehrfach abgestempeltem und paraphierten Schriftstück vor: »Aufgrund Ih rer Entlassung aus dem Staatsdienst wird Ih nen die Zuteilung der Wohneinheit Graublockplanade Ost Schrägstrich Drei Schrägstrich Zwei Bindestrich Achtzehn mit sofortiger Wirkung entzogen.« Kurz sah ihm der Mann in die Augen, um den Blick gleich darauf wieder abzuwenden. »Suchen Sie Ihre persönliche Habe zusam men und entfernen Sie sich bis zur Mittags sirene aus diesem Wohnviertel«, ratterte er seinen Text weiter herunter. Wahrscheinlich wiederholte er diese Worte tagtäglich dut zende Male. Wie viele Tragödien hatte er bereits mit angesehen? Wie weit reichte seine persönli che Anteilnahme? Tomanet nahm seinen ganzen Mut zusam men. »Wie … wie heißen Sie?« Der Beamte drehte sich überrascht zu ihm um. »S-Kalfarak«, antwortete er zögernd. »Herr Kalfarak also.« Was sollte er sagen? Wie sollte er mit die ser radikalen Wende in seinem so schön durchgeplanten Leben umgehen? Tomanet hob die Schultern. »Was soll ich jetzt machen?«, fragte er ratlos.
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Der Beamte starrte intensiv auf seine Un terlagen, um ihm nur ja nicht wieder in die Augen blicken zu müssen. »Sie sind degra diert zum … Freiberufler ohne besondere Verwendung«, murmelte er. »Sie müssen sich also an das Ministerium für Privatisie rung wenden.« »Ministerium für Privatisierung?«, echote Tomanet. Das kannte er nicht. Obwohl er bislang geglaubt hatte, einen recht guten Überblick über die Verwaltung Cramars zu besitzen. »Ja. Es liegt an der nördlichen Peripherie von Arym.« Arym … der mit Abstand schäbigste Stadtteil von Cramalvet. Und noch dazu am nördlichen Rand … Tomanet war nie dort gewesen, hatte aber hinter vorgehaltener Hand schauderhafte Geschichten erzählt be kommen. Nur Abschaum und gestrandete Existenzen lebten – nein, vegetierten! – dort. Und in Zukunft wohl auch ich, dachte er. Kalfarak wandte sich ab und setzte seinen geschäftsmäßigen Blick auf. »Mehr kann und darf ich Ihnen nicht helfen. Im Übrigen muss ich Sie bitten, sich zu beeilen. Der Nachmieter dieser Wohnung wird jeden Mo ment …« Es klopfte leise. »Ah – da ist er. Es wird Zeit, dass Sie ge hen, Herr … ähm …« »Tomanet«, sagte er und wiederholte sei nen Namen verzweifelt, als könnte er sol cherart dafür sorgen, dass er nicht für alle Ewigkeiten aus der staatlichen Geschichts schreibung entfernt werden würde. »Z-Tomanet.«
* »Deiner Mutter wurde zu deiner Geburt von der Obersten Ministeriumsverwaltung ein Name zugeteilt«, belehrte ihn ein ge langweilter Sachbearbeiter. »Wegen deines Fehlverhaltens hast du kein Anrecht mehr auf diesen Namen. Für zukünftige Verwal tungsangelegenheiten erhältst du die Num mer Z-1959, die du bei allen Eingaben in
das dafür vorgesehene Blatt einzutragen hast. Die Ministeriums-Bekleidung ist in der Materialkammer nebenan abzugeben. Einen Raum weiter erhältst du neue Kleidung. Wiederum ein Zimmer weiter wird deine körperliche Eignung überprüft, um feststel len zu können, für welche freiberufliche Tä tigkeit du eingesetzt werden kannst. Die Wohngruppenzuteilung erfährst du beim Ausgang. Und nun Abmarsch! Ein bisschen rascher gefälligst! Der Nächste!« Tomanet wankte wie betäubt weiter. Wenn er geglaubt hatte, dass nichts mehr die Ereignisse des heutigen Vormittags und die abenteuerliche Anreise hierher übertreffen konnte – nun, er wurde eines Schlechteren belehrt. Man riss ihm die geliebte braungraue Be kleidung förmlich vom Körper. Selbst die kreisrunde Ausgeh-Melone, über die Jahre hinweg sorgfältig gepflegt, musste er abge ben. »Die Tasche!«, forderte ihn ein schmal brüstiger Kalaro'on unwirsch auf. »Die gehört mir … ist ein Erbstück mei nes Vaters«, stotterte Tomanet. »Du bist jetzt Freiberufler«, sagte der Mann schroff. »Du hast kein Anrecht mehr auf Besitztum. Gib die Tasche gefälligst her. Wir werden jemanden finden, der damit auch etwas anfangen kann!« Ungeahnter Hass brodelte in ihm hoch. Zorn auf diesen Mann, Zorn auf das Mini sterium für Privatisierung, Zorn auf das Sy stem. Er wollte seinen Frust hinausbrüllen, Dampf ablassen, angestaute Emotionen los werden … Es ging nicht. Tomanet holte stattdessen tief Luft und legte die speckig lederne Aktentasche vor sichtig auf den Tisch, öffnete sie, zog zwei Fotos heraus … »Nein!«, sagte der Beamte bestimmt, nahm ihm die Aufnahmen aus der Hand und warf sie achtlos in einen Papierkorb. »Das sind meine Eltern!«, rief Tomanet. »Die einzige Erinnerung an sie! Mein einzi
Die Varganen von Cramar ger Beweis, dass sie überhaupt gelebt haben …« »Na und?«, fragte der Mann achsel zuckend. »Freiberufler sind besitzlos. Wei tergehen, Subjekt Z-1959!« Tomanet schlich aus dem Raum. Es zer riss ihm schier das Herz. Aber die Tränen, sie wollten nicht fließen.
* Man schmiss ihm einen Ranzen mit ge brauchter, stinkender Bekleidung zu, die in den widerlichsten Farbtönen gehalten war. Die Schuhe waren zu groß und abgetragen, die Schirmkappe zu klein und löchrig. Es ging einen ausgetretenen, kalten Gang entlang, an dessen Wänden Schimmel wu cherte. Hinein ins nächste Zimmer, zur ärzt lichen Untersuchung, die einen neuen Höhe punkt der Demütigungen mit sich brachte. Er musste sich bücken. Eine gleichgültig dreinblickende Ärztin fuhr ihm mit zwei Fingern in den Anus, notierte etwas und be tastete gleich darauf seine Hoden. Ohne die dünnen Latex-Handschuhe zu wechseln. Sein Gebiss wurde wie das eines wilden Tieres begutachtet. Die Nasenschleimhäute mit einem überdimensionierten Spiegel durch die Nasenlöcher kontrolliert. Der Ma gen mit einer Brechreiz erzeugenden Sonde untersucht. Man stülpte eine topfartige Hülle über seinen Kopf und schor ihm die Haare. Augen, Ohren, Füße, Finger – alles wurde vermessen und teilweise schmerzhaften Pro zeduren unterzogen, bis endlich das un freundliche Kommando »Anziehen!« er schallte. Müde und gleichgültig nahm er zur Kenntnis, dass er gemeinsam mit 17 weite ren Freiberuflern einem Gemeinschaftsraum zugeteilt wurde. Am nächsten Morgen, so sagte man ihm, würde er erfahren, in wel cher Berufssparte er Arbeit finden würde.
*
19 »Willkommen in Lager 3!«, empfing ihn Subjekt B-1963, wie Tomanet anhand der krakelig beschriebenen Brusttasche an einer zerlotterten Stoffjacke feststellen konnte. »Ich bin ebenso Abschaum der Gesellschaft wie ihr alle«, fuhr die etwa vierzigjährige Frau fort. »Ich erinnere mich nur zu gut, wie ich mich gefühlt habe, als ich vor langer Zeit hier landete, und ich kann mir vorstellen, dass ihr eine Menge Fragen habt. Ich bitte euch, ein wenig Geduld zu haben, bis wir die notwendigen Formalitäten hinter uns ge bracht haben.« Tomanet hörte, wie Nummern aufgerufen und die neuen Freiberufler auf Baracken zimmer aufgeteilt wurden. Es kümmerte ihn nicht weiter. Er stierte in dem großen Versammlungs raum vor sich hin, an den anderen Delin quenten vorbei, nur ja keinen von ihnen an blicken, sonst würde er sich selbst wieder er kennen, wie in einem Spiegel … »Zum letzten Mal: Z-1959!«, schrie die Frau mit hochrotem Kopf. »Hier!« Tomanet fuhr aus seinen Gedan ken hoch, reckte instinktiv die Hand in die Höhe. »Wird auch Zeit, du Träumer!« Die Frau B-1963 schnaufte heftig und blickte auf ih ren Schreibblock. »Das auch noch – du Schnarchbacke bist meinem Trupp und mei nem Schlafsaal zugeteilt. Baracke 3B, Bett 48. Geh durch diesen Korridor und bring dein Zeugs dort hin. Ich komme nach.« Er musste mit diesem Mannweib – oder vielleicht sogar mit mehreren Frauen – in ei nem Raum schlafen? »Was soll's!«, murmelte er abgestumpft und schlurfte davon. Er sah durch ein Fenster des Ganges. Par allel dazu führten weitere Schläuche in ähn lich aussehende Gebäude. Die Baracken gli chen sich äußerlich wie ein Ei dem anderen. Grau getüncht, mit abbröckelndem Putz und feuchten Flecken in Bodennähe. Zögerlich, wegen der vielen unbekannten Menschen, die ihn erwarteten, ängstlich geworden, ging er weiter.
20 Doch das Innere überraschte ihn. Der hohe Saal mit den weit herabragen den Hängelampen sah nicht gerade anhei melnd aus – aber die Bettgestelle und deren Umfelder wirkten auf seltsame Art und Wei se sehr persönlich, fast intim. Da standen Blumensträuße in rostigen Gefäßen auf einem Arbeitstisch und sorgten für ungewohnten Farbzauber. Dort waren in blutroter Farbe, quer über einen wackeligen Spind, die Worte: »Ich bin keine Nummer – ich heiße Kalaphas!« ge sprayt. Jedes Abteil besaß Abschirmungen aus Stoff, die derzeit allerdings großteils beiseite geschoben waren. Und er spürte etwas ganz Seltsames. Et was, das er seit Ewigkeiten nicht mehr ge fühlt hatte und nur unter großen Schwierig keiten benennen konnte. Dieser Raum, diese Halle, diese Baracke – sie strahlte Fröhlichkeit aus. Tomanet schloss die Augen, versetzte sich gedanklich zurück in seine Vergangenheit. Erinnerte sich an Mutter, an ihren süßlichen Geruch. Wie sie ihn geherzt und liebkost hatte, ihm Spiele beigebracht und ihn mit einfachen Reimen das Zählen gelehrt hatte. Fröh-lich-keit. Seltsam. »Dein Abteil ist dort vorne!«, hörte er die rotzige Stimme der Frau, die ihn im Freien so ungehobelt angebrüllt hatte. »Los, beweg dich endlich, Schwabbelbauch!« Schwabbelbauch? Er war doch nicht dick! Instinktiv griff er an seine Leibesmitte, fühlte die kleine Dop pelfalte, wollte etwas entgegnen … Die Frau klopfte ihm auf die Schulter, dass er meinte, sein Oberarmknochen würde aus der Pfanne springen. »Mach dir nichts draus! Ein paar Wochen harte Arbeit, und du fühlst dich wie neugeboren, Wackelpud ding.« Sie provozierte ihn! Erneut fühlte er das Grummeln in seinem Magen, das Engwerden in seiner Brust. Tomanet ballte die Hand, wollte sie he ben, noch näher auf die Frau zugehen und
Michael Marcus Thurner … und … Er entspannte sich wieder. »Na?« Sie grinste ihn frech an. »Hast du Schiss vor Flink?« »Flink?«, wiederholte er irritiert. »Jeder hier nennt mich so. Schon solange ich zurückdenken kann. Vergiss die Num mer hier.« Sie deutete auf den Schriftzug an ihrer Brust. »Das ist das Wichtigste in Lager 3: Wir sind keine Nummern. Wir haben einen Namen.« »Das … das ist schön«, war alles, was To manet hervorbrachte. »Dann such dir einen aus!« »Aussuchen?« »Ja! Einen neuen Namen. Wer hierher kommt, muss alles ablegen, was er einmal war. Folgerichtig geben wir auch unseren Geburtsnamen ab und suchen uns selbst einen neuen aus. Also: Lass deine Fantasie sprechen.« »Fantasie?« »Stimmt bei dir etwas nicht, dass du stän dig alles wiederholst?« »Nein«, beeilte er sich zu sagen. »Verzeihung.« »Also?« Er sollte einen Namen finden. Erfinden. Er hatte noch nie irgendetwas erfunden. »Fisker«, murmelte er. Sie betrachtete ihn aufmerksam. »Fisker. Hm. Gar nicht mal so schlecht. Vielleicht hab ich mich geirrt …« »Was meinen Sie?« »Sag nie mehr Sie zu mir, du Steifling!« Sie drohte ihm mit der Faust, doch er spürte, dass Flink es nicht ganz so ernst meinte. »Ich werde mich bemühen«, versprach er, drehte sich um und suchte seinen Platz.
* »Wir alle hier sind Individuen«, brüllte Flink, sodass es jeder in der Baracke hören konnte. Das gute Dutzend Neuankömmlinge stand dicht beieinander. Eingeschüchtert, unsicher,
Die Varganen von Cramar verängstigt. Fisker, der früher einmal ZTomanet geheißen hatte, mittendrin. »Man hat euch zeit eures Lebens einzure den versucht, dass es eine Schande ist, au ßerhalb des Beamtentums zu leben. Dass die Existenz als Freiberufler einem Todesurteil gleichkommt.« Sie blickte umher und rollte wild mit den Augen. »Das ist eine verfluchte Lüge!« Fisker reagierte nicht. Er glaubte der Frau genauso wenig wie seine Leidensgenossen. Natürlich musste die Lagervorsteherin etwas sagen, um ihren Lebensmut hochzuhalten. »Ihr habt bislang ein behütetes Leben ge habt. Alle Sorgen wurden von euch fern ge halten. Ihr habt keine Ahnung, was wirkli che Arbeit bedeutet – aber ihr werdet es er fahren …« »Haben Sie Freude mit Ihren neuen … Mitarbeitern?«, unterbrach sie eine hohe, so nore Männerstimme. Flink drehte sich langsam um und muster te den Neuankömmling. Der Mann war sehnig und hager, sein Ge sicht blassgold und von tiefen Falten zer furcht. Auf seinem geschorenen Kopf prunk te eine zerrissene Dienstmelone in Grünblau, der Farbe des Ernährungsministeriums. Er stand steif und starr im Eingang zur Ba racke; nur seine linke Hand klopfte ungedul dig gegen den Türstock. Flink seufzte. »Darf ich euch vorstellen: Das ist A-Petri. Lagerbeauftragter von eige nen Gnaden.« »Eines Tages werden Sie an Ihrem Zynis mus ersticken«, sagte der Mann. Er wandte sich dem kleinen Häuflein der Neuankömmlinge zu, räusperte sich und sagte: »Sie wurden gemäß Ausgliederungs gesetz Paragraph 152 auf Zeit in diese Zweigstelle des Privatisierungsministeriums verlegt. Ein gutes Verhalten über einen an gemessenen Zeitraum vorausgesetzt, sind für jeden von Ihnen eine Neueinstellung und, damit verbunden, die Repragmatisie rung im Bereich des Möglichen, nach Para graph …« »Es ist genug!«, rief Flink und stampfte
21 heftig mit dem Fuß auf. »Verunsichere mir nicht die Neuzugänge.« »Die Ausgegliederten haben gemäß Infor mationsgesetz Paragraph 29 Strich 2 Absatz 3 das Recht, zu wissen, was ihnen bevor steht.« Abrupt wandte sich Petri ab und ging davon. Flink schüttelte den Kopf und sagte in Richtung der Neuankömmlinge: »Dieser Mann lebt seit mehr als dreißig Jahren hier in Lager 3. Und genauso lang hofft er schon, in sein altes Ministerium zurückgerufen zu werden. Betrachtet sein Schicksal als war nendes Beispiel. Wer sich nicht damit abfin det, für den Rest seines Lebens Freiberufler zu bleiben, verliert sich in seinen Fantasi en.« Fisker war verwirrt. Was meinte die Frau damit? Seiner Meinung nach verhielt sich Petri völlig normal. Er richtete sich an der – be rechtigten? – Hoffnung auf, irgendwann ein mal in den Staatsdienst zurückberufen zu werden. Flink fuhr fort: »Unsere Lageraufzeich nungen reichen mehr als fünfhundert Jahre zurück. Noch nie ist jemand rehabilitiert worden! Die meisten von uns akzeptieren dies und finden ein gutes Auskommen mit der Situation. Andere hingegen« – sie deute te in Petris Richtung – »schaffen's nicht.« Damit war die Sachlage für Fisker ge klärt: entweder Anpassung – oder Wahn sinn.
* Flink zog ihn mit sich, quer durch eine leer stehende, mit rauen Betonplatten ausge legte Halle. Durch eine Fensterfront zur rechten Hand sah er ein scheinbar endlos weit reichendes Betonfeld. Links hingegen schimmerte Rot durch nahezu taubes Glas. »Wir alle sind behütet aufgewachsen. Sozu sagen im Schoß der Ministerien«, durch drang ihre Stimme seine Gedanken. »Unseren Vater kennen wir in der Regel nicht. Nur bis zum dritten Lebensjahr gehö
22 ren wir unserer Mutter. Dann folgen der mi nisteriell geführte Kindergarten, Schulaus bildung, Berufseignungstest, berufsspezifi sche Vorbereitung, Arbeitsleben bis zum Tod oder Aufbewahrung in einer Altersan stalt.« »Klingt das nicht schön?«, seufzte Fisker. »Alles ist geregelt. In allem, was wir tun, gibt es Sicherheit.« »Nun – ich habe mittlerweile ein anderes Bild davon, was schön ist.« Flink grinste, wurde aber gleich wieder ernst. »Hast du dir schon einmal Gedanken darüber gemacht, was die Aufgabe eines Beamten ist?« »Ein Beamter dient dem Staat, er ist der Staat, er ist Systemerhalter und sorgt für ein Funktionieren und problemloses Ineinander greifen der staatlichen Einrichtungen«, zi tierte Fisker eine der Maximen Cramars, die sich seit der Jugendzeit unauslöschlich in sein Gedächtnis gebrannt hatten. »Jaja«, seufzte Flink. Sie schob ihn nach links. An Maschinen und Geräten vorbei, die eindrucksvoll wirk ten, aber keinerlei Sinn erkennen ließen. Weit voraus blinkte ein Licht und kenn zeichnete den Ausgang. »Ich will es mal andersherum formulie ren«, sagte sie. »Ein Beamter erhält den Staat, und der Staat erhält den Beamten. Richtig?« »So habe ich es gelernt«, antwortete Fis ker vorsichtig. Worauf wollte die Frau hin aus? »Wer, so frage ich dich, produziert dann etwas?« »Was verstehst du unter produzieren?« »Als Beamter erhältst du regelmäßiges Essen. Eine Wohnung. Bekleidung. Ein Ra dio. Medizin. Regelmäßige Nachrichten-Bulle tins in Zeitschriften-Format. Fachbücher.« »… wofür ich meine Arbeitsleistung ein bringe«, unterbrach Fisker sie. »Ist ja schön und gut – aber woher kom men die Nahrungsmittel? Die Einrichtung deiner Wohnung, die Stoffe für Kleidung, Medikamente, das Papier?« Fisker lächelte. Hatte er denn hier eine
Michael Marcus Thurner Schwachsinnige vor sich, dass sie derart nai ve Fragen stellte? »Das alles stellt uns das Wohnungs- und Versorgungsministerium zur Verfügung. Dafür bezahlen wir mit un serer Lebenszeit. Tagtäglich stempeln wir ab, soundso viel Zeit im Dienste des Staates geleistet zu haben, und es wird uns auf unse rer Lebenskartei gutgeschrieben …« »Mann, verstehst du nicht, worauf ich hinauswill?« Flink stampfte mit einem Fuß auf, ballte die Hände. Ihr Kopf färbte sich rotgolden, die Haare standen ihr zu Berge, und sie at mete schwer. Ein Angst erregender emotio naler Ausbruch, wie er ihn noch nie zuvor bei einer Kalaro'on erlebt hatte. »Ich will von dir nicht wissen, wo all die Sachen herkommen, sondern wer sie er zeugt!«, fuhr sie schließlich fort. »Wer sie erzeugt?« Nun – mit dieser Fra ge hatte er sich nie auseinander gesetzt. »Maschinen vielleicht?«, fragte er hilflos. »Und wer, zum Kalatas, bedient die Ma schinen?« »Ich … ich weiß es nicht.« »Du fantasieloser, engstirniger Beamten kopf!«, schimpfte sie ihn. Sie erreichten das Ende der Halle. Flink drückte ihm zwei seltsam anmutende Geräte in die Hand. Einen langen Stab aus merk würdig rauem Material, an dessen einem En de mehrere scharfgratige Metallzinken in rechtem Winkel abgebogen waren. Und eine Art überdimensionale Schere, deren Klingen rostig und schrundig waren. »Wir bedienen die Maschinen!«, sagte sie mit seltsam anmutender Begeisterung. »Wir sorgen dafür, dass sorgsam behütete Prag matisten tagtäglich Essen auf dem Tisch ste hen haben, auf einem Stuhl sitzen können und ausreichend Papier zur Verfügung ha ben.« Flink riss die Tür auf und stieß ihn hinaus ins Freie. Ein dunkelblauer Himmel und strahlender Sonnenschein empfingen sie. Es erschien ihm wärmer, als er es jemals zwi schen den Hochhausschluchten seines Hei matbezirkes empfunden hatte. Die Luft – sie
Die Varganen von Cramar war so … anders. Er atmete tief ein, roch ei ne strenge Würze, die ihn an irgendetwas er innerte. Es kam von den roten, nahezu faust großen Früchten. Die Stauden, auf denen sie hingen, bogen sich unter der großen Last beinahe bis zum Boden. »Paradosi-Felder«, sagte Flink. »So weit das Auge reicht, so weit du an einem Tag marschieren kannst. Die Pflanzen wachsen und gedeihen hier in freier Natur. Wir setzen sie, ziehen sie hoch und ernten zweimal im Jahr. Und versorgen damit nahezu 100.000 Kalaro'on der Hauptstadt.« Paradosi! Die süßlich schmeckende Göt terspeise mit dem weichen Fruchtfleisch, das er so sehr liebte! Ein gefährlich klingendes Tuckern ertönte ganz in der Nähe. Fisker schob sich die zer rissene Schirmkappe tief über die Augen und betrachtete das näher kommende Mon strum. »Nur keine Angst.« Flink schien genau zu wissen, wie er sich fühlte. »Das ist eine Erntemaschine. Achte bloß darauf, dass du ihr nicht zu nahe kommst.« »Erntemaschine?« »Bitte hör endlich mit diesen ständigen Wiederholungen auf!« Theatralisch verdreh te sie die Augen. »Also, mein Junge: In den nächsten Tagen werde ich dich von einem Arbeitsplatz zum nächsten weiterreichen. Du sollst den Betrieb erst einmal richtig kennen lernen. Für heute gilt: Komm dem Ernter nicht in die Quere, halte dich stets na he den Gebäuden auf und pflück die Parado si in jenen Reihen, die die Maschine nicht erreicht.« »Wie mache ich das?« Flink grinste. »Mit den beiden Werkzeu gen in deinen Händen wirst du zurechtkom men, glaub mir.« Sie reichte ihm einen über dimensionierten Sack aus einem Depot nahe der Tür. »Füll die Sammelboxen bis zum Rand hin mit Paradosi und lass sie einfach stehen. Träger werden sie aufnehmen und abtransportieren.« »Das ist … alles?«
23 »Ja. Ich hole dich am Abend hier ab. Nimm dich vor der Sonne in Acht. Ihre Wir kung ist stärker, als du es gewohnt bist. Und jetzt mach endlich voran – ich muss mich um die anderen Neuen kümmern.« »Ja. Danke.« Er wandte sich ab und über legte, wie er das Stabding mit den gekrümm ten Zinken handhaben sollte. Da fiel ihm noch etwas ein. »Warte bit te!«, rief er Flink hinterher. »Bekomme ich auch etwas zu essen?« »Zu Mittag kommt Jul vorbei und bringt ein paar Fruchtbrote.« »Kann ich … kann ich auch …« »Ob du von den Paradosi-Früchten essen darfst?« Sie lachte hell auf. »Das hier ist Ei gentum des Ministeriums für Nahrungsmit tel.« Verschwörerisch zwinkerte sie ihm zu. »Ich glaube nicht, dass die Behörden in der Stadt bemerken werden, dass zehn, fünfzig oder meinetwegen auch hundert Stück feh len.« »Du meinst …« »Du bist von nun an Freiberufler. Ist dir nie in den Sinn gekommen, dass das auch Vorteile haben könnte?« Nein, war es nicht. Aber so betrachtet … Hm. »Arbeite zügig und mach zwischendurch längere Pausen«, riet sie ihm, während sie sich immer weiter im Dunkel der Halle ver lor. »Trink ausreichend Wasser aus den Hähnen, die überall aus dem Boden kom men. Überanstrenge dich nicht zu sehr. Und heute Abend werden wir uns über das The ma Muskelkater unterhalten …« »Danke«, murmelte er. Die Frau hatte wohl einen Narren an ihm gefressen. Denn als die Sonne unterging, er mit schmerzendem Rücken und vollem Magen abgeholt wurde, angefüllt mit den leckersten Paradosi, die er jemals gegessen hatte, mas sierte ihm Flink die Verspannungen aus der Muskulatur und brachte ihm anschließend bei, dass man auch in der Horizontalen Be wegung haben konnte.
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Michael Marcus Thurner
4/b »Adlorm«, murmelte Kalarthras. »Der Raumhafen.« »Haben wir schon Kontakt?«, fragte Ky thara in Gorghs Richtung. »Nein«, antwortete der Insektoide. »Man reagiert weder über Normal- noch über Hy perfunk auf unsere Signale.« »Adlorm ruft unbekanntes Raumschiff«, dröhnte es plötzlich auf Varganisch über die Lautsprecherfelder der AMENSOON. »Landeerlaubnis … erteilt.« Eine Sichtver bindung kam nicht zustande. Manche Vokale klangen länger, andere abgehackter, als ich es vom umgangssprach lichen Varganisch gewohnt war. Die Beto nungen hatten sich wohl im Laufe der Jahr tausende leicht verschoben. Eigentlich sind diese Änderungen viel zu gering, wenn man die Dauer der Isolation betrachtet, meinte der Extrasinn. War es denn eine Isolation gewesen? Hat ten die so genannten Kalaro'on, Kalarthras' Erzeugnisse und Kinder, die genetische Ver ankerung durchbrochen und Kontakt zu an deren Völkern gesucht? Lautes Knacksen überlagerte für kurze Zeit den Funkverkehr, bis die Positronik die atmosphärischen Störungen ausgefiltert hat te. Kythara schaltete auf Manuellsteuerung. »Ersuchen um Zuteilung einer Landepositi on«, sagte sie. Lange Pause. »Landet, wo ihr wollt«, sagte die Stimme am anderen Ende der Verbindung. Ein neu erliches Knacken zeigte, dass die Leitung unterbrochen worden war. Kythara blickte uns einen nach dem ande ren an. »In deinem Paradies stimmt einiges nicht, würde ich sagen. Was soll das für ein Empfang gewesen sein?« Auch ich hatte eine dumpfe Ahnung, dass dort unten etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Alle meine Instinkte sprachen an, ei ne Gänsehaut zog über meinen Rücken, der
Extrasinn schickte undifferenzierte, warnen de Impulse. Auch diesem alten Klugschwät zer war also mulmig zumute, ohne dass er es genauer spezifizieren konnte. »Vorsicht!«, mahnte ich. »Ich fahre die Schutzschirme hoch und bleibe auf Alarmbereitschaft«, sagte Kythara und strich mit langen Fingern über eine Rei he von Tastfeldern. Es war eine Eigentümlichkeit, die sowohl den Varganen als auch mir eigen war: Je mehr Besatzungsmitglieder sich an Bord der AMENSOON versammelten, desto mehr Aufgaben der Positronik des Schiffes über nahmen wir. Das Gefühl, mit aktivem Han deln etwas zum Gelingen einer Mission bei zutragen, war wichtig. Immer in dem beruhi genden Wissen, dass uns das Schiffsgehirn, wenn es auf Sekundenbruchteile ankam, oh nehin hilfreich zur Seite stehen würde. »Es muss sich um ein Missverständnis handeln«, riss mich Kalarthras mit verzwei felter Stimme aus den Überlegungen. »So sollte es hier auf keinen Fall zugehen!« Statt zu antworten, deutete ich auf Ho loaufbereitungen, die uns den Raumhafen aus allen möglichen Perspektiven zeigten. Die Bilder bewiesen eindeutig, dass auf Cra mar etwas gehörig aus dem Lot geraten war. Sechs ungenutzte Vierkantpyramiden, un gefähr 150 Meter hoch, standen in einem se parierten Randbereich des kreisrunden Raumhafens. Die Messgeräte der AMEN SOON übermittelten uns keinerlei Wärmeund Energieemissionen. Die Schiffe waren seit längerer Zeit nicht mehr im Raum gewe sen. Kalarthras hingegen hatte uns erzählt, dass die Kalaro'on zu Zeiten seines letzten Aufenthalts Kontakt zu anderen Varganen völkern gehabt hatten. Ihre genetischen Im prints hatten ihnen befohlen, keinerlei ex pansionistische Politik zu betreiben und bloß im Bereich ihres kleinen Sonnensystems Kolonialbemühungen zu forcieren. Der Raumhafen Adlorm maß beein druckende 50 Kilometer im Durchmesser. Aber schon der zweite Blick offenbarte, dass die Flächen kaum genutzt wurden. An vielen
Die Varganen von Cramar Stellen drang Pflanzenwuchs zwischen auf gebrochenen Bodenfugen hindurch; Ge strüpp und Unkraut rankten ungezähmt in die Höhe. Viele der flachen und rechtecki gen Zweckbauten an der Peripherie Adlorms wirkten ungenutzt und verlassen. »Was ist da bloß geschehen, was ist da schief gelaufen?«, murmelte Kalarthras. »Die Genprogrammierung war so präzise auf die Bedürfnisse der Kalaro'on abge stimmt …« »Es lässt sich nun einmal nicht alles ge nau vorhersehen«, entgegnete ich, nicht oh ne Schadenfreude zu empfinden. »Leben ist etwas, das sich kaum steuern lässt.« Der Vargane ignorierte meinen Spott und sammelte weiter Daten aus der Peripherie des Raumhafens. »Ich habe die Funkleitstelle lokalisiert«, meldete Gorgh. »Sie ist in einem dieser Längsbauten untergebracht, unweit der süd östlichen Anbauflächen mit den roten Früch ten.« Wir schwebten in einer Höhe von unge fähr zehn Kilometern über dem Meeresspie gel. Die Bildauflösung reichte längst aus, um die Oberfläche quadratzentimeterweise abzusuchen – doch wozu? Ich bemühte mich vorerst, einen Gesamt überblick über das Land zu erhalten. Nord westlich von uns tauchten Ausläufer der höchsten Gebirgsfaltung des Planeten aus morgendlichem Frühnebel. Hügeliges Land mündete in eine flache Ebene, auf der groß flächig Landwirtschaft betrieben wurde. Gelbe, rote und braune Streifen wechselten einander ab, wie vom Lineal gezogen. Der Raumhafen unter uns, diese riesige kreisför mige Betonfläche, wirkte wie ein Abszess in einem kunterbunten Allerlei. Im Süden schmiegte sich die Hauptstadt Cramalvet hufeisenförmig um die L'arama-Bucht. Dichte Regenwolken hingen über den meist turmartigen, nüchtern wir kenden Gebäuden. Dahinter, nur als Grauschleier auszumachen, tobten heftige Stürme über Syvanim, dem Zentralmeer. Syvir, ein lang gezogenes Eiland mit einem
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schroff hochragenden Tafelberg, war im Ne bel zu ahnen. Die Regierungsinsel Coraak hingegen, ein gutes Stück östlich gelegen, blieb verborgen. Du hast wieder einmal eine Narretei im Kopf, flüsterte mir der Extrasinn zu. Narretei? Wohl kaum. Ich wollte nur nicht einse hen, warum wir hier landen und Zeit vergeu den sollten. Auf einem Raumhafen, mehr als vierhundert Kilometer von dem Ort entfernt, zu dem wir eigentlich vordringen wollten. Warum nicht gleich über der Regierungsin sel Position beziehen und hinabschweben? Diese Ungeduld kann unmöglich ein Re sultat der Unsterblichkeit sein, spottete der Extrasinn. Und vergiss diese Möglichkeit. Es ist Kalarthras' Welt. Er weiß am besten, wie wir vorgehen müssen, welche Formen der Höflichkeit gewahrt werden müssen, welche Taktik am zweckdienlichsten ist. Kalarthras wusste gar nichts! Nach 50.000 Jahren wieder mal in der ehemaligen Le bensabschnittsheimat vorbeischauen und darauf vertrauen, dass alles beim Alten ge blieben war – das erschien mir einigermaßen weltfremd. »Landen wir?«, fragte ich seufzend. Kalarthras nickte energisch. Neugierde und ein Hauch von Verzweiflung trieben ihn an. Kythara stimmte zögernd zu, Gorgh klick te mit den Mandibeln. Ich konnte es ihnen ansehen: Sie fühlten sich ebenso unwohl wie ich. »Gut«, sagte Kythara und bewies erneut, dass sie ihre Rolle als Kommandantin ernst nahm. »Wir setzen unter Einhaltung aller Vorsichtsmaßnahmen auf Adlorm auf. Ein erstes Anzeichen von Gefahr – und wir sind eine große Wolke.« Hoffentlich keine, die im Fadenkreuz ei ner Strahlwaffe verging …
5/a Es dauerte nicht allzu lange, den Mief aus der Kleidung zu bekommen. Ein paar Wo
26 chen in der freien Natur, harte, schweißtrei bende Arbeit und gesunde Ernährung stähl ten seinen Körper und machten aus ihm einen neuen Kalaro'on. Flink bereitete es ein ausgesprochen sadistisches Vergnügen, ihn ausschließlich zu schweren Tätigkeiten ein zuteilen. »Aus Eigeninteresse«, antwortete sie auf seine entsprechende Frage. »Wenn du wie der halbwegs in Form bist, werde ich dich in den Baracken einteilen. Dort warten ein paar Herausforderungen für deinen Intellekt.« »Akten schleppen?«, fragte Fisker er schrocken. Sie lachte. »Vergiss endlich dein altes Le ben! Das meiste, was wir hier machen, hat einen Nutzen.« Es war schwierig, die oftmals abstrusen Gedankenwege eines pragmatisierten Beam ten aus dem Kopf zu verdrängen. Immer wieder fiel er in alte Rollenmuster zurück. Dann wollte sich Fisker vor Verant wortung drücken oder diese auf andere ab wälzen. Stets hatte er ein Zitat aus irgendei nem Gesetzbuch parat, mit dem er nicht kor rekt formulierten Befehlen begegnen konnte. Auch die Vielzahl der Tätigkeiten und die ungewöhnlichen Arbeitsbedingungen mach ten ihm schwer zu schaffen. Doch Flink stand ihm bei, so gut sie konnte. Fisker bewunderte sie aufrichtig. Die Frau trug Verantwortung für mehr als zweihundert Kalaro'on auf ihren breiten, sehnigen Schultern und fand zudem auch noch Zeit, sich ihm mit ungeahntem Einfüh lungsvermögen und hingebungsvoller Zärt lichkeit zu widmen. »Du bist weder schön noch klug«, keuch te sie ihm nach einer heftigen, von besonde rer Leidenschaft gekennzeichneten Liebes nacht ins Ohr, »aber ich mag dich.« Sie mochte ihn wirklich. Wie sollte er das bloß einordnen? Würde sie ihn wie einen verfaulten Para dosi fallen lassen, wenn ein anderer, Besse rer daherkam? Oder würde diese Beziehung anhalten, sich weiterentwickeln, bis … ja, bis was passieren würde?
Michael Marcus Thurner »Können wir Kinder bekommen?«, fragte er sie flüsternd. Ihr Körper, den er von hinten fest um klammert hielt, versteifte spürbar. »Es ist nicht erlaubt«, erwiderte sie nach einer Weile mit trockener Stimme. »Die Pragmatisten vom Ministerium für Privati sierung trauen sich kaum einmal aus ihren Tintenburgen hierher, um uns zu überprüfen. Aber begegneten sie einem Kind – sie näh men es mit sich und überreichten es einer Pflegemutter. Willst du im Ernst, dass ein Kind all den Zwängen ausgeliefert ist, die du erleben musstest? Noch dazu mit einer Mut ter, die nicht die seine ist?« Fisker streichelte über ihren entblößten Po. »Wir könnten die Geburt geheim halten. Das Kind verstecken …« Flink lachte bitter, und es klang wie ein Schluchzen. »Denk an Petri«, war alles, was sie an die sem Abend noch zu ihm sagte. Ja. Petri und die Seinen. Fast jeder dritte der Neuankömmlinge verrannte sich in der abstrusen Idee, dass er irgendwann rehabilitiert werden könnte. Die so genannten Fedos richteten sich bei den Arbeiten, zu denen sie eingeteilt wurden, pe dantisch genau nach den Zeitplänen ihres früheren Lebens. Den Rest des Tages ver schanzten sie sich in staubigen, nicht mehr genutzten Hallen und Bürotrakten von Lager 3 und erledigten dort sinnlose Pseudoarbei ten. Sie schichteten Aktenordner, schoben willkürlich Tische von einer Ecke zur ande ren, rezitierten Gesetzestexte aus allen mög lichen Bereichen oder notierten pedantisch genau, was die anderen Freiberufler, die »Abnormalen«, so trieben. Fröhlichkeit war ihnen fremd, ebenso wie Freude und Lust. Petri selbst hetzte mit mes sianischem Eifer gegen Flink und andere Barackenleiter, die für sich und ihre Leute das Beste aus dem Leben zu machen such ten. Manchmal machte der selbst ernannte Lagerverwalter selbst Fisker so wütend, dass er am liebsten zu ihm hinmarschiert wäre, um ihn … um ihn …
Die Varganen von Cramar Ja, was eigentlich? Er wusste es nicht.
* »Ich bin wahrscheinlich die einzige wirk lich Entartete in Lager 3«, sagte Flink am nächsten Morgen. »Ich verstehe nicht.« Fisker zog sein ris sig gewordenes Hemd an und roch voll In brunst an der blutroten Blüte einer hochge wachsenen dornigen Blume, die seine Freundin so sehr liebte. Erst dann zog er den schweren Stoffvorhang beiseite, der sie von den anderen Schlafeinheiten der Baracke trennte. Flink winkte ihrer Nachbarin zu und zog ihn mit sich, weiter nach hinten, in den Frühstücksbereich. Kochfein brodelte bereits in einem großen Kessel, und mit hölzernen Schalen schöpften sie sich beide ihr mor gendliches Quantum heraus. Sie setzten sich an einen der wackeligen Tische. »Bevor ich hierher geschickt wurde, untersuchte mich ein Arzt«, setzte sie nach langem Schweigen ihre Unterhaltung fort. »Du warst bei einem Arzt?« Fisker schüt telte überrascht den Kopf. »Ich habe gehört, dass es noch welche gibt …« »Klar doch«, unterbrach sie ihn. »Aber es werden immer weniger. Heutzutage ordinie ren sie wahrscheinlich nur noch auf Coraak, bei den Großkopfeten. Aber ich wollte ei gentlich auf etwas ganz anderes hinaus.« Fisker nickte ihr auffordernd zu, weiter zu erzählen. »Die Frau war eine so genannte Fachärz tin. Eine, die nur einen ganz gewissen Be reich der kalaro'onschen Medizin abdeckte. Sie sei eine Neu … Neurolügin, so sagte sie.« »Und was hat dir diese Neurolügin er zählt?« »Sie untersuchte meinen Kopf ganz ge nau. Mit zischenden und britzelnden Gerä ten, sodass man jeden Moment Angst haben musste, sie würden in die Luft gehen.« »Offensichtlich hast du's überlebt …«
27 »Offensichtlich – wenn du das hier spüren kannst.« Sie zwickte ihn in den flachen, muskulösen Bauch. »Au!« »Mach nicht so einen Aufstand – man be obachtet uns.« Flink grinste. »Jetzt erzähl endlich weiter!« »Ja, verzeih. Also – diese Neurolügin sag te, dass etwas in mir nicht in Ordnung sei. Ich sei unkontrollierbar und könne Dinge tun, zu denen andere Kalaro'on nicht imstan de wären.« »Was meinte sie damit?« »Ich kann anderen Schmerz zufügen.« Sie grinste, doch da war kein Humor in ihrem Lächeln. »Irgendeine Barriere, die dich da von abhält, auf jemanden böse zu sein oder ihn gar zu … zu schlagen, existiert bei mir nicht.« Fisker verschluckte sich fast an dem har ten Fruchtbrot. Was sollte er darauf sagen? Erwartete sie einen Kommentar? Er dachte an die Leiden schaft und Wildheit in ihrem gemeinsamen Bettlager. Und er rief sich ins Gedächtnis, wie sie in manchen Situationen mit zornig rotem Gesicht stehen geblieben war, zit ternd, die Hände zu Fäusten geballt … »Seitdem ich hier in Lager 3 bin«, fuhr sie leise fort, »habe ich niemals jemandem weh getan – sosehr mich auch manchmal die Wut packte. Das musst du mir glauben. Bitte!« Ihre Stimme klang traurig und gleichzeitig fordernd, wie die eines kleinen Kindes. »Es kostet so viel Kraft, ruhig zu bleiben. Alles ruhig hinzunehmen. Manchmal kommt es mir so vor, als wäre ich die einzige Normale in einem Haufen von Verrückten.« Es war demütigend, sie so sprechen zu hören. Aber hatte sie vielleicht Recht? Wie oft hätte er gerne das ausgedrückt, was ihn bewegte. Geweint. Geschrien. Lauthals drauflosgelacht. Und nur ab und zu gelang es ihm, tatsächlich ein wenig davon aus sich herauszuquetschen. Am besten … nun, am besten funktionierte es beim mitternächtli chen Gerangel im Bett. War es das, was Flink an ihm so mochte?
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Michael Marcus Thurner
Leidenschaft beim Sex? Sie blickte ihn an, also könne sie seine Gedanken lesen, und grinste schief. »Keine Angst – ich mag dich nicht nur wegen deiner … Potenz. Du hast gute und liebenswerte Eigenschaften in dir, die ich viel mehr schät ze.« Sie streichelte ihm über die Wange. »Warum erzählst du mir das alles?«, frag te Fisker schließlich. »Es soll nichts zwischen uns stehen«, ant wortete Flink. »Wenn ich einmal nicht so reagiere, wie du es erwartest, sollst du zu mindest wissen, warum es so ist.« Das war wohl ihre Art, ihm ihre Liebe mitzuteilen. Wie sollte er darauf reagieren? »Danke«, murmelte er schließlich und blickte sie an. Hilflos, sich plötzlich seiner emotionalen Eingeschränktheit bewusst wer dend. »Gern geschehen«, sagte sie zärtlich, und er wusste, dass er zumindest nichts Falsches gesagt hatte …
* »Raumschiff im Anflug!« Eine Sirene lief jaulend an. Verhaltens maßregeln wurden über Lautsprecher wei tergegeben. »… werden alle Freiberufler aufgefordert, sich bei ihrem Barackenleiter einzufinden und weitere Instruktionen abzu warten …« Das Alarmsignal brach abrupt ab, die Stimme verstummte. Offensichtlich versagte das Lautsprechersystem. Kalaro'on liefen hektisch und verstört an Fisker vorbei, auf die Barackenlager zu. Ein Raumschiff? War dies denn wirklich so eine große Sensation, dass ein großflächi ger Alarm ausgelöst werden musste? Er rief sich Bulletins in Erinnerung, die er während der Dienstzeit – in seinem früheren Leben – gelesen hatte. Immer wieder waren aufregende Erfolgsmeldungen verbreitet worden. Hamag und Manag, der innere und äußere Planet ihres kleinen Sonnensystems, seien Fixpunkte einer Rohstoff gewinnenden
Industrie, ebenso wie der breite Asteroiden ring ein gutes Stück weiter draußen im All und Vagrym, ihr Mond, der jede Nacht auf sie herableuchtete. Er dachte an die Erregung, die ihn beim Lesen dieser Nachrichten gepackt hatte. Es gab Kalaro'on, die jetzt, während er darüber las, auf einem fremden Planeten atmeten, gingen, arbeiteten … Die Alarmsirene fing wieder an zu heu len. Erschrocken setzte er sich in Bewegung. Er schloss sich den anderen an. Quer durch die Maschinenhalle ging es, den Rain eines schmalen Erdbirnenfelds entlang, an der Werkstätte vorbei, durch die Versamm lungsaula. Auf einem alten, verblichenen Schriftzug konnte er »… nftshalle« lesen. Er hetzte nach links, geradeaus weiter … »Du bist der Letzte!«, empfing ihn Flink mit leisem Vorwurf. »Warum diese Aufregung?« »Ein Raumschiff nähert sich.« »Na und?« »Ein fremdes Raumschiff!« Na gut. Das war natürlich ein wenig Ner vosität wert. Die Kalaro'on hatten, wie er wusste, im mer wieder Kontakt zu anderen raumfahren den Völkern gehabt. Die Treffen waren stets freundschaftlich geblieben. Dennoch hatte man darauf geachtet, selbst nicht über die Grenzen des Sonnensystems hinaus zu forschen. »Erst wenn das Ordnungswesen Cramars einen Optimierungsgrad gemäß Verwal tungsparagraph 133/2 erreicht hat, werden wir uns anschicken, die Grenzen unseres Staatsgefüges weiter auszudehnen«, so hat ten die offiziellen Bulletins gelautet, wenn er sich recht erinnerte. »Was weißt du über solche Begegnun gen?«, fragte er mit wachsender Aufregung, während sie sich in die Baracke zurückzo gen. »Sie passieren«, antwortete Flink. »Ich kann mich an insgesamt drei erinnern, seit dem ich hier bin.« »Wie haben die Außerirdischen ausgese
Die Varganen von Cramar hen? Hatten sie sechs Glupschaugen? Tenta kel? Wollten sie Cramar besetzen?« »Spar dir deinen Humor.« Sie boxte ihm sanft die Seite. Fisker schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht, warum die Ministerien uns diese Be gegnungen verheimlicht haben, während die Freiberufler darüber Bescheid wussten. Drei, sagstest du, in den letzten zwanzig Jahren?« Flink nickte und begann gleich darauf zu kichern. Sie setzte sich auf das gemeinsame Bett. »Mein ahnungsloser Mann! Mach doch endlich die Augen auf und sieh!« »Was soll ich sehen?« »Seitdem du hier bist, kümmerst du dich mit deinem ganzen Ehrgeiz um Pflanzen pflege, Düngung, Bewässerung und Ernte. Immer schaust du nur auf die eine Seite des Feldes – und ich meine das nicht nur meta phorisch.« »Ich verstehe nicht …« »Das große Betonfeld rechts von den Hal len, du Blindmuck! Was, glaubst du, ist das?« »Ich habe keine Ahnung. Es interessiert mich auch nicht. Dort passiert nichts Pro duktives, würdest du an meiner Stelle sa gen.« Flink seufzte tief. »Der kleine Beamte steckt noch immer ganz tief in dir drin. Du bist auf deine Aufgabe fixiert und stellst viel zu wenig Fragen.« Er verdrehte die Augen. »Also schön, wenn's denn sein soll: Was ist diese Beton fläche, was kann sie, was hat das, bei Kala tas, mit der Ankunft eines Raumschiffs zu tun?« »Alles und nichts.« Sie zog ihn zu sich herab. »Das hier, mein Bester, ist Adlorm. Die Ebene auf der anderen Seite der Baracken ist das größte Raumlandefeld des Planeten, und unsere Gäste aus dem All wer den wohl in den nächsten Augenblicken drauf aufsetzen.«
* Es war keine Landung in jenem Sinn, wie
29 Fisker es sich vorgestellt hatte. Die goldene Doppelpyramide senkte sich mit einer Spitze voraus herab, ohne den Bo den zu berühren. Vielleicht eine Körperlän ge oberhalb des Betonfeldes stoppte das prachtvolle Schiff, dessen äußere Form an einen perfekt geschliffenen Kristall erinner te. Ein langer, wie mit einem Lineal gezoge ner Schlagschatten reichte bis zu ihren Baracken. Staub wehte über die Betonwüste, die er erstmals bewusst in Augenschein nahm. Saftloses Buschwerk wurde über das Lande feld hinweggetrieben, offensichtlich von Luftverwirbelungen, die das Raumschiff während des Anfluges verursacht hatte, ent wurzelt. Bislang hatte er stets den Blick von der Ebene abgewandt. Ihre Leb- und Farblosig keit weckte eine gruslige Erinnerung an sei ne frühere Existenz; eine Assoziation zu den betonierten Häuserschluchten, grau in grau, denen er auf so wundersame Weise entkom men war. »Wir sollten hinausgehen und sie begrü ßen«, murmelte er. Das Fenster, durch das sie blickten, war staubig und von einge trockneten Regenschlieren bedeckt. »Lass das das Empfangskomitee überneh men«, sagte Flink und hielt ihn fest. Sie wirkte ebenso aufgeregt wie er selbst. »Das Empfangskomitee?« »Wir haben ein paar Leute hier sitzen, die mit solch einer Situation Erfahrung haben. Funker und Ortungstechniker. Sie haben mittels Orbit-Satelliten Kontakt mit dem fremden Schiff aufgenommen. Wenn wir Glück haben, macht auch Glimm gerade Dienst. Er hat ein Buch über FremdrassenPsychologie gelesen. Und er war bei der letzten Begegnung mit Außerka laro'onischen ebenfalls mit dabei.« »Das nennst du Leute mit Erfahrung?« Nun war es an ihm, sich über Flinks Naivität zu wundern. »Diese Funker und Orter – sie sind also Freiberufler wie du und ich? Ohne irgendeine Ausbildung?« »Was hast du denn gedacht?« Sie blickte
30 nach wie vor neugierig durch das Fenster. Eine weitere heftige Windbö fuhr gegen die Baracke, da und dort blies staubige Luft durch Ritzen. »Jeder von uns wird so vielfäl tig wie möglich ausgebildet. Wir erzählen uns gegenseitig von unseren Erfahrungen. Wir warten und reparieren die Geräte, so weit es geht, oder ersetzen sie durch solche aus den Lagern.« Flink blinzelte und sagte aufgeregt: »Ein paar Leute der fremden Be satzung sind ausgestiegen!« Ja, jetzt konnte er die Gestalten auch er kennen! Sie schwebten aus einer kleinen Lücke ungefähr in der Mitte des riesenhaften Kristalls. Drei kleine Punkte – so wenige an gesichts des riesigen Schiffes? – waren es, die sich von der metallenen Hülle abhoben, sich rasch herabsenkten und sich ihnen nä herten. »Wo steckt das Empfangskomitee?«, fragte Fisker seine Freundin. Aus nicht ganz nachvollziehbaren Gründen, schlug ihm das Herz bis zum Hals. Es war schließlich nicht er, der hinaus und mit diesen fremden Ge stalten Kontakt aufnehmen musste. »Das ist nicht gut, gar nicht gut«, mur melte Flink. »Die Außerkaralo'onischen rea gieren viel zu schnell. Unsere Bereitschafts besatzung sitzt ein gutes Stück von hier ent fernt im Tower.« »Diese Wesen kommen aber auf uns zu!« Sie hielten ihre leicht leuchtenden Helme geschlossen. Einer von ihnen blieb stets ein paar Schritte im Hintergrund, als hätte er Angst, sich zu zeigen. Unweit der Versammlungsaula blieben sie schließlich stehen. Der Größte von ihnen ge stikulierte wild – und deutete plötzlich mit einer Hand in Fiskers Richtung. Hastig sprang er beiseite, in die Deckung festen Mauerwerks. Hatte der Außerka laro'onische etwa auf ihn gedeutet? Er war sich der Sinnlosigkeit seiner in stinktiven Reaktion wohl bewusst. Jemand, der den Weg durch das weite All hierher ge funden hatte, würde sich auch durch Ziegel und Stein nicht bremsen lassen, wenn er et was haben wollte.
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»Bleib ruhig«, murmelte Flink. Doch auch sie hatte sich versteckt. Angstschweiß trat ihm auf die Stirn, und er zitterte an allen Gliedern. Hier ging Be deutsames vor sich – und er hasste es, in den Mittelpunkt gerückt zu werden. Das Fremdwesen hatte tatsächlich auf ihn gezeigt! Aus irgendeinem Grund war er … auserwählt worden. Oder irrte er sich? Komm zu uns heraus! Der Gedanke platzte in seinen Kopf, war plötzlich da. Er war mit keinerlei Zwang verbunden – und dennoch war ihm klar, dass er den Wunsch des Wesens nicht einfach ignorieren konnte. Seine Füße drängten vor wärts, setzten sich automatisch in Bewegung … »Was tust du?«, schrie ihm Flink entsetzt hinterher, als er sich schon auf halbem Weg zum Barackenausgang befand. Fisker kümmerte sich nicht weiter um die Frau. Es war nicht nur der geistige Eingriff des Außerkalaro'onischen. Es steckte viel mehr dahinter. Ein Wunsch, der lange in ihm ge reift war und nunmehr eine Definition ge funden hatte. Fisker war lange genug durch ein Leben geschlichen, ohne Zweck und Ziel. Und dieser Moment, der mit atembe raubender Plötzlichkeit gekommen war, stellte seine Chance dar. Mit einem Mal hing alles so klar und deutlich vor seinen Augen: Er würde Ver antwortung für andere übernehmen – und er fühlte sich gut bei diesem Gedanken. Fisker ging den Gang entlang, nunmehr ohne Angst, achtete nicht weiter auf Flinks Schreckensschreie und die verblüfften Blicke, die ihm andere Freiberufler zuwar fen. Er öffnete die letzte Tür und trat hinaus ins Freie. »Ich bin Fisker«, sagte er laut und mit fe ster Stimme. »Kann ich euch helfen?«
Querverweis I »Wir haben Besuch bekommen, Oberster Noturierter! Die Freiberufler aus Adlorm
Die Varganen von Cramar melden die Landung eines Raumschiffes in Form eines geschliffenen Edelsteins …« »Hör auf zu bibbern und beherrsch dich gefälligst! Ich weiß längst Bescheid.« »Woher …« »Ich habe eben meine eigenen Quellen.« »Gewiss, Oberster Noturierter! Wie konn te ich das nur vergessen, verzeiht mir. Soll ich die Außerkalaro'onischen in das Kanz leramt vorladen?« »Keineswegs, du Einfaltspinsel! Sie sol len die übliche Prozedur durchlaufen. Das wird sie mürbe machen.« »Sehr wohl, Oberster Noturierter! Ein sehr guter Vorschlag, wenn ich das so sagen darf.« »Darfst du nicht, du Speichellecker. Und jetzt bring mir Kochfein. Eine große Tasse.« »Speichellecker, haha, sehr lustig, wenn ich das so sagen darf. Ich laufe, ich eile, ich gehorche …«
6. Kythara war freiwillig an Bord der AMENSOON zurückgeblieben. Mit dem ihr eigenen Sinn für Disziplin hatte sie der Ver suchung auf einen Landgang widerstanden. Auch wenn sie es nicht offen aussprach – sie machte sich Sorgen um ihr Schiff. Zu oft war es in den letzten Tagen und Wochen ins Kreuzfeuer genommen worden, zu oft hatten wir unter Vergeudung irrsinniger Energie werte unser Glück ausgereizt. Ein Check al ler Systeme war ihr wichtiger als der Reiz, ein Varganenvolk neu zu entdecken, das Ka larthras erzeugt hatte. Zurück in die Gegenwart!, wies mich der Extrasinn streng zurecht. Ich öffnete wie Kalarthras den Helm und fixierte die erbärmliche Gestalt, die uns als einzige beim Eingang zur Ankunftshalle des Raumhafens empfing. Der Mann war nicht ganz freiwillig hier. Mir kamen Zweifel, ob mein Vorschlag gut gewesen war, einen der Kalaro'on-Varganen aus den baufälligen Gebäuden mit Hilfe von Kalarthras' geistigen Fähigkeiten herauszu
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picken. Diese unterernährte Vogelscheuche, die mit hängenden Schultern vor uns stand, wür de uns wohl keine große Hilfe sein. »Nenn uns deinen Namen!«, forderte Ka larthras den Mann auf. »Ich bin Fisker.« »Fisker? Ein merkwürdiger Name …« Der Vargane grübelte offensichtlich noch immer über die Fehler in der genetischen Programmierung seiner Erzeugnisse. »Früher … früher hieß ich Z-Tomanet«, stotterte unser Erstkontakt. »Das klingt schon besser«, flüsterte Ka larthras mir zu. »Ein Hinweis auf das Ge burtsjahr in Form eines einzelnen Buchsta ben sowie ein Eigenname aus einem Pool von nicht mehr als dreihundert Worten. So war es geplant.« Da war sie wieder: jene unterschwellige Lust des Varganen, eine Art Cäsarenwahn, mit der er – wohl eher unbewusst – seinen Geschöpfen das Anrecht auf freien Willen absprach. »Mir … mir wäre es lieber, du würdest mich mit meinem neuen Namen anspre chen«, unterbrach der Kaiaro'on meine Ge danken. Oha! Steckte etwa mehr Wille und Selbst achtung hinter diesem Persönchen, als ich mir gedacht hatte? Vorsicht, Arkonide!, mahnte mich der Ex trasinn. Auch in dir steckt öfter mal eine ge hörige Portion Überheblichkeit. Genau aus diesem Grund bin ich überaus dankbar, dich an Bord zu haben!, entgegne te ich gedanklich und meinte es durchaus ernst. Ich räusperte mich laut und zog die Auf merksamkeit des Kaiaro'on auf mich. »Gut, Fisker. Wir respektieren natürlich deinen Wunsch. Mein Name ist Atlan, und das hier ist Kalarthras.« »Und das Wesen hinter euch?« Er deutete an mir vorbei auf Gorgh, der sich bewusst im Hintergrund gehalten hatte. Er hatte seinen eigenen graumetallischen Schutzanzug gegen einen goldenen aus var
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ganischen Beständen eingetauscht. Weder Sprachmuster noch Verhalten die Sein goldeloxierter Sichtschutz war nach ses Wesens stimmen mit meiner genetischen wie vor geschlossen. Aber ein Blinder mit Programmierung überein, vermittelte mir Krückstock konnte erkennen, dass er anders Kalarthras mit gelinder Verwunderung und gebaut war als der Vargane und ich. einem Hauch von wissenschaftlichem Inter »Das ist Gorgh aus dem Volk der Daorg esse in seinen Gedanken. Der Vargane machte mich zornig. hor«, sagte ich vorsichtig, während der In sektoide langsam den semienergetischen »Wie wäre es, wenn du dich von nun an Schutzhelm in den Nacken zurückgleiten um unsere Probleme kümmertest?«, raunte ließ. Er entfaltete das hintere Beinpaar, das ich ihm zu. »Beziehungsweise um die De er bislang angezogen gehalten hatte, um we fekte in deinem Körper, die es den GarbyorHorden immer wieder erlauben, unsere Spur nigstens in Ansätzen arkonoid zu erschei nen. Die viergliedrigen chitingepanzerten aufzunehmen?« Greifenden schnappten leise auf und zu, of Das saß! Kalarthras zuckte zusammen fensichtlich, um den steif gewordenen Kör und ballte die Hände. Ich hatte ihn mit weni per ein wenig aufzulockern. gen Worten auf die gleiche Stufe wie seine Fisker rückte einen Schritt zurück, zeigte Geschöpfe gestellt. aber sonst kein Anzeichen von Panik. »Über diese Bemerkung unterhalten wir Wohl ein gutes Zeichen. Denn wer den uns später in aller Ruhe, Arkonide!«, flüster Daorghor begegnete, lernte normalerweise te er mühsam beherrscht zurück. Furcht und Schrecken kennen. Als Hilfsvöl Ich ignorierte ihn vorerst und schenkte ker der Lordrichter waren die Insektoiden Fisker wieder meine ganze Aufmerksamkeit. immer wieder an Gräueltaten beteiligt, über »Wir sind hier gelandet, weil wir Nach die ich hier und jetzt gar nicht nachdenken richten besitzen, die wir gerne eurem … hm, wollte. Präsidenten mitteilen wollen. Sehr, sehr »Gorgh ist so wie wir ein Forscher. Ein wichtige Informationen.« Reisender auf der Suche«, sagte ich kryp Obacht! Du rasselst schon wieder mit den tisch zu dem Kalaro'on. Glasperlen, ätzte der Extrasinn. Diesmal Vorsicht!, mahnte mich der Extrasinn er ignorierte ich ihn. neut. Du behandelst den Kalaro'on so her »Präsident?«, fragte Fisker mit gerunzel ablassend wie jemanden, dem du Glasperlen ter Stirn. andrehen willst. Unterschätze diesen Fisker »Der Präses«, versuchte ich es erneut. unter keinen Umständen. »Obmann. Planetenrat. Kaiser. Direktor. Und wieder hatte mein Untermieter Häuptling. Wer oder was auch immer. Wir Recht! Ich zerbiss einen Fluch auf den Lip müssen dringend mit jemandem sprechen, pen. der auf Cramar das Sagen hat.« »Wir … andere unseres Volkes haben die Endlich zeigte sich Begreifen in Fiskers sen Planeten schon vor langer Zeit besucht. Gesicht. »Du meinst den Obersten Noturier Es hat sich viel geändert seit damals«, fuhr ten!« ich vorsichtig fort, während Fiskers Blicke »Ja.« Der Kalaro'on legte die Stirn in Runzeln. immer wieder interessiert zwischen uns dreien hin und her pendelten. »Nun – das dürfte ein paar Probleme berei »Das muss lange her sein«, sagte der Ein ten.« heimische in seinem sonoren, etwas schlep »Besondere Gäste aus dem Weltraum wie pend klingendem Varganisch. »Soviel ich uns wird der Oberste Noturierte wohl bevor weiß, hatten wir in den letzten zwanzig Jah zugt behandeln, zumal wir wichtige Nach ren nur dreimal Besuch aus anderen Sonnen richten überbringen.« systemen.« »Das mag ja sein …« Der Mann leckte
Die Varganen von Cramar sich über die Lippen. Es war ihm offensicht lich peinlich, was er zu sagen hatte. »Wir alle hier sind … Freiberufler. Unser Wort zählt nicht allzu viel, wenn man ein Ansuchen um Anhörung während einer Sprechstunde haben will. Die Paragraphen …« »Was interessieren uns Paragraphen!«, mischte sich Kalarthras zornig ein. »Wir ha ben trotz unserer Eile den höflichen Weg ge wählt und sind hier auf dem Raumhafen ge landet. Wir hätten auch direkt auf der Regie rungsinsel Coraak landen können und uns den Weg zu deinem … deinem Noturierten suchen können.« »Zweifellos.« Fisker lachte bitter auf. »Aber du kennst die Sturheit dieser Beamten nicht. Sie würden sich lieber erschießen las sen, als jemanden vorzulassen, der nicht hochoffiziell um Besuchszeit während der öffentlichen Sprechstunde angesucht hat.« Wenn das ein Scherz sein sollte, so fand ich ihn nicht besonders gelungen. Wir soll ten was? Kalarthras neben mir stand kurz vor der Explosion. Geduld war offensichtlich nicht seine Stärke. »Ich bin sicher, dass der Oberste Notu rierte Verständnis für unsere Situation haben wird, wenn du oder ein anderer hier am Raumhafen die Nachricht weitergibt, wer und was wir sind. Wenn die Neuigkeit nicht ohnehin schon bis nach Coraak vorgedrun gen ist.« »Das mag sein, Atlan.« Der Kalaro'on ge wann immer mehr an Sicherheit. »Aber wir hier sind Ausgestoßene. Wir zählen nichts, unser Wort zählt nichts. Wir sind sozusagen lebendig begraben.« Er grinste schief. »Und, im Vertrauen: Ich bin nicht einmal unglück lich darüber.«
* Fisker zeigte berührende Naivität. Unsere Raumanzüge faszinierten ihn ebenso wie das Braungelb eines Getreidefeldes oder Gorghs Reinigungsgesang, den er kurz nach unserer
33 Ankunft in einer stillen Ecke anstimmte. Kalarthras beäugte den Kalaro'on nach wie vor mit dem Interesse eines Chirurgen, der seinen Patienten unbedingt sezieren wollte, um herauszufinden, wie er denn funktionierte. Noch nahm ich Rücksicht auf den schwar zen Varganen, noch schob ich Gefühlsarmut und Überheblichkeit auf Fehlreaktionen nach der jahrtausendelangen Schlafphase auf Vassantor. Aber irgendwann würde mir der Geduldsfaden endgültig reißen. »Zusammenfassend bedeutet das also, dass alle Freiberufler aus ihrem eigentlichen Funktionsbereich aussegmentierte Verwal tungsbeamte sind«, sagte Gorgh. Wir hatten uns zwecks einer kurzen Lage besprechung in eine der vielen leer stehen den, von einer dicken Staubschicht bedeck ten Nebenräumlichkeiten zurückgezogen. Der Insektoide formulierte soeben einen Bericht, den er an Kythara und die AMEN SOON weiterleitete. »Sie werden in Strafko lonien verlegt, um produktive Tätigkeiten zu erledigen, zu denen große Teile der Bevöl kerung nicht mehr bereit sind.« So stellte sich uns das Leben in diesem Teil Cramars oberflächlich dar. In anderen Gebieten dieser Welt mochte es anders aus sehen – obwohl ich das bezweifelte. Über das Wie und Warum konnten wir vorerst nur mutmaßen. Fisker selbst war kaum in der Lage, darüber Auskunft zu ge ben. »Degeneration«, sprach Kalarthras heiser das aus, was Gorgh und ich vermuteten. »Obwohl diese Möglichkeit dank meiner ge netischen Programmierung faktisch ausge schlossen war.« »Jetzt hör doch endlich mit deiner Selbst beweihräucherung auf!«, fuhr ich ihn an, et was lauter als notwendig. »Den Spieltrieb von Mutter Natur kann auch ein Vargane nicht über eine derart lange Zeitspanne im Zaum halten.« Er schüttelte vehement den Kopf. »Ich weiß, was ich geleistet habe! Nichts deutete damals darauf hin, dass die Entwicklung der
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Kalaro'on in diese Richtung gehen würde. »Nun gut«, seufzte ich schweren Herzens. Wir müssen uns dieses seltsame Sozialgefü »Ein wenig Spielraum haben wir sicherlich. ge unbedingt aus nächster Nähe ansehen«, Die Beobachtungssonden im Orbit verschaf forderte er. »Fiskers Worte in allen Ehren – fen uns einen Minimalvorsprung, sollten aber als Geächteter hat er sicherlich eine an sich tatsächlich gegnerische Flottenverbände dere Sicht der Dinge als die hiesige Herr nähern und wir flüchten müssen. Aber richte scherkaste.« dich darauf ein, dass es kein ausgedehnter »Haben wir die Zeit dazu?«, fragte Gorgh Landurlaub werden wird.« nüchtern. »Ich betrachte unsere Mission als Kalarthras nickte knapp, während Gorgh gescheitert. Hilfe für dein Problem werden zu meinem Meinungswandel schwieg. Seine wir hier keine finden. Ein weiterer Aufent Denkschemata waren oftmals nicht geeignet, halt ist nicht zielführend. Im Gegenteil: Er die manchmal wankelmütig scheinenden gefährdet unsere weiteren Pläne. Wir sollten Entscheidungen arkonoider Wesen nachzu Cramar so rasch wie möglich verlassen.« vollziehen. »Auf keinen Fall!«, rief Kalarthras laut Ich verließ den kleinen Raum und suchte und sprang auf. Fisker. Der Kalaro'on umarmte soeben mit »Wenn du dich auf Forscherehre, ge linkischen Bewegungen die Hüften seiner kränkte Eitelkeit und Neugierde berufst, Freundin. Es wirkte so, als hätte der Mann muss ich leider zugeben, dass Gorgh die auch in zwischenmenschlichen Beziehungen besseren Argumente auf seiner Seite hat«, ein erhebliches Manko. sagte ich möglichst ruhig. »Solange die Gar »Wir möchten trotz unseres Zeitdrucks byor uns orten, weil sie dich aufspüren kön zum Obersten Noturierten vordringen«, sag nen, müssen wir mit der AMENSOON in te ich. »Wirst du uns helfen?« Bewegung bleiben und woanders nach Aus Fisker blickte mich verunsichert an. »Wie sollen wir nach Cramalvet gelangen? Nur wegen aus dieser Misere suchen …« dort können wir, wenn überhaupt, etwas er Der Vargane schwieg und wandte sich von uns ab. Sein Stolz verbot es ihm sicht reichen.« lich, um mehr Zeit zu bitten. »Das lass unsere Sorge sein. Du erhältst Ich hatte das dumpfe Gefühl, dass er Ge von uns kostenlosen Flugunterricht.« heimnisse vor uns hatte. Es war nicht nur die Er schluckte schwer, schüttelte verzwei Sorge um seine Nachkommen, die ihn an felt den Kopf – und nickte schließlich doch. »Ich werde tun, was ich kann. Aber erwartet trieb. Da steckte mehr dahinter. Oder … versuchte er etwas ausfindig zu keine Wunderdinge von mir. Nicht einmal machen, an das er sich nur unzureichend er der geringste Beamte wird irgendetwas auf innerte? meine Intervention geben. Ich kann euch be stenfalls die notwendigen Schritte zeigen Das musste es sein! …« Egal, wie du es auch siehst – der Vargane hat offensichtlich gewichtige Gründe, vor »Das reicht vollkommen«, unterbrach ich erst hier zu bleiben, meinte der Extrasinn. ihn in seiner etwas geschraubten Redenswei Ein Vargane mit seinem Intellekt würde an se. »Dann pack deine Siebensachen. Ich möchte in der Stadt sein, bevor die Sonne gesichts der drohenden Gefahren sonst nicht darauf beharren, hier zu bleiben. Mögli untergeht.« cherweise ist ihm auch sein Stolz im Weg. Er »Es wäre besser, wenn wir erst morgen will nicht zugeben, wie groß die Lücken in früh abreisen …« seiner Erinnerung sind. Du solltest ihm eine »Nichts da! Auch wenn die Ämter sicher goldene Brücke bauen. lich schon geschlossen haben, wäre es bes Der redete sich leicht! Auch ich hatte ein ser, wenn wir uns bereits heute ein wenig in Cramalvet umsehen. Wir haben keine Zeit Gesicht zu verlieren …
Die Varganen von Cramar zu verlieren.« »Wie du meinst«, murmelte Fisker. Er wirkte nicht sonderlich begeistert von mei nem Vorschlag.
* Der Kalaro'on überraschte uns einmal mehr. Binnen kurzem kam er mit der Steue rung des Anzugs zurecht, den wir ihm über gezogen hatten. Nur ab und zu mussten wir mit Fesselfeldern korrigierend eingreifen. »Lernbegierig und von rascher Auffas sungsgabe«, sagte Kalarthras zufrieden über Normalfunk zu mir. »Wie du es geplant hattest – nicht wahr?« »Ja. So erwarte ich, dass meine Produkte funktionieren.« Es war zu viel für mich! »Verdammt noch mal!«, rief ich zornent brannt. »Kannst du den armen Kerl nicht für einen einzigen Moment als ein Individuum ansehen? Eines, dessen Schicksal nicht fremdbestimmt ist?« »Warum regst du dich so auf, Arkonide? Ich sorge mich bloß um meine Erzeugnisse …« Ich flog näher zu ihm heran, hatte keine Augen für die goldgelben und dunkelroten Felder, die vielleicht fünfzig Meter unter uns hinwegzogen, schüttelte ihn an den Schul tern. »Du hast kein Recht, ihn wie ein Kind zu behandeln und schon gar nicht wie dein Erzeugnis! Vor ein paar Ewigkeiten hast du Gott gespielt und diese Wesen dann sich selbst überlassen. Damit hatte es sich, deine Aufgabe war erfüllt. Und wage es ja nicht, Fisker oder irgendeinen anderen spüren zu lassen, als was du sie siehst!« Die Flugkontrollen unserer Anzüge hatten größte Probleme, meine Rüttelbewegungen auszugleichen. Abrupt ließ ich vom Varganen ab, wurde mir meiner Unbeherrschtheit bewusst. Ich beschleunigte und schoss vorneweg, ohne auf Kalarthras, Gorgh oder Fisker zu warten. Auch wenn ich es mir nicht eingestehen wollte und auch wenn ich den Großteil der
35 Schuld für diese Eskalation bei dem Varga nen fand – es war die Situation, die an mei ner Substanz zehrte. Wie hätte ich ahnen sollen, dass mein Nervenkostüm in den nächsten Tagen noch weitaus stärker strapaziert werden würde?
7. Cramalvet war … seltsam. Wir bewegten uns wie bunte Farbkleckse durch einen Alptraum aus Nicht-Farben und Tristesse. Männer und Frauen, unisex und grau in grau gekleidet, marschierten interes selos an uns vorbei. Den Blick starr gerade aus gerichtet, strebten sie ihren eigenen Zie len zu. »Es ist gerade Feierabend«, sagte Fisker, der sich sichtlich unwohl fühlte und meist hinter uns hertrippelte. Der breite und kerzengerade Straßenzug wurde hauptsächlich von Fußgängern belebt. Nur ab und zu surrte ein offensichtlich elek trisch betriebenes Schienenfahrzeug an uns vorbei. Kein Geräusch außer dem Klappern gena gelter Absätze war zu hören. »Entschuldige bitte …«, fragte Kalarthras. Die Frau sah ihn kurz angewidert an, wich ihm mit zwei seitlichen Schritten aus und marschierte, ohne das Tempo zu verändern, weiter, einem unbekannten Ziel entgegen. »Sie gehen alle nach Hause«, murmelte Fisker. »Dann Abendessen, Lesen von Fachliteratur, Körperpflege und Schlafen.« Ich konnte spüren, wie unangenehm ihm das Thema war. Wie wir mittlerweile wus sten, war er selbst noch vor wenigen Wo chen Teil dieser anonymen Masse gewesen. »Und was macht ihr an euren freien Ta gen?« »Ich verstehe nicht …« »Was«, hakte ich geduldig nach, »unternimmt man in Cramalvet, wenn man einmal nicht arbeitet? Wo amüsiert man sich, wo trifft man Freunde, was für Frei zeitbeschäftigungen gibt es?« »Wie kommst du darauf, es gäbe Zeiten,
36 in denen wir nicht arbeiten?« »Bitte?« »Das Jahr ist in 140 Tage unterteilt.« Fis kers Blick war in weite Ferne gerichtet. Er rezitierte wohl Texte, die er in- und auswen dig kannte. »An 127 Tagen arbeiten wir in den Büros der Ministerien. Jeder zehnte Tag ist der Hausarbeit und intensiven Fachtext lektüre gewidmet. Mitarbeiter des Mitar beitsministeriums besuchen uns stichproben artig an diesen Tagen und überprüfen, ob wir ausreichend mitlernen.« »Was sind das für Texte, die ihr lernen musst?«, fragte Gorgh interessiert. Er hatte von uns dreien wohl am meisten Verständnis für diese abstruse Art von Leben. »Paragraphen. Richtigstellungen von Pa ragraphen. Regelungen. Gesetze. Richtlini en. Normierungen. Definition von akuten Sonderfällen …« »Ja – aber was steht in all diesen Papieren drinnen? Worum geht es?« »Nun … wie unser Leben geregelt sein soll, sodass wir möglichst effizient arbeiten können.« »Und woraus besteht die Arbeit?« Ich konnte nur verwundert den Kopf schütteln. »Was zum Beispiel hast du getan, bevor du zum … Freiberufler degradiert wurdest?« »Ich war im Ministerium für Verbeam tung in einer kleineren Abteilung einge setzt.« Stolz schwang in der Stimme des Ka laro'on mit. Sein Job musste in der hiesigen Kultur einige Bedeutung gehabt haben. »Meist war ich mit hierarchischen Fest stellungsverfahren beschäftigt, in denen die Kompetenz einzelner stablinienförmig ange brachter Strukturen definiert wurde, um …« »Danke!«, rief ich ausreichend er schrocken, bevor sich der Mann weiter in seine ehemalige Rolle hineinsteigern konnte. »Wie viele Beamte gibt es in Cramal vet?«, fragte Kalarthras, während wir in einen kleinen Seitenstrang der Fußgänger passage abbogen. »Laut letzter Statistiken 22,9 Millionen«, kam es wie aus der Pistole geschossen.
Michael Marcus Thurner »Und wie viele Kalaro'on leben insgesamt in der Stadt?« »Knapp 23,1 Millionen.«
* Fisker war ein wandelndes Zahlenlexikon. Er zitierte aus Statistiken, Hochrechnungen und Fachliteratur, ohne darüber nachdenken zu müssen. Auch wenn die Zahlen möglicherweise geschönt waren – das Ungleichgewicht zwi schen Systemerhaltern und produktiven Kräften war mehr als beunruhigend. Knappe zwanzig Millionen Freiberufler mussten auf Cramar mit allem Einsatz an die 1,5 Milliar den Beamte ernähren. Von früher Jugend an wurde den Kindern eingetrichtert, dass es im Leben ausschließ lich um Ordnung und Systematik gehe. Je mand, der in der Gütererzeugung oder auch in Dienstleistungsgewerben arbeitete, wurde scheel angesehen und galt als minderwertig. Irgendwann einmal, wahrscheinlich vor noch nicht allzu langer Zeit, hatte sich für diese Versager der Begriff Freiberufler als Schimpfwort eingebürgert. Man musste nicht unbedingt ein Genie sein, um sich ausrechnen zu können, dass das System über kurz oder lang zusammen brechen würde. Schon jetzt wurden unter fa denscheinigsten Gründen Beamte revidiert, wie es hier so schön hieß, um die dringend sten Produktionsposten mit Arbeitskräften nachbesetzen zu können … »Wie konnte es nur so weit kommen?«, rätselte Kalarthras ein ums andere Mal. »Das lässt sich leicht beantworten«, sagte ich, darauf achtend, dass Fisker nicht mithö ren konnte. »Erinnerst du dich, was du auf der AMENSOON über die genetische Kon ditionierung der Kalaro'on erzähltest?« »Ja.« »Ich zitiere dich jetzt wörtlich: › … kei nerlei Aggressionen, die über einen gewis sen Selbsterhaltungstrieb hinausgehen. Aus geglichenheit. Das Streben nach optimaler Lebensordnung. Chancengleichheit für al
Die Varganen von Cramar le.‹« »Und?« »Die Kalaro'on haben für sich einen Weg gefunden, um diese Vorgaben perfekt umzu setzen. Es gibt keinerlei Aggressionen, das Leben ist perfekt durchsortiert, und jeder be sitzt dieselbe Chance. Die Lösung ist, wenn man darüber nachdenkt, in ihrer Absurdität schlichtweg genial. Ein sich selbst stützender Beamtenapparat, aus dem die Produkti vität so weit wie möglich ausgegliedert wur de. Es gibt keinen Konkurrenzkampf, kein Leistungsdenken, jeder ist gleich glücklich beziehungsweise unglücklich …« »Hör auf damit!«, fuhr mich Kalarthras an. Der Gedanke, dass er diese Misere selbst verschuldet hatte, machte ihm sichtlich schwer zu schaffen. Wir gingen aufs Geratewohl weiter und gerieten dabei immer tiefer in ein schlecht beleuchtetes Wohnviertel. Die Häuser schluchten rückten näher an uns heran – und mit ihm auch der Mief verwahrloster Hinter höfe. Natürlich; wer sollte sich schon um eine ausreichende Abfallentsorgung kümmern? Es gab zwar wohnblockeigene Unratdepots, aber die wurden mangels Arbeitern immer seltener geleert. Und? Kümmerte es wen? Natürlich nicht. Denn zeigte sich ein Mieter verantwor tungsbewusst und tat etwas in Eigeninitiati ve, erhob er sich bereits über das hiesige Ordnungssystem. Folgerichtig bekam er ei nige dicke Schwarten mit Gesetzen oder Verordnungen um den Kopf geschmissen und konnte sich tags darauf bereits in die Reihen der unfreiwilligen Freiberufler ein ordnen. Nur nicht auffallen, hieß die Devise. Nur nicht herausragen aus der Menge – und ja kein Ziel für Nachbarn oder Arbeitskollegen abgeben. Denn das Denunziantentum erlebte hier eine Hochblüte, wie es anderswo kaum möglich war. »Wo finden wir ein Quartier?«, fragte ich
37 mit einem Seitenblick auf Kalarthras und Gorgh. Beide wirkten müde. Der Vargane war längst noch nicht so belastungsfähig, wie er es selbst gerne gehabt hätte, und un ser insektoider Mitstreiter hatte in den letz ten paar Tagen seinen Platz in der Zentrale der AMENSOON kaum verlassen. »Was meinst du mit Quartier?« Fisker sah mich ratlos an. »Ein Hotel!«, entgegnete ich ungeduldig. »Einen Platz, wo wir uns ausruhen und viel leicht einheimische Speisen und Getränke ausprobieren können.« »So etwas gibt es hier nicht«, erklärte der Kalaro'on leise. »Bitte?« »Du musst es akzeptieren«, mischte sich überraschenderweise Gorgh-12 ein. »Es gibt für Kalaro'on keinen Grund, an einem frem den Ort zu übernachten. Sie leben in ihren Wohnungen, bis sie sterben oder als Freibe rufler aus dem System entfernt werden.« Ich konnte mir nicht helfen – ich musste lachen, während Kalarthras heftig und ver zweifelt den Kopf schüttelte. Die Situation war grotesk. »Ich verstehe deinen Humor nicht«, kn arzte Gorgh. »Auch wir Daorghor kennen lediglich gemeinschaftliche Schlafstätten oder Kasernen, in denen wir untergebracht werden, wenn wir nicht in unseren eigenen Gruppengehegen nächtigen. Individuelle Unterkünfte wie an Bord der AMENSOON sind in meinen Facetten eine unnötige Ver schwendung von wertvollen Platzressour cen.« »Das lassen wir einmal dahingestellt«, sagte ich, bevor es zu einer Grundsatzdis kussion kam. »In erster Linie sollten wir zu sehen, dass wir ein Dach über dem Kopf be kommen.« »Wir können jederzeit umkehren und morgen früh nochmals von vorne beginnen«, meinte Kalarthras ohne große Begeisterung. Ich sah ihm an, dass er sich genauso wenig von den widrigen Umständen beirren lassen wollte wie ich. »Wo hast du früher gewohnt?«, fragte ich
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Fisker. »Nicht weit von hier, nahe der Meeres bucht im Kar-Viertel. Warum …?« Er wur de blassgold. »Wir können doch nicht ein fach dort hineinspazieren … Ich meine, die Wohnung ist schon nachbesetzt und …« »Möchtest du auf der Straße schlafen?« »Nein, aber …« »Dann werden wir deinen Nachmieter überzeugen müssen, dass er uns für eine Nacht Quartier gewährt.« »Das wird er ganz und gar nicht gern ha ben«, jammerte Fisker. »Aber er wird sich nicht dagegen wehren, oder?« »Wie sollte er das auch tun?« »Gibt es eine Art … Polizei in Cramal vet?« »Eine was?« »Ich meine einen Sicherheitsdienst.« »Ach so.« Fisker war sichtlich erleichtert, etwas von dem zu verstehen, was ich von ihm wollte. »Jedes Ministerium besitzt einen eigenen Sicherheitsdienst.« Wiederum zi tierte er auswendig Gelerntes. »Diese Ein heiten besitzen das Eingreifrecht in die Pri vatsphäre und sind für die Durchsetzung al ler Vorschriften und Rechtsverbindlichkei ten ihrer Abteilung verantwortlich. In hei klen Fällen haben sie sogar die Erlaubnis, an Ort und Stelle Revisionen auszusprechen.« »Und wie setzen sie sich durch?« »Nun – indem sie die Außerdienstgesetz ten laut und deutlich auffordern, mit ihnen zu kommen.« Kalarthras und ich schüttelten im Duett den Kopf. Es würde uns problemlos gelingen, einen Schlafplatz für die heutige Nacht zu finden.
* Unser unfreiwilliger Quartiergeber war ein frühzeitig schwabbelig gewordener Mann, den die Situation vollkommen über forderte. Ein böser Blick und ein paar stren ge Worte von mir – und er zog sich hastig in sein kleines Schlafgemach zurück.
Ich winkte Gorgh und Fisker, die vor der Tür gewartet hatten, in die Wohnung. Hätte unser Gastgeber die beiden gesehen, wäre er vielleicht misstrauisch geworden. Vielleicht, wisperte der Extrasinn zynisch. »Was ist dieses ›Schergenamt aus der Himmelpfortgasse‹, als dessen Beamter du dich ausgegeben hast?«, fragte mich Fisker erstaunt. »Ein Begriff aus meiner Vergangenheit, mit dem ich nur Unannehmlichkeiten ver binde«, sagte ich lächelnd. »Es kommt aber gar nicht so sehr darauf an, was man sagt, sondern wie man es sagt.« Ein leises Geräusch ließ mich herumfah ren. »Nase rein!«, brüllte ich unserem Gastge ber zu, als sich die Schlafzimmertür einen kleinen Spalt öffnete. Ein Aufschrei war zu hören, dann rasche Schritte und ein lautes Plumpsen. Der Mann hatte sich wahrscheinlich unter der Bett decke verkrochen und zitterte nun wie Es penlaub. Grinsend wandte ich mich Gorgh und Ka larthras zu. »Ihr solltet ein wenig schlafen. Hier haben wir bis morgen sicherlich nichts zu befürchten.« »Und du?«, fragte Gorgh, während er sei nen Chitinrücken an einer hässlichen Stehl ampe rieb. »Ich werde mich ein wenig mit Fisker un terhalten. Je mehr wir über die Ministerien und ihre Strukturen wissen, desto rascher kommen wir voran.« Kalarthras nickte mir dankbar zu und ließ sich schwer auf eine abgenutzte, von grauem Stoff überzogene Couch sinken. Binnen we niger Sekunden war er eingeschlafen. Gorgh hingegen zog das hintere Beinpaar an und stemmte sich mit dem vorderen ge gen die Wand. Gelenke knackten unange nehm laut, und leiser Singsang verriet mir, dass er sich allmählich in eine Schlaftrance versetzte. Auch ich fühlte mich seltsam abgespannt, aber die Neugierde überwog. »So«, forderte ich Fisker auf, »und du er
Die Varganen von Cramar zählst mir jetzt, wie es auf einem ka laro'onischen Ministerium zugeht.« »Was soll ich bloß sagen? Wenn ich dar über nachdenke, bestand die Arbeit nur aus Routine und dem Bemühen, sich möglichst unauffällig zu verhalten.« »Mag schon sein. Auch wenn es für dich noch so fade klingen mag: Erzähl mir ein fach, was dir so einfällt.«
Querverweis II »Die Außerkalaro'onischen wurden be reits in Cramalvet gesichtet, Oberster Notu rierter! Mehrere beunruhigte Passanten mel deten sich bei diversen Sicherheitsdiensten …« »Du langweilst mich, Speichellecker! Mehr hast du nicht zu berichten?« »Die Personenbeschreibungen sind sehr … verwirrend. Manche Zeugen sprechen von einem ausgebleichten Mann mit rot glü henden Augen, andere von einer aufrecht gehenden Ameise, die mit langen Beißzan gen in der Luft umherschnappt. Angeblich sind sie zu viert unterwegs; unter ihnen auch ein Freiberufler.« »Weiter!« »Leider konnten wir ihre Spuren nicht verfolgen. Mir ist es ohnehin ein Rätsel, wo sie sich die Nacht über aufhalten wollen.« »Sie werden einen Weg finden.« »Was sollen wir nun tun, Oberster Notu rierter?« »Warten. Morgen in der Früh werden wir sie sicherlich wiederfinden.« »Nun, ich dachte …« »Du sollst nicht denken, sondern meine Anweisungen befolgen. Haben wir uns ver standen?« »Ja, Oberster. Danke, vielen Dank für die Ehre …« »Raus!«
8. Amt für alienale Einbürgerungsansuchen: Parteienverkehr von 9 bis 11 Uhr, stand auf
39 dem verstaubten Schild neben einem düster wirkenden Eingang. Die Tür quietschte lei se, als ich sie öffnete. Trübes Dämmerlicht erfüllte den Raum. Ein einzelner Lichtbalken hing über dem staubigen Treppenfortsatz. An einer verlas senen Portierloge links von uns hing ein Schild. »Komme gleich!«, entzifferte Fisker. Eine Spinne mit grünen Netzaugen hatte den Karton mit den krakeligen Buchstaben großflächig eingewebt und seilte sich soeben gelangweilt ab. »Nicht viel los hier«, murmelte Kalar thras. Der Schlaf hatte ihm sichtlich gut ge tan. Er wirkte wesentlich entspannter als ge stern. Gorgh-12 kam mit seltsam anmutenden Seitenschritten herein. Seine Hornzehen kratzten über den glatten Stein und fanden kaum Halt. »Wir müssen in den ersten Stock«, sagte Fisker und ging zögernd voran. Ich konnte mir nicht helfen; trotz aller Le benserfahrung, auf die ich mich verlassen konnte, fühlte ich mich hier äußerst unwohl. Waren es unsere widerhallenden Stimmen in einem verlassen wirkenden Gebäude? Der Mief von Jahrhunderten, der sich in die Mauern gebrannt hatte? Das zombiehafte Gehabe des ersten Kalaro'on, dem wir be gegneten? Ich stellte mich dem Mann in den Weg und fragte mit ausgewählter Höflichkeit: »Entschuldigung, guter Mann! Wo finden wir …« »Für Auskünfte bin ich nicht zuständig!«, sagte er pampig und fügte hinzu: »Fragen Sie beim Portier nach!« Er warf einen ver störten Blick auf Gorgh, um anschließend in einen Quergang zu flüchten. »Bleib da!«, rief ich Kalarthras hinterher, der dem Mann mit geballten Händen folgen wollte. »Es hat wenig Sinn, wenn du ihn für das System strafst, in das er hineingewach sen ist.« »Mag sein«, antwortete er, »aber ich wür de mich bedeutend wohler fühlen.«
40 »Komm schon! Wir versuchen es mit aller Freundlichkeit im ersten Stock. Wenn alle Stricke reißen, können wir es immer noch auf die harte Tour probieren.« Ich zog ihn mit mir, die Treppen hinauf. Über Halbstock, Untergeschoss, Mezza nin und Obergeschoss gelangten wir in den ersten Stock. Kalarthras, etwas atemlos, aber voller Ingrimm, wollte den nächsten Ka laro'on, dem wir ohne Zweck und Ziel in ei nem der Gänge stehend begegneten, würgen, während ich erneut nicht wusste, ob ich wei nen oder lachen sollte. Immer tiefer hinein ging es nun, hinein in die Eingeweide eines verwinkelten und ar chitektonisch unglaublich sinnlos angelegten Gebäudes. »Hier sind wir richtig«, sagte Fisker am Ende einer langen, einsamen Gangflucht. Er las ein verblasstes Namensschild an der Wand und deutete auf die Tür. Ich klopfte an und trat ein. »Warten Sie gefälligst draußen!«, herrschte mich eine Frau mit lauter Stimme an. Sie war fett und unförmig und saß an ei nem Tisch, der leer geräumt war. Lediglich drei Stifte mit schlauchförmigen Verlänge rungen, deren Enden in einer Art Tintenfass mündeten, lagen in Reih und Glied. Darun ter befand sich ein unbeschriebenes Blatt Pa pier. Staubbedeckt. »Ich sehe nicht, dass du … Sie derzeit et was zu tun hätten.« »Das können Sie nicht beurteilen, Herr! Haben Sie eine Nummer gezogen? Habe ich Sie aufgerufen?« »Nein, aber …« »Dann raus!« Zähneknirschend verließ ich den Raum. Fisker hatte mich eindringlich vor mögli chen Problemen in den Ämtern gewarnt. Je mehr ich auf meine Rechte pochen würde, so hatte er gemeint, desto weniger würde ich erreichen. Geduld war die wichtigste Tu gend auf Cramar. Noch war ich bereit, auf die hiesigen Sit-
Michael Marcus Thurner ten Rücksicht zu nehmen, noch … »Wo zieht man hier eine Nummer?«, fragte ich Fisker. Der Kalaro'on sah sich um und deutete schließlich auf ein sechseckiges Kästchen mit einer Art Kurbel daran. Er drehte ein mal, zweimal – und heraus kam … nichts. Wenn man die Staubwolke außer Acht ließ, die uns einnebelte und alle, mit Aus nahme von Gorgh-12, zum Husten reizte. Erneut klopfte ich an. Mit einem Ausdruck der Empörung in ih rem Gesicht sagte die Beamtin: »Ich habe Sie bereits darauf hingewiesen …« »Die Nummernvergabe funktioniert nicht!«, unterbrach ich sie und hustete er neut. »Dann gehen Sie in den ersten Halbstock, rechter Flügel, Tür 3/A/c, und lassen sich in der Materialausgabe ein neues Nummern band geben.« »Das kann doch wohl nicht meine Aufga be sein …« »Wenn Sie ein Gespräch mit mir als ober ster Vertretung der Verwaltungsstelle für alienale Einbürgerungsansuchen wollen, wird es zu Ihrer Aufgabe werden müssen.« Mein Kopf drohte zu explodieren. Mit ei ner unarkonidischen Gewaltanstrengung brachte ich es fertig, mich umzudrehen und das Zimmer zu verlassen, ohne es kurz und klein zu schlagen. »Materialausgabe«, sagte ich grob zu Fis ker. »Tür 3/A/c. Du bringst mich hin.« Ich blickte Kalarthras und Gorgh an. »Ihr sorgt dafür, dass diese … Person den Raum in der Zwischenzeit nicht verlassen kann.« Kalarthras konnte ein Schmunzeln nicht verkneifen, während sich Gorgh belustigt über den Bauch schabte. Die nächsten eineinhalb Stunden, die uns kreuz und quer durch das Ministeriumsge bäude führten, hätte ich am liebsten aus mei ner Erinnerung verdrängt. Schließlich ge lang es uns, die erforderliche Nummernrolle aus einem Depot zu stehlen, während Fisker die zuständige Beamtin ablenkte. »Ist diese … Dame … herausgekommen,
Die Varganen von Cramar
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während wir unterwegs waren?«, fragte ich Dennoch fiel es immens schwer, über ein Kalarthras, als wir zurückkehrten. Leben, das ich wortwörtlich in meinen Hän »Nein«, entgegnete er belustigt. »Ist dir den hielt, zu urteilen. etwa heiß? Du bist so verschwitzt.« Ich seufzte laut. Und rief dann meine Ka »Mir geht es gut. Sehr gut sogar.« Ich meraden herein. zeigte ihm die Papierrolle, legte sie auf das »Wir müssen unsere Strategie überden sechseckige Kästchen, riss die erste Num ken«, sagte ich. »Ich habe unser Problem mer ab und marschierte, ohne anzuklopfen, unterschätzt. Ich denke, wir müssen uns ge ins Zimmer. waltsam das holen, was wir wollen.« »Hier bin ich wieder«, sagte ich. »Mit Nummer eins der neuen Rolle. Wie Sie es * wollten.« Ich hatte eine Vision. »Und?« Wenn ich alle Angehörigen des hiesigen »Was und? Würden Sie mich jetzt bitte Ministeriums zwingen würde, ihre Vor drannehmen?« schriften und Anweisungen zu missachten? Die Dicke blickte an die Wand hinter mir. Wenn ich ihnen erst etwas später als vorge »Können Sie nicht lesen? Parteienverkehr sehen erlaubte, nach Hause zu gehen, und zwischen 9 und 11 Uhr. Es ist schon zu spät. sie dazu brachte, über gewisse Dinge nach Kommen Sie morgen wieder, und schließen zudenken, damit sie die dahinter steckende Sie leise die Tür, wenn Sie hinausgehen …« Sinnlosigkeit erkannten? Würde ein System Ich hechtete über den Schreibtisch, packte wirklich alle daran Beteiligten zu schuldigen die Frau mit der Linken am Kragen ihres Mittätern erklären? hellgrauen Hemdes und ballte die Rechte. »Ja«, entgegnete Fisker auf meine diesbe Nacktes Entsetzen stand in ihren Augen. zügliche Frage. »Freiberufler werden ohne Pure Angst – und Unverständnis. Sie hatte hin dringend benötigt. Wenn nun ein paar keine Ahnung, was sie soeben falsch ge hundert Kalaro'on dazukommen, wird die macht hatte. Zeit ihres Lebens war sie nie Erleichterung allerorts groß sein – außer bei mals anders verfahren, kannte kein anderes jenen, die es erwischt.« Vorgehen. Gehässigkeit und Ignoranz waren »Das mag dann zutreffen, wenn es nur auf Cramar der Ausdruck purer Angst um einmal passiert«, sagte ich grinsend. »Aber eine Existenz in Frieden. Jede Freundlich was wäre, wenn jemand da und dort Fehler keit, jeder mitleidvolle Umgang mit anderen ins System einschleust? Wenn derjenige zi konnte einem Kalaro'on falsch ausgelegt vilen Ungehorsam in die Köpfe der Ka werden. laro'on trägt?« Zögernd entspannte ich mich, hielt die »Ich dachte, ihr hättet nicht genügend Frau aber nach wie vor fest. Zeit, um euch um unsere Probleme zu küm Was würde passieren, wenn ich mir die mern?« Informationen und Unterlagen, die ich von »Haben wir auch nicht – aber gesetzt den ihr wollte, mit Gewalt aneignete? Fall, wir würden dir und Flink ein paar Sie wird degradiert, flüsterte mir der Ex Werkzeuge hinterlassen, mit denen ihr diese trasinn zu. Aus der Gesellschaft ausgesto kleine Revolution anzetteln könntet?« ßen. Man wird sie zur Freiberuflerin ma Ich grinste. chen. Aber das ist schließlich nicht unser Es war tatsächlich eine Vision, aber nicht Problem, nicht wahr? die schlechteste. Ich konnte hier nichts errei In seiner kühlen, logischen Unbarmher chen. Dazu fehlte mir nach wie vor der Ein zigkeit hatte er Recht. Ich konnte nicht auf blick in die Zusammenhänge. Aber jemand, jeden Einzelnen Rücksicht nehmen oder ihn der die Probleme im Inneren der Gesell zu retten versuchen.
42 schaft kannte – nun, der konnte möglicher weise Wunder bewirken. Ich ließ Fisker einfach stehen. Ich konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn zu arbeiten begann.
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»Das ist der Hafen«, sagte Fisker nach ei ner Weile und deutete auf ein einbetoniertes hufeisenförmiges Wasserloch mit bracki gem, stinkendem Wasser. Einige Fischtraw ler lagen ein wenig abseits, außerhalb der Kaimauern. An den bunten Farbklecksen konnte ich erkennen, dass dort Freiberufler * an Bord waren und Fischernetze ausbreite Wir hielten uns nicht länger auf. Fisker ten. beschaffte uns dank der unfreiwilligen Mit Vor uns, an der einzigen Mole, die eine hilfe jener feisten Dame namens Dsolche Bezeichnung überhaupt verdiente, Kaltropie die notwendigen Informationen, schunkelte ein rostiger Kutter mit niedrigem um zur Regierungsinsel Coraak vorgelassen Kiel vor sich hin. zu werden. »Das ist die Fähre?«, fragte ich entsetzt, Das Eiland befand sich ungefähr 100 Ki obwohl ich etwas Ähnliches erwartet hatte. lometer westlich des Festlandes. Eine Fähr Fisker zuckte mit den Schultern. »Ich war verbindung war das Einzige, was zur Verfü noch nie hier. Die wenigen Bulletins, die ich gung stand. zum Lesen hatte und in denen die WUN Ich sträubte mich, mit Hilfe der Flugag DERBAR abgebildet gewesen war, dürften gregate oder gar der AMENSOON unser ein wenig geschönt gewesen sein.« Ziel zu erreichen. Wir richteten mit unserem »Ein wenig!«, wiederholte Kalarthras, der Eindringen in diese sensible, leicht zu er neuerdings eine gehörige Portion Fatalismus schütternde Kultur bereits genug Schaden zur Schau stellte. Ab und zu sah er sich in an. Das Raumschiff Kytharas mit seinen be teressiert um. Offenbar suchte er nach mar achtlichen Ausmaßen einfach über die Re kanten Punkten, anhand deren er sich orien gierungsinsel Coraak zu stellen erschien mir tieren und vielleicht seinem Gedächtnis auf als nicht angebracht. die Sprünge helfen konnte. Entdeckte er et Vorerst. was, das seinem Gedächtnis auf die Sprünge Die Garbyor werden keinesfalls so rück half? sichtsvoll vorgehen, sobald sie diesen Plane Ich tat mich immer schwerer, diesen ver ten entdeckt haben, argumentierte der Extra längerten Aufenthalt auf Cramar vor mir sinn. selbst zu rechtfertigen. Der dunkle Vargane Wenn wir uns beeilen und rechtzeitig von war der einzige Grund, dass wir die Mission hier wegkommen, bevor sich der Feind auf nicht schon längst abgebrochen hatten. Was Kalarthras' Körperwerte einjustiert – wie sollte ein Besuch beim Obersten Noturierten auch immer er das schaffen mag –, bleibt bringen? Glaubte Kalarthras tatsächlich, dort Cramar unentdeckt. wichtige Informationen zu erhalten? Meine innere Stimme schwieg daraufhin. Als habe er meine Zweifel gespürt, er Einmal mehr durchwanderten wir die klang die mentale Stimme des Varganen in Straßen Cramalvets, diesmal Richtung Ha meinem Kopf: Irgendetwas lockt mich zur fen. Insel. Eine Ahnung. Etwas Verschüttetes, Kaum einer der Bewohner war zu sehen; von dem ich weiß, dass es wichtig sein muss. sie alle »arbeiteten« zu dieser Zeit. Den we Kalarthras' Art, mir seine geistigen Bot nigen Fußgängern, die bis auf Schattierungs schaften zu übermitteln, behagte mir nicht. unterschiede der Oberbekleidung uniform Gucky, mein alter Freund, setzte telepathi gekleidet waren, grüßten wir freundlich zu. sche Botschaften derart in mir ab, dass ich Mehr als ein paar indignierte Blicke erhiel ein leichtes Kitzeln im Gaumenbereich spür ten wir nicht als Antwort. te. Kythara hingegen erweckte die Assoziati
Die Varganen von Cramar on von frischen, duftenden Blumen, die sanft über meine Haut streichelten. Kalar thras aber – nun, es fühlte sich an, als würde er die Nachrichten mit einem Vibromesser in meine Gehirnwindungen tätowieren. Das ist blanker Unsinn!, mahnte mich der Extrasinn zu mehr Objektivität. Sinnlose Vorurteile und Gefühle helfen euch beiden nicht weiter. Es muss wohl so sein, dachte ich lako nisch in seine Richtung. Hier trifft AlphaMännchen auf Alpha-Männchen. Wir erreichten die Mole. Der Bug der WUNDERBAR scherte leise über die Ha fenmauer. Eine Hundertschaft schwarzer, ra benähnlicher Vögel mit breiten Greifklauen schimpfte auf uns herab. Immer wieder stürzten sie sich im Sturzflug ins dunkle, stinkende Hafenwasser und kehrten mit klei nen, bunt schillernden Fischen zurück an die Oberfläche. »Jemand an Bord?«, rief ich in Richtung des Schiffes. Keine Antwort. »Sie sind da«, behauptete Fisker und grin ste. Es war eine sehr entspannte Reaktion. Er belächelte wohl seine eigene Vergangen heit. »Die Matrosen glauben, dass wir weg gehen, wenn sie sich nicht rühren.« »Diese Spielchen habe ich endgültig satt.« Kalarthras sprang geschickt über die Reling und legte uns eine wurmzerfressene Planke aus, die ich nur mit Vorsicht betrat. Gorgh misstraute ihr vollends. Er stieß sich mit dem hinteren Beinpaar ab und lan dete grazil, mehr als acht Meter von uns ent fernt, auf dem verglasten Vorbau des Steuer manns. »Ich suche den Bugbereich ab, du das Heck«, sagte Kalarthras zu mir. »In Ordnung …« »Das ist nicht notwendig«, zirpte Gorgh. »Hier befinden sich zwei Männer.«
* Die Matrosen und der Kapitän des Mari neministeriums akzeptierten nach kurzer
43 Zeit und dank unserer Überzeugungskraft je ne Unterlagen, die D-Kaltropie für uns aus gestellt hatte. Ich war froh, keinen Terraner bei uns zu haben. Moralische Bedenken hätten mir bei unse rem etwas rüden Vorgehen gerade noch ge fehlt. Doch auch so war die Überfahrt von Pan nen geprägt, die ich nicht für möglich gehal ten hätte. Ich hätte auf die siebenköpfige Be satzung gerne verzichtet, aber wir kannten weder Schiff noch Route. Soweit es ging, überwachten wir die Kalaro'on. Dennoch forderten die Matrosen immer wieder ihre vorschriftsmäßigen Ruhe- und Essenspausen ein. »Was macht ihr, wenn es stürmt?«, brüllte ich den Kapitän an. »Beruft ihr euch dann noch immer auf Verordnungen, während das Schiff untergeht?« »Es ist aber schönes Wetter!«, sagte der Mann namens A-Bodie trotzig. Er kühlte sein blaues Auge mit einem nassen Tuch. »Wenn es aber doch so wäre?«, fragte ich erneut, mit meiner Faust auf sein anderes Auge zielend. »Dann … dann würde die maritime Not rechtsverordnung Paragraph 33b in Kraft treten. Die uns gesetzlich zustehenden Ruhe phasen samt Überstundenpauschalzeit wür den uns nachträglich gewährt werden …« »Dann denk dir ganz rasch schlechtes Wetter.« Ich drängte ihn in die Ecke der Kombüse. »Dies ist der schlimmste Sturm, der jemals über dich und deine Besatzung gekommen ist. Wenn ihr ihn überleben wollt, rate ich dringend, diesen Paragraphen soundso sofort wirksam werden zu lassen.« A-Bodie ging wie ein Sack in die Knie. »Aber das wäre ein strenges Vergehen ge gen die Leumunds Verordnung! Wir werden mit Sicherheit freigestellt und enden als Freiberufler wie der da!« Er deutete auf Fis ker. Fast tat mir der Kapitän Leid, wie er da saß und jammerte. Fast. »Was ist dir lieber?«, fragte ich ihn grim
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mig, während ich ihm sein graues Matrosen hemd enger und enger zog. »Ein sehr schmerzvoller Tod oder die Aussicht auf das Freiberuflertum?« Die Antwort war erschüt ternd.
* In den frühen Morgenstunden des über nächsten Tages gingen wir endlich im Hafen der Regierungsinsel Coraak vor Anker. Funksprüche eines kleinen Kutters, des sen Besatzungsmitglieder sich als »Hochseevertragsbeamte der Hafenkontrol le« zu erkennen gaben, ließen wir unbeant wortet – und stellten die Kalaro'on damit voraussichtlich vor unlösbare Probleme. Den Matrosen der WUNDERBAR forder te ich das Versprechen ab, das Schiff wäh rend des nächsten Tages nicht zu verlassen. Ich war mir sicher, dass sie sich daran halten würden; unsere Argumente waren gegen En de unserer Reise hin immer schlagkräftiger geworden. »Der Zustand der Stadt ist besorgniserre gend«, sagte Gorgh. Er hielt den Oberkörper geduckt und begab sich auf alle sechse, wie zum Sprung bereit. Ich konnte durchaus nachvollziehen, was er meinte – denn Coraak wirkte tot wie eine Geisterstadt. Niemand war auf den breiten Boulevards zu sehen, die kerzengerade an Hochhäusern und monumentalen Bauten vorbeiführten. Die Sonne namens Dagg'tzo ging soeben auf, kroch zwischen den Häuserfronten em por und warf lange Schlagschatten, die den unheimlichen Eindruck weiter verstärkten. »Lebt hier eigentlich jemand?«, fragte Gorgh. »Zumindest nicht in der Hafengegend«, erwiderte Kalarthras. Manche der Gebäude waren in sich zu sammengefallen. In vielen fehlten Fenster scheiben und Türrahmen. Gestrüpp wucher te zwischen Ruinen- und Schuttbergen aus gelbfarbenem Sandstein. Das Geröll ver sperrte nahezu überall den Zugang zu den
Straßen, die erhöht auf wuchtigen Pfeilern standen. Ich spielte kurz mit dem Gedanken, noch mals an Bord der WUNDERBAR zurückzu kehren und den Kapitän auszuquetschen, was hier vor sich ging. Aber ich ahnte, dass ich keine vernünftige Antwort erhalten wür de. Schließlich ging es den Mann – zumin dest nach kalaro'onischer Logik – nichts an, was hier, an seinem Zielhafen, passierte. »Alles in Ordnung bei euch?«, meldete sich Kythara über Normalfunk. Wir hielten, wie vorher abgemacht, regelmäßigen Kon takt. »Alles bestens«, antwortete ich wider meine Überzeugung. »Wie steht's mit der AMENSOON?« »Die Reparaturroutinen sind durchlaufen. Ich mache einen letzten Sicherheits-Check, dann steht von meiner Seite aus einem Wei terflug nichts mehr im Weg.« Mit einem Seitenblick auf Kalarthras sag te ich: »Wir haben's bald geschafft. Halte dich aber startbereit.« »Das tue ich ohnehin die ganze Zeit!«, schnappte sie, wohl ein wenig in ihrer Ehre gekränkt, und unterbrach abrupt die Verbin dung. Es war nicht leicht, mit Varganen auszu kommen. Und schon gar nicht mit den weib lichen Vertretern dieses unsterblichen Vol kes. »Dort ist ein ausgetretener Weg, der auf eine der Straßen führt«, sagte Fisker und deutete nach links. »Dann los!«, befahl ich. Kalarthras blickte kurz in meine Rich tung, fügte sich aber schließlich. Die Situati on war denkbar ungeeignet, um über Rangund Hackordnungen zu streiten. »Die Häuser wurden nach äußerst primiti ver Bauweise errichtet«, murmelte Gorgh, der beim Überklettern der Schuttberge wie selbstverständlich seiner wissenschaftlichen Neugierde nachgab. »Sie bestehen aus ei nem spröden Naturstein. Die Brücken und Straßen hingegen aus einem Gemisch von Sand, Kies, Kalkstein und Wasser, die Ar
Die Varganen von Cramar mierung aus Glasfasermatten. Dies alles sind unzulängliche und notdürftige Materialien, die keine tausend Jahre lang halten. Tsss«, zischte er verächtlich. »Ich erinnere mich an den Grundriss der Stadt«, sagte Kalarthras nachdenklich. »Er hat sich nicht viel verändert. Nur die Bau weise ist, so, wie Gorgh sagt, viel primitiver geworden.« »50.000 Jahre sind nun mal verdammt lang«, erinnerte ich ihn. »Ganze Imperien kommen und gehen während dieser Zeit spanne.« »Aber es war nicht so geplant!«, schrie er mich plötzlich an. »Dieses Thema hatten wir bereits!« Ich war seine endlosen Zweifel und Launen leid. Kalarthras musste endlich akzeptieren, dass ihm die Kontrolle über die varganischen Nachkommen, die er geformt hatte, entglit ten war. »Der Palast!«, rief er plötzlich. »Er steht sicherlich noch!« Er schwieg plötzlich und lief davon, den Gesteinshügel hinan. Sein Tempo war derart hoch, wohl getrieben von den Gespenstern seiner Erinnerung, dass ich ihm zu Fuß nicht folgen konnte. »Hinterher!«, befahl ich Gorgh. »Halte ihn nicht auf, sondern verfolge ihn bloß. Er sucht irgendetwas – und ich möchte endlich wissen, was es ist. Wir halten Funkkontakt.« Der Insektoide klackerte zustimmend und eilte dem dunklen Varganen in sicherem Ab stand nach. »Ich verstehe nicht«, sagte Fisker, der hinter mir herkeuchte. »Ich habe nur Vermutungen«, erwiderte ich. »Kalarthras hat Gedächtnislücken, die er unbedingt schließen muss.« »Er will zum Palast des Obersten Notu rierten …« »Was weißt du darüber?« »Hm … nur das, was in den offiziellen Bulletins gestanden hat.« »Erzähl mir trotzdem davon.«
Querverweis III
45 »Sie sind tatsächlich auf Coraak gelandet, Oberster! Sie haben es gewagt, die WUN DERBAR, den Stolz der kalaro'onischen Flotte, zu kapern und hierher zu entführen …« »Ich weiß längst Bescheid. Sorg dafür, dass sie unbehelligt in den Palast gelangen. Es ist Zeit, dass ich sie treffe und ihre … Fragen beantworte.« »Außerhalb der Amtsstunden? Aber Oberster …« »Schweig, Speichellecker! Befolge gefäl ligst meine Anordnungen und denk nicht darüber nach.« »Aber das ist ein Bruch ältester Traditio nen …« »Ein Wort noch, und es sind nicht nur die Traditionen, die in diesem Raum zerbrochen werden!« »Ja, Herr! Ich eile, ich gehorche, ich folge den Befehlen …«
9. »Er läuft auf das Zentrum dieser Stadt zu«, meldete sich Gorgh nach einer Weile. »Trotz seiner nur vier Extremitäten ist er so rasch, dass ich ihm zu Fuß nur schwer fol gen kann.« Kalarthras war ein getriebenes Wesen. Ich kannte diese Art der Motivation gut. Ich wusste, dass sie zu wahrhaft unglaublichen Steigerungen der Leistungsfähigkeit führen konnte. »Bleib unter allen Umständen an ihm dran!«, wies ich Gorgh an, und im selben Atemzug aktivierte ich Fiskers und mein Flugaggregat. Wir bewegten uns auf die Lö sung eines Rätsels aus der Vergangenheit des dunklen Varganen zu, und ich verspürte keine Lust, die entscheidenden Momente zu verpassen. Endlich erreichten wir das Ende des Schutthaufens. Der Boulevard, der auf sei nen Stelzen vom Hafen aus so prächtig ge wirkt hatte, erwies sich als von breiten Ris sen durchzogene Notstraße. Da und dort war unzulängliches Flickwerk angebracht wor
46 den. Über die größten Lücken, sicherlich mehr als zwei Meter breit, führten Holzplan ken. »Erschütternd«, murmelte Fisker, wäh rend wir darüber hinwegschwebten, und schüttelte, wie schon so oft seit unserer An kunft, den Kopf. »Diese Stadt ist tot, da gibt es nichts zu beschönigen.« Der Kaiaro'on schluckte schwer und flü sterte: »Alle Berichte über die Pracht und Schönheit Coraaks sind gefälscht. Wir wer den belogen und betrogen …« »Hoffen wir zumindest, dass der Oberste Noturierte tatsächlich im Palast sitzt. Sonst war die ganze Reise hierher den Aufwand nicht wert.« Während die Sonne immer höher stieg und uns wärmte, folgten Fisker und ich den Impulsen, die uns Kalarthras' Standort anga ben. Das Infrarot identifizierte einige wenige Wärmewerte hinter den ersten Häuserfron ten. Trotz unserer Hast blieben wir stehen und blickten hinein in die Ruinen der ka laro'onischen Vergangenheit, ohne auch nur einen der Einwohner zu Gesicht zu bekom men. Sie verbargen sich vor uns. Manche der Gebäude, flach und be drückend niedrig gebaut, schienen mich mit ihren leeren Fensterhöhlen anzustarren. An dere wiederum stachen hochmütig weit über zweihundert Meter in den Himmel. »Dies alles kann jederzeit zusammenbre chen«, flüsterte ich, als ob schon ein zu lau tes Wort den Zusammensturz herbeiführen würde, Fisker antwortete nicht. Er flog wackelig hinter mir her. »Wir haben den Palast erreicht!«, funkte mir Gorgh plötzlich zu. »Kalarthras ist ste hen geblieben und sieht sich um.« »Wie reagiert er?« »Ich kann das Gemütsleben eines Varga nen nur schwer deuten, aber ich vermute, dass er schockiert ist.« »Dann lass ihn in Ruhe. Beobachte ihn weiter. Fisker und ich sind auf dem Weg.« Ich holte Fisker zu mir heran, schaltete unsere Antriebsaggregate simultan und be-
Michael Marcus Thurner schleunigte. Es ging den Boulevard entlang, vorbei an weiteren Schutthalden, urwaldähn lichem Gestrüppdschungel und wenigen An zeichen kalaro'onischen Lebens. »Dort vorne ist der Palast!«, rief Fisker und zeigte geradeaus. Die Straße endete an einer breiten, wuch tigen Häuserfront. Sie war tiefschwarz, kaum mehr als vier Körperlängen hoch. Dar über zogen sich vier Kuppeln, von denen ei ne eine sich dreifach verästelnde Spitze auf wies. »Was für ein hässliches Ding!«, sagte ich impulsiv. »Nun, in den Bulletins wirkte der Palast wesentlich imposanter«, sagte Fisker kopf schüttelnd. »So wie vieles hier.« Gorgh kam mit Riesensätzen hinter einem Wirrwarr an Stahlträgern hervorgeschossen auf uns zu. »Kalarthras ist soeben hineingegangen«, meldete er so unaufgeregt wie meist. »Wo ist der Eingang?«, fragte ich. »Etwa auf der Rückseite?« »Das ist das Problem: Er ging schnur stracks auf die Vorderfront des Palastes zu – und war im nächsten Moment verschwun den. Wie verschluckt.« »Konntest du irgendwelche Energiewerte anmessen?« »Ja. Den Peak eines hochenergetischen Feldes, das überhaupt nicht zu der Primitivi tät dieser Stadt passt.« Ich aktivierte das Funkgerät. »Kythara – bist du da?« »Selbstverständlich.« »Dann wirf die Maschinen an. Gut mög lich, dass wir dich in Kürze hier brauchen.«
* Vorsichtig und mit aktivierten Schutz schirmen näherten wir uns der klotzigen Front des Palastes. Aus der Nähe konnte ich erkennen, dass der Zahn der Zeit hier keiner lei Spuren hinterlassen hatte. Die schwarze Wand fühlte sich glatt und warm an.
Die Varganen von Cramar »Sollten wir uns nicht auf den Schutz der Deflektoren verlassen?«, fragte Gorgh, der seitlich von mir energetische Messungen vornahm. »Sinnlos«, antwortete ich knapp. »Wer auch immer uns erwartet – er hat uns sicher lich längst entdeckt.« »Ein neuerlicher Peak!«, rief der Insektoi de. »Und zwar direkt … vor uns.« Ein Tor mit blendend weißen Rändern bil dete sich in der Frontstruktur des Palastge mäuers. »Das ist wohl eine Einladung«, sagte ich. Die du natürlich nicht befolgen wirst!, mahnte der Extrasinn. In solchen Fällen galt: Verstand und Ex trasinn ausschalten, Augen zu – und durch. Kalarthras brauchte möglicherweise Hilfe, und hinter diesen Mauern warteten mit großer Wahrscheinlichkeit Antworten auf viele Fragen. Ich nickte Gorgh und Fisker zu, öffnete das Tor und betrat den Palast.
Querverweis IV »Sie sind eingetroffen, Oberster Noturier ter!« »Ich habe Augen und kann sehen, dass sie da sind.« »Wie sollen wir verfahren? Ein offizieller Empfang? Eine Willkommensrede? Ein di plomatisches Aviso?« »Gar nichts, Wurm. Führ sie direkt hier her.« »Bitte nicht, Herr! Das Protokoll …« »Gehorche!« »Ich muss protestieren, Herr! Die Aliens müssen zumindest in der Empfangskanzlei die allernotwendigsten Formalitäten erledi gen.« »Ein Wort noch, Speichellecker, und du bist ein toter Speichellecker.« »Auch mein Tod würde das Protokoll empfindlich stören. Denkt nur an die vielen Formalitäten mit Totenschein, Todesanzei ge, Verbrennungsgenehmigung und so wei ter …«
47 Das leise Zischen einer Strahlwaffe ertön te.
10.
Es war alles nur Tarnung. Jene schwarze Außenfront, die wir gese hen hatten, war bloß eine raffinierte energe tische Umhüllung, die wir trotz unserer empfindlichen varganischen Messgeräte nicht hatten erkennen können. Vor uns erstreckte sich der richtige Palast. Ein Schutthaufen, der alles andere, was wir bislang auf Coraak gesehen hatten, in den Schatten stellte. Kein Stein stand hier mehr auf dem anderen; nur noch andeu tungsweise war die architektonische Struktur des ehemaligen Verwaltungszentrums Cra mars zu erkennen. Kalarthras grub und wühlte unweit von uns im Schutt. Seine Finger waren blutig ge stoßen, die so dunkle Haut von einer dicken Staubschicht gebleicht. Er stieß verzweifelte Schreie aus, als wäre er nunmehr völlig übergeschnappt. Wahrscheinlich ist er das auch, fügte, der Extrasinn hinzu. Der Schock, hier im Aller heiligsten Cramars totale Verwüstung vor zufinden, muss seiner Psyche enorm zuge setzt haben. Es passt nicht zu ihm, dachte ich konzen triert. Er mag seine Probleme haben – aber so rasch kippt ein Vargane nicht in den Wahnsinn. »Willkommen in der präsidialen Kanzlei Coraaks!«, ertönte eine süßliche, einschmei chelnde Stimme. Ich fuhr herum, die Waffe im Anschlag, zielte reflexartig auf den Kopf des Mannes. »Aber mein Herr! Bewahren Sie doch bit te die Contenance!«, sagte er, während von einem notdürftig gewickelten Verband um seine linke Hand dunkles Blut tropfte. Wei tere Gestalten, ähnlich gekleidet, die sich hinter den Trümmern verborgen gehalten hatten, kamen ans Tageslicht und blickten uns mit stumpfen Augen an. »Wer bist du?«, fragte ich, ohne die Waf
48 fe zu senken. »Präsidialminister und Noturiertentrabant F-Valmir«, antwortete der Kalaro'on. »Ich bin der Hausherr hier im ›Palast der Rein sten Ordnung‹.« »Du bist der Oberste Noturierte?« Ich konnte es kaum glauben. Diese traurige Ge stalt, unrasiert, unfrisiert, Gesicht und Hals von pockenähnlichen Narben verunstaltet, den ausgemergelten Leib in Fetzen gehüllt, sollte der Verwalter all des Wahnsinns auf Cramar sein? »Bewahre!«, antwortete F-Valmir. »Ich bin sein treuer Statthalter, zuständig für das Tagesgeschäft und dafür, dass nichts an den Obersten herantritt, was seiner Aufmerk samkeit nicht würdig ist.« »Und wo befindet sich dein Chef?« »In der Präsidialkanzlei im ersten Stock. Er hat mich gebeten, euch zu ihm zu brin gen.« Er deutete auf die Ruinenfelder hinter sich. »Präsidialkanzlei? Es tut mir Leid – ich sehe nur Schutt und Trümmer.« »So?« F-Valmir überlegte kurz. »Dieser Halluzination sind unsere Gäste anlässlich diverser Audienzen und Sprechstunden schon mehrmals aufgesessen. Hm.« Er dach te kurz nach und fügte dann hinzu: »Einerlei. Ich bitte euch, mir zu folgen.« Er sieht die Trümmer wirklich nicht, be stätigte mir der Extrasinn. Genauso wenig wie die anderen Kalaro'on um dich. Nimm dich vor ihnen in Acht. Diese Männer sind hochgradig verrückt. »Was ist das für eine Wunde an deinen Fingern?« »Bitte? Ach, diese kleine Schnittwunde? Das ist eine vernachlässigenswerte Irritation. Ich benötige bloß ein frisches Pflaster. Hier entlang, meine Herren, die Treppe hinauf. Vorsicht – der Durchgang ist recht schmal und niedrig. Achtet auf die Köpfe.« »Es gibt hier keine Treppe mehr, ge schweige denn eine stehende Mauer«, bestä tigte Fisker beunruhigt meine eigene Beob achtung. »Er benimmt sich ähnlich verwirrt wie
Michael Marcus Thurner Petri und seine Freunde im Lager von Ad lorm«, beruhigte ich den Freiberufler. »Ich glaube nicht, dass von ihm irgendeine Ge fahr droht.« »Was machen wir mit unserem eigenen Verrückten?«, fragte Gorgh und deutete auf Kalarthras, der sich nach wie vor wie ein Besessener durch die Gesteinsreste wühlte. »Bleib bei ihm und achte darauf, dass er sich nichts antut. Und informiere Kythara über das, was hier vor sich geht.« »Ihr wollt F-Valmir tatsächlich folgen?« »Ja. Vielleicht besitzt sein Vorgesetzter, der Oberste Noturierte, mehr Verstand.« Ich drehte mich um und kletterte tiefer in die Ruine hinein, dem Wahnsinnigen hinter her.
* Die so genannte Präsidialkanzlei war ein von der Verwüstung halbwegs verschont ge bliebener Raum, der mit Hilfe einer notdürf tig befestigten Glaskuppel gegen Umwelt einflüsse von oben abgesichert war. Ein Schreibtisch mit steinerner Deckplatte, de ren Oberfläche glatt poliert war, stand hier in seltsamer Diskrepanz zu der sonst herr schenden Unordnung. Schränke voll vergilb ter Akten waren an zwei Seiten gegen provi sorisch gezimmerte Holzwände gelehnt. Die dritte Wand war frei und bot einen etwas er höhten Ausblick auf den so genannten Pa last. Neben dem Aufgang, durch den wir mehr gekrochen als gegangen waren, befand sich ein zweiter Zugang, der hinab in den Schuttbereich führte. Meine internen Alarmglocken schlugen an. Dieser Zugangsbereich wies eine vergla ste Oberfläche auf, wie durch Ultrahocher hitzung geformt. Oder durch gleichmäßigen Beschuss mit einer Strahlenpistole, setzte der Extrasinn hinzu. »Halt dich stets hinter mir«, flüsterte ich Fisker zu. Unsere Schutzschirme, die leicht flimmerten, ließ ich aktiviert. »Wo ist nun dieser Oberste Noturierte?«,
Die Varganen von Cramar fragte ich laut in Richtung des Wahnsinni gen. »Er wird gleich kommen. Macht euch kei ne Sorgen, meine Herren. Wollt ihr eine kleine Erfrischung? Kochfein? Ein paar Bis kuits?« Er holte wurmzerfressene Kekse aus ei nem feuchten Säckchen hervor und legte sie sorgfältig auf eine zerbrochene Schale, die von rötlich grünem Schimmelpilz belegt war. »Bedient euch nur, edle Herren aus dem Weltraum, gleich wird er da sein …« Sein Geschwafel verlor sich in unzusam menhängenden Satzfetzen, während er den Verband um seinen Finger neu zu wickeln versuchte. Auch wenn F-Valmir völlig närrisch war – er tat mir Leid. »Diese Schnittwunde blutet ziemlich hef tig«, sagte ich und trat näher auf ihn zu. »Ich habe ein wenig Erfahrung mit solchen Din gen. Lass mich den Verband überprüfen.« Der Kalaro'on sah mich irritiert an. Hilfs bereitschaft war wohl etwas Unbekanntes für ihn. Doch er wehrte sich nicht, als ich das blutdurchtränkte Tuch entfernte … … und die Stummel von drei abgetrenn ten Fingern in der Hand hielt. Die Hand selbst war schorfig; aus den dunkelblau ge färbten Fingerstumpen tropfte zähes Blut. »Was zur Hölle …« »Der Oberste Noturierte meinte, die Fin ger würden wieder anwachsen, wenn ich sie nur lange genug gegen die Hand presste«, sagte F-Valmir und begann leise zu sum men. »Wer hat das getan? Etwa dein Chef?« »Der Oberste war etwas ungehalten über mein Gebaren und meinte, ich hätte eine Zu rechtweisung verdient.« Sein Gesicht drückte Rat- und Hilflosig keit aus. Selbst der Irrsinn, in den er sich ge flüchtet hatte, half ihm in dieser Situation nicht weiter. »Warum hat er mir das ange tan?«, flüsterte er mir plötzlich zu, während Tränen langsam sein narbiges Gesicht hina brannen. »Warum? Ich war doch der beste
49 Kanzleileiter, den er nur bekommen konn te!« »Hast du Schmerzen?«, fragte ich. Sorgfältig legte ich die abgetrennten Fin ger auf den Tisch, auch wenn keine Hoff nung mehr bestand. Die Stumpen waren be reits blauschwarz angelaufen. Aber viel leicht konnte man den Arm – oder zumin dest die Hand – retten? »Ich habe keine Schmerzen«, fuhr FValmir fort. »Weil ich arbeiten darf. Ich bin kein Freiberufler, werde es auch nie sein, ich bin der beste Kanzleileiter, den Coraak je mals gesehen hat, und ich bin der Noturier tentrabant von Seiner Gnaden Segen …« »… und vor allem bist du entlassen!«, er klang eine tiefe Stimme. Das Zischen eines Handstrahlers ertönte, der Geruch von ver branntem Stoff und Fleisch breitete sich au genblicklich aus, und F-Valmir kippte mit verdrehten Augen in meine Arme.
* »Hier muss es sein! Ich weiß, dass es hier ist!« »Was soll sich hier befinden?« »Der Durchgang, Gorgh! Hier war der Eingang zur Station.« »Ich glaube, dass du krank bist, Kalar thras.« »Unsinn! Ich war mir meiner Sache noch nie so sicher wie in diesen Augenblicken. Vertrau mir, Gorgh! Hier, unter dieser Stein platte, ist der Zutritt. Bitte hilf mir!« »Ich weiß nicht …« »Glaubst du denn wirklich, ich wühle mich wie ein Geisteskranker ohne Sinn und Zweck durch die Ruinen eines verfallenen Gebäudes? Ich bin Wissenschaftler, und ich bin Vargane!« Schweigen. Schließlich: »Ich helfe dir, Kalarthras.«
11. »Wie war die Reise?«, fragte mich der Humanoide, dem ich gegenüberstand. Mein
50 Translator übersetzte fließend. Ich reichte dem Zaqoor gerade bis zur Brust. Sein breites und dennoch fein ge zeichnetes Gesicht strahlte. Als hätte er nicht soeben ein Leben ausgelöscht, sondern bloß eine lästige Fliege beiseite gewischt. »Anstrengend«, antwortete ich vorsichtig. Sachte legte ich den toten Kalaro'on zu Bo den, ohne den Blick von dem Bewaffneten abzuwenden. All die Mühen und Plagen, all die Rück sichtnahme auf das Volk der Kalaro'on wa ren umsonst gewesen. Denn der Feind, die lordrichterlichen Truppen, hatte längst Fuß gefasst. »Ich heiße Pentipalu«, sagte der hünen hafte Humanoide. »Merk dir den Namen. Er wird auf der langen Ehrentafel meines Vol kes einen besonderen Platz einnehmen. Als jener Zaqoor, der Atlan den Listigen ein fing.« Drei weitere Soldaten seines Volkes wühlten sich unter den Ruinen hervor. Alle waren sie bewaffnet und bewegten sich im Schutz leuchtender Individualschirme. Die Läufe schwerer Strahler waren auf mich und Fisker gerichtet. Es stand für mich außer Zweifel, dass der konzentrierte Beschuss der vier Zaqoor ausreichen würde, um meinen varganischen Schirm außer Gefecht zu set zen. »Warum diese Tarnung bis zuletzt?«, fragte ich Pentipalu. »Warum habt ihr uns nicht schon früher angegriffen?« »Nennen wir es … Genugtuung.« Penti palu tat einen Schritt auf mich zu. »Seit mehr als hundert Tagen sitzen ich und meine Truppen auf diesem jämmerlichen Planeten fest. Eine derart frustrierende Eroberung ha be ich noch nie erlebt! Da steht es uns zu, ein wenig Spaß zu haben.« »Spaß?« Ich deutete auf den Toten. »Wusste dieser arme Narr etwa, welchen Platz er in deinem Schauspiel einnehmen würde?« »Kollateralschäden lassen sich niemals vermeiden.« Der Zaqoor lachte dröhnend. »Sein Wahn war ohnehin so weit fortge-
Michael Marcus Thurner schritten, dass der Tod eine Erlösung für ihn war.« Wo bist du, Kalarthras?, dachte ich inten siv. Wir brauchen dich! »Wenn du dir Hilfe von deinem vargani schen Kumpan erhoffst, muss ich dich ent täuschen«, sagte Pentipalu, als hätte er mei ne Gedanken gelesen. »Es erschwert die Sa che zwar ein wenig, dass ihr euch getrennt habt, aber das ist kein echtes Problem. Ein weiterer Trupp meiner Männer entwaffnet ihn und diesen verräterischen Daorghor so eben. Lass die Hände gefälligst dort, wo ich sie sehen kann! Denk nicht einmal daran, den Funk zu aktivieren. Deine Mätresse in ihrem Schiff steht zwar ebenfalls unter Be obachtung, aber wir wollen jegliches Risiko ausschließen, nicht wahr?« Erneut grinste er. »Sei bloß froh, dass dich das Oberkomman do und die Lordrichter lebend haben wollen. Sonst hätte ich schon längst Haggariss aus dir gemacht.« Was auch immer dieses Haggariss sein mochte – ich war mir sicher, dass es mir nicht schmecken würde. »Was habt ihr mit Cramar vor?«, fragte ich, verzweifelt auf Zeit spielend. »Wollt ihr weiterhin die dunklen Hintermänner geben und zusehen, wie die Kalaro'on weiter in den Untergang treiben?« »Was geht uns das an? Wir haben diese Entwicklung nicht eingeleitet. Wenn es nach mir ginge, könnten diese Schwachsinnigen ruhig krepieren. Und jetzt wird es Zeit, dass wir uns auf den Weg machen – alleine.« »Was meinst du damit?« »Dein Begleiter hier ist für die Lordrich ter von keinerlei Nutzen.« Er visierte Fisker mit seiner Waffe an und feuerte.
* »Wir sind durch, Gorgh! Ich sehe das Tor!« »Bist du dir sicher, Kalarthras? Ich kann absolut nichts erkennen. Der Staub …« »Still!« »Was ist los?«
Die Varganen von Cramar »Still, habe ich gesagt! Ich spüre Atlan. Er ist in Gefahr …« »Ich verstehe nicht – was hat das zu be deuten?« »Schutzschirm ein – und in Deckung!« Breitflächige Paralysestrahler strichen im nächsten Moment über das Ruinenfeld.
12. Der Schuss des Anführers verfing sich in Fiskers Schirm. Eine zweite Lohe, von ei nem der Soldaten abgefeuert, umwaberte meinen Begleiter, ließ das Schutzfeld in kri tischem Dunkelrot aufleuchten. Ich stürzte mich mit meinem gesamten Gewicht auf den Kalaro'on, durchdrang sei nen Schutzschirm und stieß ihn beiseite, aus dem unmittelbaren Feuerbereich der Zaqoor. Ich hechtete hinter den Tisch, warf ihn um, nutzte die steinerne Platte als Deckung. Zwei Sekunden Zeit zum Nachdenken ge wonnen. Kalarthras!, dachte ich erneut. Mit aller Intensität konzentrierte ich mich auf den Varganen, zog gleichzeitig den völlig ver wirrten Fisker zu mir herüber. Ich feuerte zwei gezielte Strahlenschüsse über die Deckung hinweg auf die Steher der beiden Bücherbordwände. Getroffen! Sie kippten vorneweg, auf die drei Solda ten herab, die nach wie vor breitbeinig da standen und die steinerne Tischplatte, unsere bescheidene Deckung, zerstäubten. Die Wucht der tonnenschweren Regale riss die Zaqoor zu Boden, begrub sie unter sich. Ich leistete mir nicht den Luxus, mich darüber zu freuen. Über kurz oder lang wür den sich die Soldaten darunter hervorwüh len. »Schieß auf ihn!«, befahl ich Fisker, stand auf und legte auf Pentipalu an. Sein Schutz schirm hielt dem Treffer stand. Noch. Denn als der Kalaro'on seine Angst und seinen Schock überwunden hatte und mit ei nem Wutschrei auf den Lippen ebenfalls
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feuerte, begann er bedenklich zu flackern. Der Zaqoor flüchtete in den verglasten Abgang. Seine unbeherrschten Flüche hall ten von den Röhrenwänden wider. Unter den zusammengekrachten Regalen bewegte sich etwas. Die Soldaten gruben sich mit Hilfe ihrer Anzugaggregate daraus hervor. Kommt zu mir!, hörte ich endlich jene ge dankliche Stimme, auf die ich die ganze Zeit gewartet hatte. Ich habe einen Fluchtweg gefunden. Aber wir brauchen deine Unter stützung hier. Unsanft schubste ich Fisker den Weg vor mir her, den wir gekommen waren. Bevor ich mich durch die Trümmerlücke zwängte, löste ich mit drei weiteren gezielten Strah lenstößen die Glaskuppel aus ihren notdürf tigen Halterungen und ließ sie auf unsere Gegner niederkrachen. Das tonnenschwere Konstrukt blieb ganz, als es auf den Trüm mern aufprallte, erzeugte aber ein grauen haftes Schwingungsgeräusch in den nieder sten Bereichen des Hörbaren. Weitere Sekundenbruchteile waren ge wonnen. »Weiter!«, befahl ich dem Kalaro'on, stieß ihn unsanft vor mir her. Unbeschadet erreichten wir den Vorplatz, auf dem uns FValmir in Empfang genommen hatte. Aber wie sehr hatte sich alles hier geän dert! Jene Kalaro'on, die wir zuvor gesehen hatten, lagen tot in den Trümmern. Aus gut einem Dutzend Richtungen kommend, kreuzten sich Strahlenbahnen hinter jenem Schuttberg, in den sich Kalarthras eingegra ben hatte, bevor wir in die Präsidialkanzlei aufgestiegen waren. Der Schütze rechts von dir!, erhielt ich die gedankliche Anweisung des Varganen. So fort eröffnete ich das Feuer, befahl Fisker, das Gleiche zu tun. Auch Kalarthras zielte auf den einen Zaqoor, und sofort brach der Schutzschirm des Soldaten zusammen. Der Rest war eine Sache von Augenblicken. Gleich links daneben!, folgte das nächste Kommando. Diese Form einer Anleitung funktionierte wesentlich rascher und präziser
52 als via Funk; der mühsame Umweg über Ge hör und Verarbeitung der Informationen fiel durch die gedankliche Übertragung weg. Er neut schossen wir zu zweit, dann zu dritt, er neut verglühte ein Zaqoor. »Kythara!«, rief ich die Kommandantin der AMENSOON. »Kein Durchkommen per Funk!«, keuchte Kalarthras auf derselben Wellenlänge. »Sie haben uns abgeschirmt!« Gleichzeitig sandte er mir das Bild des nächsten Soldaten, den wir uns vornehmen sollten. Auch ihn erwischten wir, bevor sich die Überraschung bei den feindlichen Trup pen legte. Ein Teil der Männer wandte sich daraufhin uns zu, während der andere näher auf Kalarthras zurückte. Kommt her!, forderte der Vargane. »Wir müssen zu Gorgh und Kalarthras!«, sagte ich zu Fisker. »Ich … ich habe getötet!«, schluchzte der Kalaro'on. »Ich …« »… nur um dein eigenes Leben zu ret ten!«, unterbrach ich ihn. »Mach mir jetzt nur nicht schlapp. Wir fliegen mit voller Be schleunigung auf Kalarthras zu – hast du mich verstanden? Spann die Muskulatur an. Kann sein, dass die Schwerkraft ein wenig durchschlägt.« Hastig synchronisierte ich die Positroni ken unserer beiden Anzüge, gab mehrere un gezielte Schüsse in alle Richtungen ab und zog Fisker zu mir. »Jetzt!«, rief ich – und startete. Mit der Beschleunigung eines Geschosses zogen wir eine flache Kurve, direkt hinein in den Schuttturm im Rücken unserer einge kesselten Begleiter. Für Sekunden drehte sich alles um mich, war ich begraben unter einer Flut von Sin neseindrücken, wusste nicht mehr, wo oben und unten waren. Hitze umwaberte mich, hüllte mich ein. Flüssiges Metall tropfte auf mich herab und verging zischend im varga nischen Schutzfeld. »Runter da!«, hörte ich Kalarthras' Stimme und fühlte mich von starken Händen gepackt, aus der ineinander verbackenen und verkeilten Masse des
Michael Marcus Thurner Schutthaufens befreit. Die ungeheuer flinken Greifarme Gorghs zerrten mich und Fisker aus dem Müll und setzten uns in der zweifel haften Deckung weiteren Mülls ab. »Zuerst haben sie es nur mit Paralysatoren versucht«, keuchte Kalarthras, »aber als wir uns zu wehren begannen, sind sie auf Im pulsbeschuss umgestiegen.« »Solange ich bei euch bin, werden sie vorsichtiger agieren«, entgegnete ich und zog die schmerzenden Schultern nach oben. Die Schwerkraft hatte bei der Landung mit zwei oder drei Gravos durchgeschlagen. »Sie wollen mich nach wie vor lebend.« Ich schoss mehrmals willkürlich in die Luft. Ein leises Sirren verriet mir, dass die Zaqoor nunmehr verstärkt ihre Flugaggrega te einsetzten. »Ich brauche nur noch wenige Augen blicke«, stöhnte Kalarthras und zog an ei nem bizarr verformten Trägerelement. »Hilf ihm«, wies ich Fisker an, der seinen Schock bereits wieder überwunden zu haben schien. Gorgh und ich feuerten unterdessen Sperrfeuer in die Luft. Nur von dort oben sowie durch eine schmale Schneise, in der ein toter Zaqoor lag, konnten die gegneri schen Soldaten nachdrängen. Doch wenn sie schlau waren, würden sie uns einfach die Deckung wegschießen. Der Schuttberg wür de einem energischen Beschuss vielleicht 20 oder 30 Sekunden standhalten. Wenn wir bis dahin unseren Standort nicht gewechselt hat ten, war es um uns geschehen. »Ich hab's!«, rief Kalarthras laut und be geistert aus. »Was?« »Unseren Fluchtweg. Das Tor …« Ein Schatten tauchte links von mir auf. In stinktiv hob ich die Waffe, feuerte. Gorgh reagierte ebenso reaktionsschnell. Der Sol dat starb, ohne einen Laut von sich zu geben – und zwei weitere rückten nach. Dann drei, vier, die sich in der Tarnung ihrer Deflektor schirme an uns herangearbeitet hatten. Die Alarmsysteme meines varganischen Anzugs spielten verrückt, zeigten weitere fünfzehn Gegner in unmittelbarer Umgebung.
Die Varganen von Cramar »Kommt schon!«, schrie der Vargane, zog mich mit sich, tiefer hinab, während ich wie wild um mich feuerte, die Zaqoor mit mei ner Strahlenpistole bestrich …. Ich sah nicht, wohin er mich schleppte, hatte bloß Augen für die Gegner, diese un barmherzigen Soldaten, die blindlings vor wärts stürmten und keinerlei Furcht vor dem Tod zu haben schienen … »Hinein!« Er zog und schob mich in einen engen Kanalgang, während mein Schutz schirm rot zu glühen begann. Würden die Zaqoor es wagen, mich zu töten, entgegen dem ausdrücklichen Befehl der Lordrichter? Ich glaubte es nicht, wollte es nicht glauben … Ein kreisrundes Tor schwang nieder, schlug metallen scheppernd auf – und trenn te uns von den Soldaten. Sogleich leuchtete ein Schutzschirm auf, den ich als varganisch einstufte. »Rasch weiter!«, rief Kalarthras. Er stand wenige Meter von mir entfernt und hantierte an einer Schalttafel. Weißes Licht, stroboskopisch blitzend, erhellte einen langen und schmalen Gang, der ein leichtes Gefälle aufwies. »Wo sind wir?« »Das«, antwortete der Vargane erschöpft grinsend, »ist der Zugang zu meinem klei nen persönlichen Reich auf Cramar. Das ha be ich gesucht, seitdem wir auf dem Plane ten gelandet sind.« »Hier, unter dem Palast, besitzt du ein Versteck?«, fragte ich zweifelnd. Das konn te ich mir bei bestem Willen nicht vorstel len. Es hätte nicht dem Sicherheitsdenken eines Varganen entsprochen, wenn er sein Versteck direkt unter dem Regierungsgebäu de angelegt hätte. »Wir befinden uns bloß in einem der ge heimen Zugänge«, bestätigte Kalarthras meine Vermutung, während wir rasch aus schritten. »Aber keine Sorge – es ist nur ein kleiner Schritt in die vorläufige Sicherheit.« Er deutete auf ein Transmittertor, dessen Lichtbogen nach fünfzigtausend Jahren erst mals wieder ansprang.
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* »Dies ist mein Reich!«, rief Kalarthras enthusiastisch, während er das Transmitter feld hinter uns desaktivierte und gleich dar auf mit wenigen Handgriffen mehrere Ag gregate zum Leben erweckte. Ich drehte mich im Kreis, schweigend und beeindruckt. Die Umgebung erinnerte mich an … »Eine Tiefschlafanlage«, sagte der Varga ne. »Hier habe ich Jahrtausende meines Le bens verbracht, immer wieder unterbrochen von kurzen Wachphasen, um den Kalaro'on auf der Oberfläche in ihrer Entwicklung da und dort Denkanstöße zu geben.« Er deutete auf eine fragile Darstellung der Station, die sich im Zentrum des Raumes um die eigene Achse drehte. Vier im Quadrat platzierte Oktaederbei boote bildeten in einer unterseeischen Ka verne das Grundgerüst der Station. Tunnel und Schächte, Rampen und Treppen verban den sowohl das Quartett der Schiffe als auch diesen Kernbereich mit extern verborgenen Gleitern, Notstationen, Transmittertoren und Beobachtungsposten. An drei Stellen gleich zeitig leuchteten braune Lämpchen, in der varganischen Farbe für Warnsignale. »Für einen derart langen Winterschlaf sind das anständige Werte«, sagte Kalarthras zufrieden. »Wo sind wir hier?«, fragte Fisker völlig überfordert. »Im Inneren Syvirs.« »Der Insel Syvir?« »Du kennst sie?« Kalarthras sah ihn über rascht an. »Nun – nicht unmittelbar. In den Bulletins des Planungsministeriums wurde lediglich erwähnt, dass sie ›für die Erschließung neuer Bürogebäude bedauerlicherweise nicht geeignet sei, weil vulkanisch-tektonische Aktivitäten Gefahrenquellen darstellten‹.« »Man wollte die Insel mit Häusern zupfla stern?« Das Gesicht des Varganen gewann einen rotgoldenen Schatten.
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»Nach dem, was ich heute auf Coraak er lebt habe, glaube ich nicht, dass es jemals so weit kommen wird«, murmelte Fisker be drückt. »Jetzt ist keine Zeit für irgendwelche Mutmaßungen«, mischte ich mich ein. »Wir sind vorläufig in Sicherheit – aber was ist mit Kythara und der AMENSOON?« »Es geht ihr gut, und sie wird uns in Kür ze hier abholen.« »Woher weißt du das? Ich dachte, der Funkverkehr war von Coraak aus nicht mög lich?« »Wenn zwei Varganen miteinander kom munizieren wollen, geht das durchaus auch über größere Distanzen«, beschied er mir leicht überheblich und klopfte mit einem Finger gegen die Schläfe. »Hast du noch weitere solcher Überra schungen auf Lager?«, fragte ich verärgert. Tatsächlich hatte ich nicht geglaubt, dass Kythara und Kalarthras über eine Entfer nung von mehr als dreihundert Kilometern miteinander geistigen Kontakt würden hal ten können. »Sie ist vor wenigen Minuten gestartet, nachdem sie von mir gewarnt wurde, und fliegt ein Ablenkungsmanöver.« »Wer ist hinter ihr her?« »Kleinere Einheiten der Zaqoor, die nur für den Atmosphärenflug geeignet sind. Da und dort gibt es ein paar bodengebundene Verteidigungsstellungen, mit denen sie pro blemlos fertig wird. Vorerst läuft alles plan mäßig …« Eine Alarmsirene ertönte, während die Si gnalgeräte unserer Anzüge verrückt spielten. »Die Sonden im Orbit sprechen an …«, knarzte Gorgh. »Die Zaqoor nähern sich mit einem Flot tenverband …«, ergänzte Kalarthras. »Siebzehn Kampfraumschiffe. Vorbei ist es mit aller Planmäßigkeit«, schloss ich.
* Mein eben erst erwachtes Interesse an der geheimen Station des Varganen erlosch au-
genblicklich. Nun galt es, das nackte Leben zu retten. »Eine Verbindung zur AMENSOON!«, rief ich Kalarthras zu. Augenblicklich reagierte er. Kommuni zierte verbal und auf geistiger Ebene mit der unsichtbaren Positronik, drückte Knöpfe und streichelte routiniert über Regelfelder, als wäre dies sein Wohnzimmer, als hätte er niemals ein riesiges Loch in seinen Erinne rungen gehabt. Ein riesiger Bildschirm explodierte aus ei nem singulären Punkt heraus, flackerte kurz und zeigte uns Kytharas Schiff nur wenige Kilometer hoch über Coraak schweben. Ver einzelte Strahlschüsse prallten wirkungslos gegen die gestaffelten Schutzschirme, wäh rend die Varganin ihrerseits rücksichtslos in die Ruinen hineinfeuerte. »Die Zaqoor vermuten uns nach wie vor auf der Regierungsinsel«, sagte Kalarthras mit schief gelegtem Kopf. »Kythara erhält diesen Eindruck aufrecht.« »Was ergibt das für einen Sinn?« Ich konnte mich über den Leichtsinn der beiden Varganen nur wundern – beziehungsweise ärgern. Kythara stand dort, wo mit Sicher heit die Hauptstreitkräfte der Zaqoor verbor gen waren. »Die Station auf Syvir muss unbedingt geheim bleiben. Komme, was wolle.« Er stand mittlerweile an der Breitseite des Raumes und hantierte mit mehreren Daten kristallen. »Warum?«, schrie ich ihn an. »Würdest du eher Kythara opfern als dein Idioten-Pa radies?« »Ich habe eine Schuld zu begleichen«, antwortete Kalarthras. Er blickte mich an. Das Schwarz seiner Augen, längst mit dem der Pupillen verschmolzen, wirkte in diesen Momenten erschreckend, alles verschlin gend. »Anjustiert!«, unterbrach die ruhige Stim me Kytharas den merkwürdigen Moment. »Der Austausch kann stattfinden.« »Austausch?«, echote ich. »Was hat das zu bedeuten? Wenn ich nicht sofort eine ver
Die Varganen von Cramar nünftige Antwort von euch beiden erhalte, dann …« Kalarthras wandte sich Fisker zu, der wie verloren zwischen den varganischen Hinter lassenschaften stand, und drückte ihm meh rere Kristalle in die Hand. »Ich habe Fehler gemacht«, sagte der Vargane leise, kaum verständlich. »Und ich möchte sie gutmachen. Ich ernenne dich zu meinem Stellvertreter auf Syvir und beauf trage dich, den Widerstand der Kalaro'on zu steuern.« »Ich? Aber wie …« »In den Kristallen sind alle Informationen abgespeichert, die du benötigst. Eine Tau sendschaft kampffähiger Varg-Roboter steht zu deiner Verfügung, solltest du sie benöti gen. Hypnoschulung wird dir helfen, alles so rasch wie möglich zu verstehen.« »Was soll ich nur tun? Gegen diese … Monster ankämpfen?« »Das brauchst du nicht.« Die Stimme Ka larthras' klang sanft wie selten zuvor. »Du sollst lediglich Dinge in Bewegung setzen. Den Boden für den Widerstand aufbereiten. Lernen, gegen deine genetisch verankerten Blockaden anzugehen.« »Das kann ich nicht!« »Erst vor kurzer Zeit hast du einen Zaqoor, einen Feind, getötet.« »Ich wusste nicht, was ich tat!«, rief Fis ker verzweifelt. »Dann erfahre es. Lerne dich selbst ken nen. Teile das Wissen mit anderen. Ich wer de wiederkommen, denn dies hier ist ein Teil von mir. Ich weiß nicht, wann und ob du es erleben wirst – aber ich lasse Cramar nicht noch einmal im Stich. Das verspreche ich.« »Beeilung!«, drängte Kytharas Stimme. »Die Bodenverteidigung schießt sich all mählich auf mich ein. Und die Flotte …« Unzusammenhängendes Kreischen und Krächzen ertönte, die Verbindung streikte. »Viel Glück!«, sagte Kalarthras zu Fisker. Er wandte sich steif ab und winkte Gorgh und mir, ihm zu folgen. Ich legte dem Kalaro'on die Hand auf die
55 Schulter. »Warum straft er mich so?«, fragte Fisker kopfschüttelnd. »Wie soll ich ganz allein seinen Wünschen entsprechen?« »Es war kein Befehl, sondern eine Bitte«, sagte ich hastig. »Dies ist das größte Ge schenk, das du von einem Varganen erhalten kannst.« »Aber wie …?« »Vertrau auf dich selbst! Vieles, was er besitzt, steckt auch in dir. Weck es auf und …« »Komm endlich, Arkonide!« Kalarthras und Gorgh standen bereit, vor dem aktivier ten Feld eines Transmitters. In dem soeben eine Gestalt materialisier te. »Sie wird dir helfen. Ihr werdet euch ge genseitig helfen«, sagte ich, drückte ein letz tes Mal Fiskers Schulter, lief auf den Trans mitter zu, vorbei an der völlig desorientiert wirkenden Flink, und gemeinsam sprangen wir an Bord der AMENSOON, einem unbe kannten Schicksal entgegen. Und wie immer auf der Flucht vor den Lordrichtern und ih ren Handlangern.
Nachspiel »Er hat uns diese Station überlassen?«, fragte Flink und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. »Das ist nicht ganz korrekt. Er hat mich zum Verwalter dieser wundersamen Anla gen ernannt. Ohne dass ich ein Formular ausfüllen oder eine Unterschrift leisten mus ste!« »Vergiss endlich einmal diesen Beamten kram, du Bürohengst! Erzähl mir lieber, wie es dir auf Coraak ergangen ist. Kythara hat mich ohne Warnung von ihrem riesenhaften Raumschiff aus hochgehoben, zwischen seltsam leuchtenden Bögen abgesetzt – und schwups war ich bei dir.« »Es war aufregend und traurig und span nend und widerlich.« »Das sind Abenteuer immer.« »Na gut – aber sollte ich nicht ein Ge
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dächtnisprotokoll anfertigen, bevor ich die Details vergesse?« »Nein.« »Aber …« »Nein.« »Es wäre …« »Nein, zum letzten Mal. Und bevor du zu erzählen anfängst, sollten wir den Grundstein für künftige Generationen ohne emotionale Kastration legen.«
»Aber … du bist doch die einzige, die … ich meine … mit dem genetischen Pro grammfehler …« »Ganz genau.« Sie lächelte breit. »Ich und
meine Kinder.« Fisker starrte sie an, als habe bei ihr das Denken ausgesetzt. »Du hast keine Kinder«, wies er sie auf die Lücke ihrer Argumentati on hin. Ihr Lächeln wurde noch breiter. »Richtig. Noch nicht.« »Oh.«
Und jetzt verstand er.
ENDE
ENDE
Angriff der Togronen
von Michael H. Buchholz
Wieder einmal gelingt Atlan mit seinen Begleitern die Flucht vor den Garbyor in letzter Se kunde. Und wieder kristallisiert sich heraus, dass die Feinde den unsterblichen Arkoniden un ter allen Umständen lebend in ihre Gewalt bringen möchten. Die Sicherheit auf der AMENSOON währt jedoch nur von kurzer Dauer.